Thorsten Hippe Wie ist sozialwissenschaftliche Bildung möglich?
Thorsten Hippe
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Thorsten Hippe Wie ist sozialwissenschaftliche Bildung möglich?
Thorsten Hippe
Wie ist sozialwissenschaftliche Bildung möglich? Gesellschaftliche Schlüsselprobleme als integrativer Gegenstand der ökonomischen und politischen Bildung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Zugl. Dissertation an der Universität Bielefeld, 2009
. 1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Katrin Emmerich | Marianne Schultheis VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17228-6
Danksagung
Der vorliegende Text wurde im Juli 2009 an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld als Dissertation angenommen. Besonders großer Dank gebührt meinem Doktorvater Prof. Reinhold Hedtke, durch dessen kritische Kommentare und herausfordernden Anstöße die vorliegende Arbeit in ganz erheblicher Weise an Qualität gewonnen hat. Ohne das offene und undogmatische Diskussionsklima in unserer Arbeitsgruppe Didaktik der Sozialwissenschaften wäre diese prononciert interdisziplinäre und dezidiert pluralistische Arbeit nicht in der vorliegenden Form zustande gekommen. Herzlich danken möchte ich auch Frau Prof. Birgit Weber für die Übernahme des Zweitgutachtens und unsere immer sehr anregenden Unterhaltungen sowie Herrn Prof. Detlef Sack und Herrn Prof. Gunnar Stollberg für ihre sehr hilfreichen Hinweise und ihr Mitwirken in der Prüfungskommission. Last but not Least geht auch ein herzliches Dankeschön an Prof. Lutz Leisering, der mir in den letzten Jahren einige wertvolle Erfahrungen wissenschaftlichen Arbeitens vermittelt hat, die ich nicht missen möchte. Bielefeld, im Oktober 2009
Inhalt Inhalt
Abkürzungsverzeichnis .................................................................................................... 11 Abbildungsverzeichnis ..................................................................................................... 13 Tabellenverzeichnis .......................................................................................................... 14 1
Das Integrationsproblem der sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik ............... 15
1.1 Die `institutionenökonomische´ Integrationshypothese ............................................ 17 1.2 Die `sozialwissenschaftliche´ Integrationshypothese ............................................... 18 1.3 Die `politikwissenschaftliche´ Integrationshypothese .............................................. 19 1.4 Schwächen der Ansätze und offen gebliebene Fragen .............................................. 20 1.5 Fragestellung, Ziel und Vorgehensweise der Arbeit ................................................. 22 2
Gibt es grundlegende disziplinäre Differenzen zwischen den Sozialwissenschaften? ............................................................................................. 27
2.1 Unterschiedliche Frage- und Problemstellungen? .................................................... 27 2.1.1 Ökonomische Analyse politischer Machtbeziehungen: Die Konstitutionenökonomik .............................................................................. 30 2.1.2 Politikwissenschaftlich-soziologische Analyse der Wirtschaft: Das Varieties-of-(Welfare)-Capitalism-Paradigma ............................................. 31 2.2 Unterschiedliche Kategorien? ................................................................................... 32 2.3 Unterschiedliche analytisch-methodologische Verhaltensmodelle? ......................... 37 2.3.1 Konstante Präferenzen? ....................................................................................... 39 2.3.2 Rationale Akteure? .............................................................................................. 40 2.3.3 Moralabstinente Maximierung des Eigennutzes? ................................................ 40 2.3.4 Transdisziplinäre Einflussfaktoren menschlichen Verhaltens ............................. 44 2.4 Zwischenfazit ............................................................................................................ 46
8
Inhalt
3
Gestaltungsorientierung als zentrales fachdidaktisches Relevanzkriterium ..... 49
3.1 Lebensqualität durch selbstbestimmte Gestaltung der eigenen Lebensführung ....... 52 3.2 Lebensqualität durch Mitgestaltung einer lebenswerten Gesellschaft ...................... 54 3.2.1 Mitbestimmungsfähigkeit als sozialwissenschaftlich reflektierte gestaltungsorientierte Urteilsfähigkeit ................................................................. 62 3.2.2 Das Ziel der gestaltungsorientierten Urteilsfähigkeit als interfachdidaktisch konsensfähiges Leitprinzip .................................................................................. 67 3.2.3 Das Bürgerleitbild der sozialwissenschaftlichen Bildung – Homo Oeconomicus versus Zoon Politikon? ...................................................... 70 3.3 Zwischenfazit ............................................................................................................ 75 4
Das Strukturschema der gestaltungsorientierten sozialwissenschaftlichen Bildung .................................................................................................................... 77
4.1 Divergierende Problemwahrnehmungen (Zielkonflikte) .......................................... 80 4.2 Das kontraintuitive Paradox der problemverursachenden Politik ............................. 81 4.3 Analyse von Interessenskonflikten ........................................................................... 83 4.4 Reflexion über die Grenzen der bewussten Gestaltbarkeit von Gesellschaft ............ 85 4.4.1 Reflexion über politische Durchsetzbarkeit ........................................................ 85 4.4.2 Reflexion über mögliche (kontraintuitive) Nebenfolgen ..................................... 87 4.4.3 Offenheit für gestaltungspolitische Kontroversität .............................................. 88 4.5 Das Strukturschema der gestaltungsorientierten sozialwissenschaftlichen Bildung . 94 4.6 Zwischenfazit ............................................................................................................ 98 5
Orientierungsmodelle als inhaltliche Basis gestaltungsorientierter Urteilsfähigkeit ........................................................................................................ 99
6
Wie kann man ein lebenswertes Wirtschafts- und Sozialsystem gestalten? .... 105
6.1 Gestaltungsorientierte Evaluation der Arbeitsmarktpolitik .................................... 108 6.1.1 Die Perspektive der Vergleichenden Politischen Ökonomie (VPÖ) ................. 112 6.1.2 Die (institutionen)ökonomische Perspektive ..................................................... 123 6.1.3 Die Perspektive des Instituts für Arbeit und Qualifikation (IAQ) ..................... 137 6.1.4 Fachdidaktische Strukturierung des Politikfeldes gemäß Kapitel 4.5. .............. 145 6.1.5 Politikfeldspezifische Auswertung der drei integrationsdidaktischen Ansätze . 151
Inhalt
9
6.2 Gestaltungsorientierte Evaluation der Sozialpolitik ............................................... 153 6.2.1 Die egalitaristische Perspektive ......................................................................... 157 6.2.1.1 Eine solidarisch-egalitaristische Arbeitslosenversicherung ...................... 165 6.2.1.2 Eine solidarisch-egalitaristische Rentenversicherung ............................... 168 6.2.1.3 Eine solidarisch-egalitaristische Krankenversicherung ............................. 176 6.2.1.4 Ein solidarisch-egalitaristisches Bildungssystem ...................................... 183 6.2.2 Die liberale Perspektive ..................................................................................... 188 6.2.2.1 Eine subsidiär-liberale Arbeitslosenversicherung ..................................... 194 6.2.2.2 Eine subsidiär-liberal-(konservativ)e Rentenversicherung ....................... 195 6.2.2.3 Eine subsidiär-liberale Krankenversicherung ............................................ 201 6.2.2.4 Ein liberales Bildungssystem .................................................................... 206 6.2.3 Fachdidaktische Strukturierung des Politikfeldes gemäß Kapitel 4.5. .............. 210 6.2.4 Politikfeldspezifische Auswertung der drei integrationsdidaktischen Ansätze . 218 6.3 Gestaltungsorientierte Evaluation der Verbraucherpolitik ...................................... 219 6.3.1 Die institutionenökonomische Perspektive ....................................................... 223 6.3.1.1 Wettbewerbspolitik ................................................................................... 223 6.3.1.2 Informationspolitik .................................................................................... 229 6.3.1.3 Haftungsrecht ............................................................................................ 234 6.3.1.4 Mindeststandards ...................................................................................... 235 6.3.2 Die psychoökonomische Perspektive ................................................................ 238 6.3.3 Fachdidaktische Strukturierung des Politikfeldes gemäß Kapitel 4.5. .............. 241 6.3.4 Politikfeldspezifische Auswertung der drei integrationsdidaktischen Ansätze . 244 7
Wie kann man ein lebenswertes politisches System gestalten? ......................... 247
7.1 Gestaltungsorientierte Evaluation des politischen Systems in Deutschland ........... 248 7.1.1 Die egalitäre Perspektive ................................................................................... 253 7.1.1.1 Verhältniswahlrecht statt Mehrheitswahlrecht .......................................... 258 7.1.1.2 Ablehnung direktdemokratischer Institutionen ......................................... 261 7.1.1.3 Ablehnung `aktivistischer´ Verfassungsgerichte ....................................... 266 7.1.1.4 Asymmetrischer Föderalismus .................................................................. 267 7.1.2 Die partizipative Perspektive ............................................................................. 274 7.1.2.1 Der höhere prozedurale Nutzen der (halb)direkten Demokratie ............... 279 7.1.2.1.1 Stärkere politische Selbstbestimmung der Bürger ............................. 279 7.1.2.1.2 Höhere politische Kompetenz der Bürger .......................................... 284 7.1.2.1.3 Höhere soziale Bezogenheit der Bürger ............................................. 289 7.1.2.2 Die Versöhnung von Föderalismus und sozialpolitischer Umverteilung durch (halb)direkte Demokratie ................................................................ 291 7.1.3 Die liberal-konstitutionelle Perspektive ............................................................ 296 7.1.3.1 Die Problematik der demokratischen Mehrheitsherrschaft ....................... 297 7.1.3.1.1 Die ökonomische Umverteilungstyrannei der Mehrheit .................... 298 7.1.3.1.2 Die ökonomisch rationale politische Ignoranz der Mehrheit ............. 299 7.1.3.1.3 Die ökonomisch rationale politische Irrationalität der Mehrheit ........ 300 7.1.3.2 Gestaltungspolitische Gegenmittel gegen die Probleme der Mehrheitsdemokratie ................................................................................. 308
10
Inhalt 7.1.3.2.1 Verfassungsrechtliche Konstitutionalisierung ..................................... 309 7.1.3.2.2 Dezentraler Wettbewerbsföderalismus .............................................. 310 7.1.3.3 Liberal-konstitutionelle Perspektive und sozialwissenschaftliche Bildung – ein Widerspruch? ................................................................................... 318 7.1.4 Fachdidaktische Strukturierung des Themenfeldes gemäß Kapitel 4.5. ............ 319 7.1.5 Themenspezifische Auswertung der drei integrationsdidaktischen Ansätze ..... 323
7.2 Gestaltungsorientierte Evaluation des politischen Systems der EU ........................ 326 7.2.1 Die sozialdemokratische Perspektive ................................................................ 331 7.2.2 Die intergouvernementale Perspektive .............................................................. 342 7.2.3 Die föderative Perspektive ................................................................................ 351 7.2.4 Die partizipative Perspektive ............................................................................. 365 7.2.5 Fachdidaktische Strukturierung des Themenfeldes gemäß Kapitel 4.5. ............ 374 7.2.6 Themenspezifische Auswertung der drei integrationsdidaktischen Ansätze ..... 378 8
Fazit: Gestaltungsperspektiven vergleichen statt Universitätsdisziplinen addieren ................................................................................................................. 381
8.1 Gestaltungsorientierung als integratives fachdidaktisches Leit-Prinzip ................. 381 8.2 Ein gestaltungsorientiertes Strukturschema für eine integrative Fachdidaktik ....... 383 8.3 Sechs Schlüsselproblemkomplexe als zentraler inhaltlicher Gegenstand ............... 384 8.4 Integration als kontroverser Vergleich gestaltungsorientierter Perspektiven .......... 385 8.5 Beurteilung der drei fachdidaktischen Integrationshypothesen .............................. 388 8.5.1 Zur institutionenökonomischen Integrationshypothese (Kaminski) .................. 388 8.5.2 Zur politikwissenschaftlichen Integrationshypothese (Detjen/Scherb) ............. 389 8.5.3 Zur sozialwissenschaftlichen Integrationshypothese (Hedtke) .......................... 391 8.6 Ergebnis: (Partielle) Integration der drei Integrationshypothesen .......................... 391 8.7 Ausblick .................................................................................................................. 394 Literatur .......................................................................................................................... 397
Abkürzungsverzeichnis AGB ALG Art. AZI BetrVG BDI BIP BRD BSE BVG bzw. CAP CFP DAI DEGÖB d.h. ebd. EU EuGH EP EWR GG ggf. GKV GPJE GRV GWB IAQ i.d.R. i.e.S. m.E. MPIfG MSJK NIÖ NPÖ NRW OECD ÖVT o.ä. o.g. PKV PVS RCT
Allgemeine Geschäftsbedingungen Arbeitslosengeld Artikel Akteurzentrierter Institutionalismus Betriebsverfassungsgesetz Bundesverband der Deutschen Industrie Bruttoinlandsprodukt Bundesrepublik Deutschland Bovine Spongiforme Enzephalopathie Bundesverfassungsgericht beziehungsweise Common Agricultural Policy Common Fisheries Policy Deutsches Aktieninstitut Deutsche Gesellschaft für ökonomische Bildung das heißt Ebenda Europäische Union Europäischer Gerichtshof Europäisches Parlament Europäischer Wirtschaftsraum Grundgesetz gegebenenfalls Gesetzliche Krankenversicherung Gesellschaft für Politische Jugend- und Erwachsenenbildung Gesetzliche Rentenversicherung Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Institut für Arbeit und Qualifikation in der Regel im engeren Sinne meines Erachtens Max Planck Institut für Gesellschaftsforschung Ministerium für Schule, Jugend und Kinder Neue Institutionenökonomik Neue Politische Ökonomie Nordrhein-Westfalen Organisation for Economic Cooperation and Development Ökonomische Verhaltenstheorie oder ähnliche oben genannte Private Krankenversicherung Politische Vierteljahresschrift Rational Choice Theorie
12 s.o. sog. TVG u.a. v.a. vs. WTO z.B.
Abkürzungsverzeichnis siehe oben sogenannte Tarifvertragsgesetz unter anderen vor allen versus World Trade Organisation zum Beispiel
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Perspektiven zur Arbeitsmarktpolitik im ideologischen Koordinatenkreuz von Petrik (2007) …………………………………….. 110 Abbildung 2: Perspektiven zur Sozialpolitik auf der x-Achse des ideologischen Koordinatenkreuzes von Petrik (2007) …………………………………... 155 Abbildung 3: Perspektiven zur Verbraucherpolitik auf der x-Achse des ideologischen Koordinatenkreuzes von Petrik (2007) ……………………….………….. 222 Abbildung 4: Perspektiven zum politischen System der BRD im ideologischen Koordinatenkreuz von Petrik (2007) …………………………………….. 251 Abbildung 5: Perspektiven zur Europäischen Integration im ideologischen Koordinatenkreuz von Petrik (2007) …………………………………….. 329
Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Kontroverse Perspektiven zur Arbeitsmarktpolitik ..………………………... 111 Tabelle 2: Kontroverse Perspektiven zur Sozialpolitik ..……………………………….. 156 Tabelle 3: Kontroverse Perspektiven zum politischen System der BRD ..……………... 252 Tabelle 4: Kontroverse Perspektiven zur Europäischen Integration ..………………….. 330
1 Das Integrationsproblem der sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik
Die Situation der sozialwissenschaftlichen Bildung auf der Sekundarstufe II in Deutschland ist durch einen fundamentalen, fachdidaktisch problematischen Widerspruch gekennzeichnet. Auf der einen Seite gibt es in vielen Bundesländern eine Reihe von Schulfächern wie z.B. `Sozialwissenschaften´, `Gemeinschaftskunde´, `Wirtschaft und Politik´, die implizit (durch ihre Bezeichnung) oder explizit (durch entsprechende Begründung in den Richtlinien) von der These ausgehen, dass eine fachdidaktische Integration von soziologischen, politikwissenschaftlichen und wirtschaftswissenschaftlichen Theorien und Erkenntnissen fachdidaktisch grundsätzlich möglich und auch sinnvoll sei. Damit wird zugleich implizit vorausgesetzt, dass die fachdidaktische Theorie über hinreichend ausgearbeitete Konzepte verfügt, mit denen man (zukünftigen) FachlehrerInnen im Rahmen ihrer fachdidaktischen Ausbildung die Kompetenz vermitteln kann, diese Integration im Unterricht umzusetzen. Diese Annahme aus schulpolitischen Gründen nicht weiter hinterfragend bestanden auch die bildungspolitischen Reaktionen der Kultusministerkonferenz und der Bundesländer auf die allseitige Forderung nach einer Stärkung der ökonomischen Bildung in der Schule um die Jahrhundertwende in erster Linie in einer organisatorischen Stärkung dieses integrativen Ansatzes, d.h. einer Stärkung des (bisher nicht selten vernachlässigten) ökonomischen Anteils innerhalb derartiger interdisziplinär zugeschnittener Schulfächer (Kahsnitz 2005a, 12f.). Auf der anderen Seite müssen jedoch selbst solche Fachdidaktiker, die von der Möglichkeit und Sinnhaftigkeit einer Integration von politischer und ökonomischer Bildung überzeugt sind, eingestehen, dass eine systematisch ausgearbeitete fachdidaktische Konzeption sozialwissenschaftlicher Bildung bis heute nicht existiert. Die fachdidaktische Frage, ob, zu welchem Zweck und auf welche Weise man politikwissenschaftliche, soziologische und wirtschaftswissenschaftliche Theorien und Erkenntnisse sinnvoll in Bezug zueinander setzen kann oder sogar muss, sei weitestgehend ungeklärt; der Stand fachdidaktischen Wissens dazu sei desaströs (Hedtke 2005a, 20). Daran ändere auch die in den Richtlinien des Faches in NRW (MSWWF 1999) explizierte theoretische Konzeption des Faches nichts, denn das dort zum Ausdruck kommende, konstitutive integrative Selbstverständnis des Faches sei inzwischen überholt (Hedtke 2005b). Denn in diesen Richtlinien wird davon ausgegangen, dass sich die fachwissenschaftlichen Disziplinen durch spezifische Erkenntnisobjekte und Inhalte voneinander unterscheiden, sodass die wesentliche fachdidaktische Integrationsaufgabe dann darin bestehe, die vermeintlich disziplinspezifischen Inhaltsfelder (Politik, Wirtschaft, Gesellschaft) aufeinander zu beziehen, um dadurch die Interdependenz der gesellschaftlichen Teilbereiche aufzuzeigen (MSWWF 1999, 12; MSJK 2004, 9). Diese vermeintlich nahe liegende Annahme einer arbeitsteiligen Korrespondenz zwischen gesellschaftlichen Teilbereichen und fachwissenschaftlichen Disziplinen trifft angesichts des sog. inhaltlichen `Imperialismus´ aller sozialwissenschaftlicher Disziplinen jedoch nicht (mehr) zu (so bereits Pandel 1978,
16
Das Integrationsproblem der sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik
348). Jede der drei genannten Sozialwissenschaften bezieht sich forschend auf alle Bereiche der sozialen Realität (Hedtke 2005b, 2; Kaminski 2002, 60 & 65; Scherb 2006, 125). Die Arbeits-, Wirtschafts- und Industriesoziologie (z.B. Hirsch-Kreinsen 2005; MiklHorke 2007; Minssen 2006; Nollert 2005) beschäftigt sich ebenso intensiv mit dem gesellschaftlichen Teilbereich Wirtschaft wie das für die Politikwissenschaft in Form des „Akteurzentrierten Institutionalismus“ (Scharpf 2000a) und des politologischen1 „Varietiesof-Capitalism“-Ansatzes (z.B. Hall/Soskice 2001; Hall/Gingerich 2004; Hancké/Rhodes/ Thatcher 2007; Pontusson 2005; Trumbull 2006) gilt. Umgekehrt gibt es in der Wirtschaftswissenschaft mit der Konstitutionenökonomik/Neuen Politischen Ökonomie/Public Choice (z.B. Acemoglu/Robinson 2005; Apolte 1999, 164-214; Erlei/Leschke/Sauerland 2007, Kapitel 6-8; Frey 2005; Kirsch 2004; Kortenjann 2007; Kruse 2008; Pappenheim 2001; Voss 2008; Wohlgemuth 2004) einerseits und der „Political Economics“ (z.B. Persson/Tabellini 2003) andererseits sogar zwei Strömungen (siehe Blankart/Koester 2006), mit denen man das politische System bzw. das Spannungsverhältnis zwischen verfassungsgemäßem Wertesystem und den Durchsetzungsmöglichkeiten partikulärer Interessen analysieren kann (siehe dazu ausführlicher die Argumentation in Kapitel 2.1.1.). In der Volkswirtschaftslehre wird heutzutage selbst der politische Widerstand im Dritten Reich mit Hilfe ökonomischer Instrumente detailliert analysiert (wobei zugleich die partiellen Grenzen dieses Ansatzes selbstkritisch reflektiert werden) (Jacobs 2002). Das Schulfach Sozialwissenschaften in NRW stützt sich derzeit insofern auf ein wissenschaftstheoretisch zumindest sehr fragwürdiges Integrationskonzept. Angesichts der Tatsache, dass die einzelnen Sozialwissenschaften nicht an bestimmte Gegenstandsbereiche der Wirklichkeit gebunden sind, stellt sich damit zugleich die Frage, warum man den nicht unerheblichen intellektuellen Aufwand auf sich nehmen soll, der mit einer fachdidaktischen Integration der sozialwissenschaftlichen Disziplinen zu einem Schulfach verbunden ist (z.B. für Lehramtsstudierende, die dann nicht eine, sondern drei Disziplinen studieren sollen). Denn die zur Begründung von interdisziplinärer Integration oft herangezogene sozialwissenschaftliche Binsenweisheit von der Interdependenz zwischen Wirtschaft und Politik (Massing 2006, 85), d.h. der grenzüberschreitenden, wechselseitigen Beeinflussung von Akteuren, Institutionen und Strukturen im politischen und im wirtschaftlichen Teilsystem stellt als solche noch keine überzeugende Begründung für dieses fachdidaktische Vorhaben dar. Der Grund dafür liegt darin, dass die Interdependenz zwischen Wirtschaft und Politik bereits von jeweils einer sozialwissenschaftlichen Disziplin allein für sich genommen, d.h. sowohl von der Politikwissenschaft (siehe z.B. Bechtel 2009; Busch 1995; Dieter 2005; Glassmann 2007; Hörisch 2009; Iversen 2005; Kaiser 2008; Milner 2005; Obinger/Wagschal/Kittel 2003; Obinger 2004; Scharpf/Schmidt 2000; Vogel 1997; Woll 2008) als auch von der Ökonomik (siehe z.B. Acemoglu/Robinson 2005; Behrends 2001; Blankart 2006, 2007; Blume 2009; Caplan 2007; Drosdowski 2007; Mueller/Stratmann 2002; Pies/Wockenfuß 2008; Rauhut 2000; Schmidt 2005: Kapitel 6; Stigler 1971; Vaubel 2001; Von Hayek 1971) umfassend thematisiert wird. Der Zusammenhang 1 Die Begründer und Hauptvertreter des `Varieties-of-Capitalism´-Ansatzes, d.h. Peter Hall, Torben Iversen, Jonas Pontusson und David Soskice, sind Politikwissenschaftler. Um diesen Kern herum schart sich eine sehr umfangreiche, weit verzweigte Scientific Community aus weiteren Politikwissenschaftlern und Politischen Soziologen, für die dieser Ansatz den zentralen Referenzpunkt ihrer Forschung bildet, mit dem man sich mehr oder weniger kritisch auseinandersetzt. In Deutschland ist hier insbesondere das Max-Planck-Institut-für-Gesellschaftsforschung (MPIfG) in Köln zu nennen. Es gibt aber auch einige Ökonomen, die sich auf dieses theoretische Paradigma beziehen (z.B. Allen/Funk/Tüselmann 2006; Hackethal/Schmidt/Tyrell 2003).
Die `institutionenökonomische´ Integrationshypothese
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zwischen Politik und Wirtschaft als solcher lässt sich also schon mit Rückgriff auf die Literatur nur einer der beiden genannten sozialwissenschaftlichen Disziplinen detailliert analysieren. Insofern macht es sich das Argument von Kahsnitz (2005b, 117), Integration sei erforderlich, weil man ansonsten angesichts der vermeintlichen „Grenzen dieser Fachwissenschaften“ „kein hinreichendes Verständnis des [gesellschaftlichen] Gesamtzusammenhangs vermitteln“ könne, viel zu einfach. In Anlehnung an Pandel (1978) könnte man jedoch darauf verweisen, dass sich die politikwissenschaftliche und die ökonomische Perspektive auf Politik, Wirtschaft und deren Zusammenhang (möglicherweise) voneinander unterscheiden und eine direkte In-BezugSetzung dieser unterschiedlichen Perspektiven auf dieselben Gegenstände daher bildungstheoretisch sinnvoll sein könnte. Für Pandel (1978) unterscheiden sich die sozialwissenschaftlichen Disziplinen nicht durch ihre Gegenstandsbereiche, sondern durch ihre Frageweisen (was er allerdings nicht konkret durch eine entsprechende Gegenüberstellung belegt). Aus seiner Sicht (ebd., 366ff.) ergibt sich daraus die Möglichkeit, jeweils ein nichtdisziplinär gebundenes gesellschaftlich-praktisches Schlüsselproblem der Gegenwart wie z.B. Arbeitslosigkeit zum Ausgangspunkt von fachdidaktischer Integration zu machen, welches dann mit den eigenständigen, d.h. disziplinspezifischen Frageweisen und Kategorien der einzelnen Sozialwissenschaften zunächst getrennt voneinander analysiert werden soll. Im Anschluss daran soll dann das daraus resultierende Problem- und Lösungswissen „integriert“ werden. Pandel (1978) erläutert jedoch nicht näher, wie dieser letzte und wohl entscheidende Schritt konkret aussehen soll: Was soll Integration an dieser Stelle konkret heißen? Soll darunter z.B. die fachdidaktische Herstellung einer systemischen Einheit durch den Zusammenbau von unterschiedlichen, aber ineinandergreifenden Teilen verstanden werden? Beispiel: Die Ökonomik stellt mögliche Lösungen für das Problem der Arbeitslosigkeit zur Verfügung und die Politikwissenschaft bietet Wissen bezüglich der Frage an, unter welchen politischen Voraussetzungen die Umsetzungswahrscheinlichkeit dieser Lösungen hoch ist. Oder soll Integration an dieser Stelle die Gegenüberstellung von vergleichbaren Unterschieden bezeichnen? Beispiel: Sowohl die Ökonomik als auch die Politikwissenschaft bieten unterschiedliche Lösungen für das Problem der Arbeitslosigkeit und deren jeweiliger politischer Durchsetzbarkeit zur Verfügung, die dann fachdidaktisch miteinander verglichen und auf ihre absehbare Leistungsfähigkeit hin evaluiert werden. Ob bzw. inwieweit sich die disziplinären Perspektiven auf Gegenwartsprobleme aber tatsächlich voneinander unterscheiden und ob bzw. inwieweit sich diese Perspektiven – gerade angesichts der von Pandel (1978) behaupteten unterschiedlichen, d.h. disziplinspezifischen Frageweisen – dann auch tatsächlich sinnvoll wechselseitig ergänzen und befruchten können oder sich aber direkt miteinander vergleichen lassen, ist jedoch ungeklärt. Denn dass bzw. wie genau sein abstraktes theoretisches Integrationskonzept konkret inhaltlich umgesetzt werden kann, hat Pandel (1978) noch nicht einmal exemplarisch gezeigt.
1.1 Die `institutionenökonomische´ Integrationshypothese Dieser Mangel an konkreter, wenigstens beispielhafter Illustration des Konzepts von Pandel (1978) ist umso problematischer, als seitens einiger Vertreter der Ökonomik-Didaktik gegenüber solchen Integrationskonzeptionen eingewendet worden ist, dass eine derartige
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Das Integrationsproblem der sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik
Integrationsweise bildungstheoretisch sehr schwierig sei (Kruber 2005) oder gar zwangsläufig scheitern müsse (Kaminski 2002, 65f.) – und zwar gerade weil sich die Frage- und Problemstellungen sowie die Kategorien der sozialwissenschaftlichen Disziplinen stark voneinander unterscheiden würden. Hinzu komme auch noch ein „unterschiedlicher methodischer Zugriff [der Disziplinen] auf Realität“ (ebd., 67). Aus diesem Grund würden die Untersuchungsergebnisse der sozialwissenschaftlichen Disziplinen nicht vernünftig zusammenpassen: es sei kaum möglich, „Äpfel mit Birnen zu vergleichen“ (ebd., 65f.), da die Probleme in den Disziplinen „anders konstruiert“ (ebd., 66) seien. Als genauso problematisch wie bei Pandel (1978) erweist sich jedoch, dass auch Kaminskis Postulat von der ungenügenden Kompatibilität bzw. Vergleichbarkeit der disziplinären Problem- und Fragestellungen sowie Forschungsresultate über den Status einer Hypothese nicht hinauskommt, da er seine Behauptungen ebenfalls noch nicht einmal an einem beispielhaften Themengebiet exemplarisch nachweist. Dennoch zieht Kaminski (2002) aus seiner nicht konkret belegten, rein wissenschaftstheoretischen Argumentation den weitreichenden bildungstheoretischen Schluss, dass die Integration disziplinärer Forschungsergebnisse im Unterricht zwar nicht abzulehnen sei, aber von einer Leitwissenschaft gesteuert, d.h. methodisch kontrolliert und daher wohl am besten im Rahmen getrennter Schulfächer zu erfolgen habe. Dies bedeute für die ökonomische Bildung, dass stets vom Denkansatz der Neuen Institutionenökonomik (NIÖ) als kategorialem Analyseinstrument auszugehen sei, in welchem relevante Wissensbestände anderer Disziplinen – die Funktionsweise des politischen Systems, der Wandel zu postmaterialistischen Werten etc. – als psychologische, rechtliche, politische etc. Restriktionen aufgegriffen würden, die dann bei der anreiztheoretischen Analyse der Vorteils-Nachteilskalkulationen der Akteure zu berücksichtigen seien. Integration meint im Ansatz von Kaminski (2002) also die Berücksichtigung externer Wissensbestände bei der Anwendung einer einzigen heuristischen Perspektive (der NIÖ), d.h. eines feststehenden, „invarianten“ Analyseschemas (Kaminski 2001, 55). Die Berücksichtigung nicht-wirtschaftlicher Restriktionen bei der Anwendung dieser kategorialen Heuristik wird freilich bereits von der NIÖ i.d.R. selbst hinreichend geleistet und braucht von der Fachdidaktik somit nur noch übernommen zu werden. Insofern handelt es sich letztlich um eine monodisziplinäre Integrationskonzeption. Weil die NIÖ als Leitdisziplin fungieren soll, wird das Konzept von Kaminski (2001, 2002) hier als institutionenökonomischer Integrationsansatz bezeichnet.
1.2 Die `sozialwissenschaftliche´ Integrationshypothese Aus Hedtkes Perspektive (siehe zum Folgenden Hedtke 2002a + b, 2005a + b, 2006) ist das monodisziplinäre Integrations-Konzept von Kaminski jedoch fachdidaktisch nicht haltbar, da die Verabsolutierung des Denkansatzes der NIÖ das Kontroversitätsprinzip des sozialwissenschaftlichen Lehrens verletze, welches auch für die ökonomische Bildung Geltung beanspruchen könne (Hedtke 2002a). Die sozialwissenschaftlichen Disziplinen und die in ihnen vertretenen Denkansätze seien vielmehr gleichberechtigt zu berücksichtigen. Auch er begründet seine These in erster Linie wissenschaftstheoretisch. So hält Hedtke im Gegensatz zu Kaminski (2002) erstens die Forschungsergebnisse der verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen sehr wohl für kompatibel, weil sowohl die zentralen Kategorien als auch die analytischen Denkweisen zumindest teilweise disziplinübergreifend verwendet
Die `politikwissenschaftliche´ Integrationshypothese
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würden. Zweitens stellt er die – von ihm im Gegensatz zu Pandel (1978) und Kaminski (2002) durch einige konkrete Beispiele illustrierte – zentrale These auf, dass es für dieselben gesellschaftlichen Phänomene und Probleme kontroverse analytische Erklärungsansätze gibt, die in den Disziplinen nur unterschiedlich stark vertreten seien. So existiere z.B. in der Wirtschaftswissenschaft auch noch das Paradigma der Alten Institutionenökonomik (AIÖ), das im Rahmen sozialwissenschaftlicher Bildung ebenfalls zu berücksichtigen sei. Damit fasst Hedtke das Integrationsproblem zugleich etwas anders als Pandel (1978), weil es nun nicht in erster Linie um die fachdidaktische Integration von sozialwissenschaftlichen Disziplinen geht – die in interdisziplinärer Hinsicht weitaus ähnlicher und in intradisziplinärer Hinsicht weitaus differenzierter seien als in der fachdidaktischen Debatte gemeinhin angenommen –, sondern vielmehr um die Integration von unterschiedlichen disziplinübergreifenden Erkenntnisweisen/Paradigmen (Hedtke 2005a, 27) (z.B. RationalChoice-Institutionalismus versus Sozialkonstruktivistischer Institutionalismus). Integration zielt dabei jedoch nicht auf die homogenisierende Verschmelzung dieser analytischen Denkweisen, sondern strebt deren komparative In-Bezug-Setzung an. Anstatt eine analytische Perspektive zu verabsolutieren (wie bei Kaminski (2002)), sollten diese kontroversen Erklärungsansätze miteinander verglichen werden. So könne der Lernende durch eine entsprechende Multiperspektivität und Kontroversität zu tiefer gehenden, d.h. komplexeren und reflektierteren, da mehrdimensionalen Einsichten gelangen (Hedtke 2006a, 216). Das sozialwissenschaftliche Integrationsproblem bestehe daher ganz allgemein in der „Strukturierung des Heterogenen“ (Hedtke 2005a, 28), d.h. in der übersichtlichen komparativen InBezug-Setzung von heterogenen „gesellschaftswissenschaftlichen Denkweisen, Konzeptionen und Erklärungsversuchen“ (Hedtke 2006a, 216), die sich auf denselben Sachverhalt der Realität (z.B. ein bestimmtes Problem) beziehen. Angesichts der postulierten Gleichberechtigung der sozialwissenschaftlichen Disziplinen und der Betonung divergierender analytischer Denkweisen wird das Konzept von Hedtke hier als sozialwissenschaftlicher Integrationsansatz bezeichnet.
1.3 Die `politikwissenschaftliche´ Integrationshypothese Doch kann man aus der bloßen Existenz verschiedener (disziplinär dominanter) Denkweisen auf der Wissenschaftsebene ohne weiteres deren gleichberechtigte Repräsentation auf der Bildungsebene ableiten? Im Anschluss an einige Politikdidaktiker (Detjen 2006a; Scherb 2005) könnte man gegenüber dieser Prämisse einwenden, dass eine Integration im Sinne von Hedtke zur Sicherung von Kontroversität und angesichts weitgehend übereinstimmender wissenschaftlicher Kategorien zwar in der Tat notwendig sei, eine Gleichberechtigung der sozialwissenschaftlichen Disziplinen dabei aber aufgrund differenter disziplinärer Zielsysteme nicht gerechtfertigt sei. Denn diesen Autoren zufolge hat sich die Ökonomik gegenüber ethischen Gesichtspunkten verselbständigt (Detjen 2006a, 72) und habe – im Gegensatz zur Politikwissenschaft – kaum mehr die dienende Rolle wirtschaftlicher Prozesse im Hinblick auf übergeordnete Gesichtspunkte wie das gute Leben und das gerechte gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen im Blick (Detjen 2006a, 73; Massing 2006, 84). Daher sei die von der Ökonomik-Didaktik vorgenommene Verknüpfung des ökonomischen Denkansatzes mit der Kategorie des Gemeinwohls (DEGÖB 2004, 5) hochgradig artifiziell und führe zu einer „Inkompatibilität“, denn die individualistischen
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Das Integrationsproblem der sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik
Implikationen der ökonomischen Verhaltenstheorie könnten keine soziale Perspektive (im Sinne der postkonventionellen2 Perspektive von Kohlberg (1995)) zur Entfaltung bringen, sodass die ökonomische Bildung zumindest für den Bereich der öffentlichen Angelegenheiten weit weniger stark zuständig sei als die politische Bildung (Scherb 2005, 123ff.). Während sich die deutsche Politikwissenschaft als Demokratiewissenschaft von Beginn an durch eine entsprechende normative Ausrichtung ausgezeichnet habe, könne die ökonomische Bildung ihre ethischen Zielsetzungen nicht aus der Ökonomik gewinnen, sondern müsse dazu extern auf die politische Philosophie zurückgreifen. Infolgedessen stelle die politische Bildung bzw. die Politikwissenschaft das „umfassendere“ System dar, mit deren Hilfe die ökonomische Bildung ihre diesbezüglichen Defizite beheben müsse (ebd., 114f., 123). Dementsprechend meint Detjen (2006a, 76) unter Berufung auf die Verhältnisbestimmung der Sozialwissenschaften durch Aristoteles, dass es sinnvoll sei, die Ökonomik der Politikwissenschaft als Leitwissenschaft im Rahmen einer interdisziplinär ausgerichteten politischen Bildung unterzuordnen, weil die Politikwissenschaft die „allgemeinsten Überlegungen über das gemeinschaftlich Gute und Gerechte anstelle“ (ebd.). Integration bedeutet hier also, dass zur Beantwortung der von normativen politikwissenschaftlichen Theorien angeleiteten Frage nach der guten und gerechten Gesellschaft je nach Bedarf auch auf dafür benötigte ökonomische Erkenntnisse über volkswirtschaftliche Zusammenhänge, d.h. v.a. über wirtschaftliche Voraussetzungen und Folgen staatlichen Handelns zurückgegriffen wird. Angesichts der Tatsache, dass seit Aristoteles mehr als 2000 Jahre vergangen sind und der sog. ökonomische `Imperialismus´ wie oben bereits angedeutet auch vor dem Bereich der Politik nicht Halt gemacht hat, stellt sich jedoch die Frage, ob diese – weder von Detjen (2006a) noch von Scherb (2005) für den derzeitigen fachwissenschaftlichen Diskussionsstand konkret-komparativ belegte – Hypothese vom Primat der Politikwissenschaft in Fragen des Gemeinwohls auch heute noch zutrifft. Angesichts der der Politologie eingeräumten Leitfunktion wird dieses Konzept hier als politikwissenschaftlicher Integrationsansatz bezeichnet.
1.4 Schwächen der Ansätze und offen gebliebene Fragen Die oben dargestellten Beiträge zur fachdidaktischen Integrationsdebatte zeichnen sich dadurch aus, dass sie 1) allgemeine wissenschaftstheoretische Hypothesen über angebliche Fragestellungen und Ziele der einzelnen Fachwissenschaften und deren Verhältnis zueinander aufstellen, ohne dass diese Hypothesen an konkreten Unterrichts-Themen belegt würden. Dafür werden aus diesen Hypothesen aber umso weitreichendere fachdidaktische Schlussfolgerungen gezogen (das gilt für den institutionenökonomischen und den politikwissenschaftlichen Integrationsansatz). Schließlich machen sie 2) ohne systematische bildungstheoretische Reflexion die (behaupteten) zentrale(n) Struktur(en) der Fachwissenschaft(en) als solche zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen, die dann im Nachhinein in allgemeiner Form als bildungstheoretisch wertvoll deklariert werden, sodass die zentralen 2 Die postkonventionelle Gerechtigkeitsperspektive zeichnet sich nach Kohlberg (1995) dadurch aus, dass sich das Handeln nicht mehr an den Kriterien des reinen Eigennutzes, loyaler Gruppenkonformität oder unkritischer Systemstabilisierung orientiert, sondern an ethischen Prinzipien, die verallgemeinerbar im Sinne des Kantschen Imperativs bzw. des Rawlschen Schleiers der Unwissenheit sind, d.h. durch sozialen Perspektivenwechsel (Bewusstmachen der legitimen Ansprüche aller Beteiligten) gewonnen werden. Aus diesem lassen sich Grundwerte wie Freiheit, Gleichheit, Frieden und Leben (Breit 1998) ableiten.
Schwächen der Ansätze und offen gebliebene Fragen
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Strukturen der Fachwissenschaft offenbar nur noch in verkleinerter, vereinfachter und anschaulicher Ausführung `kopiert´ zu werden brauchen (das gilt v.a. für den institutionenökonomischen und den sozialwissenschaftlichen Integrationsansatz). Die Fachdidaktik ist jedoch kein bloßer `Transmissionsriemen´, sondern (auch) eine inhaltliche Auswahl-Wissenschaft, sodass eine erhebliche bildungstheoretische Filterung von fachwissenschaftlichen Wissensstrukturen geboten ist, um abbilddidaktische Tendenzen zu vermeiden (Kahsnitz 2005b, 118ff.; Weber 2004, 79f.). Fachdidaktische Überlegungen zur Art und Weise von Integration sollten daher systematisch von bildungstheoretisch gewonnenen zentralen Bildungszielen angeleitet werden (ebd.), um Kriterien zu gewinnen, mit denen geklärt werden kann, welches Wissen bzw. welche Art von fachwissenschaftlichem Wissen überhaupt als bildungsrelevant gelten kann und in welchen Lernbereichen welche Art von Integration vonnöten ist, um die zuvor aufgestellten Bildungsziele zu erreichen. Kurzum: Man benötigt als ersten Ausgangspunkt eine „Philosophie des Schulfachs“ (Henkenborg 2001), die aufzeigt, warum und wozu die Schüler sich unter welchen Fragestellungen mit welchen Phänomenen der sozialen Welt auseinandersetzen sollen und mit welchen nicht. Deshalb gilt: Selbst wenn es wissenschaftstheoretisch zutreffen sollte, dass analytische Denkweisen wie z.B. NIÖ / Rationalhandlungs-Institutionalismus und AIÖ / Sozialkonstruktivistischer Institutionalismus existieren bzw. den sozialwissenschaftlichen Diskurs dominieren, ist damit bildungstheoretisch noch lange nicht begründet, dass man (genau) diese (Art von) Denkweisen oder deren Vergleich zur zentralen fachdidaktischen Achse, d.h. zum Strukturprinzip des sozialwissenschaftlichen Unterricht machen sollte. Denn warum sollte es fachdidaktisch nicht vorteilhafter sein, den Bildungsprozess angesichts des gemeinhin postulierten zentralen Ziels des v.a. (wirtschafts)politisch mündigen Bürgers z.B. durch die Opposition zwischen den normativen Strömungen des Liberalismus (z.B. Brennan/Lomasky 2006), Kommunitarismus (z.B. MacIntyre 1995) und Republikanismus (z.B. Pettit 1997) oder aber durch die Thematisierung der Auseinandersetzungen zwischen Anarchismus, Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus im 19. Jahrhundert (Petrik 2007) zu strukturieren? Oder wäre es fachdidaktisch vielleicht angemessener, von den `großen (d.h. gesellschaftliche Teilbereiche übergreifenden) Erzählungen´ überhaupt Abschied zu nehmen und sich jeweils mit stärker bereichsspezifisch ausgerichteten und deshalb möglicherweise sachlich viel präziseren Theorie(konflikte)n zu beschäftigen? Beispiele dafür wären 1) die Auseinandersetzung zwischen der Institutionalistischen Politischen Ökonomie, dem Neofunktionalismus, dem liberalen Intergouvernementalismus und dem Multi-Level-GovernanceAnsatz bei der Behandlung der Europäischen Integration (Bieling/Lerch 2004; Schäfer 2002, 2), die Auseinandersetzung zwischen Neoliberalismus, Neokeynesianismus und Postkeynesianismus (Priewe 2002) bei der Behandlung von Wirtschaftspolitik oder 3) die Auseinandersetzung zwischen „Bioenvironmentalists“, „Social Greens“, „Institutionalists“ und „Market Liberals“ (Clapp/Dauvergne 2005) bei der ökologischen Problematik. Oder kann man es sich nicht viel einfacher machen, indem man das Integrationsproblem einfach dadurch löst, dass man schlicht die von der Wissenschaft vorgegebenen disziplinären Grenzziehungen didaktisch reproduziert und in jedem Politikfeld `die´ ökonomische Perspektive und `die´ politikwissenschaftliche Perspektive miteinander vergleicht, wie es die Gliederung des Handbuchs ökonomisch-politische Bildung (Althammer/Andersen/ Detjen/Kruber 2007) nahelegt?
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Das Integrationsproblem der sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik
Welche (Art von) sozialwissenschaftlicher/n Denkweise(n) sollte man also wählen und (wie) aufeinander beziehen? Welche Prioritäten sollte man angesichts der zeitlichen Restriktionen des Unterrichts setzen? Kann die Fachdidaktik vorgegebene disziplinäre Grenzziehungen oder entsprechende Übersichten über Denkweisen einfach aus der/den fachwissenschaftlichen Selbstwahrnehmung(en) kopieren oder sollte sie aus bestimmten Gründen eine eigenständige, genuin fachdidaktische Strukturierung erstellen? Da diese Fragestellung(en) nicht fachwissenschaftlich entschieden werden können und man – es sei denn, Fachdidaktik würde größtenteils auf eine methodische Vermittlungstechnik reduziert – diese Auswahl meiner Ansicht nach auch nicht völlig den jeweiligen persönlichen Vorlieben der Lehrenden anheimstellen sollte, benötigt man – gerade angesichts der knappen Unterrichtszeit (Kahsnitz 2005b, 116) – (ein) fachdidaktische(s) Kriterium/en zur Feststellung der Bildungsrelevanz fachwissenschaftlicher Wissensangebote und Denkweisen. Die dafür erforderlichen Bildungsziele sollten jedoch nicht wie z.B. bei Hedtke (2006, 220f.) unumwunden ohne bildungstheoretische Begründung direkt aus den zentralen Begriffen der Sozialwissenschaft(en) abgeleitet werden, d.h. fachwissenschaftliche Stoffkategorien sollten nicht einfach zu Bildungskategorien umdeklariert werden – so bereits die Kritik von Kahsnitz (2005b, 115) an diesbezüglich strukturell sehr ähnlich vorgehenden Konzepten in der Ökonomikdidaktik (Kruber 2000). Stattdessen müssen Bildungsziele und daraus gewonnene inhaltliche Auswahlkriterien unter Rückgriff auf eine allgemeine Bildungstheorie fundiert und begründet werden, wie es z.B. Kahsnitz (2005b, 130-136) versucht, denn anderenfalls besteht die Gefahr einer Abbilddidaktik. So bleibt aus bildungstheoretischer Sicht unklar, warum ausgerechnet das Verständnis der fachwissenschaftlichen Kategorien „Konstrukte, Kommunikationen, Denkweisen, Denkwirkungen, Institutionen, Nebenwirkungen, Normen, Evolutionen, Interessen, Perspektiven, Ebenen und Aussagetypen“ (Hedtke 2006a, 220ff.) als zentrale zu erreichende Kompetenz postuliert wird. Wozu sollen die Schüler dies lernen? Ist kategoriale Wissenschaftspropädeutik ein Selbstzweck? Warum gerade diese Begriffe und nicht andere? Warum sollte man stattdessen nicht z.B. die lebensqualitätsorientierten Kategorien der Arbeitszeit, Vollbeschäftigung, Bildung/Kompetenz (Humankapital), Demokratie, Freiheit / Autonomie, Frieden, Gerechtigkeit, Gesundheit, Nachhaltigkeit, Preisstabilität, Sicherheit, soziale Anerkennung/Integration (Sozialkapital), soziale (Chancen)(un)gleichheit und Wirtschaftswachstum in das didaktische Zentrum stellen? In diesem Fall könnte man didaktisch postulieren, dass Schüler als oberstes Ziel die Kompetenz erwerben sollen, beurteilen zu können, welche gesellschaftlichen Faktoren diese Größen – die gemäß der empirischen Glücksforschung für die Lebensqualität der Menschheit (und damit der Schüler) eine zentrale Bedeutung besitzen – aus wissenschaftlicher Sicht negativ bzw. positiv beeinflussen.
1.5 Fragestellung, Ziel und Vorgehensweise der Arbeit Angesichts der oben dargestellten kontroversen fachdidaktischen Diskussion stellt sich somit die für diese Arbeit zentrale Fragestellung, ob man die Wissensstrukturen aus den verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen im Rahmen des Bildungsprozesses in Form 1) des institutionenökonomischen, 2) des politikwissenschaftlichen oder 3) des sozialwissenschaftlichen Integrationsansatzes aufeinander beziehen sollte. Anhand von welchen bildungstheoretischen Kriterien kann man diese Frage entscheiden? Erfordern diese Krite-
Fragestellung, Ziel und Vorgehensweise der Arbeit
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rien die Entwicklung einer vierten, neuartigen Integrationskonzeption? Kann man die Frage nach der `richtigen´ Form von Integration überhaupt generell beantworten oder erhält man für verschiedene Lernbereiche unterschiedliche Antworten? Welche (Art von) sozialwissenschaftliche(n) Denkweise(n) sollte(n) sozialwissenschaftliche Integration strukturieren? Im Rahmen der Auseinandersetzung mit diesen Fragen besteht das zentrale Ziel dieser Arbeit darin, den derzeitigen Mangel3 an einer systematisch ausgearbeiteten theoretischen Grundlage für eine integrative sozialwissenschaftliche Fachdidaktik zu beheben und so eine fachdidaktikwissenschaftlich fundierte Basis für sozialwissenschaftlich ausgerichtete Schulfächer auf der Sekundarstufe II in Deutschland zu erarbeiten – unabhängig davon, ob dieses Fach nun direkt „Sozialwissenschaften“ (Nordrhein-Westfalen) oder „Gemeinschaftskunde“ (Baden-Würtemberg), „Politik/Wirtschaft“ (Hessen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein), „Politik/Gesellschaft/Wirtschaft“ (Hamburg), „Sozialkunde“ (RheinlandPfalz, Mecklenburg-Vorpommern) genannt wird. Genauer gesagt verfolgt diese Arbeit das Ziel, ein basales theoretisches Fundament für eine integrative sozialwissenschaftliche Fachdidaktik zu konzipieren, die… a.
…bildungstheoretisch fundiert ist.
b.
…fachwissenschaftliche Inhaltsstrukturen (aber nur solche mit Bildungsrelevanz) bzw. Verhältnisse zwischen derartigen Inhaltsstrukturen verschiedener Fachwissenschaften nicht in allgemein-generalisierender, unbelegter Form behauptet, sondern diese differenziert anhand exemplarisch ausgewählter Themengebiete ausführlich analysiert, prüft und konkret nachweist und dabei den inhaltlichen `Imperialismus´ aller sozialwissenschaftlicher Disziplinen berücksichtigt.
c.
…hinreichend sensibel für mögliche pluralistische Denkweisen sowie den damit verbundenen möglichen sozialwissenschaftlichen Kontroversen ist, diese aber nur bei entsprechender Bildungsrelevanz berücksichtigt.
d.
…hinsichtlich ihrer Integrationstechnik an zwei für den Bildungsbereich zentralen Lernbereichen (Politisches System und Wirtschafts- und Sozialsystem) ausführlich illustriert wird.
Zur Beantwortung dieser Fragestellung und Erreichung dieses Ziels wird folgendermaßen vorgegangen. Kapitel 2 setzt sich zunächst mit der (unbelegten) Behauptung von Vertretern der institutionenökonomischen Fachdidaktik auseinander, wonach ein sozialwissenschaftliches Unterrichtsfach zwangsläufig, d.h. aus wissenschaftstheoretischen Gründen ein inhaltlich verfehltes Konzept darstellen müsse, da es sich bei den sozialwissenschaftlichen Disziplinen angeblich um drei „grundverschiedene“ Fächer handele, die im Hinblick auf den Er3 Auch das von Behrmann/Grammes/Reinhardt (2004) ausgearbeitete, zweifelsohne didaktisch anregende Kerncurriculum Sozialwissenschaften für die gymnasiale Oberstufe kann nicht den Status eines systematisch ausgearbeiteten Integrationskonzeptes beanspruchen, weil dort die für die Konstitution des Faches entscheidende Integrationsfrage nur am Rande behandelt wird bzw. auf eine Erörterung dieser Frage sogar explizit verzichtet wird (ebd., 369).
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Das Integrationsproblem der sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik
kenntnisgegenstand „nur wenig gemein“ hätten (DAI 2008, 17f.). Im Gegensatz zu dieser These wird in Kapitel 2 anhand von Übereinstimmungen bzgl. der Gegenstandsbereiche, der Kategorien und der Verhaltensmodelle der drei sozialwissenschaftlichen Disziplinen jedoch ausführlich aufgezeigt, dass diese Argumentation nicht zutreffend ist. Nachdem so die grundsätzliche fachwissenschaftliche Möglichkeit eines sozialwissenschaftlichen Unterrichtsfaches dargelegt worden ist, wird untersucht, welcher fachdidaktische Integrationsansatz in welchem Lernbereich aus bildungstheoretischer Sicht am Besten geeignet erscheint. Die zentrale Voraussetzung dafür wird in Kapitel 3 erarbeitet, das mit Klafki (1996) als Ausgangspunkt eine bildungstheoretische Grundlage für sozialwissenschaftliches Lernen entwickelt und daraus zentrale Bildungsziele sowie fachdidaktische Inhaltsauswahlkriterien ableitet, die sowohl mit den zentralen Zielvorstellungen der Ökonomikdidaktik, der Politikdidaktik und der sozialwissenschaftlichen Didaktik grundsätzlich kompatibel sind. Hieraus ergibt sich ein integratives Leitbild einer sozialwissenschaftlich gebildeten Persönlichkeit, die insbesondere über eine sozialwissenschaftlich reflektierte gestaltungsorientierte Urteilsfähigkeit verfügen sollte. Des Weiteren werden auf diese Weise besonders bildungsrelevante Themenbereiche für ein sozialwissenschaftliches Curriculum identifiziert. Danach entwickelt Kapitel 4 ein allgemeines kategoriales Strukturschema für den auf gestaltungsorientierte Urteilsfähigkeit zielenden sozialwissenschaftlichen Unterricht, aus dem genauer ersichtlich wird, welche kategorialen Leitfragen zur Strukturierung des gestaltungsorientierten Unterrichts geeignet sind und welchen speziellen fachdidaktischen Anforderungen eine Integrationsweise genügen muss, um die in Kapitel 3 aufgestellten Bildungsziele systematisch verfolgen zu können. Dieses integrative Strukturschema wird dabei durch fachdidaktische Integration und kritische Weiterentwicklung von einem in der Politikdidaktik und einem in der Ökonomikdidaktik verbreiteten Schema gewonnen. Im Anschluss daran erläutert Kapitel 5 unter Rückgriff auf und in kritischer Auseinandersetzung mit Petrik (2007), welche genaue Art von sozialwissenschaftlichen Denkweisen geeignet sind, das kategoriale Strukturschema aus Kapitel 4 inhaltlich zu füllen und mit Hilfe welcher fachdidaktischen Vorgehensweise und welcher Instrumente derartige sozialwissenschaftliche Denkweisen identifiziert und strukturiert werden können. Kapitel 6 und 7 untersuchen sodann exemplarisch anhand der beiden zentralen Themenbereiche Wirtschafts- und Sozialsystem und Politisches System, welche konkreten sozialwissenschaftlichen Denkweisen und welche der drei oben vorgestellten fachdidaktischen Integrationsweisen in diesen gesellschaftspolitischen Feldern jeweils geeignet sind, das in Kapitel 3 herausgearbeitete Bildungsziel der gestaltungsorientierten Urteilsfähigkeit zu erreichen und sich mit den auf ebendieses Ziel bezogenen, in Kapitel 4 aufgeführten kategorialen Leitfragen auseinanderzusetzen. Zugleich wird dabei aufgezeigt, dass und warum kategoriale und gestaltungsorientierte Fachdidaktik nicht notwendigerweise unvereinbar sein müssen, sofern anerkannt wird, dass wissenschaftliche Kategorien keinen didaktischen Selbstzweck, sondern Hilfsmittel darstellen. Durch Kontraste mit einigen gegenwärtigen, vom Schulministerium in Nordrhein-Westfalen zugelassenen Schulbüchern (Bauer et al. 2008; Detjen 2006b; Floren 2006; Heither/Klöckner/Wunderer 2006; Jöckel 2006; Kaminski 2006) wird an ausgewählten Stellen verdeutlicht, wo das in dieser Arbeit vertretene Integrationskonzept der gestaltungsorientierten Fachdidaktik Optimierungsbedarf bei derzeitigen praxisnahen Lernmitteln sieht.
Fragestellung, Ziel und Vorgehensweise der Arbeit
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Kapitel 8 wertet die anhand der beiden Teilbereiche gewonnenen Erkenntnisse aus Kapitel 6 und 7 mit Blick auf die oben aufgeworfene zentrale Fragestellung nach der angemessenen Integrationsweise und der Art der didaktisch sinnvollen Perspektiven zusammenfassend aus. Es kommt dabei zu dem Ergebnis, dass sich das in Kapitel 3 herausgearbeitete zentrale Bildungsziel der gestaltungsorientierten Urteilsfähigkeit am Besten durch eine neuartige, vierte Integrationsweise fördern lässt, die bestimmte theoretische Elemente aus allen drei Integrationshypothesen miteinander verbindet. Andere Elemente sind hingegen jeweils aufzugeben, da sie sich bei genauer Analyse als fachdidaktikwissenschaftlich nicht haltbar erweisen. Die in dieser Arbeit entwickelte sozialwissenschaftliche Bildungskonzeption eignet sich als basale theoretische Grundlage nicht nur für die Sekundarstufe II, sondern kann auch eine zentrale Grundidee bilden für die inhaltliche Ausrichtung entsprechender universitärer Studiengänge außerhalb der Lehrerbildung. Dies gilt insbesondere dann, wenn man die These vertritt, „dass der eigentliche Adressat der Wissenschaft von der Gesellschaft das öffentliche und gemeinsame Nachdenken ihrer Mitglieder über deren gute Ordnung zu sein habe“ (Streeck 2008, 22), d.h. wenn das primäre didaktische Ziel des sozialwissenschaftlichen Studiums darin bestehen soll, Menschen auszubilden, die in ihren späteren Funktionen (z.B. im Mediensystem) u.a. einen kompetenten Beitrag dazu leisten sollen, ebendieses öffentliche und gemeinsame Nachdenken zu stimulieren und zu intensivieren, aber auch zu strukturieren und in möglichst rationale Bahnen zu lenken.
2 Gibt es grundlegende disziplinäre Differenzen zwischen den Sozialwissenschaften?
Wie bereits oben angedeutet, vertreten Kaminski (2002; DAI 2008) und Kruber (2005) – im Gegensatz zu den anderen beiden oben aufgeführten Integrationsansätzen – die These, dass eine disziplinär gleichberechtigte Integration von Soziologie, Politologie und Ökonomik im Rahmen eines einheitlichen Faches „Sozialwissenschaften“ (wie bei Pandel (1978) oder Hedtke (2005)) angesichts unterschiedlicher Frage- und Problemstellungen, Erkenntnisgegenstände, Kategorien und analytisch-methodologischer Verhaltensmodelle der Disziplinen aus wissenschaftstheoretischen Gründen apriori scheitern müsse (DAI 2008; Kaminski 2002) bzw. nur schwer möglich sei (Kruber 2005).
2.1 Unterschiedliche Frage- und Problemstellungen? Aus der Sicht von Kruber (2005) beschäftigt sich die Politologie in erster Linie mit der Verfassung des politischen Gemeinwesens, der Frage nach politischer Macht und der Legitimation politischer Entscheidungen sowie dem Problem der Sicherung von Frieden, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit. Hingegen stünden in der Ökonomik der effiziente Umgang mit Knappheiten, das (Nicht-)Funktionieren von Märkten und die Frage nach der Sicherung von individuellen Verwirklichungschancen im Mittelpunkt der Analyse (ebd., 79-80). Entgegen den von Kruber (2005) verwendeten formalen Termini zur Bezeichnung dieser Unterschiede („Fragestellungen“, „Instrumente“), scheint in diesen vermeintlichen Belegen jedoch wieder die obsolete Auffassung durch, dass die sozialwissenschaftlichen Disziplinen ihren Fokus auf unterschiedliche Wirklichkeitsbereiche bzw. zumindest verschiedene Aspekte dieser Bereiche richten würden. Diese These, wonach sich die wissenschaftlichen Disziplinen Ökonomik und Politologie durch unterschiedliche inhaltliche Gegenstände (Ökonomik: Märkte, Effizienz, Knappheit, Wirtschaftskreislauf; Politologie: Verfassung, Macht, Frieden, Freiheit, soziale Gerechtigkeit) voneinander unterscheiden, kann jedoch nicht überzeugen (zur ausführlichen Begründung siehe Kapitel 2.1.1. und 2.1.2.). Dasselbe gilt auch für die mit Krubers Argumentation übereinstimmende, von Kaminski (2007, 7) vertretene Behauptung, die Ökonomik sei eine „Theorie der Marktprozesse“, die sich mit „Wirtschaft, Wertschöpfung und Beschaffung“ befasse, wohingegen die Politologie eine „Theorie der Machtprozesse“ sei, die sich mit „Staat, Politik, Gouvernanzregimes“ beschäftige (so auch DAI 2008, 19). Denn diese auch von Willke (2006, 40f.) vorgenommene Zuordnung von einer Fachwissenschaft zu einem bestimmten gesellschaftlichen Subsystem entspricht nicht den derzeitigen Gegenstandsbereichen der jeweiligen heutigen fachwissenschaftlichen Diskussion. Sie ist schlichtweg nicht haltbar, wie im Folgenden ausführlich gezeigt wird. Selbst wenn man zunächst einmal kontrafaktisch annimmt, dass diese These zutreffen würde, wäre das ein Grund für fachdidaktische Integration im Sinne einer sehr intensiven,
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wechselseitigen, ineinandergreifenden Ergänzung disziplinärer Perspektiven. Denn die Unterscheidung zwischen „Machtprozessen“ und „Marktprozessen“ stellt eine idealtypische Unterscheidung im Sinne von Max Weber (1991) dar, mit der man den fachdidaktischen Lernprozess zwecks anfänglicher Komplexitätsreduktion vielleicht sinnvoll beginnen kann, bei dem dieser aber nicht stehen bleiben darf. Denn zum einen fördert es erheblich das Verständnis der Funktionsweise des politischen Systems und die darauf bezogene (wirtschafts)politische Urteilskraft, wenn politische Machtprozesse unter Rückgriff auf Marktmechanismen analysiert werden, wie in ganz unterschiedlicher Weise sowohl Wohlgemuth (2004) als auch auch Behrends (2007) gezeigt haben. Auch der soziale Kitt einer Gesellschaftsordnung, nämlich soziale Anerkennungsprozesse, lässt sich unter Rückgriff auf Marktprozessmechanismen analysieren, wie Brennan/Pettit (2004) in einer ökonomisch-politologischen Koproduktion dargestellt haben. Zum anderen stellen real existierende Märkte keinen machtfreien Raum dar (siehe dazu auch die Beiträge in Berger/Nutzinger 2008), sondern sind häufig von staatlichen und privaten Machtstrukturen geprägt, die nicht selten zusammenwirken. Dies kann man nicht nur anhand monopolistisch oder oligopolistisch vermachteter Märkte erkennen, sondern auch an der nicht selten verbraucherfeindlichen, aber produzentenfreundlichen Regulierung von Märkten wie z.B. dem deutschen Privatversicherungsmarkt (Rehberg 2003, 249ff.), die man mit Olson (1968) auf die Logik kollektiven Handelns und damit auf die unterschiedliche politische Organisationsfähigkeit und damit Macht von Verbraucher- und Produzenteninteressen zurückführen kann (Von Weizsäcker 2002, 16ff.). Die Macht bestimmter sozialer Gruppen gegenüber anderen Gruppen zeigt sich in der Wirtschaft überdies auch in Form der ökonomischen Diskriminierung von Frauen, die in der (feministischen) Ökonomik auch erforscht wird (z.B. Kreimer 2009). Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass diese wichtige Problematik in ökonomikdidaktischen Hand- und Schulbüchern (Bauer et al. 2008; Kaminski 2005; May 2008) ignoriert wird. Dasselbe gilt für die rassistische Diskriminierung von Arbeitnehmern mit nicht-weißer Hautfarbe durch Arbeitgeber mit weißer Hautfarbe, deren hohe empirische Bedeutsamkeit z.B. durch die Studie von Pager/Western/Bonikowski (2009) belegt wird. Die mancherorts propagierte These, die scheinbar machtfreie Sphäre des freien Marktes würde solche Diskriminierungen von Minderheiten weitaus besser beseitigen als die angeblich notgedrungen von der eigennützigen Wähler-Mehrheit korrumpierte Macht der Politik (Weede 2003, 24), erweist sich insofern als einigermaßen fragwürdig. Weitere Beispiele machen deutlich, dass Macht „als jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht“ (Weber 1980, 28) ein Phänomen ist, das sich in der real existierenden Wirtschaft häufig beobachten lässt. Erstens zeigen sich auf dem deutschen Privatversicherungsmarkt nicht nur – die von der NIÖ so betonten – Informationsasymmetrien, sondern insbesondere auch erhebliche Macht-Asymmetrien zwischen Verbrauchern und Versicherungskonzernen (siehe den Artikel „Die großen Verunsicherer“ in der Zeitschrift FOCUS 12/2007, 152-166 und das dortige Interview mit dem Rechtswissenschaftler Hans-Peter Schwintowski). Diese MachtAsymmetrien sind fachdidaktisch mit Blick auf die künftige Selbstbestimmungsfähigkeit der Schüler von großer Relevanz. Dasselbe gilt zweitens für von Macht geprägte Beziehungen zwischen Bankberatern und ihren Vorgesetzten (siehe z.B. den preisgekrönten Artikel von Melanie Bergermann in
Unterschiedliche Frage- und Problemstellungen?
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der Wirtschaftswoche vom 02.02.2008 (Nr. 6), 55-63), in denen Vorgesetzte ihre Kundenberater unter derart massiven Vertriebsdruck setzen, dass diese sich faktisch gezwungen sehen, ihre Kunden unangemessen zu beraten und diese der Beratung aufgrund von Informationsasymmetrien dennoch vertrauen. Deshalb ist es fachdidaktisch außerordentlich problematisch, wenn Kaminski/Behrends/Brettschneider/Koch (2005, 22-26 & 67-85) in ihrem Unterrichtsmaterial zur Finanzbildung diese Macht-Verhältnisse im deutschen Versicherungs- und Bankwesen nicht zur Sprache bringen, dafür aber der positiven Selbstdarstellung einer führenden deutschen Bank einen sehr breiten Raum zur Verfügung stellen (ebd., 125-128). Interessant zu wissen wäre, ob in den dort angedachten Rollenspielen mit diesem „Praxiskontaktpartner“ auch der massive Vertriebsdruck simuliert wird, unter dem viele deutsche Bankberater laut zahllosen Berichten (z.B. Bergermann 2008; Kusitzky et al. 2008; Seith 2009) stehen. Möglicherweise wäre eine Verbraucherzentrale als „Praxiskontaktpartner“ hier wesentlich besser geeignet gewesen. Drittens zeigen sich ökonomische Machtbeziehungen schließlich auch, wie neuere Dokumentationen des Journalisten Günter Wallraff (2007, 2008, 2009) exemplarisch offenbart haben, auf prekäre Weise sowohl in den Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern im deutschen Niedriglohnsektor als auch im Verhältnis zwischen Auszubildenden und Ausbildern in der deutschen Berufsausbildung. Viertens zeigt sich die Relevanz der Kategorie Macht für die Analyse von internen Akteursbeziehungen in Unternehmen exemplarisch auch am Beispiel der Investmentbank Lehman Brothers, deren Innenleben durch deren ehemaligen Kommunikationschef (Gowers 2008) skizziert wurde. Für den Bankrott dieses Geldhauses im September 2008, der die globale Finanzkrise auf dramatische Weise verschärfte, spielten demnach interne Machtverhältnisse und -kämpfe eine erhebliche Rolle (ebd.). Angesichts dessen erscheint die Insistenz, mit der bisweilen (DAI 2008) – ohne systematischen empirischen Beleg – betont wird, dass sich die „Eigenlogik“ der Akteurshandlungen und -beziehungen in Politik und Wirtschaft grundsätzlich voneinander unterscheiden würden (ebd., 19), sehr übertrieben: „Zu sagen, dass Dick Fuld [der ehem. CEO von Lehman Brothers, T.H.] von einem Persönlichkeitskult umgeben war, wäre eine Untertreibung. (…) Seine engsten Mitarbeiter waren ihm hörig wie einem mittelalterlichen Monarchen (…). Sie hielten Ärger von ihm fern – und alles, was er nicht hören wollte. (…) Sein Stil enthielt auch die Saat des Desasters: Niemand konnte oder wollte das Urteil des Bosses infrage stellen, wenn es falsch war oder wenn die Dinge auf eine schiefe Bahn gerieten. (…) Gregory [der ehem. Geschäftsführer von Lehman Brothers, T.H.] drängte Lehmans Manager, noch aggressivere Wetten abzuschließen auf haussierenden Märkten wie dem Hypothekengeschäft. Ihm im Wege zu stehen konnte tödlich sein für die Karriere. Bereichsleiter, die zur Vorsicht mahnten, sägte Gregory ab.“ (Gowers 2008)
Dies steht im Widerspruch zur gängigen ökonomischen These, die unsichtbare Hand eines freien (Arbeits-)Marktes verhindere die Entwicklung solcher despotischen MachtVerhältnisse im Innern von Unternehmen (Von Weizsäcker 2002). Man könnte einwenden, dass die vier gerade aufgeführten Beispiele für die Relevanz von Macht in der Wirtschaft (meines Wissens) bisher gar nicht – ganz im Gegensatz zu der äußerst umfangreich erforschten gewerkschaftlichen Vermachtung von Arbeitsmärkten – von der Ökonomik analysiert worden sind. Aber soll man daraus etwa den Schluss ziehen, dass diese Machtphänomene kein Gegenstand ökonomischer Bildung sein können? Bei
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Gibt es grundlegende disziplinäre Differenzen zwischen den Sozialwissenschaften?
aller gebotenen Vorsicht gegenüber der Reliabilität und Validität journalistischer Berichte kann das Prinzip der Wissenschaftsorientierung wohl kaum bedeuten, dass didaktisch nur das behandelt werden darf, was von der Wissenschaft untersucht wird. Alle oben genannten `journalistischen´ Beiträge sind bei didaktisch reflektiertem Einsatz durchaus geeignet, Individuen zu einem ethischen Urteil über ökonomische Sachverhalte (DEGÖB 2004, 5) zu verhelfen. Akzeptiert man dies, fragt man sich: Worin soll denn überhaupt die fachdidaktische Relevanz der wissenschaftstheoretischen These Kaminskis (2007) und Willkes (2006) liegen, dass es sinnvoll sei, zwischen einer ökonomischen `Markt-Wissenschaft´ und einer politologischen `Macht-Wissenschaft´ zu differenzieren? Wie gesehen genügt es nicht, Wirtschaft nur mit einer „Theorie der Marktprozesse“ (Kaminski 2007) zu analysieren.
2.1.1 Ökonomische Analyse politischer Machtbeziehungen: Die Konstitutionenökonomik Unabhängig von dieser Kritik lässt sich die von Kaminski (2007) und Willke (2006) getroffene Unterscheidung zwischen `wirtschaftswissenschaftlichen Marktprozessen´ und `politikwissenschaftlichen Machtprozessen´ aber auch gar nicht aufrechterhalten. Zum einen beschäftigen sich viele Ökonomen im Rahmen der sogenannten Konstitutionenökonomik (z.B. Acemoglu/Robinson 2005; Blankart/Mueller 2002; Brunetti/Straubhaar 1996; Feld/ Kirchgässner 2003; Feld/Kirchgässner/Savioz 1999; Kirchgässner 2004; Kruse 2008; Leschke 1993; Mueller 2003; Vanberg 2004 & 2006a; Vaubel 2001; Voss 2008; Wohlgemuth 2006) intensiv mit der systematischen Analyse von politischen Institutionensystemen und den dadurch konstituierten Machtverhältnissen. Insofern ist die Verfassungsökonomik im Kern eine Theorie der Machtprozesse. Dies kommt auch darin zum Ausdruck, dass das zentrale normative Urteilskriterium der Verfassungsökonomik nicht nur die ökonomische Effizienz einer politischen Institutionenordnung ist, sondern insbesondere auch der Schutz der (negativen) Freiheit des Individuums insbesondere gegen übermäßige Machteingriffe seitens des Staates (Blankart/Koester 2006, 179f.; Gerken/Märkt/ Schick/Renner 2002, 17). Deshalb beschäftigt sich die Konstitutionenökonomik z.B. mit der Frage nach der optimalen Ausgestaltung einer politischen Verfassung. So haben z.B. einige Ökonomen die „European Constitutional Group“ gebildet und einen detaillierten Alternativvorschlag für eine Europäische Verfassung ausgearbeitet (Bernholz/Schneider/Vaubel/Vibert 2004). Ökonomen beschäftigen sich dabei auch mit dem Problem, unter welchen institutionellen Bedingungen politische Entscheidungen nicht nur als effizient, sondern insbesondere auch als legitim gelten können: sie betreiben letztlich nichts anderes als normative politische Philosophie. So untersuchen einige Ökonomen das Spannungsverhältnis zwischen demokratischem und liberalem Prinzip anhand des Verhältnisses zwischen direkter / repräsentativer Demokratie auf der einen und der Gewährleistung individueller Menschenrechte auf der anderen Seite (Frey/Goette 1998; Kirchgässner 2009). Daneben gibt es eine Reihe von Ökonomen, die sich mit der Herausforderung, wie man Frieden und Demokratie in der Welt durchsetzen und den Terrorismus bekämpfen kann, ausführlich beschäftigen (Coyne 2007; Enders/Sandler 2005; Frey/Lüchinger 2002 & 2007; Krueger 2007; Lal 2004). Überdies haben die Ökonomen Tullock (1987), Wintrobe (1998) sowie Acemoglu / Ticchi / Vindigni (2008) Theorien der Autokratie bzw. (Militär-) Diktatur entwickelt. Auch rechtsextremistische Gewalttaten sind Gegenstand ökonomischer Forschung (Krueger/Pischke 1997).
Unterschiedliche Frage- und Problemstellungen?
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Schließlich wurde kürzlich eine umfassende Analyse des US-Militarismus durch den Ökonomen Hossein-Zadeh (2006) vorgelegt. In diesen ökonomischen Studien spielen all diejenigen Kategorien, die Kruber (2005) im Anschluss an Sutor für spezifisch `politikwissenschaftlich´ erachtet und in seinem ökonomischen Kategorienkatalog nicht aufführt, eine große Rolle. Dies gilt z.B. für Problem, Information, Beteiligung, Beteiligte, Gemeinwohl, Folgen, Durchsetzung, Entscheidung, Legitimität, Macht und Mitbestimmung bei der – kontroversen – Bewertung und Analyse der politischen Auswirkungen der halb-direkten Demokratie (der Schweiz) in der Ökonomik (z.B. Feld/Kirchgässner/Savioz 1999 versus z.B. Brunetti/Straubhaar 1996). Hierbei spielen auch die vermeintlich `politikwissenschaftlichen´ Kategorien Meinung und Ideologie eine Rolle, die überdies Caplan (2007) in einem systematischen Vergleich der wirtschaftspolitischen Urteile von Bürgern und ökonomischer Profession analysiert und daraus weitreichende Schlüsse zieht. Ökonomen verfassen überdies auch wichtige (empirisch fundierte) Beiträge zu der vermeintlich `politikwissenschaftlichen´ Fragestellung, wie Presse(un)freiheit mit dem Ausmaß des politischen Wissens der Bürger und ihrer politischen Partizipationsintensität zusammenhängt (Leeson 2008). Zu beachten ist, dass die genannten ökonomischen Analysen politischer Institutionen keinesfalls zwangsläufig einen ökonomischen Reduktionismus implizieren. Beispielsweise zeigt Krueger (2007) empirisch, dass die ätiologische Quelle des islamistischen Terrorismus eben nicht, wie in der westlichen Öffentlichkeit oft vermutet wird, in ökonomischer Deprivation zu finden sei, sondern seinen Ursprung vielmehr in der Verweigerung von politischen und v.a. zivilen Grundrechten habe. Ebenso sei rechtsextremistische Gewalt in der BRD nicht sozioökonomisch bedingt, sondern Folge mangelnder staatlicher Rechtsdurchsetzung (Krueger/Pischke 1997). Das fachdidaktische `Gebietsmonopol´, das Kruber in seiner tabellarischen Aufteilung (2005, 109) der Politischen Bildung auf den Gebieten Demokratie, politische Entscheidungsprozesse und politische Philosophie einräumen möchte, ist deshalb – vorsichtig ausgedrückt – ausgesprochen fragwürdig.
2.1.2 Politikwissenschaftlich-soziologische Analyse der Wirtschaft: Das Varieties-of(Welfare)-Capitalism-Paradigma Zum anderen beschäftigt sich eine Vielzahl von Politikwissenschaftlern und Soziologen im Rahmen der vergleichenden Politischen Ökonomie (nicht zu verwechseln mit Public Choice) und des von ihnen begründeten „Varieties-of-(Welfare)-Capitalism“-Paradigma (z.B. Beyer 1998; Börsch 2007; Bradley/Stephens 2006; Busch 2005; Crouch/Le Galès/Trigilia/ Voelzkow 2004; Dobbin/Boychuk 1999; Dörre 2001; Esping-Andersen 1999; Glassmann 2007; Hall/Soskice 2001; Hall/Gingerich 2004; Hancké/Rhodes/Thatcher 2007; Kern/ Schumann 1998; Lane 2000; Obinger 2004; Scharpf/Schmidt 2000; Streeck/Höpner 2003; Streeck 1992, 2004, 2009; Thelen 1999; Voelzkow 2007; Whitley 1999; Windolf 2002 & 2005; Yamamura/Streeck 2003; Zugehör 2003) eingehend und umfassend mit der Analyse von Märkten (auch als solchen, d.h. nicht nur mit deren Verbindung zum politischen System) und den sie umgebenden ökonomischen Institutionensystemen (nationalen Produktionsregimen und regionalen Wirtschaftsclustern). Diese ökonomische Abteilung der Politikwissenschaft/Soziologie kann ohne weiteres als eine `Theorie der Marktprozesse´ bezeichnet werden.
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Dabei setzen sich die Autoren mit der Frage auseinander, welche Art von Kapitalismus, d.h. welche Formen der institutionellen Regulierung von Märkten in makroökonomischer Sicht zu welchen historischen Zeiten in welchen Produktsparten eine besonders hohe wirtschaftliche Effizienz und hohes Wirtschaftswachstum fördern, welche Märkte inwieweit funktionieren und welche nicht, wie sich die Marktregulation im Zeitverlauf ändert, welche Marktregulationen mehr Arbeitslosigkeit produzieren als andere, und mit dem Problem, welche Form des Kapitalismus welchen Individuen besonders hohe ökonomische Verwirklichungschancen bietet und welchen Individuen eher nicht. Dabei wird nicht nur gefragt, was politisch als legitim gelten kann, sondern insbesondere auch, was ökonomisch effizient erscheint: “Some [questions, T.H.] are policy-related. What kind of economic policies will improve the performance of the economy? What will governments do in the face of economic challenges? Other questions are firm-related. Do companies located in different nations display systematic differences in their structure and strategies? If so, what inspires such differences? How can national differences in the pace or character of innovation be explained? Some [questions, T.H.] are issues about economic performance. Do some sets of institutions provide lower rates of inflation and unemployment or higher rates of growth than others? What are the trade-offs in terms of economic performance to developing one type of political economy rather than another?” (Hall/Soskice 2001, 1)
Darüber hinaus gibt es eine Reihe von soziologischen Marktanalysen (z.B. Abraham/Hinz 2005; Beckert 1997; Beckert/Diaz-Bone/Ganßmann 2007; Blomert 2005, 2007; DiMaggio/ Louch 1998; Faßauer 2008; Knorr-Cetina/Preda 2004; Troy/Werle 2008). Ebenfalls in diesem Kontext zu erwähnen sind insbesondere auch die vom Mediensoziologen Schuster (2001, 2004) erstellten Analysen zum deutschen Finanzmarkt, die hinsichtlich des Kriteriums Bildungsrelevanz (hier: Förderung kritischer Konsumentensouveränität) so manche wirtschaftswissenschaftliche Publikation zu diesem Thema in den Schatten stellen. Das fachdidaktische Problem besteht also nicht darin, dass es keine umfangreichen soziologischen und politikwissenschaftlichen Theorien über den Kapitalismus, seine Märkte, seine Effizienz und seine Knappheiten gäbe, sondern darin, dass diese Theorien von der Politikdidaktik meines Wissens bislang nicht rezipiert worden sind. Die von Kruber (2005) und Kaminski (2002; 2007) zur Begründung ihrer These von ganz unterschiedlichen disziplinären Fragestellungen der einzelnen Sozialwissenschaften angeführten Argumente bzw. Belege können also nicht überzeugen, da sie bei genauerer Analyse letztlich nur wieder die obsolete Annahme aufwärmen, die einzelnen sozialwissenschaftlichen Disziplinen würden sich mit unterschiedlichen Wirklichkeitsausschnitten beschäftigen.
2.2 Unterschiedliche Kategorien? Auch die zweite These von Kruber (2005), derzufolge sich politische und ökonomische Stoffkategorien in weiten Bereichen deutlich voneinander unterscheiden, wie er anhand der Gegenüberstellung seines ökonomischen Kategorienkatalogs und dem politischen Kategorienkatalog von Sutor zeigen will (ebd., 99), ist wenig überzeugend. Selbst wenn dies so
Unterschiedliche Kategorien?
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wäre, müsste man zunächst fragen, ob die Kategorien nicht bloß unterschiedlich, sondern auch miteinander unverträglich sind anstatt sich komplementär zu ergänzen. Unterschiede als solche sind auch deshalb noch kein zwangsläufiges Integrationshindernis, weil Unterschiede einen Anlass für didaktisch sinnvolle Vergleiche bieten können. Unabhängig davon ist jedoch noch wichtiger, dass Kruber (2005) fachdidaktische Kategorien und fachwissenschaftliche Kategorien unumwunden gleichsetzt, ohne die Möglichkeit zu bedenken, dass der Kategorienkatalog der politischen Fachdidaktik eventuell hinter der fachwissenschaftlichen Forschung von Politikwissenschaft und Soziologie zurückbleiben könnte. In fachwissenschaftlicher Hinsicht trifft es jedenfalls nicht zu, dass die im Sutorschen Katalog fehlenden, `ökonomischen´ Kategorien von Kruber (Knappheit, Bedürfnisse, Nutzen-Kosten-Überlegungen, Arbeitsteilung, Betriebe, Beruf, Koordination, Interdependenzen, Märkte, Geld, soziale Ungleichheit, externe Effekte, Instabilitäten, Wirtschaftskreislauf) nur `ökonomische´ Stoffkategorien darstellen. Auch in diesen Kategorieklassifikationen scheint letztlich wiederum die obsolete Vorstellung durch, die Disziplinen würden sich auf unterschiedliche Gegenstandsbereiche beziehen: Politologie = Politik, Soziologie = Gesellschaft, Ökonomik = Wirtschaft. Das trifft jedoch nicht zu, und zwar erst recht nicht, wenn man im Gegensatz zur derzeitigen deutschen Fachdidaktik auch die englischsprachige Politikwissenschaft und Soziologie mit einbezieht. Dies ist fachdidaktisch insofern sinnvoll, als diese Literatur häufig mit internationalen Vergleichen arbeitet, das sozioökonomische System Deutschlands dabei oft Gegenstand der Analyse ist und die aus den empirischen Analysen gezogenen Schlussfolgerungen für Deutschland zumeist eine hohe Relevanz besitzen bzw. oft sogar explizit darauf zugeschnitten sind. Im Folgenden werde ich die Interdisziplinarität der obigen, vermeintlich rein `ökonomischen´ Kategorien nachweisen. Erstens gibt es im Rahmen sowohl der Allgemeinen Soziologie als auch der Wirtschaftssoziologie eine sich explizit so nennende Soziologie der Knappheit (Balla 2005; Baecker 2006, 12-47; Luhmann 1988, Kapitel 6; Turner/Rojek 2001, insbesondere Kapitel 5), die diesen Begriff explizit und ausführlich thematisiert. Andere Soziologen (Berger 2006) verwenden die Kategorie implizit, wenn sie Theorien entwickeln, die eine Antwort auf die wichtige Frage „Warum sind einige Länder so viel reicher als andere?“ geben, d.h. Faktoren zur Beseitigung der Knappheit von Gütern identifizieren. Zwar gebrauchen sie den Begriff der Knappheit dabei nicht explizit, doch viel bedeutsamer als die OberflächenSemiotik ist dagegen z.B. Bergers (ebd.) inhaltliche Haupt-Semantik, wonach der ökonomische Neoinstitutionalismus allein zur Erklärung von wirtschaftlichen Entwicklungsunterschieden nicht ausreicht. Auch in der Politikwissenschaft (Homer-Dixon 2001; Kahl 2008) wird der Begriff der Knappheit explizit in den Mittelpunkt gerückt, wenn den Zusammenhängen zwischen künftiger ökonomischer bzw. ökologischer Knappheit und derzeitigen bzw. kommenden gesellschaftlichen Konflikten sowie Gewalt nachgegangen wird. Zweitens wird die Kategorie Bedürfnis im Rahmen der Soziologie explizit (Gronemeyer 2002; Hondrich 1975; Hondrich/Vollmer 1983; Steiner 1999) oder implizit (z.B. Prisching 2006; Schor 1999 & 2005) behandelt. Laut Petrik (2007, 44) ist Bedürfnis auch eine von mehreren politikdidaktischen Ansätzen geteilte Kategorie und findet sich bisweilen auch in politikwissenschaftlichen Lexika (z.B. Schubert/Klein 2006). Unabhängig davon ist es jedoch v.a. fraglich, ob sich die Kategorie `Bedürfnis´ wirklich so gut zur Herausstellung eines ökonomikdidaktischen/wirtschaftswissenschaftlichen Spezifikums eignet. Befragt man nämlich drei derzeit gängige ökonomikdidaktische Schul- bzw. Handbücher
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daraufhin, was man dort über diese für die Ökonomik-Didaktik angeblich so fundamentale Kategorie lernen kann, das man ohne die Wirtschaftswissenschaft niemals erfahren hätte, so stellt man fest: nichts! Kaminskis Schulbuch (2006, 20ff.) greift bei der Besprechung dieser Kategorie ausschließlich auf die von Maslow konzipierte Bedürfnispyramide zurück. Dasselbe gilt für May (2008, 3f.). Maslow war aber bekanntlich Psychologe und kein Ökonom. Bei Bauer et al. (2008) verweist das Stichwortverzeichnis auf Seite 16, wo man über die banale Tatsache aufgeklärt wird, dass die Erde kein Schlaraffenland ist und Menschen Bedürfnisse haben, die sie befriedigen müssen. Demgegenüber weisen manche soziologische Beiträge erheblich mehr Tiefgang auf, wenn sie z.B. kontraintuitiv erörtern, inwieweit die Marktwirtschaft Knappheiten heutzutage (auch) erzeugt und Menschen (auch) bedürftig macht, anstatt Knappheiten (nur) zu beseitigen und menschliche Bedürfnisse (nur) zu befriedigen (Steiner 1999, 217)4. Drittens stehen im Rahmen des Rational-Choice-Ansatzes in der Soziologie als auch im Rahmen des Akteurzentrierten Institutionalismus der Politikwissenschaft die NutzenKosten-Überlegungen von Akteuren im Fokus der wissenschaftlichen Überlegungen (z.B. Esser 1993, 1999; Kunz 2004; Scharpf 2000a). Darüber hinaus argumentieren auch die in den folgenden Kategorien noch des Öfteren genannten Veröffentlichungen im Rahmen des politologisch-soziologischen „Varieties-of-Capitalism“-Paradigmas sehr stark unter Rückgriff auf die Kosten-Nutzen-Analytik. Viertens schrieb der Begründer der Soziologie, Emile Durkheim, einen bekannten Klassiker mit dem Titel „Über soziale Arbeitsteilung“ (Durkheim 1996); seitdem führt man die Kategorie der Arbeitsteilung in der Soziologie unter der Bezeichnung „funktionale Differenzierung“ (Hondrich 2007, 31). Auch in der gegenwärtigen Wirtschafts- und Industriesoziologie spielt diese Kategorie eine wichtige Rolle, wie bereits die ebenfalls zum Klassiker gewordene Publikation von Kern/Schumann (1986) zeigt. Darüber hinaus beschäftigen sich aktuelle wirtschaftssoziologische Analysen z.B. mit der globalen Arbeitsteilung in der IT-Industrie (Hürtgen/Lüthje/Schumm/Sproll 2008; Lüthje/Schumm/Sproll 2002; Lüthje 2001) oder mit gewandelten Formen innerbetrieblicher Arbeitsteilung (Pongratz/Voß 1998, 2003). Arbeitsteilung ist auch eine zentrale Kategorie, wenn Politikwissenschaftler die Quellen des Erfolgs der deutschen Industrie (Herrigel 1996) oder den Zusammenhang zwischen der unterschiedlich starken Intensität informeller sozialer Normen und der divergierenden Fertigungstiefe von Unternehmen in italienischen versus deutschen regionalen Industrieclustern (Farrell 2005) analysieren. Internationale Arbeitsteilung wird darüber hinaus auch im politologisch-soziologischen „Varieties-of-Capitalism“-Ansatz (siehe z.B. die Grafik bei Hall/Soskice 2001, 42f.) und im Weltsystem-Ansatz (z.B. Houweling/Junne/ Overbeek 2002) erörtert. Schließlich ist auch die familiäre Arbeitsteilung nicht nur Gegenstand ökonomischer (Akerlof/Kranton 2000; Becker 1996; Fernandez/Sevilla-Sanz 2006), sondern auch soziologischer Analysen (z.B. Bürgisser 2006; Huinink/Röhler 2005). Fünftens spielt die Kategorie Betrieb (ebenso wie jene der Arbeitsteilung) in der Arbeits- und Industriesoziologie aus immanenten Gründen eine große Rolle (z.B. Artus 2008; Dittrich/Janning 2007; Hauser-Ditz/Hertwig/Pries 2008; Hürtgen/Lüthjen/Schumm 2007; Klobes 2005; Lengfeld 2003; Minssen 2006; Minssen/Riese 2007; Prott 2001; Sauer/ Hirsch-Kreinsen 2000; Voswinkel/Korzekwa 2005). Überdies lassen sich viele Aspekte der 4 Selbstverständlich gibt es auch ökonomische Beiträge (z.B. Frank 1999; Frey/Stutzer 2004), die ähnlich wie Steiner (1999) argumentieren. Das spricht jedoch für, nicht gegen die Kompatibilität der sozialwissenschaftlichen Disziplinen.
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Funktionsweise von ökonomischen Großbetrieben (und ihres sozialen Wandels) auch anhand von wirtschaftssoziologischen Einzel-Analysen von Großunternehmen (z.B. Guenther 2007 anhand des Bayer-Konzerns) exemplifizieren. Sechstens wird die Kategorie Beruf von der Berufssoziologie (Kurtz 2002; Voß/Pongratz 1998) sowie der Professionssoziologie (Pfadenhauer 2005) erschlossen. Zudem beschäftigt sich der Varieties-of-Capitalism-Ansatz innerhalb der Politikwissenschaft ausführlich mit der Entwicklung des deutschen Berufsbildungssystems (Busemeyer 2009; Thelen 2004) und erörtert dessen gegenwärtige Herausforderungen (Anderson/Hassel 2007; Thelen 2007). Siebtens sind ökonomische Koordination und ökonomische Interdependenz ebenfalls zentrale, explizite Kernkategorien des von US-amerikanischen Politologen begründeten Varieties-of-Capitalism-Ansatzes (Hall/Soskice 2001; Hall/Gingerich 2004; Iversen 2005), der sich ausführlich mit der deutschen Variante des Kapitalismus und deren Veränderung beschäftigt. Ökonomische Koordination bezeichnet in diesem Ansatz nationale Interdependenzmuster zwischen dem System der Industriellen Beziehungen, dem CorporateGovernance-System, dem Innovationssystem und dem Berufsbildungssystem, die durch jeweils spezifische nationale Institutionen geprägt sind. Überdies sind im Rahmen dieses theoretischen Paradigmas umfassende internationale Vergleichsstudien zu den unterschiedlichen Formen der institutionellen Koordination zwischen Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und Zentralbanken in verschiedenen OECD-Ländern (Iversen/Pontusson/ Soskice 2000) sowie zur Koordination von nationalen Fiskalpolitiken und gewerkschaftlichem Lohnsetzungsverhalten im Rahmen der EWU (Hancké/Soskice 2003) erstellt worden. Achtens sind Märkte als soziale Strukturen der zentrale Gegenstand der Wirtschaftssoziologie (Aspers/Beckert 2008; Beckert 1997; Beckert/Diaz-Bone/Ganßmann 2007). Zafirovski (2003, 65-348) stellt ausführlich dar, dass und wie man `die´ ökonomische und `die´ soziologische Perspektive auf Märkte, Marktgesetze, Marktgleichgewichte und Marktpreise systematisch miteinander vergleichen kann. Auch die Funktionsweise von Finanzmärkten – derzeit besonders relevant – wird soziologisch (Blomert 2005 & 2007; Kühl 2003; Schuster 2001 & 2004; Windolf 2008) und politologisch (Lütz 2002, 2008) erforscht. Eine äußerst umfassende, auf einem detaillierten internationalen Ländervergleich basierende soziologische Analyse zur Frage der Entwicklung nationaler Arbeitsmärkte, ihrer Interaktion mit diversen geldpolitischen Strategien sowie der daraus resultierenden Beschäftigungsperformanz vor dem Hintergrund des zunehmenden globalen Wettbewerbs findet man bei Traxler/Blaschke/Kittel (2001). Ausführliche, international vergleichende Analysen von Arbeitsmärkten finden sich auch in der Politikwissenschaft (z.B. EspingAndersen 1999; Esping-Andersen/Regini 2000; Bradley/Stephens 2006). Ökonomischer Standortwettbewerb und seine Auswirkungen auf Produktstandards und viele andere MarktRegulierungen spielen darüber hinaus eine zentrale Rolle in der Politischen Ökonomie des Politologen Scharpf (1996 & 1999a). Neuntens ist Geld der zentrale Gegenstand eines soziologischen Klassikers (Simmel 2000). Aber auch in der Gegenwart bildet das Geld eine wichtige und explizite Kategorie der Wirtschaftssoziologie, wie z.B. die Veröffentlichungen von Baecker (2006, 48-84), Deutschmann (1995), Ganßmann (1996), Huber (1998), Ingham (2004), Kellermann (2008), Dodd (1994), Pahl (2008), Paul (2004) und Zelizer (1994) zeigen. Zehntens ist Ungleichheit Gegenstand vieler soziologischer und politologischer Analysen, und zwar keinesfalls nur in der recht allgemein gehaltenen Form der sozialen Un-
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gleichheit, die in Bezug zu anderen Institutionen/Prozessen des gesellschaftlich-politischen Systems gesetzt wird (z.B. Hradil 2005; Kreckel 2004), sondern auch in der spezifischen Form der ökonomischen Ungleichheit, die in Bezug zu anderen ökonomischen Prozessen/Institutionen gesetzt wird. Zum Beispiel untersuchen Politikwissenschaftler im Rahmen des Varieties-of-Capitalism-Paradigmas in umfassenden empirischen, länderübergreifenden Studien die interdependenten Zusammenhänge zwischen ökonomischer Ungleichheit einerseits und Kapitalismusvarianten, Wachstums- und Beschäftigungsperformance und Lohnverhandlungssystemen andererseits (z.B. Iversen/Wren 1998; Pontusson 2005). Ähnliche umfassende empirische, international vergleichende Studien zu den interdependenten Zusammenhängen zwischen ökonomischer Ungleichheit einerseits und wirtschaftlichem Wachstum, Arbeitslosigkeit, Arbeitsmarktinstitutionen, Arbeitsorganisation, sozialem Sicherungssystem, Lohnverhandlungssystem, individuellen Verwirklichungschancen (sozialer Mobilität) sowie Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie andererseits sowie Lösungsvorschläge zur Überwindung des (eventuellen) Zielkonflikts zwischen Gleichheit und Vollbeschäftigung finden sich auch in der Soziologie (z.B. Kenworthy 2004 & 2008; Lengfeld 2007). Elftens werden externe Effekte im Bereich der Ökologie auch von der Politikwissenschaft (z.B. Bättig/Bernauer 2008; Bernauer/Kuhn 2008; Jänicke/Kunig/Stitzel 2002; Simonis 2006) und der Umweltsoziologie (z.B. Diekmann/Preisendörfer 2001; Huber 2001; Sachs 2002) erforscht. Natürlich wird dieser Begriff in der Ökonomik über ökologische Effekte hinaus verwendet, doch beschränkt sich auch das von Kaminski herausgegebene Schulbuch zur Ökonomischen Bildung (Kaminski 2006) diesbezüglich auf den ökologischen Bereich. Zwölftens wird der politische Umgang mit makroökonomischen Instabilitäten von der Politologie im Rahmen von internationalen Vergleichsstudien umfassend analysiert (Busch 1995; Enderlein 2004; Franzese 2002; Iversen 1999 & 2007; Scharpf 1987 & 2000b). Übrig bleibt dreizehntens nur der Wirtschaftskreislauf als spezifisch ökonomische Kategorie, die meines Wissens nicht explizit in der Soziologie oder Politikwissenschaft auftaucht, aber implizit wohl in vielen Argumentationen gegenwärtig ist (vgl. z.B. die makroökonomische Kreislaufanalyse des Politologen Schwartz 2008 zum globalen Finanzmarkt und dem daran gekoppelten US-Immobilienboom). Aufgrund ihrer Trivialität wird diese Kategorie lediglich nicht explizit genannt. Da jedenfalls kaum ein Vertreter dieser Disziplinen leugnen dürfte, dass sich das ökonomische Geschehen sinnvoll (auch) durch einen Wirtschaftskreislauf darstellen lässt, fragt sich, wo hier Integrationsschwierigkeiten auftauchen sollen. Sicherlich hat Kruber (2005, 100) Recht, wenn er darauf hinweist, dass fachwissenschaftliche Unterschiede auch bei semiotisch gleichen Kategorien vorliegen können, da die Disziplinen unter ein und derselben Kategorie semantisch etwas Verschiedenes verstehen können. Genauso plausibel ist jedoch die Möglichkeit, dass die Fachwissenschaften semiotisch unterschiedliche Kategorien verwenden, die sich aber trotzdem auf dieselben Sachverhalte beziehen und semantisch dasselbe meinen, wie z.B. „unintendierte Nebenfolgen“ (Ökonomik, z.B. Lal 2001) und „Transintentionalität“ (Soziologie, z.B. Greshoff/Kneer/ Schimank 2003). Ebenso ist es möglich, dass eine Disziplin A die Kategorie einer Disziplin B zwar nicht explizit (semiotisch) benutzt, diese Kategorie in ihrer Argumentation aber implizit (semantisch) dennoch gegenwärtig ist (siehe dazu etwa den bereits erwähnten soziologischen Beitrag von Berger (2006) am Beispiel der Kategorie der ökonomischen
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Knappheit). Abgesehen davon muss auch hier das bloße Vorliegen differenter Kategorien oder differenter Interpretationen derselben Kategorie noch lange kein Integrationshindernis sein, weil Unterschiede sich möglicherweise didaktisch sinnvoll ergänzen oder miteinander verglichen/kontrastiert werden können. Schließlich überzeugt auch das von Kruber (ebd., 100) angeführte (einzige) Beispiel für ein angeblich disziplinär differentes Verständnis einer gleichen Kategorie, nämlich der Begriff der Institution, nicht: sowohl in der Politikwissenschaft (Scharpf 2000a, 76-77) als auch in der Ökonomik (Voigt 2002, 38-40; Erlei/Leschke/Sauerland 2007, 22) werden darunter explizit sowohl rechtlich sanktionierte Regeln als auch informelle soziale Normen/Konventionen verstanden. Damit ist gleichwohl noch nichts darüber gesagt, ob diese in beiden Fachwissenschaften vorgenommene Vermischung auch didaktisch sinnvoll ist. Aus der obigen, rein wissenschaftstheoretischen Argumentation folgt nicht zwangsläufig, dass alle (genannten) politikwissenschaftlichen und soziologischen Beiträge zu diesen Kategorien – ebenso wenig wie die entsprechenden ökonomischen Beiträge zu diesen Kategorien – unbedingt Eingang in eine sozialwissenschaftliche Fachdidaktik finden müssten. Denn eine entsprechende Auswahl kann nur unter Rückgriff auf ein bildungstheoretisches Fundament (siehe Kapitel 3) erfolgen. Aus der obigen Argumentation folgt auch überhaupt noch nicht zwangsläufig, dass die drei sozialwissenschaftlichen Disziplinen unbedingt integriert werden müssten. Denn diese These muss bildungstheoretisch belegt werden. Festgehalten werden kann jedoch, dass die mit der bloßen Aufzählung von (vermeintlich) unterschiedlichen Kategorien, d.h. rein wissenschaftstheoretisch begründete These der Unvereinbarkeit politikwissenschaftlicher, soziologischer und ökonomischer Argumentationsweisen in hohem Maße fragwürdig ist.
2.3 Unterschiedliche analytisch-methodologische Verhaltensmodelle? Kaminski (2002, 67) argumentiert, die Forschungsergebnisse der sozialwissenschaftlichen Disziplinen würden auch aufgrund ihres „unterschiedlichen methodischen Zugriffs auf gesellschaftliche Realität“ nicht zusammenpassen. Diese These einer unterschiedlichen Methodologie stellt nicht auf differente empirische Untersuchungsmethoden ab, sondern verweist auf unterschiedliche kategoriale Analysetechniken, mit denen Realität modellhaft strukturiert wird. Das Proprium, welches die Ökonomik von den anderen Disziplinen absetzen soll, sieht er diesbezüglich in der Ökonomischen Verhaltenstheorie (ÖVT) im institutionen-ökonomischen Sinne (Homann/Suchanek 2005; Erlei/Leschke/Sauerland 2007). Gegen derartige Argumentationen ist jedoch bereits von Hedtke (2002b, 30ff.) eingewendet worden, dass die ÖVT in Form der (institutionalistisch erweiterten) RationalChoice-Theorie (RCT) auch in der Soziologie und Politikwissenschaft weit verbreitet ist, sodass sich die ÖVT nicht als Abgrenzungskriterium der Ökonomik gegenüber den anderen beiden Disziplinen eignet. In diesem Zusammenhang ist insbesondere auf den vom Politologen Fritz W. Scharpf und der Soziologin Renate Mayntz ausgearbeiteten Ansatz des „Akteurzentrierten Institutionalismus (AZI)“ hinzuweisen, der explizit oder implizit die Grundlage von sehr vielen wirtschaftspolitischen Forschungsarbeiten im Rahmen des politikwissenschaftlichen Forschungszweigs der Politischen Ökonomie bildet (implizit auch vom Varieties-of-Capitalism-Ansatz). Die von Kaminski (2002, 61) im Anschluss an Homann/Suchanek (2005) dementsprechend identifizierten und besonders herausgestellten
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drei „Grundlegenden Theoriekomplexe der Ökonomik“, nämlich Aktions- und Handlungstheorie, Interaktionstheorie und Institutionentheorie als auch die von ihm hervorgehobenen Dilemmastrukturen stellen daher nichts spezifisch `Ökonomisches´ dar, sondern finden sich als grundlegende Forschungskategorien und Denkschemata des AZI auch ausführlich im politologischen Lehrbuch von Scharpf (2000a) erörtert (welches von der Politikdidaktik allerdings – so weit ich weiß – bisher nicht rezipiert wurde). Laut Kruber (2005) ändert die Verbreitung der institutionalistischen RCT in Politikwissenschaft und Soziologie jedoch nichts an den von ihm konstatierten Integrationsschwierigkeiten. Denn im Gegensatz zur Ökonomik, wo die ÖVT „relativ unbestritten“ (ebd, 84) sei, existierten in der Politikwissenschaft und der Soziologie auch noch viele andere analytische Verhaltenstheorien, deren Maximen aber nicht in Einklang mit der ÖVT stehen würden. Diese alternativen Verhaltenstheorien benennt er freilich nicht, sodass er weder deren Inkompatibilität mit der ÖVT konkret belegen noch deren ja wohl kaum a priori ausgeschlossenen potentiellen Wert für die Analyse ökonomischer Sachverhalte untersuchen kann. Für ihn steht lediglich fest, dass die Sozialwissenschaften angesichts dieser analytischen Pluralität in Soziologie und Politologie über keine gemeinsame, einzige Theorie zur Analyse menschlichen Verhaltens verfügten. Diese stelle jedoch eine unabdingbare Voraussetzung für eine integrative sozialwissenschaftliche Fachdidaktik dar (ebd., 84-85). Für Kruber (2005) erfordert Integration also nicht paradigmatische Heterogenität wie bei Hedtke (2005a; 2006), sondern methodologisch-strukturelle Homogenität, weil anderenfalls die inhaltlichen Forschungsresultate nicht komplementär sind, d.h. nicht ineinandergreifen könnten. Diese Argumentation von Kruber ist jedoch schon deshalb fragwürdig, weil nicht begründet wird, warum Integration ausschließlich im Sinn eines inhaltlichen Ineinandergreifens von strukturell Homogenem verstanden werden darf und ein Verständnis von Integration im Sinne von Hedtke (2005a & 2006), d.h. (auch) als Vergleich von auf die gleiche Sache bezogenen perspektivisch-methodologischen Unterschieden, damit implizit von vorneherein ausgeschlossen wird. Bei Kruber (2005) scheint diesbezüglich die Furcht vor einer Verwässerung des ökonomischen Analysemodells eine große Rolle zu spielen. Doch diese wird von Hedtke (2005a) gar nicht beabsichtigt. Vielmehr geht es um die Zulassung von analytischem Wettbewerb zwischen verschiedenen methodologischen Ansätzen bei der Erklärung von bildungsrelevanten Sachverhalten, sofern es in einem bestimmten Lernbereich relevante Konkurrenz zur ÖVT gibt. Davon abgesehen ist jedoch auch die These von Kruber, es gäbe – im Gegensatz zur Politikwissenschaft und Soziologie – innerhalb der Ökonomik keine ernstzunehmenden theoretischen Entwicklungen, die mit alternativen, von der ÖVT abweichenden Konzepten zur Analyse menschlichen Verhaltens arbeiten, sehr fragwürdig. Wie im Folgenden gezeigt wird, weichen einige jüngere Theorien innerhalb der Ökonomik in Form der Betonung der Möglichkeit von variablen Präferenzen, der Bedeutung des öffentlichen politischen Diskurses für individuelle Entscheidungen, des Einflusses der sozialen Identität und von internalisierten Normen auf das menschliche Handeln und der Prävalenz nicht-rationalen Handelns vom ÖVT-Modell ab. Hieran wird deutlich, dass Pluralität bzw. eine grundsätzliche Aufgeschlossenheit bezüglich der Verwendung unterschiedlicher theoretischer Konzepte zur Analyse menschlichen Verhaltens kein auf die Soziologie/Politologie beschränktes Phänomen darstellt, sondern in den Sozialwissenschaften disziplinübergreifend anzutreffen ist.
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2.3.1 Konstante Präferenzen? Erstens gehen einige Institutionenökonomen (z.B. Voigt 2002) nicht mehr ohne weiteres davon aus, dass die Präferenzen der Individuen als konstant angenommen werden sollen, wie es die orthodoxe ökonomische Verhaltenstheorie (ÖVT) vorschreibt. Stattdessen fragen sie (auch) danach, wie und warum individuelle Präferenzen entstehen und sich verändern: „Eine zentrale Annahme des ökonomischen Verhaltensmodells ist es, Präferenzen als gegeben und konstant zu unterstellen. Aber Menschen werden nicht mit einer Präferenz für möglichst große Kamelherden oder rote Ferrari geboren. Eine offene Frage – nicht nur der NIÖ – ist also, wie die Entstehung und Änderung von Präferenzen erklärt werden kann. Vertreter der NIÖ sind insbesondere an der Frage interessiert, inwiefern die Entstehung und Änderung von Präferenzen kontext- bzw. kulturabhängig ist.“ (Voigt 2002, 58)
In der Tat interessiert sich nicht nur die NIÖ für diese Fragestellungen, sondern auch einige Schulen innerhalb der Soziologie und der Politikwissenschaft, sodass eine Zusammenarbeit möglich wird. Z.B. greifen einige Ökonomen (Frey/Kirchgässner 1993; Frey/Bohnet 1994) explizit auf die Diskurstheorie von Habermas zurück und vertreten die These, dass intensive politische Diskussionen innerhalb der Bevölkerung zu einer Veränderung von individuellen Präferenzen in Richtung auf verallgemeinerungsfähige politische Ansichten führen können. Deshalb plädieren sie sogar für eine Zusammenführung der (politologischsoziologischen) Diskurstheorie von Habermas und der (ökonomischen) Public-ChoiceTheorie durch eine wechselseitige Ergänzung dieser Theorien (Frey/Kirchgässner 1993). Eine weitere, die Determinanten individueller Präferenzen betreffende Thematik, die laut Voigt (2002, 52) aus Sicht der NIÖ interessant erscheint, im Rahmen der klassischen ÖVT aber ebenfalls wenig Sinn macht, besteht in der Fragestellung, ob man Unterschiede im individuellen Verhalten – auch in nicht sozial überwachten, anonymen Kontexten – zwischen verschiedenen Kulturen auf differente internalisierte gesellschaftliche Normen zurückführen kann (Voigt 2002, 52). Beispielsweise zeigt eine länderübergreifende empirische Studie aus der Wirtschaftswissenschaft von Algan/Cahuc (2006), dass das Ausmaß der opportunistischen Eigennutzorientierung in anonymen Kontexten stark abhängig von der politischen Kultur eines Landes sei. Dieser Studie zufolge ist das Ausmaß von Moral Hazard-Verhalten in der Arbeitslosenversicherung stark abhängig von der politischen Kultur, d.h. der internalisierten „public spiritedness“ der Bürger (Bürgertugend) im jeweiligen Land. In Skandinavien seien aufgrund der hohen intrinsischen „public spiritedness“ der Bevölkerung die dort relativ hohen Lohnersatzleistungen ohne weiteres tragbar und nachhaltig finanzierbar, während in den Mittelmeerländern wegen der niedrigen „public spiritedness“ der dortigen Bevölkerung aufgrund der Neigung zur Ausbeutung nur sehr niedrige Leistungen angeboten werden können. Die mitteleuropäischen Länder nähmen eine Stellung dazwischen ein. Wohlgemerkt: laut Algan/Cahuc (2006) ist die internalisierte soziale Norm, dass die nicht gerechtfertigte Inanspruchnahme von staatlichen Leistungen moralisch nicht statthaft ist, der entscheidende Erklärungsfaktor, und nicht externe institutionelle Restriktionen wie z.B. „Workfare“ oder starke monetäre Anreize zur schnellstmöglichen Wiederaufnahme einer Erwerbsarbeit. Auch Akerlof (2006) hat in einer viel beachteten Rede unter dem Titel „The Missing Motivation in Macroeconomics“ vor der American Economic Association im Januar 2007
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die Notwendigkeit der systematischen Berücksichtigung sozialer Normen bei der Analyse ökonomischer Phänomene nachdrücklich eingefordert und begründet.
2.3.2 Rationale Akteure? Zweitens bestreiten empirische Untersuchungen im Rahmen der Behavioral Economics (z.B. Bar-Gill 2004, 2008; Bertrand/Karlan/Mullainathan/Shafir/Zinman 2005; Cronqvist 2003; Easterlin 2006; Frank 1999; Frey/Stutzer 2004; Stutzer 2007; Sunstein/Thaler 2003) z.B. anhand der Kreditaufnahme, der Altersvorsorge, der Verschuldung privater Haushalte, der Übergewichtigkeit, des Fernsehkonsums und der individuellen Entscheidung zwischen Erwerbsarbeit und Freizeit nachdrücklich das sog. Rationalitätspostulat der ÖVT. Dieses besagt, dass Menschen im Durchschnitt und/oder in wiederholten Situationen rational agieren, weil der von knappen Ressourcen ausgehende Druck in Verbindung mit der menschlichen Lernfähigkeit angeblich automatisch für das evolutorische Ausscheiden nicht rationaler Verhaltensweisen sorge (so die explizite Definition von Rationalität durch die Ökonomikdidaktiker Karpe/Krol 1997, 83f.). Empirische Studien der Behavioral Economics zeigen hingegen, dass dies zumindest in einigen bildungsrelevanten Bereichen nicht der Fall ist und dass individuelles Handeln nicht selten systematisch durch die systematische Verfehlung des individuellen Nutzens in Form einer Senkung des menschlichen Wohlbefindens geprägt ist. Überdies wird die These vertreten und empirisch belegt, dass die Mehrheit der Menschen oft nicht aus den negativen Konsequenzen ihres Fehlverhaltens lernen würde: “Standard economic theory assumes that individuals are able to compare the future utilities provided by the goods and activities consumed. They maximize their own utility in a rational consumption decision. This paper diverges from these assumptions. (…) Individuals make systematic mistakes in their decisions, because they mispredict utility from choice options. (…) Learning is hampered and sometimes does not occur at all.” (Frey/Stutzer 2004)
Dieses von der Behavioral Economics in den Mittelpunkt gestellte irrationale Verhalten erweist sich als wirtschaftspolitisch hochrelevant, weil z.B. Irrationalität von Kreditnehmern im Sinne von Myopie und übermäßigem Optimismus als ein Faktor (unter anderen) für die Entstehung der derzeitigen Krise des Marktes für Hypothekenkredite in den USA (und damit für die derzeitige globale Finanzkrise) angesehen wird (Bar-Gill 2008).
2.3.3 Moralabstinente Maximierung des Eigennutzes? Drittens betonen einige Institutionenökonomen, dass durchschnittliches Handeln nicht nur der Maximierung des Eigennutzes unter Beachtung externer institutioneller Restriktionen folgt. Stattdessen heben sie hervor, dass durchschnittliches menschliches Handeln auch durch sog. interne Restriktionen (Gewohnheiten, Traditionen, ethische Regeln) geprägt sein kann:
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„Prognosen über menschliches Verhalten, die mit Hilfe des einfachen Modells des homo oeconomicus erstellt wurden, haben sich häufig als falsch erwiesen. (…) Institutionenökonomen gehen davon aus, dass die Exaktheit von Prognosen, die auf der Basis des einfachen ökonomischen Verhaltensmodells generiert werden, substantiell verbessert werden kann, wenn Restriktionen, die auf internen Institutionen beruhen – wie etwa Gewohnheiten, Traditionen, ethische Regeln usf. – vollständiger als bisher in Rechnung gestellt werden.“ (Voigt 2002, 41; meine Hervorhebung, T.H.)
So betonen einige Ökonomen z.B. die besondere Bedeutung der Steuermoral für das ökonomische Handeln von steuerpflichtigen Bürgern. In ihren empirischen Studien zeigen sie, dass weit weniger Steuern hinterzogen werden als es das alte Homo-Oeconomicus-Modell zur Steuerzahlung (Allingham/Sandmo 1972) vorhersagt, bei dem Strafhöhe, Risikoaversion und Aufdeckungswahrscheinlichkeit als zentrale Handlungsmotive figurieren. Deshalb untersuchen sie, welche Faktoren die Steuermoral der Bürger beeinflussen und kommen dabei zu dem Ergebnis, dass direkte Demokratie, kommunalpolitische Autonomie und das Ausmaß des Vertrauens der Bürger in die Regierung und das Justizsystem sich besonders günstig (d.h. senkend) auf das Ausmaß der Steuerhinterziehung auswirken. Strafhöhe und Aufdeckungswahrscheinlichkeit würden sich hingegen als statistisch nicht erklärungskräftig erweisen (Torgler 2003). Überdies spiele auch das soziale Vertrauen darin, dass auch die anderen Bürger ihrer Steuerpflicht aufrichtig nachkommen, eine große Rolle für das eigene Steuerzahlungsverhalten (Frey/Torgler 2006). In diesem Sinne kann man dann positive soziale Erwartungsgleichgewichte (hohes wechselseitiges Vertrauen) mit hoher Steuermoral oder negative soziale Erwartungsgleichgewichte (hohes wechselseitiges Misstrauen) mit niedriger Steuermoral beobachten. Diese Gleichgewichte können beeinflusst werden: Feldstudien in Australien und im US-Bundesstaat Minnessota zeigen, dass sich das Ausmaß der Steuerhinterziehung freiwillig in einem erheblichen Ausmaß verringerte, wenn die Bürger schriftlich darüber informiert wurden, dass ihre Mitbürger weit weniger Steuern hinterziehen als sie vorher annahmen (Kahan 2002; Lederman 2003; Algan/Cahuc 2007, 55f.). Da diese reziproke Reaktion mit dem Homo-Oeconomicus-Modell nicht zu erklären ist, plädieren einige Ökonomen dafür, mit dem „Homo Reciprocans“ ein zusätzliches analytisches Modell in die Ökonomik einzuführen (Falk 2003). Der Homo Reciprocans verhält sich weder egoistisch noch altruistisch, sondern reziprok, d.h. er erwidert unkooperativunfreundliches als auch kooperativ-freundliches Verhalten anderer Menschen, und zwar auch dann, wenn er sich durch den Verzicht auf Reziprozität einen individuellen Vorteil verschaffen könnte. Das Beispiel der Steuerzahlungsmoral, aber auch das weiter oben dargestellte Beispiel zum kulturabhängigen Ausmaß von Moral Hazard in der Arbeitslosenversicherung zeigen, dass auch die situationstheoretische Begründung der Verabsolutierung der HomoOeconomicus-Annahme von Homann/Suchanek (2005, 367ff.) nicht in jedem Fall gerechtfertigt sein muss. Homann/Suchanek (ebd.) argumentieren, dass man jegliches menschliches Verhalten nicht deshalb unter Rückgriff auf das Homo-Oeconomicus-Modell analysieren müsse, weil die Natur aller Menschen egoistisch sei, sondern deshalb, weil alle sozialen Interaktionen die Struktur eines Gefangenendilemmas aufweisen würden, in dem aufgrund der Ungewissheit über das Verhalten anderer die Defektion die langfristig dominante Strategie darstelle. Daher müssten auch prosozial eingestellte Individuen zwangsläufig zu ihrem eigenen Schutz vor Ausbeutung durch Opportunisten zu einer präventiven Ausbeutung bzw. spätestens nach Überwindung anfänglicher `Naivität´ zur Gegenausbeutung greifen.
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Problematisch an dieser Argumentation ist, dass sie ein Ausmaß sozialen Misstrauens zwischen den Menschen unterstellt und für alle sozialen Bereiche verabsolutiert, was durch die oben aufgeführten empirischen Untersuchungen nicht gestützt wird. Das soziale Vertrauen zwischen den Bürgern ist demnach – in den meisten entwickelten Ländern – derzeit offenbar groß genug, dass die überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung sich beim sozialen Dilemma der Finanzierung öffentlicher Leistungen über Steuern nicht präventiv opportunistisch verhält und ihre Einkommenssteuern auch ohne extrinsische Anreize zahlt. Die These des zwangsläufigen, kulturunabhängigen Präventiv-Opportunismus von Homann/Suchanek (2005) steht auch nicht in Einklang mit neueren multivariaten empirischen Studien aus der Ökonomik (vgl. Tabellini 2007 und die dort angegebene Literatur), wonach das Ausmaß internalisierter generalisierender Moral (im Sinne eines intrinsisch motivierten Einhaltens der Goldenen Regel gegenüber allen Mitgliedern der Bevölkerung) einen starken positiven kausalen Effekt sowohl auf den ökonomischen Wohlstand eines Landes als auch auf die Funktionsfähigkeit von dessen gesellschaftlichen Institutionen erzeugt, während partikularistische Moral (intrinsisch motiviertes Einhalten der Goldenen Regel nur innerhalb von Familie und Freundeskreis) starke negative Effekte erzeugt. Dabei hängt die Prävalenz partikularistischer/generalistischer Moral in einer bestimmten Generation angesichts transgenerationaler Sozialisationsmechanismen laut dieser Studie davon ab, inwieweit die Lebensumgebung von deren (Ur-)(Groß-)Eltern durch rechtsstaatlichdemokratische Strukturen geprägt war. Anders als die orthodoxe NIÖ, in der formale Institutionen nur Anreize und Restriktionen für opportunistische Akteure setzen, gehen neuere ökonomische Analysen also davon aus, dass formale Institutionen auch die kontingenten moralischen Präferenzen von Akteuren prägen und dass die Funktionalität von formalen institutionellen Restriktionen in hohem Maße abhängig ist von der Art der moralischen Präferenzen der Akteure. Man kann soziales Vertrauen, d.h. den Verzicht auf präventiven Opportunismus daher nicht nur als Naivität, sondern auch als einen bewahrenswerten Mechanismus zur Einsparung bürokratischer und gesellschaftlicher Transaktionskosten (Rothstein/Stolle 2007, 2) interpretieren. Manche Ökonomen meinen deshalb z.B., dass die auf der ÖVT basierende Agency-Theorie zum Unternehmen problematisch sei, weil sie 1) in Bezug auf das opportunistische Verhalten der Unternehmensmanager wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung (Ferraro/Pfeffer/Sutton 2003) wirke (was derzeit in den USA von einigen Vertretern der Betriebswirtschaftslehre beklagt wird, z.B. Khurana 2007) und 2) bei der Gestaltung der Unternehmensverfassung (Corporate Governance) ineffiziente Wirkungen nach sich ziehe: „Wir zeigen auf, dass die Agency-Theorie aufgrund der Vernachlässigung verschiedener sozialpsychologischer Effekte tendenziell ein suboptimal hohes Ausmaß an Überwachung und Sanktionierung impliziert.“ (Nippa/Grigoleit 2006)
Schließlich benötigen nach Auffassung einiger Ökonomen auch Märkte eine von den Marktteilnehmern internalisierte, vertrauengenerierende Minimalmoral (Schultz 2001). Ohne Verzicht auf den laut Homann/Suchanek (2005) angeblich zwangsläufigen präventiven Opportunismus bei notgedrungen unvollständigen Verträgen können Märkte laut dieser Perspektive gar nicht effizient arbeiten, weil auch die raffiniertesten externen institutionellen Sicherungsmechanismen von cleveren, lernfähigen Homines Oeconomici – v.a. solche gut situierten Exemplare, die sich eine Beratung durch aufgeweckte juristische Experten
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leisten können – umgangen werden können (Scharpf 2000a, 297; Windolf 2003, 212; Beckert 2009, 12). “Walter J. Schultz illustrates the deficiencies of theories that purport to show that markets alone can provide the basis for efficiency. He argues that markets are not moral-free zones, and that achieving the economic common good does indeed require morality. He demonstrates that efficient outcomes of market interaction cannot be achieved without moral normative constraints...” (Schultz 2001; meine Hervorhebung, T.H.)
Diese Sichtweise trifft auf die Zustimmung der Wirtschaftssoziologie, wonach Märkte auf sozial-normativen Fundamenten stehen, deren Gültigkeit sie allein nicht garantieren können (Beckert 1997). Angesichts dessen könnte es mit Blick auf das Ziel der Förderung der Urteilsfähigkeit ein wichtiges sozialwissenschaftliches Bildungsziel sein, Lernenden zu vermitteln, dass soziales Verhalten wahrscheinlich nicht immer durch anreiztheoretisch optimal kalibrierte formale Regeln kontrolliert werden kann. Last but not least vertritt der psychoökonomische Ansatz die These, dass eine weitere Art von sozialen Dilemmata, nämlich diejenigen, die bei der wissensorientierten Teamproduktion innerhalb von modernen Unternehmen auftauchen, nicht durch die üblichen, auf der ÖVT basierenden Vorschläge zur Gestaltung der institutionellen Unternehmensverfassung (Corporate Governance) gelöst werden könnten. Institutionen, die im Anschluss an die ÖVT aus Vorsichtsgründen den `worst case´ annehmen würden und deshalb gemäß der Annahme gestaltet würden, dass alle Akteure im Unternehmen sich wie Opportunisten verhielten, seien nicht zielführend. Denn solche Institutionen und die ihnen zugrunde liegenden Annahmen würden auch hier im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeihung (McGregor 1960) erst die opportunistischen Präferenzen kreieren, auf diese Weise die intrinsische Motivation der beteiligten Akteure untergraben und dadurch jene sozialen Dilemmata verschärfen oder gar erst schaffen, die sie beheben wollten (so die Kritik von Gintis/Khurana 2006; Nippa/Grigoleit 2006; Ferraro/Pfeffer/Sutton 2003; Ghoshal 2005; Ghoshal/Moran 1996): „Kritisch ist anzumerken, dass die Theorie unvollständiger Verträge wie die traditionellen institutionenökonomischen Ansätze auf fragwürdigen axiomatischen Annahmen über kognitive und motivationale Eigenschaften der Aufsichtsräte, Manager und Arbeitnehmer basiert. Dadurch produziert diese Theorie wie auch die herkömmliche Institutionenökonomik Überwachungsund Kontrollprobleme als sich selbst erfüllende Prophezeihung (Frey/Osterloh 2002).“ (Osterloh/Frey 2005, 4)
Stattdessen empfiehlt der psychoökonomische Ansatz, Institutionen so zu gestalten, dass sie bei den Akteuren prosoziale Präferenzen fördern, z.B. indem man Vorstandsmitglieder von Großunternehmen nicht durch Aktienoptionen, sondern mit Festgehalt vergütet und die Mitarbeiter stärker an der Entscheidungsfindung innerhalb des Unternehmens beteiligt: „Jedoch hat sich neuerdings mit der psychologischen Ökonomik eine Disziplin etabliert, welche an die Institutionenökonomik anschließt, aber deren unzutreffende Annahmen über kognitive und motivationale Eigenschaften der Individuen durch empirisch fundierte psychologische Erkenntnisse ersetzt. (…) Sie [die psychologische Ökonomik, T.H.] fragt nach den Determinanten
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Gibt es grundlegende disziplinäre Differenzen zwischen den Sozialwissenschaften? prosozialer Präferenzen anstelle einer axiomatischen Annahme von opportunistischen Neigungen. (…) Soziale Dilemmata müssen in Koordinationsspiele umgewandelt werden. Die Voraussetzung dafür ist, dass in den Präferenzen der Individuen prosoziale Bedürfnisse verankert werden (Weibel 2004).“ (Osterloh/Frey 2005: 4, 1, 16)
2.3.4 Transdisziplinäre Einflussfaktoren menschlichen Verhaltens Unter Berufung auf die oben dargestellte Behavioral Economics bzw. Psychoökonomik kritisieren einige Ökonomen (z.B. Ruckriegel 2009) den Homo Oeconomicus als „ein realitätsfernes Konstrukt“ (ebd.). Unabhängig davon, ob man sich dieser Einschätzung in toto anschließt oder nicht, zeigt dies, dass diese analytische Heuristik ein in der Wirtschaftswissenschaft selbst umstrittenes Konzept darstellt. Gemäß einer empirischen Umfrage (Frey/Humbert/Schneider 2009) stimmen nicht weniger als 32% aller deutschen Ökonomen der Aussage „The utility maximizing homo oeconomicus is a distorted picture of reality and therefore useless“ grundsätzlich zu, davon 5% ohne und 27% mit gewissen Vorbehalten. Nur 35% lehnen die obige Aussage völlig ab; die restlichen 32% lehnen sie mit Vorbehalten ab. Bei der Interpretation dieser Zahlen ist zudem zu bedenken, dass die gewählte Aussage einer völligen Nutzlosigkeit des Homo-Oeconomicus-Modells bereits ein recht radikal formuliertes Item darstellt. Einer weniger radikalen Aussage – z.B. dass der Homo Oeconomicus als einziges Analysemodell nicht ausreicht und bisweilen zu Fehlschlüssen führen kann – hätten vielleicht noch mehr Ökonomen zugestimmt. Natürlich ist aus den oben dargelegten theoretischen Ansätzen nicht der Schluss zu ziehen, dass die ÖVT aus der sozialwissenschaftlichen Bildung zu verbannen wäre und man sich die Ansichten der ökonomieinternen Kritiker in jedem Fall zu eigen machen müsste. Sehr wohl zeigt die obige Darstellung aber entgegen der Sichtweise von Kruber (2005) und Kaminski (2002), dass ein aufgeschlossener Pluralismus methodologisch-analytischer Verhaltensmodelle nicht nur in der Soziologie und der Politikwissenschaft herrscht, sondern auch in der Ökonomik. Dabei zeigen sich erstaunliche Parallelen, die die These von den angeblich unüberbrückbaren methodologisch-analytischen Differenzen sehr fragwürdig erscheinen lassen. So zeigt Schimank (2000), dass man innerhalb der Soziologie grob zwischen vier Verhaltensmodellen unterscheiden kann: dem Homo Oeconomicus mit dem Kausalfaktor Eigennutz, dem Homo Sociologicus mit dem Kausalfaktor soziale Norm, dem Identitätsbehaupter mit dem Kausalfaktor Identität (Bewahrung des kognitiv-moralischen Selbstbildes) und dem „Emotional Man“ mit dem Kausalfaktor Emotion (z.B. sozialer Neid). Mit der Wirtschaftssoziologin Piotti (2007) kann man dieser Auflistung noch die Beeinflussung individuellen (bei ihr: unternehmerischen) Handelns durch den öffentlichen (bei ihr: wirtschaftspolitischen) Diskurs hinzufügen. Je nach Fragestellung bzw. theoretischem Ansatz wird in der (Wirtschafts)Soziologie mit diesen Modellen gearbeitet. Ähnlich unterscheidet Scharpf (2000a, 116-122) für die Politikwissenschaft zwischen Eigeninteresse, normativen Rollenerwartungen und Identität als möglichen Handlungsorientierungen, die jeweils in Abhängigkeit von der Fragestellung mal mehr, mal weniger relevant seien. Andere Politikwissenschaftler (wie z.B. Dryzek 1994 & 2002), die im Gegensatz zu Scharpf das Paradigma der deliberativen Demokratie vertreten, fügen Argumente im öffentlichen Diskurs als potentielle Faktoren der Beeinflussung von Präferenzen und damit auch von individuellen Handlungsorientierungen hinzu.
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Wie oben bereits gezeigt wurde, werden in neueren ökonomischen Ansätzen neben dem Eigennutz aber ebenfalls soziale Normen/Moral sowie Argumente im Rahmen des öffentlichen Diskurses (Frey/Kirchgässner 1993) als wichtige mögliche Einflussgrößen menschlichen Handelns genannt. Aber auch die Bedeutung von vermeintlich `soziologischen´ Einflussgrößen Identität und Emotionen wird neuerdings in der Ökonomik hervorgehoben. So betonen Akerlof/Kranton (2000 & 2005) sowie Humlum/Kleinjans/Nielsen (2007) die Kategorie der Identität für das Verständnis von sozialen und ökonomischen Phänomenen und analysieren mit Hilfe dieser Kategorie z.B. die Diskriminierung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt, die Persistenz sozialer Exklusion durch (auto)destruktives Verhalten, die intrinsische Motivation von Beschäftigten durch Identifikation mit ihrer Firma, die Berufswahl von jungen Menschen, die Funktionsweise militärischer Organisationen und die Verteilung der Hausarbeit zwischen den Geschlechtern. Auch die Einflussgröße der Emotion wird in der Ökonomik neuerdings thematisiert (Rick/Loewenstein 2007; Horide 2003; Merkle 2007; Thaler 2000, 139f.). Die sozialwissenschaftlichen Disziplinen zeichnen sich also in der Tat durch eine erhebliche interne Heterogenität von Untersuchungsansätzen bzw. methodologischen Handlungsmodellen mit verschiedenen Kausalfaktoren (Eigennutz, soziale Normen, Identität, Emotionalität, Diskurs) aus, die sie einander insgesamt betrachtet zumindest ähnlich macht (Hedtke 2005a, 25). Auch diese fachwissenschaftliche Heterogenität transdisziplinärer analytischer Erklärungsmodelle führt freilich nicht zu dem Schluss, dass eine integrative sozialwissenschaftliche Fachdidaktik den Schülerinnen unbedingt die komplette Bandbreite dieser transdisziplinären Modelle vermitteln müsste. Die Vermittlung von analytischen Verhaltensmodellen ist kein Selbstzweck. Vielmehr besteht die Aufgabe einer sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik darin, zu klären, welche transdisziplinären Verhaltensmodelle und die von ihnen jeweils betonten Kausalfaktoren in welchem Themengebiet bildungsrelevant sind, wozu eine solide bildungstheoretische Fundierung sozialwissenschaftlicher Fachdidaktik benötigt wird (siehe Kapitel 3). Möglicherweise stellt sich die ÖVT dann, wie der Soziologe Schimank (2000, 158ff.) meint, zumindest in der heutigen Gesellschaft (auch fachdidaktisch) als das wichtigste Instrument zur Auseinandersetzung mit sozialen Phänomenen heraus. Aber selbst wenn das der Fall wäre, können ihre Maximen wie gesehen nicht den dogmatischen Status in der sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik beanspruchen, der in der Ökonomikdidaktik oft anklingt. Ökonomisch gesprochen muss der `fachdidaktische Markt´ für methodologische Verhaltensmodelle zur Analyse von Gesellschaft vielmehr kompetitiv bzw. zumindest bestreitbar (d.h. offen für potentielle Wettbewerber) bleiben. Kaminski selber betont doch: „Eine Fachdidaktik der ökonomischen Bildung muss permanent hinterfragen, inwieweit das herrschende fachwissenschaftliche Paradigma eine bestimmte Sichtweise, ein bestimmtes Deutungsmuster von Welt nahe legt und dabei andere behindert, verhindert oder gar unterdrückt.“ (Kaminski 2001, 51)
Kommt man dieser Aufforderung nach, entdeckt man, dass es – in der Ökonomik selbst – prominente Stimmen gibt, die die von Kruber (2005, 84f.) propagierte Herangehensweise einer schematischen Anwendung eines gemeinsamen, einzigen, einheitlichen Verhaltensmodells (des Homo Oeconomicus) auf alle ökonomischen Sachverhalte explizit zurückweisen und sich an Stelle dessen für eine pluralistische Offenheit aussprechen. Dies bedeutet,
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sich zunächst auf das spezifische Einzel-Problem einzulassen und dann zu schauen, welches analytische Verhaltensmodell aus einer Reihe von theoretischen Modellen für dieses Einzel-Problem die größte Erklärungskraft besitzt. Genau dieses aufgeschlossene Vorgehen eignet sich auch für die fachdidaktische Analyse von bildungsrelevanten Fragestellungen: “There is a practical, and more desirable, alternative to building an overarching model of man. It leaves the partial models as they are, and relegates the task of choosing the `appropriate model´ to the problem at hand. This pragmatic approach leaves the question open, what type of human behaviour is appropriate for which task. This also constitutes a chance for economic science. It forces the researchers first to consider seriously what the social problem to be analysed really is, and only to then embark on manipulating a particular model.” (Frey 1997, 124; meine Hervorhebung, T.H.)
Als fachdidaktische Schlussfolgerung aus den oben dargelegten neueren theoretischen Ansätzen innerhalb der Ökonomik ergibt sich somit nicht der vorauseilende Gehorsam gegenüber dem ÖVT-Modell, sondern die Forderung nach analytischem Wettbewerb. Analytischer Wettbewerb soll bedeuten, dass man – sofern existent – den wissenschaftlichen Disput zwischen unterschiedlichen theoretischen Erklärungsversuchen/Verhaltensmodellen fachdidaktisch zulässt, wenn dies bildungstheoretisch5 erforderlich ist, anstatt zu meinen, von vorneherein auf jeden Fall alles nur durch die `ÖVT-Brille´ sehen zu dürfen. Dabei kann sich übrigens durchaus herausstellen, dass bei oberflächlicher Betrachtung scheinbar konträre Erklärungsansätze bei tiefergehender Analyse eine hohe Komplementarität aufweisen. Beispielsweise zeigt Panther (1995) am Beispiel des Themas Kriminalität, dass sich zum einen viele zentrale `soziologische´ Theorien zur Erklärung von Kriminalität ohne großen Aufwand auch in der Terminologie/Heuristik der ÖVT formulieren/begreifen lassen und dass zum anderen diese `soziologischen´ Theorien die bisherigen ÖVT-Modelle zur Kriminalität sinnvoll erweitern können, sofern man von der Heuristik unveränderlicher Präferenzen Abstand nimmt (soweit dies sinnvoll erscheint). Genau dafür plädieren ja aber, wie oben gezeigt, auch neuere institutionenökonomische Ansätze (z.B. Voigt 2002).
2.4 Zwischenfazit Resümierend lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass die Gegenstandsfelder der sozialwissenschaftlichen Disziplinen sowie die von ihnen verwendeten Kategorien und analytischen Verhaltensmodelle sehr starke Überschneidungen bzw. Parallelen erkennen lassen, sodass die wissenschaftstheoretische Begründung des institutionenökonomischen Integrationsansatzes (Kaminski (2002) wenig überzeugend ist – womit aber noch überhaupt nicht gesagt ist, dass dieser nicht bildungstheoretisch begründet werden könnte. Doch wie verhält es sich mit den (unterschiedlichen?) Fragestellungen der sozialwissenschaftlichen Disziplinen? Zwar konnte diese in der Integrationsdebatte von den Vertretern des institutionenökonomischen Integrationsansatzes aufgestellte These wie in Kapitel 2.1. gezeigt bisher nicht wirklich konkret durch überzeugende kontrastive Gegenüberstellungen belegt werden. Aber auch hier wurde ja bislang nicht nachgewiesen, dass diese Fragestellungen übereinstimmen oder sich stark überscheiden. 5
Für entsprechende Kriterien siehe Kapitel 3.
Zwischenfazit
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Aus meiner Sicht wäre eine solche Herangehensweise aber fachdidaktisch auch gar nicht angemessen, da es bildungstheoretisch nicht legitim ist, die den sozialwissenschaftlichen Unterricht leitende(n) oberste(n) Fragestellung(en) einfach aus der Fachwissenschaft, d.h. aus den fachimmanenten Zielsetzungen `kopieren´ zu wollen (so auch die zutreffende Kritik von Kahsnitz (2005b, 123) im Anschluss an Robinsohn (1971, 46)). Eine solche Vorgehensweise würde nicht nur eine ungebührliche Simplifizierung der fachdidaktischen Aufgabenstellung darstellen, sondern sie führt auch zu abbilddidaktischen Tendenzen, die problematisch sind, weil das, was aus fachwissenschaftlicher Perspektive fragenswert erscheint, aus fachdidaktischer Perspektive längst nicht immer bildungsrelevant ist (Weber 2004, 78f.): „Lehrer … müssen sich … als Vertreter einer eigenständigen, nämlich didaktisch akzentuierten Aufgabe verstehen: Sie sollen nicht Einzelwissenschaften vereinfacht in die Schule übersetzen, sondern Wissenschaft unter didaktischen Fragestellungen nach ihrem Lösungspotential für „Lebensprobleme“ und nach ihren Grenzen befragen.“ (Klafki 1996, 168; Hervorhebungen von mir, T.H.).
Es sollte im Bildungsprozess also nicht um die fachdidaktische Reproduktion der wichtigsten fachwissenschaftlichen Fragestellungen gehen, wie das (schon für sich fragwürdige) Argument von den vermeintlich inkompatiblen, sich angeblich kaum überschneidenden disziplinären Fragestellungen ja implizit voraussetzt, sondern um die fachdidaktisch eigenständige Bestimmung von bildungsrelevanten, lernbedeutsamen Fragestellungen. Diese den sozialwissenschaftlichen Unterricht leitende(n) oberste(n) Fragestellung(en) sollte(n) aus einer bildungstheoretisch begründeten Fachdidaktik gewonnen werden. Die Auseinandersetzung mit ebendieser/n bildungsrelevanten Fragestellung(en) sollte dann unter Rückgriff auf die dafür benötigten fachwissenschaftlichen Sub-Fragestellungen, Kategorien, analytischen Methodologien, Theorien, Erkenntnissen etc erfolgen. Der jeweilige Anteil fachdisziplinären Wissens würde dann nicht im Rahmen eines statischen `33%Quotenkartells´ zwischen Politikwissenschaft, Soziologie und Ökonomik festgelegt werden, sondern er wäre dynamisch, d.h. er würde sich pragmatisch nach einem externen Kriterium (Kahsnitz 2005b, 114) richten, d.h. dem Umfang des bildungsrelevanten Wissens, das die sozialwissenschaftlichen Disziplinen zu dieser leitenden fachdidaktischen Fragestellung in einem bestimmten Lernbereich zu einer bestimmten Zeit jeweils anzubieten haben. Die jeweiligen disziplinären `Markt-Anteile´ sind als solche aus fachdidaktischer Sicht von bestenfalls sekundärer Relevanz. Fachdidaktisch weitaus bedeutsamer ist vielmehr die Identifizierung von einer oder mehreren (disziplinär eventuell dominanten) paradigmatischen Denkweisen und Konzeptionen (Hedtke 2006a, 216), die sich mit der/den fachdidaktisch generierten, obersten leitenden Fragestellung(en) auseinandersetzen bzw. sich fachdidaktisch dafür nutzen lassen. Welche Denkweisen/Konzeptionen zum Zuge kommen und ob bzw. inwieweit es tatsächlich in einem bestimmten Lernbereich zu einer Konkurrenz zwischen kontroversen Denkweisen/Konzeptionen kommen sollte, wie der sozialwissenschaftliche Integrationsansatz von Hedtke (2002a + b; 2005a; 2006) annimmt, kann aber nicht durch eine bloße Kopie der zentralen Diskussionsstrukturen in der Sozialwissenschaft festgelegt werden, sondern hängt davon ab, welche Denkweisen/Konzeptionen `Wissen´ i.w.S. bezüglich der fachdidaktisch generierten, obersten leitenden Fragestellung(en) anzubieten haben. So ist es z.B. durchaus möglich, dass in einem bestimmten Lernbereich nur
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Gibt es grundlegende disziplinäre Differenzen zwischen den Sozialwissenschaften?
bzw. überwiegend eine politikwissenschaftliche oder nur bzw. überwiegend die institutionenökonomische Denkweise zur Sprache kommen mag. Dies aber nicht aus den (wie oben gezeigt höchst fragwürdigen) apriorischen wissenschaftstheoretischen Gründen, die Kaminski (2002) anführt, sondern rein aus dem aposteriorischen bildungstheoretischen Grund, dass nur bzw. überwiegend diese Denkweise in diesem Lernbereich `Wissen´ i.w.S. anbieten mag, das geeignet ist, sich mit der/den fachdidaktisch generierten, obersten leitenden Fragestellung(en) auseinander zu setzen. Zur didaktischen Entwicklung ebendieser obersten leitenden Fragestellung(en) wird wie bereits ausgeführt ein bildungstheoretisches Fundament benötigt, welches im folgenden Kapitel entwickelt wird.
3 Gestaltungsorientierung als zentrales fachdidaktisches Relevanzkriterium Gestaltungsorientierung als zentrales fachdidaktisches Relevanzkriterium
Die hier vorgelegte Konzeption sozialwissenschaftlicher Fachdidaktik geht von der Prämisse aus, dass sozialwissenschaftlicher Unterricht grundsätzlich dazu dienen soll, den Schülerinnen solche Kenntnisse, Überzeugungen und Fertigkeiten zu vermitteln, die sie in die Lage versetzen, hinreichend reflektierte private und gesellschaftsbezogene Handlungen vorzunehmen, welche sich später zum einen möglichst vorteilhaft auf ihr eigenes Leben / Lebensumfeld auswirken, dabei aber zum anderen auch die Lebensumwelt ihrer heutigen oder späteren Mitbürgerinnen zumindest nicht (über Gebühr) beeinträchtigen6, sondern nach Möglichkeit ebenfalls positiv beeinflussen. Von der ökonomischen und politischen Bildung gemeinsam geteilte Meta-Ziele wie Mündigkeit, Tüchtigkeit und Verantwortlichkeit (z.B. Albers 1995; Behrmann/Grammes/Reinhardt 2004; Breit/Weißeno 2003; DEGÖB 2004; Deichmann 2004; GPJE 2004; Hedtke/Weber 2008; Kruber 2000; Reinhardt 2005; Weber 1997) bringen letztlich genau diese Prämisse zum Ausdruck. Nimmt man diese Prämisse wirklich ernst, sollte sozialwissenschaftliche Fachdidaktik sich dafür einsetzen, dass die Bildungsziele des Faches gemäß der regulativen Idee „persönliche Entfaltung in sozialer Verantwortlichkeit“ (MSWWF 1999, XIII) realpolitisch so weit wie möglich aus denjenigen existentiellen Interessen der jungen Bürger selbst abgeleitet werden, die als verallgemeinerungsfähig7 gelten können. Diese Interessen – die hier nicht nur solche bezeichnen sollen, die den jungen Bürgern (mehr oder weniger) subjektiv bewusst sind, sondern insbesondere auch diejenigen, die (teilweise) meritorischer8 Natur sind – stellen somit den zentralen Ausgangspunkt didaktischer Überlegungen dar, und nicht die Erkenntnisse der Wissenschaft, die herrschenden Konventionen der Gesellschaft, die Erhaltungserfordernisse eines bestimmten politischen Systems oder die Forderungen von Gewerkschaften, Finanzinstituten und Wirtschaftsverbänden. Das bedeutet nicht, dass entsprechende Wissensstrukturen für den Bildungsprozess von vorneherein irrelevant wären, aber sie sollten entsprechend gefiltert werden. Das ist leider nicht selbstverständlich, wie etwa Kahsnitz (2005b, 114ff.) am Beispiel des von ihm völlig zu Recht kritisierten „unpädagogischen Szientismus“ in den Bereichsdidaktiken der sozialwissenschaftlichen Bildung zeigt. Weil sie demgegenüber die Maxime der (Stärkung der) verantwortlichen Autonomie der zu bildenden Menschen in das Zentrum ihrer theoretischen Konzeption rückt und dabei zugleich stark auf den sozialwissenschaftlichen Lernbereich zugeschnitten ist (Giesecke 6
Trade-Offs zwischen eigenem und fremdem Wohlergehen sind bei privatem und politischem Handeln nicht immer zu vermeiden, und die Verfolgung des eigenen Interesses in diesen Situationen ist ethisch nicht per se illegitim. 7 Verallgemeinerungsfähige Interessen sind für mich im Anschluss an George Herbert Mead, John Rawls und Lawrence Kohlberg Interessen eines Individuums, welche im sog. Verfahren der „Idealen Rollenübernahme“ (siehe Garz 1996, 61), d.h. bei wechselseitiger Perspektivenübernahme Bestand haben können (ausführlich dazu z.B. Juchler 2005, 127ff.). 8 Zum Begriff der Meritorik (Musgrave 1959) siehe die Erläuterung weiter unten in diesem Kapitel.
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Gestaltungsorientierung als zentrales fachdidaktisches Relevanzkriterium
1997, 572), eignet sich die Bildungstheorie von Wolfgang Klafki insbesondere in ihrer jüngeren Variante (Klafki 1996), die zumindest in ihren Grundzügen in der Schulpädagogik erhebliche Zustimmung gefunden hat (so die Einschätzung von Giesecke 1997, 563), als Ausgangspunkt für die Entwicklung eines bildungstheoretischen Fundaments sozialwissenschaftlicher Fachdidaktik. Aus der Sicht dieser Bildungstheorie bedeutet Wissenschaftspropädeutik auf der Sekundarstufe II nicht die systematisch angelegte, verkleinerte Darstellung des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes (Klafki 1996, 162ff.). Entsprechend dem Ziel der Stärkung der verantwortlichen Autonomie der Menschen gehe es stattdessen darum, der Schülerin unter selektiven Rückgriff auf geeignete wissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden ihre (zukünftige) Lebenswelt durchschaubar werden zu lassen, sodass sie sich einerseits besser in dieser zurechtfinden, d.h. in ihr handeln kann, aber diese andererseits auch (kritisch) beurteilen, d.h. sich ggf. für deren Veränderung einsetzen kann (so auch Steinmann 1997). Dazu sollen subjektiv bedingte Horizontbegrenzungen des Alltagswissens aufgelockert und Anregungen zur Horizonterweiterung vermittelt werden, um die Möglichkeiten der Schülerin zu erweitern, sich sowohl für ihre eigenen berechtigten Belange als auch diejenigen ihrer Mitmenschen einsetzen zu können (Klafki 1996, 166f.). Bildung bedeutet für Klafki (ebd., 52) daher die Förderung von drei zentralen Fähigkeiten: 1.
Die Fähigkeit zur Selbstbestimmung über individuelle Lebensbeziehungen und Sinndeutungen
2.
Die Fähigkeit zur Mitbestimmung bei der Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse
3.
Die Fähigkeit zur Solidarität mit anderen Menschen, insbesondere denjenigen, deren Menschenwürde verletzt wird, d.h. denen das Recht auf bzw. die Fähigkeit zu Selbstund Mitbestimmung rechtlich oder faktisch verweigert wird.
Diese drei zentralen Fähigkeiten sollen insbesondere anhand der Auseinandersetzung mit individuell und gesellschaftlich bedeutsamen Lebensproblemen gewonnen werden (Klafki 1996, 167), weil diese für die Erfüllung der legitimierbaren, d.h. verallgemeinerungsfähigen Bedürfnisse der eigenen Persönlichkeit, aber auch anderer Menschen besonders relevant sind (Steinmann 1997, 3). Folgt man dieser Argumentation, sind nicht die zentralen fachwissenschaftlichen Wissensstrukturen der bildungstheoretische Ausgangspunkt einer sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik, sondern das pädagogische Ziel, die lernenden Individuen unter Rückgriff auf sozialwissenschaftliche Erkenntnisse so weit wie möglich zur Erkenntnis, Wahrnehmung und Verteidigung eigener und fremder verallgemeinerungsfähiger Interessen im sozialen Raum zu befähigen. Mit Blick auf das obige Ziel der Solidaritätsfähigkeit und des Prinzips des Vorrangs der (globalen) Bedeutsamkeit vor der (subjektiven) Betroffenheit (Gagel 2000, 172) sollte es also um die verallgemeinerungsfähigen Interessen von Menschen (nicht nur von SchülerInnen in der jeweiligen Klasse) gehen. Doch von welchem verallgemeinerungsfähigen Interesse kann man dabei konkret ausgehen? Kahsnitz (2005b, 136) rückt diesbezüglich das Interesse der Menschen an der Si-
Gestaltungsorientierung als zentrales fachdidaktisches Relevanzkriterium
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cherung und Erweiterung der eigenen individuellen Autonomie in den fachdidaktischen Mittelpunkt. Wenngleich dieses Interesse sicherlich von fundamentaler Bedeutung ist, scheint diese Zielsetzung dennoch zu eng gefasst, da plausibel davon ausgegangen werden kann, dass die Individuen z.B. auch noch ein hohes Interesse an sozialer Anerkennung/Bezogenheit/Vernetzung, an Gerechtigkeit, an Sicherheit, am Frieden, an ökologischer Nachhaltigkeit und an materiellem Wohlstand oder schlicht an einer hohen Lebenszufriedenheit besitzen können. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die gerade genannten Interessen (womöglich insbesondere in der Jugendzeit) teilweise meritorischer Natur im Sinne von Musgrave (1959) sein können9, denn gerade deshalb besteht eine zentrale Aufgabe des sozialwissenschaftlichen Bildungsprozesses darin, den subjektiv ggf. begrenzten Interessenshorizont durch das Angebot entsprechenden meritorischen Wissens zu erweitern. Daher ist es fachdidaktisch nicht überzeugend, wenn vorgeschlagen wird, das inhaltliche Auswahlproblem einfach dadurch zu lösen, dass „tagesaktuelle Fragen und Konflikte [behandelt werden], die Jugendliche besonders interessieren“ (Wyss 2008). Viele Faktoren/ Zusammenhänge, die die Lebensqualität tangieren, sind weder „tagesaktuell“ noch den Schülern im vollen Umfang oder auch nur als solche bewusst. Diese müssen dann vielmehr erst `aktualisiert´ und ins Bewusstsein gerückt werden. Außerdem kann es sein, dass sich die Schüler nur für solche Probleme interessieren, von denen sie selbst betroffen sind, sodass die Probleme anderer Menschen zu Unrecht ausgeblendet würden. Deshalb ist stattdessen aus plausiblen Gründen zunächst davon auszugehen, dass Lernende ganz allgemein ein grundsätzliches Interesse an einer möglichst hohen und nachhaltigen Lebensqualität haben. Lernende haben auch ein Interesse daran, dass andere (möglicherweise weit entfernt lebende) Individuen ihr persönliches Interesse an nachhaltiger Lebensqualität gebührend respektieren und zumindest in ernsthaften Notfällen (z.B. Naturkatastrophen) daran Anteil nehmen. Folglich kann man aus Gründen der Reziprozität auch von ihnen selbst erwarten, dass sie das Interesse anderer Menschen an nachhaltiger Lebensqualität respektieren und zumindest in ernsthaften Notsituationen Anteil daran nehmen. Die nachhaltige Lebensqualität der Menschheit wird damit zu einem zentralen Schlüsselbegriff sozialwissenschaftlicher Fachdidaktik. Der Begriff der Lebensqualität findet sich in ähnlicher Semiotik und zentraler Funktion in allen drei sozialwissenschaftlichen Fachdidaktiken. So wird in der Politik-Didaktik von „Wohlbefinden“ (Gagel 2000, 166) gesprochen; in der Ökonomik-Didaktik ist die Rede von einer „lebenswerten Gesellschaft“ (Steinmann 1997, 9). In der sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik werden „Lebenschancen“ (Weber 2004, 79) zu einem „Schlüsselbegriff“ (ebd.) erhoben. Gegen die Eignung des Begriffs der Lebensqualität spricht gerade nicht, dass es ganz unterschiedliche Indikatoren und Interpretationen dieses Begriffes, sehr mannigfaltige und umstrittene Bedingungsfaktoren, mögliche Zielkonflikte zwischen diesen Faktoren und damit verbundene politische und ökonomische Interessenskonflikte zwischen vielen verschiedenen sozialen Gruppen gibt bzw. geben kann. Diese hier bewusst gewählte definitorische Offenheit ist vielmehr ein Vorteil, denn gerade dadurch kann ein sozialwissenschaftli9 Damit ist gemeint, dass das eigene Interesse z.B. an ökologischer Nachhaltigkeit subjektiv nicht oder nur teilweise bewusst ist und deshalb nicht (ausreichend) artikuliert wird, obwohl eine ökologisch nachhaltige Welt gegenwärtig bzw. zukünftig aus sozialwissenschaftlicher Sicht von großer Bedeutung für das eigene individuelle Wohlbefinden und jenes der Menschheit ist bzw. sein wird und daher bei vollem Bewusstsein der ökologischen Zusammenhänge stärker artikuliert würde (z.B. durch Wahl einer entsprechenden Partei).
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Gestaltungsorientierung als zentrales fachdidaktisches Relevanzkriterium
cher Unterricht anhand von Schlüsselproblemen, die bestimmte Dimensionen von Lebensqualität gefährden, exemplarisch ebendiese unterschiedlichen Indikatoren, divergierenden Interpretationen, umstrittenen Kausalfaktoren, Ziel- und Interessenskonflikte den Lernenden bewusst machen und sich mit diesen kontrovers auseinandersetzen. Dementsprechend wird hier davon ausgegangen, dass das zentrale Ziel des sozialwissenschaftlichen Unterrichts darin bestehen sollte, die Lernenden unter Rückgriff auf sozialwissenschaftliche Erkenntnisse so weit wie möglich zu befähigen, ihre eigenen verallgemeinerungsfähigen Interessen an Lebensqualität erkennen, wahrnehmen und verteidigen zu können, dabei aber auch diejenigen anderer Menschen zu berücksichtigen. Anstelle von fachwissenschaftlich dominanten Kategorien (Hedtke 2006a, 220; Kruber 2000) oder fachwissenschaftlich dominanten analytischen Heuristiken wie dem Politikzyklus (Detjen/Kruber 2007, 26) oder dem ökonomischen Denkansatz (Karpe/Krol 1997) wird hier also vorgeschlagen, die inhaltliche problemorientierte Fragestellung nach der Sicherung bzw. Steigerung der nachhaltigen Lebensqualität sowie deren gerechter10 Verteilung zum zentralen Ausgangspunkt der Konstruktion eines sozialwissenschaftlichen Curriculums zu machen (wobei bestimmte Kategorien, der Politikzyklus und der ökonomische Denkansatz sinnvolle analytische Hilfsmittel darstellen können).
3.1 Lebensqualität durch selbstbestimmte Gestaltung der eigenen Lebensführung Das Ausmaß der menschlichen Lebensqualität hängt erstens von der Fähigkeit zur Selbstbestimmung (Klafki 1996, 52) ab, d.h. von der Angemessenheit jener (zunächst) persönlichen Entscheidungen, die sich unmittelbar auf die individuelle Gestaltung des eigenen Lebens beziehen. Genauer geht es darum, bestimmte grundlegende individuelle Lebensherausforderungen auf der Mikroebene (Berufswahl, Wahl des benötigten Versicherungsschutzes usw.), mit denen sich i.d.R. jedes Gesellschaftsmitglied im Laufe seines Lebens auseinander setzen muss, zu erkennen und im Rahmen des gegebenen institutionellen Rahmens zumindest einigermaßen kompetent zu bewältigen (Zurechtkommen mit den existierenden gesellschaftlichen Institutionen und Konventionen). Diese Kompetenz zur Selbstbestimmungsfähigkeit sollte der sozialwissenschaftliche Unterricht daher fördern. Dabei ist an den dafür geeigneten Lernpunkten zugleich die Solidaritätsfähigkeit (Klafki 1996, 52) in dem Sinne zu stärken, dass die Lernenden erkennen, dass bestimmte von ihnen zur unmittelbaren Gestaltung ihrer eigenen persönlichen Lebensführung getroffene Entscheidungen auch Externalitäten, d.h. verdeckte negative/positive Nebenwirkungen auf das Ausmaß der Selbstbestimmungsfähigkeit von anderen Individuen ausüben können (z.B. Konsum von (nicht) im Rahmen des sog. Fairen Handel vertriebenen Produkten). Förderung von Selbstbestimmungsfähigkeit meint also das Angebot von Hilfestellungen bei der Entwicklung einer gegenüber der eigenen Person und anderen Menschen verantwortungsbewussten Lebensführung. Die zentrale sozialwissenschaftliche Fragestellung in diesem ersten zentralen Lernbereich lautet also: Wie kann ich mein Leben hinsichtlich dessen sozialer und ökonomischer Dimension so gestalten, dass ich die nachhaltige Lebensqualität meines eigenen (zukünftigen) Alltags stabilisieren oder gar erhöhen kann, dabei aber auch zugleich die entsprechenden Interessen von anderen Menschen berücksichtige? 10 Was unter einer `gerechten´ Verteilung von Lebensqualität verstanden wird, ist natürlich umstritten. Genau diese Kontroversen müsste ein sozialwissenschaftlicher Unterricht nach der hier vorgelegten Konzeption erörtern.
Lebensqualität durch selbstbestimmte Gestaltung der eigenen Lebensführung
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Infolgedessen wären im sozialwissenschaftlichen Curriculum in diesem Lernbereich drei bzw. vier Themenkomplexe vorzusehen: 1.
Ein erster Themenkomplex `Soziale Beziehungen im privaten Lebensumfeld´, in dem es um die Förderung von Kompetenz bei der Gestaltung sozialer Beziehungen im privaten Raum i.e.S. (Familie, Freundschaften, Partnerschaft, Konfliktmediation etc.) geht. Dies ist übrigens auch ein `ökonomisches´ Thema, denn die empirische wirtschaftswissenschaftliche Glücksforschung (z.B. Easterlin 2006; Frey/ Stutzer 2002) behauptet z.B., dass zumindest für das Durchschnittsindividuum in reichen Dienstleistungsgesellschaften gilt, dass das Netz sozialer Beziehungen die zentrale Determinante für die subjektive Lebensqualität der Menschen darstellt, wohingegen vom absoluten materiellen Reichtum einer Gesellschaft hier kaum noch positive Effekte ausgehen. Zu diskutieren wäre allerdings, inwiefern dieser Themenkomplex nicht dem Pädagogikunterricht zugeordnet werden sollte, was angesichts der zeitlichen Restriktionen des sozialwissenschaftlichen Unterrichts sinnvoll sein könnte. Dabei wäre angesichts des Gesagten natürlich sicherzustellen, dass die Inhalte in diesem Themenbereich wenn notwendig in interdisziplinärer Form vermittelt würden.
2.
Ein zweiter Themenkomplex `Funktionsweise des deutschen Rechtssystems´, in dem es um die Förderung von Kompetenz im Umgang mit der Rechtsordnung und dem Rechtssystem geht, d.h. um die Kompetenz, eigene Rechte und Pflichten zu erkennen, eigene Interessen durch Anstrengung von oder im Rahmen von Gerichtsverfahren zu verteidigen und die Grundrechte anderer Bürgerinnen zu respektieren.
3.
Ein dritter Themenkomplex `Verbraucher im Markt´, in dem es um die Förderung von Kompetenz bei der Einkommensverwendung (Konsumkompetenz) geht. Hierzu gehört nicht zuletzt die Kompetenz im Umgang mit Finanzprodukten, wobei unter Rückgriff auf sozialwissenschaftliche Studien insbesondere auch ein kritischer Umgang mit den Informationen von Interessensverbänden anzustreben ist. Z.B. erweist sich die Behauptung des Deutschen Aktieninstituts von einer langfristigen AktienDurchschnittsrendite von 9% (DAI o.J., 8f.) aus empirisch-wirtschaftshistorischer Sicht als übertrieben – Aktien-Realrenditen für adäquate Anlagezeiträume bewegten sich zwischen 1920 und heute vielmehr um ca. 2-3% (Voth 2008).
4.
Ein vierter Themenkomplex namens `Arbeitnehmer und Unternehmer in der Arbeitswelt´, in dem es um die Förderung von Kompetenz beim Einkommenserwerb, d.h. Berufs(wahl)kompetenz (inklusive des Berufs des Unternehmers) und bei der Wahrung der damit verbundenen, eigenen Interessen (z.B. Arbeitsrecht, Betriebsrat). Darüber hinaus ist es in gesellschaftspolitischer Hinsicht sinnvoll, Lernende – im Unterschied zur heute gängigen Praxis – nicht nur einen Einblick in die Funktionsweise von kommerziellen Privatunternehmen, sondern auch in das Innere von gesellschaftlich und/oder politisch engagierten Non-Profit-Organisation zu gewähren. Anderenfalls kann es zu einer einseitigen Präferenzformung und frühzeitigen Horizontverengung bei den Lernenden kommen, die pädagogisch nicht sinnvoll ist. So haben die Ökonomen Meier/Stutzer (2007) empirisch gezeigt, dass ehrenamtliches Engagement bei vielen Menschen ex post zu einer höheren subjektiven Lebenszufriedenheit führt, was
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Gestaltungsorientierung als zentrales fachdidaktisches Relevanzkriterium diese aber ex ante bei ihrer Lebensgestaltung oft unzureichend berücksichtigen. Insofern besteht hier Bedarf nach einem fachdidaktischen Korrektiv.
Manche Politikdidaktiker versuchen in diesem Bereich der sog. `Lebenshilfe´ einen seltsam artifiziellen Gegensatz zwischen ökonomischer und politischer Didaktik aufzubauen, indem sie behaupten, Lebenshilfe hätte wenig mit den originären Aufgaben der Politikdidaktik zu tun (Detjen 2006a, 72). Dabei übersehen sie jedoch, dass einschlägige Einführungen in die Politikdidaktik (Breit/Weißeno 2003) Lebenshilfe ausdrücklich als eine zentrale Grundintention des politischen Unterrichts aufführen (ebd., 35).
3.2 Lebensqualität durch Mitgestaltung einer lebenswerten Gesellschaft Zweitens hängt das Ausmaß der menschlichen Lebensqualität auch davon ab, wie der institutionelle Kontext der Gesellschaft und die dadurch geprägten sozialen Strukturen, in deren Rahmen das Individuum sein Leben verbringt, ausgestaltet ist. Diese hängen in hohem Maße von politischen Entscheidungen ab. Diese politischen Entscheidungen sind wiederum laut empirischen Längsschnittuntersuchungen aus der Politologie zumindest in westlichen Demokratien in einem signifikanten Ausmaß von den durch Umfragen ermittelten Präferenzen der Wähler geprägt (wobei die Intensität dieses empirischen Zusammenhangs von der genauen Art der demokratischen Institutionen in einem Staat und der Salienz der jeweiligen Thematik in den Augen der Bevölkerung abhängt). Dieser Nexus ist nicht auf die mediale Manipulation der Präferenzen durch die Politik zurückzuführen (Brooks/Manza 2007; Hobolt/Klemmensen 2005: 381, Hobolt/Klemmensen 2008: 311; Wlezien/Soroka 2004, 2008 sowie die dort zusammenfassend angegebene Literatur). Dieser empirische Einfluss der öffentlichen Meinung auf politisches Handeln erstreckt sich auch auf nicht elektoral legitimierte, politisch unabhängige Akteure wie Verfassungsgerichte (G. Vanberg 2005) und Zentralbanken (Hayo 1998). Für die Politologen Follesdal/Hix (2005) ist die öffentliche Debatte und Deliberation über gestaltungspolitisches Handeln eine unabdingbare Voraussetzung dafür, dass die diesbezüglichen Entscheidungen der politisch gewählten Verantwortlichen als legitim gelten können, denn erst durch die auf diesem Wege bewirkte politische Aufklärung und Information könnten sich die tatsächlichen politischen Präferenzen der Bürger herausbilden und politisch wirkmächtig werden. Um diese Art von wirklich informierten Präferenzen für oder gegen bestimmte gestaltungspolitische Optionen zu entwickeln, ist jedoch auch eine sozialwissenschaftlich einigermaßen fundierte Sachkompetenz erforderlich, um die diversen politischen Beiträge zur öffentlichen Debatte nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch kritisch reflektieren und hinsichtlich ihrer Folgen für die menschliche Lebensqualität beurteilen zu können. Denn wie die internationale empirische Forschung (Fishkin/Luskin 2005, 290; Luskin/ Fishkin/Hahn 2007) zeigt, führen pädagogische Arrangements in der politischen Erwachsenenbildung, die auf dieses didaktische Ziel hin ausgerichtet sind, in der Tat dazu, dass sich die sachpolitischen Präferenzen vieler Individuen – und zwar nachweislich als unmittelbare Folge eines verbesserten Wissensstandes – erheblich verändern. Bei den meisten sachpolitischen Problemstellungen kommt es dadurch auf aggregierter Gruppen-Ebene zu veränderten politischen Mehrheitsverhältnissen (Netto-Präferenz-Änderung). Sollen in der Demo-
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kratie tatsächlich die sachlich informierten Präferenzen der Individuen zum Zuge kommen, braucht es also entsprechende pädagogische Anstrengungen. Aufgrund des oben dargestellten Kausalzusammenhangs zwischen öffentlicher Meinung, politischen Entscheidungen, gesellschaftlichen Institutionen und menschlicher Lebensqualität sollte sozialwissenschaftlicher Unterricht daher eine sozialwissenschaftlich fundierte Mitbestimmungsfähigkeit (Klafki 1996, 52) vermitteln, freilich nicht unbedingt im Sinne des sog. `Aktivbürgers´, der ständig politisch partizipiert. Mitbestimmungsfähigkeit wird hier vielmehr im Sinne eines Minimalziels als das Interesse und die Fähigkeit verstanden, sich – zumindest im Rahmen von Wahlen, Abstimmungen und Bevölkerungsumfragen – sachlich kompetent an der politischen Auseinandersetzung um die Gestaltung von gesellschaftlichen Institutionen beteiligen zu können. Hauptaufgabe ist demnach die Schulung der Fähigkeit zur reflexiven, kriteriengeleiteten Evaluation der derzeitigen gesellschaftlichen Institutionen11 und darauf bezogenen Alternativvorschlägen (Kahsnitz 2005b, 131), sodass die politisch Verantwortlichen mit der kompetenten, der Sache auch wirklich angemessenen Kontrolle und Kritik der Bürgerinnen rechnen müssen (Breit/Weißeno 2003, 56). Hierzu geht es um die Erkenntnis von kollektiven Lebensherausforderungen auf der Makroebene und die Förderung der Angemessenheit von darauf bezogenen politischen Entscheidungen der Individuen, die sich mittelbar auf ihre individuelle Lebensqualität auswirken. Dabei ist auch hier die Solidaritätsfähigkeit (Klafki 1996, 52) zu stärken, d.h. die Lernenden sollen diese kollektiven Probleme, darauf bezogene Lösungsoptionen und deren Folgen hinsichtlich ihrer Vor- und Nachteile nicht nur aus der Perspektive des eigenen Interesses evaluieren können, sondern sie sollen auch die Perspektive anderer von dem jeweiligen Problem betroffenen sozialen Gruppen und deren Interessen (auch die der Bevölkerung in anderen Staaten) einnehmen können (Perspektivenwechsel, Breit 1999), um zu verallgemeinerungsfähigen Problemlösungsvorschlägen zu gelangen (siehe dazu ausführlich z.B. Juchler 2005, 127ff.). Die obigen didaktischen Zielsetzungen sind grundsätzlich realistisch. Zunächst zeigt eine Reihe von jüngeren empirischen Studien (siehe den Überblick bei Galston 2001, 12f.) einen eigenständigen kausalen Effekt des Ausmaßes des individuellen politischen Wissens nicht nur auf die individuelle Wahlbeteiligung, sondern auch auf die Intensität, mit welcher die Wahlentscheidung unter Rückgriff auf verallgemeinerungsfähige Urteilskriterien begründet wird. Zugleich zeigen andere empirische Untersuchungen (siehe wiederum den Überblick bei Galston 2001, 17ff., aber auch List/Sliwka 2004, 13 sowie Luskin / Fishkin / Malhotra/Siu 2007), dass sozialwissenschaftlicher Unterricht in der Lage ist, das politische Wissen zu erhöhen – vorausgesetzt, dass im Unterricht keine bloße Geschichts- und Institutionenkunde betrieben wird, sondern sachpolitische Kontroversen der Gegenwart erörtert und diskutiert werden (wie dies z.B. bei der sog. Methode des Deliberationsforums, vgl. Sliwka 2008, 98ff.) der Fall ist). In Übereinstimmung damit finden sowohl der empirische Literaturüberblick als auch die eigenen empirischen Studien von Campbell (2004, 2006), die auf Daten aus den USA bzw. der IEA Civic Education Study von 1999 basieren, deutliche positive Effekte von politischer Bürgerschaftserziehung auf das politische Wissen von Jugendlichen. Darüber hinaus steigert politische Bürgerschaftserziehung sowohl die von ihnen für sich selbst bekundete als auch die von ihnen bei ihren Klassenkameraden 11
Der Begriff der Institution soll dabei insbesondere auf formales Recht abzielen, ist aber grundsätzlich auch offen für informelle soziale Konventionen im Sinne von dominanten Denkmustern.
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perzipierte Absicht, sich später politisch zu engagieren, d.h. insbesondere das aktive Wahlrecht in informierter Weise auszuüben – allerdings wiederum unter der Voraussetzung, dass das Unterrichtsklima durch freie Diskussion, Kontroversität, Aufforderung zu eigenständigem Denken geprägt ist (ebd.: 28, 96, 104). Bei der Bewertung dieser Intentionen der Jugendlichen sollte man sich auch der Tatsache bewusst sein, dass in der Adoleszenz geäußerte Handlungsintentionen laut empirischen Längsschnittuntersuchungen stark mit dem tatsächlichen Verhalten im Erwachsenenalter korrelieren (ebd., 83). Positive empirische Effekte auf die politische Sachkompetenz konnten auch durch eine Reihe von empirischen Studien zu den Effekten von entsprechenden Maßnahmen der politischen Erwachsenenbildung in verschiedenen Ländern nachgewiesen werden (Fishkin/ Luskin 2005, 291 und die dort angeführte Literatur). Bemerkenswert ist auch das Forschungsergebnis, dass sich nach Abschluss dieser pädagogischen Programme die eigenständige politische Informationssuche (via Tageszeitungen) der Teilnehmer intensivierte (ebd.). Inhaltlich sollten in dem Lernbereich Mitbestimmungsfähigkeit gemäß der obigen Argumentation diejenigen gesellschaftlichen Dimensionen, die darin eingebetteten kollektiven „Schlüsselprobleme“ (Klafki 1996, 58ff.) bzw. „fundamentalen Probleme“ (Gagel 2000, 243ff.) und die damit verbundenen elementaren Interessen- und/oder Zielkonflikte identifiziert werden, deren Bewältigung bzw. deren institutionelle Gestaltung von der größten Bedeutsamkeit für die nachhaltige Qualität des menschlichen Zusammenlebens, d.h. den nachhaltigen Lebenswert der Gesellschaft sind. Dabei sollte es sich um voraussichtlich auch in der fernen Zukunft relevante, wenn nicht gar überzeitliche Problemstellungen/Konfliktlagen handeln, anhand derer die Schülerinnen „Problemlösungsfähigkeit“ (Gagel 2000, 258ff.) einüben können, wenngleich man wohl bescheidener von der Fähigkeit sprechen sollte, sich auf kompetente und systematische Weise mit diesen Problemen auseinanderzusetzen (siehe Kapitel 4 für eine Antwort auf die Frage, was dies konkret heißt). In leicht abwandelnder Anlehnung an die Argumentation des Ökonomikdidaktikers Steinmann (1997, 3) sollte es also um die diskursive Auseinandersetzung mit denjenigen kollektiven Problemen12 / Konflikten gehen, die für das menschliche Bedürfnis nach nachhaltigem Wohlbefinden von besonders starker Relevanz sind, d.h. durch die das menschliche Wohlbefinden am stärksten gefährdet erscheint, auch wenn dies den Schülern (noch) nicht immer hinreichend bewusst ist. Diese Vorgehensweise entspricht dem vom Politikdidaktiker Gagel (2000, 161-174) betonten Kriterium der Bedeutsamkeit. Ebenjene in diesem Sinne als besonders bedeutsam empfundenen kollektiven Probleme / Konflikte können dann zusammengenommen einen fachdidaktischen Schlüsselproblem- und Schlüsselkonfliktkatalog bilden, über den man sich im Rahmen des interfachdidaktischen Diskurses verständigen kann. Ein zentrales Ziel der Lehrerinnenausbildung würde dann darin bestehen, angehende Lehrer in die Lage zu versetzen, sachlich und didaktisch angemessenen Unterricht über diese Schlüsselprobleme zu leisten. Dabei ist man 12
Steinmann (1997, 3) verwendet anstelle des Begriffes des `Problems´ den Begriff der `Situation´, den ich jedoch für unangemessen erachte, da der Begriff der `Situation´ im üblichen Sprachgebrauch zur Bezeichung individueller Lebenslagen benutzt wird. Mit Bezug auf das Bildungsziel der Selbstbestimmungsfähigkeit ist dies angemessen. Mit Blick auf das Ziel der Mitbestimmungsfähigkeit gilt das jedoch nicht, denn hier geht es um kollektiv zu bewältigende Herausforderungen, für die im üblichen Sprachgebrauch der Begriff des `Problems´ und nicht jener der `Situation´ verwendet wird. Steinmann (1997) versucht die kollektive Dimension über die Kategorie `gesellschaftliche Entwicklungen´ abzudecken. Dieser stark deskriptive Terminus verführt jedoch schnell dazu, bloßes `Orientierungswissen´ (Was ist?) zu vermitteln und die Gestaltungsdimension aus dem Blick zu verlieren.
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angesichts der zeitlichen Restriktionen der Ausbildung gezwungen, gemäß des unterschiedlichen Bedrohungspotentials (Ausmaß und Intensität) verschiedener Probleme für den Lebenswert der Gesellschaft Prioritäten zu setzen, d.h. die allerwichtigsten Probleme auszuwählen. Beispielsweise erscheint es (zumindest zurzeit) unter Rückgriff auf diese Kriterien plausibel, das Problem der Gefährdung der ökologischen Nachhaltigkeit höher zu gewichten als jenes der Kriminalität. Freilich ist in regelmäßigen Abständen zu prüfen, inwieweit ggf. eine partielle Aktualisierung des Katalogs erforderlich sein könnte, denn im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung über die Jahrzehnte können sich neuartige Probleme herausbilden und ältere Probleme an Bedeutung verlieren, wenngleich Petrik (2007) sicherlich zu Recht auf den überzeitlich-kategorialen Charakter vieler Schlüsselprobleme und konflikte hinweist. Wie könnte ein solcher Katalog aus Schlüsselproblemen und den damit verbundenen Konflikten gegenwärtig konkret aussehen? Aus sozialwissenschaftlich informierter Sicht kann der vom Erziehungswissenschaftler Klafki (1996, 57ff.) selbst aufgestellte inhaltliche Schlüsselproblemkatalog m.E. nur teilweise übernommen werden. Letzteres gilt für die beiden von Klafki genannten Schlüsselproblembereiche Frieden/Krieg und Ökologie/Umweltkrise. Diese Themenbereiche werden auch im Schlüsselproblemkatalog von Sander (1992) genannt. Demgegenüber ist Frieden/Krieg im Katalog von Petrik (2007, 161) nicht als eigenständiger Bereich ausdifferenziert. Dies ist jedoch nicht nachvollziehbar, denn schließlich dürfte dem Bedürfnis nach Frieden (neben dem Bedürfnis nach materieller Basisversorgung) wohl die höchste Bedeutsamkeit für das menschliche Wohlergehen überhaupt zukommen. Reinhardt (2005, 95) macht jedoch zu Recht darauf aufmerksam, dass man inzwischen besser vom Schlüsselproblemkomplex Frieden/Krieg/Terrorismus sprechen sollte. Hinsichtlich des weiteren, von Klafki, aber auch von Sander und in ähnlicher Weise ebenfalls bei Petrik aufgeführten Themenbereiches „Entwicklung von Subjektivität in IchDu-Beziehungen“ bzw. „Zusammen leben und lieben“ (welches hier dem ersten Lernbereich der Selbstbestimmungsfähigkeit (s.o.) zugeordnet wurde) wäre zumindest zu diskutieren, ob dieser Themenkomplex – angesichts der ohnehin schon erheblichen zeitlichen Restriktionen des Schulfachs Sozialwissenschaften – nicht vielmehr ein originäres, wenngleich wohl interdisziplinär zu behandelndes Thema des Pädagogikunterrichts oder alternativ dazu des Religions- oder Ethikunterrichts darstellt. Dasselbe gilt für den verwandten Komplex der Biopolitik, d.h. für Themen wie Sterbehilfe oder die technische Revolution der Fortpflanzungsmedizin. Der Themenbereich Wirtschaft sollte nicht, wie es bei Klafki (1996, 59) und beim Politikdidaktiker Sander (1992) geschieht, ideologisch auf das Schlüsselproblem der sozialen Ungleichheit enggeführt werden, wenngleich dies natürlich weiterhin ein wichtiger TeilAspekt dieses Bereiches bleiben sollte (Weber 2004). Denn eine solche Engführung droht mögliche Vorteile von ökonomischer Ungleichheit, die damit verbundene wichtige Kategorie des Anreizes sowie denkbare Zielkonflikte zwischen volkswirtschaftlicher Prosperität und sozialer Gleichheit auszublenden (siehe dazu den einschlägigen Klassiker von Okun (1975)). Aus Sicht einer integrativen sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik wäre dieser Bereich daher auch um die für die Ökonomikdidaktik wichtige Frage nach der Steigerung bzw. Sicherung gesamtwirtschaftlicher Prosperität zu ergänzen. Folglich würde man vom Schlüsselproblemkomplex der `Sicherung gesamtwirtschaftlichen Wohlstands und sozioökonomischer Gerechtigkeit in Deutschland´ sprechen.
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Sander (1992) ist darin zuzustimmen, dass im Katalog von Klafki (1996) das politische System als wichtiger Schlüsselproblembereich fehlt und daher einer entsprechenden Ergänzung bedarf, die er „Demokratie in komplexen Gesellschaften“ nennt. Auch für Petrik (2007) stellt die damit verbundene Frage nach der Gestaltung des politischen Systems ein fundamentales Schlüsselproblem und einen sozialwissenschaftlichen Elementarkonflikt dar, der nicht ausgespart werden sollte. Diesem Problemkomplex wird in sozialwissenschaftlichen Argumentationen eine bedeutsame Rolle für den gesellschaftlichen Lebenswert zugeschrieben (siehe Kapitel 7), zumal es von der Ausgestaltung des politischen Systems abhängen dürfte, wie wahrscheinlich die politische Durchsetzbarkeit von bestimmten Vorschlägen zur Lösung von Schlüsselproblemen ist. Für die gestaltungsorientierte sozialwissenschaftliche Fachdidaktik ist es jedoch entscheidend, dass auch dieses Schlüsselproblem in einer Art und Weise formuliert wird, dass dessen Bezug zur gesellschaftlichen Lebensqualität wirklich klar erkennbar wird, um einer abbilddidaktischen Reproduktion xbeliebiger Theorien über Demokratie bzw. über das politische System zuvorzukommen, die womöglich keinerlei Gestaltungsorientierung aufweisen. Somit sollten im Unterricht in erster Linie solche sozialwissenschaftliche Theorien und Erkenntnisse diskutiert werden, die die Gestaltung des politischen Systems direkt mit den Werten der „Effektivität und Legitimität demokratischen Regierens“ (Scharpf 2000a, 17) in Verbindung bringen. Als weiteres Thema wird von Klafki (1996) und Sander (1992) schließlich noch das Gefahren- und Chancenpotential der technologischen Entwicklung benannt. Meines Erachtens ist dies jedoch eher ein Querschnittsbereich, der im Rahmen der übrigen Schlüsselprobleme angesprochen werden kann/sollte (z.B. die gesellschaftlichen Konflikte um die Regulierung der Atom- und Gentechnologie im Bereich Ökologie; die gesellschaftlichen Konflikte um die Regulierung der Waffen- und Überwachungstechnologie im Bereich Frieden/Krieg/Terrorismus und dem damit verbundenen Konflikt zwischen den Werten der Freiheit und der Sicherheit). Auch aus Gründen zeitlicher Opportunitätskosten sollte daraus m.E. nicht ein eigenständiges Schlüsselproblem gebildet werden, denn es existieren noch zwei weitere Schlüsselprobleme, die m.E. von grundlegenderer Bedeutung für die gesellschaftliche Lebensqualität der Menschheit sind, die jedoch weder bei Klafki (1996) noch bei Sander (1992) hinreichende Berücksichtigung finden bzw. nicht erwähnt werden. Hierzu gehört zum einen das Problem der Bekämpfung der Armut in den sog. Entwicklungsländern (z.B. Collier 2007; Easterly 2006; Sachs 2005), welches das elementare Grundbedürfnis des Menschen, nämlich jenes nach der Vermeidung eines (qualvollen und/oder frühzeitigen) Todes berührt. Dieses Thema ist von essentieller fachdidaktischer Bedeutsamkeit, da es für die Entwicklung der oben erwähnten Solidaritätsfähigkeit sowie für die Herausbildung eines Bewusstseins für Globalität im Sinne einer von Klafki (1996, 167) selbst geforderten Horizonterweiterung der Schüler eine erhebliche Rolle spielt. Darüber hinaus kann die Behandlung dieses Themas zu einer m.E. sinnvollen Relativierung der persönlichen Alltagssorgen der Menschen in reichen Industriegesellschaften beitragen, was zu einer kritisch-reflektierten Analyse der eigenen Bedürfnisse und der daran angehängten politischen Forderungen führen könnte. Diese Problematik sollte daher nicht einfach wie bei Petrik (2007) ausgespart oder wie bei Klafki (1996) und Sander (1992) unter das Schlüsselproblem der sozialen Ungleichheit subsumiert werden, indem man einfach das Adjektiv „weltweit“ davor setzt, zumal sich die sozioökonomisch-historisch-rechtlich-politische Ätiologie des Armutsproblems in den
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Entwicklungsländern und die damit verbundenen Herausforderungen grundlegend von jenen der Industrieländer unterscheiden (Easterly 2006; Sachs 2005). Zum anderen fehlt bei Klafki (1996) und Sander (1992) das Schlüsselproblem der Gewährleistung eines friedfertigen und sowohl kulturell als auch ökonomisch produktiven Zusammenlebens von Menschen aus als `verschieden´ wahrgenommenen, möglicherweise sozial konstruierten Ethnien und Kulturen (z.B. Keskin 2009; Luft 2006; Märker 2005), das auf dem Respekt vor gemeinsamen Grundprinzipien bei gleichzeitiger Toleranz von darüber hinausgehenden Differenzen beruht. Zu fragen wäre hier u.a. nach den politischen, soziokulturellen und –ökonomischen Voraussetzungen dieses Respekts und dieser Toleranz. Zu diesem Schlüsselproblembereich gehört aber nicht zuletzt auch die für die menschliche Lebensqualität der Gesellschaft elementare Herausforderung der Sicherung der Menschenrechte im Angesicht von Rassismus/Fremdenfeindlichkeit und im Angesicht der Flucht von aus politischen o.ä. Gründen verfolgten Angehörigen anderer Staaten (Asylpolitik). Dieser Bereich ist deshalb im Schlüsselproblemkatalog in jedem Fall mit aufzunehmen, wie es auch bei Petrik (2007) geschieht. Damit sind sechs zentrale Schlüsselprobleme im Kompetenzbereich der Mitbestimmungsfähigkeit identifiziert worden, zu denen noch die in Kapitel 3.1. genannten drei bis vier Themen im Kompetenzbereich der Selbstbestimmungsfähigkeit hinzuzufügen wären. Angesichts dieser Fülle tut man gut daran, den sozialwissenschaftlichen Unterricht auf diese Kernkompetenzen zu fokussieren und ihm nicht noch weitere Themen aufzubürden, die mindestens ebenso gut von verwandten Fächern übernommen werden können. Dies gilt v.a. für den von Petrik (2007, 161) genannten Bereich „Einen Lebenssinn finden“, in dem es um die Rolle von Religion und Spiritualität gehen soll. Dies ist m.E. jedoch vielmehr eine Kernaufgabe des Religions- oder Ethik-Unterrichts. Somit schlage ich vor, im Curriculum der sozialwissenschaftlichen Lehrerinnenausbildung in diesem zweiten großen Lernbereich der Mitbestimmungsfähigkeit die folgenden sechs jeweils anhand von exemplarischen Teilgebieten vertiefend zu behandelnden Schlüsselproblemkomplexe vorzusehen (aus denen man in der Schule angesichts zeitlicher Restriktionen wahrscheinlich auswählen muss), die – gemäß dem oben hergeleiteten bildungstheoretischen Fundament – unter den folgenden Fragestellungen zu behandeln wären: a.
Gewährleistung der Effektivität und Legitimität politischer Entscheidungen in Deutschland und der Europäischen Union: Wie kann man angesichts von Wert- und Interessendivergenzen das politische Entscheidungssystem (Polity) des Nationalstaats und der Europäischen Union institutionell gestalten, um politische Prozesse (Politics) zu begünstigen, die solche Politiken (Policies) wahrscheinlicher machen, die das Ausmaß des Lebenswertes der Gesellschaft steigern (bzw. zumindest nicht senken) und diesen `gerecht´ verteilen? Was kann man dabei unter Lebenswertigkeit und Gerechtigkeit verstehen? Wie lassen sich entsprechende Maßnahmen politisch durchsetzen?
b.
Gewährleistung gesamtwirtschaftlichen Wohlstands und sozioökonomischer Gerechtigkeit in Deutschland und der Europäischen Union: Wie kann man angesichts von Wert- und Interessendivergenzen das wirtschafts- und sozialpolitische System zur Allokation und Distribution von Kapital, Gütern und Dienstleistungen institutionell gestalten, sodass das Ausmaß des Lebenswertes der Gesellschaft gesteigert (bzw. zu-
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Gestaltungsorientierung als zentrales fachdidaktisches Relevanzkriterium mindest nicht gesenkt) und dieser `gerecht´ verteilt wird und was kann man dabei unter den Begriffen Wohlstand, Lebenswertigkeit und Gerechtigkeit konkret verstehen? Wie lassen sich entsprechende Maßnahmen politisch durchsetzen?
c.
Globale Sicherung der ökologischen Lebensgrundlagen der Menschheit (Nachhaltigkeit): Mit Hilfe welcher Institutionen/politischer Maßnahmen kann man angesichts von Wert- und Interessendivergenzen die ökologische Nachhaltigkeit des menschlichen Zusammenlebens sichern, sodass der Lebenswert der Gesellschaft gesteigert oder zumindest gesichert wird und zugleich `gerecht´verteilt wird? Wie lassen sich entsprechende Maßnahmen politisch durchsetzen?
d.
Gewährleistung des friedlichen und produktiven Zusammenlebens von Menschen aus unterschiedlichen (sozial konstruierten) Kulturen (sozioökonomische und –kulturelle Integration): Mit Hilfe welcher Institutionen/politischer Maßnahmen kann man angesichts von Wert- und Interessendivergenzen das friedliche, nicht-diskriminierende, von Selbst- und Fremdexklusion freie und produktive Zusammenleben verschiedener gesellschaftlicher Kulturen und Ethnien innerhalb der nationalen Gesellschaften fördern? Wie kann man dabei die liberalen Grundrechte und –pflichten der Angehörigen sowohl von kulturellen Mehr- als auch Minderheiten (auch: von hierher geflüchteten, da in anderen Ländern aus politischen u.ä. Gründen verfolgten Menschen) sowie deren soziale, ökonomische und kulturelle Integration sichern, sodass der Lebenswert der Gesellschaft gesteigert (bzw. zumindest nicht gesenkt) wird? Was kann/sollte dabei unter `Integration´ verstanden werden? Wie lassen sich entsprechende Maßnahmen politisch durchsetzen?
e.
Sicherung des internationalen Friedens und Unterbindung von Gewalt in Form von Krieg und Terrorismus: Mit Hilfe welcher Institutionen/politischer Maßnahmen kann man angesichts von Wert- und Interessendivergenzen das friedliche und produktive Zusammenleben verschiedener Staaten fördern und Phänomene wie Krieg, Gewalt und Terrorismus – unter Wahrung der Balance zwischen kollektiven SicherheitsBedürfnissen und individuellen Freiheits-Rechten – verhindern, sodass der Lebenswert der Gesellschaft gesteigert (bzw. zumindest nicht gesenkt) wird? Wie lassen sich entsprechende Maßnahmen politisch durchsetzen?
f.
Bekämpfung bzw. Vermeidung von Armut (im weitesten Sinne) in sog. Entwicklungsländern: Mit Hilfe welcher Institutionen/politischer Maßnahmen kann man angesichts von Wert- und Interessendivergenzen eine der Lebensqualität der Menschen zuträgliche Weiterentwicklung der Gesellschaften in denjenigen Ländern der Welt fördern, die oftmals zur gleichen Zeit durch eine Armut der Menschen nicht nur an ökonomischen Ressourcen, sondern insbesondere auch durch eine Armut an zivilen und politischen Rechten (unzureichende Rechtsstaatlichkeit und Demokratie) sowie durch Bildungsarmut, ökologischer Armut und Armut an Sozialkapital geprägt sind? Wie lassen sich entsprechende Maßnahmen politisch durchsetzen?
Es geht dabei nicht darum, einheitliche, für alle Schülerinnen/Studentinnen verbindliche Antworten auf diese Fragestellungen zu finden, sondern vielmehr darum, gemäß dem
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Kontroversitätsprinzip (siehe Kapitel 4.4.3.) unterschiedliche Antworten von verschiedenen theoretischen Perspektiven aus der Sozialwissenschaft auf diese Fragen vergleichend zu diskutieren, wie es in den Kapiteln 6 + 7 exemplarisch vorgeführt wird. Angesichts dieser prononcierten Problemorientierung könnte möglicherweise eingewendet werden, dass das in dieser Arbeit entwickelte integrative fachdidaktische Konzept in Wirklichkeit einen politikdidaktischen Bias aufweise, da die Kategorie des (politischen) Problems in der ökonomischen Bildung „zwar nicht unbekannt, aber doch gewiss nicht dominant“ sei (Retzmann 2006, 211). Solche Abgrenzungsbemühungen sind jedoch wenig überzeugend, wie insbesondere der zentrale Beitrag von Karpe/Krol (1997) zur Begründung und Konzeption von ökonomischer Bildung zeigt. Denn dort werden die zentrale Begründung und der zentrale Auftrag ökonomischer Bildung darin erblickt, die Lernenden mit mentalen Modellen zu versorgen, die sie befähigen, sich politisch für solche institutionellen Reformen einzusetzen, mit denen heutige gesellschaftliche Schlüsselprobleme politisch entschärft werden können. Die obige Terminologie der Schlüsselproblemfelder ist hier vollkommen bewusst explizit an solchen allgemeinen normativen Ziel-Kriterien (Effektivität, Legitimität, Wohlstand, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Integration, Frieden, Gewaltfreiheit, Armutsvermeidung) ausgerichtet, die den direkten Bezug des Lehrinhalts zu grundlegenden menschlichen Bedürfnissen und damit zum Lebenswert der Gesellschaft signalisieren. Gegenüber der nicht selten zu beobachtenden (z.B. MSWWF 1999, 16) starken Orientierung an von in der Wissenschaft gängigen, deskriptiven Inhaltsfeldern wie „(Internationales) Politisches System“ und „(Globales) Wirtschafts- und Sozialsystem“ soll dadurch die nachdrückliche Ablehnung eines abbilddidaktischen Zugangs und die Notwendigkeit einer genuin eigenständigen fachdidaktischen Inhalts-Systematik noch einmal sehr stark betont werden. Die vorliegende Arbeit bezieht die im Anfangskapitel dargestellte Fragestellung nach der angemessenen Integrationsweise für eine sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik nur auf diesen zweiten zentralen Lernbereich der Förderung von Mitbestimmungsfähigkeit und exemplifiziert auch diesen nur anhand der beiden ersten oben aufgeführten Teilbereiche a) Politisches System in Deutschland und der Europäischen Union und b) Wirtschafts- und Sozialsystem in Deutschland und der Europäischen Union. Mitbestimmungsfähigkeit wird dabei als sozialwissenschaftlich reflektierte, gestaltungsorientierte Urteilsfähigkeit bezüglich gesellschaftlicher Institutionen sowie darauf bezogener politischer Handlungen/ Handlungsabsichten verstanden. Diese mit Blick auf den Umfang der vorliegenden Arbeit gebotene inhaltliche Fokussierung ist der Tatsache geschuldet, dass diese beiden Inhaltsbereiche den jeweiligen zentralen Inhaltskern des fachdidaktischen Selbstverständnis der politischen Bildung bzw. der ökonomischen Bildung bilden (Jung 2006, 12; Weisseno 2006, 136; Kaminski 2001, 52) und mit Blick auf die Interdependenzen zwischen ökonomischem und politischem Subsystem im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen um die angemessene Integrationsweise stehen. Um Mißverständnisse zu vermeiden, soll hier jedoch ausdrücklich betont werden, dass die in Kapitel 3.1. angesprochene solidarische Selbstbestimmungsfähigkeit, deren Bedeutung v.a. in der Ökonomikdidaktik hervorgehoben wird, damit nicht aus der sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik ausgeklammert wird, sondern einen gleichberechtigten Teil darstellt, für den die Frage nach der angemessenen Integrationsweise in einer anderen Arbeit erörtert werden muss.
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Gestaltungsorientierung als zentrales fachdidaktisches Relevanzkriterium
3.2.1 Mitbestimmungsfähigkeit als sozialwissenschaftlich reflektierte gestaltungsorientierte Urteilsfähigkeit Das oben gesuchte, zentrale fachdidaktische Auswahlkriterium hinsichtlich der Bildungsrelevanz sozialwissenschaftlichen Wissens besteht in diesem zweiten Lernbereich der Mitbestimmungsfähigkeit angesichts der bisherigen Argumentation darin, inwieweit sich sozialwissenschaftliche Beiträge für die Auseinandersetzung mit der hier zentralen Fragestellung verwenden lassen: Wie können – ausgehend vom heutigen Status Quo – gesellschaftliche Institutionen (oder auch soziale Konventionen) in einer Art und Weise politisch so gestaltet (bzw. beeinflusst) werden, dass sich Strukturen einer nachhaltig lebenswerten Gesellschaft (Steinmann 1997, 9) herausbilden bzw. dass diese gesichert werden? Es geht also insbesondere um gestaltungsrelevantes Wissen, welches nicht nur die heute existierenden Institutionen beschreibt, analytisch interpretiert und rückblickend ihre Entstehung erklärt, sondern darüber hinaus Lernenden insbesondere auch eine Auseinandersetzung mit der zukunftsgerichteten Frage ermöglicht, wie sich bestimmte Institutionen und soziale Strukturen in einem gesellschaftlichen Teilbereich auf das Ausmaß und die Verteilung von Lebensqualität auswirken und wie gesellschaftliche Institutionen deshalb gestaltet werden sollen. Lernende sollen im Unterricht also nicht nur eine persönliche (aber sozialwissenschaftlich fundierte) Antwort auf die deskriptiv-analytische Frage finden können, in welcher Art von gesellschaftlich-wirtschaftlich-politischem System sie heute leben, sondern sie sollen sich insbesondere auch ein sozialwissenschaftlich fundiertes persönliches Urteil bezüglich der normativen Frage herausbilden können, in welcher Art von gesellschaftlichwirtschaftlich-politischem System sie leben wollen (Petrik 2007, 238) (und können). Eine derartige fachdidaktische Ausrichtung des sozialwissenschaftlichen Bildungsprozesses nenne ich Gestaltungsorientierung. Gegen dieses Kriterium der Gestaltungsorientierung zur Auswahl sozialwissenschaftlichen Wissens kann man zwei verschiedene Einwände vorbringen, nämlich ein systemtheoretisches Gegenargument und ein wissenschaftstheoretisches Gegenargument. In wissenschaftstheoretischer Hinsicht liesse sich einwenden, dass die Sozialwissenschaften angesichts des Werturteilsfreiheitspostulats gar keine wertenden Aussagen bezüglich der normativen Frage machen können, wie gesellschaftliche Institutionen zum Zweck einer nachhaltig lebenswerten Gesellschaft gestaltet werden sollen, da hier verschiedene politische Weltanschauungen aufeinander stoßen, über deren `Wahrheit´ wissenschaftlich nichts gesagt werden könne. Für Gestaltungsorientierung sei vielmehr ein anderes gesellschaftliches Subsystem zuständig, nämlich die (Partei-)Politik, sodass es bezüglich der Gestaltungsorientierung angemessener erschiene, den Vergleich von (partei)politischen Programmen und Vorschlägen in den Mittelpunkt des Bildungsprozesses zu stellen. Dieser Einwand ist jedoch nicht überzeugend. Selbst wenn man erstens (kontrafaktisch, s.u.) annähme, dass die derzeitige Sozialwissenschaft tatsächlich eine wertfreie `Tatsachenwissenschaft´ darstellen würde, kann man deren Forschungsresultate ohne weiteres auf gestaltungsorientierte Weise verwenden, indem man sozialwissenschaftliche Untersuchungsergebnisse über empirische Ursache-Wirkungsbeziehungen fachdidaktisch für die
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Auseinandersetzung mit der gestaltungsorientierten Fragestellung nach dem `Was soll sein?´ nutzt. So kann man z.B. die als solche wertfreien Ergebnisse zu den kausalen Determinanten der subjektiv empfundenen Lebenszufriedenheit der Menschen (z.B. Frey/Stutzer 2002) und zu den kausalen Determinanten von Variablen (z.B. der Höhe der Arbeitslosigkeit; die Stärke der Einkommensgleichheit), die aus empirischer Sicht das subjektive Wohlbefinden bzw. deren Verteilung tangieren (können) und/oder gemäß weltanschaulichen Postulaten für den Lebenswert der Gesellschaft eine Rolle spielen (können), in den Diskussionsprozess um eine lebenswerte Gesellschaft einfließen lassen. Davon unabhängig hindert die Sozialwissenschaft grundsätzlich auch überhaupt nichts daran, für die Gesellschaft gestaltungsorientierte Erkenntnisse in der folgenden Form zu generieren: „Wenn bei der Auseinandersetzung mit dem Problem A das normative Ziel X bzw. Y als oberste Präferenz angestrebt wird, dann sollte Mittel X² bzw. Y² ergriffen werden“ (Homann/Suchanek 2005, 347f.). In dieser Form wird das Werturteilsfreiheitsprinzip nicht verletzt, weil die Wissenschaft dann nur die Passung von Zielen und Instrumenten beurteilt, sich einer Bewertung der Ziele jedoch enthält. Man kann sogar mit gutem Recht die These vertreten, dass die Ausarbeitung solcher verschiedenen Lösungsvorschläge für kollektive Probleme, die ja öffentliche Güter im ökonomischen Sinn darstellen, die zentrale Aufgabe einer aus öffentlichen Steuergeldern finanzierten Sozialwissenschaft sein sollte (ebd., 349; so auch die Politologen Gerring/Yesnowitz 2006). Zweitens zeigt sich – wie unten in den Kapiteln 6 – 7 ausführlich gezeigt wird –, dass das Postulat einer wertfreien Sozialwissenschaft in weiten Teilen nicht den tatsächlichen Verhältnissen entspricht, da unzählige sozialwissenschaftliche Beiträge normative – und bei vergleichender Betrachtung zugleich kontroverse – Aussagen darüber machen, wie gesellschaftliche Institutionen in einem bestimmten Bereich zu bewerten sind und wie sie deshalb politisch gestaltet werden sollten. Zudem versuchen diese Beiträge, diese Thesen durch theoretische Argumente und empirische Belege zu begründen, um ihnen so einen wissenschaftlichen Charakter zu verleihen. Zur Wissenschaftspropädeutik auf der Sekundarstufe II gehört deshalb nicht nur, die mögliche Interessenbestimmtheit von Wissenschaft (Klafki 1996, 171) zu vermitteln (siehe dazu z.B. Kirchgässner (1996) am Beispiel wirtschaftswissenschaftlicher Gutachten zur Privatisierung der Gebäudeversicherung), sondern auch die zwar längst nicht immer, aber auch nicht gerade selten gegebene faktische Wertbestimmtheit von Sozialwissenschaft aufzuzeigen, damit die Lernenden keinem expertokratischen Trugbild von Sozialwissenschaft aufsitzen. Normative, d.h. gestaltungsorientierte sozialwissenschaftliche Beiträge sollten im sozialwissenschaftlichen Unterricht der Sekundarstufe II aber noch aus einem anderen Grund eine zentrale Rolle spielen. Aus Sicht einer gestaltungsorientierten Fachdidaktik ist die Normativität von Teilen der Sozialwissenschaften wegen ihres Beitrags zur differenzierten Urteilsbildung in punkto der Auswahl gesellschaftlicher Zielvorstellungen nämlich sehr begrüßenswert, sofern insgesamt der Pluralismus gewahrt bleibt. Auch wenn man die Ansicht vertritt, dass ihre Sollens-Aussagen nicht im wissenschaftlichen Sinne beweisbar sind (wofür auch die häufig zu beobachtende Kontroversität spricht), ist doch anzuerkennen, dass sie der persönlichen Urteilsbildung in argumentativer Hinsicht zumeist wesentlich dienlicher sind als entsprechende Angebote von parteipolitischer Seite. Denn gestaltungsorientierte sozialwissenschaftliche Beiträge weisen angesichts ihres systematischen Rückgriffs auf wissenschaftliche Verfahren im Vergleich zu entsprechenden parteipolitischen Angeboten zumeist eine theoretisch-logisch deutlich stringentere,
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komplexere, differenziertere und weniger emotionalisierte Argumentation auf. Zudem sind sie weit besser durch empirische Untersuchungen abgesichert, drängen intensiver auf die Hinterfragung von Vorurteilen sowie des Status Quo, dringen tiefer in die Sache ein und erkennen mögliche Problemlagen oft früher als dies in der Politik geschieht (ein Beispiel dafür ist die Anerkennung Deutschlands als ein Einwanderungsland und der damit verbundenen sozialen Herausforderungen, siehe z.B. Bade 2007, 43-48). Parteipolitische Stellungnahmen sind im Vergleich dazu durch ein höheres Maß an Rhetorik, Ideologie, Oberflächlichkeit, emotionaler Symbolik, Schlagwörtern, Myopie, unzulässiger Generalisierung von Einzelfällen, Simplifizierungen und bisweilen sogar Demagogie gekennzeichnet. Wissenschaftspropädeutik im Sinne von Klafki, d.h. die Auseinandersetzung mit zentralen wissenschaftlichen Erkenntnisverfahren unter der Leitfrage, was sie zur Lösung gesellschaftlicher Gestaltungsherausforderungen beizutragen haben (Klafki 1996, 162ff.) ist deshalb nicht nur zur bloßen Anbahnung von `Studierfähigkeit´ erforderlich. Im sozialwissenschaftlichen Unterricht sollte Wissenschaftspropädeutik vielmehr insbesondere auch dazu dienen, häufig zur Simplifizierung neigende (partei)politische Gestaltungsvorschläge im Lichte von zumeist komplexeren, differenzierteren sozialwissenschaftlichen Argumentationen und darauf aufbauenden Gestaltungsvorschlägen auf ihre sozialwissenschaftliche Überzeugungskraft hin zu evaluieren, sodass junge Bürger in die Lage versetzt werden, ideologische parteipolitische Traditionen sowie den Einfluss von Partikularinteressen und möglichen politischen/ökonomischen Vor-Urteilen der heutigen Bevölkerung auf die Partei(Politik) auf allen Seiten des politischen Spektrums kritisch zu reflektieren. Dadurch können Schüler in die Lage versetzt werden, politisch eigenständig zu denken und politisches Handeln im Sinne ihres Interesses an einer lebenswerten Gesellschaft in sozialwissenschaftlich aufgeklärter Weise zu beeinflussen. Gestaltungsorientierte Urteilsfähigkeit benötigt deshalb gestaltungsorientierte sozialwissenschaftliche Argumentationen. Dabei geht es nicht um die Kontrastierung von vielen `falschen´ politischen mit einer `richtigen´ wissenschaftlichen Position, denn letztere sind zwar nicht immer, aber häufig durch genauso starke Kontroversität geprägt wie die Politik. Vielmehr geht es um den Erwerb systematischer sozialwissenschaftlicher Argumentationsfähigkeit (siehe dazu das Strukturschema in Kapitel 4), die parteipolitische Angebote kritisch reflektieren kann. In systemtheoretischer Hinsicht liesse sich unter Verweis auf den Luhmannschen Steuerungspessimismus (Lange 2003, 149-226) gegen das obige didaktische Prinzip der Gestaltungsorientierung einwenden, dass eine bewusste Steuerung der Operationsweise gesellschaftlicher Funktionssysteme durch die Politik gemäß des Prinzips des Allgemeinwohls in einer modernen, d.h. komplexen und funktional ausdifferenzierten Gesellschaft gar nicht (mehr) möglich sei. Zur Begründung wird dazu systemtheoretisch zunächst auf Kommunikationsbarrieren zwischen dem politischen System und den anderen sozialen Teilsystemen verwiesen, die jeweils selbstreferentiell gemäß ihrer ganz unterschiedlichen Codes (z.B. Macht/Nicht-Macht; Zahlen/Nicht-Zahlen) operierten. Das politische System könne daher nur sich selbst steuern, nicht aber andere gesellschaftliche Teilsysteme. So richteten politische Akteure gemäß der leitenden Differenz zwischen Regierung und Opposition ihre Handlungen primär auf das kurzfristige Politics-Ziel des Wahlerfolgs aus, sodass z.B. langfristig sachpolitisch optimale Policies, die kurz- bis mittelfristig Opfer von der Wählermehrheit verlangen, nicht realisiert werden könnten (z.B. Willke 2001, 31). Das Wirtschaftssystem könne durch politische Entscheidungen also nur irritiert, aber nicht bewusst und gezielt gesteuert werden. Darüber hinaus werden sog. `self-defeating prophecies´
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(Unterminierung der nachgelagerten Wirkungseffekte einer Politik durch die Effekte, die von ihrer Ankündigung ausgehen), Implementationsdefizite sowie nicht-intendierte Nebenfolgen politischen Handelns als weitere Gründe für Steuerungspessimismus angeführt. Schließlich räumen auch Steuerungsoptimisten ein, dass die Steuerungsfähigkeit des Staates durch vetofähige Akteure (Scharpf 1989, 17) und seit einigen Jahrzehnten auch durch die ökonomische Globalisierung eingeschränkt werde (Mayntz/Scharpf 2005). Letzteres lässt sich z.B. am internationalen „Laschheitswettbewerb“ (Sinn 2008c) bei der BankenRegulierung veranschaulichen, die eine Ursache für die gegenwärtige Finanzkrise darstellt. Der Glaube an die Möglichkeit einer politischen Gesellschaftssteuerung erscheint in diesem systemtheoretischen Licht als ein Mythos, d.h. als nicht mehr als eine bloße Fiktion, die dem Regentanz der Hopi-Indianer gleiche (Lange 2003, 248). Diese Fiktion sei nur deshalb funktional, weil sie durch diese (unbewusste) (Selbst-)Täuschung der Menschen einen Beitrag zur Pazifizierung der Gesellschaft leiste, d.h. zur Senkung der Wahrscheinlichkeit des Ausbruchs von eigenmächtigen Veränderungsversuchen durch soziale Gruppen und damit von gewalttätigen Konflikten auf der Meso- und Mikro-Ebene. Angesichts dessen könnte man denken, gestaltungsorientierte sozialwissenschaftliche Fachdidaktik (wie übrigens wohl mehr oder weniger jeder andere fachdidaktische Ansatz im gesellschaftswissenschaftlichen Bereich auch) stünde vor einem paradoxen Dilemma. Entweder gaukelt man den SchülerInnen weiterhin kontrafaktisch vor, gesellschaftliche Subsysteme seien auf Makro-Ebene politisch zumindest teilweise gestaltbar, und leistet so einen Beitrag zur Befriedung der Gesellschaft, oder man klärt die SchülerInnen über den obige Illusion der (meisten) Erwachsenen auf, konfrontiert sie also mit der (angeblichen) `Wahrheit´ der Ohnmacht der Politik, riskiert dadurch aber zumindest, sozusagen die Saat für eine weniger friedfertige Gesellschaft zu legen. Aus den berechtigten Einwänden gegen politische Steuerungsfähigkeit ergibt sich jedoch keinesfalls die fachdidaktische Schlussfolgerung, dass man SchülerInnen vermitteln müsse, politische Gestaltungsversuche seien (per se) zum Scheitern verurteilt. So schreibt Luhmann (1989, 7) an einer Stelle selbst, dass sein Argument nicht sei, dass Steuerung ein Irrtum sei und unterbleiben solle. Vielmehr gehe es um die Entwicklung einer Theorie, die Steuerungsprobleme systematisch berücksichtigt. Darüber hinaus ist der (generalisierte) Steuerungspessimismus in der Systemtheorie selbst umstritten. So glauben mehrere Systemtheoretiker wie z.B. Helmut Willke oder Axel Görlitz (in verschiedenen Formen) an die Notwendigkeit und Möglichkeit einer politischen Steuerung und einer Überwindung der intersystemischen Kommunikationsbarrieren durch die Institutionalisierung von intersystemischen Diskursen in organisationalen Netzwerken (Braun 2000: 133f, 142ff.; Willke 2001, 116ff.). Unabhängig davon argumentieren Vertreter des akteurzentrierten Institutionalismus (deren Thesen im Gegensatz zu denen Luhmanns auf einer Reihe von empirischen Forschungsprojekten basieren), dass die wechselseitige Intransparenz der sozialen Teilsysteme und die Barrieren zwischen diesen Systemen in der Systemtheorie ohnehin überschätzt werden, da es Akteure mit multilingualer Kommunikationskompetenz gibt, die die Reaktionsweisen der sozialen Teilsysteme auf Gesetzesentscheidungen oft zu antizipieren vermögen (Scharpf 1989, 17). Dabei wird davon ausgegangen, dass soziale Teilsysteme (bzw. die Akteure in ihnen) zumeist ziemlich sensibel und oft auch in vorhersagbarer Weise auf die von der Politik mehr oder minder kontrollierten Steuerungsmedien Recht und Geld reagieren (Braun 2000, 135; Mayntz/Scharpf 2005). So mag es zutreffend sein, wenn Luhmann
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den Glauben an die Schaffung von Arbeitsplätzen durch den Staat als haltlose Utopie abwertet (zit. nach Lange 2003, 256). Damit ist jedoch noch keineswegs ausgeschlossen, dass der Staat rechtliche und monetäre Anreize für die verantwortlichen Akteure in der Wirtschaft so setzen kann, dass diese (als Nebenprodukt ihres Gewinnstrebens) mehr Arbeitsplätze schaffen. Dass die Wirkung solcher und anderer Gesetze durch gegenläufige Ankündigungseffekte und Nebenwirkungen sowie durch Implementationsdefizite in fast allen Fällen und dann auch noch stets im vollen Umfang konterkariert würde, wurde empirisch bisher nicht nachgewiesen (auch nicht exemplarisch). Und die von Luhmann unterstellte Kurzsichtigkeit politischen Handelns setzt ungesprochen voraus, dass die Wählermehrheit in erster Linie auf ihren myopischen Eigennutzen fixiert sein müsse, was jedoch fragwürdig ist (siehe dazu kritisch die empirische Literatur zur Wahlforschung in Kapitel 3.2.3). Dementsprechend gibt es eine Reihe von empirischen Beispielen für gelingende Steuerungspolitiken, die für die menschliche Lebensqualität von großer Bedeutung sind, z.B. in der Sozialpolitik und der Umweltpolitik. So verweist Scharpf (1989, 12) auf die Durchsetzung des bleifreien Benzins. Grundmann (1999) zeigt in seiner empirischen Studie zur transnationalen Umweltpolitik zum Schutz der Ozonschicht, dass diese als eine Erfolgsgeschichte charakterisiert werden kann. Als ausgesprochen effektiv erweist sich auch der politisch institutionalisierte Emissionszertifikatehandel bei der Reduktion des Sauren Regens in Nordamerika („Acid-Rain Program“) (Rudolph 2005). Ebenso gelangen Alber (2001, 77f.) und Ullrich (2005, 188) für das Feld der Sozialpolitik auf der Basis empirischer Forschungsergebnisse zu dem Schluss, dass der moderne Wohlfahrtsstaat Armut und die Ungleichheit der Einkommen signifikant reduziert. Last but not least hat auch die Entwicklungshilfe – trotz der mit ihr zweifelsohne verbundenen, notorischen Steuerungspro-bleme – laut empirischer Studien insgesamt zu signifikant positiven, wenngleich nicht überwältigenden Effekten auf die volkswirtschaftliche Situation in Entwicklungsländern geführt (Collier 2007, 100). Wer die potentielle Steuerungsleistung der Politik negiert, muss angeben, welche zeitlichen Fristen dabei zugrunde gelegt werden. So ist in Rechnung zu stellen, dass ein funktionstüchtiger Rechtsstaat historisch auch nicht durch einen einzigen Steuerungsversuch von heute auf morgen in Stand gesetzt werden konnte. Ebenso mag es einige Jahrzehnte in Anspruch nehmen, bis eine Gesellschaft in inkrementeller Manier durch zahllose wiederholte Steuerungsversuche diejenigen institutionellen Strukturen zu institutionalisieren vermag, die z.B. ein Anwachsen ökologischer Externalitäten zuverlässig unterbinden. Eine solche – zumindest nicht ausgeschlossene – langfristige Entwicklung staatlicher Steuerungskapazität, die Akzeptanz der damit verbundenen Mühen und das Aufrechterhalten politischer Anstrengungen in Zeiten wahrscheinlich unvermeidlicher Rückfälle werden jedoch nur dann möglich sein, wenn signifikante soziale Gruppen sich nicht vollends einem politischen Fatalismus hingeben und den Glauben an die prinzipielle Möglichkeit zumindest partiell erfolgreicher politischer Steuerung nicht vollkommen verlieren – Steuerungspessimismus kann sonst auch zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden. Als Fazit ergibt sich, dass die Frage nach der Steuerungsfähigkeit der Politik eine jeweils am vorliegenden Einzelfall empirisch zu untersuchende Angelegenheit ist. Der pauschale Steuerungspessimismus der Systemtheorie – sofern er von deren Vertretern überhaupt artikuliert wird – erweist sich hingegen zu undifferenziert und zu wenig empirisch fundiert. Zudem ist er auch, wie Stefan Lange (2003, 218) gezeigt hat, ein Ausfluss eines normativen Bias in der (vermeintlich wertneutralen) Luhmannschen Gesellschaftstheorie,
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der ein restriktives, anti-interventionistisches Politik-Konzept zugrunde liegt (ebd., 193). Gleichwohl sind die oben genannten systemtheoretischen Einwände gegen die Annahme einer generellen politischen Steuerbarkeit sozialer Prozesse von erheblichem Nutzen für die Entwicklung einer sozialwissenschaftlich reflektierten, d.h. politisch nicht naiven gestaltungsorientierten Urteilsfähigkeit. Sie werden daher als systematisch zu analysierende Gestaltungsrestriktionen in Kapitel 4 bei der Entwicklung des gestaltungsorientierten Strukturschemas wieder aufgegriffen. Vorläufig ist an dieser Stelle zunächst festzuhalten, dass es im Anschluss an Scharpf/Mayntz (2005) im gestaltungsorientierten Unterricht (auch) darum gehen sollte, SchülerInnen ein Bewusstsein dafür zu vermitteln, dass politische Steuerung je nach dem institutionellen Kontext eines Politikfeldes schwierig bis sehr schwierig sein kann, aber nicht von vorneherein unmöglich sein muss. Zudem sollte bei der didaktischen Politikfeldanalyse im gestaltungsorientierten Unterricht darüber reflektiert werden – aber nicht pauschal-abstrakt-allgemeintheoretisch (wie bei Luhmann), sondern differenziert-konkretempirisch am jeweils vorliegenden Fall –, mit welcher Wahrscheinlichkeit bestimmte politische Steuerungsversuche in einem bestimmten Politikfeld einen Mehrwert an Lebensqualität versprechen oder ob man im jeweils vorliegenden Politikfeld nicht besser auf aufwändige, aber fruchtlose politische Steuerungsversuche verzichten und stattdessen auf ungeplante gesellschaftliche Evolution setzen sollte. So kann man z.B. im Kontext der gegenwärtigen Finanzkrise kontrovers diskutieren, ob der Staat nicht nur unrentable Unternehmen, sondern auch bankrotte Banken einfach in die Insolvenz gehen lassen sollte (siehe dazu z.B. das Streitgespräch zwischen den Ökonomen Stefan Homburg und Bert Rürup im Spiegel 5/2009)13. Dabei sind freilich nicht nur die so oft betonten unbeabsichtigten Nebenwirkungen staatlichen Handelns, sondern auch die problematischen Nebenfolgen staatlichen Nicht-Handelns zu berücksichtigen (vgl. dazu z.B. am Szenario einer Insolvenz des Automobilherstellers Opel die Studie des Automobilexperten Ferdinand Dudenhöffer)14.
3.2.2 Das Ziel der gestaltungsorientierten Urteilsfähigkeit als interfachdidaktisch konsensfähiges Leitprinzip Das Prinzip der Gestaltungsorientierung erscheint angesichts vieler sogar bis in genau diese Semiotik (!) hinein übereinstimmender zentraler Zielformulierungen aus den unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Fachdidaktiken gut geeignet, den zentralen Ausgangspunkt für eine integrative fachdidaktische Perspektive von Ökonomikdidaktik, Politikdidaktik und sozialwissenschaftlicher Didaktik im Bereich des zweiten zentralen Lernziels der Mitbestimmungsfähigkeit zu bilden. So wird im Ansatz der sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik von Kahsnitz (2001) die Notwendigkeit eines obligatorischen sozialwissenschaftlichen Unterrichts zentral aus der notwendigen Förderung von politischer Gestaltungskompetenz abgeleitet: „Als gesellschaftlich Konstituierte sind die Individuen bei der Realisierung ihrer Lebensentwürfe wesentlich auf die dafür vorhandenen gesellschaftlichen Handlungsräume angewiesen und 13
Siehe http://www.spiegel.de/international/business/0,1518,604319,00.html, abgerufen am 10.03.2009. Siehe http://www.fr-online.de/in_und_ausland/wirtschaft/aktuell/1687806_Opel-Pleite-birgt-hohesSystemrisiko.html, abgerufen am 11.03.2009. 14
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Gestaltungsorientierung als zentrales fachdidaktisches Relevanzkriterium damit auch darauf, inwieweit diese an der Sicherung und Stärkung der Freiheit bzw. der Autonomieräume der Individuen ausgerichtet sind. Zu den Freiheitsrechten der Individuen gehört deshalb auch das demokratische Recht, an der Gestaltung der gesellschaftlichen Strukturen mitzuwirken. Um diese Mitgestaltungsrechte wahrnehmen zu können, sind den Jugendlichen grundsätzliche Einsichten in diese gesellschaftlichen Konstitutions- und Realisierungsbedingungen ihrer Individualität zu vermitteln.“ (Kahsnitz 2001, 5; meine Hervorhebungen, T.H.)
Ähnlich schreiben Behrmann/Grammes/Reinhardt (2004, 380f.): „In Verknüpfung mit der Urteilsorientierung muss immer wieder die Frage `Was tun?´dringlich werden und in einer Gestaltungsorientierung als Blick auf die soziale Realität münden.“
Auch in der ökonomischen Bildung soll es insbesondere um die Förderung von Urteilskraft zwecks Mitgestaltungsfähigkeit gehen: „Vielmehr sollen die Individuen – ausgerüstet mit dem Wissen um die Wirkungen von Institutionen und ausgerüstet mit moralischer Urteilsfähigkeit über die Gerechtigkeit der institutionellen Regeln – im gesellschaftlichen Diskurs eine problemadäquate Institutionengestaltung in Ansatz bringen.“ (Karpe/Krol 1997, 100)
Diese Betonung von Gestaltungskompetenzen findet sich auch in den Standards der Deutschen Gesellschaft für ökonomische Bildung (DEGÖB 2004). Der Begriff der Mitgestaltungskompetenz taucht dort auf 12 Seiten explizit nicht weniger als 11mal auf und kulminiert schließlich in der folgenden zentralen Definition von „ökonomischer Kompetenz“: „Das lernende Individuum soll befähigt werden, in ökonomisch geprägten Situationen und Strukturen des gesellschaftlichen Zusammenlebens angemessen zu entscheiden und zu handeln sowie an deren Gestaltung mitzuwirken, um eine lebenswerte Gesellschaft zu sichern und weiter zu entwickeln.“ (DEGÖB 2004, 5; meine Hervorhebungen, T.H.)
Ganz ähnlich wird auch in der Politikdidaktik herausgestellt, dass die Förderung individueller, wissenschaftlich reflektierter Urteile zur Frage nach der Art und Weise der Gestaltung der Gesellschaft im Mittelpunkt der Bildungsbemühungen stehe. Dies macht Sander (2007) sowohl im allerersten Satz seines Hauptwerks zur politischen Bildung als auch an einer zentralen Stelle in ebendiesem Buch deutlich, die von ihm dort durch Kursivschrift hervorgehoben ist: „Politische Bildung hat es mit einer der spannendsten Fragen zu tun, mit der Menschen sich lernend auseinandersetzen können: mit der Frage, wie wir unser Zusammenleben in Gesellschaften gestalten und regeln sollen. (…) Das generelle Problem von Politik – und damit auch der allgemeine Gegenstand von politischer Bildung – ist die Frage, auf welche Weise wir als menschliche Gesellschaften unser Zusammenleben gestalten wollen.“ (Sander 2007: 1 & 66; meine Hervorhebungen, T.H.)
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Die darauf bezogenen Kompetenzen der politischen Handlungsfähigkeit und der politischen Urteilsfähigkeit (Sander 2007, 75f. & 91f.) sind somit die „eigentlichen Ziele“ (Detjen 2006a, 77; Hervorhebung im Original) der politischen Bildung. Etwas emphatischer formuliert geht es der Politikdidaktik – gemäß dem in Kapitel 1 vorgestellten politikwissenschaftlichen Integrationsansatz – um die wissenschaftlich angeleitete Auseinandersetzung mit der normativen Frage nach dem „Gemeinwohl“ (Scherb 2006, 123), also nach dem „guten Leben und dem gerechten Zusammenleben der Menschen“ (Detjen 2006a, 73 & 76). In Übereinstimmung damit halten die Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) und die Deutsche Gesellschaft für Politikwissenschaft (DGfP) in ihrer gemeinsamen Stellungnahme zum Fach „Politik und Wirtschaft“ fest: „In Demokratien soll politische Bildung Heranwachsende dazu befähigen, an Politik als Form der Selbststeuerung der Gesellschaft teilzuhaben. (…) Entsprechend soll die Behandlung von ökonomischen Themen und Fragen dazu beitragen, das Urteilsvermögen im Hinblick auf politische und gesellschaftliche Gestaltung zu schaffen und zu erweitern.“ (DVPW & DGfP 2007, 1, meine Hervorhebung, T.H.)
In der Zusammenschau betrachtet steht hier semantisch letztlich überall das Ziel der gestaltungsorientierten Mündigkeit im Mittelpunkt: Lernende sollen befähigt werden, bestehende gesellschaftliche Institutionen / Alternativen zu diesen (so die Betonung in der Ökonomikdidaktik) und darauf bezogene politische Handlungen / Handlungsabsichten (so die Betonung in der Politikdidaktik) – was sich ja überhaupt nicht ausschließt, sondern zwingend zusammengehört – nicht nur analytisch zu verstehen, sondern insbesondere auch unter Rückgriff auf sozialwissenschaftliche Erkenntnisse und diverse Urteilskriterien (Autonomie, Effizienz, Freiheit, Gerechtigkeit usw.) zu hinterfragen, normativ im Hinblick auf das `Gute´ und `Gerechte´ zu evaluieren und entsprechend mitgestalten zu können. Die vielen Urteilskriterien für `gut´ und `gerecht´ lassen sich dabei unter dem hier vorgeschlagenen Begriff einer lebenswerten Gesellschaft subsumieren. Diesbezüglich besteht kein Unterschied zwischen ökonomischer und politischer Bildung: „Ökonomische Bildung ist aber nicht allein auf die tüchtige Bewältigung, sondern auch auf die verantwortliche Gestaltung und Veränderung ausgerichtet. Insofern ist diese Orientierung an Lebenssituationen nicht allein auf Kompetenzen und Qualifikationen gerichtet, sondern hat ebenso die Mündigkeit und die Emanzipation der Individuen zum Ziel.“ (Weber 2001, 4) „Von Mündigkeit sprechen wir dort, wo der Mensch zu eigenem Denken gelangt, wo er – von Vorurteilen und Verblendungen frei – Distanz zur eigenen Zeit gewinnt, wo er gelernt hat, Vorgefundenes kritisch zu reflektieren, und wo er sich auf dieser Basis entscheiden kann, die jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse zu akzeptieren und auf ihre Veränderung hin zu wirken.“ (Massing 2005, 20)
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Gestaltungsorientierung als zentrales fachdidaktisches Relevanzkriterium
3.2.3 Das Bürgerleitbild der sozialwissenschaftlichen Bildung – Homo Oeconomicus versus Zoon Politikon? An dieser Stelle könnte man einwenden, dass die hier zum Ausdruck kommende Überzeugung, die zentralen fachdidaktischen Zielvorstellungen von Ökonomik- und Politikdidaktik im Lernbereich der Mitbestimmungsfähigkeit ließen sich im Prinzip der gestaltungsorientierten Urteilsfähigkeit zusammenführen, nicht berechtigt sei. Beispielsweise suggeriert die Argumentation mancher Politikdidaktiker (z.B. Detjen 2006a, 73), dass bezüglich des fachdidaktischen Bürgerleitbildes erhebliche „Probleme der Kompatibilität“ (ebd., 72) zwischen Ökonomikdidaktik und Politikdidaktik bestehen würden. Denn der von der ökonomischen Bildung propagierte Homo Oeconomicus könne nicht das normative Leitbild der politischen Bildung sein, da das Zusammenleben in der Gesellschaft an Qualität verlöre, wenn alle Menschen ihr Handeln stets an ökonomischen Rationalitätskriterien ausrichten würden. Zum Beispiel sei in diesem Fall ein deutlicher Rückgang uneigennütziger Aktivitäten in der Zivilgesellschaft zu erwarten (ebd., 73). Deren Überleben sei nur dann gewährleistet, wenn man den Zoon Politikon als normatives Bürgerleitbild propagiere (ebd.). Der Homo Oeconomicus sei weder mitbestimmungs- noch solidaritätsfähig i.o.S. Aus dem oben entwickelten zentralen Ziel der gestaltungsorientierten Urteilsfähigkeit ergibt sich selbstverständlich, dass der orthodoxe Homo Oeconomicus – mit seiner überwiegenden rationalen Ignoranz (Anthony Downs) für das Politische – nicht die normative Zielvorstellung sozialwissenschaftlicher Bildung sein kann. Allerdings konstruiert die obige Argumentation von Detjen (2006a) ein Integrationsproblem, das so nicht existiert. Denn führende Vertreter der Ökonomikdidaktik lehnen es ausdrücklich ab, den Homo Oeconomicus als normatives Leitbild zu verwenden. Darüber hinaus wird die Notwendigkeit einer didaktischen Förderung von Individual-Ethik als unabdingbares Fundament sowohl einer freien, offenen Gesellschaft als auch der Institutionen-Ethik nachdrücklich betont und mehrfach begründet (siehe Karpe/Krol 1997, 84; ähnlich Kruber 2000, 292 & 2005, 88). Institutionen-Ethik meint dabei im Sinne der obigen solidaritätsfähigen, gestaltungsorientierten Urteilsbildung, dass Institutionen so gestaltet werden sollen, dass das (wie auch immer verstandene) Gemeinwohl gefördert wird. Eine solche Institutionen-Ethik benötigt zwangsläufig Individuen, die sich entsprechend politisch beteiligen (IndividualEthik) (so explizit Karpe/Krol 1997). Die Ökonomikdidaktik versteht den HomoOeconomicus nur als ein analytisches Modell, dessen apriorische Dogmatisierung aus meiner Sicht freilich auch in der analytischen Dimension nicht angebracht ist (siehe Kapitel 2). Demgegenüber könnte man aber von Seiten der Politikdidaktik darauf insistieren, dass durch diese theoretische Argumentation der Ökonomikdidaktik ein von dieser bisher kaum reflektierter Widerspruch zwischen fachdidaktisch-normativer und fachwissenschaftlichanalytischer Ebene erzeugt wird. Denn wenn man mit der ökonomischen Fachwissenschaft analytisch davon ausgeht, dass die Welt zwangsläufig von Homines Oeconomici bevölkert ist (wie es die Ökonomik-Didaktik tut, vgl. z.B. Karpe/Krol 1997; Kaminski 1997; Kruber 2005), muss es ja geradezu als zweckloses, naives Unterfangen erscheinen, Akteure (auch) moralisch-normativ im Sinne der Institutionen-Ethik (s.o.) bilden zu wollen, was die Ökonomik-Didaktik aber wie gesehen dennoch ebenfalls explizit (s.o.) beabsichtigt. Zudem könnte man der Ökonomik-Didaktik vorwerfen, dass sie nicht reflektiert, dass der Homo Oeconomicus infolge der analytischen Verwendung des Homo-OeconomicusSchemas zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung (Ferraro/Pfeffer/Sutton 2005) gera-
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ten kann, und zwar in einer Weise, welche das angestrebte Ziel einer Institutionen-Ethik untergräbt. So könnte die wiederholte Operation mit dem Homo Oeconomicus – insbesondere wenn dieses Modell analytisch dogmatisiert wird – bei der Analyse der sozialen Welt die Schülerinnen auf den folgenden Gedanken bringen: „Wenn sich die deutliche Mehrheit der Menschen (z.B. bei politischen Wahlen) wie Homines Oeconomici verhält und gemäß ihren eigennützigen ökonomischen Interessen wählt (wie wir es im Ökonomik-Unterricht anhand des Modells von Anthony Downs gelernt haben), warum sollen dann ausgerechnet wir uns anders, d.h. moralisch im Sinne einer uns von der Ökonomikdidaktik empfohlenen Institutionen-Ethik verhalten, d.h. z.B. gemeinwohlorientiert wählen? Denn dann würden wir doch von den anderen Wählerinnen ausgebeutet, sodass wir uns wohl doch besser präventiv opportunistisch im Sinne von Homann/Suchanek (2005) verhalten.“ Derartige interne Widersprüche der Ökonomik-Didaktik lösen sich jedoch auf, wenn man sich von dem ökonomistisch verengten Homo-Oeconomicus-Modell löst, in dem Nutzenmaximierung vorschnell mit Geld- und Gütermaximierung gleichgesetzt wird und das Detjen (2006a, 72f.) in seiner Argumentation implizit unterstellt. Neuere Ansätze in der Ökonomik gehen unter Bezug auf psychologische Theorien von einem aufgeklärten Homo Oeconomicus-Modell aus, in dem die Akteure Nutzen nicht nur durch materiellen Wohlstand erfahren, sondern z.B. insbesondere auch aus individueller Selbstbestimmung und Kompetenz, moralischer Aufrichtigkeit (z.B. Steuermoral, siehe Torgler (2007)), sozialem Zusammengehörigkeitsgefühl und sozialer Anerkennung einen ausgeprägten individuellen psychischen Nutzen ziehen können (Frey 1997). Zudem ist die Mehrheit grundsätzlich bereit, positive Vorleistungen anderer Individuen reziprok zu erwidern („Homo Reciprocans“). Ein bemerkenswertes Ergebnis jüngerer empirischer ökonomischer Forschung (Dur 2008) ist z.B., dass eine intrinsisch motivierte, hohe soziale Wertschätzung der Arbeitnehmer durch den Unternehmensleiter zur Milderung des Prinzipal-Agent-Konflikts am Arbeitsplatz, d.h. zur reziproken Stimulierung produktiver Arbeitsleistungen und beziehungen („gift exchange“) weitaus besser geeignet ist als die monetäre Zahlung von Effizienzlöhnen, wie die NIÖ (Akerlof 1982) bisher annahm. Hier zeigen sich zugleich erhebliche Schnittstellen mit der `soziologischen´ Kategorie der Anerkennung (Honneth 1992). Und bezogen auf politisches Entscheidungsverhalten wird die Beteiligung an Parlamentswahlen und Volksabstimmungen in der (Psycho-)Ökonomik aufgrund des mangelnden Einflusses der einzelnen Stimme auf das Gesamtergebnis als eine low-cost-decision analysiert, in deren Rahmen sich auch Homines Oeconomici nicht nur beteiligen, sondern auch Entscheidungen treffen, die sie für gemeinwohlorientiert, d.h. verallgemeinerungsfähig halten, weil sie daraus einen expressiv-psychologischen Nutzen für sich ziehen (Frey/Kirchgässner 1993; Brennan/Hamlin 2000). Auch andere Ökonomen kommen unter Bezug auf empirische Studien zu dem Schluss, dass sich das individuelle Verhalten bei politischen Wahlen und Abstimmungen nicht bzw. kaum durch das Motiv des materiellen Eigeninteresses erklären lässt (Blinder/Krueger 2004; Caplan 2007, 18f.; Enste/Haferkamp/ Fetchenhauer 2009, 62 & 64). Entscheidend seien vielmehr der Umfang des Wissens über (Wirtschafts-)Politik sowie insbesondere normativ-ideologische, stark gerechtigkeitsorientierte (wenn auch aus sozialwissenschaftlicher Sicht teilweise fragwürdige) Überzeugungen zum gesellschaftspolitisch `Guten und Gerechten´ und zu sozialer Fairness (zu sehr ähnlichen Ergebnissen kommt auch die empirische Studie des Politologen Mühleck (2009).
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Gestaltungsorientierung als zentrales fachdidaktisches Relevanzkriterium
Diese Determinanten sind genau die Ansatzpunkte, die einer Weiterentwicklung durch sozialwissenschaftliche Bildung zumindest grundsätzlich zugänglich sein sollten. Gemeinwohlorientierte demokratische Partizipation und ein nicht materiellmonetaristisch verengtes Homo Oeconomicus-Modell sind demzufolge keine Antipoden. Aufgabe einer sozialwissenschaftlichen Bildung wäre es also – ökonomisch gesprochen – diese anthropologisch angelegte bzw. anthropologisch zumindest nicht ausgeschlossene nicht-materialistische Nutzenfunktion des Bürgers anzuregen bzw. – politisch gesprochen – das intrinsische Interesse für politische Gestaltungsherausforderungen zu motivieren und insbesondere mit sozialwissenschaftlicher Urteilskompetenz zu versorgen. Geht man von einem offenen, nicht ökonomistisch verengten Homo OeconomicusModell aus, in dem die Akteure nicht nur danach streben, ihren materiellen Wohlstand durch Akkumulation von Geld, Macht und Prestige zu maximieren, sondern denen es auch darum geht, ihr psychisches Wohlbefinden durch soziale Einbindung zu erhöhen, dann muss der Homo Oeconomicus auch nicht in Widerspruch zu einem ehrenamtlichen Engagement in der Zivilgesellschaft stehen. Denn derartige Engagements sind offenbar keinesfalls so „uneigennützig“, wie Detjens Argumentation (2006a, 73) dies explizit annimmt. So zeigen die Ökonomen Stutzer/Meier (2007) in einer empirischen Studie, dass ehrenamtliches Engagement das individuelle Wohlbefinden erhöht, d.h. ehrenamtlich engagierte Menschen sind mit ihrem Leben deutlich zufriedener. Dieser empirische Zusammenhang erklärt sich laut den Autoren nicht etwa daraus, dass glücklichere Menschen sich stärker ehrenamtlich engagieren, sondern umgekehrt daraus, dass das ehrenamtliche Engagement zwar nicht alle Menschen, aber zumindest das Durchschnittsindividuum `glücklicher´ macht. Dieses Ergebnis erweist sich auch dann als empirisch robust, wenn man andere Einflussvariablen kontrolliert. Paradoxerweise ist es laut den Autoren allerdings so, dass sich viele Menschen dieses Zusammenhangs nicht (hinreichend) bewusst sind und sich deshalb nicht ehrenamtlich engagieren, obwohl sie dadurch ihre persönliche Lebenszufriedenheit steigern könnten. Fachdidaktisch wäre daraus übrigens der Schluss zu ziehen, dass man – im Gegensatz zu der derzeitigen populären, alleinigen Fokussierung der Ökonomikdidaktik auf „Wirtschaft in die Schule“ – SchülerInnen nicht nur einen praktischen Einblick in die kommerzielle Wirtschaft bietet, sondern ihnen zumindest auch die Gelegenheit gibt, Formen ehrenamtlichen Engagements praktisch kennenzulernen und v.a. theoretisch zu reflektieren: „Schule ins Ehrenamt“. Es zeigt sich also, dass politische Partizipation und zivilgesellschaftliches Engagement zwar nicht mit einem auf materiell-monetären Nutzen fixiertem Ökonomismus kompatibel ist, sehr wohl allerdings mit einem aufgeklärten ökonomischen Denken, welches mit einem breiteren Nutzenbegriff operiert. Dieser breitere Nutzenbegriff ist nicht willkürlich, sondern speist sich aus empirisch abgesicherten ökonomischen Studien zu den Quellen menschlichen Wohlbefindens (Frey/Stutzer 2002). In diesem Sinne löst sich der konstruierte Widerspruch zwischen den Leitbildern Zoon Politikon vs. Homo Oeconomicus auf. Denn der aufgeklärte Homo Oeconomicus hat (wie oben gezeigt) verstanden, dass er sein psychisches Wohlbefinden steigern kann, wenn er sich – auch – als soziales, auf Gemeinschaft angelegtes und Gemeinschaft bildendes Wesen, also als Zoon Politikon begreift. Aufgabe sozialwissenschaftlichen Unterrichts wäre es dann, unter Jugendlichen (aber auch Erwachsenen) teilweise verbreitete ökonomistische Alltagstheorien (der sog. „lay rationalism“, Hsee/Zhang/Yu/Xi 2003) zu irritieren (nicht: zu verdammen), in denen ausschließlich Geld, Karriere, Macht und Prestige als die entscheidenden Faktoren eines zufriedenen Lebens
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gelten. Dazu muss bei der Erörterung des Homo-Oeconomicus-Modells explizit der obige breite Nutzenbegriff zugrunde gelegt werden. Daher reicht es nicht aus, wie im Schulbuch von Kaminski (2005, 55) nur darauf hinzuweisen, dass der orthodoxe Homo Oeconomicus nur als wissenschaftliches Modell, aber nicht als normatives Postulat zu verstehen sei. Vielmehr sollte didaktisch an exemplarischen Handlungssituationen verdeutlicht werden, dass „das natürliche Ziel des menschlichen Motivationssystems [auch] soziale Gemeinschaft und gelingende soziale Beziehungen mit anderen sind“, wie der Ökonom Ruckriegel (2009, 53) schreibt. Dabei sollte freilich zur Vermeidung einer übermäßigen Idealisierung des Menschen an sich auch erarbeitet werden, dass derartige Orientierungen nur eine derzeit vorherrschende Verhaltenstendenz darstellen und nicht für jeden einzelnen Menschen zutreffen müssen. Das aus meiner Sicht zwischen Politikdidaktik und Ökonomikdidaktik konsensfähige Bürgerleitbild der hier vertretenen Konzeption sozialwissenschaftlichen Bildung ist die politische Persönlichkeit, die über Mündigkeit, d.h. solidarische Selbstbestimmungsfähigkeit i.o.S. und solidarische Mitbestimmungsfähigkeit im Sinne von gestaltungsorientierter Urteilsfähigkeit i.o.S. verfügt und bereit ist, diese zumindest durch ihre Beteiligung an Wahlen, Abstimmungen und Umfragen auch praktisch regelmäßig zur Geltung zu bringen. Außerdem sollte sie in der Lage sein, ihre politischen Urteile in effektiver Weise sprachlich und schriftlich gegenüber anderen Akteuren zu kommunizieren und diejenigen politischen Organisationen (Parteien, Verbände, Vereine etc.) zu identifizieren, die ihre wissenschaftlich reflektierten, persönlichen politischen Urteile (größtenteils) teilen, um sich diesen ggf. anzuschließen. Sie ist also in der Lage, vorgegebene politische Möglichkeitsstrukturen kompetent zu nutzen (konventionelle Partizipationsfähigkeit). Sofern trotz der begrenzten Zeitressourcen des sozialwissenschaftlichen Unterrichts ein entsprechender Freiraum bestehen sollte, kann als nachrangiges Ziel auch die Förderung der Kreation neuer politischer Möglichkeitsstrukturen (transformative Partizipationsfähigkeit), d.h. die Einübung weiterer, bei Detjen (2007b, 68) beschriebener transformativer Kompetenzen (z.B. Gründen einer Organisation, innovatives Agenda-Setting) angestrebt werden. Angesichts der Tatsache, dass sich ein Volk von sich auf die Teilnahme an Wahlen, Abstimmungen, Umfragen und bestehenden Organisationen beschränkender, dafür aber hinreichend urteilsfähiger und grundsätzlich gemeinwohlorientierter Bürger um einiges vorteilhafter auf den Zustand des Gemeinwesens auswirken dürfte als ein Volk von sachlich nicht urteilsfähigen, vornehmlich auf die eigenen Interessen und/oder Ideologien fixierten politischen Aktivisten, wird hier jedoch nachdrücklich dafür plädiert, dass die Förderung von wissenschaftlich aufgeklärter, artikulationsfähiger politischer Urteilskompetenz eindeutig Vorrang hat vor der Förderung einer solchen transformativen Kompetenz. Für eine solche, klare Prioritätensetzung spricht auch, dass die faktische Funktionalität von rechtsstaatlichen Demokratien gemäß des politologischen Erkenntnisstandes zwar auf die regelmäßige Beteiligung der Bevölkerungsmehrheit an Wahlen und Abstimmungen angewiesen ist, nicht jedoch auf deren permanenten, intensiven politischen Aktivismus (Patzelt 2007, 347f.). Transformative Partizipationsfähigkeit wäre demgemäß eher etwas, das in der Schule in erster Linie in freiwilligen Sowi-AGs gefördert werden könnte. Durch welche grundlegenden Charakteristika zeichnet sich also das Bürgerleitbild der gestaltungsorientierten sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik aus? Hinsichtlich der Dimension der Mitbestimmungsfähigkeit…
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Gestaltungsorientierung als zentrales fachdidaktisches Relevanzkriterium
…steht diese Bürgerin auf dem Boden der basalen Prinzipien der rechtsstaatlichen Demokratie im Sinne der Definition von Bühlmann/Merkel/Wessels (2008), fühlt sich überdies zur Wahrung der Würde eines jeden Menschen, aber auch der staatlichen Gewährleistung eines sozioökonomischen Existenzminimums verpflichtet und akzeptiert zugleich den darüber hinausgehenden Pluralismus politischer Ideen und Interessen (Toleranz).
…hat sie ein möglichst hohes Interesse für fundamentale gesellschaftspolitische Problemstellungen und damit verbundene Gestaltungsherausforderungen entwickelt, deren Bewältigung für die Lebensqualität der Gesellschaft von großer Bedeutung ist. Dieses Interesse motiviert sie, sich zumindest regelmäßig und vor allem sachlich kompetent an Wahlen und Abstimmungen zu beteiligen. Diesbezüglich kennt sie die zentralen Handlungsvorschläge der wichtigsten politischen Parteien zu diesen Schlüsselproblemen.
…hat sie bei Achtung des demokratischen Basiskonsens (Petrik 2007, 200) reflexive Distanz zu den existierenden gesellschaftlichen Institutionen und Konventionen aufgebaut, insbesondere denjenigen, die bezüglich der obigen fundamentalen Problemstellungen/Gestaltungsherausforderungen von Relevanz sind (kritische Systemloyalität, Petrik 2007, 250).
…begegnet sie fremden, aber auch den eigenen lieb gewonnenen politischen Ansichten zu diesen Problemstellungen/Gestaltungsherausforderungen mit einem reflexiven und (selbst)kritischen `De omnibus dubitandum est´ und lässt sich nicht vorschnell für demagogische politische Heilsversprechen zur Lösung dieser Probleme begeistern (Urteilsvorsicht).
…verfügt sie bezüglich dieser Problemstellungen/Gestaltungsherausforderungen über die Kompetenz, Logiken und Mechanismen medialer Politikinszenierung und damit verbundener symbolischer Politik (v.a. Scheinlösungen) (Meyer 2001) sowie die mediale Moralisierung dieser strukturell bedingten Problemen zu durchschauen (wozu nicht nur die Politikwissenschaft, sondern auch die Medienökonomik wichtige Beiträge liefern kann: siehe z.B. Wentzel 1998; Heinrich/Lobigs 2004).
…kann sie die mit den Problemstellungen/Gestaltungsherausforderungen in Verbindung stehenden Institutionen und darauf bezogene (partei)politische Maßnahmen bzw. Vorhaben sachlich unter Rückgriff auf (exemplarische) sozialwissenschaftliche Lösungsvorschläge sowie deren analytische Kategorien und Denkschemata hinsichtlich ihrer Angemessenheit, d.h. ihrer voraussichtlichen Effekte auf die gesellschaftliche Lebensqualität und deren Verteilung bewerten.
…kann sie die mit den Problemstellungen/Gestaltungsherausforderungen in Verbindung stehenden Institutionen und auf diese bezogene (partei)politische Maßnahmen und Vorhaben unter Rückgriff auf Solidaritätsfähigkeit, d.h. auf postkonventionelle, d.h. prinzipiengeleitete Gerechtigkeitsmaximen (und den ihnen inhärenten Perspektivenwechsel) evaluieren. In Kombination mit der gerade zuvor genannten Kompetenz
Zwischenfazit
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kann sie dann diejenige(n) politische(n) Gruppierung(en) identifizieren, die ihren persönlichen politischen Überzeugungen am nahesten stehen. Solidaritätsfähigkeit kann dabei nicht heißen, worauf sowohl Ökonomikdidaktiker (Karpe/Krol 1997) als auch auch Politikdidaktiker (Giesecke 1997, 565) kritisch gegenüber Klafki (1996) hingewiesen haben, dass der Bildungsprozess die Ausbildung einer Fähigkeit zur selbstlosen individuellen/kollektiven Aufopferung der eigenen Persönlichkeit für alle Unterdrückten dieser Welt, die bedrohte Umwelt usw. anstrebt (aber auch nicht verhindert). Dies wäre wohl nicht nur aus lerntheoretisch-anthropologischer Sicht illusorisch, sondern würde auch einen illegitimen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Schülerin darstellen. Außerdem würde es mögliche kontraintuitive Wirkungszusammenhänge verdecken, die für die Entwicklung einer reflexiven gestaltungsorientierten Urteilsfähigkeit äußerst relevant sind. Z.B. macht Sinn (2008b) darauf aufmerksam, dass ein einseitiges Vorgehen der EU beim Klimaschutz ohne Wirkung bleiben könnte, weil dieses den Weltmarktpreis fossiler Brennstoffe senkt und daher deren Konsum in den USA und China verbilligt und dadurch so stark fördert, dass die europäische Leistung vollständig kompensiert wird (solche `ökonomischen´ Thesen kann man allerdings auch `politologisch´ hinterfragen15). Solidaritätsfähigkeit bezeichnet vielmehr zunächst ein klar ausgebildetes Bewusstsein für die Tatsache, dass es immer noch viele Individuen gibt, deren grundlegende Menschenrechte verletzt werden und/oder deren basale sozioökonomische Bedürfnisse unbefriedigt bleiben – welche politischen Schlussfolgerungen die Schülerin daraus zieht, ist von dieser selbst zu entscheiden, wenngleich (unverbindliche) Optionen aufgezeigt werden können. Zur Solidaritätsfähigkeit gehört schließlich auch die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel (Breit 1999), zur Empathie, zum Mit-Bedenken der (oft nicht direkt sichtbaren) Nebenfolgen des eigenen Handelns für andere, möglicherweise weit entfernt lebende Menschen und zur Analyse von gesellschaftspolitischen Konflikten unter Rückgriff auf verallgemeinerungsfähige Gerechtigkeitsmaximen. Schließlich umfasst Solidaritätsfähigkeit auch die Kompetenz, die vermeintlich naturgegebene Dringlichkeit der eigenen Bedürfnisse und politischen Interessen im Vergleich zu denjenigen anderer Menschen zwar ohne Selbstverleugnung, dafür aber selbstkritisch hinterfragen zu können, sodass sich die Bereitschaft herausbildet, Kompromisse zu schließen, sofern diese möglich sind.
3.3 Zwischenfazit Resümierend lässt sich an dieser Stelle somit festhalten, dass das (zweite) zentrale Ziel der hier entworfenen sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik darin besteht, Mitbestimmungsfähigkeit im Sinne von sozialwissenschaftlich reflektierter gestaltungsorientierter Urteilsfähigkeit zu fördern, d.h. die Kompetenz, existierende gesellschaftliche Institutionen und mögliche Alternativen dazu sowie auf diese Institutionen gerichtete politische Handlungen/ Handlungsabsichten hinsichtlich ihrer Folgen für das Ausmaß und die Verteilung von gesellschaftlicher Lebensqualität unter Rückgriff auf sozialwissenschaftliche Erkenntnisse 15 Integrationsdidaktisch lässt sich diese auf das Modell der Dilemmasituation rekurrierende Sichtweise aus der Ökonomik mit dem alternativen Modell des pionierstaatlichen Wirkungsmechanismus aus der Politologie vergleichen, demzufolge Alleingänge einzelner Nationalstaaten(gruppen) bei der Lösung grenzüberschreitender Umweltprobleme oftmals eine entscheidende Rolle für den ökologischen Fortschritt spielen (Teufel 2006).
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Gestaltungsorientierung als zentrales fachdidaktisches Relevanzkriterium
und Theorien beurteilen zu können. Semantisch entspricht dies der vom politikwissenschaftlichen Integrationsansatz betonten fachdidaktischen Zielvorstellung der Suche nach dem guten Leben und dem gerechten Zusammenleben (Detjen 2006a, 73 & 76), d.h. dem gesellschaftlichen Gemeinwohl (Scherb 2005, 123). Dementsprechend besteht das im einleitenden Kapitel – als notwendige Voraussetzung für weitere Überlegungen hinsichtlich der Frage nach der Art von Integration – gesuchte fachdidaktische Auswahlkriterium zur Feststellung der Bildungsrelevanz sozialwissenschaftlicher Wissensangebote darin, inwieweit diese jeweils geeignet sind, die auf die gesellschaftliche Lebensqualität bezogene gestaltungsorientierte Urteilsfähigkeit zu fördern. Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass damit hier das politikwissenschaftliche Integrationsmodell in toto befürwortet würde. Denn im Gegensatz zu der voreiligen, unbelegten wissenschaftstheoretischen Annahme von Detjen (2006a) und Scherb (2005), dass für diese Fragestellung (vorrangig) die Politikwissenschaft zuständig sei und andere sozialwissenschaftliche Disziplinen wie die Ökonomik diesbezüglich nur Hilfsdienste leisten können, ist es genauso denkbar, dass diese Frage in Übereinstimmung mit dem institutionenökonomischen Integrationsansatz von Kaminski (2002) am Besten mit dem institutionenökonomischen Denkschemata behandelt werden kann oder dass man dafür in Übereinstimmung mit dem sozialwissenschaftlichen Integrationsansatz von Hedtke verschiedene (disziplinär dominante) Paradigmen gleichberechtigt berücksichtigen sollte. Bevor jedoch weitere Erkenntnisse zur Frage nach dem angemessenen Integrationsansatz erarbeitet werden können, soll im nächsten Kapitel zunächst ein Strukturschema für den sozialwissenschaftlichen Unterricht entwickelt werden, das aufzeigt, welche logische Gliederung des Lernprozesses zur Förderung des Ziels der gestaltungsorientierten Urteilsfähigkeit aus theoretischer Sicht geeignet erscheint.
4 Das Strukturschema der gestaltungsorientierten sozialwissenschaftlichen Bildung Das Strukturschema der gestaltungsorientierten sozialwissenschaftlichen Bildung
Wie sollten Unterrichtseinheiten strukturiert werden, um systematisch auf das Bildungsziel der sozialwissenschaftlich reflektierten, gestaltungsorientierten Urteilsfähigkeit hinarbeiten zu können? Als Ausgangspunkte zur Erarbeitung eines Strukturschemas für den gestaltungsorientierten sozialwissenschaftlichen Unterricht eignen sich zwei Strukturschemata, von denen das eine in der Politikdidaktik (z.B. Henkenborg 2001, 7; Sutor 1984, 72ff.) und das andere in der Ökonomikdidaktik (z.B. Albers 1995, 14; Weber 1997, 37f.) verbreitet ist. Diese beiden Strukturschemata weisen deutliche strukturelle Schnittmengen auf und sind implizit bereits sehr stark auf das Prinzip der Gestaltungsorientierung hin ausgelegt. Das in diesem Kapitel durch kritisch-reflexive Integration dieser beiden Vorschläge erarbeitete sozialwissenschaftliche Strukturschema kann von der Lehrerin als Instrument sowohl zur Sachanalyse als auch zur Strukturierung des gestaltungsorientierten Unterrichts verwendet werden. Henkenborg (2001, 7) stellt in Anschluss an Sutor (1984, 72ff.) ein fachdidaktisches Kategorienmodell für die politische Bildung vor, welches den Ablauf des Unterrichts durch vier zentrale Frageschritte chronologisch strukturieren will: 1.
Situation: Was ist?
2.
Optionen: Welche Ziele und welche Lösungen sind möglich?
3.
Konsequenzen: Welche Lösungen sind durchsetzbar und welche Konsequenzen sind mit den Lösungen jeweils verbunden?
4.
Entscheidung: Was soll sein?
Für die ökonomische Bildung hat Albers (1995, 14) ein Strukturschema des handlungsorientierten Unterrichts entworfen, welches den Unterrichtsablauf durch folgende Schritte chronologisch zu strukturieren beabsichtigt: 1.
Erfahrung eines lösungsbedürftigen Problems
2.
Definition des Problems
3.
Definition des angestrebten Zustands: Soll
4.
Sammlung problembezogener Informationen
78
Das Strukturschema der gestaltungsorientierten sozialwissenschaftlichen Bildung
5.
Aufbereitung, Analyse und Strukturierung der Informationen
6.
Entwicklung alternativer Lösungsmöglichkeiten
7.
Abschätzung der Folgen alternativer Lösungen
8.
Entscheidung für die optimale Lösung
9.
Handeln
10. Ergebnis-Analyse: Ist 11. Soll-Ist-Vergleich 12. Abweichungsanalyse Die semantischen Unterschiede zwischen diesen Strukturschemata erweisen sich bei genauerer Analyse als marginal. So geht Albers (1995) im Gegensatz zu Henkenborg (2001) zwar explizit von einem Problem aus, doch auch Henkenborg (2001) will implizit die im ersten Schritt analysierte Ist-Situation anschließend problematisieren, denn sonst könnte er im Folgenden nicht nach Lösungen suchen und diese evaluieren wollen. Ob es angemessener ist, wie bei Albers (1995) direkt von einem Problem auszugehen und erst anschließend eine Situationsanalyse vorzunehmen (d.h. problembezogene Informationen zu sammeln) oder ob man wie bei Henkenborg (2001) umgekehrt vorgeht, kann aber auch gar nicht generell gesagt werden, sondern hängt vom jeweiligen Themengebiet ab. Der Vergleich der beiden Strukturschemata zeigt daher, dass an dieser Stelle des gestaltungsorientierten Bildungsprozesses Flexibilität gefragt ist. Bisweilen ist es möglich, z.B. ausgehend von Fallanalysen direkt von einem Problem auszugehen, weil dessen Problemgehalt für die Schülerin mehr oder weniger unmittelbar einsichtig ist (z.B. Arbeitslosigkeit). Oft verhält es sich aber auch so, dass die Schülerin den Problemgehalt eines Problems nicht unmittelbar verstehen kann, ohne zunächst den institutionellen Status Quo als Hintergrundwissen erarbeitet zu haben, der dann im Nachhinein problematisiert wird (z.B. kann der Problemgehalt des demografischen Wandels von der Schülerin vermutlich weitaus besser verstanden werden, wenn sie zuvor die spezifische Ausgestaltung und Funktionsweise der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland erarbeitet hat). Des Weiteren tauchen die Schritte 9) – 12) von Albers (1995) bei Henkenborg (2001) nicht auf. Dies begründet jedoch keine Unverträglichkeit von gestaltungsorientierter Politik- und Ökonomikdidaktik. Vielmehr dürften sich beide Seiten wohl einig darin sein, dass reales (wirtschafts)politisches Handeln durch die Schülerinnen im Sinne eines offenen natürlichen (wirtschafts)politischen Experiments im sozialwissenschaftlichen Unterricht nur selten möglich ist. Stattdessen wäre unter Punkt 4) bei Henkenborg bzw. im Anschluss an Punkt 8) bei Albers ein anderer, für den gestaltungsorientierten Unterricht wichtiger Punkt zu ergänzen. Wenn die Schüler in einer repräsentativen Demokratie wie der BRD tatsächlich über – die doch von allen Fachdidaktiken so betonte (s.o.) – politische Gestaltungskompetenz verfü-
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gen und kompetenten Einfluss auf das politische Geschehen gewinnen sollen, sollte man nicht bei der begründeten persönlichen Entscheidung für einen wissenschaftlich reflektierten Handlungsvorschlag stehen bleiben. Vielmehr sind die Schüler im Anschluss daran in die Lage zu versetzen, diejenige(n) politische(n) Partei(en) und/oder Interessengruppen zu identifizieren, deren Vorschläge den persönlichen Vorstellungen am nächsten kommen. Hierzu bietet jeweils sich eine vergleichende Analyse von entsprechenden, öffentlich zugänglichen Absichtserklärungen der Parteien bzw. Forderungen von Interessengruppen an (Wahlprogramme, Erklärungen zu einzelnen Themen auf Homepages etc.). Insoweit es dabei um wirtschaftspolitische Vorschläge von Parteien geht, liegt darin eine zentrale Aufgabe einer integrativen Fachdidaktik, die ökonomisches und politisches Lernen verbindet. Diesem Vorgehen könnte man entgegenhalten, dass politische Parteien ihre Absichtserklärungen im Regierungshandeln i.d.R. ohnehin kaum umsetzen. Dieser Einwand ist jedoch in dieser Form wenig überzeugend, denn die Politikwissenschaft geht unter Rückgriff auf empirische Untersuchungen, darunter eine Studie, welche parteipolitische Programme und Regierungshandeln in zahlreichen OECD-Demokratien über vier Jahrzehnte erfasst hat (Klingemann/Hofferbert/Budge 1994), davon aus, dass die Frage „Do Programs Matter?“ mit einem „klaren Ja“ zu entscheiden ist (Rudzio 2006, 127). Ist die mündige (Wirtschafts)Bürgerin das zentrale didaktische Ziel, sollte diese daher nicht nur mit dem allgemeinen ideologischen Profil der Parteien vertraut gemacht werden. Insbesondere sollte sie auch die von diesen befürworteten konkreten Ziele und Maßnahmen im jeweiligen didaktisch behandelten Politikfeld kennenlernen. Derartige – für die politische Orientierungsfähigkeit essentielle – Vergleiche werden in vielen Schulbüchern jedoch nicht einmal exemplarisch geleistet (Floren 2006; Heither/Klöckner/Wunderer 2006; Jöckel 2006). Gleichwohl sind partielle Prinzipal-Agent-Konflikte wie z.B. kontraintuitive „Nixongoes-to-China“-Konstellationen nicht auszuschließen, in denen politische Parteien (z.B. SPD) in der Regierung bestimmte, für nötig erachtete Politiken, die nicht ohne weiteres zu ihrer angestammten Ideologie passen (Einschränkung sozialer Leistungen), eher durchsetzen können als ihre Kontrahenten, weil es in diesem Fall keine machtvolle parteipolitische Opposition gegen die ideologische Richtung dieser Politik gibt. Daraus folgt didaktisch jedoch nicht, dass eine Auseinandersetzung mit den konkreten Zielen der Parteien keinen wesentlichen Inhalt des Unterrichts zu bilden bräuchte. Vielmehr ergibt sich daraus, dass das didaktische Bürgerleitbild nicht wie z.B. explizit bei Detjen (2007, 63) von vorneherein auf die Funktionsweise einer repräsentativen Demokratie ausgerichtet werden sollte. Vielmehr ist gestaltungsorientiert zu diskutieren, ob die partielle Prinzipal-Agent-Problematik ein Argument für die Einführung direktdemokratischer Instrumente darstellt (vgl. Kapitel 7.1.). In diesem Kontext kann auch auf entsprechende Möglichkeiten politischen Engagements wie z.B. der Initiative „Mehr Demokratie e.V.“ und „Democracy International“ eingegangen werden. Darüber hinaus sind vor einer integrativen Zusammenführung der beiden Strukturschemata noch einige kritische Punkte zu bedenken, die von großer Bedeutung für eine hinreichend reflektierte sozialwissenschaftliche Fachdidaktik sind, aber weder bei Albers (1995) noch bei Henkenborg (2001) hinreichend angesprochen werden.
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4.1 Divergierende Problemwahrnehmungen (Zielkonflikte) Erstens ist es von besonderer Relevanz, zu verdeutlichen, dass es „das“ Problem bzw. „die“ Problemdefinition, wie man angesichts des Schemas von Albers (1995) denken könnte, in dieser Form bisweilen gar nicht gibt, weil der institutionelle Status Quo vor dem Hintergrund divergierender normativer Zielvorstellungen ganz unterschiedlich, nicht selten sogar konträr problematisiert wird: was für eine sozialwissenschaftliche Denkrichtung X die Lösung für das Problem A (auf das sie sich fixiert) darstellt, konstituiert/erzeugt für eine andere sozialwissenschaftliche Denkrichtung Y das Problem B (auf das sie sich fixiert). Die von Y befürwortete Lösung für dieses Problem B befördert aus Sicht von X jedoch wiederum das Problem A. Es ist also fachdidaktisch zu betonen, dass a) das, was als Problem begriffen wird und b) die Frage, ob etwas überhaupt als Problem eingeschätzt wird, umstritten sein kann. Derartige konträre Problem-Konstruktionen werden keinesfalls nur von diversen `advocacy coalitions´ in der politischen Öffentlichkeit, sondern auch von unterschiedlichen Denkrichtungen in den (vermeintlich wertneutralen) Sozialwissenschaften produziert. Dies lässt sich an einem interdisziplinären Beispiel illustrieren, an dem zugleich europapolitische Interdependenzen zwischen Politik, Recht und Wirtschaft als wichtiger Aspekt integrativer sozialwissenschaftlicher Fachdidaktik sichtbar werden. So erblickt der Politkwissenschaftler Höpner (2008b) in der jüngeren Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) zum Verhältnis zwischen nationaler Tarifpolitik und den vier europäischen Grundfreiheiten ein massives demokratietheoretisches Problem, da diese die arbeitspolitische Autonomie des Nationalstaates und damit das historisch gewachsene Gleichgewicht zwischen sozialer Demokratie und kapitalistischer Ökonomie in Deutschland unterminiere. Er plädiert deshalb dafür, dass es einer qualifizierten Mehrheit der Mitgliedsstaaten im Europäischen Rat erlaubt sein soll, notfalls nichts weniger als den Grundsatz des Vorrangs europäischen Rechts zu brechen, um den EuGH politisch zu disziplinieren. Vom Standpunkt einer integrativen sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik wäre jedoch kritisch herauszuarbeiten, dass diese, recht einseitige Argumentation nicht hinreichend reflektiert, dass man aus Sicht von Ökonomen der Neuen Politischen Ökonomik (NPÖ) (z.B. Wagner/Jahn 2004; Wohlgemuth 2008) die konstitutionelle Beschränkung der Handlungsmacht von Parlamentsmehrheiten durch politisch unabhängige Institutionen sowie die damit in diesem Fall verbundene Aufweichung von `Tarifkartellen´ durch die Rechtssprechung des EuGH gerade nicht als bedauernswertes Problem betrachtet. Stattdessen kann man dieses Vorgehen mit der NPÖ genau umgekehrt auch als begrüßenswerte Lösung für ein Problem interpretieren (nämlich für die hohe Arbeitslosigkeit in der EU infolge der politischen `Tyrannei´ des mit einem relativ sicheren Arbeitsplatz ausgestatteten Medianwählers auf Kosten der Minderheit der Arbeitslosen; dazu Wagner/Jahn 2004). Weitere, strukturell ähnliche Beispiele werden in Kapitel 6 + 7 dargestellt. Hinter derartigen gegensätzlichen sozialwissenschaftlichen Problem-Konstruktionen verbergen sich häufig implizite normative Zielkonflikte (z.B. ökonomische Freiheit vs. sozialer Ausgleich). Aufgrund dessen sollten entsprechende sozialwissenschaftliche Denkrichtungen aufeinander bezogen, miteinander verglichen und kontrovers debattiert werden, denn das Verständnis von solchen Zielkonflikten ist ein essentieller Bestandteil gestaltungsorientierter Urteilsfähigkeit, die ein Bewusstsein für soziale Komplexität ausgebildet hat und technokratischen Patentlösungen skeptisch gegenübersteht (Dubs 2001). Dennoch wird die Erkenntnis des Konstruktcharakters von Problemen und den damit zusammenhängen-
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den Zielkonflikten nur von eher wenigen Ansätzen sowohl in der politischen Bildung (z.B. Sutor 1984, 97ff.; Petrik 2007, 158ff.) als auch in der ökonomischen Bildung (z.B. Dubs 2001; Kruber 2000) gebührend thematisiert. So findet sich die Kategorie des Zielkonflikts z.B. weder im Kerncurriculum Ökonomische Bildung (Kaminski 2001b) noch wird sie in den Anforderungen an Nationale Bildungsstandards für den Fachunterricht in der Politischen Bildung an Schulen (GPJE 2004) genannt. Dieser Thematik sollte jedoch eine breitere Aufmerksamkeit zuteil werden, denn wie in Kapitel 6 und 7 gezeigt wird, beschränkt sich die fachdidaktische Bedeutsamkeit dieser Kategorie bei weitem nicht nur auf das in diesem Kontext üblicherweise genannte magische Viereck der Wirtschaftspolitik, sondern erstreckt sich auch auf die Gestaltung des politischen Systems sowie andere Teilbereiche des ökonomischen Systems. So können die Schüler am obigen Fallbeispiel u.a. lernen, dass es sich bei in der Politik, aber auch in der Didaktik populären, scheinbar konsensualen Zielsetzungen wie etwa „Erfolgsmodell Soziale Marktwirtschaft“ (Kaminski 2001b, 9) um ein „Wieselwort“ (Wohlgemuth 2008b) handelt, das von unterschiedlichen politischen Gruppen, aber auch von diversen sozialwissenschaftlichen Scientific Communities inhaltlich unterschiedlich gefüllt wird. Im Gegensatz zu Albers (1995), dessen Schema zumindest implizit einen exakt definierbaren, von allen angestrebten Soll-Zustand unterstellt, wird dieser wichtige Aspekt bei Henkenborg (2001) berücksichtigt, da er in seinem zweiten Schritt davon ausgeht, dass es unterschiedliche Zielvorstellungen geben kann.
4.2 Das kontraintuitive Paradox der problemverursachenden Politik Zweitens ist der bei Henkenborg (2001) gar nicht aufgeführte und auch bei Albers (1995) nur recht vage definierte Schritt der „Sammlung von problembezogenen Informationen“ dahingehend zu konkretisieren, dass es dabei zunächst insbesondere um die Suche nach Ursache(deutunge)n gehen sollte, wenn man eine Problemlösung anstrebt. In diesem Zusammenhang sollen Lernende auch das Paradox begreifen, dass Politik keinesfalls nur als Bearbeiter von Problemen auftritt, sondern oft genug auch erst der Erfinder, Verursacher oder Verschärfer von gesellschaftlichen Problemen ist. Diese für die Förderung von gestaltungsorientierter Urteilsfähigkeit wichtige Erkenntnis, die in Kapitel 6 und 7 noch des Öfteren exemplifiziert werden wird, droht in der politischen Bildung bisweilen vernachlässigt zu werden. Insbesondere die euphemistische Definition von Politik im derzeitigen Politikzyklus-Modell als eine „endlose Kette von Versuchen zur Bewältigung gesellschaftlicher Gegenwarts- und Zukunftsprobleme“ (Detjen/Kruber 2007, 26) oder als „Problemlöseprozess“ (Petrik 2007, 138) hat an dieser Stelle einen idealistischen blinden Fleck. Denn das Handeln von Regierungen zielt oft genug nicht auf den Versuch der Lösung von gesellschaftlichen Problemen ab, sondern auf die Durchsetzung von eigenen Machtinteressen um ihrer selbst willen, wie es z.B. die Debatte um die Einflussnahme des politischen Systems, d.h. von Vertretern der Unionsparteien auf interne Belange des Mediensystems, d.h. die künftige Besetzung des Postens des ZDF-Chefredakteurs zeigt (Leyendecker 2009). Die o.g. politikdidaktische Konzeption von Politik bedarf daher einer zumindest partiellen Relativierung bzw. einer kritischen Reflexion unter Rückgriff auf die soziologische Systemtheorie (z.B. Willke 2001) und/oder die Neue Politische Ökonomie (z.B. Behrends 2007, Franke 2000, Homann/Suchanek 2005, 187ff.), die beide davon aus-
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gehen, dass politisches Handeln weniger durch Orientierung an externen Problemen (Policy-Orientierung) als vielmehr in erster Linie durch selbstreferentielle Machtorientierung (Politics-Orientierung) gekennzeichnet ist. Auf diese Weise kommt das vielfältige Phänomen des Staats- bzw. Politikversagens (z.B. Erlei/Leschke/Sauerland 2007, 514ff.; von Arnim 2000, 2001, 2006; Caplan 2007; Willke 2001, 31) in den Blick. Die Kategorie des Staats- bzw. Politikversagens zielt bei weitem nicht nur darauf ab, dass gut gemeinte Lösungsversuche betrieben werden, die sich später leider als inadäquat herausstellen, sondern bezeichnet in erster Linie auch die genuine Neugenese von Problemen infolge politischen Handelns. So kann die Macht-Orientierung des politischen Systems dazu führen, dass Probleme erzeugt werden. Der Ausgangspunkt (Phase 1) eines Politikzyklus besteht keineswegs immer darin, wie Detjen (Detjen/Kruber 2007, 26) meint, dass ein Problem ins öffentliche Bewusstsein tritt. Vielmehr besteht Phase 1 nicht selten darin, dass Politik aktiv wird, obwohl überhaupt kein ernsthaftes gesellschaftliches Problem vorliegt, indem sie eines dramatisiert oder gar erfindet (z.B. die angebliche Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak). Phase 1 kann auch darin bestehen, dass Politik – ohne dass ein Problem vorliegt – mehr oder weniger unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit (de)regulatorische Maßnahmen verabschiedet (z.B. zwecks Begünstigung von gut organisierten Partikularinteressen), welche im Laufe der Jahre zunehmend negative Konsequenzen für die Gesamtgesellschaft hervorrufen, die dann ab einer bestimmten Schwelle als gravierendes soziales Problem empfunden werden (siehe z.B. Chari/Kritzinger 2006, 129ff.; Hentrich 2004; Koeppel 2005; Schrader 2004 am Beispiel der Gemeinsamen Agrar- und Fischereipolitik der EU). Ebenso kann Phase 1 des Politikzyklus aus politischen Maßnahmen bestehen, die nicht einem aufrichtigen Willen nach Problemlösung, sondern dem machtpolitischen Einfluss von Interessengruppen geschuldet sind und die dann nach einer gewissen Latenzzeit eine plötzliche, heftige Krise auslösen. Letzteres lässt sich in kontraintuitiver Weise etwa am Beispiel der derzeitigen Finanzkrise aufzeigen, für die in der öffentlichen Debatte häufig zu einseitig und zu vorschnell nur `der Markt´ verantwortlich gemacht wird, obwohl auch Staats- und damit Politikversagen in den vielfältigsten Formen (z.B. Regulierungsversagen v.a. in den USA aber auch Europa infolge der Begünstigung von einflussreichen Interessengruppen wie z.B. der Londoner City, globale Finanzungleichgewichte infolge des systematischen chinesischen Staatsinterventionismus auf dem internationalen Währungsmarkt, laxe Geldpolitik der FED infolge einer starken Verzahnung mit dem US-Finanzministerium, sozialpolitische Eingriffe des Staates in den US-Wohnungsmarkt) eine erhebliche Rolle gespielt hat (siehe dazu z.B. Bloss/Ernst/Häcker/Eil 2008; Enderlein 2008; Hellmeyer 2008; Lipton/Hernandez 2008; White 2008; Wohlgemuth 2008c; Wolf 2008). Deshalb ist Politik nicht nur als ein Problemlöseprozess, sondern in diesem Sinne oft genug auch als ein Problemverursachungsprozess zu verstehen (für weitere Fallbeispiele auf anderen Politikfeldern siehe Kapitel 6 + 7). Zudem fallen viele `Lösungsversuche´ unter die Rubrik simulative / symbolische Politik (z.B. Böhringer/Vogt 2001; Meyer 2001; Blühdorn 2007). Ebenso zeigen politisch Verantwortliche bisweilen die Neigung, Probleme (anfangs) zu bagatellisieren (siehe dazu etwa Krapohl/Zurek 2006 am Beispiel der europäischen BSE-Politik) oder zu leugnen (so etwa die Migrationspolitik in Deutschland bis weit in die 90er Jahre hinein, siehe dazu Bade 2007), sodass sich Politik infolge von zumindest vorläufiger Inaktivität bisweilen als Problemverschärfungsprozess darstellt. Schließlich ist – auch in westlichen Demokratien –
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zu beobachten, dass die Politik offizielle Statistiken in erheblicher Weise schönt, um Probleme zu verbergen, anstatt sich um die Initiierung von Problemlöseprozessen zu bemühen. Beispielsweise kommt Hellmeyer (2008, 137ff.) in seiner kritischen statistischen Analyse der offiziellen Aufbereitung der makroökonomischen Daten der USA (Haushaltssaldo, Arbeitslosigkeit, Verbraucherpreise, Wirtschaftswachstum, Produktivität, Geldmenge) zu folgendem Schluss: „Eine Vielzahl von US-Daten bietet die Qualität der Daten der Sowjetunion im Jahr 1985.“ (Hellmeyer 2008, 173)
Die oben genannten Formen von Staats- bzw. Politikversagen sind auch in den reichen westlichen Industrienationen nicht derart randständig, dass eine integrative sozialwissenschaftliche Fachdidaktik einfach die oben zitierte, euphemistische Definition von Politik durch die Politikdidaktik übernehmen könnte. Das idealistische Trugbild von der Politik als Problemlöseprozess aufklärend müsste Politik deshalb von einer integrativen sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik vielmehr wie folgt definiert werden: Politik ist eine mit vielfältigen partikularistischen Machtinteressen aufgeladene Kette von symbolischen und/oder tatsächlichen Versuchen zur Bewältigung, aber bisweilen auch zur Bagatellisierung, Leugnung und Verdeckung von gesellschaftlichen Problemen, die wiederum bisweilen von der Politik selbst erst (einige Zeit vorher) verursacht worden sind, wobei letzteres sowohl unbeabsichtigt als auch auch durch billigende Inkaufnahme geschehen sein kann. 4.3 Analyse von Interessenskonflikten Drittens wäre in einem Strukturschema für den sozialwissenschaftlichen Unterrichts anders als bei Albers (1995) explizit herauszustellen, dass die Analyse von Problemdeutungen und Lösungsmöglichkeiten vor dem Hintergrund des Status Quo zugleich eine Analyse von (möglichen) gesellschaftlichen Akteurskonstellationen (Scharpf 2000a, 87ff. & 123ff.) und den daraus resultierenden Interessenskonflikten (Behrmann/Grammes/Reinhardt 2004, 350) zwischen verschiedenen politischen und sozialen Gruppen erfordert (Konfliktorientierung; Reinhardt 2005, 76ff.). Gestaltungsorientierte sozialwissenschaftliche Fachdidaktik ist auch Konfliktdidaktik, da gestaltungsorientierte Urteilsfähigkeit darüber reflektieren muss, wer welche Interessen an bestimmten Problemlösungen vertritt (welcher sozialen/politischen Gruppe sich die Schülerin also ggf. (später) politisch anschließen kann, um sich politisch für die eigenen Überzeugungen einsetzen zu können), warum politische Gestaltungsprobleme i.d.R. von Interessenkonflikten begleitet sind, welche Gestaltungsoptionen als verallgemeinerungsfähig gelten können (Klafki 1996, 61) und wie es angesichts von sozialen Machtverhältnissen mit der politischen Durchsetzbarkeit von bestimmten Gestaltungsoptionen aussieht. Die Kategorie des Interessenkonflikts spielt bei der Analyse von (Wirtschafts)Politik sowohl in der Ökonomikdidaktik (siehe explizit z.B. DEGÖB 2004, 7; Kruber 2000, May 2002, 13) als auch in der Politikdidaktik (v.a. im Rahmen des Politikzyklus, vgl. Ackermann/Breit/Cremers/Massing/Weinbrenner 1994; Detjen/Kruber 2007, 26) eine wichtige Rolle.
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Es mag sein, dass manche Einführungsbücher in die Ökonomik bisweilen den Gedanken aufkommen lassen, dass die (dort nicht nur auf das Wirtschaftssystem angewendete) zentrale Kategorie des Tausches und damit der Kooperation(sgewinne) dort eine wichtigere Rolle spielt (vgl. z.B. den Eintrag im Sachregister bei Homann/Suchanek 2005, 423) als in der Politikwissenschaft und der Soziologie, in der hingegen möglicherweise die Notwendigkeit und die schöpferische Kraft des Konflikts stärker betont wird (z.B. Dahrendorf 1961 zit. nach Reinhardt 2005, 76f.). Eine kontrastive Gegenüberstellung von `der´ Politologie als einer `Konflikt-Wissenschaft´ und `der´ Ökonomik als einer `KooperationsWissenschaft´ erscheint jedoch nicht sinnvoll. Denn zum einen gibt es auch innerhalb der Neuen Politischen Ökonomie mehrere stark ausgebaute (zugleich übrigens intern kontroverse) Theorien und empirische Studien zum „Wettbewerb“, „Schachern“ und Konflikt zwischen verschiedenen politischen Interessengruppen (Friedrich August von Hayek und Mancur Olson versus Gary Becker) (siehe z.B. Erlei/Leschke/Sauerland 2007, 387ff.; Niechoj 2003, 119-164; Bardt 2003). Insbesondere bei Acemoglu/Robinson (2005) werden politökonomische Nullsummen-Konflikte (zwischen Elite und Masse) zum zentralen Angelpunkt der Theoriebildung (ebd., 20). Zum anderen wird auch in der Politikwissenschaft und Soziologie systematisch über theoretisch denkbare und empirisch beobachtbare Wege zur Institutionalisierung kooperativer Strukturen zwecks Bewältigung ökonomischer Konflikte nachgedacht (z.B. Hassel 2006; Scharpf 2000b; Streeck 1999; Visser/Hemerijck 1998). Dennoch mag sich mancher vielleicht nicht des Eindrucks erwehren können, dass in der ökonomischen Literatur die These der Unfruchtbarkeit/Redundanz penetranter politisierter Konfliktkämpfe und der Glaube an die potentielle Harmonie, d.h. an grundsätzlich zur Verfügung stehende, (angeblich) allseits zustimmungsfähige, ökonomische Win-WinLösungen im `Durchschnitt´ womöglich stärker ausgeprägt ist (siehe dafür z.B. den Beitrag von Homann/Pies (1996) zu den sozialpolitischen Wert- und Interessenkonflikten in Deutschland oder die Vanbergsche Konstitutionenökonomik, vgl. V. Vanberg 2004) als in der Politikwissenschaft, die möglicherweise eher die prozedurale Einhegung/Kanalisierung von substantiell nicht lösbaren Konflikten betont (z.B. Christiano 1996; Bellamy 2007). Selbst wenn dies der Fall sein sein sollte, konstituiert sich daraus aber noch keine fachdidaktische Unverträglichkeit der sozialwissenschaftlichen Disziplinen. Vielmehr lassen sich solche konträren Beiträge im Sinne von Hedtke (2005a) komparativ aufeinander beziehen und wechselseitig auf ihre Überzeugungskraft hin befragen (vgl. dazu z.B. den in Kapitel 7.1. aufgezeigten Kontrast zwischen Christiano (1996) und Vanberg (2006) im Rahmen des Vergleichs von egalitärer und liberal-konstitutioneller Perspektive zu der Frage nach der Gestaltungsform einer legitimen demokratischen Ordnung). Integrative sozialwissenschaftliche Fachdidaktik geht somit davon aus, dass Konflikte ein relevanter Grundtatbestand der Gesellschaft sind, wobei aber nicht ausgeschlossen wird, dass es möglicherweise (langfristige) Win-Win-Lösungen für alle beteiligten Interessengruppen geben mag (Homann/Suchanek 2005), die in der aufgeregten und häufig emotionalisierten öffentlichen Debatte womöglich zu wenig Beachtung erfahren. Dies abschließend zu beurteilen, ist letztlich der einzelnen Schülerin zu überlassen.
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4.4 Reflexion über die Grenzen der bewussten Gestaltbarkeit von Gesellschaft Viertens könnten sich sowohl die Strukturschemata von Albers (1995) und Henkenborg (2001) im Speziellen als auch die hier erarbeitete gestaltungsorientierte sozialwissenschaftliche Fachdidaktik im Allgemeinen dem Vorworf ausgesetzt sehen, dass der befürwortete starke Zielfokus auf die Mitgestaltungskompetenz bei den Lernenden eventuell die technokratische Illusion eines naiven, womöglich sogar gefährlichen `Gesellschafts-Engineering´, d.h. einer politisch beliebig formbaren und perfekt gestaltbaren Gesellschaft nähre. Etwas überspitzt könnte man fragen, ob hier nicht der unbelehrte Abklatsch jener Marxschen Forderung, jenes gesellschaftskonstruktivistischen Groß-Irrtums ertönt, der als unbeabsichtigte Nebenfolge ein Jahrhundert später die halbe Welt in die am ideologischen Reißbrett vorgezeichnete Ordnung des Totalitarismus sperrte: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“16 Auch wenn der gestaltungsorientierten sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik nichts ferner steht als die Abschaffung der rechtsstaatlichen Demokratie, sollte sie sich doch mit diesem möglichen kritischen Einwand auseinandersetzen. Gerade weil aber viele Individuen zu einem Planungsoptimismus neigen, der den jeweils günstigsten Verlauf annimmt und mögliche Störungen kaum bedenkt (Strohschneider/von der Weth 2002), ist eine sozialwissenschaftliche Fachdidaktik, die die politische Gestaltung der Gesellschaft in reflektierter Form in den Zielfokus rückt, besonders gut geeignet, zentrale problematische gesellschaftsbezogene Denkmuster des Menschen zu irritieren und kritisch zu hinterfragen.
4.4.1 Reflexion über politische Durchsetzbarkeit Folglich ist es sinnvoll – worauf das Schema von Henkenborg (2001) zumindest aufmerksam macht, was bei Albers (1995) aber gar nicht berücksichtigt wird –, dass vor dem Abschluss einer Unterrichtseinheit über die politische Durchsetzbarkeit von Lösungsvorschlägen nachgedacht wird. Anderenfalls besteht die Gefahr, dass makroökonomisches Wissen zu politisch trägem Wissen wird, dem die politische Wirkmächtigkeit fehlt, welche die DEGÖB (2004) jedoch anstrebt. Die Lernenden müssen sich dabei insbesondere von der utopischen Vorstellung verabschieden, dass a) der politische Prozess ein rein diskursorientiertes, machtfreies Policy-Problemlösungskonzert darstellt, in dem sich der zwanglose Zwang des besseren Arguments durchsetzt (Ausnahmen bestätigen die Regel). Bisweilen kann es auch wichtig sein, zu berücksichtigen, dass b) der politische Raum keine kulturelle tabula rasa darstellt, in der die Akteure völlig offen ohne (national) kulturell vorgeprägte kognitiv-normative Frames (mentale Modelle) debattieren. Bezüglich a) und b) lässt sich auf die in allen sozialwissenschaftlichen Disziplinen betonte (aber in keinem fachdidaktischen Kategorienkatalog auftauchende) – freilich in jüngerer Zeit zunehmend aber auch als zu statisch kritisierte – Kategorie der institutionellen und/oder kulturellen Pfadabhängigkeit (z.B. Beyer 2006 für die Soziologie; z.B. North 1990 für die Ökonomik; z.B. Pierson 2000 für die Politologie) verweisen, d.h. der tendenziellen Beharrungskraft sowohl von formellen Institutionen als auch von informellen Konventionen aus machtpolitischen und/oder kulturellen Gründen. 16
Siehe Karl Marx (1845): Thesen über Feuerbach, MEW, Band 3, 533ff.
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Um realitätsferne Diskussionen zu vermeiden sollten daher auch Überlegungen zu der Frage angestellt werden, ob ein Policy-Vorschlag, den man persönlich für verallgemeinerungsfähig, d.h. hochgradig effizient, äußerst gerecht usw. erachtet, vor dem Hintergrund der derzeitigen politischen Kultur und/oder des derzeit bestehenden politischen Systems (Polity) und der dadurch beeinflussten Machtverhältnisse (Politics) generell auch realistischerweise politisch durchgesetzt werden kann und wie. Wenn dies nicht der Fall ist, ist man schon aus strategischen Gründen klug beraten, auf Inkrementalismus zu setzen und nur Kompromisse anzustreben, die (vorläufig) nur Teile des persönlich für richtig gehaltenen Konzepts verwirklichen (Kompromissfähigkeit). Die Reflexion des Urteilskriteriums der politischen Realisierbarkeit bedeutet also, dass – worauf auch Breit (2006) hingewiesen hat – Lernende zu berücksichtigen haben, dass politisch Verantwortliche nicht nur (so Breit) bzw. äußerst selten (so die Perspektive der Neuen Politischen Ökonomie) an der Lösung von Problemen als solches interessiert sind, sondern auch (so Breit) bzw. fast immer (so die Perspektive der Neuen Politischen Ökonomie) an Machterwerb und Machterhalt – sei es nun, um andere Probleme besser lösen zu können oder als bloßer Selbstzweck. Breit (2006) ist deshalb zuzustimmen, dass ein problem-, d.h. policyorientierter, aber macht-, d.h. politicsvergessener Unterricht Gefahr läuft, Frustration und Politikverdrossenheit bei den Lernenden zu erzeugen, wenn diese sehen, dass die von ihnen ausgearbeiteten und für höchst effizient und äußerst gerecht erachteten Problemlösungen von der Politik nicht oder nur äußerst schleppend umgesetzt werden, weil die Machtinteressen der herrschenden politischen Akteure damit nicht in Einklang stehen. Als zwei Beispiele für solche Konstellationen führt Breit an, dass z.B. 1) der Handlungsspielraum von Politikern dadurch eingeengt wird, dass diese bisweilen auch auf Verbände Rücksicht nehmen `müssten´ und 2) dass die Politik die vielen Probleme nicht auf einmal in Angriff nehmen könnte und deshalb manche (vorerst) nicht bearbeitet würden. Hieraus folgt fachdidaktisch jedoch keinesfalls, wie Breit (2006) meint, dass der sozialwissenschaftliche Unterrichtsprozess sich vornehmlich damit begnügen müsste, durch Perspektivenwechsel, d.h. der Übernahme der Perspektive der verantwortlichen Politikerinnen um Verständnis für deren Nicht-Bearbeitung von Problemen zu werben. Vielmehr wäre an dieser Stelle – jenseits von fatalistischer Apologetik und populistischer Moralisierung – zunächst einmal auf das von der Ökonomikdidaktik betonte „Denken in Ordnungen“ (Weber 2001) zurückzugreifen und zu fragen, ob der derzeitige institutionelle Rahmen (Polity) und die von ihm ausgehenden Handlungsanreize für die Politiker nicht vielleicht so geändert werden könnten, dass die Probleme vom politischen System besser und/oder schneller bearbeitet würden bzw. dass das politische System weniger gesellschaftliche Probleme erzeugt. Derartige Argumentationen finden sich sowohl in der Konstitutionenökonomik (z.B. Vanberg 2004) als auch in der Politikwissenschaft (z.B. McGann 2006). Selbstverständlich kann man im Anschluss daran immer noch zu dem Fazit kommen, dass auch Änderungen der Polity letztlich nicht (für jedes Problem) zu einer erhöhten Problemlösungsfähigkeit des politischen Entscheidungsprozesses führen werden, oder dass solche Änderungen zu anderen problematischen Nebenfolgen führen werden. Darüber hinaus kann es sein, dass das Problem der mangelnden Veränderbarkeit von Gesellschaft auf der Policy-Ebene durch die zusätzliche Betrachtung der Polity-Ebene nur auf eine höhere Ebene verschoben wurde, weil sich möglicherweise herausstellt, dass eine Polity-Reform zwar sinnvoll, aber machtpolitisch unrealistisch ist. Oder es stellt sich heraus, dass in anderen Ländern erfolgreiche Institutionen nur im Zusammenspiel mit der dortigen politischen
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Kultur funktionieren und aus kulturellen Gründen möglicherweise nicht unmittelbar auf Deutschland übertragbar sind. Aber weil das bei weitem nicht immer der Fall sein muss und Institutionen sich eine ihnen komplementäre Kultur mittelfristig auch selbst schaffen können, wie einige Theoretiker argumentieren (z.B. Rothstein 1998; Meyer 2005), sollte man das Potential von PolityReformen zumindest (exemplarisch) prüfen. Denn dadurch kann der Lernende mögliche Interdependenzen zwischen den drei Dimensionen des Politischen (Polity, Politics, Policy) erkennen (wissenschaftssoziologisch korrekter müsste man allerdings sagen: unterschiedliche fachwissenschaftliche Modelle von dieser Interdependenz). An diesen Interdependenzen können Lernende dann auch die Komplexität des politischen Raums erkennen und ihre möglicherweise überzogenen Ansprüche an die Politik senken, indem sie begreifen, dass es das perfekte politische System nicht geben kann, sondern man sich oft mit Second-BestLösungen abfinden muss – was allerdings nicht von vorneherein bedeutet, dass z.B. die heutige Polity der BRD oder der EU nicht zu verbessern wäre. Im Rahmen solcher institutioneller Interdependenzanalysen können Lernende dann z.B. argumentieren, dass die politische Durchsetzbarkeit einer persönlich für effizient und gerecht erachteten Institution A auf einem bestimmten Politikfeld (Policy) von der Ausgestaltung des politischen Rahmens (Polity), d.h. einer übergeordneten Meta-Institution B abhängt und dass es deshalb möglicherweise klug sein könnte, sich in einem ersten Schritt zunächst für die Änderung der Meta-Institution B im Polity-Bereich einzusetzen und erst anschließend in diesem Rahmen auch eine Umsetzung von Institution A im Policy-Bereich zu verfolgen. Beispielsweise argumentieren viele Autoren wie z.B. Rodden (2007), McGann (2006) und Iversen/Soskice (2006), dass sich das Policy-Ziel eines stark ausgebauten Sozialstaates in einem Polity-System mit proportionalem Wahlrecht viel besser durchsetzen lässt als in Systemen mit Mehrheitswahlrecht. Wie z.B. der Fall Neuseeland zeigt, sind derartige, bewusste konstitutionelle Änderungen der Polity durchaus möglich. Kaiser (2002) weist an mehreren OECD-Länderbeispielen aus der jüngeren Zeit nach, dass bedeutende konstitutionelle Änderungen nicht `utopisch´ sein müssen. Was heute utopisch scheint, kann morgen schnell zur Selbstverständlichkeit, ja gar zum `Sachzwang´ werden. Wer hätte z.B. im Jahr 1990 gedacht, dass das deutsche Rentenversicherungssystem zehn Jahre später eine paradigmatische Reform erleben wird, die jene Mitte der 90er Jahre in der Politologie florierenden Theorien von einer vermeintlich zwangsläufigen „Pfadabhängigkeit“ (Pierson 2001) sozialpolitischer Institutionen widerlegt hat (Seeleib-Kaiser 2004)?
4.4.2 Reflexion über mögliche (kontraintuitive) Nebenfolgen Bei der Erörterung der oben angesprochenen institutionellen Reformen des politischen Systems, aber auch von gewöhnlichen Policy-Reformvorschlägen ist die Möglichkeit von unbeabsichtigten, eventuell kontraintuitiven, aber relevanten Nebenfolgen (Klafki 1996, 64), d.h. nicht intendierten Effekten von gestaltungspolitischem Handeln in Rechnung zu stellen, welche die Zielsetzungen der politisch Handelnden konterkarieren können. Dieses Ziel wird sowohl in den Standards der Ökonomikdidaktik (DEGÖB 2004, 7) als auch in jenen der Politikdidaktik (GPJE 2004, 16) betont, hat aber insbesondere in der Soziologie eine ausgesprochen lange Tradition (z.B. Merton 1936; Boudon 1982; Greshoff / Kneer /
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Schimank 2003; Böschen/Kratzer/May 2006). Fachdidaktisch ist diese Kategorie von erheblicher Bedeutung, weil viele Bürger derartige Zusammenhänge bei gestaltungspolitischem Handeln häufig nicht oder nur sehr unzureichend berücksichtigen, wie Dörner (2003) experimentalpsychologisch gezeigt hat. Zu dieser Thematik zählt z.B. die für das obige Beispiel im vorherigen Unterkapitel relevante These, wonach die für ein proportionales Wahlsystem typischen Koalitionsregierungen zwar den Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Strukturen befördern (s.o.), zugleich aber auch die Neigung zu nicht nachhaltiger Staatsverschuldung erhöhen (Süßmuth/Weizsäcker 2006). Die Zunahme von Arbeitslosigkeit durch die Einführung eines (zu hohen) Mindestlohns (Sinn 2008a), ein Rückgang des Angebots an Wohnraum infolge von Preisbindungen bei Mietwohnungen (Homann/Suchanek 2005, 234f.) oder die Erhöhung der Bereitschaft zum Eingehen übergroßer ökonomischer Risiken bzw. zur Nachlässigkeit bei deren Prüfung infolge der staatlichen Rettung von bankrotten Finanzinstituten und/oder Unternehmen (Cowen 2008; Vives 2008) stellen weitere mögliche, zu berücksichtigende Ausprägungen nicht-intendierter Handlungsfolgen dar. Ebenso kann man z.B. auf dem Feld der Entwicklungspolitik die gegenüber konventionellen gestaltungspolitischen Ansätzen kritische Argumentation von Easterly (2006), die zu mehr Bescheidenheit und weniger Planungseuphorie mahnt, didaktisch dazu nutzen, möglicherweise unterkomplexe bzw. überzogene gestaltungspolitische Erwartungen an westliche Entwicklungshilfeleistungen (Sachs 2005) mit Blick auf deren mögliche kontraintuitive negative Nebenwirkungen zumindest kritisch zu reflektieren (für weitere Beispiele siehe Kapitel 6 + 7). Aufgrund des Gesagten sind die Strukturschemata von Albers (1995) und Henkenborg (2001), die diesen gerade für einen gestaltungsorientierten Bildungsprozess äußerst wichtigen Aspekt (kontraintuitiver) Nebenfolgen nicht explizit enthalten, entsprechend zu ergänzen. Freilich darf dies nicht dazu führen, dass im Unterricht jegliches hierarchisches politisches Gestalten auf Makro-Ebene unter Generalverdacht gestellt wird und ungeplante Gesellschaftsemergenz `von unten´ durch spontanes Handeln auf Mikro-Ebene als stets bevorzugenswerte Alternative betrachtet wird. Vielmehr zeigen z.B. Glaeser/Shleifer (2001), dass der Aufstieg des regulatorischen Staats in den USA am Beginn des 20. Jahrhunderts nicht zuletzt darauf zurückzuführen war, dass sich die bis dahin übliche Vermittlung von entsprechenden Konflikten in der Wirtschaft (bzgl. Arbeitsunfällen, Produktsicherheit etc.) durch dezentrale Rechtssprechung als in sehr hohem Maße anfällig für Korruption und Einschüchterungsversuche durch die Industrie erwies und so quasi zur juristischen Verdoppelung der existierenden ökonomischen Ungleichheit führte.
4.4.3 Offenheit für gestaltungspolitische Kontroversität Die Bildungskonzeption von Klafki, die den bildungstheoretischen Ausgangspunkt der hier entwickelten gestaltungsorientierten Fachdidaktik bildet, will die Schülerinnen nicht mit Patentlösungen für Schlüsselprobleme versorgen, sondern will sie vielmehr nach der Verallgemeinerungsfähigkeit verschiedener Lösungskonzepte fragen lassen und mit ihnen die Gründe (Interessen, Sozialisationsschicksale, Wertvorstellungen) für die Existenz verschiedener Lösungsvorschläge klären (1996, 61f.). Das darin zum Ausdruck kommende Prinzip der Kontroversität (Engartner 2008) spielt in Form des sog. Beutelsbacher Konsens
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in der Politikdidaktik eine derart fundamentale Rolle, dass es als „Grundgesetz der Politikdidaktik“ (Petrik 2007, 24) bezeichnet wird. An dieser Stelle scheint sich jedoch ein Gegensatz zur Ökonomikdidaktik aufzutun, denn dieser wird von Seiten der Politikdidaktik (z.B. Breit 2006, 104; Detjen 2006a, 77; Massing 2006, 83f.; Scherb 2005, 117) aber auch von Seiten der sozialwissenschaftlichen Didaktik (Hedtke 2002a) vorgeworfen, dass Kontroversitätsprinzip zu missachten. Vertreter der Ökonomik-Didaktik haben diese Kritik zurückgewiesen. Das Indoktrinationsverbot stelle kein Proprium der politischen Bildung dar, sondern werde auch von der ökonomischen Bildung anerkannt (Kaminski 2001, 51; 2007, 4 & 6). In Übereinstimmung damit betonen manche Vertreter der ökonomischen Bildung nachdrücklich die hohe Bedeutung der Vermittlung eines Verständnisses von Ambivalenzen und Zielkonflikten bei der Thematisierung von gestaltungspolitischen Lösungsvorschlägen (Dubs 2001, 4f.). Allerdings sehen andere Vertreter der ökonomischen Bildung eine zentrale Kompetenz des Lehrers darin, nicht alle gestaltungspolitischen Positionen als gleichwertig anzuerkennen, sondern für sich und gegenüber Schülern zwischen wissenschaftlichen Mehrheits- und Minderheitenmeinungen zu unterscheiden (Krol/Loerwald/Zoerner 2006, 13). Diese Kompetenz soll sogar in die Standards für die ökonomische (Lehrer-)Bildung aufgenommen werden. Dabei wird jedoch nichts darüber ausgesagt, welche fachwissenschaftliche Mehrheitsmeinung jeweils den Ausschlag geben soll. Soll z.B. bei gestaltungsorientierten Fragen zum Themenbereich Arbeitsmarkt die Mehrheit der Wirtschafts-, Industrie- und Arbeitssoziologen den Ausschlag geben? Oder würden Betriebs- und Volkswirtschaftler auch hinzugezogen? Würde man bei gestaltungsorientierten Fragen zum politischen System nur die Mehrheit unter den Konstitutionenökonomen eruieren oder würden auch Vertreter der Politikwissenschaft einbezogen? Des Weiteren wird von Krol/Loerwald/Zoerner (2006) nicht begründet, warum bzw. ab welcher Prozentschwelle fachwissenschaftliche Mehrheitsmeinungen von vorneherein als höherwertig angesehen werden können. Kann man den fachwissenschaftlichen Diskussionsprozess tatsächlich ohne weiteres als herrschaftsfreien Diskurs im Sinne von Habermas ansehen, in dem sich der zwanglose Zwang des qualitativ besseren Arguments und Belegs durchsetzt, sodass man gegenüber Schülern den Eindruck erwecken darf, dass fachwissenschaftliche Mehrheit zumindest höchstwahrscheinlich auch fachwissenschaftliche `Höherwertigkeit´ bedeutet? Oder spielen z.B. bei der Akzeptanz von zur Veröffentlichung in angesehenen wirtschaftswissenschaftlichen Journals eingereichten Zeitschriftenbeiträgen (deren Anzahl für Entscheidungen über Berufungen bekanntlich eine große Bedeutung besitzt) auch andere, machtpolitische Faktoren eine Rolle wie z.B. die Übereinstimmung mit disziplin-intern dominanten Denk-Konventionen? Laut dem Ökonomen Frey (2003a; 2005) ist eher letzteres der Fall. Seiner Ansicht nach kommt man bei einer ökonomischen Anreizanalyse der institutionellen Organisation des Gutachterverfahrens in den Wirtschaftswissenschaften zu dem Schluss, dass die disziplinär etablierten Gutachter (bei denen es sich überwiegend um die in der jeweiligen Subdisziplin führenden Forscher handelt) aufgrund ihrer eigennützigen (Reputations-)Interessen eingereichte Beiträge in hohem Maße danach bewerten, ob diese Beiträge eine Wertschätzung für den von den ihnen repräsentierten, etablierten Mainstream ausdrücken und diese Mehrheitsmeinung (und damit auch die individuellen Schriften der „nicht selten mimosenhaft empfindlichen“ Gutachter) nicht kritisieren (Frey 2005, 170). Neuerungen würden häufig schon als solche abgelehnt; die Forderungen der Gutachter seien ausgeprägt in Rich-
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tung auf die Erhaltung bestehender Vorstellungen verzerrt. Dies führe zu einer dem akademischen Fortschritt und der wissenschaftlichen Originalität neuer Beiträge von jungen Wissenschaftlern äußerst abträglichen „intellectual prostitution“ (Frey 2003a, 218) der jungen Forscher, die aus Karrieregründen unter großem Veröffentlichungszwang stünden und daher stark dazu neigen würden, die intellektuellen Konventionen der alteingesessenen Wissenschaftler zu reproduzieren. Leider handele es sich dabei nicht nur um eine vorübergehende „Prostitution auf Zeit“ (ebd.), da die jungen Wissenschaftler die von den Forderungen der Gutachter verkörperten Konventionen nach und nach internalisieren und sich im Laufe der Zeit durch die Produktion konformer Artikel ein spezifisches Reputationskapital aufbauen würden, dessen nachträgliche Zerstörung auf dem Höhepunkt der eigenen Karriere aus eigener Sicht wenig sinnvoll sei. Schließlich sind auch Ökonomen nicht vor dem Problem des Gruppenzwangs in Expertenzirkeln gefeit („Groupthink“), auf welches der Sozialpsychologe Irving Janis (1972) hingewiesen hat. Demnach sind wissenschaftliche Experten in solchen Gremien sehr darum bemüht, die eigenen Gedanken einer (un)bewussten Selbstzensur zu unterziehen, um möglichst wenig von den etablierten Meta-Konventionen der eigenen Profession (z.B. Rationalität der Marktteilnehmer, Effizienz von Finanzmärkten) abzuweichen und die soziale Anerkennung in der Scientific Community nicht zu verlieren. Die Ökonomen Shiller (2008) und Baker (2008) vertreten die These, dass dieser gruppenpsychologische Mechanismus ein wichtiger Grund dafür gewesen sei, dass nur eine sehr kleine Minderheit der US-Ökonomen die Immobilienblase in den USA als solche erkannte und rechtzeitig vor einer Krise warnte, während die Mehrheit der US-Ökonomen davon bis zum Platzen der Preisblase 2007/2008 nichts wissen wollte: “Just apply economics to the economists. The honchos in the profession (Paul Krugman excepted) said everything was fine. Agreeing with the honchos will never get you in trouble. You will never lose your job or even miss a promotion because you made the same mistake as all the leading lights in the profession. On the other hand, if you go against the honchos and end up being wrong, well you should be prepared to be sent to oblivion. You are obviously a raving lunatic who has no business being taken seriously as an economist. Even when you end being right against the honchos you can't count on any great reward, since the honchos so control the profession and the media that `nobody could have seen´ will be repeated at least frequently as the fact that some people did see.” (Baker 2008)
Angesichts des oben Gesagten ist die obige Forderung von Krol/Loerwald/Zoerner (2006), verschiedene gestaltungsorientierte wissenschaftliche Positionen mit Blick auf Mehrheitsund Minderheitsmeinungen als nicht gleichwertig darzustellen, zumindest hochgradig fragwürdig und wird hier abgelehnt, da dies eine unreflektierte Expertengläubigkeit befördern kann, die Klafki (1996, 171) ja gerade ablehnt. Gestaltungsorientierte Urteilsfähigkeit im Sinne von Kapitel 3 kann vielmehr dadurch gefördert werden, dass die Lehrerin gestaltungspolitische Theorien aus den Sozialwissenschaften gemeinsam mit den Schülern unvoreingenommen daraufhin komparativ evaluiert, a) inwieweit sie jeweils ihre Thesen begründen können, b) wie plausibel die dafür herangezogenen Argumente sind, c) inwieweit sie ihre Thesen und Argumente durch empirische Untersuchungen belegen können und d) inwiefern angemessen auf Einwände der Gegenseite eingegangen wird. Diese Erörterung sollte grundsätzlich offen sein für gestaltungspolitische Theorien aus allen Sozialwissenschaften, da man so ggf. unterschiedliche disziplinär dominante Konventionalismen einan-
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der gegenüberstellen kann, sodass sie sich wechselseitig irritieren können und man so eine angesichts der Kritik von Frey (2003a, 2005) fragwürdige Reproduktion disziplinärer Konventionalismen im Unterricht vermeiden kann. Dies ist freilich nur dann möglich, wenn sich in einer Disziplin zu einem bestimmten Thema auch gestaltungspolitisch relevante Theorien finden. Aus diesem Grund folgt die hier entwickelte gestaltungsorientierte Fachdidaktik der Maxime, dass im Lernbereich der Mitbestimmungsfähigkeit disziplininterne und transdisziplinäre Kontroversen aufzugreifen sind, sofern sie gestaltungspolitische Relevanz besitzen (und nur dann – siehe zur Begründung Kapitel 3). Dabei sind suggestiv wirkende Hinweise auf Mehrheits- und Minderheitsmeinungen bestenfalls dann legitim, wenn zuvor oder zugleich mit den Schülerinnen kritisch über das Verhältnis von Mehrheit, `Wahrheit´, Gruppenzwang und Macht in den Sozialwissenschaften reflektiert worden ist/wird. Infolgedessen wird hier grundsätzlich davon ausgegangen, dass die gestaltungsorientierte Frage danach, was als Lebensqualität, als lebenswerte Gesellschaft (Steinmann 1997, 9) in einem bestimmten gesellschaftlichen Teilbereich (z.B. Politisches System, Wirtschaftsordnung) gelten soll, nicht einfach auf der Hand liegt. Vielmehr kann diese normative Frage oberhalb des freiheitlich-demokratischen Basiskonsenses (Petrik 2007, 200) sozialwissenschaftlich umstritten sein. In diesen Fällen besteht die zentrale Aufgabe einer gestaltungsorientierten Fachdidaktik darin, systematisierend und kontrastierend zu klären, welche verschiedenen sozialwissenschaftlichen gestaltungspolitischen Vorstellungen von einer lebenswerte(re)n Gesellschaft sich bezüglich eines bestimmten sozialen Teilbereichs unterscheiden lassen, wo genau die Differenzen zwischen diesen gestaltungspolitischen Vorstellungen liegen und wie es um die theoretische Plausibilität und empirische Evidenz von Thesen und Argumenten bestellt ist, damit die Lernenden eine angemessene Entscheidung zwischen diesen treffen können oder aber ihre jeweils persönliche Synthese bilden können. Dabei sollte den Lernenden im Zusammenhang mit der für die gestaltungsorientierte Fachdidaktik entscheidenden Frage nach der lebenswerten Gesellschaft exemplarisch verdeutlicht werden, dass die zur Beantwortung dieser Frage herangezogenen Urteilskriterien unterschiedlich ausgelegt werden (können). Beispielsweise existiert kein sozialwissenschaftlich `richtiges´ sozialphilosophisches Gerechtigkeitsprinzip für die Gestaltung einer Gesellschaft – sei es nun die Verfahrensgerechtigkeit des klassischen Liberalismus (Hayek 1971; Vanberg 2006), die Startchancengleichheit des Sozialliberalismus (Hoffmann 2006; Grözinger/Maschke/Offe 2006) oder die Lebenschancengleichheit der Theorie der Sozialen Demokratie (Meyer 2005). Ebenso gibt es keine `richtige´ Definition von dem Sinn, auf den das recht grobe fachdidaktische Urteilskriterium der Effizienz genau abzielen soll17 (z.B. die Maximierung des (nationalen) BIP-pro-Kopf-Wachstums, d.h. des Wohlstands an kommerziell erstellten Gütern und Dienstleistungen (Von Weizsäcker 2002), die Maximierung der negativen Freiheit des Individuums (Von Hayek 1971), die Maximierung sowohl von negativer als auch positiver Freiheit des Individuums (Meyer 2005), die Maximierung von Zeit-Wohlstand 17 Kritisch könnte man einwenden, dass der Effizienzbegriff als Maximierung des Quotienten aus Output (BruttoNutzen) und Input (Brutto-Kosten) ökonomisch exakt festgelegt ist. Aber erstens weichen ordnungspolitische Argumentationen nun einmal davon ab bzw. gehen darüber hinaus, indem sie auf die weiteren oben genannten Größen rekurrieren. Zweitens ist ordnungspolitisch umstritten, um welche Outputs und Inputs es gehen soll: Kommerziell erstellte Güter und Dienstleistungen, freie Zeit, durchschnittliches Wohlbefinden, Freiheit, Gleichheit etc.
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(Rinderspacher 2002; Goodin/Rice/Parpo/Eriksson 2008) oder die Maximierung des über Befragungen ermittelten durchschnittlichen menschlichen Wohlbefindens (Layard 2005) etc.). Daneben gibt es weitere diesbezüglich relevante Indikatoren wie z.B. die Arbeitslosenquote oder die Gefängnisinsassenquote, die beide im Vergleich der OECD-Länder erheblich differieren18. Jedenfalls sollte eine gestaltungsorientierte sozialwissenschaftliche Fachdidaktik insbesondere im Bereich der ökonomischen Bildung einen ökonomistischen Bias dergestalt vermeiden, dass man sich explizit oder implizit ausschließlich auf ökonomische Kennziffern i.e.S. wie Einkommens- und Wirtschaftswachstum fixiert, wie es in Teilen der Wirtschaftswissenschaft unreflektierte Gewohnheit ist. Daher sollten bei der Auseinandersetzung mit sozialwissenschaftlichen Positionen zum einen implizite, nicht offen dargelegte Prämissen von Effizienz und Gerechtigkeit freigelegt und zum anderen explizite, einseitige, verabsolutierte Prämissen von Effizienz und Gerechtigkeit durch wechselseitige Relativierung in wissenschaftlichen Argumentationen irritiert werden, sodass Lernende zu der Einsicht gelangen, dass verschiedene Effizienz- und Gerechtigkeitskonzepte in einer freiheitlichen, offenen, pluralen Gesellschaft kontrovers diskutiert werden (können). Auch bezüglich des partiell spannungsreichen Verhältnisses der Urteilskriterien untereinander, d.h. z.B. auf die Frage, ob ökonomische Effizienz und wirtschaftliche Freiheit wichtiger als soziale Gleichheit/Gerechtigkeit sei, gibt es nicht die sozialwissenschaftlich `richtige´ Antwort. Man kann z.B. zu dem Schluss kommen, dass Effizienz und Freiheit von viel größerer Bedeutung sind und nur absolute Armut verhindert werden sollte. Genauso legitim ist es allerdings, wenn eine Gesellschaft sich dafür entscheidet, einen geringeren Durchschnittseinkommenszuwachs mit größerer sozialer Gleichheit zu verbinden (Kirchgässner 1995, 183f.). Wie sowohl aus dem Strukturschema von Albers (1995) als auch von Henkenborg (2001) deutlich hervorgeht, soll der gestaltungsorientierte Bildungsprozess dementsprechend in Einklang mit den Maximen des Beutelsbacher Konsens und der Bildungstheorie von Klafki (1996) durch den Vergleich von alternativen sozialwissenschaftlichen Lösungsmöglichkeiten und ihren voraussichtlichen Konsequenzen geprägt sein – sofern diese vorhanden sind. In diesem Fall werden verschiedene sozialwissenschaftliche Konzepte zur institutionellen Gestaltung einer lebenswerten Gesellschaft in einem bestimmten sozialen Teilbereich miteinander verglichen, sodass sie sich wechselseitig irritieren und kritisieren und so auf ihre blinden Flecke sowie potentielle Gefahren hinweisen können. Kontroversität ist jedoch nicht nur geeignet, wie man meinen könnte, ungebührliche Monopolisierungen zu unterbinden, d.h. eine illegitime normative Überwältigung der Schüler im Sinne einer von einer Lehrerin/Fachdidaktikerin gewünschten Meinung zu vermeiden. Kontroversität kann zugleich auch zur Auflösung/Verhinderung von technokratischen Illusionen und von naivem politischen Gestaltungsoptimismus genutzt werden. Mit Hilfe sozialwissenschaftlicher Kontroversität – sofern vorhanden – kann ein fachdidaktisches System von `Checks and Balances´ konstituiert werden, in dessen Rahmen allzu optimistische Erwartungen und damit verbundene allzu überschwängliche Begeisterungen für bestimmte gestaltungspolitische Reformen – oder für den Status Quo – durch die Förderung eines Verständnis der Kategorien Ambivalenz und Unsicherheit gedämpft werden. Der Lerneffekt des Ganzen (die vergleichende Übersicht über verschiedene Ansätze) übersteigt in diesem Sinne hierbei die Summe der Lerneffekte seiner Teile (die einzelnen Ansätze). Denn durch den Prozess der wechselseitigen Kritik, den die Fachdidaktik durch direkte 18
Siehe http://www.kcl.ac.uk/depsta/rel/icps/world-prison-population-list-2005.pdf
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Gegenüberstellung von gestaltungsorientierten Theorien oft genug erst in Gang setzen muss (denn viele, insbesondere interdisziplinäre Kontroversen werden in der Fachwissenschaft oft gar nicht oder kaum explizit ausgefochten, da sich deren Vertreter nicht selten wechselseitig ignorieren), können die Schüler erkennen,…
…dass jeder einzelne von diesen Ansätzen oft dazu neigt, bestimmte Sachverhalte einseitig zu interpretieren, sodass der Vergleich zeigt, dass man eine Institution aus vielen Perspektiven betrachten kann, die jede für sich teilweise berechtigt ist
…dass sich nicht selten unaufhebbare Zielkonflikte auftun und bestimmte Institutionen vielfältige Wirkungen auslösen können und somit in ihrer Gesamtwohlfahrtswirkung ambivalent sein können
…dass jeder Ansatz dazu tendiert, ungewisse (un)beabsichtigte Nebenwirkungen der von ihm empfohlenen politischen Maßnahmen zu übersehen oder ungebührlich herunterzuspielen
…dass die Ansätze auf unterschiedlichen kontingenten (d.h. im strikten sozialwissenschaftlichen Sinne nicht definitiv zu entscheidenden) normativen Schwerpunktsetzungen basieren
…dass die von einem Ansatz jeweils siegesgewiss durch komplexe statistische Verfahren empirisch abgesicherten Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge trotzdem nicht selten unsicher sind, da andere Ansätze mit ebenso ausgefeilten statistischen Methoden bisweilen zu ganz anderen empirischen Ergebnissen kommen
Durch die komparative Zusammenschau verschiedener sozialwissenschaftlicher gestaltungspolitischer Theorien kann der Schüler also etwas erfahren, was ihm jeder einzelne Ansatz als solcher nicht verrät: Ansätze zur Umgestaltung von Gesellschaft (aber auch solche, die den Status Quo verteidigen) neigen jeder für sich nicht selten dazu, die Unsicherheit und die Ambivalenz von Sachverhalten/Institutionen und ihren Wirkungen zu vernachlässigen. Sie sind deshalb mit Vorsicht bzw. eigenständiger Reflexion (Klafki 1996, 62) zu genießen, und zwar auch dann, wenn sie im Gewand der Wissenschaft daherkommen. Im Anschluss an Klafkis (1996, 171) Verständnis von kritischer Wissenschaftsorientierung kann der Lernende auf diese Weise vor naiv-technokratischer Wissenschaftsgläubigkeit und einem unkritischen Vertrauen in Expertenaussagen bewahrt werden. Zusammengenommen kann so jene Geisteshaltung gefördert werden, die der Ökonom Mankiw (2008) seinen Studenten empfiehlt: “It is best to consider all knowledge as tentative. The best scholars maintain an openmindedness and humility about even their own core beliefs. Excessive conviction is often a sign of insufficient thought, which in turn may be derived from a certain pig-headedness. Intellectual maturity comes when you can maintain the right balance between informed belief and honest skepticism.”
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Darüber hinausgehend kann den Lernenden durch Kontroversität verständlich werden, dass sozialwissenschaftliche Vorschläge, die sich (implizit oder explizit) mit der Frage nach einer lebenswerten Gesellschaft beschäftigen, oft nicht wertneutral argumentieren, sondern dass diese Argumentationen durch vom jeweiligen Wissenschaftler hochgeschätzte (Interpretationen von) Werte(n) und Geringschätzung anderer (Interpretationen von) Werte(n) geprägt sind (was manche Beiträge offen legen, andere hingegen nicht). Spürt man im Anschluss daran den aufgezeigten sozialwissenschaftlichen Konflikten auch im politischen Raum nach (die sich dort von den grundlegenden Wertideen her betrachtet in ähnlicher, vereinfachter Form wiederfinden lassen), kann die Schülerin auch lernen, warum übermäßiger politischer Gestaltungsoptimismus nicht angebracht ist. Der Grund hierfür liegt schlicht darin, dass der politische Raum eine Auseinandersetzung zwischen verschiedenen, grundsätzlich legitimen, nicht in eine sozialwissenschaftliche Rangordnung zu bringenden Grundwerten bzw. kontingenten Interpretationen von diesen Grundwerten (und den damit verbundenen Interessen) darstellt, die sich gegenseitig mehr oder weniger bekämpfen und sich so notgedrungen oft wechselseitig politisch blockieren.
4.5 Das Strukturschema der gestaltungsorientierten sozialwissenschaftlichen Bildung Integriert man nun die beiden obigen Strukturschemata aus der Politikdidaktik (Henkenborg (2001; Sutor 1984, 72ff.) und der Ökonomikdidaktik (Albers 1995; Weber 1997) unter besonderer Betonung der oben ausführlich diskutierten kritischen Aspekte, ergibt sich das folgende Strukturschema für den auf gestaltungsorientierte Urteilsfähigkeit (im Sinne von Kapitel 3) abzielenden sozialwissenschaftlichen Unterricht: 1.
Problematisierende Gegenwartsanalyse: Was ist (das Problem)? Wie wird der Status Quo interpretiert und erklärt? Existieren diesbezüglich gestaltungspolitisch relevante sozialwissenschaftliche Kontroversen oder nicht? 1.1. Institutionen: Welche Institutionen bzw. welches institutionelle System existiert derzeit und wie funktionieren sie, d.h. wie kanalisieren/prägen/beeinflussen sie das Verhalten der Akteure? Welche sozialen Prozesse und Strukturen werden dadurch ausgelöst bzw. hervorgerufen? 1.2. Problem(e): Was wird an diesen Institutionen/Prozessen/Strukturen als problematisch wahrgenommen? Welches Problem, die die Qualität des menschlichen Zusammenlebens insgesamt bzw. für eine soziale Gruppe erheblich gefährdet, wird durch bestimmte Institutionen hervorgerufen? Welche (negativen) Folgen sind mit diesem Problem für die Lebensqualität der beteiligten sozialen Gruppen jeweils verbunden? Welches Ausmaß hat das Problem bis jetzt angenommen? 1.3. Problemdefinition(en): Ist die Problemdefinition konsensual oder existieren vor dem Hintergrund unterschiedlicher normativer Zielvorstellungen unterschiedliche Problemwahrnehmungen in der Sozialwissenschaft bezüglich des betreffenden Politikfeldes?
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1.4. Ursachen: Welche unterschiedlichen Ursachedeutungen existieren bei einer geteilten Problemdefinition bzw. welche Ursachen werden für das jeweils wahrgenommene Problem verantwortlich gemacht? Inwieweit wird von sozialwissenschaftlicher Warte aus paradoxerweise (an Machterhalt und/oder Partikularinteressen ausgerichtetes) politisches Handeln in der Vergangenheit selbst für die Entstehung und/oder Verschärfung des Problems verantwortlich gemacht (Politikversagen)? 2.
Komparative Optionsanalyse: Was ist möglich? Welche gestaltungspolitischen Alternativen zum Status Quo existieren? Existieren diesbezüglich sozialwissenschaftliche Kontroversen oder nicht? 2.1. Alternativen: Welche Alternativvorschläge zu den gegenwärtigen Institutionen zwecks Problemlösung oder -minderung können in der Sozialwissenschaft identifiziert werden? 2.2. Argumente: Mit welchen Argumenten werden diese Vorschläge begründet? 2.3. (Konfligierende) Ziel- und Wertvorstellungen: Welche (impliziten) Ziel- und Wertvorstellungen liegen den Alternativvorschlägen zugrunde? Welche normativen Zielkonflikte werden dabei im Vergleich deutlich? 2.4. Empirische Unsicherheit/Ambivalenz: Inwiefern zeigt bereits der Vergleich der Alternativvorschläge die empirische Unsicherheit von Ursache-WirkungsZusammenhängen und/oder die Ambivalenz der Wirkungen von Institutionen auf?
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Evaluative Entscheidungsanalyse: Was soll sein? Für welche gestaltungspolitische Option entscheide ich mich und wie begründe ich diese Entscheidung? 3.1. Urteilskriterien: Welches sind die wichtigsten Urteilskriterien bzw. Indikatoren, anhand denen man exemplarisch den Status Quo und die Alternativvorschläge hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf das Ausmaß und die Verteilung von Lebensqualität komparativ evaluieren sollte? Inwieweit werden die Urteilskriterien (wie z.B. `Gerechtigkeit´) dabei in unterschiedlicher Weise interpretiert? 3.2. Konsequenzen: Welche Konsequenzen sind mit den vorgeschlagenen Alternativen voraussichtlich für welche sozialen Gruppen verbunden? 3.3. Interessenkonflikte: Welche kurz- und langfristigen Interessenkonflikte zwischen verschiedenen Gruppen werden bei der vergleichenden Analyse der Konsequenzen des Status Quo und der Reformvorschläge deutlich? Sind `Win-WinLösungen´ möglich? 3.4. Unbeabsichtigte Nebenfolgen: Erzeugen die alternativen Vorschläge möglicherweise unbeabsichtigte Nebenfolgen?
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Dieses Strukturschema ist ein kategoriales Instrument zur gestaltungsorientierten, sozialwissenschaftlichen Analyse der in Kapitel 3 aufgeführten sechs Schlüsselprobleme. Das Strukturschema ist jedoch nicht als fixes chronologisches Prokrustesbett zu verstehen, in das man die Unterrichtsgestaltung zu jedem Themenbereich passgenau hineinzwängen sollte, sondern stellt eine Orientierungshilfe dar. Dies bedeutet, dass die genaue Reihenfolge zumindest der Unterpunkte grundsätzlich flexibel ist. Es handelt sich also um eine Aufzählung didaktisch wichtiger Inhaltsaspekte, die selbständig in eine sinnvolle Sequenz zu bringen sind, welche je nach Lehrperson und/oder Thema unterschiedlich sein kann. Die drei zentralen Bestandteile als solche (Was ist? – Was ist möglich? – Was soll sein?) sind hingegen für den gestaltungsorientierten sozialwissenschaftlichen Unterricht unverzichtbar. Das vorliegende Strukturschema könnte von Seiten der Politikdidaktik die Frage provozieren, ob damit das dort prominente Modell des Politikzyklus abgelehnt wird. Erstens besteht aus Sicht der gestaltungsorientierten sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik infolge der starken Fokussierung auf den politischen Prozess eine (wenngleich nicht zwangsläufige) Gefahr des Politikzyklus-Modells darin, dass ausschließlich oder auch nur vorwiegend solche Lösungskonzepte thematisiert werden, die von den beteiligten Parteien oder Interessengruppen vorgebracht wurden, wohingegen solche sozialwissenschaftliche Lösungsvorschläge, die für die Richtung des politischen Prozesses keine Rolle gespielt haben, unbeachtet bleiben, eben weil diese für das Verständnis der Richtung des politischen Prozesses ohne Bedeutung sind. Dies könnte z.B. auf Lösungsvorschläge der Institutionenökonomik zutreffen, die aus sachlicher Sicht diskussionswürdig sind, politisch aber dennoch marginal bleiben, weil sie möglicherweise wenig geeignet sind, Wahlen zu gewinnen. Für eine gestaltungsorientierte Fachdidaktik ist jedoch wie ausgeführt eine reflektierte Urteilsfähigkeit von zentraler Bedeutung, die die zumeist mehr oder weniger populistisch angehauchten Vorschläge von Parteien und Interessengruppen unter Rückgriff auf sozial-
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wissenschaftliche – auch institutionenökonomische – Lösungskonzepte und deren Begründung kritisch reflektieren kann. Wenn man das Politikzyklus-Modell verwendet, muss also sichergestellt sein, dass analysiert wird, welche sachlich ernstzunehmenden wissenschaftlichen Lösungskonzepte im politischen Prozess ignoriert werden und warum. Dies darf kein untergeordneter Aspekt unter vielen anderen sein, sondern muss einen zentralen Eckpunkt der jeweiligen Unterrichtsreihe bilden. Zweitens besteht aus Sicht der gestaltungsorientierten sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik ein zentrales Manko des Politikzyklus-Modells (neben der problematischen Definition des Politikbegriffes, s.o.) – so wie es heute in der Politikdidaktik dargestellt wird – darin, dass kein Platz für das eigenständige Urteil der Schülerin bzgl. der Frage bleibt, was politisch in Zukunft zur Lösung eines bestimmten Schlüsselproblems getan werden sollte. Jedenfalls findet sich in den entsprechenden Darstellungen der Politik-Didaktik keine einzige entsprechende Schlüsselfrage, die nach diesem persönlichen Urteil der Schülerin fragt (siehe Breit et al. 1994, 33ff.; Detjen/Kruber 2007, 26ff.). Dieses Problem hängt damit zusammen, dass sich das Politikzyklus-Modell der Politik-Didaktik implizit (wenngleich nicht zwangsläufig, s.u.) durch eine starke Vergangenheits-Orientierung auszeichnet. Wie man an den Schlüsselfragen leicht erkennen kann, sollen nämlich in der Vergangenheit stattgefundene politische Prozesse gedanklich nachvollzogen werden. Gestaltungsorientierte sozialwissenschaftliche Fachdidaktik betont jedoch – aus den in Kapitel 3 genannten bildungstheoretischen Gründen –, dass das als großer Vorzug des Modells gepriesene Aufzeigen des Prozesscharakters von Politik (ebd., 27f.) keinen Selbstzweck darstellen sollte. Um die genannten problematischen Aspekte zu beheben, kann man den Politikzyklus in das obige Strukturschema integrieren, indem man einen weiteren Unterpunkt zu Schritt 1 hinzufügt, dessen kategoriale Leitfrage nach der bisherigen politischen Bearbeitung des Schlüsselproblembereiches in der Vergangenheit fragt. Die strukturelle Darstellung dieser Vergangenheit kann sich dann an das bekannte Phasenmodell des Politikzyklus anlehnen. Dadurch liesse sich zugleich die Kategorie Evolution aus dem Kategorien-Katalog von Hedtke (2006a, 221) in das obige Strukturschema eingliedern. So würde z.B. eine Unterrichtsreihe zur Alterssicherung ihren Anfang dann nicht bei der heutigen demografischen Problematik (also ab Mitte der 80er Jahre) nehmen, sondern bei dem Problem der Altersarmut in der unmittelbaren Nachkriegszeit (also ab Anfang der 50er Jahre) oder aber – wenn sehr viel Zeit zur Verfügung steht – Mitte des 19.Jahrhunderts, also in den Jahren vor der Begründung der Gesetzlichen Rentenversicherung durch Bismarck (1889). Freilich ist der Einbau einer solchen historisch orientierten kategorialen Leitfrage in den ersten Schritt des obigen Strukturschemas kein Selbstzweck, zumal die historische Bildung in erster Linie Gegenstand des Faches Geschichte ist. Folglich sollten Umfang und Intensität, mit der dieser Frage in einer Unterrichtsreihe nachgegangen wird, strikt abhängig davon sein, wie wichtig die Ausbildung eines Verständnisses des historischen Politikzyklus eines Schlüsselproblembereiches für die Entwicklung zukunftsgerichteter gestaltungsorientierter Urteilsfähigkeit ist. So würde etwa im vorliegenden Beispiel die Besprechung der Adenauerschen Rentenreform von 1957 durchaus Sinn machen, weil die Schülerinnen daran sehr gut die Relevanz von gestaltungsorientierten Kategorien wie unbeabsichtigte Nebenwirkungen, machtpolitische Durchsetzbarkeit und Politikversagen sowie die Notwendigkeit der Vorsicht beim politischen Handeln erkennen können. Denn bekanntlich erwies sich die damalige Adenauersche Selbstgewissheit („Kinder kriegen die Leute doch immer“) und seine Absicht, die anstehenden Bundestagswahlen zu gewinnen („Müssen Sie die Wahl
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gewinnen oder ich?“)19 sowie seine damit begründete Zurückweisung des alternativen Renten-Reformvorschlags aus der Sozialwissenschaft (sog. „Schreiber-Plan“, vgl. Schreiber 1955) aus der Sicht vieler Sozialwissenschaftler als ein historischer Fehler, die für das heutige Demografie-Problem verantwortlich gemacht wird (vgl. dazu Kapitel 6.3.2.2.).
4.6 Zwischenfazit Resümierend lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass ein gestaltungsorientierter Unterrichtsprozess in einem bestimmten Themenbereich jeweils auf eine fachdidaktische Integrationstechnik angewiesen ist, die sozialwissenschaftliche Wissenselemente in einer Art und Weise aufeinander bezieht, dass die in der sozialwissenschaftlichen Forschung zu einem bestimmten Teilbereich existierenden gestaltungspolitischen Zielkonflikte und die dahinter stehenden kontroversen Problemwahrnehmungen und/oder Ursachendeutungen sowie mögliche divergierende Interpretationen von Urteilskriterien (wie z.B. Gerechtigkeit) erkennbar werden. Sie sollte also die darin zum Ausdruck kommende sozialwissenschaftlich ambivalente Einschätzung von Institutionen und darauf gerichteten gestaltungspolitischen Vorhaben verdeutlichen können. Darüber hinaus sollte diese Integrationsweise Überlegungen hinsichtlich der kulturellen und machtpolitischen Durchsetzbarkeit und der Angemessenheit von gestaltungspolitischen Optionen ermöglichen, mögliche (unbeabsichtigte) Nebenfolgen bestimmter Gestaltungsvorschläge sichtbar werden lassen und politisches Handeln nicht nur als potentiell problemlösend, sondern auch als potentiell problemverursachend darstellen können. Des Weiteren sollte die Integrationstechnik in der Lage sein, gestaltungspolitisch relevante (möglicherweise kontroverse) Zusammenhänge zwischen Polity, Politics und Policies zu erörtern. Welcher der eingangs genannten Integrationsansätze diese komplexe Aufgabe am ehesten zu bewältigen vermag oder ob ein vierter Ansatz benötigt wird, kann an dieser Stelle noch nicht festgestellt werden. Vielmehr muss zur Vorbereitung der Auseinandersetzung mit ebendieser Frage zunächst geklärt werden, wie das in diesem Kapitel konstruierte abstrakte strukturelle Gerüst inhaltlich konkret gefüllt werden kann, um das in Kapitel 3 ausgegebene Ziel gestaltungsorientierter Urteilsfähigkeit zu verfolgen. Als erster Ausgangspunkt dazu bietet sich das von Petrik (2007) ausgearbeitete Schlüsselkonzept der politischen Grundorientierungen/Gesellschaftsbilder an. Denn dieses Konzept beinhaltet eine übersichtliche, kategoriale, zweidimensionale Systematik von übergreifenden politischen, aber auch in den Sozialwissenschaften zu findenden Denk-Schulen, mit deren Hilfe man im Unterricht die auf den ersten Blick chaotische Welt zahlloser politischer Einzelurteile zunächst systematisch ordnen kann und mit deren Hilfe man sich dann auf kontroverse Weise mit den Leitfragen des obigen Strukturschemas beschäftigen kann, sodass das gesamte Urteilsspektrum zu diesen Fragen abgedeckt wird. Auf diese Weise kann die Ausbildung eines jeweils kohärenten, in sich stimmigen, aber gleichwohl reflektierten politischen Weltbilds als wesentliches Element gestaltungsorientierter Urteilsfähigkeit bei den Lernenden gefördert werden.
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Vgl. Dött (2005, 6) zu diesen Zitaten des ehemaligen Bundeskanzlers Konrad Adenauer.
5 Orientierungsmodelle als inhaltliche Basis gestaltungsorientierter Urteilsfähigkeit Orientierungsmodelle als inhaltliche Basis gestaltungsorientierter Urteilsfähigkeit
Um das in Kapitel 4 erstellte fachdidaktische Strukturschema auf die in Kapitel 3.2. identifizierten sechs bildungsrelevanten Themenbereiche zwecks Förderung von gestaltungsorientierter Urteilsfähigkeit anwenden zu können, bietet sich der Rückgriff auf die Wissensstrukturen von gestaltungspolitischen „Orientierungsmodellen“ (Petrik 2007, 199ff.) an. Denn diese ermöglichen eine kontroverse, systematische Auseinandersetzung mit den im Strukturschema aufgeführten Fragestellungen. Ein gestaltungspolitisches Orientierungsmodell ist eine klar geordnete Übersicht über eine bestimmte Anzahl von unterschiedlichen „Gesellschaftsbildern“ / „politischen Grundorientierungen“ (Petrik 2007, 218ff.; 237), hier gestaltungspolitische Perspektiven genannt. Diese Perspektiven sind gestaltungsorientiert ausgerichtet, d.h. sie stellen jeweils ein kohärentes, sowohl analytisch als auch normativ geprägtes (und zugleich umstrittenes) Aussagensystem hinsichtlich der Frage bereit, wie ein bestimmter gegenwärtiger gesellschaftlicher Teilbereich funktioniert und wie dessen institutionelles System (um)gestaltet werden sollte, um dadurch bestimmte ökonomische und/oder politische Ergebnisse zu begünstigen, d.h. um eine jeweils paradigmenspezifisch konzeptualisierte Zielvorstellung von gesellschaftlichem Allgemeinwohl20 nachhaltig zu steigern. Gestaltungspolitische Perspektiven interpretieren und kritisieren die gegenwärtige institutionelle Ausgestaltung der Gesellschaft (auf unterschiedliche Weise) und machen (unterschiedliche) Aussagen darüber, wie eine lebenswerte Gesellschaft ihrer Ansicht nach aussieht und wie der Lebenswert der gegenwärtigen Gesellschaft gesteigert/gesichert und `gerecht´21 verteilt werden könnte. Im Rahmen eines gestaltungspolitischen Orientierungsmodells werden diese gestaltungsorientierten Perspektiven systematisch miteinander verglichen (sofern fachwissenschaftlich in einem bestimmten Themenbereich mehr als eine gestaltungsorientierte Perspektive identifiziert werden kann). Im Anschluss an Petrik (2007) wird in dieser Arbeit die – empirisch zukünftig zu prüfende – These vertreten, dass gestaltungspolitische Orientierungsmodelle geeignet sind, gestaltungsorientierte Urteilsfähigkeit im Sinne von Kapitel 3 zu fördern, da sie Lernenden eine didaktisch verarbeitbare Anzahl von möglichen normativen Maßstäben (Urteilskriterien) und daran gekoppelten institutionellen Alternativen vorstellt, mit denen man den gegenwärtigen Ist-Zustand eines gesellschaftlichen Teilbereichs systematisch aus verschiedenen gestaltungspolitischen Soll-Perspektiven evaluieren kann. Durch diesen Vergleich kontroverser gestaltungsorientierter Perspektiven können Lernende ein eigenes (vorläufiges) Gesellschaftsbild entwickeln, d.h. eine in sich zumindest einigermaßen stimmige, aber 20
Dies schließt freilich nicht aus, dass man nach einer tiefergehenden, ideologiekritischen Analyse zu der Ansicht gelangen mag, dass sich hinter der perspektivenspezifischen Konzeption des Allgemeinwohls auch implizite Partikularinteressen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen verbergen können. 21 Dabei wird der Begriff der Gerechtigkeit unterschiedlich interpretiert: z.B. Chancengerechtigkeit, Verfahrensgerechtigkeit oder Verteilungsgerechtigkeit.
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zugleich hinreichend komplexe, d.h. mögliche Ambivalenzen, Nebenfolgen, Unsicherheiten und Zielkonflikte (siehe Kapitel 4.4.3.) von Gestaltungsoptionen reflektierende Anschauung davon, wie (die gegenwärtige) Gesellschaft `funktioniert´, was daran mit Blick auf die persönlich gewählte Soll-Vorstellung vom `Guten und Gerechten´ akzeptabel und/oder defizitär erscheint und wie die Gesellschaft zwecks Bewältigung von Schlüsselproblemen zukünftig institutionell gestaltet werden könnte und sollte, damit gesellschaftlicher Lebenswert gesteigert oder zumindest gesichert wird und `gerecht´ verteilt ist. Die Lernenden können durch die Arbeit mit gestaltungspolitischen Orientierungsmodellen zumindest den ersten Schritt in Richtung auf eine „politische Persönlichkeit“ (Petrik 2007) tun, die über solidarische Mitbestimmungsfähigkeit im Sinne von Klafki (1996) verfügt, d.h. die mit Blick auf ihre eigenen verallgemeinerungsfähigen Interessen und diejenigen anderer Menschen einigermaßen systematisch über die Frage nachgedacht hat, warum sie für welche (wirtschafts-)politischen Ziele mit Hilfe von welchen (wirtschafts)politischen Maßnahmen zur Lösung von welchen Problemen eintritt. Das persönlich favorisierte gestaltungspolitische Gesellschaftsbild, das die Lernende als Kern ihrer politischen Persönlichkeit sich durch den Vergleich und die kritische Diskussion mehrerer gestaltungspolitischer Perspektiven und deren Kontrastierung mit dem Status Quo allmählich aneignen kann, muss dabei keinesfalls identisch mit einem der dabei verwendeten gestaltungspolitischen Perspektiven sein, sondern die Lernende kann sich auch für den Status Quo entscheiden oder – angesichts von möglichen Ambivalenzen und potentiellen Zielkonflikten – auch innovativ und kreativ einzelne Elemente aus den verschiedenen Perspektiven (und dem Status Quo) zu einem genuin individuellen Ansatz neu miteinander kombinieren und diese vielleicht sogar weiter entwickeln, um Ambivalenzen und Zielkonflikte zu mildern. Dabei muss im fachdidaktischen Prozess natürlich darauf geachtet werden, dass die gewählten Elemente aus der einen Gestaltungsperspektive A und einer anderen Gestaltungsperspektive B bzw. dem Status Quo in einer Weise miteinander kombiniert werden, dass sie tatsächlich kompatibel miteinander sind und sich nicht logisch widersprechen. Doch welche Art von gestaltungspolitischen Perspektiven soll man für die fachdidaktische Konstruktion eines gestaltungspolitischen Orientierungsmodells verwenden? Petrik (2007, 158ff.) erstellt ein einziges, (fast) alle gesellschaftlichen Teilbereiche bzw. Schlüsselprobleme (Politik, Wirtschaft, Familie, Religion, Multikulturelle Gesellschaft, Ökologie) umfassendes gestaltungspolitisches Orientierungsmodell, indem er vier unterschiedliche normative Ideologien aus dem sozialphilosophischen Diskurs des 18./19. Jahrhunderts extrahiert, in ein Koordinatenkreuz mit den Polen Soziale Gleichheit – Wirtschaftsfreiheit (x-Achse) und Autorität – Selbstbestimmung (y-Achse) einordnet und systematisch miteinander vergleicht: die Philosophie des Anarchismus von Joseph Proudhon (nordwestlicher Quadrant), diejenige des Konservatismus von Edmund Burke (südöstlicher Quadrant), diejenige des Liberalismus von Adam Smith (nordöstlicher Quadrant) und diejenige des Sozialismus von Karl Marx (südwestlicher Quadrant). Zur grundlegenden Einführung in zentrale Kategorien gestaltungspolitischen Denkens und daran gekoppelte Auseinandersetzungen auf der Sekundarstufe I scheint dieses Vorgehen durchaus denkbar. Ein sinnvolles Instrument zur kategorialen, d.h. politikfeldübergreifenden „Strukturierung des [gestaltungspolitisch] Heterogenen“ (Hedtke 2005a, 28) stellt insbesondere auch die Verwendung des ideologischen Koordinatenkreuzes dar, das ursprünglich vom Politikwissenschaftler Kitschelt (1994, 12) erarbeitet und anschließend von
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Stöss (1997) analytisch erfolgreich auf den politischen Raum in der BRD angewendet worden ist. Denn in einem evaluativen Überblick über verschiedene Strukturierungsmodelle gegenwärtiger gestaltungspolitisch-ideologischer Konflikte hat Fuhse (2004) jüngst gezeigt, dass das Koordinatenkreuz von Kitschelt die heutige ideologische Struktur der „politischen Landschaft“ (ebd.) zurzeit am Besten zu erfassen vermag. Auf der Sekundarstufe II sollte man angesichts des Ziels der Wissenschaftspropädeutik bei der Konstruktion gestaltungspolitischer Orientierungsmodelle jedoch nicht mit historischen Perspektiven aus dem 19. Jahrhundert arbeiten, sondern auf gegenwärtige gestaltungsorientierte Perspektiven aus den Sozialwissenschaften zurückgreifen, um die sechs in Kapitel 3.2. aufgeführten gesellschaftlichen Gestaltungsherausforderungen unter Rückgriff auf heute gängige sozialwissenschaftliche Kategorien (z.B. Externalität), Denkschemata (z.B. Informationsasymmetrie) und empirische Verfahren analysieren und bewerten zu können. Denn eine den Problemlagen sachlich so weit wie möglich angemessene gestaltungsorientierte Urteilsfähigkeit in Bezug auf diese heutigen Problemlagen kann nicht (allein) auf Wissen fußen, welches aus dem 18./19.Jahrhundert stammt, sondern muss den inzwischen erarbeiteten theoretischen und empirischen Erkenntnisfortschritt der Sozialwissenschaften sowie deren erhöhte Standards hinsichtlich des Kriteriums der intersubjektiven Überprüfbarkeit von sozialwissenschaftlichen Behauptungen systematisch berücksichtigen. Dies gilt auch deshalb, weil sich der inhaltliche Charakter der gestaltungspolitischen Herausforderungen infolge dynamischer Weiterentwicklungen der Gesellschaft (Europäisierung des Nationalstaates, Postindustrialisierung der Wirtschaft, Entkolonialisierung, Wertewandel etc.) teilweise gewandelt hat und historische Positionierungen zu bestimmten Gestaltungsherausforderungen vor 150-200 Jahren heutzutage zwar nicht völlig, aber zumindest doch in signifikantem Maße veraltet sind, da sie (notgedrungen) von sozialen Strukturen ausgehen, die in dieser Form heute so nicht mehr existieren. Aufgrund der dynamischen Veränderung der Gesellschaft und damit einhergehender neuer Erfahrungen haben sich auch die gestaltungspolitischen Paradigmen teilweise verändert. Beispielsweise ist es heutzutage nicht mehr angemessen, wie bei Petrik (2007, 239) die Sozialphilosophie des ökonomischen Liberalismus auf der politischen Ebene dem Repräsentationsprinzip, der (sehr problematischen) Gleichsetzung der Wirkungen von politischem und ökonomischem Wettbewerb sowie der Akklamation des freien, (aber ungleichen) politischen Kampfes von Interessenverbänden und Parteien zuzuordnen. Heutige Vertreter des konstitutionellen Liberalismus wie z.B. Vanberg (2006) bzw. solche aus dem 20. Jahrhundert wie z.B. v. Hayek (1971; 1977) würden diese Zuordnung ablehnen, da der heutige konstitutionelle Liberalismus hinsichtlich der Gestaltung des politischen Systems zum einen andere gestaltungspolitische Schwerpunkte (Wettbewerbsföderalismus) setzt und zum anderen die oben aufgeführten gestaltungspolitischen Thesen in dieser Form zurückweist. Vielmehr tritt er dafür ein, den diskretionären Spielraum von temporären Regierungsmehrheiten, deren Handeln er sowohl von partikularistischen Interessen als auch von populistischen Mehrheits-Irrationalismen beherrscht sieht, durch eine starke Verfassung mit umfassender Sicherung auch ökonomischer Freiheitsrechte relativ deutlich einzuschränken (`Konstitutionalisierung´, siehe dazu z.B. Wohlgemuth 2004 und Kapitel 7.1.3.). Zudem sollte die didaktische Frage nach der Gestaltung einer lebenswerten Gesellschaft – auch aus Gründen der kognitiven Komplexitätsreduktion für die Lernenden – zunächst in zentrale problem- und gestaltungsorientierte Themenbereiche (siehe dazu die sechs genannten problemorientierten Themenbereiche in Kapitel 3.2.) ausdifferenziert wer-
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den, die dann jeweils in einem Halbjahr nacheinander vertieft behandelt werden, anstatt diese bereits schon für sich genommen komplexen Themen im Rahmen einer fiktiven Staatsgründung alle mehr oder weniger nebeneinander oder schnell nacheinander zu diskutieren (wie es bei Petrik 2007 geschieht), denn letzteres leistet der Gefahr einer ebenso unsystematischen wie oberflächlichen Urteilsbildung Vorschub – insbesondere bei schwächeren Schülerinnen (Dubs 2001, 7). Für einen themenbereichsspezifischen `PiecemealApproach´ spricht überdies auch die enorme subdisziplinäre, d.h. teilbereichsspezifische Arbeitsteilung innerhalb jeder Sozialwissenschaft seit dem 18./19. Jahrhundert und die damit verbundene starke politikfeldspezifische Spezialisierung der Sozialwissenschaftler. Erst nach tiefgründiger separater Behandlung aller Themenbereiche könnte dann auf sozialwissenschaftlich wirklich informierte Weise in retrospektiv-holistischer Zusammenschau im Unterricht abschließend darüber reflektiert werden, welche institutionelle Gestaltung des gesellschaftlichen Systems als Ganzem persönlich befürwortet wird, d.h. als lebenswert empfunden wird. Darin eingebettet werden müssten Überlegungen zur Kombination und Kompatibilität verschiedener Institutionen in verschiedenen Gesellschaftsbereichen. Dementsprechend besteht die Aufgabe einer gestaltungsorientierten Fachdidaktik in diesem Zusammenhang darin, die gegenwärtige gestaltungsorientierte sozialwissenschaftliche Literatur zu jeweils einem der sechs in Kapitel 3.2. aufgeführten Schlüsselproblembereiche (Politisches System, Wirtschafts- und Sozialsystem, Ökologie, Multikulturelle Gesellschaft, Frieden in der Welt, Entwicklungsländer) zu identifizieren und jeweils systematisch nach gestaltungspolitischen Perspektiven zu ordnen, um so jeweils ein gestaltungspolitisches Orientierungsmodell erstellen zu können. Bezüglich der retrospektiv-holistischen Frage nach der Kombinatorik verschiedener Institutionen in verschiedenen Gesellschaftsbereichen können die themenspezifischen gestaltungspolitischen Orientierungsmodelle (A, B, C,…) dann miteinander verglichen und dabei hinsichtlich möglicher themenbereichsübergreifender ideologischer `Verwandtschaften´ (d.h. hinsichtlich struktureller Ähnlichkeiten hinsichtlich der Argumentation) zwischen einzelnen ideologisch-gestaltungspolitischen Perspektiven (z.B. zwischen A1 und B1, A2 und B2, …) untersucht werden. Für diese Vergleiche eignet sich das von Petrik (2007, 200f.) im Anschluss an Kitschelt (1994) erstellte kategorial-ideologische Koordinatenkreuz als fachdidaktisches Strukturierungsinstrument, mit dessen Hilfe die Schüler zunächst die verschiedenen gestaltungspolitischen Perspektiven in jeweils einem bestimmten Themenbereich anhand ihrer grundlegenden ideologischen Charakteristika politisch verorten und zueinander in Beziehung setzen können. Im Anschluss daran können die Lernenden dann in themenbereichsübergreifender Hinsicht überlegen, welche gestaltungspolitischen Perspektiven ideologisch-strukturell betrachtet eher zueinander passen (z.B. geldpolitischer Neo-Monetarismus und sozialpolitischer Liberalismus), welche eher nicht und welche man im persönlichen Gesellschaftsbild als Grundlage einer politischen Persönlichkeit miteinander kombinieren möchte (z.B. A3, B3, C3, …). In den folgenden Kapiteln 6–7 werden dementsprechend sozialwissenschaftliche gestaltungspolitische Orientierungsmodelle für die ersten beiden Themenbereiche aus Kapitel 3.2. (`Gewährleistung der Effektivität und Legitimität politischer Entscheidungen in Deutschland und der Europäischen Union´ und `Gewährleistung gesamtwirtschaftlichen Wohlstands und sozioökonomischer Gerechtigkeit in Deutschland und der Europäischen Union´) entwickelt, um anhand von diesen exemplarisch zu prüfen, welche Art von fachdidaktischer Integration zur Förderung gestaltungsorientierter Urteilsfähigkeit in welchem Themenbereich geeignet erscheint. Dazu wurde zunächst erstens gemäß dem in Kapitel 3
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erarbeiteten bildungstheoretischen Selektionskriterium des gestaltungspolitisch relevanten Wissens die sich auf der Höhe der Zeit befindende gestaltungsorientierte – und nur diese – sozialwissenschaftliche Literatur zu dem jeweiligen Themenbereich identifiziert. Als nächstes wurde zweitens analysiert, welche gestaltungspolitischen Perspektiven sich angesichts deutlicher normativ-inhaltlicher Unterschiede hinsichtlich ihrer Vorstellung vom Allgemeinwohl bzw. von Wegen zu dessen Erreichung und daraus abgeleiteter institutioneller Gestaltungsvorschläge im jeweiligen Themenbereich voneinander differenzieren lassen. Als Ergebnis dieser vorbereitenden Arbeit wird drittens im Folgenden jeweils im Anschluss an die separate Darstellung der Perspektiven und ihres fachdidaktischen Bildungswerts sowie deren Verortung22 im kategorial-ideologischen Koordinatenkreuz von Petrik (2007, 200f.) konkret illustriert, wie man diese themenbereichsspezifischen Perspektiven unter Rückgriff auf das gestaltungsorientierte Strukturschema aus Kapitel 4 fachdidaktisch jeweils so zueinander in Bezug setzen kann, dass gestaltungsorientierte Urteilsfähigkeit im Sinne von Kapitel 3 gefördert wird. Abschließend wird viertens jeweils die Frage beantwortet, welchem der drei Integrationsansätze dieses Vorgehen am ehesten entspricht. Die deskriptive Was-ist?-Dimension der gesellschaftlichen Teilbereiche, d.h. die dort jeweils gegenwärtig existierende institutionelle Ordnung (z.B. Aufbau des deutschen Sozialstaats) und ihre Historie wird dabei als der Leserin bekannt vorausgesetzt und nur insoweit als Hintergrund dargestellt, wie dies für das Verständnis der jeweiligen themenbereichsspezifischen, normativen Was-soll-sein?-Perspektiven notwendig ist. Damit wird selbstverständlich nicht behauptet, dass die deskriptive Dimension im Unterricht weggelassen werden könnte, da diese natürlich die notwendige Basis für die normative Erörterung der Was-soll-sein?-Frage bildet. Zur deskriptiven Dimension gibt es aber bereits genügend fachwissenschaftliche und fachdidaktische Einführungsliteratur – die hier nun wirklich nicht nochmals referiert werden muss –, wohingegen es keine wirklich umfassenden, aktuellen, interdisziplinären, fachdidaktisch reflektierten und gestaltungsorientiert ausgerichteten Übersichten über verschiedene Denk-Schulen zur normativen `Was-soll-sein?´Dimension der beiden hier analysierten Schlüsselproblemkomplexe gibt. Ebendiese letztere Dimension ist für das von Ökonomik- und Politikdidaktik ausgegebene zentrale Ziel der Urteilsfähigkeit (siehe Kapitel 3.2.2.) jedoch essentiell. Bis hierhin kann noch nichts darüber ausgesagt werden, ob bzw. in welchen Themenbereichen die hier vorgeschlagene gestaltungsorientierte sozialwissenschaftliche Fachdidaktik und deren Frage nach der Gestaltung einer lebenswerten Gesellschaft eher mit dem institutionenökonomischen, dem sozialwissenschaftlichen oder dem politikwissenschaftlichen Integrationsansatz umgesetzt werden kann. Denn es ist möglich, dass es gegenwärtig (in einem bestimmten Themenbereich) nur (ein) institutionenökonomisch argumentierende(s) gestaltungspolitische(s) Paradigma / Paradigmen gibt. Ein rein institutionenökonomisches Orientierungsmodell, das den Status Quo mit (einem) institutionenökonomisch argumentierenden gestaltungspolitischen Paradigma/Paradigmen vergleicht und kontrovers erörtert, würde dann ausreichen. In diesen Fällen könnte man – in Analogie zur These von Fukuyama (1992) – sozusagen von einem (vorläufigen) institutionenökonomischen `Ende der sozialwissenschaftlichen Geschichte´ hinsichtlich der Gestaltungspolitik (in einem bestimmten Themenbereich) sprechen, z.B. 22 Die Beschriftung der 4 Endpunkte der Achsen des ideologischen Koordinatenkreuzes wird dabei abhängig vom jeweils vorliegenden Politikfeld leicht variieren. Dies ergibt sich aus der inhaltlichen Multidimensionalität der 4 Endpunkte, die bereits beim Koordinatenkreuz von Petrik selbst vorliegt (siehe Petrik 2007, 201).
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weil der institutionenökonomische Denkansatz (in diesem gesellschaftlichen Teilbereich) wissenschaftsintern (noch) keine Konkurrenten hat, weil das Wissen ehemaliger Konkurrenten (z.B. AIÖ) angesichts gesellschaftlicher Entwicklungen (z.B. dem Wertewandel und der Individualisierung) veraltet sein mag und bis heute von niemandem erneuert wurde oder weil es zwar rein analytische Konkurrenten zur NIÖ gibt, diese aber kein gestaltungsrelevantes Wissen bezüglich der in Kapitel 3.2. genannten sechs Themenbereiche generieren. Dies ist im Grunde genommen die dem Ansatz von Kaminski (2002) entsprechende These von Karpe/Krol (1997), denen zufolge die Grundstruktur gegenwärtiger Schlüsselprobleme mit Abstand am Besten von institutionenökonomisch abgeleiteten Lösungsvorschlägen bewältigt werden kann und andere analytische Ansätze daher nicht wirklich berücksichtigt zu werden brauchen, zumal eventuell von anderen Disziplinen konstatierte machtpolitische und kulturelle Reformhindernisse (und der Umgang mit ihnen) bereits von der NIÖ selbst – z.B. in Form der Konstitutionenökonomik – als Restriktionen in ihre Analysetechnik integriert worden sind. Dies ist jedoch nur eine interessante Hypothese, die nicht nur behauptet, sondern auch unvoreingenommen geprüft sein will. Genauso gut ist es grundsätzlich möglich, dass es (in einem bestimmten gesellschaftlichen Teilbereich) nur ein oder mehrere politikwissenschaftliche gestaltungspolitisch relevante Perspektiven gibt, die zur Bestimmung einer gemeinwohlorientierten Gestaltungspolitik nur behelfsweise und vereinzelt auf die Ergebnisse anderer Disziplinen zurückzugreifen brauchen, sodass die Politikwissenschaft hier gemäß Aristoteles als fachdidaktische Königsdisziplin anzusehen wäre (so die These von Detjen (2006a) und Scherb (2005)). Dementsprechend könnte man erwarten, dass es auch in erster Linie andere politikwissenschaftliche Ansätze sind, mit denen man am ehesten die machtpolitischen und kulturellen Reformhindernisse und Fallstricke debattieren kann, die den von den Paradigmen gemachten gestaltungspolitischen Vorschlägen entgegenstehen mögen. In diesem Fall müsste man von einem politikwissenschaftlichen Orientierungsmodell sprechen. Schließlich ist es gemäß dem sozialwissenschaftlichen Integrationsansatz denkbar, dass es (in einem bestimmten Politikfeld) mehrere (gleichberechtigte) gestaltungspolitische Paradigmen gibt, von denen der erste/zweite/dritte/vierte sich durch eine in der Politikwissenschaft/Ökonomik/Soziologie dominante bzw. transdisziplinäre Denkweise auszeichnet. Deren gestaltungspolitischen Vorschlägen würden jeweils andere Beiträge aus mehreren sozialwissenschaftlichen Disziplinen gegenüberstehen, die machtpolitische und kulturelle Einwände gegen die gemachten Reformvorschläge vorbringen. In diesem Fall müsste man ein genuin sozialwissenschaftliches Orientierungsmodell erstellen. Konventionell gedacht könnte man auch vermuten, dass der institutionenökonomische Integrationsansatz im Teilbereich `Wirtschafts- und Sozialsystem´ Recht behält, während der politikwissenschaftliche Integrationsansatz im Teilbereich `Politisches System´ zutrifft.
6 Wie kann man ein lebenswertes Wirtschafts- und Sozialsystem gestalten? Wie kann man ein lebenswertes Wirtschafts- und Sozialsystem gestalten?
Zahllose Veröffentlichungen aus der Wirtschafts-, Arbeits- und Industriesoziologie, der Politischen Ökonomie, der allgemeinen Ökonomik und der Institutionenökonomik beschäftigen sich mit einer endlosen Vielzahl von ökonomischen Phänomenen. Bildungsrelevant sind aus Sicht der hier vertretenen gestaltungsorientierten sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik für die Sekundarstufe II im Lernbereich `Mitbestimmungsfähigkeit´ jedoch in erster Linie solche Beiträge, die über die deskriptiv-analytische Ebene hinausgehen und auf einer normativen Ebene gestaltungspolitische Überlegungen darüber anstellen, wie die institutionelle Struktur des (je nach Politikfeld eher (noch) deutschen oder bereits europäisierten) Wirtschafts- und Sozialsystems so gestaltet (bzw. beeinflusst) werden kann, dass ökonomisch-soziale Schlüsselprobleme bewältigt werden und auf diese Weise der (wie auch immer perspektivisch definierte) Lebenswert der Gesellschaft gesteigert bzw. zumindest gesichert wird. Da im Rahmen dieser Arbeit nicht alle Politikfelder des Wirtschafts- und Sozialsystems aufgegriffen werden können, wurden exemplarisch diejenigen drei Politikfelder ausgewählt und bzgl. der eingangs aufgeworfenen Fragestellung untersucht, denen meiner Ansicht nach zur Zeit (Zeitraum 2007/2008) in diesem Themenbereich die größte Bedeutung für das in Kapitel 3 hergeleitete Kriterium der menschlichen Lebensqualität zukommt und die daher eine besonders hohe Bildungsrelevanz aufweisen (die Finanzkrise konnte aus zeitlichen Gründen leider nicht mehr berücksichtigt werden): 1.
das überwiegend (noch) nationale, aber gleichwohl durch europäische Politik beeinflusste Politikfeld der Arbeitsmarktpolitik, weil dieses zwei zentrale gesellschaftliche Probleme, nämlich Arbeitslosigkeit und Armut betrifft. Insbesondere das Problem der Arbeitslosigkeit beeinträchtigt die menschliche Lebensqualität auf massive Weise, weil sie das subjektive Wohlbefinden der Individuen laut einer Reihe von empirischen Untersuchungen in ebenso drastischer wie nachhaltiger Weise senkt (Frey/Stutzer 2002; Layard 2005, 79). Dementsprechend ist die Beseitigung bzw. die Minderung der Arbeitslosigkeit in den Augen der Bevölkerung seit langem mit großem Abstand die dringendste politische Aufgabe, die in Deutschland zu lösen ist23.
2.
das überwiegend (noch) nationale, aber partiell ebenfalls durch europäische Politik beeinflusste Politikfeld der Sozialpolitik (inkl. Familien- und Bildungspolitik), weil dieses zum einen für die verlässliche Absicherung von fundamentalen Lebensrisiken (Armut im Alter, durch Arbeitslosigkeit oder durch Krankheit) und zum anderen für
23
Siehe z.B. http://de.statista.com/statistik/daten/studie/6314/umfrage/dringlichste-probleme-in-deutschland/, abgerufen am 06.08.2009.
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Wie kann man ein lebenswertes Wirtschafts- und Sozialsystem gestalten? die Entfaltung von individuellen Lebenschancen und deren Verteilung eine zentrale Rolle spielt. Soziale Sicherung und Bildungspolitik gehören für die Bevölkerung (nach dem Problem der Arbeitslosigkeit) zu den dringendsten politischen Aufgaben, die in Deutschland zu lösen sind24. Der Art der jeweils betriebenen Bildungs- und Sozialpolitik wird überdies sowohl von gesellschaftlicher als auch von wissenschaftlicher Seite eine große Bedeutung für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung als auch für die Regulierung der sozialen Ungleichheit – als Schlüsselproblem sozialwissenschaftlicher Fachdidaktik (Weber 2004) – zugeschrieben (siehe Kapitel 6.2.). Beide Dimensionen – dynamisches Wirtschaftswachstum und sozialer Ausgleich – besitzen nach Benjamin Friedman (2005) zudem eine erhebliche Relevanz für die soziomoralischzivilgesellschaftliche Pazifierung einer Gesellschaft.
3.
mit einem gewissen Abstand gegenüber den beiden obigen Politikfeldern bzgl. der Bedeutung für die menschliche Lebensqualität folgt das (teilweise europäisierte) Politikfeld der Verbraucherpolitik (inkl. der Wettbewerbspolitik), das aber dennoch ohne Zweifel eine besondere Salienz für das Wohlergehen der Bürger besitzt, weil die Art der getroffenen verbraucherpolitischen Maßnahmen für eine kostengünstige und qualitativ angemessene Befriedigung der ökonomischen Konsumbedürfnisse der Bürger eine erhebliche Rolle spielt, wie man u.a. an den notorischen politischen Diskussionen über die überteuerte Energieversorgung, wiederkehrende Lebensmittelskandale, die Falschberatung von Anlegern etc. erkennen kann.
Nach Analyse der gestaltungsorientierten sozialwissenschaftlichen Gegenwartsliteratur zu diesen drei Themen zeigt sich, dass man den Themenbereich `Wirtschafts- und Sozialsystem´ angesichts seines erheblichen Umfangs nicht in toto, sondern nur exemplarisch anhand von 1 (Grundkurs) bzw. 2 (Leistungskurs) der oben aufgeführten 3 Politikfelder didaktisch in einem Halbjahr behandeln sollte. Dafür spricht schon die Tatsache, dass die Erstellung eines einheitlich-umfassenden gestaltungspolitischen Orientierungsmodells (vgl, Kapitel 5) für diesen Themenbereich aus fachwissenschaftlicher Sicht zumindest fragwürdig erscheint, weil die Mehrheit der heutigen gestaltungsorientierten Sozialwissenschaftler (wenn auch nicht alle), die in diesem Themenbereich forschen, sich zumeist auf lediglich 1 bis 2 der genannten Politikfelder spezialisiert hat. Angesichts dessen erscheint es mir zumindest wissenschaftssoziologisch problematisch zu sein, in diesem Themenbereich die Existenz politikfeldübergreifender ideologischer Perspektiven zu postulieren (wobei es allerdings eine Ausnahme gibt, s.u.). Fachwissenschaftlich ist es angemessener, zwischen den 3 Politikfeldern (A, B, C) zu differenzieren, exemplarisch einen Teil davon zu behandeln (z.B. A und B) und abschließend mit Hilfe des kategorial-ideologischen Koordinatenkreuzes von Kitschelt (1994) bzw. Petrik (2007) über politikfeldübergreifende, ideologisch-strukturelle Ähnlichkeiten / Verwandtschaften zwischen verschiedenen politikfeldspezifischen Perspektiven zu reflektieren (z.B. A² und B²). Entscheidend für ein differenzierendes und dann exemplarisch auswählendes Vorgehen ist jedoch, dass auf diese Weise ein stark in die oberflächlich-enzyklopädische Breite gehendes Lernen besser vermieden werden kann, welches aus Zeitgründen ausschließ24
Siehe vorherige Fußnote.
Wie kann man ein lebenswertes Wirtschafts- und Sozialsystem gestalten?
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lich/vorwiegend die institutionenkundliche und erklärende `Was-ist?´-Ebene behandelt und deswegen die unverzichtbare gestaltungspolitische Urteilsbildung auf der `Was-istmöglich?´ und der `Was-soll-sein?´-Ebene vernachlässigt. So klagen Breit/Weißeno (2003, 25) darüber, dass die in die Tiefe gehende normative Urteilsbildung eine der wichtigsten, aber zugleich leider oftmals vernachlässigten Aufgaben des sozialwissenschaftlichen Unterrichts darstellt. Genau dieses Problem gilt es mit Blick auf das hier zu Grunde gelegte Prinzip des exemplarischen Lernens zu vermeiden, wonach anhand eines begrenzten TeilAusschnittes aus einem bestimmten Wirklichkeitsbereich Erkenntnisse über kategoriale, d.h. typische, generelle Charakteristika dieses Bereichs zu vermitteln sind. Mit der folgenden Darstellung in den Kapiteln 6.1. bis 6.3. wird also nicht behauptet, dass man bei der didaktischen Auseinandersetzung mit dem Wirtschafts- und Sozialsystem alle drei Politikfelder behandeln sollte. Stattdessen sollte man sich gemäß dem Prinzip des exemplarischen Lernens auf zumindest eins (Grundkurs) bzw. zwei (Leistungskurs) der Politikfelder beschränken. Darüber hinaus kann man mit einem solchen Ansatz, der zwischen mehreren Politikfeldern differenziert – im Gegensatz zu einer holistischen Vorgehensweise mit nur einem einzigen gestaltungspolitischen Orientierungsmodell für diesen Themenbereich (z.B. `linke Perspektive´ versus `rechte Perspektive´) –, auch die Herausbildung von relativ unkonventionellen, genuin eigenständigen Weltanschauungen fördern. Denn durch die vorgeschlagene Politikfeld-Differenzierung kann eine Schülerin ggf. in seinem Weltbild auch eine Kombination von unterschiedlichen gestaltungspolitischen Perspektiven vornehmen, die heutzutage eher selten anzutreffen ist (z.B. A² und B³). Beispielsweise könnte sie sich für eine Art `Flexicurity-Denkweise´ entscheiden, die eine stark (neo)liberale Orientierung in dem Politikfeld der Arbeitsmarktpolitik mit einer stark solidarischen Orientierung in dem Politikfeld der Sozialpolitik kombiniert. Warum soll die junge Schüler-Generation unbedingt die eingetretenen dichotomen Ideologiepfade der alten Generation reproduzieren? Das ideologische Koordinatenkreuz von Kitschelt (1994) bzw. Petrik (2007) ist kategorial-analytisch sicherlich wertvoll, doch darf es auf keinen Fall so eingesetzt werden, dass es dem Schüler (implizit) suggeriert, er müsse sich entweder `immer links´ oder „immer rechts“ positionieren. Ebendiese Gefahr besteht jedoch bei einem Verfahren, das wie bei Petrik (2007) mit nur einem einzigen, politikfeldunspezifischen Orientierungsmodell arbeitet. Angesichts dessen werden im Folgenden drei politikfeldspezifische gestaltungspolitische Orientierungsmodelle erstellt. Die unterschiedliche Länge der folgenden fachdidaktischen Sachanalyse der Politikfelder ist der Tatsache geschuldet, dass die sozialwissenschaftliche Literatur zu den Politikfeldern der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik weitaus umfangreicher ist als die Literatur zur Verbraucherpolitik25.
25 Exemplarisch zeigt sich dies z.B. bei der Eingabe entsprechender Schlagwörter in den Katalog der Deutschen Nationalbibliothek (http://dispatch.opac.d-nb.de/DB=4.1/HTML=Y/). Gibt man dort die Begriffe „Arbeitsmarkt“, Sozialpolitik“ ein, erhält man ein ca. Drei- bis Sechsfaches der Treffer als wenn man Begriffe wie „Verbraucherschutz“, „Verbraucherpolitik“ oder „Konsum“ eingibt.
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Wie kann man ein lebenswertes Wirtschafts- und Sozialsystem gestalten?
6.1 Gestaltungsorientierte Evaluation der Arbeitsmarktpolitik Will man die didaktische Behandlung des Politikfeldes `Arbeitsmarktpolitik´ gestaltungsorientiert im Sinne von Kapitel 3 – 5 umsetzen, lassen sich hier derzeit idealtypisch vier unterschiedliche gestaltungspolitische Perspektiven voneinander unterscheiden (siehe auch Abbildung 2 und Tabelle 2): a.
die Perspektive der (von Wirtschaftssoziologen und Politikwissenschaftlern dominierten) Vergleichenden Politischen Ökonomie (VPÖ-Perspektive) (dazu zählen v.a. (ehemalige) Wissenschaftler am MPIfG in Köln, insbesondere Scharpf 2000b & 2006b, Streeck 1998, 2000, 2005; Kenworthy 2008; Höpner 2004; Ganghof/Genschel 2007; Thelen 1999; Manow/Seils 2000), die sich innerhalb des ideologischen Koordinatenkreuzes von Petrik (2007, 200f.) grosso modo im negativen Bereich der x-Achse an der Grenze zwischen unterem und oberem linken Quadranten befindet, weil sie zum einen einer verstärkten sozialpolitischen Umverteilung eine wichtige Rolle bei der Lösung sowohl des Problems der Armut als auch des Problems der Arbeitslosigkeit zuweist, aber zum anderen auf eine Verschärfung von hierarchisch-staatlichen Interventionen sowohl gegenüber Arbeitnehmern (wie bei b)) als auch gegenüber Arbeitgebern (wie bei c)) verzichtet. Die VPÖ-Perspektive und ihr didaktischer Wert werden in Kapitel 6.2.1. näher analysiert.
b.
die (institutionen)ökonomische Perspektive (Berthold/Stettes 2000 & 2001; Dietz 2006; Siebert 1997; Sinn 2005), die sich innerhalb des ideologischen Koordinatenkreuzes von Petrik (2007, 200f.) grosso modo im unteren rechten Quadranten befindet, weil sie zur Bekämpfung von Armut und Arbeitslosigkeit zum einen stark auf einen faktischen Arbeitszwang von Hilfeempfängern (`Workfare´) vertraut und zum anderen den freien, nicht von einem gewerkschaftlichen Tarifkartell behinderten Arbeitsmarkt als bevorzugenswerten Koordinationsmechanismus bei der Verhinderung von Arbeitslosigkeit ansieht sowie sozialstaatliche Umverteilung auf ein Minimum reduziert. Die (institutionen)ökonomische Perspektive und ihr didaktischer Wert werden in Kapitel 6.2.2. näher analysiert.
c.
die Perspektive des ökonomischen Instituts für Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der Universität Duisburg (Bosch/Lehndorff 2001; Bosch/Wagner 2003; Bosch/Weinkopf 2006; Bosch 2003 & 2004; Lehndorff 2001 & 2006), die sich innerhalb des ideologischen Koordinatenkreuzes von Petrik (2007, 200f.) grosso modo im unteren linken Quadranten befindet, weil sie zur Bekämpfung von Armut und Arbeitslosigkeit stark auf hierarchisch-obligatorische Regulationen (Mindestlohn, Ausbildungsabgabe, Arbeitszeitverkürzung) gegenüber den Arbeitgebern setzt und den Staat auch darüber hinaus als einen stark intervenierenden Wirtschaftskontrolleur und –akteur konzipiert, was auch darin zum Ausdruck kommt, dass sie einer Beschäftigungsexpansion im öffentlichen Sektor (v.a. im Betreuungs-, Bildungs- und Gesundheitsbereich) einen zentralen Stellenwert beimisst. Die IAQ-Perspektive und ihr didaktischer Wert werden in Kapitel 6.2.3. näher analysiert.
Gestaltungsorientierte Evaluation der Arbeitsmarktpolitik d.
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eine weitere gestaltungspolitische Option zur Lösung des Armuts- und Arbeitslosigkeitsproblems wird in Beiträgen von Offe (2005, 2008) und Mitschke (2001) vorgestellt. Das dort vorgeschlagene bedarfsgeprüfte, aber ansonsten bedingungslose Grundeinkommen befindet sich im Petrikschen Koordinatenkreuz grosso modo im positiven Bereich der y-Achse und in der Mitte der x-Achse, weil es zum einen den Wert der nicht nur formal-rechtlichen, sondern materiell-faktischen individuellen Selbstbestimmung ohne Erwerbsarbeitszwang in den Mittelpunkt rückt und weil es zum anderen einen Kompromiss zwischen sozialer Gleichheit/staatlicher Umverteilung und Wirtschaftsfreiheit/freier Marktallokation darstellt. Aufgrund ihres begrenzten Umfangs wird diese Position hier nicht in einem eigenen Teilkapitel dargestellt, sondern in Kapitel 6.2.4. an geeigneter Stelle aufgegriffen.
Durch kontrastive Gegenüberstellung dieser vier verschiedenen Perspektiven (bzw. einer exemplarischen Auswahl aus diesen) kann didaktisch kontrovers (Hedtke 2002a) erörtert werden, welche arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und Institutionen geeignet erscheinen, die ökonomische Lebensqualität der Gesellschaft im Hinblick auf die Probleme der Arbeitslosigkeit sowie der Armut/soziale Ungleichheit zu fördern. Dabei geht es didaktisch nicht darum, dass jeder einzelne Problemlösungsvorschlag, jede einzelne Ursachendiagnose, jedes einzelne Argument der Perspektiven im Unterricht thematisiert werden müsste. Deren unten folgende Beschreibung soll vielmehr Optionen aufzeigen, aus denen man auswählen kann, wenn man mit den Perspektiven arbeiten will. Zur Verbindung des politischen und ökonomischen Lernens sollte anschließend analysiert werden (siehe dazu Kapitel 6.1.4.), wo offizielle parteipolitische Positionen in diesem Politikfeld im Koordinatenkreuz zu verorten sind und welcher wissenschaftlichen Perspektive sie nahestehen (wobei zu berücksichtigen ist, dass letztere zumeist eine komplexere Argumentation aufweisen). Die Verortung der Parteien im Koordinatenkreuz entspricht dem Stand vom Sommer 2008.
Staat als ebenbürtige Verteilungsinstanz
Die Linke
Markt als primäre Verteilungsinstanz
Wirtschaftsfreiheit
NIÖ-Perspektive
CDU/CSU/FDP
Staatliche Autorität Hierarchisch-Regulativer Zwang auf… …Arbeitgeber …Arbeitslose
IAQPerspektive
Die Grünen SPD
VPÖPerspektive
Offe / Mitschke
Individuelle ökonomische Selbstbestimmung (durch ein konditionsloses Grundeinkommen)
Perspektiven zur Arbeitsmarktpolitik im ideologischen Koordinatenkreuz von Petrik (2007)
Soziale Gleichheit
Abbildung 1:
Ökonomische Freiheit Zu hohes Lohnniveau
Lockerung des Flächentarifvertragssystems durch eine gesetzliche Öffnungsklausel; Workfare; Erhöhung der Arbeitszeit Staatliche Zuschüsse für Geringverdiener Negativ: Duales System ist ein Tarifkartell
Negativ Senkung der Einkommensteuer
Soziale Gleichheit Regressive Struktur der Finanzierung des deutschen Sozialstaats
Selektive Senkung der Sozialversicherungsbeiträge nur für Niedrigverdiener
siehe obiges Feld
Positiv
Erhöhung der Einkommensteuer
Normativer Schwerpunkt Zentrale Ursache für Arbeitslosigkeit
Lösungsvorschlag zum Arbeitslosigkeitsproblem
Lösungsvorschlag zum Armutsproblem Bewertung des Dualen Systems der Interessenvertretung in der BRD Bewertung der Arbeitnehmermitbestimmung in Großunternehmen Steuerpolitische Haltung
Positiv: Duales System fördert Kooperation zwischen AG & AN
NIÖ-Perspektive
VPÖ-Perspektive
Tabelle 1: Kontroverse Perspektiven zur Arbeitsmarktpolitik
Erhöhung der Einkommensteuer
Positiv
Positiv: Duales System fördert Kooperation zwischen AG & AN
Soziale Gleichheit Unangemessene Verteilung der gesellschaftlich erbrachten Arbeit Erhöhung der Frauenerwerbsquote (Defamilialisierung von Hausfrauenarbeit); Ausbildungsabgabe; Senkung der Arbeitszeit Mindestlohn
IAQ-Perspektive
Keine explizite Bewertung Vorschlag soll steuerneutral sein
Keine explizite Bewertung
siehe obiges Feld
Individuelle Autonomie Der Arbeitsgesellschaft geht die (akzeptabel entlohnte) Arbeit aus Konditionsloses (aber bedarfsgeprüftes) Grundeinkommen
Mitschke / Offe
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Wie kann man ein lebenswertes Wirtschafts- und Sozialsystem gestalten?
6.1.1 Die Perspektive der Vergleichenden Politischen Ökonomie (VPÖ) Ein zentrales Element der Argumentation der Vergleichenden Politischen Ökonomie (VPÖ) zu den Ursachen der Arbeitslosigkeit stellen empirische länderübergreifende Korrelationsanalysen (Scharpf 2000b) dar, in denen eine Forschergruppe am MPIfG in Köln (neben anderen Politologen und Soziologen aus der VPÖ wie z.B. Bradley/Stephens 2006, Kemmerling 2002 und Kenworthy 2004 & 2008) untersucht hat, wie sich die Höhe und die Struktur der Steuer- und Abgabenbelastung auf die Beschäftigungshöhe in verschiedenen wirtschaftlichen Sektoren auswirkt. Es verwundert, dass die Politikdidaktik diese politologisch-soziologische Forschung zu einem, wenn nicht dem zentralen Problem der deutschen Volkswirtschaft in der fachdidaktischen Integrationsdebatte nicht aufgegriffen hat. Ebenso verblüffend ist, dass diese theoretisch und empirisch gesättigte Forschung auch im Handbuch ökonomisch-politische Bildung (Althammer/Andersen/Detjen/Kruber 2007) in den entsprechenden Kapiteln zum Thema Beschäftigung keine Erwähnung findet. An dieser Forschung lässt sich nämlich exemplarisch zeigen, dass die Soziologie/Politikwissenschaft in fachdidaktischer Hinsicht keinen bloßen Zulieferer von außerökonomischen Restriktionen für die Ökonomikdidaktik (Kaminski 2002) darstellt, sondern eigenständige problemorientierte Beiträge zu zentralen Fragen des Wirtschaftslebens liefert, die sich im Gegensatz zu anderweitigen Vermutungen in der Ökonomikdidaktik (ebd.) ohne weiteres mit ökonomischen Analysen zu diesem Politikfeld vergleichen lassen. Zudem ist diese Forschung speziell auf den institutionellen Kontext in Deutschland zugeschnitten und bietet daher eine bedenkenswerte Alternative zu dem üblicherweise empfohlenen, rein wirtschaftswissenschaftlich orientierten Vorgehen, in dem „Schülergruppen mit Materialien versorgt werden, welche die Argumentationsansätze der neoklassischen und der keynesianischen Theorie enthalten.“ (Herdegen 2007, 278) Denn die Forschung der VPÖ ist aus didaktischer Sicht auch deshalb geeignet, weil sie sich nicht mit abstrakten Modellen begnügt und sich insofern zur wissenschaftspropädeutischen Schulung eignet, als sie Schülern einen Einblick geben kann, wie man öffentlich diskutierte Problemstellungen und darauf bezogene populäre Thesen mit Hilfe von differenzierten empirischen Korrelationsanalysen – also mit einer grundlegenden wissenschaftlichen Erkenntnisweise (Klafki 1996, 165) – untersuchen bzw. überprüfen kann. In konstruktivistisch-genetischer Hinsicht kann man die Schüler dabei – natürlich nach einer entsprechenden Vorbereitung – diese Korrelationsanalysen (in einfacher bivariater Form) selbst durchführen lassen (bzw. aktualisierend überprüfen), da die entsprechenden Werte in leicht zugänglicher Form bei der OECD vorliegen (Scharpf/Schmidt 2000, 338-372). So können die Schüler exemplarisch erkennen, was empirische Forschung für die Aufklärung von individuell und gesellschaftlich bedeutsamen Lebensproblemen leisten kann und wo ihre Grenzen liegen (Klafki 1996, 167). Aus Sicht der VPÖ liegt die Wurzel der hohen Arbeitslosigkeit – im Gegensatz zur Annahme der (institutionen)ökonomischen Perspektive – in Deutschland gerade nicht in denjenigen Wirtschaftssektoren, die dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind (dies sind nach OECD-Klassifikation die Sektoren ISIC 1 – 4 (Landwirtschaft und verarbeitendes Gewerbe) und die Sektoren ISIC 5, 7 und 8 (produktionsorientierte Dienstleistungen) – und in denen zugleich die Stärke der Gewerkschaften am höchsten und Flächentarifverträge am weitesten verbreitet sind (Scharpf 2000b, 80; Jochem/Siegel 2000, 56). Im Übrigen sei auch die populäre Annahme, die hohe Steuer- und Abgabenlast in Deutschland würde die
Gestaltungsorientierte Evaluation der Arbeitsmarktpolitik
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ökonomische Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen in diesen Sektoren beeinträchtigen und so Arbeitslosigkeit erzeugen, nicht zutreffend, denn in einer länderübergreifenden empirischen Analyse zeigt sich kein Zusammenhang zwischen der Höhe des prozentualen Anteils der Summe aus Steuern und Sozialabgaben am BIP in einem OECD-Staat und der Beschäftigungsquote in diesen Wirtschaftssektoren (ebd.). In diesen, dem internationalen Wettbewerb ausgesetzten Wirtschaftssektoren liege die deutsche Beschäftigungsquote sogar über dem OECD-Durchschnitt. Von mangelnder internationaler Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft könne daher keine Rede sein: „Was die gegenwärtige Position Deutschlands angeht, so liegt die Beschäftigungsquote im exponierten Sektor immer noch über dem Durchschnitt der Industrieländer (und sogar deutlich über dem amerikanischen Niveau). Mangelnde internationale Wettbewerbsfähigkeit infolge zu hoher Lohn- und Lohnnebenkosten kann also nicht die Ursache unserer langfristigen Beschäftigungsprobleme sein.“ (Scharpf 2004e, 219)
In diesem Zusammenhang kann man auch auf eine wirtschaftssoziologische Studie aus dem MPIfG (Piotti 2007) eingehen, die zeigt, dass der negative öffentliche Diskurs über den „Standort Deutschland“ dessen Nachteile überzogen und die Vorteile anderer Standorte wie v.a. Osteuropa übertrieben habe, da die Zahl der Firmen, die ihren Standort nach Deutschland zurückverlagern, mittlerweile immerhin 20% der Zahl derjenigen Firmen betrage, die ihren Standort im selben Zeitraum ins Ausland verlagern. Empirisch zeige sich, dass diese Rückkehrer (versteckte) Kosten wie z.B. Qualitätsmängel bei der Produktion und niedrige Produktivität am ausländischen Standort sowie die Bedeutung und Spezifizität der Stärken des deutschen Standorts unterschätzen. Angesichts der versunkenen Kosten der Verlagerung dürften auch noch mehr als diese 20%, d.h. viele andere Unternehmen, die ihre Produktion (noch) nicht zurück verlagert haben, unter deutlich schlechteren als von ihnen antizipierten Bedingungen arbeiten. Produktionsverlagerungen ins Ausland könnten also nicht einfach wie von der institutionenökonomischen Perspektive als rationale Entscheidungen gewertet werden, sondern seien besser sozialkonstruktivistisch als Entscheidungen unter Unsicherheit zu betrachten, die stark durch den öffentlichen Diskurs und imitatives Herdenverhalten beeinflusst würden, was im vorliegenden Fall im signifikanten Umfang zu Handlungen geführt hätte, die sich ex post als ökonomisch nicht rational erweisen (Piotti 2007). Die VPÖ-Perspektive kann also das kritische Denken der Schüler fördern, indem sie in der politischen Öffentlichkeit populäre Theorien (hier: über die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft) zu den Ursachen von hoher Arbeitslosigkeit unter Rückgriff auf empirische Daten hinterfragen können (was selbstverständlich nicht heißt, dass sie diese Kritik unkritisch akzeptieren sollen, siehe dazu die institutionenökonomische Perspektive in Kapitel 6.2.2.). Zugleich exemplifiziert die obige Analyse von Piotti (2007) den potentiellen Wert sozialkonstruktivistischer Argumentationen (Hedtke 2002b, 37) für die gestaltungsorientierte fachdidaktische Analyse ökonomischer Sachverhalte. Die auch an den dauerhaften Exporterfolgen ablesbare Stärke der deutschen Wirtschaft in denjenigen ökonomischen Sektoren, die dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind, führt die VPÖ insbesondere auf zwei Institutionen des deutschen Arbeitsmarktes zurück.
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Wie kann man ein lebenswertes Wirtschafts- und Sozialsystem gestalten?
a.
die (quasi)paritätische Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Großunternehmen
b.
das duale System der Interessenvertretung in der BRD.
Im Falle einer Auseinandersetzung mit der VPÖ-Perspektive im Unterricht sollte eine dieser beiden Institutionen exemplarisch herausgegriffen werden und deren normative Bewertung durch die VPÖ mit derjenigen der institutionenökonomischen Perspektive (vgl. Kapitel 6.1.2.) kontrastiert und kontrovers diskutiert werden. Zu a) Vertreter der VPÖ argumentieren, dass die deutschen Mitbestimmungsgesetze als Verkörperung prozedural gerechter Verfahren die Identifikation und die Loyalität der Mitarbeiter mit ihrem Unternehmen erhöhen und damit eine zentrale Voraussetzung für die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen deutschen Arbeitgebern und Arbeitnehmer bilden (Fairness als Bedingung von Effizienz) (Höpner 2004, 10ff.; Streeck 2007, 7f.). Arbeitnehmervertreter verfügten über wichtiges, d.h. aufsichtsratsrelevantes Insider-Wissen über die spezifische Lage und besonderen Probleme des Unternehmens und könnten die Leistungen des Managements daher besser beurteilen als Aktionärsvertreter und externe Analysten alleine. Daher senke Mitbestimmung im Aufsichtsrat den Spielraum des Managements, Rent-Seeking zu betreiben, d.h. aus Opportunismus die reale Unternehmenssituation gegenüber Arbeitnehmern und Aktionären zu verschleiern etc., um sich auf deren Kosten geldwerte Vorteile zu sichern. Zudem übe Mitbestimmung laut empirischen Studien einen dämpfenden Einfluss auf Managergehälter und damit die soziale Ungleichheit aus (Höpner 2004, 29). Daher sei Machtmissbrauch durch das Management im mitbestimmungsfreien angloamerikanischen Kapitalismus stärker ausgeprägt als in Deutschland (ebd., 9f.), sodass prozedurale Gerechtigkeit im deutschen Modell besser gewährleistet sei. Überdies zeige eine Befragung der Vertreter der leitenden Angestellten in den Aufsichtsräten deutscher Großunternehmen, dass die Mehrheit (70-80%) von diesen die Arbeitnehmermitbestimmung als Voraussetzung für eine hohe Umsetzungseffizienz von Entscheidungen ansieht und vermutet, dass ein nicht mitbestimmter Aufsichtsrat zu höheren Konflikten im Umsetzungsprozess führe (Jürgens/Lippert 2005). Der von der institutionenökonomischen Perspektive behauptete Abschlag für mitbestimmte Unternehmen („Mitbestimmungs-Discount“) an der Börse sei empirisch hingegen nicht festzustellen (Höpner 2004; Streeck 2001, 25). Ein weiterer Vorteil der deutschen Mitbestimmungsgesetzgebung bestehe darin, Arbeitnehmern Anreize zur Investition in unternehmensspezifisches Humankapital zu bieten (Estevez-Abe/Iversen/Soskice 2001). Denn sie verhindere, dass Kapitaleigner die ökonomische Abhängigkeit solch speziell qualifizierter Arbeitnehmer von ihrem Unternehmen und ihre dadurch bedingte ungünstige Verhandlungsposition ex post ökonomisch ausbeuten. Trotz ihrer positiven Wirkungen komme Mitbestimmung aber nicht von allein zustande, sondern müsse gesetzlich verankert sein, da das einzelne Unternehmen wegen Ungewissheit bezüglich der Leistungsbereitschaft der einzelnen Stellenbewerber diesen freiwillig keine Mitbestimmungsrechte einräume. Es befürchte, dass die mit der Mitbestimmung verbundenen Schutzrechte v.a. Beschäftigte mit geringer Arbeitsmotivation anzögen. Nur bei gesetzlicher Regelung sei eine solche Adverse Selektion ausgeschlossen. Diese Argumentation ist didaktisch gut geeignet, Schüler exemplarisch mit zwei von den vier zentralen kategorialen Dilemmastrukturen vertraut zu machen, die Kaminski (2002, 63) zu Recht herausstellt, nämlich a) die volkswirtschaftlich förderliche Ausbauar-
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beit spezifischer Investitionen, bei der eingegangene Bindungen und Vorleistungen durch den Opportunismus anderer ausgenutzt werden können und daher ohne weitere Regelungen nicht im ausreichenden Maße zustande kommen und b) die Adverse Selektion infolge von Informationsasymmetrien. Hinzu käme c) noch das ebenfalls lernfeldübergreifende Denkschema des Principal-Agent-Problems. Angesichts dessen verwundert es, dass Kaminski (2006, 310f.) diese Chance in seinem Ökonomie-Schulbuch ungenutzt lässt und stattdessen bloß zwei Meinungen von eigennützigen Vertretern von Interessensverbänden einander gegenüberstellt, obwohl er doch das bloße Aneinanderreihen von bloßen unterschiedlichen Meinungen in seiner fachdidaktischen Theorie vehement ablehnt und als typisch für das – so wörtlich – „Laberfach“ Sozialwissenschaften (Kaminski 2002, 66) ansieht. Für die gestaltungsorientierte Urteilsfähigkeit der Schüler ist es jedoch von zentraler Bedeutung, dass sie die Behauptungen von Vertretern von eigennützigen Interessensverbänden (hier: Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften) unter Rekurs auf theoretische Denkschemata aus der Fachwissenschaft hinterfragen und bewerten können. Zu b) Im Rahmen des dualen Systems der Arbeitsbeziehungen in Deutschland, dass von der VPÖ als grundsätzlich bewahrenswert eingeschätzt wird, werden die Verkaufsbedingungen der Arbeitskraft in überbetrieblichen Flächentarifverträgen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, die Anwendungsbedingungen der Arbeitskraft hingegen zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber auf betrieblicher Ebene ausgehandelt. Eine gestaltungsorientierte sozialwissenschaftliche Fachdidaktik kann also im Falle einer Behandlung dieses Politikfeldes dieses duale System als ein (mögliches) institutionelles Element zur Sicherung einer ökonomisch lebenswerten Gesellschaft diskutieren. Dabei können gemäß der VPÖ folgende Pro-Argumente erörtert werden: Zum einen stärkten Betriebsräte das Vertrauen zwischen Management und Belegschaft, erhöhten die Finanzierung von Weiterbildungsmaßnahmen durch den Betrieb sowie die Bereitschaft, in betriebsspezifisches Humankapital zu investieren (aus denselben Gründen wie bei der Mitbestimmung, s.o.) und verringerten die Fluktuation der Arbeitnehmer, da betriebliche Mitbestimmung zu einer besseren Berücksichtigung von Arbeitnehmerinteressen in der Personalpolitik führe. Zum anderen reduzieren Flächentarifverträge Transaktionskosten, indem sie administrative Größenvorteile ausnutzen, da sie einzelnen Unternehmen den anderenfalls erheblichen bürokratischen und monetären Aufwand bei der Gestaltung der Arbeitsbeziehungen ersparen, denn die Aushandlung und Verwaltung von Haustarifen, Betriebsvereinbarungen und Einzelarbeitsverträgen ist kostspielig (Streeck 1998). Insofern sei der Flächentarif auch ein (bedrohtes) Kollektivgut (Rehder/Streeck 2004, 75), weil auch nicht dem Arbeitgeberverband zugehörige und daher nicht tarifgebundene Unternehmen häufig (als Freifahrer) auf diesen zurückgreifen würden. Im Gegensatz zu den Annahmen der institutionenökonomischen Perspektive zeigten empirische Studien, dass die Bindung an einen Flächentarifvertrag weder einen negativen Einfluss auf die Beschäftigungsentwicklung ausübe noch die Wahrscheinlichkeit erhöhe, dass Industrieunternehmen ihre Produktion ins Ausland verlagern (Bradley/Stephens 2006; Frick/Pietzner 2003). So verweist auch Höpner (2004, 14) auf eine Umfrage unter mittelständischen Unternehmen in Deutschland, die zu dem Ergebnis gekommen ist, dass nur eine sehr kleine Minderheit dieser Firmen laut eigener Aussage das Flächentarifvertragssystem für sich als betriebswirtschaftlich problematisch empfindet. Vielmehr entlaste das Flächentarifvertragswesen die Arbeitsbeziehungen im einzelnen Betrieb weitgehend von Verteilungskonflikten und ermögliche es den Betriebsparteien so,
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sich auf ihre produktive Zusammenarbeit zu konzentrieren und das Sozialkapital im Betrieb zu wahren (Streeck 1998; Hancké/Herrmann 2007; Thelen 1999). In Übereinstimmung mit dieser theoretischen Argumentation der VPÖ zeigen jüngere empirische Studien aus der nicht-orthodoxen Ökonomik (vgl. den Überblick bei Jirjahn 2003, 2005), dass deutsche Betriebsräte ihre Verhandlungsmacht nur dann nicht für bloße Umverteilungsaktivitäten, sondern zum Wohle des gesamten Unternehmens einsetzen, wenn diese Unternehmen tarifgebunden sind. Denn während die Existenz eines Betriebsrates in nicht tarifgebundenen Unternehmen mit einem höheren Lohnniveau, aber nicht mit einem höheren Produktivitätsniveau einhergingen, verhalte es sich bei Tarifbindung des Unternehmens genau umgekehrt, weil die Existenz eines Betriebsrates in diesem Fall die Einführung moderner, nichttayloristischer Produktionskonzepte mit autonomer Gruppenarbeit, monetären Gruppenanreizen, Weiterbildung und regelmäßigen Treffen zwischen Management und Belegschaft begünstige. Dies stärke wiederum die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens und fördere dadurch eine positive Beschäftigungsentwicklung. Insbesondere fördere die Existenz eines Betriebsrates auch arbeitnehmerseitig angeregte inkrementelle Produktinnovationen und stelle damit ein wichtiges Fundament der deutschen Innovationsstrategie dar. Das duale System der Arbeitsbeziehungen stellt somit (zumindest bisher) ein zentrales Element des deutschen Produktionsregimes (Jirjahn 2003), d.h. der deutschen Wirtschaftsordnung dar. Wenn letztere tatsächlich den „archimedischen Punkt“ (Kaminski 2001, 52) ökonomikdidaktischer Bemühungen darstellen soll, dann stellt sich die Frage, warum dieses duale System im Schulbuch desselben Autors (Kaminski 2006, 304ff. & 314ff.) nicht in dieser Form erläutert und diskutiert wird. Wie ich weiter unten belegen werde, führt diese didaktische Leerstelle dazu, ein zumindest undifferenziertes, wenn nicht gar naives gestaltungspolitisches Denken hinsichtlich der hier im Mittelpunkt stehenden Frage nach der Bekämpfung des Problems der Arbeitslosigkeit zu befördern. Aus Sicht der VPÖ gefährdet die von der institutionenökonomischen Perspektive geforderte Dezentralisierung der Lohnverhandlungen die kooperativen Arbeitsbeziehungen auf der betrieblichen Ebene (Thelen 1999, 159-163; ähnlich argumentiert Jirjahn 2003, 659) – zumindest wenn sie in Gestalt einer gesetzlichen Öffnungsklausel26 daherkommt, d.h. nicht von den Tarifpartnern selber auf überbetrieblicher Ebene reguliert wird. Dementsprechend argumentiert der Wirtschaftssoziologe Streeck (2005), dass sich eine gesetzliche Öffnungsklausel, wie sie vom Ökonomen Sinn (2005) gefordert wird, für die deutschen Arbeitgeber als ein Danaergeschenk erweisen würde. Denn eine derartige Reform würde angesichts des zwangsläufig erheblichen juristischen Regulierungsbedarfs eines solchen Abweichungsrechts zu problematischen Folgekosten führen (Beratungen und Diskussionen in zahlreichen Betriebsversammlungen, zu denen auch Gewerkschaftsvertreter zugelassen werden müssen; Belastung des Betriebsklimas infolge der Vertiefung von Fraktionskonflikten innerhalb der Arbeitnehmerschaft; Konflikte zwischen Berufsgruppen, Arbeitgebern und Gewerkschaften um die Abgrenzung der jeweils Wahlberechtigtenkreise; umfangreiche Regulierung und Überwachung der Abstimmungsverfahren und -ergebnisse durch eine spezielle öffentliche Behörde (wie in den USA in Form des National Labor Relations Board); Zunahme von Arbeitsgerichtsprozessen und Entwicklung einer dazugehörigen umfangreichen Rechtssprechung etc.):
26 Eine gesetzliche Öffnungsklausel eröffnet den Betriebsparteien ein gesetzliches Recht auf Unterschreitung der vom Flächentarifvertrag festgelegten Standards bei Zustimmung von 2/3 der Belegschaft und des Betriebsrates.
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„Die Vorstellung, dass Belegschaftsabstimmungen in Deutschland in einer rechts-, gerichts- und behördenfreien Privatsphäre des Arbeitgebers stattfinden könnten, wenn sie dies nicht einmal in den USA können, erscheint absurd. Im Übrigen tun die Arbeitgeber in den USA alles, um derartige Abstimmungen zu vermeiden – nicht, weil sie Angst haben müssten, sie zu verlieren (dazu sind die meisten Beschäftigten zu eingeschüchtert), sondern wegen ihrer hohen materiellen und immateriellen Kosten. (…) Eine gesetzliche Ermöglichung gewerkschaftsfreier `betrieblicher Bündnisse´ wäre ein gigantisches Beschäftigungsprogramm – für die Arbeitsgerichte.“ (Streeck 2005)
Hinzu komme, dass juristisch ungeklärt ist, inwiefern die Einführung gesetzlicher Öffnungsklauseln angesichts des Prinzips der Koalitionsfreiheit verfassungsrechtlich überhaupt zulässig ist27, sodass zumindest ein langandauernder Verfassungsstreit mit jahrelanger Rechtsunsicherheit für die Unternehmen zu erwarten wäre. Angesichts der Tatsache, dass bereits alle wichtigen Flächentarifverträge von den Tarifpartnern regulierte Öffnungsklauseln enthalten würden und somit flexibler als ihr Ruf seien (Rehder/Streeck 2004, 65), könne man sich derartige Transaktionskosten auch sparen. Folglich sollte man diese Thematik didaktisch nicht so einseitig und unterkomplex angehen wie im Ökonomie-Schulbuch von Kaminski (2006, 317), indem man die Schüler einfach nur unkritisch die Thesen eines Expertenbeitrags „Flächentarifvertrag – Wirtschaftsforscher fordert die Abschaffung“ (ebd.) nacherzählen lässt. So kann man gestaltungsorientierte Urteilsfähigkeit nicht fördern. Denn ein solches didaktisches Vorgehen erzeugt bei den Schülern erstens völlig unrealistische gestaltungspolitische Erwartungen, blendet also die unabdingbare Frage nach der politischen und verfassungsrechtlichen Durchsetzbarkeit dieses Ansinnens (Kapitel 4.4.1.) komplett aus, indem es politische und juristische Restriktionen – entgegen der eigenen fachdidaktischen Theorie (Kaminski 2002) – nicht thematisiert. So findet sich noch nicht einmal in den Fragestellungen zu dem Expertenbeitrag eine entsprechende weiterführende Anregung, sich über derartige Restriktionen kundig zu machen – das aber wäre das Mindeste. Denn die politischen und juristischen Restriktionen sind insbesondere für eine „Abschaffung“ des Flächentarifvertrages recht hoch – um nicht zu sagen unüberwindlich. Zweitens begünstigt ein derartiges didaktisches Vorgehen auch dadurch gestaltungspolitische Naivität bei den Schülern, dass die oben aufgezeigten möglichen unbeabsichtigten Nebenwirkungen (Kapitel 4.4.2.) und Transaktionskosten – zwei zentrale fachdidaktische Kategorien – einer „Abschaffung“ des Flächentarifvertrags im genannten Schulbuch nicht einmal andiskutiert werden. Stattdessen wird naive Expertengläubigkeit (Klafki 1996, 171) gefördert, indem nur die Ansicht eines `Experten´ vorgestellt wird. Nebenbei sei gesagt, dass es keineswegs nur wirtschaftssoziologische `Experten´ gibt, die die Vorteile des Flächentarifvertrages betonen, sondern auch wirtschaftsliberal eingestellte Ökonomen, die eine differenziertere Betrachtung anmahnen, indem sie ebenfalls auf Transaktionskosten der Dezentralisierung aufmerksam machen sowie auf die Möglichkeit, dass Dezentralisierung auch zu einer Verschärfung der Insider-Outsider-Problematik auf dem deutschen Arbeitsmarkt führen könnte (so Fitzenberger/Franz 2000). Deshalb ist es aus Sicht einer gestaltungsorientierten sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik hier – auch zwecks Wahrung des Prinzips der Kontroversität – erforderlich, das 27 Siehe dazu auch „Die Grenzen der Flexibilisierung. Der Tübinger Jurist Wernhard Möschel über juristische Bedingungen von Arbeitsmarktreformen.“ In: Süddeutsche Zeitung vom 23.07.2003, S. 24.
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mehrdimensionale pro und contra der beiden gestaltungspolitischen Optionen (Bewahrung des Flächentarifvertrags in der heutigen Form vs. Einführung einer gesetzlichen Öffnungsklausel) offen zu diskutieren und hinsichtlich ihrer Folgen gegeneinander abzuwägen, sodass Schülern die (möglichen) Grenzen gestaltungspolitischer Steuerungsversuche bzw. deren (mögliche) Komplexität bewusst werden können (Kapitel 4.4.). Genau dies ist durch eine Gegenüberstellung der in diesem Kapitel vorgestellten Perspektive der VPÖ und der institutionenökonomischen Perspektive im nächsten Kapitel möglich. Wenn also wie oben erläutert aus Sicht der VPÖ das deutsche Beschäftigungsproblem nicht in den Wirtschaftssektoren ISIC 1-5 und 7-8 nach OECD-Klassifikation (Landwirtschaft, Energieversorgung, Bauwirtschaft, Industrie, Verkehr, Kommunikation, Banken/ Versicherungen und Unternehmensdienstleistungen) begründet liegt, wo dann? Empirisch zeige sich, dass der Ursprung der hohen deutschen Arbeitslosigkeit paradoxerweise in denjenigen Dienstleistungssektoren zu verorten sei, die vor dem internationalen Wettbewerb geschützt seien, und zwar insbesondere im sog. ISIC 6, den konsumorientierten privaten Dienstleistungen, die lokal erbracht und konsumiert werden, also z.B. Groß- und Einzelhandel, Restaurants, Hotels, Gärtnereien, Wäschereien etc. Hier falle die deutsche Beschäftigungsquote im internationalen Vergleich stark unterdurchschnittlich aus (Scharpf 2000b & 2006b; Manow/Seils 2000; Höpner 2004, 19). Ausschlaggebend für das Problem der deutschen Massenarbeitslosigkeit sei nicht die Höhe der gesamten Steuer- und Abgabenbelastung, sondern deren Struktur: der deutsche Sozialstaat würde im Gegensatz zu den wirtschaftlich erfolgreichen Ländern in Skandinavien zu stark durch regressive Sozialabgaben und zu wenig über progressive Einkommenssteuern finanziert (ebd., 337). Dies sei nicht nur verteilungspolitisch, sondern auch beschäftigungspolitisch problematisch. Denn in einer länderübergreifenden empirischen Analyse zeige sich, dass von regressiven Sozialversicherungsabgaben und regressiven Mehrwertsteuern sehr kräftige negative Beschäftigungseffekte auf den Sektor der konsumorientierten Dienstleistungen (ISIC 6) ausgehen (Scharpf 1997 & 2000b; Streeck 2000; Jochem/Siegel 2000; Manow/Seils 2000; Meyer 2005, 330ff.; Höpner 2004, 19). Gerade in diesem Sektor mit seinen überwiegend `einfachen´ Arbeitsplätzen könnten auch geringqualifizierte Arbeitskräfte Beschäftigung finden, die den Kern des deutschen Arbeitslosigkeitsproblems bilden. Die theoretische Erklärung für diesen empirischen Zusammenhang liege darin, dass es deutschen Unternehmen im ISIC 6 – im Gegensatz zum verarbeitenden Gewerbe – angesichts dessen naturgemäß geringen Produktivitätssteigerungspotentials nicht möglich sei, die hohe Sozialabgabenlast in Höhe von 40% des Bruttolohns durch eine höhere Arbeitsproduktivität auszugleichen. Dies wird auf das sog. Uno-Actu-Prinzip bei diesen Dienstleistungen zurückgeführt, wonach Produktion und Verbrauch dieser Leistungen notwendigerweise orts- und zeitgleich in ein- und derselben Handlung stattfinden müssen. Konsumbezogene Dienstleistungen könnten im Gegensatz zu industriellen Gütern weder transportiert noch gelagert werden: all dies schränke – im Gegensatz zum verarbeitenden Gewerbe – Möglichkeiten zur produktivitätssteigernden Automatisierung und Technisierung stark ein. Und eine entsprechende Senkung der Löhne – so die Lösung des Problems in den USA – zur Kompensation der hohen Sozialabgabenlast sei normativ nicht wünschenswert, da dies selbst bei staatlichen Zuschüssen zu Netto-Niedriglöhnen (Working Poor) führen werde. Ebenfalls sei es – im Gegensatz zu den anderen Dienstleistungssektoren mit hohem Qualifikationsniveau – im ISIC 6 auch nicht möglich, als Kompensation der geringeren Produk-
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tivität entsprechend höhere Preise von den Kunden zu verlangen, weil diese als teuer empfundenen Angebote dann von potentiellen Kunden durch Eigenarbeit, die Nutzung von Schwarzarbeitsangeboten oder Technisierung substituiert würden. Für dieses Phänomen prägte der Soziologe Gershuny (1981) den Begriff der „Selbstbedienungsgesellschaft“: man macht z.B. billige Tiefkühlkost warm anstatt ins teure Restaurant zu gehen, man schafft sich eine Waschmaschine an anstatt die Wäscherei zu nutzen usw. Die Heilung dieser sog. „Kostenkrankheit der Dienstleistungen“ (William Baumol) zwecks Schaffung von Arbeitsplätzen in diesem Sektor sieht die VPÖ deshalb in einer rein auf Niedriglöhne konzentrierten Senkung der Sozialversicherungsabgaben (bei gleichzeitiger Wahrung der Sozialleistungsansprüche) (Scharpf 2000b + 2006b; Streeck 2000; Ganghof 2004, 25 & 165; Beckert 2001, 52f.; Meyer 2005, 348; Kenworthy 2008, 279 & 283). Dies könne – analog zum Einkommenssteuersystem – durch Einrichtung eines echten Freibetrags und einer Progressionszone im Sozialversicherungssystem geschehen, wie es z.B. in den Niederlanden in Form der Integration der Sozialabgaben in den Einkommenssteuertarif durchgeführt worden sei (Scharpf 2000b, 81; Streeck 2000, 19). Während der vom IAQ (vgl. Kapitel 6.1.3.) empfohlene Mindestlohn die „Kostenkrankheit“ nur noch weiter verstärke, würde ein Freibetrag und eine Progressionszone im Sozialversicherungssystem dafür sorgen, dass Niedrigqualifizierte sowohl einen angemessenen Nettolohn verdienen als auch genügend Arbeitsplätze finden würden, sodass zugleich die in Deutschland brachliegende Binnennachfrage gestärkt würde, weil Geringverdiener eine höhere Konsumquote aufweisen (Scharpf 2006b). Für eine derartige Reform der deutschen Sozialstaatsfinanzierung sprächen somit verteilungs- als auch beschäftigungspolitische Effekte. Denn im Vergleich zu der öffentlich i.d.R. proklamierten allgemeinen, gleichmäßigen Senkung der Lohnnebenkosten für alle Arbeitseinkommen erziele die empfohlene gezielte, d.h. nur auf Niedriglöhne konzentrierte Lohnnebenkostensenkung nach empirischen Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg einen dreifach höheren positiven Beschäftigungseffekt (Streeck 2000, 20). Die auf Niedriglöhne fokussierte Senkung der Sozialversicherungsabgaben und die dadurch bewirkte progressive Gestaltung des heute einkommensproportionalen Sozialabgaben-Tarifs erzeugen Einnahmenausfälle in den Sozialversicherungskassen. Diese sollen durch staatliche Zahlungen an die Sozialversicherungen ausgeglichen werden, die mittels einer Erhöhung des Einkommensteuersatzes auf hohe Verdienste finanziert werden sollen (Scharpf 2004a; Kenworthy 2008, 283). Entgegen der notorischen Einkommenssteuerentlastungsdebatte in Deutschland gäbe es hierfür sehr wohl erheblichen Spielraum, wie insbesondere der Vergleich mit den skandinavischen Staaten zeige, denn die sehr niedrige deutsche Einkommensteuerquote (11% des BIP) betrage nicht einmal die Hälfte Schwedens (23% des BIP) bzw. Dänemarks (29% des BIP) (Scharpf 2006b; ähnlich Grözinger 2007). Zudem sei die deutsche Steuer- und Abgabenbelastung deutlich regressiver als in den skandinavischen Staaten. Wie Ganghof (2004, 166) unter Bezug auf OECD-Daten zeigt, liegt die Grenzsteuerbelastung (unter Einbezug sämtlicher Steuern und Abgaben) von deutschen Gering- und Durchschnittsverdienern um etwa 10 Prozentpunkte über derjenigen von skandinavischen Gering- und Durchschnittsverdienern. Demgegenüber liegt die Grenzsteuerbelastung von deutschen Gutverdienern um 15 Prozentpunkte unter derjenigen von skandinavischen Gutverdienern. Dies soll durch Anhebung der Steuerprogression in Deutschland korrigiert werden, denn das derzeitige deutsche System widerspräche dem normativen Prinzip der Belastungsgerechtigkeit (Streeck 2000, 18).
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Aus Sicht einer gestaltungsorientierten Fachdidaktik eignet sich die Auseinandersetzung mit dem Kern dieser Argumentation im Unterricht – neben den bereits oben angeführten Argumenten – auch deshalb, weil sie eine theoretisch klar begründete und empirisch unterfütterte Problemdiagnose mit einem eindeutigen gestaltungspolitischen und wissenschaftlich fundierten Vorschlag verbindet, wie die hohe Arbeitslosigkeit in der BRD zwecks Steigerung der gesellschaftlichen Lebensqualität abgebaut werden kann. Der sozialwissenschaftliche Unterricht kann auf diese Weise – wie in der gestaltungsorientierten Grundlegung in den Kapitel 1 – 5 gefordert – strikt problem- und lösungsorientiert ausgerichtet werden. Dabei wird auch die kategoriale Bildung nicht vernachlässigt, denn die Schüler lernen z.B. in den ökonomischen Kategorien Kosten, Nutzen, Produktivität, Sektoren und soziale Ungleichheit (und deren Bezug zu unterschiedlichen Abgabenstrukturen) zu denken. Überdies werden sie mit zentralen Elementen und Strukturen des deutschen Wirtschaftssystems und des deutschen Steuer- und Abgabenrechts bekannt gemacht – aber nicht als deskriptiver Selbstzweck, sondern mit striktem problem- und gestaltungsorientiertem Fokus. Zudem bietet die stark sektoral ausgerichtete Argumentation der VPÖ die didaktische Option, gleichzeitig das Thema „Sektoraler Strukturwandel“ mit zu behandeln, und zwar nicht nur auf eine rein deskriptiv-analytische Art und Weise (wie z.B. bei Schlösser 2007), sondern mit einem deutlichen problem-, lösungs- und gestaltungsorientierten Akzent. Die stark am internationalen Vergleich ausgerichtete Theorie der VPÖ zeigt dabei auch, dass didaktische Vorgehensweisen (Floren 2006, 271ff.), die den sektoralen Strukturwandel als solchen als Ursache von (Qualifikationsmismatch-)Arbeitslosigkeit anführen, den eigentlichen Kern des Problems der Arbeitslosigkeit – nämlich die „Kostenkrankheit“ der niedrigproduktiven Dienstleistungen – überhaupt nicht erfassen. Denn schließlich müssen alle OECD-Staaten den Strukturwandel bewältigen, wobei sie aber aufgrund divergierender politischer Strategien hinsichtlich des Umgangs mit dem Problem der „Kostenkrankheit“ höchst unterschiedlich erfolgreich sind, wie sich an ganz unterschiedlichen Arbeitslosigkeitsraten (und Beschäftigungsquoten im ISIC 6) zeigt. Ergo: Das MismatchProblem ist aus wissenschaftlicher Sicht bei weitem nicht die zentrale Ursache für die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland. Im didaktischen Mittelpunkt sollte daher nicht das Mismatch-Problem, sondern die These der „Kostenkrankheit“ als zentrale Ursache von Arbeitslosigkeit stehen. Mit Blick auf das in Kapitel 4.4.1. herausgestellte Urteilskriterium der politischen Durchsetzbarkeit kann im Falle einer didaktischen Auseinandersetzung mit dem oben dargestellten gestaltungspolitischen Vorschlag der VPÖ auch darüber reflektiert werden, wie es um die grundsätzlichen politischen Realisierungschancen des Vorschlags steht. Exemplarisch ist diesbzgl. ein Rückgriff auf politikwissenschaftliche Studien zur Blockade steuerpolitischer Maßnahmen durch den Bundesrat möglich, wodurch (nicht zustimmungspflichtige) Abgabenerhöhungen systematisch begünstigt worden sind und weiterhin werden (siehe dazu ausführlich Scharpf 2009b, 142f.). Bei leistungsstarken Kursen bietet sich zur exemplarischen Sensibilisierung für politische Gestaltungsrestriktionen als Alternative auch der Rückgriff auf politologische Studien zur europäischen Steuerpolitik aus der VPÖ (Ganghof 2004; Ganghof/Genschel 2007) an. Hieran kann man didaktisch zugleich sehr gut politökonomische Interdependenzen zwischen nationaler und europäischer Ebene veranschaulichen, d.h. aufzeigen, wie die gestaltungspolitische Autonomie des Nationalstaats – hier: die nationale Steuerpolitik als Voraus-
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setzung für die Umsetzung des obigen Reformvorschlags – durch Europäisierung (möglicherweise) eingeschränkt wird. Hieran zeigt sich, dass reflektierte gestaltungsorientierte Urteilsfähigkeit in wirtschaftspolitischen Fragen sich der zunehmenden Bedeutung der europäischen Ebene bewusst sein und dabei zugleich auch mit dem Urteilskriterium der Legitimität umgehen können sollte. Denn bei der Analyse der Problematik stößt man sogleich auf die Frage, welcher kategoriale Koordinationsmechanismus innerhalb der EU mehr Legitimität beanspruchen kann: der freie interstaatliche Wettbewerb oder parlamentarische Mehrheitsbeschlüsse. Hieran kann man didaktisch exemplarisch das partielle Spannungsverhältnis zwischen Markt und Demokratie aufzeigen und Interdependenzbeziehungen zwischen Ökonomik und Politik erläutern – und zwar aus gestaltungsorientierter Perspektive. Europäische Staaten konkurrieren um möglichst niedrige Unternehmenssteuersätze für Kapitalgesellschaften, da die tariflichen Steuersätze für die Standortentscheidungen multinationaler Unternehmen, d.h. die Attraktion ausländischer Direktinvestitionen empirisch betrachtet eine zentrale Rolle spielen (Ganghof 2004, 44; Genschel 2007, 76). Multinationale Unternehmen nutzen überdies die Möglichkeit, Gewinne durch Manipulation der internen Verrechnungspreise (Preise im Handel zwischen verbundenen Filialen in unterschiedlichen Ländern) von Hoch- in Niedrigsteuerländer zu verschieben (ebd.). Infolgedessen ist es in den letzten zwei Jahrzehnten zu einer deutlichen Absenkung des internationalen Durchschnittssteuersatzes auf Gewinne von Kapitalgesellschaften gekommen. Dies zieht zugleich faktisch oft auch eine politische Senkung des Steuersatzes auf sämtliche Kapitaleinkommen (Zinsen etc.) nach sich, weil ansonsten Spar- und Anlageentscheidungen verzerrt und Steuersparmodelle befördert würden (Ganghof 2004, 54). Das eigentliche Problem dieser Entwicklung sieht die VPÖ jedoch nicht so sehr in dem direkten Effekt dieses Trends, d.h. der Senkung der staatlichen Einnahmen aus der Besteuerung der Gewinne von Kapitalgesellschaften. Vielmehr bestünde die tatsächliche normative Problematik in einem sekundären Folgeeffekt, nämlich darin, dass der ökonomische Druck auf die tariflichen Steuersätze für Kapitalgesellschaften als unbeabsichtigte Nebenwirkung zugleich einen erheblichen politischen Druck ausübe, auch die Steuersätze der Einkommensteuer zu senken. Dies bewirke sowohl eine Senkung des Steueraufkommens als auch eine deutliche Minderung der Progressivität und damit des Umverteilungspotentials der Einkommensteuer, die der gestaltungspolitische Lösungsvorschlag der VPÖ aber ja gerade wie oben dargestellt stärken möchte. Wie wird der (angebliche) Zusammenhang zwischen dem ökonomischen Wettbewerbsdruck auf die tariflichen Steuersätze von Kapitalgesellschaften und dem politischen Druck auf die Einkommensteuersätze erklärt? Steuerexperten würden (zu Recht) empfehlen, dass der Steuersatz auf Gewinne aus Kapitalgesellschaften und der Spitzensatz des Einkommensteuertarifs nicht allzu stark voneinander differieren sollten. Denn anderenfalls gibt es zum einen für Spitzenverdiener starke Anreize, Kapitalgesellschaften als Steuerumgehungsinstrument zu missbrauchen, indem (hoch besteuerte) faktische Arbeitseinkommen mittels einer Vielzahl von unternehmens- und steuerrechtlichen Tricks in (niedrig besteuerte) juristische Kapital- bzw. Unternehmenseinkommen umgewandelt werden. Zum anderen lösen starke Differenzen zwischen einer niedrigen Steuer für Kapitalgesellschaften und einer hohen Einkommensteuer öffentliche Gerechtigkeitsdebatten aus, in deren Gefolge die Einkommensteuer und deren Progressivität dann gesenkt wird (die Kapitalsteuer könne wegen des globalen Steuerwettbewerbs nicht erhöht werden).
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Dieser indirekte Druck in Richtung auf eine Abschmelzung der Einkommensteuer und deren Progressivität ist aus Sicht der VPÖ problematisch, weil ihr oben dargestellter Vorschlag zur Finanzierungsreform des deutschen Sozialstaats – eine gezielte Entlastung geringqualifizierter Niedrigverdiener von Sozialversicherungsabgaben gegenfinanziert durch eine höhere Einkommensteuer – dadurch konterkariert wird. Dieser indirekte Druck des europäischen Unternehmenssteuerwettbewerbs auf die Einkommensbesteuerung sei ein wichtiger Grund dafür, dass die rot-grüne Bundesregierung den im Rahmen des damaligen Bündnis für Arbeit diskutierten Reformvorschlag der VPÖ nicht umsetzen konnte, sondern sich stattdessen sogar gezwungen sah, den Spitzensatz der Einkommensteuer zu senken: “Tax competition`s pull-down effect on the personal income tax rate significantly constrained German governments in their effort to adapt the country`s tax structure to various economic challenges. There is broad consensus that one of the biggest obstacles to increasing employment is high social security contributions, especially for the low-skilled. The Red-Green government pondered over shifting the tax burden away from social security contributions and onto progressive income taxes, which imply lower taxes on the low-skilled. However, tax competition made such a shift all but impossible. Given the commitment to a small tax rate gap, the competitive pressure on the company tax rate meant that personal income tax revenue had to be reduced rather than increased.” (Ganghof/Genschel 2007, 16)
Die VPÖ fordert deshalb die Einführung eines Mindeststeuertarifs für Unternehmen in der EU, um den indirekten Senkungsdruck auf den Einkommensteuertarif abzufedern und so die demokratische Souveränität der nationalen Steuerpolitik wiederherzustellen. Die technokratische Dominanz einer neoliberal gesinnten EU-Kommission im politischen System der EU, die derartige Vorschläge von sich weise und das Fehlen eines echten politischen Parteienwettbewerbs auf europäischer Ebene wie in den Nationalstaaten verhinderten jedoch die Entwicklung einer echten steuerpolitischen Debatte in der europäischen Öffentlichkeit über diese Fragen. Aufgrund dessen seien den europäischen Bürgern diese subtilen Zusammenhänge nicht bewusst, obwohl diese für ihre Lebensbedingungen erhebliche Konsequenzen zeitigten. Aus Sicht der VPÖ herrscht in Europa zurzeit eine demokratisch nicht kontrollierte „Steuerpolitik ohne [kollektives, T.H.] Bewusstsein“ (Genschel 2007, 78). Didaktisch muss man die sich hinter solchen Metaphern verbergenden kategorialen wirtschaftspolitischen Grundsatzkonflikte herausstellen, nämlich ob gesellschaftliche Entscheidungen (hier: Steuersetzung) über den (internationalen) Wettbewerb (`unbewusst´) oder über die Demokratie (`bewusst´) koordiniert werden sollen. Es versteht sich von selbst, dass fachdidaktisch dabei Neutralität geboten ist. Aus Sicht der VPÖ fehlt der unsichtbaren Hand des Wettbewerbs in der Steuerpolitik im Gegensatz zur sichtbaren Hand der Demokratie sowohl die politische Input- als auch die Output-Legitimität, weil der internationale Steuerwettbewerb aufgrund der oben dargestellten Mechanismen die Interessen von Individuen im Besitz hohen ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitals zu Lasten sozial benachteiligter Bürger begünstige. So seien Bürger eines Staates A in dieser Konstellation den Folgewirkungen einer Steuersenkung im Staat B ohne Kontrollmöglichkeit ausgesetzt. Dadurch gerät Staat A ebenfalls unter Steuersenkungsdruck, was die Interessen der dort wohnenden Bezieher hoher Einkommen und deren Durchsetzungschancen begünstigt, während es die Durchsetzungschancen der Bezieher geringer Einkommen benachteiligt. Die Bezieher niedriger Einkommen in Staat B
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könnten sich schwer gegen den Steuersenkungsdruck zur Wehr setzen, da dieser seinen Ursprung letztlich in den Aktivitäten von Staat A besitzt. Dies verletze den Grundsatz der politischen Gleichheit und begründe somit ein Demokratiedefizit der europäischen Politik: „Warum entzieht der Steuerwettbewerb die Unternehmenssteuerpolitik demokratischer Kontrolle? (…) Der Steuerwettbewerb untergräbt den demokratischen Gleichheitsgrundsatz, nach dem alle von redistributiven Entscheidungen Betroffene grundsätzlich gleiche Chancen haben sollten, das Entscheidungsergebnis zu beeinflussen (Christiano 2006). Das haben sie unter den Bedingungen des Steuerwettbewerbs nicht. Vielmehr werden bestimmte Interessen – grob gesprochen diejenigen einer selbständigen, mobilen, staatskritischen, neo-liberalen Klientel – systematisch bevorzugt; und andere – grob gesprochen jene einer unselbständigen, immobilen, vom Staat abhängigen, typisch `sozialdemokratischen´ Wählerschaft – systematisch benachteiligt. Das führt zu einem Demokratiedefizit in der europäischen Unternehmensbesteuerung.“ (Genschel 2007, 77; meine Hervorhebungen, T.H.)
Angesichts ihrer Relevanz für das Problem der Arbeitslosigkeit und der Armut/sozialen Ungleichheit stellt das deutsche Steuer- und Abgabensystem, dessen Struktur (und ggf. auch deren Beeinflussung durch internationale Zusammenhänge) somit für eine gestaltungsorientierte sozialwissenschaftliche Fachdidaktik auf der Sek. II ein wichtiges Lernfeld dar.
6.1.2 Die (institutionen)ökonomische Perspektive Die (institutionen)ökonomische Perspektive lehnt den gestaltungspolitischen Vorschlag der VPÖ zur Senkung der Arbeitslosigkeit in Deutschland ab. Durch Thematisierung dieser Einwände wird man didaktisch nicht nur dem Kontroversitätsprinzip gerecht, sondern man kann die Schüler zugleich für die Tatsache sensibilisieren, dass gestaltungspolitische Lösungsversuche unbeabsichtigte Nebenwirkungen (Kapitel 4.4.2.) produzieren können. So wirft Weber (2006) der Argumentation der VPÖ einen „folgenschweren Trugschluss“ vor. Denn die von dieser anvisierte Erhöhung der Einkommensteuer für mittlere und hohe Einkommen würde zu einem Spitzengrenzsteuersatz von über 50% führen und so die Leistungsbereitschaft der Bürger (bzgl. ihres Arbeitsangebots und ihrer Qualifikationsanstrengungen) und damit auch das Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum dämpfen, ein Ausweichen in die Schattenwirtschaft fördern sowie die Abwanderung von hochqualifizierten Arbeitskräften in Staaten mit niedrigeren Steuern begünstigen. Deshalb sei schon bereits fraglich, ob eine Steuererhöhung überhaupt die gewünschten Mehreinnahmen beschaffen könne. Dementsprechend argumentiert auch Sinn (2005, 343ff.), dass in Deutschland angesichts einer Grenzabgabenlast von über 60% für Durchschnittsverdiener (inklusive Mehrwertsteuer) die Leistungsanreize schon heute unzureichend, die Anreize zur Schwarzarbeit hingegen hoch seien, sodass nicht Steuererhöhungen, sondern vielmehr weitere Steuersenkungen an der Tagesordnung seien. Aus fachdidaktischer Sicht eignet sich diese Debatte zur kontroversen Auseinandersetzung mit der zentralen sozialwissenschaftlichen Kategorie `Anreiz´. Dabei ist es hier für die Förderung einer gestaltungsorientierten Urteilsfähigkeit wichtig, den Unterschied zwischen (niedrigerem) Durchschnittssteuersatz und (höherem) Grenzsteuersatz zu verdeutlichen, da
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letzterer für die mikroökonomischen Anreiz- und makroökonomischen Folgewirkungen von Steuern ausschlaggebend ist. Bedeutet dies nun, dass man angesichts dieser Anreizwirkungen von Steuern didaktisch mit der institutionenökonomischen Perspektive den politologisch-soziologischen Reformvorschlag der VPÖ als ökonomische `Träumerei´ entlarven muss? Schließlich sollen Lehrer gemäß Krol/Loerwald/Zoerner (2006, 13) ja zwischen einer vorgelagerten Bereitstellungsperspektive und einer nachgelagerten Verteilungsperspektive unterscheiden sowie entsprechende Rückwirkungen erkennen können und nicht alle wissenschaftlichen Positionen als gleichwertig darstellen. Man könnte allerdings fragen: Welche Rückwirkungen? Denn laut dem Ökonomen Corneo (2006) ist die populäre These, dass eine starke und progressive Einkommensteuer angesichts dadurch ausgelöster negativer Arbeitsangebotsanreize problematische ökonomische Rückwirkungen erzeuge, weder theoretisch noch empirisch überzeugend. Theoretisch sei zu beachten, dass eine höhere und progressivere Einkommensteuer nicht nur negative Arbeitsanreizeffekte, sondern auch positive Arbeitsanreizeffekte generiere. Neben dem negativ wirkenden Substitutionseffekt, der für eine Arbeitskraft die Opportunitätskosten der Freizeit reduziere, sei auch der Einkommenseffekt zu beachten: der geringere Nettolohn verursache einen Konsumverlust, der Anreize zu einer Ausweitung des Arbeitsangebots biete. Theoretisch sei die ökonomische Anreizwirkung einer höheren und progressiveren Einkommensteuer daher völlig offen (Corneo 2006, 110f.). Empirische Studien zeigen, dass die Arbeitsangebotselastizität in Bezug auf die Steuerbelastung etwa gleich null sei, d.h. höhere und progressivere Einkommensteuern würden weder zu einer Erhöhung noch zu einer Senkung des Arbeitsangebotes führen (ebd., 113-115). Außerdem würden andere empirische Untersuchungen auch keinen statistischen Zusammenhang zwischen der Höhe des Steuersatzes und dem Wirtschaftswachstum in einem Land entdecken – weder in internationalen Querschnitts- noch Längsschnittstudien (ebd., 130). Zu diesem Ergebnis kommen auch weitere empirische Studien (siehe Lindert 2004, 17 & 30; Kenworthy 2008, 182f. und die dort angegebene Literatur). Deshalb fordert Corneo (2006) mit Blick auf das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit ebenso wie Scharpf (2006b) eine Erhöhung der Einkommenssteuer. Diese für die Mainstream-Ökonomik überraschenden empirischen Ergebnisse kann man aus `soziologischer´ Sicht auch damit erklären, dass individuelle Entscheidungen bzgl. der beruflichen Anstrengung (z.B. Qualifikation) und des Arbeitsangebots nicht nur monetären Anreizen folgen, sondern gerade bei Personen mit hohen Einkommen auch davon bestimmt werden, sozialen Status und Prestige zu erwerben, deren Umfang durch hohe/höhere (Grenz)steuern nicht geschmälert wird. Zudem zeigen arbeitssoziologische Studien, dass gerade bei vielen hochqualifizierten Arbeitnehmern infolge gruppensoziologischer Anpassungsmechanismen zunehmend das Phänomen der „freiwilligen Selbstausbeutung“ (Moosbrugger 2008) zu beobachten ist, d.h. das Arbeitsangebot folgt eher komplexen sozialpsychologischen als simplen monetär-ökonomischen Determinanten. Didaktisch folgt daraus selbstverständlich nicht, dass man lehren müsste, von Steuern gingen auf gar keinen Fall negative Rückwirkungen auf die ökonomische Wohlstandsbildung bzw. die Arbeitsbereitschaft aus, denn – wenig verwunderlich – behaupten wirtschaftsliberale Ökonomen, dass ihre empirischen Studien nun doch das Gegenteil `beweisen´ würden (z.B. Prescott 2004). Außerdem kann bei der Urteilsbildung auch aus ethischer Warte (Kruber 2000, 292) noch diskutiert werden, ob ein Staat, der einem Teil seiner Bürger einen relativ hohen Anteil ihres Einkommens abzieht, ihre negativen Freiheitsrechte
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nicht über Gebühr einschränkt oder ob bzw. unter welchen Umständen sich dies durch einen möglichen Gewinn an positiver Freiheit für andere Bürger rechtfertigen lässt. Aber andererseits kann es didaktisch auch nicht darum gehen, den Lernenden vermeintlich nomologische Zusammenhänge in dem Sinn zu vermitteln, dass bestimmte Institutionen (z.B. Steuern bzw. Steuererhöhungen) quasi per Naturgesetz oder auch nur höchstwahrscheinlich bestimmte bereits vorher feststehende Anreize und Folgen erzeugen. Vielmehr zeigt sich, dass die Art der Anreizwirkung auch empirisch häufig umstritten und sozialwissenschaftliches Wissen daher oft unsicheres Wissen ist (Behrmann/Grammes/Reinhardt 2004). Mit der institutionenökonomischen Perspektive kann man jedoch nicht nur die VPÖPerspektive kritisieren bzw. kontrovers diskutieren, sondern auch alternative Ursachendiagnosen und gestaltungspolitische Reformvorschläge zur Lösung der Arbeitslosigkeitsproblematik erörtern und dabei das Denken in ordnungspolitischen Zusammenhängen fördern. So liegt aus institutionenökonomischer Perspektive der zentrale Grund für die hohe Arbeitslosigkeit in den zu hohen Lohnansprüchen der Arbeitnehmer begründet, die sich wiederum aus der institutionellen Ausgestaltung des Grundsicherungssystems (Arbeitslosengeld (ALG) II) (`Sozialhilfefalle´) und des Lohnverhandlungssystems (`Tarifkartell´) erklären liessen. Auch die Arbeitnehmermitbestimmung in Großunternehmen wirke sich negativ auf die Beschäftigungssituation aus. Aus diesen drei im Folgenden ausführlicher dargestellten Ursachendiagnosen kann man didaktisch 1 (Grundkurs) oder ggf. auch 2 (Leistungskurs) auswählen und kontrovers (z.B. durch Kontrast mit der VPÖ-Perspektive) erörtern. Die zentrale Ursache für die geringere Entwicklung des konsumorientierten Dienstleistungssektors in Deutschland bestünde darin, dass Empfänger des Arbeitslosengeldes II (ALG II) keine Anreize zur Aufnahme einer bezahlten Beschäftigung besäßen, da sie mit hohen Transferentzugsraten (Anteil eines zusätzlich durch Arbeit verdienten Einkommens, das vom ALG II abgezogen wird) in Höhe von 80 – 90% (Sinn 2005, 213ff.) konfrontiert werden, sodass sich die Aufnahme einer Arbeit nicht lohnt und Stellen für niedrig qualifizierte Arbeit daher unbesetzt blieben bzw. erst gar nicht geschaffen würden („Sozialhilfefalle“). Daher sei es angebracht, das ALG II um die Hälfte (Breyer/Franz/Homburg/ Schnabel/Wille 2004) bzw. ein Drittel (Sinn 2005, 228) zu senken. Im Gegenzug soll die Transferentzugsrate für zusätzlich durch eigene Arbeit verdientes Geld deutlich gesenkt werden. Diejenigen, die trotzdem in der Privatwirtschaft keinen Arbeitsplatz finden, aber weiterhin das volle ALG II beziehen wollen, sollen das Recht, aber auch die Pflicht besitzen, einen von ihrer Kommune angebotenen Arbeitsplatz anzunehmen. Der Bezug des soziokulturellen Existenzminimums würde also an einen faktischen Arbeitszwang für Erwerbsfähige gebunden (Workfare), der im Gegensatz zu heute rigoros durchgesetzt werden soll. In ethischer Hinsicht wird dies mit dem Reziprozitätsprinzip begründet. Auch hier bietet sich didaktisch die Gelegenheit, die Kategorie `Anreiz´ mit gestaltungspolitisch orientiertem Fokus zu diskutieren. Hierbei ist jedoch Vorsicht geboten, möglicherweise bei den Schülern existierende negative Stereotypien nicht noch weiter zu vertiefen, indem man zugleich erarbeitet, dass gemäß empirischen Studien nicht nur der Missbrauch von Sozialleistungen, sondern dass auch die verdeckte Armut, d.h. die NichtInanspruchnahme von Sozialleistungen durch Berechtigte ein verbreitetes soziales Phänomen darstellt (Becker/Hauser 2005; Becker 2006), das weder von der Institutionenökonomik noch in der Öffentlichkeit angemessen diskutiert wird. Allerdings ist es nicht gerechtfertigt, das ökonomische Anreizproblem beim ALG II als bloße sozialkonstruktivistische „Kommunikation“ (Hedtke 2006a, 222) zu fassen. Vielmehr kann man anhand empirischer
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Studien zu Sozialhilfeverläufen aus der Soziologie kontrovers diskutieren, inwieweit die Anreiz-Theorie tatsächlich zutrifft (z.B. Gebauer 2007). Didaktisch wenig überzeugend ist hingegen das Vorgehen, diese prekäre Thematik komplett zu umschiffen, d.h. die Regelungen zur Grundsicherung in der BRD nur rein deskriptiv darzustellen und bei der Darstellung von Arbeitslosigkeitsursachen gar nicht aufzugreifen (wie bei Floren 2006, 176f. & 254–277). Denn die sog. Sozialhilfefalle stellt für Institutionenökonomen eine wesentliche Ursache für die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland dar (Sinn 2005, 187ff.). Anstatt also diese Fragestellung auszusparen, kann im Unterricht in diesem Kontext besser eine kontroverse Auseinandersetzung mit der zentralen gestaltungspolitischen Fragestellung geführt werden, welche ökonomischen/ethischen/finanzpolitischen Argumente dagegen und dafür sprechen, dass eine reiche Gesellschaft den Bezug des (soziokulturellen) Existenzminimums weiterhin an einen Erwerbsarbeitszwang koppelt (Offe 2005; Vanderborght/Van Parijs 2005). Durch diese normative Diskussion des Reziprozitätsprinzips – und nicht nur durch den effizienztheoretischen Verweis auf eine derzeit existierende demotivierende Anreizkonstellation – kann man im Unterricht eventuell entstehende vulgäre, unre-flektierte Moralisierungsdynamiken im Sinne von mehr oder weniger subtilen Schuldvorwürfen an ALG-II-Empfänger wohl am ehesten verhindern oder zumindest irritieren. Auf entsprechende gestaltungspolitische Alternativen, die Armut und Arbeitslosigkeit durch die Aufhebung dieser Kopplung bekämpfen wollen und die im Unterricht im vorliegenden Politikfeld nicht zuletzt aufgrund des Kontroversitätsprinzips auf jeden Fall exemplarisch zu thematisieren wären, komme ich bei der Darstellung des Strukturschemas in Kapitel 6.1.4. zurück. Neben der „Sozialhilfefalle“ besteht aus institutionenökonomischer Perspektive eine zweite zentrale Ursache für die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland im sog. „Tarifkartell“ (Sinn 2005), d.h. darin, dass Gewerkschaften als überbetriebliche Kartelle von Arbeitskraftanbietern durch Flächentarifverträge ein höheres Preisniveau (höhere Löhne) für ihr Marktangebot erzielen, als dies auf einem freien Arbeitsmarkt der Fall wäre, da sie eine lohnsenkende Konkurrenz der Arbeitskraftanbieter unterbinden. Infolge des höheren Preisniveaus sinke die Nachfrage der Unternehmen nach Arbeitskraft unter den markträumenden Gleichgewichtspreis, sodass ein Angebotsüberschuss (Arbeitslosigkeit) entstehe. Anhand dieser Argumentation lässt sich didaktisch zugleich in kategorialer Hinsicht gut die Funktionsweise des Marktmeachanismus und möglicher Störungen erarbeiten bzw. wiederholen. Die lohnkostenbedingte Arbeitslosigkeit werde von den gewerkschaftlichen Vertretern der beschäftigten `Insider´ (qualifizierte, langjährig angestellte Stammbelegschaften) billigend in Kauf genommen, da die geringqualifizierten Randbelegschaften sowie die arbeitslosen `Outsider´ über den generösen deutschen Sozialstaat aufgefangen würden und sie selber durch den starken Kündigungsschutz gegen die negativen Folgen ihrer Hochlohnpolitik abgesichert seien. Infolge der Kartellierung des deutschen Arbeitsmarktes würden Unternehmen unter den dritthöchsten Arbeitskosten der Welt leiden; im Durchschnitt lägen die Löhne in Deutschland in etwa 10-15% über dem Gleichgewichtsniveau (Berthold/Stettes 2000; Sinn 2005, 147f.; Siebert 1997, 46ff.). Besonders deutlich käme die Kartellierung des deutschen Arbeitsmarktes bei den Ausbildungsvergütungen zum Ausdruck. Während schon die Kartellierung des allgemeinen Arbeitsmarktes zu einem mit der wirtschaftlichen Produktivitätsentwicklung nicht im Einklang stehenden Anstieg der Tariflöhne um 156% im Zeitraum zwischen 1976 und 2003 geführt habe, seien die Ausbildungsvergütungen im selben Zeit-
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raum mit einem Zuwachs von 203% geradezu „explodiert“ (Wößmann 2004, 21). Gleichzeitig sei zudem die Anzahl der Tage, die ein Auszubildender dem Betrieb faktisch zur Verfügung stehe, um 2 Wochen pro Jahr zugunsten einer Verlängerung der Berufschulzeit zurückgegangen. Diese Verschlechterung des Nutzen-Kosten-Verhältnisses der Ausbildung für die Unternehmen sei der zentrale Grund für die rückläufige Ausbildungsquote in Deutschland (ebd.). Angesichts dieser Zahlen und theoretischen Argumentation verletzen Politikdidaktiker das Kontroversitätsgebot, wenn sie diese kartellartigen Machtverhältnisse ausblenden und – ohne empirischen Beleg – behaupten, dass deutsche Tarifsystem sei durch „recht moderate“ Lohnabschlüsse gekennzeichnet (so Himmelmann 2007, 265). Aus institutionenökonomischer Perspektive kann ein derart unangemessener Lohndruck wie oben beschrieben auf einem freien (polypolistischen) Arbeitsmarkt hingegen nicht entstehen, da dieser genauso wie jeder andere freie Gütermarkt funktioniere, auf dem Angebot und Nachfrage durch einen flexiblen Preismechanismus zum Ausgleich kämen (Sinn 2005). Die Befürchtung, hier herrsche ein asymmetrisches Machtverhältnis zugunsten des Arbeitgebers mit der Folge der ökonomischen `Ausbeutung´ des Arbeitnehmers, die man durch einen Mindestlohn unterbinden müsse, sei heute nicht mehr zutreffend (Dietz 2006, 185; Sinn 2008a; Von Weizsäcker 1998, 275). Denn die Arbeitsmärkte für Geringqualifizierte in der BRD seien nicht durch monopsonistische Strukturen geprägt, sodass dem Arbeitnehmer bei nicht produktivitätsgerechter Entlohnung bei Arbeitgeber A jeder Zeit die Option offen stehe, zu Arbeitgeber B zu wechseln, wobei letzterer aus eigenem Interesse einen Anreiz habe, den Arbeitnehmer zu einem produktivitätsgerechten Lohn einzustellen, weil Arbeitgeber B durch eine Abwerbung des Arbeitnehmers seinen Gewinn steigern könne. Ein staatlich festgesetzter Mindestlohn erzeuge hingegen Ausweichreaktionen (Schwarzarbeit) sowie Arbeitslosigkeit, wenn er die Arbeitsproduktivität des Arbeitnehmers übertreffe. Und anderenfalls sei er nutzlos, weil der freie Markt mittelfristig von selbst für eine produktivitätsgerechte Entlohnung sorge. Eine empirische Meta-Studie (Neumark/Wascher 2007) zeige, dass die große Mehrheit statistisch-methodologisch adäquater Untersuchungen zu den Wirkungen von Mindestlöhnen negative Beschäftigungseffekte nachweise. Dafür spreche auch der internationale Vergleich: während der – gemessen an der nationalen Wirtschaftskraft – niedrige Mindestlohn in Großbritannien, den dort nur knapp 2% der Arbeitnehmer beziehen, mit keiner Arbeitslosigkeit einherginge, sei der gemessen an der nationalen Wirtschaftskraft hohe Mindestlohn in Frankreich, den dort 15% der Arbeitnehmer erhalten, für die hohe Arbeitlosigkeit (mit)verantwortlich (Sinn 2008a). Didaktisch kann man diese kritische Argumentation und das Modell eines kompetitiven Arbeitsmarktes mit der den Mindestlohn befürwortenden Perspektive des IAQ (Kapitel 6.1.3.) und dem dort vertretenen Monopson-Modell des Arbeitsmarktes als Begründung kontrastieren und vergleichend erörtern. Gleichwohl zeigt die institutionenökonomische Argumentation, dass ein Mindestlohn im Unterricht nicht einfach wie im zumeist fragwürdigen, emotionalisierten Niveau der öffentlichen Debatte unter Verweis auf das vermeintlich Offenkundige, d.h. einer angeblichen Ausbeutung `schwacher, weil armer´ Arbeitnehmer durch `mächtige, weil reiche´ Arbeitgeber begründet werden darf. Didaktisch ist daher auch darauf zu achten, dass Schülerbeiträge über die vermeintliche `Ausbeutung´ von geringqualifizierten Arbeitnehmern diese nicht an der bloßen Höhe des Lohns festmachen, sondern diesen in Relation zu deren Produktivität, d.h. deren betriebswirtschaftlicher Wertschöpfung setzen. Letztere ist allerdings auch nicht, wie in der obigen institutionen-
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ökonomischen Argumentation implizit unterstellt, ontologisch determiniert, sondern hängt auch von der Zahlungsbereitschaft der Konsumenten ab. Aus Sicht der institutionenökonomischen Perspektive ist es anstelle eines Mindestlohns sinnvoller, Löhne unterhalb des soziokulturellen Existenzminimums durch staatliche Zuschüsse entsprechend aufzustocken (Sinn 2005). In ethischer Hinsicht seien diese umverteilenden Zuschüsse gerechtfertigt, weil die Leistungskraft des einzelnen Menschen durch exogene, nicht individuell zu kontrollierenden Faktoren (Gene, Eltern, Lebensraum etc.) beeinflusst werde (Sinn 2005, 188; Breyer/Franz/Homburg/Schnabel/Wille 2004). An dieser Stelle zeigt sich exemplarisch, dass populistische Anfeindungen gegen wirtschaftsliberale Ökonomen, ihre Argumentation hätte sich gegenüber ethischen Erwägungen verselbständigt (Detjen 2006a, 72) bzw. wären nicht mit dem Gemeinwohl kompatibel (Scherb 2005, 123), in vielen Fällen gar nicht zutreffen. Aus Sicht der (institutionen)ökonomischen Perspektive ist auch das Lohnkartell der Insider gegen die Outsider ethisch nicht zu rechtfertigen, denn die überhöhten Löhne würden dazu führen, dass die deutschen Unternehmen den Produktionsfaktor Arbeit zu stark durch den Produktionsfaktor Kapital ersetzen, auf (Netto)investitionen angesichts der niedrigen Kapitalrenditen verzichten und Produktionsstandorte zu umfassend ins Ausland verlegen als es mit einer Vollbeschäftigungssituation kompatibel sei (Berthold/Stettes 2000, 18 & 20). Zudem führe die standardisierende Abkoppelung des Lohnniveaus von der jeweiligen Gewinnlage der einzelnen Unternehmen dazu, dass das unternehmerische Risiko erhöht werde und so die Investitionstätigkeit der Unternehmen gelähmt werde (Fehn 2002b, 29). Zusammen mit dem hohen Kündigungsschutz schrecke das überhöhte Lohnniveau viele potentielle deutsche Selbstständige davon ab, ein Unternehmen zu gründen. Infolgedessen sei die unternehmerische Gründeraktivität in angloamerikanischen Staaten mit ihren weniger regulierten Arbeitsmärkten weit intensiver als in Deutschland (Berthold / Kullas / Neumann 2007). Konkret komme das deutsche Arbeitsangebotskartell in den Bestimmungen des Betriebsverfassungsgesetzes (§77 Abs.3 BetrVG) und des Tarifvertragsgesetzes (§4 Abs.3 TVG) zum Ausdruck, denn dieses untersagt einem Unternehmen (sofern es dem Arbeitgeberverband angehört), von den im Flächentarifvertrag seiner Branche festgesetzten Entlohnungsbestimmungen nach unten abzuweichen. Die Stabilität des Arbeitsangebotskartells werde noch zusätzlich dadurch gestärkt, dass der Arbeitsminister das Recht besitzt, Tarifverträge gemäß § 5 TVG für allgemeinverbindlich zu erklären, d.h. auch auf Unternehmen auszudehnen, die nicht Mitglied im Arbeitgeberverband sind. Zwar haben die Tarifvertragsparteien in den letzten Jahren unter dem Druck der Öffentlichkeit entsprechende Öffnungsklauseln in die Tarifverträge eingefügt, die den einzelnen Unternehmen unter bestimmten Bedingungen eine Abweichung vom Flächentarif nach unten erlaubten, doch sei diese Praxis zu restriktiv. Dies könne nicht verwundern, denn die Gewerkschaften besäßen kein wirkliches Interesse an einer wirksamen Außerkraftsetzung ihres Kartells, da sie unter Druck stünden, ihren Mitgliedern in Form marktwidriger Löhne eine Gegenleistung für die gezahlten Mitgliedsbeiträge zu liefern. Auch die Arbeitgeberverbände seien nur ein unzureichender Gegenspieler der Gewerkschaften, da deren Handeln von den Interessen der Großunternehmen beherrscht sei (Berthold/Stettes 2000, 16), weshalb die Verhandlungsergebnisse auf die besondere Situation kleiner und mittlerer Unternehmen kaum Rücksicht nähmen.
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Durch die Behandlung dieser Argumentation im Unterricht kann man das didaktische Prinzip der kategorialen Bildung mit einem problem- und gestaltungsorientierten Fokus verbinden, indem man die Funktionsweise des (Arbeits)Marktes gemäß dem neoklassischen Marktmodell und Abweichungen der realen Welt von diesem Modell erarbeitet – aber nicht als Selbstzweck, sondern um zu sehen, was die Wissenschaft zur Aufklärung und Bewältigung drängender gesellschaftlicher Probleme (hier: Arbeitslosigkeit) und damit zur Steigerung der ökonomischen Lebensqualität möglicherweise beitragen kann (Klafki 1996, 162ff.). Ebenso kann man hier mit dem Marktmodell exemplarisch veranschaulichen, welche möglichen Nebenwirkungen (Kapitel 4.4.2.) politische Steuerungsversuche (hier: staatliche Eingriffe in den Preismechanismus in Form eines Mindestlohns) erzeugen können. Durch die Einbeziehung des institutionellen und gesellschaftlichen Hintergrundes (deutsche Arbeitsmarktordnung, Debatte um den Mindestlohn) wird das ökonomische Markt-Modell auch nicht abstrakt ohne gesellschaftlichen Kontext diskutiert (so die Befürchtung von Hartwich 2001, 5). Hierdurch kann zugleich eine bei den Schülern möglicherweise existierende, zu undifferenzierte Wahrnehmung der interessenspolitischen Konstellation auf dem Arbeitsmarkt (`die´ Arbeiter gegen `die´ Unternehmen) aufgelockert werden, indem sie zwischen den Interessen von Insidern und Outsidern sowie großen und kleinen Unternehmen zu unterscheiden lernen. Angesichts der Tatsache, dass dem „Tarifkartell“ seitens der Institutionenökonomik eine zentrale Rolle für die Entstehung der hohen Arbeitslosigkeit zugeschrieben wird, verwundert es, dass diese Thematik in sozialwissenschaftlichen Schulbüchern (Floren 2006, Jöckel 2006) überhaupt nicht angesprochen wird. In diesem Zusammenhang besteht eine weitere didaktische Option darin, die deutsche Arbeitsmarktordnung (hinsichtlich der Aspekte Kündigungsschutz, Lohnverhandlungssystem) mit derjenigen der USA zu kontrastieren (Siebert 1997), um den Schülern wie von Hedtke (2002) gefordert die Vielfalt alternativer Ordnungsrealitäten zu veranschaulichen und so eine eventuell bei den Schülern existierende ontologische Illusion der Naturhaftigkeit des Gesellschaftlichen (Petrik 2007, 227) zu irritieren. Aus Sicht der institutionenökonomischen Perspektive hat auch die gesetzliche Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Großunternehmen zu den Problemen auf dem deutschen Arbeitsmarkt beigetragen, denn laut Sinn (2005, 179) haben die Nachteile der – von der VPÖ-Perspektive positiv gewerteten – Mitbestimmung dazu geführt, dass mobiles Investitionskapital oft einen Bogen um Deutschland mache (so auch Siebert 2003, 21), worin eine weitere Ursache des Anstieg der Arbeitslosigkeit in der BRD liege. Die negativen ökonomischen Wirkungen der Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Deutschland spiegelten sich auf dem Kapitalmarkt in Form eines signifikant niedrigeren Tobin`s Q für mitbestimmte Unternehmen wider, d.h. einem deutlich niedrigerem Quotienten aus dem Marktwert des betreffenden Unternehmens (Aktienkapitalisierung plus Verbindlichkeiten) und dem Substanzwert des betreffenden Unternehmens (Beschaffungskosten aller Vermögensgegenstände des Unternehmens). Dies würde bedeuten, dass die Börse – im Gegensatz zur empirischen Studie der VPÖ – ein mitbestimmtes Unternehmen ceteris paribus doch niedriger bewertet als ein nicht mitbestimmtes Unternehmen („Mitbestimmungs-Discount“). Nach Gorton/Schmid (2004, 879) beträgt der Discount eines Unternehmens mit paritätischer Mitbestimmung gegenüber einem Unternehmen mit nur drittelparitätischer Mitbestimmung im Schnitt 31%. Folglich müsste der aufgrund fehlender Daten nicht ermittelbare Gesamt-Discount für Mitbestimmung als solche noch höher ausfallen.
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Dieser Börsen-Discount sei ein Anzeichen für die langfristige gesamtwirtschaftliche Ineffizienz der Mitbestimmung. Dies verhalte sich aus zwei Gründen so. Erstens beeinträchtige die hälftige oder drittelparitätische Besetzung des Aufsichtsrates mit Arbeitnehmervertretern die Überwachungsfunktion des Aufsichtsrates gegenüber dem Management, da den Arbeitnehmervertretern in vielen Angelegenheiten (z.B. Finanzierungsstrategien, Rechnungslegung) die notwendige fachliche Qualifikation für eine Aufsichtsratstätigkeit fehle (Von Werder 2003, 10f.). Die Arbeitnehmervertreter besäßen zudem keinerlei Kapitalrisiko, weshalb sie in ihrem Abstimmungsverhalten zu Gleichgültigkeit (rationaler Ignoranz) oder gar Unverantwortlichkeit neigen würden (Adams 2006, 702). Zweitens orientierten sich mitbestimmte Unternehmen aufgrund des Einflusses der Arbeitnehmervertreter auf die Unternehmenspolitik über Gebühr am kurzsichtigen Schutz der aktuellen Arbeitsplätze der momentanen Mitarbeiter (Insider) im traditionellen Geschäftsgebiet. Wirtschaftlich sinnvolle Umstrukturierungsmaßnahmen, d.h. der (teilweise) Wechsel von etablierten Produktionstechnologien zu innovativen, profitableren Gebieten mit neuartigen Technologien und Produkten (in denen langfristig mehr, aber andere, d.h. neue Arbeitnehmer beschäftigt werden könnten) würden daher stark behindert oder blieben ganz aus (Siebert 2003, 21; Von Weizsäcker 1999). Produktivitätssteigernde Wandlungsbereitschaft von Unternehmen stelle im heutigen, durch radikale Innovation geprägten Strukturwandel und im globalen Wettbewerb jedoch einen zentralen Konkurrenzvorteil dar. Je kurzsichtiger jedoch der Entscheidungshorizont des Unternehmens, desto höher die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns des Unternehmens. Aus Sicht einer gestaltungsorientierten sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik von besonderem Belang ist aber, dass die Vertreter der institutionenökonomischen Perspektive aus der obigen Analyse gestaltungspolitische Vorschläge zur Lösung des zentralen Problems der Arbeitslosigkeit ableiten, von denen man ein bis zwei exemplarisch im Unterricht thematisieren kann. Didaktisch kann man dabei wiederum konstruktivistisch vorgehen, indem man die Schüler zunächst selbst bittet, aus der obigen Problemanalyse entsprechende institutionelle Reformvorschläge zu deduzieren (also nicht nur die simple Forderung nach niedrigeren Löhnen), die man dann mit den folgenden Anregungen der institutionenökonomischen Perspektive vergleichen kann. Erstens soll Mitbestimmung im Sinne quasiparitätischer Mitentscheidungskompetenzen der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat beseitigt werden (Adams 2006; Von Weizsäcker 1999; Von Werder 2003). Stattdessen solle ein Konsultationsrat für Arbeitnehmervertreter gebildet werden, der Informations- und Beratungsrechte sowie das Recht zur Abgabe offizieller Stellungnahmen besitzen soll, aber nicht über echte Mitbestimmungskompetenzen verfügen soll. Dadurch könnten die positiven Informations- und Motivationseffekte der Einbindung der Arbeitnehmer in die Unternehmensleitung bewahrt werden (Von Werder 2003). Didaktisch ist es wichtig, im Falle einer Auseinandersetzung mit diesem gestaltungspolitischen Vorschlag die von ihm selbst gar nicht thematisierte Politics-Dimension, d.h. dessen mögliche politisch-gesellschaftliche Transaktionskosten nicht aus dem Auge zu verlieren: Wie und mit welchen möglichen Folgen würde sich dessen Ankündigung oder gar Umsetzung durch eine Regierung auf die Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital in der deutschen Gesellschaft und jene zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern in den Unternehmen auswirken? Hieran kann man auch das Denkmodell der Pfadabhängigkeit (Beharrungskraft von (womöglich) ineffizienten Institutionen) veranschaulichen.
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Zweitens wird bzgl. des Problems der zurückgehenden Ausbildungsquote der Unternehmen gefordert, dass die Ausbildungsvergütungen nur noch den tatsächlichen NettoNutzen der Arbeit der Auszubildenden im Betrieb reflektieren sollen (Wößmann 2004, 23). Angesichts der dann zumeist signifikant niedrigeren Vergütungen könne der Staat die Auszubildenden ggf. mit Ausbildungsdarlehen unterstützen. Die vom IAQ vorgeschlagene Ausbildungsabgabe (siehe Kapitel 6.1.3.) wird hingegen abgelehnt, da diese massive Transaktionskosten (ca. 100 Mio. € pro Jahr) in Form ihrer bürokratischen Verwaltung nach sich ziehen würde. Allerdings gibt es andere Institutionenökonomen (Alewell/Richter 2000; Alewell 2004), die das Problem als Dilemmasituation analysieren und für eine andere Lösung plädieren, nämlich für die Zulässigkeit von gesetzlichen Rückzahlungsklauseln (die zurzeit nach § 5 Berufsausbildungsgesetz verboten sind). Hierbei handelt es sich um eine Bestimmung in einem Ausbildungsvertrag, nach denen der Auszubildende zunächst vom Arbeitgeber während der Ausbildungszeit getragene Netto-Ausbildungskosten zurückzuzahlen hat, wenn er innerhalb eines bestimmten Zeitraums nach Abschluss der Ausbildung das ausbildende Unternehmen gegen dessen Willen verlässt, um zu einem anderen Unternehmen zu wechseln. Eine Rückzahlungsverpflichtung ergibt sich dabei 1) nur solange und 2) nur insoweit, wie die Nettokosten der Ausbildung noch nicht amortisiert sind. Für entsprechende Berechnungen könne man auf die Schätzungen des Bundesinstituts für Berufsbildung hinsichtlich der zu einem bestimmten Zeitpunkt verbleibenden Nettoausbildungskosten zurückgreifen. Rückzahlungsklauseln führten dazu, dass ausbildende Betriebe die positiven externen Effekte der Ausbildung internalisieren können. Sie müssten nicht mehr befürchten, dass ihre Ausbildungsleistungen ex post ausgebeutet werden. Dies stärke die Anreize der Unternehmen zur Ausbildung. Zugleich werden Unternehmen, die nicht selbst ausgebildete Fachkräfte bei anderen Unternehmen abwerben wollen, mit der potentiellen Rückzahlungsverpflichtung des fertig ausgebildeten Arbeitnehmers konfrontiert. Kostenlose Abwerbung (Poaching) sei dann nicht mehr möglich, da der ausgebildete Arbeitnehmer nur noch dann wechseln würde, wenn das neue Unternehmen die Rückzahlungsverpflichtung übernimmt oder andere äquivalente Vorteile (z.B. höherer Lohn) anbietet. Auch dadurch erhöhten sich die Anreize der Unternehmen zur Ausbildung; das Kollektivgut Ausbildung wird erbracht. Didaktisch kann man an dieser schülerorientierten Thematik gleich mehrere zentrale Elemente kategorialer ökonomischer Bildung (Anreize, Nutzen-Kosten-Analyse, externe Effekte, Dilemmasituation) vermitteln, und zwar wiederum nicht als abbilddidaktischen Selbstzweck, sondern mit gestaltungsorientiertem Fokus. Zweitens solle die deutsche Regierung Druck (mit der Drohung der Streichung von Feiertagen) auf die Tarifpartner ausüben, die wöchentliche Arbeitszeit auf 42 Stunden (ohne Lohnausgleich) zu erhöhen, um so die Stundenlohnkosten zu senken, die Ware Arbeitskraft zu verbilligen und so die Arbeitslosigkeit zu senken. Dies erhöhe die Nachfrage der Unternehmen nach vorher gerade nicht mehr rentablen Arbeitskräften, da deren monetäre Wertschöpfung nun deren Kosten übersteige. Die höheren Gewinne der Unternehmen würden diese zudem zu höheren Investitionen veranlassen; selbst eine Anlage dieser Gewinne am Kapitalmarkt würde sich automatisch in eine höhere Kreditnachfrage durch andere Unternehmer transformieren. Der Absatz der durch die längere Arbeitszeit bedingten Mehrproduktion sei kein Problem, weil jedes einzelne Unternehmen davon ausgehe, dass es die Mehrproduktion notfalls auf dem Wege einer Preissenkung absetzen könne, dabei aber
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trotzdem in jedem Fall seinen Gewinn noch steigere. Daher würde es die zur Mehrproduktion benötigten zusätzlichen Vorleistungen bei anderen Unternehmen auf jeden Fall einkaufen. Da aber alle Unternehmen so denken würden, steige die zum Absatz benötigte Nachfrage bereits ohne die Preissenkung (Sinn 2005, 129-136). Über den zwingenden Charakter dieser Kausalkette kann man wohl sehr intensiv diskutieren, wozu man das Diskussionsforum von Hans-Werner Sinn auf der Homepage des CESifo-Instituts nutzen kann28. Didaktisch kann man überdies – mit Blick auf die Reflexion (unbeabsichtigter) Nebenfolgen (Kapitel 4.4.2.) – diesen Vorschlag kritisch aus Sicht der empirischen Arbeitspsychologie (Nachreiner 2004; Stengel 2004) beleuchten. Demnach ist eine Arbeitszeitverlängerung entgegen der Annahme von Sinn (2005) nicht ohne weiteres mit einer signifikanten Steigerung des Arbeitsergebnisses verbunden, da die Effizienz des Arbeitnehmers mit zunehmender Arbeitsdauer exponentiell abnimmt. Zudem führe sie zu einem Anstieg des Unfallsrisikos und zu einer Zunahme gesundheitlicher Beschwerden (ebd.). Drittens solle der deutsche Gesetzgeber das Tarifkartell aufbrechen, indem er den gesetzlichen Kündigungsschutz abschafft und die Tarifpartner gesetzlich zwingt, in jeden Flächentarifvertrag eine sog. gesetzliche Öffnungsklausel aufzunehmen. Diese soll einzelnen Unternehmen die Möglichkeit geben, durch eine Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat von den im Flächentarifvertrag festgelegten Lohnrichtlinien nach unten abzuweichen, sofern eine qualifizierte Mehrheit der Belegschaft dem zustimmt (Sinn 2005; Berthold/Stettes 2000; Berthold/Brischke/Stettes 2003; Fehn 2002b, 35f.). So wäre jede Belegschaft in der Lage, die Arbeitsplätze in ihrem Betrieb durch Lohnkonzessionen zu sichern. Die von der VPÖ (Kapitel 6.1.1.) so betonte These zunehmender Konfliktkosten in den Betrieben bei einer solchen Dezentralisierung würde die Realitäten der modernen Arbeitswelt verkennen, denn die unsichtbare Hand des globalen Wettbewerbs zwinge die Betriebsparteien, ihre Partikularinteressen zurückzustellen. So sei die Streiktätigkeit in den letzten Jahrzehnten deutlich gesunken (Berthold/Stettes 2000, 40). Ein kooperatives Arbeitsklima liesse sich auch dadurch fördern, dass man der betrieblichen Ebene zugleich mit den gesetzlichen Öffnungsklauseln die Möglichkeit einräume, eine kollektive Gewinnbeteiligung zu vereinbaren, sodass die Beschäftigten an den (möglichen) zukünftigen Erfolgen einer (vorübergehenden) Fixlohnsenkung unter Flächentarif beteiligt werden (Berthold/ Stettes 2001). Eine opportunistische Fehldarstellung der Geschäftslage durch die Unternehmen sei aufgrund der davon ausgehenden negativen sozialen Reputationseffekte auf keinen Fall zu befürchten. Beim dritten Vorschlag ist es didaktisch mit Blick auf die Frage nach der politischen Durchsetzbarkeit (Kapitel 4.4.1.) zur Förderung einer realistischen gestaltungsorientierten Urteilsfähigkeit unerlässlich, der gesetzlichen Öffnungsklausel eventuell entgegenstehende verfassungsjuristische Restriktionen zu diskutieren, die sich aus Artikel 9 GG (Koalitionsfreiheit) ergeben, was umstritten ist. Sinn (2005, 167) verweist darauf, dass das BVG dem Gesetzgeber ein entsprechendes Interventionsrecht in Tarifangelegenheiten eingeräumt habe, sofern die Grundrechte von Dritten (Arbeitslose) tangiert würden. Eine andere Position vertritt z.B. Möschel (2003). An dieser Diskussion lässt sich sehr gut die Interdependenz von Recht und Wirtschaft aufzeigen sowie die Tatsache, dass selbst Verfassungsnormen nichts Ontologisches, sondern (umstrittene) soziale Konstrukte darstellen. 28
Siehe http://www.cesifo-group.de/portal/page/portal/ifoHome/B-politik/95discforum
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Entgegen der gegenwärtigen Praxis in Schulbüchern (Bauer et al. 2008, 312ff.; Floren 2006, 253-277; Heither/Klöckner/Wunderer 2006, 200ff.; Jöckel 2006, Kapitel 11; Kaminski 2006, 314-317) und im Handbuch politisch-ökonomische Bildung (Kapitel 5) ist es mit Blick auf das Kriterium der politischen Durchsetzbarkeit aber auch sinnvoll, das Thema Arbeitslosigkeit hinsichtlich der Interdependenzen zwischen Politik und Wirtschaft zu analysieren. Dies wäre zur Schulung reflektierter gestaltungsorientierter Urteilsfähigkeit – gerade in einem Fach mit integrativem Selbstverständnis – von weitaus größerer didaktischer Bedeutung als die in den obigen Schulbüchern regelmäßig anzutreffende enzyklopädische Aufzählung und Erläuterung aller möglichen Einzel-Arten von Arbeitslosigkeit. Denn die Neue Politische Ökonomie (NPÖ) des Arbeitsmarktes (Saint-Paul 2000; Wagner/Jahn 2004, 366ff.) bietet einen guten Ausgangspunkt, eine realistische Einschätzung der politischen Umsetzungschancen der obigen institutionenökonomischen Reformen des Arbeitsmarktes zu gewinnen. Zugleich kann der Schüler dadurch exemplarisch verstehen, warum Politik Probleme oft erst verursacht und unfähig erscheint, diese zu lösen (Paradox der problemverursachenden Politik, Kapitel 4.2.), und warum diese Unfähigkeit entgegen alltagstheoretischen Stammtischparolen nicht auf die intellektuelle Minderwertigkeit der Politiker zurückzuführen ist, sondern oft der Mitte der Gesellschaft selbst entspringen kann, die sich durch solche Parolen (unbewusst) ihrer Verantwortung zu entledigen versucht. Denn für die NPÖ liegt der Grund für die Entstehung und die enorme Beharrungskraft des korporatistischen Tarif-Kartells v.a. darin, dass der wahlentscheidende Median-Wähler ein Arbeitsmarkt-Insider ist, der in Form von höheren Löhnen auf Kosten der ArbeitsmarktOutsider vom Tarif-Kartell profitiert. Die Umsetzung grundlegender Reformen sei deshalb eher unwahrscheinlich (Wagner/Jahn 2004, 366ff.) bzw. sei höchstens dann zu erwarten, wenn es zu einer massiven Wirtschaftskrise wie etwa in Großbritannien Ende der 70er vor Antritt der Thatcher-Regierung komme. Kritisch diskutieren kann man daran, inwiefern die These der NPÖ, die Insider seien sich ihres rücksichtslosen Opportunismus völlig bewusst und könnten mit dem von ihnen den Arbeitslosen zugefügten Leid gut leben (Wagner/Jahn 2004, 372), psychologisch betrachtet nicht doch etwas unterkomplex ist. So kann man fragen, ob nicht eventuell die Annahme realistischer ist, dass die Mehrheit der Menschen grundsätzlich ein positives Selbstbild von sich im Einklang mit den Normen der Gesellschaft anstrebt, was aber natürlich nicht heißt, dass sie sich faktisch auch entsprechend verhalten. Deshalb könnte Alltagstheorien (Arbeitgeber als `böse Ausbeuter´) oder Ideologien wie z.B. vulgärkeynesianischer Art (Kaufkrafttheorie der Löhne) die psychologische Funktion zukommen, den eigenen Opportunismus (unbewusst) vor anderen und v.a. sich selbst zu rationalisieren, um intrapsychische kognitive Dissonanzen (Festinger 1957) zwischen positivem Selbstbildideal und faktisch opportunistischem Handeln zu beseitigen oder erst gar nicht aufkommen zu lassen (siehe dazu auch Kapitel 7.1.3.1.3.). Zur Förderung einer reflektierten, d.h. für mögliche Fallstricke von gestaltungspolitischen Vorschlägen sensiblen Urteilsfähigkeit (Kapitel 4.4.) ist es didaktisch darüber hinaus möglich, das obige theoretische neoklassische Modell des Arbeitsmarktes auf seinen Realitätsgehalt und damit zugleich das darauf basierende Reformprojekt der gesetzlichen Öffnungsklausel auf dessen Wirkungspotential kritisch zu hinterfragen, und zwar mit einer Perspektive (Dietz 2006), die man zwar ebenfalls als institutionenökonomisch charakterisieren kann und die auch dieselbe ideologische (nämlich wirtschaftsliberale) Orientierung aufweist, sich aber um eine stärkere empirische Fundierung bemüht. Auf diese Weise kann
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man den Schülern exemplarisch den Unterschied – und die gestaltungspolitischen Konsequenzen solcher Unterschiede! – zwischen einem ökonomischen Modell und dessen Annahmen auf der einen Seite und der wirtschaftlichen Realität auf der anderen Seite begreiflich machen, und zwar zugleich mit einem strikt problem- und gestaltungsorientierten Fokus. Demzufolge wäre herauszuarbeiten, dass Arbeitsverträge entgegen den Annahmen des neoklassischen Marktmodells i.d.R. unvollständig sind. (Dietz 2006, 96ff.; Fehr/Renninger 2001): Arbeitsverträge können nur allgemeine Richtlinien und grobe Qualitätsstandards vorgeben, nicht aber genaue Handlungsanweisungen, wie die sich wandelnden und oft nicht völlig absehbaren zukünftigen Anforderungen eines Arbeitsplatzes zu erfüllen sind. Das Leistungsniveau der Arbeitnehmer ist häufig nicht genau zu bestimmen, da das Arbeitsergebnis auch von exogenen, nicht vom einzelnen Arbeitnehmer beeinflussbaren Einflüssen sowie vom komplexen Zusammenspiel der Akteure im Produktionsprozess abhängig ist. Gemäß empirischen Studien ist nur etwa die Hälfte der Unternehmen in der Lage, die Leistung ihrer Beschäftigten einigermaßen beurteilen zu können (Dietz 2006, 99), was diesen einen Spielraum zum opportunistischen Verhalten bietet. Aus dieser Perspektive betrachtet befindet sich somit der Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber in einer gewissen Machtposition, und zwar schon auf einem freien Arbeitsmarkt und nicht erst durch gewerkschaftliche Vermachtung des Arbeitsmarktes wie oben. Didaktisch folgt hieraus, dass es fachdidaktisch problematisch ist, wie Himmelmann (2007, 258f. & 269) einseitig die Abhängigkeit des Arbeitnehmers vom Arbeitgeber zu betonen und vor den (angeblich) negativen ruinösen Folgen eines freien Arbeitsmarktes für den Arbeitnehmer zu warnen. Denn hierdurch wird das Kontroversitätsprinzip verletzt, das nicht nur für Ökonomikdidaktiker, sondern auch für Politikdidaktiker gilt. Insbesondere müsste es an dieser Stelle genau umgekehrt durch Thematisierung sowohl der Kategorie des (Tarif)Kartells als auch der Kategorie Prinzipal-Agenten-Beziehung/ Informationsasymmetrien auch darum gehen, bei den Schülern womöglich existierende Klischees über die (angeblich zwangsläufige) Macht des `reichen Arbeitgebers´ gegenüber dem `armen Arbeitnehmer´ durch kontraintuitive wissenschaftliche Theorien didaktisch zu hinterfragen und zu irritieren. Denn aus institutionenökonomischer Perspektive stellt sich das Arbeitsverhältnis ganz anders dar als aus der (implizit neomarxistischen) Perspektive von Himmelmann (2007). Selbst wenn dies wie bei einfachen Arbeitstätigkeiten möglich sei, verzichteten Unternehmen trotz der Unvollständigkeit des Arbeitsvertrages häufig auf hierarchische Leistungskontrollen, Sanktionsandrohungen oder detaillierte Vorschriften, da derartige Institutionen Misstrauen signalisierten und die intrinsische Arbeitsmotivation der Arbeitnehmer beeinträchtigten (Dietz 2006, 112 & 154f.). Die Unternehmen hielten also an den unvollständigen Arbeitsverträgen fest, da Kontrolle ein Motivationstöter sei (Falk/Kosfeld 2006). Die meisten Arbeitgeber seien vielmehr daran interessiert, dass sich die Arbeitnehmer freiwillig, ohne hierarchische Kontrolle mit ihrer Arbeit identifizieren, ein loyales und kooperatives Verhalten an den Tag legen, ein über Dienst nach Vorschrift hinausgehendes Arbeitsverhalten zeigen, Eigeninitiative z.B. in dem Sinne entwickeln, dass sie (im Vertrag) nicht vorhergesehene Probleme ohne direkte Anweisung erkennen und selbstständig beheben usw. Deshalb würden die meisten Unternehmen in erster Linie relationale, d.h. auf persönlichem Commitment basierende und daher sich selbst durchsetzende Arbeitsverträge setzen. Angesichts der drastischen Mitarbeiterüberwachungsmaßnahmen bei Unternehmen wie z.B.
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Lidl sollte man natürlich fragen, inwieweit diese These auch heute noch repräsentativ ist, doch gibt es zu dieser Frage (meines Wissens) leider keine empirischen Studien. Vielmehr behauptet die institutionenökonomische Perspektive, dass die Unternehmen zur Erreichung selbstdurchsetzender Arbeitsverträge neben der Etablierung einer entsprechenden Unternehmenskultur v.a. auf die Vergabe von – so Dietz (2006) wörtlich – „Geschenken“ setzen, d.h. die meisten Unternehmen würden sich um die Zahlung von Löhnen oberhalb des marktüblichen Durchschnitts und damit oberhalb des markträumenden Niveaus bemühen (Effizienzlöhne). Dabei würden Unternehmer darauf vertrauen, dass Arbeitnehmer auf diese „Geschenke“ nicht wie Homines Oeconomici reagieren, d.h. trotzdem dasjenige minimale Arbeitsanstrengungsniveau wählen, das eine Entlassung gerade noch verhindert, sondern wie Homines Reciprocantes, die dieses „Geschenk“ des Arbeitgebers ihrerseits mit einem „Geschenk“ in Form eines sehr engagierten Arbeitsverhaltens belohnen, das durch hierarchische Kontroll- und Sanktionsmechanismen nicht durchsetzbar wäre. Die empirische ökonomische Forschung (Dietz 2006, 94-181) zeigt in der Tat, dass Arbeitnehmer freiwillig gezahlte überdurchschnittliche Löhne mit einem freiwillig erbrachten hohen Leistungsniveau beantworten (Fehr/Renninger 2001), da sie diese Lohngeschenke als motivationsfördernde soziale Wertschätzung und selbstwertsteigernden Vertrauensvorschuss erleben. In didaktischer Hinsicht zeigt sich hieran exemplarisch, dass man das HomoOeconomicus-Modell nicht verabsolutieren darf, wie viele ökonomikdidaktische Beiträge zumindest suggerieren (z.B. Kaminski 2001/2002; Karpe/Krol 1997), sondern dass die Schüler je nach vorliegendem Problem auch mit anderen Handlungsmodellen bekannt zu machen sind. Denn für eine gestaltungsorientierte Urteilsfähigkeit zum Schlüsselproblem der Arbeitslosigkeit erweist sich das Homo-Reciprocans-Modell als fruchtbar, um das mögliche `Versagen´ eines freien Arbeitsmarktes infolge von Informationsasymmetrien zu verstehen. Da aus logischen Gründen nicht jedes, sondern nur die Hälfte der Unternehmen „Geschenke“ in Form von überdurchschnittlichen Effizienzlöhnen verteilen kann, kommt es aus dieser Perspektive zu einem wechselseitigen Aufschaukelungsprozess der Löhne, infolgedessen der die intrinsische Motivation der Arbeitnehmer fördernde Effizienzlohn mehr oder weniger oberhalb des Gleichgewichtslohns zu liegen komme, sodass schon auf einem freien Arbeitsmarkt Arbeitslosigkeit entstehe (Fehr/Renninger 2001). Dazu trage auch bei, dass Arbeitgeber Lohnunterbietungsangebote von arbeitslosen Bewerbern aus Furcht vor negativen Folgen für die Arbeitsmoral ihrer Belegschaft ablehnten. Überdies würden sie auch im wirtschaftlichen Abschwung eher mit der Entlassung von (gering qualifizierten) Arbeitnehmern als mit einer Lohnsenkung reagieren, da sie fürchten, dass sich letzteres im Gegensatz zu ersterem negativ auf die Arbeitsmoral der Belegschaft auswirke. Denn die deutliche Mehrheit der Arbeitnehmer hielte eine Kürzung ihres Lohnes allein aufgrund einer Verschlechterung der Arbeitsmarktsituation für unfair, auch wenn das Unternehmen dadurch weniger Arbeitnehmer entlassen müsse (Dietz 2006, 174f.). Deshalb fielen (Nominal)löhne auch in einer schweren Rezession nicht. Zu betonen ist, dass diese empirisch fundierte Theorie die Entstehung von Arbeitslosigkeit auf einem freien Markt nicht auf den Opportunismus der Arbeitnehmer, sondern auf soziale Normen, d.h. auf Fairnesskonzepte zurückführt (Bewley 1999). Didaktisch ist es sinnvoll, eine Beziehung zwischen dieser Theorie und der deutschen Arbeitsmarktordnung herzustellen, um so die (mögliche) Ursache für die hohe Arbeits-
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losigkeit in der BRD besser verstehen zu können. Demnach verschärft die Vermachtung des deutschen Arbeitsmarktes durch das Tarifkartell den arbeitslosigkeitsgenerierenden Effekt von Effizienzlöhnen (Dietz 2006, 182 ff.). Denn die ohnehin über dem Gleichgewichtsniveau befindlichen Tariflöhne bildeten den Maßstab für das, was die Arbeitnehmer als freiwilliges, motivationsförderndes Lohngeschenk seitens ihres Arbeitgebers perzipieren. Der Tariflohn als solcher würde von den Arbeitnehmern – und zwar auch in nicht formell tarifgebundenen Unternehmen – mehr oder weniger als Selbstverständlichkeit wahrgenommen, sodass die Unternehmen durch die bloße Zahlung des Tariflohns kaum motivationssteigernde Wirkungen erzielen könnten. Denn der Tariflohn würde als erzwungener Lohn allein dem Einsatz der Gewerkschaft zugute gehalten und gerechtigkeitspsychologisch nicht dem Arbeitgeber gutgeschrieben. Dieselben problematischen Effekte gingen von einem staatlichen Mindestlohn aus. Daher müsse ein Unternehmen den staatlichen Mindestlohn bzw. den jeweiligen Tariflohn sogar noch (deutlich) übertreffen, sofern es motivationssteigernde Effekte bei den Arbeitnehmern induzieren möchte. Infolgedessen zahlten viele tarifgebundene deutsche Unternehmen `freiwillig´ übertariflich und viele formell nicht tarifgebundene deutsche Unternehmen orientieren sich `freiwillig´ an den Tariflöhnen. Folglich falle die Arbeitslosigkeit auf gewerkschaftlich vermachteten Arbeitsmärkten und/oder solchen mit Mindestlohn noch höher aus als bereits auf freien Arbeitsmärkten. Didaktisch kann man die gestaltungsorientierte Frage diskutieren, was diese Theorie für die Wirksamkeit des obigen Reformvorschlags gesetzliche Öffnungsklausel bedeutet. Gerade unter Bezug auf die empirische Studie von Bewley (1999) ist zu vermuten, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer v.a. in Ausnahmefällen – wenn Unternehmen in ihrer Existenz bedroht sind – eine Lohnsenkung unter den Flächentarif vereinbaren würden, jedoch kaum zur Sicherung oder gar zum Ausbau der bisherigen Beschäftigungsdichte im Betrieb, weil dadurch die reziproke, motivationsförderliche Geschenkaustauschbeziehung zwischen dem Arbeitgeber und den Insidern stark gestört wird (was laut empirischen Studien zu Qualitätsproblemen bei der Produktion führt), da der Flächentarif immer noch den ReferenzFrame dafür bildet, welche Lohnhöhe Arbeitnehmer als fair wahrnehmen (Dietz 2006, 219f.). Eine Verschlechterung der Geschäfts- und Arbeitsmarktlage wird nicht als ausreichende Bedingung für die Akzeptanz von Lohnkürzungen akzeptiert, vielmehr werden diese auch unter diesen Umständen laut empirischen Studien von einer Mehrheit der Beschäftigten als unfair wahrgenommen (ebd., 174f.). Dies wäre dann auch eine Erklärung dafür, warum die bereits von den Tarifpartnern vereinbarten Öffnungsklauseln von deutschen Unternehmen in der Praxis kaum genutzt werden. Auf diese Weise können Schüler erkennen, wie komplex und wie dilemmahaft sich (möglicherweise) die politische Lösung des Problems der Arbeitslosigkeit gestalten mag und wie schwierig deshalb politisches Handeln ist. Denn einerseits – aus dem Blick des Urteilskriteriums der politischen Durchsetzbarkeit – scheint bestenfalls eine gesetzliche Öffnungsklausel politisch mehrheitsfähig und verfassungsmäßig zulässig. Andererseits – aus dem Blick des Urteilskriteriums der Effektivität – scheint eine solche Klausel (wenn man die Theorie von Dietz (2006) akzeptiert) jedoch nicht besonders wirkmächtig zu sein; vielmehr müsste man das gewerkschaftliche Tarifkartell komplett `sprengen´, wobei man sich wie die Monopolkommission auf das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) berufen könnte: Warum sollen überbetriebliche Kartelle auf dem Arbeitsmarkt zulässig sein, wenn sie auf anderen Märkten gesetzlich verboten sind? Doch diese ökonomisch (möglicherweise) effektive Lösung hat wiederum den großen Nachteil, dass sie –
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zumindest derzeit – weder politisch durchsetzbar noch verfassungsmäßig zulässig wäre. Schließlich kommt noch das Faktum der Unsicherheit hinzu, weil andere Perspektiven (siehe Kapitel 6.1.1. und 6.1.3.) wie gesehen ja überhaupt keinen Zusammenhang zwischen der deutschen Arbeitsmarktordnung und der Arbeitslosigkeit sehen. Durch diese komplexe Betrachtung des Problems der hohen Arbeitslosigkeit in der BRD aus verschiedenen Urteilskriterien und Perspektiven kann somit der gestaltungspolitische Realismus der Schüler gefördert und ihre möglicherweise überzogene Erwartungshaltung an die Politik auf ein realistischeres Niveau gesenkt werden.
6.1.3 Die Perspektive des Instituts für Arbeit und Qualifikation (IAQ) Wie die VPÖ geht das Institut für Arbeit und Qualifikation davon aus, dass die Arbeitnehmermitbestimmung und das duale System der industriellen Beziehungen in der BRD bewahrenswert sind (Bosch/Haipeter/Latniak/Lehndorff 2007). Dessen Erhalt soll staatlicherseits dadurch unterstützt werden, dass öffentliche Aufträge im Gegensatz zu heute künftig nur an Firmen mit Tarifbindung vergeben werden (Bosch 2008, 20). Didaktisch kann man hierbei auf die Nebenwirkungen (Kapitel 4.4.2.) dieses Vorschlags für die öffentlichen Haushalte aufmerksam machen. Zudem kann man auch hier wiederum mit Blick auf die Frage nach der politischen Durchsetzbarkeit (Kapitel 4.4.1.) und die für eine Gestaltungsdidaktik wichtigen politökonomischen Interdependenzen zwischen nationaler und europäischer Ebene untersuchen, inwiefern dieses Ansinnen mit der Rechtssprechung des EuGH konfligiert, was bei fehlender Allgemeinverbindlichkeitserklärung oder aber mangelnder Reichweite des betreffenden Tarifvertrags in der Tat der Fall ist29. Ebenso ist man sich mit der VPÖ darin einig, dass Ansätze zur Lösung des Arbeitslosigkeitsproblems in Deutschland im Dienstleistungssektor ansetzen müssen. Um die Beschäftigung in diesem Bereich zu steigern, sollen die knappen öffentlichen finanziellen Mittel aus einer Einkommensteuererhöhung jedoch nicht, wie im Vorschlag der VPÖ, zur Finanzierung eines staatlichen Zuschusses zu den Sozialversicherungsbeiträgen von Geringverdienern verwendet werden, sondern zur Ausweitung der öffentlichen Beschäftigung im Bereich des Sozial-, Gesundheits- und Erziehungswesen (dies ist nach OECDKlassifikation der sog. ISIC 9), in denen Deutschland v.a. gegenüber den skandinavischen Staaten eine erhebliche „Dienstleistungslücke“ aufweise (Bosch/Wagner 2003; Lehndorff 2006). Durch einen solchen Ausbau des Bildungswesens (Ganztagsschulen), der Kinderbetreuung (ganztägige Betreuung auch für unter Dreijährige) und der Altenpflege sollen bisherige (weibliche) familiäre Fürsorge-Verantwortlichkeiten in großem Maßstab „defamilialisiert“ werden. Dadurch soll es Frauen mit Kindern ohne Komplikationen ermöglicht werden, ihrem überwiegenden Wunsch nach einer regulären bezahlten Vollzeiterwerbstätigkeit (Bielenski/Bosch/Wagner 2002) nachzugehen. Zugleich sollen die finanziellen Anreize zur Aufnahme einer Vollzeit-Beschäftigung erhöht werden, indem die steuerliche Begünstigung des männlichen Alleinverdienermodells (sog. „Ehegattensplitting“) zugunsten eines individualisierten Steuersystems skandinavischer Prägung abgeschafft wird (Lehndorff 2006). Durch die Erhöhung der weiblichen Beschäftigungsquote steige zugleich die Nachfrage nach Arbeitskräften im Bereich der privaten konsumorientierten Dienstleistungen (ISIC 29
Siehe dazu http://www.tagesschau.de/wirtschaft/tarifbindung2.html, abgerufen am 03.04.2008.
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6), da den Doppelverdienerhaushalten nun zum einen die Zeit/Bereitschaft fehlt, häusliche Tätigkeiten (Einkaufen, Putzen, Wäsche, Kochen, Pflege des Gartens etc.) wie früher selbst zu erledigen und da sie zum anderen nun auch über die notwendigen finanziellen Mittel verfügen, diese Tätigkeiten auf den Markt auszulagern (Bosch/Wagner 2003, 490ff.). Gerade durch die Steigerung der weiblichen Erwerbsarbeitspartizipation könne die Arbeitslosigkeit gesenkt werden (so auch Esping-Andersen 1999; Freeman 2007). Angesichts dessen sind didaktische Vorgehensweisen (Floren 2006, 276f.) hochgradig problematisch, die die zunehmende Erwerbsbeteiligung von Frauen als eine zwangsläufige Quelle für „demographische Arbeitslosigkeit“ darstellen. Wenn dem tatsächlich so wäre, müssten im internationalen Vergleich Staaten mit besonders hoher weiblicher Beschäftigungsquote (d.h. die angloamerikanischen und die skandinavischen Länder) höhere Arbeitslosigkeitsraten aufweisen. Genau das trifft aber nicht zu – vielmehr ist genau das Gegenteil der Fall (EspingAndersen 1999). Wie die VPÖ eignet sich auch diese Argumentation des IAQ didaktisch sehr gut, das Thema „Sektoraler Strukturwandel“ nicht rein deskriptiv zu behandeln, sondern in einen problem-, lösungs- und gestaltungsorientierten Fokus einzubetten. Dabei kann man mit Hilfe der Soziologen Häußermann/Siebel (1995) (die dieselbe Theorie vertreten) theorieund empiriegeleitet untersuchen, auf wie ganz unterschiedliche Weise Deutschland („familialistische Selbstbedienungsgesellschaft“), die USA („Gesellschaft der verarmten Dienstboten“) und Schweden („Gesellschaft des öffentlichen Dienstes“) von 1970 bis heute den Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft politisch gestaltet haben und welche unterschiedlichen Probleme in diesen drei kategorialen Welten des Wohlfahrtskapitalismus (Esping-Andersen 1990 & 1999) damit jeweils einhergehen (nämlich Arbeitslosigkeit, Working Poor, hohe Steuerlast). Angesichts der damit verbundenen These des sog. „Trilemmas der Dienstleistungsgesellschaft“ (Iversen/Wren 1998) könnten die Schüler dabei auch lernen, in dreiseitigen Zielkonflikten zu denken. Dies ist auch aus Sicht einer problem- und gestaltungsorientierten fachdidaktischen Perspektive auch deshalb sinnvoll, weil international vergleichende empirische Studien (Castles 2003; Sleebos 2003) zeigen, dass die institutionelle „Defamilialisierung“ von Fürsorge-Verantwortlichkeiten durch öffentliche Betreuungseinrichtungen die Fertilitätsrate erhöhe, da die Berufschancen der Frauen in einem derartigen Umfeld durch Schwangerschaft bzw. Anwesenheit von Kindern im Haushalt deutlich weniger beeinträchtigt würden. Auf diese Weise würden junge Paare in die Lage versetzt, ihre derzeit unzureichend realisierbaren Kinderwünsche30 in die Tat umzusetzen. Dieses Argument ist nicht nur bevölkerungspolitisch, sondern auch für das hier thematisierte Politikfeld der Arbeitsmarktpolitik relevant, da der Arbeitsmarktökonom Freeman (2007) argumentiert, dass Familien mit Kindern 10-20% mehr Geld für Konsum ausgeben als Familien ohne Nachwuchs und daher mit Blick auf die schwache Binnenkonjunktur in Deutschland über eine durch Defamilialisierung erhöhte Konsumnachfrage ein erheblicher Beschäftigungsimpuls zu erwarten sei. Didaktisch lässt sich hieran zugleich auf gestaltungsorientierte Weise das Denken in Opportunitätskostenstrukturen fördern, indem man auf die für eine Frau unterschiedlich hohen Opportunitätskosten eines Kindes (Einkommenseinbuße, direkte Kinderkosten, Disqualifikationseffekte infolge einer längeren Abwesenheit vom Arbeitsmarkt und damit erhöhtes Arbeitslosigkeitsrisiko, verschlechterte Karriereaussichten, ökonomische Abhän30
Die durchschnittlich gewünschte Kinderzahl junger Paare beträgt 2,4 (Rürup/Gruescu 2003, 75).
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gigkeit vom Partner bei gleichzeitig gestiegenem Scheidungsrisiko) in unterschiedlichen institutionellen Umgebungen als kausale Erklärung für das Fertilitätsniveau verweist. Um Armut zu vermeiden, setzen die Wissenschaftler am IAQ nicht wie die institutionenökonomische Perspektive auf eine staatliche Subventionierung von Niedriglohnarbeits-verhältnissen, denn dies führe zu erheblichen Mitnahmeeffekten bei den Unternehmen, die aus strategischem Kalkül ihren Lohn immer weiter senken, da jegliche Differenz zwischen Lohn und soziokulturellem Existenzminimum vom Staat gezahlt werde, was zu einer stetig steigenden Belastung des Staatshaushaltes führen werde. Didaktisch kann man durch entsprechende Kontrastierung dieser Perspektiven eine mögliche Nebenwirkung (Kapitel 4.4.2.) des institutionenökonomischen Vorschlags aufzeigen. Um stattdessen die staatlichen Steuereinnahmen für den obigen Ausbau der sozialen Dienstleistungen im öffentlichen Sektor zu reservieren, plädiert das IAQ für die Einführung eines Mindestlohns (Bosch/Weinkopf 2006), der jedoch nicht vom Staat, sondern wie in Großbritannien von einer unabhängigen Kommission auf der Basis wissenschaftlicher Studien festgelegt werden sollte, damit der Mindestlohn nicht zum Gegenstand von wahlkampfpolitischem Opportunismus wird. Der Einwand der institutionenökonomischen Perspektive, ein Mindestlohn führe zwangsläufig zu einem Beschäftigungsverlust, sei nicht überzeugend, denn eine Metastudie über 37 empirische Untersuchungen zu den Folgewirkungen von Mindestlöhnen (Ragacs 2003) zeige, dass es genauso viele Studien gäbe, die neutrale/positive Beschäftigungseffekte feststellen würden wie solche, die von negativen Auswirkungen berichten. Theoretisch sei dies damit zu erklären, dass Unternehmen infolge der räumlich begrenzten Mobilität der Arbeitnehmer, Transaktionskosten eines Stellenwechsels und ihrer mangelnden Markttransparenz häufig über monopsonistische Marktmacht verfügten, sodass sie Löhne unter dem Gleichgewichtslohn festsetzen könnten (so auch Krueger 2001). Negative Beschäftigungseffekte eines Mindestlohns ließen sich überdies dadurch vermeiden, dass den Unternehmen wie in Großbritannien durch frühzeitige Information und organisatorische Beratung Zeit gegeben bzw. Hilfe vermittelt werde, sich durch Weiterqualifikation der Beschäftigten sowie durch Verbesserung von Arbeitsorganisation, Managementpraktiken und Servicequalität auf den Mindestlohn einzustellen. Infolgedessen hätten britische Unternehmen die Herausforderungen infolge der Einführung des Mindestlohns im Jahr 1999 nicht durch Absenkung der Beschäftigtenzahl, sondern u.a. durch eine Veränderung der Arbeitsorganisation bewältigt. Die Tatsache, dass der britische Mindestlohn zu einer Produktivitätssteigerung im Dienstleistungssektor geführt habe, zeige, dass Unternehmen entgegen der (impliziten) institutionenökonomischen Annahme nicht unbedingt automatisch alle Effizienzpotentiale von selbst ausschöpfen würden. Die dritte vom IAQ befürwortete arbeitsmarktpolitische Maßnahme besteht – im Gegensatz zur institutionenökonomischen Perspektive – nicht in einer Verlängerung, sondern in einer Verkürzung des gesellschaftlichen Arbeitszeitstandards für abhängig beschäftigte Vollzeiterwerbstätige in Europa, um den Bürgern die Möglichkeit zu geben, ihre Zeitnutzungspräferenzen zu verwirklichen. So zeigt eine empirische Studie (Bielenski/Bosch/Wagner 2002) zu den individuell gewünschten und den tatsächlichen Arbeitszeiten der abhängig beschäftigten Männer und Frauen in Europa, dass – unter Berücksichtigung der damit einhergehenden Einkommenssenkung – gegenüber den heutigen Verhältnissen deutlich mehr Arbeitnehmer (ca. 30% gegenüber 5% heute) eine Arbeitszeit zwischen 30 und 35 Stunden bevorzugen würden,
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während sich der Anteil derjenigen, die mehr als 40 Stunden arbeitet, bei Umsetzung der Wünsche von ca. 30% auf 15% halbieren würde. Ähnliche Ergebnisse findet die Arbeitszeitstudie von Bauer/Groß/Lehmann/Munz (2004). In Übereinstimmung mit diesen Forschungsergebnissen kommt auch die empirische Untersuchung von Grözinger / Matiaske/ Tobsch (2008) zu dem Ergebnis, dass – wiederum unter Berücksichtigung der damit einhergehenden Einkommenssenkung – mehr als die Hälfte der deutschen Beschäftigten ihre Arbeitszeit im Schnitt um 8 Stunden/Woche senken möchten, wobei es sich v.a. um Vollzeitbeschäftigte mit regelmäßigen Überstunden, d.h. einer faktischen Wochenarbeitszeit von im Schnitt knapp 43 Stunden handelt. Demgegenüber möchte nur ein Fünftel ihre Arbeitszeit verlängern, wobei es sich v.a. um Teilzeitbeschäftigte handelt. Rechnet man die Präferenzen der beiden Gruppen gegeneinander auf, verbleibt ein durchschnittlicher Arbeitsreduktionswunsch von 2,77 Std. pro Arbeitnehmer (ebd., 9). Rein rechnerisch entspricht dies einem Gegenwert von 2,4 Mio. Arbeitsplätzen (ebd.), was auch bei Berücksichtigung von regionalen/qualifikatorischen Mismatch-Problemen, Reorganisationskosten der Unternehmen etc. immer noch ein großes Potential darstelle. Durch die Reduktion der Arbeitszeit von Hochqualifizierten, bei denen dieser Wunsch besonders stark ausgeprägt sei (Bosch/Wagner 2002, 7; Grözinger/Matiaske/Tobsch 2008, 8) könne also mehr Menschen die Chance zur Ausübung einer anspruchsvollen Tätigkeit gegeben und positive Beschäftigungseffekte erzielt werden. Die von Sinn (2005) (vgl. Kapitel 6.1.2.) geforderten Arbeitszeitverlängerungen würden laut empirischen international vergleichenden Studien hingegen zu einer Senkung der Arbeitsproduktivität führen, da dadurch die Notwendigkeit für Unternehmen gesenkt werde, eine möglichst effiziente Organisation der Produktion anzustreben (Lehndorff 2003). Zudem sei bei einer Verlängerung der Arbeitszeit mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit zu rechnen, wie eine repräsentative Umfrage unter Unternehmen gezeigt habe (Spitznagel/Wanger 2004 zit. nach Grözinger/ Matiaske/Tobsch 2008, 2). Aus Sicht einer gestaltungsorientierten Fachdidaktik ist die Erörterung der Frage nach Arbeitszeitverlängerungen bzw. -verkürzungen ein überaus sinnvoller Aspekt, da die Frage nach der Work-Life-Balance für die Lebensqualität einer Gesellschaft aus empirischer Sicht eine große Rolle spielt (Easterlin 2003; Frey/Stutzer 2004). Dementsprechend zeigt die empirische Studie der Ökonomen Grözinger/Matiaske/Tobsch (2008, 6f.), dass die subjektive Gesundheits-, Arbeits- und Lebenszufriedenheit der deutschen Beschäftigten umso niedriger ist, je stärker faktische und gewünschte Arbeitszeit auseinanderklaffen, wobei diesem Effekt auch bei statistischer Kontrolle von anderen Variablen eine erhebliche Wirkung zukommt. Die Unzufriedenheit der Menschen mit ihrer faktischen Arbeitszeit ist im letzten Jahrzehnt stark gewachsen. Gerade solche unbefriedigten Bedürfnisse der Menschen sollte ein gestaltungsorientierter sozialwissenschaftlicher Unterricht aufgreifen und thematisieren. Denn es ist die hierin zum Ausdruck kommende Bedeutung des Gegenstandes für den Lebenswert der Gesellschaft, die das entscheidende fachdidaktische Auswahlkriterium ist, und nicht die Tatsache, dass gegenwärtig in der Öffentlichkeit nicht mehr so intensiv über die Länge der Arbeitszeit und schon gar nicht über deren Verkürzung diskutiert wird wie noch in den 70er und 80er Jahren. Anstatt ebendies unkritisch zum Anlaß zu nehmen, das für die Menschen wie oben gesehen offenbar sehr wichtige Thema der Arbeitszeit(verkürzung) komplett auszusparen, sollte eine gestaltungsorientierte sozialwissenschaftliche Fachdidaktik es dem Schüler vielmehr ermöglichen, sich von den herrschenden
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Strukturen des derzeitigen öffentlichen Diskurses zu distanzieren, d.h. unabhängig von der medialen Mehrheit denken zu lernen. Denn aus fachdidaktischer Sicht ergibt sich aus den obigen empirischen Ergebnissen eine für das künftige Wohlergehen der Schüler überaus wichtige Fragestellung: Warum gelingt es der heutigen Wirtschaftsordnung offenbar nicht, die Arbeitnehmer jene Kombination von Entgelt und Arbeitszeit frei wählen zu lassen, die sie persönlich bevorzugen? Warum wird diese Problematik in der Öffentlichkeit nicht diskutiert? Wie ist dieses Markt- und Politikversagen zu erklären? Gibt es Möglichkeiten, diesen unbefriedigenden Zustand zumindest teilweise zu überwinden? Für Deutschland empfiehlt Lehndorff (2001, 167ff.), die derzeitige gesetzliche Begrenzung der maximalen durchschnittlichen Wochenarbeitszeit im deutschen Arbeitszeitgesetz (ArbZG) von 48 Stunden künftig auf 40 Stunden zu reduzieren und damit dem rechtlichen Status Quo in vielen anderen europäischen Ländern zu folgen. Vorübergehende Überschreitungen wären zugelassen, müssten aber innerhalb eines bestimmten Zeitraums wieder ausgeglichen werden. Auf diese Weise soll abhängig Beschäftigten zumindest das Recht gegeben werden, sich im Konfliktfall gegen den zunehmenden Rekurs der Unternehmen auf (zunehmend unbezahlte) Überstunden zur Wehr setzen zu können. So würden 11,4% (1997) aller vollzeitbeschäftigten ArbeitnehmerInnen in Deutschland gewöhnlich länger als 40 Stunden arbeiten; der Anteil der Beschäftigten, die regelmäßig Überstunden leisteten, sei von 35% (1989) auf 56% (1999) gestiegen (ebd., 65 & 169). Zugleich soll damit ein politisches Signal an die Tarifpartner zugunsten weiterer allgemeiner Arbeitszeitverkürzungen gesendet werden, die jedoch nicht vom Gesetzgeber selbst durchgesetzt werden sollen, da dies gegen die Tarifautonomie verstoßen würde. Hiergegen lässt sich kritisch einwenden, dass die Tarifpartner in der BRD mittlerweile nicht mehr die erforderliche Durchsetzungskraft besitzen, um auf breiter Front entsprechende Arbeitszeitverkürzungen zu erreichen. Der innovative Vorschlag von Grözinger/Matiaske/Tobsch (2008, 12-15) empfiehlt deshalb die Errichtung einer mit unabhängigen Experten bestückten Arbeitszeitagentur nach dem Vorbild der Zentralbank. Diese soll das Recht erhalten, allen Arbeitgebern eine bestimmte durchschnittliche „grüne“ Höchstwochenstundenzahl pro Arbeitnehmer vorzuschreiben. Zudem verteilt sie eine darüber hinaus gehende, aber begrenzte Anzahl an „gelben“ Mehrarbeitserlaubnisstunden, die zwischen den Unternehmen auf einem Markt gehandelt werden können. Für zusätzliche „rote“ Stunden soll von den Unternehmen ein hoher Zuschlag an die unabhängige Arbeitszeitagentur abgeführt werden. Auf diese Weise soll der Anreiz der Unternehmen erhöht werden, Neueinstellungen vorzunehmen statt Überstundenarbeit zu praktizieren. Gegenüber dem (institutionen)ökonomischen Einwand, wonach Arbeitszeitverkürzungen über eine Erhöhung der Stundenlohnkosten zu einem Abbau von Arbeitsplätzen führen, wird darauf verwiesen, dass es vielmehr auf die Bedingungen ankomme, unter denen eine Arbeitszeitverkürzung durchgeführt werde. Es gäbe keinen Grund, warum die allgemeinen Produktivitätsfortschritte nicht auch weiterhin wie in den letzten 150 Jahren teilweise für eine Reduktion der Arbeitszeiten verwendet werden könnten (so auch Ruckriegel 2009, 54). Didaktisch ist es jedoch wichtig, genau diese Bedingungen dann auch zu betonen, um allzu simplifizierenden, vermeintlich auf der Hand liegenden Arbeitsumverteilungsmöglichkeiten (`Milchmädchenrechnungen´) im Denken der Schüler vorzubeugen. Die Mitarbeiter des IAQ argumentieren, dass die Lohnstückkosten nicht stiegen, wenn der gesamte Anstieg der Stundenlohnkosten infolge von Arbeitszeitverkürzung und Lohnerhöhungen im Rahmen der allgemeinen Produktivitätssteigerungen verbleibe (Bosch/
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Lehndorff 2001, 211f.). Dies sei in Deutschland in den 80er Jahren (also zur Zeit der letzten Arbeitszeitverkürzungen) der Fall gewesen, weil die Gewerkschaften als Ausgleich für die Arbeitszeitverkürzungen niedrigere Lohnsteigerungen akzeptiert hätten (Lehndorff 2001, 45) (was empirisch umstritten ist, vgl. Börsch-Supan 2002). Zudem erfordern Arbeitszeitverkürzungen oft eine Reorganisation der Arbeitsprozesse und verursachen damit Transaktionskosten, die durch kollektives Lernen im Rahmen von korporatistischen Organisationen besser minimiert werden könnten. Eine weitere wichtige Bedingung für Kostenneutralität sei, dass auf dem Arbeitsmarkt genügend Arbeitskräfte mit der benötigten Qualifikation verfügbar sind. Der ökonomische Erfolg und damit auch mögliche Beschäftigungsgewinne einer Arbeitszeitverkürzungspolitik hingen in entscheidendem Maße von einer aktiven, öffentlichen Qualifizierungspolitik ab. Hierfür eigne sich zum einen das dänische Jobrotationsmodell (Bosch/Lehndorff 2001, 240; Lehndorff 2001, 149), in dessen Rahmen ein Arbeitsloser angelernt wird und für eine gewisse Zeit den Arbeitsplatz eines Beschäftigten übernimmt, der während dieser Zeit (von bis zu 1 Jahr) eine Weiterbildung absolviert und dabei das volle Arbeitslosengeld erhält. Zu einer aktiven öffentlichen Qualifizierungspolitik gehöre aber auch die Einführung einer für alle Unternehmen obligatorischen Ausbildungsabgabe wie in Dänemark (Bosch/Lehndorff 2001, 240; Bosch 2003; Bosch 2004), um die in den letzten Jahren zurückgehende Ausbildungsquote in Deutschland wieder zu erhöhen oder zumindest zu stabilisieren. Der letzte Vorschlag ist didaktisch zum einen deshalb hochrelevant, weil er die ökonomisch-beruflichen Entfaltungschancen von Jugendlichen und damit einen zentralen Bedingungsfaktor ihrer persönlichen Lebensqualität berührt und diese zugleich mit der politischen Ausgestaltung von gesellschaftlichen Institutionen in Verbindung bringt (Erhellung des Mikro-Makro-Zusammenhangs). Aus Sicht einer gestaltungsorientierten sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik ist es deshalb höchst verwunderlich, warum das für Schüler hochrelevante Themengebiet des dualen Berufsbildungssystems, das Problem der zurückgehenden Ausbildungsquote und gestaltungspolitische Möglichkeiten zur Behebung / Minderung dieses Problems in gängigen Schulbüchern (z.B. Floren 2006; Jöckel 2006; Kaminski 2006) und im Handbuch zur politisch-ökonomischen Bildung (Althammer / Andersen/Detjen/Kruber 2007) überhaupt keine (!) Erwähnung findet. Diese didaktische Leerstelle ist auch deshalb unverständlich, weil sich dieses Thema zugleich insofern gut zur kategorialen Bildung eignet, als man es unter Rekurs auf die Denkfigur des Sozialen Dilemmas analysieren kann (Bosch 2003 & 2004; Alewell 2004; Alewell/Richter 1999; Nagel/Jaich 2004). Dementsprechend begründet das IAQ (Bosch 2003 & 2004) seinen Vorschlag einer obligatorischen Ausbildungsabgabe aus dem Widerspruch zwischen kollektiver und individueller Rationalität von Ausbildungsmaßnahmen auf einem freien Arbeits- bzw. Ausbildungsmarkt. Demnach profitieren vom Standpunkt der kollektiven Rationalität betrachtet langfristig alle Unternehmen, wenn sie genügend Ausbildungsplätze schaffen. Aus Sicht der individuellen Rationalität, d.h. aus der Perspektive des einzelnen Branchenunternehmens A – insbesondere, wenn es sich um ein relativ kleines Unternehmen handelt – besteht bei Übernahme von Ausbildungs-Nettokosten (was empirisch nicht bei allen, aber für einen signifikanten Teil der Ausbildungsverhältnisse in Deutschland zutrifft) jedoch die Gefahr, durch andere Branchenunternehmen B – E ausgebeutet zu werden, indem diese auf Ausbildungsmaßnahmen verzichten und daher ceteris paribus über mehr Finanzmittel verfügen, mit dem sie die qualifizierten Arbeitnehmer vom Unternehmen A nach Abschluss
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der Ausbildung abwerben können (Poaching). Dieses Freifahrerverhalten soll durch die Errichtung von kollektiven Branchenfonds mit einer obligatorischen, hinsichtlich ihrer Höhe von der jeweiligen Beschäftigtenzahl abhängige Ausbildungsabgabe für jedes Unternehmen nach dänischem Vorbild verhindert werden (Bosch 2004, 226). Diese Finanzmittel sollen dazu verwendet werden, allen Unternehmen einen Teil der Ausbildungsvergütungen zu erstatten, sodass sich die Nutzen-Kosten-Bilanz und damit der Anreiz zur Übernahme von Ausbildungsverpflichtungen aus Sicht jedes einzelnen Unternehmens positiv gestaltet. Vergleichende empirische Studien zu den US-Bundesstaaten, die entsprechende Systeme (nicht) eingeführt haben, zeigen, dass obligatorische Ausbildungsabgaben die Ausbildungsquote erhöhen (ebd., 222-225). Ein entsprechendes System könne auch zur (Teil)Finanzierung von Weiterbildungsmaßnahmen eingerichtet werden. Mit Blick auf das Kontroversitätsprinzip kann man didaktisch diese Idee der Ausbildungsabgabe mit den institutionenökonomischen Vorschlägen (Senkung der Ausbildungsvergütung bzw. Rückzahlungsklausel) (vgl. Kapitel 6.2.2.) kontrastieren. Aus Sicht des IAQ wird durch die oben aufgeführten Maßnahmen (Jobrotation, Ausund Weiterbildungsabgabe) gewährleistet, dass – wie in Deutschland in den 80er Jahren – ein Fachkräftemangel verhindert wird und sogar ein gewisser qualifikatorischer Überschuss entsteht, der wie damals eine Umverteilung von Arbeit in Gefolge von allgemeinen Arbeitszeitverkürzungen wesentlich erleichtere und ein Anwachsen von Überstunden verhindere. Zur Förderung gestaltungsorientierter Urteilsfähigkeit in Bezug auf die Frage nach der Sinnhaftigkeit der vom IAQ vorgeschlagenen Arbeitszeitverkürzung ist es didaktisch jedoch wichtig, nicht nur die Frage nach deren ökonomischen Bedingungen, sondern auch nach deren empirischen Auswirkungen auf die Lebensqualität der Menschen und die Frage nach ihrer politischen Durchsetzbarkeit zu stellen. Dies ist in exemplarischer Form – z.B. via Gruppenreferat – anhand einer Evaluation der jüngeren französischen Arbeitszeitpolitik (siehe zum Folgenden Askenazy 2007; Hayden 2006) möglich. So könnte man zugleich auch wiederum exemplarisch alternative Ordnungsrealitäten in anderen Ländern und damit verbundene Ordnungsoptionen erörtern (Hedtke 2002a). In Frankreich wurde in den Jahren 2000/2002 die gesetzliche Arbeitszeit durch eine Linkskoalition von 39 auf 35 Stunden verkürzt, von der die Unternehmen nur um den Preis höherer Lohnkosten abweichen konnten. Seriöse multivariate empirische Studien kamen zu dem Ergebnis, dass die Reform die Beschäftigungsintensität des Wachstums in der Tat gesteigert und ca. 350000 neue Arbeitsplätze geschaffen habe. Falls die Zeit dafür vorhanden ist, kann man an dieser Stelle exemplarisch in wissenschaftspropädeutischer Sicht vertiefend darauf eingehen, wie komplex es ist, den (Miß)Erfolg von wirtschaftspolitischen Maßnahmen zu evaluieren, da in der realen Welt immer mehrere Einflüsse gleichzeitig auf die abhängige Variable wirken, weshalb ein einfacher Vergleich von bivariaten Mustern (hier: Arbeitslosigkeitsrate vor und nach der Reform) nicht zulässig ist, sondern nur multivariate Studien legitim sind, die den Einfluss von anderen Faktoren kontrollieren. Wichtiger wäre didaktisch jedoch, einen ökonomistischen Bias im Sinne einer alleinigen Fokussierung auf i.e.S. ökonomische Erfolgsmaßstäbe wie Beschäftigungs- und Wirtschaftswachstum zu vermeiden und auch andere Urteilskriterien menschlicher Lebensqualität bei der Schulung der Urteilsfähigkeit der Schüler ebenfalls zu berücksichtigen. So wäre u.a. darauf hinzuweisen, dass die Reform laut empirischen Studien dazu geführt hat, dass über die Hälfte der von der Arbeitszeitverkürzung Betroffenen mit Kindern unter 12 Jahren laut eigener Aussage mehr Zeit mit ihrem Nachwuchs verbringen – wobei didaktisch-
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wissenschaftspropädeutisch freilich insofern ein kritischer Umgang mit solchen empirischen Ergebnissen zu pflegen ist, als zu hinterfragen ist, inwiefern hier ein tatsächliches Verhalten zum Ausdruck kommt oder aber nur dessen soziale Erwünschtheit (eine zentrale Kompetenz bei der kritischen Interpretation von Umfragen). Von besonderem Belang für die gestaltungsorientierte Urteilsfähigkeit ist das empirische Ergebnis, wonach fast 60% der Betroffenen angeben, dass die 35-Stunden-Woche ihre tägliche Lebensqualität verbessert habe, während nur gut 10% das Gegenteil behaupten. Gleichwohl wäre aber auch darauf hinzuweisen, dass es für einen erheblichen Teil der Beschäftigten zu einer höheren Arbeitsintensität gekommen ist, die v.a. von vielen weiblichen Beschäftigten mit geringer Qualifikation als eine Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen erlebt wird. Die hierin zum Ausdruck kommende und hervorzuhebende Ambivalenz (Kapitel 4.4.3.) von gestaltungspolitischen Reformen zeigt sich auch in der Tatsache, dass höherqualifizierte Beschäftigte deutlich mehr Autonomie bezüglich der Wahl der zusätzlichen Freizeit besitzen, während Geringqualifizierte mit einer höheren Unvorhersehbarkeit und Variabilität ihrer Arbeitszeiten konfrontiert wurden, da eine größere Arbeitszeitflexibilität (Anpassung an die jeweilige Marktlage) ein Teil des `Preises´ war, den die Beschäftigten für die sinkende Arbeitszeit zu zahlen hatten. Diese wichtige Dimension der Ambivalenz kann didaktisch auch dadurch betont werden, dass jede gestaltungspolitische Reform nicht nur Nutzen (s.o.), sondern auch (Transaktions-) und (Opportunitäts-)Kosten generiert, die bei der Urteilsbildung sorgfältig gegeneinander abgewogen werden müssen. Im vorliegenden Fall bedeutet dies, herauszustellen, dass die politische Legitimität und Durchsetzbarkeit der Reform bei den Beteiligten davon abhing, dass der französische Staat den Unternehmen finanzielle Vergünstigungen (Reduktion der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung) als Anreiz dafür gewährte, dass sie mit Belegschaftsvertretern Vereinbarungen über die konkrete Umsetzung der 35-StundenWoche aushandelten. Ohne diese Zuschüsse sowie die aus der Arbeitszeitflexibilisierung resultierenden Effizienzgewinnen hätten die Unternehmen die anfallenden Reorganisationskosten der Arbeitsprozesse selber finanzieren müssen, was zu einer Erhöhung der Lohnstückkosten geführt hätte. Außerdem wäre es ohne die staatlichen Zuschüsse nicht möglich gewesen, durch die Verkürzung bedingte Lohneinbußen bei den Mindestlohnempfängern auszuschließen. Didaktisch wäre dabei zur Vermeidung von Fiskalillusionen klarzustellen, dass diese Kosten einer solchen Reform (im vorliegenden Fall 16 Mrd. € pro Jahr bei voller Umsetzung) von allen Steuerzahlern zu tragen sind und für andere Verwendungszwecke nicht mehr zur Verfügung stehen. Hinzu kam die Akzeptanz eines zweijährigen Lohnstopps für mehr als die Hälfte aller Beschäftigten, um die Arbeitszeitverkürzung kostenneutral für die Unternehmen umsetzen zu können (was sie dann auch tatsächlich war). Zudem kann hinsichtlich der Frage nach der politischen Durchsetzbarkeit (Kap. 4.4.1.) vertiefend auf die Interessenkonflikte (Kapitel 4.3.) rund um das Gesetz eingegangen werden, d.h. v.a. auf die einflussreiche Lobby-Macht des französischen Arbeitgeberverbandes. Angesichts dessen energischer Proteste gegen die Reform als solche, welche viele französische Unternehmen als eine illegitime Einmischung des Staates in ihre betriebliche Autorität empfanden, sah sich die Linkskoalition gezwungen, eine zunächst vorgesehene Bedingung für die Gewährung der finanziellen Ermäßigung an das jeweilige Unternehmen – die Erhöhung der Beschäftigtenzahlen um 6% – in einer späteren, reformulierten Version des Gesetzes zu streichen. Dies hat mit dazu beigetragen, dass Beschäftigungsgewinne überwiegend nur während der Phase vor dieser Reformulierung des Gesetzes erzielt wurden und stattdes-
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sen die Arbeitsintensität einiger Beschäftigter erheblich anstieg. Hieran kann man exemplarisch zeigen, dass in der realen Welt aus macht- und interessenspolitischen Gründen nicht selten Kompromisse einzugehen sind, die die Effektivität politischer Programme aushöhlen können. Unabhängig von den (begrenzten) Erfolgen der Arbeitszeitverkürzung schaffte die nach der Wahl 2002 an die politische Macht gekommene Rechtskoalition die finanziellen Anreize wieder ab und legte das Projekt damit trocken. Dies jedoch nicht unter Verweis auf die beachtlichen Kosten für den Staat, was angesichts der hohen Staatsverschuldung ein durchaus plausibles Argument gewesen wäre, sondern im Rahmen einer hochgradig ideologisierten Debatte, in der argumentiert wurde, dass die Arbeitszeitverkürzung für den wirtschaftlichen Abschwung seit 2002 verantwortlich sei (was angesichts der Kostenneutralität für die Unternehmen wenig überzeugend ist) und dass schon die von einer sozialistischen Regierung im Jahr 1936 eingeführte Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit (auf damals 44 Stunden) eine zentrale Ursache für die französische Kriegsniederlage von 1940 gewesen sei. Die obigen empirischen Daten zur Arbeits- und Lebensqualität der Menschen spielten hingegen keine wesentliche Rolle. Hieran kann man zwecks Dämpfung von idealistischen Hoffnungen, die soziale Welt nach rationalen Kriterien politisch umgestalten zu können, didaktisch zeigen, wie wenig wissenschaftlich fundiert öffentlich-politische Diskurse sein können.
6.1.4 Fachdidaktische Strukturierung des Politikfeldes gemäß Kapitel 4.5. Das zentrale Lernziel eines gestaltungsorientierten Unterrichts zum Politikfeld `Arbeitsmarktpolitik´ auf der Sekundarstufe II besteht darin, den Schüler in die Lage zu versetzen, ein begründetes politisches Urteil bzgl. der Frage auszubilden, welche arbeitsmarktpolitischen Institutionen/Maßnahmen geeignet erscheinen, Beeinträchtigungen der gesellschaftlichen Lebensqualität sowohl durch Arbeitslosigkeit als auch durch Armut zu minimieren. Hierzu können gemäß Schritt 1 des Strukturschemas aus Kapitel 4 als Grundlage für die folgende Problemerörterung in deskriptiver Hinsicht exemplarisch ausgewählte Charakteristika der institutionellen Verfasstheit des Steuer- und Abgabensystems (Sozialversicherungsprinzip) und der Arbeitsmarktordnung (Tarifautonomie, Duales System der Interessenvertretung, Mitbestimmung) in Deutschland erarbeitet werden (Aspekt 1.1. `Institutionen´). Dabei kann man herausstellen, dass diese institutionellen Strukturen nicht selbstverständlich sind, sondern insofern ein spezifisches nationalgesellschaftliches Konstrukt (Hedtke 2006a, 222) darstellen, als ein Steuer- und Abgabensystem auch auf dem Privatversicherungsprinzip mit staatlichen Steuervergünstigungen oder auf dem Staatsbürgerprinzip (komplette Steuerfinanzierung) aufbauen kann. Ebenso muss ein Arbeitsmarkt nicht einem bilateralen Monopol entsprechen, sondern kann polypolistisch organisiert sein. Zur Induktion sozialkonstruktivistischer Phantasie kann man die Schüler dabei zunächst selber überlegen lassen, welche möglichen Alternativen zur derzeitigen institutionellen Realität in der BRD grundsätzlich existieren. Im Anschluss daran kann man von einer konsensualen Definition der Problematik (Arbeitslosigkeit und Armut) ausgehen – deren Reduktion wären dann zugleich die beiden zentralen Urteilskriterien (Aspekt 3.1. des Strukturschemas aus Kapitel 4) – und anhand von Fallbeispielen die negativen ökonomischen und psychologischen Folgen von Arbeits-
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losigkeit und Armut vor Augen führen. Dazu zählt insbesondere die Tatsache, dass Arbeitslosigkeit gemäß der empirischen Wohlbefindensforschung der Psycho-Ökonomik im Durchschnitt zu einer massiven Beeinträchtigung des subjektiven Wohlbefindens führt (Frey/Stutzer 2002; Layard 2005). Diese Beeinträchtigung ist langfristiger Natur, d.h. die Lebenszufriedenheit bleibt auch nach Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit unter ihrem ehemaligen Niveau vor der Arbeitslosigkeit (Lucas/Clark/Georgellis/Diener 2004). Unter Rückgriff auf entsprechende Statistiken sollte auch kurz das Ausmaß dieser Probleme in Deutschland angesprochen werden (Aspekte 1.2. `Problem´ und 1.3. `Problemdefinition´). Der nächste didaktische Schritt bestünde in einer Problematisierung der in Aspekt 1.1. erarbeiteten institutionellen Realität, indem diese mit den in den Aspekten 1.2. und 1.3. vorgestellten Problemen argumentativ in Verbindung gebracht wird, d.h. mit der Kritik und einigen ausgewählten Alternativvorschlägen (eines Teils) der drei Perspektiven der VPÖ, der NIÖ und des IAQ konfrontiert wird (Schritt 2 + 3). So können auch naturalistische Fehlschlüsse vom institutionellen Sein aus das normative Sollen verhindert werden. Die Kontrastierung (eines Teils) dieser drei Perspektiven ist zur Schulung gestaltungsorientierter Mitbestimmungsfähigkeit deutlich besser geeignet als analytische Differenzierungen zwischen friktioneller, saisonaler, konjunktureller, demografischer, strukturwandelbedingter und wachstumsdefizitärer Arbeitslosigkeit (so z.B. im Schulbuch von Floren 2006, 267-276). Denn 1) steht mit Blick auf das Prinzip der Wissenschaftsorientierung die Auseinandersetzung zwischen den obigen drei Perspektiven im Mittelpunkt der aktuellen sozialwissenschaftlichen Diskussion und nicht diese sechs Arten der Arbeitslosigkeit. 2) verdeutlichen diese drei Perspektiven – im Gegensatz zu den sechs Arten der Arbeitslosigkeit bei Floren – die institutionelle Einbettung der Problematik in die spezifische deutsche Wirtschaftsordnung anstatt ohne diese institutionelle Bindung abstrakt-allgemein über Konjunktur, sektoralen Wandel, Wachstum, Demographie zu diskutieren. Der institutionenökonomische Ansatz zeigt, dass es zur Förderung gestaltungsorientierter Mitbestimmungsfähigkeit nicht reicht, bloß die Frage nach zu geringem Wachstum (Floren 2006, 274f.) bzw. hohen Lohn(stück)kosten zu stellen (ebd., 366-370), sondern man sollte auch die möglichen institutionellen Hintergründe dieser (umstrittenen) Phänomene erhellen. Denn anderenfalls kann der Schüler gar nicht wissen können, was man – außer hilflosen moralischen Appellen – gestaltungspolitisch gegen möglicherweise zu hohe Löhne bzw. zu niedriges Wachstum tun könnte. 3) machen die drei Perspektiven handfeste gestaltungspolitische Vorschläge zur Überwindung des Problems der Arbeitslosigkeit/Armut, was bei den sechs Arten der Arbeitslosigkeit hingegen nicht der Fall ist. Wie aber soll man die politische Mitbestimmungsfähigkeit der Schüler fördern, wenn nur (überdies teils hochgradig nebensächliche31 und hochgradig fragwürdige32) Ursachen für ein Problem dargestellt werden, aber überhaupt
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So steht die friktionale/saisonale Arbeitslosigkeit überhaupt nicht im Kern der Problematik, die doch gerade durch die hohe Langzeitarbeitslosenquote in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern gebildet wird. Angesichts der Zeitknappheit sollte sich sozialwissenschaftlicher Unterricht aber immer auf den jeweiligen zentralen Kern einer Problematik konzentrieren. 32 Genauso hochgradig fragwürdig wie der angebliche Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und steigender Frauenerwerbsquote ist der bei Floren (2006, 276) postulierte Nexus zwischen verstärkter Immigration und steigender Arbeitslosigkeit. Siehe Longhi/Nijkamp/Poot (2008) sowie den Forschungsüberblick unter http://www.nytimes.com/2006/07/09/magazine/09IMM.html?pagewanted=all, abgerufen am 03.04.2008.
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keine Lösungsvorschläge? Dies ist ein typischer Fall der von Weber (2004) zu Recht monierten didaktischen Präsentation von Problemen ohne Lösungsansätze. Wie bereits in Kapitel 6.2.2. kurz angedeutet, kann man zu den drei zu selektierenden Perspektiven noch eine vierte Sichtweise hinzuziehen, denn alle drei bisher dargestellten Sichtweisen wollen weiterhin grundsätzlich (wenn auch mit unterschiedlicher Schärfe) das Anrecht auf das soziokulturelle Existenzminimum an die Ausübung von kommerzieller Erwerbsarbeit binden. Obwohl dieses Reziprozitätsprinzip der herrschenden öffentlichen Meinung entspricht (Falk/Huffman/Mierendorff 2007), sollte man auch mit Blick auf das Kontroversitätsprinzip fachdidaktisch nicht davor zurückschrecken, diese gesellschaftliche Konvention zur Debatte zu stellen, um das gestaltungspolitische Vorstellungsvermögen der Schüler nicht unnötig einzuschränken. In diesem Fall bietet es sich an, entsprechende politologische Beiträge (z.B. Offe 2005, 2008) und ökonomische Beiträge (z.B. Mitschke 2001, 2004) in einer vierten und somit interdisziplinären Perspektive zusammenzuführen, da sie sich angesichts ihrer unterschiedlichen (normativ-legitimatorischen bzw. ökonomischkonstruktiven) Arbeitsschwerpunkte wechselseitig gut ergänzen. Beide Autoren halten einen vom Staat durchgesetzten Erwerbsarbeitszwang sowohl für normativ problematisch als auch für ökonomisch kontraproduktiv (mangelnde Produktivität erzwungener Arbeit, Transaktionskosten der staatlichen Kontrollbürokratie). Das Ziel der Erreichung von dauerhafter Vollbeschäftigung unter humanen Bedingungen ist in ihren Augen eine Illusion. Gleichwohl muss bei der Erörterung von Vorschlägen, die für eine Entkoppelung von soziokulturellem Existenzminimum und kommerzieller Erwerbsarbeit plädieren, natürlich immer gegenwärtig sein, dass diese makroökonomisch problematische Anreizwirkungen und fiskalpolitisch problematische Nebenwirkungen erzeugen können (so Offe 2005, 141 selber). Die Tatsache, dass das, was verteilt werden soll, zuvor erarbeitet werden muss und dass vom Distributionsumfang Rückwirkungen auf den Produktionsumfang ausgehen können, darf in der Diskussion nicht untergehen, wenn die didaktisch sicherlich wünschenswerte gestaltungspolitische Phantasie realistischen Boden unter den Füßen haben soll. Angesichts dessen sollte man hinsichtlich der vierten Perspektive in diesem Politikfeld – jedenfalls dann, wenn man das Prinzip der Wissenschaftsorientierung ernst nimmt – nicht mit gestaltungspolitischen Vorschlägen arbeiten, die in steuer- und finanzpolitischer Hinsicht kaum vernünftig durchkalkuliert sind wie z.B. Werner (2007) (siehe dazu Jost 2006). Natürlich kann man diese Vorschläge im Unterricht auch kritisch diskutieren, doch wenn man zeigen will, dass die Entkoppelung von soziokulturellem Existenzminimum und Erwerbsarbeit ökonomisch zumindest grundsätzlich diskussionswürdig ist, sollte man besser auf steuer- und finanzpolitisch detailliert und anreiztheoretisch reflektiert durchkalkulierte Vorschläge wie z.B. den von Mitschke (2001, 2004) zurückgreifen, der für Deutschland zwecks Entschärfung des Armuts- und Arbeitslosigkeitsproblems eine Negative Einkommensteuer gemäß dem alten Vorschlag von Milton Friedman ausgearbeitet hat. Mitschkes Reformmodell, das vom Finanzwissenschaftler Clemens Fuest durchgerechnet worden ist, ist innerhalb des ideologischen Koordinatenkreuzes von Petrik (2007) grosso modo im positiven Bereich der y-Achse und in der Mitte der x-Achse zu verorten, weil man es zum einen als einen Kompromiss zwischen sozialer Gleichheit/staatlicher Umverteilung und Wirtschaftsfreiheit/freier Marktallokation begreifen kann und zum anderen hier der Wert der nicht nur formal-rechtlichen, sondern materiell-faktischen individuellen Selbstbestimmung ohne Erwerbsarbeitszwang in den Mittelpunkt gerückt wird.
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Gemäß diesem Vorschlag würden alle derzeitigen steuerfinanzierten Leistungen zu einem konditionslosen, aber bedürftigkeitsabhängigen Bürgergeld von € 650 pro Monat für jeden Bürger verschmolzen. Jeder dazuverdiente Euro mindert dieses Bürgergeld um 50 Cent, bis die staatliche Leistung bei € 1200 komplett abgeschmolzen ist (Transferentzugsrate von 50%). Die (prognostizierten) staatlichen Mehrkosten dieses Vorschlags betragen € 12 Mrd pro Jahr (dies entspricht ca. 3% des gesamten derzeitigen Steueraufkommens) (Jost 2006). Ausgehend hiervon kann man im Unterricht den Kosten-Nutzen-Trade-Off, d.h. den Interessens- und Zielkonflikt zwischen niedrigerem/höherem Bürgergeld und Senkung/ Erhöhung der Mehrkosten und eventuellen Steuererhöhungen sowie ökonomische Vor- und Nachteile einer höheren/geringeren Transferentzugsrate anhand von einigermaßen realistischen Zahlen diskutieren. Auf diese Weise kann sich der Schüler ein ökonomisch zumindest einigermaßen fundiertes politisch-ethisches Urteil zu dem folgenden sozialphilosophischen Fragenkomplex bilden: Inwiefern verlangt, wie z.B. Offe (2005, 141) meint, die Tatsache der infolge der „Lotterie der Geburt“ ungleichen sozialen Chancen der Menschen nach einer Entkoppelung von Arbeit und Einkommen? Inwiefern verlangt es das Prinzip der Menschenwürde, dass eine reiche Gesellschaft ihren Mitgliedern die Möglichkeit einräumt, schlecht bezahlte Arbeit unter unangenehmen Bedingungen abzulehnen, d.h. die eigene Lebensweise auch faktisch frei – ohne den stillen Zwang materieller Existenznöte – zu wählen? Inwiefern ist ein solches Arrangement mit Blick auf mögliche Interessenskonflikte gesellschaftspolitisch tragfähig? Führt es nicht zu einer Verknappung und damit Verteuerung von niedrigqualifizierter Arbeit, was wiederum die Preise von Gütern und Dienstleistungen erhöht, auf die auch die Bezieher des (geringen) Grundeinkommens angewiesen sind? Beschwört es nicht (langfristig) in Form problematischer sozialisatorischer Nebenwirkungen insbesondere auf junge Menschen eine kulturelle Erosion der Arbeits- und Leistungsnorm und damit zugleich eine kollektive Dilemmasituation herauf, in der viele den `Weg des geringsten Widerstands´ gehen und vorwiegend konsumieren, aber nur wenige noch investieren wollen? Oder wirkt dem die relationale „Keeping-Up-With-the-Joneses“-Ethik der Mittelschicht entgegen? Um die Diskussion zu den beiden letzten Fragen empirisch fundiert zu gestalten, kann man auf die realweltlichen Experimente in den USA in den 70er Jahren (und deren partielle methodologische Begrenztheit) zu den Folgen einer solchen negativen Einkommensteuer eingehen sowie die (verzerrte) kommunikative Konstruktion dieser Ergebnisse in der öffentlich-medialen Diskussion analysieren (Widerquist 2005). Der gemäß dem Kontroversitätsprinzip eigentlich gebotene Vergleich dieser vier Perspektiven erzeugt eine relativ hohe didaktische Komplexität, die man zur Not entweder durch eine Reduktion auf 2 Perspektiven oder aber – in leistungsstarken Kursen – durch vertiefte Arbeitsteilung in der methodischen Form des Gruppenpuzzles bewältigen kann. Dementsprechend würde man zunächst vier Schülergruppen (sog. Expertengruppen) bilden, welche jeweils eine der vier Perspektiven erarbeiten (jeweils in stark zusammengefasster Form). Diese eigenständige Erarbeitung ist didaktisch insofern vorzustrukturieren, indem man die Lernenden bittet, zwischen der jeweiligen Ursachendiagnose für Arbeitslosigkeit/Armut (Aspekt 1.4.) und den gestaltungspolitischen Vorschlägen zu trennen (Aspekte 2.1. und 2.2.). Anschließend würden die Schüler in gemischten Gruppen (sog. Stammgruppen) nach wechselseitiger Information entsprechend strukturierte komparative Tabellen erstellen.
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Unter Rückgriff auf das ideologische Koordinatenkreuz von Petrik (2007) können im Plenum dann zunächst die unterschiedlichen normativen Schwerpunktsetzungen der Perspektiven – soziale Gleichheit (VPÖ und IAQ), individuelle Selbstbestimmung (Mitschke/Offe), ökonomische Wirtschaftsfreiheit (NIÖ) – und die partiellen Zielkonflikte zwischen diesen herausgearbeitet werden (Aspekt 2.3. `Ziel- und Wertvorstellungen´), sodass die Schüler zum einen begreifen, dass diese drei Ziele nur in begrenztem Maße gleichzeitig zu verwirklichen sind (und damit keine unerfüllbaren Wünsche an die Politik herantragen) und zum anderen darüber reflektieren können, welche(s) dieser politischen Ziele ihnen persönlich besonders wichtig ist (Förderung der Entwicklung einer politischen Persönlichkeit, Petrik 2007). Beim Vergleich der Vorschläge kann exemplarisch auch die Ambivalenz und die empirische Unsicherheit der Wirkungen von Arbeitsmarktinstitutionen (Aspekt 2.4.) aufgezeigt werden. So ist empirisch umstritten, welche Wirkungen z.B. von einer Einkommensteuererhöhung (z.B. Corneo 2006 vs. Prescott 2004; Weber 2006), von Mindestlöhnen (z.B. Ragacs 2003; Card/Krueger 1995 vs. Neumark/Wascher 2007) und von korporatistischen Arbeitsmärkten (z.B. Howell 2005; Bradley/Stephens 2006 vs. Siebert 1997) ausgehen. Dabei muss nicht immer ein Entweder-Oder vorliegen, sondern es kann sich auch um ein ambivalentes Sowohl-Als-Auch handeln: so mögen z.B. korporatistische Arbeitsmärkte einerseits zur Herausbildung einer qualitativ sehr anspruchsvollen, international hochgradig wettbewerbsfähigen Produktionsstrategie (sog. Diversifizierte Qualitätsproduktion) beitragen, andererseits aber gerade deswegen weniger produktive Arbeitnehmer arbeitslos werden lassen. Auch wegen dieser empirischen Unsicherheit wäre es didaktisch problematisch, hier anhand von (angeblichen) wissenschaftlichen Minder- und Mehrheiten „minder- und höherwertige“ Ansätze (Krol/Loerwald/Zoerner 2006) voneinander abgrenzen zu wollen. Angebrachter ist es, bei der vergleichenden Diskussion der Vorschläge die theoretische Plausibilität so mancher Argumentation kritisch zu hinterfragen, z.B.: Ist es plausibel anzunehmen, dass sich die Mehrproduktion infolge einer Arbeitszeitverlängerung quasiautomatisch ihre eigene Nachfrage schaffen wird und sich höhere Gewinne/höheres Sparen der Unternehmen automatisch – unabhängig von der absehbaren Entwicklung der Konsumnachfrage – in höhere Investitionen (Kreditnachfrage) umwandeln werden, wie Sinn (2005, 129ff.) ernsthaft meint? Oder: Ist der Hinweis auf monopsonistische Strukturen von Arbeitsmärkten (Bosch/Weinkopf 2006) mit Blick auf die empirische Realität in Deutschland tatsächlich ein plausibles Argument für die Einführung eines Mindestlohns, wie die Autoren meinen? Hinsichtlich der sich angesichts der potentiellen Folgen der gestaltungspolitischen Vorschläge auftuenden Interessenkonflikte (Aspekte 3.2. und 3.3.) kann zunächst der Konflikt zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmer(verbänden) thematisiert werden, der v.a. in der Perspektive des IAQ eine große Rolle spielt (konträre Positionen beim Mindestlohn, bei der Arbeitszeitverkürzung und bei der Ausbildungsabgabe). Dabei ist es wichtig, die Stellungnahmen der entsprechenden Interessengruppen unter Rückgriff auf wissenschaftliche Argumentationen zu hinterfragen. Darüber hinaus wäre der weniger gut sichtbare, aber mindestens genauso relevante Verteilungskonflikt zwischen (qualifizierten) Insidern und (geringqualifizierten) Outsidern aufzuzeigen. Dieser spielt nicht nur bei der TarifkartellThese der NIÖ eine Rolle, sondern insofern auch beim Vorschlag der VPÖ und beim Bürgergeld von Mitschke/Offe, als hier Einkommenszuschüsse/Sozialleistungen für Gering-
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qualifizierte über (höhere) Einkommensteuerzahlungen der Arbeitsmarkt-Insider aus der Mittel- und Oberschicht finanziert werden sollen. Während beim ArbeitnehmerArbeitgeber-Konflikt offen bleiben muss, welche arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen als verallgemeinerungsfähig gelten können, muss bzgl. des Insider-Outsider-Konflikts deutlich werden, dass Arbeitslosigkeit laut der empirischen Wohlbefindensforschung die subjektive Lebenszufriedenheit eines Menschen deutlich stärker beeinträchtigt als Einkommensverluste (Layard 2005) und zumindest insofern die Interessen der Outsider als eher verallgemeinerungsfähig gelten können als diejenigen der Insider. Offen zu diskutieren ist hingegen, inwiefern die Insider für ihre monetären Unterstützungsleistungen einen reziproken Gegenwert in Form von Erwerbsarbeitspartizipation seitens der Outsider verlangen können oder nicht. Aspekt 3.4. – der Verweis auf die Möglichkeit von unbeabsichtigten Nebenfolgen – kann den Schülern größtenteils anhand der wechselseitigen Kritik der Perspektiven verdeutlicht werden: Während beim Vorschlag der VPÖ die geplanten Einkommensteuererhöhungen kontraproduktive makroökonomische Effekte auslösen könnten (so die Kritik der NIÖ), könnte die vom IAQ geplante Einführung eines Mindestlohns die Arbeitslosigkeit von Geringqualifizierten verschärfen (so die Kritik der NIÖ). Demgegenüber könnte die von der institutionenökonomischen Perspektive vorgeschlagene, gesetzliche Öffnungsklausel das sensible Zusammenspiel der beiden Ebenen des dualen Systems der Interessenrepräsentation in der BRD aus der Balance werfen (so die Kritik von VPÖ und IAQ). Zudem können die von der NIÖ an Stelle eines Mindestlohns empfohlenen Lohnzuschüsse zu Mitnahmeeffekten seitens der Unternehmer auf Kosten der Staatskasse führen. Hinsichtlich der Frage nach der Einführung eines Bürgergeldes kann insbesondere auf dessen mögliche problematische sozialisatorische Nebenwirkungen auf die ökonomische Innovations- und Leistungskultur einer Volkswirtschaft eingegangen werden. Hinsichtlich der politischen Durchsetzbarkeit (Aspekt 3.5.) der sowohl für die Pläne der VPÖ als auch der IAQ notwendig werdenden Steuererhöhungen kann man fragen, inwiefern sich diese Forderung im Wahlkampf als mehrheitsfähig erweisen könnte. Mindestens ebenso ungewiss ist, ob sich angesichts der starken, womöglich gar anthropologischen Verankerung des Reziprozitätsprinzips (Falk/Huffman/Mierendorff 2006) im Denken der Menschen (Homo Reciprocans) gerade auch in sozialpolitischen Angelegenheiten eine Mehrheit der Wählerschaft für den Vorschlag eines konditionslosen Bürgergeldes begeistern könnte. Bezüglich der von der NIÖ angestrebten Dezentralisierung des Flächentarifvertragssystems können neben der Erörterung der Mehrheitsfähigkeit unter Rückgriff auf die Neue Politische Ökonomie (Wagner/Jahn 2004) auch die eventuellen verfassungsjuristischen Hindernisse dieses Vorhabens aufgezeigt werden. Bei der persönlichen Urteilsbildung (Aspekt 3.6.) muss sich der Schüler nicht unbedingt einer einzigen Perspektive verschreiben, sondern kann auch verschiedene Einzelelemente miteinander kombinieren, z.B. eine Dezentralisierung der Tarifstrukturen (NIÖ) bei gleichzeitiger Progressivierung des Sozialversicherungssystems (VPÖ), sofern diese grundsätzlich kompatibel sind. Im Anschluss an die persönliche Urteilsbildung ist herauszuarbeiten, welche politischen Parteien welcher sozialwissenschaftlicher Perspektive nahe stehen (Aspekt 3.7.). Als zentrale Einsicht kann man hierbei herausarbeiten, dass CDU/CSU und FDP in diesem Politikfeld auf der rechten Seite des ideologischen Koordinatenkreuzes von Petrik (2007)
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zu verorten sind, wohingegen SPD, Grüne und Die Linke auf der linken Seite anzusiedeln sind. Denn CDU/CSU sowie die FDP haben sich insofern einen Großteil der Vorschläge der NIÖ zu Eigen gemacht, als sie die Einführung einer gesetzlichen Öffnungsklausel zur Aufweichung des Tarifkartells (CDU/CSU 2005, 12; FDP 2005, 13) fordern. Zudem befürworten beide Parteien anstelle eines gesetzlichen Mindestlohnes die staatliche Bezuschussung von Bürgern mit niedrigem Markteinkommen und eine Reduktion der Transferentzugsrate beim Bezug der Grundeinkommensleistungen (CDU/CSU 2005, 13; FDP 2005: 7f., 12f.), wobei letztere explizit harte monetäre Sanktionen gegen Bürger fordert, die einen angebotenen Arbeitsplatz ablehnen. Auch aus der Union kommen immer wieder konkret ausgearbeitete Konzepte, die öffentlich für die Einführung des Workfare-Prinzips plädieren33. Die FDP fordert darüber hinaus eine Reduktion der paritätischen Mitbestimmung auf eine generelle Drittelparität (FDP 2005, 14), was den Einfluss der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat massiv einschränken würde. Hier unterscheidet sich die CDU von der FDP, da erstere keine Einschränkung dieser Institution fordert (CDU 2007: 50, 58). Im Gegensatz zur CDU/FDP stellen die Forderungen der SPD und der Grünen Mischungen aus VPÖ und IAQ dar. Beide fordern die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns (Bündnis 90/Die Grünen 2005, 30; SPD 2007, 54) und liebäugeln mit einer Umlagefinanzierung für die Berufsausbildung (ebd., 32; ebd., 63). Die SPD (2007: 43 + 53) lehnt eine gesetzliche Einschränkung gewerkschaftlicher Handlungsmacht ab, bekennt sich zur paritätischen Mitbestimmung und betont deren positive Effekte sehr stark. Während die SPD die Sozialabgaben leicht (von 39% auf 36%) für alle Beschäftigten absenken will (gegenfinanziert durch eine Steuererhöhung für einkommensreiche Bürger)34, haben sich die Grünen die zentrale Forderung der VPÖ, nämlich die selektive Senkung der Sozialversicherungsabgaben nur für Niedrigverdiener, mit ausführlicher Begründung auf ihre Fahnen geschrieben (Die Grünen 2005, 25f.). Auch Arbeitszeitverkürzungen halten sie für eine sinnvolle Option, die in ihrem Programm relativ breit erörtert wird (ebd., 29f.). Schüler, die die Argumentation der IAQ am überzeugendsten finden, würden bei der Linken eine `(arbeitsmarkt)politische Heimat´ finden, da sich deren Forderungen allesamt in ihrem Programm aufspüren lassen – gesetzliche Mindestlöhne (Die Linke 2007, 6f.), Arbeitszeitverkürzung (ebd.) und die Ausbildungsplatzabgabe (ebd., 13). Darüber hinaus zeigt sie sich bereit, über die Realisierbarkeit eines nicht an die Bereitschaft zur Erwerbsarbeit gekoppelten Grundeinkommens zu diskutieren (ebd., 9).
6.1.5 Politikfeldspezifische Auswertung der drei integrationsdidaktischen Ansätze Hinsichtlich der Frage nach dem für eine gestaltungsorientierte Fachdidaktik angemessenen Integrationsverfahren komme ich für das Politikfeld der Arbeitsmarktpolitik zu dem Schluss, dass die politikwissenschaftliche Integrationshypothese insofern nicht zutrifft, als bei der Erörterung der Frage nach der Verwirklichung des Gemeinwohls – hier: Armuts33 Siehe „Glos will Hartz IV nur noch bei Gegenleistung zahlen.“ Siehe http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,553101,00.html, Meldung vom 13.05.2008, abgerufen am 21.09.2008. 34 Siehe „Konsolidieren – Investieren – Entlasten. Orientierungspunkte der SPD für ein integriertes Steuer- und Abgabensystem eines sozialen Deutschlands, Seite 5f. Siehe http://www.spd.de/show/1748841/270508_Konsolidieren_Investieren_Entlasten.pdf, abgerufen am 21.09.2008.
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vermeidung und Senkung von Arbeitslosigkeit – die Politikwissenschaft keinen disziplinären Primat beanspruchen kann. Denn es finden sich zwei verschiedene normative ökonomische Ansätze (NIÖ und IAQ), mit denen sich diese gestaltungspolitische Frage ausgiebig und kontrovers erörtern lässt. Angesichts dessen kann keine Rede von einer „weniger starken Zuständigkeit“ der Ökonomik/ökonomischen Bildung „in den Bereichen“ sein, „die als öffentliche Angelegenheiten bezeichnet werden können“ (Scherb 2005, 126). Ebenso kann hier nicht von einer Verselbständigung der Ökonomik gegenüber ethischen Gesichtspunkten gesprochen werden (Detjen 2006a, 72), denn anhand der zwei ökonomischen Ansätze kann man didaktisch sehr gut unterschiedliche normative Schwerpunktsetzungen (siehe Aspekt 2.3.) hinsichtlich der Ordnung des Arbeitsmarktes und nicht nur ökonomischer Wege zum, sondern auch Vorstellungen vom „Guten und Gerechten“ (Detjen) diskutieren. Zugleich wäre es mit Blick auf das Kontroversitätsprinzip aber auch nicht zielführend, dieses Politikfeld nur mit institutionenökonomischen Mainstream-Arbeitsmarkttheorien (z.B. Berthold/Stettes 2001; Dietz 2006; Sinn 2005) zu beleuchten, weil es zum einen in Form der VPÖ eine wichtige politikwissenschaftlich-wirtschaftssoziologische Alternative dazu gibt, die sich gut mit der NIÖ vergleichen lässt. Von unvergleichbaren „Äpfeln und Birnen“ (Kaminski 2002) kann hier jedenfalls keine Rede sein. Zum anderen existieren auch noch zwei anderweitige gestaltungsorientierte Perspektiven, nämlich eine ökonomische (IAQ) und eine interdisziplinär vertretene (Offe/Mitschke). In diesem Politikfeld beschränkt sich der Beitrag von Politikwissenschaft und Wirtschaftssoziologie also nicht auf die bloße Zulieferung von institutionellen Restriktionen, wie der institutionenökonomische Integrationsansatz vermutet. Vielmehr besteht hier ein Konkurrenzverhältnis zur NIÖ. Somit erweist sich hier zurzeit der sozialwissenschaftliche Integrationsansatz insofern als zutreffend, als man die zwei ökonomischen Ansätze (NIÖ und IAQ), die soziologischpolitologische VPÖ und den interdisziplinär von Offe und Mitschke vertretenen Vorschlag des Grundeinkommens so in Bezug zueinander setzen kann, dass sich diese vier Perspektiven (bzw. ein Teil davon) wechselseitig irritieren und kritisieren können, um eine mehrschichtige, differenzierte, komplexe Urteilsbildung zu fördern. Eine (annähernde) Gleichberechtigung der Disziplinen erweist sich in diesem Politikfeld didaktisch somit als sinnvoll. Wenngleich nicht alle Perspektiven schon von sich aus interdisziplinärer Natur sind, wie der sozialwissenschaftliche Integrationsansatz annimmt, zeigt sich, dass es didaktisch zumindest in diesem Politikfeld Sinn macht, Integration auch als das Zusammenfügen von inhaltlich komplementären Teilen aus verschiedenen Disziplinen innerhalb jeweils einer bestimmten gestaltungsorientierten Perspektive zu verstehen, um deren jeweilige argumentative Überzeugungskraft zu stärken. So kann z.B. die theoretische Argumentation der politikwissenschaftlich-wirtschaftssoziologischen VPÖ zu den Vorteilen des dualen Systems der Interessenrepräsentation in der BRD durch die didaktische Implementation entsprechender Untersuchungen des heterodoxen Ökonomen Jirjahn (2005) noch besser empirisch fundiert werden. Umgekehrt wird den Schülern die ökonomische Argumentation des IAQ zu den positiven Folgeeffekten einer Beschäftigungsexpansion im öffentlichen Sektor um einiges anschaulicher, wenn man didaktisch in diese normative Perspektive den konkreten empirischen Drei-Länder-Vergleich (USA, Schweden, Deutschland) der Soziologen Häußermann/Siebel (1995) zu den unterschiedlichen nationalen Arten der Bewältigung des sektoralen Strukturwandels implementiert. Ebenso gut ließen sich dazu auch Ausschnitte aus Schriften des Politologen Esping-Andersen (1990, 1999) heranziehen. Zudem kann man die theoretische Befürwortung einer Arbeitszeitverkürzung durch die Ökonomen des
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IAQ didaktisch mit der soziologischen Studie von Hayden (2006) zu den vielfältigen Konditionen und Folgen der Arbeitszeitverkürzung in Frankreich verbinden. Schließlich ergänzen sich die normativen Überlegungen Offes (2005, 2008) zum Grundeinkommen mit dem konkret ausgearbeiteten Gestaltungsvorschlag von Mitschke (2001, 2004). Aus gestaltungsorientierter Perspektive zeigt sich also, dass eine fachdidaktische Reproduktion disziplinärer Grenzziehungen mit der Gegenüberstellung `der´ ökonomischen, `der´ politologischen und `der´ soziologischen Perspektive in diesem Politikfeld wenig sinnvoll ist. Da die hier vorgenommene Kontrastierung der vier Perspektiven meines Wissens in keinem Lehrbuch zu finden ist, wird zudem deutlich, dass die Fachdidaktik auf dem Feld der Arbeitsmarktpolitik nicht einfach Übersichten über analytische Denkweisen aus fachwissenschaftlichen Einführungsbüchern („Arbeitsmarkttheorien“) abbilddidaktisch kopieren sollte, sondern dass sie gestaltungsorientierte Perspektiven z.T. selber erst identifizieren und im Anschluss daran eine vorwiegend eigenständige Strukturierung vornehmen sollte.
6.2 Gestaltungsorientierte Evaluation der Sozialpolitik Will man die didaktische Behandlung des Politikfeldes `Sozialpolitik´ gestaltungsorientiert im Sinne von Kapitel 3 – 5 umsetzen, lassen sich hier derzeit idealtypisch zwei unterschiedliche gestaltungspolitische Perspektiven voneinander unterscheiden (siehe auch Abbildung 3 und Tabelle 3): a.
die egalitaristische Perspektive (vertreten v.a. von den Politologen Butterwegge 2006; Butterwegge et al. 2008; Meyer 2004, 2005; Nullmeier 2000, 2004, 2005, 2006; Rothstein 1998 und den Ökonomen Corneo 2006; Frank 1999, 2005 sowie vom Sozialphilosophen Hiebaum 2006), die sich innerhalb des ideologischen Koordinatenkreuzes von Petrik (2007, 200f.) im negativen Bereich der x-Achse befindet, weil sie sich stark an den Werten der Sozialen Gleichheit und der kollektiven Verantwortung orientiert und die Rolle des Staates als korrigierende Verteilungsinstanz betont. Zur Dimension der y-Achse, d.h. der politischen Entscheidungskonfliktlinie werden hingegen keine systematischen Aussagen gemacht. Die egalitaristische Perspektive und ihr didaktischer Wert werden in Kapitel 6.3.1. näher expliziert.
b.
die liberale Perspektive (vertreten v.a. von dem Sozialphilosophen Kersting 2000 & 2005 sowie den Ökonomen Berthold/von Berchem 2004; Berthold/Thode 1998; Heinemann 2007; Jenaer Aufruf 2008; Karlsson 2004; Oberender/Fleischmann 2002), die innerhalb des ideologischen Koordinatenkreuzes von Petrik (2007, 200f.) im positiven Bereich der x-Achse zu verorten ist, weil sie die Werte der individuellen Freiheit und der Eigenverantwortung in den Mittelpunkt rückt und die Rolle des Marktes als Allokationsmechanismus hervorhebt. Zur Dimension der y-Achse, d.h. der politischen Entscheidungskonfliktlinie werden auch hier keine systematischen Aussagen gemacht. Die liberale Perspektive und ihr didaktischer Wert werden in Kapitel 6.3.2. näher expliziert.
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Durch kontrastive Gegenüberstellung dieser zwei verschiedenen Perspektiven kann didaktisch kontrovers (Hedtke 2002a) erörtert werden, welches der beiden zentralen kategorialen normativen sozialpolitischen Prinzipien – Solidarität oder Subsidiarität – und welche daraus abgeleiteten sozialpolitischen Maßnahmen und Institutionen eher geeignet erscheinen, das Ausmaß sozioökonomischer Lebensqualität und die gerechte Verteilung von Lebenschancen in der Gesellschaft zu fördern. Dabei geht es didaktisch wiederum nicht darum, dass jeder einzelne im Folgenden dargestellte Problemlösungsvorschlag, jede einzelne Ursachendiagnose, jedes einzelne Argument etc. der Perspektiven im Unterricht thematisiert werden soll. Deren unten folgende Beschreibung soll vielmehr nur Optionen aufzeigen, aus denen man auswählen kann, wenn man mit den Perspektiven arbeiten will. Da wie gesagt keine der beiden Perspektiven Aussagen zur politischen Entscheidungskonfliktlinie macht, ist deren Anwendung in diesem Politikfeld nicht sinnvoll, sodass hier aus dem Koordinatenkreuz ein einfaches Kontinuum zwischen zwei ideologischen Polen wird. Dementsprechend wird die y-Achse in Abbildung 3 weggelassen. Zur Verbindung ökonomischen und politischen Lernens sollten anschließend auch parteipolitische Positionen verortet und ihre Nähe zu den wissenschaftlichen Perspektiven untersucht werden (siehe dazu Kapitel 6.2.3.). Die Verortung der Parteien im Koordinatenkreuz entspricht dem Stand vom Sommer 2008.
Solidarität
Kollektive Verantwortung Die Linke
SPD Die Grünen
Egalitaristische Perspektive CDU/ CSU FDP
Liberale Perspektive
Subsidiarität
Eigenverantwortung
Wirtschaftsfreiheit
Ideologische Perspektiven zur Sozialpolitik auf der x-Achse des Koordinatenkreuzes von Petrik (2007)
Soziale Gleichheit
Abbildung 2:
Bildungssystem
Absicherung des Krankheitsrisikos
Familienlastenausgleich
Absicherung des Altersrisikos
Bewertung umfassender sozialpolitischer Umverteilung ( `Wohlfahrts-Staat´) Bewertung gezielter sozialpolitischer Umverteilung (sog. `Targeting´) Absicherung des Arbeitslosigkeitsrisikos
Sozialpolitische Zielsetzung Sozialpolitische Problemdiagnose
Normative Leitprinzipien
Gemeinschaftsschule bis zur 9./10.Klasse
führt zur Stärkung solidarischer Normen in der Bevölkerung Unterminierung der Solidaritätsbereitschaft („Paradox of Redistribution“) Solidarische Erwerbstätigenversicherung mit einheitlichem Versicherungsbeitrag, die den gewohnten sozialen Status absichert Steuerfinanz. Wie GRV bis 2000, Grundrente; aber als Riester-Rente als Erwerbstätigenvers. generelle Pflicht und mit Solidarelementen Kindergeldzuschlag für Eltern mit geringen Einkommen finanziert durch (partiellen) Abbau d. Ehegattensplittings Solidarische Bürgerversicherung
Egalitaristische Perspektive Solidarität; Soziale Gleichheit Leistungsfähigkeitsprinzip Reduktion sozialer Ungleichheit Gefährdung der Lebenschancengleichheit; Gefährdung sozialer Sicherheit
Tabelle 2: Kontroverse Perspektiven zur Sozialpolitik
Ausbau der Steuervorteile für Familien durch Ausbau des Ehegatten- zu einem Familiensplitting Risikoäquivalente Privatversicherung mit Zuschüssen für Geringverdiener Gemeinschaftsschule bis zur 9./10.Klasse; Mehr Wettbewerb zwischen Schulen
Eltern-Rente Riester-Rente als Pflicht für Kinderlose
(Risiko-)Äquivalenzorientierte Versicherung mit individueller Wahlfreiheit bei den Tarifen
führt zur Unterminierung solidarischer Normen in der Bevölkerung Erhöhung der sozialpolitischen Effizienz
Liberale Perspektive Subsidiarität; Individuelle Freiheit Äquivalenzprinzip Garantie Bildungs- und Existenzminimum Moral Hazard; Mangelnde demografische Nachhaltigkeit
Gestaltungsorientierte Evaluation der Sozialpolitik
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6.2.1 Die egalitaristische Perspektive Der sozialphilosophischen Strömung des sozialpolitischen Egalitarismus lassen sich alle normativen Sozialstaatskonzeptionen und –begründungen zuordnen, die in gerechtigkeitstheoretischer Hinsicht relationistisch argumentieren, d.h. die Einbettung des Individuums in gesellschaftliche Beziehungen und damit verbundene soziale Vergleichsprozesse zwischen verschiedenen Menschen/Gruppen als von großer Bedeutsamkeit für den Lebenswert einer Gesellschaft erachten und aufgrund dessen soziale Ungleichheiten, die die Marktwirtschaft produziert, für rechtfertigungsbedürftig halten (Hiebaum 2006, 98f.). Da diese Ungleichheiten zugleich als teilweise nicht rechtfertigungsfähig betrachtet werden, besteht das zentrale politische Ziel des Egalitarismus nicht in bloßer Armutsvermeidung (wie bei der liberalen Perspektive), sondern in einer sozialstaatlichen Reduktion der vom Markt produzierten sozialen Ungleichheit (ebd., 105; Kenworthy 2008, 19ff.): „Eine Konsequenz dieser Sozialstaatsbegründung liegt in der Betonung von Fragen des Relationsgefüges, der Verteilungsstruktur…Für die Möglichkeit der Entfaltung sozial-komparativer Konzeptionen guten Lebens sind nicht isoliert betrachtete Leistungshöhen, auch nicht einzelne `Versorgungsniveaus´, sondern das Gefüge der möglichen Positionen innerhalb einer Verteilungs- bzw. Vergleichsdimension relevant. (…) Sozialstaatliche Politik im Sinne einer Wertschätzungspolitik wird den Schwerpunkt nicht nur auf den unteren Sektor richten und vorrangig Mindest-, Basis- oder Grundsicherungen implementieren können.“ (Nullmeier 2000, 419; meine Hervorhebung, T.H.) „Gerechtigkeit verlangt Gleichheit, in jedem Fall mehr Gleichheit als gegenwärtig besteht. (…) Gerechtigkeit kann sich nicht auf die Gleichheit der Startchancen beschränken und den Rest dem Spiel der Kräfte überlassen, sie bedarf der Gleichheit der Lebenschancen. (…) Die in dieser Welt und in unserer Gesellschaft bestehenden Ungleichheiten der Vermögen, der Einkommen und der Lebenschancen sind in hohem Maße ungerecht und daher weder einer sozialmoralischen noch einer politischen Rechtfertigung fähig.“ (Meyer 2004, 67 & 69)
Eine Reduktion sozioökonomischer Ungleichheit soll durch „institutionelle Solidarität“ (Nullmeier 2006, 178 & 180) erreicht werden, d.h. durch einen Sozialstaat, der nicht dem liberalen Äquivalenzprinzip folgt, sondern in dem gemäß dem Leistungsfähigkeitsprinzip (Nullmeier 2005) universelle Rechte auf soziale Sicherungsleistungen (auf „Mittelschichtniveau“) einer allgemeinen Finanzierungspflicht nach ökonomischer Leistungsfähigkeit gegenüber stehen (Nullmeier 2004, 499f.). Ein solches Arrangement wird von Egalitaristen oft als solidarische Bürgerversicherung bezeichnet (Butterwegge 2006, 272ff. & 289ff.). Meyer (2005: 54, 555) und Rothstein/Uslaner (2005) vertreten die sozialkonstruktivistische These, dass die Institutionen eines egalitaristischen Sozialstaats jenes solidarische Gesellschaftsklima, auf das sie angewiesen sind, selbst fördern können. Er stärke das Gefühl, Teil eines größeren Ganzen, d.h. einer nationalen Risikogemeinschaft zu sein, kreiere also ein basales Zusammengehörigkeitsgefühl, zumal niedrige soziale Ungleichheit die perzipierte soziokulturelle Distanz zwischen den sozialen Gruppen verringere, was den sozialen Perspektivenwechsel (Identifikation mit anderen Staatsbürgern) erleichtere und die Bereitschaft zur Umverteilung erhöhe. Der egalitaristischen Perspektive lässt sich also ein niedriges Maß an sozioökonomischer Ungleichheit (z.B. in Form des Gini-Koeffizienten) als ein wichtiges sozialpolitisches
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Urteilskriterium für den Unterricht entnehmen, mit dem Schüler sich auseinandersetzen sollten. Allerdings bedeutet dies im Gegensatz zu manchen politikdidaktischen Konzeptionen (z.B. Hilligen 1985) nicht, dass das Ziel des sozialwissenschaftlichen Unterrichts in der persönlichen Wertschätzung des egalitaristischen Urteilskriterium der sozialen Gleichheit bestehen sollte, denn dies würde eine Bevormundung des Schülers und eine Verletzung des Kontroversitätsprinzips darstellen. Didaktisch sollte vielmehr durch Kontrast mit der liberalen Perspektive, welche die Forderung nach einer moralischen Rechtfertigung von marktbedingten Ungleichheiten zurückweist, den Sozialstaat allein auf das Freiheitsbedürfnis des einzelnen Bürgers gründet und sozialpolitische Aktivitäten auf die Garantie des soziokulturellen Bildungs- und Existenzminimums beschränkt sehen möchte, verdeutlicht werden, dass die egalitaristische Zielbeschreibung der sozialen Gleichheit keine normative Selbstverständlichkeit darstellt, sondern politisch und wissenschaftlich umstritten ist. Demgegenüber ist es nicht überzeugend, mit Hilligen einzuwenden, dass der Unterricht die Befürwortung des Ziels der sozialer Gleichheit bei den Schülern anstreben sollte, weil dieses eine zentrale materiale Voraussetzung für die Demokratie darstelle (Massing 2005, 27). Denn ob soziale Gleichheit, die über Rechtsgleichheit und die Gewährleistung eines soziokulturellen Bildungs- und Existenzminimums hinausgeht, tatsächlich eine Voraussetzung für Demokratie darstellt, ist wissenschaftlich umstritten (siehe kritisch zu diesem Argument Kersting 2000, 54-58), zumal auch noch die möglichen problematischen Nebenwirkungen einer starken Nivellierung von ökonomischen Unterschieden zu bedenken sind (siehe Kapitel 6.2.2.)). Gestaltungsorientierter sozialwissenschaftlicher Unterricht zielt deshalb stattdessen darauf ab, die Schüler in die Lage zu versetzen, sich auf der Basis der Argumente, die jeweils für eine der beiden obigen gestaltungspolitischen Perspektiven angeführt werden können, ein eigenes Urteil zu der Frage zu bilden, welcher sozialpolitische Zielkomplex bzw. Prioritätensetzung eher angemessen ist – individuelle Freiheit / Subsidiarität / Äquivalenzprinzip / Eigenverantwortung (liberale Perspektive) oder soziale Gleichheit / Solidarität / Leistungsfähigkeitsprinzip / kollektive Verantwortung (egalitaristische Perspektive). Diese, die komplexe sozialwissenschaftliche Diskussion zur Sozialpolitik etwas vereinfachende kategoriale Dualisierung scheint mir geeignet, Schülern einen ersten, übersichtlichen Einstieg in die komplexe sozialpolitischen Reformdebatte zu vermitteln. Um im Unterricht angemessen darstellen zu können, mit welchen sozialwissenschaftlichen Argumenten man die normative Orientierung des Egalitarismus am Wert der sozialen Gleichheit und der Solidarität begründen kann, erweist es sich nach Durchsicht der gegenwärtigen Literatur als vorteilhaft, diverse (sich argumentativ teilweise überlappende) Beiträge aus der Ökonomik (Corneo (2006); Frank (1999); Grözinger (2002); Hirschel (2004); Layard (2005)), der Politikwissenschaft (Meyer (2005); Nullmeier (2000, 2004, 2005, 2006); Solt (2008); Uslaner (2008)), der Sozialepidemiologie (Kawachi/Kennedy (2002); Wilkinson (2001)) und der Soziologie (Kenworthy (2008, 13ff).; Steiner (1999); You/Khagram (2005)) zusammenzuführen, d.h. additiv-komplementär zu integrieren. Inhaltlich kann man dann aus 5 zentralen Argumenten auswählen, die didaktisch gemäß Kapitel 3 als mögliche Aspekte gesellschaftlicher Lebensqualität herausgestellt werden können: 1. 2. 3.
Chancengleichheit Sozioökonomische Sicherheit Soziale Anerkennung und – daran gekoppelt – Selbstwertgefühl und Gesundheit
Gestaltungsorientierte Evaluation der Sozialpolitik 4. 5.
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Zeitlicher Freiraum für Familie und Freizeit und – damit zusammenhängend – subjektives Wohlbefinden Politische Gleichheit
Erstens betonen z.B. Kenworthy (2008, 13f.) und Corneo (2006, 37 & 43), dass bei den Marktergebnissen Einflussgrößen wie der schlichte Zufall oder genetische Veranlagungen eine wichtige Rolle spielen, die sich der individuellen Steuerung entziehen. Darüber hinaus zeige sich in fast allen OECD-Staaten entgegen dem liberalen Postulat der Eigenverantwortung empirisch ein starker Einfluss nicht-meritokratischer Faktoren auf den Markterfolg, d.h. ein hoher Zusammenhang zwischen dem ökonomischen (z.B. Erbschaften), sozialen (z.B. Netzwerke) und kulturellem (z.B. Bildung) Kapital des Elternhauses (Bourdieu 1982) und dem späteren Zustandekommen hoher individueller Erwerbseinkommen (Corneo 2006, 44ff.; Butterwegge et al. 2008, 302), wie z.B. auch Hirschel (2004) in einer empirischen Untersuchung zur Ätiologie der Einkommensverteilung in Deutschland feststellt. Zur Irritation einer bei einigen Schülern möglicherweise vorherrschenden Illusion der Naturhaftigkeit der sozialen Ungleichheit kann man didaktisch zusätzlich international vergleichende empirische Studien heranziehen, denen zufolge das Ausmaß von Sozialvererbung in Gesellschaften mit hoher Einkommensungleichheit (z.B. USA) weitaus stärker ausgeprägt ist als in egalitäreren Gesellschaften wie v.a. denen in Skandinavien (Aglietta/Berrebi 2007, 138-145; Andrews/Leigh 2007; Kenworthy 2008, 17). Die ökonomische Chancen-Gleichheit der Kinder ist demzufolge in Gesellschaften mit höherer sozialer Ergebnis-Gleichheit bei den Erwachsenen um einiges größer. Die egalitaristische Perspektive kommt daher zu dem Schluss, dass nur derjenige Teil der sozialen Ungleichheit als gerecht angesehen werden könne, der auf individuell wirklich kontrollierbare Faktoren zurück-zuführen sei (Corneo 2006, 46; Hiebaum 2006, 115; Meyer 2005, 89). Dementsprechend stellt das Ziel des solidarischen Ausgleichs unverdienter Vor- bzw. Nachteile ein zentrales Element der egalitaristischen Perspektive dar. Kritisch diskutieren kann man, ob diese Begründung wirklich als überzeugende moralische Legitimation für umfassende nationale Umverteilungspolitik anstatt für einen systematischen Ausbau der internationalen Entwicklungspolitik gelten kann. Dennoch können Schüler mit Hilfe dieser Argumentation gesellschaftlich von Zeit zu Zeit immer wieder dominante Kommunikationen (Hedtke 2006a, 220) in Form von sozioökonomischen Eigenverantwortlichkeitszuschreibungen (Beck 1986, 121) kritisch prüfen (nicht: per se ablehnen). Schließlich können sie auf diese Weise den Menschen (und damit auch die eigene Persönlichkeit) als ein soziales Wesen verstehen, das in hohem Maße durch die Strukturen seiner gesellschaftlichen Umwelt geprägt sein kann. Ein zweites wichtiges Argument resultiert aus dem spezifischen Akteurskonzept der egalitaristischen Perspektive. So wird davon ausgegangen, dass die meisten Menschen sehr risikoscheu seien und daher einen hohen Wert auf die (staatlich) garantierte Sicherheit und Kontinuität der gewohnten Lebensverhältnisse legen würden (Meyer 2005, 130). Didaktisch ist hier zur Erläuterung auf den impliziten Versicherungseffekt sozial relativ gleicher Einkommensrelationen zu verweisen, die kritische Lebensübergänge wie z.B. den Verlust des Arbeitsplatzes monetär abfedern. Im Unterschied dazu führe hohe soziale Ungleichheit zu hoher wirtschaftlicher Verunsicherung, die das gesellschaftliche Stressniveau erhöhe und dadurch die menschliche Lebensqualität beeinträchtige (Corneo 2006, 39).
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Drittens versteht die egalitaristische Perspektive den Menschen nicht nur als ein sicherheitsliebendes, sondern auch als ein ausgeprägt sozialkomparatives Wesen (Hiebaum 2006): „Beide Konzepte [Homo Oeconomicus und Homo Sociologicus, T.H.] vernachlässigen eine Dimension, die gerade für sozialstaatliche Politik von zentraler Bedeutung ist: die Ausrichtung eigenen Handelns am Vergleich mit anderen. (…) Wenn aber der Vergleich der eigenen Situation mit der anderer Personen und Gruppen Grundlage einer Handlung wird, zwingt dies die Sozial- und Politikwissenschaft zur Konstruktion eines anderen Handlungstyps, des Typs sozialkomparativen Handelns. (…) Die Sprengkraft des Neidens, des Rivalisierens, Einholens und Überholens, des Strebens nach Distanz wie Konformität, der Suche nach Positionsverbesserung und der Angst vor dem Abstieg verlangt eine politische Struktur, die komparative Orientierungen anerkennt und zugleich einhegt. Sozialstaatlichkeit zielt auf die politische Bewältigung des Sozialkomparativen.“ (Nullmeier 2000, 12f.)
Die starke Betonung des Sozialkomparativen durch den Politologen Nullmeier steht in Einklang mit empirischen Studien aus der Psychoökonomik (siehe zusammenfassend Frank (1999, Kapitel 8; 2005); Layard (2005)), wonach die persönliche Lebenszufriedenheit eines Menschen in entwickelten Industriegesellschaften weniger von seinem absoluten, sondern v.a. von seinem relativen Wohlstand im Vergleich zu anderen Individuen geprägt sei, weil viele Menschen ihren subjektiven Selbstwert an interpersonellen materiellen Vergleichen festmachen. Der Soziologe Kenworthy (2008, 28f.) verweist überdies auf Surveys, die zeigen, dass die Mehrheit der Menschen bei der Auswahl zwischen verschiedenen Gesellschaftsordnungen dem Kriterium der egalitären Einkommensverteilung mehr Bedeutung einräumt als dem Kriterium der Einkommenshöhe des Median-Bürgers. Nullmeier (2000) sieht daher eine zentrale Aufgabe der Politik in der Herstellung von sozialen Bedingungen – nämlich der Angleichung des individuell verfügbaren ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitals (Bourdieu 1982) –, welche die gesellschaftliche Wertschätzung eines jeden Bürgers zumindest grundsätzlich ermöglichen. Diese auf den ersten Blick relativ abstrakte anerkennungstheoretische WertschätzungsArgumentation, die Nullmeier (2000) unter Rückgriff auf den soziologischen Ansatz von Honneth (1992) entwickelt, kann man didaktisch z.B. zunächst anhand der unterschiedlichen Kaufkraft verschiedener Jugendlicher für Designermode und deren mögliche negative Folgen für die soziale Inklusion und Anerkennung diesbezüglich benachteiligter Jugendlicher exemplifizieren. Hierzu kann man z.B. auf ein entsprechendes, vom Ökonomen Frank (2005, 9) angeführtes Fallbeispiel aus den USA zurückgreifen, dass diese soziopsychische Problematik unter Jugendlichen besonders instruktiv vor Augen führt. Eine darüber hinausgehende Möglichkeit, die konkrete Bedeutsamkeit der abstrakten anerkennungstheoretischen Argumentation von Nullmeier (2000) für die gesellschaftliche Lebensqualität und menschliche Lebenschancen vor Augen zu führen, bieten sozialepidemiologische Studien von Grözinger (2002), Kawachi/Kennedy (2002) und Wilkinson (1996, 88-134). Diese verweisen auf eine Vielzahl von empirischen Untersuchungen, wonach – in OECD-Ländern – ein stark positiver Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der Einkommensungleichheit und der altersstandardisierten Sterbeziffer, d.h. der altersbereinigten Zahl der Todesfälle pro 100000 Einwohner existiert. Dieser Zusammenhang zeige sich auch dann, wenn einschlägige andere Einflussfaktoren wie z.B. die Verbreitung
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des Rauchens oder die absolute Armut in die multivariate statistische Analyse miteinbezogen werden. Die genannten Autoren führen dies auf höhere Raten von verfrühter Sterblichkeit (premature death rates) infolge höherer Raten von Kindersterblichkeit, tödlichen Herzinfarkten, Krebserkrankungen und Mord in Gebieten mit höherer Einkommensungleichheit zurück. Höhere soziale Ungleichheit lasse die soziokulturelle Distanz zwischen den Einwohnern anwachsen. Diese führe zu sozialen Spaltungen, d.h. einem mehr oder weniger subtilen strukturellem Dominanzgebaren und Demonstration von Überlegenheit seitens der Wohlhabenden und einer informellen, mehr oder weniger subtilen Herabsetzung und Stigmatisierung der weniger Wohlhabenden. Ökonomische Ungleichheiten würden von den Individuen in soziale Unterschiede transformiert, die soziale Unter- und Überlegenheit signalisieren und ausdrücken (sollen) (Bourdieu 1982). Dadurch erhöhe sich der psychosoziale Stress (medizinisch sichtbar an größeren Nierennebenrinden) v.a. bei Angehörigen aus unteren Schichten. Diese kompensierten ihre geringere Selbstachtung u.a. durch einen im Durchschnitt erhöhten Konsum von Produkten mit hohem Zucker- und Fettgehalt. All dies beeinträchtige ihre körperliche Gesundheit und steigere so ihre Mortalität. Zu diesen Ergebnissen passen zwei empirische Studien von US-Ökonomen, derzufolge sich das Selbstmordrisiko eines Individuums bei zunehmendem Einkommensabstand zum Durchschnittsverdienst einer relevanten sozialen Referenzgruppe (Alter, Geschlecht, Nachbarn, ethnische Gruppe, Gemeinde) signifikant erhöht (Daly/Wilson/Johnson 2007), selbst wenn andere Einflussfaktoren (z.B. absolute Armut) statistisch kontrolliert werden. Im Falle einer didaktischen Auseinandersetzung mit dieser sozialepidemiologischen Argumentation ist allerdings darauf zu achten, diesen empirischen Studien andere Untersuchungen gegenüberzustellen, die zu abweichenden Ergebnissen kommen; sei es nun, dass sie einen Zusammenhang zwischen sozioökonomischer Ungleichheit und Mortalität nicht bestätigen können (Leigh/Jencks 2006) oder sei es, dass sie einen kurvilinear-konkaven Zusammenhang dergestalt feststellen, dass sowohl sehr hohe als auch sehr niedrige sozioökonomische Ungleichheit zu einer gemessen am Durchschnitt niedrigen Lebenserwartung führt (Crepaz/Crepaz 2004). Dadurch wird man nicht nur dem Kontroversitätsprinzip gerecht, sondern vermittelt zugleich auch ein Gefühl für die Unsicherheit sozialwissenschaftlichen Wissens (Behrmann/Grammes/Reinhardt 2004) und für die Notwendigkeit der Vorsicht gegenüber voreiligen gestaltungspolitischen Schlussfolgerungen. Schließlich kann man so in wissenschaftspropädeutischer Hinsicht auch erreichen, dass Schüler die Ergebnisse empirischer Verfahren – seien diese auch noch so statistisch komplex und für sich genommen beeindruckend – nicht voreilig mit der `Wahrheit´ gleichsetzen. Unabhängig davon kann man mit den Soziologen Steiner (1999) und Kenworthy (2008, 15f.) sowie den Ökonomen Frank (1999, 2005), Layard (2005) und Van der Ploeg (2006) die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Folgen sozialkomparativen Handelns vertiefen und so ein viertes mögliches Argument für die egalitaristische Orientierung am Wert der sozialen Gleichheit gewinnen. Dieses Ziel lässt sich mit dem Ansinnen der kategorialen Bildung verbinden, denn die genannten Autoren greifen in ihrer Argumentation auf die Denkfigur des Sozialen Dilemmas zurück. Im Unterricht kann man im Anschluss daran diskutieren, inwiefern bzgl. der optimalen Allokation von Zeit auf Arbeit und Familie/Freizeit möglicherweise ein Versagen des Mechanismus der unsichtbaren Hand vorliegt. Viele Menschen strebten aufgrund ihrer sozialkomparativen Orientierung danach, möglichst viel zu arbeiten und zu verdienen, um möglichst viel Geld für materielle Statusgüter, d.h. für demonstrativen Geltungskonsum (conspicuous consumption) ausgeben zu
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können, mit Hilfe dessen sie auf der gesellschaftlichen Statusrangliste nach oben klettern und die Konsumgewohnheiten der über ihnen befindlichen sozialen Schichten nachahmen (Veblen-Effekt). Dieser aus individueller Sicht rationale Statuswettbewerb sei aus kollektiver Sicht jedoch nicht sinnvoll, weil gemäß ländervergleichenden empirischen Studien der durch die hohen ökonomischen Anstrengungen der vielen einzelnen Erwerbstätigen hervorgebrachte kollektive Anstieg der absoluten Güter- und Dienstleistungsversorgung in Industrieländern nur noch einen äußerst geringen Nutzenzuwachs in Form eines höheren durchschnittlichen subjektiven Wohlbefindens erzeuge. Der Statuswettbewerb erzeuge vielmehr unbeabsichtigte Nebenwirkungen in Form einer starken zeitlichen Vernachlässigung von Handlungsoptionen, die gemäß empirischen Studien die zentralen Faktoren für das durchschnittliche individuelle Wohlbefinden in hoch entwickelten Industriegesellschaften darstellen, nämlich die Zeit, die mit Familie, Freunden sowie ehrenamtlichen Engagement verbracht wird und die damit verbundene Intensität genuin persönlicher (nicht nur beruflicher) Beziehungen. Frank (1999) und Layard (2005) kommen daher zu dem Schluss, dass der Staat die vom Markt produzierte hohe soziale Ungleichheit durch Umverteilungsmaßnahmen in erheblicher35 Weise korrigieren soll. Dafür spreche zudem der abnehmende Grenznutzen von Geld, d.h. dass ein bestimmtes zusätzliches Einkommen die empirisch gemessene subjektive Lebenszufriedenheit eines armen Menschen stärker steigere als die eines reichen Bürgers (Layard 2005, 64f.). Durch hohe Steuern und Abgaben könnte man zugleich die Anreize zum Statuswettlauf senken und so zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Denn nach einer international vergleichenden Studie von Bowles/Park (2005, 397) ist die Intensität des Statuswettlaufs umso stärker, je höher die Einkommensungleichheit ist: größere Ungleichheit führt zu längeren Erwerbsarbeitszeiten (Van der Ploeg 2006). Wenngleich sozialkomparative Orientierungen sicherlich ohne große Schwierigkeiten in das klassische Homo-Oeconomicus-Modell eingebaut werden können, hier also kein künstlicher Gegensatz konstruiert werden sollte, wird dennoch exemplarisch deutlich, dass die analytische Anwendung von Akteursmodellen auf Strukturen der Sozial- und Umverteilungspolitik nicht – wie im institutionenökonomischen Integrationsansatz (Kaminski 2002) – auf den bloßen Einsatz des institutionenökonomischen Anreiz-Restriktionsschemas und die damit verbundene Moral-Hazard-Thematik reduziert werden sollte (wenngleich das ein wichtiges Thema bleibt, vgl. Kapitel 6.2.2.). Mit dem fünften Argument der egalitaristischen Perspektive zugunsten der sozialen Gleichheit kann man didaktisch exemplarisch Interdependenzen zwischen Politik und Wirtschaft, d.h. konkret: mögliche Zusammenhänge zwischen ökonomischer und politischer Macht diskutieren (Hiebaum 2006, 109). So betrachtet Meyer (2005) auch den ordnungspolitisch regulierten Markt als einen Produzenten massiver sozialer Ungleichheiten, die oberhalb einer bestimmten Schwelle zur Bildung politischer Machtasymmetrien zwischen verschiedenen sozialen Gruppen führten, sodass die politischen Einflussmöglichkeiten der Bürger bzw. sozialer Gruppen auf den öffentlichen Willensbildungs- und den demokratischen Entscheidungsprozess derart ungleich würden, dass die faktische Realwirkung des Grundwerts der politischen Gleichheit außer Kraft gesetzt werde (ebd.: 45, 104, 106, 254). Auch Christiano (1996, 281 & 286), Corneo (2006, 50-56), Solt (2008), Uslaner (2008) sowie You/Khagram (2005) befürchten, dass hohe sozioökonomische Ungleichheit 35 So befürworten sie einen marginalen Spitzensteuersatz von 60-70% (Frank 1999, Kapitel 14; Layard 2005, 310).
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– auch in westlichen Demokratien – mittel- bis langfristig die Herausbildung einer „Plutokratie“ (Corneo 2006, 53) begünstige, in welcher vermögende Akteure das Ergebnis politischer Auseinandersetzungen z.B. durch Lobbying, Parteispenden, Gründung von ThinkTanks sowie Medienunternehmen stark zu ihren Gunsten beeinflussen, während der politische Einfluss anderer Bürger wegen mangelnder ökonomischer Ressourcen gering ist. Derartige Machtasymmetrien verstärken sich gemäß einer international vergleichenden empirischen Studie (Solt 2008) von selbst, denn plutokratische Strukturen würden bei den weniger wohlhabenden Bürgern angesichts der erfahrenen mangelnden Responsivität des politischen Systems gegenüber ihren spezifischen politischen Präferenzen zu politischer Apathie und Zynismus gegenüber dem politischen System führen. Hierin könnte auch die Ursache dafür liegen, dass europäische Bürger laut einer empirischen Studie von Schäfer (2009) umso unzufriedener mit der Funktionsweise der Demokratie ihres Staates sind, je stärker ausgeprägt die soziale Ungleichheit in ihrem Land ist (dieser Zusammenhang erweist sich auch bei Berücksichtigung von Kontrollvariablen als robust). Solche plutokratische Machtasymmetrien sind laut You/Khagram (2005) und Uslaner (2008) der theoretische Grund dafür, dass international vergleichende empirische Untersuchungen deutliche Zusammenhänge zwischen der Intensität der ökonomischen Ungleichheit in Demokratien und dem dortigen Ausmaß an Korruption feststellen. Je stärker die Konzentration der Einkommen und Vermögen, desto höher sei zum einen der Anreiz (Umfang monetärer Belohnung, Intensität politischer Unterstützung) für Politiker, die Interessen einer „Geldelite“ (Corneo 2006, 54) auf legale oder illegale Weise zu bedienen und desto größer sei zum anderen auch der Anreiz für diese Geldelite, auf legalen oder illegalen Wegen politischen Einfluss auszuüben – denn je stärker die Ungleichheit, desto weiter seien die politischen Präferenzen dieser Geldelite von den Präferenzen des Medianwählers entfernt (ebd.). Dieser ökonomischen Begründung kann man das sozialpsychologische Argument hinzufügen, dass hohe soziale Ungleichheit die partikularistische Identifikation von Akteuren mit ihrer eigenen sozialen Gruppe (In-Group) sowie Tendenzen zur Abgrenzung von anderen Gruppen (Out-Groups) stärkt und so die universalistische Identifikation mit dem Staat und der Bürgerschaft (nationales Gemeinschaftsgefühl) schwächt, was Korruption begünstige, da diese in einem derartigen partikularistischen Sozialklima besonders gut gedeiht (Uslaner 2008). Meyer (2005) kommt deshalb zu dem Schluss, dass die kapitalistische Marktwirtschaft historisch betrachtet (d.h. gegenüber dem monarchistischen Absolutismus) zwar ein wichtiger Demokratisierungsfaktor gewesen sei, heutzutage jedoch (auch) eine potentielle Gefahr für die Demokratie darstelle: „Andererseits führt die vergleichende Demokratieforschung regelmäßig zu dem Ergebnis, dass die selbstregulierte Marktwirtschaft wegen ihrer spezifischen Funktionsbedingungen und Verteilungseffekte das angemessene Funktionieren und die Stabilität der liberalen Demokratie untergräbt.“ (Meyer 2005, 41)
Der liberale Einwand, dass die sich aus den fünf obigen Argumenten ergebende Forderung nach umfangreicher sozialpolitischer Umverteilung infolge der hohen Steuerbelastung der Einkommen und dadurch ausgelöster negativer Anreize problematische ökonomische Nebenwirkungen erzeuge, sei weder theoretisch noch empirisch überzeugend (Corneo 2006, 107-115; dieses Argument wurde bereits zu Beginn von Kapitel 6.1.2. vorgestellt).
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Die egalitaristische Perspektive zeigt, dass es viel zu oberflächlich-eindimensional gedacht ist und das Kontroversitätsprinzip in massiver Weise verletzt, wenn manche Ökonomikdidaktiker wie May (2002, 19f.) im Anschluss an Schumpeter den legitimen Wert der Gleichheit als „Ideal der geistig Minderbemittelten“ diskreditieren und postulieren, man müsse Schülern vermitteln, dass Umverteilung wegen negativer Anreizeffekte per se als volkswirtschaftlich kontraproduktiv einzustufen sei, dass `die´ marktwirtschaftliche Ordnung nur das Kriterium der Leistungsgerechtigkeit, nicht aber jenes der Bedarfsgerechtigkeit kenne und dass über- bzw. unterdurchschnittliche Leistungen in einer freien Marktwirtschaft auch zu über- bzw. unterdurchschnittlichen Einkommen führen. Erstens wird deutlich, dass Didaktik die Frage, ob (bzw. ab wann) eine `hohe´ Grenzsteuerbelastung bzw. eine `hohe´ Staatsquote zu einem niedrigeren monetär vergüteten Arbeitseinsatz und/oder Wirtschaftswachstumseinbußen führt, als ökonomisch umstritten darstellen sollte (Corneo 2006, 107ff.; Kirchgässner 1995, 183; 2004). Abgesehen davon kann man es auch als legitim ansehen, wenn eine bestimmte Gesellschaft sich dafür entscheidet, einen geringeren Zuwachs des Durchschnittseinkommens mit größerer sozialer Gleichheit zu verbinden (Kirchgässner 1995, 183f.), zumal man nicht wie May (2002, 20) Wohlstand ohne weiteres mit dem Ziel eines möglichst hohen Wirtschaftswachstums in Eins setzen darf, da ein Schüler im Anschluss an die egalitaristische Perspektive auch einen stärkeren Wert auf andere Dimensionen von Lebensqualität (z.B. körperliches und psychisches Wohlbefinden, Sicherheit, Freiraum für Familie/Freizeit) legen kann, die möglicherweise durch hohe soziale Ungleichheit und `unverzerrte´ Arbeitsanreize beeinträchtigt werden. Zweitens zeigt sich, dass didaktisch kontrovers diskutiert werden sollte, ob man angesichts der Sozialvererbung behaupten kann, dass die Einkommensverteilung der heutigen Marktwirtschaft dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit entspricht. Selbst wenn man sich von der egalitaristischen Perspektive löst und diesen Einwand vollkommen außen vor lassen und das liberal-ökonomische Marktmodell akzeptieren würde, müsste die von May (2002) postulierte Gerechtigkeit des Marktes im Unterricht immer noch als fraglich erscheinen: „Das alles heißt nicht, dass die Löhne, die der Markt hervorbringt, gerecht sind. Der Markt ist effizient (…). Aber der Markt ist nicht gerecht. Er entlohnt nach Knappheit, und Knappheit hat mit Gerechtigkeit wenig zu tun, wie auch immer man sie definiert.“ (Sinn 2005, 149)
Für die gestaltungsorientierte sozialwissenschaftliche Fachdidaktik ist es im Themenbereich Sozialpolitik von zentraler Bedeutung, anhand von einzelnen sozialpolitischen Politikfeldern (z.B. Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenversicherung) exemplarisch konkret zu verdeutlichen, welche sozialpolitischen Institutionen jeweils zu welchen kategorialen sozialpolitischen Wertvorstellungen (Solidarität versus Subsidiarität) passen, um die heutige institutionelle Realität des deutschen Sozialstaats aus diesen verschiedenen normativen Perspektiven kritisch beleuchten, d.h. kontrovers problematisieren zu können. Denn anderenfalls bleibt die Auseinandersetzung viel zu abstrakt und allgemein, sodass es kaum möglich ist, gestaltungspolitische Urteilsfähigkeit im Sinne von Kapitel 3 sowie das damit verbundene kritische Denken zu fördern. Dieses gerade angesichts des noch relativ stark anschaulich geprägten Denkens der Jugendlichen wichtige Prinzip des (Kontroversen) exemplarisch(en) (konkretisierenden) Lernens wird in vielen Sozialpolitikkapiteln von Schulbü-
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chern leider nicht umgesetzt (Bauer et al. 2008, Kapitel 7, insbesondere S. 225ff.; Floren 2006, Kapitel III; Kaminski 2006, 104-107). So ist es wenig hilfreich, in einem Schulbuch hinsichtlich der Frage nach sozialpolitischen Reformen mit Texten zu arbeiten, die abstrakt-diffuse, d.h. inhaltlich nur sehr begrenzt aussagekräftige – und noch dazu teilweise widersprüchliche – Allgemeinformeln und politische Schlagworte wie „Beseitigung der Strukturprobleme und Anpassung von Umverteilungs-, Organisations- und Finanzierungslogik an die Erfordernisse einer gewandelten Gesellschaft“, „Wahrung bereits erworbener Ansprüche“, „Entlastung der die Systeme zukünftig tragenden Generationen“, „Sicherung bzw. Verbesserung der Leistungsqualität“ (so bei Floren 2006, 201f.) anbieten, unter denen jede der beiden politischen Richtungen (links/rechts) jeweils etwas ganz anderes versteht, weil sie die damit verbundenen – und didaktisch ja gerade hervorzuhebenden – Zielkonflikte anders auflöst. Aus demselben Grunde ebenso problematisch ist das ausschließliche Arbeiten mit abstrakten Gerechtigkeitsdefinitionen und ähnlich hochgradig allgemein formulierten, schwer greifbaren, zumindest für Schüler schwer voneinander unterscheidbaren Sozialpolitik-Konzepten aus Parteiprogrammen sowie stark in die Breite, dafür aber umso weniger in die – didaktisch jedoch erforderliche – exemplarische Tiefe gehenden Stellungnahmen von partikularistischen Interessenverbänden und Bundesministerien (Jöckel 2006, Kapitel 9). Zur Förderung gestaltungspolitischer Urteilsfähigkeit sollte man vielmehr – nach Möglichkeit unter Rückgriff auf verschiedene wissenschaftliche Vorschläge (Prinzip der Wissenschaftsorientierung) – konkret und exemplarisch vor Augen führen, wie unterschiedlich eine Arbeits-, Kranken- oder Rentenversicherung jeweils institutionell ausgestaltet würde, wenn man die normative Betonung entweder auf das Prinzip der sozialen Gleichheit / Solidarität oder aber auf das Prinzip der der individuellen Freiheit / Subsidiarität legen würde. Deshalb ist es bei der didaktischen Analyse der Schnittstelle von sozialpolitischen Normen und Institutionen zur Vermeidung der Illusion der Naturhaftigkeit des Politischen (Petrik 2007, 227f.) wichtig, bei der Darstellung des heute in der BRD existierenden Sozialstaats darauf zu achten, dass man nicht implizit den Anschein erweckt, bestimmte Sozialpolitikfelder würden `naturgemäß´ mit bestimmten sozialpolitischen Normen korrespondieren (z.B. Krankenversicherung = Solidaritätsprinzip; Existenzsicherung = Subsidiaritätsprinzip) (Floren 2006, 192f.). Die normative Dimension des Sozialstaatlichen sollte didaktisch vielmehr auf eine Art und Weise eingeführt werden, die exemplarisch verdeutlicht, dass man z.B. eine Krankenversicherung auch gemäß dem Subsidiaritätsprinzip gestalten kann (vgl. Kapitel 6.2.2.3.) und umgekehrt z.B. die Existenzsicherung gegenüber heute stärker am Solidaritätsprinzip ausrichten kann (siehe z.B. das Reform-Modell von Mitschke 2001, 2004 in Kapitel 6.1.4.). So kann besser deutlich werden, dass auch sozialpolitische Institutionen gesellschaftliche Konstrukte darstellen, die prinzipiell auf verschiedene Weise gestaltbar sind (Hedtke 2006a, 220).
6.2.1.1 Eine solidarisch-egalitaristische Arbeitslosenversicherung Will man darstellen, wie eine gemäß solidarisch-egalitaristischen Prinzipien aufgebaute Arbeitslosenversicherung gestaltet und argumentativ begründet werden könnte, muss man weitere egalitaristisch orientierte Beiträge aus der Ökonomik (Sesselmeier/Somaggio/Yollu
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2006) und der Soziologie (Pollmann-Schult/Büchel 2005; Gangl 2002a & 2002b) hinzuziehen und insofern additiv-komplementär integrieren. Aus der Sicht dieser Autoren erscheint die deutsche öffentlich-rechtliche Arbeitslosenversicherung, die von Arbeitnehmern einen obligatorischen, einheitlichen Beitrag als Prozentsatz des individuellen Arbeitseinkommens erhebt und dafür bei Arbeitslosigkeit für einen bestimmten Zeitraum einen rechtlichen Anspruch auf monetäre Leistungen als festgelegten Prozentsatz des vorherigen Arbeitseinkommens (ca. zwei Drittel) und insofern ein gewisses Maß an sozialer Statussicherung („Mittelschichtorientierung“, Nullmeier 2004, 500) gewährt, als eine bewahrenswerte Institution (Meyer 2005, 384; Sesselmeier / Somaggio/Yollu 2006). Allerdings sollte diese zu einer generellen Erwerbstätigenversicherung ausgebaut werden, die alle Beschäftigten und nicht nur wie heute Arbeitnehmer umfasst (ebd., 48; Butterwegge 2006, 289f.). Denn ehemals sozialversicherungspflichtige Beschäftigung wird von Unternehmen heutzutage zunehmend durch (formale) Selbständigkeit ersetzt, die bisher keinen Versicherungsschutz gegen das Arbeitslosigkeitsrisiko bietet. Didaktisch sollte herausgearbeitet werden, wie in dieser Institution die egalitaristischen Werte der Solidarität und der sozialen Angleichung zum Ausdruck kommen: die Höhe der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung und teilweise auch der Leistungen ist für den einzelnen Bürger unabhängig davon, wie oft und wie lange er in seinem bisherigen Lebenslauf arbeitslos war. Infolgedessen kommt es zu einer impliziten Umverteilung von Einkommen: Bürger mit niedrigem Arbeitslosigkeitsrisiko (zumeist solche mit relativ hohem ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapital) unterstützen Bürger mit hohem Arbeitslosigkeitsrisiko (zumeist solche mit niedrigerem ökonomischen, sozialen und kulturellem Kapital). Dann kann auch erkannt werden, dass der Reformvorschlag von (Sesselmeier/Somaggio/Yollu 2006, 48), nämlich das Plädoyer für die Abschaffung der sog. Beitragsbemessungsgrenze (die Grenze, durch die der individuell angerechnete Lohn, auf den der Beitragssatz bezogen wird, heutzutage auf einen Maximalbeitrag begrenzt wird), in normativer Hinsicht für eine Stärkung des Solidaritätsprinzips steht. Denn durch eine solche Reform würden Bürger mit hohen Lohneinkommen noch stärker als bisher zur Finanzierung der Leistungen herangezogen, während Bürger mit niedrigen Einkommen (wegen des dann sinkenden prozentualen Beitragssatzes) im Gegenzug entlastet würden. Mit Blick auf die Herausstellung von Zielkonflikten und zur Verhinderung der Ausbildung von unrealistischen Erwartungshaltungen an die Politik ist es sinnvoll, zu verdeutlichen, dass eine Arbeitslosenversicherung keine `eierlegende Wollmilchsau´ sein kann: ein solidarisches System wie das oben dargestellte kann nicht zugleich dafür sorgen, dass der zeitliche Anspruch älterer arbeitsloser Bürger auf Arbeitslosengeld, auch wenn sie jahrzehntelang ununterbrochen eingezahlt haben, eine besonders stark ausgeprägte versicherungsmathematische Äquivalenz zu dieser hohen Beitragssumme aufweist. Wer dies ändern möchte, muss sich bewusst sein, dass im Gegenzug die Risikoabsicherung der jüngeren Arbeitnehmer einzuschränken oder deren Beitragslast selektiv zu erhöhen wäre. Eine solidarisch-egalitaristische Arbeitslosenversicherung wie das obige Modell lässt sich nicht nur normativ, sondern auch effizienztheoretisch begründen, und zwar nicht nur unter Verweis auf deren makroökonomische Konjunkturstabilisierungsfunktion (Sesselmeier/Somaggio/Yollu 2006, 45). Nach Meyer (2005, 384) liegt ein zentraler Vorteil dieser Institution auch darin, dass sie Arbeitslosen ausreichende Möglichkeiten zum Verbleib im angestammten Beruf oder zu einer qualifizierten beruflichen Neuorientierung verschafft und insofern deren Lebensqualität fördert. Die Befürworter einer solidarisch-egalitaristi-
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schen Arbeitslosenversicherung sind sich dabei bewusst, dass diese den Reservationslohn der Arbeitslosen erhöht, d.h. den Mindestlohn, den sie von einer neuen Beschäftigung erwarten. Sie räumen auch ein, dass der hohe Reservationslohn den durchschnittlichen Zeitraum der Arbeitslosigkeit etwas verlängert (Pollmann-Schult/Büchel 2005; Gangl 2002a + b). Entgegen der liberalen Perspektive sehen sie darin jedoch kein negatives MoralHazard-Phänomen. Im Gegensatz dazu halten sie den beschriebenen Effekt für individuell und makroökonomisch wünschenswert. Aus Sicht des Arbeitslosen sei er vorteilhaft, weil dadurch der persönliche Einkommensverlust in Grenzen gehalten werde: während Arbeitslose in den USA aufgrund der dort weitaus weniger generösen Arbeitslosenversicherung unter starkem ökonomischen Druck stünden, unabhängig von den Arbeitsbedingungen den erstbesten sich bietenden Job anzunehmen und daher hohe Einkommensverluste von im Durchschnitt 10-25% erlitten, würden deutsche Arbeitslose aufgrund des generöseren Arbeitslosenversicherungssystems in der BRD nur einen Verlust von durchschnittlich 3% hinnehmen müssen (so Gangl 2002a + b unter Verweis auf eigene empirische Studien). Die Erhöhung des Reservationslohns und damit die Ansprüche des Arbeitslosen an den neuen Arbeitsplatz durch eine generöse Arbeitslosenversicherung sei jedoch insbesondere auch makroökonomisch zu begrüßen, weil sie zu einem besseren Matching zwischen den Qualifikationen der arbeitssuchenden Person und dem neuen Arbeitsplatz führe. Je niedriger der Reservationslohn und damit je höher der ökonomische Druck, möglichst umgehend das nächste Arbeitsangebot anzunehmen, desto höher sei die Inzidenz von Überqualifikation in einer Volkswirtschaft, d.h. umso mehr Personen arbeiteten an Arbeitsplätzen, die ihre Kompetenzen deutlich unterfordern (Pollmann-Schult/Büchel 2005; Gangl 2002a & 2002b). Wie empirische Forschung zeigt, ist dieser Effekt langfristig, d.h. überqualifizierte Arbeiter haben im Durchschnitt geringe Chancen, wieder auf einen qualifikatorisch angemessenen Arbeitsplatz zu wechseln. Für eine gestaltungsorientierte Fachdidaktik ist dies insbesondere deshalb ein wichtiges Argument, weil Überqualifikation laut empirischen Studien die individuelle Lebensqualität erheblich beeinträchtigt, da sie zu hoher Unzufriedenheit am Arbeitsplatz (Pollmann-Schult/Büchel 2005) sowie – infolge der beruflichen Unterforderung – zu einem allmählichen Verfall des kognitiven Kompetenzniveaus führt (De Grip/Bosma/Willems/Van Boxtel 2007). Höhere Arbeitslosenversicherungsbeiträge infolge längerer Suchzeiten der Arbeitslosen seien also quasi nur der kollektive Preis, den die Bürger einer Gesellschaft gemeinsam dafür bezahlen, dass die individuellen Qualifikationsniveaus möglichst optimal zu den Qualifikationsanforderungen der Arbeitsplätze passen und die Arbeitszufriedenheit gesteigert wird. Von Moral Hazard in der Arbeitslosenversicherung könne in der BRD hingegen keine Rede sein: Denn der Bezug generöser Arbeitslosenleistungen halte die Arbeitssuchenden nur davon ab, sie unterfordernde Stellen anzunehmen. Die Aufnahme qualifikatorisch angemessener Jobs werde durch die Existenz der deutschen Arbeitslosenversicherung jedoch nicht verzögert (so die empirischen Studien von Pollmann-Schult/Büchel 2005, Gangl 2002a + b). Anstelle von Moral-Hazard handele es sich daher um eine Stabilisierung von individuellen Erwerbsverläufen und der Erhaltung früher erworbenen Humankapitals durch Sicherung einer adäquaten Wiederbeschäftigung (Gangl 2002a). In diesem Zusammenhang kann auf den diesbezüglichen Unterschied zwischen Versicherung und Eigenvorsorge hingewiesen werden: Aus egalitaristischer Perspektive ist die für diesen positiven Effekt erforderliche Suchdauer nur durch eine Versicherung gewährleistet und kaum durch individuel-
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les Sparen zu erreichen, denn je nach unterstellter Sparquote (2-5%) und angenommenen Nominalzins (3-5%) müsse ein Bürger 10-20 Jahre ansparen, um bei Eintritt einer Arbeitslosigkeitsphase ein Jahr lang Lohnersatzleistungen in der derzeit in der BRD üblichen Höhe beziehen zu können (Sesselmeier/Somaggio/Yollu 2006, 39-43). Diese positiven Humankapitaleffekte sollten durch eine deutliche Intensivierung nicht nur retrospektiver, sondern auch prospektiver öffentlich finanzierter Qualifizierungsmaßnahmen gestärkt werden (Sesselmeier/Somaggio/Yollu 2006, 48). So investierten Dänemark und Schweden pro Arbeitslosen im Vergleich zu Deutschland in etwa das Doppelte bis Dreifache in die aktive Arbeitsmarktpolitik (Bildung und Training), was dazu führe, dass nicht nur die Arbeitslosenquote, sondern auch der Anteil der Langzeitarbeitslosen an allen Arbeitslosen in Dänemark (23,4%) und Schweden (15,8%) deutlich niedriger läge als in der BRD (53,0%) (Henkes/Petring 2007, 58-60). Empirische Studien aus der Soziologie (Pollmann-Schult/Büchel 2005; Gangl 2002a, 2002b), aber auch aus der Ökonomik (De Grip/Bosma/Willems/Van Boxtel 2007) zeigen also, dass es fachdidaktisch viel zu einseitig gedacht ist, die deutsche Arbeitslosenversicherung – wie von Kaminski (2002, 67) explizit vorgeschlagen – ausschließlich „einem homooeconomicus-Test zu unterziehen und zu prüfen, ob die gegenwärtige Verfasstheit des Systems der Arbeitslosenversicherung nicht gerade dazu einlädt, es auszubeuten.“ (ebd.) Genau dies ist für die Ökonomen Sesselmeier/Somaggio/Yollu (2006, 48) nur ein Minderheitenproblem. Auch eine empirische internaltional vergleichende multivariate Analyse aus der Politikwissenschaft (Bradley/Stephens 2006) bestätigt die These von Gangl (2002a & 2002b) zu den positiven Effekten der Arbeitslosenversicherung und kommt zu dem Ergebnis, dass negative Effekte erst bei Bezugsdauerrechten von mehr als 12 Monaten auftreten. Soziologie und Politikwissenschaften sind (auch) im vorliegenden Fall also mehr als bloße Zulieferer von institutionellen Restriktionen wie im institutionenökonomischen Integrationsansatz von Kaminski (2002) unterstellt. Hier sind sie vielmehr Konkurrenten.
6.2.1.2 Eine solidarisch-egalitaristische Rentenversicherung Wählt man das Teilgebiet der Alterssicherung zur exemplarischen Auseinandersetzung mit den beiden kontroversen gestaltungspolitischen Perspektiven im Politikfeld der Sozialpolitik und will man daher im Unterricht aufzeigen, welche institutionelle Gestalt ein nach solidarisch-egalitaristischen Prinzipien konzipiertes Rentenversicherungssystem annehmen könnte, gibt es zwei unterschiedliche Optionen. Denn innerhalb des Lagers derjenigen Alterssicherungstheoretiker, die sich grundsätzlich an den Werten der Solidarität und der sozialen Gleichheit orientieren, gibt es zwei verschiedene Teilgruppen, die unterschiedliche Ansichten bzgl. der Frage vertreten, wie soziale Solidarität in der Alterssicherung am besten zu erreichen sei. Zwecks kognitiver Komplexitätsreduktion empfiehlt es sich, im Bildungsprozess nur eine dieser beiden egalitaristischen Gestaltungsoptionen zu thematisieren. Die erste Gruppe, zu der z.B. der Politologe Butterwegge (2006, 175ff.), die Sozialwissenschaftler Deml/Haupt/Steffen (2008) und der Ökonom Schmähl (2009) gehören, befürworten grundsätzlich die Rückkehr zu der Art von Rentenversicherungssystem, welches seit 1957 bis zum Jahre 2000 in Deutschland existierte. Sie plädieren also für ein Sozialversicherungs- und Umlagesystem, das auf die Sicherung des im Erwerbsleben erreichten Lebensstandards im Alter (Lebensstandardsicherung, d.h. eine Rente in Höhe von ca.
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70% des persönlichen Durchschnittslohns) abzielt. Den daraus bis 2030 resultierenden Anstieg des Rentenversicherungsbeitrags auf insgesamt 28% halten sie – im Gegensatz zu den Vertretern der liberalen Perspektive – für gesamtwirtschaftlich tragfähig. Die zentralen Grundzüge der Argumentation dieser Sozialwissenschaftler eignen sich folglich insbesondere dann, wenn es im Unterricht darum gehen soll, die rentenpolitischen Reformen des letzten Jahrzehnts in Deutschland nicht nur deskriptiv nachzuvollziehen oder gar unumwunden affirmativ zu akklamieren (wie z.B. im Schulbuch von Kaminski 2006, 410), sondern diese (auch) unvoreingenommen zu evaluieren. Denn die genannten Wissenschaftler halten diese politischen Maßnahmen, d.h. die Reduktion des Leistungsniveaus in der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) und deren Kompensation durch staatlich geförderte, freiwillige Privatvorsorge („Riester-Rente“) für nicht sinnvoll und lehnen sie daher ab. Im Falle einer Thematisierung dieser Perspektive im Unterricht bietet es sich an, aus den diversen Begründungen dieser Kritik v.a. die zwei folgenden Argumente auszuwählen: Erstens wird die Urteilskategorie der politischen Legitimität angesprochen, wenn darauf hingewiesen wird, dass die Reformen der GRV deren Akzeptanz als Pflichtversicherungssystem in der Bevölkerung vollends unterminieren (Deml et al. 2008, 193 & 248). Infolge der Reformen kommt es nämlich zu dem Problem, dass Arbeitnehmer auch bei sehr langer Versicherungszeit eine gesetzliche Rente erhalten, deren Niveau sich nur noch marginal von dem Niveau der – steuerfinanzierten – Grundsicherung für alte Menschen unterscheidet oder dieses sogar unterschreitet. So erhalten Durchschnittsverdiener mit 28,6 Versicherungsjahren nicht mehr als das Niveau der steuerfinanzierten Grundsicherung – diese steht solchen Personen jedoch ohnehin qua Bürgerstatus zu. Und Personen, die in ihrem Erwerbsleben im Durchschnitt 75% des durchschnittlichen Gehalts aller Arbeitnehmer verdient haben, benötigen sogar mehr als 38,2 Jahre, um eine gesetzliche Rente oberhalb des Niveaus der – steuerfinanzierten – Grundsicherung zu erhalten (Bäcker et al. 2008, 438). Daher haben diejenigen Bürger, die diese recht langen Versicherungszeiten nicht erreichen, ihre Pflichtbeiträge aus individueller Sicht betrachtet völlig `umsonst´ entrichtet. Folglich sinken Arbeitsanreize bzw. erhöhen sich die Anreize zu illegalen Ausweichversuchen wie z.B. Schwarzarbeit, obwohl genau dies durch die Reformmaßnahmen (d.h. durch das Konstanthalten der Beitragslast) ja eigentlich verhindert werden sollte. Das zweite Argument richtet sich auf die politische Begründung der Reformmaßnahmen, nämlich dass die – nach dem Kapitaldeckungsverfahren arbeitende – private Vorsorge besser als das bisherige Umlageverfahren geeignet sei, die aus dem demografischen Wandel resultierenden Probleme zu bewältigen. Dagegen wird ein Einwand vorgebracht, anhand dem sich die basalen Funktionsmechanismen eines Marktes erarbeiten bzw. wiederholen lassen (aber eben auf problemorientierte Weise!): Infolge des demografischen Wandels nehme künftig die Zahl der alten Menschen zu, die ihre im Rahmen der privaten Altersvorsorge erworbenen Wertpapiere bei bzw. nach ihrer Verrentung verkaufen wollten, wohingegen die Zahl der jüngeren, erwerbstätigen Menschen, die im Rahmen ihrer Altersvorsorge Wertpapiere neu erwerben wollen, abnimmt. Einem (ceteris paribus) steigenden Angebot an Wertpapieren stehe künftig also eine (ceteris paribus) sinkende Nachfrage nach Wertpapieren gegenüber, mit der Folge, dass der Preis der Wertpapiere – und damit der Wert des Altersvermögens – (ceteris paribus) abnehme. Dieses umstrittene Argument ist sehr wohl ernstzunehmen. Zwar kann man einwenden, dass die jüngeren Menschen aufgrund auch künftig (wahrscheinlich) steigender ProKopf-Einkommen mehr sparen und daher mehr Wertpapiere nachfragen werden, sodass die
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Preise der Wertpapiere zumindest stabil bleiben würden. Dies ist jedoch kein spezieller Vorteil des Kapitaldeckungsverfahrens, da genau derselbe strukturelle Effekt auch beim Umlageverfahren zum Tragen kommt: unter gängigen Produktivitäts- und damit Bruttolohnsteigerungsannahmen ist davon auszugehen, dass das absolute Nettolohnniveau auch beim Festhalten am bisherigen Rentensystem trotz demografiebedingt steigender Beitragssätze immer noch steigt (Deml et al. 2008, 261; Schmähl 2009). Weiterhin kann man im Unterricht diskutieren, ob nicht die zurückgehende Wertpapier-Nachfrage der jüngeren Deutschen durch eine erhöhte Wertpapier-Nachfrage aus künftig aufstrebenden Entwicklungs- und Schwellenländern kompensiert werden könnte. Dies hängt jedoch von der Entwicklung der Wirtschaft und Geburten in diesen Ländern ab. Zudem wird das künftige weltweite Angebot an Wertpapieren nicht nur durch die Stärkung des Kapitaldeckungsverfahrens in Deutschland erhöht werden. Vielmehr setzen auch sehr viele andere Staaten seit einiger Zeit auf diese rentenpolitische Strategie. Ein weiterer, von der obigen Autorengruppe gegen die Rentenreformen der letzten Jahre angeführter Einwand lautet, dass die für die ökonomische Tragfähigkeit demografisch entscheidende Größe der sog. Gesamtquotient sei, der das Verhältnis zwischen alten und jungen Nicht-Erwerbstätigen einerseits und erwerbstätigen Beitragszahlern andererseits angibt. Dessen Anstieg fällt weit weniger dramatisch aus als der Quotient aus Rentnern und Erwerbstätigen (Altersquotient), auf den sich die liberale Perspektive fokussiert. Den Beitragssatzanstiegen in Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung seien also Entlastungen bei der Versorgung der jungen Generation gegenzurechnen (Deml et al. 2008, 255f.). Hier wäre jedoch kritisch zu diskutieren, wie überzeugend dieses Argument ist: schließlich wird gegenwärtig – wohl mit guten Gründen – eher über höhere staatliche Ausgaben in der Kinderbetreuung sowie Familien- und Bildungspolitik diskutiert, mit Sicherheit aber nicht über eine Senkung. Von daher ist schwer nachvollziehbar, wie sich hier faktisch eine kompensierende Entlastung bei Abgaben/Steuern ergeben soll. Mehr Überzeugungskraft dürften wohl weitere eventuell zu thematisierende Argumente gegen den Übergang zu verstärkter kapitalgedeckter privater Vorsorge besitzen, die erstens auf die deutlich höheren Verwaltungskosten eines individualisierten kapitalgedeckten Systems (wie in Deutschland) gegenüber einem umlagefinanzierten System verweisen. Zweitens besteht eine weitere Option im Unterricht darin, die Abhängigkeit eines kapitalgedeckten Systems und damit einer effizienten Kapitalallokation von einer adäquaten ordnungspolitischen Regulierung der Finanzmärkte aufzuzeigen, die – wie die Finanzmarktkrise zeigt – mit Blick auf mögliches staatliches Regulierungsversagen alles andere als selbstverständlich ist. Besonders sinnvoll, insbesondere mit Blick auf das egalitaristische Kriterium der sozialen Gleichheit, kann es sein, auf das Argument des mit dem Übergang zur individualisierten privaten Altersvorsorge entstehenden Problems der Auswahl von inferioren Alterssicherungsanbietern bzw. –produkten durch die Bürger aufmerksam zu machen. Denn auf diesem Markt spielt das Problem der Informationsasymmetrie eine zentrale Rolle. Zur Verdeutlichung kann man exemplarisch den Anlageskandal bei der Göttinger Gruppe (Öchsner 2007 a + b) heranziehen. Dabei kann auch erarbeitet werden, dass von diesem Problem v.a. Bürger aus unteren Sozialschichten mit geringerem Bildungskapital und daher weniger gut ausgebildeten Finanzmarktkompetenzen besonders betroffen sein dürften. Angesichts dieser zahlreichen wissenschaftlichen Einwände gegen die Stärkung der privaten Altersvorsorge wird im Schulbuch von Kaminski (2006) – zum wiederholten Male – das Kontroversitätsprinzip verletzt, wenn dort einfach dekreditiert wird, „dass die über
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Jahrzehnte angewachsenen Systeme nicht länger aufrecht zu erhalten sind, wenn in Zukunft auf einen Arbeitnehmer ein Rentner kommt.“ (ebd., 410) Es ist didaktisch durch nichts zu rechtfertigen, dass auf diese Weise die – konträre – wissenschaftliche Position von weithin anerkannten Rentenexperten gerade auch in der Wirtschaftswissenschaft – exemplarisch sei hier auf Winfried Schmähl (2009, 305-414) hingewiesen – schlicht ignoriert wird. Wenngleich die erste Gruppe der egalitaristischen Alterssicherungstheoretiker die in den letzten Jahren verabschiedeten Rentenreformen ablehnt, plädieren sie jedoch nicht für eine simple Reproduktion der alten GRV, sondern wollen diese gemäß dem egalitaristischen Prinzip (ebenso wie die Arbeitslosenversicherung, siehe oben) zu einer universalistischen Erwerbstätigenversicherung ausbauen, die insbesondere auch Selbständige mit einbezieht (Deml et al. 2008, 198ff.; Butterwegge 2006, 273f.). Auf diese Weise soll die zunehmende Erosion der Beitragsbasis der GRV verhindert werden, die dadurch entsteht, dass Unternehmen ehemals sozialversicherungspflichtige Arbeitsstellen durch (formal) Selbständige ersetzen, welche so einem erhöhten Altersarmutsrisiko ausgesetzt werden, da sie meist nicht freiwillig privat vorsorgen (Deml et al. 2008, 200f.). Desweiteren sprechen sich die Autoren gemäß dem Prinzip der sozialen Angleichung für verschiedene Umverteilungsmaßnahmen aus, durch die die Solidarität mit einkommensarmen Personen in der GRV gestärkt werden soll (ebd., 205ff.). Diese kann man exemplarisch thematisieren anhand des Vorschlags der Wiedereinführung einer Rente nach Mindesteinkommen. Demnach würden langjährige Versicherte mit geringen Einkommen (durchschnittlich unterhalb von 75% des Durchschnittseinkommens), die mindestens 25 Beitragsjahre vorweisen können, eine Anhebung ihrer Renten auf ein Niveau erhalten, das einem kontinuierlichen Verdienst von 75% des Durchschnittseinkommens während der Versicherungszeit entspricht. Hierbei ist freilich zu betonen, dass solche Maßnahmen – z.B. durch höhere Steuern – auch gegenfinanziert werden müssen bzw. Opportunitätskosten bei der Verwendung von staatlichen Mitteln erzeugen. Die von der liberalen Perspektive vertretene Forderung nach einer kinderzahlabhängigen Rente für Eltern (sog. Elternrente, siehe dazu Kapitel 6.2.2.2.) wird abgelehnt, da die ökonomische Finanzierungsbasis der Renten nicht in erster Linie von der Zahl der jungen Nachkommen abhänge, sondern von der gesamtwirtschaftlichen Produktivität (ebd., 260; Butterwegge 2006, 106f.). Auch an dieser Stelle fällt auf – was im Unterricht kritisch herauszuarbeiten und offen zu diskutieren wäre – , dass die Autoren ohne nähere Begründung meinen, die von der liberalen Perspektive betonte Anreiz-Problematik einer demographisch bedingt sehr hohen Abgaben-Last auf Arbeitseinkommen einfach ignorieren zu können. Diesbezüglich zeigt die zweite Gruppe der egalitaristisch argumentierenden Alterssicherungstheoretiker eine differenziertere Argumentation. Zu dieser Gruppe gehören Vertreter aus der Ökonomik (z.B. Lauterbach 2007, 125-148) und der Politikwissenschaft (z.B. Scharpf 2004e) an, deren Beiträge additiv-komplementär integriert werden können. Beide befürworten den Einbau einer durch Steuern finanzierten Grundrente für alle Bürger in das deutsche Rentenversicherungssystem. Dieses Ziel entspricht der Forderung des Egalitaristen Nullmeier (2004, 499) nach einem deutlich höherem Maß an Steuerfinanzierung des deutschen Sozialstaats. Didaktisch kann man hierbei auf das implizite Vorbild des Rentensystems in der Schweiz (Lauterbach 2007, 147) oder in den Niederlanden rekurrieren und durch einen entsprechenden Vergleich exemplarisch die internationale Vielfalt sozialpolitischer Ordnungsrealitäten (Hedtke 2002) herausstellen, um den Konstruktcharakter gesellschaftlicher Institutionen zu verdeutlichen (Hedtke 2006a, 220).
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So schlägt Scharpf (2004e) in Anlehnung an das niederländische System die Einführung einer steuerfinanzierten, nicht an Bedürftigkeits- oder Einkommensprüfungen gekoppelten Grundrente in Höhe des soziokulturellen Existenzminimums für alle verrenteten Einwohner vor, die eine bestimmte Mindestanzahl von Jahren im Inland gelebt haben. Diese Grundrente soll durch eine Erhöhung der progressiven Einkommenssteuer finanziert werden, was vertretbar sei, da die BRD im internationalen Vergleich zu den Staaten mit einem sehr niedrigen Aufkommen aus der Einkommensbesteuerung zähle (ebd., 230). Didaktisch sollte angesprochen werden, dass solche Systemwechsel in einem komplexen Gebilde wie einer Rentenversicherung nicht ohne weiteres zu bewerkstelligen sind, u.a. weil die durch bisherige Beitragszahlungen im alten System erworbenen Leistungsansprüche aus nachvollziehbaren Gründen mit einem ausgeprägten Rechtsschutz ausgestattet sind. Der Vorschlag von Scharpf (2004e) zeigt allerdings, dass derartige Umstellungen keineswegs wie oft behauptet technisch unmöglich sein müssen. Demnach soll die neue steuerfinanzierte Grundrente auf die laufenden Altersrenten der heutigen gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) und die Beamtenpensionen so angerechnet werden, dass sich das Einkommen von Personen mit Anspruchsrechten aus diesen Systemen, die den Betrag der Grundrente übersteigen, nicht verändert: auch diese Bürger bekommen also die steuerfinanzierte Grundrente in voller Höhe, im Gegenzug werden ihre GRV-Rentenleistungen und Pensionen um denselben Betrag gekürzt. Durch diese Kürzung der GRV-Renten und die entsprechende Entlastung des GRV-Haushaltes könnten die Beitragssätze zur GRV deutlich gesenkt werden. Diese Senkung der GRV-Beitragssätze soll nach Scharpf (2004e) jedoch nicht proportional, d.h. für alle Einkommen gleichmäßig erfolgen. Stattdessen soll sich die Abgabenentlastung auf Niedrigeinkommen konzentrieren, indem bei den Rentenversicherungsabgaben (analog zur Einkommenssteuer) ein Freibetrag eingerichtet wird, sodass Rentenversicherungsbeiträge nur noch auf den Teil des Einkommens zu entrichten wären, der € 1100 übersteigt. Geringverdiener mit einem Verdienst unter € 1100 zahlen dann keine Rentenversicherungsbeiträge mehr, erhalten aber (wie jeder Bürger) die steuerfinanzierte Grundrente. Didaktisch kann wiederum verdeutlicht werden, inwiefern dieses institutionelle Vorhaben den egalitaristischen Werten der Solidarität und der sozialen Angleichung entspricht. Erstens kommt es zu einer teilweisen Verlagerung der Finanzierungsstruktur weg von einkommensproportionalen Sozialabgaben hin zu progressiven Einkommensteuern, was die Umverteilungsintensität von Einkommensreichen zu Einkommensarmen erhöht. Eine steuerfinanzierte Grundrente zeichnet sich im Vergleich zur ehemaligen GRV durch einen höheren Grad an Solidarität aus, weil sie das soziokulturelle Minimum von vorneherein kollektiv nach ökonomischer Leistungsfähigkeit finanziert. Zweitens kann man mit Scharpf argumentieren, dass eine solche Verlagerung auch die Beschäftigungschancen von geringqualifizierten Bürgern erhöht (siehe dazu die Argumentation in Kapitel 6.1.1.). Durch Hinzuziehung des Beitrags von Lauterbach (2007, 125-148) kann man ein drittes egalitaristisches Argument zugunsten einer steuerfinanzierten Grundrente thematisieren, mit dem sich ein Bezug zu dem oben in Kapitel 6.3.1. dargestellten, egalitaristischen Ziels des Ausgleichs unverdienter Vor- und Nachteile verschiedener sozialer Schichten herstellen lässt. Die Behandlung dieses Arguments ermöglicht eine problematisierende (anstatt einer rein institutionenkundlichen) Herangehensweise an das Phänomen GRV, die das kritischdistanzierte Denken fördert und dient zugleich einer exemplarischen Schulung des (sozialpolitischen) Gerechtigkeitssinns (Deichmann 2004, 179). Dabei kann durch den Kontrast
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mit dem anders gearteten rentenpolitischen Gerechtigkeitskonzept der liberalen Perspektive (vgl. Kapitel 6.3.2.2.) deutlich gemacht werden, dass `Gerechtigkeit´ keinen ontologischen Tatbestand, sondern einen Gegenstand kontroverser gesellschaftlicher, aber auch wissenschaftlicher Konstruktionsprozesse darstellt. So argumentiert Lauterbach (2007, 128), dass die heutige GRV einen „ZweiklassenRentenstaat“ darstelle, von dem die einkommenstarken Rentner auf Kosten der einkommenschwachen Rentner profitieren würden, und zwar aus einem Grund, der aus egalitaristischer Perspektive nicht akzeptabel erscheint. Das fundamentale Gerechtigkeitsdefizit der GRV resultiere daraus, dass sich die Höhe der monatlichen Rente zwar nach der Höhe der individuellen Beitragszahlungen (d.h. des langjährigen individuellen Durchschnitts-einkommens und der individuellen Beschäftigungsdauer) richte, aber die unterschiedliche individuelle (Rest)Lebenserwartung / (Rest)Lebensdauer bei Renteneintritt diesbezüglich überhaupt nicht berücksichtigt werde. Aufgrunddessen komme es zu einer versteckten, aber erheblichen Benachteiligung von Rentnergruppen mit kurzer (Rest)Lebenserwartung / (Rest)Lebensdauer zugunsten von Rentnergruppen mit langer (Rest)Lebenserwartung / (Rest)Lebensdauer. Dieser Mechanismus sei nicht hinnehmbar, weil Menschen mit geringen Einkommen eine im Durchschnitt deutlich kürzere Lebenserwartung als Menschen mit hohen Einkommen aufweisen. Dies sei überwiegend eine Folge ihrer zumeist nicht individuell zu verantwortenden sozialen Benachteiligung und liesse sich nicht in erster Linie auf einen ungesünderen Lebensstil zurückführen. Ehemalige Gutverdiener erreichen aufgrund ihrer im Durchschnitt deutlich höheren Lebenserwartung das Rentenalter häufiger als Geringverdiener und beziehen ihre Rente über einen im Durchschnitt doppelt so langen Zeitraum. Diese Leistungsunterschiede sind nicht durch die unterschiedlich hohen Beitragszahlungen gedeckt. Aufgrund der Tatsache, dass die durchschnittliche Lebenserwartung über die Generationen hinweg in der Gruppe der Einkommensstarken schneller zunehme als bei den Einkommensschwachen, würden sich diese Differenzen in Zukunft zusätzlich verschärfen (Lauterbach 2007, 133). Infolge der unterschiedlich langen Rentenbezugsdauer von einkommensschwachen und einkommensstarken Individuen erhalte die Gruppe der Gutverdiener aus der GRV aber schon heute deutlich mehr an Rente als sie an Beitragen eingezahlt hat. Demgegenüber ist die (Zwangs)mitgliedschaft für Geringverdiener ein Verlustgeschäft (Lauterbach 2007, 131): „Der größte Verlierer unseres Rentensystems ist deshalb in der Regel derjenige, der ein Leben lang für ein niedriges Einkommen hart gearbeitet hat. Nur weil so viele dieser Menschen früh sterben und dadurch ihre Rentenansprüche `begraben´ werden, können die hohen Renten für die lange lebenden Einkommensstarken ohne weitere Beitragssteigerung bezahlt werden. (…) Dieses große Unrecht wird billigend in Kauf genommen und ist ein Tabuthema in der deutschen Rentenpolitik. Wir haben es hier nicht mit der Rentenlüge, sondern mit einer Lebenslüge des deutschen Rentensystems zu tun.“ (Lauterbach 2007, 133f.)
Diese systematische rentenpolitische Benachteiligung der Geringverdiener kann durch die Einführung einer Grundrente und die damit verbundene Erhöhung des einkommenssteuerfinanzierten Anteils der Alterseinkommen und damit des Finanzierungsanteils der Besserverdiener kompensiert werden (Lauterbach 2007, 146).
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Ein weiterer Unterschied der zweiten Gruppe zur ersten Gruppe der egalitaristischen Alterssicherungstheoretiker besteht darin, dass die Reformmaßnahmen in den letzten Jahren in Form der Stärkung der privaten, kapitalgedeckten Vorsorge nicht prinzipiell abgelehnt werden. Diese bedürfe jedoch einer anders gearteten institutionellen Einbettung. So wird vorgeschlagen, die Teilnahme an zusätzlicher kapitalgedeckter Vorsorge im Rahmen der sog. Riester-Rente, deren Einführung mit Blick auf den demographischen Wandel für durchaus angemessen angesehen wird, für alle Erwerbstätigen gesetzlich verbindlich zu machen (Lauterbach 2007, 140). Dabei soll der Staat wie in Schweden die entsprechenden Beiträge für Arbeitslose zahlen (ebd.). Auch dieses Ansinnen folgt dem egalitaristischen Prinzip der sozialen Angleichung, denn nach Lauterbach besteht das verteilungspolitische Problem der in der BRD bisher freiwilligen, aber vom Staat durch Zuschüsse bzw. Steuervergünstigungen subventionierten zusätzlichen kapitalgedeckten Altersvorsorge darin, dass die Riester-Rente v.a. von Durchschnitts- und Gutverdienern genutzt werde, während Geringverdiener dieses Produkt kaum in Anspruch nähmen (so auch die empirische Studie und Kritik von Corneo/Keese/Schröder 2007). Daher käme es auch hier zu einer inakzeptablen Umverteilung von unten nach oben, da die Geringverdiener so die steuerfinanzierte Subvention für die Riester-Rente der Besserverdienenden mitfinanzieren (z.B. über die Mehrwertsteuer), ohne selbst davon zu profitieren. Erst durch derartige, auch kritischhinterfragende und die „Riester-Reform“ nicht bloß beschreibende Informationen (wie z.B. bei Floren 2006, 202f.) wird es Schülern möglich, sich ein reflektiertes Urteil zur RiesterRente zu bilden. Ein weiteres Problem der Riester-Rente sieht Lauterbach darin, dass deren Angebot über private Versicherungskonzerne mit unnötig hohen Verwaltungskosten einhergehe, die bei einer Bereitstellung über einen öffentlich-rechtlichen Rententräger – wie die schwedische Erfahrung zeigt (Hippe 2007) – weitaus geringer ausfielen. Deshalb soll die zusätzliche kapitalgedeckte Altersvorsorge (aufgrund des Vertrauensschutzes nur für Neuzugänge) im Rahmen einer obligatorischen Riester-Rente künftig automatisch vom öffentlichrechtlichen Rententräger organisiert werden. Dem einzelnen Bürger soll jedoch das Recht zugestanden werden, zu einem kommerziellen Anbieter zu wechseln. Umgekehrt sollen aber auch Bürger, die bisher bei einem privaten Anbieter kapitalgedeckte Altersvorsorge betreiben, das Recht besitzen, zu einem öffentlich-rechtlichen Träger zu wechseln. Dieser Wettbewerb zwischen dem öffentlich-rechtlichen Träger und privaten Anbietern, den es im schwedischen Modell in dieser Form ebenfalls gibt, soll die Verwaltungskosten senken. Dieser Aspekt stellt keineswegs eine Marginalie dar, den man im Falle einer Thematisierung der sog. Riester-Reform zwangsläufig aussparen muss. Denn es ist sachlich nicht angemessen, den in der jüngeren Vergangenheit in Deutschland vollzogenen teilweisen Übergang von der Umlagefinanzierung zu Kapitaldeckung als solchen dem didaktischen Urteilsbildungsprozess zu unterwerfen. Vielmehr gibt es erhebliche Anzeichen dafür, dass die Art der öffentlichen Regulierung der kapitalgedeckten Vorsorge von erheblicher Relevanz für deren sozialpolitische Effekte ist (Hippe 2007). Dabei spielen neben anderen Dimensionen die Verwaltungskosten eine große Rolle, da sie, wie internationale Vergleiche zeigen, über 40 Spar-Jahre kumuliert je nach Regulationsweise zwischen ca. 5% und 50% des akkumulierten Kapitals verzehren können (ebd.), was offenkundig einen massiven Unterschied hinsichtlich der ökonomischen Lebensqualität der Ruheständler macht. Von daher sollte die Fachdidaktik gegenwärtigen sozialpolitischen Reformprozessen nicht mit jenen oberflächlich-diffusen und zudem ausschließlich die alten Sozialversiche-
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rungssysteme kritisierenden, schlagwortartigen Phrasen („Rückbesinnung auf das Kernstück der sozialen Marktwirtschaft“, „Sozialkassen droht der Kollaps“) begegnen, die im Schulbuch von Kaminski (2006, 410) zum Besten gegeben werden. Es mag ja sein, dass, wie Kaminski (ebd.) dem Schüler in die Kladde diktiert (anstatt offen diskutiert), die Sozialversicherungssysteme in ihrer heutigen Form nicht länger aufrecht zu erhalten sind und noch nicht genug reformiert worden ist. Aber das muss doch keineswegs heißen, dass – wie von ihm offenbar implizit als völlig selbstverständlich unterstellt wird – die neuen, in der BRD real existierenden Privatversicherungssysteme (Riester-Rente) viel besser als das alte System abschneiden. Anstatt immer nur die (angebliche) Notwendigkeit von mehr privater Vorsorge zu betonen (Kaminski 2005, 410), sollte man zumindest auch die damit verbundenen Gefahren exemplarisch z.B. anhand des Anlegerbetrugs bei der Göttinger Gruppe – und deren tatsächlich eingetretenen „Kollaps“ – aufzeigen, in deren Gefolge mehr als 100000 Altersvorsorgesparer nicht weniger als insgesamt € 1 Mrd. unwiederbringlich verloren haben (Öchsner 2007a + b). Man darf hier also nicht, wie Kaminski (2005, 136f.) an anderer Stelle selbst schreibt, im didaktischen Prozess einen Realtypus (hier: deutsches Sozialversicherungssystem) – auch nicht implizit – mit einem theoretisch imaginierten Idealtypus (hier: das ökonomische Modell eines effizienten Privatversicherungssystems) vergleichen. Denn Politikversagen tritt nicht nur bei der staatlichen Konstruktion von Sozialversicherungssystemen, sondern auch bei der staatlichen Regulierung von Privatversicherungssystemen (und den damit gekoppelten Finanzmärkten) auf. Setzt man dementsprechend real existierende private Rentenversicherungssysteme einem genauso kritischen Fokus aus wie Kaminski (2006, 410) es mit dem deutschen Sozialversicherungssystem tut, kann man durchaus zu der kontraintuitiven Erkenntnis gelangen, dass stark von öffentlichen Gremien gesteuerte oder kollektiv organisierte kapitalgedeckte Systeme in vielen Punkten ökonomisch effizienter arbeiten können als rein privatwirtschaftlich-individuell organisierte Systeme (siehe dazu Hippe (2007) und die dort angegebene Literatur). Dasselbe wurde empirisch von Ungern-Sternberg (2004) für die Gebäudeversicherung gezeigt (für ein weiteres Beispiel siehe die Analyse von Engartner (2008, 277) zur Schweizerischen Bundesbahn). Die Gegenüberstellung von effizienten marktlichen Privatunternehmen und ineffizienten monopolistischen öffentlichen Behörden ist in ihrer generalisierenden Form ein Mythos, der einer didaktischen Aufklärung bedarf. Mit Blick auf das Kriterium der politischen Durchsetzbarkeit (Kapitel 4.4.1.) der von Lauterbach vorgeschlagenen Reform der Riester-Rente kann jedoch herausgearbeitet werden, dass die privaten Versicherungskonzerne als neue einflussreiche Veto-Akteure auf dem Politikfeld der Rentenpolitik entsprechende Reformversuche eventuell blockieren werden. Angesichts des engen Nexus, den die liberale Perspektive zwischen Alterssicherungspolitik und dem Familienleistungsausgleich zieht (siehe Kapitel 6.2.2.2.), kann man im Unterricht in leistungsstarken Kursen den Vergleich zwischen liberaler und egalitaristischer Perspektive auf das Politikfeld der Familientransferpolitik ausdehnen, da auf diese Weise auch eine (monetäre) Dimension des sozialpolitischen Schlüsselsproblems der Kinderarmut analysiert werden kann (die edukative Dimension dieses Schlüsselproblems wird in den Kapiteln 6.2.1.4. und 6.2.2.4. zur Bildungspolitik behandelt). Ebenso ist es natürlich auch möglich, den Vergleich der beiden Perspektiven nur auf die Alterssicherungspolitik zu beschränken oder aber auch nur auf die unterschiedlichen Vorstellungen zur Gestaltung des Familienleistungsausgleichs einzugehen. Letzterem dienen die folgenden Anmerkungen.
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Zwischen den beiden Teilgruppen der egalitaristischen Alterssicherungstheoretiker besteht Einigkeit in der Ablehnung der von der liberalen Perspektive geforderten Elternrente. Denn Familienpolitik dürfe nicht nach der dort vertretenen Prämisse betrieben werden, dass Eltern Kinder für die Gesellschaft oder ihre Versorgung im Alter aufziehen, sondern um ihrer selbst willen (Butterwegge et al. 2008, 326). In diesem Kontext können die divergierenden Problemwahrnehmungen der egalitaristischen und liberalen Perspektive didaktisch herausgearbeitet und klar gegenübergestellt werden: Während bei den Alterssicherungstheoretikern der liberalen Perspektive das Problem der zahlenmäßigen Armut der Gesellschaft an Kindern im Mittelpunkt steht, rückt die egalitaristische Perspektive stattdessen die deprivierende Armut einiger Kinder selbst als zentrales Problem in den Vordergrund. Während sich die egalitaristische Perspektive hinsichtlich des Familienleistungsausgleichs allein auf den sog. vertikalen Leistungsausgleich, d.h. die Unterstützung von Kindern in Familien mit geringen Einkommen fokussiert, konzentriert sich die liberale Perspektive sehr stark auf den sog. horizontalen Leistungsausgleich, d.h. die Kompensation der ökonomischen Nachteile von Eltern gegenüber Kinderlosen (vgl. zur Unterscheidung zwischen horizontalem und vertikalem Familienleistungsausgleich Bäcker et al. 2008 (Band 2), 296ff.). „Statt jene Menschen materiell besser zu stellen, die Kinder haben, sind jene Kinder besser zu stellen, die keine gut situierten Eltern haben oder von ihnen vernachlässigt werden.“ (Butterwegge/Klundt o.J., 10) „Umverteilung von oben nach unten, nicht Umverteilung von den Kinderlosen zu den Eltern müsste die Devise einer gerecht(er)en Familienpolitik lauten.“ (Butterwegge et al. 2008, 327)
Anstelle einer Elternrente wird daher ein Kindergeldzuschlag für all jene sozial benachteiligten Eltern gefordert, deren Einkommen unterhalb einer zu bestimmenden Einkommensgrenze fällt (Butterwegge et al. 2008, 323 & 331). Die Gegenfinanzierung soll durch eine Abschaffung oder zumindest Reduktion des Ehegattensplittings36 und damit dem Übergang zu einem individualisierten Steuersystem nach skandinavischem Vorbild erfolgen. Der demgegenüber von der liberalen Perspektive geforderte Ausbau des Ehegattensplittings zu einem Familiensplitting (siehe Kapitel 6.3.2.2.), welches die Steuerlast von Familien erheblich senken würde, wird dementsprechend nachdrücklich abgelehnt (ebd., 332). Denn dieses begünstige v.a. einkommensreiche Familien mit hohen Steuerzahlungen, wohingegen Familien mit geringen Einkommen und entsprechend geringen oder gar keinen Steuerzahlungen davon nur einen geringen oder gar keinen Vorteil hätten.
6.2.1.3 Eine solidarisch-egalitaristische Krankenversicherung Will man eine denkbare konkrete institutionelle Form der abstrakt-allgemeinen, normativen Prinzipien der egalitaristischen Perspektive didaktisch anhand der Krankenversicherung exemplifizieren und Argumente für deren Verwirklichung diskutieren, bietet sich ein integrierender Rückgriff auf gestaltungsorientierte Beiträge aus der Ökonomik (Kühn 2001; Lauterbach 2004, 2007; Lauterbach/Stock 2001), der Soziologie (Wendt 2003; Opielka 2005), der Politologie (Butterwegge 2006, 275ff.), ökonomisch-soziologische und ökono36
Zur Erläuterung des Ehegattensplittings siehe z.B. Bäcker et al. 2008, 311f.
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misch-politologische Co-Produktionen (Bäcker et al. 2008, 91ff.; Kühn/Klinke 2007; Rosenbrock/Gerlinger 2004) sowie gesundheitswissenschaftliche (Holst 2007) Publikationen an. Grundsätzlich entspricht der egalitaristischen Perspektive eine solidarisch finanzierte Bürgerversicherung (Butterwegge 2006, 275ff.; Lauterbach 2004; Kühn/Klinke 2007, 180; Opielka 2005; Rosenbrock/Gerlinger 2004, 252ff.; Bäcker et al. 2008, 235ff.): Die gesamte Wohnbevölkerung wird obligatorisch im Rahmen einer einheitlichen, öffentlichen Krankenversicherung abgesichert, welche das medizinisch Notwendige finanziert. Die Beiträge werden gemäß dem Leistungsfähigkeitsprinzip einkommensabhängig in Form eines festen Prozentsatzes erhoben und differieren nicht nach individuellem Krankheitsrisiko. Didaktisch sollte wiederum verdeutlicht werden, wie in einem solchen System die egalitaristischen Werte der sozialen Angleichung und der Solidarität zum Ausdruck kommen: eine Bürgerversicherung impliziert eine umfassende solidarische Umverteilung der Krankheitskosten von alten zu jungen Bürgern, von armen zu reichen Menschen, von Frauen zu Männern und von Individuen mit hohem Krankheitsrisiko zu Individuen mit geringem Krankkeitsrisiko (Bäcker et al. 2008, 140f.). Aus Sicht der egalitaristischen Perspektive sind diese solidarischen Umverteilungsströme essentiell, um die ökonomische, insbesondere aber auch die gesundheitliche Lebensqualität und die damit verbundene menschliche Würde sozial benachteiligter Bürger aufrecht zu erhalten. Um Schülern die hohe Bedeutsamkeit dieser in Deutschland (größtenteils noch) selbstverständlichen Situation für die menschliche Würde und Lebensqualität (Kapitel 3) zu verdeutlichen, bietet sich ein kurzer Kontrast mit den Verhältnissen in den USA anhand von Fallbeispielen an, wo eine adäquate medizinische Versorgung sozial benachteiligter Bürger oft nicht gewährleistet ist. In einem Gesundheitssystem mit freier Wahl des Versicherungsanbieters hängt die Aufrechterhaltung der solidarischen Umverteilungsströme von der Existenz eines finanziellen Risikostrukturausgleichs (RSA) zwischen den verschiedenen Krankenkassen bzw. dessen Umfang ab. Der RSA gleicht das aufgrund von sozialstrukturellen Einflussgrößen (Alter, Geschlecht, Einkommen, Morbidität) unterschiedlich hohe Durchschnittskrankheitsrisiko der verschiedenen Versichertenkreise der Unternehmen aus, um „Cream-Skimming“, d.h. einseitiges Werben der Versicherungskonzerne um gut verdienende Bürgern mit niedrigem Krankheitsrisiko zu unterbinden. Der RSA verhindert so die Entstehung und Verstärkung von Beitragssatzunterschieden zwischen Versicherungsunternehmen, welche nicht auf betriebswirtschaftliche Performanz, sondern nur auf die unterschiedliche soziostrukturelle Zusammensetzung der jeweiligen Versichertenkreise zurückzuführen sind, und schafft damit aus egalitaristischer Perspektive die Voraussetzungen für einen fairen und volkswirtschaftlich sinnvollen Wettbewerb, durch den die Anstrengungen der Versicherungen auf die Verbesserung der gesundheitsökonomischen Effizienz konzentriert werden. Didaktisch kann problematisierend verdeutlicht werden, dass die oben aufgeführten solidarischen Umverteilungsströme von Jung zu Alt etc. zwar auch in der gegenwärtigen gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland (GKV) in relativ hohem Maße präsent sind, allerdings durch a) die bisher (noch) fehlende Berücksichtigung der Morbidität im RSA, b) Selbstbeteiligungszahlungen, c) die Lohnbezogenheit des Beitrags, d) die Beitragsbemessungsgrenze sowie e) die Pflichtversicherungsgrenze und die damit verbundene Möglichkeit des Ausweichens von Einkommensreichen in die PKV signifikant eingeschränkt werden. Hier setzen die Reformvorstellungen der egalitaristischen Perspektive an.
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Dabei wird der mittel- bis langfristigen Aufhebung der derzeitigen Trennung des deutschen Systems in Private Krankenversicherung (PKV) und Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) besondere Bedeutung zugewiesen (unter Wahrung des Vertrauensschutzes der derzeitigen PKV-Versicherten) (Butterwegge 2006, 290; Wendt 2003: 336, 338; Lauterbach 2004; Rosenbrock/Gerlinger 2004, 242f.; Opielka 2005, 103; Bäcker et al. 2008, 237f.). Denn die derzeitige dualistische Struktur sei ethisch fragwürdig und gesundheitsökonomisch ineffizient: Innerhalb der PKV würde ein Arzt bzw. eine medizinische Institution für dieselbe Leistung deutlich besser (etwa doppelt so hoch) bezahlt als im Rahmen der GKV. Infolgedessen würden Ärzte überdurchschnittlich gesunde Personen (Beamte und Besserverdienende) im Rahmen der PKV unnötig aufwendig behandeln, wohingegen die Bedürfnisse der morbideren Durchschnittsbürger im Rahmen der GKV oft vernachlässigt würden, sodass deren gesundheitliche Lebensqualität entsprechend leide (Gerlinger 2007, 14-18). Insbesondere besäßen privat versicherte Bürger infolge der höheren Vergütung einen deutlich besseren Zugang zu erfahrenen medizinischen Spezialisten, was bei schweren Erkrankungen wie z.B. Krebs von großer Bedeutung für die Überlebenswahrscheinlichkeit sei (Lauterbach 2007, 57-65). Diese Zwei-Klassen-Medizin führe zu einer gesamtwirtschaftlich unsinnigen Fehlallokation von medizinischen Spezialisten, Arbeitszeit und Ressourcen (Lauterbach 2004, 58f.), indem sich z.B. Spezialisten auf die Behandlung von Trivialerkrankungen von privat Versicherten konzentrieren anstatt auf schwere Krankheitsfälle der gesetzlich Versicherten. Insofern stellt das deutsche Gesundheitswesen didaktisch einen geeigneten Untersuchungsgegenstand dar, um den Schlüsselproblemcharakter sozialer Ungleichheit (Weber 2004) zu thematisieren. Daher schlägt die egalitaristische Perspektive vor, im Rahmen einer Bürgerversicherung eine einheitliche Gebührenordnung zu etablieren, sodass die Gesundheit jedes Patienten gleich viel wert ist. Vom Urteilskriterium der politischen Durchsetzbarkeit (Kapitel 4.4.1.) aus betrachtet erscheint die Umsetzung dieses Vorhabens jedoch insofern schwierig, als der Großteil der Eliten in Medien, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik in der PKV versichert ist und daher von diesem System profitiert (Lauterbach 2007, 93). Überdies kann hinterfragt werden, ob es selbst im Rahmen einer Bürgerversicherung nicht bloß formalrechtlich, sondern auch faktisch möglich wäre, das Ideal einer klassenlosen Medizin zu erreichen oder ob es Personen mit hohen Einkommen notfalls durch informelle Zuwendungen nicht immer gelingen wird, sich eine bessere medizinische Versorgung zu sichern. Gleichwohl können Schüler – was auch für ihre spätere Selbstbestimmungsfähigkeit bei persönlichen Kontakten mit dem Gesundheitssystem von Bedeutung ist – an der obigen Argumentation lernen, dass es ein Trugbild ist zu glauben, dass das Gesundheitssystem ein sakraler Bereich wäre, in dem das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und damit die Menschenwürde i.d.R. nicht zugunsten monetärer Erwägungen geopfert würde. Die simple, das vermeintlich Offenkundige konstatierende systemtheoretische These, Gesundheitssystem und Wirtschaftssystem seien zwei autonome gesellschaftliche Teilbereiche, von denen der eine gemäß dem Steuerungscode `krank/gesund´ und der andere gemäß dem Code `Zahlung/Nicht-Zahlung´ operiert, ist sowohl im ambulanten und stationären Bereich als auch hinsichtlich des Handelns der Krankenkassen nicht zutreffend. Empirische Studien aus der Gesundheitswissenschaft zeigen, dass monetäre Anreize sowohl für die medizinischen Entscheidungen der Akteure im Gesundheitssystem als auch für dessen spezifische Organisationsstruktur in der BRD immer eine große Rolle gespielt haben und weiterhin
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spielen (z.B. Wendt 2003: 215, 249; Rosenbrock/Gerlinger 2004; Gerlinger 1997; Simon 2001; Klas 2000; Sommer 1999, 20ff.). Dieser Zusammenhang ist für eine gestaltungsorientierte sozialwissenschaftliche Fachdidaktik wichtig, weil gesundheitliches Wohlbefinden eine außerordentlich wichtige Voraussetzung für eine hohe Lebensqualität (Kapitel 3) ist. Angesichts dessen verwundert es, dass den gesellschaftlichen Voraussetzungen des doch zweifellos höchsten Guts des Menschen sowohl in vielen Schulbüchern (Bauer et al. 2008; Floren 2006; Heither / Klöckner/Wunderer 2006; Jöckel 2006; Kaminski 2006) als auch im Handbuch ökonomischpolitische Bildung (Althammer/Andersen/Detjen/Kruber 2007) überhaupt keine (!) Aufmerksamkeit geschenkt wird. Hierin kommt exemplarisch die in weiten Teilen der Fachdidaktik dominierende, allen Bekundungen zum Trotz als abbilddidaktisch zu charakterisierende Vorgehensweise zum Ausdruck, deren Ausgangspunkt nicht die Frage nach den möglichen Quellen menschlicher Lebensqualität ist, sondern die stattdessen vorschlägt, als erstes die gängigen Einführungsbücher in die jeweiligen sozialwissenschaftlichen Disziplinen zu konsultieren (z.B. Kruber 2000; Weisseno 2006, 133ff.), um auf diesem Wege zentrale wissenschaftliche Kategorien/Kernkonzepte zu identifizieren, deren Vermittlung sodann im Didaktischen oft ein Eigenleben gewinnt und dann geradezu zum autopoietischen Selbstzweck mutiert, d.h. nicht mehr systematisch auf solche Fragen bezogen wird, die für die Lebensqualität der Menschen eine besonders hohe Relevanz aufweisen – wie z.B. jene nach dem Zusammenhang zwischen Ökonomie und Gesundheit im deutschen Gesundheitssystem. Neben einer einheitlichen Bürgerversicherung für die gesamte Bevölkerung plädieren Vertreter der egalitaristischen Perspektive dafür, Kapitaleinkommen in die Beitragsbemessungsgrundlage mit einzubeziehen und die heutige Beitragsbemessungsgrenze anzuheben (Lauterbach 2004, 54; Rosenbrock/Gerlinger 2004, 243f.; Bäcker et al. 2008, 237; Butterwegge 2006, 290) bzw. ganz abzuschaffen (Opielka 2004, 103). Dadurch soll zum einen der soziale Ausgleich gestärkt werden; zum anderen ließe sich so auch der GKVBeitragssatz signifikant senken. Denn dieser sei im Gegensatz zur These der liberalen Perspektive in den letzten drei Jahrzehnten nicht wegen einer vermeintlichen Kostenexplosion infolge des medizinisch-technischen Fortschritts und Moral Hazard angestiegen, sondern wegen einer Einnahmenschwäche: so habe sich die funktionale Einkommensverteilung auf Kosten der Lohneinkommen (GKV-Finanzierungsbasis) zugunsten der Kapitaleinkommen verschoben. Der Anteil der GKV-Ausgaben am BIP (6-7%) sei in Deutschland wie auch in vielen anderen europäischen Staaten über diese Zeit hingegen im Wesentlichen gleich geblieben. Dies zeige, dass sich der medizinisch-technische Fortschritt (bzw. dessen Kosten) keineswegs automatisch schneller entwickeln müsse als das Wirtschaftswachstum (Lauterbach/Stock 2001, 4), wie die liberale Perspektive in Form der sog. Medikalisierungshypothese annimmt. Wären die GKV-Beitragssätze auf das gesamte BIP, d.h. nicht nur auf Lohneinkommen, sondern auch auf Kapitaleinkommen bezogen worden, wäre der Beitragssatz nur unmerklich angestiegen (Bäcker et al. 2008, 216ff.; Braun/Kühn/Reiners 1998, 2634; Kühn/Klinke 2007, 185; Mielck 2000, 390f.; Rosenbrock/Gerlinger 2004, 100-103; Wendt 2003, 171f.). Hinsichtlich des Urteilskriteriums der politischen Durchsetzbarkeit (Kapitel 4.4.1.) wäre an dieser Stelle didaktisch kritisch darauf hinzuweisen, dass mobile Kapitaleinkommen in einer globalisierten Welt dazu neigen, sich einer solchen geplanten Zusatz-Belastung zu entziehen und internationale politische Kooperation diesbezüglich
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schwierig und mit Blick auf Spar- und Investitionsanreize ökonomisch vielleicht auch gar nicht wünschenswert ist. Ein zentrales sozialpolitisches Problem, auf das im Falle der Behandlung der Krankenversicherung einzugehen wäre, stellt der demographische Wandel dar, weil dieser die Finanzierbarkeit von Medizin für alle Bürger bzw. des heutigen relativ solidarischen Systems mit hoher Wahrscheinlichkeit in den kommenden Jahrzehnten ökonomisch mehr oder weniger unter Druck setzen wird. Derjenige Teil der Schüler, der im Anschluss an die normative Urteilsbildung in sozialpolitischer Hinsicht den Werten der Solidarität und des sozialen Ausgleichs zuneigt, sollte wissen, wie man gestaltungspolitisch aus einer egalitaristischen Perspektive vernünftig auf diese Problematik reagieren könnte. Für die egalitaristische Perspektive ergibt sich aus der demografischen Alterung kein zwangsläufiger Zielkonflikt zwischen der Verbesserung der gesundlichen Lebensqualität und der finanziellen Nachhaltigkeit der Krankenversicherung. Lauterbach/Stock (2001) weisen darauf hin, dass nicht das Durchschnittsalter, sondern der durchschnittliche Gesundheitszustand der Bevölkerung entscheidend für die Kostenentwicklung ist, wofür wiederum das Auftreten von chronischen Krankheiten und der durchschnittliche Gesundheitszustand chronisch Kranker von besonderer Bedeutung ist. Die Prävalenz chronischer Krankheiten werde im Gegensatz zur These der liberalen Perspektive jedoch nicht durch die demografische Alterung an sich determiniert, sondern liege in der hohen sozialen Ungleichheit des Krankheitsrisikos begründet (Kühn/Klinke 2007, 198), da v.a. Angehörige unterer Sozialschichten von chronischen Krankheiten betroffen sind. Zentrales Ziel zukünftiger Gesundheitspolitik müsse die Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung und die damit verbundene Ausdehnung der gesunden Lebensphase sein, wodurch sich sowohl die Lebensqualität steigern als auch die ökonomischen Kosten senken ließen. Denn erstens gebe es zahlreiche empirische Hinweise darauf, dass die Steigerung der Lebenserwartung mit einer Kompression jener Lebensphase im Alter einherginge, die durch eine starke Belastung mit kostenintensiven chronischen Krankheiten geprägt sei (Teil 1 der sog. Kompressionshypothese). Zweitens falle ein weit überproportionaler Anteil der lebenslangen medizinischen Ausgaben für einen Menschen in das letzte Lebensjahr und empirische Studien zeigten, dass ein über 90jähriger, sterbender Patient nur noch knapp die Hälfte der Klinikkosten eines 65-69jährigen, sterbenden Patienten verursache, da die hohe Gebrechlichkeit sehr alter Menschen meist keine aggressiven medizinischen Therapien mehr zulasse (ebd., 195) (Teil 2 der sog. Kompressionshypothese). Eine Erhöhung der Lebenserwartung insbesondere von Angehörigen aus unteren sozialen Schichten und die damit verbundene Kompression der Lebenszeit, die durch chronische Krankheit geprägt ist, sowie die damit ebenfalls verbundene Erhöhung des Sterbealters seien rein biologisch betrachtet möglich. Voraussetzung für eine solche Steigerung der Lebensqualität sei jedoch, dass sich die gesundheitspolitischen Anstrengungen auf die frühzeitige und evidenzbasierte Behandlung chronischer Krankheiten, d.h. durch wissenschaftlich-empirisch abgesicherte Behandlungsleitlinien (Sekundärprävention) durch sog. Disease Management Programme zwecks Linderung der Folgekomplikationen konzentriere (Rosenbrock/Gerlinger 2004, 57-88; Lauterbach/Stock 2001). Eine evidenzbasierte Behand-lung sei zurzeit in der BRD jedoch aufgrund fehlenden ärztlichen Wissens in ca. 50% der Fälle nicht gegeben (ebd., 19f., 24; Gerlinger/Rosenbrock 2004, 162). Darüber hinaus seien die politischen Anstrengungen auf die Verhinderung der Entstehung von chronischen Krankheiten (Primärprävention) durch entsprechende gesundheits-
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bewusste Normierungen und Regulierungen in den Politikbereichen Umwelt, Bauen, Ernährung, Landwirtschaft, Verkehr, Technik, Gewerbeaufsicht etc. zu fokussieren (Kühn/ Klinke 2007, 196). Mit Blick auf das Kriterium der politischen Durchsetzbarkeit kann hierbei jedoch didaktisch problematisierend diskutiert werden, dass die positiven, aber erst langfristig anfallenden und dann auch eher unsichtbaren (da tendenziell als selbstverständlich wahrgenommenen und/oder nicht kausal interpretierten) Folgen solcher Regulierungen wenig Anreize für ein entsprechendes Handeln heutiger administrativer und politischer Akteure bieten, während konzentrierte Interessengruppen und eventuell auch eine risikounterschätzende und/oder myopische Öffentlichkeit angesichts der kurzfristig anfallenden bürokratischen und finanziellen Kosten und des (imaginierten als auch realen) Standortwettbewerbs erheblichen politischen Druck auf die Senkung regulatorischer Standards ausüben. Die Gesundheitspolitik der liberalen Perspektive (Kapitel 6.2.2.3.) sei für eine solche, ungleichheitssensitive gesundheitspolitische Strategie überhaupt nicht geeignet. Deren Modell einer obligatorischen Privatversicherung mit risikoäquivalenten Beitragssätzen verletze das solidarische Leistungsfähigkeitsprinzip, woran auch die geplanten staatlichen Zuschüsse zu den Beiträgen von Geringverdienern nichts ändern würden. Denn die politische Nachhaltigkeit dieser selektiven, nur auf den ökonomisch schwachen Bevölkerungsteil ausgerichteten Zuschüsse lasse zu wünschen übrig, da ihnen v.a. bei Konsolidierungsbedarf des Bundeshaushalts in schwachen Wirtschaftsphasen mit hoher Wahrscheinlichkeit der politische Rückhalt fehlen werde (Butterwegge 2006, 277; Butterwegge et al. 2008, Rosenbrock/Gerlinger 2004, 245; Bäcker et al. 2008, 235). Diese Argumentation entstammt der These des „Paradox of Redistribution“ aus empirischen Studien der international vergleichenden Politologie (Korpi/Palme 1998; Rothstein 1998), wonach die selektive Konzentration sozialpolitischer Umverteilungsmaßnahmen auf die sog. `wirklich Hilfsbedürftigen´ (anstatt universalistischer, die gesamte Bevölkerung umfassender Programme) paradoxerweise zu einer unzureichenden sozialpolitischen Versorgung von diesen sozial benachteiligten Bürgern führt, da die politisch entscheidende Mittelschicht dann kein Interesse an der Finanzierung dieser selektiven sozialstaatlichen Programme, sondern vielmehr an Steuersenkungen hat, um ihre (teuren) Privatversicherungen besser bezahlen zu können (so auch Butterwegge et al. (2008, 329) im Anschluss an den Soziologen Giddens). Dieser kontraintuitive Zusammenhang stellt mit Blick auf die Problematik unbeabsichtigter Nebenwirkungen (Kapitel 4.4.2.) ein wichtiges Merkmal sozialpolitischer Urteilsfähigkeit dar. Aufgrund dessen sollte eine gestaltungsorientierte sozialwissenschaftliche Didaktik der Sozialpolitik die ideologische Botschaft von populärwissenschaftlichen Zeitungsbeiträgen, in denen die Konzentration von staatlicher Sozialpolitik auf die „wirklich Hilfsbedürftigen“ empfohlen wird, auch kritisch hinterfragen anstatt sie einfach nur von den Schülern reproduzieren zu lassen, wie es in manchen Schulbüchern der Ökonomikdidaktik (so bei Kaminski 2006, 106f.) geschieht. Aufmerksam machen könnten diese Schulbücher auch darauf, dass solche bedürftigkeitsgeprüften Sozialleistungen entgegen dem ökonomischen Modell häufig aus Unwissen oder Scham (Offenlegung der eigenen schlechten Finanzsituation) von einem signifikanten Teil der Berechtigten nicht in Anspruch genommen werden (Becker/Hauser 2005; Mielck 2000, 371) (verdeckte Armut). Auch die von der liberalen Perspektive vorgenommene Rechtfertigung risikoäquivalenter Beitragssätze sowie von Selbstbeteiligungen bei der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen unter Rückgriff auf die Moral-Hazard-Heuristik und die Norm der individuellen
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Eigenverantwortung wird von der egalitaristischen Perspektive zurückgewiesen (Holst 2007). Denn die Anwendung des Moral-Hazard-Theorems auf die Krankenversicherung gehe von der unzutreffenden These aus, dass die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen für die Versicherten einen Genuß darstelle. Der Versuch der Senkung der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen durch ökonomische Preise in Form spürbarer monetärer Selbstbeteiligungen der Patienten erzeuge – so Holst (2007) unter Verweis auf eine Reihe von internationalen klinisch-epidemiologischen Studien – unbeabsichtigte Nebenfolgen in Form einer Unternutzung medizinisch notwendiger Leistungen v.a. bei Personen mit niedrigem Einkommen und Personen mit chronischen Krankheiten. Zwar komme es durch die Bepreisung von Medizin kurzfristig zu einer Kostensenkung, mittel- bis langfristig werde jedoch die Lebensqualität beeinträchtigt, womit Mehrkosten einhergingen, da Krankheiten verschleppt würden, die medikamentöse Compliance der Patienten sinke, etc., was dann später umso intensivere medizinische Eingriffe erfordere: „Dabei stellt sich heraus, dass belastbare Belege für das Moral-Hazard-Verhalten von Versicherten bzw. Patienten bisher fehlen und die üblicherweise angeführte Empirie für den Nachweis ungeeignet ist. (…) Die Einführung von Kostenbeteiligungen für Patienten scheint eher die bedarfsgerechte Versorgung zu gefährden, weil sie Kranke von der Inanspruchnahme abhalten. Nach gründlicher Auswertung des Forschungsstandes kommt der Autor zu dem Schluss, dass Moral Hazard in der Krankenversicherung ein Popanz der akademischen Wirtschaftstheorie geblieben ist.“ (Holst 2007, 3)
Wie schon in der Arbeitslosenversicherung zeigt sich also auch in der Krankenversicherung, dass man heuristische institutionenökonomische Analyseinstrumente bzw. die ökonomische Verhaltenstheorie didaktisch nicht blind wie eine `grammatische Regel´, d.h. als generalisierende Erklärungen anwenden darf, sondern deren inhaltliche Angemessenheit jeweils kritisch prüfen und im Anschluss daran kontrovers diskutieren sollte, nicht zuletzt um die unbeabsichtigten Nebenfolgen (Kapitel 4.4.2.) der darauf aufbauenden politischen Interventionen im Blick zu behalten. Somit stellt es eine unzulässige, ideologisierende didaktische Verkürzung dar, wenn die komplexe sozialpolitische Problematik im institutionenökonomischen Integrationsansatz von vorneherein auf „die Ausbeutung der kollektiven Systeme der sozialen Sicherung“ (so Karpe/Krol 1997, 85) bzw. auf „Moral Hazard“ und das „Restaurant-Rechnungs-Problem“ (so Kaminski 1997, 153) reduziert wird. Zudem verkennt eine solche, einseitig der liberalen Perspektive folgenden Herangehensweise und der darin eingebettete normative Nachdruck auf das Prinzip der Eigenverantwortung aus Sicht der egalitaristischen Perspektive weitere empirische Studien, die zeigen, dass der Beitrag soziostruktureller Einflussfaktoren zur Morbiditätslast i.d.R. stark unterschätzt wird, während der Beitrag individueller Verhaltensfaktoren zur Morbiditätslast stark überschätzt wird (Kühn/Klinke 2007, 182; Holst 2007, 20). Denn laut der empirischen Gesundheits- bzw. Medizinsoziologie ist die Morbidität in unteren sozialen Statusgruppen doppelt bis dreifach so hoch als in den oberen; und diese gesundheitliche Ungleichheit erkläre sich in erster Linie durch die schlechteren Lebensbedingungen niedriger Sozialschichten (Siegrist/Dragano 2006; Mielck 2000: 361-366; Braun/Kühn/Reiners 1998, 130ff.; Bäcker et al. 2008: 101ff., 106f.; Gerlinger/Rosenbrock 2004, 41-45). Deren Angehörige seien deutlich häufiger physisch und psychisch besonders belastenden Arbeitsbedingungen sowie einer intensiveren Schadstoffbelastung der Außen- und Innenluft ausgesetzt.
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Menschliche Gesundheit sei aus Sicht der Sozialepidemiologie nicht eine Frage der Verhinderung von individuellem Moral-Hazard, sondern in erster Linie eine Frage der sozialen „Infrastruktur-Gerechtigkeit“ (Stronegger o.J., 7). Überdies sei gesundheitsschädliches Verhalten als emotionale Kompensationsreaktion oft selbst eine Folge widriger soziostruktureller Umstände und darin eingelagerter Stressfaktoren. Auch deshalb werden risikoäquivalente Krankenversicherungsbeiträge von der egalitaristischen Perspektive als sozial ungerecht abgelehnt. Didaktische Integration bedeutet an dieser Stelle also, bei der Auseinandersetzung mit ethischen Grundfragen des Wirtschaftens gängige, auf der ÖVT basierende politische Empfehlungen (Oberender/ Fleischmann 2002) unter Rückgriff auf soziologische Studien kritisch zu prüfen.
6.2.1.4 Ein solidarisch-egalitaristisches Bildungssystem Aus Sicht einer gestaltungsorientierten sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik eignet sich die Analyse gegenwärtiger Bildungspolitik besonders gut als exemplarisches sozialpolitisches Vertiefungsgebiet, weil Bildung von zentraler Bedeutung für das Ausmaß und die Verteilung späterer Lebenschancen (Weber 2004) und damit menschlicher Lebensqualität ist. Laut Wößmann (2007, 44-63) führt Bildung über die Erhöhung der Arbeitsproduktivität und des technischen Fortschritts nicht nur zu einem höheren Wirtschaftswachstum, sondern gemäß weiterer empirischer Studien auch zu gesünderer Ernährung, stärkerer sportlicher Betätigung, weniger Rauchen während der Schwangerschaft, einer verstärkten Nutzung von Mutterschaftsvorsorgemaßnahmen, zu einem engagierteren Staatsbürgertum (stärkere Information über politische Themen und intensiveres ehrenamtliches Engagement) und zur Entschärfung sozioökonomischer Konflikte. Darüber hinaus vertreten die Psychoökonomen Di Giacinto/Ferrante/Vistocco (2007) unter Verweis auf eine Reihe von empirischen Untersuchungen die These, dass Bildung einen entscheidenden Faktor für die Fähigkeit darstelle, ein insgesamt zufriedenstellendes Leben zu führen, welches in einer umfangreicheren, intensiveren, kreativeren, körperlich und intellektuell anspruchsvolleren Art und Weise Gebrauch von dem Erfahrungspotential der Umgebung mache. Angesichts der somit hohen Bedeutsamkeit dieses Themas für die menschliche Lebensqualität muss es verwundern, dass die sozialwissenschaftliche Analyse des Bildungswesens in sozialwissenschaftlichen/politikdidaktischen Schulbüchern (Floren 2006; Heither/Klöckner/Wunderer 2006) nur eine sehr untergeordnete Rolle spielt, denn hier wird nur die Bildungsungleichheit als ein Aspekt der Sozialstruktur unter vielen anderen thematisiert; die entscheidende Frage nach der institutionellen Einbettung dieses Problems (s.u.) wird hingegen nicht behandelt. In der Handreichung zur ökonomischen Schwerpunktbildung im Fach Sozialwissenschaften auf der Sekundarstufe 2 in NRW (MSJK 2004), aber auch in ökonomikdidaktischen Schulbüchern (Bauer et al. 2008; Kaminski 2006) sowie im Handbuch politisch-ökonomische Bildung findet das Thema überhaupt keine (!) Erwähnung, obwohl Ökonomikdidaktiker behaupten, dass die Beantwortung der Frage nach der Erweiterung der ökonomischen „Verwirklichungschancen des Einzelnen in der Gesellschaft“ das Leitziel ökonomischer Bildung darstelle (Kruber 2005, 80). Wenn aber die individuellen Verwirklichungschancen wirklich so zentral für die Ökonomik-Didaktik sind, warum finden sich dann zentrale Erkenntnisse der empirischen Bildungsökonomie zu dem
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großen Potential der Erhöhung der kognitiv-psychischen Verwirklichungschancen37 sozial benachteiligter Kleinkinder durch frühzeitige erziehungspolitische Interventionen (z.B. Carneiro/Heckman 2003; Cunha/Heckman/Lochner/Masterov 2005; Heckman 2000; Heckman/Masterov 2007) nicht in den gängigen Hand- und Schulbüchern der ökonomischen Bildung? “Several US experiments indicate the advantages of targeting policy at the pre-school years of severely deprived children in disadvantaged environments. (…) Those interventions appear to have lasting effects on learning, social skills and motivation and often yield large pay-offs to society.” (Adnett/Davies 2002: 42, 46)
Aus Sicht einer gestaltungsorientierten Fachdidaktik sind diese paradoxen Leerstellen wiederum ein typischer Ausdruck für die entgegen anderweitigen Bekundungen abbilddidaktische Neigung der derzeit dominierenden fachdidaktischen Ansätze, übergreifende wissenschaftliche Kategorien, Theorien, Heuristiken etc. aus fachwissenschaftlichen Lehrbüchern zum Ausgangspunkt ihres fachdidaktischen Denkens zu machen, deren Vermittlung sodann zum szientistischen Selbstzweck des Lernens mutiert. Die Alternative besteht darin, zunächst eigenständig zu überlegen, welche gestaltungsorientierte Fragen für den gesellschaftlichen Lebenswert der Gesellschaft, in der die Schüler künftig leben werden, wirklich eine zentrale Rolle spielen. Bei der Klärung solcher Fragen kann man dann im Nachhinein auf die dafür jeweils relevanten wissenschaftlichen Heuristiken und Kategorien eingehen. Die Auseinandersetzung mit der egalitaristischen Perspektive auf das Bildungssystem, die hier durch den integrierenden Rückgriff auf `ökonomische´ (Lauterbach 2007), `soziologische´ (Geissler 2003, Müller-Benedict 2007, 2008; Mutz 2006) und `erziehungswissenschaftliche´ (Klemm 2006; Rolff 2003; Schümer 2004; Tillmann 2004) Beiträge konstituiert wird, weist eine hohe Bildungsrelevanz auf, denn sie zeigt, dass dessen institutionelle Strukturen für das Schlüsselproblem der sozial ungleichen Verwirklichungs- und Entfaltungschancen der Individuen (Weber 2004) eine fundamentale Rolle spielen. Die egalitaristische Perspektive verdeutlicht, dass es für die Schulung gestaltungsorientierter Urteilsfähigkeit (Kapitel 3) und eines „Gerechtigkeitssinns“ (Deichmann 2004, 179) bei diesem Thema nicht ausreicht, nur die sog. primären sozialen Bildungs-Ungleichheiten (Tillmann 2004), d.h. die starke Beeinflussung der Bildungschancen des Kindes durch die soziale Herkunft (Berufs- und Bildungsstatus der Eltern) und das damit einhergehende familiäre Anregungsmilieu (Zugriffsmöglichkeiten auf Kulturgüter wie z.B. Bücher, Art und Weise der Kommunikation wie z.B. gemeinsames Lesen, Häufigkeit kultureller Aktivitäten wie z.B. Museumsbesuche, materieller Reichtum zur Finanzierung von Nachhilfe etc.) (Mutz 2006, 2ff.) als einen Aspekt der deutschen Sozialstruktur unter vielen anderen darzustellen. Gefordert ist hier vielmehr eine institutionell-systemische Vertiefung. Dazu gehört eine didaktische Auseinandersetzung mit der egalitaristischen These, dass die primäre, soziostrukturell bedingte soziale Ungleichheit im deutschen Schulwesen durch sekundäre, institutionell erzeugte Ungleichheiten massiv verschärft wird (Lauterbach 2007, 37 Entsprechende Vorschulinterventionen reduzieren die spätere Kriminalität und die Neigung zu Drogenkonsum erheblich und wirken sich förderlich auf Lernmotivation, Selbstdisziplin und die später erreichten Bildungsabschlüsse und das spätere Einkommen aus (siehe dazu auch das Interview mit dem Bildungsökonomen James Heckman in der SZ vom 29.03.2008).
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31). Laut einer empirischen Studie von Müller-Benedict (2007) ist die sekundär bedingte Ungleichheit sogar von größerer Bedeutsamkeit als die primäre Ungleichheit. Während primäre Ungleichheiten dafür sorgen, dass Kinder unterschiedlicher sozialer Schichten unterschiedlich gute Lernerfolgsvoraussetzungen in die Schule mitbringen, sind sekundäre soziale Ungleichheiten dafür verantwortlich, dass Kinder unterer sozialer Schichten auch dann benachteiligt werden, wenn sie dieselben Leistungen wie Schüler aus höheren Schichten erbringen (Tillmann 2004). So sind in Deutschland die Chancen von Kindern aus mittleren und höheren Dienstleistungsschichten, ein Gymnasium zu besuchen, selbst bei gleicher Intelligenz und Lesekompetenz dreifach höher als die von Arbeiterkindern (Geißler 2003, 13; Tillmann 2004, 10). Aus Sicht der egalitaristischen Perspektive erzeugen Schulsysteme, die die Schüler relativ früh und auf eine relativ hohe Zahl von leistungsmäßig differenzierten Bildungsgänge und/oder Kursen aufteilen (Prototyp: Deutschland), deutlich stärkere sekundäre soziale Ungleichheiten als reine Einheitsschulsysteme (Prototyp: Finnland), wie Mutz (2006) im Rahmen einer quantitativen und qualitativen empirischen Ländervergleichsstudie belegt. Infolgedessen sei der sog. soziale Gradient, der die Intensität des Zusammenhangs zwischen sozialer Herkunft und Schulleistung (in Form von Testergebnissen in internationalen Vergleichsstudien) misst, in früh und intensiv gegliederten Schulsystemen deutlich stärker als in anderen Schulsystemen ausgeprägt. Für das Phänomen der Verstärkung primärer Ungleichheiten durch sekundäre Ungleichheiten in gegliederten Schulsystemen werden zwei zentrale Gründe angeführt, die mit den Entscheidungen von Eltern und Lehrern zusammenhängen. Je mehr diskretionäre Entscheidungsmacht ein Schulsystem aufgrund seiner institutionellen Struktur diesen beiden Akteuren hinsichtlich der Schulkarriere des Kindes einräume, desto höher sei der soziale Gradient, d.h. die soziale Chancen-Ungleichheit (Mutz 2006: 15, 26-28, 36-40). Erstens lassen sich empirisch wirkmächtige, schichtspezifisch differente Bildungsaspirationen der Eltern nachweisen, die in gegliederten Systemen besonders früh und besonders intensiv zum Tragen kommen (Geißler 2003, 13; Müller-Benedict 2007). So unterscheiden sich die Schulabschlusswünsche der Eltern in Abhängigkeit von ihrem Berufs- und Bildungshintergrund. Bei gleichem Leistungsstand der Kinder am Ende der Grundschule planen Eltern aus verschiedenen Schichten unterschiedliche Bildungskarrieren für ihre Kinder. Bei guten Schulnoten (Durchschnitt bis 2,3) ist von elterlicher Seite her für 94% der Oberschichtkinder, für 69% der Mittelschichtkinder, aber für nur 38% der Unterschichtkinder der Besuch eines Gymnasiums vorgesehen. Unterschiedlich fallen auch die Reaktionen auf die Schulformempfehlungen der Lehrer aus: Fast alle Beamtenkinder (92%) folgen einer Gymnasialempfehlung, aber nur 63% der Facharbeiterkinder und weniger als die Hälfte (48%) der Kinder von Un- und Angelernten. Der Widerstand der oberen Schichten gegen den sozialen Abstieg ihrer Kinder ist also stärker ausgeprägt als der Wille der unteren Schichten zum sozialen Aufstieg. Daneben spielen schichtspezifisch differente Erfolgserwartungen eine Rolle. Ferner werden Entscheidungen für weiterführende Bildungsgänge in der Unterschicht häufig als (subjektiv) riskanter empfunden und sind im Verhältnis zu den verfügbaren ökonomischen Ressourcen mit höheren (Opportunitäts)Kosten verbunden (Mutz 2006, 5). Je früher institutionelle Übergangsentscheidungen vorgesehen sind, desto enger ist der Zusammenhang zwischen Merkmalen der sozialen Herkunft und der Bildungsbeteiligung, denn spätere Übergangsentscheidungen fallen laut der international vergleichenden Schulforschung zwar auch nicht unabhängig von der sozialen Herkunft aus, doch ist deren Einfluss deutlich geringer.
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Zweitens komme es darüber hinaus zu einer institutionellen Diskriminierung von Kindern aus sozial benachteiligten Schichten (Mutz 2006, 13-16). So weisen die Schulformempfehlungen von Grundschullehrern eine signifikante leistungsindifferente Schichtspezifizität auf: Zum Beispiel besitzen Kinder, die aus Familien der Oberen Dienstklasse stammen, gemäß der IGLU-Studie auch bei gleichen kognitiven Fähigkeiten und Lesekompetenzen (gemessen durch Schulleistungstests) eine 2,68fach höhere Chance, eine Gymnasialempfehlung anstelle einer Realschulempfehlung zu erhalten, als Kinder von Facharbeitern. In Übereinstimmung damit kommen Schulze/Unger (2009) in ihrer empirischen Studie zu dem Ergebnis, dass Schüler selbst bei gleichen Noten unterschiedlich hohe Chancen auf eine Gymnasialempfehlung besitzen, je nachdem aus welcher sozialen Schicht sie stammen. Beispielsweise beträgt die Wahrscheinlichkeit für Schüler mit der Durchschnittsnote 2,5 eine Gymnasialempfehlung zu erhalten 80%, wenn sie der höchsten sozialen Schicht angehören, aber nur 20%, wenn sie der untersten sozialen Schicht angehören (ebd., 112). Eine weitere Untersuchung aus Deutschland zeigte, dass Kinder aus bildungsfernen Familien, wenn sie eine Empfehlung der Grundschule für das Gymnasium erhalten wollen, Leistungen erbringen müssen (gemessen in Form von Punkten in Schulleistungstests), die um 50% höher liegen als diejenigen von Kindern aus bildungsstarken Schichten (Geißler 2003, 13; Lauterbach 2007, 31f.; Mutz 2006, 14; Tillmann 2004, 8f.). Die beiden oben genannten, mit Blick auf den Wert der Chancengleichheit schon für sich genommen problematischen Zusammenhänge erweisen sich aus egalitaristischer Perspektive zudem auch deshalb als nicht akzeptabel, weil die frühe Differenzierung in gegliederten Schulsystemen zur Herausbildung von schulformspezifischen, lernkulturellen Entwicklungsmilieus führen, die sich in ihrem intellektuellen und sozialen Anregungsgehalt deutlich voneinander unterscheiden (Mutz 2006, 21; Schümer 2004; Tillmann 2004, 13). Derartige Entwicklungsmilieus sind jedoch von ganz erheblicher Bedeutung für die empirische Leistungsentwicklung des individuellen Schülers (Mutz 2006, 19; Schümer 2004). Ein Schüler, der das Gymnasium besucht, macht dort im Durchschnitt deutlich größere Lernfortschritte als ein Schüler mit gleichem intellektuellem Lernpotential, der zu Unrecht nur für die Hauptschule empfohlen wurde (Klemm 2006, 79; Mutz 2006, 19; Rolff 2003). Die Gliederung verstärkt somit die Leistungsunterschiede zwischen Schülern aus unteren und oberen Sozialschichten und damit den sozialen Gradienten (Mutz 2006, 27). Insbesondere das soziokulturelle Lernmilieu der deutschen Hauptschulen erreiche aufgrund ihrer sozialstrukturellen Entmischung infolge der Bildungsexpansion heutzutage in etwa einem Drittel der Fälle hinsichtlich der sozialen Zusammensetzung der Schülerschaft kritische Werte, ab denen es zu erheblichen eigenständigen negativen Effekten der sozialen Charakteristika der Lerngruppe auf die individuellen Leistungen und damit zu einer doppelten milieumäßigen Benachteiligung von Hauptschülern kommt (d.h. in Familie und Schule) (Schümer 2004; Solga/Wagner 2000). Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Interaktion und Diskussion mit Mitschülern, aber auch die bloße Beobachtbarkeit anderer Lerneinstellungen und Lebensentwürfe die individuelle Lernhaltung deutlich beeinflusst. Das Ausmaß von Disziplinproblemen und das Unterrichtsklima entscheiden darüber, inwieweit die theoretisch zur Verfügung stehende Zeit effektiv genutzt wird und wie hoch bzw. niedrig die intrinsische Lehrmotivation der Lehrperson ist. Anhand von primären und sekundären Ungleichheiten der Bildung und der Lebenschancen können die Schüler erkennen, in welch hohem Maße sie und andere Menschen soziale Wesen sind, d.h. wie stark ihre Lebensläufe durch institutionelle und soziokulturelle
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Variablen geprägt werden. So können sie fragwürdige „Kommunikationen“ (Hedtke 2006a, 220), d.h. die gängigen personalisierenden Verantwortlichkeitszuschreibungen einer individualisierten Kultur kritisch prüfen. Zudem ist es unter Rückgriff auf die empirische internationale Vergleichsstudie zu den unterschiedlichen Schulsystemen und ihren Effekten (Mutz 2006) auch möglich, die Illusion der Ontologie des Gesellschaftlichen zu irritieren, d.h. den eventuellen selbstdienlichen Glauben von Gymnasiasten zu irritieren, dass der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und intellektueller Leistungsfähigkeit gottgegeben sei38. Gerade die voraussichtlichen Angehörigen der künftigen Elite sollten befähigt werden, die „verborgenen Mechanismen der Macht“ (Bourdieu 1992), d.h. die gesellschaftliche Genealogie der eigenen, vermeintlich primär selbst hart erarbeiteten Privilegien kritisch zu reflektieren, um zu einem realistischeren Selbst- und Gesellschaftsbild zu gelangen. Gestaltungspolitisch kann man dann erörtern, welche Lösungsmöglichkeiten sich für die dargestellte Problematik anbieten. Aus egalitaristischer Perspektive wird zur Reduzierung primärer Bildungsungleichheiten zunächst eine Umwandlung des heutigen freiwilligen, partiell kostenpflichtigen Teilzeitkindergartens in eine obligatorische, kostenlose Ganztagsvorschule ab dem 3. Lebensjahr mit akademisch ausgebildeten Betreuern wie in Frankreich gefordert, weil deren Verhalten laut empirischen Studien die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten der Kinder besonders gut fördert. Zur Behebung der sekundären Bildungsungleichheiten wird die Aufgabe des dreigliedrigen Schulsystems zugunsten einer reinen Gemeinschaftsschule (bis einschließlich zur 8./9./10. Schulklasse) empfohlen (Lauterbach 2007, 45-48; Müller-Benedict 2008; Mutz 2006, 45; Solga/Wagner 2000, 21; Tillmann 2004, 17), denn diese produzieren laut der international vergleichenden empirischen Studie von Mutz die höchste soziale Chancengleichheit (Mutz 2006, 39). Mit Blick auf die Ergebnisse der internationalen Schulleistungsvergleichsstudien zeigen sowohl das kanadische als auch das skandinavische, insbesondere aber das finnische Einheitsschulsystem, welches sowohl externe als auch interne Leistungsdifferenzierung durch gezielte, individuell zugeschnittene Aufgaben- und Förderpläne für jeden Schüler ersetzt, dass Chancengleichheit und Leistungsfähigkeit keine Gegensätze bilden müssten (Geißler 2003, 14; Klemm 2006, 78; Mutz 2006: 32, 45; Tillmann 2004, 15ff.). Die Übergänge auf differenzierte Bildungsgänge in der Sek. II wie in Finnland sollen durch Leistungstests ohne Einwirkungsmöglichkeiten von Eltern und Lehrern geregelt werden (Mutz 2006, 32f.). Hinsichtlich des Kriteriums der politischen Durchsetzbarkeit (Kapitel 4.4.1.) kann didaktisch einerseits gezeigt werden, dass derartige Strukturreformen trotz ihrer hohen Anforderungen an die Umstellungsbereitschaft aller Beteiligten keineswegs per se `utopisch´ oder `irreal´ sein müssen, wie man an der – damals sehr umstrittenen, heute aber von allen Parteien akzeptierten – Abschaffung des gegliederten Schulsystems in Finnland in den 70er Jahren exemplifizieren kann. Andererseits kann man unter Rückgriff auf die vergleichende politikwissenschaftliche Analyse von Overesch (2007) zur bildungspolitischen Kultur in Deutschland und Finnland jedoch auch herausarbeiten, dass ein solches Vorgehen wohl ein nachhaltiges konsensuelles soziokulturelles Fundament erfordert, welches dem Prinzip der nicht bloß rechtlichformalen, sondern auch faktischen sozialen Chancengleichheit einen hohen Wert einräumt. Eben dies ist in Deutschland im Gegensatz zu Finnland aber bisher kaum der Fall (Ove38 Inwiefern ein solcher Glaube tatsächlich existiert, ist natürlich eine empirische Frage. Qualitative Hinweise auf solche Weltbildstrukturen bei Gymnasiasten findet man in der TV-Dokumentation „Von Anfang an Elite“ von Julia Friedrichs und Eva Müller (gesendet am 11.02.2008 um 22.00 Uhr im WDR-Fernsehen).
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resch 2007). Die politische Durchsetzbarkeit egalitaristischer Maßnahmen hängt von dem bereits vorhandenen Ausmaß sozialer Gleichheit und dem damit verbundenen Gemeinsamkeitsgefühl ab (Grözinger 2002), welches in Finnland stärker ausgeprägt zu sein scheint (Overesch 2007). Daran ändert vorläufig auch die Tatsache nichts, dass die umfangreichen empirischen Analysen der Bildungsökonomen der liberalen Perspektive (Wößmann 2007) die Ergebnisse und Forderungen der egalitaristischen Perspektive hinsichtlich der Gemeinschaftsschule replizieren. Hieran können die politischen Grenzen einer rationalen wissenschaftlichen Aufklärung der Gesellschaft aufgezeigt werden: es gibt Interessensgruppen (Eltern und Lehrer an Gymnasien) – zu denen auch große Teile der politischen, ökonomischen und kulturellen Elite der BRD selber gehören –, die vom derzeitigen Status Quo, „der die Starken vor der Konkurrenz der Schwachen schützt“ (Lauterbach 2007, 40), zumindest kurz- bis mittelfristig profitieren und diesen daher zumindest in Form der Zweigliedrigkeit verteidigen. Ob diese sich allein durch den Verweis auf (mögliche) langfristige Kosten in Form von mangelnder Wettbewerbsfähigkeit und Armutsexternalitäten (Lauterbach 2007; Wößmann 2007) überzeugen lassen, ist fraglich. Dies sollte die Schüler, Lehrer und Fachdidaktiker des sozialwissenschaftlichen Unterrichts jedoch nicht davon abhalten, die institutionellen Strukturen, in die sie selbst eingebettet sind, und die verborgenen Privilegien, die nicht wenige von ihnen selbst genießen durften und dürfen (wie auch der Autor dieser Arbeit), zur Debatte zu stellen.
6.2.2 Die liberale Perspektive Zentraler normativer Ausgangspunkt der Argumentation des sozialpolitischen Liberalismus ist die These, dass menschliche Lebensqualität sich am Besten im Medium einer Persönlichkeit entfalten kann, die sich möglichst frei von fremder, insbesondere staatlicher Bevormundung aller Art die für ihre individuelle Lebensführung notwendigen ökonomischen Ressourcen eigenständig auf dem Markt erarbeiten kann, also zur eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Lebensführung fähig ist und sich infolgedessen als autonom, handlungsfähig und unabhängig erlebt (Jenaer Aufruf 2008, 18; Kersting 2000, 39 & 46; Kersting 2005, 14; Weede 2003, 40ff.). Die liberale Sozialstaatskonzeption gründet daher nicht auf dem egalitaristischen Ziel der sozialen Angleichung und stellt nachdrücklich nicht auf die Gestaltung sozialer Relationen ab, sondern fokussiert auf den einzelnen Menschen und versteht den Sozialstaat als ein Instrument zur Sicherung des Menschenrechts auf individuelle Selbständigkeit und (ökonomische) Freiheit (Berthold/von Berchem 2004: 2f., 25; Oberender/Fleischmann 2002, 106ff.; Kersting 2000: 34, 47). Didaktisch ist somit ökonomische Freiheit als ein wichtiges sozialpolitisches Urteilskriterium herauszustellen und dabei die normative Zielkontroverse zwischen Sozialstaatlichkeit als „Freiheitsfürsorge“ (ebd.) (liberale Perspektive) vs. „Gleichheitsfürsorge“ (egalitaristische Perspektive) hervorzuheben, aus der erhebliche Unterschiede hinsichtlich der konkreten sozialstaatlichen Praxis folgen, wie in Kapitel 6.2.2.1. bis 6.2.2.3. gezeigt wird. Weil ein freier Markt dem einzelnen Bürger nicht in jedem Fall hinreichende materielle Voraussetzungen für die Wahrnehmung individueller Freiheitsrechte verschaffen könne und dieser sich deshalb faktisch gezwungen sehen könne, sich in eine freiheitswidrige, menschenrechtsverletzende Abhängigkeit von anderen Individuen zu begeben (z.B. Prostitution, Sklaverei), sei ein Sozialstaat notwendig, der jedem Menschen bei (partieller)
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Selbstversorgungsunfähigkeit die Aufrechterhaltung der freien, bürgerlichen Lebensform durch die Versorgung mit dem soziokulturellen Existenzminimum ermögliche (Jenaer Aufruf 2008, 18; Kersting 2000; Oberender/Fleischmann 2002, 113ff.). Dessen Garantie stärke die (ökonomische) Freiheit auch deshalb, weil sie die Bürger vor ansonsten auftretenden Armutsfolgen wie Gewalt und Kriminalität schütze und weil sie den Individuen die Möglichkeit verschaffe, sich auf die Risiken wirtschaftlicher Spezialisierung (z.B. Erwerb betriebsspezifischen Humankapitals) und den im Rahmen der Globalisierung wegen zunehmenden Wettbewerbs verschärften Prozess schöpferischer Zerstörung einzulassen (Berthold/Thode 1998, 319-332). Der Widerstand gegen wirtschaftlichen Wandel (z.B. durch Forderung nach handelsprotektionistischen Maßnahmen) werde so reduziert. Zur Befriedigung des infolge der Globalisierung in der Tat gestiegenen menschlichen Sicherheitsbedarfs sei die Bereitstellung des soziokulturellen Existenzminimums jedoch ausreichend; eine Absicherung auf Mittelschichtniveau wie von der egalitaristischen Perspektive angestrebt sei weder erforderlich noch zielführend. Die Garantie des soziokulturellen Existenzminimums verlange allerdings zugleich, dass dessen Empfänger dafür auf jeden Fall eine staatlich notfalls erzwungene Gegenleistung in Form eigener Erwerbstätigkeit auf dem Markt erbringen (Workfare), weil die damit verbundene zeitliche Strukturierung des Lebensalltags und die Notwendigkeit zur Ausbildung einer sozialen Identität, d.h. der Verantwortlichkeit eigenen Handelns gegenüber den Erwartungen anderer Menschen zentrale Bedingungen für die Ausbildung bzw. Konservierung einer psychisch gesunden Persönlichkeit darstellten. Die zentrale Quelle von sozialer Anerkennung und damit Selbstwertgefühl liege nicht in sozioökonomischer Gleichheit und einer damit einhergehenden Versorgungsmentalität, sondern in der regelmäßigen Teilnahme an reziproken Tauschhandlungen auf dem Markt, denn menschliche Würde konstituiere sich durch erfahrene Verantwortung für das eigene Tun gegenüber anderen (Jenaer Aufruf 2008, 16; Karlsson 2004). Ein staatlicher Zwang zu produktiver Arbeit verstoße daher nicht gegen individuelle Freiheitsrechte. Didaktisch kann man diese liberale These der generellen ethischen „Vorzüglichkeitsdifferenz“ (Kersting 2000, 55) von Erwerbsarbeitseinkommen gegenüber Transfereinkommen einer kritischen, konkret-empirischen Prüfung unterziehen. Denn die Grenze zwischen freiheitsverletzender und freiheitsfördernder Erwerbsarbeit ist in einer real existierenden Marktwirtschaft weniger gesichert und deren genaue Bestimmung weitaus wichtiger, als in dieser allgemeinen Argumentation (implizit) unterstellt. So könnte man zur Schulung ethischer Sensibilität und Urteilskraft hinsichtlich der Anwendung des Urteilskriteriums der ökonomischen Freiheit in diesem Kontext didaktisch beispielsweise untersuchen, inwiefern in Deutschland Hartz-IV-Empfänger von den Arbeitsämtern gezwungen werden können, in Branchen (z.B. Call-Centern) zu arbeiten, die ihre Mitarbeiter nicht zumutbaren Arbeitsbedingungen aussetzen, indem sie diese z.B. unter erheblichen soziopsychischen Druck setzen, nicht nur moralisch, sondern auch rechtlich illegitime Verkaufstaktiken anzuwenden und ihr Gewissen in persönlichkeitsverletzender Weise an der Garderobe abzugeben. Mit dem didaktischen Prinzip der Wissenschaftsorientierung kommt man hier allerdings wohl nicht sehr weit, denn weder in der Ökonomik noch in der Wirtschaftssoziologie sind mir entsprechende Beiträge bekannt, die sich mit diesem für die Lebensqualität der Menschen essentiellen Thema beschäftigen. So bleibt an dieser Stelle nur der Rückgriff auf den exemplarisch-investigativen Journalismus (Wallraff 2007).
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Im Gegensatz dazu betont die liberale Perspektive diejenigen Gefahren, die der individuellen Autonomie von Seiten des Staates drohen (Weede 2003). Eine ethische Rechtfertigungsnotwendigkeit für vom Markt produzierte soziale Ungleichheiten kann sie, solange diese rechtsstaatlich korrekt zustande gekommen sind, nicht erkennen, weil diese individuell nicht zurechenbar seien, sondern das von niemandem intendierte Resultat einer unendlichen Zahl von Tauschhandlungen darstellen würden (Kersting 2005, 9). Stattdessen wirft sie dem heutigen Umverteilungs- und Sozialstaat, erst recht aber der egalitaristischen Perspektive vor, dass der Ausgleich von unverdienten, durch Sozialvererbung bedingten Vorteilen die persönlichen Freiheitsrechte und die ökonomische Selbständigkeit der Menschen über Gebühr verletze, dadurch deren ökonomisches Eigenverantwortungsbewusstsein gefährde (Jenaer Aufruf 2008, 18f.; Weede 2003, 11) und zu einem „expansiven Etatismus leviathanischen Ausmaßes, zur administrativen Enteignung des Bürgers“ (Kersting 2000, 62) führe. Didaktisch wäre zu verdeutlichen, auf welche Phänomene derartige abstraktrhetorische Wendungen konkret abstellen. Hierzu kann man zunächst die Staatsquote von knapp 50% in Deutschland (Sinn 2005, 319) und die damit einhergehende steuerliche und abgabenmäßige Durchschnittsbelastung von Einkommen thematisieren. Neben diesem, möglichen Finanzierungsillusionen vorbeugenden Hinweis auf die absolute Kostenseite des Sozialstaats ist zum Verständnis der möglichen unbeabsichtigten ökonomischen Nebenfolgen (Kapitel 4.4.2.) intensiver sozialstaatlicher Eingriffe und damit auch der Zielvorstellungen der egalitaristischen Perspektive darüber hinaus insbesondere auf die von der liberalen Perspektive betonte, noch höhere Grenzabgabenbelastung hinzuweisen, um so die zentrale Kategorie des Anreizes (Weede 2003: 51-54, 61) und das sozialpolitische Urteilskriterium der Anreizkompatibilität in die Erörterung einzubringen. Die Grenzabgabenlast lag im Jahr 2005, wenn man die Mehrwertsteuer mit einrechnet, für eine durchschnittliche Industriearbeiterfamilie mit zwei Kindern bei knapp 64% (Sinn 2005, 344). Die ökonomische Freiheit eines entsprechenden Individuums wird also heute insofern in erheblicher Weise eingeschränkt, als von 100 Euro, die durch eigene Arbeit zusätzlich brutto erwirtschaftet werden, deutlich über die Hälfte an den Staat und die Sozialkassen abzuführen sind. Deshalb solle die Abgabenlast so weit wie möglich reduziert werden (Kersting 2000, 48). Zur Schärfung des finanzpolitischen Problembewusstseins ist didaktisch in diesem Kontext auch auf die von der liberalen Perspektive herausgestellten zusätzlichen Finanzierungslasten aufmerksam zu machen, die aus der demografischen Entwicklung resultieren werden. In diesem Kontext ist es sinnvoll, das Urteilskriterium der (sozialpolitischen) Nachhaltigkeit in den Diskussionsprozess einzuführen. Aus liberaler Sicht erweist sich der deutsche bzw. ein egalitaristischer Sozialstaat generell im Angesicht des demografischen Wandels als nicht nachhaltig, da er aufgrund seiner Nebenwirkungen zu Folgen führt, die das eigene ökonomisches Fundament untergraben, auf dem er steht. So läge ohne bzw. mit Berücksichtigung der bereits erfolgten Reformen in der Rentenversicherung allein die Gesamtbelastung mit allen Sozialversicherungsabgaben demnach im Jahr 2035 bei ca. 62,5% bzw. 54,5% (Sinn 2003a, 24), wozu noch die Steuerlast hinzuzurechnen wäre. Damit stiegen auch die Arbeitgeberbeiträge an, die angesichts des globalen Gütermarktwettbewerbs und des Reallohnwiderstandes der Gewerkschaften bzw. aus Motivationsgründen (siehe dazu Kapitel 6.2.2.) häufig weder durch entsprechend höhere Preise noch durch geringere Lohnanstiege kompensiert werden könnten, sodass Unternehmen Arbeitskräfte entlassen würden, um die Rentabilität ihrer Produktion aufrecht zu erhalten.
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So erzeuge ein egalitaristisch-expansiver Sozialstaat Arbeitslosigkeit und erodiere damit langsam aber sicher seine eigene Beitragsbasis. Sicherlich ist, wie linke Kritiker einwenden werden, bei der Auseinandersetzung mit Zahlen zum demografischen Wandel im Unterricht zu betonen, dass es sich hierbei (notgedrungen) um Prognosen handelt. Fragwürdig ist es allerdings, die demografische Entwicklung und die sich daraus ergebenden finanziellen Konsequenzen für den Sozialstaat durch den völlig spekulativen Verweis auf die Möglichkeit, dass die Zukunft ja immer `Überraschungen´ (offenbar nur positiver Art) bereit halten könnte, einseitig zu relativieren (so aber die Tendenz bei Jöckel (2006, 160)), zumal der grundsätzliche problematische Trend – ähnlich wie bei den Klimaprognosen – gemäß dem Soziologen Peuckert (2004) bei weitem nicht so unsicher ist, wie manchmal behauptet wird. Auch die Behauptung einer angeblich kurz- bis mittelfristigen Beeinflussbarkeit durch Geburtenerhöhung oder die kühne, aber völlig unbelegte These, die sozialen Sicherungssysteme seien mit Blick auf die zunehmende Frauenerwerbstätigkeit, Produktivitätssteigerungen und die Migration im Grunde gar nicht auf Nachwuchs angewiesen (Hondrich 2007, 94), erweisen sich schon bei rein quantitativer Betrachtung als sehr unwahrscheinlich (Peuckert 2004, 354f.). Deshalb ist eine kontroverse und v.a. reflektiert-differenzierte Diskussion geboten. So ist z.B. das häufig vorgetragene Argument, der demografische Wandel ließe sich ohne weiteres aus den erwartbaren Wachstums- und Produktivitätssteigerungen finanzieren (z.B. Hondrich 2007, 93), nur insofern richtig, als (vorausgesetzt, diese Erwartungen realisieren sich) absolute Wohlstandsverluste vermieden werden können. Die künftigen Produktivitätssteigerungen – und zwar selbst dann, wenn diese sich zu 100% in entsprechende Lohnsteigerungen umsetzen – ändern aber nichts daran, dass z.B. in der Gesetzlichen Rentenversicherung entweder die gesetzlichen Renten nicht im Gleichschritt mit den Nettolöhnen wachsen können oder die Sozialversicherungsbeiträge stark angehoben werden müssen. Denn der Produktivitätsfortschritt kann nur einmal zur Finanzierung verwendet werden: wenn dieser nun auf einmal die in Zukunft stark zunehmende Zahl der zu versorgenden Rentner kompensieren soll, kann er nicht mehr gleichzeitig – wie bisher – dafür eingesetzt werden, dass deren Renten im Einklang mit der an der Produktivität orientierten Nettolohnentwicklung ansteigen, d.h. verhindern, dass die verrentete Generation keine relativen Verluste im Vergleich zu den Erwerbstätigen macht. Um letzteres zu verhindern, wären mehr oder weniger starke Beitragssatzsteigerungen erforderlich. Analoges gilt für die Krankenund Pflegeversicherung, wo ebenfalls nicht nur die aus der demografischen Alterung resultierenden zusätzlichen Kosten zu finanzieren sind, sondern – wie bisher – auch die Finanzierung der Teilhabe der Versicherten am zukünftigen medizinischen Fortschritt. Wenn beides finanziert werden soll, sind grundsätzlich mehr oder weniger starke Beitragssatzsteigerungen erforderlich; der Produktivitätsfortschritt allein reicht dazu nicht aus. Zwar würden derartige Beitragssatzsteigerungen für die Erwerbstätigen unter realistischen Annahmen durch einen erhöhten Bruttolohn kompensiert werden, sodass der Nettolohn voraussichtlich nicht sinken muss (Schmähl 2009). Eine solche, rein absolute Betrachtungsweise verkennt aber, dass man mit Blick auf die bereits heute nicht gerade niedrigen und dann weiter steigenden Grenzabgabenlasten und deren (mögliche) Anreizwirkungen auch die relative Belastung der Einkommen berücksichtigen muss. Entsprechend differenziert ist didaktisch mit dem im Schulbuch von Jöckel (2006, 160) vorgetragenen pauschalen Gegenargument der Produktivitätssteigerung umzugehen.
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Denn die hohen und infolge des demografischen Wandels bei Fortschreibung des Status Quo steigenden Grenzabgabenlasten erzeugen – nach Ansicht der liberalen Perspektive – im Gegensatz zur These der egalitaristischen Perspektive sehr wohl negative ökonomische Folgeeffekte, die laut empirischen international vergleichenden Studien zu OECDLänder in Form eines unzureichenden Wirtschaftswachstums bereits heute die ökonomische Lebensqualität in den kontinentaleuropäischen Sozialstaaten beeinträchtigen (Prescott 2004; Davis/Henrekson 2004; Weede 2003, 54; Jenaer Aufruf 2008, 17) und damit auch deren langfristige Nachhaltigkeit in Frage stellen. Dieser negative Effekt erkläre sich als Folge eines reduzierten Arbeitsangebots v.a. von hochqualifizierten Arbeitskräften (Berthold/Thode 1998, 339), insbesondere aber auch in Gestalt beeinträchtigter monetärer Anreize zu individuellen Humankapitalinvestitionen (Jacobs 2008) und ökonomischen Innovationen sowie einer mangelnden volkswirtschaftlichen Effizienz infolge unzureichender Arbeitsteilung und Spezialisierung, weil Erwerbsarbeit durch ökonomisch weniger effizientes `Do-it-yourself´ ersetzt werde (Sinn 2005, 350). Wirtschaftswachstum sei aber auch heute noch von großer Bedeutung für menschliche Lebensqualität in den entwickelten Industrieländern. Hierbei ist im sozialpolitischen Kontext insbesondere herauszustellen, dass Wirtschaftswachstum v.a. die Intensität jener verteilungspolitischen Konflikte mindern könnte, die mit der demografischen Alterung verbunden sein können (Kaufmann 2006, 111; Baumol/Litan/Schramm 2007, 28ff.; Weede 2003, 10). Denn bei gleichbleibendem erwirtschafteten Bruttorealeinkommen pro Erwerbstätigen würde der demografische Wandel dazu führen, dass der absolute Lebensstandard der Erwerbstätigen, d.h. ihr Nettoeinkommen sinkt (wegen steigender Sozialversicherungsbeiträge), es sei denn, dass der absolute Lebensstandard der verrenteten Generation gegenüber der vorhergehenden Rentner-Generation abgesenkt würde. Aus liberaler Perspektive ist offenkundig, dass das Wirtschaftswachstum in den Industrieländern in den letzten fünf Dekaden die Lebenssituation der Menschen erheblich verbessert habe, und dasselbe sei auch für die Zukunft zu erwarten. Die seitens der egalitaristischen Perspektive kritisch angeführte Tatsache, dass sich dies empirisch kaum in einer entsprechenden Erhöhung des subjektiven Wohlbefindens ausdrücke, sei kein Beweis für die mangelnde Relevanz zunehmenden materiellen Wohlstands für die menschliche Lebensqualität, sondern lediglich eine Folge der Tatsache, dass die wirtschaftlichen Umstände, ab denen sich ein durchschnittlicher Mensch subjektiv zufrieden fühle, stark durch den jeweiligen zeitlichen Kontext geprägt würden (Baumol/Litan/Schramm 2007, 22f.; Kashdan/Klein 2006, 418f.). Der demonstrative Geltungskonsum der Reichen sei daher nicht, wie die egalitaristische Perspektive meine, Ausfluss eines problematischen Sozialen Dilemmas, sondern erfülle für die Förderung wirtschaftlichen Wachstums eine wichtige positive Rolle, weil dieser den technischen Fortschritt und wichtige Innovationen vorantreibe, der über kurz oder lang auch den übrigen Bürgern zugute kämen (ebd., 423). Neuere Studien kommen denn auch zu dem Ergebnis, dass Wachstum die subjektive Lebenszufriedenheit auch in reichen Industrieländern erhöhe (Stevenson/Wolfers 2008; Welsch 2007). Eine weitere mögliche unbeabsichtigte, problematische Nebenfolge (Kapitel 4.4.2.) eines egalitaristischen Sozialstaats, die didaktisch mit Blick auf das Urteilskriterium der Nachhaltigkeit zur Sprache kommen kann, besteht in der Zunahme der Schwarzarbeit (Sinn 2005, 348ff.; Davis/Henrekson 2004; Weede 2003, 83f.) und der Steuerhinterziehung, die ebenfalls durch die hohe (Grenz)abgabenlast verursacht werde. Dementsprechend würden sich egalitaristische Versuche, dem Statuswettlauf steuerpolitisch Einhalt zu gebeten, ohne-
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hin als (partiell) wirkungslos erweisen (Kashdan/Klein 2006, 426), es sei denn, man wolle einen immer größer werdenden Teil der Bevölkerung kriminalisieren. Aufgrund dessen stellt sich die sozialkonstruktivistische These der egalitaristischen Perspektive, wonach die Institutionen eines egalitären Sozialstaats jene solidarischen Präferenzen bei den Bürgern erzeugen, die sie für ihre langfristige politökonomische Stabilität benötigen, aus liberalem Blickwinkel als eine naive Wunschvorstellung dar. Vielmehr bestätige die international vergleichende empirische Studie von Heinemann (2007) die These der „Hazardous Welfare-State Dynamics“ des schwedischen Ökonomen Assar Lindbeck, wonach die anreizwidrigen Institutionen eines egalitaristisch ausgerichteten Sozialstaats jene solidarischen Normen untergraben, auf die er finanziell angewiesen ist. Der egalitaristische Sozialstaat sei also auch deshalb nicht nachhaltig, weil er in ethischer Hinsicht langfristig selbstzerstörerisch wirke: Je umfangreicher der Sozialstaat, desto stärker würde die soziale Norm ausgehöhlt, sozialstaatliche Leistungen nicht missbräuchlich in Anspruch zu nehmen und sich gemäß dem Gesetz an deren Finanzierung zu beteiligen. Diese das Gesetz missachtende Haltung des Bürgers könne sich zudem auf andere Rechtsgebiete übertragen. Theoretisch erkläre sich dieser empirische Zusammenhang aus einem Schneeballeffekt: mit zunehmendem Umfang sozialstaatlicher Leistungen wachse die Wahrscheinlichkeit, dass der individuelle monetäre Nutzen gesetzeswidrigen Handelns die individuellen psychischen Kosten des damit verbundenen Normbruches übersteige. Daher steige die Zahl der Menschen, die die soziale Norm brechen, was dadurch zugleich deren Einfluss auf andere, bisher ehrliche Individuen schwächt, die dieses Verhalten perzipieren. Dies mindere wiederum die psychischen Kosten des Normbruches bei bisher ehrlichen Individuen, deren Missbrauchsneigung folglich steige, was wiederum die Geltungskraft der sozialen Norm schwäche, usw. Zur Vermeidung bzw. Einschränkung dieser negativen normativen und ökonomischen Effekte und freiheitsverletzenden Eingriffe in die ökonomische Selbständigkeit des einzelnen Bürgers sei die Konstruktion eines Sozialstaats konsequent am Äquivalenz- und Subsidiaritätsprinzip auszurichten (Jenaer Aufruf 2008, 17; Karlsson 2004), welche man didaktisch dem egalitaristischen Leistungsfähigkeits- und Solidaritätsprinzip gegenüberstellen kann: „Ausdruck dieser Subsidiaritätsverpflichtung ist die Vorrangigkeit eigenverantwortlicher und selbstversorgungsfähiger Lebensführung. (…) Nur dann, wenn – wohlgemerkt: aus welchen Gründen auch immer – jemand nicht in der Lage ist, sich und die von ihm einschlägig Abhängigen selbst zu versorgen, springt der Sozialstaat mit seinen Fremderhaltungs- und Fremdversorgungsleistungen ein.“ (Kersting 2000, 53f.) „Erst wenn die eigenen Anstrengungen nicht ausreichen, wenn weder die Familie noch Vereine oder andere freiwillige gemeinnützige Organisationen effizient helfen können und auch Lösungen auf Kapital- und Versicherungsmärkten nicht befriedigen, ist der Sozialstaat gefordert.“ (Berthold/Thode 1998, 332)
Konkret bedeutet dies, die Versicherung gegen die zentralen sozialen Lebensrisiken (Arbeitslosigkeit, Alter, Krankheit) im Gegensatz zur heutigen Situation in der BRD von ihren impliziten Umverteilungselementen zu befreien, d.h. am Leistungsprinzip auszurichten und staatliche Umverteilung stattdessen durch bedürftigkeitsgeprüfte Zuschüsse gezielt auf jene
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Bürger zu konzentrieren, deren Markt-Einkommen unter dem soziokulturellen Existenzminimum liegt (Jenaer Aufruf 2008, 17f.). Auch die von der egalitaristischen Perspektive betonte Tatsache der Sozialvererbung könne kein darüber hinausgehendes sozialstaatliches Engagement in Form retrospektiver Kompensationen legitimieren, sondern fordere vielmehr die antizipativ-vorsorgende Bereitstellung eines öffentlich finanzierten Erziehungs- und Bildungssystems, das Gleichbegabten gleiche Entwicklungs- und Berufschancen einräume und dadurch frühzeitig die edukativen Voraussetzungen für ökonomische Freiheit, d.h. eine selbständig-autarke bürgerliche Lebensführung schaffe (Kersting 2000, 60; Berthold/Fehn 2002; Wößmann 2007). Es sei jedoch gerade die fehlende Subsidiarität des deutschen Sozialstaates und das daraus folgende hohe Ausmaß der retrospektiv-kompensatorischen Abgabenlast, welches den steuerpolitischen Spielraum des Staates zur Finanzierung der Bildungspolitik einschränke (Sinn 2005, 330).
6.2.2.1 Eine subsidiär-liberale Arbeitslosenversicherung Ein geeignetes Reform-Modell zur Veranschaulichung einer subsidiär-liberalen Arbeitslosenversicherung, welches man didaktisch zur Umsetzung gestaltungspolitischer Kontroversität dem solidarisch-egalitaristischen Modell gegenüberstellen kann, ist von den Ökonomen Berthold/von Berchem (2004) vorgeschlagen worden (ähnlich Von Weizsäcker 1998, 268). In Gestalt des von ihnen in den Mittelpunkt gerückten kategorialen Problems des Moral Hazard lassen sich exemplarisch mögliche (unbeabsichtigte) ökonomisch-moralische Nebenwirkungen solidarischer Sozialversicherungssysteme und zugleich die wichtige wirtschaftswissenschaftliche Kategorie `Anreiz´ gestaltungsorientiert erörtern. So kann verhindert werden, dass Schüler Solidarität und Moral/Gerechtigkeit vorschnell in Eins setzen. Denn im Gegensatz zur egalitaristischen Perspektive halten Berthold/von Berchem (2004) die heutige Arbeitslosenversicherung in ihrer heutigen Form für ein problematisches, da sowohl ineffizientes als auch ungerechtes System, weil sie verschiedenen Akteuren aufgrund ihrer ökonomischen Anreizwirkungen die Möglichkeit biete, den Sozialstaat zugunsten des eigenen Vorteils auf Kosten der Allgemeinheit auszubeuten (Moral Hazard). Moralisch unfaires Verhalten werde ökonomisch belohnt. Erstens bevorteile die heutige Arbeitslosenversicherung diejenigen Arbeitnehmer (auf Kosten der übrigen), die vor Eintritt der Arbeitslosigkeit durch mangelnden Arbeitseifer, unterlassene Weiterbildung etc. das eigene Arbeitslosigkeitsrisiko erhöhen und sich nach Eintritt der Arbeitslosigkeit nur unzureichend um eine neue Beschäftigung bemühen. Zweitens begünstige sie jene Arbeitgeber (auf Kosten der übrigen), die im Falle einer wirtschaftlich ungünstigen Situation unmittelbar zu Entlassungen greifen und sich keine Gedanken über Alternativen machen. Drittens bestärke sie das Verhalten der Gewerkschaften und der von ihnen vertretenen qualifizierten Arbeitsmarkt-Insider, die auf Kosten der Beschäftigungschancen der geringqualifizierten Randbelegschaften bzw. Outsider überhöhte Lohnforderungen durchsetzen, da die Arbeitslosenversicherung für deren `Kollateralschäden´ aufkomme. Um diese problematischen Zusammenhänge zu unterbinden, seien die ökonomischen Anreize durch eine Reform so zu verändern, dass moralisches Handeln belohnt werde. So sollen die Gewerkschaften verpflichtet werden, sich zu einem bestimmten, ökonomisch spürbaren Prozentsatz an den jeweiligen Ausgaben für Arbeitslosengeldzahlungen zu betei-
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ligen, sodass sie Anreize haben, ihre Lohnforderungen disziplinieren. Zudem sollte die Höhe der Beitragssätze der Arbeitgeber zur Arbeitslosenversicherung künftig positiv vom Umfang der von ihnen in einem bestimmten vergangenen Zeitraum getätigten Entlassungen abhängen (sog. experience rating). In analoger Weise solle wie in einer KFZ-Versicherung auch die Höhe der Arbeitnehmerbeiträge positiv mit der Schadenshäufigkeit und –länge in der Vergangenheit variieren, um allen Bürgern einen ökonomischen Anreiz zu geben, die in Arbeitslosigkeit verbrachte Zeit nach Möglichkeit zu reduzieren. Angesichts der Tatsache, dass das Auftreten von Arbeitslosigkeit aber kein individuell vollkommen beeinflussbares Ereignis darstelle, sollten die Versicherungsbeiträge nur eine partielle und durchaus spürbare, aber keine vollständige Risikoäquivalenz aufweisen. Darüber hinaus sei das die individuelle Freiheit einschränkende heutige Obligatorium der Versicherung auf die Absicherung des soziokulturellen Existenzminimums zu beschränken, wodurch auch die Belastung der Bürger mit Sozialversicherungsabgaben gesenkt werden könne. In diesem obligatorischen „Grundpaket“, das notwendig sei, damit die Arbeitslosen nicht sofort über die steuerfinanzierte Sozialhilfe der Allgemeinheit zur Last fallen, sollen jedoch keine Qualifikationsansprüche enthalten sein, weil erwachsene Individuen für ihre Weiterbildung selbst verantwortlich seien. Darüber hinausgehende Absicherungsniveaus seien der individuellen Wahl-Freiheit anheimzustellen, für die dann allerdings auch ein versicherungsäquivalent höherer Beitragssatz zu entrichten wäre. Daneben sei es in einer individualisierten Kultur wie der heutigen auch an der Zeit, den Bürgern die Möglichkeit zu verschaffen, prospektiv individuell spezifische Bedingungen (Wahltarife) im Arbeitslosenfall auszuhandeln, wie z.B. eher restriktive oder eher lockere Zumutbarkeitsbedingungen, rechtliche Ansprüche auf Gutscheine für Qualifikationsleistungen etc., die allerdings wiederum entsprechende versicherungsäquivalente Konsequenzen für die individuelle Beitragshöhe nach sich ziehen sollen. Gemäß dem Prinzip exemplarisch-kategorialen Lernens ist hier didaktisch herauszuarbeiten, wie das Subsidiaritätsprinzip in diesem Reformvorschlag zum Ausdruck kommt: das Ausmaß der Umverteilung und damit der sozialen Gleichheit würde gegenüber dem heutigen System deutlich reduziert; die Eigenverantwortung würde durch die risikoäquivalenteren Beiträge und die Beschränkung auf das soziokulturelle Existenzminimum und die Wahl-Freiheit erheblich gestärkt. Im Vergleich mit der egalitaristischen Perspektive kann dann kontrovers diskutiert werden, inwiefern die möglichen Freiheits- und Wachstumsgewinne des liberalen Versicherungsmodells und dessen größere moralische Ausbeutungssicherheit die möglichen Vorteile des solidarischen Versicherungsmodells in punkto sozialer Gleichheit und Sicherheit, Konjunkturstabilisierung sowie qualifikatorischer MatchingEffizienz überwiegen.
6.2.2.2 Eine subsidiär-liberal-(konservativ)e Rentenversicherung Will man didaktisch die kategoriale gestaltungspolitische Kontroverse zwischen Solidarität und Subsidiarität im Politikfeld der Sozialpolitik exemplarisch anhand der Rentenversicherung veranschaulichen, bietet es sich an, einem der beiden Modelle der solidarischegalitaristischen Perspektive (gesetzliche Rentenversicherung mit Solidarelementen oder steuerfinanzierte Grundrente) das liberal(-konservativ)e Modell der Elternrente gegenüber zu stellen. Bzgl. des letzteren Modells kann man auf `soziologische´ (Kaufmann 2006),
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`politologische´ (Mayer 1999) und/oder `ökonomische´ (Sinn 2003a, 2005; Henman/ Voigtländer 2003; Werding 2003) Diskussionsbeiträge zurückgreifen. Auch hieran lässt sich exemplifizieren, wie egalitäre Sozialversicherungssysteme möglicherweise unbeabsichtigte Nebenwirkungen in Form von Moral Hazard generieren und so ihre eigene Solidarität paradoxerweise langfristig selbst unterminieren. In kategorialer Hinsicht kann damit nicht nur der Umgang mit der Kategorie `Anreiz´, sondern auch mit der Kategorie der (positiven) Externalität und der Denkfigur des Sozialen Dilemmas geschult werden. Darüber hinaus kann das Thema demografischer Wandel so auf problem- und gestaltungsorientierte Art und Weise diskutiert und dadurch dessen eigentliche Bedeutsamkeit vermittelt werden, anstatt es bloß deskriptiv-analytisch als einen Aspekt des sozialen Wandels unter anderen zu präsentieren (wie z.B. im Schulbuch bei Floren 2006, 123-128). Aus Sicht der liberal(-konservativ)en Perspektive ist es paradoxerweise die institutionelle Form der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) selbst, wie sie 1889 durch Bismarck ins Leben gerufen und 1957 von Adenauer massiv ausgebaut worden ist, welche das massive demografische Problem verursacht habe, mit dem sie sich heute konfrontiert sieht. Dieses besteht bekanntlich in der Verdoppelung des Altersquotienten bis 2040, d.h. des Verhältnisses zwischen verrenteten Leistungsempfängern und erwerbstätigen Beitragszahlern, welches v.a. durch das Absinken der durchschnittlichen Fertilitätsrate auf 1,36 Kinder pro Frau39 in der BRD und damit deutlich unterhalb des die Bevölkerung stabilisierenden Niveaus von 2,08 Kindern bedingt (Peuckert 2004). Die damit einhergehende Alterung der Gesellschaft sei problematisch, weil sie die zukünftige Innovationsfähigkeit und damit das Produktivitäts- und Wirtschaftswachstum der Gesellschaft gefährde (Kaufmann 2006: 9094, 111; Sinn 2003a: 25) und generationelle Verteilungskonflikte verursache. Denn laut Prognosen führt die demografische Alterung – allein in der Rentenversicherung, d.h. ohne Berücksichtigung von Kranken- und Pflegeversicherung – entweder zu einem starken Beitragssatzanstieg (von heute 20% auf 32% in 2040) (Sinn 2003a, 24) oder aber sie erfordert ein starkes Absenken der Nettolohnersatzquote von ehemals ca. 70% (`Lebensstandardsicherung´) auf künftig ca. 54%. Zu bedenken ist, dass der dabei zugrunde gelegte sog. „Eckrentner“40 nicht repräsentativ ist; die rentenrechtlichen Anspruchsrechte des Durchschnittsbürgers liegen signifikant darunter. Unabhängig davon hält die liberale Perspektive die rot-grünen Rentenreformen in 2001 und 2004, die sich anstelle einer Beitragssatzerhöhung für die Senkung der Nettoersatzquote entschieden haben, mit Blick auf die Vermeidung eines Anstiegs der ohnehin schon massiven Sozialversicherungsbeitragslast für grundsätzlich begrüßenswert. Allerdings würden diese Reformen nur Symptome kurieren, anstatt die eigentlichen Ursachen der demografischen Verwerfungen an der Wurzel zu behandeln. Denn die entscheidende Ursache für das Absinken der Fertilitätsrate sei laut empirischen Untersuchungen die Existenz einer Rentenversicherung in Form einer Versicherung gegen persönliche Kinderlosigkeit selbst (siehe die bei Sinn 2003a und Werding 2003 zitierten Untersuchungen), was andere empirische Studien allerdings bestreiten (Kögel 2007). Diese konzeptionelle Ausgestaltung der Alterssicherung in der BRD (und anderen europäi39 Auch wenn der Verfasser es für einen unhaltbaren Sexismus hält, dass die Fertilitätsrate immer noch pro Frau und nicht in Form einer geschlechtsneutralen Kennziffer angegeben wird, ist er gezwungen, an dieser Stelle der gängigen sozialwissenschaftlichen Praxis zu folgen. 40 Der Eckrentner bezeichnet einen Ruheständler, der 45 Jahre lang gearbeitet hat, stets das jeweilige Durchschnittseinkommen verdient hat und im Einklang mit der offiziellen Regelaltersgrenze (heute: 65 Jahre; in 2029: 67 Jahre) in den Ruhestand eintritt.
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schen Staaten) habe zu Moral-Hazard-Verhalten in Form des Verzichts auf die Erziehung von Kindern und damit zu einem Widerspruch zwischen kollektiver und individueller Rationalität, d.h. zu einem Sozialen Dilemma geführt. Aus kollektiv-makroökonomischer Sicht betrachtet benötige die Generation der Rentner immer eine hinreichend große und gut ausgebildete junge Generation, die ihre Renten ökonomisch erwirtschaftet (Kaufmann 2006, 228) – sei es über die Zahlung von Beiträgen bei Umlagefinanzierung oder durch den Ankauf von Vermögenstiteln und die Erwirtschaftung der Vermögenserträge bei Kapitaldeckung (letzteres zumindestens bei globaler Betrachtung). Kollektiv gesehen gebe es auch ein Interesse an einem zumindest stabilen Beitragssatz und damit einer stabilen Bevölkerung. Gemäß dem geltenden deutschen Rentenversicherungsrecht macht es individuellmikroökonomisch betrachtet jedoch für die Höhe der persönlichen Rente kaum einen Unterschied, ob und wie viele Kinder selbst erzogen worden sind. Die zusätzliche Rente, die eine Frau heute seitens der GRV für ein zusätzliches Kind erhält, vermag die von ihr im Laufe ihres Lebens dafür zu tragenden ökonomischen Kosten (nicht nur Geld, sondern auch reduzierte berufliche Chancen) nicht annähernd zu kompensieren (Henman/Voigtländer 2003). Kinderlosigkeit bringe somit für den einzelnen deutliche ökonomische Vorteile, sodass keine hinreichenden ökonomischen Anreize bestehen, genügend Kinder zu erziehen, weshalb auf aggregierter Ebene insgesamt zu wenige Kinder geboren werden. Didaktisch beinhaltet diese Thematik jedoch nicht nur ein rein ökonomisches Effizienz-Problem, sondern bietet auch die Gelegenheit, zur Entfaltung eines Gerechtigkeitssinns (Deichmann 2004, 179) beizutragen. Denn aus liberaler Sicht verbirgt sich hinter der obigen Problematik auch ein massives Gerechtigkeitsproblem: Kinderlose betätigten sich (wenn auch eher unbewusst) als Trittbrettfahrer derjenigen Bürger, die trotz widriger ökonomischer Anreize und Umstände Kinder erziehen (Kaufmann 2006, 158). Kinderlose profitierten im Alter von den Beitragszahlungen einer jungen, arbeitenden Generation, die nicht sie selbst, sondern die andere Bürger auf überwiegend eigene Kosten großgezogen haben (Sinn 2003a, 29f.), zumal der Familienlastenausgleich zu einem hohen Maß steuerpolitisch von den Eltern mitfinanziert wird (Kaufmann 2006, 156f.). Infolgedessen komme es zu positiven Externalitäten, d.h. Kinderlose könnten sich im Alter einen gewichtigen Teil der Erträge aneignen (Teil-Sozialisierung), die eigentlich den kinderreichen Alten zustehen, was das ökonomische Äquivalenzprinzip verletzt. Eine hinreichend große junge Generation, die später volkswirtschaftlich betrachtet die Renten erwirtschaftet, sei infolge der institutionellen Konstruktion der GRV zu einem Allmendegut geworden, von dem zu wenig bereitgestellt werde: kein Rentner wird von der Nutzung der Erträge (Beitragszahlungen) der Investitionen (Kinder) ausgeschlossen (Exklusionsgrad = 0), aber bei der Nutzung dieser Erträge herrscht eine Rivalität zwischen den Rentnern (Rivalitätsgrad = 1). Konkret veranschaulichen lassen sich die ökonomischen Vorteile der Kinderlosigkeit im bisherigen System anhand einer empirischen Berechnung von Apolte (1998, 15ff.), der die über die Zeit aufaddierte Summe aller Erwerbs- und Transfernettoeinkommen eines kinderlosen Doppelverdienerehepaares mit denjenigen eines Ehepaares mit zwei Kindern vergleicht (jeweils Durchschnittseinkommen), wobei die Frau sich insgesamt 10 Jahre der Kindererziehung widmet und aufgrunddessen 10% weniger als der Durchschnitt verdient. Es zeigt sich, dass der ökonomische Vorteil des kinderlosen Ehepaares während der Erwerbstätigkeitsphase mehr als 25% beträgt – wenn man die zusätzlichen Zeit-Kosten des kindererziehenden Ehepaares nicht berücksichtigt, d.h. als eine ausgewogene Mischung aus
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Vergnügen und Stress wertet. Darüber erhält das kinderlose Ehepaar in der Verrentungsphase über einen Zeitraum von 16 Jahren berechnet ein um 47% höheres Alterseinkommen. Man kann die obige Argumentation nicht einfach mit dem Hinweis abtun, dass ja auch der kinderlose Erwerbstätige schließlich Beiträge in die GRV-Rentenkasse eingezahlt habe und somit auch etwas für seine Zukunft getan habe. Rein rechtlich betrachtet trifft dies zu, doch generationentheoretisch-volkswirtschaftlich betrachtet stellt diese Beitragszahlung, die ja direkt an die Eltern-Generation geht, aus Sicht der liberalen Perspektive nur die Rückzahlung eines investiven Vorschusses dar, den diese Eltern-Generation vormals an den Erwerbstätigen gezahlt hat, als sich dieser in seiner Kindheit und Jugend befand (so der Soziologe Kaufmann 2006 und der Ökonom Werding 2003). Eine zentrale Aufgabe des Unterrichts bestünde im Falle einer Behandlung dieses Politikfeldes also darin, diesen strukturellen Unterschied zwischen sozialrechtlicher und volkswirtschaftlicher Ebene herauszustellen. Welche gestaltungspolitischen Schlussfolgerungen werden aus der obigen Problemanalyse gezogen? Anstatt das Leistungsniveau der GRV wie im Rahmen der rot-grünen Rentenreformen 2001 / 2004 für alle zukünftigen Rentner gleichmäßig zu kürzen, soll zu einem System übergegangen werden, in dem das Ausmaß der Leistungskürzung für einen zukünftigen Rentner umgekehrt proportional zur Zahl der individuell erzogenen Kinder gestaffelt wird. Während so für Eltern mit drei Kindern das Niveau der Rente aus der GRV gleich bleiben soll (Elternrente), soll das Rentenniveau für Menschen ohne Kinder gesenkt werden, aber nicht auf Null, sondern nur um 50%, da auch Kinderlose in Form von Steuerzahlungen zur Finanzierung der Bildung der Kinder einen (eher geringen) Teil zum Humankapitalaufbau der jungen Generation beigetragen haben (Sinn 2005, 440ff.). Um die Kürzungen für Kinderlose in der GRV zu kompensieren, d.h. um zu vermeiden, dass sie im Alter sozialhilfeabhängig werden, sollen sie gesetzlich zum Abschluss eines ergänzenden kapitalgedeckten Altersvorsorgevertrags (Riester-Rente) verpflichtet werden (Sinn 2003a, 33f.). Konkret bedeutet dies, dass jeder junge Erwerbstätige zum Sparen für die eigene Alterssicherung in Höhe von zusätzlichen 8% seines Einkommens verpflichtet würde, wobei diese Pflicht mit jedem eventuell neugeborenen Kind reduziert und das bisher akkumulierte Sparkapital jeweils partiell ausgezahlt würde. Durch eine solche Reform stiegen die individuellen ökonomischen Anreize, Kinder zu erziehen, denn dann hinge das Niveau der gesetzlichen Rente von der Zahl der eigenen Kinder ab und die Pflicht zum kapitalgedeckten Sparen reduziert sich mit jedem geborenen Kind. Dieser Reformvorschlag stärke aber auch die Gerechtigkeit, denn kinderlose Menschen seien finanziell weitaus besser in der Lage, zusätzliche kapitalgedeckte Vorsorge für das Alter zu betreiben als Menschen mit Kindern (Kaufmann 2006, 155). Dies gelte auch dann, wenn die Kinderlosigkeit biologisch bedingt sei. Allerdings reiche die Elternrente allein noch nicht aus, um den Familien die ihnen gebührende Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Vielmehr wird dafür plädiert, Familien zusätzlich im Steuerrecht durch den Ausbau des Ehegatten- zu einem Familiensplitting (wie in Frankreich) ökonomisch zu entlasten (so Sinn 2005a, 436f. und der interdisziplinär besetzten Reform-Kommission der Bosch-Stiftung41, deren Mitglied Sinn war). Beim Familiensplitting wird das zu versteuernde Einkommen (z.B. 100000 €), das aufgrund des pro41 Siehe dazu den unter http://www.cesifo-group.de/portal/page/portal/ifoHome/epr/e3echo/30echodt/_echodt?item_link=echo-Stuttgarter_Z-16-12-05.htm archivierten Zeitungsbericht aus der Stuttgarter Zeitung vom 16.12.2005, Seite 2 abgerufen am 01.08.2009.
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gressiven Steuertarifs zu einem recht hohen Steuersatz versteuert werden muss, entsprechend der Zahl der Familienmitglieder geteilt (bei drei Kindern z.B. 5 x 20000 €) und dann jeweils gemäß dem niedrigeren Steuertarif (in diesem Beispiel bei 20000 €) versteuert42. Sowohl die Elternrente als auch das Familiensplitting seien auch eine sinnvolle Maßnahme gegen Kinderarmut, denn so würde genau zum Zeitpunkt der Geburt eines Kindes jeweils ein Teil der bis dahin obligatorisch anzusparenden Privatvorsorge an die Eltern zur freien Verfügung ausgeschüttet. Auch das Familiensplitting wirke einer ökonomischen Deprivation der Kinder entgegen, wobei Sinn ein provokatives, aber nicht von vorneherein illegitimes Argument verwendet, das im Unterricht sicherlich kontrovers zu diskutieren ist: „Während sich in Deutschland die fiskalischen Anreize, mehrere Kinder in die Welt zu setzen, bei den ärmeren Familien bis hin in den Bereich der Asozialität konzentrieren, sind sie in Frankreich [infolge des Familiensplittings, T.H.] auch bei mittleren und höheren Einkommensschichten bedeutsam. Der französische Weg setzt klare Anreize, dass Kinder insbesondere auch in den sozial intakten Familien der Mittelschicht großgezogen werden. Das führt zu einer besseren Ausbildung der Kinder…“ (Sinn 2005a, 437)
Kritisch könnte man fragen, ob man solche Reformvorschläge im sozialwissenschaftlichen Unterricht als gleichwertig behandeln darf? Stellt diese Argumentation denn nicht eine moralische Diffamierung von Kinderlosen dar? Werden hier nicht Kinder in einer ethisch inakzeptablen, ökonomistischen Weise monetarisiert und auf bloßes Humankapital – das „Unwort des Jahres“ 2004 – reduziert? Wird hier nicht einer pronatalistischen Bevölkerungspolitik das Wort geredet, die mit ihrem Fokus auf den Erhalt des deutschen Volkes an nationalsozialistisches Gedankengut erinnert? Darf ein solcher Reformvorschlag im Unterricht also ernsthaft diskutiert werden? Die letzte Frage wird hier mit ja beantwortet. Der Reformvorschlag setzt letzlich nur ordoliberale Prinzipien konsequent um, weil er mehr als jedes andere (mir bekannte) Modell zur Rentenversicherung auf den Werten der Eigenverantwortung, Subsidiarität und Äquivalenz basiert. Dies kommt darin zum Ausdruck, dass jeder einzelne erwachsene Angehörige einer Generation zunächst durch eigene Anstrengung und daraus finanzierter Beitragszahlungen die zukünftigen ökonomischen Grundlagen seines Wohlstands im Alter schaffen soll – sei es durch Investition in junge Menschen oder durch Investition in Sachkapital – anstatt (wenn auch verdeckt) im Alter teilweise auf Kosten anderer zu leben (Kaufmann 2006, 196). Auch Kinder haben eine ökonomische Dimension, die man nüchtern zur Kenntnis nehmen kann, ohne ihre menschliche Würde zu verletzen. Entgegen eher essayistisch angelegten, empirisch nicht systematisch belegten Thesen, wonach die vom Staat nicht steuerbare „Kultur“ die entscheidende Determinante für den Kinderreichtum einer Gesellschaft darstelle (Hondrich 2007, 230ff.), zeigen international vergleichende, systematisch angelegte empirische Studien (Castles 2003; Rürup/Gruescu 2003; Sinn 2003a, 27; Sleebos 2003), dass die Entscheidung für/ gegen Kindererziehung bereits heute eine Entscheidung ist, die in erheblichem Maße auch von (staatlich beeinflussbaren) ökonomischen Größen abhängig ist (wenn auch weniger durch monetäre Transferleistungen als durch die Verfügbarkeit von Betreuungseinrichtungen) und dazu nicht erst durch die Einführung einer Elternrente würde. Die Erkenntnis des 42 Wenn alle Kinder mit dem Faktor 1 in den Nenner eingehen. Man kann wie in Frankreich jeweils auch einen anderen Faktor wie z.B. 0,5 wählen).
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durch das heutige System sozialrechtlich verdeckten und deshalb kontraintuitiven Zusammenhangs, dass der eigene Wohlstand im Alter und die Statik der Rente makroökonomisch auf derartigen Investitionen und eben nicht auf der Zahlung des Rentenversicherungsbeitrags fusst, ist für die rentenpolitische Urteilskompetenz und für die realistische Einschätzung der Legitimität der nicht selten mit großer Emphase erhobenen persönlichen Ansprüche an das Rentensystem von erheblicher Bedeutung – völlig unabhängig davon, ob man dem Elternrenten-Modell persönlich zustimmt oder nicht. Entgegen dem Duktus mancher Befürworter des Vorschlags, die wie z.B. ExBundespräsident Roman Herzog bezüglich der niedrigen Geburtenrate in der BRD von einem „moralischen Degenerationsprozess“ (zit. nach Emundts 2003) der Bevölkerung sprechen, ist es didaktisch jedoch wichtig, die Logik des Vorschlags nicht zu moralisieren, d.h. die vorgeschlagene 50%ige Kürzung der GRV-Rente für zukünftig Kinderlose nicht als eine moralische Bestrafung zu verstehen. Genauso gut könnte man das heutige System als eine politisch beabsichtigte, moralische Bestrafung von Familien (miß)verstehen, was ebenso inadäquat ist. Didaktische Aufgabe ist nicht die Erörterung von vermeintlichen menschlichen Charakterschwächen und die Ermahnung der Schüler, sich auf ihre `biologische Bestimmung´ zu besinnen. Vielmehr geht es um die offene Diskussion der Frage, ob (und wenn ja, wie) Kostenäquivalenzgerechtigkeit zwischen Kinderreichen und Kinderlosen hergestellt werden soll und um die Analyse von gesellschaftlich-ökonomischen Bedingungen – also von „strukturellen Rücksichtslosigkeiten“ (Kaufmann 2006, 158; meine Hervorhebung, T.H.) – , deren ökonomische Anreiz- und Opportunitätskostenstrukturen viele Menschen offenbar bisher daran gehindert haben (siehe dazu die empirischen international vergleichenden Studien von Castles 2003; Sleebos 2003), ihre sehr wohl existierenden Kinderwünsche umzusetzen, denn die durchschnittliche Zahl der von jungen Paaren in Europa gewünschten Kinder beträgt 2,4 (Rürup/Gruescu 2003, 75). Das alles heißt beileibe nicht, dass sich eine kritische Auseinandersetzung mit dem gestaltungspolitischen Vorschlag der Eltern-Rente erübrigen würde. So kann man offen diskutieren, ob sich die Verbesserung der gesellschaftlichen Bedingungen zur Realisierung von Kinderwünschen besser über den Ausbau von öffentlichen Kinderbetreuungseinrichtungen oder über die Elternrente erreichen lässt, wobei sich beide Vorschläge allerdings nicht unbedingt ausschließen. Weitere kritische Fragen könnten z.B. sein: Werden nicht die monetären KinderKosten durch den psychischen Nutzen der Kinder für die Eltern vollends aufgewogen, sodass sich gar kein Gerechtigkeitsproblem stellt? Kommt es durch die explizite Kopplung von Rentenhöhe und Kinderzahl wie bisweilen bei der Einführung monetärer Anreize in anderen Politikfeldern vielleicht zu einer unbeabsichtigten Nebenwirkung in Form eines Crowding-Outs intrinsischer Motivation (siehe dazu Frey 1997, 7ff.), sodass die Kinderzahl paradoxerweise nicht steigen würde, da aus rein extrinsischer Sicht die Renditen des kapitalgedeckten Zwangssparens die interne Rendite der Eltern-Rente womöglich übertreffen? Aus der Perspektive eines Soziologen (Hondrich 2007: 162-164 & 253), der dem Ziel einer staatlichen Steuerung der Geburtenzahl kritisch gegenübersteht, kann man fragen: Führt die Eltern-Rente nicht dazu, dass Kinder für manche zum `Rendite-Objekt´ werden und sich dann auch solche Personen aus überwiegend extrinsisch-monetären Gründen für Kinder entscheiden, die intrinsisch nicht hinreichend motiviert sind und/oder sich eine kompetente Erziehung eigentlich nicht zutrauen? Würde also die heutige präferenz- und kompetenz-gerechte gesellschaftliche `Arbeitsteilung´ bei der Kindererziehung partiell
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verzerrt? Wäre es aus qualitativ-sozialisatorischen Gründen also nicht besser, wie Hondrich meint, die Erziehung bei den „besseren Familienmenschen“ (ebd., 164) zu belassen, d.h. bei jenen, die sich trotz hoher Opportunitätskosten aufgrund ihres ausgeprägten Familiensinns für Kinder entscheiden? Sicherlich kann man, wie Hondrich (2007) es tut, zudem darüber diskutieren, ob eine wachsende Kinderzahl nicht auch Nachteile für die Gesellschaft mit sich bringt. Doch seine pauschale, empirisch nicht systematisch belegte, sondern nur durch Verweis auf Frankreich und USA illustrierte These, eine höhere Kinderzahl werde entweder die Arbeitslosigkeit erhöhen oder das Lohnniveau senken (ebd., 35f., 55, 246f.), ist kritisch zu diskutieren. Denn zum einen erhöhen junge Menschen nicht nur das Arbeitsangebot, sondern auch die Güternachfrage (zumal Familien mit Kindern mehr Geld als solche ohne für den Konsum ausgeben, Freeman 2007, 220); zum anderen dürfte wohl weniger die Zahl als solche, sondern vielmehr ihr Bildungsniveau und damit ihre ökonomische Produktivität über ihre Beschäftigungschancen bzw. ihre Lohnhöhe entscheiden. Und falls infolge erhöhten Lohnwettbewerbs auf dem Markt für qualifizierte Arbeitskräfte Güterpreissteigerungen weniger stark ausfallen sollten, hat dies auch positive Effekte. Aus egalitaristischer Perspektive könnte man kritisch fragen, wie kinderlose einkommensarme Erwerbstätige einen zusätzlichen Pflichtsparbeitrag in Höhe von nicht weniger als 8% ihres Einkommens verkraften können sollen. Die dafür erforderlichen zusätzlichen bedürftigkeitsgeprüften staatlichen Zuschüsse würden die ohnehin verschuldeten Staatshaushalte zusätzlich belasten. Zudem sind viele dieser Menschen nicht selten selbst hoch verschuldet, sodass es für diese angesichts der höheren Schuldzinsen wesentlich sinnvoller erscheint, zunächst ihre Verschuldung abzubauen anstatt zusätzlich zu sparen. Schließlich dürfte dieser starke Anstieg der Beitragslast für Kinderlose deren Anreiz zur Schwarzarbeit deutlich erhöhen, zumal ihnen im Alter eine Rente auf soziokulturellem Existenzminimum letztlich sowieso garantiert ist. Auch die administrative Umsetzbarkeit einer Eltern-Rente lässt sich angesichts komplexer und unsteter Familiengeschichten kritisch erörtern: Wie soll/kann man z.B. ohne großen bürokratischen Aufwand mit jenen Vätern verfahren, die sich nach Trennung vom Partner komplett oder teilweise ihren Unterhaltsverpflichtungen entziehen, ohne dass dies von den alleinerziehenden Müttern angezeigt würde, da sie eine gute Beziehung zwischen Vater und Kind sichern/anbahnen wollen?
6.2.2.3 Eine subsidiär-liberale Krankenversicherung Das sozialpolitische Teilgebiet der Krankenversicherung bietet eine weitere Möglichkeit, die kategoriale Kontroverse zwischen den sozialpolitischen Wertkomplexen der Solidarität und des Leistungsfähigkeitsprinzips einerseits und der Subsidiarität und des Äquivalenzprinzips andererseits konkret-institutionell zu exemplifizieren. Auch hier lässt sich die didaktische Auseinandersetzung mit dem demografischen Wandel problem- und gestaltungsorientiert einbetten, um dessen lebenspraktische Relevanz für die zukünftige menschliche Lebensqualität für die Schüler unmittelbar verständlich zu machen. Dabei können unter Rückgriff auf gesundheitsökonomische Beiträge aus der liberalen Perspektive (Fetzer 2005; Jankowski/Zimmermann 2003, 2004; Oberender/Fleischmann 2002; Schreyögg 2004) wiederum mögliche unbeabsichtigte Nebenwirkungen von solidarischen Sozialversicherungs-
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systemen erkannt und das Denken mit zentralen Kategorien der ökonomischen Verhaltenstheorie (Anreiz, Moral Hazard, Soziales Dilemma) eingeübt, aber zugleich durch Kontrast mit der egalitaristischen Perspektive auch auf ihre Angemessenheit überprüft werden. Überdies ist dieses Gebiet angesichts der Spannung zwischen dem hohen menschlichen Wert der Gesundheit und den ebenso hohen ökonomischen Kosten von Medizin in einer alternden Gesellschaft sehr gut geeignet, prekäre ethische Grundfragen des Wirtschaftens (Kruber 2000, 288) aufzuwerfen. Besonders eindrücklich kann man an diesem Problemkomplex die hohe Bedeutsamkeit der zentralen ökonomischen Kategorie der Knappheit für die menschliche Lebensqualität auch im (vermeintlichen) ökonomischen Überfluss einer entwickelten Industriegesellschaft aufzeigen, indem man verdeutlicht, dass letztlich alles seinen Preis hat, dessen Gegenwert makroökonomisch erwirtschaftet werden muss – (leider) auch Gesundheit. Nach Oberender/Fleischmann (2002, 36-44) führt der ausgeprägt solidarische Charakter der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in Deutschland zu Moral Hazard (Schreyögg 2004, 71-75). Aufgrund der nicht krankheitsrisikoabhängigen Beitragssätze und der mangelnden Selbstbeteiligung der Patienten an den Kosten der von ihnen genutzten Gesundheitsdienstleistungen besäßen die Bürger keine Anreize, sparsam mit den medizinischen Ressorcen umzugehen, denn schließlich sei der individuelle Preis für die Inanspruchnahme von Medizin aus der Sicht des Patienten praktisch Null. Gemäß der ökonomischen Verhaltenstheorie führe dies erstens zu einer übermäßigen Nutzung des Gesundheitswesens, d.h. das Individuum konsumiere Gesundheitsleistungen bis zur individuellen Sättigungsmenge, d.h. auch dann noch, wenn einem kleinen individuellen Zusatznutzen deutlich größere gesellschaftliche (Opportunitäts)Kosten gegenüber stünden. Zweitens sei es angesichts der Möglichkeit der kostenlosen Inanspruchnahme rational, dass Individuen ihre Vorsorgeanstrengungen einschränken und einen ungesunden Lebensstil pflegen würden. Drittens hätten sie angesichts fehlender Preissignale keine Anreize, das Verschreibungsverhalten der Mediziner zu kontrollieren und kostengünstige Mediziner zu wählen. „Das Kernproblem des Gesundheitswesens liegt also in einer falsch gesetzten Anreizstruktur. (…) Beide Phänomene – Moral Hazard und Freifahrerverhalten – sind Ausdruck eines Verantwortungsvakuums. (…) Rational handelnde Individuen werden versuchen, bei gegebenen Beiträgen möglichst viel aus dem System herauszuholen, da sie aus ihrer einzelwirtschaftlichen Sicht die daraus folgenden Aufwendungen nicht unmittelbar tragen müssen. (…) Die Versicherten haben viele Anreize, das Gesundheitswesen übermäßig zu nutzen.“ (Oberender/Fleischmann 2002, 87 & 44f.; meine Hervorhebung, T.H.)
Es liege also wiederum ein Widerspruch zwischen individueller und kollektiver Rationalität und damit ein Soziales Dilemma vor. Die Ablehnung der Moral-Hazard-These in der Krankenversicherung durch die egalitaristische Perspektive und deren Verweis auf eine angebliche Unterversorgung durch Selbstbeteiligungen sei nicht überzeugend, denn die empirische Studie der RAND-Corporation in den USA habe gezeigt, dass eine Kostenbeteiligung der Patienten zu einer signifikant verringerten Inanspruchnahme medizinischer Leistungen führe, ohne dass der individuelle Gesundheitszustand beeinträchtigt werde (Oberender/ Fleischmann 2002, 44; Schreyögg 2004). Die liberale Perspektive vertritt zudem die These, dass in einer Welt der ökonomischen Knappheit eine verstärkte Rationierung medizinischer Leistungen über den Preis in
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der Zukunft letztlich unvermeidbar sei (Oberender/Fleischmann 2002). Diese unbequeme Wahrheit resultiere neben der demografischen Entwicklung aus dem medizinischtechnischen Fortschritt, dessen Kosten – entgegen der Annahme der egalitaristischen Perspektive – sehr wohl schneller stiegen als das BIP, denn der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP sei in allen OECD-Ländern in den letzten Dekaden stark angestiegen (Fetzer 2005, 16). Dies sei nicht verwunderlich, denn das Spezifikum medizinischer Forschung bestehe darin, dass sie mehr kostensteigernde Produktinnovationen als kostensenkende Prozessinnovationen hervorbringe, und zwar insbesondere in sozialen `Vollkasko´Krankenversicherungssystemen, in denen die Versicherten wenig Anreize haben, kostensenkende Prozessinnovationen nachzufragen. Dieser Effekt führe zu einer Versteilerung der altersmäßigen Ausgabenprofile: die Kosten für die Behandlung alter Menschen stiegen überproportional stark an, d.h. stärker als die Kosten für die Behandlung junger Menschen (Medikalisierungshypothese). Laut empirischen Studien wüchsen die medizinischen ProKopf-Ausgaben derzeit um 8%, wenn der Anteil der Personen über 65 Jahren um 1% zunehme (Ulrich 2003). Diese kostensteigernden Medikalisierungseffekte würden die potentiellen kostensenkenden Effekte der von der solidarisch-egalitaristischen Perspektive vertretenen Kompressionshypothese43 übertreffen. Die Medizin befinde sich in einer „Fortschrittsfalle“: „Je mehr Krankheiten behandelt werden können, umso mehr haben die Menschen Gelegenheit, andere, bislang weniger verbreitete und behandelbare Krankheiten zu entwickeln. (…) Der moderne Medizinbetrieb gleicht Goethes Zauberlehrling, der die guten Geister rief, sie aber nicht bändigen kann. (…) So paradox es klingt: Der technische Fortschritt vergrößert das Problem der Knappheit im Gesundheitswesen, anstatt es zu vermindern.“ (Oberender/Fleischmann 2002, 83)
Angesichts dessen sollte der Unterricht gegen die (mögliche) Neigung der Schüler anarbeiten, vor derlei unbequemen Szenarios vorschnell die Augen zu verschließen. Um den Schülern den (potentiellen) Realitätsgehalt dieser Argumentation für ihre künftige Lebenswelt vor Augen zu führen, mit deren Eintreten man in Zukunft zum einen persönlich rechnen muss (Selbstbestimmungsfähigkeit) und mit der man sich zum anderen politisch ernsthaft auseinandersetzen muss (Mitbestimmungsfähigkeit), kann man z.B. darauf verweisen, dass selbst die als relativ egalitär geltenden skandinavischen Staaten trotz ihrer hohen Staatsquote bereits heute offen Maßnahmen zu einer sog. priorisierenden Rationierung ergriffen haben, sodass z.B. in der schwedischen Provinz Östergötland chronische Rückenschmerzen oder die Operation gutartiger Tumore vom einzelnen Bürger selbst bezahlt werden muss (Preusker 2004). Didaktisch zu problematisieren ist also zumindest die in der deutschen Bevölkerungsmehrheit (bei ca. zwei Drittel) anzutreffende contradictio in adjecto, einerseits jegliche Erhöhung von Zuzahlungen und jegliche Einschränkungen des GKV-Leistungskatalogs rigoros abzulehnen (Krömmelbein/Nüchter 2006), andererseits aber Schwarzarbeit als Kavaliersdelikt zu betrachten (Schneider 2004, 67). Dies gilt insbesondere deshalb, weil der Altenquotient bis 2040 stark steigen wird, d.h. dass einer deutlichen Abnahme der Beitragszahler eine starke Zunahme der Zahl von alten 43
Die Kompressionshypothese geht davon aus, dass mit steigernder Lebenserwartung die Kosten pro Versicherten deutlich sinken, weil die mit chronischen Krankheiten verbrachte Lebensspanne sinkt und `alte Alte´ aufgrund ihrer Gebrechlichkeit aggressive medizinische Therapien nicht vertragen.
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kranken Menschen und multimorbiden Pflegefällen gegenüberstehen wird. Angesichts des medizinisch-technischen Fortschritts und des demografischen Wandels ist daher bis 2040 gemäß ökonometrischer Prognosen seitens der liberalen Perspektive von einem Anstieg des GKV-Beitragssatzes auf Werte zwischen 28% und 34% auszugehen (Fetzer 2005), was in Kombination mit den weiteren Belastungen durch Steuern und anderen Sozialabgaben wegen der in Kapitel 6.2.2. bereits aufgeführten negativen Anreizeeffekte hoher Grenzabgaben volkswirtschaftlich nicht mehr tragbar sei (ebd., 77): „Anders ausgedrückt dürfte die häufig in der Öffentlichkeit diskutierte Frage, ob auch zukünftig eine `solidarische´ Gewährung aller verfügbaren und medizinisch machbaren Leistungen möglich sei, eine eindeutige Antwort haben: Sie lautet schlicht `Nein´.“ (Fetzer 2005, 27)
Didaktisch wäre also der (mögliche) Zielkonflikt zwischen gleicher medizinischer Versorgung für alle und der Erwirtschaftung der dafür notwendigen volkswirtschaftlichen Ressourcen in den Mittelpunkt zu rücken, wobei allerdings durch Hinzuziehung der Argumentation der egalitaristischen Perspektive in diesem Punkt der obige selbstsichere SachzwangDuktus kontrovers zu diskutieren und auf den bemerkenswerten Sachverhalt hinzuweisen wäre, dass die liberale Perspektive die Rolle der sozialen Ungleichheit für die Belastung der (alten) Menschen mit (chronischen) Krankheiten und damit auch für die volkswirtschaftlichen Kosten überhaupt nicht thematisiert. Als gestaltungspolitische Konsequenz aus der obigen Problemanalyse wird vorgeschlagen, sich gemäß dem Subsidiaritätsprinzip auf eine Grundsicherung, d.h. auf die staatliche Vorgabe einer Versicherungspflicht für einen Katalog von „lebensbedrohenden Extremrisiken“ (Oberender/Fleischmann 2002, 127) zu beschränken, dessen genauer Inhalt vom Parlament zu bestimmen sei. Der Abschluss einer darüber hinausgehenden Krankenversicherung soll freiwillig sein. Einigkeit mit der egalitaristischen Perspektive besteht hingegen darin, dass die Trennung zwischen PKV und GKV aufgehoben werden soll, allerdings im Sinne einer vollständigen Assimilierung der GKV an die PKV. Dies würde implizieren, dass die Krankenversicherungsunternehmen das Recht besitzen, Selbstbeteiligungstarife beliebiger Höhe und Art festzulegen, da sich dann im marktlichen Wettbewerb diejenige Kostenbeteiligung durchsetzen werde, welche die Verschwendung von Ressourcen (also den Einsatz von Ressourcen für vermeidbare oder überflüssige Inanspruchnahmen) minimiere. Darüber hinaus sollen sich die versicherungspflichtigen Bürger gemäß dem Äquivalenzprinzip zu aktuarisch kalkulierten Prämien versichern, die ihrem jeweiligen Krankheitsrisiko entsprechen, sodass sie einen hohen Anreiz hätten, (die Wahrscheinlichkeit der Entstehung von) individuelle(n) gesundheitliche(n) Schadensfälle(n) zu verringern bzw. vermeiden (Oberender/Fleischmann 2002; Jankowski / Zimmermann 2003, 2004; so auch Von Weizsäcker 1998, 267). Dadurch werde nicht nur die individuelle Verantwortlichkeit für das individuelle Gesundheitsverhalten gestärkt, sondern auch die Äquivalenz zwischen individuell verursachten Kosten und den vom Individuum getragenen Zahlungen hergestellt. Das bei risikoäquivalenten Krankenversicherungsprämien auftretende Problem des steilen Anstiegs der Beiträge im Alter soll durch das Ansparen von Altersrückstellungen in jüngeren Jahren vermieden werden. Personen, die aufgrund eines hohen gesundheitlichen Risikoprofils und/oder eines niedrigen Einkommens Versicherungsprämien zu zahlen haben, die einen von der Politik festzulegenden, zumutbaren Maximalprozentanteil ihres Einkommens übersteigen und
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dadurch in Armut stürzen, sollen gemäß dem Subsidiaritätsprinzip steuerfinanzierte, bedürftigkeitsgeprüfte Zuschüsse seitens des Staates beantragen können. Dessen Höhe entspricht der Differenz zwischen der Prämie und dem zumutbaren Anteil. Eine gestaltungsorientierte sozialwissenschaftliche Fachdidaktik kann unter Rückgriff auf die Behavioral Economics an dieses institutionenökonomische Modell die offen zu diskutierende, empirische Frage stellen, ob das Modell des rationalen Akteurs hier nicht dermaßen überstrapaziert wird, dass aus dem Blick gerät, dass das gesundheitliche Verhalten vieler Bürger durch nicht-rationale Myopie, mangelnde Willenskraft und optimistischer Unterschätzung von Risiken geprägt sein kann (Frey/Stutzer 2006). In diesem Fall würden die Individuen sich z.B. nicht wie angenommen gesundheitsbewusst(er) verhalten, nur weil sie dadurch ihr Risiko für lebensbedrohliche Krankheiten und damit vielleicht die von ihnen in 20 oder 30 Jahren zu zahlenden risikoäquivalenten Krankenversicherungsprämien senken. Zu diskutieren wäre auch, bis zu welchem Grad das hier implizit zugrunde liegende Akteurskonzept, das von einem in seinem Krankheitsrisiko kaum durch die Umwelt beeinflussten Menschen ausgeht, realistisch ist (vgl. dazu die konträre Sicht der egalitaristischen Perspektive). Aus Sicht der Behavioral Economics wäre des Weiteren zu erwarten, dass viele Bürger auch für die versicherungsmäßig nicht abgesicherten Nicht-Extremrisiken keine Vorsorge treffen werden, was sie bei Eintritt des Schadenfalls dann entweder in große finanzielle Schwierigkeiten bringt oder ihre körperliche Integrität und damit ihre menschliche Würde bedroht. So weist z.B. Bar-Gill (2004) darauf hin, dass viele nicht bzw. nur unzureichend krankenversicherte Haushalte in den USA44 übermäßig hohe Konsumentenkredite auch deshalb aufnehmen, weil sie das Risiko einer kostenträchtigen Erkrankung bzw. eines Unfalls unterschätzen und dann bei unerwartetem Eintritt des Krankheitsrisikos in derart große Schulden gestürzt werden, dass sie Verbraucherinsolvenz anmelden müssen. In Anbetracht dessen könnte man im Unterricht auch das Reform-Modell von Schreyögg (2004) diskutieren, welches zwar in weiten Teilen der Argumentation von Oberender/ Fleischmann (2002) entspricht, allerdings für nicht lebensbedrohliche Krankheitsrisiken die Einführung von individuellen, obligatorischen, verzinsten Spar-Konten (sog. Medical Savings Accounts) vorschlägt. Didaktisch ist dieses Modell auch deshalb interessant, weil es im Gesundheitssystem Singapurs umgesetzt worden ist, sodass sich hieran exemplarisch die internationale Vielfalt alternativer ordnungspolitischer Realitäten (Hedtke 2002a) aufzeigen lässt. Zudem kann dieses Länder-Beispiel auch deutlich machen, dass die von der egalitaristischen Perspektive vielleicht etwas vorschnell als absurd abgetane und vielleicht auch von vielen Schülern als kontraintuitiv empfundene Anwendung des Moral-HazardTheorems auf den Konsum von Gesundheitsdienstleistungen möglicherweise doch eine signifikante Erklärungskraft besitzt. Denn nach Schreyögg (2004) hat das anreizkompatible Sparkontensystem dazu geführt, dass die Gesundheitsausgaben in Singapur im Gegensatz zu vielen anderen OECD-Ländern stabil und auf deutlich niedrigerem Wert (ca. 3% des BIP; zum Vergleich: BRD ca. 10%) geblieben sind, ohne dass der Gesundheitszustand der Bevölkerung darunter gelitten habe. Vielmehr gebe es empirische Anhaltspunkte dafür, dass in Singapur weit mehr Gesundheitsprävention als in anderen Ländern betrieben werde (ebd., 86). Zudem habe es über ein verstärktes Kostenbewusstsein und intensivere Kostenkontrolle der Patienten zu einer demokratischeren, d.h. weniger paternalistischen Arzt44 In den USA existiert keine allgemeine gesetzliche Krankenversicherungspflicht für Bürger unter 65 Jahren. 41 Mio. Menschen sind nicht versichert; hinzu kommen viele Bürger, deren Versicherung nur unzureichend ist.
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Patient-Beziehung geführt. So zeigt das Modell Singapurs vielleicht eine gestaltungspolitische Möglichkeit auf, wie die Knappheit ökonomischer Ressourcen so bewältigt werden kann, dass gesundheitliche Lebensqualität möglichst aller Bürger trotz des demografischen Wandels finanziert werden kann. Sicherlich kann man im Unterricht die sehr starke Fixierung der liberalen Perspektive auf die monetäre Dimension relativieren. Mit dem breiteren Nutzenbegriff der Psychoökonomik kann man z.B. mit Blick auf den großen, aber derzeit wegen Sparzwängen oft nicht realisierten psychischen Nutzen der therapeutischen Behandlung von Depressionen vielmehr fordern, die Investitionen in das Gesundheitssystem deutlich zu erhöhen (Diener/ Seligman 2004, 17f.). Der Wert der liberalen Perspektive liegt aber gerade darin, daran zu erinnern, dass man dann angesichts der Knappheit ökonomischer Ressourcen systematische Überlegungen nicht nur über die absolute Finanzierungsfähigkeit, sondern mit Blick auf die bereits heute schon recht hohe Grenzabgabenbelastung auch über eine anreizkompatible Finanzierung solcher Leistungen anstellen muss. Dadurch kann der Schüler auch erkennen, dass es aus Knappheitsgründen wichtig sein kann, bei der Finanzierung von Sozialpolitik Prioritäten zu setzen, indem z.B. auf eine kostenerhöhende Verlängerung der Versicherungszeit in der Arbeitslosenversicherung zugunsten erhöhter Ressourcen für das Gesundheitswesen verzichtet wird.
6.2.2.4 Ein liberales Bildungssystem Vergleicht man die liberale Perspektive auf Bildungspolitik mit der egalitaristischen Perspektive, stellt man fest, dass hier die Kontroversität bei weitem nicht so ausgeprägt ist wie auf den anderen drei sozialpolitischen Politikfeldern. Didaktisch bedeutet dies, dass sich der Gegensatz zwischen Solidarität und Subsidiarität am Bildungswesen nicht exemplifizieren lässt, da mir kein liberaler Ansatz bekannt ist, der den Zugang zum öffentlich finanzierten Schulwesen auf die sog. `wirklich Bedürftigen´ begrenzen will. Stattdessen fordert derjenige liberale Bildungsökonom Wößmann (2007), der wohl von allen die umfangreichsten empirischen Analysen angestellt hat, auf der Basis seiner länderübergreifenden Unter-suchungen – genauso wie die egalitaristische Perspektive – sowohl die Einführung einer kostenlosen, verpflichtenden, akademisierten Vorschule ab dem 3. Lebensjahr als auch die Umwandlung des gegliederten Systems auf der Sekundarstufe 1 zu einer Gemeinschaftsschule (ebd.: 37-39; 131-149). Denn diese Institutionen erhöhten die soziale Chancengleichheit der Kinder/Jugendlichen aus den bereits in Kapitel 6.2.1.4. genannten Gründen in deutlicher Weise (im Sinne einer Förderung des kognitiven Entwicklungsniveaus von Kindern/Jugendlichen aus sozial benachteiligten Schichten), wie eine Reihe von empirischen bildungsökonomischen Studien zeigen (z.B. Kratzmann/Schneider 2008; Mühlenweg 2007; Wößmann/Schütz/Ursprung 2008; Wößmann/Hanushek 2006; Leuven / Lindahl / Oosterbeek / Webbink 2006; Heckman 2000), ohne dass dies die Entfaltung des Leistungspotentials der übrigen Schüler beeinträchtige. Vorteilhaft ist daran schließlich aus liberaler Perspektive auch, dass je höher die Gleichheit der Bildungschancen, desto geringer werde später der politische Druck ausfallen, einen überbordenden, ex post umverteilenden, anreizfeindlichen Wohlfahrtsstaat zu errichten bzw. zu erhalten (Wößmann 2007, 58f.). Anhand der Bildungsökonomik zeigt sich somit zum wiederholten Male, dass die Ökonomik entgegen den Vor-Urteilen des politikwissenschaftlichen Integrationsansatzes
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sehr wohl das gute und gerechte Zusammenleben der Menschen (Detjen 2006) im Blick hat und es dieser sehr wohl auch um Selbstverwirklichung und Persönlichkeitsentwicklung (Scherb 2005) geht – die Ökonomik-Didaktik müsste diese Beiträge aus ihrer Bezugswissenschaft nur nutzen. Im Gegensatz dazu sind mir aus der Politikwissenschaft keine Beiträge bekannt, die sich auch nur annähernd so intensiv, so systematisch und so umfassend empirisch fundiert mit den institutionellen Voraussetzungen der kognitiven Entwicklungschancen sozial benachteiligter junger Menschen beschäftigt hätten (so auch die kritische Einschätzung diesbezüglicher Forschungsaktivitäten in dieser Disziplin durch die Politologin Overesch 2007, 22ff.). Über die oben genannten Maßnahmen zur Förderung der Chancengleichheit werden von der liberalen Perspektive jedoch noch zusätzliche bildungspolitische Empfehlungen abgegeben, deren Behandlung didaktisch geeignet ist, die gestaltungsorientierte Frage nach den denkbaren politischen Möglichkeiten zur Erhöhung der menschlichen Lebenschancen mit dem Anliegen der kategorialen Bildung, d.h. hier der Schulung des Denkens in den Kategorien der ökonomischen Verhaltenstheorie (Kruber 2005, 86), d.h. des AnreizRestriktionsschema zu verknüpfen. Konfrontiert man diese derart theoretisch fundierten Vorschläge wiederum mit anderen, demgegenüber (auch aus egalitaristischen Gründen) kritischen Beiträgen aus Erziehungswissenschaft (Bellmann 2007; Bellmann/Waldow 2006) und Bildungsökonomik (Adnett/Davies 2002; Weiß 2001), kann man – in problemund gestaltungsorientierter Weise – die (möglichen) Chancen und (möglichen) Grenzen des Koordinationsmechanismus Markt/Wettbewerb (gemessen am Kriterium der Steigerung menschlicher Verwirklichungschancen) kontrovers erörtern und zugleich einer KostenNutzen-Analyse unterziehen, und zwar anhand eines den Schülern vertrauten gesellschaftlichen Teilbereichs, nämlich der Schule. Aus liberaler Perspektive lässt sich die Förderung menschlicher Verwirklichungschancen in der Schule dadurch verbessern, dass die ökonomischen Leistungs-Anreize der am Bildungsprozess beteiligten Akteure, v.a. der Lehrer und Schulleiter, aber in gewisser Hinsicht auch der Schüler maximiert werden, was heutzutage im deutschen Schulwesen jedoch nicht durchgängig der Fall sei. Wie lassen sich diese Anreize verbessern? Erstens soll der Wettbewerb zwischen verschiedenen Schulen um die Attraktion von Schülern intensiviert werden, indem die feste Zuordnung der jeweiligen Schülerpopulation eines geografischen Gebietes zu einer bestimmten Schule (Schulsprengel) aufgehoben wird, sodass Schüler bzw. deren Eltern völlige Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Schulen besitzen (Langner/Siller 2008; Wößmann 2007, 119-128). Dieser Wettbewerb soll wie in jedem x-beliebigen Markt den Anreiz der Angebotsseite, d.h. der Verantwortlichen in der Schule erhöhen, pädagogisch ansprechende Leistungen für die Nachfrageseite zu erbringen. Deswegen sei es auch sinnvoll, wenn alle lokalen staatlichen Schulen wie in den Niederlanden Konkurrenz durch Privatschulen bekämen, die allerdings komplett öffentlich finanziert werden sollen und kein Recht zur Erhebung von zusätzlichem Schulgeld besitzen sollen, um die soziale Chancengleichheit zu wahren. Die förderlichen Leistungseffekte einer solchen Konstellation ließen sich empirisch anhand internationaler Schulvergleichsstudien belegen (Wößmann 2007). Optimal sei das von Milton Friedman entworfene Voucher-System, indem Schüler/Eltern Schul-Gutscheine erhalten, die sie einer Schule ihrer Wahl zukommen lassen können, welche sich wiederum durch Einreichung dieser beim Staat finanziert.
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Zweitens sollen die einzelnen Schulen mehr individuelle Entscheidungsfreiheiten in Bezug auf die interne Allokation von Finanzen, die Personalauswahl und -bezahlung sowie die pädagogischen Inhalte und Methoden erhalten (Langner/Siller 2008; Wößmann 2007, 111-118), denn anderenfalls kann der Wettbewerb zwischen den Schulen natürlich nicht wie ein innovatives Entdeckungsverfahren im Hayekschen Sinne funktionieren. Drittens seien positive Leistungseffekte einer solchermaßen erhöhten Autonomie der einzelnen Schule bei empirischer Analyse der internationalen Leistungsvergleichsstudien aber nur dann festzustellen, wenn sie an gewisse institutionelle Restriktionen gekoppelt werde, d.h. wenn die Performanz aller Schulen zugleich regelmäßig durch externe, national standardisierte Leistungstests (z.B. Zentralabitur) eruiert werde (Bishop 1995, 1997; Büchel/Jürges/Schneider 2003; Langner/Siller 2008; Wößmann 2007, 104-111) und die Lehrer entsprechend nach Leistung bezahlt werden. Diese Restriktion soll verhindern, dass Lehrkörper und Schüler/Eltern informelle und subtile, aber gesamtwirtschaftlich gleichwohl ineffiziente Koalitionen bilden, durch die sie aus Eigeninteresse ein geringeres Anstrengungs- und Leistungsniveau im Unterricht und in Klausuren vereinbaren. Im Kontext externer Leistungstests besäßen alle Akteure hingegen die richtigen Anreize, um nicht nur nominell, sondern auch real hohe Leistungen anzustreben: die Lehrer, weil ihre tatsächliche pädagogische Effektivität vergleichbar und damit transparent werde sowie monetär entlohnt werde; die Schüler/Eltern, weil es für den Zugang zu Arbeitsplätzen und Universitäten nun auf faktisch und nicht nur nominell hohe Leistungen ankommt, sodass sie erhöhte Anforderungen an die pädagogische Leistungskraft der Schulen stellen. Zudem werde der Lehrer so vom `Richter´ zum `Coach´, was das Klassenklima fördere. Didaktisch kann dieses Modell kontrovers diskutiert werden. Zunächst kann man bezüglich der Unsicherheit empirischen Wissens darauf aufmerksam machen, dass die These der Überlegenheit sowohl von `School Choice´ als auch von national standardisierten Abschlussprüfungen umstritten/ungeklärt ist (Belfied/Levin 2002, 2005; Klemm 2007, 6f.). Unter Rückgriff auf die Kritik von Hagemeister (2007, 3f.) kann man dabei die wissenschaftspropädeutisch wichtige kategoriale Erkenntnis exemplifizieren, dass Korrelation und Kausalität nicht dasselbe sind und bei der Untersuchung von Zusammenhängen zwischen zwei Variablen deshalb eine große Zahl von Kontrollvariablen zu bedenken sind. Beispielsweise meint er, dass der von Wößmann (2007) behauptete Zusammenhang sich nur deshalb zeige, weil dieser bei der Analyse der TIMSS-Studie nicht berücksichtige, dass Entwicklungsländer mit unterdurchschnittlicher Leistung weniger stark auf standardisierte Prüfungen zurückgriffen. Grenze man deshalb die Datenstichprobe auf die entwickelten Industrieländer ein, ließe sich kein Zusammenhang mehr feststellen. Abgesehen davon kann man auch in Frage stellen, inwiefern eine bei Umsetzung des Vorschlags absehbare starke Fokussierung der Schulcurricula auf die getesteten Inhalte sinnvoll erscheint (Bellmann 2007, 62f.). Mit Blick auf das Urteilskriterium der unbeabsichtigten Nebenfolgen und zur Schulung eines die Komplexität gestaltungspolitischer Herausforderungen erkennenden Urteilssinns ist es didaktisch allerdings besonders sinnvoll, die unmittelbare Übertragbarkeit des Wettbewerbsmodells auf das Schulwesen zu prüfen. So ist zu bedenken, dass die Effektivität pädagogischen Handelns und damit das erreichbare Leistungsniveau nicht allein vom Lehrer, sondern von den Voraussetzungen der einzelnen Schüler und in hohem Maße auch von der Zusammensetzung der Schulklasse abhängt (sog. Peer-Group-Effekt) (Bellmann 2007, 63). Ein hoher Leistungsdurchschnitt einer Schule ist also keinesfalls mit einer hohen
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Effektivität pädagogischen Handelns gleichzusetzen, sondern mag lediglich die vorteilhafte soziale Zusammensetzung der Schülerpopulation reflektieren, die oft durch das lokale Umfeld der jeweiligen Schule bestimmt wird (Weiss 2001). Aufgrund dessen besitzen Schulen in einer Wettbewerbssituation starke Anreize, in erster Linie „Cream Skimming“ zu betreiben (Bellmann 2007, 63; Bellmann/Waldow 2004, 192), d.h. sich um die gezielte Anwerbung von Schülern mit guten Leistungsvoraussetzungen und/oder aus bildungsnahen Milieus zu bemühen anstatt sich um die Entwicklung effektiver Unterrichtsmethoden zu kümmern. Sinnvoll ist jedoch nur die zweite Art von Wettbewerb, weil die erste Form des Wettbewerbs bestenfalls ein Nullsummenspiel darstellt. Bisweilen wird deshalb die Veröffentlichung von Schul-Leistungsdaten gefordert, die nicht den absoluten Durchschnittsleistungsstand eines Jahrgangs darstellen, sondern die Differenz zwischen diesem und dem anfänglichen Leistungsstand bei Eintritt in die Schule, d.h. den intellektuellen Netto-Zugewinn. Allerdings sorgen die Peer-Group-Effekte dafür, dass sozial vorteilhaft zusammengesetzte Schulen auch von diesem Indikator begünstigt werden, ohne dass dies etwas mit der pädagogischen Leistungskraft des Lehrkörpers zu tun haben muss. Wenn die laut empirischen Studien sehr bedeutsamen Peer-Group-Effekte (Adnett/Davies 2002, 216; Bellmann 2007) einen stärkeren Einfluss auf die individuelle Leistung eines Schülers ausüben als die Performanzunterschiede zwischen Lehrkörpern, haben sowohl Angebots- als auch Nachfrageseite einen hohen Anreiz, ihre Anstrengungen/Aufmerksamkeit auf die soziale Zusammensetzung der Peer-Group zu richten und nicht auf die Steigerung pädagogischer Effektivität (Adnett/Davies 2002, 216; Levin 1998, 381; Weiss 2001). Der Markt für Schule könnte didaktisch also als ein Beispiel für (partielles) Marktversagen verwendet werden. Hinzu kommt, dass es so auch zu einer sozialen Segregation der Schüler nach Migrations- und Bildungshintergrund der Eltern kommt (Adnett/Davies 2002, 202; Bellmann 2007; Böhlmark/Lindahl 2007; Levacic/Woods 1999). Zu überlegen wäre jedoch, ob dieses Marktversagen und die problematischen sozialen Konsequenzen zwangsläufiger Art sind. Zunächst kommt es darauf an, ob es den Schulen überhaupt möglich ist, eine selektive Cream-Skimming-Politik zu betreiben, indem sie z.B. unter Hinweis auf eine nachweisliche Auslastung ihrer Kapazitäten eine Auslese unter den Bewerbern gemäß Leistungsstand praktizieren. Dem kann man schulpolitisch durch einen Kontrahierungszwang bei gleichzeitiger voller finanzieller Verantwortung des Staates für den Ausbau der Kapazitäten begegnen. Allerdings könnte es den Schulen eventuell durch geschickte und gezielte Werbemaßnahmen sowie durch Wahl eines bestimmten Standorts weiterhin möglich sein (Woods/ Bagley/Glatter 1998, 159), vornehmlich Bewerber aus sozial privilegierten Schichten zu attrahieren. Dies wird auch dadurch erleichtert, dass die Bildungsaspirationen von Eltern aus sozial benachteiligten Schichten im Durchschnitt erheblich niedriger sind und sie sich bei Wahlfreiheit laut empirischen Studien mehr an der Nähe einer Schule als an deren Qualität orientieren. Dahinter verbirgt sich nicht nur ein rationales Kostenkalkül, das sich durch ein kostenloses Transportsystem beheben ließe, sondern auch ein bestimmter sozialer Habitus (u.a. der Glaube der Eltern, dass die individuelle Begabung des Kindes wichtiger als die Qualität der Schule sei) sowie die Befürchtung, dass ihr Kind aus dem lokalen Freundeskreis gerissen wird und auf einer Schule in einem weiter entfernten, sozial privilegierten Stadtviertel keine Freunde finden, sondern dort vielmehr wegen seiner Herkunft stigmatisiert wird. Manche Autoren (Blankart/Koester 2003) argumentieren deshalb, dass die den Schulen pro Schüler vom Staat zugewiesene Summe von dessen ethnischem und sozialem
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Hintergrund abhängen solle (positive Diskriminierung), zumal schwächere Schüler einen höheren Einsatz von pädagogischen/ökonomischen Ressourcen erfordern. In den Niederlanden, wo ein solches Finanzierungssystem praktiziert wird, ein effektives Transportsystem besteht und der Staat die finanzielle Verantwortung für die vorausschauende Vermeidung von Kapazitätsengpässen innehat, scheint dies in der Tat zu funktionieren, denn die soziale Segregation der Schulen ist dort trotz Wettbewerbs und Wahlfreiheit relativ gering. Zu bedenken bleibt gleichwohl, dass dem (potentiellen) Nutzen eines Marktes für Schule die Transaktionskosten der erforderlichen Regulierung gegenüberzustellen sind (Levin 1998; Bellmann 2007), denn ein entsprechend ausgebautes öffentliches Transportund Informationssystem, die Feststellung ethnischer/sozialer/sonstiger Benachteiligungen, die Fixkosten bzw. der Ausbau nicht ausgelasteter bzw. übermäßig ausgelasteter Schulen etc. verbrauchen ökonomische Ressourcen.
6.2.3 Fachdidaktische Strukturierung des Politikfeldes gemäß Kapitel 4.5. Das zentrale Lernziel eines gestaltungsorientierten sozialwissenschaftlichen Unterrichts im Politikfeld Sozialpolitik besteht darin, heutige sozialpolitische Institutionen und gestaltungspolitische Alternativen zu diesen im Hinblick auf ihre Folgen für die Erzeugung und Verteilung von Lebensqualität und -chancen ausgewogen beurteilen zu können. Hierzu sollten zunächst übergreifende definitorische Charakteristika von Sozialpolitik (staatliche Korrektur der marktlichen Einkommensverteilung, Absicherung von sozialen Risiken, rechtliche Regulierung des Arbeitsverhältnisses, Bereitstellung sozialer Dienstleistungen) erarbeitet werden, um ein grundsätzliches Verständnis dieses Begriffes zu vermitteln. Im Anschluss daran kann unter komparativen Rückgriff auf die allgemeinen Sozialpolitikkonzeptionen der egalitaristischen und der liberalen Perspektive verdeutlicht werden, dass divergente Auffassungen hinsichtlich der Begründung, Zielsetzung, Struktur und des gewünschten Ausmaßes von Sozialpolitik existieren, d.h. dass es unterschiedliche Vorstellungen davon gibt, was eine Marktwirtschaft zu einer Sozialen Marktwirtschaft macht. Das zeigt zugleich, dass sozialwissenschaftliche Stellungnahmen zur Sozialpolitik oft nicht wertneutral argumentieren. Unter Rückgriff auf die dabei herauszustellenden Gegensatzpaare Solidarität vs. Subsidiarität und Leistungsfähigkeitsprinzip vs. Äquivalenzprinzip kann den Schülern ein kategoriales sozialpolitisches Orientierungsschema vermittelt werden, welches sich darüber hinaus auch in der Lehrerbildung zur kritischen Analyse von Schulbüchern hinsichtlich der Frage einsetzen lässt, inwieweit das Kontroversitätsprinzip im Lernbereich Sozialpolitik eingehalten wird oder nicht. Beispielsweise kann man dann erkennen, dass dieses Prinzip im entsprechenden Kapitel des von Kaminski herausgegebenen Schulbuchs „oec. Ökonomie – Grundfragen wirtschaftlichen Handelns“, welches auf Initiative der „Gemeinschaftsinitiative Soziale Marktwirtschaft“ veröffentlicht wurde, in deutlich erkennbarer Weise verletzt wird. So werden dort z.B. auf den Seiten 104-107 im Kapitel 2.3.4. „Was heißt sozial? – Ein immerwährender Streit“ entgegen diesem Motto ausschließlich zwei jeweils doppelseitige Positionen aus der liberalen Perspektive präsentiert (Werner Mussler und Hans Tietmeyer), die beide nach einer deutlichen Stärkung des Subsidiaritätsprinzips im deutschen Sozialstaat rufen und daher den Forderungen der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ entsprechen. Weil diese beiden Stellungnahmen ideologisch vollkommen deckungsgleich sind und somit – im
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Gegensatz z.B. zum diesbezüglich angemessenen Vorgehen des Schulbuchs von Bauer et al. (2008, 225-227) – überhaupt keine kontroversen Positionen dargestellt werden, kann der Lernende im Schulbuch von Kaminski gar nicht erkennen, wo der in der Kapitelüberschrift groß angekündigte, „immerwährende Streit“ überhaupt liegen soll. Ebenso bemerkenswert ist, dass die dazugehörigen Lernaufgaben auf Seite 106 des Schulbuchs von Kaminski die Lernenden lediglich dazu auffordern, sich über die Forderungen der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM)“ zu informieren. Wer und was sich interessenspolitisch dahinter verbirgt – der Arbeitgeberverband Gesamtmetall mit einem Finanzierungsvolumen von jährlich knapp € 9 Mio. –, soll die Schüler offenbar nicht interessieren, zumindest wird es an keiner Stelle im Schulbuch erwähnt. Derlei Hintergrundinformationen könnten aber möglicherweise erkenntnisförderlich sein, wenn man auch hier die von der Ökonomikdidaktik doch sonst stets so betonte `Homo-OeconomicusBrille´ aufsetzen würde. Gesamtmetall ist schließlich kein christlicher Wohlfahrtsverein. Offen zu diskutieren wäre, inwiefern eine Umsetzung der partikularen sozialpolitischen Interessen von Gesamtmetall (langfristig) auch das Allgemeinwohl fördern würde. Demgegenüber wird die von Kaminski in seinem Schulbuch betriebene sozialpolitische Bildung den eigenen Ansprüchen der Ökonomik-Didaktik nicht gerecht, weil die beiden wichtigen Kategorien Zielkonflikte und Interessenskonflikte (Kruber 2000, 293) mit seinem Vorgehen nicht erarbeitet werden können, obwohl sich das Thema Sozialpolitik als solches dafür gut eignet. Wie die obige kontroverse Darstellung der beiden sozialwissenschaftlichen Perspektiven gezeigt hat, kann man solche didaktische Strategien auch nicht mit dem von Kaminski im „Kerncurriculum Ökonomische Bildung“ aufgestellten Postulat rechtfertigen, dass den Schülern angeblich ein Vorrang des Individual-, Versicherungs- und Subsidiaritätsprinzips vor dem Sozial-, Versorgungs- und Solidaritätsprinzips als zentraler Grundsatz für die Ausgestaltung des sozialen Sicherungssystems vermittelt werden müsse (Kaminski 2000, 18). So drängt sich hier die Frage auf, ob der Unterricht zur Sozialpolitik hier Werbung für ein bestimmtes (wirtschaftsliberales) Weltbild betreiben soll – Kaminski ist Mitunterzeichner einer wirtschaftsliberalen Reforminitiative, des „Hamburger Appells“45. Um nicht falsch verstanden zu werden: Diese politische Haltung ist genauso legitim wie jede andere demokratische Überzeugung – nur sollte man an einem Schulbuch möglichst nicht ablesen können, welche politischen Vorlieben die Autoren besitzen: „Denn wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten.“ (Wehling 1977, 179f.)
Die Darstellung der allgemeinen sozialpolitischen Kontroverse zwischen Egalitarismus und Liberalismus sollte entsprechend dem Prinzip exemplarischen Lernens an einem (Grundkurs) oder zwei (Leistungskurs) Sozialpolitikfeldern (z.B. Rentenversicherung) konkret veranschaulicht werden. Zu diesem Zweck müsste gemäß dem Strukturschema aus Kapitel 4.5. die Funktionsweise des jeweiligen gegenwärtigen Systems in der BRD dargestellt werden (Aspekt 1.1. Institutionen des Strukturschemas aus Kapitel 4). Eventuell kann auch konstruktivistisch in dem Sinne vorgegangen werden, dass die Schüler zuvor (mit Hilfe unterstützender Leitfragen) eigene Sozialstaatskonstruktionen zu einem bestimmten Risiko 45
Siehe http://www1.uni-hamburg.de/IWK/appell.pdf und http://www1.uni-hamburg.de/IWK/appell.htm
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entwickeln. Unabhängig davon sollte dann unter vergleichendem Rückgriff auf egalitaristische und liberale Stellungnahmen zu dem jeweiligen Status Quo aufgezeigt werden, dass vor dem Hintergrund unterschiedlicher wissenschaftlicher Prämissen und normativer Zielvorstellungen unterschiedliche Problemwahrnehmungen (Aspekte 1.2. Problem + 1.3. Problemdefinition) existieren (Gefährdung von sozialer Sicherheit und von Lebenschancengleichheit einerseits versus Gefährdung ökonomischer Freiheit und mangelnde ökonomische Nachhaltigkeit andererseits), welche mit unterschiedlichen Ursachedeutungen (Aspekt 1.4.), nämlich mangelnde Kompensation sozialer Ungleichheit einerseits versus negative Anreize/Moral-Hazard andererseits einhergehen. Diese wissenschaftlichen Problemdeutungen können mit den (impliziten) Problemwahrnehmungen der Schüler verglichen werden. Anschließend können die beiden gestaltungspolitischen Alternativen (Aspekt 2.1.) zum jeweiligen Status Quo und deren Begründung (Aspekt 2.2.) erarbeitet werden sowie eventuell daraufhin analysiert werden, ob die Schülervorschläge eher der liberalen oder egalitaristischen Perspektive entsprechen. Dabei sollte jeweils insbesondere verdeutlicht werden, in welchen empfohlenen institutionellen Strukturen die jeweiligen Wertvorstellungen (Aspekt 2.3.) der beiden Perspektiven (Solidarität/Gleichheit einerseits; Subsidiarität/Freiheit andererseits) zum Ausdruck kommen und dass zwischen diesen ein partieller Zielkonflikt besteht: je mehr soziale Gleichheit durch politische Umverteilung, desto stärker wird angesichts der abgaben- und steuerpolitischen Finanzierungserfordernisse die individuelle ökonomische Dispositions-Freiheit über das eigene Markteinkommen eingeschränkt. Zieht man das Bildungssystem als ein zweites Politikfeld hinzu, kann man erörtern, inwiefern die sowohl von egalitaristischer als auch von liberaler Perspektive befürworteten Maßnahmen zur Steigerung der Bildungschancengleichheit geeignet sind, diesen Zielkonflikt zu mildern. An diesem Zielkonflikt kann den Schülern zugleich klar werden, dass Sozialpolitik mit unterschiedlichen Folgen für (Aspekt 3.2.) und Interessenkonflikten zwischen (Aspekt 3.3.) jenen Gruppen verbunden ist, deren ökonomischer Wohlstand durch sozialstaatliche Umverteilung netto eingeschränkt bzw. vergrößert wird. Dies lässt sich gemäß aktueller empirischer Studien anhand der unterschiedlichen sozialpolitischen Präferenzen einkommensund bildungsreicher Haushalte (eher liberale Perspektive) einerseits und einkommens- und bildungsarmen Haushalten (eher egalitaristische Perspektive) andererseits aufzeigen (Krömmelbein/Nüchter 2006, 5). Dabei sind diese Differenzen nicht nur als Ausfluss reinen Opportunismus zu deuten, sondern auch als sozialisatorische Folge unterschiedlicher persönlicher Lebens-, d.h. Selbstwirksamkeits- bzw. Ohnmachtserfahrungen des Individuums gegenüber der ökonomischen Umwelt zu erklären, die dann jeweils zu persönlichen normativen Weltbildern generalisiert werden. Darüber hinaus sind auch potentielle Konflikte zwischen Familien und Kinderlosen sowie zwischen Jung und Alt relevant (Mehrdimensionalität sozialpolitischer Konflikte). Gleichwohl ist darauf aufmerksam zu machen, dass all diese Kontroversen bzw. Konflikte nicht zwangsläufig reine Nullsummenspiele darstellen, sondern auch Win-WinKonstellationen denkbar sind. So argumentiert die liberale Perspektive, dass der freiheitliche Verzicht auf soziale Angleichung langfristig den ökonomisch zu verteilenden `Wachstums-Kuchen´ für alle, auch die ärmsten Bürger vergrößere (Von Weizsäcker 2002). Andererseits kann man mit der egalitaristischen Perspektive die These vertreten, dass eine umfassende umverteilungspolitische Korrektur der Markteinkommen alle Bürger ein Stück
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weit aus der Tretmühle des gesamtgesellschaftlich betrachteten irrationalen Statuswettbewerbs befreie und ihnen so Zeit für jene Dimensionen des Lebens verschaffe, die für die menschliche Lebensqualität wirklich entscheidend seien. Diese unterschiedlichen Denkweisen und die Interessens- und Zielkonflikte verdeutlichen, dass der Einsatz sozialstaatlicher Maßnahmen bzw. der Verzicht darauf ambivalente Wirkungen nach sich ziehen kann: sie mögen z.B. das Selbstwertgefühl sozial Benachteiligter erhöhen, doch zugleich das Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum schwächen. Darüber hinaus zeigt der Kontrast der beiden sozialwissenschaftlichen Perspektiven, dass die Wirkungen des Sozialstaats oft auch empirisch unsicher (Aspekt 2.4.) sind, sodass gestaltungspolitische Urteilsvorsicht geboten ist. So wird empirisch kontrovers diskutiert, inwieweit Moral Hazard in der deutschen Arbeitslosenversicherung empirisch tatsächlich ein nennenswertes Problem darstellt. Empirisch unklar ist auch, ob die als Versicherung gegen persönliche Kinderlosigkeit konstruierten gesetzlichen Alterssicherungssysteme (in signifikantem Maß) (mit)verantwortlich für die demografische Alterung sind oder ob der entscheidende Faktor das (Nicht-)Vorhandensein ausreichender ganztägiger Kinderbetreuungsplätze ist. Ebenso empirisch umstritten ist, ob die Kosten des medizinischtechnischen Fortschritts (zwangsläufig) schneller als das BIP gewachsen sind bzw. steigen werden, ob soziale Krankenversicherungen in signifikantem Ausmaß Moral-HazardVerhalten induzieren und inwieweit monetäre Selbstbeteiligungen an den Krankheitskosten bzw. deren Fehlen zu einer Über- bzw. Unternutzung medizinisch notwendiger Leistungen führen. Keine empirische Einigkeit besteht auch bezüglich der Frage, ob ein liberaler Quasi-Markt im Schulwesen sich förderlich auf das Leistungsniveau auswirkt. Bei der evaluativen Entscheidungsanalyse kann dann das Plenum bzw. jeder Schüler auf seine Weise die bereits mit den beiden gestaltungspolitischen Perspektiven eingeführten Urteilskriterien (Aspekt 3.1.) der (Lebenschancen)Gleichheit, der sozioökonomischen Statussicherheit, der ökonomischen Freiheit und der ökonomischen Nachhaltigkeit vorsichtig gegeneinander abwägen und eventuell prüfen, inwiefern man die eingangs entwickelten persönlichen Sozialstaatskonstruktionen im Lichte dieser Kriterien (partiell) revidiert. Im Unterricht einer offenen, pluralistischen Gesellschaft darf der Lehrer dabei keine Prioritätensetzung vorgeben. Allerdings ist von den Schülern zu verlangen, dass sie ihr gestaltungspolitisches Urteil zugunsten einer bestimmten sozialpolitischen Institution unter Auseinandersetzung mit den genannten Urteilskriterien fundieren (wozu aber auch eine gut begründete Ablehnung eines Kriteriums gehören kann). In diesem Zusammenhang ist auch ein Eingehen auf die unbeabsichtigten und/oder unberücksichtigten Nebenfolgen sozialpolitischen (Nicht-)Handelns (Aspekt 3.4.) möglich, welche ebenfalls durch die Kontrastierung von egalitaristischer und liberaler Perspektive quasi automatisch ins Blickfeld geraten: So kann ein egalitaristischer, auf umfassende Solidarität setzender Sozialstaat paradoxerweise die ihn stützenden Normen erodieren (soziomoralische Selbstzerstörung), Moral-Hazard-Verhalten induzieren und im Zusammenwirken mit der demografischen Entwicklung künftig dessen makroökonomische Nachhaltigkeit gefährden. Umgekehrt kann ein rein auf den Wert der Subsidiarität fokussierter, nur auf die sog. „wirklich Hilfsbedürftigen“ (Tietmeyer in Kaminski 2006, 106f.) konzentrierter und ökonomische Ungleichheit ansonsten ignorierender liberaler Sozialstaat infolge des „Paradox of Redistribution“ (Korpi/Palme 1998; Rothstein 1998) eine soziokulturellpolitische Spaltungs-Dynamik lostreten, durch die das Ziel der Gewährleistung des soziokulturellen Bildungs- und Existenzminimums verfehlt wird, zumal hohe sozio-
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ökonomische Ungleichheit auch die annähernde faktische Gleichheit der politischen Beteiligungschancen der Interessengruppen unterer Sozialschichten zu unterminieren droht. Diese These, die im Gegensatz zu dem aus der klassischen Ökonomischen Verhaltenstheorie entlehnten politökonomischen Modell von Meltzer/Richard (1981) (in dem ein Anstieg ökonomischer Ungleichheit automatisch zu einer kompensatorischen politischen Umverteilung führt) empirisch relativ gut belegt ist, stellt übrigens nicht eine `politikwissenschaftliche´ Ansicht dar. Vielmehr findet sie sich auch in der Ökonomik (siehe z.B. Grözinger 2002, 142-146 und die dort angegebene ökonomische Literatur): „Ungleichheit verstärkt zwar auf breiter Front individuelles Unglück, es zerstört jedoch zugleich auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt und damit die Bereitschaft, durch Vermittlung staatlicher Instanzen etwas an Dritte abzugeben.“ (ebd., 147)
Weil die kategoriale Strukturachse Solidarität/Leistungsfähigkeitsprinzip versus Subsidiarität/Äquivalenzprinzip natürlich keinen rein antagonistischen Dualismus darstellt, sondern vielmehr zwei Pole repräsentiert, zwischen denen sich ein ideologisches Kontinuum mit einer Reihe von `Mischformen´ aufspannt, können bei der Urteilsbildung in exemplarischer Gestalt jeweils auch diskussionswürdige Kompromiss-Möglichkeiten aufgezeigt werden. Wenngleich klarzustellen ist, dass bestimmte Zielkonflikte bis zu einem gewissen Grad unausweichlich sind, da ein Sozialstaat nicht allen Wertvorstellungen gleichzeitig völlig gerecht werden kann, ist dies mit Blick auf die Schulung der politischen Kooperationsfähigkeit und die Fähigkeit zur Berücksichtigung fremder Interessen in der eigenen Urteilsbildung sinnvoll. Bei der Absicherung gegen das Armuts- bzw. Arbeitslosigkeitsrisiko kann man dazu z.B. auf das von den Ökonomen Boss/Brown/Snower (2008) entworfene Modell der Beschäftigungskonten, d.h. obligatorischer Ansparkonten mit staatlicher Bezuschussung von Geringverdienern zurückgreifen, welches versucht, ökonomische Anreizkompatibilität mit sozialer Statussicherung und einem zielgerichteten sozialen Ausgleich zu kombinieren. Wählt man das Gebiet der Krankenversicherung, kann man das Konzept der Gesundheitsprämie des Ökonomen Wagner (2005) erörtern, welches solidarische Elemente (einheitliche Volksversicherung, Beibehaltung des Krankheitsrisikoausgleichs) mit subsidiären Elementen (Auslagerung eines zielgerichteten Einkommensausgleichs in das Steuersystem) mischt. Auch in der Alterssicherung gibt es Möglichkeiten, in Form eines „humankapitalgedeckten Rentenversicherungssystems“ (z.B. Werding 1998; Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen 2002, 199ff.) einen echten Drei-Generationen-Vertrag zu installieren, ohne sich der Gefahr auszusetzen, Kinderlose und Kinderreiche gegeneinander aufzubringen. Mit Blick auf das Koordinatenkreuz von Petrik (2007, 200f.) lassen sich aber auch gestaltungspolitische Alternativen diskutieren, die Elemente von Solidarität und Subsidiarität so kombinieren, dass weniger die Werte der sozialen Gleichheit bzw. der Wirtschaftsfreiheit, sondern der Wert der individuellen Selbstbestimmung in den Vordergrund gerückt wird. Hinsichtlich der Rentenversicherung würde diesem Wert das Modell von Sunstein/ Thaler (2003) am Besten entsprechen, da es im Gegensatz sowohl zu Lauterbach (2007) als auch zu Sinn (2003a) überhaupt keinen Versicherungszwang vorsieht, sondern auf den guten Willen der Bürger vertraut und eine automatische, aber vom Individuum widerrufliche Einschreibung in private, aber sozialpolitisch regulierte Versicherungskonten vorschlägt. Bei der Absicherung gegen das Armuts- und Arbeitslosigkeitsrisiko könnte der Pol
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der Selbstbestimmung von einer Position repräsentiert werden, die das bereits in Kapitel 6.2.4. erwähnte Modell der negativen Einkommenssteuer von Mitschke (2001, 2004) mit dem von einigen Ökonomen und Politikwissenschaftlern vertretenen Konzept einer Sozialerbschaft (Grözinger/Maschke/Offe 2006) kombiniert. Demnach sollen die ökonomischen Verwirklichungschancen jedes jungen Bürgers mit Ausbildungsabschluss dadurch gefördert werden, dass sie/er ein erbschaftsteuerfinanziertes Startkapital in Höhe von €60000 für Investitionen in ein Studium, eine Unternehmensgründung, Wohneigentum o.ä. erhält. Der sozialpolitische Vorschlag des Politologen White (2003) kommt einer solchen Kombination von negativer Einkommensteuer und Sozialerbschaft sehr nahe. Bei der Erörterung solcher gestaltungspolitischen Vorschläge und jener der egalitaristischen und liberalen Perspektive kann auch das Kriterium der politischen Durchsetzbarkeit (Aspekt 3.5.) berücksichtigt werden. Angesichts der Ergebnisse einer international vergleichenden empirischen Studie aus der Soziologie (Brooks/Manza 2007), die den unterschiedlichen Präferenzen der nationalen Bevölkerungen eine große kausale Rolle für die ideologische Entwicklungsrichtung des Sozialstaats zuweist, erscheint es diesbezüglich sinnvoll, empirische Beiträge der wohlfahrtsstaatlichen Akzeptanzforschung aus der Soziologie (z.B. Ullrich 2005, 217-223) bzw. aus entsprechenden ökonomisch-soziologischen Forschungsprojekten (Krömmelbein/Nüchter 2006) in die Diskussion zu integrieren. Wissenschaftspropädeutisch kann bei dieser Thematik herausgearbeitet werden (vielleicht indem man die Schüler zunächst entsprechende eigene Fragen entwickeln lässt), dass die Frageformulierung die Antwortreaktionen erheblich beeinflussen kann (Diekmann 1997, 391ff.), sodass entsprechende Umfragen insbesondere nur dann als valide gelten können, wenn sie nicht nur nach gewünschten sozialstaatlichen Leistungen fragen, sondern zugleich auch die dabei entstehenden Kosten (Steuern, Abgaben) ins Bewusstsein rufen. Verwendet man nur solche Studien, kann man zunächst zeigen, dass die deutliche Mehrheit der deutschen Bevölkerung der sozialstaatlichen Reduzierung von Einkommensunterschieden eine große Bedeutung zumisst (Krömmelbein/Nüchter 2006, 2; Ullrich 2005, 221) und eher einem solidarischen Sozialstaat zuneigt als dem Modell eines subsidiären Sozialstaats, und zwar besonders stark ausgeprägt in den Bereichen der Alters- und vor allem der Krankenversicherung (ebd., 219). Bezüglich letzterer lässt sich eine hohe bekundete politische Solidaritätsbereitschaft feststellen (Ullrich 2000). Die Mehrheit lehnt bereits höhere Zuzahlungen und Eigenleistungen als Instrumente zur Beitragssatzstabilisierung ab (Krömmelbein/Nüchter 2006, 4). Dementsprechend kommen repräsentative empirische Untersuchungen aus der Politologie (Pappi/Shikano 2005, 4-6) zu dem Schluss, dass dort eine Bürgerversicherung im Gegensatz zu anderen Alternativen eine Mehrheit bei der deutschen Bevölkerung findet (so auch die Ergebnisse von Krömmelbein/Nüchter 2006, 4f.), wobei didaktisch allerdings darauf aufmerksam zu machen ist, dass diese wegen des rechtlichen Vertrauensschutzes der heutigen PKV-Versicherten nur allmählich und nicht auf einen Schlag von heute auf morgen eingeführt werden kann. Auch die derzeitige Form der Arbeitslosenversicherung in Deutschland erfährt, wenngleich weniger intensiv, die Zustimmung der Erwerbstätigen bzw. der Bevölkerung insgesamt (Ullrich 2005, 218f.). Insofern besitzen auf dem Solidaritätsprinzip basierende Sozialpolitikmodelle im Bereich der Sozialversicherungen zurzeit eine z.T. höhere politische Durchsetzbarkeit. Allerdings ist relativierend herauszustellen, dass die Wahlbeteiligung der einkommens- und bildungsarmen Schichten als auch deren Einfluss auf den öffentlichen Diskurs als solche häufig geringer ist als jener der einkommens- und bildungsreichen Gruppen (die
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eher der liberalen Perspektive zuneigen, s.o.), aus denen sich überdies die politische Elite größtenteils rekrutiert. Zudem dürfen die Präferenzen der Bevölkerungsmehrheit auch deshalb nicht als unüberwindliches Hindernis für strukturelle Reformen hingestellt werden, weil sie das Handeln der politischen Elite in einer repräsentativen Demokratie nicht immer vollkommen binden können, wie man z.B. an der Tatsache ablesen kann, dass die rot-grüne Regierung durch die Rentenreformen in 2001 und 2004 tiefgreifende Einschnitte in dieses System vorgenommen hat, obwohl dies nicht in Einklang mit den (damaligen) rentenpolitischen Präferenzen der Bevölkerungsmehrheit (Ullrich 2005, 219) stand. Die Durchsetzungschancen bzw. die Resilienz egalitaristischer sozialpolitischer Konzepte/Institutionen dürften deshalb gemäß der politologischen Machtressourcentheorie (Korpi 1983) auch von der politischen Stärke, d.h. der Organisations- und Mobilisierungsfähigkeit der Gewerkschaftsbewegung (oder einem eventuellen künftigen strukturellen Äquivalent) in einem Land abhängen. In der BRD schwächelt jedoch nicht nur die Gewerkschaftsbewegung, sondern es zeigt sich auch, dass zwischen 1990 und 1996 – zumindest im ehemaligen Westdeutschland – die Zustimmung zu solidarischen Arrangements signifikant abgenommen hat (siehe die Tabelle bei Ullrich 2005, 219), was auf die ökonomische Krisendiskussion seit etwa 1993 und den sich in diesem Zeitraum deutlich gewandelten öffentlichen sozialpolitischen Diskurs, insbesondere die damit verbundene Karriere des Begriffs der demografischen Nachhaltigkeit zurückzuführen sein dürfte. In Übereinstimmung damit zeigt eine andere repräsentative Umfrage des Allensbach-Instituts, dass sich auch die Befürworter einer Elternrente zwar immer noch in der Minderheit befinden, ihren Anteil jedoch zwischen 1992 und 1996, also innerhalb von nur 4 Jahren, immerhin von 30% auf 38% steigern konnten (Mayer 1999, 322). Im Jahr 2004 befürworteten immerhin 43% der Bevölkerung auf die Frage, ob die Soziale Marktwirtschaft künftig „mehr Markt“ oder „mehr Sozialstaat“ benötige, die erste Option (zum Vergleich: 1993 waren es erst 25%) (Hamann 2005). Aus liberaler Perspektive erscheint die Mehrheit der Bürger also grundsätzlich als `lernfähig´, sodass die Umsetzung eines stärker am Subsidiaritätsprinzip ausgerichteten Sozialstaats nicht von vorneherein als politisch utopisch anzusehen ist. Allerdings bedarf es dazu jedoch wohl eines massiven und überzeugenden diskursiven Agenda-Settings, um die durchaus veränderbaren Präferenzen der Bevölkerungsmehrheit entsprechend zu beeinflussen. Wie ein solches Agenda-Setting organisiert werden kann, können die Schüler am Beispiel der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM)“ exemplarisch analysieren (Hamann 2005). Ein weiterer Aspekt, den man hier auch mit Blick auf Interdependenzen zwischen ökonomischem und politischem System behandeln könnte, ist die (möglicherweise) höhere Wahrscheinlichkeit subsidiärer Sozialstaatsreformen in einem wettbewerbsföderalistischen System (siehe dazu ausführlich Kapitel 7.1.3.2.2.). An der Thematik des Agenda-Settings kann allerdings zugleich deutlich werden, wie wichtig es aus demokratischer Sicht ist, dafür zu sorgen, dass zum einen alle Interessengruppen hinsichtlich der Möglichkeiten der Einflussnahme auf den öffentlichen Diskurs ein annähernd gleiches ökonomisches Sockel-Kapital besitzen und zum anderen die interessenspolitischen Hintergründe der jeweiligen Kampagnen transparent gemacht werden, was nicht immer der Fall zu sein scheint (siehe dazu das Streitgespräch zur umstrittenen Öffentlichkeitsarbeit der INSM in der Zeitschrift politik & kommunikation, April 2005, 36-40).
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Um der wissenschaftlich reflektierten persönlichen Urteilsbildung (Aspekt 3.6.) eine potentielle politische Wirkmächtigkeit zu verleihen (Aspekt 3.7.), sollte schließlich herausgearbeitet werden, dass die CDU/CSU und die FDP auch in diesem Politikfeld im ideologischen Koordinatenkreuz von Petrik (2007) eher auf der rechten Seite zu verorten sind und das Subsidiaritätsprinzip stärker gewichten, wohingegen die SPD, die Grünen und die Linke sich eher auf der linken Seite positionieren und das Solidaritätsprinzip stärker betonen. So möchte die SPD wie die egalitaristische Perspektive den solidarischen Charakter der heutigen Arbeitslosenversicherung bewahren und diesen durch den Ausbau zu einer Arbeitsversicherung, die auch die Finanzierung von Weiterbildung übernimmt, ausweiten (SPD 2007, 65). Bildungspolitisch wird für eine gemeinsame Schule bis zur 10.Klasse plädiert (ebd., 62). In der Rentenpolitik lehnt sie jedoch eine einheitliche steuerfinanzierte Grundrente als auch eine Rückkehr zur alten GRV ab und will das derzeitige System mit der staatlichen Subventionierung der freiwilligen privaten Zusatzvorsorge beibehalten (ebd., 59). Diesbezüglich könnte man didaktisch von den Schülern eine schriftliche Kritik dieser Position aus egalitaristischer Perspektive ausarbeiten lassen und an die SPD senden, in der hinterfragt wird, ob diese Haltung tatsächlich dem sonst von der SPD allgemein so betontem Wert der Solidarität wirklich gerecht wird. In der Gesundheitspolitik plädiert die SPD für die „solidarische Bürgerversicherung“ (ebd., 58), wobei jedoch unklar bleibt, ob damit nur die Abschaffung der Trennung von GKV und PKV angestrebt wird oder auch die Einbeziehung von Kapitaleinkommen und die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze. In dieser Hinsicht äußern sich die Grünen in eindeutigerer Weise, da sie wie die egalitaristische Perspektive eine einheitliche Bürgerversicherung mit Heranziehung auch von Kapitaleinkünften und maßvoller Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze anstreben (Die Grünen 2005, 37f.). Das dreigliedrige Schulsystem soll zugunsten eines längeren gemeinsamen Lernens überwunden werden (Bundestagsfraktion Die Grünen 2005, 2). Die Arbeitslosenversicherung halten sie offenbar in ihrer heutigen Form für angemessen, da sie sich zu dieser nicht näher äußern; wichtiger ist ihnen demgegenüber eine deutliche Anhebung der Hartz-IV-Regelsätze (ebd., 33). In der Rentenpolitik wollen auch sie am derzeitigen Status Quo festhalten (ebd., 39f.). Auch die Linke plädiert im Gesundheitswesen für eine solidarische Bürgerversicherung und möchte dabei die Beitragsbemessungsgrenze sogar ganz abschaffen (ebd., 9). Ebenso fordert auch sie eine Gesamtschule bis mindestens zur 9.Klasse (ebd., 13). In Arbeitslosen- und Rentenversicherung befindet sie sich insofern links von SPD und Grünen, als sie in der ersten eine Verlängerung der Zahlungsdauer und in der zweiten die Abschaffung der Riester-Rente und die Anhebung der Lohnersatzquote der GRV auf ein Niveau vor den rot-grünen Reformen in 2001 und 2004 anstrebt. Hier bietet es sich z.B. an, die Schüler dieses sozialpolitische Programm angesichts des damit einhergehenden massiven Anstiegs der abgabenmäßigen Belastung der Einkommen einmal kritisch unter dem Scheinwerfer der liberalen Perspektive und ihrer zentralen Kategorie des Anreizes betrachten zu lassen. Die sozialpolitischen Zielvorstellungen der CDU/CSU und der FDP zeichnen sich gegenüber den anderen drei Parteien durch eine signifikant stärkere Akzentuierung des Subsidiaritätsprinzips aus, die allerdings zumeist nicht so weit geht wie bei der liberalen Perspektive aus der Sozialwissenschaft. So findet sich im Programm der CDU/CSU die Forderung, die Leistungen der Arbeitslosenversicherung stärker an der individuellen Versicherungsdauer auszurichten (CDU/CSU 2005, 14; CDU 2007, 65). Die FDP (2005, 15) geht noch einen Schritt weiter
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und fordert wie die liberale Perspektive die Einführung von individuellen Wahltarifen. Als weiteres zentrales Abgrenzungskriterium gegenüber SPD, den Grünen und der Linken wäre das Vorhaben einer weiteren Senkung der Einkommenssteuertarife herauszustellen (CDU/ CSU 2005, 17; FDP 2005, 5). Die Krankenversicherung soll künftig über eine einheitliche Pauschalprämie (ohne Risikodifferenzierung) mit staatlichen Zuschüssen für Niedrigeinkommensbezieher finanziert werden (CDU/CSU 2005, 26; FDP 2005, 10). Letztere betont darüber hinaus die Einführung von Selbstbehalten und -beteiligungen (ebd.). In der Rentenversicherung plädiert die CDU/CSU zwar nicht für die Kinderrente, dennoch findet sich in ihrem Programm das entsprechende sozialwissenschaftliche Gedankengut in verkleinerter Form wieder, da Eltern in der GRV künftig über einen „Kinderbonus“ (Senkung der Beitragslast um € 50/Monat pro Kind) begünstigt werden sollen (CDU/CSU 2005, 28). Interessant ist, dass sich im FDP-Programm (2005, 11f.) nichts Entsprechendes findet, obwohl die Kinderrente wie oben gezeigt das Prinzip der ökonomischen Eigenverantwortlichkeit in Reinform verkörpert. Ebenso bemerkenswert ist, dass sowohl CDU/CSU als auch die FDP dem Ruf des liberalen Bildungsökonomen Wößmann nach einer Gesamtschule überhaupt nichts abgewinnen können. Im CDU-Programm wird sogar ohne jeden Zweifel behauptet, dass sich das dreigegliederte Schulwesen der BRD „bewährt habe“ (CDU 2007, 33). Didaktisch könnte man diesbezüglich die Schüler ein Schreiben an die CDU/CSU aus liberal-bildungsökonomischer Perspektive verfassen lassen, in dem kritisch gefragt wird, warum die Partei in ihrem Programm Thesen mit einer Gewissheit vertritt, die vor dem Hintergrund anderslautender empirischer Studien aus der Soziologie, aber auch der Ökonomik zumindest fragwürdig erscheint und ob diese geschlossene Geisteshaltung nicht einen Widerspruch zu der Tatsache darstellt, dass Chancengerechtigkeit zugleich als zentraler Wert der Partei postuliert wird (ebd., 20, 32, 51).
6.2.4 Politikfeldspezifische Auswertung der drei integrationsdidaktischen Ansätze Bezüglich der Frage, welche der drei Integrationsweisen vor dem Hintergrund dieses Kapitels zur gestaltungsorientierten Umsetzung des Themas Sozialpolitik geeignet sind, zeigt die obige Diskussion, dass es Sinn macht, durch transdisziplinäre, additiv-komplementäre Integration zunächst verschiedene Beiträge aus der Erziehungswissenschaft, der Gesundheitswissenschaft, der Ökonomik, der Politikwissenschaft, der Sozialphilosophie und der Soziologie unter dem Dach einer egalitaristischen Perspektive zusammenzuführen. Diese sollten dann einer liberalen Perspektive gegenübergestellt werden, die überwiegend durch institutionenökonomisch argumentierende Beiträge konstituiert wird, aber hinsichtlich der Explizierung ihrer impliziten normativen Grundlagen teilweise auf Beiträge aus der Philosophie (Kersting) angewiesen ist und die sich partiell auch in soziologischen Beiträgen (Kaufmann, Weede) findet. Etwas vereinfacht gesprochen meint Integration hier also die Kontrastierung einer interdisziplinär vertretenen (egalitaristischen) Perspektive mit einer überwiegend sozialphilosophisch-institutionenökonomischen (liberalen) Perspektive. Insofern hier zwei verschiedene, mehr oder weniger interdisziplinäre Perspektiven kontrovers in Bezug zueinander gesetzt werden, entspricht dieses Vorgehen dem sozialwissenschaftlichen Integrationsansatz. Es wäre also problematisch, fachwissenschaftlich vorgegebene Grenzziehungen didaktisch zu kopieren, da der entscheidende gestaltungsorien-
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tierte Konflikt nicht so sehr zwischen den Disziplinen als vielmehr innerhalb der Disziplinen verläuft, wenngleich von der Tendenz her vermutet werden kann, dass die egalitaristische Perspektive v.a. in der Politologie/Soziologie verbreitet zu sein scheint, wohingegen die liberale Perspektive ihre `Anhänger´ überwiegend in der Ökonomik zu finden scheint. Die ausschließliche Verwendung einer institutionenökonomischen Perspektive mit anderen Disziplinen als bloßen Zulieferern von Restriktionen wie vom institutionenökonomischen Integrationsansatz vorgeschlagen ist hingegen nicht zielführend. Denn ein solches Vorgehen führt – wie man am Sozialpolitikkapitel des Schulbuchs von Kaminski (2006) erkennen kann – entgegen anderweitiger Beteuerungen (Kaminski 2007) zu einer Verletzung des Kontroversitätsprinzips. Im Gegensatz zu seiner Behauptung (Kaminski 2002) erweist es sich zurzeit sehr wohl als möglich (und auch sinnvoll), die Forschungsergebnisse der Institutionenökonomik zur Sozialpolitik direkt mit denjenigen anderer Disziplinen zu vergleichen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn man nicht einfach abbilddidaktisch die zentralen Fragestellungen der Wissenschaften kopiert, sondern eine eigenständige, didaktisch generierte, nämlich gestaltungsorientierte Fragestellung entwirft und dafür relevante Beiträge aus den Fachwissenschaften selektiert und auf diese Frage bezieht. Entgegen dem politikwissenschaftlichen Integrationsansatz wäre es angesichts der gebotenen offenen Transdisziplinarität ebenso verfehlt, der Politikwissenschaft bei der Analyse gestaltungsorientierter sozialpolitischer Fragestellungen irgendeine Art normative Führungsrolle zuzuweisen. Als angemessen erweist sich vielmehr eine gleichberechtigte Komplementarität und Kontroversität der Disziplinen. Zudem erweist es sich als unzutreffend, der Ökonomik eine Abkoppelung von ethischen Gesichtspunkten und dem Gemeinwohl vorzuwerfen. Vielmehr findet sich bei der Mehrheit der (Institutionen)Ökonomen im Anschluss an v. Hayek eine ebenso starke wie legitime Betonung der Werte der Subsidiarität und der negativen Freiheit des Individuums, die didaktisch kontrovers und unvoreingenommen zu diskutieren ist. Infolgedessen besitzt die Ökonomik für die Sozialpolitik als einer „öffentlichen Angelegenheit“ keine „weniger starke Zuständigkeit“ (Scherb 2005, 126) als die Politologie.
6.3 Gestaltungsorientierte Evaluation der Verbraucherpolitik Im Folgenden werden unter Verbraucherpolitik all jene politischen Maßnahmen verstanden, die dem Schutz der Lebensqualität des Verbrauchers selber dienen sollen. Soziale Strukturen, mittels derer der Verbraucher durch bestimmte Konsummuster die Lebensqualität der Umwelt und/oder von Menschen in Entwicklungsländern (`Politischer Konsum´) fördern kann, werden hier hingegen nicht erörtert, da diese gemäß der SchlüsselproblemSystematik aus Kapitel 3 im Rahmen der Thematik der ökologischen Nachhaltigkeit bzw. der Vermeidung von Armut in Entwicklungsländern analysiert werden sollen. Will man die didaktische Behandlung des in diesem Sinne verstandenen Politikfeldes Verbraucherschutz gestaltungsorientiert im Sinne von Kapitel 3 – 5 umsetzen, ist es sinnvoll, von den beiden unten stehenden Perspektiven als analytischem Kern auszugehen (siehe auch Abbildung 5). Dabei ist zu beachten, dass die erste Perspektive weitaus umfangreicher ist als die zweite Perspektive, welche die erste nicht direkt ablehnt, sondern lediglich partiell über diese hinausgeht. Aufgrund dessen bietet sich eine direkte tabellarische Gegenüberstellung dieser Perspektiven, wie sie in dieser Arbeit für alle anderen Politikfelder
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vorgenommen wird, hier ausnahmsweise nicht an. Außerdem machen beide Perspektiven keinerlei Aussagen zur politischen Entscheidungskonfliktlinie, sodass sich das Petriksche Koordinatenkreuz hier auf ein Kontinuum zwischen zwei ideologischen Polen reduziert. Dementsprechend wird die y-Achse in Abbildung 5 weggelassen. a.
die Perspektive der Neuen Institutionenökonomik (NIÖ) (Adams 2004; Budzinski/Kerber 2003; Eger 2002; Hagen 2008; Hagen/von Schlippenbach 2007; Kirstein/Kirstein 2006; Kirstein/Schäfer 2006; Kötz 2003; Mitropoulos 1996; Rehberg 2003; Rischkowsky 2007; Sinn 2003b), die sich in diesem Politikfeld innerhalb des ideologischen Koordinatenkreuzes von Petrik (2007, 200f.) insofern nur begrenzt verorten lässt, als eine Einordnung auf der y-Achse (Entscheidungskonfliktlinie) nicht möglich ist, da diesbezüglich keinerlei Aussagen getroffen werden. Die Perspektive der NIÖ auf das Themengebiet des Verbraucherschutzes und ihr didaktischer Wert werden in Kapitel 6.5.1. näher expliziert. Bezüglich der x-Achse ist die NIÖ (in diesem Politikfeld) grosso modo im Nullpunkt anzusiedeln, weil sie einerseits grundsätzlich vom Axiom der Wirtschaftsfreiheit ausgeht, andererseits aber aufgrund von Marktversagen (Selbstaufhebung des Wettbewerbs, Informationsasymmetrien, politische Vertretung von Verbraucherinteressen als öffentliches Gut) Abweichungen von diesem Prinzip in Form von staatlichen Regulierungen (aktive Wettbewerbspolitik, staatliche Förderung von Informationsangeboten, Haftungsrecht, staatliche Mindeststandards bzgl. der Produkt- und Vertragssicherheit, öffentliche Teilfinanzierung von Verbraucherorganisationen) für sinnvoll erachtet. Einige neuere Autoren der NIÖ (z.B. Eger 2002, 20; Keser 2008; Kirstein/Schäfer 2006; Kirstein/Kirstein 2006; Rehberg 2003; Rischkowsky 2007, 103ff.; Smith 2003) erkennen mittlerweile – im Gegensatz zu älteren ökonomikdidaktischen Porträts des Homo Oeconomicus (Karpe/Krol 1997) – überdies auch Nicht-Rationalität des Durchschnittsverbrauchers (z.B. in Form einer systematischen Fehleinschätzung von Qualitätsrisiken durch die Verbraucher) als empirisch relevante Möglichkeit an, mit dem sich rechtliche Eingriffe seitens des Staates ggf. rechtfertigen liessen. Daher wird hier auf die Ausdifferenzierung der „Behavioral Economics“ als einer eigenständigen verbraucherpolitischen Perspektive verzichtet.
b.
die Perspektive der Psychoökonomik, die neben einigen Ökonomen (Easterlin 2003; Frank 1999; Frey/Stutzer 2004; Layard 2005) auch von einem Soziologen (Steiner 1999) vertreten wird und die sich innerhalb des ideologischen Koordinatenkreuzes von Petrik (2007, 200f.) grosso modo etwas links vom Nullpunkt und damit der NIÖ befindet, weil hier einer zusätzlichen öffentlichen Instanz bei der Aufklärung nichtrationaler Bedürfnisse eine große Rolle zugewiesen wird. Dabei wird jedoch zugleich betont, dass eine direkte staatliche Bevormundung von Unternehmen und/oder Verbrauchern sowohl aus Gründen der Legitimität als auch der Effektivität zu vermeiden sei. Eine Einordnung auf der y-Achse (Entscheidungskonfliktlinie) ist nicht möglich, da auch hier diesbezüglich keinerlei Aussagen getroffen werden. Die Perspektive der Psychoökonomik und ihr didaktischer Wert werden in Kapitel 6.5.2. nähe expliziert.
Dabei geht es didaktisch nicht darum, dass jeder einzelne Problemlösungsvorschlag, jede einzelne Ursachendiagnose, jedes einzelne Argument der beiden Perspektiven im Unter-
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richt thematisiert werden müsste. Deren unten folgende ausführliche Beschreibung soll vielmehr nur diverse didaktische Optionen aufzeigen, aus denen man im sozialwissenschaftlichen Unterricht auswählen kann, wenn man mit diesen gestaltungsorientierten Perspektiven arbeiten will.
FDP
NIÖPerspektive
Die Grünen Die Linke SPD
Psychoökonomische Perspektive
CDU/ CSU
Vertrauen auf die Selbstheilungskräfte des Marktes beim Verbraucherschutz
Ideologische Perspektiven zur Verbraucherpolitik auf der x-Achse des Koordinatenkreuzes von Petrik (2007)
Staat als verbraucherschutzpolitischer Akteur
Abbildung 3:
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6.3.1 Die institutionenökonomische Perspektive 6.3.1.1 Wettbewerbspolitik Im Anschluss an den Ordoliberalismus geht die NIÖ (z.B. Budzinski/Kerber 2003; Erlei/ Leschke/Sauerland 2007: 465f., 470f.; Mitropoulos 1996, 18ff.; Rischkowsky 2007, 57) davon aus, dass dem freien Marktwettbewerb eine Neigung zur Selbstaufhebung in Form von Konzentrationstendenzen mit der Folge oligopolistischer Kartelle oder des Missbrauchs marktbeherrschender Stellungen inhärent sein kann. Derartige Phänomene sollen durch ein gesetzliches Kartellverbot und eine Missbrauchs- sowie Fusionskontrolle unterbunden werden. Mit der Durchsetzung dieser Aufgaben sei jedoch nicht der Staat, sondern eine spezialisierte, von der Tagespolitik unabhängige Institution (Kartellamt) zu betrauen, deren Reputation ausschließlich von ihrer wettbewerbspolitischen Leistungsbilanz abhängt. Auf diese Weise soll das Risiko einer Einflussnahme partikulärer Interessengruppen aus der Wirtschaft minimiert werden. Gestaltungsorientierte Didaktik sollte zunächst – nicht zuletzt durch Kontrast mit planwirtschaftlichen Systemen – die hohe Bedeutung des Wettbewerbs für die im Laufe der Nachkriegsjahrzehnte in Deutschland erreichte ökonomische Lebensqualität der Verbraucher hervorheben. Aufzuzeigen ist, dass Wettbewerb Unternehmen nicht nur Anreize bietet, ihre Angebote möglichst kostengünstig und an den Präferenzen der Verbraucher orientiert anzubieten, sondern dass er insbesondere auch als technischen Fortschritt und Innovationen generierendes „Entdeckungsverfahren“ (Hayek) wirkt. Überdies kann man mit Blick auf die Interdependenz zwischen Politik und Ökonomie verdeutlichen, dass der Wettbewerb insofern auch eine gesellschaftspolitische Funktion besitzt (Budzinski/Kerber 2003, 29), als extreme ökonomische Machtkonzentrationen zu politischen Zwecken missbraucht werden können. Anhand von Fallbeispielen kann man verdeutlichen, dass der Kampf gegen marktbeherrschende Stellungen keine abgeschlossene, sondern eine aktuelle, fortdauernde Aufgabe ist. Hinsichtlich der Auseinandersetzung des Bundeskartellamts mit Kartellen eignen sich hierzu z.B. die sehr anschaulich dokumentierten Verhältnisse in der deutschen Zementindustrie (Kurzlechner 2008, 157-171). Bezüglich des weiteren Problems der Marktmachtkonzentration bietet sich – auch mit Blick auf die Kategorie des Marktversagens infolge natürlichen Monopols – eine Analyse des deutschen Energiesektors unter der Frage an, worin die Ursachen für das zurzeit hohe Strompreisniveau in der BRD zu suchen sind. Dabei kann neben dem Problem der Marktkonzentration auch auf die Diskriminierung konkurrierender Unternehmen beim sog. `verhandelten´ Netzzugang durch die vier vertikal integrierten Stromkonzerne sowie auf das Problem der von den Konzernen aus opportunistischen Gründen (Abschottung des deutschen Marktes gegenüber ausländischen Anbietern) nicht hinreichend ausgebauten grenzüberschreitenden Netzübertragungskapazitäten eingegangen werden. Mit Hilfe gestaltungsorientierter ökonomischer Beiträge (Haslinger 2006; Kemfert/Traber 2008; Monopolkommission 2007) können dann wissenschaftliche Lösungsvorschläge diskutiert werden wie z.B. die Einführung eines Moratoriums für die marktbeherrschenden Unternehmen bzgl. der Erweiterung ihrer Erzeugungskapazitäten und/oder eine strikte eigentumsrechtliche Trennung von Energieerzeugung und Netzbetrieb (vertikale Desintegration) wie z.B. in Großbritannien oder Skandinavien.
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Bei allen Vorteilen des Wettbewerbs sollte die argumentative Balance gewahrt werden. So sollte – quer zur ökonomischen Literatur – mit Blick auf die Kategorie der Ambivalenz (Kapitel 4.4.3.) auch kritisch hinterfragt werden, ob ein maximaler (d.h. polypolistischer) Wettbewerb gesamtgesellschaftlich überhaupt wünschenswert wäre. Angesichts der plausiblen Annahme, dass sich Frequenz und Umfang „schöpferischer Zerstörung“ (Schumpeter) proportional zur Intensität des Wettbewerbs verhalten, kann man dadurch eine differenzierte Einschätzung des recht einseitigen, in der heutigen Ökonomik aber immer noch beliebten46 Diktums von Adam Smith befördern, wonach der Verbrauch allein Zweck einer jeden Produktion sei und die „Status-Quo-Interessen“ der Produzenten nur soweit zu berücksichtigen seien, wie es den Verbrauchern nütze. Denn aus Sicht des Bürgers, der beide Rollen – des Verbrauchers und des Produzenten (Arbeitnehmer / Unternehmer) – in sich vereint, würde maximale schöpferische Zerstörung nicht nur maximal sinkende Preise und maximale Innovation, sondern auch maximalen Arbeits- und Fortbildungsstress, maximale Unsicherheit, maximale Mobilität (d.h. fortlaufendes Herausreißen aus den gewohnten sozialen Zusammenhängen), maximalen faktischen Zwang zur Vernachlässigung anderer Sozialsphären (z.B. Familie, Freundschaften), etc. bedeuten. Es dürfte daher plausibel sein zu vermuten, dass zumindest die Mehrheit der Bürger eher ein mittleres Niveau schöpferischer Zerstörung (und damit an Wettbewerb) bevorzugt. Diese prekäre strukturelle Ambivalenz des (maximalen) ökonomischen Wettbewerbs wird in gängigen institutionenökonomischen Abhandlungen (z.B. Apolte 2006, 38-41), die in ihrer undifferenzierten Glorifizierung des Wettbewerbs menschliches Wohlergehen implizit ausschließlich über Konsum-Maximierung und Konsum-Optimierung definieren, gern völlig vergessen. Angesichts dieser frappierenden Einseitigkeit, derzufolge es offenbar nur eine Wahl zwischen gar keinem Wettbewerb und maximalem Wettbewerb zu geben scheint, ergibt sich an dieser Stelle aus didaktischer Sicht ein Bedarf der Integration von soziologischen (z.B. Bröckling 2007; Jürgens 2009; Rosa 2006) und motologischen Beiträgen (Schröder 2009). Denn diese erläutern zum einen die obige Ambivalenz des maximalen ökonomischen Wettbewerbs und gehen zum anderen auch der wichtigen Frage nach, wie Menschen in ihrer Rolle als Beschäftigte auf die damit einhergehenden, massiven körperlichen und psychischen Belastungen adäquat reagieren können, um eine gesunde Balance zwischen Leben und Arbeiten zu erreichen. Diese `Work-Life-Balance´ ist ein aus Sicht der (späteren) Interessen der Schüler an Lebensqualität überaus gewichtiger Punkt, der mir nicht nur in der Ökonomik, sondern auch in der ökonomischen Bildung stark vernachlässigt zu werden scheint. Warum eigentlich? Selbstverständlich ist es eine ganz andere Frage, ob aus dieser Ambivalenz Konsequenzen für die hier im Mittelpunkt stehende Wettbewerbspolitik i.e.S. folgen, denn diese sollte wohl in erster Linie das Wohl des Verbrauchers im Auge haben. Überdies neigen Märkte schon aus Effizienzgründen zur Bildung von Oligopolen, und die deutsche / europäische Wettbewerbspolitik strebt aus guten Gründen keine Polypole, sondern lediglich die Verhinderung marktbeherrschender Stellungen an. In diesem Kontext kann herausgestellt werden, dass die Wettbewerbspolitik eines Kartellamtes oft einen schwierigen Abwägungsprozess darstellt. Unternehmensfusionen und selbst hohe Marktanteile von Unternehmen in einer bestimmten Branche sind nicht per se negativ zu beurteilen. Denn damit können Effizienz-, d.h. Größenvorteile und daraus resultierende Preissenkungsspielräume verbunden sein. Etablierte Großunternehmen können 46
Vgl. z.B. Rischkowsky 2007, 19; von Weizsäcker 2003, 16ff.
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auch durch potentiellen Wettbewerb, d.h. durch die Möglichkeit des Eintretens neuer Unternehmen in den Markt oder durch die Errichtung neuer Märkte mit substitutiven Produkten zum Angebot preisgünstiger und innovativer Angebote veranlasst werden (Theorie des bestreitbaren Marktes). Zudem kann man vermuten, dass Großunternehmen eher in der Lage sind, die für Innovationen kostenintensive Forschung zu finanzieren. Wenn man will, kann man diese Aspekte mit Blick auf das Kontroversitätsprinzip durch einen Vergleich zwischen der NIÖ und der sog. Chicago School vertiefen. Letztere vertraut aufgrund der gerade genannten Einwände in weitaus stärkerem Maß auf die Selbstheilungskräfte des Marktes, mahnt daher eine deutliche Zurückhaltung wettbewerbspolitischer Eingriffe an und wäre somit im Petrikschen Koordinatenkreuz sehr weit rechts zu verorten, da sie zudem auch staatliche Verbraucherpolitik (nahezu) vollständig ablehnt (Mitropoulos 1996, 81ff.). Vertreter der NIÖ wenden gegen die Chicago School unter Berufung auf neuere empirische Studien ein, dass marktbeherrschende Unternehmen kaum Anreize besitzen, Effizienzgewinne über Preissenkungen an die Verbraucher weiterzugeben und ihr Innovationspotential auszunutzen, zumal sich viele Märkte durch hohe natürliche Markteintrittsbarrieren auszeichnen bzw. von den etablierten Großunternehmen selbst errichtet werden (z.B. vorübergehende Niedrigpreisstrategien) (Budzinski/Kerber 2003, 68ff.). Angesichts der Zeitknappheit des sozialwissenschaftlichen Unterrichts und dem Gebot, dass dieser kein VWL-Studium vorwegnehmen soll, erscheint es jedoch sinnvoller, anstelle dieser schnell zu komplizierten Detailfragen führenden wissenschaftlichen Kontroverse einen anderen didaktischen Schwerpunkt zu setzen, der die Interdependenz zwischen Politik und Wirtschaft in diesem Politikfeld in den Fokus rückt. Denn das didaktische Ziel des sozialwissenschaftlichen Unterrichts besteht hier nicht darin, Kompetenzen für eine eventuelle spätere Tätigkeit in einer Kartellbehörde anzubahnen, sondern die (jungen) Bürger als (künftiger) Teil der gesellschaftlichen Öffentlichkeit47 für die Gefahren der Unterminierung des Wettbewerbs durch aktives Zutun oder passives Gewährenlassen seitens der Politik zu sensibilisieren. Mit Blick auf die nachhaltige Sicherung des Wettbewerbs als einer grundsätzlichen Voraussetzung ökonomischer Lebensqualität ist es daher wichtig, der Illusion der Ontologie und dem damit verbundenen (unbewußten) funktionalistischen Fehlschluss vorzubeugen, die Existenz einer wirkmächtigen Wettbewerbsgesetzgebung und eines potenten, autonom entscheidenden Kartellamtes in der BRD sei mehr oder weniger selbstverständlich, da sie ja schließlich zu gesamtgesellschaftlich positiven Wirkungen führe. Demgegenüber kann zum einen vor Augen geführt werden, dass der Schutz des Wettbewerbs in Deutschland historisch in den Nachkriegsjahrzehnten erst in einem harten politischen Ringen nach und nach erkämpft werden musste und lange Zeit am seidenen Faden hing. Zum anderen kann man durch eine Analyse des gegenwärtigen institutionellen Arrangements herausarbeiten, dass der ökonomische Wettbewerb auch heutzutage jederzeit von politischen Entscheidungen bedroht werden kann und partiell auch wird, zumal entsprechende Initiativen nicht selten von der Politik selbst ausgehen (Ortwein 1998, 226ff.; Kurzlechner 2008, 196ff.). Wie Hedtke (2005b, 14) zu Recht an der vom Bildungsministerium in NRW herausgegebenen didaktischen Handreichung für die ökonomische Schwerpunktbildung im Fach Sozialwissenschaften moniert hat, sollte die integrationsdidaktische Per47 Zur Bedeutsamkeit einer sensiblen Öffentlichkeit für eine effektive Wettbewerbspolitik siehe Mattes (2004, 304).
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spektive daher nicht wie dort (vgl. MSJK 2004, 18) „Warum schützt der Staat den Wettbewerb?“ lauten, sondern vielmehr „Schützt der Staat den Wettbewerb?!“ Um diese didaktische Aufgabe umsetzen zu können, ist fachdidaktische Integration erforderlich, d.h. eine entsprechende Erweiterung der oben aufgeführten institutionenökonomischen Analysen zu den wirtschaftlichen Voraussetzungen und Folgen des Wettbewerbs durch einige rechtswissenschaftliche, politikwissenschaftliche und wirtschaftshistorische Studien (Jäckering 1977; Kurzlechner 2008; Mattes 2004; Ortwein 1998; Robert 1976), die sich in ebenso ausführlicher wie systematischer Weise mit der Interdependenz zwischen politischem und wirtschaftlichem System in diesem Politikfeld auseinandersetzen. So können zugleich die Interessenkonflikte (Kapitel 4.3.) in diesem Politikfeld sichtbar werden. Theoriegeleitet kann man dann empirisch prüfen, inwieweit sich die Olsonsche These einer gemeinwohlschädlichen politischen Dominanz von Produzenteninteressen gegenüber Konsumenteninteressen in der deutschen Wettbewerbspolitik bewahrheitet. So lässt sich am Prozess des politischen Zustandekommens des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) von 1957 – das sog. Grundgesetz der Marktwirtschaft – aufzeigen, wie es einem schlagkräftigen Verband wie dem BDI, dessen Mitglieder Kartellverbot und Fusionskontrolle aus eigennützigen Interesse scharf und lautstark ablehnten, vor dem Hintergrund einer (wettbewerbspolitisch) apathischen Öffentlichkeit (Robert 1976: 384, 386) gelingen konnte, die Wirksamkeit des Gesetzes durch das Einfügen zahlloser Ausnahmeklauseln, unbestimmt-vager Rechtsbegriffe und v.a. den Verzicht auf die Fusionskontrolle in hohem Maße zu torpedieren (Jäckering 1977, 33; Kurzlechner 2008: 12, 71f.; Mattes 2004, 31; Ortwein 1998: 71, 81, 269; Robert 1976: 344ff., 375ff.). Dass es trotz des massiven Widerstands der „einflussreichen Ohrenbläser des Kanzlers Adenauer“ (Ortwein 1998, 75) überhaupt zu einem Kartellverbot kam, ist letztlich nur dem ausgeprägten ideologischen Engagement des damaligen Wirtschaftsministers (Ludwig Erhard) geschuldet (Ortwein 1998: 81, 269, 273). Selbst dieser musste jedoch erst zur offenen Rücktrittsdrohung greifen. An diesem Beispiel lässt sich zudem vermitteln, dass sachpolitische Konfliktlinien faktisch oft nicht zwischen Regierung und Opposition verlaufen, sondern vielmehr verschiedene parteiübergreifende Lager voneinander trennen. Aus machtpolitischen Gründen wird jedoch dennoch darauf verzichtet, das sachpolitisch für richtig Erachtete durch Koalitionen mit der Opposition gegen den eigenen Widerstand im Lager der Regierungsparteien durchzusetzen. So wäre es Erhard und seinen Verbündeten im Lager der CDU grundsätzlich möglich gewesen, seinen ursprünglichen, wettbewerbspolitisch schärferen Gesetzesentwurf, der im CDU/CSU/FDP-Lager intern stark umstritten war, durch Zusammenarbeit mit der SPD zu stärken (Robert 1976, 385), die seinen Entwurf befürwortete. Demgegenüber wurde im Regierungslager jedoch der Abgrenzung von der Opposition und der Demonstration parteipolitischer Geschlossenheit vor den anstehenden Wahlen durch sachpolitische Kompromissbildung – und damit starke inhaltliche Verwässerung des Gesetzes – der Vorzug gegeben (ebd.). Auf diese Weise kann mit Blick auf das Urteilskriterium der politischen Durchsetzbarkeit (Kapitel 4.4.1.) exemplarisch veranschaulicht werden, dass der Politikzyklus eben keine reine Kette von Versuchen zur Bewältigung von inhaltlichen Problemen darstellt, sondern oft hochgradig von machtpolitischen Motiven durchsetzt ist. Dass die sich 1957 manifestierende „Herrschaft der Verbände“ (Eschenburg) und damit auch die Olsonsche Theorie jedoch kein Naturgesetz der Politik darstellt, zeigt die
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zweite Novellierung des GWB von 1973, welche nach Einschätzung von Robert (1976, 389) bzw. Ortwein (1998, 193) die Fehler der Vergangenheit korrigierte und einen entscheidenden Kompetenzzuwachs für das Bundeskartellamt darstellt. Diese Novelle ergänzte das Gesetz um ein Verbot vertikaler Preisbindungen und insbesondere um eine wirksame Fusionskontrolle. Neben einer verstärkten Missbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen wurde das Kartellamt zudem in die Lage versetzt, auch ohne den Nachweis einer formellen Absprache gegen gleichförmige Preiserhöhungen vorzugehen (Jäckering 1977; Kurzlechner 2008, 96ff.; Mattes 2004, 33ff.). Am bemerkenswerten Unterschied zwischen 1957 und 1973 lässt sich didaktisch die Bedeutung aufzeigen, die dem gesellschaftlichen Klima und dem politischen Engagement der Öffentlichkeit für die Richtung gerade auch ökonomischer Gesetzgebungsprozesse zukommt. Denn die Intensität des Widerstands des BDI gegen ein wirksames Wettbewerbsgesetz erwies sich Anfang der 70er zwar so ausgeprägt wie zuvor, doch die politische Kultur war inzwischen eine andere: „Die Einführung der Fusionskontrolle 1973 sollte nicht isoliert von den gesellschaftlichen Umbrüchen der späten 1960er und 1970er Jahre gesehen werden. Es sei daran erinnert, dass die später als `1968er´ bezeichneten Protestbewegungen … ein öffentliches Klima schufen, in dem Konzerne zunehmend kritisch betrachtet wurden. (…) Dass die Fusionskontrolle 1973 … noch einmal verschärft wurde, bleibt ohne einen Blick auf politische Faktoren unverständlich. (…) Die Wähler bestätigten Willy Brandt als Bundeskanzler und die sozialliberale Koalition eindrucksvoll. Als Nachwirkung der Studentenbewegung rückte auch eine Partei wie die FDP … nach links. Ihr wirtschaftsliberaler Flügel verlor in den frühen 1970er Jahren merklich an Einfluss.“ (Kurzlechner 2008: 100, 104). „Für ein aktives `Sendungsbewusstsein´ der Kartellamtsbeamten sind vielmehr politische Rahmenbedingungen maßgebend. Die Einführung der Fusionskontrolle war … auch auf die Kritik des `linken politischen Spektrums´, das die Glaubwürdigkeit der marktwirtschaftlichen Ordnung anzweifelte, zurückzuführen.“ (Ortwein 1998, 253)
Die Einführung der Fusionskontrolle brachte jedoch zugleich auch eine neue Institution mit sich, die bis heute sowohl politisch als auch wissenschaftlich kontrovers beurteilt wird (Mattes 2004, 17f.): die sog. Ministererlaubnis (§ 42 GWB). Diese versetzt den Wirtschaftsminister in die Lage, auf Antrag der Unternehmen eine vorherige Untersagung einer Fusion durch das Bundeskartellamt aufzuheben, sofern aus Sicht des Ministers anderweitige gesamtwirtschaftliche Vorteile die negativen Folgen der Wettbewerbsbeschränkung überwiegen. Aufgrund der inhaltlichen Unbestimmtheit der zulässigen Entscheidungskriterien im Gesetz verfügt der Minister dabei über einen weiten Ermessensspielraum, zumal seine inhaltlichen Begründungen gerichtlich nicht anfechtbar sind. Didaktisch kann diesbezüglich zur Förderung kritischen Denkens herausgearbeitet werden, dass diese Institution insofern grundsätzlich problematisch erscheint, als sie der unsachgemäßen Einflussnahme partikularer Interessen aus der Wirtschaft auf die Fusionskontrolle Vorschub leisten kann (Mattes 2004: 24, 59f., 266f.; Roth/Voigtländer 2002: 233, 249). Im Anschluss an Kahsnitz (2005b, 131) bietet es sich didaktisch deshalb an, die Effizienz und Legitimität dieser Institution zu erörtern, zumal sie einen zentralen Ort der Interdependenz zwischen Wirtschaft und Politik bildet.
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So lässt sich anhand der gut 30jährigen Praxis der Ministererlaubnis feststellen, dass sich die jeweils vom Ministerium vorgebrachten Gemeinwohlargumente und die damit verbundenen Prognosen i.d.R. weder ex ante als theoretisch überzeugend noch ex post als empirisch zutreffend erwiesen haben (Mattes 2004: 155, 163, 266, 272; Kurzlechner 2008, 288). Unter den zahlreichen Begründungen sollte didaktisch v.a. auf das Arbeitsplatzargument sowie auf das damit teilweise zusammenhängende Argument der internationalen Wettbewerbsfähigkeit eingegangen werden, da diese fast bei jeder Erlaubnis vom Ministerium geltend gemacht wurden (Mattes 2004, 88) und bei den Schülern wohl gewissen Anklang finden dürften. Im Sinne kritischer Aufklärung wäre hier jedoch herauszuarbeiten, dass Fusionen als auf Rationalisierung setzende Maßnahmen i.d.R. auf einen Abbau von Arbeitsplätzen gerichtet sind. Genau dies zeigte auch die nachträgliche empirische Entwicklung aller von einer Ministererlaubnis betroffenen Fusionen. Zudem führen die absehbaren Preis- und damit Kostenerhöhungen im Falle einer vom Kartellamt prognostizierten marktbeherrschenden Stellung des fusionierten Unternehmens i.d.R. zu Arbeitsplatzverlusten in anderen Branchen, was sich z.B. an den Auswirkungen der hohen Strompreise auf die deutsche Aluminiumindustrie veranschaulichen lässt. Hinsichtlich des in der Politik beliebten Arguments der Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit durch den Aufbau von `nationalen Champions´ wäre zudem ein didaktischer Perspektivenwechsel sinnvoll. Dieser zeigt, dass dieses neomerkantilistische Argument zum einen mit Blick auf die Bürger anderer Staaten kaum verallgemeinerungsfähig ist (in der Kohlbergschen Systematik des moralischen Urteils wäre es auf Stufe 4 zu verorten) und zum anderen mittelfristig entsprechende Gegenreaktionen derselben Art seitens anderer Staaten provozieren dürfte. Insofern ergibt sich ein internationales Nullsummenspiel, das zu einem grenzüberschreitenden `Race-to-the-Bottom´ wettbewerbspolitischer Standards führen und damit den Bürgern aller Staaten zum Schaden gereichen würde. Solche internationale Dilemmasituationen verweisen auf die seit den 90er Jahren zunehmende Europäisierung der Wettbewerbspolitik, welche im Kontext von Kapitel 7.2.2. analysiert wird. Die obige Problematik relativierend liesse sich zwar einwenden, dass die Ministererlaubnis bisher insgesamt nur sehr zurückhaltend genutzt wurde und die Fusionskontrolle als insgesamt relativ erfolgreich bezeichnet werden kann (Ortwein 1998: 200, 272f.). Doch fehlen der Institution Sicherheitsmechanismen, die gewährleisten, dass diese Zurückhaltung in der Vergangenheit auch in der Zukunft gegeben sein wird (Mattes 2004). Vielmehr zeigt die außerordentlich zweifelhafte Begründung der vom Ministerium – gegen die Entscheidung des Kartellamtes und gegen das Gutachten der Monopolkommission – durchgesetzten Eon-Ruhrgas-Fusion im Jahre 2002, dass eine restriktive Auslegung der Ausnahmegenehmigung nicht mehr ohne weiteres gewährleistet ist (Mattes 2004, 120; Roth/Voigtländer 2002), zumal „zwischen den Energieriesen und Politikern jeglicher Couleur eine befremdliche Nähe gewachsen ist“ (Kurzlechner 2008, 254). So wurde in diesem Fall vom Ministerium, dessen Hauptakteure (ehem. Wirtschaftsminister Müller und Staatssekretär Tacke) wenige Monate nach der Entscheidung in den Vorstand von mit eon über Kapitalbeteiligungen verflochtenen Unternehmen wechselten, die Versorgungssicherheit mit Energie als Begründung herangezogen. Diese lässt sich jedoch, worauf die Internationale Energieagentur hinwies, vielmehr durch eine stärkere Diversifikation der Importländer und Transportmöglichkeiten gewähr-
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leisten. In der durch die Fusion beförderten Abhängigkeit von einem einzigen Großunternehmen kann man eher eine Gefahr für die Versorgungssicherheit erblicken (Roth / Voigtländer 2002, 244; Mattes 2004, 127ff.). Zudem wurde das Argument der internationalen Wettbewerbsfähigkeit vom Ministerium nun vollends überdehnt, indem schon eine bloße zusätzliche Stärkung eines ohnehin bereits sehr wettbewerbsfähigen deutschen Unternehmens und nicht wie in der früheren Interpretationspraxis die Sicherung der Teilnahme eines deutschen Unternehmens am internationalen Wettbewerb als Rechtfertigung der Ausnahmegenehmigung ausreichen sollte (Mattes 2004, 117ff.; Roth/Voigtländer 2002, 245). Angesichts der heutigen Hochpreissituation auf dem Energiemarkt, zu der diese Fusion ihren Teil beigetragen hat (Monopolkommission 2007, 18), kann man an diesem Fallbeispiel, das für die „manchmal skandalösen, meist kurzsichtigen [wettbewerbspolitischen] Projekte der politischen Klasse“ (Kurzlechner 2008, 288) repräsentativ ist, exemplarisch die Problematik idealistischer Politikzyklus-Modelle wie bei Detjen/Kruber (2007, 26) und das Paradox der problemverursachenden Politik aufzeigen (Kapitel 4.2.). Denn Eon/Ruhrgas ist kein Einzelfall: „Vor allem im Fall Daimler/MBB untermauerten Bangemann und andere Regierungsmitglieder auf skandalöse und stillose Weise, dass ihnen die gesetzlich verankerte Funktion des Kartellamts schnuppe war.“ (Kurzlechner 2008, 198)
Gestaltungsorientiert wäre daher zu erörtern, was politisch zur Senkung der Gefahr künftiger Missbräuche getan werden könnte. Manche Ökonomen plädieren für eine völlige Abschaffung der Ministererlaubnis (Roth/Voigtländer 2002). Integrationsdidaktisch kann man jedoch unter Rückgriff auf rechtswissenschaftliche Analysen (Mattes 2004, 277ff.) auf eine mögliche unbeabsichtigte Nebenfolge (Kapitel 4.4.2.) dieses Vorschlags aufmerksam machen. Zu bedenken ist nämlich, dass Wirtschaftsministerium und Kartellamt verwaltungsrechtlich in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen, was ersterem das Recht zu einer nicht veröffentlichungspflichtigen Einzelweisungsbefugnis an letzteres verschafft. Daher besteht die Gefahr, dass ein der Ministererlaubnis beraubtes Wirtschaftsministerium sich auf diesem (bisher nur selten genutzten) Weg verdeckten Einfluss auf die Entscheidungen des Kartellamts verschaffen und dessen Gutachten verzerren würde, sodass die Öffentlichkeit über die tatsächlichen wettbewerbspolitischen Verhältnisse im jeweiligen Fall uninformiert bliebe. Somit müsste man weitergehen und – wie bereits der erste Präsident des Bundeskartellamts (Eberhard Günther) – für das Kartellamt den Status eines weisungsfreien Bundesorgans ähnlich wie bei der Bundesbank einfordern (Ortwein 1998, 117f.). Dies muss in langfristiger Sicht – entsprechenden öffentlichen Druck vorausgesetzt – nicht per se utopisch anmuten, denn in vielen OECDStaaten ist auch der heute fast schon als selbstverständlich hingenommene Unabhängigkeitsstatus der jeweiligen Zentralbank erst im Laufe der 80er und 90er Jahre institutionalisiert worden.
6.3.1.2 Informationspolitik Unter Rückgriff auf das v.a. von Akerlof (1970) eingeführte Denkschema der asymmetrischen Information sieht die NIÖ einen Teil des Dienstleistungs- und Konsumgütermarktes
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auch bei hinreichendem Wettbewerb von Marktversagen bedroht (Hagen/von Schlippenbach 2007; Mitropoulos 1996, 334ff.; Rischkowsky 2007, 63ff.; Sinn 2003b, 282ff.). Dabei handelt es sich um Märkte für Erfahrungs- und Vertrauensgüter, deren Produktqualität sich für den Verbraucher erst (lange) nach dem Erwerb bzw. gar nicht (in vollem Umfang) offenbart. Da Verbraucher die Produktqualität in diesem Marktsegment im Gegensatz zu den spezialisierten Produzenten nicht zuverlässig beurteilen könnten und die Nachfrager mit dem Opportunismus der Anbieter zu rechnen haben, seien erstere nur zur Zahlung relativ niedriger Preise bereit. Aufgrund dessen lohne es sich für Anbieter hoher Produktqualität nicht, am Markt tätig zu bleiben bzw. zu werden, sodass mittelfristig nur noch Anbieter niedriger Produktqualität anzutreffen sind, obwohl zumindest ein Teil der Kunden ein grundsätzliches Interesse an einer hohen Produktqualität besitzt und bereit wäre, einen entsprechenden Preis dafür zu zahlen. Angesichts hoher Transaktionskosten sei es für die Verbraucher bei komplexen Produkten sinnlos, die Informationsasymmetrie durch eigene aufwändige Nachforschungen zu senken (Mitropoulos 1996, 338; Rehberg 2003, 253). Das Konzept der Informationsasymmetrie ist jedoch insofern keine spezifisch `ökonomische´ Kategorie, als diese Heuristik auch aktuellen politikwissenschaftlichen Studien zum Verbraucherschutz zugrundeliegt. So untersucht Schwan (2009) am Beispiel des Lebensmittelsektors die Frage, inwieweit das gegenwärtig von der Politik proklamierte Leitbild des informierten Verbrauchers der Realität entspricht, wobei er zu dem Ergebnis kommt, dass dies aufgrund von menschlichen Restriktionen bei der Informationsverarbeitung und gleichzeitig mangelnder Produkttransparenz weitgehend nicht der Fall ist. Diese `politologische´ Studie eignet sich gut, den Sinn einer angeblich rein `ökonomischen´ Kategorie anhand einer Reihe von Beispielen exemplarisch zu verdeutlichen. Beispielsweise fehlten bei 53% der verpackten Lebensmittel gesundheitlich wichtige Angaben zum Zucker-, Fett- und Salzgehalt, da es bisher keine generelle gesetzliche Verpflichtung dazu gibt, obwohl eine deutliche Mehrheit der Konsumenten eine leicht verständliche Kennzeichnungspflicht für Lebensmittel mit hohem Fett- oder Zuckergehalt wünscht (Schwan 2009, 108ff.). Zudem zeigt der Autor die Bedeutung der gestaltungspolitischen Maßnahme der Lebensmittelkontrolle zur Reduktion von Informationsasymmetrien anhand der Tatsache auf, dass die Umetikettierung von Mindesthaltbarkeitsdaten in einigen deutschen Supermärkten offenbar gängige Praxis ist und bei Kontrollen immer wieder ein relativ hoher Prozentsatz an Lebensmitteln gefunden wird, der den gesetzlichen Standards nicht genügt (z.B. Spritzmittelrückstände in Obst und Gemüse) (ebd., 224-250). Dabei wird auch das Phänomen des Staatsversagens deutlich, wenn die Lückenhaftigkeit des derzeitigen staatlichen Kontrollsystems oder die mangelnde Regulierung von bestimmten neuartigen Zusatzstoffen kritisch beleuchtet wird (ebd.: 228, 232, 234). Des Weiteren leide die Qualitätstransparenz im Lebensmittelsektor unter einer staatlich völlig unzureichend regulierten Qualitätssiegel-Inflation. Dies ist ein gutes Beispiel für Marktversagen, da jeder Anbieter mit (substantiell gehaltlosen) Qualitätssiegeln am Markt auftreten kann und auch muss, wenn er im Wettbewerb nicht ins Hintertreffen geraten will, denn Produkte ohne Siegel fallen negativ auf (ebd., 115ff.). In gestaltungspolitischer Hinsicht leitet Schwan hieraus die Forderung nach der ausschließlichen Zulassung von öffentlich regulierten Qualitätssiegeln ab, deren Kriterien tatsächlich über ohnehin heute schon bestehende gesetzliche Mindestanforderungen hinausgehen und die nicht von Wirtschaftsunternehmen, sondern von einer öffentlich-rechtlichen Institution definiert werden (ebd., 116).
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Wie auch die beiden folgenden Teil-Kapitel zeigen, ist die Informationsasymmetrie somit eine (weitere) wichtige Ausgangsbasis bei der didaktischen Analyse der gestaltungsorientierten Frage nach der Sicherung der Lebensqualität der Verbraucher. Dabei sollte hervorgehoben werden, dass es sich hierbei nicht so sehr um ein ethisch-persönlichkeitsbedingtes Problem von vermeintlich zwangsläufig `amoralischen Kapitalisten´ als vielmehr in erster Linie um ein systemisch-institutionelles Problem der Marktwirtschaft handelt, da auch sehr verantwortungsbewusste Anbieter mit hoher Qualität – zumindest im Akerlofschen Modell – keine ökonomische Überlebenschance besitzen. In gestaltungspolitischer Hinsicht ziehen Vertreter der NIÖ aus dem Problem der Informationsasymmetrie den Schluss, dass staatliche Verbraucherpolitik die Markttransparenz durch Bereitstellung zusätzlicher, neutraler Informationen erhöhen sollte (Mitropoulos 1996, 24; Rischkowsky 2007, 73ff.; Sinn 2003b, 289; Hagen/von Schlippenbach 2007, 400). Neben normierten Informationspflichten für die Anbieter werden deshalb insbesondere „massive staatliche Unterstützungsleistungen für Institutionen, die Informationen über objektive Produkteigenschaften sammeln und verbreiten“ (Sinn 2003b, 291; meine Hervorhebung) eingefordert. Ähnliches befürwortet der Politologe Schwan (2009, 270). Hans-Werner Sinn (2003b, 290) fordert konkret, die Stiftung Warentest zu einer staatlich anerkannten Qualitätsbehörde auszubauen, die „in sehr viel größerem Maße als bislang“ (ebd., 290) eine breitere Produktpalette prüft und dabei ein einheitliches, dreistufiges Qualitätsgütesystem etabliert, das verschiedenen Verbrauchergruppen eine maximale und verlässliche Wahlfreiheit bzgl. der Selektion unterschiedlicher Preis-Qualitäts-Kombinationen verschafft (Sinn 2003b, 290ff.; Rischkowsky 2007, 74; Mitropoulos 1996, 25). Solche Forderungen können kritisch diskutiert werden. Denn die Orientierung der gestaltungsorientierten Didaktik am Wert der Lebensqualität bedeutet nicht, vorschnell nach einem maximalen Verbraucherschutz durch den Staat zu rufen, sondern zu prüfen, inwieweit dieser tatsächlich erforderlich ist. So lässt sich mit Blick auf das Prinzip der Kontroversität der obigen Argumentation wiederum die Sichtweise der Chicago School entgegenhalten. Diese verweist zum einen darauf, dass sich die Informationsasymmetrie auf Märkten für Erfahrungsgüter durch den Reputationsmechanismus in Folge von Wiederholungskäufen und des Erfahrungsaustauschs im Rahmen privater sozialer Netzwerke von selbst abbauen kann. Zum anderen steht es den Anbietern von Erfahrungsgütern offen, ihren Kunden mittels freiwilliger Garantieleistungen auf glaubwürdige Weise eine hohe Qualität ihrer Produkte zu signalisieren. Dasselbe gilt für die Etablierung von marktübergreifenden Markenprodukten. Darüber hinaus wird in Frage stellt, warum die Bereitstellung von vergleichenden Produktqualitätsinformationen bei Erfahrungs- und Vertrauensgütern unbedingt staatlich finanziert werden muss. Denn bei entsprechender Zahlungsbereitschaft der Verbraucher etablieren sich hierfür entsprechende private Test-Institute (die man ggf. staatlich regulieren bzw. zertifizieren kann). Didaktisch ist an dieser Stelle ins Gedächtnis zu rufen, dass auch staatliche Informationen durch Steuern finanziert werden müssen (und damit auch von solchen Bürgern, die kaum Interesse an derartigen Informationen haben). Vertreter der NIÖ erkennen die Wirkkraft der ersten vier Gegenargumente durchaus als „erheblich“ (Sinn 2003b, 286) an (Mitropoulos 1996, 339f.; Rischkowsky 2007, 67ff.; Sinn 2003b, 284ff.), halten aber letztlich dennoch an ihrer obigen Forderung fest. Dies begründen sie in erster Linie mit der These, dass Verbraucher, die sich gegen Entgelt vergleichend-objektivierende Produktinformationen besorgen und diese bei ihrer Produktwahl zugrunde legen, dazu beitragen, dass sich auf dem jeweiligen Produktmarkt ein hohes Qua-
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litätsniveau durchsetzt und auf diese Weise positive Externalitäten für andere Verbraucher generieren, die keine derartigen Kosten auf sich nehmen (Rischkowsky 2007, 71ff.). Dies rechtfertige „massive“ Subventionen (Sinn 2003b, 290f.). Dieses distributive Gerechtigkeitsargument wird z.T. mit dem allokativen Effizienzargument ergänzt, wonach der Teil der grundsätzlich informationswilligen Verbraucher auf einem rein privaten Informationsmarkt zu wenig vergleichend-objektivierende Informationen nachfrage, weil sie sich in Folge des Free-Ridings der nicht engagierten Nachfrager nun höheren Kosten beim Erwerb dieser Informationen ausgesetzt sehen (Mitropoulos 1996, 328). Zudem wird – entgegen dem Rationalitätspostulat – darauf verwiesen, dass vergleichende Produkttests ein meritorisches Gut darstellen würden, da Verbraucher mit geringer Bildung deren Wert unterschätzen (ebd., 329f.). All diese Argumente kann man didaktisch kritisch diskutieren: Schränken grundsätzlich informationswillige Verbraucher ihre Nachfrage nach Informationen in signifikanter Weise ein, wenn die Zeitschrift von Stiftung Warentest bei fehlender Subvention (etwas) teurer ist, sodass es häufiger zu Marktversagen auf den Produktmärkten kommt? Schätzen Verbraucher mit geringer Bildung den Wert von objektiven Produktinformationen höher ein, wenn Test-Zeitschriften durch staatliche Subventionen (etwas) billiger werden? Möglicherweise sind staatliche Subventionen in diesem Bereich aber dennoch angebracht, und zwar aus sozialkonstruktivistischen Gründen, d.h. weil ein staatlich gefördertes, öffentlichkeitswirksames Informationsangebot womöglich erst eine breitenwirksame Nachfrage nach Informationen – und damit so etwas wie ein „aufgewecktes Konsumklima“ – schafft, indem sie einer anderenfalls eher passiven Bürgerschaft nachhaltig verdeutlicht, wie wichtig es ist, gekaufte Produkte kritisch zu prüfen. Andererseits: Warum sollte es privaten Testvergleichsinstituten nicht gelingen, eine derartige `Kultur´ zu kreieren? Unabhängig davon macht die `politologische´ Untersuchung von Schwan (2009, 168ff.) deutlich, dass es nicht ausreicht, lediglich Informationsasymmetrien zwischen (beschränkt) rationalen Konsumenten und den Anbietern zu beseitigen. Vielmehr geht es auch um die regulative Verhinderung der Manipulation von unkritischen, leichtgläubigen Verbrauchern durch suggestive Informationen seitens der Anbieter wie anhand der sog. „Health-Claims-Verordnung“ erkennbar wird. Diese verbietet seit kurzem irreführende gesundheitsbezogene Werbebotschaften zu Lebensmitteln, wenn diese nicht zutreffen und/oder über ein faktisch insgesamt problematisches Nährwertprofil des Produkts hinwegtäuschen. Während sich der (beschränkt) rationale Verbraucher aus volkswirtschaftlichen Lehrbüchern von derartigen „Claims“ nicht beeinflussen lässt, vertrauten 70% der real existierenden Konsumenten diesen Behauptungen ohne nähere Prüfung; 52% von ihnen fühlten sich speziell durch „Health Claims“ gar zum Kauf des betreffenden Produkts animiert. Weitere Beispiele für die Manipulierbarkeit des Verbrauchers sind z.B. erhöhte Umsatzzahlen bei ruhiger Hintergrundmusik und bei regelmäßigen Standortwechseln der Produkte (ebd., 215). Um die gleichwohl hohe Bedeutung der Problematik der Informationsasymmetrie für die Lebensqualität exemplarisch herauszustellen, bietet sich didaktisch insbesondere eine gestaltungsorientierte Auseinandersetzung mit dem deutschen Markt für Versicherung an. Denn dieser stellt ein für alle Schüler später unabdingbares, komplexes Erfahrungs- bzw. Vertrauensgut par excellence dar und beschäftigt sich mit einer zentralen ökonomischen Kategorie: dem Risiko. Eine rechtswissenschaftliche Analyse dieses Marktes (Rehberg 2003) ist gut geeignet, wie auch schon im vorigen Teilkapitel (bei der Erörterung der Mi-
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nistererlaubnis) durch die Problematisierung der gegenwärtigen ökonomischen Realität ein kritisches Denken in ordnungspolitischen Zusammenhängen (Kruber 2005, 93) sowie Selbst- und Mitbestimmungsfähigkeit zugleich zu fördern. Es zeigt sich nämlich, dass die derzeitige institutionelle Rahmenordnung des deutschen Versicherungsmarktes nicht den Bedürfnissen der Versicherungsnehmer entspricht, letztere sich dieser Problematik aber nur unzureichend bewusst sind. Der Anlageskandal bei der „Göttinger Gruppe“ (Öchsner 2007a + b) zeigt exemplarisch, wohin dies führen kann. Auf dem Versicherungsmarkt trifft eine begrenzte menschliche Informationsverarbeitungskapazität auf eine – seit der Deregulierung der vormals standardisierten Versicherungsbedingungen – hohe Komplexität des Produkts (Rehberg 2003, 30ff.), die einem – bereits beobachtbaren – verdeckten Abbau des Deckungsumfangs Vorschub leistet (ebd.: 42, 66). Zugleich sind viele deutsche Verbraucher laut empirischen Studien – entgegen dem Rationalitätspostulat – trotz objektiver Informationsüberlastung subjektiv fälschlicherweise davon überzeugt, eine gute Wahl getroffen zu haben; objektiv schlechte Entscheidungen werden nicht als solche erkannt (ebd., 59). Überdies schätzen sie ihre Versicherungsrisiken und deren Bedeutung häufig falsch ein (ebd., 255). Aufgrund dessen besitzt die Auseinandersetzung mit diesen verzerrten Wahrnehmungsstrukturen im Unterricht und die präventive Verankerung einer entsprechenden kritischen Selbstreflexivität eine hohe didaktische Relevanz. Von überwiegend rational und effizienten Verhaltensweisen wie im optimistischen Marktmodell von Karpe (2001, 67) für derartige Situationen behauptet kann jedenfalls keine Rede sein – im Gegenteil. Für die Schulung der Selbstbestimmungsfähigkeit in diesem Sinne ist überdies die Vermittlung der kontraintuitiven Erkenntnis wichtig, dass auch die starke soziale Einbettung der Versicherungsvermittlung in Freundes- und Verwandtschafts-Netzwerke an dieser Problematik wenig ändert, denn das hohe – aber trügerische – Vertrauen führt hier oft zu kostspieligen Fehlentscheidungen (Rehberg 2003, 259). Zur repräsentativen Veranschaulichung dieses Sachverhalts kann man z.B. das in der SZ vom 04.07.2007 dargestellte Fallbeispiel zum Versicherungsskandal der „Göttinger Gruppe“ nutzen. Viele deutsche Bürger sind daher unangemessen und ungünstig versichert, weil die über die Verkaufsprovisionen bzw. –courtagen der Versicherungsunternehmen gesetzten opportunistischen Verhaltensanreize für Versicherungsagenten und –makler nicht selten im Widerspruch zu den Bedürfnissen der Versicherungsnehmer stehen (ebd., 290ff.). Eine offene, neutrale Beratung findet kaum statt, weil es vielen Verbrauchern zum einen an Problembewusstsein mangelt. Zum anderen sind die monetären Anreize für die Verbraucher gering, denn die entgeltliche Inanspruchnahme der wenigen, tatsächlich unabhängigen Versicherungsberater befreit den Kunden nicht von der Finanzierung der in der Versicherungsprämie enthaltenen Provision (doppelte Vergütung infolge des gesetzlichen Provisionsabgabeverbots) (ebd., 265). Um nicht wie manche Unterrichtsvorschläge (z.B. Steinbrecher 2005) bei der bloßen Förderung von individueller Selbstbestimmungsfähigkeit stehen zu bleiben, sondern auch deren Nexus mit der politisch-institutionellen Mitbestimmungsfähigkeit aufzuzeigen, kann man mit Rehberg (2003: 307ff., 346ff., 355ff.) denkbare gestaltungspolitische Lösungsmöglichkeiten für die obige Problematik thematisieren. Hierzu gehört zunächst die Etablierung einer – derzeit faktisch nicht gegebenen – klaren gesetzlichen Trennung des Berufsbildes in unternehmensabhängige Agenten einerseits und nicht nur formell, sondern auch
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faktisch unabhängige Makler andererseits. Die Kunden der Agenten wären bei Vertragsabschluss zudem in deutlich hervorgehobener Weise auf die möglichen Gefahren einer interessensabhängigen Beratung sowie auf die Alternative des unabhängigen Maklers hinzuweisen. Bei Maklern wäre eine monetäre Verhaltenssteuerung seitens der Unternehmen im Gegensatz zu heute strikt zu untersagen. Makler würden sich aus den Beratungsgebühren der Kunden finanzieren und müssten im Gegenzug die Versicherungsprämie um die Provisionskosten senken können. Dies erfordert jedoch eine Aufhebung des starren gesetzlichen Provisionsabgabeverbots, welches zurzeit die Herausbildung einer kostengünstigen unabhängigen Beratung verhindert. Aus (integrations)didaktischer Sicht zu beklagen ist, dass es meines Wissens – trotz der hohen Bedeutung des Themas für die Lebensqualität der Bürger – keine politikwissenschaftliche Policy-Analyse zur Interessenvermittlung in der deutschen Versicherungspolitik gibt, die die Politics-Mechanismen und Machtverhältnisse aufzeigt, die – im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern (ebd., 348) – in diesem Politikfeld in der BRD zur obigen Manifestation des Paradox der problemverursachenden Politik (Kapitel 4.2.) geführt haben: „Derzeit scheint es so, als wolle der Gesetzgeber mit aller Macht verhindern, dass sich eine unabhängige und kompetente Beratung tatsächlich und flächendeckend etabliert.“ (Rehberg 2003, 266)
6.3.1.3 Haftungsrecht Eine weitere gestaltungspolitische Konsequenz, die sich aus Sicht der NIÖ zur Sicherung der Lebensqualität der Verbraucher aus dem Denkschema der asymmetrischen Information ableiten lässt, ist das Haftungsrecht (Adams 2004, 183ff.; Hagen/von Schlippenbach 2007, 400; Rischkowsky 2007, 99f.). Dabei wird davon ausgegangen, dass angesichts hoher Transaktionskosten für den Verbraucher und der ausgeprägten Spezialisierung der Produzenten eine asymmetrisch verteilte Information über Produktgefahren zugunsten der Anbieter vorliegt. Unter Rückgriff auf empirische Studien der Behavioral Economics wird zugleich darauf verwiesen, dass Produktrisiken von Verbrauchern laut empirischen Studien sowohl systematisch überals auch unterschätzt werden (Adams 2004, 197ff.). Im Falle der Überschätzung führt dies zu einer unangemessenen Kaufzurückhaltung bzw. übertriebenen, teuren Sicherheitsvorkehrungen seitens der Produzenten; im Fall der Unterschätzung wird der Markt von Produkten mit unzureichenden Sicherheitsvorkehrungen dominiert. Die Einführung einer Gefährdungshaftung für Produzenten ist in der Lage, beide Probleme größtenteils zu beheben (ebd., 205) und die Transaktionskosten des Verbrauchers zu senken (Rischkowsky 2007, 99). Bei Risikoüberschätzung senkt sie unsinnige Kaufzurückhaltung und übertriebene Sicherheitsvorkehrungen, da die bei einem Unfall entstehenden Kosten nun vom Produzenten getragen werden. Bei Risikounterschätzung hat der Produzent einen Anreiz, die nun von ihm zu tragenden Unfallkosten durch adäquate Sicherheitsvorrichtungen zu minimieren. Da allerdings viele Unfälle z.T. auch auf die mangelnde Sorgfalt der Verbraucher zurückgehen, was bei vollständiger Kostenübernahme durch den Produzenten noch verstärkt wird, empfiehlt sich ein moderater Selbstbehalt für die Verbraucher und eine Teilhaftung des Verbrauchers bei Mitverschulden (Adams 2004, 212;
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Rischkowsky 2007, 100). Hierbei ist zu verdeutlichen, dass dies angesichts der Überwälzung der anderenfalls anfallenden höheren Kosten auf den Preis auch im Interesse der Gesamtheit der Verbraucher liegt. Im Falle einer didaktischen Behandlung dieses Aspekts sollte wiederum die gegenwärtige ökonomische Realität daraufhin problematisiert werden, inwieweit das derzeit gültige Produkthaftungsrecht in der BRD/Europa diesen Maximen gerecht wird. Kritische Aufmerksamkeit sollte die Tatsache erfahren, dass hier insofern eine Anreizlücke vorliegt, als der durch ein fehlerhaftes Produkt ausgelöste Todesfall einer Person keine Schadenersatzansprüche der Hinterbliebenen gegen den Hersteller begründet (sofern keine Unterhaltsverpflichtungen vorlagen). Diese Leerstelle wird aus institutionenökonomischer Sicht kritisch beurteilt und ein vererblicher Schadensersatzanspruch gefordert (Adams 2004, 227).
6.3.1.4 Mindeststandards Als nächste verbraucherschutzpolitische Konsequenz ergibt sich aus der Perspektive der NIÖ die Forderung nach vertraglichen Mindeststandards. Dazu gehört erstens ein Verbot von missbräuchlichen Vertragsklauseln in den allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB), welche den Verbraucher entgegen Treu und Glauben unangemessen benachteiligen (Adams 2004, 119ff.; Haupt 2003, 1151ff.; Kötz 2003; Rischkowsky 2007, 232ff.). Auch hier lässt sich mit Blick auf das Kontroversitätsprinzip der NIÖ wiederum die Sichtweise der Chicago School entgegenstellen, derzufolge eine solche Maßnahme unnötig ist, da die Anbieter im Wettbewerb um die Gunst der Kunden ohnehin nur AGBs ohne missbräuchliche Klauseln verwenden würden. Demgegenüber wendet die NIÖ ein, dass es für den Verbraucher rational sei, angesichts der im Vergleich zum Nutzen des Geschäfts hohen Transaktionskosten (Leseumfang, Erfordernis einer juristischen Interpretationshilfe) auf eine Kontrolle der AGB-Bestimmungen zu verzichten, zumal diese größtenteils seltene Ereignisse betreffen. Infolgedessen setzen sich am freien Markt jene Anbieter durch, die ihre Waren aufgrund ungünstiger AGBs zu niedrigeren Preisen anbieten können. Allerdings läßt sich auch dagegen vorbringen, dass Anbieter auf Wettbewerbsmärkten aus Reputationsgründen freiwillig auf eine derartige Strategie verzichten. Diesen Einwand hält die NIÖ jedoch nicht für überzeugend, weil auf einigen Märkten eine hohe Fluktuationsrate auf der Anbieterseite zu beobachten sei. Zudem unterschieden sich die Kundengruppen hinsichtlich ihres Rufschädigungspotentials, was Anbietern bei der Anwendung der AGB eine Diskriminierung zu Lasten sozial benachteiligter Verbraucher ermögliche. Hinzufügen könnte man, dass wegen der Seltenheit der von den AGB-Klauseln abgedeckten Vorfälle oft keine kritische Reputationsmasse erreicht würde. Während die NIÖ an den entsprechenden rechtlichen Regelungen in der BRD nichts auszusetzen hat, wurde das AGB-Gesetz in einem `politologischen´ Beitrag zur deutschen Verbraucherpolitik (Schatz-Bergfeld 1984) als unzureichend kritisiert, da es sich nur um reaktives Recht handele. Geboten sei vielmehr eine generelle Ex-Ante-Überprüfung jeder AGB durch eine staatliche Behörde, was infolge der überlegenen politischen Handlungsfähigkeit der Unternehmensverbände im Gesetzgebungsprozess jedoch verhindert worden sei. Die Effektivität des Ex-Post-Verbandsklagerechts gegen missbräuchliche AGBKlauseln durch die Verbraucherverbände lasse angesichts deren mangelnder finanzieller und organisatorischer Ressourcen zu wünschen übrig (ebd., 140-164). Da diese Thematik
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seither (nach meinem Wissen) leider nicht mehr wissenschaftlich-systematisch weiterverfolgt worden ist, bietet es sich integrationsdidaktisch im Falle einer Behandlung dieses Themenfeldes an, die damit aufgeworfene Frage bzw. deren heutige Relevanz von den Schülern eigenständig durch Befragung der Akteure (Unternehmens- und Verbraucherverbände), aber insbesondere auch durch Befragung unabhängiger Experten (Verbraucherrechtswissenschaftler) erforschen zu lassen. Zweitens wird in der NIÖ darüber diskutiert, inwieweit der Staat gesetzliche Mindestgarantiefristen wie in der EU vorgeben sollte. Ziel des Unterrichts sollte jedoch nicht nur sein, dass Schüler verstehen, dass sie von diesem Schutzniveau „profitieren“ und erkennen, wem sie es „zu verdanken“ (Retzmann 2005, 18) haben. Wenn man sich exemplarisch mit dieser Frage auseinandersetzt, sollte es auch darum gehen, diese politische Entscheidung 1) daraufhin zu befragen, welches (implizite) wissenschaftliche Akteurskonzept sich eigentlich hinter dieser gestaltungspolitischen Maßnahme verbirgt, 2) deren Ambivalenz (Kapitel 4.4.3.) zu verdeutlichen, indem man die kontraintuitive Erkenntnis erarbeitet, dass es auch „too much protection“ (Haupt 2003, 1159) geben mag, da Verbraucherschutz nicht kostenlos ist und 3) diese Maßnahme entsprechend kontrovers zu diskutieren. Denn grundsätzlich könnte man davon ausgehen, dass (partielle) Garantien sich als attraktives Qualitätssignal von selbst am Markt durchsetzen, sofern sie den Unternehmern nicht durch Induktion von Moral Hazard beim Kunden mehr Kosten als Nutzen bringen. Bei dieser Annahme der Chicago School (s.o.) wird jedoch – wie ja auch in dem von der Ökonomikdidaktik gepriesenen Homo-Oeconomicus-Modell (Karpe/Krol 1997) – implizit unterstellt, dass Konsumenten rational handeln, lernfähig sind, sich bei Bekannten schlau machen etc. und daher i.d.R. Produkte mit attraktiven Garantien wählen, sofern deren Nutzen (wegfallende Reparaturkosten) deren Kosten (höherer Preis) übersteigt. In der neueren NIÖ-Literatur zu dieser Frage wird es mit Blick auf die Behavioral Economics jedoch für realistisch erachtet (Eger 2002, 20) und in empirischen Studien auch belegt (Kirstein/Kirstein 2006; Kirstein/Schäfer 2006), dass viele Verbraucher das Qualitätsrisiko von Produkten und damit den Wert von Garantien systematisch unterschätzen („Over-Confidence“) – was nicht zuletzt auch für die Förderung reflexiver ökonomischer Selbstbestimmungsfähigkeit von Bedeutung ist. Solche Konsumenten könnte man daher durch eine gesetzliche Mindestgarantie quasi vor sich selbst schützen. Andererseits muss dennoch gesehen werden, dass Garantien zu höheren Preisen führen (Wein 2001; Eger 2002; Haupt 2003) und eine Umverteilung von Verbrauchern mit niedriger Nutzungsintensität und/oder hoher Sorgfalt zu Verbrauchern mit hoher Nutzungsintensität und/oder geringer Sorgfalt implizieren. Eger (2002, 25) und Haupt (2003, 1159) plädieren daher dafür, die gesetzliche Garantiefrist für die Vertragsparteien durch separate Erklärung bzw. in den AGB abdingbar zu machen. Hiergegen lässt sich wiederum einwenden, dass dadurch entweder die Transaktionskosten erhöht werden oder aber der Kunde den ökonomischen Wert solcher AGB-Klauseln wegen Over-Confidence falsch einschätzen würde – sofern er es überhaupt für wichtig erachtet, diese diesbezüglich zu prüfen. Drittens halten es einige Vertreter der NIÖ (Rekaiti/van den Bergh 2000; Rischkowsky 2007: 228f., 262f.) für überlegenswert, Kaufverträge gesetzlich zur Einräumung einer Widerrufsfrist zu verpflichten (sofern es sich nicht um unmittelbar erbrachte Dienstleistungen handelt). Dabei gehen sie im Gegensatz zum Homo-Oeconomicus-Modell unter Rückgriff auf die Behavioral Economics (Camerer/Issacharoff/Loewenstein/O´Donoghue/Rabin 2003, 1238ff.) davon aus, dass Konsumenten oft impulsive, stimmungsbedingte und/oder
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frustrationskompensatorische (Fehl-)Entscheidungen treffen. Durch die Einräumung entsprechender „Cooling-Off-Periods“ würden Anbieter zudem davon abgehalten, ihre Kunden während der Kaufsituation zu emotionalisieren (ebd., 1240). Neben qualitativen Mindeststandards für Verträge werden von Vertretern der NIÖ auch solche Mindeststandards positiv bewertet, welche direkt die Sicherheit potentiell gefährlicher Güter (z.B. Medikamente, Lebensmittel) betreffen (Adams 2004, 230; Rischkowsky 2007, 100f.; Sinn 2003, 287), um hier ebenfalls die anderweitig anfallenden hohen Transaktionskosten für den Verbraucher zu senken. Auf diesem für die menschliche Lebensqualität wichtigen Teilgebiet des Verbraucherschutzes ist eine didaktische Integration mit Beiträgen aus der Politologie (Gehring / Krapohl/Kerler/ Stefanova 2005; Gehring/Kerler/Krapohl 2007; Krapohl 2008) sinnvoll. Denn durch letztere kann deutlich werden, dass die politische Umsetzung dieser auf den ersten Blick vermeintlich selbstverständlichen Forderung aus der Verbraucherschutzökonomik im europäischen Binnenmarkt aufgrund des politischen Widerstands bestimmter Partikularinteressen nicht von vorneherein gesichert ist. Vielmehr ist sie an die Existenz bestimmter institutioneller Bedingungen innerhalb des politischen Systems gekoppelt. Dies ist für die gestaltungsorientierte Urteilsfähigkeit wichtig, weil so verstanden werden kann, welche politischen Entscheidungsverfahren (Polities) solche politischen Interaktionsmodi (Politics) wahrscheinlicher werden lassen, die Entscheidungen im Sinne der verbraucherökonomischen Lebensqualität (Policies) begünstigen und welche nicht. Hieran lässt sich zudem sowohl die Interdependenz zwischen Ökonomie und Politik als auch der Europäisierungsprozess exemplarisch veranschaulichen. So zeigen die genannten Politologen, dass eine effektive grenzüberschreitende Regulierung von Produktrisiken im EU-Binnenmarkt lange Zeit blockiert war. Die Ursache hierfür lag darin, dass die Mitgliedsstaaten ganz unterschiedliche Regulierungsniveaus und stile anwendeten. Zugleich versuchte jede Regierung im Ministerrat bei den kleinteiligen Verhandlungen über die Risikoregulierung einzelner Produkte (z.B. „Vor dem Fahrersitz montierte Umsturzvorrichtungen mit zwei Pfosten für Schmalspurfahrzeuge mit Luftbereifung“), das jeweilige nationale Regulierungskonzept für das jeweilige Produkt auf europäischer Ebene durchzudrücken, um die Anpassungskosten für die eigene Industrie möglichst niedrig zu halten. Im Rahmen dieses Interaktionsmodus des machtbasierten `Bargaining´ kam es so bestenfalls zu sachlich unbefriedigenden Kompromissen, da kurz- bis mittelfristige ökonomische Partikularinteressen das langfristige europäische Allgemeininteresse an einer angemessenen Risikoregulierung und einem offenen Binnenmarkt dominierten. In den 80er Jahren wurde jedoch in vielen Risikoregulierungsfeldern ein neues, funktional differenziertes Verfahren etabliert. Im ersten Schritt werden nun auf politischer Ebene (d.h. im Dreieck von Rat, Kommission und Parlament) allgemeine Regulierungsgrundsätze für sehr große Produktgruppen (z.B. „Maschinen“, „Medikamente“) vereinbart. Diese werden dann im zweiten Schritt auf administrativer Ebene von spezialisierten Gremien aus nationalen Experten Einzelprodukt für Einzelprodukt konkretisiert. Im dritten Schritt auf juristischer Ebene können beteiligte Akteure Klage vor dem EuGH erheben, sofern sie der Ansicht sind, dass die konkrete Regulierung eines Einzelprodukts durch ein Expertengremium nicht den allgemeinen Regulierungsgrundsätzen der Produktgruppe gerecht wird. Den Autoren zufolge ist das neue Verfahren – auch in den Augen sowohl der Industrie- als auch der Verbraucherverbände – i.d.R. sehr erfolgreich. Dies führen sie darauf zurück, dass die Mitgliedsstaaten bei den Verhandlungen über die allgemeinen Regulie-
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rungsgrundsätze angesichts der Breite des jeweiligen Regulierungsfeldes und damit der Vielfalt der von diesem umschlossenen Produkte kein konsistentes Partikularinteresse mehr besitzen. Daher orientieren sie sich nun an verallgemeinerungsfähigen Prinzipien, d.h. sie interagieren im Modus des diskursiven `Arguing´. Durch die rechtliche Überwachung der Anwendung dieser Grundsätze sind auch die nationalen Experten auf der administrativen Ebene gezwungen, sich an einem argumentativ-sachbezogenen Interaktionsmodus auszurichten. Didaktisch kann man den Regulierungserfolg in jenen Produktfeldern (z.B. Medikamente), in denen das obige Verfahren vollständig angewendet wird, mit dem Politikversagen in anderen Produktfeldern (z.B. Lebensmittel) vergleichen, in denen dieses Verfahren nur sehr unzureichend umgesetzt wurde. Letzteres führte v.a. während der BSE-Krise zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Lebensqualität, da es den Mitgliedsregierungen und ihren Beamten in den Ausschüssen aufgrund der in diesem Produktfeld fehlenden allgemeinen Grundsätze möglich war, die Partikularinteressen ihrer jeweiligen nationalen Landwirtschaft zu verfolgen und wissenschaftliche Regulierungsempfehlungen abzulehnen (siehe dazu ausführlicher Kapitel 7.2.3.).
6.3.2 Die psychoökonomische Perspektive Die psychoökonomische Perspektive geht von der bereits in Kapitel 6.3.1. dargestellten Theorie aus, dass der gegenwärtige soziale Statuswettbewerb eine problematische Dilemmasituation darstelle (Frank 1999; Layard 2005). Infolge des kollektiven Nullsummenspiels der ubiquitären Geltungskonkurrenz fokussieren sich die meisten Menschen auf den Erwerb von kommerziellen Positionsgütern, die die durchschnittliche Zufriedenheit der Bevölkerung jedoch nicht erhöhen (Steiner 1999, 33ff.). Demgegenüber wird die nichtkommerzielle Dimension des Lebens (Familie, Freunde, Ehrenamt etc.) vernachlässigt, obwohl die Dichte und Intensität dieser sozialen Netzwerke zu einer deutlichen Erhöhung der durchschnittlichen Zufriedenheit der Bevölkerung führe. Wie Frey/Stutzer (2004) in einer empirischen Studie zu zeigen versuchen, liege die Ätiologie dieser Problematik nicht nur in der sozialen Dilemmasituation als solcher, sondern auch darin begründet, dass Durchschnittsindividuen systematisch irrational in dem Sinne handeln, dass zwischen dem persönlich erwarteten Nutzen einer zukünftigen Zeitverwendungsoption (erwartetes Wohlbefinden) einerseits und dem subjektiv tatsächlich erfahrenen Nutzen der durchgeführten Zeitverwendungsoption erhebliche Diskrepanzen bestünden (so auch Easterlin 2003). Demzufolge überschätzen Durchschnittsindividuen denjenigen zukünftigen subjektiv empfundenen Nutzen (subjektives Wohlbefinden) deutlich, den extrinsische Handlungsoptionen verheißen (Erwerb von Einkommen, Besitz, Status, Macht). Dagegen unterschätzen sie denjenigen zukünftigen subjektiv empfundenen Nutzen (Wohlbefinden), den intrinsische Handlungsoptionen bieten (z.B. Zusammensein mit Familie, Freunden, Breitensport, ehrenamtliches Engagement). Extrinsische Optionen werden also als ein demeritorisches Gut angesehen, intrinsische Optionen hingegen als meritorisches Gut betrachtet. So kommen Frey/Stutzer (2004) zu dem Ergebnis, dass Individuen, die mehr Zeit mit gesundheitswissenschaftlich erwiesenermaßen deutlich stressreichem, gesundheitsschädlichem und psychosozial belastendem Pendeln verbringen, eine geringere Lebenszufriedenheit als sozioökonomisch vergleichbare Individuen berichten. Dies bedeutet, dass die Ab-
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senkung des Wohlbefindens infolge der stärkeren Belastung durch das Pendeln nicht durch die damit einhergehende Einkommenssteigerung (infolge eines höheren Verdienstes und/oder einer geringeren Miete) ausgeglichen wird. Ein solcher Kompensationseffekt wäre nach der rationalen Nutzenmaximierungshypothese jedoch zu erwarten. Dessen Abwesenheit könne statistisch nicht durch Restriktionen auf den Arbeits- oder Wohnungsmärkte erklärt werden. Vielmehr überschätzen Individuen den Nutzen des Pendelns in Form eines höheren Netto-Einkommens und vernachlässigen die negativen Effekte des Pendelns, die aus dessen gesundheitsschädlichen Effekten und der geringeren Zeit für Familie, Freunde etc. resultieren. Im Vergleich zu aktuellen Schulbüchern (Bauer et al. 2008; Kaminski 2006) besteht der durch die Psychoökonomik möglich werdende didaktische Fortschritt somit darin, diverse Bedürfnisse nicht einfach enumerativ-deskriptiv aufzuzählen, sondern auch deren Verhältnis und Gewichtung durch Individuum und Gesellschaft kritisch mit Blick auf die zentrale didaktische Perspektive der Lebensqualität zu reflektieren. Für die unangemessene Bewertung extrinsischer/intrinsischer Zeitverwendungsoptionen werden von der Psychoökonomik 3 Gründe angeführt: Erstens würden Menschen Gewöhnungseffekte unterschätzen, welche bei extrinsischen Werten weit stärker ausgeprägt seien als bei intrinsischen Werten. So haben empirische Studien festgestellt, dass Individuen sich oberhalb eines bestimmten Grundniveaus sehr schnell an Einkommenssteigerungen in dem Sinne gewöhnen, dass die persönliche Lebenszufriedenheit infolge eines höheren Einkommens zwar zunächst ansteigt, dieser Effekt aber mittel- bis langfristig nicht dauerhaft ist, weil sich das persönliche Aspirationsniveau fast in demselben Maße anhebt. Solche Gewöhnungseffekte seien bei intrinsischen Zeitnutzungsoptionen hingegen weniger stark ausgeprägt. Diese differenziellen Gewöhnungseffekte werden subjektiv jedoch kaum in Rechnung gestellt. Zweitens würden Menschen bei ihren Entscheidungen auf Erinnerungen zurückgreifen, die jedoch verzerrt repräsentiert würden. Laut empirischen Studien der Behavioral Economics wird die retrospektive subjektive Evaluierung von Vergangenheit unverhältnismäßig stark an jenen einzelnen Erfahrungsmomenten festgemacht, die emotional sehr intensiv erscheinen (`peak experiences´), da diese besonders gut erinnert werden. Intrinsische Zeitverwendungsoptionen vermitteln aber in erster Linie positive Langzeiterfahrungen, d.h. moderate, aber dauerhaft angenehme Gefühle. Extrinsische Zeitverwendungsoptionen verschaffen hingegen v.a. positive Kurzzeiterfahrungen. Daher würden intensive positive Kurzzeiterfahrungen mit extrinsischen Werten besser erinnert und stärker ins individuelle Handlungskalkül eingehen als moderate positive Langzeiterfahrungen mit intrinsischen Werten, obwohl letztere dauerhafter seien. Eine weitere Verzerrung vergangener Erfahrungen liege darin, dass Individuen den Nutzengewinn von Einkommenssteigerungen überschätzen, weil sie ihr Zufriedenheitsniveau vor der Gehaltserhöhung aufgrund ihres inzwischen gesteigerten Aspirationsniveaus unterschätzen. Deshalb nehmen sie fälschlicherweise an, ihr Wohlbefinden hätte sich durch die Einkommenssteigerung erhöht, obwohl dies faktisch nicht der Fall ist (Easterlin 2003, 25). Selbstgesteuerte, das eigene Verhalten korrigierende Lernprozesse fänden daher i.d.R. nicht statt – schon gar nicht automatisch. Denn jedes Lernen stützt sich auf die subjektive Rekonstruktion vergangener Wahrnehmungen, die jedoch verzerrt sei. So zeigen empirische Studien zum subjektiv vorhergesagten, subjektiv aktuell erlebten und subjektiv erinnertem Nutzenlevel vor, während und nach Reisen (Mitchell et al. 1997), dass die Teilneh-
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mer nach der Reise ein subjektives Nutzenniveau erinnern, das dem zu optimistischen, vor der Reise erwarteten Niveau entsprach und nicht dem während der Reise tatsächlich erlebten, eher enttäuschenden Niveau. Drittens werde das Ausmaß der Fehleinschätzung zugunsten extrinsischer Optionen durch den wirtschaftskulturellen Kontext hoch entwickelter Industriegesellschaften begünstigt (Frey/Stutzer 2004; Steiner 1999). Im Laufe der Zeit verwandeln die Anbieter wegen der Gefahr der Marktsättigung immer mehr Waren in positionale Statusgüter, deren Bedarf angesichts des Statuswettbewerbs unendlich ist. Während die Werbebranche eine einflussreiche Lobby für extrinsische Zeitverwendungsoptionen darstelle, gäbe es nur eine schwache gesellschaftliche Lobby für intrinsische Zeitverwendungsoptionen. Infolgedessen würden viele Individuen in den Glauben hineinsozialisiert, dass extrinsische Handlungsziele (positionale Statusgüter) besonders gut bzw. besser als intrinsische Zeitverwendungsoptionen geeignet seien, das individuelle Wohlbefinden zu steigern. Diese soziale Konvention wird als „lay rationalism“ (Hsee/Yu/Zhang/Xi 2003) bezeichnet. “To the extent to which commercialization occurs, individuals are induced to mispredict the future utility of goods. They are led to believe that the extrinsic characteristics will make them happier than is actually the case compared to the intrinsic characteristics.“ (Frey/Stutzer 2004, 9)
Um diese materialistische Schlagseite (Steiner 1999, 117-121) der Bedürfnisproduktion durch die kommerzielle Werbung zumindest teilweise auszugleichen, regt Steiner die Gründung einer öffentlichen, mit Vertretern der Humanwissenschaften besetzten „Bildungsinstitution“ (ebd., 209) an, die professionelle Werbung für eine pluralistische Vielfalt nicht-käuflicher Bedürfnisse, alternativen Identifikationsangeboten, weniger kommerziellen Leitbildern der Lebensführung etc. betreiben soll. Diese Institution, die quasi die Erkenntnisse der Glücksforschung professionell `vermarkten´ würde, soll durch eine zweckgebundene Abgabe der Unternehmen in Höhe eines geringen Teils ihrer Werbeausgaben finanziert werden. Neben dieser für die gesellschaftspolitische Kritik- und Mitbestimmungsfähigkeit wichtigen Gestaltungsoption und die sich dahinter verbergende Sozialkritik sind die obigen Erkenntnisse bzw. Thesen der Psychoökonomik didaktisch auch für die Förderung der ökonomischen Selbstbestimmungsfähigkeit relevant. Dies allerdings weniger im Sinne des Ökonomen Easterlin (2006), welcher aus seinen Forschungsergebnissen folgert, dass Bildung `bessere´ Präferenzen `formen´ sollte. Denn dies würde sowohl die Autonomie der Lernenden als auch das Kontroversitätsgebot verletzen, weil z.B. andere Autoren (Stevenson/Wolfers 2008) zu dem empirischen Ergebnis kommen, dass eine Steigerung des materiellen Wohlstands sehr wohl zu einer Erhöhung des durchschnittlichen Wohlbefindens auch noch in bereits sehr reichen Staaten führe. Auch hier muss sozialwissenschaftliches Wissen im Unterricht somit als unsicheres Wissen erscheinen (Behrmann / Grammes/Reinhardt 2004, 374). Daher geht es didaktisch hier vielmehr auch darum, durch die offene Auseinandersetzung mit der psychoökonomischen Forschung die kritische Selbstreflexivität der Lernenden zu schulen, d.h. ihr individuelles Bewusstsein für die kontraintuitive Möglichkeit zu sensibilisieren, dass die eigenen subjektiven Wahrnehmungen verzerrt sein können und nicht nur einzelne Handlungen, sondern sogar die ganze Anlage der persönlichen Lebensführung systematisch dem eigenen Interesse widersprechen können. Wichtig ist auch die (sozi-
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al)konstruktivistische Erkenntnis, dass (bestimmte) ökonomische Bedürfnisse nicht einfach ontologisch existieren, sondern nur durch den eigenen subjektiven (gesellschaftlich beeinflussten) Glauben an deren vermeintliche Unabdingbarkeit konstituiert werden. Infolgedessen erscheint es auch nicht angemessen, ökonomische Bildung ausschließlich auf das Handlungsmodell des rationalen Homo Oeconomicus gründen zu wollen, wie es etwa bei Karpe/Krol (1997) oder Kaminski (2002) zumindest stark anklingt.
6.3.3 Fachdidaktische Strukturierung des Politikfeldes gemäß Kapitel 4.5. Das zentrale Lernziel eines gestaltungsorientierten Unterrichts zur Verbraucherpolitik auf der Sekundarstufe II besteht darin, den Schüler in die Lage zu versetzen, ein begründetes politisches Urteil bzgl. der Frage auszubilden, welche Institutionen geeignet sind, die ökonomische Lebensqualität des Bürgers in seiner Rolle als Verbraucher zu fördern. Als zentrale institutionelle Dimensionen können hierzu gemäß Schritt 1 des Strukturschemas aus Kapitel 4 die Wettbewerbs-, Informations-, Haftungs- und Standardisierungspolitik jeweils exemplarisch oder – in leistungsstarken Kursen – auch (teilweise) nacheinander bzw. parallel (in Gruppenarbeit) behandelt werden. Im Gegensatz zu den stark deskriptiven Verbraucherschutz-Kapiteln in gegenwärtigen ökonomikdidaktischer Schulbücher (Bauer et al. 2008: 88ff., 222f.; Kaminski 2006: 210f., 216f., 390ff.), die lediglich die gegenwärtige institutionelle Realität in Deutschland/Europa darstellen und anhand von Fallbeispielen exemplifizieren, ist es für die Förderung gestaltungsorientierter Urteilsbildung von entscheidender Bedeutung, diese Realität – wenigstens exemplarisch – auch zu problematisieren (Aspekt 1.2. Problem des Strukturschemas aus Kapitel 4). Dies ist hier möglich, indem man z.B. den Missbrauch der Ministererlaubnis in der Wettbewerbspolitik, die Abwesenheit von Möglichkeiten unabhängiger Beratung in der Versicherungsbranche (und die damit verbundenen aktuellen Skandale wie z.B. der Fall der „Göttinger Gruppe“), die Kürzung der staatlichen Finanzierung für die Stiftung Warentest, die inflationäre Entleerung des Gehalts von Qualitätsgütesiegeln durch mangelnde staatliche Regulierung, die lückenhafte Lebensmittelsicherheitskontrolle, die fehlende Haftung für tödliche Unfälle, das inadäquate Regulierungsregime in der EU im Bereich der Lebensmittelsicherheitspolitik etc. thematisiert. So lässt sich aufzeigen, dass von dem gegenwärtigen gesetzgeberischen Handeln in diesem Bereich nicht nur problemlösende, sondern auch problemverursachende Wirkungen (Staatsversagen) ausgehen (Aspekt 1.4. Ursachen). Anderenfalls, d.h. durch ein rein deskriptives Vorgehen wie in den o.g. Schulbüchern wird bei den Schülern – wenn auch nur implizit und unbeabsichtigt – der unangemessene Eindruck erweckt, dass in diesem Politikfeld alles zufriedenstellend geregelt sei. In diesem Fall kann die Wirtschaftsordnung von ihnen jedoch gerade nicht „als eine permanente ordnungspolitische Gestaltungsaufgabe“ (Kaminski 1997) erkannt werden. Ein genuin problemorientierter Zugang wie hier vorgeschlagen ist auch besser in der Lage, die sich an diesen Problemen entzündenden ökonomischen und politischen Interessenkonflikte (Aspekt 3.2. und 3.3.) zwischen Unternehmen und Verbrauchern in der gebotenen Deutlichkeit vor Augen zu führen. Dabei sollte allerdings nicht übersehen werden, dass bisweilen auch (politisch i.d.R. unsichtbare) Interessenkonflikte innerhalb der nicht homogenen Gruppe der Verbraucher existieren (z.B. bei der Frage nach der starken Ausweitung von Produktgarantien wie vor einigen Jahren von der EU beschlossen). Denn ein
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hohes gesetzliches Verbraucherschutzniveau bringt (bei gesetzlichen Garantien z.B. infolge stärkerer Moral-Hazard-Anreize für die Konsumenten) höhere Produktpreise als eine (für manche Verbraucher) unwillkommene Nebenwirkung (Aspekt 3.4.) mit sich (Eger 2002; Haupt 2003; Sinn 2003, 285; Wein 2001). Die politischen Forderungen der Verbraucherorganisationen (wie z.B. die völlige Ablehnung jeglichen Selbstbehalts bei den politischen Auseinandersetzungen um die EU-Haftungsrichtlinie) dürfen deshalb zumindest nicht in jedem Fall unumwunden mit `dem´ Interesse `des´ Verbrauchers gleichgesetzt werden (Adams 2004: 184f., 212f.). Die kategoriale Ursachen- und Problemdefinition (Aspekt 1.3.) – (partielles) Marktversagen aufgrund Informationsasymmetrie kann als weitgehend konsensual bezeichnet werden. Daher sollte die Akerlofsche Lemons-Dynamik als zentraler analytischer Zugriff in diesem Kontext dann allerdings auch entsprechend klar herausgestellt werden. Dies gilt auch für die von der psychoökonomischen Perspektive zusätzlich hinzugefügte analytische Problemdefinition der Statuskonkurrenz als Dilemmasituation, die in aktuellen ÖkonomikSchulbüchern (Bauer et al. 2008; Kaminski 2006) unterschlagen wird, obwohl diese für die menschliche Lebensqualität eine hohe Relevanz besitzt. Nicht zu vergessen sind auch weitere, oben aufgezeigte Formen nicht-rationalen Verhaltens der Verbraucher und deren dadurch ermöglichte informationelle Manipulation durch die Anbieter. Trotz der größtenteils konsensualen Problemdefinition ist es gemäß Schritt 2 des Strukturschemas didaktisch ratsam, Möglichkeiten zur Behebung von Informationsasymmetrien kontrovers zu diskutieren, indem man die von der NIÖ favorisierten staatlichen Maßnahmen den von der Chicago School stärker betonten Selbstheilungskräften des Marktes gegenüberstellt (Aspekt 2.1. Alternativen und 2.2. Argumente). An dieser Stelle könnte man einwenden, dass dieser Vergleich insgesamt noch zu einseitig individualistisch-wirtschaftsliberal ausgerichtet ist und eine `linksorientierte Gegenmacht-Perspektive´ à la Scherhorn (1975) explizit berücksichtigt werden sollte (Hedtke 2007, 151). Betrachtet man jedoch die von dieser Gegenmacht-Perspektive konkret geforderten verbraucherpolitischen Maßnahmen genauer, zeigen sich eher marginale, jedenfalls nicht paradigmatisch zu nennende Differenzen zur institutionenökonomischen Perspektive. So plädieren wie oben gesehen auch Vertreter der NIÖ für einen intensiven (haftungs)rechtlichen und gesundheitlichen Verbraucherschutz. Wie die Gegenmacht-Perspektive diagnostiziert auch die NIÖ angesichts der Olsonschen Logik kollektiven Handelns ein Machtgefälle zwischen Produzenten- und Verbraucherverbänden im politischen Raum (Sinn 2003b, 288f.) (Aspekt 3.5. Politische Durchsetzbarkeit), sodass eine staatliche Förderung der politischen Interessenvertretungskapazitäten der Verbraucher (als ein öffentliches Gut) – zwecks Steigerung der Wahrscheinlichkeit der politischen Sicherung bzw. Umsetzung der verbraucherschutzpolitischen Empfehlungen der NIÖ – zumindest naheliegt und auch explizit befürwortet wird (Hagen 2008). Auch die inhaltlich komplementäre „politologische“ Studie zum deutschen Verbraucherschutz von Schwan (2009) geht von der These aus, dass es aufgrund der Olsonschen Logik kollektiven Handelns eine Machtasymmetrie zwischen Verbraucher- und Produzenteninteressen(organisationen) gibt (ebd., 38-50). Allerdings sollte man diese fast schon zum unhinterfragten Gemeinplatz gewordene – aber leider nur selten durch stringente empirische Politics-Studien fundiert belegte – Theorie auch nicht übertreiben. Denn wie die obige Sachanalyse des Politikfeldes zeigt, kann trotz einer Reihe von sicherlich sehr problematischen Leerstellen insgesamt betrachtet keinesfalls von einem durchgängig niedrigen Verbraucher-
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schutzniveau in der BRD/Europa gesprochen werden, da (europa)politische Akteure offenbar hinreichend Anreize (z.B. Legitimitätssteigerung in den Augen der Öffentlichkeit) besitzen, auch Verbraucherinteressen aufzugreifen. So kommt auch Trumbull (2006) in seiner Studie zur französischen und deutschen Verbraucherpolitik von den 60er Jahren bis heute zu dem Schluss, dass von einer einseitigen Gesetzgebung zugunsten der Produzenteninteressen im politischen Prozess keine Rede sein kann (ebd., 167). Die weitere Forderung der Gegenmacht-Perspektive nach Verbraucherbildung hingegen ist als solche entweder trivial oder – wenn man sich vor Augen hält, dass Verbraucher eben keine homogene Interessengruppe sind (s.o.) – zu wenig durchdacht. Gegen staatliche Verbraucherbildung in der Schule dürfte die NIÖ kaum etwas Ernsthaftes einzuwenden haben. Bei der staatlichen oder staatlich subventionierten Verbraucherbildung für Erwachsene – die ja wohl nur auf Freiwilligkeit basieren kann – stellt sich hingegen die Verteilungsfrage, warum ein solches Angebot eigentlich unbedingt staatlich (und damit auch von Angehörigen der Unterschicht) (teil)finanziert werden soll, wenn aus guten Gründen (unterschiedlicher sozialer Habitus, Bourdieu 1982) erwartet werden kann, dass diese Angebote vornehmlich von den Angehörigen der (gebildeten) Mittelschicht wahrgenommen werden. Eine echte Differenz zwischen NIÖ und Gegenmacht-Perspektive existiert nur bezüglich deren Forderung nach öffentlich organisierten Gegeninformationen zur Anbieterkommunikation. Dieser Vorschlag wird hier im vorliegenden didaktischen Modell jedoch bereits durch die psychoökonomische Perspektive abgedeckt. Letztere zeigt zugleich auf, dass eine wesentliche der (Institutionen)ökonomik zugrunde liegende implizite Prämisse die normative Unhinterfragbarkeit der momentan gegebenen konsumistischen Präferenzen ist (Sinn 2003b, 282). Dieser Haltung kann man die normative Forderung nach einem selbstreflexiv-meritorischen Anti-Kommerzialismus seitens der Psychoökonomik gegenüberstellen (Aspekt 2.3. Ziel- und Wertvorstellungen). Diese Kontroverse spiegelt sich auch in den Urteilskriterien (Aspekt 3.1.): Während die institutionenökonomische Perspektive Kostengünstigkeit, Produktvielfalt, –qualität und – sicherheit als enge Urteilskriterien in den Vordergrund stellt, fokussiert sich die psychoökonomische Perspektive auf das breiter angelegte Kriterium der empirisch gemessenen Lebenszufriedenheit. Die damit verbundene These, dass extrinsische Güter für letztere in reichen Gesellschaften weitgehend irrelevant geworden sind, muss im Unterricht jedoch als empirisch ungeklärt erscheinen (Aspekt 2.4. empirische Unsicherheit). Nach Abschluss der persönlichen Urteilsbildung (Aspekt 3.6.) kann den Schülern ein exemplarischer Eindruck davon vermittelt werden, wie intensiv welche politischen Parteien um gesetzliche Maßnahmen zur institutionenökonomisch angemahnten Reduktion von Informationsasymmetrien bemüht sind (Aspekt 3.7. parteipolitische Positionen). Hierfür bietet sich ein möglichst zeitnahes Gesetzgebungsverfahren wie jenes des zum 1.5.2008 in Kraft getretenen Verbraucherinformationsgesetzes (VIG) an (Raschke 2006), in dem es um die Bereitstellung von sicherheits- und qualitätsrelevanten Produktinformationen für die Verbraucher ging. Es zeigt sich, dass Parteien auf der linken Seite des politischen Spektrums für ein höheres Regulierungsniveau als Parteien auf der rechten Seite eintraten. Während Linke, Grüne und SPD sich für ein Auskunftsrecht des Verbrauchers gegenüber Behörden und Unternehmen über alle Produkte stark machten, traten FDP und CDU/CSU für eine Eingrenzung des Auskunftsrechts der Verbraucher nur gegenüber Behörden ein. Überdies wollte die CDU/CSU dieses Recht auf den Kreis der Lebensmittel und Bedarfsgegenstände einschränken (ebd., 42-50). Diese Position konnte sich schließlich durchsetzen.
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Dieses politische Ergebnis sollte wiederum durch den institutionenökonomischen Blickwinkel betrachtet werden, aus welchem die durch das Gesetz bewirkte Reduktion der Informationsasymmetrie unzureichend ausfällt. Denn laut dem Gesetz können Behörden nur die im üblichen Verwaltungsbetrieb anfallenden Informationen weitergeben, wohingegen aus ökonomischer Sicht ein aktives behördliches Informationsbeschaffungsrecht gegenüber den Unternehmen als erforderlich angesehen wird (Sinn 2003b, 289f.). Für eine Regelung dieser Art hatten sich Die Linke und viele Verbraucherverbände stark gemacht; von der CDU/CSU wurde hingegen auch diese Idee explizit (und erfolgreich) abgelehnt (Raschke 2006).
6.3.4 Politikfeldspezifische Auswertung der drei integrationsdidaktischen Ansätze Bezüglich der Frage, welche der drei didaktischen Integrationsweisen sich vor dem Hintergrund dieses Kapitels am Besten zur gestaltungsorientierten Umsetzung des Themas Verbraucherpolitik eignet, wird letztlich keiner der drei Ansätze vollkommen bestätigt. Am wenigsten angemessen scheint der politikwissenschaftliche Integrationsansatz, denn eine von Aristoteles abgeleitete `Unterordnung´ der Ökonomik unter die vermeintliche Königsdisziplin der Politikwissenschaft ist bei der gestaltungsorientierten Analyse des Verbraucherschutzes zurzeit nicht zu rechtfertigen. Erstens ist rein quantitativ betrachtet der Umfang politologischer Beiträge zu diesem Politikfeld im Vergleich zur Vielzahl institutionenökonomischer Abhandlungen – als relativ begrenzt zu bezeichnen (ganz im Gegensatz zur Arbeitsmarktpolitik). So schreibt der Politologe Janning (2004, 401): „Die Beschäftigung mit Verbraucherschutz als Politikfeld beginnt unweigerlich mit einer Irritation. Dieses Politikfeld ist bisher kaum von politikwissenschaftlichen Studien erschlossen worden. Und die einzigen bislang vorliegenden wissenschaftlichen Studien über politische Einflussprozesse in der Verbraucherschutzpolitik und über die politische Stellung der Verbraucherverbände datieren aus den frühen achtziger Jahren.“
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen auch die Politologen Voelzkow (2005, 58) und Schwan (2009, 16f.). Wie oben gesehen, muss das Resümee heute nicht mehr ganz so enttäuschend ausfallen, da mittlerweile zumindest vereinzelt politologische Analysen zur deutschen bzw. europäischen Verbraucherpolitik im Bereich der Informationsrechte (Raschke 2006), im Lebensmittelsektor (Schwan 2009), der technischen Regulierung von Medikamenten, Maschinen, Spielzeug und Lebensmitteln (Gehring/Krapohl/Kerler/Stefanova 2005; Gehring / Kerler/Krapohl 2007; Krapohl 2008) existieren. Diese Beiträge sind angesichts ihrer Gestaltungsorientierung wie gezeigt auch tatsächlich bildungsrelevant. Ähnliches gilt für ältere und jüngere Analysen zu den politischen Interessenskonflikten in der Wettbewerbspolitik (Robert 1976, Jäckering 1977, Ortwein 1998). Neuere politologische Darstellungen zur Verbraucherpolitik aus dem englischsprachigen Raum (Trumbull 2006) stellen hingegen ohne jegliche Gestaltungsorientierung letztlich nicht viel mehr dar als den verbraucherrechtlichen Status Quo in der BRD (im Vergleich zu Frankreich), den man jedoch ohnehin in der NIÖ-Literatur erfährt. Alles in allem bleibt der politologische Beitrag zur kategoria-
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len Frage „Was soll sein?“ hier unterhalb der Forschungsleistung der NIÖ, wenngleich er oft wichtige Ergänzungen liefert. Aufgrunddessen ist eine didaktische Reproduktion disziplinärer Grenzziehungen in Form einer gleichwertigen komparativen Gegenüberstellung `der´ politologischen und `der´ ökonomischen Perspektive kaum möglich bzw. hinsichtlich des gestaltungsorientierten Lernpotentials nicht sonderlich ergiebig. Zweitens wird in qualitativer Hinsicht deutlich, dass zwischen ökonomischen Perspektiven zum Verbraucherschutz und dem Gemeinwohl keine „Inkompatibilität“ (Scherb 2005) besteht und dass die (Verbraucherschutz-)Ökonomik sehr wohl das (unterschiedlich definierte) gute Leben sowie das gerechte Zusammenleben im Blick hat. Denn die NIÖ und die Psychoökonomik erforschen nicht nur, wie möglichst niedrige Preise erreicht werden können, sondern auch, wie Produktsicherheit und -qualität gesichert werden können und inwiefern die Konsumgesellschaft möglicherweise die empirische Lebenszufriedenheit der Menschen beeinträchtigt. Dies sind vier zentrale Dimensionen des Gemeinwohls. Entgegen der Meinung von Scherb (2005) wird die Politikwissenschaft hier also nicht benötigt, um eine angebliche ethische Lücke der Ökonomik zu füllen. Selbst wenn dieser Bedarf bestünde, könnte sie diesen angesichts ihres hier recht begrenzten Schrifttums kaum befriedigen. Der sozialwissenschaftliche Integrationsansatz trifft im Politikfeld des Verbraucherschutzes insofern partiell zu, als erstens die institutionenökonomische Perspektive hier letztlich in der Tat keine disziplinspezifische Perspektive darstellt, da deren zentrale Kategorien zur Analyse des Verbraucherschutzes auch in politologischen und v.a. rechtswissenschaftlichen Studien zu dieser Thematik zu finden sind. Zweitens können bei entsprechend breitem Blickwinkel zwei gestaltungsorientierte Perspektiven – eine institutionen- und eine psychoökonomische – thematisiert werden, wobei letztere bereits frühzeitig in der Soziologie (Steiner 1999) vertreten wurde und insofern interdisziplinären Charakter aufweist. Allerdings zeigt sich auch, dass das (hier nicht disziplinspezifische) Paradigma der NIÖ beim Verbraucherschutz im herkömmlichen Sinn (d.h. Wettbewerbs-, Informations-, Haftungsund Standardisierungspolitik) (nahezu) konkurrenzlos ist, wenn man von der – ökonomischen – Chicago School absieht, zumal sich Vertreter der NIÖ sich inzwischen auch offen für die Behavioral Economics zeigen, welche die pauschale Annahme (beschränkter) Rationalität empirisch zurückweist. Auf dem Feld der herkömmlichen Verbraucherpolitik ist meines Wissens weder in der Politologie (s.o.) noch in der Soziologie eine echte Alternative zum NIÖ-Paradigma zu finden, da die oben genannten Beiträge aus der Politologie nicht in Konkurrenz zur NIÖ stehen, sondern eine komplementäre Ergänzung darstellen. In dem (zurzeit einzigen) Einführungsbuch zur Konsumsoziologie in Deutschland (Jäckel 2006) wird Verbraucherschutz – trotz seiner hohen Relevanz für die menschliche Lebensqualität – bezeichnenderweise überhaupt nicht (!) thematisiert. Erst im US-amerikanischen Raum trifft man auf einen bildungsrelevanten Artikel aus der Wirtschaftssoziologie zu diesem Thema (DiMaggio/Louch 1998). In diesem wird die Überwindung von Informationsasymmetrien durch die soziale Einbettung von Geschäftstransaktionen (Auto-, Häuser-, Möbelkauf und Rechtsbeistand) in Freundschafts- und Verwandtschafts-Netzwerke empirisch untersucht. Dabei wird u.a. festgestellt, dass Verkäufer – laut eigenem Bekunden – bei sozial eingebetteten Transaktionen weniger opportunistisch agieren und dass sozial eingebettete Transaktionen zu einer höheren Zufriedenheit der Käufer mit der Produktqualität führen (gemäß deren eigenem Bekunden). Hinsichtlich der verbraucherschutzpolitischen Mitbestimmungsfähigkeit besitzt der Artikel jedoch nur geringe didaktische Relevanz, denn aus diesen Forschungsergebnissen kann wohl kaum folgen,
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dass man deshalb auf die von der NIÖ empfohlenen gestaltungspolitischen Maßnahmen verzichten könnte. Gleichwohl ist der Artikel für die – in dieser Arbeit nicht systematisch behandelte – Selbstbestimmungsfähigkeit der Schüler beim Konsum durchaus relevant. Insofern ist die Vereinnahmung des Themas Konsum als reines Aufgabenfeld ökonomischer Bildung durch Kruber (2005, 109) nicht legitim. Möglicherweise ist hier also eine disziplinäre Arbeitsteilung – Mitbestimmungsfähigkeit vorwiegend durch die Ökonomik; Selbstbestimmungsfähigkeit vorwiegend durch die Soziologie – angemessen. Das didaktische Verhältnis zwischen Wirtschaftssoziologie und Ökonomik beim Verbraucherschutz wäre insofern nicht als kontrovers, sondern als komplementär zu betrachten. Dies wäre künftig jedoch noch genauer zu untersuchen. Vorher wären die gerade dargestellten soziologischen Ergebnisse allerdings durch die deutsche empirische konsumsoziologische Forschung auf ihre kulturelle Übertragbarkeit zu prüfen. Im Gegensatz zu den gutgläubigen Autoren wäre dabei zudem konstruktivistischkritisch zu fragen, ob die positive Evaluation von sozial eingebetteten Transaktionen durch die Käufer nicht vielleicht zumindest teilweise von deren nachträglicher (unbewusster) Unterdrückung kognitiver Dissonanzen (Festinger 1957) herrührt. Z.B. ist im deutschen Versicherungsbereich laut Rehberg (2003, 259) ein Vertrauen auf sozial eingebettete Transaktionen gerade nicht zu empfehlen, auch wenn es weit verbreitet ist. Der institutionenökonomische Integrationsansatz findet in diesem Politikfeld insofern überwiegend Bestätigung, als die NIÖ in diesem Politikfeld in der Tat die zentrale gestaltungorientierte Perspektive zumindest für den Verbraucherschutz im herkömmlichen Sinn darstellt und man das politische Subsystem sodann mit Hilfe von rechts- und politikwissenschaftlichen Analysen hinsichtlich ihrer Restriktionen (und Optionen) bzgl. der politischen Umsetzung der NIÖ-Lösungsvorschläge analysieren kann. Dabei zeigt sich allerdings zugleich, dass sich die Kategorien der Disziplinen hier keinesfalls wie behauptet wie „Äpfel und Birnen“ (Kaminski 2002) voneinander unterscheiden. So besteht auch für politologische und soziologische Beiträge der grundlegende problemorientierte Ausgangspunkt in der Informationsasymmetrie zwischen Produzenten und Konsumenten (DiMaggio/Louch 1998, 625; Gehring/Kerler/Krapohl 2007, 233; Schwan 2009, 18-22; Trumbull 2006, 5f.). Auch die politische Machtasymmetrie zwischen Verbraucher- und Produzentenorganisationen bildet einen zentralen, von allen Autoren geteilten Referenzpunkt. In einigen Fällen ist es zudem so, dass wirtschaftshistorische (Kurzlechner 2008), politologische (Schwan 2009) und rechtswissenschaftliche (Adams 2004, Rehberg 2008) Studien nicht bloß `Zulieferer´ von Erkenntnissen über außerökonomische Restriktionen sind (wie Kaminski 2002, 65 meint), sondern vielmehr eigene empirische Markt-Studien (z.B. zur Zementindustrie, zum Lebensmittelsektor, zum Versicherungswesen) vorstellen, mit denen man zentrale Kategorien der NIÖ (wie z.B. Kartell und Informationsasymmetrie) im Unterricht gut exemplarisch aufzeigen kann. Überdies ist für das Feld der Verbraucherpolitik kritisch gegenüber dem institutionenökonomischen Integrationsansatz zu vermerken, dass der didaktische Fokus hier nicht nur auf rationale Vorteils- und Nachteilskalkulationen lernfähiger Individuen unter Restriktionen (Kaminski 2002, 65; Karpe/Krol 1997) zu richten ist, sondern – wie bereits einige neuere Beiträge der NIÖ und die `politologische´ Studie von Schwan (2009), insbesondere aber die über den herkömmlichen Verbraucherschutz der NIÖ hinausgehende psychoökonomische Perspektive zeigen – auch auf die mögliche konsumistische Nicht-Rationalität sowohl von menschlichen Individuen als auch gesellschaftlichen Kulturen.
7 Wie kann man ein lebenswertes politisches System gestalten?
Unzählige wissenschaftliche Veröffentlichungen aus der Politischen Soziologie, der Politikwissenschaft und der Konstitutionenökonomik beschäftigen sich mit Fragen, die die Funktionsweise des politischen Systems Deutschlands und der Europäischen Union betreffen. Bildungsrelevant sind davon aus Sicht der hier vertretenen gestaltungsorientierten sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik für die Sekundarstufe II im Lernbereich Mitbestimmungsfähigkeit jedoch in erster Linie solche Beiträge, die über die deskriptiv-analytische Ebene hinausgehen und auf einer normativen Ebene gestaltungspolitische Überlegungen darüber anstellen, wie die institutionelle Struktur des politischen Systems auf der nationalen und europäischen Ebene so gestaltet werden kann, dass sowohl dessen Output-Legitimität (Problemlösungsfähigkeit) als auch dessen Input-Legitimität (Gerechtigkeit des Entscheidungsverfahrens) und damit – beide Kriterien zusammengenommen – der Lebenswert der Gesellschaft gesteigert bzw. zumindest gesichert wird. Dabei zeigt sich, dass unterschiedliche ideologische Konzeptionen von Output-Legitimität sowie insbesondere von Input-Legitimität existieren, die entsprechend kontrovers zu erörtern sind. Es ist sowohl aus fachdidaktischer als auch aus fachwissenschaftlicher Sicht sinnvoll, diesen Themenbereich in einen deutschen und europäischen Teil aufzugliedern und separat nacheinander zu behandeln. Ein solches Vorgehen reduziert zum einen die angesichts des inhaltlichen Umfangs dieser Thematik und der Differenzen zwischen beiden politischen Systemen bestehende kognitive Komplexität. Zum anderen wird damit der Tatsache Rechnung getragen, dass die zwei entsprechenden gestaltungspolitischen Orientierungsmodelle zum politischen System auf der nationalen und der europäischen Ebene trotz partieller Ähnlichkeiten der ideologischen Perspektiven nicht deckungsgleich sind. Es ist wissenschaftssoziologisch also nicht angemessen, bei beiden politischen Ebenen mit denselben Perspektiven zu arbeiten, da es – mit Ausnahme der partizipativen Perspektive – nur ebenenspezifische Scientific Communities gibt, deren Aussagen sich entweder nur auf das politische System eines Nationalstaats (BRD) oder nur auf das politische System der EU richten. So gibt es inhaltlich z.B. zwar partielle Ähnlichkeiten zwischen der liberal-konstitutionellen Perspektive auf den Nationalstaat (Kapitel 7.1.3.) und der intergouvernementalen Perspektive auf die EU (Kapitel 7.2.2.) (z.B. Skepsis gegenüber Direkter Demokratie), aber deren Integration zu einer einheitlichen, ebenenübergreifenden Perspektive ist nicht angemessen. Denn erstens gibt es auch inhaltliche Differenzen (z.B. unterschiedliches Vertrauen in die Funktionalität des parlamentarischen Repräsentationsprinzips) und zweitens gehören Autoren wie z.B. Michael Wohlgemuth auf der einen Seite (liberal-konstitutionelle Perspektive auf die BRD) und Andrew Moravcsik auf der anderen Seite (intergouvernementale Perspektive auf die EU) ganz unterschiedlichen, überhaupt nicht in Kontakt miteinander stehenden Wissenschaftlergemeinden an, die man nicht einfach unter einem einheitlichen Dach zusammenfassen kann.
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Wie kann man ein lebenswertes politisches System gestalten?
7.1 Gestaltungsorientierte Evaluation des politischen Systems in Deutschland Zur Förderung von gestaltungsorientierter Urteilsfähigkeit (im Sinne von Kapitel 3-5) bezüglich der Input- und Output-Legitimität des politischen Systems in Deutschland bietet es sich an, dieses unter Rückgriff auf die folgenden drei verschiedenen gestaltungspolitischen Perspektiven zu evaluieren (siehe auch Abbildung 6 und Tabelle 5): a.
eine egalitäre Perspektive (v.a. Christiano 1996 & 2008; Ganghof 2005a + b, 2008; Gerring/Thacker/Moreno 2005: Gerring/Thacker 2008; McGann 2006) aus der Politikwissenschaft, die sich innerhalb des ideologischen Koordinatenkreuzes von Petrik (2007, 200f.) grosso modo links auf der horizontalen x-Achse sowie in der Mitte der vertikalen y-Achse befindet, weil der Wert der politischen Gleichheit der Bürger (und damit indirekt auch der Wert der sozialen Gleichheit) den zentralen Ausgangs- und Mittelpunkt ihres Denkens bildet und weil sie infolgedessen im Gegensatz zur liberalkonstitutionellen Perspektive eine starke Stellung von juristischen Autoritäten und Experten (in Form von starken Verfassungsgerichten) zurückweist, zugleich aber auch im Gegensatz zur partizipativen Perspektive einen Ausbau direktdemokratischer Entscheidungsstrukturen als nicht zielführend ansieht und stattdessen den repräsentativen Parlamentarismus als zentrales Entscheidungsverfahren bevorzugt. Die egalitäre Perspektive und ihr didaktischer Wert werden in Kapitel 7.1.1. näher expliziert.
b.
eine partizipative Perspektive (v.a. Feld/Kirchgässner/Savioz 1999; Frey/Kirchgässner 1993; Frey/Stutzer/Benz 2001; Frey 2002; Frey/Stutzer 2003b, 2004a; Von Arnim 2000 & 2001), die sich innerhalb des ideologischen Koordinatenkreuzes von Petrik (2007, 200f.) grosso modo deutlich im positiven Bereich der vertikalen y-Achse und in der Mitte der horizontalen x-Achse befindet, weil sie den Wert der direktdemokratischen Selbstbestimmung der Bevölkerung in allen politischen Fragen in den Vordergrund rückt und somit politische Konflikte zwischen Gleichheit und Freiheit weder durch Beschlüsse des Parlaments noch durch das Diktum der Verfassung bzw. einer juristischen Elite, sondern durch das direkte Votum der Bevölkerungsmehrheit entschieden sehen will. Die partizipative Perspektive setzt sich überwiegend aus Analysen zusammen, die aus der (Schweizer) Ökonomik stammen. Die partizipative Perspektive und ihr didaktischer Wert werden in Kapitel 7.1.2. näher expliziert.
c.
eine liberal-konstitutionelle Perspektive (v.a. Brunetti/Straubhaar 1996; Caplan 2007; Erlei/Leschke/Sauerland 2007, 453-546; McGinnis/Somin 2004; Pincione/Teson 2005; Somin 2004, 2006; Straubhaar 2004; Vanberg 2004, 2006a; Wohlgemuth 2004), die durch Analysen aus der Konstitutionenökonomik konstituiert wird und sich grosso modo im unteren rechten Quadranten des ideologischen Koordinatenkreuzes von Petrik (2007, 200f.) befindet, weil der Wert der individuellen negativen Freiheit im Mittelpunkt ihres Denkens steht, dessen politische Durchsetzung durch stringenten Wettbewerbsföderalismus vorangebracht werden soll. Auch politische Entscheidungen sollen somit stark durch Marktmechanismen gesteuert werden. Angesichts rationaler politischer Ignoranz bzw. einer als ökonomisch rational betrachteten politischen Irrationalität der meisten Bürger wird zugleich dafür plädiert, nicht nur politische, sondern auch ökonomische Freiheitsrechte sowie das Prinzip des Wettbewerbsföderalismus
Gestaltungsorientierte Evaluation des politischen Systems in Deutschland
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durch die Autorität eines starken unabhängigen Verfassungsgerichts und dessen juristische Expertise institutionell zu verankern und auf diese Weise sowohl gegen das opportunistische Rent-Seeking von politischen Minderheiten als auch gegen die `Tyrannei´ repräsentativer oder direkter politischer Mehrheiten zu schützen. Die liberalkonstitutionelle Perspektive und ihr didaktischer Wert werden in Kapitel 7.1.3. näher expliziert. Durch die kontrastive In-Bezug-Setzung der unterschiedlichen normativen Schwerpunkte (Gleichheit, Volkssouveränität, Freiheit) dieser drei verschiedenen Perspektiven und der von ihnen im Anschluss daran favorisierten institutionellen Koordinationsverfahren und politischen Akteure (repräsentative Wahl/Parlament, direkte Abstimmung/Bevölkerung, konstitutioneller Wettbewerbsföderalismus/Verfassungsgericht) kann die Frage nach der angemessenen institutionellen Gestaltung des politischen Systems in Deutschland didaktisch kontrovers (Hedtke 2002a) erörtert werden. Zugleich operieren die Schüler dabei nicht nur mit drei zentralen normativen Grundlagen des institutionellen Systems Demokratie, sondern können auch mögliche (partielle) Zielkonflikte zwischen diesen Wertvorstellungen und den damit verbundenen unterschiedlichen Dimensionen von gesellschaftlicher Lebensqualität erkennen. Auf diese Weise wird es für die Schüler möglich, Zusammenhänge zwischen der normativen und der institutionellen Dimension politischer Systeme zu erkennen, d.h. konkrete Gegenstände aus dem politischen System im direkten Zusammenhang mit grundlegenden Menschen- und Politikbildern und Theorien und Modellen des menschlichen Zusammenlebens zu sehen (GPJE 2004, 16). So wird es möglich, ein persönliches Gesellschaftsbild – hier bezüglich des politischen Systems – als Grundlage ihrer politischen Identitätsbildung zu entwickeln, d.h. eine moralisch einigermaßen kohärente Anschauung davon, wie die Gesellschaft ist und wie sie zur Steigerung der menschlichen Lebensqualität (Kapitel 3.2.) geordnet werden könnte und geordnet werden sollte (Adelson 1977, 272 zit. nach Petrik 2007, 220). Dies leisten andere gängige politische Theorien meiner Ansicht nach weit weniger gut, und zwar deshalb, weil es ihnen an einer klaren Gestaltungsorientierung im Sinne von Kapitel 3 mangelt. Im Gegensatz zum stark historisch angehauchten politikphilosophischen Kanon der derzeitigen Fachrichtlinien in NRW (identitäts- und konkurrenztheoretische Demokratiekonzepte (MSWWF 1999, 16 & 22)) mit den Autoren Rousseau, Madison, Schumpeter, Fraenkel (Floren 2006, 22ff.) besitzen die drei hier vorgestellten Perspektiven den Vorteil, dass sie sich auf dem aktuellen Stand der fachwissenschaftlichen Diskussion befinden; dabei bestehen gewisse Ähnlichkeiten zwischen Fraenkel und der egalitären Perspektive, Rousseau und der partizipativen Perspektive sowie Madison/Schumpeter und der liberalkonstitutionellen Perspektive. Dabei geht es fachdidaktisch nicht darum, dass jeder einzelne Problemlösungsvorschlag, jede einzelne Ursachendiagnose, jedes einzelne Argument etc. der drei Perspektiven im Unterricht thematisiert werden müsste. Deren unten folgende Beschreibung soll vielmehr nur Optionen aufzeigen, aus denen man – wie in jedem Schulbuch – auswählen kann und muss, wenn man mit diesen Perspektiven didaktisch arbeiten will. Abschließend kann unter Rückgriff auf das Koordinatenkreuz erarbeitet werden, in welcher Relation parteipolitische Positionen in diesem Themengebiet zu den drei wissenschaftlichen Perspektiven stehen (siehe dazu Kapitel 7.1.4.). Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Argumentationsgang der ersteren eine deutlich höhere Komplexität als jener der
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Wie kann man ein lebenswertes politisches System gestalten?
letzteren aufweist. Die Verortung der Parteien im Koordinatenkreuz entspricht dem Stand vom Sommer 2008.
Egalitäre Perspektive
Die Linke SPD
Die Grünen
Autorität und Hierarchie durch politische bzw. juristische Eliten / Experten
CDU/CSU
Partizipative Perspektive
Kollektive Selbstbestimmung der Bevölkerung Basisdemokratie
Individuelle Negative Freiheit
Liberal-Konstitutionelle Perspektive
FDP
Perspektiven zum politischen System der BRD im ideologischen Koordinatenkreuz von Petrik (2007)
PolitischSoziale Gleichheit
Abbildung 4:
Linderung des Prinzipal-Agenten-Problems in der Politik
Umgang mit divergierenden politischen Interessen (Pluralismus-„Problem“)
Perzipierte politische Gefahr Rolle der Interessengruppen
Bürgerbild
Politischer Grundwert Ideales Politisches System
Die Tatsache divergierender politischer Interessen erfordert ein prozedurales Gerechtigkeitskriterium, wonach jeder Wählerstimme gleiches Gewicht zukommt Kontrolle der Umsetzung wahlpolitischer Ziele durch Interessensverbände
Egalitäre Perspektive Politische Gleichheit Parl. Parteiendemokratie mit Verhältniswahlrecht und ohne Vetopunkte Associé (Homo Socius): Politisch entlastungsbedürftig, durch Verbände rationalisierbar, begrenzt lernwillig …Plutokratie Interessenverbände kontrollieren im Auftrag der Bürger das Handeln der parteipolitisch Verantwortlichen
Lib.-Konstitut. Perspektive Individuelle Negative Freiheit Konstitutionalisierter Wettbewerbsföderalismus Homo Oeconomicus : Politisch ignorant, irrational, eigennützig, voreingenommen, nicht lernwillig …Ochlokratie Interessenverbände täuschen die wirtschaftspolitisch irrationalen Bürger bezgl. der ökonomischen Rationalität ihrer Ansinnen und eignen sich so wirtschaftliche Renten an Eine ökonomische Ausbeutung von Minderheiten durch politische Mehrheiten lässt sich durch individuelle ExitOptionen im Rahmen des Föderalismus verhindern Wettbewerbsföderalismus setzt Anreize für Politiker, Opportunismus zu unterlassen
Partizipative Perspektive Kollektive Selbstbestimmung (Halb-)Direkte Demokratie Citoyen (Homo Politicus): Politisch engagiert, rational, reziprok, aufgeschlossen, lernwillig …Oligarchie Interessenverbände betreiben in der repräsentativen Demokratie aufgrund von Kontrollund Informationsasymmetrien Rent-Seeking auf Kosten der Allgemeinheit Öffentliche direktdemokratische Diskurse fördern die Gemeinwohlorientierung und die kollektive Identität der Bürger, sodass politische Konflikte gemildert werden Kontrolle des Handelns der politischen Klasse v.a. durch Referenden + Initiativen
Tabelle 3: Kontroverse Perspektiven zum politischen System der BRD
Gestaltungsorientierte Evaluation des politischen Systems in Deutschland
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7.1.1 Die egalitäre Perspektive Zentraler normativer Ausgangspunkt der egalitären Perspektive hinsichtlich der Ordnung des politischen Entscheidungssystems auf der nationalen Ebene ist der Wert der „politischen Gleichheit“ aller Bürger (McGann 2006; Ganghof 2005a & 2005b, 428; Ganghof/Genschel 2007, 21; Christiano 1996; Genschel 2007, 77; Bellamy 2007; Gerring / Thacker/Moreno (2007)48). Diese Norm wird als oberster demokratischer Grundwert betrachtet, d.h. als zentrales Fundament für den Lebenswert einer Gesellschaft angesehen. Im Gegensatz zur liberal-konstitutionellen Perspektive wird es abgelehnt, die philosophische Rechtfertigung einer demokratischen Ordnung auf den politischen Grundwert der individuellen Freiheit / Freiwilligkeit zu gründen (Christiano 1996, Kapitel 1 & S. 47; Ganghof 2005a, 750). Dies bedeutet jedoch nicht eine Ablehnung der liberalen Grundrechte, die insofern im Konzept der politischen Gleichheit integriert sind, als die Menschenrechte für alle Individuen gleich gültig sein sollen. Denn anderenfalls besäßen die Individuen ja auch keine gleichen politischen Ressourcen, um ihre politischen Interessen durchzusetzen. Die Ablehnung des Grundwerts der Freiheit als normativer Ausgangspunkt politischer Theorie soll hingegen besagen, dass in einer Demokratie nicht alle politischen Präferenzen der individuellen Staatsbürger zur Geltung kommen könnten, da dies einen freiwilligen inhaltlichen Konsens aller Bürger voraussetzen würde, der angesichts der gesellschaftlichen Pluralität der Interessen und Werte nicht zu erreichen sei (Bellamy 2007). Infolge dieser Pluralität sei die Verabsolutierung des normativen Prinzips der negativen Freiheit / individuellen Freiwilligkeit zu einer unhintergehbaren Prämisse durch die liberal-konstitutionelle Perspektive unzulässig, denn diese Norm sei auch zwischen allgemeinwohlorientiert diskutierenden Bürgern höchst umstritten (Ganghof 2008, 18). Der gesellschaftliche Interessenpluralismus erfordere deshalb ein faires Verfahren zur Entscheidung von Konflikten (McGann 2006, 80), d.h. man müsse sich mit einem prozeduralen Konsens begnügen, d.h. der Mehrheitsdemokratie, in der jeder Stimme gleich viel Gewicht zukomme. Hierzu gäbe es keine realistische Alternative (ebd., 210). Das (durch liberale Grundrechte eingehegte) Mehrheitsprinzip sorge dafür, dass so viel politische Selbstbestimmung wie möglich und so viel politische Fremdbestimmung wie nötig herrsche. Es garantiere, dass die Auffassungen möglichst vieler Personen zur Geltung kommen. Die von der liberal-konstitutionellen Perspektive befürchtete rücksichtslose Durchsetzung der (egoistischen) Interessen der Mehrheit zulasten der Minderheit (Tyrannei der Mehrheit) sei nicht zu befürchten, da sich sowohl Wähler als auch Politiker in einer repräsentativen Demokratie in gleichem Maße an eigenen Interessen und am Allgemeinwohl orientieren würden, wie empirische Studien zeigen (Christiano 1996, 151; Bellamy 2007). Deshalb sieht die egalitäre Perspektive die fundamentale Essenz von Demokratie in der Gültigkeit des Mehrheitsprinzips (Ganghof 2005; Bellamy 2007) (eingeschränkt nur durch die Menschenrechte). Aus diesem Grund hat Christiano (1996) seinem Werk den affirmativ gemeinten Titel „The Rule of the Many“ gegeben. Didaktisch kann man diesem Theorem die Kritik an der heutigen parlamentarischen Mehrheitsherrschaft seitens der liberalkonstitutionellen Perspektive (vgl. v.a. V. Vanberg 2006) gegenüberstellen und so im Sinne
48 Gerring/Thacker/Moreno (2005, 567) sprechen terminologisch von „broad inclusion“, meinen semantisch aber dasselbe und kommen daher auch zu exakt denselben institutionellen Schlussfolgerungen wie die anderen genannten Autoren.
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Wie kann man ein lebenswertes politisches System gestalten?
von Hedtke (2005a) eine politikwissenschaftliche Sichtweise mit einer ökonomischen Sichtweise integrieren. Eine zentrale Bedingung für die Erfüllung des Ideals der politischen Gleichheit sieht die egalitäre Perspektive darin, dass jeder erwachsene Bürger über gleich starke politische Ressourcen zur Beeinflussung des demokratischen Gesetzgebungsprozesses und damit der Gestaltung der gesellschaftlichen Institutionen verfügen soll (Ganghof 2005a + b; Christiano 1996; McGann 2006; Bellamy 2007; Genschel 2007, 77). Diese normative Prämisse wird von der egalitären Perspektive in nicht-trivialer (d.h. über den demokratischen Basiskonsens hinausgehender) und kategorialer Weise, d.h. zur Evaluation aller zentralen Teilbereiche politischer Systeme und Ableitung institutioneller Empfehlungen verwendet (s.u.). Aus Sicht einer gestaltungsorientierten Fachdidaktik stellt politische Gleichheit damit ein zentrales gestaltungsorientiertes Urteilskriterium zur Evaluation politischer Systeme dar, mit dem Schüler umgehen können sollten. Derartige kategoriale, d.h. die vielen Einzelinstitutionen des politischen Systems übergreifende Urteilskriterien als zentrale Referenzund Ankerpunkte der Diskussion im Unterricht (Ackermann et al. 1994, 81ff.) zur Bewertung eines politischen Ordnung im Ganzen sollten entsprechend prononciert herausgestellt werden, anstatt wie z.B. im Schulbuch von Floren (2006, 21-61) nur mehr oder weniger im Eingangskapitel die Darstellung und Kritik politischer Theorien und in den folgenden Kapiteln dann die Darstellung und Kritik einzelner politischer Institutionen aneinanderzureihen – jedenfalls dann, wenn der Schüler noch den `Wald´ (das Kategoriale) vor lauter `Bäumen´ (den vielen einzelnen Teil-Institutionen des politischen Systems) erkennen soll. Dem Terminus „gleich starke politische Ressourcen“ wird seitens der egalitären Perspektive sowohl eine formale als auch eine materielle Konnotation verliehen (Christiano 1996, Kapitel 8; McGann 2006, 197f.). In formaler Hinsicht bedeutet diese Norm, dass der Wahlstimme jedes Bürgers gleiches Gewicht zukommen soll. Dies erscheint nach Abschaffung des Zensuswahlrechts heute selbstverständlich, was angesichts der divergierenden politischen und sozioökonomischen Effekte unterschiedlicher Wahlsysteme jedoch nicht der Fall ist (vgl. Kapitel 7.1.1.1.). In materieller Hinsicht bedeutet die o.g. Norm, die Möglichkeit der Finanzierung von Wahlkämpfen durch Zuwendungen von privater Seite stark zu begrenzen und die Wahlkampfkosten der Parteien stark durch öffentliche Mittel zu subventionieren sowie die Ungleichheit der ökonomischen Ressourcen, die zur Beeinflussung des politischen Prozesses (z.B. Lobbying, Öffentlichkeitsarbeit) eingesetzt werden können, durch staatliche Umverteilung zu reduzieren. Auf diese Weise soll allen sozialen Gruppen eine nicht nur formal, sondern auch faktisch annähernd gleiche Möglichkeit eröffnet werden, Parteien und/oder Interessengruppen zu bilden, sich in deren Rahmen deliberativ über die eigenen politischen Ziele zu verständigen und den politischen Entscheidungsprozess durch diese Organisationen zu beeinflussen und zu beobachten (Christiano 1996, Kapitel 8). Die egalitäre Perspektive befürwortet in gestaltungspolitischer Hinsicht die sog. „echte Mehrheitsdemokratie“ (Ganghof 2005 a + b), d.h. eine repräsentative (nicht: direkte bzw. halb-direkte), parlamentarische (nicht: präsidentielle) Mehrheits-Demokratie mit Verhältniswahlrecht (nicht: Mehrheitswahlrecht) und Einkammerparlament (nicht: Bikameralismus49). Zu dieser „echten Mehrheitsdemokratie“ gehöre auch, dass sich die 49 Bikameralismus meint eine parlamentarische Struktur mit zwei Kammern, wie z.B. in Deutschland in Form der Tatsache, dass der Bundestag durch den Bundesrat ergänzt wird und in vielen Bereichen erhebliche Mitentscheidungsrechte besitzt.
Gestaltungsorientierte Evaluation des politischen Systems in Deutschland
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Aufgaben der Verfassung bzw. des Verfassungsgerichts auf die Durchsetzung bzw. Überwachung der Einhaltung der grundlegenden Menschenrechte im Regierungshandeln beschränken. Ein aktivistisches Verfassungsgericht wie in der BRD oder eine darüber noch hinausgehende, von der liberal-konstitutionellen Perspektive geforderte Konstitutionalisierung ordoliberaler Ordnungsprinzipien werden dementsprechend abgelehnt (siehe für eine Begründung aller genannten institutionellen Empfehlungen Kapitel 7.1.1.1. bis 7.1.1.4.). Die teilweise unterschiedliche begriffliche Terminologie darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein derartiges politisches System – jeweils in toto – von allen Autoren (Christiano (1996), Ganghof (2005a + b), Kaiser/Lehnert/Miller/Sieberer (2002), McGann (2006), Gerring / Thacker/Moreno (2005, 2008), Bellamy (2007, 239ff. & 262)) befürwortet wird. Hinter dieser normativen Position steht zugleich eine analytische Systematik zum Vergleich politischer Systeme, mit der man in leistungsstarken Kursen den Lernenden auf übersichtliche Weise die internationale Vielfalt alternativer Ordnungsrealitäten (Hedtke 2002a) vor Augen führen und somit verdeutlichen kann, dass demokratische Systeme gesellschaftliche Konstrukte darstellen und daher jeweils prinzipiell immer auch anders gestaltbar und damit veränderbar sind (Hedtke 2006a, 220). Auf diese Weise kann die mögliche Illusion der Naturhaftigkeit des Politischen (Petrik 2007, 227) zumindest irritiert werden. Ganghof (2005b), Kaiser/Lehnert/Miller/Sieberer (2002) und McGann (2006) schlagen eine zweidimensionale Bestimmung von Typen demokratischer Systeme (Polities) vor. Diese zwei Analysedimensionen sind:
die Proportionalität des Wahlrechts (Verhältnis- vs. Mehrheitswahlrecht) die Vetopunktintensität als Summe aus der Zahl supermajoritärer Vetopunkte50 (als solche zählen: Bikameralismus, Präsidentialismus, aktive Verfassungsgerichtsbarkeit und Referenden) und deren jeweiliger politischer Stärke (gemessen an den national unterschiedlichen politischen Befugnissen dieser Institutionen)
Hieraus ergeben sich vier Basis-Typen von Polities (Ganghof 2005; McGann 2006): 1. 2. 3. 4.
ein pluralitärer Westminster-Typ (z.B. Großbritannien) mit Mehrheitswahlrecht und nicht vorhandener bzw. sehr geringer Vetopunktintensität ein pluralitär-supermajoritärer Typ (z.B. USA) mit Mehrheitswahlrecht und hoher Vetopunktintensität ein supermajoritärer Typ (z.B. Deutschland, Schweiz) mit Verhältniswahlrecht und hoher Vetopunktintensität ein majoritärer Typ (z.B. Skandinavien) mit Verhältniswahlrecht (elektorales Proporzprinzip) und niedriger Vetopunktintensität (legislatives Mehrheitsprinzip)
Mit der egalitären Perspektive kann man in didaktischer Hinsicht (mögliche) Zusammenhänge zwischen der Gestaltung des politischen Systems und der gesellschaftlichen Lebensqualität (Kapitel 3) ausloten. Denn aus ihrer Sicht entspricht der letzte, in den skandinavischen Staaten vorherrschende majoritäre Typus – die „echte Mehrheitsdemokratie“ – nicht 50 Mit Vetopunkten sind Vetoakteure gemeint, die Entscheidungen eines Bundesparlaments politisch blockieren können.
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Wie kann man ein lebenswertes politisches System gestalten?
nur dem Grundwert der politischen Gleichheit am Besten (Ganghof 2005 a + b; McGann 2006; Gerring/Moreno/Thacker 2005), sondern weise auch die höchste demokratische „Qualität“ (Kaiser/Lehnert/Miller/Sieberer 2002) auf und fördere dadurch die gesellschaftliche Lebensqualität der Menschen, weil er zu einer hohen Kongruenz zwischen Wählerpräferenzen und politischen Entscheidungen führe (Ganghof 2004, 127). Zudem begünstige die „echte Mehrheitsdemokratie“ die Ausbildung von konsensuale(re)n Verhaltensmustern bei den politischen Akteuren (Ganghof 2005b, 419ff.; McGann 2006, 206f.). Denn infolge der relativ hohen Zahl an Parteien in diesem Systemtyp existierten mehrere potentielle, partiell überlappende Koalition(smöglichkeit)en, sodass die Parteien der Regierungskoalition einen Anreiz besäßen, gemeinwohlorientierte bzw. zumindest keine übermäßig eigennützige Politik zu betreiben. Denn anderenfalls müssten sie befürchten, dass die in der Opposition befindlichen Parteien versuchen, durch Konzessionen an einen Teil der Regierungsparteien diese aus der Regierungskoalition herauszulösen und mit diesen eine neue Koalition zu bilden, die ihre Interessen besser wahre. Da die oppositionellen Parteien aber zugleich über keine supermajoritären Blockademöglichkeiten gegenüber der Regierung verfügen, seien auch sie dabei in Form von relativ weitreichenden Konzessionen stark konsensorientiert. Somit gilt das politische System der skandinavischen Länder der egalitären Perspektive als empirisches Vorbild (Gerring/Moreno/Thacker 2005, 570f.). Der hohe Lebenswert dieser Länder, d.h. ihre im internationalen Vergleich überdurchschnittlich hohe ökologische und ökonomische Performanz und insbesondere die dort relativ gering ausgeprägte sozioökonomische Ungleichheit sei auch auf die intrinsische, d.h. egalitäre Qualität ihres politischen Institutionensystems zurückzuführen (Ganghof 2005a, 758; Ganghof 2005b, 422; McGann 2006, 195-201). Die skandinavischen Demokratien seien „kinder, gentler democracies“ mit „more broadly defined social rights” sowie „lower inequality and greater provision of public services“. Sie seien „more egalitarian in respect to gender“ und zeichneten sich kriminalitätspolitisch durch „lower incarceration rates“51 aus (McGann 2006, 187200). Politische Gleichheit i.o.S. wird also als notwendige Voraussetzung für ein relativ hohes Maß an sozioökonomischer Gleichheit betrachtet: “It is precisely where political procedures are most egalitarian that income equality and redistribution by government is highest. The empirical literature shows that it is precisely where there is political equality that governments do most to reduce economic inequality.“ (McGann 2006, 200)
Umgekehrt verweisen international vergleichende, multivariate Korrelationsanalysen zur politischen Partizipation in OECD-Ländern darauf, dass ein geringeres Ausmaß an sozioökonomischer Ungleichheit die Wahlbeteiligung insbesondere von Bürgern aus unteren Sozialschichten und damit die politische Gleichheit erhöht. Denn politische Öffentlichkeiten bzw. Systeme, deren Diskurs bzw. Entscheidungsprozesse durch vermögende Akteure (über Lobbying, Parteispenden, Gründung von Think-Tanks, Medien etc.) dominiert werden, erzeugten bei sozial benachteiligten Bürgern angesichts der von ihnen 51 Die Anzahl der Gefängnisinsassen auf 100000 Einwohner ist in Skandinavien im internationalen Vergleich in der Tat niedrig und beträgt je nach Land zwischen 65 und 75. Damit liegen diese Länder etwa 20-25% unter dem westeuropäischen Durchschnitt. Zum Vergleich: BRD: 96; England: 142; USA: 714. Siehe: http://www.kcl.ac.uk/depsta/rel/icps/world-prison-population-list-2005.pdf
Gestaltungsorientierte Evaluation des politischen Systems in Deutschland
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erfahrenen mangelnden Responsivität der Öffentlichkeit und des politischen Systems gegenüber ihren spezifischen Problemlagen und Bedürfnissen politische Apathie, Zynismus, ontologisierende Deutungen der sozialen Welt, etc. (Solt 2008; Anderson/Beramendi 2005; Jörke 2005). Eine relativ stark ausgebaute sozialpolitische Umverteilung von Markteinkommen wird daher aus egalitärer Perspektive deutlich positiver bewertet (siehe dazu auch das Plädoyer von Ganghof/Genschel (2007) und Ganghof (2004) für einen progressiven Steuertarif) als es in der liberal-konstitutionellen Perspektive der Fall ist. Eine Verletzung bürgerlicher Freiheitsrechte wird darin nicht erblickt, weil ein drastischer Sozialabbau, der wie in den USA den Ausbau des strafenden Staates in Form einer massiv expandierenden Gefängnispopulation begünstige, auf indirektem Wege zu einem mindestens ebenso harten Eingriff in die liberalen Grundrechte führe wie hohe Steuertarife (Ganghof 2008, 19). Für eine gestaltungsorientierte sozialwissenschaftliche Fachdidaktik kommt es darauf an, die Frage nach der Gestaltung einer Polity nicht als abgehobenen Selbstzweck zu behandeln oder diese Frage nur in Bezug auf relativ abstrakte Gerechtigkeitsnormen der politischen Philosophie zu erörtern, sondern auch im Hinblick auf (mögliche) Interdependenzen zwischen den Strukturen des politischen Systems und dem Ausmaß/Verteilung der sozioökonomischen Lebensqualität (Kapitel 3.2.) in der Gesellschaft zu thematisieren. So lassen sich – in gestaltungsorientierter Weise – sinnvolle Beziehungen zwischen verschiedenen sozialen Systemen und Einheiten (hier: Polity und Sozialstruktur) herstellen (Hedtke 2005a, 33). Die egalitäre Perspektive stellt dabei einen wichtigen Bestandteil einer solchen Relationierung dar, weil man mit ihr (mögliche) Zusammenhänge zwischen der Struktur des politischen Systems und der sozialen Ungleichheit aufzeigen kann, die mit Blick auf die Lebenschancen der Individuen zu Recht als zentrales Schlüsselproblem einer sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik herausgestellt worden ist (Weber 2004). Bei der exemplarischen didaktischen Auseinandersetzung mit den normativen Gestaltungsempfehlungen der egalitären Perspektive zu den institutionellen Stellschrauben eines politischen Systems (siehe dazu die folgenden Unterkapitel) sollte deshalb insbesondere auch der (mögliche) Nexus zwischen politischer und sozialer (Un)Gleichheit herausgestellt werden. Das heißt freilich nicht, dass der Beitrag der Strukturen des politischen Systems zur gesellschaftlichen Lebensqualität bzw. deren Verteilung nur am Urteilskriterium der sozialen Gleichheit zu messen wären. Da dies eine Verletzung des Kontroversitätsprinzips darstellen würde, sollten zur Förderung eines mehrdimensionalen „Gerechtigkeitssinns“ (Deichmann 2004, 129) unter Rückgriff auf die partizipatorische und die liberal-konstitutionelle Perspektive auch andere Urteilskriterien bezüglich dieses Zusammenhangs (Selbstbestimmung, Kompetenz und soziale Bezogenheit durch Partizipation; negative Freiheit und Wirtschaftswachstum) hinzugezogen und dem der Gleichheit gegenübergestellt werden. Eine quantitative, über den qualitativen Verweis auf die skandinavischen Staaten hinausgehende empirische Bestätigung der von der egalitären Perspektive vertretenen These, dass „echte Mehrheitsdemokratien“ i.o.S. zu besseren Politikergebnissen und damit höherer Lebensqualität führen, liefern Gerring/Thacker/Moreno (2005). Gemäß ihrer länderübergreifenden empirischen Analyse zeichnen sich demokratische Staaten, die der „echten Mehrheitsdemokratie“ näher kommen als andere demokratische Staaten, durch a) eine höhere Qualität der staatlichen Administration, b) ein höheres (sozial)staatliches Engagement in Form eines höheren Steueranteils am BIP, c) ein höheres BIP pro Kopf, d) eine niedrigere Kindersterblichkeit, e) eine höhere Lebenserwartung, f) eine stärkere Außenhandelsöff-
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Wie kann man ein lebenswertes politisches System gestalten?
nung und g) eine geringere Analphabetenquote aus. Dies sei auch dann der Fall, wenn andere bedeutsame Einflussvariablen statistisch kontrolliert werden. Der egalitären Perspektive lassen sich wie gesagt u.a. konkrete institutionell-normative Bewertungen zum Wahlrecht (Kapitel 7.1.1.1.), zur Direkten Demokratie (Kapitel 7.1.1.2.), zur Verfassungsgerichtsbarkeit (Kapitel 7.1.1.3.) und zum Föderalismus (Kapitel 7.1.1.4.) entnehmen. Didaktisch sollte in jedem Fall auf die (Kernaussagen zu den) beiden Dimensionen „Direkte Demokratie“ und „Föderalismus“ eingegangen werden, da diese Aspekte für den kontrastiven Vergleich der egalitären Perspektive mit der partizipativen und der liberalkonstitutionellen Perspektive essentiell sind. Die anderen beiden Aspekte können bei Zeitknappheit auch entfallen.
7.1.1.1 Verhältniswahlrecht statt Mehrheitswahlrecht Aus Sicht der egalitären Perspektive fordert das normative Ideal der politischen Gleichheit das Verhältniswahlrecht mit niedriger Prozentklausel, denn nur dann entspricht das Kräfteverhältnis zwischen den gewählten Parteien im Parlament (Repräsentanten) dem Kräfteverhältnis zwischen den geäußerten Wählerpräferenzen. Das angelsächsische Mehrheitswahlsystem verletze hingegen das Prinzip der politischen Gleichheit, weil hier nur solche Repräsentanten in das Parlament einziehen, die im jeweiligen Wahlkreis die einfache (nicht: absolute) Mehrheit der Wählerstimmen auf sich vereinigen konnten, während die Präferenzen der übrigen Wähler überhaupt nicht zur Geltung kommen (Winner-Takes-AllPrinzip). Folglich ist es hier oft so, dass eine auf der absoluten Minderheit der Wähler basierende Regierung politische Entscheidungen durchsetzen kann. Daher kommen beim Mehrheitswahlrecht viele individuelle politische Präferenzen nicht zur Geltung. Dies werde noch dadurch verschärft, dass das Mehrheitswahlrecht aus systematischen Gründen gemäß dem Loi de Duverger (benannt nach dem frz. Politologen Maurice Duverger) stark dazu tendiert, das politische Spektrum auf zwei Parteien zu beschränken, während die Zahl der im Parlament vertretenen Parteien im Rahmen eines Verhältniswahlsystems größer ausfällt. Denn die Tatsache, dass relativ kleine Parteien im Kontext eines Mehrheitswahlrechts keine bzw. deutlich weniger Parlamentssitze erhalten (weil sie keine oder nur sehr wenige Wahlkreise direkt gewinnen) und keine Chance auf Beteiligung an einer Regierung besitzen, führt bei jenen Wählern, die eigentlich eine Präferenz für eine kleine Partei besitzen, zu einem taktischen Wahlverhalten. Um ihre Stimme nicht an eine Partei ohne Erfolgsaussichten zu `verschenken´, wählen sie anstelle der kleinen Partei lieber diejenige der großen Parteien, die noch am ehesten ihren Präferenzen entspricht und zugleich auch Aussicht auf Erfolg, d.h. Regierungsbildung hat. Hinzu kommt, dass ein politisches Engagement in kleinen Parteien für talentierte Politiker in einem Mehrheitswahlsystem weniger attraktiv ist als in einem Verhältniswahlsystem, weil kleine Parteien nur in letzterem Aussicht auf Regierungsbeteiligung (im Rahmen von Koalitionen) besitzen. Das Verhältniswahlrecht erleichtere infolge der höheren Erfolgsaussichten kleiner Parteien die Bildung neuer Parteien (Christiano 1996, 223) und erhöhe daher die politische Innovationsfähigkeit und die Zahl der im Parlament vertretenen Parteien. Dies stärke nicht nur die Repräsentativität des politischen Systems, sondern führe auch dazu, dass die einzelnen Parteien ihre Ziele möglichst eindeutig und spezifisch formulieren, weil sie sich auf
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bestimmte, kleinere Segmente des Wählerspektrums mit relativ geringer ideologischer Bandbreite konzentrieren können. Das Mehrheitswahlsystem begünstige hingegen vergleichsweise vage, unklare Positionierungen der wenigen Parteien, weil diese sich jeweils an eine größere Wählergruppe mit einer längeren ideologischen Bandbreite richten müssten (ebd. & 258). Daher sei es für die Bürger in einem Verhältniswahlsystem leichter festzustellen, welche Partei tatsächlich ihrer individuellen Präferenz entspricht und die Parteien dann gemäß den von ihnen propagierten politischen Zielen auszuwählen. Infolgedessen sei damit zu rechnen, dass die Präferenzen der Bürger und das politische Handeln der Verantwortlichen besser miteinander übereinstimmen. Darüber hinaus ist durch eine international vergleichende empirische Studie gezeigt worden, dass das Verhältniswahlrecht insofern die politische Gleichheit auch zwischen den Geschlechtern fördert, als dieses den Anteil weiblicher Parlamentarier deutlich erhöht. Denn politische Seniorität, d.h. die Kontinuität der politischen Karriere ist in Systemen mit Mehrheitswahlrecht von weitaus größerer Bedeutung für den politischen Erfolg als in Verhältniswahlrechtssystemen. Denn während in letzteren das kollektiv-nationale Renomée der Partei der ausschlaggebende Faktor für den Wahlerfolg ist, spielt in ersteren der langfristige Aufbau von persönlichen, reziproken politischen Netzwerken zwecks Rekrutierung von Ressourcen zur Bedienung der Interessen des eigenen lokalen Wahlkreises eine weitaus wichtigere Rolle (Iversen/Rosenbluth 2008). Eine zusätzliche Verbindung zwischen dem Ideal der politischen Gleichheit und dem Verhältniswahlrecht liegt darin, dass empirisch die Wahlbeteiligung in Ländern mit Verhältniswahlrecht insgesamt höher ausfällt als in Ländern mit Mehrheitswahlrecht (McGann 2006, 199; Iversen/Soskice 2005, 11; Franklin 1996, 2004), was auf die höhere Wahlbeteiligung der Angehörigen der unteren sozioökonomischen Schichten in Ländern mit Verhältniswahlrecht zurückzuführen ist. Theoretisch wird dieser Befund erstens damit erklärt, dass in einer Demokratie mit Verhältniswahlrecht, welches Koalitionsregierungen sehr stark begünstigt, eine einzelne Partei nicht unbedingt die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen muss, um an die Macht zu kommen. Klar linksorientierte Parteien, deren politische Strategie auf die überdurchschnittlich zur Nichtwahl neigenden Angehörigen der unteren sozioökonomischen Schichten ausgerichtet ist, haben hier also eine realistische Chance, ins Parlament einzuziehen, weshalb sie von ebendiesen gewählt werden. Ein zweiter Grund liegt darin, dass ökonomische Ressourcen und damit auch das Bildungskapital in Staaten mit Verhältniswahlrecht ceteris paribus stärker gleich verteilt sind (McGann 2006, 197; Iversen/Soskice 2005), was dazu führt, dass auch das politische Wissen (v.a. das Wissen um die eigenen politischen Interessen) stärker egalitär verteilt sind (Abrams 2004 zit. nach Iversen/ Soskice 2005). Das politische Wissen in unteren Sozialschichten ist in Ländern mit Verhältniswahlrecht ceteris paribus also höher, was deren Wahlbeteiligung erhöht. Doch warum sind ökonomische Ressourcen und damit auch Bildungskapital in Staaten mit Verhältniswahlrecht im Vergleich zu Staaten mit Mehrheitswahlrecht ceteris paribus stärker gleich verteilt? Staaten mit Verhältniswahlrecht haben den modernen Sozialstaat und damit die sozialpolitische Umverteilung ceteris paribus deutlich stärker ausgebaut als Staaten mit Mehrheitswahlrecht (Rodden 2007, 26-30; Iversen/Soskice 2006) und werden dem normativen Wert der politischen Gleichheit auch insofern besser gerecht. Dieser Zusammenhang ist keine zufällige Korrelation, sondern laut Rodden (2007) kausal bedingt. Demnach benachteiligen Mehrheitswahlsysteme die politischen Interessen einer Bevölkerungsgruppe A, die zwar insgesamt gesehen in einem Land eine Mehrheit bildet (oder zu-
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mindest die Hälfte der WählerInnen stellt), sich aus ökonomischen Gründen aber geografisch-residentiell sehr stark auf eine Minderheit von bestimmten Wahlbezirken konzentriert. Die Bevölkerungsgruppe A befindet sich deshalb in der Mehrheit der Wahlbezirke in der Unterzahl. Demgegenüber befindet sich Bevölkerungsgruppe B absolut über das gesamte Land betrachtet zwar in der Minderheit (oder stellt nur die Hälfte), doch ist diese in der Mehrheit der Wahlkreise in der Überzahl. Und in Mehrheitswahlsystemen zählt die Mehrheit der gewonnenen Wahlbezirke und nicht – wie in Verhältniswahlsystemen – die Mehrheit der erhaltenen Wahlstimmen. In Verhältniswahlsystemen wird das politische Interesse einer geografisch-residentiell konzentrierten Bevölkerungsgruppe also nicht benachteiligt, während dies in Mehrheitswahlsystemen der Fall ist. Nach Rodden (2007) sind es die politisch links stehenden Interessen von urbanisierten (einfachen Arbeitnehmer- sowie postmaterialistischen) Milieus, die sich – auch heute noch – geografisch-residentiell stark auf städtische, industrialisierte Ballungsräume wie z.B. das Ruhrgebiet konzentrieren, sich aber in ländlichen Gegenden in der Minderheit befinden: “Industrialization involved a rapid concentration of population and production in these `core´ areas. These areas also became the seedbed of socialism. (…) Demands for risk sharing and redistribution were likely greater in cities than in rural areas because of basic occupational and lifestyle differences. (…) The rather stark division between urban and rural has given way to a more complex geography involving suburbs and semi-urban areas that are segregated by income and the transition to a service economy has diluted the phenomenon of dense proletarian enclaves. Yet as demonstrated in the empirical analysis below, the relative geographic concentration of the left has been quite stubborn around the world. (…) In many countries, urban voters place themselves to the left of non-urban voters, and the potential (and actual) support for the left is clustered in densely populated urban corridors where the working class, unions, and left mobilization originated.” (Rodden 2007, 4-5 & 30; meine Hervorhebung, T.H.)
Folglich seien es Bevölkerungsgruppen mit `linken´ politischen Interessen, welche durch Mehrheitswahlsysteme benachteiligt werden, während ihnen in Verhältniswahlsystemen seitens der Parteipolitik mehr Gehör geschenkt wird. Linke Parteien haben in Staaten mit Verhältniswahlsystem seit 1945 im Durchschnitt deutlich öfter die Regierung gestellt als rechtskonservativ-marktliberale Parteien, während in den anglo-amerikanischen Mehrheitswahlsystemen die Regierung deutlich öfter von rechtskonservativ-marktliberalen Parteien gestellt wurde. Zugleich zeigt sich aber auch – und dies ist für die BRD besonders relevant –, dass rechtskonservativ-marktliberale Parteien sich in Verhältniswahlsystemen gezwungen sehen, eine deutlich `linkere´ Politik zu betreiben als die Counterparts aus ihrer konservativ-liberalen Parteifamilie in den anglo-amerikanischen Mehrheitswahlsystemen. Rodden (2007) erläutert dies anhand der für eine grundsätzlich dem `rechten´ Spektrum zuzuordnende Partei überraschend forcierten Sozialstaatspolitik der deutschen CDU seit 1945: “The platforms of the German parties may have evolved quite differently if Germany had chosen a pure SMD system [Single-Member-District-System = Mehrheitswahlrechtssystem, T.H.] after World War II. Survey research reveals that voters in Germany`s densely populated, heavily industrialized regions are to the left of the rest of the country on the economic issue dimension [gemeint sind Umverteilungspräferenzen, T.H.]. Without the second ballot and a translation of votes that is ultimately highly proportional, it is plausible that the Christian Democrats could have ignored urban workers and avoided a welfare-state agenda. (…) However, under PR [=
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Proportional Representation = Verhältniswahlrechtssystem, T.H.], the CDU was forced to court urban workers in order to succeed. Germany has built one of the world`s largest welfare states, largely under watch of the CDU. (…) In comparative perspective, one is struck by the fact that the CDU`s economic platforms, along with those of mainstream parties of the right in other PR systems of postwar continental Europe, have been well to the left of the mainstream leftist parties in SMD systems.” (Rodden 2007, 25; meine Hervorhebung, T.H.)
Demgegenüber sind linke Parteien in den angloamerikanischen Staaten mit Mehrheitswahlrecht wie z.B. die Demokraten in den USA oft gezwungen, sich relativ weit rechtsliberal zu positionieren, wenn sie Wahlen gewinnen wollen. Didaktisch lassen sich mit dieser Argumentation zum einen die normativ-theoretische und die institutionell-konkrete Ebene politischer Systeme in der Diskussion direkt miteinander verbinden und zum anderen wichtige Interdependenzen zwischen politischem System und sozioökonomischen Strukturen/sozialer Ungleichheit aufzeigen. Der Schüler kann dann mit Hilfe dieser Perspektive das bestehende Wahlrecht in der BRD, das – angesichts der Überhangmandate! – kein reines Verhältniswahlrechtssystem, sondern eine Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht darstellt, mit Blick auf das Urteilskriterium der politischen/sozialen Gleichheit gestaltungsorientiert evaluieren. Mit Blick auf die Problematik unbeabsichtigter Nebenfolgen (Kapitel 4.4.2.) kann auch auf die von der egalitären Perspektive nicht beachtete (mögliche) Ambivalenz des Verhältniswahlrechts aufmerksam gemacht werden. So konstatiert Strohmeier (2006) für Deutschland angesichts von inzwischen i.d.R. fünf im Parlament vertretenen Parteien und den damit verbundenen erhöhten Anforderungen an die Koalitionsbildung eine zunehmende Blockadeanfälligkeit und Handlungsunfähigkeit des politischen Systems. Diesen Einwand kann der Lernende jedoch zugleich wiederum unter Rückgriff auf die im Rahmen der egalitären Perspektive angestellten internationalen Vergleiche als zumindest in mittel- bis langfristiger Hinsicht nicht zwangsläufig erkennen, denn die skandinavischen Regierungssysteme zeichnen sich trotz der relativ hohen Zahl der dort im Parlament vertretenen Parteien durch eine überdurchschnittlich hohe Regierungsfähigkeit aus (McGann 2006).
7.1.1.2 Ablehnung direktdemokratischer Institutionen Der zentrale Unterschied zwischen partizipativer und egalitärer Perspektive besteht darin, dass letztere einen Einbau direktdemokratischer Elemente in das repräsentative majoritäre System explizit ablehnt (Gerring/Moreno/Thacker 2005; McGann 2006; Kaiser/Lehnert/ Miller/Sieberer 2002) und stattdessen nachdrücklich eine starke Parteiendemokratie favorisiert (Christiano 1996; Ganghof 2005a). Diese Haltung zeigt sich bereits an der autorenübergreifenden konzeptuellen Einordnung von direktdemokratischen Referenden als – normativ negativ bewertete – Vetopunkte (s.o.). Eine gewisse argumentative Schwäche aller o.g. Autoren der egalitären Perspektive besteht jedoch darin, dass sie darauf verzichten, genauer zu begründen, warum Direkte Demokratie mit dem von ihnen in den Mittelpunkt gerückten Grundwert der politischen Gleichheit konfligiert. Dieser Mangel ist auch didaktisch insofern problematisch, als diese fehlende argumentativ-logische Stringenz und Kohärenz das Verständnis der egalitären Perspektive durch die Schüler erschweren dürfte. Angesichts dessen ist es sinnvoll, die
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egalitäre Perspektive didaktisch zu vervollkommnen, d.h. argumentativ abzurunden, indem bestimmte Schriften von anderen Autoren in die egalitäre Perspektive integriert werden, und zwar solche Schriften, die sich insofern inhaltlich homolog zur Argumentation der obigen Autoren verhalten, als sie die Direkte Demokratie aufgrund der Verletzung des Prinzips der politischen Gleichheit ablehnen. Durch dieses Vorgehen kann man didaktisch aufzeigen, dass die direkte Demokratie u.a. dadurch in einen Konflikt mit dem Prinzip der politischen Gleichheit gerät, dass sie die politische Durchsetzungskraft der Interessen von finanzstarken sozialen Gruppen gegenüber den Interessen von sozioökonomisch benachteiligten Gruppen faktisch systematisch erhöht, wie empirische Analysen direktdemokratischer Entscheidungsprozesse in den USamerikanischen Bundesstaaten (Goldsmith 2005; Broder 2000) und in der Schweiz (Linder 1992, 135f.) zeigen. Nur hinreichend finanzstarke Interessen mit entsprechendem politischen Know-How aus der Ober- und ggf. Mittelschicht können demnach den heutzutage stark angestiegenen umfangreichen finanziellen und organisatorischen Aufwand bewältigen, der notwendig ist, um eine Initiative bzw. ein Referendum in dem für einen Abstimmungserfolg notwendigen Maße politisch zu lancieren (Unterschriftensammlung) und öffentlich zu fördern (Werbeausgaben) oder aber umgekehrt durch mediale Beeinflussung der Bevölkerung zu Fall zu bringen. Empirisch zeige sich z.B., dass finanzstarke Interessengruppen nur genügend Kapital in eine Medienkampagne mit dem Ziel investieren müssten, dubiose Zweifel irgendwelcher Art an der Sinnhaftigkeit einer Initiative zu säen, um die Bevölkerung in der Abstimmung zu einer Ablehnung zu bewegen (ebd.). Hieran kann man die für die evaluative Urteilsfähigkeit didaktisch wichtige kategoriale Differenz zwischen formaler und faktischer politischer Gleichheit, d.h. zwischen demokratischer Verfassungsnorm und demokratischer Verfassungsrealität und Zusammenhänge zwischen ökonomischer und politischer Macht aufzeigen. Das Paradox, dass diese Problematik in einer direkten Demokratie möglicherweise stärker ausgeprägt sein kann als in einer repräsentativen Demokratie, ist eine wichtige kontraintuitive Denkoperation (Behrmann/ Grammes/Reinhardt 2004), die Schüler in dieser Frage vor naivem gestaltungspolitischen Optimismus bewahrt (Kapitel 4.4.3.), d.h. davor, allzu unreflektiert in die heute bisweilen zu vernehmende, etwas unterkomplexe Begeisterung gerade auch im linken politischen Spektrum der BRD für die Einführung direktdemokratischer Verfahren einzustimmen. Ein derartiges differenziertes Urteilsbewusstsein kann zusätzlich dadurch vertieft werden, dass man einen weiteren faktischen Konflikt zwischen dem normativen Ideal der politischen Gleichheit und der direkten Demokratie (M. Schmidt 2003, 117; Trechsel 1999, 564; Kriesi 2006, 238) herausarbeitet. Dieser besteht darin, dass die Wahlbeteiligung bei Referenden und Initiativen deutlich niedriger ausfällt als in Parlamentswahlen, was in der empirisch nachgewiesenen stärkeren Wahlabstinenz von Angehörigen unterer sozioökonomischer Schichten in direktdemokratischen Verfahren begründet liegt. Nach der internationalen politikwissenschaftlichen Partizipationsforschung sind die Wahlbeteiligungsdifferenzen zwischen den oberen und den unteren Sozialschichten um so ausgeprägter, je anspruchsvoller die politische Beteiligungsform in intellektueller Hinsicht ist, wobei Sachabstimmungen als anspruchsvoller als Parteienwahlen angesehen werden (Linder 1992, 129 & 1999, 284ff.). In Übereinstimmung mit diesen politischen Disparitäten wird beklagt, dass die direkte Demokratie in Kalifornien durch die Initiierung massiver Steuersenkungen zu einem bildungs- und sozialpolitischem Kahlschlag auf Kosten der unteren sozioökonomischen
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Schichten geführt habe, der auf den finanziellen Eigennutz der weißen Mittelklasse zurückzuführen sei (Schrag 2004; Offe 1998, 87). Auch in der Schweiz setzten sich nach einer Analyse von Lutz/Votruba (2005) in 81% der Abstimmungen (zwischen 1970 bis 2005) die wirtschaftsliberalen Abstimmungsempfehlungen der Wirtschaftsverbände bzw. der freisinnigen Partei durch. Didaktisch kann man hier also auf den (möglichen) kontraintuitiven Zusammenhang zwischen direkter Demokratie, ungleicher politischer Beteiligung und dem wichtigen didaktischen Urteilskriterium der sozialen Ungleichheit (Goldsmith 2005, 560), d.h. auf den möglichen (zumindest empirischen, wenngleich nicht unbedingt zwangsläufigen) Zielkonflikt zwischen Gleichheit und Partizipation aufmerksam machen. Des Weiteren können noch die folgenden allgemeinen, von den o.g. Autoren der egalitären Perspektive selbst angeführten Argumente gegen die Direkte Demokratie erörtert werden: Direktdemokratische Elemente seien zur Funktionalität des politischen Systems nicht erforderlich: Die Responsivität der amtierenden Regierung gegenüber den Präferenzen der Mehrheit der Bürger sei durch die Aussicht auf (retrospektive) Sanktionierung (Abwahl / Stimmenverluste) bei den nächsten Wahlen im Falle der Nicht-Beachtung der Wünsche der Mehrheit der Bürger bereits hinreichend gesichert (Kaiser/Lehnert/Miller/Sieberer 2002, 327) und müsse nicht – entgegen den Annahmen der partizipativen Perspektive – durch das Damoklesschwert von stets drohenden Referenden oder Volksinitiativen gesteigert werden. Die direkte Demokratie besäße gegenüber einer starken Parteiendemokratie zudem den Nachteil, dass die inhaltlichen Ergebnisse der verschiedenen Volksabstimmungen nicht notwendigerweise zusammenpassen. Die die direkte Demokratie umgebende Aura von Authentizität und Ursprünglichkeit sei irreführend, da Medien, politische Eliten und Verbände die Stimmabgabe nicht nur in einer repräsentativen Demokratie, sondern auch in einer direkten Demokratie stark beeinflussen würden. Referenden und Volksinitiativen beeinträchtigten vielmehr die grundsätzliche Funktionalität des repräsentativen Systems (Kaiser/Lehnert/Miller/Sieberer 2002, 327), da die politischen Eliten der Koalitionsparteien hinreichend Unabhängigkeit gegenüber ihren Wählergruppen benötigten, um im Rahmen deliberativer Verhandlungen wechselseitig vorteilhafte Kompromisse in Form von kohärenten Politikpaketen schließen zu können, was in einer direkten Demokratie erschwert würde (McGann 2006; Bellamy 2007, 238). Zwischen direkter Demokratie und angemessener demokratischer Deliberation über politische Fragen bestünde ein starker Zielkonflikt (McGann 2006, 148). Deliberation sei in politischen Systemen mit Verhältniswahlrecht besonders ausgeprägt, da dieses in der Regel die Zahl der im Parlament vertretenen Parteien (und damit der politischen Standpunkte) erhöhe und die Bildung von Koalitionen und damit einhergehende deliberative Verhandlungen nötig mache. Direkte Demokratie stelle hingegen die „antithesis“ von deliberativer Demokratie (ebd., 127) dar, da die Bürger bei der Stimmabgabe nicht miteinander verhandeln würden und die anspruchsvolle Deliberation über die einzelnen, zumeist komplexen sachpolitischen Fragestellungen moderner Gesellschaften die Diskussion innerhalb kleiner Zirkel von Politikern und Experten erfordere. Didaktisch kann diese Behauptung eines Zielkonflikts zwischen Partizipation und Deliberation direkt mit der genau entgegengesetzten Sichtweise der partizipativen Perspektive kontrastiert werden. Die politischen Kognitionsressourcen der Bürger sind für die egalitäre Perspektive zwar nicht dermaßen stark begrenzt, wie die liberal-konstitutionelle Perspektive mit ihrer These der rationalen Ignoranz bzw. rationalen Irrationalität annimmt, sie dürften aber auch
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nicht zu sehr überfordert werden (Christiano 1996, 223), wie die partizipative Perspktive verlange. Die niedrige durchschnittliche Beteiligung der Schweizer Bevölkerung (40%50%) an den dortigen Volksabstimmungen sei daher nicht verwunderlich. Die politischen Kognitionsressourcen der Bürger würden zwar für die Wahl allgemeiner, grundsätzlicher politischer Richtungsentscheidungen im Rahmen einer Parteiendemokratie genügen, nicht aber für ständige Abstimmungen über einzelne, oft komplexe politische Sachfragen (Christiano 1996, 190). Das im Rahmen einer direkten Demokratie erforderliche starke und breite Engagement hinsichtlich einzelner Sachfragen sei „a massive waste of collective time and energy“ (McGann 2006, 129). Viele Menschen besäßen zu einzelnen komplexen politischen Sachfragen gar keine Präferenzen und würden sich angesichts der sachpolitischen Komplexität bei Volksabstimmungen oft nur ein eher krudes, uninformiertes Votum abgeben oder gar nicht partizipieren, sodass dann oft nur die direkt von der Sachfrage betroffene Minderheit an der Abstimmung teilnehme, was aber aus offenkundigen Gründen weder gemeinwohlförderlichen Abstimmungsergebnissen noch dem Wert der politischen Gleichheit zuträglich sei. Die Auswahl allgemeiner politischer Ziele im Rahmen einer starken Parteiendemokratie überfordere die Bürger hingegen nicht, denn sie würden in ihrem Alltag genug über ihre politischen Interessen lernen als auch durch die soziale Interaktion mit anderen Bürgern verallgemeinerbare Gerechtigkeitsvorstellungen ausbilden (Christiano 1996). Die von der liberal-konstitutionellen Perspektive vertretene These von der rationalen Ignoranz (Downs) der meisten Bürger treffe daher nicht zu: “Downs is mistaken about what citizens need to know in order to be sovereign and equal. They need to be knowledgeable not about everything relating to politics but only about the overall aims of society. This limits the problem of information collection considerably. (…) Citizens acquire a great deal of information in their everyday lives about what their interests are as well as about justice and moral constraints. (…) Thus, each citizen has a very large fund of information and experience with which to reflect on the basic ends of society.” (Christiano 1996, 190)
Derartige Lernprozesse müssten allerdings gefördert werden… a.
…durch die Wahl eines parlamentarischen Systems mit starken programmatischen Parteien und den Verzicht auf ein präsidentielles System, da der in letzterem sehr stark dominierende personalisierende Fokus auf die individuellen Präsidentschaftskandidaten, deren Image und Charakter – wie es im politischen System der USA zu beobachten sei – von der sachpolitischen Substanz ablenke und daher den deliberativen Prozess über die Auswahl von politischen Zielbündeln deutlich erschwere (Christiano 1996, 222f. & 260)
b.
…durch die Einrichtung von mikrodemokratischen Institutionen für betriebliche Entscheidungsprozesse („workplace democracy”, Christiano 1996, 190 f.)
c.
…durch die Aktivitäten von (öffentlich unterstützten) Interessenverbänden (wie z.B. Gewerkschaften), wobei der Staat sich in Form sozialpolitischer Interventionen zugunsten der unteren Gesellschaftsschichten darum bemühen müsse, für annähernde in-
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teressenpolitische `Kampfparität´ in dem Sinne zu sorgen, dass auch finanziell schwächeren sozialen Gruppen die Bildung annähernd gleich starker Verbände erleichtert werde. Dadurch soll der von Olson (1968) herausgearbeitete organisationspolitische Vorteil homogener und konzentrierter Interessengruppen kompensiert werden: “Interest groups play an important role in the process of deliberation. Such groups are essential to the participation of citizens in a democratic society. (…) Interest groups provide citizens with the opportunity to hear developed and articulated views about their interests.” (…) Since organisations are formed for the purpose of articulating conceptions of the interests and moral aims individuals have in society, each must have roughly equal resources for developing its own point of view. In this way each citizen has the same resources devoted to the cultivation of his understanding.“ (Christiano 1996, 246 & 271; meine Hervorhebung, T.H.)
Interessenverbände würden – zusammen mit den Parteien (Christiano 1996, 223) – dafür sorgen, dass das von der partizipativen Perspektive so stark betonte Principal-AgentProblem der Politik, d.h. die opportunistische Abweichung der Regierung (Agent) von den Präferenzen der (Mehrheit der) Bürger (Principal), stark gemindert würde. Ein makrokorporatistisches Verbandssystem mit ständiger direkter und weit reichender Integration der gesellschaftlichen Interessengruppen in den politischen Beratungs- und Entscheidungsprozess durch makrokorporatistische, konsensorientierte Kommitees wie in Skandinavien (Martin/Thelen 2007) wird also als sinnvoll betrachtet (Christiano 1996, 197; Gerring/ Thacker/Moreno 2005, 579). Denn die – in einem makrokorporatistischen System personell und institutionell stark mit den parlamentarischen Parteien verklammerten – Interessenverbände verfügten über die notwendige Expertise, das laufende Regierungshandeln daraufhin zu prüfen, ob die von der Regierung verabschiedeten politischen Maßnahmen (Mittel) in Einklang mit den im Wahlkampf proklamierten politischen Zielen und den jeweiligen in der Wahl zum Ausdruck gekommenen Präferenzen der (Mehrheit der) Bürger stünden. Die systematische Einbindung aller jeweils betroffenen Interessensverbände erhöhe daher die Akzeptanz und Legitimität politischer Entscheidungen und damit deren Effektivität. Die Bürger könnten sich angesichts der Professionsethik und des „ideologischen Commitments“ der Verbände (so Christiano (1996, 267) mit Verweis auf eine empirische Studie von Cohen/Rogers (1992)) und ihrer Vorstände auf deren Einschätzungen verlassen: “Groups have the capacity to monitor the legislative process because of their support for specialized knowledge; they are capable of detecting when the legislature is or is not doing what it is supposed to be doing and evaluating these activities. Citizens can reasonably rely on the opinions of members of various groups to help them decide whether politicians and administrators are doing the job for which they have been chosen.” (Christiano 1996, 269)
Mit Blick auf das Kontroversitätsprinzip kann diese Sichtweise, welches Interessengruppen als Vehikel zur Lösung der Prinzipal-Agenten-Problematik betrachtet, mit der Sichtweise sowohl der partizipativen als auch der liberal-konstitutionellen Perspektive kontrastiert werden, in denen die Aktivität von Interessengruppen genau umgekehrt als ein wesentlicher Ursprung der Prinzipal-Agent-Problematik betrachtet wird.
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7.1.1.3 Ablehnung `aktivistischer´ Verfassungsgerichte Der von der egalitären Perspektive postulierte normative Zusammenhang zwischen einer niedrigen Vetospielerintensität und dem Ideal der politischen Gleichheit wird damit begründet, dass die Blockade von parlamentarischen Mehrheitsbeschlüssen durch Vetospieler (z.B. durch den deutschen Bundesrat, das deutsche Bundesverfassungsgericht) einem supermajoritären, d.h. qualifizierten Mehrheitserfordernis gleichkomme und dadurch den legislativen Status Quo und eine an dessen Erhaltung interessierte Minderheit privilegiere (Mc Gann 2006, 62; Ganghof 2008, 11) sowie politische Innovationen erschwere. Besonders kritisch werden dabei – im Gegensatz zur liberal-konstitutionellen Perspektive – ausgeprägte Veto-Rechte von Verfassungsgerichten betrachtet (Bellamy 2007; McGann 2006, 104ff.). Diese räumten der juristischen Elite – und damit einem sozioökonomisch und -kulturell privilegierten Sozialmilieu und dessen partikulären Wertvorstellungen – Vorrechte hinsichtlich der Interpretation oft ambivalenter Verfassungsnormen und damit bei der Entscheidung von politischen Streitfragen ein, über welche auch vernünftig und gemeinwohlorientiert argumentierende Bürger ganz verschiedener Meinung sein könnten. Ein didaktisches Beispiel zur konkreten Veranschaulichung dieser These bietet die Studie von Ganghof (2004) zur deutschen Steuerpolitik. Der Autor vertritt darin u.a. die Position, dass in vielen anderen OECD-Ländern unbekannte rigide verfassungsrechtliche Grundsätze bzw. deren partikulare Interpretation durch bestimmte Verfassungsrichter liberal-konservativer Provenienz wie Paul Kirchhof, die in einer ungleichmäßigen Besteuerung von Kapital- und Arbeitseinkommen einen Verstoß gegen die Berufs- und Eigentumsfreiheit erblicken, die deutsche Steuerpolitik im Zusammenwirken mit Globalisierungskräften (Wettbewerb um Kapital) in Richtung auf eine niedrige Flat-Tax treiben, die die sozioökonomische Umverteilungswirkung des deutschen Einkommensteuersystems zunehmend einschränke(n) (werde). Demgegenüber seien andere Länder wie insbesondere die skandinavischen Staaten aufgrund des verfassungsrechtlich kaum eingeschränkten politischen Freiraums ihrer Parlamente in Form der Dualen Einkommensteuer (mit großer Differenz zwischen dem Kapitalsteuersatz und dem Spitzensatz der Einkommensteuer) in der Lage gewesen, trotz des globalen Kapitalwettbewerbs Einkommensteuerstrukturen mit stark umverteilender Wirkung aufrecht zu erhalten. Hieran kann man didaktisch wiederum (mögliche) bedeutsame Interdependenzen zwischen politischem System und sozioökonomischen Strukturen aufzeigen, d.h. der sozialen Ungleichheit aufzeigen. Angesichts der obigen Argumentation sieht Ganghof (2005a + b) starke Verfassungsgerichte wie in Deutschland und den zunehmenden politischen Aktivismus des BVG ähnlich kritisch wie die anderen Vertreter der egalitären Perspektive: „Auch in Deutschland haben Minderheiten regelmäßig gesicherte Vetopositionen. Diese können zum einen durch oppositionelle Mehrheiten im Bundesrat zustande kommen, zum anderen dadurch, dass häufig Zweidrittelmehrheiten im Bundestag und Bundesrat notwendig wären, um zu verhindern, dass eine Materie von einem höchst aktiven Bundesverfassungs-gericht entschieden wird. (…) Politische Gleichheit wird verletzt, wenn das Verfassungsgericht – im Zweifelsfall mit einer knappen Mehrheit der Richter – dem Gesetzgeber den Inhalt künftiger Gesetze vorschreibt; wenn es politische Fragen entscheidet, über die vernünftige und gemeinwohlorientierte Bürger und Parteien uneinig sein können und wenn es sich von einem Verfassungswahrer zu einem Verfassungsreformer wandelt. Denn dann haben Richter viel bessere Mittel, um ihre mora-
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lischen Konzeptionen und Zielabwägungen durchzusetzen, als andere Bürger.“ (Ganghof 2005a, 756f. & 761)
Didaktisch sollte – im Falle einer Auseinandersetzung mit dieser Argumentation – allerdings mit Blick auf das Urteilskriterium der politischen Durchsetzbarkeit (Kapitel 4.4.1.) berücksichtigt werden, dass eine Begrenzung der Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts eine Änderung der deutschen Verfassung erfordern und damit eine 2/3-Mehrheit sowohl im Bundesrat als auch im Bundestag verlangen würde. Überdies kann mit Blick auf das Kontroversitätsprinzip und die Förderung differenzierten Denkens die Kritik der egalitären Perspektive an starken Verfassungsgerichten mit der liberal-konstitutionellen Perspektive kontrastiert werden, welche diese Institution als ein wichtiges Instrument zur Verhinderung der problematischen (wirtschafts)politischen Konsequenzen einer rational ignoranten bzw. rational irrationalen Bevölkerungsmehrheit betrachtet – eine Problematik, die in der egalitären Perspektive möglicherweise zu wenig Aufmerksamkeit erfährt. Durch derartige Kontraste kann exemplarisch am Beispiel von (starken) Verfassungsgerichten die normative Ambivalenz von Institutionen herausgearbeitet werden (Kapitel 4.4.3.). Zur zusätzlichen Stärkung von Kontroversität kann man didaktisch darüber hinaus eine zentrale, wenngleich normativ unterschiedlich bewertete Annahme beider Perspektiven kritisch hinterfragen, nämlich inwiefern der politische Spielraum des BVG zu genuin autonomen Entscheidungen faktisch tatsächlich so groß ist wie unterstellt oder ob nicht vielmehr die Durchsetzungschancen des BVG gegenüber der möglichen Non-Compliance der politischen Akteure bzw. die inhaltlichen Entscheidungen des BVG in hohem Maße von der politischen Aufmerksamkeit/Verständniskapazität der öffentlichen Meinung bzw. den inhaltlichen Überzeugungen der Mehrheit der öffentlichen Meinung in bzw. zu einer bestimmten Frage abhängen, da die Legitimität des BVG stark von der öffentlichen Zustimmung zu dessen Entscheidungen geprägt sein könnte (G. Vanberg 2005). Lernende können so durch Zusammenschau dieser verschiedenen Perspektiven an einem exemplarischen Beispiel verstehen, wie komplex und unsicher die Wirkungen von politischen Institutionen sein können (Kapitel 4.4.3.).
7.1.1.4 Asymmetrischer Föderalismus Ein weiterer supermajoritärer Veto-Punkt, der aus Sicht der egalitären Perspektive das Prinzip der politischen Gleichheit konterkariert und daher kritisch betrachtet wird, ist der Bikameralismus (Gerring/Moreno/Thacker 2005; McGann 2006) und damit im deutschen Regierungssystem die Institution des Bundesrats bzw. dessen in vielen Politikfeldern stark ausgeprägte Veto-Rechte (Ganghof 2005a) – der sog. `kooperative Föderalismus´. Bei der Diskussion dieser These im Unterricht kann man zur Förderung kritischen Denkens freilich hinterfragen, wie überzeugend es in theoretischer Hinsicht ist, eine Mehrheit im Bundesrat, die sich i.d.R. auf eine Mehrheit der Wähler in den Bundesländern stützen kann, als gleichheitsverletzende Minderheitsopposition zu konzeptualisieren, zumal bundespolitische Fragen in Landtagswahlen eine große Rolle spielen. Hierbei wird implizit unterschlagen, dass die Mehrheit der Wählerpräferenzen in den Ländern zu einem späteren, aber noch vor der nächsten Bundestagswahl befindlichen Zeitpunkt t(2) aufgrund einer inzwischen geänderten politischen Meinung (z.B. infolge von negativen Erfahrungen mit
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der gewählten Bundesregierung) eine Blockade ihrer zu einem früheren Zeitpunkt t(1), d.h. bei der letzten Bundestagswahl geäußerten politischen Präferenzen wünschen können. Ebenso gut kann man die Konstellation eines parteipolitischen `Divided Government´ zwischen Bundestag und Bundesrat als Ausdruck des Wunsches der Wählermehrheit sehen, die beiden konfligierenden politischen Lager einem Einigungszwang auszusetzen, um einseitige sachpolitische Entscheidungen in eine bestimmte ideologische Richtung zu vermeiden. Die egalitäre Perspektive bringt jedoch noch ein zusätzliches effektivitätstheoretisches Argument gegen den deutschen Bikameralismus vor. Dieser führe infolge der intransparenten Verhandlungsstrukturen zwischen Bundesregierung und Bundesrat im Vermittlungsausschuss zu einer Verwischung der politischen Verantwortlichkeit der Akteure sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene, d.h. die Wählerin kann nicht mehr eindeutig ausmachen, welcher politischer Akteur bis zu welchem Grad wofür verantwortlich ist und wer sich in den Verhandlungen aufrichtig für welche Position eingesetzt hat (Ganghof 2004, 123-130), sodass sich Wählerpräferenzen und politisches Handeln zu entkoppeln drohen. Zudem leiste eine parteipolitische Oppositionsmehrheit im Bundesrat rein parteipolitisch motivierten, machttaktischen Blockaden und damit dem sachpolitischen Stillstand Vorschub (Ganghof 2005b, 424), weil die Opposition ein parteipolitisches Interesse am Scheitern einer Bundesregierung besitze und aus diesem machtpolitischen Motiv heraus effektive sachpolitische Lösungsstrategien blockieren könne bzw. sogar `müsse´, da der Erfolg von entsprechenden Maßnahmen seitens der Bevölkerung zumeist einseitig dem Wirken der Bundesregierung zugeschrieben würde, auch wenn diese durch die Zusammenarbeit von Regierung und Opposition zustande gekommen sind. Diese Blockadekonstellation ist geeignet, Schülern nicht nur die in politikdidaktischen Kategorienkatalogen regelmäßig fehlende, aber für die Urteilsfähigkeit gleichwohl wichtige Kategorie des Politikversagens näher zu bringen, sondern ihnen auch verständlich zu machen, dass politisches Handeln bisweilen nicht, wie manche Darstellungen des Politikzyklus (Detjen/Kruber 2007, 26) suggerieren, eine „endlose Kette von Versuchen zur Bewältigung gesellschaftlicher Gegenwarts- und Zukunftsproblemen“ darstellt, sondern aufgrund von politischer Machträson manchmal sogar auf die intentionale Obstruktion von Problemlösungen gerichtet ist (Kapitel 4.2.). Dabei ist dieses Politikversagen in der Diskussion im Unterricht natürlich nicht (so sehr52) auf einen gegenüber der übrigen Bevölkerung überdurchschnittlich ausgeprägten Mangel an moralischer Integrität in der politischen Elite zurückzuführen, sondern (vielmehr) auf die effektivitätstheoretisch generell problematische institutionelle Konstellation des „Divided Government“ (Scharpf 2000a, 315-318). Zwar ist es empirisch zutreffend, wie im Schulbuch von Floren (2006, 50) hervorgehoben wird, dass das völlige Scheitern von Gesetzesinitiativen durch Blockade der Opposition im Bundesrat eher selten ist (Burkhart 2009). Das heisst aber keinesfalls, dass die Divided-Government-Konstellation vom Standpunkt der Output-Legitimität deshalb als unbedenklich gewertet werden könnte. Denn statt zu gut sichtbaren, expliziten Blockaden führt sie zu einer weniger offenkundigen, aber deshalb nicht weniger problematischen, antizipativen legislativen Selbstbeschränkung politischen Handelns seitens der Bundesregierung (so empirisch Burkhart 2009, 127ff.) – und damit eben zu impliziten Blockaden. So 52
Man kann natürlich argumentieren, dass die spezifische Sozialisation von Politikern möglicherweise die Ausbildung bestimmter charakterlicher Dispositionen begünstigt. Aber diese mögen in anderer Hinsicht (Durchsetzungsvermögen) auch ihre Vorteile haben; zudem erweisen sich moralische Appelle zur Lösung des Problems der deutschen Politikverflechtungsfalle als hilflos.
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wird ein offener Wettbewerb zwischen kontroversen parteipolitischen Programmen, die dann auch (zumindest für eine gewisse Zeit lang) in der Realität umgesetzt und damit hinsichtlich ihrer Wirkungen getestet werden, von vorneherein untergraben. In der kritischen Einschätzung dieser Politikverflechtungsfalle und damit des kooperativen Föderalismus sind sich die egalitäre und die liberal-konstitutionellen Perspektive (ausnahmsweise) einig. Allerdings lehnt die egalitäre Perspektive aus der Politologie auch den von der liberal-konstitutionellen Perspektive aus der Konstitutionen-Ökonomik befürworteten Übergang zu einem dezentralen Wettbewerbsföderalismus ab (Christiano 1996; Gerring/ Thacker/Moreno 2005, 571; Genschel 2007, 77). Die Herausstellung dieser Kontroverse ist für den kontrastiven Vergleich der beiden Perspektiven von zentraler (integrations-)didaktischer Bedeutung, zumal hiermit eine sensible ordnungspolitische Frage angesprochen ist, der für die gesellschaftliche Lebensqualität eine erhebliche Bedeutung zukommt, wie die weitere Darstellung in diesem Kapitel (und in Kapitel 7.1.3.2.2.) zeigen wird. Vertreter der egalitären Perspektive wie Christiano (1996, 22f.) charakterisieren eine wettbewerbsföderalistische Ordnung, die den Koordinationsmechanismus des territorialen Exit in den Mittelpunkt rückt, als „non-democratic“, weil der ökonomisch-territoriale Wettbewerb zwischen den dezentralen politischen Einheiten – im Gegensatz zum politischen Wettbewerb um Wählerstimmen – die politische Gleichheit der Bürger unterminiere: “Some individuals will experience much higher costs of exit than others. Those who are poorer will experience much higher exit costs than those who are wealthy. The consequence of these differences in the costs of exit may in many cases be that those who experience the lower costs will be able to exact concessions from those who would experience high costs. In these cases, the poorer members of the society may be constrained to accept unfavourable terms of agreement. In general, if we think of societies as voluntary clubs, we are in danger of turning many members of these societies into second-class citizens who are constrained to accommodate the wishes of more powerful citizens. Making the right of exit the chief instrument of each person`s liberty, therefore, threatens equality of liberty for citizens and ultimately equality of citizenship itself.” (Christiano 1996, 22f.)
In ähnlicher Weise argumentiert Genschel (2007), dass Steuerwettbewerb das Prinzip der politischen Gleichheit aushöhle, wonach alle Bürger gleiche Chancen besitzen sollen, redistributiv bedeutsame politische Entscheidungen zu beeinflussen. Steuerwettbewerb begünstige die politischen Interessen einer selbständigen, mobilen, staatskritischen, neoliberalen Klientel, während die Bedürfnisse von unselbständigen, immobilen, vom Staat abhängigen, sozialdemokratischen Wählergruppen benachteiligt würden (ebd., 77). Es wird befürchtet, dass sich mobile Akteure mit hohem ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapital durch Androhung oder Wahrnehmung der Exit-Option der (bisherigen) sozialstaatlichen Umverteilung von Einkommen zugunsten von Individuen mit geringem ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapital entziehen. Es komme tendenziell zu einem steuerund sozialpolitischem `Race-to-the-Bottom´, da die zahlreichen dezentralen Gebietskörperschaften um die Anwerbung von ökonomischen Akteuren mit hohem ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapital konkurrieren, während sie Akteure mit geringem ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapital fernhalten wollen. Infolgedessen seien im Rahmen eines dezentralen Wettbewerbsföderalismus ein starker Anstieg der sozialen Ungleichheit
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Wie kann man ein lebenswertes politisches System gestalten?
und eine Vernachlässigung der Belange sozial benachteiligter Bürger zu erwarten, sodass das materielle Fundament politischer Gleichheit untergraben werde. Diese heftige Kritik an der Verletzung des Prinzips der politischen Gleichheit durch den ökonomischen Wettbewerbsföderalismus wird interessanterweise auch von anderen politikwissenschaftlichen Föderalismusforschern geteilt (Benz 2009, 5f. & 15f.). Mit Hilfe dieser Argumentation kann ein sozialwissenschaftlicher Unterricht den Schülern die zwecks Vermeidung von Kategorienkonfusion (Hedtke 2005a) wichtige Erkenntnis verdeutlichen, dass von ökonomischem und politischem Wettbewerb trotz struktureller Parallelen offenbar ganz unterschiedliche Wirkungen ausgehen (können) und daher aus unterschiedlichen normativen Perspektiven verschieden beurteilt werden: die egalitäre Perspektive aus der Politikwissenschaft hält den politischen Wettbewerb zwischen Repräsentanten um Wählerstimmen als das zentrale institutionelle Anreizsystem zur Förderung von Gemeinwohl, während dies von der liberal-konstitutionellen Perspektive aus der Ökonomik sehr viel skeptischer betrachtet wird (siehe ausführlich Kapitel 7.1.3.), die daher den ökonomischen Wettbewerb in Form des Wettbewerbsföderalismus in den Mittelpunkt rückt. Der obige, bereits vom US-Ökonomen Oates (1972) in seiner Theorie des Fiskalföderalismus thematisierte Zusammenhang der sozialpolitischen Unterbietungskonkurrenz stellt eine für gestaltungsorientierte Urteilsfähigkeit wichtige Interdependenz zwischen politischem System und sozioökonomischen Strukturen dar, weil ihr für die Verteilung von sozialen Lebenschancen (Weber 2004) eine hohe Bedeutung zukommt. Aufgrund dessen ist es mit Blick auf das Kontroversitätsprinzip problematisch, (wie z.B. im Schulbuch von Detjen (2006b, 60)) den kooperativen Föderalismus der BRD nur mit dem von ExBundespräsident Roman Herzog gepriesenem Modell des dezentralen Wettbewerbsföderalismus à la USA zu kontrastieren, ohne zumindest in den begleitenden Fragestellungen auf dessen oben aufgezeigte, mögliche problematische Nebenfolgen (Kapitel 4.4.2.) hinzuweisen. Diese verteilungspolitischen Nebenfolgen des (US-)Wettbewerbsföderalismus könnte man ohne großen Aufwand z.B. anhand eines kurzen Zitats aus der empirischen Studie von Peterson (1995) erhellen (siehe auch Cantillon 2004, 6-9 und die dort angegebene Literatur). Natürlich kann und sollte man die normative Bewertung dieser Folgen kontrovers diskutieren. Angesichts dessen kann man den deutschen Status Quo (kooperativer Föderalismus) und das konstitutionell-liberale Modell (Wettbewerbsföderalismus) mit einer dritten institutionellen Alternative konfrontieren, um die Präsentation der obigen (möglichen) Probleme (hier: potentielles `Race-to-the-bottom´) ohne komplementäre Lösungsversuche zu vermeiden (Weber 2004). Die Funktion eines solchen dritten Modells besteht natürlich nicht darin, die Existenz eines vermeintlich per se überlegenen `Dritten Wegs´ zu suggerieren, doch haben diejenigen Schüler, die persönlich in normativer Hinsicht in ihrem Gesellschaftsbild (Petrik 2007, Kapitel 10) dem Wert der sozialen/politischen Gleichheit einen großen Stellenwert einräumen (möchten), ein Recht darauf, einen diskussionswürdigen, sozialwissenschaftlich fundierten Weg aufgezeigt zu bekommen, welche Reform des föderalen Arrangements in der BRD in institutioneller Hinsicht zu diesem normativen Wert passt und zugleich geeignet erscheint, die oft behaupteten Schwächen des derzeitigen föderalen Status Quo zu überwinden. Wendet man sich mit dieser Frage an die egalitäre Perspektive, muss man leider feststellen, dass sich dort (meines Wissens) bislang nur Kritik an den beiden anderen Födera-
Gestaltungsorientierte Evaluation des politischen Systems in Deutschland
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lismusmodellen findet, jedoch keine einigermaßen vernünftig ausgearbeitete, an die deutschen Verhältnisse anschlussfähige dritte Alternative. Allerdings hat Fritz Scharpf einen entsprechenden Lösungsvorschlag zur Reform des deutschen Föderalismus ausgearbeitet, der gut zu der egalitären Perspektive passt, da er deren Kritik an den beiden anderen Föderalismusmodellen teilt. Eine entsprechende didaktische Integration des von Scharpf vertretenen Modells des sog. „asymmetrischen Föderalismus“ (Scharpf 1999b, 2001, 2004b-d, 2006c-e, 2009b) in die egalitäre Perspektive zur Füllung der Lücke halte ich daher zur Förderung der gestaltungsorientierten Urteilsfähigkeit der Lernenden für ebenso angemessen wie legitim, zumal Scharpf bzgl. der anderen Bereiche des politischen Systems viele53 institutionelle Empfehlungen der egalitären Perspektive teilt und ihr normativ nahe steht, weil er dem Urteilskriterium der gleichen Lebenschancen bzw. Verteilungsgerechtigkeit in seinen Schriften ein hohes Gewicht einräumt54. Der Rückgriff auf Scharpf an dieser Stelle ist aus Sicht einer integrativen sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik auch deshalb sinnvoll, weil man auf diese Weise eine politikwissenschaftliche Sichtweise auf die Frage nach der föderalen Organisation eines politischen Systems direkt mit einer (konstitutionen)ökonomischen Sichtweise zu dieser Frage (nämlich in Form der in Kapitel 7.1.3. vorgestellten liberal-konstitutionellen Perspektive) vergleichen kann. Insofern zeigt sich auch hier, dass die Behauptung von Kaminski (2002, 66), eine komparative Integration der Disziplinen führe angesichts von deren angeblich differenten Frage- und Problemstellungen zu einem inadäquaten Vergleich von „Äpfeln und Birnen“, nicht zutreffend ist. Darüber hinaus wird zum wiederholten Male deutlich, dass Interdisziplinarität auch hier nicht nur, wie Kaminski (ebd.) meint, als bloßes Mittel zur Erweiterung des institutionenökonomischen Restriktionensets begriffen werden sollte, sondern eher im Sinne von Hedtke (2002a, 2005a) als In-Bezug-Setzung des Heterogenen, d.h. als kontroverser Vergleich von normativ unterschiedlichen, aber grundsätzlich gleichberechtigten disziplinären Problemdiagnosen und -lösungen, um zu einer tiefergehenden, d.h. differenzierteren Urteilsbildung zu gelangen. In Einklang mit der egalitären Perspektive hält Scharpf (2009b) den heutigen kooperativen Föderalismus in der BRD für reformbedürftig, da die häufige Divided-GovernmentKonstellation zu negativen Effekten auf die sachliche Qualität der Gesetzgebung (ebd., 54f.), d.h. zu „verkorksten Kompromissen“ (ebd., 8) führe – eine zentrale These, die er leider nicht systematisch empirisch belegt. Ebenfalls in Übereinstimmung mit der egalitären Perspektive befürchtet Scharpf (2001, 15) jedoch auch, dass große Teile einiger Politikfelder im Bereich der sog. konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 74 GG) im Falle eines Übergangs zum dezentralen Wettbewerbsföderalismus anfällig für eine „ruinöse Deregulie53
So steht Scharpf einer aktivistischen Verfassungsgerichtsbarkeit kritisch gegenüber (Scharpf 2004, 15f.; Scharpf 2005), betont die Problematik des „Divided Government“ (Scharpf 2000, 315ff.) im Rahmen präsidentieller Systeme als auch in bikameralistischen Systemen. Ebenso teilt er mit der egalitären Perspektive das relativ hohe Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der repräsentativen Demokratie und die Unterschätzung von Prinzipal-AgentKonflikten zwischen Gewählten und Wählern (ebd., 297f.). Hinsichtlich der Frage des Wahlsystems ist er allerdings eher agnostisch (ebd., 308f. & 314f.). Möglicherweise würde er diese Haltung angesichts seiner nachdrücklichen Befürwortung des Prinzips der Verteilungsgerechtigkeit (ebd., 40 & 159f.) überdenken, wenn er die in Kapitel 7.1.1.1. dargestellte empirische Studie von Rodden (2007) zu den sozioökonomischen Verteilungswirkungen von Wahlsystemen kennen würde. 54 Siehe Scharpf (2000, 40 & 159f.). Laut Mayntz/Streeck (2003, 22) lassen sich in den Schriften von Scharpf „vielfältige Spuren einer starken Bindung an Werte der demokratischen Linken wie größtmögliche Gleichheit der Lebenschancen“ finden.
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Wie kann man ein lebenswertes politisches System gestalten?
rungskonkurrenz“ (ebd.) auf Kosten sozial schwächerer Akteure seien. Konkret handele es sich dabei um die Sozialpolitik (Arbeitsrecht, Sozialhilfe, Sozialversicherung), die Umweltpolitik und den Verbraucherschutz. Deshalb sollten die entsprechenden Teilgebiete im Kompetenzbereich des Bundes verbleiben und künftig möglichst ohne Veto-Recht des Bundesrats regulierbar werden. Eine direkte Kompetenzzuweisung dieser Politikfelder an den Bund in toto vergesse jedoch, dass eine entsprechende Gefahr nicht unbedingt in jeder Einzelmaterie bestehen müsse. Eine Dezentralisierung der anderen Politikfelder im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 74 GG), insbesondere im Bereich des Rechts der Wirtschaft (Art. 74 GG, Ziffer 11) sei überwiegend unproblematisch, ja sogar vorteilhaft, weil die deutschen Bundesländer sich infolge der Globalisierung stärker auf ihre jeweiligen komparativen Vorteile spezialisieren müssten (Scharpf 2009b, 64). Dies sei ihnen im Gegensatz zu den kleinen, ökonomisch erfolgreichen europäischen Staaten wie z.B. Dänemark aber angesichts der Größe der BRD und der bundeseinheitlichen Regulierungen in diesem Bereich jedoch oft verwehrt. Diese würden jedoch nicht zur stark diversifizierten Wirtschaftsstruktur Deutschlands passen. Eine direkte Kompetenzzuweisung dieser Bereiche an die Bundesländer sei allerdings mit dem Problem behaftet, dass die administrative und finanzielle Kapazität zur Bewältigung dieser Aufgaben zwischen kleinen und großen Bundesländern erheblich differiere und daher ungleiche Belastungen hervorrufe. Angesichts der obigen Probleme einer klaren Kompetenztrennung, d.h. einer Zuweisung von ganzen Politikfeldern zu politischen Ebenen werde ein konditionales Abweichungsrecht benötigt (Scharpf 2009b, 130ff.), das ein einzelnes Bundesland im gesamten Bereich der sog. konkurrierenden Gesetzgebung in einzelnen Teil-Bestimmungen dazu berechtigen würde, eine bundesgesetzliche Regelung durch ein Landesgesetz zu ersetzen oder zu ergänzen, sofern der Bundestag keinen Einspruch erhebt. Ein derartiges Einspruchsrecht soll der Bundestag allerdings nur unter Bezug auf das Kriterium der Gemeinverträglichkeit wahrnehmen können, d.h. dann, wenn externe Effekte, ausgeprägte Größenvorteile, die Herstellung gleichwertiger materieller Lebensverhältnisse zwischen den Bundesländern oder die Mobilitätsbedürfnisse der Bürger (z.B. bei der Anerkennung von Bildungsabschlüssen) eine bundeseinheitliche Regelung erfordern (Scharpf 1999b, 13f.; Scharpf 2006e, 8f.). Durch Behandlung von Scharpfs Lösungsvorschlag können Schüler also bis zu vier (mögliche) Urteilskriterien kennenlernen, die für die reflektierte Auseinandersetzung mit der vom Ökonomikdidaktiker Davies (2001, 11) hervorgehobenen Frage nach der angemessenen Aufteilung von politischen Aufgaben auf die föderalen Ebenen eines Bundesstaates von Bedeutung sind. Angesichts der spezifischen normativen Fokussierung der egalitären Perspektive sollte dabei die Herstellung gleichwertiger materieller Lebensverhältnisse im Vordergrund stehen. Die mit dem konditionalen Abweichungsrecht verbundene teilweise Erhöhung der autonomen Gesetzgebungskompetenzen erfordere auch eine Stärkung der steuerpolitischen Autonomie der Länder, wobei jedoch wiederum die von der egalitären Perspektive betonte Gefahr eines steuerpolitischen Unterbietungswettbewerbs zu unterbinden sei. Steuern auf mobile Faktoren (Körperschafts- und Kapitalsteuern) sollten daher weiterhin auf Bundesebene beschlossen werden, während solche auf (überwiegend) immobile Faktoren (Grund(erwerbs)steuer, Vermögenssteuer, Erbschafts- und Schenkungssteuer) in die Hände der Länder gegeben werden könnten. Im Bereich der Einkommenssteuerpolitik könne den Bundesländern ein autonomes Zuschlagsrecht auf das heute existierende Niveau zugestan-
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den werden (Scharpf 2001, 15; Scharpf 2004, 15), wobei diese Mehreinnahmen dann natürlich nicht wie heute zu Einbußen beim Länderfinanzausgleich führen dürfen. Angesichts der künftigen finanziellen Herausforderungen in der Bildungspolitik und der zugleich höchst ungleichen finanziellen Wirtschaftskraft der Länder sei es dann jedoch auch ein Gebot des sozialen Bundesstaates, dem Bund die Möglichkeit zu geben, die bildungspolitischen Anstrengungen schwächerer Länder selektiv finanziell zu unterstützen. Ebendies werde jedoch durch eine im Rahmen der Föderalismusreform neu in die Verfassung eingefügte Beschränkung (Art. 104b, Abs. 1, Satz 2) verunmöglicht (Scharpf 2006d, 15). Ein dezentraler Wettbewerbsföderalismus in der Steuerpolitik – der zur Vermeidung von Moral-Hazard nur bei einer gleichzeitigen drastischen Reduktion des derzeit existierenden Länderfinanzausgleichs anreizkompatibel wäre55 – würde hingegen zu einer nicht wünschenswerten „progressiven Verelendung“ der weniger attraktiven Standorte (z.B. Ostdeutschland) führen (Scharpf 1999b, 10). Denn letztere müssten zwecks Budgetausgleichs gegenüber heute ihre Steuern erhöhen oder ihre Infrastruktur vernachlässigen, was ihre Attraktivität gegenüber potentiellen Investoren aber noch weiter reduzieren würde (ebd.). Diesen Nachteilen des Steuerwettbewerbs stünde auch – anders als von der liberalkonstitutionellen Perspektive behauptet – kein Effizienzgewinn gegenüber. Der parteipolitische Wettbewerb um Wählerstimmen reiche aus, um ein effizientes wirtschaftspolitisches Handeln der Landesregierungen zu sichern. Dies zeige sich daran, dass Bayern und NRW trotz der nivellierenden Wirkungen des Steuerverbunds und des Finanzausgleichs energische und größtenteils erfolgreiche industriepolitische Anstrengungen zur Bewältigung des Strukturwandels unternommen hätten, anstatt sich in die `Hängematte´ des Länderfinanzausgleichs zu legen. An dieser Argumentation lassen sich didaktisch in gestaltungsorientierter Weise die Differenzen zwischen einer politologischen Perspektive und der Sichtweise der (Mainstream)Ökonomie bezüglich der vergleichenden Bewertung politischer und ökonomischer Koordinationsmechanismen aufzeigen und so im Sinne von Hedtke (2005a) integrieren: „Anders als manche Ökonomen offenbar unterstellen, brauchen die Landesregierungen nicht die Peitsche des Steuerwettbewerbs, um sich um das wirtschaftliche Wohlergehen ihres Landes zu kümmern. (…) Solange die Wähler sich für Arbeitslosigkeit, Beschäftigung und Einkommen interessieren, müssen die Landes- und Kommunalpolitiker sich auch um die Interessen der Unternehmen und die Qualität der wirtschaftsdienlichen Leistungen und Einrichtungen des Standorts kümmern. Der von den Ökonomen als Zentralproblem definierte Steuerwettbewerb erscheint mir eher als non-issue, dessen Diskussion von den Hauptproblemen des deutschen Föderalismus ablenkt.“ (Scharpf 1999b, 11).
Gerade im Kontext des deutschen Föderalismus ist es wichtig, das Urteilskriterium der politischen Durchsetzbarkeit (Kapitel 4.4.1.) von Lösungsvorschlägen zu berücksichtigen. Hierbei ist zunächst darauf zu verweisen, dass aus historischen Gründen eine Abschaffung des föderalen Bundesstaatsprinzip und damit des Bundesrats durch die Ewigkeitsklausel in Art. 79, Abs. 3 GG unterbunden wird und auch eine Entflechtung der Aufgaben von Bund und Ländern Verfassungsänderungen erfordert, die die Zustimmung von jeweils zwei Dritteln des Bundestags und des Bundesrats und damit eine hohe Einigungsfähigkeit der betei55 Anderenfalls würden alle Bundesländer ihre Steuern zwecks Attraktion von Kapital senken und darauf setzen, dass ihre dadurch bedingten Mindereinnahmen durch den Länderfinanzausgleich kompensiert würden.
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ligten Akteure erfordern. Bezüglich des Scharpfschen Lösungsvorschlags zeigte sich, dass dieser zum einen an dem dominanten kognitiven Frame der Verantwortlichen scheiterte, die sich von vorneherein auf das inadäquate Ziel einer klaren Kompetenztrennung der Politikfelder bzw. dem juristischen Dogma der Rechtseinheit fixiert hatten (Scharpf 2006e), gegen den der politologische Sachverstand in der Föderalismuskommission machtlos war56. Zum anderen erwies er sich inkongruent zu den politisch-administrativen Eigeninteressen sowohl der Ministerialbürokratie in Bund und Ländern am Fortbestand des Exekutivföderalismus als auch vieler Spitzenpolitiker aus den Ländern an den Selbstdarstellungsmöglichkeiten auf der nationalen Medienbühne (Scharpf 2006e; Schultze 2005). Didaktisch kann man hieran exemplarisch Politik(versagen) als Folge einer prinzipiell endlosen Kette von Versuchen zur Verfolgung eigennütziger Machtinteressen verständlich werden lassen. Auch um angesichts dessen die Gefahr der Beförderung von Politikverdrossenheit bei den Schülern zu mindern, kann im Unterricht über alternative Verfahren zur Besetzung von künftigen Reformkommissionen diskutiert werden, zumal der entsprechende politische Druck hierfür wohl nur aus der Bevölkerung selbst kommen kann.
7.1.2 Die partizipative Perspektive Mit der partizipativen Perspektive – die hier im Wesentlichen unter Rückgriff auf die Argumentation Schweizer Ökonomen (Rainer Eichenberger, Bruno Frey, Gebhard Kirchgässner, Alois Stutzer, Benno Torgler) aufgebaut wird – kann man didaktisch das derzeitige deutsche Regierungssystem aus einer (anderen) kritischen Warte betrachten und in gestaltungsorientierter Weise eine weitere Dimension möglicher Zusammenhänge zwischen der Art des politischen Systems und der gesellschaftlichen Lebensqualität (Kapitel 3.2.) thematisieren. Denn für die partizipative Perspektive besteht das zentrale normative Wohlfahrtskriterium zur Beurteilung der Angemessenheit politischer Institutionen letztlich weder im Grad der politischen Gleichheit (so die egalitäre Perspektive) noch im Grad der negativen Freiheit bzw. dem Wirtschaftswachstum (so die liberal-konstitutionelle Perspektive), sondern im subjektiv empfundenen psychischen Wohlbefinden der Menschen. Dieses lasse sich empirisch zuverlässig durch sozialwissenschaftliche Befragungen eruieren, weil entsprechende Selbsteinschätzungen empirisch sehr stark mit der Fremdeinschätzung durch enge Freunde übereinstimmen sowie systematisch mit bestimmten neurologischen Aktivitätsmustern im Gehirn sowie mit Blutdruckwerten korrelieren würden (Frey/Stutzer 2001; Layard 2005). Dagegen wird der in der Mainstream-Ökonomik und in der liberalkonstitutionellen Perspektive (Vanberg 2006b, 57) vorherrschende, implizite oder explizite Fokus auf die Norm der makroökonomischen Kaufkraft- bzw. Gütermaximierung abgelehnt (Feld/Kirchgässner/Savioz 1999, 177; Layard 2005, 9). Unter Berufung auf die aus der Psychologie stammende Selbstbestimmungstheorie der Motivation von Deci/Ryan (2000) geht die partizipative Perspektive vielmehr davon aus, dass Menschen drei grundlegende psychische Bedürfnisse besitzen, von deren Erfüllung das Ausmaß der subjektiv empfundenen Lebenszufriedenheit und damit der gesellschaftlichen Lebensqualität abhänge. Hierbei handelt es sich um die Bedürfnisse nach…
56 Scharpf hat seinen Vorschlag dort zusammen mit den Politologen Arthur Benz und Ursula Münch vertreten (Scharpf 2006, 11).
Gestaltungsorientierte Evaluation des politischen Systems in Deutschland
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a.
…Autonomie (d.h. die wahrgenommene Selbstbestimmung des Handelns)
b.
…Kompetenz (d.h. die wahrgenommene Kompetenz eigenen Handelns)
c.
…sozialer Bezogenheit (d.h. die wahrgenommene Eingebundenseins und Zusammenhalts).
Intensität
des
sozialen
Das politische System einer Gesellschaft sollte daher nach Möglichkeit so ausgestaltet werden, dass diese drei fundamentalen Grundbedürfnisse so weit wie möglich erfüllt werden. Die Schüler können auf diese Weise drei weitere wichtige Urteilskriterien kennenlernen, mit denen sich nicht nur die (sozial)psychologische Konstitution des Menschen besser verstehen, sondern auch die Performanz eines politischen Systems normativ evaluieren lässt. Aus Sicht der partizipativen Perspektive befriedigt die (halb)direkte Demokratie diese drei Grundbedürfnisse deutlich besser als die repräsentative Demokratie. Diese Verknüpfung der drei Grundbedürfnisse mit der (halb)direkten Demokratie (zur ausführlichen Begründung siehe 7.1.2.1) durch die partizipative Perspektive zeigt zugleich, dass es – entgegen anderslautender politikdidaktischer Klischees (z.B. Scherb 2005, 114f.) – in der Wirtschaftswissenschaft sehr wohl „um die Mitgestaltung des wirtschaftlichen Daseins, um Selbstverwirklichung, Mündigkeit und Persönlichkeitsentwicklung“ (ebd.) geht. Angesichts dessen ist es nicht zutreffend, wenn behauptet wird, die ökonomische Bildung könne sich ihre ethischen Urteilskriterien nicht aus der Ökonomik selbst besorgen, sei daher das didaktisch weniger umfassende System und bedürfe somit einer lebenserhaltenden ethischen Infusion seitens der Politikdidaktik (Scherb 2005). Vielmehr stellt sich die Frage, warum in gängigen politikdidaktischen Schulbüchern (Detjen 2006b, 202211; Heither/Klöckner/Wunderer 2006, 97f.; Floren 2006, 76-81; Pohl/Soldner 2008) das Thema Direkte Demokratie ausschließlich mit Hilfe der Politikwissenschaft und/oder (inhaltlich nicht besonders tiefgehenden) Stellungnahmen von Interessengruppen und Politikern aufgearbeitet wird, obwohl der Rückgriff auf die von Schweizer Ökonomen vorgetragenen Argumente zugunsten der direkten Demokratie gegenüber politikwissenschaftlichen Beiträgen einen deutlichen intellektuellen Zusatznutzen – nicht zuletzt in punkto empirischer Erforschung der Folgen – bringen und so die gestaltungsorientierte Urteilsfähigkeit der Schüler fördern können. Insofern bieten sich hier auf der Hand liegende Möglichkeiten zur Integration `ökonomischer´ und `politikwissenschaftlicher´ Argumentationen. Unter einer (halb)direkten Demokratie versteht die partizipative Perspektive ein politisches System, in der zwar nicht (unbedingt) jede einzelne politische Entscheidung vom Volk getroffen wird (dies wäre eine direkte Demokratie), die aber das gewöhnliche repräsentative demokratische System mit den folgenden Institutionen ergänzt: 1.
Das obligatorische und fakultative Referendum: Hierbei handelt es sich um eine Volksabstimmung, bei dem die Bevölkerung aufgerufen ist, mit einfacher Mehrheit der Abstimmenden entweder über die Annahme einer Verfassungsordnungsvorschlags oder eines vom Parlament bzw. der Regierung ausgearbeiteten Verfassungs- oder Gesetzesentwurfes zu entscheiden, wobei die Annahme bzw. Umsetzung der Entscheidung der Bevölkerung für die Regierung verbindlich ist und nicht von ihr umgangen werden kann. Dabei gibt es in der Verfassung festgelegte politische Bereiche (z.B. die Verfassung selber), bei denen die Veranstaltung eines Referendums im Falle von der
276
Wie kann man ein lebenswertes politisches System gestalten? Regierung / dem Parlament geplanten gesetzlichen Änderungen verbindlich ist (obligatorisches Referendum). Bei einem fakultativen Referendum wird den Bürgern hingegen nur grundsätzlich die Möglichkeit eingeräumt, ein Referendum abzuhalten. Damit ein solches Referendum zustande kommt, müssen daran Interessierte innerhalb einer bestimmten Frist nach dem Zeitpunkt des Parlamentsbeschlusses (in der Schweiz: 100 Tage) eine bestimmte Zahl von affirmativen Unterschriften (in der Schweiz: 50000 ~ derzeit 1% aller erwachsenen Bürger) sammeln. Neben dem Fehlen obligatorischer und fakultativer Referenden auf Bundes- und Landesebene in Deutschland besteht aus Sicht der partizipativen Perspektive ein großer Mangel des politischen Systems der BRD insbesondere darin, dass die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten nicht dazu genutzt wurde, der deutschen Verfassung im Rahmen eines obligatorischen Referendums eine direktdemokratische Legitimation zu verleihen (von Arnim 2001, 259). Zudem sollten wie in der Schweiz alle weiteren von der deutschen Politik beschlossenen Verfassungsänderungen einem obligatorischen Referendum unterstehen (Blankart 2006, 48). Von besonderer Bedeutung für das Verständnis der Referendums-Möglichkeit ist, dass dieses bereits ohne dessen Inanspruchnahme insofern starke antizipative Wirkungen auslöst, als die politischen Eliten stark darum bemüht sind, solche Gesetze zu beschließen, bei denen aufgrund ihrer hohen Konsensfähigkeit keine große Gefahr besteht, dass diese durch ein eventuelles Referendum zu Fall gebracht werden.
2.
Die Volksinitiative: Hierbei arbeitet ein organisierter Teil der Bürger, eine Partei, ein Verband etc. einen Verfassungsänderungsvorschlag (Verfassungsinitiative), einen Gesetzesvorschlag (Gesetzesinitiative) oder auch nur eine allgemeine politische Anregung bezüglich einem bestimmten Politikfeld aus. Diese muss verbindlich zur Abstimmung gestellt werden, wenn es diesen Bürgern gelingt, innerhalb eines bestimmten Zeitraums (in der Schweiz: 18 Monate) eine bestimmte Zahl an affirmativen Unterschriften (in der Schweiz: 100000) zu sammeln. Das Parlament bzw. die Regierung können dem Volk im Fall des Zustandekommens einer solchen Initiative eine Zustimmung oder eine Ablehnung der Initiative empfehlen oder auch einen Gegenvorschlag unterbreiten. Wie in der Schweiz solle die deutsche Bevölkerung sowohl das Recht zur Verfassungs- als auch zur Gesetzesinitiative besitzen (Von Arnim 2001, 261). Auch hier ist es wichtig, die Intensität der politischen Wirkung von Initiativen nicht allein an deren (Nicht-)Annahme festzumachen, da zwar in der Schweiz viele Initiativen vom Volk nicht angenommen werden, was aber oft darauf zurückzuführen ist, dass die politische Elite zugleich einen (moderateren) Alternativvorschlag zur Abstimmung bzw. in Aussicht stellt.
3.
Die Möglichkeit des Kumulierens und Panaschierens bei Parlamentswahlen auf allen föderalen Ebenen: Hier besitzt die einzelne Wählerin mehrere Stimmen, die sie frei auf einen oder mehrere Kandidaten einer oder mehrerer Parteien gemäß ihren Präferenzen verteilen kann. Dadurch erhielten die Parteien einen großen Anreiz, solche Kandidaten aufzustellen, die nicht nur den Präferenzen der jeweiligen Parteielite entsprechen, sondern denen der ganzen Wählerschaft. Das Wahlsystem der BRD ist hingegen derzeit durch geschlossene Listen gekennzeichnet, bei der die Reihenfolge der Kandidaten hinsichtlich der Wahrnehmung der Abgeordnetenmandate von der jeweiligen Partei
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festgelegt wird. Auf diese Weise kann der Wähler nur bestimmen, welche Partei in das Parlament einziehen soll, nicht aber mit welchen Abgeordneten. Hierin sieht die partizipative Perspektive einen verfassungswidrigen Verstoß gegen den im deutschen Grundgesetz verankerten Grundsatz der unmittelbaren und freien Wahl (Von Arnim 2001, 262). Nur die Ämterpatronage (s.u.), d.h. die parteipolitisch motivierte Vergabe der Richterstellen des BVG durch die Parteien verhindere, dass das BVG diesen Verstoß ahnde. 4.
Starke (Rechnungs)Prüfungskommissionen: Hierbei handelt es sich um Kontrollinstitutionen, deren Mitglieder – im Gegensatz zu den derzeit existierenden Rechnungshöfen in Deutschland – nicht vom Parlament eingesetzt werden, sondern direkt von den Bürgern gewählt werden. Diese Kontrollinstitutionen können – im Gegensatz zu den derzeit existierenden Rechnungshöfen in Deutschland – politische Projekte (bzw. deren Umsetzung) von Regierung und Verwaltung auf allen Politikfeldern nicht nur ex post, sondern auch ex ante öffentlich kritisieren, konkrete eigene Änderungsvorschläge vorbringen und diese den Bürgern in Konkurrenz zu den Vorschlägen der Regierung zur Volksabstimmung vorlegen. Hervorzuheben ist dabei, dass diese Kontrollgremien nichts selbst entscheiden können, sondern sich immer an die Bevölkerung wenden müssen, wenn sie ihre Änderungsvorschläge durchsetzen wollen. Gegenwärtig existieren derartige Organe mit solch umfassenden Kompetenzen nur in einigen Schweizer Gemeinden. Laut Eichenberger/Schelker (2007, 111) spricht aber nichts gegen ihre Übertragung auf die Bundesebene – nicht nur in der Schweiz, sondern auch in anderen europäischen Ländern.
Weil diese vier direktdemokratischen Instrumente in der Schweiz weitaus stärker als in anderen Staaten ausgebaut sind, wird dieses nationale politische System von den Vertretern des partizipativen Idealtypus als reales Vorbild einer lebenswerten Gesellschaft betrachtet. In didaktischer Hinsicht bietet sich bei der Auseinandersetzung mit der partizipativen Perspektive also ein (auf die wesentlichen Unterschiede konzentrierter) Vergleich des politischen Systems der BRD und der Schweiz an, um so die internationale Vielfalt alternativer Ordnungsrealitäten herauszuarbeiten und die mögliche Illusionen von der Naturhaftigkeit (Petrik 2007, 227) und vermeintlichen Selbstverständlichkeit der repräsentativen Demokratie in der BRD zu irritieren. Aus Sicht der partizipativen Perspektive eignet sich die direkte Demokratie nicht nur für die Schweiz, sondern wird auch zur allmählichen Einführung in Deutschland empfohlen (Blankart 2002, 2006, 688; Frey/Stutzer 2003b; Feld/Kirchgässner/Savioz 1999, 179; Eichen-berger 1999; Rauhut 2000; von Arnim 2000). Das Fehlen einer direktdemokratischen Kultur in der BRD sei kein überzeugendes Gegenargument, denn schließlich könne sich diese Kultur erst durch Einführung entsprechender Instrumente von selbst entwickeln (Feld/Kirchgässner/Savioz 1999, 34). Die (halb)direkte Demokratie sei unbegrenzt „exportfähig“ und müsse selbst in der Schweiz ausgebaut werden (Feld/Kirchgässner/Savioz 1999, 107ff.). Sie erweise sich nicht nur auf Gemeinde- und Landes-, sondern auch auf Bundesebene als segensreich:
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Wie kann man ein lebenswertes politisches System gestalten? „Der Export der direkten Demokratie muss sich nicht auf die EU beschränken; er könnte auch in die umliegenden Länder erfolgen, insbesondere in die BRD, die diesbezüglich einen erheblichen Nachholbedarf hat.“ (Feld/Kirchgässner/Savioz 1999, 179)
Gleichwohl sollte im Unterricht in Bezug auf das hiermit angesprochene Urteilskriterium der politischen Durchsetzbarkeit bzw. Übertragbarkeit (Kapitel 4.4.1.) deutlich gemacht werden, dass diese Ansicht umstritten ist. Hierzu könnte man den diesbezüglichen Optimismus der Schweizer Ökonomen mit der ablehnenden Ansicht des Politologen Schmidt (2003) kontrastieren, der meint, dass die Einführung einer (halb)direkten Demokratie in Deutschland schwere Konflikte zwischen dem deutschen Stimmvolk einerseits und dem Bundestag, dem Bundesrat und dem Bundesverfassungsgericht andererseits provozieren würde (ebd., 122). Didaktisch kann man hier durch dieses integrative In-Bezug-Setzen von Beiträgen aus verschiedenen Disziplinen exemplarisch herausstellen, dass transnationale Institutionentransfers sich gerade im Polity-Bereich insofern als recht komplexe (nicht: unmögliche) Angelegenheit erweisen, als die Elemente eines bestehenden politischen Systems durch lange eingespielte interdependente Zusammenhänge miteinander verflochten sind, in die man nicht einfach ohne weiteres ein zusätzliches Element hinzufügen kann, ohne dabei dessen Nebenfolgen (Kapitel 4.4.2.) und die nicht unbedingt problemlösungsorientierten Machtinteressen etablierter politischer Akteure zu bedenken. Aus Sicht der partizipativen Perspektive sind es die Vorteile der (halb)direkten Demokratie jedoch allemal wert, die gerade genannten Hürden des transnationalen Institutionentransfers zu überwinden. Denn direktdemokratische Partizipationsrechte erhöhen laut empirischen Befunden das durchschnittliche subjektive Wohlbefinden der Bürger (Frey/Stutzer 2004a, 13). Statistisch gesehen entspreche die Differenz des durchschnittlichen Wohlbefindens zwischen dem Kanton mit den stärksten Bürgerbeteiligungsmöglichkeiten und dem Kanton mit der schwächsten Bürgerbeteiligungsmöglichkeiten in etwa dem Wohlbefindenszugewinn, der aus einer Einkommensverdoppelung resultiere (Layard 2005, 85). Die didaktische Thematisierung der theoretischen Begründung dieses empirischen Zusammenhangs und die darin eingelagerten Vorteile der (halb)direkten Demokratie kann man systematisch unter Bezug auf die drei oben angeführten normativen Urteilskriterien (Selbstbestimmung, Kompetenz, soziale Bezogenheit) ordnen (siehe Teilkapitel 7.1.2.1.1. bis 7.1.2.1.3.), um diese für die menschliche Lebensqualität bedeutsamen Aspekte entsprechend deutlich hervorzuheben. Zusammengenommen wird die Befriedigung dieser drei Bedürfnisse als „procedural utility“ (Frey/Stutzer 2003a), d.h. als intrinsisch wertvolle „Güter“ konzeptualisiert, mit denen überdies auch ein höherer (ökonomischer) Ergebnisnutzen verbunden sei. So tendierten Politiker und Bürokraten in repräsentativen Demokratien zu einem weniger wirtschaftlichen Umgang mit den Steuergeldern der Bürger. Empirische Untersuchungen aus den USA und der Schweiz zeigen, dass direkte Demokratie mit einer effizienteren Bereitstellung von staatlich produzierten Gütern (Straßen, Bildung, öffentliche Versorgungseinrichtungen, Müllabfuhr) einhergehe. Stark ausgebaute direktdemokratische Rechte der Bürger (auch und gerade in Finanzfragen) bewirkten, dass derartige staatliche Leistungen um etwa 20% kostengünstiger (bei gleicher Qualität) erstellt würden (Frey/Stutzer 2003b, 19).
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Hieran kann man exemplarisch Zusammenhänge zwischen politischem System und ökonomischen Ergebnissen aufzeigen. Noch interessanter erscheint jedoch die kontraintuitive These, dass in reichen Demokratien intrinsisch-prozedurale Aspekte der Lebenswelt für die Lebensqualität möglicherweise einen höheren Stellenwert besitzen können als extrinsisch-materielle Aspekte, weil die partizipative Perspektive den Prozess-Nutzen (procedural utility) der (halb)direkten Demokratie für bedeutsamer erachtet als ihren (ökonomischen) Folge-Nutzen, da ersterer empirisch deutlich höher ausfalle. Denn abstimmungsberechtigte Schweizer in Kantonen mit stark ausgebauten direktdemokratischen Rechten würden laut empirischen Studien in punkto Lebenszufriedenheit dreimal mehr von der (halb)direkten Demokratie profitieren als die in denselben Kantonen wohnenden, aber nicht zur Abstimmung berechtigten Ausländer, denen lediglich die besseren ökonomischen FolgeErgebnisse der (halb)direkten Demokratie zugute kämen (Frey/Stutzer 2003b, 24).
7.1.2.1 Der höhere prozedurale Nutzen der (halb)direkten Demokratie 7.1.2.1.1 Stärkere politische Selbstbestimmung der Bürger Erstens stärke die (halb)direkte Demokratie die politische Autonomie der Bürgerschaft, d.h. die erlebte Wirksamkeit des eigenen politischen Handelns (Frey/Stutzer 2003b, 13 & 24) schon dadurch, dass der Wähler in einer repräsentativen Demokratie nur über politikfeldübergreifende, von den Parteien zusammengestellte Politikpakete entscheiden könne, während durch Referenden und Initiativen eine entsprechende Entflechtung dieser parteipolitischen Ideologie-Pakete möglich werde (Frey/Stutzer 2003b, 10). Didaktisch kann man hier jedoch durch einen Kontrast mit dem ideologischen Kohärenz-Argument der egalitären Perspektive (s.o.) die (mögliche) Ambivalenz (Kapitel 4.4.3.) dieses Sachverhalts aufzeigen. Besonders ausschlaggebend für die Stärkung der politischen Selbstbestimmung sei allerdings, dass politische Entscheidungen nun unmittelbar vom Votum der Bürger abhängen und politisch Verantwortliche bei ihren Vorhaben stets bedenken müssen, dass ihre (Nicht-) Entscheidungen unter einem direktdemokratischen Damoklesschwert stehen (Antizipationseffekt). Aufgrund dessen stellten direktdemokratische Eingriffsmöglichkeiten der Bürger das zentrale Mittel dar, um die weit verbreitete Politikverdrossenheit in den Ländern der rein repräsentativen Demokratie zu senken (Frey/Stutzer 2003b, 13; Frey/Stutzer 2004a, 1f.). Deren Ursache sei nämlich v.a. in der unzureichenden Kontrolle des oligarchischen Verhaltens der `politischen Klasse´ durch die Bürgerschaft zu verorten. Im Rahmen dieses argumentativ-normativen Zusammenhangs können die Schüler in analytischer Hinsicht politisches und ökonomisches Denken sozialwissenschaftlich integrieren, indem sie ein aus der Institutionenökonomik stammendes kategoriales Denkschemata, nämlich die Prinzipal-Agent-Problematik infolge unvollständiger Verträge, auf die Analyse eines rein repräsentativen politischen Systems anwenden. Aus der Sicht der partizipativen Perspektive besteht der zentrale blinde Fleck der egalitären Perspektive nämlich darin, dass sie die Gefahr der opportunitischen Abweichung der politisch Verantwortlichen von den politischen Präferenzen der Bevölkerungsmehrheit verkenne bzw. zumindest ungebührlich bagatellisiere (Frey/Stutzer 2003b, 6f.). Dabei wird davon ausgegangen, dass die Tätigkeit der „politischen Klasse“ (Frey/Stutzer 2004a) nicht so sehr genuin inhaltlich
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motiviert sei, sondern in erster Linie von der Ausübung von Macht herrühre, was z.B. mit Verweis auf empirische Befragungen der beiden Soziologen Renate Mayntz und Friedhelm Neidhardt belegt wird (Von Arnim 2001, 36). Der institutionelle Spielraum für die Durchsetzung derartiger opportunistischer Interessen der politischen Klasse ergäbe sich in einer rein repräsentativen Demokratie daraus, dass die zwischen Regierung und Wählermehrheit implizit geschlossenen politischen `Verträge´ zwischen Politikern und Bürgern in hohem Umfang unvollständig seien. Die Ursache hierfür liege zum einen in den höheren Informations- und Kontrollkosten des Agenten (Bürgers) bezüglich der Handlungen des Prinzipals (Politikers), da politische `Verträge´ wegen des Issue-Bundlings äußerst komplexe, multidimensionale Parteiprogramme zum Gegenstand hätten, der Wahlstimme keine präzise festgelegte Gegenleistung der politischen Partei gegenüberstehe und es bezüglich der Durchsetzbarkeit des `Vertrags´ keine entsprechende Rechtsinstitutionen gäbe. Regierung und Opposition würden zudem häufig oligarchische „Kartelle“ zur Förderung ihrer gemeinsamen Interessen gegen die Bevölkerung bilden (Frey/Stutzer 2003b, 7), um z.B. zu verhindern, dass bestimmte Themen auf die politische Tagesordnung kommen. Diese Kartelle seien aufgrund der geringen Größe nach innen sehr sanktionsfähig und daher recht stabil. Die bloße Aussicht auf eine Niederlage bei der nächsten Parlamentswahl reiche daher – im Gegensatz zur Annahme der egalitären Perspektive – bei weitem nicht aus, um die erforderliche Responsivität der Regierung gegenüber den Präferenzen der Bürger zu sichern. Dies lasse sich empirisch z.B. daran ablesen, dass die (halb)direkte Demokratie zu politischen Entscheidungen führe, deren Inhalt deutlich näher an den politischen Präferenzen des Medianwählers liegen würde als dies in repräsentativen Demokratien der Fall sei (Feld/Kirchgässner/Savioz 1999, 77 & 139). Der Grund hierfür sei darin zu suchen, dass die Möglichkeiten und Erfolgsaussichten des politischen Rent-Seeking in der (halb)direkten Demokratie aufgrund der stärkeren Kontrolle des Volkes geringer ausfallen würden als in einer rein repräsentativen Demokratie. Rent-Seeking und die damit verbundene Logik kollektiven Handelns (Mancur Olson) ist eine für den gestaltungsorientierten sozialwissenschaftlichen Unterricht wichtige, in der egalitären Perspektive eher unterthematisierte Kategorie zum Verständnis der Interdependenzen zwischen politischem und gesellschaftlichem/ökonomischen System, um Politik als einen (potentiell) problemverursachenden Prozess verstehen zu können (Kapitel 4.2.). Rent-Seeking bezeichnet die (verdeckte) Beeinflussung von eigennützigen politischen Entscheidungsträgern durch gut organisierte ökonomische Interessensverbände mit dem Ziel, leistungslose, d.h. nicht durch Performanz im ökonomischen Leistungswettbewerb erwirtschaftete Einkommen (Renten) zu erzielen. Diese leistungslosen Einkommen – seien sie nun direkter (Subventionen) oder indirekter Natur (höhere Gewinne infolge regulativer Wettbewerbsbeschränkungen) – benachteiligen nicht nur andere Gruppen, sondern gehen auch zu Lasten der gesamtwirtschaftlichen Leistungskraft, weil politisches Rent-Seeking knappe ökonomische Ressourcen (Kosten für Lobbying etc.) verbraucht und das RentSeeking-Verhalten des einen Akteurs ein kompensierendes Rent-Seeking-Verhalten bei anderen Akteuren nach sich zieht, sodass immer mehr Ressourcen verschwendet werden. Von Rent-Seeking profitieren v.a. konzentrierte, klar definierte Minderheitsinteressen (z.B. Ärzte, Bauern), während weit gestreute, eher diffuse Mehrheitsinteressen (z.B. Verbraucher) benachteiligt werden. Erstere können die politischen Transaktionskosten in der repräsentativen Demokratie viel leichter aufbringen als letztere, da sie das Problem kollektiven Handelns besser überwinden und somit entsprechend finanz- und schlagkräftige Or-
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ganisationen aufbauen können. Erstens besitzen sie größere Kapazitäten, ihre Mitglieder durch Information politisch zu mobilisieren (Informationsasymmetrie). Zweitens bauen Interessenverbände oft systematische Beziehungen zu den Parteien auf, sodass ihre Mitglieder teilweise auch selbst als Abgeordnete im Parlament vertreten sind. Drittens verfügen sie über eine bessere Fähigkeit, das Handeln verantwortlicher Politiker z.B. durch die Vergabe von gut bezahlten Verbandsfunktionen nach dem Ausscheiden aus der Politik, die Aussicht auf andere attraktive berufliche Stellungen und grössere Wahlkampf- und Parteispenden zu beeinflussen und zu kontrollieren (Ressourcen- und Kontrollasymmetrie). Im Rahmen eines öffentlichen, transparenten Diskussionsprozesses wie in der (halb)direkten Demokratie sei es für die gut organisierten Interessengruppen weitaus schwieriger, die Mehrheit der Bevölkerung von ihrer Position zu überzeugen als in einer repräsentativen Demokratie die wenigen wichtigen politischen Entscheidungsträger hinter verschlossenen Türen zu beeinflussen. In didaktischer Hinsicht kann die kritische Sicht der partizipativen Perspektive auf das politische Engagement von Interessenverbänden mit der wohlwollenden, vom politologischen Pluralismus geprägten Sicht der egalitären Perspektive (Christiano 1996, Kapitel 7) kontrastiert werden, um die Ambivalenz (Kapitel 4.4.3.) dieses politischen Akteurs heraus zu arbeiten. So erscheint aus der Sicht der partizipativen Perspektive das Konzept der egalitären Perspektive, Interessensverbände zur Kontrolle des Prinzipal-Agenten-Problems zwischen Politik und Bürgern einzusetzen, als verfehlt, denn dadurch werde der Bock zum Gärtner. Andererseits kann man mit der egalitären und insbesondere der liberalkonstitutionellen Perspektive aber wiederum die Annahme der partizipativen Perspektive, die (halb)direkte Demokratie könne als Bollwerk gegen Rent-Seeking fungieren, kritisch hinterfragen, indem man auf die ungleich hohe Organisations- und Kampagnenfähigkeit konzentrierter Interessen verweist. Freilich hält die partizipative Perspektive diese Kritik nicht für überzeugend. Empirische Studien (v.a. aus den USA) zeigten vielmehr ein differenziertes Ergebnis: das Ausmaß der monetären Investition einer finanzstarken Interessengruppe (v.a. für mediale Kampagnen zur Beeinflussung der Bevölkerung) spiele zwar eine Rolle für das Abstimmungsergebnis, wenn dieses von der Gruppe gegen eine fremde Volksinitiative eingesetzt wird, aber der Einsatz von Geld erhöhe nicht die Wahrscheinlichkeit eines positiven Abstimmungsergebnisses, wenn die Gruppe ihrer eigenen Initiative damit einen Vorteil zu verschaffen versucht. Wohlhabende Interessen können fremde Initiativen also durch Geld blockieren, nicht aber ihren eigenen Initiativen durch monetäre Ressourcen zum Sieg verhelfen (Kirchgässner 1999, 28; Lupia/Matsusaka 2004, 470-472). Dies sei zwar kein völlig zufrieden stellendes Ergebnis, aber immerhin besser als die Verhältnisse in der repräsentativen Demokratie. Zudem verbiete in der BRD der § 7 Abs. 7 des Rundfunkstaatsvertrags die kommerzielle Werbung für sachpolitische Zwecke im öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk, sodass der direktdemokratische Abstimmungsprozess in Deutschland im Gegensatz zu den USA nicht Gefahr laufen würde, durch die finanzielle Übermacht einer Seite verzerrt zu werden (von Arnim 2000, 186). Mit der Kategorie des Rent-Seekings und der partizipativen Perspektive lassen sich didaktisch zur Förderung des kritischen, den Status Quo problematisierenden Denkens exemplarisch einige konkrete prüfende Blicke auf die Verfassungsrealität des deutschen Regierungssystems werfen, d.h. auf die Spannung zwischen formaler und materieller Demokratie in der BRD. So lässt sich Politik auch als eine `prinzipiell endlose Kette von Ver-
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suchen der Sicherung eigener und fremder Privilegien´ verstehen, um idealistische Trugbilder des politischen Prozesses zu vermeiden. Zur exemplarisch-didaktischen Veranschaulichung von Rent-Seeking im politischen System der BRD kann man z.B. zwischen folgenden Phänomenen auswählen: Erstens werde Rent-Seeking in der BRD v.a. dadurch erleichtert, dass private finanzielle Zuwendungen an Parlamentsabgeordnete (die nicht der Einkommensteuer, sondern nur der niedrigeren Schenkungsteuer unterliegen) und Spenden an Parteien in unbegrenzter Höhe erlaubt sind. Der deutsche Staat subventioniere gar die ungleich verteilte ökonomische Kraft zu spenden, indem er zum einen die Einkommensteuerlast des Spenders senkt und zum anderen die Spende (innerhalb generöser Höchstgrenzen) aus Steuermitteln bezuschusst. Hinzu kommt, dass die gesetzlichen Höchstgrenzen, ab der eine Parteispende zu veröffentlichen ist bzw. bis zu der Parteispenden subventioniert werden, in heimlicher Kooperation von beiden Seiten systematisch durch Stückelung der Beträge auf Familienmitglieder, Bekannte, Konzerntöchter etc. unterlaufen werde (Von Arnim 2001: 91, 189, 391 mit exemplarischen Fällen). Selbst wenn der konkrete Kauf von Abstimmungsverhalten unter Strafe steht, erzeuge diese Permissivität eine korrupte Atmosphäre, in dem sich mächtige Interessengruppen im Sinne einer langfristigen `Klimapflege´ das allgemeine Wohlwollen politischer Amtsträger bei zukünftigen politischen Entscheidungen zu sichern versuchen, was nicht selten erfolgreich sei (Von Arnim 2001: 88ff., 172-193; 295-298). Geht man didaktisch auf diesen Aspekt ein, sollte gestaltungsorientiert gefragt werden, worin die direktdemokratische Alternative bestünde. Für Von Arnim (2001) liegt sie darin, die Parteienfinanzierung durch ausschließliche Anbindung der staatlichen Unterstützung an die Zahl der Wählerstimmen oder besser noch durch einen sog. allgemeinen Bürgerbonus zu demokratisieren, bei dem jeder Wähler über einen steuerfinanzierten Gutschein in gleicher Höhe verfügt, den er an eine Partei ihrer/ seiner Wahl senden kann. Eine zweite, besonders moderne Erscheinungsform des Rent-Seeking und damit der (zunehmenden) Relevanz des von der partizipativen Perspektive so betonten PrinzipalAgent-Problems kann man didaktisch in Form von exemplarischen Fallstudien anhand der empirischen Recherchen von Adamek/Otto (2009) aufzeigen. Sie beschreiben, wie seit einiger Zeit pro Jahr ca. 100 Vertreter deutscher Großunternehmen dauerhaft oder vorübergehend in staatlichen Kontrollinstitutionen, Bundesministerien und in der EU-Kommission als `Leih-Beamte´ tätig sind und dabei nicht nur Zugang zu vertraulichen Informationen erhalten (und an ihr Unternehmen weitergeben), sondern auch eigenständig über Genehmigungen im offiziellen Namen der Behörden entscheiden und sogar an Gesetzen mitarbeiten, von denen ihr Arbeitgeber direkt betroffen ist. Während dieser Tätigkeit in den staatlichen Institutionen werden diese Mitarbeiter zudem nicht vom deutschen Staat, sondern von den Unternehmen bezahlt, in denen sie zuvor gearbeitet haben und danach wieder zurückkehren. Eine dritte Variante des Rent-Seeking komme darin zum Ausdruck, dass die politische Klasse in repräsentativen Demokratien eine Politik der Selbstbedienung betreibe, indem sie sich Privilegien in Form von hohen Diäten/Pensionen sowie überhöhter staatlicher Parteifinanzierung auf Kosten des Steuerzahlers aneigneten. So würden in der BRD die vom Bundesverfassungsgericht festgelegten Obergrenzen für die Finanzierung der Parteien aus Steuermitteln durch den exorbitanten Anstieg der öffentlichen Ausgaben für deren „Hilfsorganisationen“, d.h. der staatlichen Globalzuschüsse an Parteistiftungen, der staatlichen Finanzierung der Parlamentsfraktionen und der staatlichen Aufwendungen für die Mitarbei-
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ter der Abgeordneten faktisch unterlaufen. Die Festlegung dieser Mittel steht nämlich im freien Ermessen des Parlaments und damit der Begünstigten selbst, sodass das gesamte Ausmaß der staatlichen Finanzierung der Parteien eine inakzeptable Höhe erreicht habe (Von Arnim 2001, 112-120). Regierungs- und Oppositionsparteien würden in dieser Hinsicht ein Kartell bilden, welches in einer repräsentativen Demokratie kaum aufgelöst werden könne, und zwar auch nicht durch das BVG, das den diesbezüglichen Kartellvereinbarungen der politischen Klasse wegen der Ämterpatronage (s.u.) nur unzureichend Grenzen setze. Im Gegensatz dazu habe die (halb)direkte Demokratie in der Schweiz dazu beigetragen, das Ausmaß der staatlichen Parteien- und Fraktionsfinanzierung sowie die Abgeordnetenentschädigungen auf einem niedrigeren Niveau zu halten (von Arnim 2000, 190). Viertens drücke sich Rent-Seeking auch in der parteipolitischen Vergabe von Posten im öffentlich-rechtlichen Bereich (Ämterpatronage) wie z.B. bei der Besetzung des Bundesverfassungsgerichts (BVG), der Rechnungshöfe, der Spitzenämter des öffentlichen Dienstes, der Schlüsselgremien der öffentlich-rechtlichen Medien, und der öffentlichen Kreditinstitute durch die Parteien nach einem Proporzprinzip. Die Vergabe der Stellen zumindest beim BVG und den Rechnungshöfen gehöre jedoch in die Hände des Volkes, da durch die heutige Praxis Inhaber mit Parteibuch systematisch bevorzugt würden. Dies verletze das demokratische Gleichheitsprinzip und beeinträchtige die Neutralität dieser öffentlichen Gremien und die fachliche Qualität der Amtsinhaber auf erhebliche Weise. Insbesondere aber erhöhe es den opportunistischen Spielraum der politischen Klasse, indem es die politische Unabhängigkeit dieser Gremien faktisch untergrabe (von Arnim 2001, 223): „Die politischen Parteien sind derzeit in der Lage, die Justiz unter permanentem Verstoß gegen die Verfassung mit Gefolgsleuten der eigenen Couleur auszustatten, und zwar umso ungenierter, je höher die Ämter sind. (…) Diese Günstlingswirtschaft erzeugt zwangsläufig einen Geist in der Justiz, der sich der Politik und den Parteien verpflichtet fühlt.“ (Schmidt-Hieber/Kiesewetter 1992, 1790 & 1794 zit. nach von Arnim 2001, 170 f.)
Weder das BVG, die Rechnungshöfe noch der Parteienwettbewerb seien daher hinreichend erfolgreich, die oben dargestellte „exploitation“ der Bürger durch die politische Klasse wirkungsvoll zu unterbinden (Frey & Stutzer 2003b, 9). Ebensowenig zielführend sei es aber (Feld/Kirchgässner/Savioz 1999, 188), die Gefahr des opportunistischen Verhaltens von Politikern dadurch zu unterbinden, dass man den Handlungsspielraum kollektiver Politik über den Schutz der Menschenrechte hinaus – generell durch Konstitutionalisierung, d.h. durch umfassende Vorschriften in der Verfassung und aktivistische Verfassungsgerichte einschnüre, wie dies die liberal-konstitutionelle Perspektive unter Rückgriff auf die Ausführungen von Hayeks oder Buchanans empfiehlt: „Wie in dieser Arbeit gezeigt wird, widersprechen die politischen Institutionen und insbesondere die Ausgestaltung der direkten Demokratie in der Schweiz diametral der Hayek`schen Konzeption von Demokratie und Rechtsstaat. (…) Wenn man die Schweizerische Verfassung betrachtet und ihren Inhalt mit den Vorstellungen von v. Hayek über eine `Verfassung der Freiheit´ vergleicht, dann gelangt man schnell zu dem Schluß, dass es (innerhalb demokratischer Spielregeln) kaum einen größeren Widerspruch geben kann.“ (Kirchgässner 2001, 9 & 15)
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Der Hayek-Buchanansche Ansatz einer Verfassung für Opportunisten („constitution for knaves“) sei abzulehnen, da er die demokratischen Bürgerrechte einschränke und gegenüber der Bürgerschaft ein derartiges Ausmaß an Misstrauen signalisiere, das deren Bürgertugend unterminiere und erst jenes opportunistische Verhalten bei den Bürgern provoziere, das es zu verhindern suche. Auf diesen Ansatz könne man keine lebenswerte Gesellschaft aufbauen: “Economists distrust constitutions which rely on trust towards the citizens. The view that human beings act as knaves, if given the opportunity, forms the basis of Constitutional Economics (in particular Brennan & Buchanan 1983). This paper wants to draw attention to a crucial aspect disregarded by such arguments: A constitution designed for knaves tends to crowd out civic virtues, and as a result the constitution is less observed. By preparing for the worst case, and not taking into account average citizen behaviour, such constitutions may destroy the positive attitude of citizens towards the state.” (Frey/Stutzer/Benz 2001, 25f.; meine Hervorhebung, T.H.) “Public laws designed for the worst possible behaviour as suggested by Brennan and Buchanan, run the risk of destroying the positive attitude of citizens and politicians towards their constitution which is necessary to maintain efficiency, and is vital for its long-run survival.“ (Frey 2002, 14)
In diesem Kontext kann man didaktisch herausarbeiten, dass diese Kritik auf dem Akteursmodell des Homo Reciprocans als einer Alternative zum Homo Oeconomicus der liberalkonstitutionellen Perspektive fußt: die Mehrheit der Bürger agiere politisch nicht eigennützig, sondern folge der Maxime der Reziprozität. Unkooperatives, unilaterales Verhalten seitens des Staates beantworte der Bürger mit unkooperativem Verhalten. Signalisiere der Staat über die Form der öffentlichen Institutionen hingegen Vertrauen in die Verantwortungsbereitschaft der Bürger (soziale Anerkennung), zahle der Bürger diesen Vertrauensvorschuss reziprok in Form bürgerlicher Tugend zurück (z.B. durch ein höheres Ausmaß an Steuerehrlichkeit). So kann man verdeutlichen, dass unterschiedlichen politischen Systemen und Philosophien divergierende Menschenbilder zugrunde liegen. Der Vergleich des verantwortungsbewussten, gemeinwohlorientierten Homo-Reciprocans-Modells bei der Analyse der direkten Demokratie durch Schweizer Ökonomen (Frey, Kirchgässner, Stutzer etc.) mit der Sichtweise von einigen Politologen wie z.B. Hartleb/Jesse (2005) und Offe (1998), für welche die direkte Demokratie angesichts der politischen Verantwortungslosigkeit der Bürger und deren Vorurteilen die Gefahr des Populismus heraufbeschwört, zeigt zudem, dass gängige, homogenisierende fachdidaktische Porträts der sozialwissenschaftlichen Disziplinen (Detjen 2006a; Kaminski 2002; Scherb 2005) über den Status von unangemessenen Klischees nicht hinauskommen.
7.1.2.1.2 Höhere politische Kompetenz der Bürger So empfiehlt die partizipative Perspektive angesichts der oben aufgezeigten Probleme einer „constitution for knaves“, die Legitimität kollektiver Entscheidungen durch direktdemokratische Fazilitäten zu stärken und das Ausmaß der kollektiven Deliberation zwi-
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schen Politik und Bürgern zu erhöhen, um letztere in `Citoyens´ zu verwandeln. Der deliberative Citoyen stelle die humane Grundlage einer lebenswerten Gesellschaft dar: “The general spirit of the law, including specific rules, should acknowledge the citizens` basic goodwill.” (Frey 2002, 2) “A constitution should be designed to increase deliberation between the government and its citizens in order to overcome narrowly defined self-interest and to raise civic virtue.” (Frey 2002, 1; Feld/Kirchgässner/Savioz 1999, 200)
Referenden und Initiativen würden die für diese Deliberation erforderliche politische Kompetenz der Bürger stärken, da der im Vorfeld stattfindende, sich über einen relativ langen Zeitraum erstreckende öffentliche politische Diskurs signifikante sachpolitische Lerneffekte bei den Bürgern generiere (Kirchgässner/Feld/Savioz 1999, 54; von Arnim 2000, 192; Frey/Stutzer 2004a, 7). In einer (halb)direkten Demokratie sei sowohl die Nachfrage nach sachpolitischen Informationen seitens der Bürger als auch das Angebot von sachpolitischen Informationen seitens der Parteien, Verbände etc. deutlich höher. Wegen der direkten sachpolitischen Verantwortungszumutung an die Bürger und dem darin verkörperten systemischen Vertrauensvorschuss an diese steige die Bereitschaft der Bürger, höhere politische Informationskosten auf sich zu nehmen. Dies gelte umso mehr, als es in einem Land mit direktdemokratischen Elementen für die Bürger auch privat wichtiger werde, sachpolitisch gut informiert zu sein. Denn innerhalb der Bürgerschaft werde durch Direkte Demokratie ein reziproker, informeller Erwartungsdruck aufgebaut, über den Inhalt anstehender Abstimmungen gut informiert zu sein. Die Enttäuschung dieser sozialen Erwartung führe für den einzelnen Bürger zu einem Verlust an sozialer Anerkennung (von Arnim 2000, 193; Eichenberger 1999, 269). Aber auch das Angebot an detaillierten sachpolitischen Informationen (anstelle eher allgemeiner, vager ideologischer Stellungnahmen) sei in einer direkten Demokratie quantitativ und qualitativ deutlich besser, denn die an dem Ergebnis der Abstimmungen interessierten Parteien und Verbände besäßen nun einen höheren Anreiz, präzise Stellung zu beziehen und die Bevölkerung durch umfassende Information von ihrer Position zu überzeugen. Hinzu komme, dass – im Vergleich zur repräsentativen Demokratie – sachpolitische Spezialisten bezüglich der zur Abstimmung stehenden Frage mehr Möglichkeiten und höhere Anreize hätten, ihre Sachkompetenz in den öffentlichen Diskurs einzubringen. Das höhere Angebot von und die intensivere Nachfrage nach detaillierten sachpolitischen Informationen in einer (halb-)direkten Demokratie führe somit dazu, dass der öffentliche Diskussionsprozess zu wichtigen sachpolitischen Fragen sowohl auf einem weitaus intensiveren als auch auf einem deutlich höheren Niveau geführt werde. Demgegenüber würden bei Parlamentswahlen oft weniger sachpolitische Argumente, sondern vornehmlich die persönlichen Charaktereigenschaften der Kandidaten eine große Rolle spielen. Die deliberative Qualität der direkten Demokratie sei infolgedessen höher als jene der repräsentativen Demokratie (Feld/Kirchgässner/Savioz 1999, 194). Daher sei es nicht verwunderlich, dass empirische Studien auch bei statistischer Kontrolle anderer Einflussfaktoren zeigten, dass das politische Informationsniveau von Bürgern in (halb)direkten Jurisdiktionen deutlich höher ausfalle als jenes von Bürgern in repräsentativen Jurisdiktionen (Eichenberger/Schelker 2007, 97). So verfügten Bürger in europäi-
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schen Ländern, in denen Referenden über Sachfragen betreffend die Europäische Union abgehalten wurden, über ein größeres Wissen über das politische System der EU. Auch in der Schweiz zeige sich dieser empirische Zusammenhang zwischen dem Ausmaß politischer Mitbestimmung und dem Umfang des politischen Wissens der Bürger: je stärker ausgeprägt die direktdemokratischen Mitbestimmungsrechte auf der kantonalen Ebene ausgeprägt seien, desto besser seien die Bürger in einem Kanton politisch informiert (Benz/Stutzer 2004). Dieser Effekt sei sehr deutlich ausgeprägt: Der Abstand zwischen dem Niveau des durchschnittlichen politischen Wissens in dem Kanton mit den am wenigsten ausgebauten direktdemokratischen Rechten und dem Niveau des durchschnittlichen politischen Wissens in dem Kanton mit den am stärksten ausgebauten direktdemokratischen Rechten sei in etwa vergleichbar mit der Differenz zwischen dem durchschnittlichen Bildungsstand eines Pflichtschulabgängers und dem eines Absolventen mit Collegeabschluss (Frey/Stutzer 2003b, 22ff.). Dieser Zusammenhang zwischen politischem Wissen und dem Umfang direktdemokratischer Rechte der Bevölkerung wird auch für die Ebene der USBundesstaaten durch eine empirische Studie von Smith (2002) bestätigt. Zudem zeige sich in empirischen Studien, dass die Bürger im privaten Kreis in keinem europäischen Land häufiger über Politik diskutieren würden als in der Schweiz (Frey / Stutzer 2004a, 4). Infolge des intensiveren öffentlichen Diskussionsprozesses steige die Bereitschaft der Bürger, ihre Meinung zu ändern, notwendige Reformen mitzutragen und ihre politischen Präferenzen in Richtung auf Verallgemeinerbarkeit zu reflektieren. So zeige sich empirisch, dass das Abstimmungsverhalten der Bürger keinem egoistischen Kalkül („egotropic voting“) folge, sondern die Interessen anderer Mitbürger berücksichtige. Die Bürger würden in der Regel gemeinwohlorientiert abstimmen („sociotropic voting“) (Feld/Kirchgässner/Savioz 1999, 195) und so die Problematik pluraler Interessenslagen mildern. Waren Rechte einer Minderheit Gegenstand einer Volksabstimmung, sei diese in nur 30% der Fälle unterlegen gewesen (Frey/Goette 1998). Zudem zeige die Historie, dass direktdemokratische Mehrheiten auch gegen autoritäre Versuchungen gefeit seien: So wurde die von der faschistischen Nationalen Front lancierte Initiative zur autoritären Umgestaltung des schweizerischen Staates am 8.9.1935 von der Bevölkerung mit einer klaren Mehrheit von 72% zurückgewiesen, wohingegen sich das schweizerische Parlament nicht zu einer Ablehnung hatte durchringen können. Von daher werde in einer (halb)direkten Demokratie ein aktivistisches Verfassungsgericht wie in der BRD nicht benötigt. Gleichwohl ist ein verfassungsrechtlicher Schutz basaler liberaler Menschenrechte aus Sicht der Ökonomen der partizipativen Perspektive auf jeden Fall geboten (Kirchgässner 2009; Feld/ Kirchgässner/Savioz 1999: 181, 188, 198). Wenngleich empirisch höchst unklar sei, ob in einer repräsentativen oder in einer direkten Demokratie die Menschenrechte effektiver gewahrt würden (vgl. den ausführlichen Überblick über diverse Studien bei Kirchgässner 2009, 6-13), seien in der Schweiz, v.a. jedoch in den USA eine Reihe von Fällen zu beobachten, wo direktdemokratische Volksentscheide (z.B. für die Todesstrafe, vgl. ebd., 1319) liberale Menschenrechte verletzten. Deshalb sollen alle Bürger(innen) das Recht besitzen, bei einem Verfassungsgericht eine Klage einzureichen, wenn sie sich durch Parlaments- oder Volksentscheide in ihren Grundrechten beschnitten sehen (ebd., 18). Gute Chancen für eine Integration politischen und ökonomischen Lernens ergeben sich hier jedoch insbesondere dadurch, dass die Schweizer Ökonomen Frey/Kirchgässner (1993) im Kontext ihrer vergleichenden Analysen des repräsentativen und direktdemokrati-
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schen Entscheidungsprozesses nachdrücklich für eine Synthese aus Diskursethik und Ökonomischer Theorie der Politik plädieren. Aus ihrer Sicht stellt die in der Öffentlichkeit geführte direktdemokratische Debatte die bestmögliche institutionelle Umsetzung der idealen Sprechsituation der Habermasschen Diskurstheorie dar, auch wenn Habermas selbst dies nicht hinreichend erkenne (Frey/Stutzer 2003b, 12). „Diskursethik und Moderne Politische Ökonomie stehen bisher weitgehend unverbunden nebeneinander. Sie könnten sich jedoch durchaus ergänzen. Die Mängel beider Ansätze können durch den anderen Ansatz jeweils zumindest partiell überwunden werden. Dies soll hier anhand der Institution der Volksabstimmung gezeigt werden. Diese kann als eine mögliche (und sonst fehlende) Institutionalisierung der diskursethischen Idee begriffen werden. Dabei ist wichtig, dass nicht nur die letztlich zu treffende Entscheidung, sondern auch der dieser Entscheidung vorangehende Diskussionsprozess betrachtet wird. Dieser Diskurs und der dabei stattfindende Austausch von Argumenten können bei den betroffenen Individuen eine Präferenzänderung bzw. eine Änderung ihrer ethischen Vorstellungen bewirken. Dieser Aspekt wird in der Politischen Ökonomie, die bisher einzig auf die letztlich zu treffende Entscheidung abstellt, vernachlässigt.“ (Frey/Kirchgässner 1993, 130).
Didaktisch kann man unter Rückgriff auf die Einwände der egalitären und liberalkonstitutionalistischen Perspektive kritisch prüfen, inwiefern der öffentliche Diskurs im Vorlauf direktdemokratischer Abstimmungen dem Habermasschen Ideal eines machtfreien Diskurses tatsächlich so nahekommt, wie die beiden Schweizer Ökonomen behaupten. Voraussetzung für ein anspruchsvolles Deliberationsniveau und angemessene Entscheidungen ist aus partizipativer Perspektive jedoch nur, dass nicht mehrere Abstimmungen an einem einzigen Tag im Jahr gebündelt werden wie dies z.B. in Kalifornien der Fall ist. In diesem Fall litten der öffentliche Diskurs über die einzelnen Fragen und damit die Angemessenheit der Entscheidungen erheblich. Dieses Problem der direkten Demokratie in manchen US-Bundesstaaten werde noch dadurch verschärft, dass die Frist zwischen dem Zustandekommen einer Initiative und der Abstimmung darüber nicht selten viel zu kurz sei. Manche bedenklichen Entscheidungen im Rahmen der (halb)direkten Demokratie in den US-Bundesstaaten seien also nicht auf diese selber zurückzuführen, sondern auf die bisweilen unzureichende institutionelle Einbettung des direktdemokratischen Verfahrens (Feld/ Kirchgässner/Savioz 1999, 139 & 185). Unter angemessenen institutionellen Bedingungen würden die Bürger hingegen kompetent und verantwortungsvoll abstimmen. Die von der egalitären Perspektive vertretene These, wonach Bürger zwar kompetent über Parteiprogramme und Kandidaten abstimmen könnten, aus Überforderungsgründen jedoch nicht über sachpolitische Fragen, sei in sich logisch widersprüchlich und daher zu verwerfen (Eichenberger/Schelker 2007, 97; Frey/ Stutzer 2003b, 27). Das Argument, direktdemokratische Verfahren überforderten im Vergleich zur Wahl von Parteien angesichts der Komplexität der einzelnen Sachfragen die Kompetenz der Bürger, sei nicht zutreffend. Eher ließe sich die entgegengesetzte These vertreten, die repräsentative Demokratie überfordere den Wähler, weil dieser sich dort auf einen Schlag für ganze Politikbündel zu entscheiden habe und auch noch das unbekannte, da zukünftige Handeln von Politikern antizipieren müsse. Bei Referenden müsse der Bürger hingegen nur über eine einzige Sachfrage informiert sein. Mit Blick auf das Kontroversitätsprinzip kann man diese optimistische Haltung zu den deliberativen Kompetenzen des Normalbürgers didaktisch mit der deutlich skeptischeren
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Sicht der egalitären und der entgegengesetzen Sichtweise der liberal-konstitutionellen Perspektive kontrastieren. Die von der liberal-konstitutionellen Perspektive vorgebrachte Einschätzung der Bürger als „rational ignorant“ (Downs 1957) bzw. als „rational irrational“ (Caplan 2007) erscheint aus partizipativer Perspektive jedoch nicht als überzeugend, weil die sachpolitische Kompetenz der Bürger ein endogenes Produkt (Frey & Stutzer 2003b, 28) der sie umgebenden politischen Institutionen darstelle. Die Ausbildung von individueller politischer Kompetenz in der (halb)direkten Demokratie stelle einen individuellen prozeduralen Nutzen und damit ein privates Gut dar, das die Bürgerin aus eigenem Interesse anstrebe. Daher ließen sich aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht nur wenige Beispiele für direktdemokratische Fehlentscheide der Bevölkerung in der Schweiz finden (Feld / Kirchgässner/Savioz 1999, 5), sodass die Forderung der liberal-konstitutionellen Perspektive, die (halb)direkte Demokratie strikt auf die lokale Ebene zu beschränken, unbegründet sei. Es bestehe ein fundamentaler Unterschied zwischen den Ergebnissen von punktuellen Umfragen (welche z.B. Caplan (2007) als Vertreter des liberal-konstitutionellen Perspektive heranzieht) und den Ergebnissen direktdemokratischer Entscheidungen, da die politischen Präferenzen der Bürger im Rahmen der intensiven öffentlichen Information und Diskussion der direkten Demokratie deliberativ und moralisch geläutert würden (von Arnim 2000, 194): „Vom Vorwurf der Verantwortungslosigkeit der StimmbürgerInnen an der Urne bleibt damit nur ein allgemeines Unbehagen Intellektueller verschiedenster Couleur an der Demokratie. Während rechte Intellektuelle eher den politischen Prozess ausschalten und durch den Markt ersetzen wollen, wo nicht mehr die einzelne Stimme, sondern die Kaufkraft, d.h. Einkommen und Vermögen, entscheiden, möchten linke Intellektuelle eher den politischen Prozess beibehalten, aber die allgemeine Bevölkerung so weit wie möglich aus ihm fernhalten. Offensichtlich trauen sie es sich eher zu, mit ihren Argumenten die Mitglieder der politischen Eliten zu überzeugen als die der Bevölkerung. Beide Positionen ersparen ihren Proponenten weitgehend den in einer direkten Demokratie notwendigen öffentlichen Diskurs mit der Bevölkerung.“ (Feld/Kirchgässner/Savioz 1999, 199)
Auch an dieser Stelle bieten sich für eine gestaltungsorientierte sozialwissenschaftliche Fachdidaktik Möglichkeiten zur Integration politischen und ökonomischen Lernens, indem man – in exemplarischer Form – zur Fundierung gestaltungsorientierter Urteilskraft anhand von ausgewählten Einzelentscheidungen oder anhand von Politikfeldern diese Kontroverse konkret empirisch analysiert, d.h. überprüft, inwiefern direktdemokratische Entscheidungsmuster politisch und/oder ökonomisch als `vernünftig´ / `verantwortlich´ gelten können. In dieser Hinsicht zeigen gegenwärtige politikdidaktische Schulbücher (z.B. Detjen 2006b, 202ff.; Floren 2006, 76ff.; Heither/Klöckner/ Wunderer 2006, 97ff.; ) einen fundamentalen Mangel, weil sie lediglich die Funktionsweise von direktdemokratischen Institutionen darstellen und das Für und Wider ausschließlich anhand abstrakter theoretischer Thesen erörtern (z.B. „In der Direkten Demokratie sind unangenehme, aber notwendige Gesetze nicht durchsetzbar“). Es mangelt hier also an einer (exemplarischen) Inbezugsetzung von Polity und empirischen Policies bzw. Policy-Outcomes. Wie aber soll sich der Schüler ein einigermaßen fundiertes Urteil zur gestaltungsorientierten Frage nach der Einführung direkter Demokratie auf Bundesebene herausbilden können, wenn keine – noch nicht einmal
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exemplarische – Erkenntnisse zu den empirischen Policy-Wirkungen – also zur OutputLegitimität – der direkten Demokratie (in der Schweiz / in den USA) dargestellt werden? Die Gründe für diese didaktische Leerstelle sind keinesfalls in mangelnder wissenschaftlicher Forschung zu suchen, weil man sie unter Rückgriff auf `ökonomische´ Forschung beheben kann. So kann man z.B. zunächst eine kritische These des Politologen Offe (1998) aufgreifen (welcher der egalitären Perspektive nahesteht), wonach direkte Demokratie infolge eines Steuersenkungs-Populismus die Gefahr mit sich bringe, zu einem „bildungspolitischen Kahlschlag“ (ebd., 87) zu führen, wie man am Beispiel Kalifornien sehen könne. Da diese paradoxe These, dass mehr politische Teilhabe der Erwachsenen die künftigen ökonomischen Teilhabechancen der Jugend reduziere, von ihm jedoch nicht belegt wird, sollte sie im Unterricht nicht nur einfach bloß hingestellt, sondern hinsichtlich ihres empirischen Gehalts überprüft werden. Hierzu kann man auf eine detaillierte empirische Studie der Ökonomin Fischer (2005, 203-236) zurückgreifen. Deren multivariate ökonometrische Untersuchung, welche stärker direktdemokratisch geprägte Kantone mit stärker repräsentativdemokratischen Kantonen vergleicht, zeigt in der Tat, dass direkte Demokratie in der Schweiz aufgrund steuer- und finanzpolitischen Widerstands geringere Staatsausgaben für die Bildungspolitik nach sich zieht, was zu einem niedrigeren Leistungsniveau der Schüler im Lesen (aber nicht in Mathematik) führt. Zu denselben Ergebnissen kommt der Ökonom Figlio (1997) für Kalifornien. Ein weiteres von Fischer (2005, 141-179) analysiertes und für die gesellschaftliche Lebensqualität ebenso relevantes Politikfeld, dass man ebenfalls in diesem Sinne untersuchen kann, ist die Kriminalitätspolitik, d.h. die Wirkungen direkter Demokratie auf deren ökonomische Effizienz und polizeiliche Effektivität (Fischer 2005, 141-179). Die exemplarische Untersuchung solcher Schattenseiten der direkten Demokratie fördert eine differenzierte Urteilsbildung, die nicht nach Patentlösungen ruft (z.B. „Das Volk muss an die Macht, dann wird alles besser“), sondern die Vor- und Nachteile politischer Institutionen vorsichtig gegeneinander abwägt (Dubs 2001), weil sie sich der komplexen Ambivalenz (Kapitel 4.4.3.) der Wirkungen politischer Institutionen bewusst ist. Ausgehend davon kann man z.B. überlegen, wie direkte Demokratie ergänzt werden könnte, um bestimmte Nachteile zu minimieren (z.B. intensivere sozialwissenschaftliche Bildung).
7.1.2.1.3 Höhere soziale Bezogenheit der Bürger Drittens stärke die (halb)direkte Demokratie die soziale Bezogenheit der Bürger untereinander, da sie zum einen durch den öffentlichen Diskussionsprozess das wechselseitige Verständnis vertiefe (Frey/Stutzer 2003b, 13) und zum anderen zu einer Erhöhung des Sozialkapitals im Sinne einer höheren sozialen Interaktion und Kooperation zwischen den Bürgern im Rahmen von stärker verflochtenen sozialen Beziehungsnetzwerken führe (Freitag 2006; Freitag/Schniewind 2007; Frey 2003b). Sozialkapital bzw. soziale Netzwerke werden mit Blick auf empirische Studien als ein entscheidender Faktor für das individuelle Wohlbefinden und damit für den Lebenswert der Gesellschaft betrachtet, weil Individuen, die in dichten sozialen Netzwerken eingebunden sind, einen deutlich besseren körperlichen und psychischen Gesundheitszustand aufwiesen (Mazzone 2001, 31). Darüber hinaus zeichneten sich Gebietskörperschaften mit höherem Sozialkapital durch weniger Kriminali-
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tät, Drogenmissbrauch, Abhängigkeit von sozialstaatlichen Leistungen usw. aus. Denn die höhere soziale Verflechtung der Bürger und die verringerte soziale Distanz infolge fortlaufender Face-to-Face-Kommunikation stärke die Norm reziproken, prosozialen Verhaltens. Unkooperatives Handeln von einzelnen Individuen ziehe in dieser Umgebung infolge von höherer sozialer Mißachtung größere Kosten nach sich und könne infolge geringerer Anonymität auch besser aufgedeckt werden (ebd., 40f.). Sozialkapital fördere schließlich auch die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes, da dieses stark vom Vertrauen als „informellem Schmiermittel“ ökonomischer Vertragsbeziehungen abhänge (Frey 2003b). Der Zusammenhang zwischen (halb)direkter Demokratie und dem Sozialkapital sei empirisch – auch bei Berücksichtigung von Kontrollvariablen – daran ablesbar, dass das freiwillige, ehrenamtliche aktive Engagement der Bürger im Rahmen von zivilgesellschaftlichen Vereinen in Schweizer Kantonen mit besonders ausgeprägten direktdemokratischen Partizipationsrechten weiter verbreitet und stärker ausgeprägt sei als in den anderen Kantonen mit weniger extensiver Direktdemokratie (Freitag 2006; Freitag/Schneewind 2007). Durch die Einführung von (halb)direkter Demokratie ließe sich deshalb politische Apathie und Anomie wirkungsvoll bekämpfen: “Government structures are strongly associated with social capital. The availability of direct democracy promotes a lively associational life. (…) In this vein, the access points of the politico-institutional structure constitute a feasible `top-down´ path to breaking out of the vicious circle of distrust, disengagement and weak democracy.” (Freitag 2006, 123)
Der enge Zusammenhang zwischen direkter Demokratie und zivilgesellschaftlichem Engagement erkläre sich daraus, dass die Bürger bei stärker ausgeprägten politischen Rechten des Volkes einen größeren Anreiz besäßen, sich in Vereinen zusammenzuschließen, um ihre politischen Anliegen zur Sprache zu bringen und geltend zu machen (ebd., 131f.). Denn selbst wenn es nicht zu Abstimmungen komme, müsse eine Regierung im Rahmen einer halb-direkten Demokratie bei ihrem Handeln stets die Möglichkeit entsprechender spontaner politischer Initiativen von unten antizipieren, deshalb im Vorfeld ihrer Entscheidungen den Kontakt mit den zivilgesellschaftlichen Vereinigungen suchen und deren Ansichten berücksichtigen. Infolgedessen komme es zu einer Politisierung der Bürgerschaft (Mazzone 2001, 49). Aufgrund dessen könnten die politischen Eliten i.d.R. auch keine radikalen Vorschläge auf die Tagesordnung setzen, sondern müssen stets Kompromisslösungen vorbringen, die möglichst viele gesellschaftliche Interessen halbwegs zufrieden stellen (Kriesi 2006, 46), was positiv gewertet wird (Feld/Kirchgässner/Savioz 1999, 174). Unter Bezug auf Putnam (1993) wird dabei davon ausgegangen, dass zivilgesellschaftliche Vereine `Schulen der Demokratie´ seien, in denen Bürger aus unterschiedlichen sozialen Milieus zusammenkommen und innerhalb deren die Bürger deshalb Kooperationsbereitschaft, sozialen Perspektivenwechsel, unvoreingenommene Deliberation und Demokratiefähigkeit erlernen würden (Freitag 2006, 127): “As de Tocqueville explained in his discussion of the small civic associations in the United States in the 1830s, these associations draw individuals out of their world of private self-interest and teach them habits of cooperation, solidarity, and other civic skills. (…) Participation can perform a `bridging´ function, creating cooperation among socially diverse individuals.“ (Mazzone 2001, 46 & 52)
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Durch die intensive Kommunikation im Rahmen der Zivilgesellschaft stiegen also die Identifikation des einzelnen Bürgers mit kollektiven Zielen, die prosoziale Kooperationsbereitschaft und damit der soziale Zusammenhalt in der Bevölkerung. Dieser Effekt sei aus experimentellen Studien zum Gefangenendilemma bekannt, in denen gezeigt wurde, dass die Defektionsrate in sozialen Dilemmata deutlich abnimmt, wenn man den Teilnehmern vor (nicht: während) der Durchführung des Experiments Gelegenheit gibt, 10 Minuten miteinander zu kommunizieren. Im Gegensatz zur Ansicht vieler Mainstream-Ökonomen sei Kommunikation vor Dilemma-Situationen kein bloßes `Cheap-Talk´. Kommunikationsprozesse würden vielmehr Vertrauensbereitschaft und moralisches Verhalten bei den Teilnehmern stimulieren (Bohnet/Frey 1994, 342f.; Frey/Stutzer 2004a, 7; Mazzone 2001, 51).
7.1.2.2 Die Versöhnung von Föderalismus und sozialpolitischer Umverteilung durch (halb)direkte Demokratie Die partizipative Perspektive bietet didaktisch darüber hinaus auch eine Alternative zur Gestaltung des Föderalismus an, die man durch einen Vergleich mit dem Status Quo in der BRD und den entsprechenden Empfehlungen der egalitären und liberal-konstitutionellen Perspektive kontrovers diskutieren kann. Bereits die Auseinandersetzung mit dem Gestaltungsvorschlag der partizipativen Perspektive kann jedoch bereits zur exemplarischen Schulung systemischen Denkens genutzt werden, da sie davon ausgeht, dass die Elemente (halb)direkte Demokratie, dezentraler Föderalismus und Sozialpolitik in einem komplementären Verhältnis zueinanderstehen und so ein in sich synergetisches System bilden. Auf diese Weise kann man wichtige (mögliche) Interdependenzen zwischen unterschiedlichen Teilen des politischen Systems entdecken. Mit Blick auf die derzeitige fachdidaktische Diskussion wird dabei – wie auch schon im Kapitel 7.1.2.1. – nochmals deutlich, dass die Ökonomik entgegen anderslautenden Behauptungen (Kaminski 2007; Kruber 2005) sehr wohl auch eine `Macht-Wissenschaft´ darstellt und sich ausführlich mit Kategorien wie Legitimität, politischer Verfassung etc. beschäftigt. Die exkludierende Zuordnung der Aufgabenfelder Demokratie und Politische Entscheidungsprozesse zur politischen Bildung (siehe die Tabelle bei Kruber 2005, 109) ist deshalb fachdidaktisch nicht angemessen (diese Schlussfolgerung wird auch Kapitel 7.1.3. noch weiter bestärken). Die partizipative Perspektive sieht in der (halb)direkten Demokratie das einzig verlässliche Instrument zum Schutz eines echten, d.h. heterogenitätsfreundlichen Föderalismus (Blankart 2000; Frey/Stutzer 2004a), d.h. einer möglichst starken Dezentralisierung von Gesetzgebungskompetenzen (und nicht bloß Ausführungskompetenzen) und der damit einhergehenden politischen Verantwortlichkeit auf regionale Gebietskörperschaften (Kantone/Bundesländer bzw. Gemeinden), sofern nicht positive/negative externe Effekte, Mobilitätsbedürfnisse, Economies of Scale and Scope sowie sozialpolitische Gesichtspunkte dagegen sprechen. Die partizipative Perspektive lehnt genauso wie die egalitäre und die liberal-konstitutionelle Perspektive den derzeitigen, sog. kooperativen Föderalismus in der BRD als faktisch zentralistischen (Schein-)Föderalismus ab, in dem die Bundesländer zwar über den Bundesrat Mitbestimmungs- und Vetorechte besitzen, eine große Zahl politischer Entscheidungen jedoch genau deshalb auf Bundesebene getroffen werden, sodass es zu einheitlichen Regelungen kommt. Gleichwohl unterscheidet sich das von der partizipativen Perspektive vertretene Föderalismusideal insofern von den gestaltungspolitischen Vorstel-
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lungen der anderen beiden Perspektiven, als man es als direktdemokratischen Föderalismus bezeichnen kann, wie er in der Schweiz anzutreffen ist. Als Vorteile eines dezentralen Föderalismus sieht die partizipative Perspektive erstens dessen stärkere politische Sensibilität für sozioökonomische und -kulturelle Differenzen, d.h. eine zielgenauere Erfüllung der unterschiedlichen politischen Präferenzen der jeweiligen Bürgerschaften und damit eine Stärkung der politischen Selbstbestimmung. Empirische Studien kämen deshalb zu dem Ergebnis, dass ein dezentraler Föderalismus Schweizer Art das durchschnittliche subjektive Wohlbefinden der Bürger und damit die Lebensqualität der Gesellschaft (Kapitel 3) erhöhe (Frey/Stutzer/Benz 2001, 29). Zweitens unterstützten föderale Strukturen die Voraussetzungen für (halb)direkte Demokratie, da die Bürger ein ausgeprägtes Verständnis von den Problemen vor Ort besäßen und Dezentralisierung den direkten Einfluss der Bürger auf politische Entscheidungen erhöhe. Föderalistische Strukturen politisierten den einzelnen Bürger besser und erzeugten so ein höheres Maß an Sozialkapital (Mazzone 2001). Denn zentralistische Strukturen mit der Konzentration politischer Entscheidungskompetenzen auf nationaler Ebene würden die Herausbildung von einer nur geringen Zahl an oligarchischen Massenverbänden mit vielen passiven Mitgliedern begünstigen, da anderenfalls das politische Durchsetzungsvermögen solcher Verbände zu gering sei. Demgegenüber fördere die Dezentralisierung von Entscheidungskompetenzen durch föderalistische Strukturen die Genese einer großen Zahl an relativ kleinen, eher basisdemokratischen, regional oder lokal verankerten Vereinen mit vielen aktiven, engagierten Mitgliedern (Mazzone 2001, 42-46). So zeigten empirische Studien, dass je stärker der Grad der Dezentralisierung in einem Staat ausfalle, desto intensiver engagierten sich die Bürger im politischen Diskurs (Frey/Stutzer 2004a, 8; Torgler/ Schaltegger 2006). Drittens stärke Föderalismus die Solidarität und die Verbundenheit innerhalb der Bürgerschaft, da Bürger in kleinräumigen, übersichtlichen Gebieten mehr Empathie für die Belange ihrer Mitbürger entwickeln und deswegen sozialpolitischen Umverteilungsmaßnahmen eher zustimmen würden als in großräumigen, unübersichtlichen Einheiten (Schelker 2005; Ashworth/Heyndels/Smolders 2002; Frey/Stutzer 2004a). Hinsichtlich der Frage, warum die (halb)direkte Demokratie als einzig wirksamer Schutz des dezentralen Föderalismus betrachtet wird, kann man didaktisch wiederum die analytische Anwendung ökonomischer Denkschemata (hier: Kartell, Prinzipal-AgentProblematik) auf das politische System schulen. Denn aus Sicht der partizipativen Perspektive neigen die politischen Eliten in den einzelnen Regionen dazu, ein geographischpolitisches Kartell zu bilden, um ihren opportunistischen Spielraum gegenüber den Bürgern zu erhalten bzw. auszubauen (Frey/Stutzer 2003b, 15), indem sie sich dem stärkeren politischen Zugriff der Bürger auf der regionalen / lokalen Ebene und dem aus der Vergleichbarkeit der politischen Leistungen resultierenden Wettbewerbsdruck entzögen. Derartige Kartelle seien aber instabil, da die einzelnen Mitglieder immer Anreize zur Defektion besäßen. Zur Stabilisierung solcher Kartelle werde deshalb die Unterstützung und gesetzliche Durchsetzungskraft der Zentralregierung eingesetzt. Ob ein solches zentralistisches Kartell tatsächlich zustande komme, hänge davon ab, welcher Akteur die sog. Kompetenzkompetenz, d.h. das Recht zur Aufteilung der Gesetzeskompetenzen auf die einzelnen föderalen Ebenen innehabe. Liege die Kompetenzkompetenz bei ebenjenen Akteuren, die an dem zentralistischen Kartell selbst interessiert seien, komme es über kurz oder lang zu einer zentralistischen Kartellierung, d.h. zu einer Verlage-
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rung von Gesetzgebungskompentenzen auf die bundesstaatliche Ebene und einer damit einhergehenden Vereinheitlichung politischer Beschlüsse. Eben eine solche zentralistische Kartellierung sei im Laufe der Nachkriegsjahrzehnte in Deutschland zustande gekommen, weil die Kompetenzkompetenz bei Bundestag und Bundesrat liege, die jeweils mit 2/3Mehrheit eine Verlagerung von Gesetzgebungskompetenzen nach oben (also eine Delegation von Befugnissen an sich selbst) gemeinsam beschließen können, ohne dass die Bevölkerung in den Bundesländern dagegen Einspruch hätte erheben können. Didaktisch kann beim Vergleich der Perspektiven deutlich werden, dass aus partizipativer Perspektive das von der egalitären Perspektive bzw. von Scharpf vertretene Modell zur Reform des deutschen Föderalismus daher als nicht zielführend erscheint, da die Kompetenzkompetenz dort weiterhin bei den repräsentativen Akteuren auf der Bundesebene bleiben soll. Umgekehrt kann man an dieser Analyse mit Scharpf (1999b, 4-7) kritisieren, dass die Kartellbildung der deutschen Bundesländer in der Nachkriegszeit keine böswillige Verschwörung der politischen Eliten gegen die Bevölkerung darstellte, sondern historisch vielmehr zum einen angesichts der ungleichen Belastung durch den Krieg auf den Wunsch der Bevölkerung nach einheitlichen Lebensverhältnissen zurückzuführen und zum anderen auch als defensives Kartell gegen den damaligen Beamtenbesoldungs- und Subventions-wettlauf zu verstehen sei. Durch die didaktische Explizierung solcher fachwissenschaftlich (bisher) nur impliziten interdisziplinären Kontroversen kann man `politikwissenschaftliches´ und `ökonomisches´ Denken integrieren. Aus Sicht der partizipativen Perspektive liegt der große Vorteil der föderalen Ordnung der Schweiz darin, dass eine zentralistische Abschottung der politischen Elite gegenüber den Bürgern wie in der BRD nicht möglich gewesen sei, denn hier liege die konstitutionelle Kompetenzkompetenz im Wesentlichen bei der Bevölkerung selbst, die in Form des obligatorischen bzw. des fakultativen Referendums über derartige Fragen entscheiden müsse bzw. gegen zentralistische Kompetenzverlagerungen Einspruch einlegen könne. Aufgrund dieser direktdemokratischen Einspruchsmöglichkeiten sei die Schweiz im Gegensatz zum verkappten Einheitsstaat der BRD ein genuin föderaler, relativ dezentral organisierter Bundesstaat geblieben. Dieser Zusammenhang von (halb)direkter Demokratie und heterogenitätsfreundlichem Föderalismus werde auch durch einen Blick in die USA bestätigt: in denjenigen US-Bundesstaaten, in denen die Bevölkerung über das Recht verfügt, Volksinitiativen anzustrengen, würden die staatlichen Aufgaben eher auf lokaler Ebene anstatt auf zentraler Ebene beschlossen und finanziert, d.h. der politische Entscheidungsprozess erfolge dort möglichst bürgernah. Didaktisch kann an dieser Stelle bezüglich des Unterschieds zwischen liberalkonstitutioneller Perspektive und partizipativer Perspektive herausgearbeitet werden, dass letztere den dezentralen Föderalismus nicht wie erstere durch die Verfassung bzw. das Verfassungsgericht, sondern direkt durch die Bevölkerung gesichert sehen will. Das Volk selbst soll also die Kompetenzkompetenz innehaben, d.h. in letzter Instanz über die Allokation politischer Kompetenzen auf die verschiedenen föderalen Ebenen entscheiden können. Ebendiese normative These bildet den Kern der partizipativen Perspektive zur Föderalismusfrage und sollte daher im Unterricht in jedem Fall deutlich werden. Eine weitere (didaktisch aber eher nachrangige) Differenz zwischen partizipativer und liberal-konstitutioneller Perspektive liegt darin, dass erstere den dezentralen Föderalismus im Gegensatz zur letzteren nicht als Instrument sieht, um auf sozialpolitischem Gebiet eine strikte Orientierung am Äquivalenzprinzip durchzusetzen, da – direktdemokratisch legiti-
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mierte – Einkommensumverteilung insofern positiv bewertet wird, als ärmere Personen dadurch deutlich mehr an psychischem Wohlbefinden hinzugewönnen als wohlhabende Personen verlören. Dies rechtfertige sozialpolitische Umverteilungsmaßnahmen jenseits einer bloß residualen Sicherung des Existenzminimums (Layard 2005, 64f. & 154). Soziale Gerechtigkeit wird als legitimes regulatives Prinzip anerkannt (Kirchgässner 1995): „Selbst wenn mit einer Neuerung, die sich in der direkten Demokratie nicht durchsetzen lässt, eine Erhöhung an Wettbewerbsfähigkeit und – als Konsequenz daraus – eine Erhöhung der Menge an verfügbaren Gütern verbunden wäre, so ist der Schluss, dies sei notwendigerweise mit einer Wohlfahrtssteigerung verbunden, problematisch. Auf den dahinter stehenden `Trugschluss in der Lehre vom Gütermaximum´ hat Hans Albert bereits 1953 hingewiesen. Entscheidend ist, wie die Güter neu verteilt werden.“ (Feld/Kirchgässner/Savioz 1999, 177)
Deshalb wird die ungleiche Mobilität von wohlhabenden und weniger wohlhabenden Bevölkerungsteilen im dezentralen Föderalismus als potentielles Problem wahrgenommen, das nicht völlig Wettbewerbskräften preisgegeben werden sollte, zumal es die politischen Gewichte in der Demokratie zugunsten des hochmobilen Teils verschiebe (Frey/Stutzer 2004a, 9; Feld/Kirchgässner 2001, 22f. & 44f.). Daher könne es – sofern die Bevölkerung einen solchen Wunsch in Volksabstimmungen zum Ausdruck bringe – bzgl. der Sozialpolitik Grenzen des Wettbewerbsföderalismus geben, indem die Ausgestaltung redistributiver Maßnahmen, d.h. der Sozialversicherungen und zu einem Teil auch die Einkommensteuerpolitik – wie es in der Schweiz der Fall ist – auf zentraler bzw. mittlerer föderaler Ebene durch die gesamte Bevölkerung in Abstimmungen festgelegt wird (Feld 2004, 67; Feld/Kirchgässner 2001, 43; Frey/Stutzer 2004a, 9). So gibt es auch in der Schweiz zum einen eine progressiv ausgerichtete direkte Bundessteuer und zum anderen erheben auch die Kantone progressive Einkommensteuern, deren endgültigen Sätze zwar die Gemeinden durch variable Aufschläge bestimmen können, deren Progressionsgrad und Mindesthöhe jedoch von den Kantonen festgelegt wird. Nach Schelker (2005) stellt diese, sich in der Direkten Demokratie herausgebildete Struktur ein sinnvolles Arrangement dar, um den Zielkonflikt zwischen den positiven Effizienzwirkungen (weniger Rent-Seeking-Potential der staatlichen Instanzen) und den problematischen Verteilungswirkungen des Wettbewerbsföderalismus zu lindern. Zweitens vertritt die partizipative Perspektive die These, dass eine föderale Dezentralisierung staatlicher Kompetenzen – sofern diese mit direktdemokratischen Strukturen gekoppelt wird – nicht unbedingt zu einem Abbau sozialstaatlicher Umverteilung führen müsse, wie die egalitäre Perspektive befürchtet und die liberal-konstitutionelle Perspektive hofft. Vielmehr führe Föderalismus gekoppelt mit (halb)direkter Demokratie zu einer Stärkung der solidarischen Präferenzen in der Bevölkerung. Der Diskurs im Rahmen der (halb)direkten Demokratie bewirke empirisch nachweisbar eine Stärkung der Umverteilungsbereitschaft in der Bevölkerung und überwinde so den von der egalitären Perspektive herausgestellten Zielkonflikt zwischen Partizipation und Gleichheit. Über je mehr direktdemokratische Voice die Bürger verfügen würden, desto weniger würde die Exit-Option in Anspruch genommen: „Es lässt sich beobachten, dass sich die Stimmbürger bei Abstimmungen eher bzw. stärker altruistisch verhalten als bei anderen, insbesondere wirtschaftlichen Entscheidungen. So gibt es em-
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pirische Evidenz dafür, dass Bürger für Umverteilungsprogramme stimmen, obwohl sie selbst dadurch einen Vermögensverlust erleiden. Dieser Effekt dürfte wesentlich durch den der Abstimmung vorangehenden Diskurs erreicht werden.“ (Frey/Kirchgässner 1993, 141) „Wegen dieser Mitbestimmungsmöglichkeit und der den Entscheidungen vorangehenden Diskussion akzeptieren sie Umverteilungsentscheidungen eher als in einer Situation, in denen ihnen Steuern aufoktroyiert werden. Die prozedurale Fairness der Schweizer Referendumsdemokratie stabilisiert die dezentrale Umverteilung somit ebenfalls. In der Tat ist der Steuerwettbewerb in denjenigen Kantonen weniger ausgeprägt, die Referenden über die Höhe der Steuerbelastung haben.“ (Feld 2004, 68; zu demselben Ergebnis kommt der Politologe Müller 2003)
Bemerkenswerterweise sind es also gerade Ökonomen, die den (potentiellen) didaktischen Wert einer sozialkonstruktivistischen Perspektive für eine gestaltungsorientierte Evaluation der direkten Demokratie aufzeigen. Die ökonomische Analyse politischer Institutionen im Rahmen sozialwissenschaftlicher Bildung bedeutet also nicht, dass man bei der Betrachtung des politischen Systems nur die `Homo-Oeconomicus-Brille´ aufsetzt. (Halb)direkte Demokratie stärke aber nicht nur die Solidarität der Bürger, sondern erhöhe empirisch betrachtet auch die Effizienz der Umverteilung. Im Vergleich zu repräsentativen Demokratien sinke der bruttomäßige Umfang der zur Umverteilung eingesetzten öffentlichen Mittel, während die nettomäßig erzielte tatsächliche Reduzierung von Ungleichheit gleich bleibe. Die (halb)direkte Demokratie bewirke also keine Reduktion, sondern eine stärkere effektivere Zielgenauigkeit von Umverteilungsmaßnahmen, indem Ausgaben für staatlich-bürokratische Ineffizienz und Rent-Seeking reduziert werden: “Transfers undertaken in representative democratic systems are much more determined by the rent-seeking activities of interest groups than by the normative goal of providing financial aid to the poor. In direct democratic systems, the stronger control of representatives reduces the transfers provided to special interests and leads to a more effective and more targeted redistribution from the rich to the poor.” (Feld/Fischer/Kirchgässner 2006, 2)
Zum anderen generiere die föderale Dezentralisierung der politischen Kompetenzen schon als solche eine stärkere Umverteilungsbereitschaft innerhalb der lokalen Bevölkerung, da das soziale Kapital, d.h. das soziale Zusammengehörigkeitsgefühl ((gefühlte) Homogenität) und die Empathie auf der lokalen Ebene größer als auf zentraler Ebene sei. So nimmt laut einer empirischen Studie von Ashworth/Heyndels/Smolders (2002) mit abnehmender geographischer Größe der Jurisdiktion und damit abnehmender geographischer Distanz zwischen durchschnittlichem Empfänger und durchschnittlichem Rezipienten der Umfang der Umverteilung von Reich nach Arm zu, weil die politische Umverteilungsbereitschaft zunehme. Schelker (2005) sieht hierin den zentralen Grund für das empirische Ergebnis seiner Studie, wonach stärkere föderale Dezentralisierung nicht nur zu niedrigeren Steuersätzen führt (wegen Wettbewerbseffekten, durch die politisches Rent-Seeking eingeschränkt wird), sondern zugleich auch mit einer höheren Progression der Steuersätze einhergeht, weil die Effizienzeffekte des föderalen Wettbewerbs (geringere Staatsausgaben) mehr für eine Senkung der Steuersätze auf geringe Einkommen (minus durchschnittlich 17,6% pro Verstärkung der Dezentralisierung um eine Einheit) verwendet werden als für eine Senkung
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der Steuersätze auf hohe Einkommen (minus durchschnittlich 5,8% pro Verstärkung der Dezentralisierung um eine Einheit) (Schelker 2005, 12). Solidaritätsstärkende Effekte gingen von halbdirekter Demokratie und dezentralem Föderalismus auch deshalb aus, weil sie die Legitimität kollektiver Entscheidungen in den Augen der Bürger erhöhten und infolgedessen die Steuerzahlungsmoral stärkten: so würden in Schweizer Kantonen mit (halb)direkter Demokratie im Durchschnitt etwa 30% weniger Steuern hinterzogen als in Kantonen, die keine solchen Rechte kennen (Feld/Kirchgässner/ Savioz 1999, 91; Falk 2003, 15). Derartige positive Effekte gingen auch von einer Dezentralisierung politischer Kompetenzen und der Anwesenheit von „Starken Rechnungsprüfungskommissionen“ aus (Torgler 2004). Auch hieran zeigt sich wiederum der von ökonomischen Analysen vorgeführte didaktische Wert eines sozialkonstruktivistischen Blickwinkels für die Evaluation politischer Systeme.
7.1.3 Die liberal-konstitutionelle Perspektive Auch die liberal-konstitutionelle Perspektive der Konstitutionenökonomik ist didaktisch geeignet, mit Schülern Überlegungen über das gemeinschaftliche Gute und Gerechte (Detjen 2006a, 76) anzustellen und so die gestaltungsorientierte Urteilsfähigkeit zu schulen. Denn mit Hilfe dieser Perspektive können sie erkennen, zu welchen gestaltungspolitischen Schlussfolgerungen bezüglich des politischen Systems man gelangt, wenn man von den politikdidaktischen Fundamentalkonzepten (Weisseno 2006, 136f.) nicht jenes der Gleichheit (egalitäre Perspektive) oder der Öffentlichkeit (partizipative Perspektive), sondern jenes der Freiheit in den normativen Mittelpunkt rückt. Didaktisch ist es dabei für das richtige Verständnis dieser normativen Konzeption von grundlegender Bedeutung, die Differenz sowie den (partiellen) Zielkonflikt zwischen der sog. negativen und der sog. positiven Freiheit herauszustellen. Im Anschluss daran ist zu verdeutlichen, dass die liberal-konstitutionelle Perspektive gerade nicht das Konzept der positiven Freiheit verstanden als Abwesenheit oder Linderung eines Mangels an ökonomischen, sozialen oder kulturellen Gütern jedes Individuums zum direkten Ziel staatlichen Handelns erhebt, sondern dieses stattdessen auf das Konzept der negativen Freiheit verpflichtet sehen will, welches die möglichst weitgehende Freiheit jedes Individuums von Zwang (nicht zuletzt auch von staatlichem Steuer- und Abgabenzwang) sowie diskriminierender Ungleichbehandlung, Gewalt, Betrug, Irreführung etc. seitens anderer Individuen sowie insbesondere seitens des Staates anstrebt (v. Hayek 1971; Kläver 2000, 9; Leschke 1993, 54). Denn das zentrale normative Kriterium zur Bewertung der gesellschaftlichen Lebensqualität wird im Konzept der „Wicksell-Effizienz“ (Hansjürgens 1997, 278) gesehen, die in einer gesellschaftlichen Ordnung maximiert wird, welche die formalrechtliche Auswahl-Freiheit des einzelnen Individuums soweit wie möglich erhöht. Dies bedeutet, dass hierarchischer, wenngleich rechtlich gebundener Zwang seitens des Staates nur dort für legitim erachtet wird, wo dies der Sicherung der negativen Freiheit dient, also z.B. im Strafrecht oder dem Wettbewerbsschutz (Gerken 1999, 170-179). Zusammen mit dieser negativen Freiheit wird dem Bürger im Gegenzug eine hohe ökonomische Eigenverantwortung für die Folgen des eigenen wirtschaftlichen Tun und Lassens zugewiesen (Prinzip der Untrennbarkeit von Freiheit und Verantwortung) (Kläver 2000, 13-16; v. Hayek 1971). Der Staat soll lediglich das (soziokulturelle) Existenzmini-
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mum für diejenigen Personen sichern, die aus unverschuldeten Gründen nicht (mehr) marktfähig sind (Kläver 2000, 257; v. Hayek 1971). Eine derartige, dem Subsidiaritätsprinzip folgende gesellschaftliche Ordnung wird von der liberal-konstitutionellen Perspektive mit Blick auf die Menschenwürde einerseits als normativer Selbstwert begriffen, andererseits aber auch deshalb für zustimmungswürdig erachtet, weil diese Ordnung im Zeitverlauf das jeder Sozialschicht absolut zur Verfügung stehende Realeinkommen erhöhe (Vanberg 2006, 57; Von Weizsäcker 2002). Dass sich dabei auch die sozioökonomische Ungleichheit erhöhe, sei unproblematisch, weil Neid kein maßgebendes gestaltungspolitisches Gerechtigkeitsprinzip sein könne (ebd., 265). Didaktisch kann man somit negative Freiheit und Wirtschaftswachstum als zusätzliche Urteilskriterien zur Evaluation der Performanz eines politischen Systems heranziehen. Dem auf das Individuum bezogenen Prinzip der negativen Freiheit entspricht in gesellschaftlicher Hinsicht das Prinzip der Freiwilligkeit von kollektiver Kooperation. Dies bedeutet, dass der freiwillige Vertrag bzw. der in ihm zum Ausdruck kommende äquivalente, wechselseitig vorteilhafte Tausch für die liberal-konstitutionelle Perspektive das zentrale normative Ideal gesellschaftlicher Ordnung darstellt (Märkt 2003, 10; Weede 2003, 116), und zwar nicht nur im ökonomischen, sondern auch im politischen Bereich. “The fundamental principle of a free society is individual self-ownership: each individual person and their property are sacrosanct and cannot be violated by anyone else except where that person has first violated the property rights of another. (…) A free society requires that individuals are able to pursue their own self-conceived ends, rather than have ends imposed upon them by others, whether politicians, bureaucrats, majorities or gangsters.” (Meadowcroft 2005, 14f.; meine Hervorhebung, T.H.)
7.1.3.1 Die Problematik der demokratischen Mehrheitsherrschaft Im letzten Zitat deutet sich bereits an, dass die liberal-konstitutionelle Perspektive im Vergleich zur egalitären und partizipativen Perspektive der politischen Herrschaft einer repräsentativen bzw. direkten demokratischen Mehrheit weitaus kritischer gegenübersteht, weil befürchtet wird, dass politische Mehrheiten dazu neigen, die negative Freiheit von Minderheiten bzw. des einzelnen Individuums über Gebühr zu beeinträchtigen. Die direkte / repräsentative Mehrheitsdemokratie müsse die vielfältigen Präferenzen von Millionen Menschen auf einen einzigen öffentlichen Willen reduzieren, der vom einzelnen Individuum zwangsfinanziert und zwangskonsumiert werden müsse, während Märkte diesem große Wahlfreiheiten eröffnen (Wohlgemuth 2004, 92). Aufgrund dessen besteht ein zentraler Leitgedanke der liberal-konstitutionellen Perspektive darin, politische Kollektiventscheidungen soweit wie möglich durch marktliche Individualentscheidungen zu ersetzen (Weede 1988, 109), zumal Kollektiventscheidungen aufgrund der kurzen Legislaturperiode im Gegensatz zu Individualentscheidungen durch mangelnde Langfristorientierung der Politik geprägt seien (Leschke 1993, 98; Von Weizsäcker 2003). Angesichts dieser deutlichen liberal-individualistischen Akzentsetzung ist diese Perspektive in didaktischer Hinsicht geeignet, einer möglichen Illusion der Reduktion von Demokratie auf Mehrheitsentscheidungen (Petrik 2007, 229) vorzubeugen und das partielle Spannungsverhältnis zwischen (negativer) Freiheit und Demokratie aufzuhellen. Darüber
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hinaus kann durch den Vergleich der drei Perspektiven jedoch auch herausgearbeitet werden, dass die normative Verhältnisbestimmung zwischen Mehrheits-Demokratie und liberalem Rechtsstaat in den Sozialwissenschaften kontrovers diskutiert wird. Denn während aus der egalitären und der partizipativen Perspektive der Rechtsstaat nur politischgesellschaftliche Freiheitsrechte (Religionsfreiheit, Pressefreiheit etc.) schützen soll, plädiert die liberal-konstitutionelle Perspektive dafür, dass der Rechtsstaat auch die ökonomischen negativen Freiheitsrechte der Individuen, d.h. insbesondere das Äquivalenz- und das Subsidiaritätsprinzip gegen entsprechende Interventionen einer demokratische Mehrheit verteidigen soll. Man kann Jugendlichen die (potentielle) Bedeutsamkeit entsprechender ökonomischer Mehrheits-Minderheits-Konflikte für ihr eigenes zukünftiges Leben exemplarisch verdeutlichen, indem man erarbeitet, dass das Alter des demokratischen Medianwählers in den kommenden Jahrzehnten stark steigen wird, was in einer Mehrheitsdemokratie aus liberalkonstitutioneller Perspektive mit Blick auf die anstehenden ökonomischen Verteilungskonflikte in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung nichts Gutes für junge Bürger verheißt (sog. „Gerontokratie-These“) (Zakaria 2005, 233; Sinn 2003a, 25f.). Ein weiteres Beispiel zur exemplifizierenden Problematisierung der Herrschaft einer demokratischen Mehrheit stellt das bereits in Kapitel 6.1.2. vorgestellte Modell der Neuen Politischen Ökonomie dar, welches sich gut in die liberal-konstitutionelle Perspektive einfügen lässt, weil es die Persistenz von Arbeitslosigkeit auf die opportunistischen Interessen des MedianWählers (Arbeitsmarkt-Insider), d.h. der politischen Mehrheit zurückführt, welche die Minderheit der Arbeitslosen `ausbeute´. Hieran zeigt sich zugleich exemplarisch, wie gut man `politikwissenschaftliche´ (Kapitel 7.1.1.) und `ökonomische´ Theorien zur Mehrheitsherrschaft kontrovers vergleichen kann. Hinsichtlich der (möglichen) Gründe für einen erweiterten Verfassungsschutz der negativen ökonomischen Freiheit der Individuen kann man didaktisch zwecks entsprechender Übersichtlichkeit zwischen drei (sich teilweise überlappenden) Argumentationssträngen differenzieren bzw. auswählen, die generell grundlegend für das Verständnis (möglicher) Interdependenzen zwischen Politik und Wirtschaft und (möglicher) partieller Zielkonflikte zwischen Demokratie und Marktwirtschaft sind. Insbesondere kann man daran lernen, warum man die insbesondere von der egalitären Perspektive befürwortete Herrschaft einer demokratischen Mehrheit als ökonomisch problematisch ansehen kann.
7.1.3.1.1 Die ökonomische Umverteilungstyrannei der Mehrheit Einige Vertreter der liberal-konstitutionellen Perspektive argumentieren, dass das wirtschaftspolitische Denken des durchschnittlichen Wählers/Abstimmenden oft durch irrationale Emotionen wie insbesondere dem Neid auf Besserverdienende als gemeinwohlschädlichem Trieb politischen Handelns geprägt sei (Wohlgemuth 2005, 20-22; Wittmann 1998, 62; Straubhaar 2004). Eine entsprechende Politik entlaste die breite Masse von der Zumutung, eigene ökonomische Anstrengungen zur Verbesserung der eigenen Position zu unternehmen und wirke als selbstgerechtes Sedativum für individuelle Selbstzweifel, indem die überlegene ökonomische Leistungsfähigkeit anderer in einen politischen Skandal umgedeutet werde. Die Mehrheitsdemokratie führe so über kurz oder lang zur Verletzung von Minderheitsinteressen in Form der Vergabe von Privilegien (ökonomischen Renten) an die
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Mehrheit der Wähler, auf die sich jede Regierung in diesem System notwendigerweise politisch stützen müsse (Vanberg 2006a, 21). Hieraus resultiere infolge wachsender Regulierungs-, Steuer- und Abgabenlasten ein Spannungsverhältnis zwischen (Mehrheits)Demokratie und Kapitalismus: „Die Demokratie kann nicht `in den Kapitalismus eingebettet´ sein. Sie tendiert dazu, ihn zu verschlingen.“ (De Jasay 1985, 132; zit. nach Weede 2003, 91)
Didaktisch sollte im Falle der Erörterung dieses Arguments hinterfragt werden, inwiefern die Rückführung von Umverteilungspräferenzen auf Eigennutz und Neid nicht möglicherweise eine einseitige und/oder zu generalisierende Sichtweise darstellt, da ein solches politisches Handeln schließlich auch einer (subjektiv empfundenen) Verletzung von sozioökonomischer Chancengerechtigkeit entspringen kann.
7.1.3.1.2 Die ökonomisch rationale politische Ignoranz der Mehrheit In Form der zweiten Begründung des Zielkonflikts zwischen (Mehrheits)demokratie einerseits und ökonomischer Freiheit sowie marktwirtschaftlicher Dynamik andererseits können die Lernenden in Form des `Sozialen Dilemmas´ bzw. des `Öffentlichen Gutes´ zugleich ein(e) wichtige(s) ökonomische(s) Denkschema/Kategorie auf das politikdidaktische Fundamentalkonzept `politische Willensbildung´ (Weisseno 2006, 136) anwenden. So verhält sich der Durchschnittsbürger aus liberal-konstitutioneller Perspektive sowohl bei dem Verfahren der repräsentativen Wahl als auch bei jenem der direktdemokratischen Abstimmung gegenüber politischer Information weitgehend „rational ignorant“, weil der einzelne Bürger keine hinreichenden Anreize besitze, sich vernünftig und kritisch im sachpolitisch gebotenem Umfang über die Inhalte verschiedener Politikvorschläge sowie deren Vor- und Nachteile und dabei insbesondere unbeabsichtigter oder von den Politikern billigend in Kauf genommener Nebenwirkungen zu informieren (Prüßmann 2000, 53f.; Wohlgemuth 2005; McGinnis/Somin 2004, 94ff.; Somin 2004 & 2006). Den infolge der Knappheit der individuellen Informationsverarbeitungskapazitäten hohen individuellen (Opportunitäts-)Kosten (Zeit, intellektuelle Anstrengung etc.) für die Beschaffung und (kritische) Analyse von (sach)politischen Informationen stehe kein individueller Ertrag gegenüber, da der Einfluss der einzelnen eigenen Stimme auf das Wahl- oder Abstimmungsergebnis aus der Sicht des einzelnen Bürgers praktisch gleich null sei. Wissen über erfolgversprechende politische Handlungsprogramme, d.h. eine sachpolitisch gut informierte Bürgerschaft stelle sowohl in der direkten als auch in der repräsentativen Demokratie ein öffentliches Gut dar, das aufgrund der Kollektivgutproblematik (Nicht-Ausschließbarkeit und Rivalität bezüglich der positiven Folgen einer politisch sehr gut informierten Bürgerschaft) nicht einmal annähernd in ausreichendem Maße produziert werde (Brunetti / Straubhaar 1996, 16; Weede 2003, 31; McGinnis/Somin 2004, 97; Somin 2004, 39). Didaktisch ist dabei darauf aufmerksam zu machen, dass hinter dieser Annahme das Menschenbild des klassischen Homo Oeconomicus steht (Wohlgemuth 2004, 85), das von jenem politisch intrinsisch motivierten Citoyen der partizipativen Perspektive deutlich abweicht. Die These der partizipativen Perspektive, dass die (halb)direkte Demokratie der idealen Sprechsituation im Habermasschen Sinne nahe komme und eine hohe deliberative
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und partizipative Intensität mit bedeutsamen Änderungen individueller politischer Präferenzen erreiche, erscheint aus Sicht der liberal-konstitutionellen Perspektive als eine utopische Wunschvorstellung, denn ein wirklich effektiver und intensiver politischer Diskurs könne aus intellektuellen und organisatorischen Knappheits-Gründen nur ein Diskurs innerhalb von Eliten sein (Wohlgemuth 2004, 89 & 97; Leschke 1993, 121; Pincione/Teson 2005). Angesichts der rationalen Ignoranz sei der (sach)politische Verstand der in einer Abstimmung oder einer Wahl siegreichen Mehrheit sehr begrenzt (Weede 2003, 123): “Empirical evidence of voter incompetence (Popkin 1991; Delli Carpini and Keeter 1996) shows that average citizens lack even the most rudimentary knowledge of `which policies will promote their preferences and how candidates stand in relation to them´ (Somin 1998, 440)”. (Wohlgemuth 2004, 100)
Daher könne es wenig verwundern, dass sowohl die in direkten als auch in repräsentativen Mehrheitsdemokratien getroffenen (wirtschafts)politischen Entscheidungen aus ökonomischer Sicht oft alles andere als optimal bezeichnet werden könnten, weil gut organisierte, partikularistische Interessengruppen, die in ihrem jeweiligen Politikfeld bestens informiert sind, die rationale Ignoranz der Wähler ausnutzen und so auf Kosten des ökonomischen Gemeinwohls Rent-Seeking betreiben können. Wenn es um die Förderung gestaltungsorientierter Urteilsfähigkeit bzgl. der Art und Weise der Organisation des politischen Systems gehen soll, sollte die Problematik der (rationalen) politischen Ignoranz daher didaktisch nicht nur, wie es in gängigen Schulbüchern üblich ist (Detjen 2006b; Floren 2006; Heither/Klöckner/Wunderer 2006), auf den damit verbundenen Teilaspekt der politischen Apathie/Politikverdrossenheit reduziert werden. Wie insbesondere das folgende Kapitel zeigen wird, sollte im Unterricht vielmehr auch die Frage nach dem Ausmaß der (realistischerweise erwartbaren) sachpolitischen Kompetenz der Bürger aufgeworfen werden, um Politik auch als einen (potentiell) problemverursachenden Prozess verstehen zu können (Kapitel 4.2.). 7.1.3.1.3 Die ökonomisch rationale politische Irrationalität der Mehrheit Denn Wohlgemuth (2004 & 2005), Caplan (2007) und Pincione/Teson (2005) gehen noch einen Schritt über die von Downs (1957) herausgearbeitete These der rationalen Ignoranz des Durchschnittsbürgers in politischen Fragen hinaus. Sie greifen Schumpeter (1942) auf und entwickeln dessen Ansatz weiter, indem sie behaupten, dass das (wirtschafts)politische Denken der deutlichen Mehrheit der Wähler/Abstimmenden von „rationaler Irrationalität“ (Caplan 2007) bzw. von „rationalem Irrtum“ (Pincione/Teson 2005) geprägt sei und deshalb anfällig für die Gefahr wirtschafts- und sozialpolitischer Demagogie sei (Caplan 2007, 19; Sinn 2005b, 19; Wohlgemuth 2005, 19): „So fällt der typische Bürger auf eine tiefere Stufe der gedanklichen Leistung, sobald er das politische Gebiet betritt. Er argumentiert und analysiert auf eine Art und Weise, die er innerhalb der Sphäre seiner wirklichen Interessen bereitwillig als infantil anerkennen würde: Er wird wieder zum Primitiven.“ (Schumpeter 1942, 416 zit. nach Wohlgemuth 2005, 4)
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Diese These der rationalen Irrationalität zeigt exemplarisch auf, dass die Schulung gestaltungspolitischer Urteilsfähigkeit im Sinne von Kapitel 3 auf eine enge Abstimmung politischen und ökonomischen Lernens und Wissensinhalten angewiesen ist. Denn zum einen ist die Kenntnis dieser (konstitutionen)ökonomischen These (und damit zugleich von grundlegenden ökonomischen Kenntnissen, s.u.) ein wichtiger Bestandteil, um Vor- und Nachteile von verschiedenen politischen Systemen kontrovers diskutieren und vernünftig beurteilen zu können. Zum anderen ist die Kenntnis verschiedener politischer Systeme wichtig, um beurteilen zu können, welche gestaltungspolitischen Konsequenzen zu ziehen sind, wenn man die These der „rationalen Irrationalität“ (teilweise) akzeptiert. Abgesehen davon liefert die These der rationalen Irrationalität einen ersten denkbaren Ansatzpunkt dafür, wo möglicherweise typische kategoriale ökonomische Fehlverständnisse liegen, auf die sozialwissenschaftliche Bildung besonders intensiv eingehen sollte. Das muss freilich nicht heißen, dass man jede einzelne Schlussfolgerung dieser These teilt und nicht kritisch hinterfragt. Didaktisch sollte betont werden, dass die gestaltungspolitischen Schlüsse der liberalkonstitutionellen Perspektive bezüglich des politischen Systems auf ökonomischen Theorien und daraus abgeleiteten wirtschaftspolitischen Empfehlungen beruhen, die ihrerseits zwar nicht immer (z.B. These der Vorteilhaftigkeit von Freihandel), aber teilweise (z.B. These der lohnkostenbedingten Arbeitslosigkeit) wissenschaftlich umstritten sind. Insbesondere Caplan (2007) und Pincione/Teson (2005) können als moderne Theoretiker der Ochlokratie (Polybios), d.h. der negativ bewerteten Herrschaft einer emotionalisierten, vorurteilsbeladenen Masse, also von (wirtschafts)politisch größtenteils inkompetenten „emotional crowds“ (Wohlgemuth 2005, 10) eingeordnet werden. Deren Denken sei durch sog. „vivid theories“ (Pincione/Teson 2005) geprägt. Dabei handele es sich um allzu eingängig-anschauliche, kurzsichtige, unterkomplexe, bildhafte und zugleich oft emotional aufgeladene ökonomische Alltagsvorstellungen, die auf konkrete, auf der Mikroebene direkt sinnlich erfahrbare Gegebenheiten rekurrieren, wie z.B. die Meinung, dass Protektionismus Arbeitsplätze erhalte und daher der Volkswirtschaft nütze und dann unzulässigerweise auf die Makroebene verallgemeinert werden. Diese „vivid theories“ widersprächen jedoch grundlegenden Erkenntnissen der Ökonomik, welche auf abstrakttheoretischen, nicht direkt sichtbaren, langfristigen, kontraintuitiven aber gleichwohl empirisch nachweisbaren Kausalzusammenhängen basiere, wie z.B. die Theorie komparativer Kostenvorteile im Welthandel. Ökonomische Laien fokussierten sich bei der Analyse wirtschaftspolitischer Zusammenhänge zu sehr auf das Sensuell-Konkrete („what is seen“) und vernachlässigten das Theoretisch-Abstrakte („what is not seen“) (Caplan 2007) (siehe auch Von Weizsäcker 2003, 24). Aus diesen „vivid theories“ resultierten drei zentrale und in der Bevölkerung weit verbreitete und tiefsitzende, aber falsche wirtschaftspolitische Glaubensvorstellungen (Caplan 2007) („ingrained cognitive failures“ (Pincione/Teson 2005, 18): 1. 2. 3.
der Anti-Markt-Bias der Anti-Auslands-Bias der Anti-Rationalisierungs-Bias
Diese Glaubensvorstellungen seien typisch für den durchschnittlichen Bürger, während der durchschnittliche promovierte Ökonom diesen Mythen kaum / gar nicht anhänge, was
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Caplan (2007) empirisch unter Verweis auf die Ergebnisse des komparativen „Survey of Americans and Economists on the Economy (SAEE)“ zu belegen versucht. Dessen Ergebnisse können laut Caplan grosso modo auch auf andere Länder außerhalb der USA übertragen werden. Ein Blick auf eine im August 2007 in Deutschland von tns-emnid im Auftrag der Wochenzeitschrift DIE ZEIT durchgeführte repräsentative Bevölkerungsumfrage gibt ihm diesbezüglich zumindest in einigen Punkten Recht (TNS-Emnid 2007). Caplan (2007) weist überdies darauf hin, dass sich die Unterschiede zwischen den wirtschaftspolitischen Ansichten der Ökonomen und der Bürger in einer multivariaten Analyse statistisch nur zu einem sehr geringen Teil durch die These erklären lassen, dass der Durchschnittsökonom über ein höheres Einkommen als der Durchschnittsbürger verfüge und daher von seinen eigenen wirtschaftspolitischen Vorschlägen persönlich profitiere. Zu 1) Der „Anti-Markt-Bias“ bestehe im mangelnden Vertrauen der Bevölkerung in die Kapazität des abstrakten Mechanismus der unsichtbaren Hand des Marktes, durch den sich millionenfacher Egoismus über den Wettbewerb als Entdeckungsverfahren in volkswirtschaftliches Gemeinwohl transformiere. Denn die Bevölkerung fokussiere bei der Bewertung dieses zentralen Mechanismus einer kapitalistischen Marktwirtschaft zu sehr auf die ihnen aus ihrem eigenen Alltag bekannte persönliche Motivlage ökonomischer Gier, von der angenommen werde, dass sie zwangsläufig schlechte Folgen nach sich ziehe. Die positiven Wirkungen des ökonomischen Wettbewerbs würden hingegen übersehen. Deswegen seien sehr viele Bürger z.B. der Meinung, die Ursache für volkswirtschaftliche Schwierigkeiten liege darin, dass die Gewinne der Unternehmen zu hoch seien, während sich kaum ein wissenschaftlicher Ökonom zu einer derartigen Position bekenne (Caplan 2007, 64). Gleichzeitig interpretierten viele Menschen ökonomischen Wohlstand als Ergebnis des Wirkens einer sichtbaren, starken Hand, nämlich der des Staates. In Übereinstimmung damit plädierten 67% der deutschen Bürger in der TNS-Emnid-Umfrage von 2007 dafür, dass sich Unternehmen wie die Bahn, die Telekom und die Energieversorgung in Staatsbesitz und nicht in Privatbesitz befinden sollten. Eine ähnliche `Vater-Staat-Mentalität´ zeige sich im Bereich der Sozialpolitik: so stehe für die Mehrheit der Bevölkerung fest, dass Armut und soziale Risiken nur durch umfangreiche staatliche Interventionen bekämpft werden könnten, nicht aber durch Marktmechanismen, deren Wirken auf abstrakten, nicht direkt sichtbaren, kontraintuitiven Kausalzusammenhängen basiere. Dabei würden wiederum die schädlichen, unbeabsichtigten Nebenwirkungen derartiger interventionistischer Politiken in Form von mangelnden Anreizen zur Selbsthilfe bei den Betroffenen und mangelnder demographischer Nachhaltigkeit übersehen. In Übereinstimmung damit lehnten 82% der deutschen Bürger in der TNS-EmnidUmfrage die politisch beschlossene allmähliche Heraufsetzung des gesetzlichen Rentenalters auf 67 Jahre in Deutschland ab – trotz gleichzeitig steigender Lebenserwartung. Didaktisch kann man hier eine Verbindung zum bereits oben kurz angesprochenen generationellen Mehrheits-Minderheits-Verteilungskonflikt herstellen. Der Anti-Markt-Bias verzerre zudem die Erklärung ökonomischer Zusammenhänge. Z.B. würden hohe Preise, hohe Zinsen, niedrige Löhne etc. in der Bevölkerung generell (d.h. auch außerhalb monopolisierter Wirtschaftsbereiche) häufig als Folge unternehmerischer Gier, Ausbeutung und heimlicher Verschwörungen (sichtbare Hand) betrachtet, während wissenschaftliche Ökonomen hohe Preise, hohe Zinsen etc. als Ergebnis des Zusammenwirkens von hoher Nachfrage und knappem Angebot (unsichtbare Hand) erklärten und niedrige Marktlöhne als Folge einer geringen Arbeitsproduktivität der betreffenden
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Arbeitskräfte verstünden. Infolgedessen würden viele Menschen staatliche Preiskontrollen und Mindestlöhne befürworten, ohne die von der Ökonomik herausgearbeiteten Nebenwirkungen solcher Interventionen (weitere Verknappung, Arbeitslosigkeit, Schwarzmarkt etc.) zu bedenken. In Übereinstimmung damit befürworteten 68% der deutschen Bürger in der TNS-Emnid-Umfrage die Einführung eines Mindestlohns (zu ähnlichen Ergebnissen kommt die empirische Studie von Enste/Haferkamp/Fetchenhauer 2009, 68). Zu 2) Der „Anti-Auslands-Bias“ bezieht sich auf eine Tendenz in der Bevölkerung, den Wert der ökonomischen Interaktion mit Fremden, d.h. den Nutzen des internationalen Handels und der Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte zu verkennen. So würden viele Bürger volkswirtschaftliche Probleme auf die Anwesenheit von Immigranten zurückführen, während kaum ein wissenschaftlicher Ökonom eine solche Ansicht vertrete (Caplan 2007, 59). Zudem sind viele Menschen der Überzeugung, dass die von ihrer Regierung vereinbarten internationalen Handelsvereinbarungen in ihrem Land netto Arbeitsplätze gekostet haben, während Ökonomen überwiegend die Meinung vertreten, dass diese Handelsvereinbarungen netto Arbeitsplätze schaffen. Dementsprechend befürworten nur 29% der deutschen Bürger die völlige Abschaffung von Zöllen auf ausländische Güter (während 75% der deutschen Ökonomen dieser Forderung zustimmen) (Enste/Haferkamp/ Fetchenhauer 2009, 71). Zu 3) Der „Anti-Rationalisierungs-Bias“ bezeichnet die in der Bevölkerung verbreitete Neigung, Wohlstand mit der Sicherung von existierenden Arbeitsplätzen gleichzusetzen anstatt zu erkennen, dass wachsender Wohlstand auf technische Rationalisierung und die daraus erwachsenden Produktivitätsgewinne angewiesen ist. Daher hielten große Teile der Bevölkerung die Tatsache, dass menschliche Arbeitskraft (Humankapital) durch Technologie (Realkapital) ersetzt wird, irreführenderweise für eine wesentliche Ursache volkswirtschaftlicher Schwierigkeiten, während kaum ein Ökonom in dieser Weise Stellung beziehe. Damit gehe auch eine irrationale Abneigung gegenüber dem Prozess schöpferischer Zerstörung (Schumpeter) einher (siehe dazu auch die empirische Studie von Enste/Haferkamp/ Fetchenhauer 2009, 72f.). Deshalb unterstützten weite Teile der Bevölkerung volkswirtschaftlich unsinnige, aber medienwirksame staatliche Subventionen für strukturschwache Branchen und angeschlagene Unternehmen bzw. Rettungsmaßnahmen (wie z.B. bei der Phillip Holzmann AG im Jahre 1999). Auch hier würde sich das Denken der Bürger auf die sichtbaren, kurzfristig positiven Effekte derartiger Subventionen konzentrieren, während die weit gestreuten, nicht unmittelbar sichtbaren, erst mittel- bis langfristig spürbaren negativen Effekte (höhere Steuern, Preis- und Wettbewerbsverzerrungen, Verzögerung des Strukturwandels, Moral Hazard) verkannt würden. Diese systematische wirtschaftspolitische Irrationalität der Wähler / Abstimmenden stelle eine Gefahr für die makroökonomische Lebensqualität einer Gesellschaft (Kapitel 3) dar. Didaktische Voraussetzung für die Auseinandersetzung mit dieser Theorie ist, dass bestimmte ökonomische Grundlagen (Funktionsweise des Marktmechanismus, Vorteile des Freihandels und von Produktivitätserhöhungen) bereits zuvor erarbeitet worden sind (nach Möglichkeit auf der Sek. I). Überdies ist darauf zu achten, dass die These der rationalen Irrationalität von den Lernenden nicht als eine moralisierende `Publikumsbeschimpfung´, sondern als rationale Erklärung für einen Konflikt zwischen individueller und kollektiver Rationalität (Rationalitätenfalle) verstanden wird: Während die Informiertheit von Konsumenten auf Märkten ein privates Gut sei, stelle eine vernünftige wirtschaftspolitische Öf-
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fentlichkeit ein öffentliches Gut dar, das aufgrund der Kollektivgutproblematik, d.h. mangelnder individueller Anreize zu wissenschaftlicher Information und (Selbst)aufklärung nicht zustande käme (Caplan 2007, 2; Wittmann 1998, 55ff.). Caplan (2007) vermutet, dass dieser Zusammenhang nicht nur für die Wirtschaftspolitik, sondern auch für andere Politikfelder zutrifft. Didaktisch kann man hier in der Tat eine Verbindung zur Untersuchung des Politologen Patzelt (1998) zum vorurteilsbehafteten und mangelhaften Kenntnisstand der Deutschen bezüglich der Funktionsweise ihres politischen Systems herstellen. Mit Blick auf das Kontroversitätsprinzip kann man auf die unterschiedlichen Menschenbilder der partizipativen und der liberal-konstitutionellen Perspektive hinweisen, um den Zusammenhang zwischen Akteurskonzepten und gestaltungspolitischen Empfehlungen zu verdeutlichen. Zumindest bezüglich des Teilbereichs `Politisches System´ zeigt sich damit zugleich, dass es nicht `die´ ökonomische Brille gibt, sondern (mindestens) zwei völlig verschiedene. So erscheint die Annahme der partizipativen Perspektive, dass sich die obigen problematischen Denkstrukturen i.d.R. durch unvoreingenommene Deliberation im Rahmen eines öffentlichen Diskurses läutern ließen, aus liberal-konstitutioneller Perspektive als naiv, denn die Bürger seien gar nicht aufrichtig daran interessiert, die wirtschaftspolitische `Wahrheit´ herauszufinden, sondern strebten von vorneherein nur danach, durch eine selbstdienlich-selektive Wahrnehmung von Evidenz und eine entsprechend selbstdienlichselektive Wahl ihrer Gesprächspartner und Medien ihre irrationalen Vorurteile bestätigt zu bekommen (Wohlgemuth 2004, 86; Pincione/Teson 2005, 41; Somin 2006: 8, 20): “People want to learn about the world without sacrificing their worldview.” (Caplan 2007, 102; Hervorhebung im Original) “Self-serving selective perception in an attempt (conscious and unconscious) to verify one`s preconceptions is a pattern of behaviour constantly identified by psychological research. Such verificationistic perceptions are ubiquitous elements of the `all-too-human´ condition. Selective use of media and communication partners further support self-assuring delusions. As a consequence, one must expect closed, or at best partly overlapping publics instead of one wide-open forum for (self-)critical debate.” (Wohlgemuth 2004, 101)
Angesichts dieses selbstgerechten Verhaltens der Bürger auf der Mikro-Ebene hält die liberal-konstitutionelle Perspektive die Beschreibung der „Psychologie der Massen“ auf der Makro-Ebene durch den französischen Psychologen Le Bon für eine durchaus angemessene Analyse: “The masses have never thirsted after truth. They turn aside from evidence that is not to their taste, preferring to deify error, if error seduces them. Whoever can supply them with illusions is easily their master; whoever attempts to destroy their illusions is always their victim.” (Le Bon 1960 zit. nach Caplan 2007, 19) „Le Bon dürfte jedenfalls nur in Maßen übertreiben, wenn er vermutet, `dass die Massen durch logische Beweise nicht zu beeinflussen sind und nur grobe Ideenverbindungen begreifen. Daher wenden sich auch die Redner, die Eindruck auf sie zu machen versuchen, an ihr Gefühl und niemals an ihre Vernunft.´“ (Wohlgemuth 2005, 19)
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Hierin wird der entscheidende Grund dafür gesehen, dass Deutschland sein (angeblich) größtes wirtschaftspolitisches Problem der zu hohen Lohnkosten nicht löse: „Das zentrale Problem ist und bleibt das Niveau der deutschen Lohnkosten…Kaum jemand will das Problem wahrhaben. Die Bürger verdrängen es und greifen deshalb nur allzu gerne nach dem Strohhalm, den populistische Politiker bieten. Kein Wunder, dass die Bewahrer des alten Sozialstaats so viel Zulauf finden und dass der Applaus umso größer ist, je platter die Argumente sind.“ (Sinn 2005b, 19)
In Übereinstimmung damit geht Caplan (2007) davon aus, dass die meisten Menschen relativ feststehende Präferenzen für ihre wirtschaftspolitisch irrationalen Überzeugungen besäßen. Sie gingen eine emotional tief verankerte Beziehung zu ihren wirtschaftspolitischen Glaubensvorstellungen ein, verteidigen diese hartnäckig gegen empirische Gegenevidenz und bauen zum Teil ihre Identität (ebd., 100) darauf. Diese Überzeugungen seien für viele eine Art neuer Religion, mit denen Individuen ihr emotionales Wohlbefinden steigerten und ihrem Leben einen Sinn verliehen. Daher würde ein Bruch mit diesen Vorstellungen durch ökonomische Aufklärung oft hohe psychische Kosten (kognitive Dissonanzen) erzeugen, sodass nur wenige Menschen im Diskurs bereit seien, sich vom Gegenteil überzeugen zu lassen. Die gegen diese These – auch von manchen Politikdidaktikern (Steffens 2007) – häufig ins Feld geführte Tatsache, dass der Mensch ein sozial eingebettetes, kommunikatives, soziale Anerkennung suchendes Wesen sei, verschärfe diese problematische Neigung nur noch zusätzlich, denn da die deutliche Mehrheit der Bevölkerung unzutreffende Ideen über die ökonomische Wirklichkeit vertrete, würden nur wenige einen konträren, wissenschaftlich fundierten Standpunkt vertreten, da dies in vielen Milieus soziale Missbilligung nach sich ziehe. Aus Isolationsfurcht werde daher eine sozial erwünschte Meinung vertreten (Wohlgemuth 2005, 16f.). Der Wirkungsmechanismus des reputationalen Nutzens sei daher im Gegensatz zur These der partizipativen Perspektive kein Grund für DemokratieOptimismus, sondern oft Ursache für die Ausbreitung und unbelehrbare Hartnäckigkeit von kollektiven Vorurteilen über makroökonomische Zusammenhänge (Wohlgemuth 2004, 97 & 101). Als Konsequenz dieser irrationalen Öffentlichkeit in den heutigen Mehrheitsdemokratien ergäbe sich, dass häufig eine ökonomisch unsinnige Wirtschafts- und Sozialpolitik betrieben werde. In den dadurch beförderten negativen ökonomischen Folgen liege der entscheidende Grund für die heutige Politikverdrossenheit, und nicht in der Vorenthaltung direktdemokratischer Rechte. Politikverdrossenheit sei vielmehr die Folge davon, dass die Mehrheit der Bürger von den Politikern etwas Unmögliches verlange: zum einen sollen diese ihre irrationalen wirtschaftspolitischen Präferenzen umsetzen, zum anderen verlangen sie aber dennoch gute volkswirtschaftliche Ergebnisse. Politiker, die dem ersten Gebot folgten, würden von den Wählern wegen Inkompetenz verabscheut; Politiker, die dem zweiten Gebot folgten, erschienen den Wählern zu Unrecht als Teil einer `neoliberalen´ Verschwörung des Großkapitals (Caplan 2007, 159). Angesichts der oben skizzierten kontroversen fachwissenschaftlichen Diskussionslage bezüglich der Frage nach dem `richtigen´ Akteurskonzept zur Modellierung des Bürgers in der Ökonomik können die (impliziten) Kontroversen, die diesbezüglich in der fachdidaktischen Literatur ausgefochten werden, unvoreingenommen im Unterricht erörtert werden.
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Fachdidaktische Artikel, die das ebenso undemokratische wie illiberale Ziel verfolgen, ein bestimmtes Akteursmodell für den Unterricht von vorneherein als `überlegen´ zu proklamieren, sind hingegen problematisch. So erscheint es fachdidaktisch jeweils unangemessen, wenn einerseits manche Vertreter der ökonomischen Bildung unter Ausblendung der partizipativen Perspektive so tun, als sei aus der Ökonomik für die ökonomische Bildung nur das Homo-Oeconomicus-Konzept interessant (z.B. Karpe/Krol 1997; Kaminski 2002), während manche Vertreter der politischen Bildung dessen analytischen Nutzen gerade auch im Bereich politisches System einseitig abwerten (Detjen 2006a) oder mit bemerkenswerter Selbstgewissheit gar explizit für dessen Zurückweisung plädieren und das deliberative Handlungsmodell nach Apel und Habermas geradezu glorifizieren (Steffens 2007). Gegenüber letzterem zeigt die liberal-konstitutionelle Perspektive: wer gerne vom Marktversagen redet, sollte vom oben aufgezeigten (potentiellen) „Diskurs-Versagen“ (Pincione/Teson 2005, 13) der Demokratie nicht schweigen. Mit der Denkfigur des demokratischen Diskurs-Versagens kann man didaktisch überdies die kontraintuitive These diskutieren, dass Volksabstimmungen das Spannungsverhältnis zwischen verfassungsgemäßem Wertesystem und den Durchsetzungsmöglichkeiten partikulärer Interessen verschärfen. So ist die direkte Demokratie aus liberalkonstitutioneller Perspektive keineswegs geeignet, volkswirtschaftlich schädliches RentSeeking zu mindern, wie die partizipative Perspektive behauptet. Denn die direkte Demokratie verlagere nicht, wie man auf den ersten Blick denken könne, die Macht von der Regierung / dem Parlament zum Volk, sondern von der Regierung / dem Parlament zu den politisch gut informierten, organisations- und finanzstarken Interessengruppen (Brunetti/ Straubhaar 1996). Denn letztere verfügten im Gegensatz zu den diffusen Interessen (z.B. Verbraucher) über die entsprechenden Ressourcen, die notwendige Zahl der Unterschriften für Referenden und Initiativen zu sammeln und diese im Anschluss daran durch intensive und finanziell aufwendige mediale Kampagnen zum Erfolg zu führen. Auch der Politologe Wagschal (2007) kommt in seiner empirischen Studie zur Schweizer Direktdemokratie zu dem Ergebnis, dass das von den Ökonomen der partizipativen Perspektive gezeichnete Bild der (halb)direkten Demokratie als eines (annähernd) herrschaftsfreien Diskurses weit von der Realität entfernt sei, weil die Abstimmungsergebnisse häufig stark durch die interessenspolitischen Parolen der Produzentenverbände beeinflusst seien. Diese, den öffentlichen Diskurs vor der Abstimmung dominierenden Kampagnen könnten direkt an das wirtschaftspolitische Unverständnis (rationale Irrationalität) der Abstimmenden andocken und diese noch weiter vertiefen, indem sie wissenschaftlich unsinnige Thesen verbreiten, um ihre Partikularinteressen (z.B. direkte oder indirekte Subventionen) durchzusetzen. Direkte Demokratie würde angesichts unveränderter Anreizlage nichts Wesentliches an der Problematik der rationalen Ignoranz/Irrationalität der Bürger ändern: “The slogan `The solution for the problems of democracy is more democracy´ sounds hollow after you digest the idea of rational ignorance. Voter ignorance is a product of natural human selfishness, not a transient cultural aberration. It is hard to see how initiatives strengthen voters` incentive to inform themselves.” (Caplan 2007, 5)
Hinzu komme, dass der einzelne Bürger bei seiner Stimmabgabe nicht annähernd unter dem politischen Verantwortungs- und Rechtfertigungsdruck stehe wie es bei einem Regierungs-
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chef der Fall ist. In diesem Sinne entspreche (halb)direkte Demokratie geradezu einem System organisierter Verantwortungslosigkeit (Brennan/Hamlin 2000, 181). Ein didaktisch gut geeignetes exemplarisches Fallbeispiel zur Veranschaulichung derartiger Interdependenzen zwischen politischem System, d.h. hier direkter Demokratie und Wirtschaft bietet die Volksabstimmung zum (abgelehnten) EWR-Beitritt in der Schweiz 1992. Hier haben die mächtigen, an protektionistischer Abschottung gegenüber dem europäischen Binnenmarkt interessierten Interessensverbände vor der Abstimmung in der Bevölkerung die – schon angesichts der geringen Mobilität innerhalb der EU – unrealistische Furcht erzeugt, ein Heer ausländischer Arbeitskräfte würde bei einem Beitritt die kleine Schweiz `überschwemmen´ und den Schweizern ihre Arbeitsplätze rauben (Wittmann 1998, 59) – ein Beispiel für den Anti-Auslands-Bias (s.o.). Mit dieser Strategie waren die Schweizer Interessenverbände damals erfolgreich, denn laut empirischen Studien fehle den Schweizer Bürgern die für eine rationale Beurteilung solcher wirtschaftspolitischer Fragen notwendige ökonomische Denkfähigkeit (Wittmann 1998, 62). Interessensverbände seien also nicht so sehr, wie die partizipative Perspektive meint, deshalb erfolgreich, weil sie hinter dem Rücken des Volkes in politischen Hinterzimmern Rent-Seeking betreiben, sondern v.a. deshalb, weil die Bevölkerung der makroökonomisch irrationalen Propaganda der Interessensverbände Glauben schenke und die unter der Wiederwahlrestriktion stehenden Politiker dann die irrationalen politischen Präferenzen der Bevölkerung umsetze: “Special interests work through public opinion rather than against it. Interests do not persuade the legislator to harm his constituents; they convince the constituents to ask to be harmed. (…) To rob the public, it is necessary to deceive it. To deceive it is to persuade it that it is being robbed for its own benefit.” (Bastiat zit. nach Caplan 2004, 11 & 32) “The citizens` rational ignorance is compounded by the rhetoric of those who stand to gain from it. Knowing that citizens will remain ignorant, politicians, lobbyists and others will spread political `information´ and theories that voters find easy to believe. Politicians and lobbyists have an incentive to feed false, distorted or misleading information and theories.” (Pincione/Teson 2005, 15)
Dementsprechend kommen Borner/Brunetti/Straubhaar (1994, 26) zu dem Schluss, dass die direkte Demokratie sowohl zu sachpolitisch inkonsistenten Einzelentscheidungen als auch zu einer systematischen Behinderung notwendiger marktwirtschaftlicher Reformen in der Schweizer Wirtschafts- und Sozialpolitik und deshalb in Form der schwächsten Wirtschaftsdynamik (geringstes BIP-Wachstum) von allen Industriestaaten zu einer Beeinträchtigung des ökonomischen Lebenswerts der Gesellschaft geführt habe. Direktdemokratische Institutionen gingen mit einer spürbaren Beeinträchtigung der negativen ökonomischen Freiheit des Individuums einher: So sei im Vergleich zu anderen Ländern in der Schweiz zu langsam und zu wenig privatisiert worden, die Steuerbelastung sei zu stark gestiegen, die Sozialabgaben seien zu stark expandiert, die Gesamtabgabenquote betrage mehr als 50%, volkswirtschaftlich fragwürdige, rigide Schutzrechte für Mieter, Arbeitnehmer und Konsumenten (Mieter- und Kündigungsschutz, Mietzinskontrollen, Preisüberwachung etc.) seien zu stark ausgebaut worden und Gemeinden würden sich unsinnigerweise finanziell bei konkursgefährdeten Privatunternehmen der Touristikbranche engagieren. Antimarktwirt-
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schaftliche Tendenzen der direkten Demokratie zeigten sich überdies in der im Vergleich zu anderen europäischen Staaten hohen Kartelldichte (ablesbar am hohen Preisniveau der Schweiz) und in den relativ uneingeschränkten Staatsmonopolen bei Post, Bahn, Telekommunikation sowie der Energie- und Wasserversorgung (Straubhaar 2004). Der `Export´ der direkten Demokratie in die BRD stelle also keine sinnvolle Option dar. Deren wirtschafts- und sozialpolitischen Probleme ließen sich nicht auf die spezielle Form der Demokratie zurückführen, sondern seien eine Folge der Mehrheitsdemokratie als solcher: „Manchmal wird man die Vermutung nicht los, als solle durch eine mutige Flucht nach vorn von den eigentlichen Problemen Deutschlands abgelenkt werden: Als wären die Probleme Deutschlands Probleme der repräsentativen Demokratie, die mit mehr Basisdemokratie gelöst werden könnten. Als ließe sich das Volk, wenn es direkt befragt werden würde, leichter die sozialen Gaben wegnehmen, die ihm in wirtschaftlichen Schönwetterperioden großzügig versprochen wurden. (…) Die Demokratie steckt heute in vielen kontinentaleuropäischen Ländern in der Falle – unabhängig davon, ob sich der Volkswille direkt oder indirekt Verhör verschafft. Demokratie…ist ein Machtinstrument der Mehrheit geworden, um Besitzstände zu erlangen und zu bewahren. (…) Das Schweizer Beispiel lehrt, wie leicht angreifbar Individualrechte und Marktwirtschaft sind, wenn der Volkswille unangefochten über allem steht. Kurzfristiger Pragmatismus, Opportunismus und punktueller Interventionismus sind eher mehrheitsfähig. Progressive Einkommensteuern, bis hin zu Reichtums- oder Vermögenssteuern, sind für die Mehrheit eine ständige Versuchung. Das deutsche Problem ist nicht ein Problem der repräsentativen Demokratie. Mehr Demokratie durch mehr Volksbefragungen würde die Probleme verschärfen, nicht mindern. Die für Deutschland zentrale Herausforderung, in wirtschaftlich schlechteren Zeiten den Menschen etwas wegnehmen zu müssen und gegen die kurzfristigen Interessen der Mehrheit eine langfristig orientierte Politik durchzusetzen, lässt sich nicht mit mehr Demokratie, sondern mit besserer Gewaltenteilung bewältigen.“ (Straubhaar 2004)
Es ist also offenkundig, dass auch das Thema der direkten Demokratie gute Möglichkeiten zur Integration ökonomischen und politischen Lernens und zur Veranschaulichung von Interdependenzen zwischen politischem und ökonomischem System bietet; das Problem besteht nur darin, dass diese zurzeit nicht genutzt werden, weil einerseits die ökonomische Bildung diesen Themenbereich der politischen Bildung überlässt, obwohl ihre Bezugswissenschaft wie gesehen einige erhellende Beiträge zu diesem Themenkomplex beisteuern kann und weil andererseits die politische Bildung diese ökonomischen Beiträge bei der Behandlung dieser Thematik komplett ignoriert (siehe z.B. die Schulbücher von Detjen (2006b) und Floren (2006) sowie das Unterrichtskonzept von Pohl/Soldner 2008).
7.1.3.2 Gestaltungspolitische Gegenmittel gegen die Probleme der Mehrheitsdemokratie Für eine gestaltungsorientierte sozialwissenschaftliche Fachdidaktik ist es essentiell, im Anschluss an die obige Kritik der Mehrheitsdemokratie zu klären, welche gestaltungspolitischen Schlussfolgerungen bzgl. des politischen Systems daraus gezogen werden können, um die Präsentation von Problemen ohne Lösungsoptionen zu vermeiden (Weber 2004). Diesbezüglich schlägt die liberal-konstitutionelle Perspektive zur Sicherung der
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negativen Freiheit des Individuums und der Wirtschaftsdynamik eine Orientierung an den folgenden drei gestaltungspolitischen Maximen vor (Wohlgemuth 2004, 103-108):
ökonomische Privatisierung verfassungsrechtliche Konstitutionalisierung politische Dezentralisierung (Wettbewerbsföderalismus)
„Privatisierung“ bezieht sich schon direkt auf das Wirtschaftssystem und ist daher eher als ein (erwünschtes) Ergebnis (Policy) zu verstehen, welches mit Hilfe der anderen beiden politybezogenen Maximen erreicht werden soll. Mit Privatisierung ist gemeint, dass sich die Aktivitäten des Staates zur Sicherung der negativer Freiheit des Individuums auf die Bereitstellung eines verlässlichen Rechtssystems und von öffentlichen Gütern (im ökonomischen Sinne), die Internalisierung positiver und negativer externer Effekte, die Garantie des (soziokulturellen) Existenz- und Bildungsminimums, die Bewirtschaftung natürlicher Monopole und eventuell die Behebung von Informationsasymmetrien beschränken soll. Bezüglich der zwei weiteren Maximen sollte didaktisch vorrangig auf den Wettbewerbsföderalismus eingegangen werden, während die Thematisierung der verfassungsrechtlichen Konstitutionalisierung eher eine zusätzliche Option darstellt (so auch meine entsprechende Empfehlung in Kapitel 7.1.1.). Denn der Wettbewerbsföderalismus spielt zum einen in der heutigen politischen Diskussion eine größere Rolle und zum anderen ist er gut geeignet, das Verständnis für den kategorialen Koordinationsmechanismus des Markts/Wettbewerbs bzw. die Differenz zwischen politischen und ökonomischen Wettbewerb zu fördern.
7.1.3.2.1 Verfassungsrechtliche Konstitutionalisierung Diese Maxime besagt, dass hierarchisch-kollektive Zwänge jeglicher Art – auch dann, wenn sie durch demokratischen Mehrheitsentscheid zustande gekommen sind – durch die Verfassung soweit wie irgend möglich vom einzelnen Individuum fern gehalten werden sollen (v. Hayek 1971). Insbesondere soll staatliches Handeln nicht nur wie bisher durch die verfassungsmäßige Festschreibung der Gewaltenteilung und der Grund- und Persönlichkeitsrechte sowie der rechtlichen Gleichheit der Bürger begrenzt werden, sondern der diskretionäre, nicht mit der ersten Maxime der Privatisierung in Einklang stehende sozialund wirtschaftspolitische Spielraum von direkten und repräsentativen politischen Mehrheiten soll auch durch die konstitutionelle Verankerung bestimmter liberaler Gemeinwohlprinzipien politischen Handelns, nämlich des (fiskalischen) Äquivalenzprinzips, des Subsidiaritätsprinzips, des Wirtschaftlichkeitsprinzip und der Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft (Erlei/Leschke/Sauerland 2007, 458ff.) stark eingeschränkt werden. Das fiskalische Äquivalenzprinzip fordert die völlige Übereinstimmung des Kreises der Nutzer und der Finanziers einer öffentlichen Leistung sowie derjenigen, die deren Umfang und Qualität festlegen, um die Akteure zu einem sparsamen Umgang mit finanzieller Knappheit anzuhalten. Das damit zusammenhängende Subsidiaritätsprinzip wurde z.T. bereits in Kapitel 6.2.2. erörtert; bezüglich des politischen Systems bezeichnet es darüber hinaus die Forderung, dass politische Verantwortlichkeit nur dann auf einer übergeordneten politischen Ebene angesiedelt werden sollen, wenn die einzelnen Jurisdiktionen auf der unteren politischen Ebene hinsichtlich der Lösung des betreffenden Problems überfordert
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sind (z.B. Bereitstellung nationaler Kollektivgüter wie Landesverteidigung). Im Falle der Behandlung dieser Prinzipien im Unterricht sollte zur Förderung kritischen Denkens erarbeitet werden, dass die derzeitige Ordnung des Föderalismus in der BRD diesen Prinzipien in vielerlei Hinsicht nicht entspricht. Mit Bezug auf das oben in didaktischer Absicht herausgestellte (mögliche) Problem des generationellen Mehrheits-Minderheits-Konflikts („Gerontokratie“) liesse sich aus dem Äquivalenz- und Subsidiaritätsprinzip auch die Verankerung des Prinzips der Generationengerechtigkeit im Grundgesetz (Tremmel 2008) ableiten, was im Unterricht als entsprechende Lösungsmöglichkeit erörtert werden kann. Bzgl. des Problems der politisch bedingten Arbeitslosigkeit müsste das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Verfassungsrang erhalten und auf den Arbeitsmarkt ausgedehnt werden. Dementsprechend werden zu den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft die Garantie des Privateigentum und der Vertragsfreiheit, die Offenhaltung von Märkten (Eindämmung von Marktmacht durch Freihandel und ein politisch unabhängiges Kartellamt), die Vermeidung von Haftungsbeschränkungen, Preisniveaustabilität, die Internalisierung positiver und negativer externer Effekte, Verschuldungsgrenzen für die staatlichen Haushalte, die Begrenzung sozialstaatlichen Handelns auf die subsidiäre Garantie des (soziokulturellen) Existenzminimums sowie der Verzicht auf industriepolitische Subventionen gezählt. Deshalb wird an der derzeitigen Verfassung(srechtssprechung) in der BRD bemängelt, dass die ökonomische negative Freiheit des einzelnen Individuums unzureichend geschützt sei, weil die Verfassung die Politik nicht auf die Einhaltung dieser Prinzipien verpflichte, sondern wirtschaftspolitische Eingriffe toleriere, solange sie als verhältnismäßig in Bezug auf ein beliebig von der Politik gesetztes Ziel gelten könne: „Für die Diskrepanz zwischen dem freiheitsrechtlichen Schutzniveau im nicht-ökonomischen Bereich und jenem im ökonomischen Bereich gibt es keine Rechtfertigung. Es existiert kein im Lichte der Prinzipien der Ordnung der Freiheit haltbarer Grund, warum Wirtschaftslenkung (BVerfGE 4, 7 – 27, 18) zulässig sein soll und Religionslenkung oder Presselenkung nicht. (…) Der Politik müssten die Gestaltungsspielräume im ökonomischen Bereich ebenso entzogen werden, wie sie ihr im nicht-ökonomischen Bereich entzogen sind. (Gerken 1999, 265 & 267)
Für eine derartige verfassungsmäßige Beschränkung des Handelns des Gesetzgebers spreche zudem, dass ein (wirtschafts)politisch stark intervenierender Staat angesichts knapper Aufmerksamkeitsressourcen die effektive Kontrolle der Regierung durch die rational ignorante Bürgerschaft erschwere (Somin 2004, 5).
7.1.3.2.2 Dezentraler Wettbewerbsföderalismus Mit Blick auf die zentralen normativen Ideale der negativen Freiheit (individuelle Dimension) und des freiwilligen Tauschvertrags (soziale Dimension) als grundlegenden Ordnungsprinzipien zur institutionellen Gestaltung nicht nur des wirtschaftlichen, sondern auch des politischen Raums (Vanberg 2006a, 5; Weede 2003, 17) besagt die dritte Maxime, dass die Legitimität einer politischen Ordnung grundsätzlich der freiwilligen faktischen Zustimmung jedes einzelnen Individuums bedürfe. Ein Konsens in diesem Sinne ist ein zentrales sozialphilosophisches Ideal der liberal-konstitutionellen Perspektive (sog. „Konsens-
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kriterium“). Fachdidaktisch zeigt sich hier wie auch schon bei der partizipativen Perspektive, dass Legitimität im Gegensatz zur Ansicht Krubers (2005, 79f.) keine bloß `politikwissenschaftliche´, sondern auch eine zentrale `ökonomische´ Kategorie darstellt. Wie die folgende Darstellung zeigt, ist sie also auch für die ökonomische Bildung relevant, um vernünftig darüber diskutieren zu können, warum bestimmte politische Strukturen nicht nur als ökonomisch effizient, sondern auch als normativ legitim gelten können sollen. Mit dem Konsenskriterium ist nicht gemeint, dass jedes Individuum über ein explizites politisches Veto verfügen soll, sodass kollektiv verbindliche Entscheidungen nur noch einstimmig getroffen werden könnten. Denn dies würde an den mit der Konsenssuche verbundenen, angesichts des gesellschaftlichen Pluralismus unendlich hohen Entscheidungskosten scheitern. Anstatt jedoch aus dem Konflikt zwischen politischer Entscheidungsfähigkeit und gesellschaftlichem Pluralismus wie die egalitäre Perspektive das Mehrheitsprinzip abzuleiten, hält die liberal-konstitutionelle Perspektive an der Norm des Konsenses durch faktisch freiwillige Zustimmung jedes einzelnen Individuums fest, da sie streng individualistisch denkt und den einzelnen Menschen – und nicht Kollektive, d.h. auch keine Mehrheiten – in den Mittelpunkt stellt (Vanberg 2004; Märkt 2003). Daher sieht sie das zentrale institutionelle Instrument zur Verwirklichung der negativen Freiheit des Individuums im politischen Raum in einem Koordinationsmodus, der jedem Individuum die Zugänglichkeit von mehreren politischen Alternativen zu möglichst geringen Transaktionskosten sichere, nämlich dem dezentralisierten Wettbewerbsföderalismus, auch „marketpreserving federalism“ genannt (Prüßmann 2000, 49; Vanberg 2004; Weede 2003, 85-89; Weingast 1995; Berthold/Fricke 2005; Prüßmann 2000, 54 & 130; Somin 2003, 2004, 2006). Auch diese Thematik bietet großes Potential zur Integration politischen und ökonomischen Lernens und zur Erörterung von Interdependenzen zwischen politischer Ordnung und ökonomischen Strukturen, wird aber in gängigen Schulbüchern nicht genutzt, weil einerseits Politikdidaktiker das Thema ohne Rückgriff auf ökonomische Theorien abhandeln (Floren 2006, 48ff.; Detjen 2006b, 58ff.) und weil andererseits Ökonomikdidaktiker (Bauer et al. 2008; Kaminski 2006) das Thema völlig aussparen. Letzteres ist insofern verwunderlich, als die Mehrheit der Institutionen- und Konstitutionenökonomen im Wettbewerbsföderalismus die entscheidende politische Struktur (Polity) sehen, mit der sich im politischen Prozess die Umsetzungswahrscheinlichkeit (Politics) bestimmter, nämlich marktwirtschaftsliberaler Programme (Policies) (die sog. „Neue Soziale Marktwirtschaft“) deutlich erhöhen ließe. Eine nicht auf halben Weg stehen bleibende gestaltungsorientierte Fachdidaktik sollte dem Schüler nicht nur aufzeigen, für welche ökonomischen Ziele man eintreten kann, sondern auch, mit Hilfe welcher politischer Strukturen sich deren Umsetzung (nicht) fördern lässt. Diese Lücke in den ökonomischen Schulbüchern ist auch deshalb unverständlich, weil sich am Wettbewerbsföderalismus gut zeigen lässt, wie man (gestaltungsorientiert) die ökonomische Denkweise auf das politische System anwendet. Wettbewerbsföderalismus meint, dass politische Entscheidungskompetenzen – aber auch die fiskalische Verantwortung für die sich daraus ergebenden Konsequenzen – gemäß dem Subsidiaritätsprinzip auf so vielen Politikfeldern so weit wie möglich dezentralisiert werden, d.h. auf die niedrigstmögliche politische Ebene verlagert werden, sofern nicht ökonomische Gründe (wie z.B. massive grenzüberschreitende Externalitäten, administrative Größenvorteile, interjurisdiktionelle öffentliche Güter wie militärische Verteidigung, Preis-
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niveaustabilität, Wettbewerbspolitik, Freihandelssicherung etc.) einwandfrei dagegen sprechen. Dieser Wettbewerbsföderalismus soll gemäß der liberal-konstitutionellen Perspektive den heute in der BRD in vielen Politikfeldern prävalenten kooperativen Föderalismus, d.h. die kollektive Mitwirkung aller Bundesländer bei der Verabschiedung länderübergreifender Gesetzesbeschlüsse über den Bundesrat, ablösen (siehe dazu bereits die Darstellung in Kapitel 7.1.1. und 7.1.2.). So empfehlen Berthold/Fricke (2005, 31), den deutschen Bundesländern die politische Kompetenz zur Regulierung der Güter- und Faktormärkte, zur Gestaltung der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, der Agrar-, Regional- und Strukturpolitik sowie in der Steuerpolitik zuzuweisen. Hierzu soll die konkurrierende Gesetzgebung (Art. 74 GG) komplett gestrichen und die entsprechenden Aufgaben den Bundesländern zugewiesen werden. Die Dezentralisierungsforderungen fallen also weitaus umfassender aus als bei der egalitären Perspektive bzw. dem dort behandelten Vorschlag von Scharpf. Denn von einer freiwilligen faktischen Zustimmung des einzelnen Individuums im obigen Sinne zu einer bestimmten polity und diesen darin beschlossenen policies könne nur dann gesprochen werden, wenn jeder Bürger – analog zu einem Nachfrager auf einem xbeliebigen ökonomischen Markt für Güter / Dienstleistungen – durch Wohnsitzverlagerung frei und leicht zwischen unterschiedlichen, politisch weitgehend autonomen Territorien und den von ihnen verabschiedeten Politikbündeln wählen kann („voting by feet“, Somin 2006). Bleibt ein Bürger unter solchen Bedingungen in seiner bisherigen Jurisdiktion, gebe er damit seine implizite individuelle faktische Zustimmung zur dortigen Politik zum Ausdruck. Dies gelte allerdings nur dann, wenn die Transaktionskosten des Wohnsitzwechsels (Mobilitätskosten) so niedrig wie möglich ausfallen. Diese Bedingung könne dadurch erfüllt werden, dass die Territorien möglichst klein sind (Vanberg 2004; Märkt 2003; Berthold/Fricke 2005; Prüßmann 2000, 129). Didaktisch hervorzuheben ist an dieser Stelle mit Blick auf das Prinzip der kategorialen Bildung, dass der konstitutionelle Liberalismus das Tauschprinzip des Marktes auf die Politik überträgt („Politics-as-Exchange-Paradigma“), wobei der Bürger und der jeweilige Politikbündelanbieter Leistungen (z.B. Rechtssicherheit) und „Steuern als Preise“ (Märkt 2003; Vanberg 2004, 66; Berthold/Fricke 2005, 10) tauschen. Mit dem Tauschprinzip wird auch das marktliche Wettbewerbsprinzip auf die Politik übertragen. Dies aber nicht à la Downs (1957) im Sinne eines theoretischen Modells zur Analyse des eher punktuellen Parteienwettbewerbs, sondern in Gestalt eines normativ für wünschenswert gehaltenen permanenten Wettbewerbs zwischen verschiedenen separaten rechtlichen Territorien und ihren Politikanbietern um die Anwerbung bzw. den Erhalt von mobilem Finanz-, Real- und Humankapital. Analog zu den Verhältnissen auf einem freien ökonomischen Markt könne dieser parallele, föderalistische Politik-Wettbewerb das Handeln der politisch Verantwortlichen weitaus besser als der übliche Parteienwahlwettbewerb disziplinieren, sodass sie gute Policies betreiben. Dadurch könne die politische PrinzipalAgent-Problematik deutlich gelindert werden, denn aufgrund der Exit-Option des einzelnen Bürgers würde der opportunistische Rent-Seeking-Spielraum für die Politikbündel-Anbieter und Interessensgruppen deutlich reduziert (Märkt 2003, 67; Weingast 1995, 6). So würden gleichzeitig auch die freiheitsgefährdenden Auswüchse der Mehrheitsdemokratie (s.o.) unter Kontrolle gebracht. Vanberg (2001) führt hierzu zustimmend ein Zitat von v. Hayek an:
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„Of all checks on democracy, federation has been the most efficacious. It is the only method of curbing not only the majority but the power of the whole people.” (v. Hayek 1944, 219)
Der Wettbewerbsföderalismus stelle also jene Ordnung des politischen Raums dar, die dafür sorge, dass die freie Entfaltung von Marktmechanismen und die Stärke der individuellen ökonomischen Anreize in der Wirtschaft so wenig wie möglich durch Rent-Seeking von partikularistischen Interessengruppen und politischen Mehrheiten beeinträchtigt werde (Berthold/Fricke 2005) und dadurch nicht nur die negative Freiheit des Individuums bestmöglich schütze, sondern auch eine hohe Nettokapitalrendite auf Investitionen in Sach- und Humankapital garantiere (ebd., 22). Daher wird der Wettbewerbsföderalismus als wirtschaftlicher „Wachstumsmotor“ (ebd., 21) ersten Ranges gepriesen, denn marktinadäquate bürokratische Regulierungen und eine hohe Steuer- und Abgabenlast provozierten im Rahmen eines wettbewerbsföderalistischen Systems den dann viel einfacheren Exit mobilen Sach- und Humankapitals und setzen so starke Anreize für Politiker, derartige marktwidrige Maßnahmen zu unterlassen. So glauben Vanberg (2004) und Märkt (2003), dass sich dann z.B. aufgrund der Konkurrenz der Politikbündelanbieter um qualifizierte Arbeitskräfte der Spitzensteuersatz und die Progression der Einkommensteuer insgesamt reduziere und diese sich in Richtung auf eine proportionale Flat-Tax hinbewegen werde, was sie positiv werten, weil es die negative Freiheit des Individuums sowie ökonomische Anreize stärke und die heutige Progressivsteuer eine „Preisdiskriminierung“ darstelle. Dabei wird wiederum eine strukturell-normative Parallele zwischen Politik und Markt gezogen, wobei man didaktisch kontrovers diskutieren sollte, ob solche Analogien wünschenswert sind, indem man diese der verteilungspolitischen Argumentation der egalitären Perspektive gegenüber stellt: „Ein System der Besteuerung nach Belastbarkeit muss bei zunehmender Mobilität von Personen und Ressourcen zwangsläufig unter Druck geraten, und es kann aus offensichtlichen Gründen unter den Bedingungen des Steuerwettbewerbs ebenso wenig Bestand haben, wie unter den Bedingungen marktlichen Wettbewerbs der Versuch Bestand haben könnte, die Preise für Brötchen nach der Zahlungsfähigkeit der Kunden zu staffeln.“ (Vanberg 2004, 67)
Die ökonomischen Wirkungen des Wettbewerbsföderalismus seien auch deshalb positiv, weil er als politisches Entdeckungsverfahren (Hayek) wirke, durch das die unsichtbare Hand des Politik-Marktes Wissen über gute Politik generiere (Wohlgemuth 2004). Denn in einer wettbewerbsföderalistischen Ordnung sei der Anreiz für die Individuen, politisches Wissen (d.h. Wissen über Territorien mit hoher Output-Legitimität) zu akquirieren, größer (Prüßmann 2000, 54; McGinnis/Somin 2004, 110; Somin 2003: 57, 61-63), weil sich das Individuum hier signifikante Erträge seiner informierten Wohnsitz-Entscheidung (z.B. niedrigere Steuern) zu einem signifikanten Ausmaß individuell aneignen könne (Prüßmann 2000, 57). Die individuelle Entscheidung für ein bestimmtes Territorium mit einem leistungsstarken Politikbündel-Anbieter habe im Gegensatz zur Abgabe einer Stimme für eine Partei mit einem geeigneten Wahlprogramm oder einer sinnvollen Volksinitiative direkt und unabhängig von den Entscheidungen anderer Individuen fühlbare positive Konsequenzen für ebendieses Individuum. Informationen über erfolgreiche Politik(bündelanbieter) stellten auf einem wettbewerbsföderalistischen Politik-Markt somit ein privates Gut dar. Daher sei damit zu rechnen, dass sich aufgrund des föderalistischen Konkurrenzdrucks langfristig überall Politik-Anbieter mit mehr oder weniger hoher Problemlösungskapazität
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bzw. gutem Preis-Leistungs-Verhältnis durchsetzen werden (Vanberg 2004, 65; McGinnis/Somin 2004, 108), weil so die Interessen der Individuen am Besten erfüllt werden könnten. Im Rahmen eines solchen evolutionären Selektionsprozesses führe das Wirken der unsichtbaren Hand des wettbewerbsföderalistischen Politik-Marktes so zu einer kollektiven Besserstellung der Bevölkerung, ohne dass dafür moralisch gesinnte Politiker benötigt würden. Diese Fortschrittsfunktion des Wettbewerbsföderalismus sei historisch insofern belegt, als die wesentlich schnellere wirtschaftliche und technologische Entwicklung in Europa gegenüber dem rückständigen Asien vom Anfang der Neuzeit bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts im Wesentlichen darauf zurückzuführen sei, dass Asien von zentralistischen Großreichen dominiert wurde, wohingegen die europäische Staatenlandschaft territorial stark zersplittert war. Wie der Wirtschaftshistoriker Eric Jones (1981) gezeigt habe, habe letzteres den politisch-ökonomischen Wettbewerb zwischen den Fürstentümern gefördert – v.a. in Form des politischen Respekts der Eigentumsrechte der Kaufleute und Erfinder – und so den massiven ökonomischen Modernisierungsfortschritt Europas gegenüber Asien begründet (Weede 2003, 85f.). Der Wettbewerbsföderalismus bilde zudem das zentrale politische Fundament sowohl für die Industrielle Revolution in Großbritannien im 18. Jahrhundert als auch für den Aufstieg der USA zur ökonomisch reichsten Nation der Welt im 19. Jahrhundert (Weingast 1995). Hinsichtlich der Kategorie der Deliberation kann man didaktisch deutlich machen, dass aus liberal-konstitutioneller Perspektive dem wettbewerbsföderalistischen PolitikMarkt aufgrund der Produktion besserer Lösungen für kollektive Probleme eine weitaus größere deliberative Qualität zukommt als der Parteienwettbewerbs- und Verhandlungsdemokratie (wie die egalitäre Perspektive meint) und als dem öffentlichen Diskurs in der (halb)direkten Demokratie (wie die partizipative Perspektive glaubt): “Market competition is more deliberative than politics in the sense that the market process generates more information about social problem solutions and their comparative performance and about people`s preferences, ideas, and expectations. Politics and public deliberations are overburdened mechanisms, unable to deal with an increasingly complex and dynamic society.” (Wohlgemuth 2004, 84; meine Hervorhebung, T.H.)
Es sei also der ökonomische Markt im Allgemeinen und der wettbewerbsföderalistische Politik-Markt als „plébiscite des tous les jours“ im Besonderen, der die Bedingungen der Habermasschen idealen Sprechsituation am besten erfüllen würde – so die zentrale, explizit gegen Habermas (und damit auch gegen die partizipative Perspektive) in Stellung gebrachte These des Ökonomen Wohlgemuth (2004, 87f.). Auch die scheinbar rein politikdidaktische Kategorie der Deliberation (die auch in den anderen beiden Perspektiven eine wichtige Rolle spielt) bietet also ein Potential zur Integration politischen und ökonomischen Lernens. Für die These, dass der wettbewerbsföderalistische Politik-Markt die höchste deliberative Qualität von allen Koordinationsmechanismen aufweise (gemessen an Habermas` Kriterien), werden drei Gründe angeführt, aus denen man didaktisch eins exemplarisch auswählen kann: Erstens sei das argumentative Niveau beim marktlichen bzw. wettbewerbsföderalistischen Mechanismus sozialer Koordination höher, weil jeder Unternehmer bzw. territoriale Politikbündel-Anbieter durch den ständigen, nicht unterbrochenen Parallel-Wettbewerb
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stark unter Druck stünde, fortlaufend gute und empirisch fundierte Argumente (Preise, Angebotsqualität) dafür vorzubringen, warum die Bürger bestimmten Hypothesen (Produkten, Angeboten) zustimmen sollten, d.h. in einer bestimmten Gebietskörperschaft bleiben bzw. dort hinziehen sollen (Somin 2006). Der Wettbewerb entspreche einem kontinuierlichen Diskussionsprozess, der prinzipiell niemanden ausgrenze und aus dem das beste Argument (Produkt) als Sieger hervorgehe (Wohlgemuth 2004, 89). Der Einwand, ein intensiver Wettbewerb werde nicht stattfinden, weil auch bei kleinen Territorien nur eine Minderheit der Bürger mobil sein werde, sei nicht überzeugend, denn für eine Disziplinierung der Politikbündel-Anbieter sei es wie auf einem ökonomischen Markt bereits ausreichend, wenn nur einige wenige Akteure von ihrer Mobilität Gebrauch machen würden. Sicherlich sei auch der Wettbewerbsföderalismus kein perfekter Koordinationsmechanismus, aber er werde dazu führen, dass der klassische politische Wettbewerb durch Wahlen in den einzelnen Territorien weniger durch abstrakte ideologische Formeln und stattdessen mehr durch Bezug auf konkrete Ergebnisse geprägt sein werde. Denn anhand einer Vielzahl von Nachbarterritorien ließe sich dann komparativ erkennen, welche Politik empirisch zu einer florierenden Wirtschaft führt und welche nicht. Z.B. ließe sich durch den Vergleich der vielen politisch autonomen Territorien erkennen, ob eine wirtschaftliche Krise in einer Jurisdiktion tatsächlich, wie die dortigen politisch Verantwortlich behaupten mögen, auf von ihnen nicht beeinflussbare externe Größen zurückzuführen sei (dann müsste diese Krise auch in den anderen Territorien zu beobachten sein) oder ob diese Krise nicht mehr oder weniger erst durch das Handeln der politisch Verantwortlichen verursacht worden ist (dann wird es eine Reihe von Nachbarterritorien mit vergleichbaren Rahmenbedingungen geben, in denen keine wirtschaftliche Krise zu beobachten ist oder in denen sie weniger heftig ausfällt). Zweitens mindere das marktliche bzw. wettbewerbsföderalistische Verfahren den auf die individuellen Teilnehmer des `Markt-Diskurses´ ausgeübten Zwang, da jedes einzelne Individuum wirklich frei und individuell zwischen verschiedenen Alternativen wählen kann und sich nicht einer zumeist knappen Mehrheit anderer Individuen unterzuordnen habe. Didaktisch kann es lohnenswert sein, zur Dämpfung gestaltungspolitischer Begeisterung die hier aufgestellte enge positive Beziehung zwischen wettbewerbsföderalistischen Politik-Markt auf der einen und Individualität und Diversität auf der anderen Seite kritisch zu hinterfragen, denn Waldfogel (2007) hat gezeigt, dass es eine Tyrannei der Mehrheit nicht nur in der Demokratie, sondern faktisch auch auf einer Vielzahl von ökonomischen Märkten, namentlich solchen für Güter mit hohen Fixkosten (z.B. Medien) gibt – und dieses Kriterium trifft wohl auch für den wettbewerbsföderalistischen Politik-Markt zu. Drittens seien zwar die Chancen für die Partizipation (wegen unterschiedlicher ökonomischer Ressourcen) sowohl auf dem ökonomischen Markt als auch auf dem wettbewerbsföderalistischen Politik-Markt nicht gleich verteilt, aber diese Partizipationsasymmetrie kennzeichne auch die Mehrheitsdemokratie, wo z.B. Lehrer und Beamte mit weit geringeren Opportunitätskosten für intensive politische Partizipation konfrontiert seien als z.B. Selbständige und Handwerker. Daher sei es nicht verwunderlich, dass die erste Gruppe gegenüber der zweiten Gruppe bei den Parteimitgliedern und Parlamentariern deutlich überrepräsentiert sei und einen weit stärkeren Einfluss auf die Politikinhalte ausübe (Wohlgemuth 2004, 97). Der Einwand der egalitären Perspektive, der Wettbewerbsföderalismus bevorteile mobile Akteure (Finanzkapital, hochqualifiziertes Humankapital) auf Kosten von eher immobilen Akteuren (Mittel- und Unterschicht), wird abgelehnt:
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Wie kann man ein lebenswertes politisches System gestalten? „Die Standortbetreiber können die Quasi-Renten der zur Sesshaftigkeit neigenden Individuen solange abschöpfen, bis auch für diese die Abwanderung vorteilhaft ist. Der Verbleib ist somit ein Signal dafür, dass die Ordnung trotz `Ausbeutung´ anderen Ordnungen vorgezogen wird. In diesem Sinne wäre es überflüssig, den immobilen Individuen einen zusätzlichen Schutz zukommen zu lassen. Der Verbleib kann als implizite Zustimmung zur Ausbeutung gewertet werden.“ (Märkt 2003, 79)
Eine `Ausbeutung´ der immobilen Akteure sei zudem wenig wahrscheinlich: „Diese Argumentationslinie vernachlässigt jedoch, dass auch immobile Faktoren Sanktionsmöglichkeiten besitzen, die auf die Qualität eines Standorts einwirken. Zufriedene Arbeitnehmer sind weniger streikbereit, weisen geringere Fehlzeiten auf und sind stärker motiviert. Darüber hinaus dürften starke Einschnitte in das soziale Netz sogar die Kriminalität erhöhen. Vor diesem Hintergrund erscheint die Befürchtung, dass immobile Faktoren durch den Standortwettbewerb einseitig belastet werden, übertrieben.“ (Erlei/Leschke/Sauerland 2007, 490)
Dementsprechend werden – im Gegensatz zur egalitären Perspektive – verteilungspolitische Argumente zur Einschränkung des Wettbewerbsföderalismus nicht akzeptiert. Sozialpolitische Umverteilung legitimiert sich nach Vanberg (2001) und Märkt (2003) entweder durch freiwillige Akzeptanz von Umverteilung durch die Netto-Zahler oder durch die Reduktion von Armutsexternalitäten (z.B. Kriminalität) und durch die damit verbundenen subjektiven Vorteile der Netto-Zahler. Der ökonomische Nutzen von sozialpolitischen Netto-Empfängern, denen sich die Netto-Zahler im Wettbewerbsföderalismus durch (Androhung von) Exit verweigern, wird also nicht als legitimes Argument für Umverteilung anerkannt: “Under the conditions of `Leistungswettbewerb´ or `performance competition´ [gemeint ist der Systemwettbewerb, T.H.] governments can only tax mobile factors if these are willing to pay the required tax as a price for the benefits they hope to reap from the use of the particular jurisdiction. (…) Where redistributive taxes are used to produce jurisdiction characteristics (such as the `social peace´, regularly invoked in the German debate) that make the jurisdiction more attractive for citizens and jurisdiction users, such taxes can be seen as a price that may be demanded of mobile factors no less than of citizens for permission to take advantage of these particular jurisdiction characteristics. (…) Where redistributive taxes are not offset by any jurisdiction-services or -characteristics that offer benefits to mobile factors, the latter will obviously attempt to avoid such measures. But on what grounds should a government then be allowed to recruit mobile factors for the financing of transfers, which generate no benefits for them whatsoever?” (Vanberg 2001, 21f.; meine Hervorhebungen, T.H.)
Die Antwort Vanbergs (2001) auf diese seine (rhetorische) Frage ist, dass solche Gründe nicht legitim sein können, weil sie gegen das Prinzip der faktischen freiwilligen Zustimmung des (mobilen) Individuums zu politischen Entscheidungen verstoßen würden. Didaktisch kann man an dieser Argumentation kritisch zeigen, wann gestaltungspolitische Entwürfe dazu tendieren, ihre normativen Prinzipien derart zu verabsolutieren, dass der demokratische Basiskonsens verlassen wird (Petrik 2007, 206ff.) und wann legitimes ökonomisches in demokratisch nicht akzeptables ökonomistisches Denken umschlägt.
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Denn die obige Argumentation von Vanberg (2001) und Märkt (2003) verstößt nicht nur gegen das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes, indem sie die Versorgung sozial Benachteiligter mit dem (soziokulturellen) Existenzminimum nicht vorbehaltlos akzeptieren, sondern an eine Bedingung knüpfen, d.h. dessen Garantie von der freiwilligen Zustimmung der Netto-Zahler abhängig machen. Mehr noch verletzt diese Argumentation die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), weil sie – mit Kant gesprochen – den verarmten Menschen und dessen Leben nicht als Selbstzweck, als einen niemals zur Disposition stehenden intrinsischen Wert in sich versteht, sondern diesen nur als bloßes instrumentelles Mittel, d.h. als ggf. ruhig zu stellenden (potentiellen) Störenfried sieht. Denn Sozialpolitik lässt sich in ihrer Argumentation ausschließlich mit dem Argument der Beseitigung von „Armutsexternalitäten“ (Märkt 2003) begründen, d.h. ausschließlich mit den Vorteilen für andere, nicht mittellose Menschen. Dann stellt sich auch die Frage, was geschehen soll, wenn eine Gruppe von verarmten Menschen kein (hinreichendes) Drohpotential besitzt, sie also faktisch nicht genügend „Armutsexternalitäten“ verursachen, um den Sozialen Frieden zu gefährden und die übrige Bevölkerung auch nicht freiwillig bereit ist, sie sozialpolitisch zu versorgen, indem sie die Exit-Option wählt und/oder es vorzieht, sozioökonomisch Benachteiligte (wie z.B. in den USA) zu kriminalisieren und massenhaft ins Gefängnis zu stecken. Konsequent zu Ende gedacht würde das Argument von Märkt (2003) bedeuten, nur solche Armen sozialpolitisch zu versorgen, die `Armutsexternalitäten´ wie Gewalt o.ä. glaubwürdig androhen können, während man die übrigen achselzuckend ihrem Schicksal überlässt. Indem man die hochgradige Fragwürdigkeit dieser Argumentation didaktisch herausstellt, kann man exemplarisch das kritische Verständnis und die Wachsamkeit der Schüler dafür schärfen, dass die Gültigkeit demokratischer Werte auch in der heutigen Gesellschaft und im Diskurs der sie tragenden intellektuellen Eliten nicht immer selbstverständlich und daher potentiell gefährdet ist. Dies bedeutet jedoch in keinster Weise, dass die Sozialstaatsauffassung der liberalkonstitutionellen Perspektive zwangsläufig gegen den demokratischen Basiskonsens verstößt. So zeigen z.B. Kersting (2000) und Nass (2006), wie man einen subsidiären, aber gleichwohl auf dem Prinzip der Menschenwürde basierenden Sozialstaat auf der liberalen Sozialphilosophie gründen und direkt aus dem Prinzip der Freiheit heraus ableiten kann. Und mit Sinn (2005, 459ff.) macht ein liberaler Ökonom in Form des sog. Heimatlandprinzips (siehe dazu Kapitel 7.2.4.) einen Vorschlag, wie man die eventuelle Aushöhlung der sozialpolitischen Garantie des (soziokulturellen) Existenzminimums durch den Wettbewerbsföderalismus verhindern kann. Bezüglich des Urteilskriteriums der politischen Durchsetzbarkeit (Kapitel 4.4.1.) des Wettbewerbsföderalismus glaubt die liberal-konstitutionelle Perspektive im Gegensatz zur partizipativen Perspektive nicht daran, dass die direkte Demokratie das geeignete politische Vehikel sei, wettbewerbsföderalistische Strukturen durchzusetzen und/oder zu sichern. Die Durchsetzung und Sicherung angemessener föderaler Strukturen sei ein für den rational ignoranten Durchschnittsbürger zu komplexes und zu `trockenes´ Thema: “Because issues of the distribution of power between different levels of government are unusually complex and often lack transparency, the electorate is unlikely to be able to understand federalism questions or to take them into account in making voting decisions.” (Somin 2004, 5)
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Wie kann man ein lebenswertes politisches System gestalten? “Because of their rational ignorance of public policy, citizens will not consistently protect federalism, particularly because it is a complex issue of governmental structure that lacks political salience compared to the pressing public policy issues of the day. Accordingly, it is fundamentally misguided to claim that the political process reliably protects federalism.” (McGinnis/Somin 2004, 90)
Direkte Demokratie eigne sich zwar – diszipliniert durch den kompetitiven Druck mobilen Human- und Finanzkapitals – für Entscheide zu Policy-Fragen auf lokaler/regionaler Ebene im Rahmen eines wettbewerbsföderalistischen Systems (solange sie diesen nicht sprenge), nicht jedoch für Polity-Fragen auf Bundesebene (Borner/Bodmer 2004, 174). Die Kompetenzkompetenz, d.h. die Kompetenz für die Zuordnung von sachpolitischen Kompetenzen zu den politischen Ebenen bzw. die Bestimmung der entsprechenden Kriterien sollen angesichts der Probleme der Mehrheitsdemokratie weder beim Parlament noch bei der Bevölkerung angesiedelt werden. Stattdessen soll der Wettbewerbsföderalismus insbesondere in Form des fiskalischen Äquivalenz-, des Subsidiaritäts- und des Wirtschaftlichkeitsprinzips (Erlei/Leschke/Sauerland 2007, 458ff., s.o.) in der Verfassung festgeschrieben (Somin 2006; McGinnis/Somin 2004) und von einem starken Verfassungsgericht gegen den tagespolitischen Opportunismus politischer Mehrheiten und das Rent-Seeking politischer Eliten (Versuch föderaler Kartellbildungen) verteidigt werden (ebd.). Eine Gelegenheit (policy window) für die Durchsetzung solcher Strukturen sei dann gegeben, sobald sich das existierende Wirtschafts- und Sozialsystem aufgrund seiner fehlenden ökonomischen Nachhaltigkeit in die zu erwartende massive Krise manövriert habe.
7.1.3.3 Liberal-konstitutionelle Perspektive und sozialwissenschaftliche Bildung – ein Widerspruch? Gegen die fachdidaktische Behandlung der gestaltungspolitischen Vorschläge der liberalkonstitutionellen Perspektive und ihres Arguments der rationalen Ignoranz/Irrationalität im Unterricht könnte man einwenden, dass man sich dadurch einen Widerspruch zwischen fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer Ebene einhandle, denn deren Aussagen seien mit dem Bildungsziel, zu einer aufgeklärten, mündigen, autonomen, sich demokratisch selbst bestimmenden, verantwortungsvollen Bürgerschaft beizutragen, doch gar nicht kompatibel. Auch die gestaltungsorientierte sozialwissenschaftliche Fachdidaktik bekenne sich ja grundsätzlich zu diesem Ziel und gründe implizit auf einem Diskurs-Modell. Politische Bildung müsse sich als ein Teil des historischen Demokratisierungsprozesses verstehen, welcher (angeblich) auf „Radikalisierung der Demokratie“ dränge (Massing 2005, 20). Einer solchen Schlussfolgerung steht jedoch schon der Beutelsbacher Konsens entgegen, da die liberal-konstitutionelle Perspektive grundsätzlich den demokratischen Basiskonsens achtet. Man darf die Schüler nicht mit der Forderung nach `Radikaldemokratisierung´ überwältigen, sondern sollte die kognitiven Voraussetzungen einer solchen Forderung im Auge behalten und in diesem Kontext offen mit ihnen diskutieren, ob rationale Ignoranz/Irrationalität tatsächlich ein gewichtiges Problem darstellt, ob politische und ökonomische Bildung eventuell in der Lage ist, das (mögliche) Problem der rationalen Ignoranz/ Irrationalität in ausreichendem Maße zu lindern bzw. inwieweit der derzeitige zeitliche Umfang an ökonomischer und politischer (Mindest-)Bildung ausreicht, dieses (mögliche) Problem in den Griff zu bekommen. Wenn einzelne Schüler zu dem Schluss kommen soll-
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ten, dass dies (zurzeit) nicht der Fall ist und ein künftiger Ausbau politisch-ökonomischer Bildung schulpolitisch wenig wahrscheinlich ist, kann es ohne weiteres eine mündige, aufgeklärte, autonome, verantwortungsvolle Entscheidung darstellen, sich dafür auszusprechen, dass inhaltliche Entscheidungen in bestimmten Politikfelder zwecks Sicherung des Allgemeinwohls (teilweise) vorsichtshalber an ein starkes Verfassungsgericht und/oder an den anonymen Mechanismus des Wettbewerbsföderalismus delegiert werden sollen. Der Schüler darf sich also auch in diesem Sinne für eine eher passiv-minimalistische Bürgerrolle entscheiden; für die gestaltungsorientierte Fachdidaktik ist nur entscheidend, dass er dies in diesem Falle auf eine bewusste, begründete, reflektierte und daher später eventuell reversible Weise tut – und genau dafür benötigt er kontroverses gestaltungsorientiertes Wissen.
7.1.4 Fachdidaktische Strukturierung des Themenfeldes gemäß Kapitel 4.5. Das zentrale Lernziel eines gestaltungsorientierten Unterrichts zum Politischen System in Deutschland auf der Sekundarstufe II besteht darin, den Schüler in die Lage zu versetzen, ein begründetes politisches Urteil bzgl. der Frage auszubilden, durch welche Institutionen die Input- und Output-Legitimität des politischen Systems in Deutschland und damit der Lebenswert der Gesellschaft gesteigert bzw. zumindest gesichert werden kann. Zur Anregung gestaltungsorientierten Denkens könnte man zunächst konstruktivistisch vorgehen und die Schüler vorerst eigenständig in Gruppenarbeit im Rahmen fiktiver Reformkommissionen frei darüber reflektieren lassen, welche Ausgestaltung eines demokratischen politischen Systems sie für problemlösungsfähig und gerecht erachten, wobei diese Überlegungen durch Leitfragen vorstrukturiert werden sollten, um die Reflexionen auf die zentralen Stellschrauben eines demokratischen Systems zu lenken: 1. 2.
3. 4.
5.
Wie soll das Wahlrecht ausgestaltet sein? Inwieweit und unter welchen Bedingungen soll die Bevölkerung in der Lage sein, bestimmte Entscheidungen der Regierung zurückzuweisen und/oder eigene Entscheidungen ohne Zustimmung der Regierung durchzusetzen? Inwieweit und unter welchen Bedingungen soll ein spezielles Gericht die Befugnis haben, bestimmte Beschlüsse der Regierung zurückweisen zu können? Welche politischen Aufgaben sollen auf der Bundes-, welche auf der Landesebene wahrgenommen werden? (mögliche Beispiele: Bildungspolitik, Sozialpolitik, Handelspolitik, öffentliche Infrastruktur) Sollen die Regierungen der Länder ein Mitspracherecht bei den politischen Entscheidungen auf der Bundesebene besitzen? Soll es darüber hinaus weitere politische Institutionen geben?
Besondere Aufmerksamkeit sollte dabei darauf gelegt werden, dass die Schüler ihre Vorstellungen nicht nur begründen, sondern auch ihre (impliziten) Urteilskriterien offenlegen bzw. sich über dies erst einmal selber klar werden. Nach der Gruppenarbeit würde eine vorläufige erste kontroverse Diskussion der jeweiligen Modelle stattfinden. Im Anschluss daran wäre gemäß Aspekt 1.1. des Strukturschemas aus Kapitel 4.5. (Institutionen) der gegenwärtige institutionelle Status Quo des politischen Systems in der BRD zu erarbeiten und anschließend mit den politischen Idealmodellen der Schüler zu verglei-
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chen. Um eine klare Relationierung des Ist-Zustands und der Soll-Aussagen der Schüler herzustellen, wäre danach von den Gruppen explizit zu erarbeiten, was an der gegenwärtigen Realität aus Sicht ihres Modells jeweils kritikwürdig erscheint und ob es möglicherweise rationale oder andere Gründe dafür geben könnte, warum die Realität in bestimmten Fragen von ihrem Modell abweicht. Hieran würde sich unter Rückgriff auf die drei oben dargestellten normativen Perspektiven (egalitäre, partizipative und liberal-konstitutionelle Perspektive) eine Problematisierung des institutionellen Status Quo aus sozialwissenschaftlicher Sicht anschließen. Dabei wären zunächst gemäß Aspekt 2.1. (Alternativen) die sozialwissenschaftlichen Alternativmodelle als solche (parlamentarische Mehrheitsdemokratie, (halb)direkte Demokratie, konstitutioneller Wettbewerbsföderalismus) und deren Begründungen zu erarbeiten. Diesbezüglich ist es wichtig, die unterschiedlichen normativen Urteilskriterien (Aspekt 2.3.) und Wertvorstellungen (Aspekt 3.1.) der drei sozialwissenschaftlichen Perspektiven prononciert herauszustellen (Egalitäre Perspektive: soziale und politische Gleichheit; Partizipative Perspektive: Selbstbestimmung, Kompetenz und soziale Bezogenheit durch Partizipation; Liberal-Konstitutionelle Perspektive: negative Freiheit, Wirtschaftswachstum). Sodann ist es von hoher Bedeutung, eine problematisierende Beziehung zwischen dem institutionellen Status Quo in der BRD und den drei normativen sozialwissenschaftlichen Modellen herzustellen (Aspekt 1.2.: Problem), wobei die Schüler nach Möglichkeit eigenständig (durch Perspektivenübernahme) herausarbeiten sollten, welche institutionellen Aspekte des heutigen politischen Systems in der BRD aus welcher normativen Perspektive als kritikwürdig erscheinen. Auf diese Weise kann deutlich werden, dass die Problemdefinitionen größtenteils nicht konsensual sind, sondern dass vor dem Hintergrund unterschiedlicher normativer Zielvorstellungen divergierende sozialwissenschaftliche Problemwahrnehmungen (Aspekt 1.3.) bzw. verschiedene Ursachendeutungen (Aspekt 1.4.) (z.B. für das Problem der Politikverdrossenheit) existieren: potentiell ungleiche politische Macht verschiedener sozioökonomischer Gruppen (egalitäre Perspektive), quasi-oligarchische Herrschaft der politischen Elite (partizipative Perspektive), rationale sozial- und wirtschaftspolitische Irrationalität politischer Mehrheiten (liberal-konstitutionelle Perspektive). Durch eine derartige Kontrastierung der drei Perspektiven kann man auf die Unsicherheit von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen bzw. die Ambivalenz der Wirkungen von Institutionen (Aspekt 2.4.) und die (unbeabsichtigten) Nebenfolgen von gestaltungspolitischen Vorschlägen (Aspekt 3.4.) hinweisen: So mag die Mehrheitsdemokratie zwar die soziale und politische Gleichheit der Bürger in horizontaler Hinsicht stärken, doch gleichzeitig verliert sie dabei möglicherweise in Gestalt einer vertieften Prinzipal-AgentProblematik die vertikale Gleichheit der Bürger (zwischen Repräsentanten und Repräsentierten) und/oder die negative ökonomische Freiheit der Bürger in Form einer hohen Abgaben- und Steuerlast und die volkswirtschaftliche Dynamik aus dem Blick. Ob die (halb)direkte Demokratie tatsächlich die Macht von der politischen Elite in Richtung auf `den´ Volkswillen verschiebt, scheint vor dem Hintergrund der egalitären als auch aus der liberal-konstitutionellen Perspektive ungewiss zu sein, denn möglicherweise werden durch sie nur finanzstarke, gut organisierte Partikularinteressen gestärkt. Der konstitutionelle Wettbewerbsföderalismus droht angesichts der starken Gewichtung des Wirtschaftswachstums den prozeduralen Nutzen politischer Selbstbestimmung und die Bürgertugend aus den Augen zu verlieren sowie ein hohes Maß an sozialer und damit auch an politischer Un-
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gleichheit zu erzeugen, da er in Form der Exit-Drohung ressourcenstarken Gruppen zugleich auch ein starkes Voice-Übergewicht im politischen Prozess verschaffen kann. Auf diese Weise können partielle politische Zielkonflikte zwischen den normativen Grundwerten der Demokratie (Freiheit, Gleichheit, Volkssouveränität) verdeutlicht werden (Aspekt 2.3.: Ziel- und Wertvorstellungen), sodass gegen den überzogenen Glauben an Heilsversprechen von einer perfekten Gesellschaft vorgebeugt werden kann, was aber nicht heißt, dass durch diese Komplexität eine Urteilsbildung blockiert würde, denn natürlich ist es legitim, diesbezüglich persönlich normative Prioritäten zu setzen. Unter Rückgriff auf das SIGMA-Milieu-Modell (vgl. Petrik 2007, 213) könnte man auch analysieren, welche Konsequenzen mit den Reformvorstellungen der drei Perspektiven für verschiedene soziale Gruppen verbunden sind und inwiefern hieran (nicht unbedingt explizite, aber zumindest implizite) Interessenkonflikte deutlich werden (Aspekt 3.2. und 3.3.), um zum einen einer möglichen Illusion der Homogenität von Interessen (Petrik 2007, 225) vorzubeugen und um zum anderen zu zeigen, dass vermeintlich objektivwertneutrale sozialwissenschaftliche Stellungnahmen nicht unbedingt mit gesellschaftspolitischer Neutralität in Eins zu setzen sind. So könnte man neben dem Interessenkonflikt zwischen politischer Elite und Bürgern diskutieren, inwiefern die „echte Mehrheitsdemokratie“ eher auf das Bedürfnis sozioökonomischer Unterschichten mit niedriger Bildung (traditionelles Arbeitermilieu, konsummaterialistisches Arbeitermilieu) nach Reduzierung sozialer Ungleichheit zugeschnitten ist, während die (halb)direkte Demokratie eher den Partizipations-Präferenzen der gebildeten (oberen) Mittelschicht (liberal-intellektuelles Milieu) entgegenkommt, wohingegen der konstitutionelle Wettbewerbsföderalismus eher die Interessen einer finanziell gut situierten, mobilen ökonomischen Elite (etabliertkonservatives Milieu und Teile des aufstiegsorientierten Milieus) befriedigt. Allerdings kann auch herausgearbeitet werden, dass derartige Interessenkonflikte nicht zwangsläufig sind. Angehörige (von Teilen) der politischen Elite können ein ideologisches und/oder strategisches Interesse daran haben, für die Einführung (halb)direkter Demokratie zu plädieren, um ihre persönlichen Präferenzen zu erfüllen und/oder ihre Wahlchancen zu erhöhen. Hohes Wirtschaftswachstum durch konstitutionellen Wettbewerbsföderalismus könnte auch weniger wohlhabenden Bevölkerungsgruppen zugute kommen. Wenn sich die Bevölkerungsmehrheit in Volksabstimmungen tatsächlich gemeinwohlorientiert verhält, muss die (halb)direkte Demokratie nicht den materiellen Interessen von ökonomischen Minderheiten zuwiderlaufen. Auch die „echte Mehrheitsdemokratie“ (Ganghof) kann, wie das Beispiel Skandinaviens zeigt, eine hohe soziale Gleichheit mit hoher Lebenszufriedenheit der Bevölkerung und relativ hohem Wirtschaftswachstum vereinen. Zum Abschluss der vergleichenden Evaluation der drei verschiedenen gestaltungspolitischen Perspektiven kann man nach den politischen Durchsetzungschancen (Aspekt 3.5.) fragen. Generell kann man hier zur Förderung eines realistischen gestaltungspolitischen Urteilsbewusstseins den hohen, doppelt supermajoritären Konsensbedarf erarbeiten, der sich daraus ergibt, dass die entsprechenden Verfassungsänderungen (Einschränkung der Rechte des BVG; Einführung direkter Demokratie mit entsprechender Einschränkung der Rechte von BVG, Bundesrat und Bundestag; Stärkung des BVG und radikale Dezentralisierung politischer Kompetenzen) der Zustimmung einer Zwei-Drittel-Mehrheit sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat bedürfen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass konstitutionelle Reformen als `utopisch´ ad acta gelegt werden müssten (international vergleichende Studien zu OECD-Staaten von Kaiser (2002) und Lorenz (2008) widerlegen dies), sondern
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dass sie eines hohen Problemdrucks und/oder aber eines breiten politisch-kulturellen Rückhalts in der Bevölkerung bedürfen, um politischen Akteuren entsprechende Anreize zum Handeln zu vermitteln. Zuvor sollte der Unterricht jedoch den eigentlichen Prozess der persönlichen Urteilsbildung (Aspekt 3.6.) abschließen und dazu auf die eingangs von den Schülern selbst erstellten Modelle idealer politischer Systeme zurückkommen, indem erörtert wird, ob bzw. wie die jeweiligen Gruppen ihre Vorstellungen im Lichte der Argumente der drei sozialwissenschaftlichen Perspektiven teilweise zu modifizieren gedenken oder nicht. Anschließend kann man sodann die parteipolitischen Vorstellungen zur Weiterentwicklung des politischen Systems identifizieren, damit die Schüler erkennen, welche Partei ihren persönlichen Vorstellungen am nächsten kommt (Aspekt 3.7.). Grundsätzlich kann man dabei herausarbeiten, dass sich die CDU/CSU grosso modo in der unteren Hälfte des ideologischen Koordinatenkreuzes von Petrik (2007) zwischen der Mitte und dem rechten Quadranten befindet. Denn im Gegensatz zu den anderen Parteien lehnt sie die Forderung der partizipativen Perspektive nach direktdemokratischer Einflussnahme der Bürger auf Bundesebene ab und will diese auf die regionale Ebene beschränken (CDU 2007, 88). Hinsichtlich der Ausgestaltung der föderalen Ordnung soll der Anteil der zustimmungspflichtigen Gesetze reduziert und im Gegenzug die Verantwortlichkeit für ganze Politikfelder auf die Länder übertragen werden. Der Begriff des föderalen Wettbewerbs wird explizit genannt und ist positiv konnotiert; allerdings wird auch auf unterschiedliche Ausgangssituationen der Länder verwiesen (CDU/CSU 2005, 33; CDU 2007, 69). Unklar bleibt, welche Bereiche genau dezentralisiert werden sollen und welche nicht, sodass (bewusst?) offen bleibt, in welchem Umfang das Modell des Wettbewerbsföderalismus der liberal-konstitutionellen Perspektive befürwortet wird. Die FDP wäre im oberen rechten Quadranten des Petrikschen Koordinatenkreuzes zu verorten, weil sie im Einklang mit der partizipativen Perspektive für die Einführung direkter Demokratie auch auf Bundesebene plädiert (FDP 2005, 39). Zudem wird in ihrem Programm der Begriff des Wettbewerbsföderalismus explizit genannt und dessen Verwirklichung zur Umdrehung von Zentralisierungstendenzen gefordert (ebd., 40), wohingegen der Aspekt der (Un)Gleichwertigkeit der Lebenssituation in den Ländern in diesem Kontext nicht erwähnt wird. Dazu passt auch die konkrete Forderung nach Länderöffnungsklauseln im Bau-, Tarif- und Arbeitsrecht (ebd., 16). Aus liberal-konstitutioneller Perspektive betrachtet könnte man hier kritisch hinterfragen, wie logisch durchdacht diese Kombination von direkter Demokratie auf Bundesebene und Wettbewerbsföderalismus ist. Demgegenüber taucht im Programm der SPD in diesem thematischen Kontext ein Begriff aus der egalitären Perspektive auf, der sich im Programm der FDP so nicht wiederfindet: die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse, die von der SPD zu ihrem Leitbild erklärt wird. Während der Begriff des Wettbewerbs in diesem Kontext (im Gegensatz zu CDU/CSU und FDP) bei der SPD nicht auftaucht, zeigt man sich vielmehr über gewachsene Unterschiede in der Finanzkraft der Regionen besorgt (SPD 2007, 35). Die SPD befindet sich daher im oberen linken Quadranten des Petrikschen Koordinatenkreuzes, da sie zugleich für die Einführung direkter Demokratie auf Bundesebene plädiert (ebd., 32f.). Ähnlich sind die Grünen einzuschätzen, die die Kompetenzverflechtung im Bundesrat entwirren wollen, dabei die Kompetenzen der Länder aber nur in eher marginalen Einzelbereichen wie dem Ladenschluss stärken wollen. Zudem pochen sie im Gegensatz zur CDU/CSU explizit auf die Mitwirkungsmöglichkeiten des Bundes in der Bildungspolitik.
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Wie bei der SPD wird auch hier das Ziel der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse gesondert hervorgehoben; der Begriff des Wettbewerbs taucht in diesem Kontext hingegen auch bei ihnen nicht auf (Die Grünen 2005, 97f.). Schließlich befürworten auch sie die direkte Demokratie auf Bundesebene (ebd., 99). Letzteres gilt auch für Die Linke (2007, 11), die zum Thema Föderalismus hingegen kaum verwertbare Aussagen macht. Didaktisch ist es lohnenswert, aus egalitärer Perspektive einen möglichen Widerspruch in der Programmatik von Grünen, SPD und Die Linke herauszuarbeiten, denn angesichts der politikwissenschaftlich festgestellten geringeren Beteiligung(schancen) sozial benachteiligter Bürger an direktdemokratischen Entscheidungsprozessen (vgl. Kapitel 7.1.1.) ist es fragwürdig, ob dieser Entscheidungsmodus die politischen Verwirklichungschancen der von diesen Parteien zugleich verfolgten, relativ stark vom Solidaritätsprinzip geprägten Sozialstaatskonzepte fördert.
7.1.5 Themenspezifische Auswertung der drei integrationsdidaktischen Ansätze Bezüglich der Frage nach dem für eine gestaltungsorientierte Fachdidaktik angemessenen Integrationsverfahren zeigt sich, dass im vorliegenden Teilbereich weder der institutionenökonomische noch der politikwissenschaftliche Integrationsansatz angemessen ist. Vielmehr erweist sich hier zurzeit der sozialwissenschaftliche Integrationsansatz als größtenteils zutreffend, da Integration sich hier durch den gleichberechtigten und kontroversen Vergleich von drei verschiedenen Perspektiven konstituiert, wobei aber nur eine von diesen Perspektiven interdisziplinären Charakter aufweist. Denn während die egalitäre Perspektive der Politikwissenschaft entstammt und die liberal-konstitutionelle Perspektive der Konstitutionenökonomik entnommen wurde, lässt sich die partizipative Perspektive sowohl vornehmlich unter Rückgriff auf die Politikwissenschaft (z.B. Barber 2004; Gosewinkel/Rucht 2007; Kriesi 2006) als auch – wie es hier zur Aufklärung politikdidaktischer Klischees (Detjen 2006a; Scherb 2005) über `die´ Ökonomik geschehen ist – vornehmlich unter Rückgriff auf die Ökonomik darstellen. Angesichts der stark empirisch fundierten Forschung der (Schweizer) Ökonomik zu den Wirkungen der (halb)direkten Demokratie kann eine didaktische Verwendung der partizipativen Perspektive auf keinen Fall auf diese ökonomischen Forschungsergebnisse verzichten, wie gängige Schulbücher (Floren 2006; Detjen 2006b; Heither/Klöckner/Wunderer 2006) dies in den entsprechenden Kapiteln tun. Daher bietet es sich in der didaktischen Praxis an, die partizipative Perspektive in interdisziplinärer Form aufzubauen. Mit Blick auf die partizipative Perspektive meint Integration hier also nicht nur die kontroverse Inbezugsetzung, sondern auch den didaktischen Zusammenbau von inhaltlich-normativ komplementären Thesen, Argumenten und empirischen Belegen aus Teilen von Politologie und Ökonomik. Daher wäre hier auch eine reine Gegenüberstellung `der´ politologischen und `der´ ökonomischen Perspektive nicht zielführend. Für diejenigen, die eine Perspektive aus der Rechtswissenschaft vermissen, sei auf den Ansatz des US-amerikanischen Rechtswissenschaftlers Leib (2003) verwiesen, der in Form der „Citizen Juries“ eine stärker deliberativ ausgeprägte Variante der partizipativen Perspektive vorstellt, die sich nach seiner Ansicht auch auf Europa übertragen lässt und die sich im Unterricht alternativ oder zusätzlich verwenden lässt.
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Wie kann man ein lebenswertes politisches System gestalten?
Unabhängig davon zeigen sowohl die liberal-konstitutionelle Perspektive als auch die partizipative Perspektive in ihrer hier dargestellten Form, dass die Ökonomik sich nicht – wie der politikwissenschaftliche Integrationsansatz (Detjen 2006a, 72f.) meint – gegenüber ethischen Gesichtspunkten und den Fragen des guten und gerechten Zusammenlebens verselbständigt hat. Vielmehr spielen dort Werte wie subjektives menschliches Wohlbefinden, Selbstbestimmung, Kompetenz, soziale Bezogenheit bzw. Freiheit und Fragen nach den Bedingungen der Legitimationsfähigkeit politischer Herrschaft sehr wohl eine zentrale Rolle. Dass angesichts dieser Urteilskriterien zwischen der von einigen Ökonomen vertretenen partizipativen Perspektive und der Kategorie des Gemeinwohls nicht die behauptete „Inkompatibilität“ (Scherb 2006, 123ff.) besteht, ist mehr als offenkundig. Aber auch der sehr stark individualistisch ausgerichtete Ansatz der liberal-konstitutionellen Perspektive bringt sehr wohl eine ernstzunehmende gesellschaftspolitische Perspektive zur Entfaltung. Anhand diesem lassen sich sehr wohl wichtige Aspekte im Bereich „öffentliche Angelegenheiten“ lernen (wie z.B. über die (möglichen) Vorteile des Föderalismus oder das (mögliche) Problem der rationalen Irrationalität der Bevölkerungsmehrheit), wenngleich wie gezeigt manche radikal-individualistischen Autoren dieser Perspektive bisweilen (implizit) den Bereich des sozialpolitischen Basiskonsens (nämlich die bedingungslose Garantie des Existenzminimums) verlassen. Aber gerade die kritische Analyse solcher „Grenzüberschreitungen“ kann sich didaktisch als produktiv erweisen, da sie z.B. einem unkritischen Vertrauen in Expertenaussagen entgegen zu wirken vermag (Klafki 1996, 171). Angesichts dessen hat sich die Aristotelische These des politikwissenschaftlichen Integrationsansatzes, dass es sinnvoll sei, die Ökonomik der Politikwissenschaft als Leitwissenschaft im Rahmen eines Integrationsfaches unterzuordnen, weil die Politikwissenschaft die „allgemeinsten“ Überlegungen über das gemeinschaftlich Gute und Gerechte anstelle (Detjen 2006a, 76), mittlerweile überlebt und kann selbst für den Kernbereich der Politikdidaktik (Politisches System der BRD) nicht mehr aufrecht erhalten werden. Dies mag bestenfalls noch für den Teilaspekt Rechtsstaatsprinzip/Grundrechte gelten (was genauer zu untersuchen wäre), der hier nicht im Vordergrund stand, weil dieser in der vorliegenden didaktischen Konzeption vornehmlich in den anderen beiden gestaltungsorientierten Themenbereichen `Gewährleistung des friedlichen und produktiven Zusammenlebens von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen (sozioökonomische und -kulturelle Integration)´ und `Sicherung des internationalen Friedens und Unterbindung von Gewalt in Form von Krieg und Terrorismus´ (vgl. Kapitel 3.2.) behandelt werden soll. Der weitere Aspekt `rechtsstaatliche Demokratie / totalitäre Diktatur´, der in der vorliegenden Konzeption dem Teilbereich „Bekämpfung bzw. Vermeidung von Armut in Entwicklungsländern“ (vgl. Kapitel 3.2.) zugeordnet57 wird, wird in der Ökonomik ebenfalls umfassend thematisiert (siehe z.B. Acemoglu/Robinson 2005; Pies/Wockenfuß 2008; Voss 2008). 57 Diese vielleicht etwas ungewöhnlich erscheinende Zuordnung ist zwar nicht zwangsläufig, aber bei einer gestaltungsorientierten Herangehensweise aus mehreren Gründen sehr sinnvoll. Erstens stehen bei internationalen entwicklungspolitischen Verlautbarungen wie z.B. der Millenium Declaration (UNO 2000, 5 + 6) zwei zentrale Ziele zugleich im Vordergrund, nämlich nicht nur wirtschaftliche Entwicklung, sondern auch die Förderung rechtsstaatlicher Demokratie. Dies ist zweitens letztlich der empirischen Tatsache geschuldet, dass ausgerechnet diejenigen Länder, welche besonders stark von ökonomischer Armut betroffen sind, zugleich auch die größten Demokratiedefizite aufweisen (Pies & Wockenfuß 2008, 3). Die in mehrdimensionaler Hinsicht prekäre Lebenssituation vieler Menschen in Entwicklungsländern kann von den Schülern nicht in vollem Umfang erfasst werden, wenn diese ökonomistisch auf die wirtschaftlichen Probleme in diesen Ländern reduziert wird. Von daher bieten sich v.a. Entwicklungsländer als gegenwärtige Fall-Beispiele für die Funktionsweise von Diktaturen im Vergleich zu Demokratien an, insbesondere dann, wenn den Schülern – gerade mit Blick auf die Förderung von Empathie
Gestaltungsorientierte Evaluation des politischen Systems in Deutschland
325
Deshalb sollten künftige Handbücher zur ökonomisch-politischen Bildung – im Gegensatz zur aktuellen Version (Althammer/Andersen/Detjen/Kruber 2007) – auch mindestens ein oder zwei Kapitel zum Bereich des politischen Systems enthalten. Denn Integration von ökonomischer und politischer Bildung kann sich angesichts der obigen Darstellung nicht nur auf den Vergleich disziplinärer Perspektiven im Teilbereich Wirtschaft / Wirtschaftspolitik reduzieren. Eine solche Konzeption bleibt auf halbem Weg stehen, da sie die Policy-Dimension nicht mit der Polity-Dimension verbindet. Denn was nützt es, zu wissen, dass diese oder jene Sozial- und Wirtschaftspolitik (Policy) zielführend in Bezug auf ein bestimmtes Kriterium sein mag, wenn gleichzeitig unbekannt ist, welches politische System (Polity) den politischen Akteuren die notwendigen Anreize vermittelt, ebendiese Sozialund Wirtschaftspolitik auch tatsächlich umzusetzen? Aufgrund dessen sollten verschiedene gestaltungspolitische Perspektiven aus beiden Disziplinen auch auf den Teilbereich des politischen Systems gerichtet und miteinander verglichen werden. Dabei sollte die sozialwissenschaftliche Fachdidaktik jedoch wie hier geschehen um eine eigenständige „Strukturierung des Heterogenen“ (Hedtke 2005a, 28) bemüht sein anstatt der Einfachheit halber aus fachwissenschaftlichen Einführungsbüchern über Demokratietheorien (z.B. Schmidt 2006) und politischen Theorien (z.B. Brodocz/Schaal 2006a + b) vorgegebene Übersichten abbilddidaktisch in verkleinerter Form zu kopieren. Denn diese Darstellungen behandeln 1) überwiegend Theorien, die hinsichtlich ihrer konkreten institutionellen Konsequenzen für die heutige Zeit mehr oder weniger diffus bleiben, d.h. zu wenig genuine Gestaltungsorientierung aufweisen, demgegenüber aber diesbezüglich weit besser geeignete Theorien wie z.B. die von Christiano (1996) aussparen. Und 2) werden die wie gesehen essentiellen Beiträge aus der Ökonomik in diesen Büchern weitgehend ignoriert. Ein Vergleich entsprechender Beiträge aus der Ökonomik und der Politologie erweist sich aber wie gesehen im Gegensatz zu den Thesen des institutionenökonomischen Integrationsansatzes als möglich und sinnvoll, da die Ökonomik entgegen der Einschätzung von Kaminski (2007) sehr wohl auch eine `Macht-Wissenschaft´ darstellt. Die nicht belegte These des institutionenökonomischen Integrationsansatzes, dass die Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Disziplinen kaum miteinander zu vergleichen seien, da sich deren Frage- und Problemstellungen stark voneinander unterscheiden würden (Kaminski 2002, 65f.), erweist sich im vorliegenden Themenbereich als nicht zutreffend. Denn durch die Auseinandersetzung mit den drei aus der Politikwissenschaft und der Ökonomik stammenden Perspektiven kann man im Unterricht vielmehr eine Reihe von gemeinsamen kategorialen und globaler Solidaritätsfähigkeit – deutlich werden soll, dass Diktaturen kein Relikt der Vergangenheit darstellen, sondern ein Phänomen der Gegenwart sind. Der entscheidende Grund für die obige Zuordnung liegt (vor dem Hintergrund dieser Simultaneität dieser Probleme) aus gestaltungsorientierter Perspektive jedoch drittens insbesondere darin, dass Entwicklungshilfe sich angesichts der zurzeit zumeist diktatorischen Verhältnisse in diesen Ländern mit einen fundamentalen entwicklungspolitischen Zielkonflikt (Aspekt 2.3. des Strukturschemas in Kapitel 4.5.) zwischen Armutsbekämpfung und Demokratieförderung konfrontiert sieht. Denn die Entwicklungshilfe stützt auf direktem oder indirektem Wege die repressiven Regime, was nicht leicht zu vermeiden ist (siehe dazu ausführlich Pies & Wockenfuß 2008). Für das in dieser Arbeit postulierte zentrale Lernziel der Förderung einer komplexitätsbewussten gestaltungsorientierten Urteilsfähigkeit ist es daher essentiell, dass die Schüler ebendiesen Zielkonflikt sowie Lösungsansätze zur Überwindung dieses Zielkonflikts verstehen. Unabhängig davon ist die thematische Zuordnung des Aspekts Demokratie vs. Diktatur zur Armutsbekämpfung in Entwicklungsländern viertens in einem integrativen Fach auch deshalb sinnvoll, weil man so möglichen Zusammenhängen zwischen ökonomischen Variablen (z.B. Humankapital, Investition, Produktivität) und politischen Größen (z.B. Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte) auf die Spur kommen kann (Sunde 2006). Z.B. zeigen Blume/Voigt (2004, 3) theoretisch und empirisch, dass der Mangel bzw. der Umfang der Menschenrechte in einem Land sich negativ bzw. positiv auf dessen ökonomische Entwicklung auswirkt.
326
Wie kann man ein lebenswertes politisches System gestalten?
gestaltungsorientierten Problem- und Fragestellungen (s.u.) kontrovers erörtern. Die unterschiedlichen Antworten darauf lassen sich wie gezeigt sinnvoll miteinander vergleichen. a.
Mit Hilfe welcher politischer Entscheidungsverfahren bzw. Institutionen kann man politische Machtausübung angesichts der Prinzipal-Agenten-Problematik wirksam kontrollieren? Unter welchen institutionellen Bedingungen kann politische Herrschaft als legitim gelten?
b.
Welche politischen Entscheidungsverfahren bzw. Institutionen können angesichts der Tatsache unterschiedlicher und oft sogar konträrer gesellschaftlich-politischer Interessen der verschiedenen sozialen Gruppen (Pluralismus) als prozedural gerecht gelten? Inwiefern ist der Rückgriff auf das Mehrheitsprinzip hier gerechtfertigt?
c.
Welche politischen Entscheidungsverfahren bzw. Institutionen können als effektiv gelten, d.h. welche politischen Verfahren/Institutionen begünstigen – durch die Erhöhung der Qualität der politischen Deliberation – die Entdeckung und die politische Durchsetzbarkeit von inhaltlich angemessenen Problemlösungen?
d.
Welche politischen Entscheidungsverfahren bzw. Institutionen sind geeignet, politische Apathie / Politikverdrossenheit unter den Bürgern zu verhindern?
e.
Auf welche normative(n) Grundlage(n) soll man ein politisches System bauen?
f.
Welche Rolle spielen Interessengruppen in der politischen Willensbildung? Wie interagieren sie mit der Bevölkerung und der Regierung?
g.
Welcher politische Akteur soll die sog. Kompetenzkompetenz innehaben?
h.
Welche wünschenswerten und nicht wünschenswerten Wirkungen gehen von verschiedenen politischen Systemen auf ökonomische Strukturen aus?
i.
Wie sollen verschiedene politische Aufgaben den unterschiedlichen Ebenen eines föderalen Systems zugewiesen werden?
j.
Durch welche Charakteristika zeichnet sich das politische Denken und Verhalten des Durchschnittsbürgers aus? (Bürgerbild)
7.2 Gestaltungsorientierte Evaluation des politischen Systems der EU Für gestaltungsorientierte Fachdidaktik, die die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Gestaltung einer lebenswerten Gesellschaft in den Zielfokus rückt, stehen auch bei der Analyse des politischen Systems der Europäischen Union wiederum die Fragen nach der `Gerechtigkeit´ und der Problemlösungsfähigkeit der politischen Entscheidungsverfahren (Input- und Output-Legitimität) im Mittelpunkt. Diese problemorientierten Fragestellungen
Gestaltungsorientierte Evaluation des politischen Systems der EU
327
sind insbesondere deshalb von didaktischer Relevanz, weil viele Sozialwissenschaftler (s.u.) der EU ein erhebliches Demokratiedefizit attestieren und mit Blick auf die gescheiterten EU-Referenden (Frankreich 2005, Niederlanden 2005, Irland 2008) sowie angesichts eher skeptischer Umfragewerte bzgl. des Vertrauens in die EU-Demokratie in einigen Ländern von einer Auflösung des „permissiven Konsens“ (Lindberg/Scheingold 1970) sprechen, d.h. ein Ende der ehemaligen stillschweigenden Zustimmung der Bevölkerung gegenüber dem europäischen Einigungsprozess konstatieren (Beckert 2007; Hix 2007, 46-59; Schäfer 2006, 350; von Arnim 2006, 96-102). Zur Förderung gestaltungsorientierter Urteilsfähigkeit (im Sinne von Kapitel 3-5) werden deshalb sozialwissenschaftliche Perspektiven benötigt, die die analytisch-vergangenheitsorientierte Frage, wie man die Entwicklung der EU, das Verhalten bestimmter EU-Akteure etc. erklären kann, nicht als bloßen Selbstzweck verfolgen, sondern die solche Fragen im Rahmen einer normativen und zukunftsorientierten Stellungnahme zur These des Demokratiedefizits der EU gestaltungsorientiert einbetten, um so Optionen zur Steigerung oder Sicherung von Input- und OutputLegitimität der europäischen Polity aufzuzeigen. Die folgenden 4 Perspektiven erfüllen dieses Auswahlkriterium (siehe auch Abbildung 7 und Tabelle 6): a.
die sozialdemokratische58 Perspektive, die v.a. von Politikwissenschaftlern am MPIfG in Köln vertreten wird (v.a. Beckert 2007; Höpner/Schäfer 2007; Höpner 2008; Schäfer 2006; Scharpf 1999a, 2002, 2003; Treib 2006) und sich innerhalb des ideologischen Koordinatenkreuzes von Petrik (2007, 200f.) im südwestlichen Quadranten befindet, weil ihre Überlegungen im Vergleich zu den anderen Perspektiven zum einen die Gefährdung des Sozialstaats durch die heutige Form des Europäisierungsprozesses nachdrücklich betonen und stark von der normativen Prämisse der sozialen Gleichheit angeleitet sind und weil sie zum anderen angesichts des multinationalen Charakters der EU einer Stärkung parlamentarischer bzw. direktdemokratischer Verfahren sehr skeptisch gegenübersteht. Die sozialdemokratische Perspektive und ihr didaktischer Wert werden in Kapitel 7.2.1. näher expliziert.
b.
die intergouvernementale Perspektive, die vom US-amerikanischen Politologen Moravcsik vertreten wird (Keohane/Macedo/Moravcsik 2007; Moravcsik 1998, 2002, 2005, 2006, 2008; Moravcsik/Sangiovanni 2003; Moravcsik/Töller 2007) und innerhalb des ideologischen Koordinatenkreuzes von Petrik (2007, 200f.) im südöstlichen Quadranten anzusiedeln ist, weil sie zum einen eine Einschränkung der aus ihrer Sicht bisher hypertrophen Wohlfahrtsstaatlichkeit der europäischen Nationalstaaten durch die Stärkung grenzüberschreitender Wirtschaftsfreiheit aus fiskalisch-demografischen Gründen für dringend geboten erachtet und weil sie zum anderen die Stärkung des Bürgereinflusses durch Parlamentarisierung /Referenden als nicht zielführend ablehnt, sondern ganz auf die europapolitische Führungskompetenz der nationalen politischen Eliten und der Integrität der administrativen Experten in den europäischen Institutionen vertraut. Die intergouvernementale Perspektive und ihr didaktischer Wert werden in Kapitel 7.2.2. näher expliziert.
58 Mit diesem Attribut wird nicht behauptet, dass diese wissenschaftliche Perspektive völlig deckungsgleich mit der europapolitischen Position der SPD ist (wenngleich es Ähnlichkeiten gibt). Vielmehr folge ich hier der expliziten Bezeichnung dieser Perspektive durch Moravcsik/Sangiovanni (2003).
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Wie kann man ein lebenswertes politisches System gestalten?
c.
die föderative Perspektive, die von zwei (Konstitutionen-)Ökonomen an der Universität Münster (Apolte 1999, 2004; Kortenjann/Apolte 2006; Kortenjann 2007) vertreten wird und innerhalb des ideologischen Koordinatenkreuzes von Petrik (2007, 200f.) grosso modo im unteren Bereich des nordöstlichen Quadranten zu verorten ist, weil sie sich zum einen in Form einer vollständigen Parlamentarisierung der EU nach dem Vorbild der nationalstaatlichen Ebene für eine im Vergleich zur partizipativen Perspektive moderate Stärkung des direkten Einflusses der Bürger auf den europäischen Politikprozess ausspricht und weil sie zum anderen Sozialpolitik für eine nationalstaatliche Aufgabe erachtet, allerdings punktuell europapolitische Maßnahmen zur Absicherung europäischer Sozialstaatlichkeit empfiehlt, wobei die Argumentation jedoch bei weitem nicht die umfassende Betonung des Werts der Sozialen Gleichheit erkennen lässt wie dies für die sozialdemokratischen Perspektive gilt. Die föderative Perspektive und ihr didaktischer Wert werden in Kapitel 7.2.3. näher expliziert.
d.
die partizipative Perspektive, die von einigen anderen Ökonomen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz vertreten wird (Feld/Kirchgässner/Savioz 1999; Feld/ Kirchgässner 2004; Feld 2005; Kirchgässner 2006; Schneider 2006) und sich innerhalb des ideologischen Koordinatenkreuzes von Petrik (2007, 200f.) im oberen Bereich von – je nach Autor – einem der beiden nördlichen Quadranten befindet, weil alle Autoren für einen umfassenden Einbau direktdemokratischer Instrumente in das politische System der EU eintreten. Hinsichtlich der Frage nach einer Ansiedlung von steuer- und sozialpolitischen Kompetenzen auf europäischer Ebene und der damit verbundenen Haltung gegenüber dem Wert der Sozialen Gleichheit werden (neuerdings) zwischen den Autoren jedoch teilweise unterschiedliche Auffassungen vertreten (vgl. diesbezüglich v.a. Feld 2005 vs. Kirchgässner 2006, 168ff.). Die partizipative Perspektive und ihr didaktischer Wert werden in Kapitel 7.2.4. näher expliziert.
Durch die kontrastive In-Bezug-Setzung (eines Teils) dieser vier verschiedenen gestaltungsorientierten Perspektiven kann die Frage nach der angemessenen institutionellen Gestaltung des politischen Systems der EU und der Eignung von darauf bezogenen politischen Änderungsvorschlägen wie z.B. der Entwurf zu einer Europäischen Verfassung bzw. der Vertrag von Lissabon didaktisch kontrovers (Hedtke 2002a) erörtert werden. Dabei geht es didaktisch nicht darum, dass jeder einzelne Problemlösungsvorschlag, jede einzelne Ursachendiagnose, jedes einzelne Argument der Perspektiven im Unterricht thematisiert werden müsste. Deren unten folgende Beschreibung soll vielmehr nur Optionen aufzeigen, aus denen man auswählen kann, wenn man mit den Perspektiven bzw. einem Teil von diesen arbeiten will. Abschließend sollte erarbeitet werden, wo parteipolitische Positionen zur Weiterentwicklung der EU im Koordinatenkreuz zu verorten sind und in welcher Relation diese zu den wissenschaftlichen Perspektiven stehen (wobei zu bedenken ist, dass die wissenschaftliche Argumentation deutlich komplexer ist als die parteipolitischen Ausführungen (siehe dazu Kapitel 7.2.5.). Die Verortung der Parteien im Koordinatenkreuz entspricht dem Stand vom Sommer 2008.
Die Linke
Sozialpolitische Mindeststandards
Staat als ebenbürtige Verteilungsinstanz
FDP
Intergouvernementale Perspektive
Autorität, Hierarchie und Führung durch (europa)politische Eliten und Experten
CDU / CSU
Föderative Perspektive
Partizipative Perspektive
Sozialdemokratische Perspektive
SPD
Die Grünen
Kollektive Selbstbestimmung der Bevölkerung Europäische Basisdemokratie
Maximaler transnationaler Wettbewerb
Markt als primäre Verteilungsinstanz
Wirtschaftsfreiheit
Perspektiven zur Europäischen Integration im ideologischen Koordinatenkreuz von Petrik (2007)
Soziale Gleichheit
Abbildung 5:
Wie sollte das Verhältnis zwischen positiver und negativer Integration in der EU in Zukunft ausgestaltet werden? Bevorzugtes Zukunftsszenario
Existiert in der EU ein gravierendes Prinzipal-AgentProblem? Wenn ja, wo manifestiert es sich? Politische Implikationen der Abwesenheit eines europäischen Demos
Gibt es in der EU ein Demokratiedefizit? Wenn ja, worin manifestiert es sich?
Sozialdemokratische Perspektive Teilweise: Sozialpolitische Problemlösefähigkeit des Nationalstaats wird untergraben Teilweise, zwischen dem EuGH (Agent) und den nationalstaatlichen Regierungen (Prinzipale) Eine Demokratisierung der EU nach nationalstaatlichem Vorbild würde Konflikte verschärfen Positive Integration sollte gestärkt werden, um konstitutionelle Parität zwischen negativer + positiver Integration zu erreichen Steuer- und Sozialpolitische Mindeststandards
Ja, zwischen allen europäischen Politik-Organen (Agenten) und der europ. Bevölkerung (Prinzipal) Die Entstehung eines europ. Demos kann durch Reformen des politischen Systems der EU gefördert werden Intern zwischen den Autoren umstritten
Einführung von Direkter Demokratie
Ja, zwischen dem intergouvernementalem Rat (Agent) und den nationalstaatlichen Bevölkerugen (Prinzipale) Die Entstehung eines europ. Demos kann durch Reformen des politischen Systems der EU gefördert werden Schwerpunkt soll weiterhin auf der negativen Integration liegen
Durchgreifende Parlamentarisierung
Nein, vielmehr trägt die EU zum Abbau von Prinzipal-AgentProblemen auf nationalstaatlicher Ebene bei Eine Demokratisierung der EU nach nationalstaatlichem Vorbild würde Konflikte verschärfen Kontinuität der derzeitigen Intensität negativer Integration, um den ökonomischen Reformprozess in den Mitgliedsstaaten aufrecht zu erhalten Bewahrung des Status Quo
Partizipative Perspektive Ja: Mangelnder Einfluss der europäischen Bevölkerung
Föderative Perspektive Ja: Intergouvernementaler Überschuss
Intergouvernementale Perspektive Nein
Tabelle 4: Kontroverse Perspektiven zur Europäischen Integration
Gestaltungsorientierte Evaluation des politischen Systems der EU
331
7.2.1 Die sozialdemokratische Perspektive Die sozialdemokratische Perspektive ist didaktisch gut geeignet, das institutionelle Gerüst der EU und die in diesem politischen Rahmen getroffenen Entscheidungen nicht bloß institutionenkundlich zu deskribieren, sondern auch (einen bestimmten Teil davon) kritisch zu reflektieren und in diesem Sinne Mündigkeit (Massing 2005, 20) anzubahnen, um funktionalistischen Fehlschlüssen vom Sein auf das Sollen vorzubeugen. Aus sozialdemokratischer Perspektive ist es im Gegensatz zur föderativen und partizipativen Perspektive allerdings nicht die mangelnde direkte Einflussmöglichkeit der Bürger auf die im politischen System der EU getroffenen politischen Entscheidungen, sondern v.a. der im Rahmen der EU durchgesetzte ökonomische Integrationsprozess bzw. dessen Folgeeffekte, die demokratietheoretisch als problematisch angesehen werden. Denn durch die spezifische Form der heutigen Integration werde die wirtschafts- und sozialpolitische Pro-blemlösungsfähigkeit der nationalstaatlichen Politik in wichtigen Politikfeldern (Besteuerung mobilen Kapitals, makroökonomische Beschäftigungspolitik, Industrielle Beziehungen und Sozialpolitik) stark untergraben (Scharpf 1999a, 2002, 2003, 2007, 2009a). Das Verständnis dieser ebenenüberschreitenden Zusammenhänge ist für die gestaltungsorientierte Urteilsfähigkeit von hoher Relevanz, damit der zunehmende direkte, aber insbesondere auch der indirekte, teilweise verdeckte Einfluss europäischer Politik auf die nationale Lebenswirklichkeit erkannt wird und die Zuschreibung von politischer Verantwortlichkeit für bestimmte Probleme als auch die Suche nach entsprechenden Lösungen an der richtigen politischen Ebene ansetzt. Zugleich macht die sozialdemokratische Perspektive deutlich, dass didaktische Ansätze, welche die scheinbar rein politische Frage nach einem möglichen Demokratiedefizit der heutigen EU und nach der Legitimität des EUVerfassungsentwurfs ohne Rekurs auf die sozioökonomische Dimension der EU abhandeln (z.B. Detjen 2006b, 141-156), problematisch sind, weil sie dadurch zentrale Gesichtspunkte aussparen, die gerade aus der Sicht vieler EU-Bürger besonders wichtig sind (s.u.). Aus sozialdemokratischer Sichtweise ist das EU-Recht im Gegensatz zum deutschen Grundgesetz von einer „konstitutionellen Asymmetrie“ (Scharpf 2002, 645) geprägt, nämlich der Hegemonie des Wettbewerbsrechts, d.h. der negativen Integration, gegenüber dem Sozialrecht, der sog. positiven Integration (Scharpf 1999a: 47ff.; 2007: 13; Höpner/Schäfer 2007, 10). Das Verständnis dieser beiden Begriffe ist von fundamentaler Bedeutung, weil sie für die beiden zentralen unterschiedlichen (idealtypisch-kategorialen) gestaltungspolitischen Optionen zur Gestaltung des ökonomischen Systems der EU stehen, welche hier jeweils (in Reinform) die beiden verschiedenen Enden der x-Achse des ideologischen Koordinatensystems (Petrik 2007, 200ff.) und damit zwei wichtige Orientierungspunkte bei der Ausbildung politischen Persönlichkeit repräsentieren. Unter negativer Integration werden alle marktschaffenden politischen Maßnahmen verstanden, die den Wettbewerb zwischen ökonomischen Akteuren durch den freien, grenzüberschreitenden Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr im Rahmen des Binnenmarktes intensivieren. Nach der sozialdemokratischen Perspektive kommt es infolge von negativer Integration zu einer volkswirtschaftlichen (Unterbietungs-)Konkurrenz der nationalen Abgaben-, Regulierungsund Steuersysteme um die Anwerbung mobiler ökonomischer Akteure bzw. Faktoren. Der Begriff der positiven Integration umfasst dagegen alle marktkorrigierenden politischen Maßnahmen, die steuer-, sozial-, konjunktur- und arbeitspolitische(s) Standards bzw. Han-
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Wie kann man ein lebenswertes politisches System gestalten?
deln europaweit mehr oder weniger koordinieren bzw. harmonisieren und den SystemWettbewerb so zumindest teilweise einschränken. Infolge der konstitutionellen Asymmetrie zu Gunsten der negativen Integration sei die nationale Politik in den einzelnen europäischen Staaten immer weniger in der Lage, die Arbeitnehmer wie bisher durch einen ausgebauten Sozialstaat gegen die sozialen Risiken des Kapitalismus, die dadurch ausgelösten Unsicherheitsgefühle und die ökonomische Macht der überlegenen Marktseite (Unternehmen) (Beckert 2007, 8; Höpner 2008, 47) zu schützen. Die zunehmende Frustration dieser Interessen der Bevölkerung(smehrheit) untergrabe die Output-Legitimität sowohl der europäischen als auch der nationalen Politik, d.h. erzeuge bei den Bürgern Politikverdrossenheit, Zynismus sowie politische Anomie (Scharpf 1999a, 11f.) und sei hauptverantwortlich dafür, dass diese in Referenden den europäischen Integrationsprozess mehrheitlich ablehnen (Beckert 2007). Dementsprechend werde die EU laut empirischen Befragungen von den Bürgern hinsichtlich der Steuer- und Sozialpolitik nicht als Problemlöser, sondern als Problemverschärfer betrachtet (Schäfer 2006, 369). Im Falle einer Auseinandersetzung mit der sozialdemokratischen Perspektive ist darauf Acht zu geben, nicht ein unangemessenes Zerrbild einer `anti-sozialen´ EU im Kopf der Schüler entstehen zu lassen. So kann z.B. relativierend festgestellt werden, dass von der EU durchaus auch eine Reihe von mehr oder weniger anspruchsvollen, z.T. deutlich über damalige nationale Standards hinausgehende Richtlinien betreffend den Arbeitsschutz und die Arbeitsbedingungen erlassen wurden (Eichener 2000: 33ff., 52ff.; Eichhorst 2000). Allerdings kann dann auch wiederum kritisch herausgearbeitet werden, dass die dadurch erreichte Einschränkung des regulativen Wettbewerbs selbst auf diesem Gebiet dennoch beschränkt ist, da die praktische Implementation dieser arbeitsrechtlichen Richtlinien durch bestimmte Staaten (Mittelmeerländer, Osteuropa) gravierende Defizite aufweist und die Kommission die ihr obliegende Rechtsdurchsetzungspolitik nur unzureichend wahrnimmt, weil sie intern andere Prioritäten setzt (Falkner 2003, 2004). Im Mittelpunkt bei der Auseinandersetzung mit der sozialdemokratischen Perspektive müsste jedoch die Klärung des kontraintuitiven Paradox stehen, wie es zu erklären ist, dass nationale Regierungen auf europäischer Ebene Verträge miteinander vereinbaren, deren makroökonomische Wirkungen ihre Problemlösefähigkeit auf der nationalen Ebene beeinträchtigen und dadurch z.T. Widerstand bei ihrer Bevölkerung gegen den europäischen Einigungsprozess provozieren. Hierfür werden v.a. die aufgrund von Kompromisszwängen zwischen den Akteuren/Staaten nicht selten relativ vage formulierten Verträge in Kombination mit der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) als „höchste Instanz der EU“ (Scharpf 2008, 21) verantwortlich gemacht. Dessen subtiler, aber immenser Einfluss (Scharpf 2007: 11f., 14f.) bleibt in einigen Schulbüchern (Detjen 2006b, 142ff.; Floren 2006, 390ff.) überraschenderweise völlig unterbelichtet, obwohl der EuGH für die Beurteilung des EU-Systems von zentraler Bedeutung ist (s.u.). Am Handeln des EuGH lässt sich didaktisch exemplifizieren, wie politische59 Entscheidungen problematische Folgewirkungen nach sich ziehen können (Paradox der problemverursachenden Politik, Kapitel 4.2.), weil dieser sein Handeln oft nicht am Code „Recht/Unrecht“, geschweige denn am Kriterium der Problemlösung, sondern am Kriterium der europäischen Integration als Selbstzweck 59
Dass der EuGH mit gutem Recht (auch, wenn nicht sogar in erster Linie) als politischer Akteur zu bezeichnen ist, zeigt z.B. die Analyse von Scharpf (2007, 13-15).
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(siehe dazu die Analyse bei Scharpf 2007, 14-15) ohne große Rücksicht auf eventuelle Nebenfolgen orientiert. Aus sozialdemokratischer Perspektive wird dabei v.a. kritisiert, dass der EuGH das grenzüberschreitende europäische Wettbewerbsrecht und die damit verbundenen vier Freiheiten nicht einfach nur anwendet, sondern dieses häufig in einer derart extensiven Art und Weise interpretiere und so eine stark wirtschaftsliberal wirkende Politik betreibe, die nicht im Einklang mit den Intentionen der Mitgliedsstaaten zur Zeit der Verabschiedung des Vertragswerks stehe (Höpner/Schäfer 2007, 12; Scharpf 1999a, 64; Scharpf 2008, 19; Scharpf 2009a). Auf diese Weise werde das demokratische Prinzip der Gewaltenteilung untergraben. Insofern mangele es nicht nur an Output-, sondern auch an Input-Legitimität, was ein gravierendes Demokratiedefizit konstituiere, zumal sich der EuGH nicht für seine Entscheidungen vor den Bürgern verantworten muss. Insofern ist es sehr problematisch, wenn der EuGH in manchen Schulbüchern (Mattes 1999, 260) als unparteiischer „Schutzmann der Gemeinschaft“ charakterisiert wird, der „aufpasst, dass die Regeln eingehalten werden.“ Didaktisch kommt es vielmehr darauf an, den in der Figur der Justitia zum Ausdruck kommenden Glauben an die Neutralität des EURechtswesens und die damit verbundene alltagstheoretische Unterscheidung zwischen politischem, Gesetze verabschiedendem Subsystem und rechtlichem, Gesetze anwendendem Subsystem andererseits durch kritische Erörterung zu irritieren. Gerichte sind (auch) als politische Akteure zu begreifen (Rehder 2007). Zur Verdeutlichung der Machtposition des EuGH ist dabei herauszustellen, dass die Mitgliedsländer dessen Entscheidungen aufgrund des Vorrangs des europäischen gegenüber dem nationalen Recht nur durch eine entsprechende Änderung der Verträge unterbinden können. Angesichts der dafür erforderlichen Einstimmigkeit ist dies jedoch sehr schwierig, da einige Staaten bzw. deren Regierungen von der Rechtssetzung des EuGH ökonomisch bzw. ideologisch profitieren. In didaktischer Hinsicht kann man mit der sozialdemokratischen Perspektive somit nicht nur das kritische Denken fördern, sondern zugleich wichtige Interdependenzen zwischen dem politischen und dem wirtschaftlichen Bereich im Rahmen der EU aufzeigen, denen für die ökonomische Lebensqualität der europäischen Bürger im Allgemeinen und der sozialen Ungleichheit im Besonderen als einer Schlüsselkategorie sozialwissenschaftlicher Bildung (Weber 2004) eine erhebliche Relevanz zukommt. Zur Vertiefung dieser Zusammenhänge kann auch auf die mit dem europäischen Integrationsprozess verbundenen intrastaatlichen, sozioökonomischen Interessenkonflikte (Kapitel 4.3.) zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten eingegangen werden, um die teilweise divergierenden Folgen des Integrationsprozesses für verschiedene soziale Gruppen und die aufgrund dessen konträren Perspektiven auf die EU aufzuzeigen (Perspektivenwechsel, Breit 1999). Auf diese Weise lassen sich zugleich exemplarisch die politische, ökonomische und gesellschaftliche Dimension des europäischen Integrationsprozesses integrieren, denn die empirisch zu beobachtenden Konfliktlinien entsprechen weitgehend der theoretischen Argumentation der sozialdemokratischen Perspektive. So stellen z.B. Hooghe (2003, 283) und Hix (2007: 49f., 51f., 59f.) eine deutliche Kluft zwischen der mobilen politisch-ökonomischen Elite und der Durchschnittsbevölkerung bzgl. der Unterstützung der EU-Mitgliedschaft ihres jeweiligen Landes fest (so auch Fligstein 2008, 145f.). Je höher das ökonomische und kulturelle Kapital (Bourdieu 1982) des Bürgers, desto höher die Zustimmung zur (heutigen Form der) europäischen Integration. Überdies zeigt sich, dass die Durchschnittsbevölkerung bzgl. der Frage, welche Politik-
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felder europäisiert werden sollten und welche nicht, empirisch deutlich andere Präferenzen äußert als die europäischen und nationalen politisch-ökonomischen Eliten (Hooghe 2003, 283-296). In diesen differenten Sichtweisen kommt die Bedeutung der oben aufgezeigten Unterscheidung zwischen negativer und positiver Integration zum Ausdruck: “Elites desire a European Union capable of governing a large, competitive market; citizens are more in favour of a caring European Union, which protects them from the vagaries of capitalist markets. (…) As the single market intensifies labor market volatility, the public seems intent to contain this risk through selectively Europeanizing policies that flank market integration: employment, social policy, cohesion policy, environment, and industrial policy. Elite preferences do not follow this logic. Instead, their views are consistent with a functional rationale, which conceives European integration as an optimal solution for internalizing externalities beyond the nation state and for reaping economies of scale.” (Hooghe 2003, 296)
Gleichwohl kann didaktisch mit Blick auf das Prinzip der Kontroversität herausgearbeitet werden, dass der sozialdemokratischen Kritik an der bisherigen Form des europäischen Integrationsprozesses implizit sowohl ein bestimmtes normatives Sozialstaatsideal als auch bestimmte Annahmen über die Funktionsweise von Arbeitsmärkten zugrunde liegen, die man nicht unbedingt teilen muss. Dies lässt sich durch Kontrastierung der sozialdemokratischen Perspektive mit der intergouvernementalen Perspektive (Kapitel 7.2.2.) verdeutlichen, die im europäischen Integrationsprozess und der damit verbundenen Entpolitisierung bestimmter Politikinhalte auch ein notwendiges Korrektiv z.B. gegenüber einem hypertrophen, daher ökonomisch nicht nachhaltigen Wohlfahrtsstaat und gegenüber der Benachteiligung von Minderheitsinteressen (z.B. Arbeitsmarkt-Outsider) im Nationalstaat erblickt. Komplementär dazu kann man auch die oben dargestellten europapolitischen Präferenzen der Durchschnittsbevölkerung kritisch diskutieren, indem man z.B. aufzeigt, dass diese unter Rückgriff auf die politische Theorie des US-Ökonomen Caplan (2007) auch als Ausfluss einer politisch rationalen ökonomischen Irrationalität interpretiert werden können (siehe dazu bereits Kapitel 7.1.3.1.3.). Zuvor sollte die oben vorgestellte abstrakte General-These der sozialdemokratischen Perspektive jedoch anhand von mindestens einem Policy-Beispiel exemplarisch konkret veranschaulicht und zugleich kritisch diskutiert werden, anhand dem zugleich erkennbar wird, auf welch z.T. indirekten, verschlungenen Wegen europäische Politik heutzutage auf nationale Institutionen einwirkt. Didaktisch offen zu erörtern wäre dabei jeweils, inwiefern die heutige Form des europäischen Integrationsprozesses sowohl a) die Summe als auch b) die Verteilung von (ökonomischen) Verwirklichungschancen tangiert und inwieweit dies als legitim gelten kann oder nicht. Eine entsprechende Möglichkeit dazu bietet das bereits in Kapitel 6.1.1. angeführte Beispiel der europäischen Unternehmenssteuerpolitik bzw. des Steuerwettbewerbs (Ganghof/Genschel 2007; Genschel/Rixen/Uhl 2007), der als (un)beabsichtigte Nebenfolge auch die Progressivität und damit die Umverteilungskapazität der Einkommensteuer erodieren lasse, was mit Blick auf das Schlüsselproblem der sozialen Ungleichheit (Weber 2004) von Bedeutung ist. Die europapolitische Ätiologie dieser sozioökonomischen Problematik liegt dabei erstens darin begründet, dass die derzeitige, ideologisch eher wirtschaftsliberal geprägte EU-Kommission, die das Initiativmonopol für europäische Gesetzgebung besitzt, trotz (zeitweiser) Aufforderungen aus Deutschland und Frankreich bisher nicht bereit war,
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einen entsprechenden Vorschlag zu erarbeiten. Zweitens wäre mit Blick auf die Herausarbeitung von Interessenskonflikten (Kapitel 4.3.) und die Frage nach der politischen Durchsetzbarkeit (Kapitel 4.4.1.) herauszustellen, dass es angesichts des Widerstands der vom Steuerwettbewerb profitierenden Länder mit niedrigen Steuersätzen (z.B. Irland, Litauen) und des Einstimmigkeitsprinzips auf dem Feld der Steuerpolitik auf absehbare Zeit sehr schwierig sein wird, sich im Rat auf das von der sozialdemokratischen Perspektive geforderte Mindeststeuerniveau zu einigen. Drittens sei jedoch auch entscheidend, dass der EuGH durch seine Rechtssprechung zugleich wirksame unilaterale Abwehrmaßnahmen der Einzelstaaten gegen unternehmerische Steuerarbitrage massiv erschwere. Denn er ermögliche die Verschiebung von in Hochsteuerländern anfallenden, also unter Nutzung von deren Infrastruktur entstandenen Gewinnen in Niedrigsteuerländer durch buchhalterische Tricks der Unternehmen, indem er diese betriebswirtschaftliche Praxis als ein durch die vier Freiheiten geschütztes Recht ansehe und einzelstaatliche Gegenmaßnahmen als eine unzulässige Beschränkung der vier Freiheiten interpretiere. Folglich bewirke seine Rechtssprechung auf indirekte Weise einen deutlichen Steuersenkungsdrall (Genschel/Rixen/Uhl 2007: 303305, 310-313; Scharpf 2007, 13). Mit Blick auf das Kontroversitätsprinzip kann diese kritische `politologische´ Sichtweise mit `ökonomischen´ Analysen kontrastiert werden, die den europäischen Steuerwettbewerb für begrüßenswert erachten (z.B. Boss 2003). Über den Steuerwettbewerb hinaus befürchten Scharpf (1999a, 2002) sowie Cantillon (2004) einen von grenzüberschreitend mobilen ökonomischen Akteuren insgesamt forcierten Wettbewerb der Sozialsysteme in der EU, in dessen Gefolge sozialstaatliche Leistungen über Gebühr eingeschränkt zu werden drohten (Treib 2006, 260). Um eine solche „Tyrannei des regulativen Wettbewerbs“ (Scharpf 1999a, 160) zu verhindern, plädieren sie zwar nicht für die Errichtung eines einheitlichen europäischen Sozialstaats, da dies angesichts der unterschiedlichen ökonomischen Leistungsniveaus der Staaten und der kulturellen Heterogenität der Präferenzen der Bevölkerung weder politisch konsensfähig noch ökonomisch angemessen sei. Allerdings befürworten sie die Festschreibung von verbindlichen sozialpolitischen Mindeststandards für jedes Mitgliedsland, deren Niveau aber von der jeweiligen ökonomischen Leistungskraft des Staates abhängig sein soll (sog. „KorridorModell“). Konkret schlagen Brusis (2002, 7), Busch (1998), Cantillon (2004) und Scharpf (1999a, 159f. & 2002) einen nationalen prozentualen Mindestanteil der gesamten öffentlichen Sozialausgaben am nationalen BIP pro Kopf vor. Dieser verbindliche Mindestprozentsatz soll wiederum mit der Höhe des BIP pro Kopf korrelieren. Beispielsweise hätte ein ökonomisch weniger reiches Land wie Portugal dann die Vorgabe zu erfüllen, z.B. ca. 15% seines BIPs pro Kopf für öffentliche Sozialausgaben aufzuwenden, während das volkswirtschaftlich wohlhabendere Dänemark einen verbindlichen Mindestanteil von z.B. ca. 30% seines BIPs pro Kopf für öffentliche Sozialausgaben aufwenden müsste60. Eine weitere Möglichkeit zur konkreten Veranschaulichung der These der sozialdemokratischen Perspektive, dass die insbesondere vom EuGH vorangetriebene negative Integration sozialstaatliche Institutionen auf der nationalen Ebene unterminiert, stellt das Politikfeld der Industriellen Beziehungen dar. Diesbezüglich kann man zum Beispiel auf die Ersetzung des Verwaltungssitzprinzips durch das Gründungsrechtsprinzips in der 60 Realiter müssten die Bestimmungen etwas komplizierter ausfallen: so müssten unterschiedlich hohe nationale Arbeitslosenraten entsprechend berücksichtigt werden (Scharpf 1999, 160), d.h. ein Land darf seine Mindestausgabenquote nicht durch eine hohe Arbeitslosigkeit erreichen. Dasselbe gilt für unterschiedliche demografische Altersstrukturen.
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Rechtssprechung des EuGH und dessen indirekte problematische Folgen für die Aufrechterhaltung der deutschen Mitbestimmung eingehen: „Nun aber scheint es so zu sein, als hätte der Europäische Gerichtshof nichts besseres zu tun als deutschen Unternehmensleitungen, die sich nicht länger von ihren Belegschaften auf die Finger sehen lassen wollen, ein breites Tor in andere europäische Unternehmensverfassungen zu öffnen, in denen die Arbeitnehmer eine geringere oder gar keine Rolle spielen. (…) Wie tief soll ein Gericht, und sei es noch so europäisch, im Namen eines freien Kapitalverkehrs in die über Jahrzehnte gewachsene und bewährte Wirtschaftsverfassung eines souveränen Nationalstaats eingreifen und den Mehrheitswillen eines gewählten Parlaments außer Kraft setzen dürfen? Wo ist der Punkt erreicht, an dem die Freiheit des Marktes hinter der Freiheit der demokratischen Willensbildung zurückstehen muss?“ (Streeck 2007, 12f.; meine Hervorhebung, T.H.)
Worum geht es? Nationale Gerichte in kontinentaleuropäischen Staaten wenden in unternehmensrechtlichen Fragen traditionell das sog. Verwaltungssitzprinzip an. Demnach ist ein Unternehmen dem nationalen Unternehmensrecht desjenigen Staates unterworfen, in dem es seinen Verwaltungssitz hat, d.h. in dem die grundlegenden Entscheidungen der Unternehmensleitung effektiv in Geschäftsführungsakte umgesetzt werden. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass das Recht desjenigen Staates herangezogen werden sollte, dessen Belange das Unternehmen am stärksten berührt. Diese Praxis stimmt mit dem derzeitig gültigen, von den Mitgliedstaaten vereinbarten Vertrag über die Europäische Union überein (Art. 48). In einer Reihe von Entscheidungen zu Rechtsstreitigkeiten zwischen Firmen und staatlichen Behörden zwischen 1999 und 2003 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) das europäische Recht jedoch eigenmächtig weiterentwickelt, indem er das sog. Gründungsrechtsprinzip anwendet und den Mitgliedsstaaten vorschreibt. Nach dem Gründungsrechtsprinzip ist ein Unternehmen den gesetzlichen Bestimmungen desjenigen Staates unterworfen, in dem es rechtlich gegründet worden ist, unabhängig davon, ob es in diesem Staat seinen Verwaltungssitz hat oder ob es dort Geschäfte irgendwelcher Art betreibt. So erlaubte es der EuGH der dänischen Firma Centros und der niederländischen Firma Inspire, ihre Unternehmen nach britischen (laxeren61) Recht in Form einer britischen Ltd. zu gründen, auf die nur das britische Unternehmensrecht angewendet werden kann – obwohl die dänische/niederländische Firma ihre Geschäfte nur in Dänemark bzw. in den Niederlanden betreibt. Der dänische/ niederländische Staat verlor so das Recht, den nur auf seinem nationalen Gebiet operierenden Unternehmen sein nationales Unternehmensrecht aufzuzwingen. Dadurch kommt es zu einem direkten Wettbewerb der nationalen Rechtssysteme in Europa. Denn nun steht es z.B. jedem deutschen Unternehmen, das mit dem deutschen Unternehmensrecht unzufrieden ist, frei, sich für ein ausländisches Unternehmensrecht zu entscheiden, auch wenn es weiterhin seine Geschäfte in Deutschland betreibt und dort seinen Sitz führt. Daher haben die Urteile des EuGH in Deutschland zu einem Boom von Unternehmensgründungen nach britischem (laxerem) Unternehmensrecht in Form der britischen Ltd. geführt. Für das kooperative Kapitalismusmodell Deutschlands stellt dies aus Sicht der sozialdemokratischen Perspektive (Höpner/Schäfer 2007) langfristig insofern eine erhebliche Gefährdung dar, als zum nationalen Unternehmensrecht auch die deutschen 61 Zum Beispiel beträgt das zur Gründung erforderliche Mindeststammkapital einer deutschen GmbH € 25000, wohingegen bei der britischen Ltd. nur € 1,40 `verlangt´ werden.
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Mitbestimmungsgesetze zählen, die nun umgangen werden können. Es sei – angesichts der zu erwarteten Proteste der Belegschaft – zwar nicht zu erwarten, dass deutsche Großunternehmen diese Möglichkeit dazu nutzen würden, der deutschen Mitbestimmung zu entfliehen. Gleichwohl sei zu erwarten, dass sich im Laufe der Zeit, mit dem Wachstum neu gegründeter Firmen, allmählich eine heterogene Mitbestimmungslandschaft in Deutschland herausbilde, die den Druck auf den deutschen Gesetzgeber erhöht, das Niveau der Mitbestimmungsrechte zu senken. Darüber hinaus implizieren neuere Urteile des EuGH für viele Mitgliedsstaaten eine „völlige Änderung ihres Arbeitskampfrechts“ (Rebhahn 2008), in denen die sozialdemokratische Perspektive einen „Angriff auf Arbeitnehmerrechte“ und „ein Grundrecht auf ungestörtes Sozialdumping“ (Höpner 2008: 49, 48) erblickt. Denn gemäß den Urteilen des EuGH in den Fällen „Viking“ und „Laval“ ist das Streikrecht der Arbeitnehmer fortan einer – im bundesdeutschen Recht unbekannten – Verhältnismäßigkeitskontrolle unterworfen, d.h. die Ausübung des Streikrechts darf die vier Freiheiten in der EU nicht beschränken bzw. nur dann, wenn zwingende Gründe des Allgemeininteresses vorliegen. An diese Bedingung werden hohe Anforderungen geknüpft. So erklärte der EuGH – nach schwedischem Recht legitime – Arbeitskampfmaßnahmen einer schwedischen Bauarbeitergewerkschaft für unzulässig, die darauf zielten, ein Bauunternehmen nach lettischem Recht, welches Arbeitnehmer zum Bau einer Schule nach Schweden entsandt hatte, auf den schwedischen Bautarifvertrag zu verpflichten. Ein in ähnlicher Weise ablehnendes Urteil sprach der EuGH im Fall Viking, in welchem es um – nach finnischem Recht legitime – Kampfmaßnahmen einer finnischen Gewerkschaft und eines transnationalen Gewerkschaftsverbandes ging, die ein finnisches Fährunternehmen davon abhalten sollten, finnische Tarifstandards durch Umflaggung seiner Schiffe auf estnisches Recht zu unterlaufen. Schließlich erklärte der EuGH im Fall „Rüffert“ die vom Bundesland Niedersachsen praktizierte Kopplung der Vergabe von öffentlichen Aufträgen an die Einhaltung von Tarifstandards für unzulässig, sofern diese nicht generell in der BRD für allgemeinverbindlich erklärt worden sind. Damit setzt er staatliche Regelungen außer Kraft, die vom deutschen Bundesverfassungsgericht zuvor explizit als legitim anerkannt worden waren. Didaktisch wäre im Falle der Erörterung solcher Fallbeispiele mit Blick auf das Kontroversitätsprinzip zu bedenken, dass man die Entscheidungen des EuGH unter Rückgriff auf die institutionenökonomische Perspektive auf den Arbeitsmarkt (siehe dazu bereits Kapitel 6.1.2.) auch als Mittel zur teilweisen Unterbindung von Tarif-Kartellen und somit als (zumindest partiellen) Schutz der Teilhabechancen von osteuropäischen Arbeitnehmern bzw. der Arbeitsmarkt-Outsider begrüßen kann, die im politischen Prozess auf der nationalen Ebene strukturell benachteiligt sind (Wagner/Jahn 2004). Insbesondere kann man dabei die sozialdemokratische Begründung des generellen Vorrangs des Streikrechts mit der populären Ausbeutungs-These, d.h. der Existenz eines auch heute noch gegebenen „strukturellen, asymmetrischen Abhängigkeitsverhältnis kapitalistischer Arbeitsverträge“ (Höpner 2008, 47) kritisch prüfen und diskutieren, indem man diese Sichtweise mit den institutionenökonomischen Einwänden konfrontiert. Exemplarisch zeigt sich auch hier, dass man vermeintlich `politikwissenschaftliche´ Legitimitäts-Fragestellungen (Kruber 2005, 79f.) ohne Rückgriff auf ökonomische Theorien kaum sinnvoll diskutieren kann. Ähnliches gilt auch für ein weiteres Beispiel, anhand dessen die sozialdemokratische Perspektive die mangelnde Input- und Output-Legitimität der Hegemonie der negativen Integration aufzeigen möchte (Höpner/Schäfer 2007). Gemäß Art. 50 des derzeit geltenden
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EU-Vertrags haben die Mitgliedsstaaten vereinbart, dass ein Staat A die auf seinem Gebiet operierenden Dienstleistungsunternehmen aus einem fremden Staat B gegenüber den Dienstleistungsunternehmen aus A im ökonomischen Wettbewerb nicht durch strengere gesetzliche Vorschriften benachteiligen darf. Diese Wettbewerbsgleichheit ist laut Art. 50 dann erfüllt, wenn Staat A seine Rechtsvorschriften auf alle Unternehmen unabhängig ihrer nationalen Herkunft anwendet (Bestimmungslandprinzip). Im Gegensatz dazu sah die von der EU-Kommission im Januar 2004 vorgeschlagene Dienstleistungsrichtlinie im Art. 16 vor, dass Wettbewerbsgleichheit nur dann erfüllt sei, wenn Staat A seine von ihm erlassenen Gesetzesvorschriften nicht auf die fremden Dienstleistungsunternehmen aus Staat B anwendet, auch wenn diese auf dem Staatsgebiet von A tätig sind. Stattdessen sollten sich die Dienstleistungsunternehmen aus dem Staat B auch bezüglich ihrer Tätigkeit in Staat A nur noch an die für sie in ihrem Heimatstaat B geltenden Rechtsvorschriften halten müssen (Herkunftslandprinzip). Bedeutsam ist zudem, dass Staat B auch weitgehend allein für die Überwachung der Einhaltung dieser Vorschriften auf fremden Boden zuständig sein sollte. Zwar wurde im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens in der schließlich verabschiedeten Richtlinie in Folge der von seiten des EUParlaments durchgesetzten Änderungen ein Katalog von Ausnahmen vom sachlichen Geltungsbereich der Richtlinie festgelegt (z.B. Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, Gesundheits- und Pflegedienstleistungen). Ansonsten blieb die semantische Substanz des Herkunftslandprinzips jedoch erhalten, wenngleich es semiotisch nun als „Prinzip des erleichterten Dienstleistungsverkehrs“ bezeichnet wird. Zudem interpretiert der EuGH das übrige bestehende Vertragswerk in seinen Urteilen häufig im Sinne des Herkunftslandprinzips, sodass sich dieses langfristig auf juristischem Wege dennoch durchsetzen könnte. Aus sozialdemokratischer Perspektive (Höpner/Schäfer 2007) impliziert das Herkunftslandprinzip eine massive Deregulierung, ja sogar eine problematische De-Institutionalisierung ökonomischer Aktivität, d.h. ein regulatives Race-to-the-Bottom bei den Verbraucher- und Arbeitnehmerschutzrechten, weil so der Errichtung von Briefkastenfirmen in Staaten mit fehlenden bzw. niedrigen Regulierungsstandards Vorschub geleistet werde (Scharpf 2007, 13). Integrationsdidaktisch ist es reizvoll, diese kritische, politologische Ansicht mit der Perspektive einiger liberaler Ökonomen (Donges/Eekhoff/Franz/Fuest/Möschel/Neumann 2007) zu kontrastieren, die nachdrücklich für eine generelle Anwendung des Herkunftslandprinzips plädieren. Demzufolge übertreffen die gesamtwirtschaftlich dauerhaft positiven Wirkungen des durch das Herkunftslandprinzip verschärften Wettbewerbs der Dienstleistungsanbieter und der Regulierungssysteme für die Verbraucher (niedrigere Preise, mehr Innovativität, größere Wahlfreiheit) die Umstellungskosten der inländischen Dienstleistungsunternehmen und ihrer Beschäftigten. Die durch den Regulierungswettbewerb sinkenden Arbeitskosten seien überdies ein probates Mittel, die Arbeitslosigkeit in der BRD zu senken. Gerade kleinen und mittleren Dienstleistungsfirmen aus dem Ausland könne nicht zugemutet werden, sich in die komplexen deutschen Regulierungsvorschriften einzuarbeiten. Didaktisch wäre also auch ein (`anti-nationalistischer´) Perspektivenwechsel (Breit 1999) angebracht, der nicht nur die Gefahren des Herkunftslandprinzips für die inländischen Arbeitnehmer und Produzenten, sondern auch die Chancen für ökonomische Akteure aus dem Ausland berücksichtigt. Überdies empfiehlt sich, die Schüler zu einem Perspektivenwechsel in die für sie zumeist wohl weniger naheliegende Sichtweise des deutschen
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Unternehmers und damit zugleich auch zu einer kritischen Reflexion der recht einseitigen Interpretation der Problematik bei Höpner/Schäfer (2007) zu veranlassen. Hierzu kann man z.B. mit einigen bei Maier (2007) aufgeführten Fallbeispielen arbeiten, die zeigen, wie deutsche Unternehmen im Ausland bei Geltung des Bestimmungslandprinzips gegenüber Inländern diskriminiert werden können. Gleichwohl sind angesichts der hohen Bedeutung des relativen Einkommens für das subjektive Wohlbefinden (Layard 2005, 53ff.) auch die möglicherweise stark ungleichheitsverschärfenden Effekte des Herkunftslandprinzips im jeweiligen Inland zu bedenken. Jedenfalls lassen sich aus Sicht einer integrativen Didaktik auch hier jeweils eine Perspektive aus der Politologie und der Ökonomik sinnvoll miteinander vergleichen und so ein kontroverses „Denken in ordnungspolitischen Zusammenhängen“ (Kruber 2005, 93) fördern. In die Thematisierung dieser wissenschaftlichen Kontroverse kann man zugleich die dazu inhaltlich parallel verlaufende Kontroverse zwischen deutschen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden um die inhaltliche Ausgestaltung der Richtlinie einbinden (vgl. Maier 2007, 33ff.), um eine zentrale gesellschaftliche Interessenskonfliktlinie dieses Themas aufzuzeigen (Kapitel 4.3.). Gestaltungsorientierte Urteilsfähigkeit kann aber erst dann angebahnt werden, wenn auch die gestaltungspolitischen Schlussfolgerungen, die sich aus der sozialdemokratischen Perspektive nicht nur für einzelne europäische Policies, sondern auch die EU-Polity ergeben, thematisiert werden. Auf dieser Basis kann sich der Schüler dann auch durch einen entsprechenden Abgleich ein informiertes Urteil zu der für die Herausbildung einer politischen Persönlichkeit wichtigen Frage bilden, welche Haltung man persönlich zum Entwurf einer europäischen Verfassung bzw. dem Vertrag von Lissabon einnehmen soll. Im Gegensatz zur föderativen Perspektive betrachtet die sozialdemokratische Perspektive Vorschläge, die das supermajoritäre politische System der EU über eine Parlamentarisierung an die majoritäre Polity der europäischen Nationalstaaten annähern oder gar angleichen wollen, mit sehr großer Skepsis (Scharpf 1999a, 19f.; Scharpf 2007, 16; Schäfer 2006, 365-368). Die dahinterstehende Begründung ist wichtig, um Schüler für die Problematik möglicher Fehlschlüsse von der nationalen auf die internationale Ebene zu sensibilisieren. So sollte deutlich werden, dass die Reduktion von Demokratie auf Mehrheitsentscheidungen (Petrik 2007, 229) auf EU-Ebene aus soziokulturellen Gründen als besonders problematisch angesehen werden kann. Denn aus sozialdemokratischer Perspektive ist der derzeitige supermajoritäre Entscheidungsmodus im Rahmen des Dreiecks Kommission, Rat und Parlament mit seinen zahlreichen Vetopunkten mit Blick auf die Input-Legitimität voll-kommen legitim, denn er zwingt die Beteiligten, möglichst viele nationale Interessen zu berücksichtigen und sich in Expertenrunden (wie z.B. in der Komitologie) auf konsensfähige Entscheidungen zu einigen (Scharpf 2003: 17, 2006: 5). Aufgrund der Multinationalität der EU sei dieser ausgeprägt konsoziative Charakter der EU-Polity sehr empfehlenswert, denn die nationalstaatliche Mehrheitsdemokratie basiere auf soziokulturellen Voraussetzungen, die auf europäischer Ebene nicht gegeben seien. Einer Annäherung der supermajoritären EU-Polity an die Form der nationalen Mehrheitsdemokratien müsse es zwangsläufig an Legitimität mangeln, da es angesichts der Unterschiede zwischen den nationalen Kulturen keinen europäischen Demos gebe. Innerhalb der Bevölkerung existiere – erst recht nach der Osterweiterung – kein kollektives europäisches Bewusstsein (d.h. ein grundlegendes Gemeinschaftsgefühl), das sich mindestens genauso stark mit Europa wie mit dem eigenen Land identifiziere und frei von Vorurteilen gegen-
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über anderen Nationen sei. So bezieht sich das Zugehörigkeitsgefühl der großen Mehrheit der Bürger laut empirischen Studien überwiegend auf die eigene Nation anstatt auf Europa (Schäfer 2006, 366; Fligstein 2008: 123ff., 141f.). Ein europäischer Demos sei jedoch eine Voraussetzung dafür, dass 1) die in Mehrheitswahlen unterlegene Minderheit ihre politische Niederlage und die politischen Beschlüsse der Parlamentsmehrheit akzeptiere und 2) die siegreiche Mehrheit nicht bloß (nationale) Eigeninteressen distributiver Natur verfolge, sondern zumindest grundsätzlich gemeinwohlorientiert handele. In Abwesenheit eines solchen Demos werde eine Majorisierung der EU daher nur das Konfliktpotential zwischen den (Völkern der) Mitgliedsstaaten erhöhen. Auch die obige `soziologische´ Argumentation bietet wiederum Möglichkeiten zur (komparativ-konfrontativen) Integration von Politologie und Ökonomik, denn einige Ökonomen der föderativen und partizipativen Perspektive argumentieren – quer zu den bisweilen in der Politikdidaktik gepflegten disziplinären Klischees (Scherb 2005) – genau umgekehrt, dass man bei den Bürgern ein europäisches Bewusstsein durch direktere politische Einflussmöglichkeiten (Parlamentarisierung bzw. Direktdemokratisierung) generieren solle (siehe Kapitel 7.2.3. und 7.2.4.). Eine weitere wichtige Vergleichsdimension in diesem Sinne und ein damit verbundener kategorialer Unterschied zwischen diesen Perspektiven, der didaktisch ebenfalls herausgearbeitet werden kann, besteht darin, dass die sozialdemokratische Perspektive mit Scharpf (ebenso wie die intergouvernementale Perspektive) bei der obigen Argumentation in legitimitätstheoretischer Hinsicht davon ausgeht, dass die politischen Vertreter der europäischen/nationalen Interessen im Parlament/Rat/Komitologie im Großen und Ganzen als vertrauenswürdige Sachwalter des europäischen/nationalen Gemeinwohls angesehen werden können, wohingegen für die föderative und die partizipative Perspektive die Prinzipal-Agent-Problematik zwischen Bevölkerung und Volksvertretern den Kern des europäischen Demokratiedefizits bildet. Die sozialdemokratische Perspektive verfolgt hingegen das Ziel, „konstitutionelle Parität“ (Scharpf 2002, 645) zwischen europäischem Wettbewerbs- und Sozialrecht herzustellen (ebd., 662). Dazu wird zunächst eine Fortentwicklung des politischen Zielkatalogs des EU-Vertrags durch die Aufnahme und gleichberechtigte Stellung sozialpolitischer Maßnahmen in Art. 3 dieses Vertrags empfohlen (Scharpf 2002, 659f.). Dies soll zum einen das Gewicht sozialpolitischer Kriterien in der Rechtssprechung des EuGH stärken und zum anderen die Basis für eine Erweiterung des Art. 137 bilden, welche die Verabschiedung von verbindlichen Richtlinien mit differenzierten sozialpolitischen Mindeststandards im obigen Sinne ermöglichen würde. Diese Richtlinien und deren Einhaltung durch die Nationalstaaten sollen im Rahmen der Offenen Methode der Koordinierung (OMK)62 erarbeitet, festgesetzt und überprüft werden. Bisher produziert die die OMK nur unverbindliches `Soft Law´. Nach dem Vorschlag Scharpfs soll die OMK künftig (differenziertes) `Hard Law´ in Form der obigen sozialpolitischen Mindeststandards verabschieden (Scharpf 2002, 665). Solange eine konstitutionelle Verankerung des Sozialstaatsprinzips nicht erreicht werden kann, plädiert Scharpf (2008, 23) für einen in prozedural verantwortliche Kanäle gelenkten zivilen Ungehorsam der Mitgliedsstaaten gegenüber dem EuGH, indem sie dessen jeweilige Rechtsprechung im Rat zur Abstimmung stellen (Scharpf 2009a, 31). Auf diese Weise würde zum einen gewährleistet, dass der EUGH stärkere Anreize habe, das legitime Recht 62 Bei der OMK handelt es sich um eine EU-Institution, in dem die nationalen Sozialministerien in Kooperation mit einem speziellen EU-Kommissionsressort und nach abschließender Autorisierung durch den Europäischen Rat sozialpolitische Ziele festlegen, entsprechende Indikatoren definieren, die Zielerreichung evaluieren etc.
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auf (sozial)politische Selbstbestimmungsfähigkeit der EU-Staaten zu respektieren; zum anderen würde aber auch verhindert, dass jedes einzelne Land das EU-Recht nach eigenem diskretionären (protektionistischen) Gusto brechen könne. Um in didaktischer Hinsicht wissenschaftliche Argumentation und aktuelles politisches Geschehen aufeinander beziehen zu können, kann man der Fragestellung nachgehen, wie sich der Vertrag über eine Europäische Verfassung (EVV) bzw. die damit in ihrer Substanz identischen Verträge von Lissabon der EU aus der sozialdemokratischen Perspektive darstellen. Diesbezüglich kann dann einerseits festgestellt werden, dass zwar weder die EVV noch die Verträge von Lissabon der EU nennenswerte neue sozialpolitische Kompetenzen übertragen. Andererseits gibt es jedoch (drei) Indizien für die These, dass die beiden Verträge im Falle allseitiger Ratifizierung die bisherige oben dargestellte konstitutionelle Asymmetrie der EU zu Lasten des Sozialen für sich genommen deutlich lindern (Brusis 2004), wenn nicht gar aufheben (Treib 2006: 19f., 30) würden. Erstens wurde die Charta der Grundrechte in die Verträge übernommen, die auch eine ganze Reihe von sozialen Grundrechten enthält (Art. II-87 bis II-98 EVV bzw. Art. 6 EUVertrag Lissabon). Zweitens wurden erstmals sozialpolitische Werte wie Bekämpfung sozialer Ausgrenzung und Diskriminierung, Förderung der sozialen Gerechtigkeit und des sozialen Schutzes, Solidarität zwischen den Generationen und der Schutz der Rechte von Kindern in den Zielkatalog der EU aufgenommen (Art. I-2 und I-3 EVV bzw. Art. 3 EUVertrag Lissabon). Drittens wurde eine horizontale Sozialklausel in die Verträge eingefügt, welche die Akteure der EU dazu verpflichtet, bei all ihren Tätigkeiten den Erfordernissen eines hohen Beschäftigungsniveaus, eines angemessenen sozialen Schutzes, der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung, des Gesundheitsschutzes sowie eines hohen Niveaus der allgemeinen und beruflichen Bildung Rechnung zu tragen (Art. III-117 EVV bzw. Art. 9 AEU-Vertrag Lissabon). Vertreter der sozialdemokratischen Perspektive erhoffen sich von diesen neuen konstitutionellen Prinzipien eine stärkere Berücksichtigung sozialpolitischer Belange in der Rechtssprechung des EuGH (Treib 2006, 20). Mit Blick auf das didaktische Urteilskriterium der politischen Durchsetzbarkeit (Kapitel 4.4.1.) lässt sich zeigen, dass dieses Ergebnis angesichts des heftigen Widerstands einiger Mitgliedsländer (Großbritannien sowie einige mittel- und osteuropäische Staaten) und der Tatsache, dass innerhalb des Verfassungskonvents lange Zeit überhaupt keine Beschäftigung mit sozialpolitischen Themen geplant war, aus sozialdemokratischer Sicht wohl das zurzeit maximal erreichbare Verhandlungsergebnis darstellt (Kaufmann/Wolfram 2008, 115-117). Wie ist dann aber jene `Ironie der Demokratie´ zu erklären, dass die EU-Verfassung trotz dieser signifikanten sozialpolitischen Verbesserungen durch die Referenden in den Niederlanden und Frankreich abgelehnt wurde, wenn es doch zumindest vielen französischen Bürgern insbesondere um das Thema der sozioökonomischen (Un)sicherheit ging (Beckert 2007, 3)? Die Klärung dieser Frage kann Schülern exemplarisch zeigen, wie wichtig es ist, dass Wähler und damit auch sie selbst – zumindest bei solch grundlegenden politischen Weichenstellungen wie der Verabschiedung einer Verfassung – sich auf selbständige Weise vernünftig und differenziert über zentrale politische Sachfragen informieren, sofern sie wollen, dass Demokratie nicht nur formal, sondern auch faktisch die Herrschaft der Präferenzen der Mehrheit bedeuten soll. Denn das Problem bestand darin, dass es in der Bevölkerung zwar viel diffuses emotionales Unbehagen an `der´ EU gab, aber laut eigener Aussage nur etwa 11% bekannt war, worin die zentralen Eckpunkte des Verfassungsver-
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trags bestanden. Selbst diese 11% zeigten bei entsprechenden Wissensfragen eine hohe Fehlerquote (Beckert 2007, 3).
7.2.2 Die intergouvernementale Perspektive Mit Blick auf das Kontroversitätsprinzip und zur Prävention der Gefahr, dass die kritische Haltung gegenüber der existierenden sozialen Realität zum bloßen Selbstzweck degeneriert, kann bei der gestaltungsorientierten Diskussion der In- und Output-Legitimität der EU auch eine Position berücksichtigt werden, die die These eines wie auch immer gearteten Demokratiedefizits der EU im Gegensatz zu den anderen drei Perspektiven als nicht überzeugend zurückweist. Denn wie die kontroverse Debatte um die Schriften des USamerikanischen Politologen Andrew Moravcsik zeigt (siehe z.B. das Diskussionsforum in der PVS 2/2006), ist die Auffassung, dass bzgl. der Existenz eines Demokratiedefizits in der EU in der Wissenschaft ein „breiter Konsens“ (Massing 2004, 151) herrsche, nicht zutreffend. Vielmehr lässt sich an der Verteidigung der derzeitigen EU-Polity durch Moravcsik – wie bereits auch an der liberal-konstitutionellen Perspektive (Kapitel 7.1.3.) – lernen, dass man Demokratie entgegen einem alltagstheoretischen Verständnis nicht ohne weiteres mit umfassender und unmittelbarer Partizipation aller Bürger ineinssetzen sollte, sodass diese Prämisse zumindest einer tiefergehenden Reflexion bedarf, die auch die unbeabsichtigten Nebenwirkungen (Kapitel 4.4.2.) entsprechender Reformvorschläge berücksichtigt. Moravcsik zufolge zeichnet sich die heutige EU-Polity durch eine hohe politische Legitimität aus. Denn die politische Aktivität der EU beschränke sich im Wesentlichen auf einen relativ bescheidenen Teilbereich des gesamten Politikspektrums, nämlich der Durchsetzung der vier Freiheiten des grenzüberschreitenden Binnenmarktes. Dabei sorge sie für eine effektive supranationale Beseitigung grenzüberschreitender negativer Externalitäten (z.B. negativer Effekte durch Protektionismus) (Moravcsik 2002, 607). Die darüber hinausgehende finanzpolitische Kapazität der EU, die sich auf die Agrar- und Strukturpolitik konzentriert, sei im Vergleich zu den Nationalstaaten ebenso eng umgrenzt wie die Brüsseler Bürokratie. In quantitativer Hinsicht zeige sich, dass nur etwa ein Fünftel bis ein Drittel der nationalen Gesetzgebung durch die EU beeinflusst werde (Moravcsik/Töller 2007; Moravcsik 2008, 173). Entscheidend sei jedoch, dass die europäische Regulierung nur in jenen Politikfeldern überdurchschnittlich hoch ausfalle, denen die Wähler laut Umfragen keine besonders große Bedeutsamkeit zuwiesen (Moravcsik 2006, 223ff.). Denn die für die europäischen Bürger wichtigsten Politikfelder seien laut empirischen Studien die Gesundheits-, Bildungs-, Alterssicherungs-, Sozial- und Steuerpolitik sowie der Bereich Recht & Ordnung, in denen die EU jedoch nur über geringe Kompetenzen verfügt (Moravcsik 2002: 607, 615). Im Gegensatz zu diesen konkreten Policy-Fragestellungen habe der Bürger kein Interesse, sich über konstitutionelle Verfassungsdebatten zu informieren, sodass das äußerst geringe Sachwissen der Bürger über den Entwurf zur EU-Verfassung nicht verwundere. Wie die negativen Referenden in Frankreich und den Niederlanden zum Verfassungsvertrag (2005) zeigten, würde eine verstärkte Parlamentarisierung oder gar Direktdemokratisierung der EU deshalb lediglich dazu führen, dass europafeindlich-nationalistische Demagogen das geringe Wissen der Bürger über die EU ausbeuten, indem sie diese durch Diskreditie-
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rung der EU verunsichern und populistisch-sachfremde Debatten über populäre nationaloder regionalpolitische Themen anheizen, für welche sie der EU dabei eine Kompetenz unterstellen, die sie in Wirklichkeit nicht besäße (Moravcsik 2006, 227; Moravcsik 2008, 179). So sei die öffentliche Debatte im Vorfeld der EU-Referenden 2005 von emotionalisierten Themen beherrscht gewesen, die wenig mit dem Inhalt des EU-Verfassungsentwurfs zu tun gehabt hätten. Hieraus erkläre sich das Paradox, dass die breite Mehrheit der Bürger in Umfragen zwar den zentralen Inhalten des Verfassungsentwurfs zustimme (wenn direkt nach diesen gefragt wird), der Entwurf als solcher jedoch abgelehnt wurde (Moravcsik 2006: 234, 236). Je intensiver und breiter die Partizipation (Input-Legitimität), desto geringer die Repräsentativität der Politik (Output-Legitimität). Eine Politisierung der EU sei daher äußerst kontraproduktiv. Mit der intergouvernementalen Perspektive lässt sich also der mögliche kontraintuitive Wirkungszusammenhang (Behrmann/Grammes/Reinhardt 2004, 373) diskutieren, dass mehr Bürgerpartizipation gerade nicht dazu führt, die Umsetzung der `wahren´ politischen Präferenzen der Bürger zu fördern. Diese skeptische Argumentation aus der Politologie kann man didaktisch sinnvoll mit dem von den Ökonomen der föderativen und insbesondere der partizipativen Perspektive vertretenen optimistischen Argumentation vergleichen, die eine intensive Politisierung insbesondere von Verfassungsentscheidungen aus Legitimitätsgründen für sehr wünschenswert halten und dabei davon ausgehen, dass die politische Kompetenz der Bürger proportional mit ihren Beteiligungsrechten wachsen werde. Diese Argumentation weist Moravcsik (2006) als empirisch nicht haltbar zurück. Eine entsprechende didaktische Inbezugsetzung dieser beiden – sich bisher wechselseitig ignorierenden – Argumentationen der verschiedenen fachwissenschaftlichen Perspektiven ist sinnvoll, weil diese beiden konträren Positionen die Endpunkte der y-Achse des ideologischen Koordinatenkreuzes von Petrik (2007, 200ff.) widerspiegeln und damit zwei grundsätzlich verschiedene politische Optionen zur Gestaltung des politischen Systems der EU darstellen. Dabei kann auch hier wie bereits in Kapitel 7.1. deutlich werden, dass gestaltungspolitische Konzepte in hohem Maße von unterschiedlichen Bürgerbildern unterlegt sind, deren empirische Evidenz zu prüfen wäre. Ebenso kann es didaktisch sinnvoll sein, Moravcsiks These von der angeblich geringen Bedeutsamkeit der EU für die aus Bürgersicht wichtigen Politikfelder kritisch durch Kontrast mit der sozialdemokratischen Perspektive (und den von ihr angeführten Beispielen) zu hinterfragen, um die kategoriale Erkenntnis zu verdeutlichen, dass formalrechtlicher Anschein und faktisches Sein in der Politik nicht übereinstimmen müssen. Im vorliegenden Zusammenhang bedeutet dies, dass die EU womöglich in für die Bürger salienten Politikfeldern auf indirektem Wege Wirkungen erzeugt („Spillovers“), obwohl ihr für diese Politikfelder seitens der Mitgliedsstaaten keine direkte politische Kompetenz eingeräumt worden ist. Demgegenüber argumentiert Moravcsik, dass die derzeitige supermajoritäre Ordnung der EU (Initiativmonopol der Kommission, Mitentscheidungsrechte des Parlaments auf vielen Politikfeldern, Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit bzw. Einstimmigkeit im Rat) aufgrund der vielen Anlaufstellen für gesellschaftliche Interessen und hohen Einigungshürden zwangsläufig dazu führe, dass sich das politische Handeln der EU auf jene politischen Sachfragen beschränke, in denen zwischen den beteiligten Akteuren aufgrund von gemeinsamen Interessen, Kompromissen oder Paketlösungen ein sehr breiter Konsens zu erreichen sei (Moravcsik 2002, 609f.; Moravcsik 2005, 34; Keohane/Macedo/Moravcsik 2007, 5). Didaktisch kann man diese These Moravcsiks insofern kritisch diskutieren, als
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supermajoritäre Systeme den Status Quo privilegieren, der zwar den Präferenzen einer früheren Generation entspricht, was jedoch nicht unbedingt auch für die sich möglicherweise gewandelten Präferenzen der Mehrheit der gegenwärtigen Generation gelten muss. Demokratietheoretisch entscheidend ist aus Sicht von Moravcsik jedoch insbesondere die zentrale Stellung der Regierungen der Mitgliedsstaaten im Rat, der aus intergouvernementaler Perspektive von Beginn an die Richtung der Europapolitik eindeutig determiniert (Moravcsik 1998). Die Regierungen haben sich nach Moravcsik ausschließlich auf (zumindest langfristig) nationalökonomisch paretooptimale Beschlüsse (v.a. wechselseitige Liberalisierung) eingelassen, deren spätere konkrete politische Verwirklichung und Durchsetzung sie zur Etablierung von „credible commitments“ (Moravcsik 1998) an supranationale Agenturen (Kommission und EuGH) delegiert haben, weil ihre Zusagen angesichts des jeweils zu erwartenden Widerstands gut organisierter Partikularinteressen auf nationaler Ebene anderenfalls wenig glaubwürdig wären. Diese Politik habe der europäischen Bevölkerung v.a. in Form einer reziproken Handelsliberalisierung zu einer deutlichen Steigerung ihrer ökonomischen Lebensqualität verholfen, sodass die Output-Legitimität der EU im Gegensatz zur These der sozialdemokratischen Perspektive in hohem Maße gewährleistet sei (Moravcsik 2008, 158). Da nichts gegen die (qualifizierte Mehrheit der) Regierungen der Mitgliedsstaaten im Rat beschlossen werden könne und diese Regierungen wiederum durch ihre Wiederwahlrestriktion in den nationalen Wahlen gegenüber der Bevölkerung rechenschaftspflichtig seien, sei auch Input-Legitimität gesichert (Moravcsik 2002, 612; Moravcsik 2008, 175). Weil der Verfassungsentwurf / der Vertrag von Lissabon an dem intergouvernementalen Charakter der EU nichts ändert, sei an diesen Verträgen inhaltlich nichts auszusetzen (Moravcsik 2006, 236). Diese affirmative Argumentation aus der Politologie kann man didaktisch gut mit der kritischen Argumentation der Ökonomen der föderativen und der partizipativen Perspektive vergleichen, aus deren Sicht Moravcsiks Argumentation nicht haltbar ist, weil für sie die Beziehung zwischen den Bevölkerungen und den mitgliedsstaatlichen Regierungen durch massive Prinzipal-Agent-Probleme gekennzeichnet ist. Die kontroverse Auseinandersetzung mit diesem kategorialen Denkschema ist für die Beurteilung der Legitimität der heutigen Form der EU von erheblicher Bedeutung und kann deshalb ausführlich diskutiert werden (s.u.). Moravcsik würde dem obigen Einwand entgegen halten, dass die EU genau umgekehrt eine effektive Lösung für wirtschaftspolitische Prinzipal-Agent-Probleme auf nationaler Ebene darstellt. Ihm zufolge versetzt die EU in ihrer heutigen Struktur die staatlichen Exekutiven in die Lage, sich dem auf der nationalen Ebene dominierenden politischen Druck von gut organisierten partikularistischen Interessengruppen zu entziehen, die dort ihre konzentrierten Minderheitsinteressen oft auf Kosten der kaum organisierten, da eher diffusen Interessen der Allgemeinheit durchsetzen können (Moravcsik 2002, 614; Keohane / Macedo/Moravcsik 2007: 17 & 22). Moravcsiks These ist eine Variante des in der internationalen Politikwissenschaft verbreiteten „collusive delegation argument“ (Dür 2007, 2-8). Demnach habe die partielle Verlagerung von Politik auf die europäische Ebene es den Regierungschefs insbesondere ermöglicht, ein wohlfahrtssteigerndes internationales ExekutivKartell gegen starke protektionistische Interessen in der Heimat zu bilden und so das Interesse der Allgemeinheit an freien Handelsbeziehungen durchzusetzen. Auf EU-Ebene nehme die Einflussmöglichkeit nationaler partikularistischer Interessengruppen deutlich ab.
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Moravcsik greift hierbei implizit auf eine These zurück, die er in einem älteren Artikel (Moravcsik 1994) ausführlicher begründet hatte. Erstens falle die Kontrolle der internationalen Verhandlungen zwischen den Regierungen durch die nationalen Parlamente als primärem Einfallstor partikularistischer Interessen aufgrund der zumeist konstitutionell verankerten Vorrechte der Exekutiven in der Außenpolitik oft sehr schwach aus. Zweitens erzeuge die mangelnde Öffentlichkeit der Verhandlungen im Europäischen Rat und im Ministerrat Informationsasymmetrien zwischen den Exekutiven und den nationalen Akteuren (Parlament, Interessengruppen) hinsichtlich der Verhandlungsinhalte, -strategien und – spielräume sowie des Abstimmungsverhaltens. Drittens werde eine ex-post-Ablehnung der Ratifizierung des Verhandlungsergebnisses durch das heimische Parlament auf Druck von nationalen Interessengruppen bestenfalls in Extremfällen erwogen, um eine selbstschädigende Bloßstellung der Regierung (mit eventuell folgender Regierungskrise und Machtverlust) bzw. des Landes im nationalen bzw. internationalen Kontext zu vermeiden. Schließlich genießt viertens die entsprechende politische Durchsetzung und Kontrolle des vereinbarten Vertragsrechts durch supranationale Akteure wie der Kommission und dem EuGH umfassenden Vorrang vor nationalem Recht und sei politisch somit nicht mehr anfechtbar. Den von der sozialdemokratischen Perspektive kritisierten neoliberalen Bias der EUPolitik interpretiert er entsprechend dieser These ebenfalls als eine wünschenswerte, da gesamtwirtschaftlich notwendige Bändigung des bisherigen politischen Übergewichts gut organisierter Partikularinteressen (z.B. Gewerkschaften) gegenüber dem diffusen Allgemeininteresse (z.B. Steuerzahler, Verbraucher) oder benachteiligten Interessen (z.B. Arbeitslose) auf der nationalen Ebene (Moravcsik/Sangiovanni 2003, 134ff.): “EU policies promoting economic liberalization only partially offset a pervasive tendency among European national polities to offer levels of social protection and labor market rigidity in favor of `insiders´ (pensioners and older high-wage workers) – policies that are, largely for demographic and fiscal reasons, unsustainable. In this way, too, the EU can be seen as balancing short-sighted special interests.” (Keohane/Macedo/Moravcsik 2007, 23)
Didaktisch kann am Vergleich der beiden Perspektiven exemplarisch aufgezeigt werden, dass die Bedeutung des Urteilskriteriums der Output-Legitimität nicht ontologisch festgelegt ist, sondern mit ganz unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen verbunden werden kann. Ebenso wie der niederländische Politologe Mair (2005, 21ff.) vertritt Moravcsik somit die für den Alltagsverstand paradox anmutende These, dass gerade der gegenüber den nationalen Demokratien wenig ausgeprägte partizipativ-elektorale Charakter der EU deren Output-Legitimität stärke, da sie Politiker gegen den Widerstand mächtiger Partikularinteressen und die von diesen ausgebeutete mangelhafte Sachkompetenz der Bürger abschotte und so in die Lage versetze, makroökonomisch sinnvolle Reformen durchzuführen, die auf nationaler Ebene wenig Durchsetzungschancen besäßen. Die von der föderativen perspektive empfohlene Parlamentarisierung der EU würde genau diese Vorteile hingegen wieder zunichte machen (Mair 2005, 24; Moravcsik 1994, 56). Es ist deutlich zu erkennen, dass diese `politologische´ Argumentation sich symbiotisch zu `wirtschaftswissenschaftlichen´ Überlegungen aus der Neuen Politischen Ökonomie (Caplan 2007; Wagner/Jahn 2004, 366ff.; Saint-Paul 2000; siehe dazu bereits Kapitel 7.1.3.) verhält, die an dieser Stelle im Unterricht komplementär hinzugezogen werden können. Auch hier zeigt sich somit, dass
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das didaktische Ziel bei der gestaltungspolitischen Evaluation von Polities nicht darin bestehen sollte, von den Schülern ein Bekenntnis zur partizipativen Demokratisierung der EU zu verlangen, sondern mögliche Zielkonflikte zwischen politischer Input-Legitimität (verstanden als umfassende Partizipation) und ökonomischer Output-Legitimität zu reflektieren. Anhand der intergouvernementalen Perspektive lassen sich somit denkbare ebenenübergreifende Interdependenzen zwischen politischem und ökonomischem System aufzeigen sowie damit verbundene zentrale ordnungspolitische Zusammenhänge (Kruber 2005, 93) erörtern. Allerdings sollte dabei zum Ausdruck kommen, dass Moravcsiks Ausführungen eine theoretische Hypothese darstellen, die didaktisch nach Möglichkeit nicht nur einer exemplarischen Veranschaulichung, sondern insbesondere auch einer empirischen Prüfung anhand von exemplarischen Fallstudien bedarf. Letztere lässt sich zugleich gut in den Rahmen eines Vergleichs mit der föderativen oder der partizipativen Perspektive einbetten, wenn man sich dabei auf die kategoriale Prinzipal-Agent-Problematik fokussiert. Mit einer rein abstrakten Darstellung der Funktionsweise der EU-Polity (wie z.B. in den Schulbuchkapiteln von Detjen (2006b, 141ff.) und Heither/Klöckner/Wunderer (2007, 152ff.)), d.h. ohne exemplarisch-repräsentative empirische Fallstudien oder Politikfeldanalysen kann man sich mit der Frage nach einem eventuellen Demokratiedefizit kaum vernünftig auseinandersetzen. Denn wie soll die Schülerin diese Frage beurteilen, wenn sie vorher gar nichts darüber erfahren hat, welche konkreten politischen Maßnahmen von `der´ EU aufgrund welcher Machtverhältnisse infolge welcher institutionellen Konstellationen beschlossen worden sind? Zur Auseinandersetzung mit der Legitimitätsfrage ist es somit unabdingbar, dem Zusammenhang zwischen Polity, Politics und Policies in der EU nachzugehen. Das sich dann stellende didaktische Problem, dass Moravcsik in seinen Beiträgen zur Debatte um das demokratische Defizit auf einen systematischen empirischen Nachweis seiner Theorie und entsprechende exemplarische Fallstudien verzichtet, läßt sich zunächst dadurch beheben, dass man auf sein Hauptwerk (Moravcsik 1998) zurückgreift. Dort geht es ihm zwar nicht um das Demokratiedefizit, sondern um die eher akademische Debatte, ob eher supranationale oder nationale Akteure in der Vergangenheit den Gang der europäischen Integration bestimmt haben, doch lassen sich die ausführlichen Fallstudien in diesem Buch vielleicht gerade deshalb zur unvoreingenommenen Überprüfung seiner These verwenden. Didaktisch sinnvoll sind diese Fallstudien auch deshalb, weil sie die Interdependenz zwischen Ökonomie und Politik anhand der zentralen historischen Meilensteine des europäischen Integrationsprozesses (Römische Verträge 1957, Einheitliche Europäische Akte 1986, Vertrag von Maastricht 1992) exemplifizieren. Auf diese Weise lässt sich in wissenschaftspropädeutischer Hinsicht zugleich die Bereitschaft und Fähigkeit zur kritischen Distanz und Analyse gegenüber wissenschaftlichen Theorien anstelle eines naiven Vertrauens in Expertenaussagen (Klafki 1996, 171) anbahnen. Denn bemerkenswerterweise lassen Moravcsiks eigene Fallstudien doch zumindest einige Zweifel an dem von ihm im Kontext der Debatte um das demokratische Defizit vertretenen „collusive delegation argument“ aufkommen – und damit zugleich auch an seiner demokratietheoretischen Rechtfertigung der heutigen EU-Polity. So betont Moravcsik (1998) in seiner narrativen historischen Analyse nicht etwa, wie sehr das politische Handeln der Regierungen stets im Einklang mit den diffusen, breit gestreuten Interessen der Bevölkerung(smehrheit) gestanden hätte, sondern verweist vielmehr explizit auf den starken Einfluss konzentrierter nationaler ökonomischer Interessengruppen
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auf das Handeln der Regierungen und damit den Fortgang der europäischen Integration (ebd.: 473, 475f.). So wird an seiner Analyse des Zustandekommens der Römischen Verträge in den 50ern und deren inhaltlicher Ausfüllung in den 60er Jahren deutlich, dass es kaum übertrieben ist, das damalige Handeln der politisch Verantwortlichen in Deutschland und Frankreich als determiniert durch die Interessen mächtiger nationaler ökonomischer Produzentengruppen zu bezeichnen (Moravcsik 1998: 102, 113, 135, 200f., 235). Die Liberalisierung, d.h. damals der allmähliche Abbau von Zöllen im industriellen Sektor war demnach nicht Folge einer geschickten Emanzipation der Regierungsexekutiven von den protektionistischen Interessen zum Wohle der Konsumenten und des europäischen Friedens, sondern in erster Linie Ergebnis des massiven politischen Einfluss der international hochgradig wettbewerbsfähigen deutschen Industrie. Auch der Abbau nicht-tarifärer Handelshemmnisse im Rahmen der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 erfolgte mit breiter Unterstützung durch ebendiese industriellen Interessen und nicht gegen diese (ebd.: 318, 344). Während in diesem Bereich Partikular- und Allgemeininteresse mehr oder weniger zufälligerweise zusammenfielen, galt dies für die in den 60er Jahren beschlossene Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) jedoch nicht. Den liberalen, relativ stark an den Interessen der Konsumenten ausgerichteten Vorschlag der Hallstein-Kommission scharf zurückweisend wurde der europäische Agrarsektor durch den Rat zwar auf Drängen der politisch mächtigen französischen Bauernschaft nach innen geöffnet. Zugleich wurde die Landwirtschaft jedoch auf massiven Druck der französischen, insbesondere aber der deutschen Agrarlobby nach außen aus Gründen mangelnder internationaler Wettbewerbsfähigkeit auf Kosten der europäischen Konsumenten und Steuerzahler seit Mitte der 60er noch stärker protektionistisch abgeschottet als das ohnehin schon vorher der Fall war (Moravcsik 1998, 159ff.). Auch hinsichtlich der Wegbereitung und Ausgestaltung der EWU im Vertrag von Maastricht (1992) wird deutlich, dass das ökonomische Interesse der deutschen Exportindustrie an einem wettbewerbsfähigen Wechselkurs (angesichts der starken Aufwertungstendenzen der DM gegenüber anderen Währungen und zur Verhinderung kompetitiver Abwertungen seitens anderer europäischer Staaten) bei gleichzeitig stabiler Inflation eine wichtige Rolle gespielt hat (Moravcsik 1998: 381, 388, 392f.), während sich die deutsche Bevölkerung(smehrheit) an die DM klammerte (ebd., 394f.) und viele Ökonomen die wirtschaftliche Sinnhaftigkeit dieses politischen Projektes aus wissenschaftlichen Gründen verneinten (ebd., 381). Neben Moravcsiks eigenen Fallstudien kann man sich zur empirischen Überprüfung der Überzeugungskraft der intergouvernementalen Perspektive eine Reihe von weiteren europäischen Politikfeldanalysen anderer Autoren zunutze machen, anhand deren sich ebenfalls die Interdependenz von Wirtschaft und Politik erörtern lässt, wie z.B. die Sozialpolitik (siehe vorheriges Kapitel 7.2.1.), die Fischerei- und Wettbewerbspolitik (s.u.) sowie die Landwirtschafts- und Umweltpolitik (siehe nächstes Kapitel 7.2.3.). Die europäische Fischereipolitik eignet sich didaktisch gut als exemplarisches Politikfeld zur Überprüfung der intergouvernementalen Legitimierung der EU durch Moravcsik, weil sie ein ökologisches Schlüsselproblem globalen Ausmaßes betrifft, daher für die künftige Lebensqualität von hoher Relevanz ist, ein Denken in komplexen, netzwerkartigen Systemzusammenhängen (Kruber 2005, 90) fördert und eine Auseinandersetzung mit dem kategorialen Denkschema der Dilemmasituation erfordert. Integrationsdidaktisch betrachtet können sich dabei `politologische´ (z.B. Franchino/Rahming 2002; Koeppel 2005; Payne
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2000) und `ökonomische´ (z.B. Jensen 1999; Hannesson 2004; Hentrich 2004) Analysen wechselseitig gut ergänzen. Die Common Fisheries Policy (CFP) wird von allen Seiten insbesondere in ökologischer Hinsicht als ein eindrucksvolles Exempel für massives, dauerhaftes Politikversagen betrachtet (Hentrich 2004: 116, 122ff.; Payne 2000, 304), da sie eine deutliche Überfischung der europäischen Gewässer nicht verhindert, sondern sogar fördert. Sie ist somit geradezu ein Paradebeispiel für das Paradox der problemverursachenden Politik (Kapitel 4.2.), weil sie die Sach- und Interessenkonflikte (Kapitel 4.3.) zwischen der von den Fischern angestrebten sozioökonomischen Sicherheit und der von Umweltgruppen favorisierten ökologischen Nachhaltigkeit nicht nur nicht gelindert, sondern vielmehr erheblich verschärft hat. Lediglich 15% der europäischen Fischbestände werden heute nachhaltig bewirtschaftet; viele Arten sind akut vom Aussterben bedroht (Hentrich 2004, 116). Zwar kann diese Situation zunächst allgemein auf die Kollektivgutproblematik der Common-Pool-Ressource Fisch zurückgeführt werden (Jensen 1999, 8f.). Ebenso wichtig ist jedoch, die (unbeabsichtigten) Nebenfolgen (Kapitel 4.4.2.) der direkten und indirekten Subventionsmaßnahmen der CFP herauszustellen (Hentrich 2004, 127ff.; Payne 2000, 316), die die Regierungen im Rat hartnäckig gegen den Willen der Kommission verteidigen (Jensen 1999, 52). Die Subventionen haben im Zusammenspiel mit der ökologisch erforderlichen Begrenzung der Fangmengen (Fangquoten) die Entstehung chronischer Überkapazitäten gefördert (Koeppel 2005, 47), sodass sich ein erheblicher Teil des Sektors in großen ökonomischen Schwierigkeiten befindet, worunter auch die Arbeitsbedingungen erheblich leiden (Hentrich 2004, 124f.). Aufgrund dessen ist wiederum der politische Druck zugunsten möglichst hoher staatlicher Fangquoten sehr groß (Jensen 1999, 54), sodass die nationalen Agrarminister im verantwortlichen Rat, die ohne große Übertreibung als Interessenvertreter ihrer nationalen Fischerei betrachtet werden können (Franchino/Rahming 2003; Koeppel 2005: 38, 47f., 74), regelmäßig deutlich über wissenschaftliche Empfehlungen zur Reduktion der Fangquoten bzw. Fischverbote hinweggesetzt haben (Franchino/Rahming 2003; Hentrich 2004, 134), um den sozialen Frieden an der Küste zu wahren. Daher spricht Lequesne (2004: 60f., 78) von einer „supremacy of politics over biology“. Selbst diese Fangquoten werden jedoch nicht eingehalten, weil die für die Überwachung verantwortlichen nationalstaatlichen Behörden die Einhaltung von Fangverboten häufig weder effektiv kontrollieren noch angemessen sanktionieren, um ihrem jeweiligen nationalen Fischereisektor so ökonomische Vorteile zu verschaffen bzw. den sozialen Frieden zu sichern (Jensen 1999: 28; 66ff.; Koeppel 2005: 20, 51, 66). Aufgrund der dezentalen Kontrolle existiert also ein Gefangenendilemma zweiter Ordnung („culture of rule breaking“, ebd., 72). Daher variiert auch sowohl die von den Fischern vermutete als auch die tatsächliche Schärfe der Überwachung zwischen den Staaten erheblich, was die Legitimität der CFP in den Augen der Fischer untergräbt. Dennoch hat sich der zuständige Ministerrat bis heute dem Ansinnen widersetzt, eine unabhängige, effektive Kontrolle supranationaler Art zu vereinbaren (Payne 2000: 306, 317f.), weil dies als ein illegitimer Einschnitt in die nationalstaatliche Souveränität angesehen und befürchtet wird, dass eine solche Maßnahme als Präzedenzfall auch für andere Politikfelder mit Implementationsproblemen wirken würde (Payne 2000, 318f.).
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Die obige Analyse widerspricht der These von Moravcsik, dass der intergouvernementale Charakter der EU die Output-Legitimität der Politik-Ergebnisse zumindest einigermaßen garantiere bzw. dass es bei grenzüberschreitenden negativen Externalitäten zu einer problemlösegerechten Verlagerung der Policy auf die supranationale Ebene komme. Diese kritische Einschätzung gilt umso mehr, als es sich keineswegs um ein unlösbares Problem handelt, weil global betrachtet einige empirische Beispiele für ökologisch erfolgreiche kollektive Fischereimanagement-Regime existieren. Diesbezüglich kann man in gestaltungsorientierter Hinsicht verschiedene politische Lösungsalternativen vergleichend erörtern, wie z.B. der in der Ökonomik bevorzugte Handel mit exklusiven, individuellen Fangrechten (Hannesson 2004; Hentrich 2004, 137ff.) gemäß dem Property-Rights-Ansatz oder die in der Politologie favorisierte korporatistisch-partizipative Governance (Koeppel 2005, 86ff.). Beide Lösungsvorschläge schließen sich nicht unbedingt aus. Zu überlegen wäre, wie die Umsetzungswahrscheinlichkeit solcher anderenorts erfolgreichen fischereipolitischen Maßnahmen erhöht werden könnte. Bzgl. der von der föderativen Perspektive befürworteten Parlamentarisierung der EU könnte man sich hier theoretisch insofern positive Wirkungen erhoffen (Franchino/Rahming 2002, 20), als ökologische Interessen im EUParlament, das in diesem Politikfeld nur Anhörungsrechte besitzt, breiter vertreten sind als im Agrarministerrat. Empirisch zeigt sich allerdings, dass sich der Fischereiausschuss des EP oft gegen den Abbau der Subventionen ausgesprochen hat (Koeppel 2005, 26). Neben der in den obigen Beispielen deutlich gewordenen Prinzipal-Agent-Problematik zwischen den nationalen Bevölkerungen bzw. dem diffusen Allgemeininteresse einerseits und ihren Regierungsvertretern im Rat andererseits kann man dieselbe kategoriale Frage (exemplarisch) auch an die Beziehung zwischen der europäischen Bevölkerung (bzw. dem europäischen Allgemeininteresse) und der EU-Kommission richten, weil es einige wenige Politikfelder gibt, auf denen letztere laut Vertragswerk zumindest rechtlich völlig unabhängig vom Rat handeln kann. Hierzu wäre integrationsdidaktisch herauszuarbeiten, dass das Handeln der Kommission in diesen Bereichen vom Politologen Moravcsik implizit einfach als benevolent unterstellt wird, was aus (konstitutionen)ökonomischer Sicht jedoch eine naive Annahme darstellt. Für eine entsprechende empirische Auseinandersetzung mit dieser theoretischen Frage eignet sich insbesondere das Politikfeld der Wettbewerbspolitik, weil die Kommission hier zum einen die stärksten politischen Befugnisse in der Hand hält (S. Schmidt 1998) und dieser Bereich zum anderen mit Blick auf das Preisniveau und die Innovationsdynamik für die ökonomische Lebensqualität der Menschen von Bedeutung ist. Auf diese Weise lässt sich die `politologische´ Perspektive von Moravcsik exemplarisch anhand von rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Analysen (Christiansen 2007; Mische 2002; A. Schmidt 2006) der europäischen Wettbewerbspolitik überprüfen. So argumentiert der Ökonom A. Schmidt (2006), dass sich anhand einer Reihe von wettbewerbspolitischen Fall-Entscheidungen der Kommission der politische Druck der jeweils betroffenen nationalen Regierungen und den dahinterstehenden Partikularinteressen der beteiligten Großunternehmen nachweisen liesse. Aufgrund dessen habe die Kommission – weil sie z.B. die Gunst bestimmter Regierungen zur künftigen Durchsetzung ihrer Vorstellungen auf vielen anderen Politikfeldern benötigt (`Schatten der Zukunft´) und für wettbewerbspolitische Entscheidungen letztlich eine Mehrheit unter allen Kommissaren erforderlich ist – nicht selten auch solche Fusionen genehmigt, die aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht absehbar zu einer marktbeherrschenden Stellung des neuen Unter-
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nehmens führten und so die ökonomische Wohlfahrt der Verbraucher beeinträchtigten, was im Gegensatz zum strikt wettbewerbspolitisch ausgerichteten Wortlaut des europäischen Vertragswerks steht. Auch der Politologe Ortwein (1998, 274) argumentiert, dass die Wettbewerbspolitik auf europäischer Ebene aus den genannten Gründen stärker tagespolitischen Einflussnahmen ausgesetzt sei als das zuvor in der BRD der Fall gewesen sei. Diese Beobachtungen widersprechen der Annahme Moravcsiks, derzufolge die zur ökonomischen Liberalisierung zählenden Politikfelder durch Verlagerung / Delegation auf die supranationale Ebene / an die Kommission dem Zugriff nationalstaatlicher Partikularinteressen effektiv entzogen würden. Aufgrund dieser Legitimitäts-Lücke hält es Schmidt (2006) für unabdingbar, die wettbewerbspolitischen Befugnisse auf ein neu zu gründendes, unabhängiges europäisches Kartellamt zu übertragen. Mit Blick auf das Kriterium der politischen Durchsetzbarkeit (Kapitel 4.4.1.) ist jedoch darauf aufmerksam zu machen, dass entsprechende Vorschläge auf den massiven Widerstand der europapolitischen Elite getroffen sind (McGowan/Wilks 1995). Angesichts dessen könnte man diskutieren, wie man diese Forderung dennoch durchsetzen könnte. Nimmt man hier z.B. die partizipative Perspektive (vgl. Kapitel 7.2.4.) ein, wäre eigentlich zu erwarten, dass eine stärker direktdemokratische Polity der Bevölkerung ein Instrument in die Hand gibt, ihr Interesse an einer angemessenen wettbewerbspolitischen Rahmenordnung durchzusetzen, welches sie dann auch nutzt. Diese These lässt sich empirisch anhand der Kartellordnung der direktdemokratischen Schweiz überprüfen. Deren Kartell- und Monopolkontrolle stellt sich jedoch aus ökonomischer Sicht auch im Vergleich mit der deutschen oder europäischen alles andere als überzeugend dar und wird für das ausgesprochen hohe Preisniveau in der Schweiz und die hohe Marktkonzentration im dortigen Lebensmittelmarkt mitverantwortlich gemacht (Neven/Ungern-Sternberg 1996; OECD 2006; Zweifel 2002, 95-100). Damit ist natürlich nicht gesagt, dass die direkte Demokratie für das unzureichende Schweizer Kartellrecht ursächlich ist, allerdings hat sie auch nicht dessen mangelnde Eignung verhindert, wie es aus partizipativer Perspektive eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Überdies ist unklar, inwiefern die obige Forderung nach einem unabhängigen EUKartellamt empirisch tatsächlich gerechtfertigt ist. So kommt eine `rechtswissenschaftliche´ Studie (Mische 2002) zu dem Ergebnis, dass die Entscheidungen der Kommission in der deutlichen Mehrheit der Fälle strikt rein wettbewerbspolitischen Kriterien gefolgt seien; einzelne Ausnahmen bestätigten die Regel. Diese Beobachtung würde Moravcsiks Legitimitäts-Argumentation in diesem Politikfeld also bestätigen. Das Streben nach einem unabhängigen EU-Kartellamt wäre somit den dafür erforderlichen politischen Aufwand gar nicht wert. Aus `ökonomischer´ Sicht (Christiansen 2007) wird dagegen jedoch wiederum eingewendet, dass dieses überwiegend positive Ergebnis lediglich den besonders starken Persönlichkeiten der Wettbewerbskommissare in den letzten Jahren und deren hoher Durchsetzungskraft zu verdanken sei. Dieser kontingente Faktor könne jedoch nicht einfach in die Zukunft extrapoliert werden, sodass die Errichtung eines unabhängigen EU-Kartellamts weiterhin dringend notwendig sei. Trotz dieser Kontroversität wird didaktisch auch an dieser Stelle deutlich, dass die vermeintlich politikdidaktische Fragestellung nach der Legitimität der heutigen Form der EU auf die systematische Auseinandersetzung mit ökonomischen Argumentationen und Sachgebieten angewiesen ist, auch wenn diese in politikdidak-
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tischen Schulbüchern (z.B. Detjen 2006b; Heither/Klöckner/Wunderer 2006) gar nicht oder kaum stattfindet.
7.2.3 Die föderative Perspektive Die (Konstitutionen-)Ökonomen der föderativen Perspektive würden die obigen Fallstudien und Politikfeldanalysen als verallgemeinerbare Belege für ihre zentrale These interpretieren, dass es der heutigen intergouvernemental geprägten Ordnung der EU bzw. entsprechenden theoretischen Rechtfertigungsversuchen in hohem Maße an demokratischer Legitimität mangelt. Auch wenn die föderative Perspektive Moravcsiks Schriften bemerkenswerterweise überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt, kann eine integrative Didaktik diese beiden Perspektiven aus den zwei verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen bei der Erörterung der Frage nach einem eventuellen demokratischen Defizit der EU dennoch sehr gut miteinander vergleichen. Dazu muss lediglich herausgearbeitet werden, dass die intergouvernementale Perspektive Moravcsiks semantisch identisch ist mit dem, was die föderative Perspektive semiotisch als normatives „Pyramiden-Modell“ der EU bezeichnet und intensiv kritisiert (Apolte 1999, 187; Kortenjann 2007, 150ff.). Diesem intergouvernementalen, konföderativen Pyramiden-Modell stellt die föderative Perspektive das von ihr bevorzugte supranationale, föderative „Basis-Modell“ gegenüber. Die didaktische Vergleichbarkeit ergibt sich daraus, dass dieser `ökonomische´ Argumentationsgang – entgegen den derzeitigen disziplinären Klischees in der Fachdidaktik (z.B. Kruber 2005, 79f.; Willke 2006, 40f.) – eben weniger auf Überlegungen zum Funktionieren von Märkten und/oder zur Effizienz von ökonomischen Entscheidungen sowie deren Wirkungen im Wirtschaftskreislauf fusst, sondern stattdessen die Problematik der Legitimation von politischer Macht und die Frage nach den demokratisch angemessenen Ordnungsformen von Regierung in den Mittelpunkt rückt. Aus Sicht der föderativen Perspektive ist eine Input-Legitimation der EU mit dem intergouvernementalen Argument, die Interessen der europäischen Bevölkerungen würden durch die von ihnen gewählten Regierungsvertreter im Ministerrat bzw. im Europäischen Rat repräsentiert, theoretisch nicht haltbar (Kortenjann 2007, 205). Denn erstens seien die nationalen Wahl(debatt)en nicht auf europapolitische, sondern auf nationalpolitische Kontroversen ausgerichtet, sodass die Regierungen aus nationalen Wahlerfolgen nicht den Anspruch einer Vertretungsberechtigung auf europäischer Ebene ableiten könnten (ebd., 65). Entscheidend sei jedoch zweitens das Prinzipal-Agent-Problem, demzufolge die nationalen Regierungsvertreter sich auf europäischer Ebene vornehmlich um die Durchsetzung ihrer eigenen Partikularinteressen und jener von gut organisierten Interessenverbänden bemühten (Apolte 1999: 193, 202; Kortenjann 2007, 221). Diese auch von den Ökonomen der partizipativen Perspektive stark betonte Prinzipal-Agent-Problematik zwischen Bürgern und politischer Klasse stellt einen zentralen Gesichtspunkt bei der didaktischen Auseinander-setzung mit der These des Demokratiedefizits in Europa dar und sollte daher auch in den EU-Kapiteln gegenwärtiger politikdidaktischer Schulbücher berücksichtigt werden. Dort bleibt dieser kategoriale Aspekt der Neuen Politischen Ökonomie (Behrends 2001) bislang jedoch vollkommen ausgespart (siehe Detjen 2006b, 141ff.; Floren 2006, 371ff.; Heither/Klöckner/Wunderer 2006, 156ff.), sodass die europapolitisch Verantwortlichen zumindest implizit als benevolente Repräsentanten des Volkswillens und Vertreter des
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europäischen und/oder nationalen Gemeinwohls erscheinen. Diese auch von den Politologen der sozialdemokratischen und intergouvernementalen Perspektive weitgehend geteilte Prämisse wäre jedoch kontrovers zu erörtern. Demgegenüber geht die föderative Perspektive von einem skeptischen Politiker-Bild aus und vertritt die These, dass eine europäische Föderation auf der normativen Prämisse aufbauen müsse, dass die höhere, d.h. die europäische Politik-Ebene dem Zweck zu dienen habe, die Bürger vor politischem Machtmissbrauch sowie freiheitsbeschränkenden Eingriffen seitens der unteren, d.h. der nationalen Politik-Ebene zu bewahren (Kortenjann 2007: 148, 158). Die Ökonomen der föderativen Perspektive greifen hierbei explizit auf Überlegungen von James Madison zum Zusammenhang zwischen politischen Macht-Prozessen und territorialer Größe zurück (Apolte 1999, 179f.; Kortenjann 2007, 166), wobei sie die Federalist Papers als Vorläufer der Konstitutionenökonomik sehen (Apolte 1999, 167). Sie zeigen damit zugleich exemplarisch einen Weg auf, wie man durch entsprechende didaktische Brückenschläge die in einigen Schulbüchern (Floren 2006: 21ff., 371ff.; Detjen 2006b: 141ff., 157ff.) anzutreffende strenge kapitelmäßige Trennung zwischen allgemeiner theoretischer politischer Philosophie und der heutigen konkreten politischen Wirklichkeit miteinander vernetzen kann. Nach Madison sind kleinere politische Territorien durch eine geringere Vielfalt von Interessengruppen und damit durch eine stärkere Homogenität der politischen Präferenzen charakterisiert, was die Wahrscheinlichkeit erhöhe, dass sich dort politische Mehrheiten bilden, die zu ihrem Vorteil die ökonomischen und/oder politischen Rechte einer Minderheit verletzen. Dafür spreche mit Blick auf die Logik kollektiven Handelns auch, dass diese Mehrheit ihr politisches Handeln angesichts der räumlichen Nähe und der in kleineren Territorien geringeren Anzahl der Beteiligten besser koordinieren könne. Territorien von der Größe der USA bzw. Europas zeichneten sich hingegen durch politische Heterogenität, d.h. durch eine außerordentlich hohe Spannbreite von diversen (regionalen) Interessengruppen aus, deren eigensinnige Ambitionen sich wechselseitig in Schach hielten. Weil sie somit von der politischen Unterstützung einer Vielzahl von verschiedenen (regionalen) Interessen abhänge, besäßen die politischen Akteure auf der obersten politischen Ebene eines großen Territoriums auch starke Anreize, die einzelnen Bürger gegen partikularistisches Rent-Seeking – z.B. in Form von regionalem Protektionismus (Apolte 1999, 181ff.; Kortenjann 2007, 169f.) – auf der unteren politischen Ebene zu schützen. Nach Apolte und Kortenjann kann die obere politische Ebene eine derartige Schutzfunktion aber nur dann wahrnehmen, wenn sie nicht auf intergouvernementale, d.h. konföderative Weise, sondern auf supranationale, d.h. föderative Weise konstituiert werde. Dies bedeutet, dass die Entscheidungsgewalt der höheren Ebene nicht bei einem intergouvernementalem Gremium wie dem Europäischen Rat bzw. dem Ministerrat liegen dürfe, denn die opportunistischen Regierungen dort hätten kein Interesse daran, sich selbst ihre nationalen Machtspielräume gegenüber ihren jeweiligen Bürgern einzuschränken. Die essentielle Voraussetzung für die effektive Wahrnehmung der Schutzfunktion seitens der supranationalen Gewalt bestünde vielmehr in deren politischer Unabhängigkeit von den nationalen Einzelstaaten (Apolte 1999: 181, 190; Kortenjann 2007, 171), indem die auf der supranationalen Ebene tätigen politischen Akteure direkt von der gesamten europäischen Bevölkerung gewählt würden und sich somit nur gegenüber dieser zu verantworten haben (Apolte 1999, 193f.).
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Anderenfalls komme es auf europäischer Ebene wie derzeit vielmehr zur Bildung von intergouvernementalen Exekutiv-Kartellen gegen die Interessen der europäischen Bevölkerung(en) und zum Log-Rolling, d.h. zur Verabschiedung von Beschlüssen, die bei der Bevölkerung auf nationaler Ebene nicht durchsetzbar wären und zum Schnüren von für nationale partikularistische Interessengruppen vorteilhaften Verhandlungspaketen auf Kosten diffuser europäischer Interessen (Konsumenten, Steuerzahler etc.) (Kortenjann 2007: 58, 157f.). Dies werde institutionell durch eine Verschleierung politischer Verantwortlichkeit begünstigt (Apolte 1999: 192, 197, 202), welche zum einen auf den hochkomplexen, oft in informelle Gremien (Triloge63) ausgelagerten europäischen Entscheidungsprozess (Beteiligung von Kommission, Parlament und Rat) und zum anderen darauf zurückzuführen sei, dass die Ratsverhandlungen nichtöffentlich sind und der Geheimhaltungspflicht unterliegen. Diese unzureichende Transparenz und die daraus folgenden unbefriedigenden Politikergebnisse seien ein wichtiger Grund für die mangelnde Akzeptanz der EU durch die Bürger. Als gestaltungspolitische Schlussfolgerung aus dieser Kritik wird die Forderung gezogen, den Europäischen Rat bzw. Ministerrat ersatzlos aufzulösen und die Auswahl der Kommissionsmitglieder durch den Europäischen Rat abzuschaffen. Die Kommission soll in eine EU-Regierung umgewandelt werden, die vom EU-Parlament gewählt wird, welches dann das Initiativmonopol für Gesetzesvorhaben inne hätte, sodass alle intergouvernementalen Elemente wegfielen (Apolte 1999: 200, 206f.; Kortenjann 2007: 150, 208ff.). Die Grundform der neuen EU-Polity soll also den meisten Polities der Nationalstaaten entsprechen. Aus föderativer Perspektive erscheint der Verfassungsentwurf bzw. der Vertrag von Lissabon, der das supranationale EP dem intergouvernementalen Rat durch die Generalisierung des Mitentscheidungsverfahrens und damit des Veto-Rechts des EP in der ersten Säule (und damit z.B. nun auch der Fischerei- und Landwirtschaftspolitik) völlig gleichstellt, daher zwar als ein kleiner Schritt in die richtige Richtung, der jedoch völlig unzureichend ist. Erst durch eine Vollparlamentarisierung könne sich eine europäische Identität in der Bevölkerung ausbreiten (Kortenjann 2007, 223), aufgrund deren empirisch nachweisbarer mangelnder Existenz sowohl die sozialdemokratische als auch die intergouvernementale Perspektive ja genau umgekehrt eine Vollparlamentarisierung der EU für illegitim erachten. Die Problematik, dass die Ökonomen der föderativen Perspektive ihren sozialkonstruktivistischen Optimismus bzgl. der Möglichkeit einer konstitutionellen Induktion eines europäischen Demos nicht belegen, kann man integrationsdidaktisch dadurch beheben, dass man an dieser Stelle komplementäre `politologisch-soziologische´ Studien zur politischen Historie der USA und anderer europäischer Nationalstaaten von Lipset/Rokkan (1967) sowie Rokkan (1999) in die föderative Perspektive einbaut. Demnach kann die Ablösung der lokalen Identität (Identifizierung der Bürger mit ihrer Region) durch eine nationale Identität (Identifizierung der Bürger mit ihrem Staat) gegen Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts in hohem Maß als Folge des zunehmenden parlamentarischen Parteienwettbewerbs, politischer Wahlen und der damit verbundenen Entstehung einer nationalen politischen Öffentlichkeit erklärt werden (so die auf die EU bezogene Argumentation von Habermas 2001, 15f. und Follesdal/Hix 2006). Zugleich könnte daran aber auch kritisch gegenüber der föderativen Perspektive untersucht werden, ob eine institutionelle Induktion 63 Dabei handelt es sich um informelle, offizielle Entscheidungen vorbereitende Dreiersitzungen zwischen Spitzenvertretern von Rat, Kommission und Parlament.
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von kollektiven Identitäten nicht ein relativ langsamer Prozess ist, der politische Geduld, d.h. ein inkrementelles Vorgehen bei der Parlamentarisierung erfordert, so wie es bisher der Fall war und wie es sich auch im Verfassungsentwurf / Vertrag von Lissabon spiegelt. Aufgrund der im obigen Reformvorschlag zum Ausdruck kommenden, besonders starken Differenz zwischen dem heutigen Ist-Zustand der EU-Polity und derem perzipierten Soll-Zustand eignet sich die föderative Perspektive im Vergleich zur sozialdemokratischen und intergouvernementalen Perspektive didaktisch gut dazu, zwischen deskriptiven und normativen Aussagen zu unterscheiden und funktionalistisch-naturalistische Fehlschlüsse vom Sein der EU auf das Sollen der EU zu verhindern (Behrmann/Grammes/Reinhardt 2004; Hedtke 2006a, 225; Petrik 2007, 227). Allerdings wäre genau aus diesem Grund im Falle einer Auseinandersetzung mit dieser Perspektive mit Blick auf das Kriterium der politischen Durchsetzbarkeit (Kapitel 4.4.1.) auch aufzuzeigen, dass die Mitgliedsregierungen im Europäischen Rat / Ministerrat keinerlei Anreize haben, auf eigenen Beschluss hin abzudanken, was den Autoren auch bewusst ist (Apolte 1999, 204; Kortenjann 2007, 217f.). Deshalb ist ihr Vorschlag in einem richtungsgebenden Sinne zu verstehen und zu diskutieren, wie eine erste inkrementelle Annäherung an das Ziel erreicht werden könnte. Leider schweigt die föderative Perspektive zu dieser politisch letztlich entscheidenden Frage. Im Unterricht könnten daher konstruktivistisch eigenständig kreative Strategien entworfen und diskutiert werden. Grob skizziert ist z.B. folgende Möglichkeit denkbar: Man könnte sich als einigermaßen realistisches Nah-Ziel setzen, den/die Kommission(spräsidenten) und deren Regierungsprogramm durch eine (qualifizierte) Mehrheit des EU-Parlaments bestimmen zu lassen, ohne jedoch die Veto- bzw. Mitgestaltungs-Rechte des Europäischen Rats/Ministerrats zu beschneiden oder gar abzuschaffen (bikameralistisches System). Um die Umsetzung derartiger Reformvorschläge wahrscheinlicher zu machen, könnte man zuvor öffentlich auf die Konstitution eines von allen Europäern gewählten Reform-Konvents drängen. Während dessen Deliberation müssten sich die Befürworter der föderativen Perspektive dann um eine entsprechende, argumentativ überzeugende Öffentlichkeitsarbeit und Kontaktaufnahme zu den Konventsvertretern bemühen. Selbst wenn die Vorschläge des Konvents wie beim Verfassungsentwurf juristisch unverbindlich wären, bestünde angesichts dessen elektoraler Legitimation ein hoher öffentlicher Druck auf die Regierungsvertreter im Rat, zumindest einem Großteil der Vorschläge zuzustimmen. Integrationsdidaktisch lässt sich diesbezüglich durch Rückgriff auf empirische Analysen des Diskurses und der Verhandlungen im EU-Reformkonvent und in konstitutionellen EU-Regierungskonferenzen aus der Politologie (Bürgin 2007; Rittberger 2003) zudem herausarbeiten, dass die (langfristigen) politischen Durchsetzungschancen (einer inkrementellen Umsetzung) des Vorschlags der föderativen Perspektive nicht so gering ausfallen, wie sie von der föderativen Perspektive selbst mit Blick auf die Machtinteressen der bis heute dominanten Staatsregierungen eingeschätzt werden. Denn es zeigt sich, dass die in Europa allgemein anerkannte Wertvorstellung der parlamentarischen Demokratie eine sehr wirkmächtige Hintergrund-Norm darstellt, die von den politischen Befürwortern bzgl. der konkreten Frage nach einer Parlamentarisierung der EU erfolgreich als effektive Verhandlungsressource gegen die Gegner einer weiteren Parlamentarisierung (v.a. Frankreich und Großbritannien) eingesetzt wird. Auf diese Weise gelingt es den Befürwortern, normativen Druck aufzubauen und die Gegner zu Zugeständnissen zu zwingen, weil letztere in der Öffentlichkeit nicht als Normbrecher dastehen wollen. Daraus erklärt sich sowohl die Tat-
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sache, dass es in den letzten drei Jahrzehnten überhaupt zu einer allmählichen partiellen Parlamentarisierung der EU gekommen ist, als auch der Fakt, dass sich im Laufe des Verhandlungsprozesses im Europäischen Konvent parlamentarische Reformpositionen gegenüber intergouvernementalen Reform-Positionen in weiten Teilen durchsetzen konnten (ohne dass dies auf der nachfolgenden Regierungskonferenz revidiert wurde) – obwohl beides nicht im rationalen Machtinteresse vieler Regierungen im Rat lag. Diese didaktische Verbindung einer `ökonomischen´ Perspektive mit einer `politologischen´ Ergänzung zeigt exemplarisch, wie man die Kategorie `Norm´ in eine gestaltungsorientierte Erörterung einbetten kann. Neben der Frage nach der politischen Durchsetzbarkeit kann man auch mögliche problematische Nebenfolgen (Kapitel 4.4.2.) des Vorschlags der föderativen Perspektive thematisieren. So ist mit Blick auf die Regierungsarbeit in den Nationalstaaten zu erwarten, dass die laufende Kontrolle der Arbeit der EU-Kommission durch das Parlament weniger intensiv und unvoreingenommen ausfällt, wenn diese beiden Akteure durch eine Mehrheitskoalition machtpolitisch aneinander gebunden werden. Reichen die dann (zunächst) noch verbleibenden (Veto-)Rechte des Ministerrats zur Kontrolle aus? Bei vollständiger Umsetzung des Vorschlags der föderativen Perspektive würde sogar auch die Kontrolle durch den Rat wegfallen, sodass von Seiten der partizipativen Perspektive eine völlig unangemessene Zentralisierung von politischen Kompetenzen in Brüssel durch den politischen Geltungsdrang der EU-Parlamentarier befürchtet wird. Der damit verbundenen Gefahr einer Verletzung sensibler nationaler Interessen durch Mehrheitsentscheide im EP will die föderative Perspektive jedoch durch gleichzeitige Verabschiedung eines konstitutionellen „Kompetenzkatalogs“ zuvorkommen (Apolte 1999, 211ff.), der die Zuständigkeit für einzelne politische Aufgabenfelder im Sinne konstitutionenökonomischer Kriterien funktional auf die einzelnen politischen Ebene aufteilen soll. Die inhaltliche Auslegung dieses Kompetenzkatalogs in Streitfällen soll nicht dem ebenfalls an einer Zentralisierung europäischer Kompetenzen interessierten EuGH, sondern einem zusätzlichen Gerichtshof übertragen werden, der zwecks Interessensparität jeweils zur Hälfte aus Vertretern der nationalen Verfassungsgerichte und des EuGH bestehen soll (wobei sich dann freilich die Frage stellt, wie die dann wohl häufig auftretenden Patt-Situationen aufgelöst werden sollen). Politische Änderungen des Kompetenzkatalogs sollen einer Zwei-Drittel-Mehrheit im EU-Parlament und zugleich der Zustimmung einer (qualifizierten) Mehrheit der europäischen Bevölkerung sowie einer (qualifizierten) Mehrheit der europäischen Staatsvölker in einem EU-weiten Verfassungs-Referendum bedürfen (Kortenjann 2007, 214ff.). Hieran kann man die mangelnde Prozess-Orientierung der Argumentation der föderativen Perspektive herausarbeiten. Die Funktionalität des Vorschlags dürfte in hohem Maße davon abhängen, dass alle einzelnen Bestandteile gleichzeitig genauso umgesetzt werden wie geplant, damit sie sinnvoll ineinandergreifen. Genau dies ist allerdings nicht sehr wahrscheinlich, weil sich die Dynamik konstitutioneller Reformprozesse, in denen bekanntlich auch Eigeninteressen der beteiligten Akteure eine Rolle spielen können, nicht ohne weiteres an die normativen Handlungsvorgaben einer bestimmten Teil-Gruppe von Sozialwissenschaftlern halten wird. So kann es sein, dass in Folge eines durch entsprechendes politisches Agenda-Setting losgetretenen Reformprozesses zwar bestimmte Elemente des Reformvorschlags umgesetzt werden (z.B. Wahl der Kommission durch das Parlament und eine Schwächung der Rechte des Rats), ein anderes Element jedoch nicht (z.B. die Errichtung des zusätzlichen Gerichtshofs und/oder die Verfassungsreferenden), was sich als dys-
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funktional erweisen könnte. Daran lässt sich lernen: Wer weitreichende Reformvorschläge macht, sollte, wenn er überzeugen will, nicht nur das (ferne) Ziel beschreiben, sondern auch konkrete Überlegungen dazu anstellen, wie man den politischen Weg dorthin, d.h. den Aushandlungsprozess institutionell und diskursiv so einbetten kann (z.B. konkrete institutionelle Ausgestaltung eines Reform-Konvents; überzeugende öffentliche Argumentationsstrategie), dass dieser mit ausreichender Wahrscheinlichkeit nicht auf Abwegen gerät. Überdies kann man didaktisch mit Blick auf das Ziel der Wissenschaftspropädeutik und zur Förderung kritischen Denkens herausstellen, dass gestaltungsorientierte Theorien, insbesondere wenn sie umwälzende Reformvorschläge wie die föderative Perspektive propagieren, durch ein möglichst umfassendes empirisches Fundament belegt werden müssen, wenn sie wissenschaftlich, aber auch im politischen Diskurs überzeugen wollen. Diesbezüglich zeigt die föderative Perspektive jedoch einige Schwächen, die man im Unterricht zur Sprache bringen kann. So wird zwar die These, dass die Bürger durch die obere (europäische) Ebene vor dem Machtmissbrauch seitens der unteren (nationalen) Ebene geschützt werden können, recht allgemein anhand der Gefahr des Binnenmarktprotektionismus und der Rolle der EU bei der Durchsetzung von demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien in Südeuropa und den ehemaligen Ostblockstaaten veranschaulicht (Apolte 1999, 178186; Kortenjann 2007, 168ff.). Allerdings sind diese beiden Beispiele wenig geeignet, die zentrale These der föderativen Perspektive zu belegen, dass sich der heutige intergouvernementale Charakter der EU besonders schädlich auswirke. Denn erstens hat die EU ja schließlich trotz ihres intergouvernementalen Charakters sowohl eine Stärkung von Demokratie und Rechtsstaat in Süd- und Osteuropa vorangetrieben (das ist jedenfalls die These der intergouvernementalen Perspektive, vgl. Moravcsik/Vachudova 2003, 47f.). Der zentrale Gedanke der föderativen Perspektive, dass die obere europäische PolitikEbene die Bürger vor einer Verletzung ihrer Rechte durch die untere nationale PolitikEbene schützen soll, ist zwar hochrelevant, wie man integrationsdidaktisch z.B. durch Hinzuziehung des `politogischen´ Beitrags von Eichener (2000, 42f.) eindrucksvoll an der europäischen Richtlinie zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu Beruf und Ausbildung von 1976 und deren umwälzenden Folgewirkungen im deutschen BGB und der arbeitsrechtlichen Praxis exemplifizieren kann. Doch um wirklich überzeugend zu sein, müsste die föderative Perspektive konkret empirisch nachweisen können, wo der heutige intergouvernementale Charakter der EU einer ambitionierteren Verwirklichung rechtsstaatlicher und demokratischer Grundsätze im Wege steht, d.h. deren partielle Missachtung auf der nationalen Ebene toleriert oder gar fördert. Zudem müsste sie anhand von konkreten Politikfeldern plausibel machen, dass die von ihr empfohlene VollParlamentarisierung der EU dort zu besseren Politikergebnissen führen würde. Dies geschieht jedoch nicht. Somit können aus der föderativen Perspektive zwar für die menschliche Lebensqualität hochrelevante gestaltungsorientierte Fragestellungen abgeleitet werden, die in vielen, rein akademischen EU-Theorien politikwissenschaftlicher Einführungsbücher (z.B. Bieling/Lerch 2005) keine Rolle spielen (zumal sie die hier vorgestellten und andere EU-Theorien aus der Ökonomik ignorieren). Umso mehr verwundert es jedoch, dass dieses Potential von der föderativen Perspektive nicht konsequent zu Ende gedacht wird. Deshalb kann es im didaktischen Prozess freigelegt werden. So meint z.B. Kortenjann (2007, 181), dass eine Europäisierung der Justizpolitik angesichts „unterschiedlicher Rechtstraditionen“ problematisch wäre, ohne zu bedenken, dass
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gemäß der von ihm an anderer Stelle propagierten Madisonschen Theorie doch gerade in diesem Bereich eventuell ein besonderer Schutzbedarf der Bürger gegen opportunistischen Machtmissbrauch durch politische Akteure auf der unteren nationalen Ebene bestehen könnte, welcher eventuell von der oberen europäischen Ebene wahrgenommen werden könnte. Didaktisch veranschaulichen lässt sich dies z.B. anhand des sog. „Lex Berlusconi“, mit dem sich der italienische Ministerpräsident im Jahr 2008 selbst rechtliche Immunität verschafft und so die Aussetzung eines gegen ihn laufenden Gerichtsverfahrens erreicht hat. Das muss nicht heißen, dass man für eine komplette Europäisierung der Justizpolitik plädiert, doch in einer föderativen EU könnte das supranationale Parlament im Rahmen einer konkurrierenden Gesetzgebung vielleicht Anreize und Durchsetzungschancen besitzen, eine Richtlinie zu verabschieden, die derartige Verstöße gegen die Gewaltenteilung auf nationaler Ebene untersagt und die europäischen Bürgern das Recht zu einer Klage vor dem EuGH gegen eine Verletzung derartiger Richtlinien einräumt (Von Arnim 2006, 92f.). Zweitens hat die EU ebenfalls trotz ihres intergouvernementalen Charakters ein hohes Maß an Binnenmarktintegration zumindest auf dem Gütermarkt erreicht, wie empirische Studien aus der Ökonomik (Langhammer 2007) als auch aus der Soziologie (Fligstein 2008) belegen. Man kann zwar einwenden, dass diese Aussage im zunehmend wichtiger werdenden Dienstleistungsbereich zurzeit nur im eingeschränkten Maß gilt, doch hat bei der – wenn man dies so nennen will – `Verwässerung´ der von der Kommission vorgeschlagenen Dienstleistungsrichtlinie das supranationale EU-Parlament nicht zuletzt in Folge intensiven Lobbyings der Gewerkschaften eine mindestens ebenso große Rolle gespielt wie einige prominente Regierungsvertreter im intergouvernementalen Rat, sodass zumindest nicht unmittelbar einsichtig ist, warum nun ausgerechnet die von der föderativen Perspektive geforderte Voll-Parlamentarisierung der EU geeignet sein sollte, in diesem Bereich einen stärkeren handelspolitischen Fortschritt zu erreichen. Zugegebenermaßen führt die föderative Perspektive noch zwei weitere einzelne empirische Beispiele an, welche die Problematik des intergouvernementalen Charakters der heutigen EU nachweisen sollen. Erstens wird auf die Mehrwertsteuerrichtlinie der EU verwiesen, welche 1992 einen Mindestsatz von 15% etablierte und es der damaligen deutschen Regierung ermöglichte, diese unpopuläre und vom Bundesrat abgelehnte politische Maßnahme durchzusetzen. Zweitens wird auf ein intergouvernementales, gegen den Willen der Kommission durchgesetztes Koppelgeschäft im Rat im Juni 2002 aufmerksam gemacht, in dessen Rahmen Frankreich, Italien und die Niederlande Steuerprivilegien für ihre Spediteure erhielten, wofür Deutschland und Spanien im Gegenzug die Aufrechterhaltung ihrer Steinkohlebergbausubventionen gestattet wurde. Belgiens Zustimmung wurde mit Steuerprivilegien bei speziellen Versicherungen gewonnen; das Wohlwollen Österreichs zu diesem Kuhhandel wurde schließlich dadurch gesichert, dass Frankreich und Italien ihren Widerstand gegen den österreichischen Wunsch nach einem Ökopunktsystem für den Alpentransit aufgaben. Die beiden genannten Fallbeispiele eignen sich didaktisch zwar zur konkreten exemplarischen Veranschaulichung der Theorie der föderativen Perspektive. Allerdings kann zugleich wissenschaftspropädeutisch zur Vermeidung von induktiven Fehlschlüssen herausgearbeitet werden, dass das bloße Anführen von 2 vereinzelten Beispielen den wissenschaftlichen Standards für den empirischen Nachweis einer Theorie nicht gerecht wird, weil unklar ist, inwieweit sich solche Einzelphänomene generalisieren lassen. So führen z.B. Young/Wallace (2000) eine Reihe von anderen Fallbeispielen aus der EU-Politik an, die
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das genaue Gegenteil belegen sollen, d.h. dass sich diffuse europäische Allgemeininteressen (Umwelt, Verbraucher) im EU-Politikprozess sehr wohl gegen verbandsmäßig gut organisierte, konzentrierte nationale Partikularinteressen (Industrie) im Rat durchsetzen bzw. zumindest angemessen behaupten können. Durch den Rückgriff auf derlei kontroverse Fall-Beispiele ist es zwar möglich, die von Weisseno (2004, 116-123) zu Recht monierte Problematik einer in vielen SchulbuchKapiteln zur EU anzutreffenden unpolitischen Problem- und Institutionenkunde zu beheben, d.h. des Fehlens der exemplarisch veranschaulichten Politics-Dimension mit ihrer Aushandlungs-, Interessen- und Machtdimension. Über Weisseno hinausgehend besteht das Ziel gestaltungsorientierter Fachdidaktik jedoch nicht (nur) darin, das Verständnis europäischer Politics anhand vereinzelter, mehr oder weniger beliebiger Fall-Beispiele als Selbstzweck zu ermöglichen und die Frage nach der normativen Legitimität der EU-Polity dann völlig unabhängig davon zu erörtern (wie z.B. bei Floren 2006: 406ff., 445ff.). Vielmehr sollten empirisch beobachtbare Politics-Prozesse erstens so weit wie möglich systematisch in Relation zu normativen gestaltungsorientierten Polity-Theorien (wie z.B. der föderativen Perspektive) gesetzt werden, um letztere empirisch überprüfen zu können. Im Falle einer didaktischen Auseinandersetzung mit der föderativen Perspektive wäre es deshalb wünschenswert, nicht nur mehr oder weniger beliebige Fall-Beispiele, sondern kategoriale Muster empirischer Politics-Prozesse in einigen ausgewählten, für die Lebensqualität besonders bedeutsamen Politikfeldern der EU (die man durch Gruppenarbeit aufteilen kann) daraufhin zu untersuchen, inwiefern sie die zentrale These der föderativen Perspektive bestätigen oder widerlegen, dass die nationalen Regierungen die heutige, stark intergouvernemental geprägte EU-Polity systematisch dazu nutzen, ihre eigenen Partikularinteressen und/oder diejenigen konzentrierter und daher gut organisierter nationaler Interessensverbände auf Kosten diffuser, schwach organisierter europaweiter Interessen durchzusetzen und dass derartige Probleme durch eine Voll-Parlamentarisierung zumindest gelindert würden. Die kategorialen Muster der empirischen Politics-Prozesse in den Politikfeldern wären dabei mit einigermaßen repräsentativen Fall-Beispielen exemplarisch zu veranschaulichen. Integrationsdidaktisch kann man dies leisten, indem man die föderative Perspektive aus der Ökonomik anhand von politologischen Politikfeldanalysen überprüft, in denen kategoriale Verhandlungsprozesse und Ergebnismuster aufgezeigt und anhand von einzelnen Fall-Beispielen exemplarisch veranschaulicht werden. Hierzu eignen sich z.B. die bereits in Kapitel 7.2.2. dargestellte Fischereipolitik der EU (CFP), aber auch die Landwirtschafts- und die Umweltpolitik der EU. So kann man anhand der europäischen Landwirtschaftspolitik (Common Agricultural Policy, CAP) z.B. anhand der Analyse von Chari/Kritzinger (2006, 129-151) verdeutlichen, dass die kritische These der föderativen Perspektive nicht nur wie gesehen in der CFP (siehe Kapitel 7.2.2.), sondern auch in der CAP zutrifft. Die CAP verschafft dem gut organisierten, konzentrierten Partikularinteresse der europäischen Bauern demnach eine über das an einem freien Agrarweltmarkt erzielbare Einkommen hinausgehende ökonomische Rente, indem a) Agrargüter bei hohem Angebot und sinkenden Preisen vom Staat zu einem politisch ausgehandelten Garantiepreis aufgekauft werden, b) der Import kostengünstigerer ausländischer Agrargüter mit Einfuhrquoten und –zöllen beschränkt wird und c) die infolge des künstlich erhöhten Inlandspreisniveaus erzeugten Überschüsse durch staatliche Exportsubventionen zu Dumpingpreisen in Entwicklungsländern verkauft werden.
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Zur Schulung eines kritischen Gerechtigkeitssinns (Deichmann 2004, 129) wäre dabei erstens hervorzuheben, dass die CAP eine protektionistische Politik ist, die auf Kosten der diffusen, auf europäischer Ebene weniger gut organisierten Interessen von Bauern in Entwicklungsländern und der europäischen Steuerzahler und Verbraucher (v.a. Geringverdienern mit einem hohen Prozentanteil der Nahrungsmittelausgaben am Haushaltsbudget) betrieben wird. Zweitens führt diese Politik, worauf der Agrarsoziologe Rieger (2005) hinweist, insofern zu einer erheblichen Verschärfung sozialer Ungleichheiten, als sie vornehmlich reiche Großbauern begünstigt. So gehen 80% (2003) aller Subventionen an das oberste Fünftel der europ. Bauern mit dem größten Landbesitz (Chari/Kritzinger 2006, 148). Nicht nur der historische Entstehungsprozess der CAP, sondern auch die drei bei Chari/Kritzinger (2006) dargestellten Fallstudien zu den Reform(versuch)en in jüngster Zeit (Mac-Sharry-Reform 1992, Agenda 2000-Reform, Fischler-Reform 2003) machen deutlich, dass die Regierungsvertreter einiger Nationen (v.a. Frankreichs, aber auch Irlands und der Mittelmeerländer) im Rat auf Druck ihrer heimischen Landwirtschafts-Lobby seit jeher massiven Widerstand gegen Reformvorschläge seitens der Kommission leisten, welche darauf abzielen, sowohl den protektionistischen als auch den ungleichheitsverschärfenden Charakter der CAP abzubauen. Auf diese Weise sind relativ weitgehende Vorschläge der Kommission, die Garantiepreise deutlich zu senken, die Höhe der individuellen Subventionen vom Produktionsumfang des jeweiligen Betriebs zu entkoppeln und an die Einhaltung ökologischer Kriterien zu binden, eine maximale Subventionshöhe pro Betrieb einzurichten, etc. im Rat der Agrarminister stets stark verwässert worden. Änderungen in jüngerer Zeit kamen nur durch äußeren Druck (WTO-Verhandlungen) zustande (Swinbank / Daug-bjerg 2006) und sind überdies unzureichender Natur, wie ökonomische und politologische Analysen übereinstimmend feststellen (Chari/Kritzinger 2006; Schrader 2004). Zur richtigen Einordnung dieses Ergebnis muss betont werden, dass das Europäische Parlament in diesem Politikfeld bisher nur ein Anhörungs-, jedoch kein Mitentscheidungs-, d.h. Veto-Recht besitzt. Ob eine Stärkung des EP (wie von der föderativen Perspektive ja vorgeschlagen) hier Besserung bringen würde, kann jedoch bezweifelt werden, da ein Abbau der Agrarsubventionen bzw. die aus Sicht der ökonomischen Theorie des Föderalismus angeratene Rückverlagerung der Landwirtschaftspolitik auf die nationale Ebene wohl nicht im institutionellen Eigeninteresse des EP liegt. Unabhängig davon bestätigt eine didaktisch ebenfalls gut geeignete Politics-Fallstudie von Krapohl/Zurek (2006) zu einem weiteren für die menschliche Lebensqualität brisanten Teilgebiet der europäischen Landwirtschaftspolitik, nämlich zum politischen Umgang mit der BSE-Krise auf der europapolitischen Ebene im Zeitraum zwischen 1986 und 2001, das obige Bild eines intergouvernementalen Mis-Managements infolge der Verfolgung partikularistischer nationaler Eigeninteressen in diesem Politikfeld. Auch hier trifft die obige These der föderativen Perspektive also zu. So bagatellisierte Großbritannien trotz z.T. frühzeitiger anderslauternder wissenschaftlicher Erkenntnisse in dem für dieses Gebiet verantwortlichen, intergouvernemental besetzten Regulierungsausschuss der EU zwischen 1986 und 1996 die Gefahr von BSE für die Gesundheit der britischen und europäischen Konsumenten, um die Wettbewerbsfähigkeit seiner Fleischindustrie vor kostenintensiver zusätzlicher Regulierung und einer Einschränkung des Zugangs zum Binnenmarkt zu schützen. Als die gesundheitlichen Risiken von BSE angesichts überwältigender wissenschaftlicher Evidenz ab 1996 nicht mehr zu verbergen waren, reagierte die Mehrheit der anderen (scheinbar) (noch) nicht von BSE betroffe-
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nen Staaten lediglich mit einem entsprechenden Importverbot für britisches Vieh und Fleischprodukte, um die eigene Bevölkerung in Sicherheit zu wiegen. Zugleich diente diese exkludierende Maßnahme jedoch nicht zuletzt den Absatz- und Gewinnchancen der jeweiligen heimischen Landwirtschaft(sindustrie). Genau aus diesem Motiv verweigerten sich diese Staaten auch den europaweiten präventiven, aber kostenintensiven Regulierungsmaßnahmen, die von wissenschaftlicher Seite empfohlen und von der Kommission im Ausschuss vorgeschlagen wurden. Diese aus Sicht der Konsumenten bedenkliche Blockade änderte sich erst, als ab dem Jahre 2000 schließlich eine Mehrheit der Mitgliedsländer offenkundig von der BSE-Seuche betroffen war. Mittlerweile ist zwar eine unabhängige europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) eingerichtet worden. Diese kann bei zukünftigen Risiken jedoch nur unverbindliche wissenschaftliche Ratschläge veröffentlichen, während die Kompetenz zum Beschluss entsprechender Maßnahmen weiterhin bei der qualifizierten Mehrheit im betreffenden intergouvernementalen Ausschuss verbleibt, da die Mitgliedsstaaten im Rat trotz der negativen Erfahrungen in der BSE-Krise aus machtpolitischen Gründen nicht zu einer Abgabe ihrer Regulierungskompetenzen bereit waren. An diesen Beispielen zur europäischen Landwirtschaftspolitik lässt sich zugleich exemplarisch aufzeigen, dass Politik nicht wie in der Politikdidaktik als „endlose Kette von Versuchen zur Bewältigung gesellschaftlicher Gegenwarts- und Zukunftsprobleme“ (Detjen/Kruber 2007, 26) oder als „Problemlöseprozess“ (Petrik 2007, 138) begriffen werden sollte, sondern als eine paradoxe, mit partikularistischen Machtinteressen aufgeladene Kette von symbolischen, bloß vorgegebenen und/oder tatsächlichen Bagatellisierungs- und Bewältigungsversuchen und der (unbeabsichtigten oder billigend in Kauf genommenen) Verursachung von gesellschaftlichen Problemen (Kapitel 4.2.). Bestätigt sich die These der föderativen Perspektive auch auf dem Politikfeld der europäischen Umweltpolitik oder führt die Tatsache, dass das Europäische Parlament in diesem Bereich im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens immerhin über ein genuines Änderungs- und Veto-Recht gegenüber dem Rat verfügt (Knill 2008, 122f.), zu einem anderen empirischen Ergebnis? Mit Blick auf die Logik kollektiven Handelns (Mancur Olson) sind ökologische Interessen angesichts ihres diffus in der Bürgerschaft verstreuten Nutzens und ihrer in konzentrierter Form bei der Wirtschaft anfallenden Kosten grundsätzlich schwerer zu organisieren als die Interessen von ökonomischen Produzenten, die in diesem Konfliktterrain zudem nicht nur von einzelnen Großunternehmen und Industrieverbänden, sondern mit Blick auf das Ziel der Arbeitsplatzsicherheit überdies auch lautstark von den Gewerkschaften artikuliert werden. Wirtschaftsverbände verfügen deshalb insbesondere auf europäischer Ebene über eine weitaus bessere Ausstattung an personellen und finanziellen Ressourcen als Umweltverbände (Eichener 2000: 199ff., 294ff.; Hey 2003, 145; Hey/Brendle 1994, 331-387; Knill 2008, 101f.; Knill/Liefferink 2007, 71). Gemäß der obigen These der föderativen Perspektive wäre somit für diesen Bereich anzunehmen, dass die nationalen Regierungen im Rat und die von ihr auf europäischer Ebene vertretenen ökonomischen Partikularinteressen der heimischen Industrie umweltpolitische Initiativen seitens der Kommission i.d.R. zumindest abblocken wollen und können. Gemessen am quantitativen Umfang der gesetzgeberischen Aktivität der EU in der Umweltpolitik und den in den zahllosen umweltpolitischen Richtlinien verankerten qualitativen ökologischen Standards kommt man unter Rückgriff auf politologische Analysen jedoch zu dem Ergebnis, dass sich diese Vermutung und damit die These der föderativen
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Perspektive in dieser Form eher nicht bestätigt. Zwar setzt sich im EU-System trivialerweise nicht jede umweltpolitische Initiative durch, die von der Generaldirektion Umwelt der Kommission in das politische Entscheidungsverfahren eingespeist wird, doch wird die umweltpolitische Gesetzgebung der EU im Vergleich mit der Mehrzahl der nationalstaatlichen Standards in den meisten Bereichen als relativ ambitioniert charakterisiert; sie stellt zumeist alles andere als eine Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner dar (Hey 2003: 146; Holzinger 1994; Knill 2008, 216; Eichener 2000: 36ff., 116ff.). Um dies verständlich zu machen, muss zur Differenzierung der föderativen Perspektive zum einen klargestellt werden, dass der europäische Gesetzgebungsprozess in diesem Politikfeld nicht mehr als intergouvernemental, sondern eher als hybrid bezeichnet werden kann, weil das Europäische Parlament (EP) hier im Gegensatz zur CAP und CFP über ein gleichberechtigtes Mitentscheidungsrecht verfügt. Bisher ist das EP i.d.R. für strenge und weitreichende ökologische Standards eingetreten, die zumeist über die Vorstellungen von Kommission und Ministerrat hinausgingen (Knill 2008: 97, 123). Dabei ist es in einer überraschend hohen Zahl der Fälle erfolgreich gewesen (Eichener 2000, 268). Zum anderen gibt es im Rat eine relativ feste Koalition aus ökologischen Vorreiterstaaten (Dänemark, Finnland, Niederlande, Österreich und Schweden, zu der ehemals auch die BRD zählte), die sich im Rat nachdrücklich für Umweltinteressen einsetzt (Liefferink/Andersen 1998). Repräsentative Fall-Beispiele für umweltpolitische Politics-Prozesse auf europäischer Ebene, anhand deren sich sowohl das obige kategoriale Ergebnismuster als auch die für die Umweltpolitik insgesamt kategorialen Interessenkonflikte (Kapitel 4.3.) didaktisch gut veranschaulichen lassen, sind z.B…. a.
…die Ende der 80er Jahre verabschiedete Richtlinie zur Kontrolle der Emissionen von industriellen Großfeuerungsanlagen (Eichener 2000, 123-125; Knill 2008, 141-146), welche auf das Problem des u.a. durch grenzüberschreitende Schwefeldioxide und Stickoxide verursachten Waldsterbens abzielte. Zwar wurde der politische Prozess viele Jahre durch die Partikularinteressen Großbritanniens blockiert, welches aufgrund seiner Insel- und der Westwindwetterlage seine Externalitäten nach Skandinavien und Kontinentaleuropa `exportieren´ konnte, um seinen Energiesektor vor den zusätzlichen Kostenbelastungen infolge der für die Emissionsreduktion notwendigen Umwelttechnologie zu schützen. Dem stand jedoch nicht nur eine Kommission gegenüber, die ein starkes bürokratisches Eigeninteresse am Ausbau ihrer Kompetenzen besaß, sondern auch die nationale Industrie Deutschlands, unter deren Druck die deutsche Regierung ihre nationalen hohen umweltpolitischen Standards in Europa verbreiten wollte, um der hoch entwickelten deutschen Umweltgüterindustrie neue Absatzmärkte zu verschaffen und für eine annähernde Gleichheit der ökologischen Wettbewerbsbedingungen zu sorgen. Dieser Versuch von Staaten mit hohen umweltpolitischen Standards, diese durch die EU zu europäisieren, ist ein generelles Charakteristikum europäischer Umweltpolitik, das für deren Ätiologie von kategorialer Bedeutung ist. Hinzu kamen der Druck eindeutiger wissenschaftlicher Evidenz einer Schädigung skandinavischer Böden und Gewässer durch britische Emissionen, ein innenpolitischer Wandel in Folge des steigenden Umweltbewusstseins der britischen Bevölkerung, die Isolierung der englischen Vertretung im Rat durch abgestufte Grenzwerte für die wirtschaftlich rückständigen Staaten der iberischen Halbinsel und infolgedessen zunehmend hohe Reputationskosten, die nega-
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Wie kann man ein lebenswertes politisches System gestalten? tiv auf die britische Verhandlungsposition in anderen Politikfeldern ausstrahlten (Schatten der Zukunft), denn im EU-Verhandlungssystem unterliegt das renitente Verfolgen von nationalen Sonderinteressen, sofern diese sich in der Minderheit befinden, ab einem gewissen Punkt einer informellen reziproken Sanktionierung. An diesem Beispiel kann man didaktisch zeigen, dass es bisweilen auch in politischen Verhandlungen so etwas wie eine unsichtbare Hand gibt, die die eigennützigen Interessen der politischen Akteure hin zu einer Kooperation zum Wohle des transnationalen Gemeinwohls führt. Aus diesem Grunde muss der intergouvernementale Charakter der EU zumindest nicht zwangsläufig zu einer mangelnden Output-Legitimität führen, wie die föderative Perspektive pauschal annimmt. Mit Blick auf das übergeordnete Urteilskriterium der Lebensqualität kann man die gestaltungsorientierte Salienz dieser politologischen Politics-Analyse integrationsdidaktisch dadurch herauszustellen, dass man sie mit einer empirischen Studie aus der Psychoökonomik (Lüchinger 2007) ergänzt, die nachweist, dass die mittlerweile in Europa erzielte Reduktion der Schwefeldioxid-Konzentration in der Luft zu einer erheblichen Steigerung des durchschnittlichen subjektiven Wohlbefindens geführt hat.
b.
…die 2003 beschlossene Emissionshandels-Richtlinie (Christiansen/Wettestad 2003; Corbach 2007; Skjaerseth/Wettestad 2008; Wettestad 2005), welche sich integrationsdidaktisch nicht nur zur Prüfung der föderativen Perspektive eignet, sondern es zugleich ermöglicht, die politologische Analyse von Politics und die ökonomische Analyse von Marktmechanismen synergetisch aufeinander zu beziehen, um sowohl mit Blick auf ökonomische Allokations- und Distributionswirkungen die Legitimität der Richtlinie einzuschätzen als auch mit Blick auf die Realpolitik den Möglichkeitsraum des politisch Durchsetzbaren beurteilen zu können. Nicht zuletzt eignet sich die didaktische Verwendung dieses Fallbeispiels auch aufgrund der Bedeutung des Klimawandels für die künftige Lebensqualität. Die Richtlinie verpflichtet Industriesektoren mit hohem Ausstoß von klimaschädlichem Kohlendioxid (CO²) dazu, ihre Emissionen durch vom Staat ausgegebene handelbare Zertifikate abzudecken, deren Gesamtumfang gedeckelt wird. Mit Hilfe eines solchen Cap-and-Trade-Systems können laut ökonomischer Analyse ökologische Verbesserungen mit den geringstmöglichen Kosten erzielt werden (Rudolph 2005, 22-71). Mit Unterstützung vieler Mitgliedsstaaten und der Mehrheit des EP gelang es der Kommission, das von ihr gewünschte und aus ökonomischer Sicht auch sinnvolle verpflichtende System gegen den heftigen Widerstand zweier überaus einflussreicher Mitgliedsstaaten durchzusetzen, nämlich Großbritannien und insbesondere Deutschland – und zwar ohne signifikante Konzessionen. Deren Regierungen, aber auch die Mehrheit ihrer nationalen EU-Parlamentarier setzten sich unter dem energischen Druck und Lobbying ihrer heimischen Industrieverbände (empirisch umfassend dokumentiert bei Conrad 2007) vergeblich für ein rein freiwilliges System ein, welches aus wissenschaftlicher Sicht wenig sinnvoll ist. Zwar erfolgen die Bestimmung der jeweiligen Zertifikatsgesamtmenge und die Zuteilung der Zertifikate auf die Sektoren und Unternehmen auf Drängen der Mitgliedsstaaten auf dezentraler Ebene durch die jeweilige nationale Regierung, was institutionenökonomisch betrachtet mit Blick auf die dadurch geschaffene Dilemmasituation pro-blematisch ist. Allerdings konnten sich die Kommission und das
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EP mit ihrer Forderung durchsetzen, dass die Kommission das Recht besitzt, diese Nationalen Allokationspläne (NAP), d.h. insbesondere die Zertifikatsgesamtmenge anhand einer Reihe von Kriterien zu prüfen und bei deren Verletzung zurückzuweisen, d.h. zu kürzen. So kam es zwar bei den NAP I für die Periode 2005-2007 infolge des Drucks der nationalen Industrien auf ihre Regierungen während der Zertifikatsvergabe zu einer generösen Überallokation der Zertifikate mit entsprechendem Preisverfall, doch hat die Kommission bei der Vorlage der NAP II (2008-2012) deutlich strengere Maßstäbe angelegt und erhebliche Kürzungen durchgesetzt. Gegenüber einer daraus ableitbaren optimistischen Deutung der Durchsetzungskraft des gesamteuropäischen ökologischen Interesses an der Senkung der CO²-Emissionen gegen partikularistische Produzenten-Interessen, wie sie z.T. in der politologischen Studie von Skjaerseth/Wettestad (2008) anklingt, muss integrationsdidaktisch unter Rückgriff auf die Ökonomik des Zertifikatehandels jedoch die Salienz eines prekären Punktes herausgearbeitet werden, der in ihrer Analyse zu Unrecht heruntergespielt wird. Dieser betrifft die Entscheidung für eine kostenlose Vergabe der Zertifikate gegenüber deren staatlicher Versteigerung. Letztere wird von den meisten Energieökonomen nicht nur als effizienter, sondern auch als gerechter erachtet (z.B. Budzinski 2006; Diekmann/Schleich 2006; Kemfert/Diekmann 2006), weil sie die Entstehung von massiven „Windfall-Profits“ zugunsten der Energieerzeuger auf Kosten der Energieverbraucher verhindert (in der BRD in Höhe von ca. 5 Mrd. € / Jahr), denen die Erzeuger die Opportunitäts-Kosten64 der Zertifikate auf die Strompreise aufschlugen (vgl. dazu Schlemmermeier/Schwintowski 2006; Williams-Derry/de Place 2008). Obwohl sich auch die Ökonomen in der Generaldirektion Umwelt der Kommission hierüber im Klaren gewesen sein müssen, wurde im Richtlinien-Vorschlag der Kommission von 2001 dennoch die kostenlose Vergabe vorgeschlagen, während sie im vorangehenden Grünbuch von 2000 noch die Auktionierung empfahl. Ein wesentlicher Grund für diese Änderung war, dass sich europäische Industrieverbände und eine Staatenmehrheit in den zwischenzeitlichen Anhörungen vehement gegen eine Auktionierung aussprachen, sodass diese in den Augen der Kommission das gesamte Projekt gefährdet hätte. Mit demselben Argument wies Umwelt-Kommissarin Wallström auch das Ansinnen des EP zurück, dass mindestens 15% der Zertifikate versteigert werden sollten. Laut politologischen Analysen (Breitmeier/Young/Zürn 2006) von internationalen Umweltregimen erweist es sich jedoch in der Tat als strategisch klüger, die Umsetzung eines umweltökonomischen Optimums und die damit verbundene Einschränkung des wirtschaftlichen Freiheitsspielraums der Akteure nur schrittweise anzustreben. Hierzu passt, dass die Kommission in ihrem jüngsten Vorschlag (Januar 2008) zur Reform des Systems für die Periode ab 2013 nicht nur für eine einheitliche europäische Reduktionsvorgabe, sondern auch für einen Auktionsanteil von 60% wirbt.
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Ein Erzeuger, der ein Zertifikat kostenlos erhält, kann dieses zum aktuellen Handelswert verkaufen anstatt es für die Stromproduktion zu verwenden. Folglich wird er es nur dann für die Stromproduktion verwenden, wenn diese infolge eines von ihm erhöhten Strompreises mindestens genauso profitabel ist. Bei Versteigerung der Zertifikate erhöht sich der Strompreis zwar auch, doch kann der Staat die Verbraucher mit Hilfe seiner Erlöse kompensieren (z.B. durch Steuersenkung).
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An beiden Fall-Beispielen lässt sich aufzeigen, dass man mit Hilfe der These der föderativen Perspektive zwar einen auch in der Umweltpolitik wichtigen kategorialen Aspekt europäischer Politikverhandlungsprozesse erkennen kann, dieser Faktor dort zunächst allerdings nicht derart ausschlaggebend für das politische Endresultat zu sein scheint, wie sie behauptet. Trotzdem wäre es jedoch nicht angemessen, die europäische Umweltpolitik als ein Politikfeld hinzustellen, auf dem die Kritik der föderativen Perspektive an der heutigen EU größtenteils widerlegt wird, wie man zunächst meinen könnte. Didaktisch kommt es hier vielmehr (auch) darauf an, die Schüler für (partielle) Differenzen zwischen oberflächlichem Schein und faktischem Sein als einem kategorialen Aspekt politischer Wirklichkeit zu sensibilisieren, wie politologische Analysen zeigen. Denn erstens zeigt sich, dass der immer noch starke Widerstand partikularistischer nationaler Interessen im umweltpolitischen Verhandlungsprozess der EU häufig dazu führt, dass aus Sicht des Laien scheinbar anspruchsvolle ökologische Richtlinien durch unbestimmte Rechtsbegriffe und juristisch unscharfe, vage Formulierungen aufgeweicht werden, die große Interpretationsspielräume bei der praktischen Umsetzung auf nationaler Ebene bieten (Eichener 2000, 314ff.; Knill 2008: 77, 119f., 216). Dieser Sachverhalt eignet sich didaktisch gut zur exemplarischen Veranschaulichung symbolischer Politik: allen beteiligten Akteuren (nicht zuletzt den auf ihr Ansehen in der europäischen Bevölkerung bedachten supranationalen EU-Organen) gelingt es auf diese Weise, offiziell einen umweltpolitischen Erfolg reklamieren zu können, ohne dass jedoch alle nationalen Regierungen in der Praxis wirklich handfeste Maßnahmen durchsetzen müssen. Zweitens kommt hinzu, dass die europäische Umweltpolitik auch in Bereichen mit relativ handfesten Vorschriften laut empirischen Studien durch signifikante Implementationsdefizite (Knill 2008, 161-181) gekennzeichnet ist, weil die Konkretisierung, rechtliche Umsetzung und praktische Anwendung der europäischen Richtlinien den Nationalstaaten bzw. deren Behörden obliegt und es der für die Überwachung zuständigen Generaldirektion Umwelt der Kommission an den dafür nötigen Finanz-, Informations- und Personalressourcen fehlt. Zudem kann eine zu starke Insistenz auf effektive Implementation die Unterstützung des allgemeinen Integrationsprozesses durch die betreffenden Staaten gefährden, was die Generaldirektion Umwelt in interne Konflikte innerhalb der Kommission stürzen kann,… „…insbesondere dann, wenn eine effektive Umsetzung europäischer Vorgaben den Interessen einflussreicher gesellschaftlicher Akteure auf nationaler Ebene entgegensteht. (Puchala 1975, 513; Falkner/Hartlapp/Treib 2007).“ (Knill 2008, 167).
Ein didaktisch verwendbares, repräsentatives Fallbeispiel für diese europapolitischen Implementations- und Unverbindlichkeitsdefizite, ist z.B. die 1985 verabschiedete europäische Richtlinie zur Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) in der BRD (Albert 1997; für weitere Beispiele siehe Eichener 2000, 30). Die UVP-Richtlinie, welche gemäß den Intentionen der Kommission auf die Etablierung eines am Vorsorgeprinzip orientierten und holistisch ausgerichteten ökologischen Evaluierungsverfahrens für private und öffentliche Bauvorhaben zielte, war Ergebnis eines schwerfälligen Verhandlungsprozesses, in den keiner der nationalen Akteure im Rat ein genuines umweltpolitisches Problemlösungsinteresse einbrachte. Stattdessen ging es jedem der Beteiligten darum, einerseits ein durch ihn verursachtes Scheitern und eine damit verbundene Bloßstellung in der Öffentlichkeit als umweltpolitischer Bremser zu vermeiden, andererseits jedoch zugleich nationale Partikular-
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interessen am ökologisch defizitären Status Quo zu verteidigen. Letztere wurden in Deutschland de facto vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) definiert, dessen Forderungen sich die damalige Regierung in den Verhandlungen zu Eigen machte. Infolgedessen zeichnete sich die Richtlinie in weiten Teilen durch Regelungen mit sehr großen Interpretationsspielräumen aus, die sich so in deutsches Verwaltungsrecht umsetzen ließen, dass sich an der administrativen Praxis im Großen und Ganzen nichts änderte. Angesichts der auf nationale Partikularinteressen zurückgehenden Verbindlichkeitsund Implementationsdefizite kann man also auch für den Bereich der europäischen Umweltpolitik zumindest teilweise von einer Bestätigung der obigen föderativen These sprechen. Somit zeigt sich, dass eine eigenständige didaktische Integration der Disziplinen im Sinne einer konkretisierenden Veranschaulichung bzw. Prüfung einer für sich genommen zu allgemeinen Polity-These aus der Ökonomik durch detaillierte Politics-Analysen aus der Politologie fruchtbar für die europapolitische Urteilsbildung der Schüler sein kann. Gleichwohl ist dabei zwischen der Polity-Diagnose der föderativen Perspektive und der von ihr empfohlenen Polity-Therapie zu differenzieren. Denn ob die von der föderativen Perspektive empfohlene Voll-Parlamentarisierung der EU geeignet wäre, die skizzierten Probleme europäischer Umweltpolitik zu beheben, erscheint aus politologischer Sicht angesichts der möglichen Nebenwirkungen (Kapitel 4.4.2.) dieses Vorschlags als fraglich: „Allerdings bleibt offen, ob ein Parlament mit erheblich erweiterten Kompetenzen umweltpolitisch gesehen noch dasselbe Parlament wäre. Es bestünde die Gefahr, dass – läge die entscheidende legislative Macht auf Seiten des EP – die nationalen umweltpolitischen Differenzen im Parlament sehr viel stärker [als heute, T.H.] zutage treten würden, mit der Konsequenz, dass die nationalen Konflikte vom Ministerrat ins Parlament verlagert würden. Dies könnte zu mehr `politischem Realismus´ der Parlamentarier und damit zu gemäßigteren Umweltschutzforderungen führen.“ (Knill 2008, 97; meine Hervorhebung T.H.)
Die föderative Perspektive aus der Ökonomik und die obigen politologische Politikfeldanalysen zur europäischen Umweltpolitik können didaktisch also sowohl im synergetischen als auch im antagonistischen Sinne aufeinander bezogen werden. Zugleich kann man so die (möglichen) Grenzen einer (hier: ökologisch rationalen) Gestaltbarkeit von Gesellschaft (Kapitel 4.4.) durch Politik aufzeigen, d.h. hier die Tatsache, dass es für das notorische Problem nationaler Partikularismen womöglich keine so einfache Polity-Lösung gibt, wie die föderative Perspektive glaubt.
7.2.4 Die partizipative Perspektive Ebenso wie die föderative Perspektive rückt auch die zweite aus der Ökonomik stammende, nämlich die partizipative Perspektive, die Prinzipal-Agent-Problematik zwischen den politisch Verantwortlichen und der Bürgerschaft in den Mittelpunkt ihrer Begründung eines Demokratiedefizits der EU. Auf europäischer Ebene sei dieses Problem noch stärker als im Nationalstaat ausgeprägt (Feld/Kirchgässner 2004, 7), sodass sich den Repräsentanten der Bürger hier ein noch größerer Spielraum für die Verfolgung opportunistischer Zwecke biete. Der Grund hierfür liege darin, dass die Transparenz und Zurechenbarkeit politischer Verantwortlichkeit angesichts der besonders komplex verschachtelten Verhandlungs- und
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Entscheidungsprozesse in der EU noch geringer sei und der politische Informationsstand der Bürger mit steigender Entfernung der politischen Ebene abnehme. Hinzu komme, dass das Rent-Seeking gut organisierter Partikularinteressen durch Europäisierung vereinfacht werde, da diese infolge der Übertragung politischer Kompetenzen von der Vielzahl der einzelnen Mitgliedsstaaten auf die zentrale europäische Ebene deren Lobbying-Kosten senke. Integrationsdidaktisch kann man das letzte Argument kritisch hinterfragen und so eine interdisziplinäre Diskussion anstoßen, indem man dieses mit der in der Politikwissenschaft verbreiteten Sichtweise konfrontiert, wonach die Autonomie der Politik gegenüber Lobbyismus auf der europäischen Ebene im Vergleich zur nationalen Ebene höher sei (Michalowitz 2007: 44, 66, 172ff.; Grande 1996). Zum einen sei die politische Karriere der Verantwortlichen weitgehend unabhängig von der Unterstützung europäischer Interessengruppen und zum anderen sei politische Macht in der EU eben nicht zentralisiert, sondern auf drei verschiedene Organe verteilt (die in sich häufig noch einmal politisch gespalten sind, z.B. in Form der verschiedenen Generaldirektionen der Kommission mit ihren teilweise unterschiedlichen politischen Präferenzen) und werde in informellen Trilogen austariert. Dies verschaffe Politikern einen Spielraum zum wechselseitigen `Blame-Shifting´, weshalb es Lobbyisten in diesem Geflecht schwer falle, bei Nicht-Erfüllung ihrer Interessen das Ausmaß der jeweiligen Verantwortlichkeit zuzuschreiben. Im Gegensatz zur föderativen Perspektive, die das Prinzipal-Agent-Problem sehr stark auf die Beziehung zwischen den Regierungen im Ministerrat und den Bürgern fokussiert, betont die partizipative Perspektive, dass dies zwar zutreffend sei (Kirchgässner 2006, 161), der Opportunismus der europapolitischen Elite jedoch ein generelles, grundsätzlich jedes EU-Organ betreffendes Legitimitäts-Problem der europäischen Politik darstelle (Feld/ Kirchgässner 2004). Im Gegensatz zur Apologetik der intergouvernementalen Perspektive sei es sicherlich unakzeptabel, dass eine nicht direkt durch europäische Wahlen legitimierte Bürokratie wie die EU-Kommission ein Monopol für die Gesetzesinitiative besitze. Allerdings sei auch die von der föderativen Perspektive angestrebte Parlamentarisierung der EU in dieser Form problematisch, weil sie zu einer verstärkten Machtkonzentration führen könne, weil das EP laut empirischen Studien mehr politische Kompetenzen wünsche als dies von den Bürgern befürwortet werde (Feld 2005: 8, 13; Schneider 2006, 3). Dies könne eine zusätzliche Zentralisierung von politischen Kompetenzen in Gang setzen, welche vereinheitlichende Politiken wider die regional variierenden Präferenzen der Bürger begünstige und das Prinzipal-Agent-Problem weiter verschärfe. Zudem würden ohne einen europäischen Demos Mehrheitsentscheidungen des EP von einer auf bestimmte Nationen konzentrierten Minderheit nicht akzeptiert. Eine bloße Parlamentarisierung reiche nicht aus, um die Herausbildung dieses Demos zu fördern (Feld/Kirchgässner 2004, 1). Didaktisch gut veranschaulichen lässt sich die abstrakte These eines generellen, verstärkten Opportunismus der politisch Verantwortlichen in der EU am Beispiel der Vergütung / Finanzierung der europapolitischen Verantwortungsträger / der europäischen Parteien. Hierzu lässt sich eine ausführliche Studie aus der Rechtswissenschaft (Von Arnim 2006) heranziehen, die den normativen Impetus der partizipativen Perspektive teilt. Entgegen der idealistischen Definition von Politik als Problemverarbeitungsprozess in der heutigen Politikdidaktik (z.B. Detjen/Kruber 2007) kann auf diese Weise eine wichtige, in den EU-Kapiteln politikdidaktischer Schulbücher (Detjen 2006b, 141ff.; Floren 2006, 371ff.; Heither/Klöckner/Wunderer 2006, 152ff.) ausgesparte, ökonomische Dimension politischen
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Handelns aufgezeigt werden, sodass deutlich wird, dass Politik nicht zuletzt auch als eine `prinzipiell endlose Kette von Versuchen der Verfolgung eigener Privilegien´ verstanden werden kann. Von Arnim (2006) verweist hierzu zunächst auf signifikante Einkommensprivilegien der europapolitischen Klasse. So würden EU-Beamte eine im Schnitt etwa doppelt so hohe Vergütung erhalten als deutsche Staatsdiener, welche vergleichbare Tätigkeiten ausüben. Hinzu kämen steuerrechtliche Privilegien. Die Gehälter von EU-Beamten fallen nicht unter die nationalstaatlichen Steuerregelungen, sondern unterliegen einer Gemeinschaftssteuer, die aufgrund von hohen steuerfreien Zulagen sowie Steuerrivilegien bei der Behandlung zusätzlicher Einkommen und der Einkommen des Ehepartners sehr viel niedriger sei. Zudem liege auch das Versorgungsniveau im Alter deutlich über demjenigen der nationalen Beamten. Teilweise noch etwas deutlicher fielen die Vergütungsdifferenzen zwischen deutschen Ministern, Richtern und Rechnungshofmitgliedern auf der einen Seite und europäischen Kommissionsmitgliedern, Richtern und Rechnungshofmitgliedern auf der anderen Seite aus (Von Arnim 2006, 181-193 & 219-227). Noch deutlicher sei jedoch die Selbstbedienungsmentalität der europäischen Volksvertreter im EP ausgeprägt. Abgeordnete des EP bekommen zusätzlich zum Grundgehalt, das derzeit noch demjenigen ihrer Kollegen in den Nationalparlamenten entspricht, sehr generöse pauschale Kostenerstattungen (Tagegeld für das Leben in Brüssel/Straßburg, Reisekosten, mandatsbedingte Kosten) in Höhe von etwa € 10000 / Monat zugewiesen, ohne dass dies auch nur annähernd den tatsächlich anfallenden Kosten entspreche und ohne dass die Parlamentarier ihren tatsächlichen Aufwand durch Belege nachzuweisen hätten. Die Folge sei weit verbreitete Spesenreiterei und die Verwendung eines sehr großen Teils der Pauschalen für persönliche Ausgaben. Beispielsweise werde ein großer Teil der sog. mandatsbedingten Kosten (z.B. EDV-Geräte) der deutschen Abgeordneten im Europaparlament gleichzeitig sowohl vom deutschen Bundestag als auch von der EU, d.h. doppelt erstattet. Damit nicht genug erhielten die Europaparlamentarier zusätzlich noch eine Zulage für die Beschäftigung von Mitarbeitern in Höhe von derzeit ca. € 15000 pro Monat, die seit Jahren durch jährliche Steigerungsraten zwischen 7% und 20% auf sich aufmerksam macht. Das eigentlich Problematische dieser „Zulage für parlamentarische Assistenz“ bestehe jedoch v.a. darin, dass sie dem Nepotismus, d.h. der Vetternwirtschaft zugunsten von Familienmitgliedern Vorschub leiste. Denn für EU-Parlamentarier besteht kein Verbot, mit diesem Geld Ehegatten und Verwandte einzustellen (ohne Prüfung von deren Qualifikation durch eine übergeordnete Instanz), wohingegen deutschen Bundestagsabgeordneten diese Praxis gesetzlich untersagt ist. Diese Praxis sei denn auch weit verbreitet. Hinzu komme eine Altersversorgung, deren Höhe den Bürgern angesichts der ihnen in diesem Bereich bevorstehenden Kürzungen nicht vermittelbar sei: so erwirbt ein Abgeordneter des EP nach einer einzigen fünfjährigen Legislaturperiode einen Pensionsanspruch in Höhe von € 1200 / Monat (Von Arnim 2006, 314 & 325). Eine ähnliche Selbstbedienungsmentalität der politischen Klasse in Europa sei auch im Bereich der Parteienfinanzierung zu erkennen. Das deutsche Parteienrecht schreibt für die öffentliche Alimentierung der Parteien eine relative Obergrenze vor, indem der rechtlich zulässige Anteil der staatlichen Finanzierung an der gesamten Finanzierung einer Partei auf maximal 50% begrenzt wird. Diese Vorschrift soll dazu dienen, die Responsivität der Parteien gegenüber der Bevölkerung zu erhöhen, damit eine Partei auf Mitgliederbeiträge, Wählerstimmen und Spenden angewiesen bleibt. Demgegenüber beträgt die entsprechende
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Obergrenze für europäische Parteien schon rechtlich gesehen lediglich 75%, im Grunde genommen jedoch 100%, weil Zuwendungen von nationalen Parteien und Parteisteuern für Abgeordnete nach europäischem Parteienrecht kontrafaktisch als private Mittel angerechnet werden. Dies führe zu einer unkontrollierten Selbstbedienung der europäischen Parteien, da dass EP bzw. dessen Präsidium faktisch ohne Kontrolle durch den Rat eigenmächtig über den Finanzierungsumfang entscheide (Von Arnim 2006, 164-176). Anstelle einer Parlamentarisierung der EU (wie von der föderativen Perspektive befürwortet) empfehlen die Ökonomen der partizipativen Perspektive daher v.a. eine verstärkte direktdemokratische Kontrolle des europapolitischen Entscheidungsprozesses durch die Bürger (Feld/Kirchgässner 2004; Feld 2005; Kirchgässner 2006). Aufgrund dieser weitreichenden Reformvorschläge ist die partizipative Perspektive dazu geeignet, Ist-Aussagen über die EU von Soll-Aussagen zu trennen und (implizite) funktionalistische Fehlschlüsse vom Sein auf das Sollen durch bloße Darstellung der Realität zu vermeiden. Zugleich wird an der partizipativen Perspektive wiederum deutlich, dass die Ökonomik entgegen anderslautenden Wahrnehmungen aus der Politikdidaktik (z.B. Massing 2006; Scherb 2005) und der Ökonomikdidaktik (Kaminski 2007; Kruber 2005; Willke 2006) sehr wohl – auch – eine „Theorie der Machtprozesse“ darstellt, die sich mit der Legitimität unterschiedlicher Regierungsformen auseinandersetzt und die einen wichtigen Beitrag zur Erörterung politischer Teilhabemöglichkeiten leisten kann. Erstens seien die konstitutionellen Grundlagen der Union, d.h. jede von der Politik beabsichtigte Verabschiedung / Änderung einer EU-Verfassung / der EU-Verträge sowie jede Verlagerung von politischen Kompetenzen auf eine andere föderale Ebene stets an ein europaweites obligatorisches Verfassungsreferendum zu koppeln, wobei eine Annahme mit doppelter Zwei-Drittel-Mehrheit (d.h. aller teilnehmenden Bürger und europäischen Völker) erfolgen soll (Feld/Kirchgässner 2004, 13ff.; Feld 2005, 9ff.). Denn es sei nicht legitim, wenn – wie im Falle des Europäischen Konvents zur Erarbeitung des Verfassungsentwurfs – ausgerechnet Vertreter des EP, der nationalen Parlamente und Regierungen sowie der EU-Kommission, die ja vornehmlich ihre eigenen, partikularistischen Interessen verfolgen würden, ohne jegliche Rückkopplung an die europäische Bevölkerung eigenmächtig diejenigen grundlegenden Regeln ausarbeiten, die später ihr Verhalten kanalisieren sollen. Das Erfordernis einer Zwei-Drittel-Mehrheit sei optimal, da diese Entscheidungsregel die Summe der politischen Gesamtkosten aller Beteiligten (Kosten des Überstimmtwerdens plus Einigungskosten) minimiere, d.h. auf der einen Seite möglichst wenige Interessen verletzte ohne zu übermäßiger politischer Immobilität infolge von authentischen oder taktischen Blockaden zu führen (Kirchgässner 2006: 156f., 166f.). Zweitens sei in den EU-Verträgen bzw. einer eventuellen künftigen Verfassung die Möglichkeit einer vom Volk selbst ausgehenden Verfassungs- und GesetzgebungsInitiative zu verankern (Feld/Kirchgässner 2004, 15ff.; Feld 2005, 9ff.; Kirchgässner 2006, 167), die es der europäischen Bürgerschaft ermöglichen soll, per doppelter Zwei-DrittelMehrheit über eine Verfassungsänderung bzw. mit doppelter einfacher Mehrheit über ein neues Gesetz abstimmen zu lassen, sofern es den Initiatoren eines solchen Volksbegehrens gelingt, innerhalb eines bestimmten Zeitraums Unterschriften von 5% der Europäer zu sammeln (Feld 2005, 11f.; Schneider 2006, 5). Neben einer besseren Kontrolle der europäischen Politik durch die Bürger (Kirchgässner 2006, 167) und erhöhter Anreize für diese, sich europapolitisch zu informieren, könne durch direkte Demokratie eine lebhafte europäische Öffentlichkeit entstehen. Im Vergleich zu einer bloßen Parlamentarisierung (föderative
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Perspektive) sei direkte Demokratie weitaus eher in der Lage, bei den Bürgern ein kollektives europäisches Bewusstsein zu fördern (Kirchgässner 2006, 167), d.h. einen europäischen Demos zu kreieren (Schneider 2006, 12), um so Empathie für die anderen europäischen Nationen zu wecken (Feld 2005: 8, 23). Dabei wird eine Parallele zur historischen Entwicklung in der Schweiz nach dem Schweizer Bürgerkrieg von 1847 gezogen: “Like in Switzerland in the 19th century, the introduction of referenda could help to develop such a consciousness which might help that in the long run redistributional measures would be accepted by the European citizens also at the European level. The discourse among citizens that precedes the referendum or initiative decisions at the EU level helps to transform individual self-interest of citizens to a public interest and the national to European public interests.” (Feld/Kirchgässner 2004, 11f.)
Um die direktdemokratische Kontrolle zusätzlich zu stärken und einen intensiven politischen Parallelwettbewerb zu entfachen, schlägt Vaubel (2001, 118) zudem vor, die Bürger einen „Europäischen Senat“ wählen zu lassen, dessen einzige Befugnis darin bestehen soll, politische Alternativen zum derzeitigen gesetzlichen Status Quo (z.B. ein europäisches Diäten- oder Parteienfinanzierungsgesetz) oder aktuell diskutierten Gesetzesvorschlägen in einem Politikfeld zur Abstimmung vorzulegen, deren Ergebnis für die politisch Verantwortlichen verbindlich wäre. Drittens soll die Bevölkerung jedes Mitgliedsstaates ein Sezessionsrecht erhalten, welches bei qualifizierter Zwei-Drittel- oder Drei-Viertel-Mehrheit in einer entsprechenden nationalen Volksabstimmung ausgeübt werden könne, um auf diese Weise den Respekt der europäischen Politik vor intensiven spezifischen politischen Präferenzen der nationalen Völker zu stärken (Feld 2005, 18; Schneider 2006, 5). Schließlich plädiert die partizipative Perspektive genauso wie die föderative Perspektive dafür, der demokratisch nicht legitimierten Kommission das Recht zur Gesetzesinitiative zu entziehen und diese auf eine reine Ministerialbürokratie zurückzustufen, welche einer vom EP gewählten europäischen Regierung zuarbeitet (Schneider 2006, 4). Im Gegensatz zur föderativen Perspektive sollen deren Handlungen jedoch laufend durch die oben aufgeführten direktdemokratischen Institutionen kontrolliert werden. Zum anderen soll der Rat nicht abgeschafft werden, sondern in Form einer zweiten Kammer als zusätzliches Kontrollorgan fungieren, in dem jeder Mitgliedsstaat ein gleichwertiges Stimmrecht besitzt, und deren Mehrheit auf den konstitutionell zu vereinbarenden Gebieten der konkurrierenden Gesetzgebung über ein Veto-Recht verfügt. Es wird also für ein bikameralistisches System plädiert (Schneider 2006, 4), welches aufgrund der damit oft einhergehenden Verhandlungszwänge und der daraus folgenden Tendenz zur Verhinderung politischer Extreme für sinnvoll erachtet wird (Feld/Kirchgässner/Savioz 1999, 169-172; Feld/Kirchgässner 1996). Zugleich soll durch die Weiterexistenz des Rates das Prinzip der Subsidiarität besser gegen das Zentralisierungsinteresse des EP verteidigt werden können, d.h. die Leitlinie, dass die übergeordnete europäische Ebene zur Wahrung der Bürgernähe der Politik nur dann tätig wird, wenn die Einheiten der unteren Ebene jeweils für sich nicht in der Lage sind, das betreffende Problem in zufriedenstellender Weise zu lösen (z.B. bei europäischen Kollektivgütern). Didaktisch bietet es sich im Fall der Auseinandersetzung mit dem Reformvorschlag der partizipativen Perspektive an, sich auf deren direktdemokratischen Kern zu fokussieren
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und zu reflektieren, wie der Entwurf zu einer europäischen Verfassung bzw. der darauf basierende Vertrag von Lissabon diesbezüglich aus partizipativer Perspektive beurteilt würde. Da in Artikel I-46 EVV bzw. in Artikel 11 Absatz 4 EUV lediglich ein PetitionsRecht von mindestens 1 Mio. Bürger aus einer erheblichen Zahl an Mitgliedsstaaten vorsehen, die Kommission unverbindlich zu einer Gesetzesinitiative aufzufordern, fällt die Bewertung aus dieser Sicht negativ aus. Sodann kann man kritisch prüfen, ob eine auf der Argumentation der partizipativen Perspektive basierende Ablehnung des Vertrags tatsächlich überzeugen kann. Hierzu kann man den Optimismus bzgl. der europapolitischen Kompetenz bzw. Lernfähigkeit des europäischen Durchschnittsbürgers seitens der partizipativen Perspüektive aus der Ökonomik mit dem entsprechenden Pessimismus insbesondere der intergouvernementalen Perspektive aus der Politologie kontrastieren. Anschließend können diese kontroversen theoretischen Positionen (exemplarisch) anhand von empirischen Fall-Studien (z.B. Chari 2008; Großkopf 2007) zur politischen Kompetenz der Bürger z.B. in den EU-Referenden in Frankreich, Spanien und den Niederlanden (2005), Norwegen (1994) und Irland (2002, 2008) sowie zur politischen Dynamik des begleitenden öffentlichen Diskussionsprozesses untersucht werden. Hierbei kann dem irischen Fall besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, weil dort aufgrund einer Verfassungsklausel bisher die meisten EU-Referenden stattgefunden haben (jede Änderung der EU-Verträge muss dort durch die Bevölkerung abgesegnet werden) und die partizipative Perspektive ja argumentiert, dass die politische Kompetenz der als lernfähig betrachteten Bürger mit zunehmender Frequenz von Referenden zunehme (Benz/Stutzer 2004). Trifft diese These zu, sollte die politische Kompetenz der irischen Bürger beim letzten Referendum 2008 zumindestens befriedigend ausgefallen sein. Ist das Vertrauen der partizipativen Perspektive in die Förderung der politischen Kompetenz der europäischen Bürger durch direkte Demokratie – das zentrale Fundament ihres Theoriegebäudes – also gerechtfertigt? Integrationsdidaktisch kann man die Schüler diese These aus der Ökonomik durch eine empirische Studie aus der Politologie von Chari (2008) zu den Ursachen der Ablehnung des Vertrags von Lissabon im jüngsten Referendum in Irland untersuchen lassen. Demzufolge zeigen die empirischen Daten, dass es den irischen Gegnern des Vertrages mit ihrer Kampagne gelang, durch Täuschung der Bevölkerung über den Inhalt des Vertrags (z.B. angeblicher Zwang zur Aufhebung des im katholischen Irland populären restriktiven Abtreibungsrechts) eine Mehrheit zur Ablehnung des Vertrags zu bewegen oder zumindest so zu verunsichern, dass auf eine Stimmabgabe verzichtet wurde. So können die Schüler exemplarisch für die möglichen unbeabsichtigten Nebenwirkungen (Kapitel 4.4.2.) einer Direktdemokratisierung der EU sensibilisiert werden: “If politics does sometimes breed strange bedfellows, this referendum was a prime example of a coalition of left, centre and rightist organisations coming together and telling (at best) half truths in order to prop up the `No´ vote. (…) Amongst the electorate there were many fundamental misunderstandings about what Lisbon was about.” (Chari 2008, 2 + 4; meine Hervorhebung)
Didaktisch wäre natürlich klarzustellen, dass dies nur ein erstes empirisches Indiz darstellt. So könnte man z.B. einwenden, dass die proeuropäische politische Elite Irlands sich während des öffentlichen Diskurses teilweise äußerst ungeschickt verhalten hat (Chari 2008, 4) und daher ein Ausnahmefall vorliegen könnte. Kirchgässner würde wohl argumentieren, dass die Frequenz der Referenden auch in Irland noch viel zu gering ist. Im Gegensatz zur
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Ansicht von Moravcsik ließen sich aus derartigen singulären Referenden keine zutreffenden Schlüsse bzgl. der Kompetenz der Wähler ziehen, denn erst regelmäßige Volksabstimmungen (d.h. mehrmals pro Jahr wie in der Schweiz) würden zur Etablierung einer direktdemokratischen Kultur mit der nötigen Konzentration auf die Sachfragen führen (Kirchgässner 2006, 167). Zur Prüfung der partizipativen Perspektive könnte man die Schüler außerdem anhand ausgewählter Politikfelder untersuchen lassen, ob bzw. inwieweit es Anzeichen dafür gibt, dass das politische System der direktdemokratischen Schweiz `bessere´ Politikergebnisse hervorbringt als das nicht direktdemokratische System der EU: Macht es einen Unterschied, ob über dem Regierungshandeln fortlaufend das Damoklesschwert einer Volksintervention hängt oder nicht? So würde man z.B. bzgl. der Landwirtschaftspolitik feststellen, dass die protektionistische Subventionierung der Landwirtschaft in der Schweiz sogar mehr als doppelt so intensiv (!) ausfällt wie in der EU (Korby 2006, 43), was die normative Argumentation der partizipativen Perspektive zumindest nicht bestätigt, sondern eher das Gegenteil. Zur Erklärung dieses paradoxen Politik-Ergebnisses könnte man einen kritischen Beitrag zur politischen Ökonomie der direkten Demokratie (Brunetti/Straubhaar 1996) aus der liberal-konstitutionellen Perspektive (Kapitel 7.1.3.) heranziehen. Eine weitere Vergleichsmöglichkeit bietet die Politikfeldanalyse von Zweifel (2002, 105-134), der die Politik zur Regulierung gentechnisch veränderter Organismen in der EU und der Schweiz systematisch hinsichtlich ihrer demokratischen Performanz miteinander vergleicht und keine substantiellen Differenzen feststellen kann, wenngleich die Schweizer Politik infolge einer (vom Volk abgelehnten) Initiative von 1992 für ein generelles Totalverbot früher für das Thema sensibilisiert wurde und das Schweizer Prüfverfahren vielleicht deswegen doch etwas stringenter zu sein scheint (ebd., 123). Anhand weiterer Politikfelder kann man ggf. die Generalisierbarkeit dieses oder jenes Ergebnisses prüfen. Dabei ist klarzustellen, dass es nicht um das Auffinden wasserfester `Beweise´ gehen kann (weil niemals sicher sein kann, inwiefern die Ergebnisse zu 100% übertragbar sind), sondern lediglich darum, zu testen, wie empirisch plausibel zentrale Thesen der partizipativen Perspektive sind. Auf der Basis dieser und anderer empirischer Analysen lässt sich dann offen diskutieren, inwiefern die starke Zurückhaltung des Verfassungsentwurfs bzw. des Vertrags von Lissabon hinsichtlich der Ausweitung der direkten Bürgerbeteiligung berechtigt erscheint oder nicht, unter welchen Bedingungen diese Zurückhaltung künftig eventuell aufgegeben werden könnte, etc. Neben den mehr oder weniger unterschiedlichen Auffassungen der vier Perspektiven zur Existenz einer Prinzipal-Agent-Problematik in der EU und dem Mangel an einem europäischen Demos bzw. dem angemessenen Umgang damit stellt auch das Politikfeld der europäischen Sozialpolitik und das damit verknüpfte Verhältnis von negativer und positiver Integration (vgl. Kapitel 7.2.1.) eine Dimension dar, anhand deren man diese Perspektiven komparativ in Beziehung zueinander setzen kann. Während die sozialdemokratische Perspektive die Essenz des Demokratiedefizits im sozialpolitischen Deregulierungsdruck infolge einer einseitig negativen (ökonomischen) Integration erblickt (den die intergouvernementale Perspektive generell für sinnvoll erachtet), hält sowohl die föderative als auch die partizipative Perspektive die problematischen Auswirkungen der negativen Integration für überschätzt (Apolte 1999, 128ff.; Feld / Kirchgässner/Savioz 1997), weil die grenzüberschreitende Mobilität ökonomischer Akteure gar nicht so intensiv ausgeprägt sei. So wird empirisch darauf verwiesen, dass selbst der
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relativ intensive Regulierungs- und Steuerwettbewerb zwischen den kleinflächigen Kantonen in der Schweiz nicht zu einem Niedergang sozialpolitischer Regulierung und Umverteilung geführt habe, obwohl die Voraussetzungen für eine hohe interjurisdiktionelle Mobilität ökonomischer Akteure innerhalb der Schweiz weitaus günstiger seien als in der EU mit ihren großflächigen Staaten und ausgeprägteren sprachlich-kulturellen Barrieren zwischen diesen (Feld/Kirchgässner/Savioz 1997; Schneider 2006, 9). Zudem stünde es den einzelnen Mitgliedsstaaten frei, dem aus dem europäischen Binnenmarkt resultierenden Wettbewerbs- und Kostendruck durch eine Umfinanzierung des Sozialstaats zu begegnen, indem sie die Steuer- und Abgabenlast von Arbeit und Kapital senken und im Gegenzug Konsumund Umweltsteuern erhöhen (Feld/Kirchgässner/Savioz 1997: 37, 41). Jüngere Beiträge von Autoren der partizipativen Perspektive (Feld 2005; Kirchgässner 2006) zeigen allerdings, dass sich diese Auffassung mittlerweile zum einen geändert hat und zum anderen intern unterschiedliche Auffassungen bzgl. der Frage nach dem wünschenswerten Verhältnis von negativer und positiver Integration vertreten werden. So hält Kirchgässner (2006, 168-170) eine intensivierte positive Integration im Bereich der Sozial- und Steuerpolitik neuerdings für ebenso verteilungspolitisch erforderlich wie demokratisch legitim, um die von der grenzüberschreitenden Marktöffnung herrührenden Verluste (z.B. durch Lohnwettbewerb) für Niedrigeinkommensbezieher sozialpolitisch kompensieren zu können und weil die Mehrheit der europäischen Bürger kein reines Marktsystem wolle, sondern größere Kompetenzen der EU in der Sozial- und Steuerpolitik befürworte. Diese These kann man unter Rückgriff auf die in Kapitel 7.2.1. dargestellte empirische Studie von Hooghe (2003) zumindest teilweise verifizieren. Zusammengenommen erscheint direkte Demokratie auf EU-Ebene damit bei Kirchgässner als politisches Instrument, um diesen sozialpolitischen Präferenzen der Europäer Nachdruck zu verleihen. Demgegenüber sieht Feld (2005, 20) schon die bereits erfolgte partielle Zentralisierung sozialpolitischer Kompetenzen und Vorschriften im Feld der Regulierung der Arbeitsbedingungen auf EU-Ebene sehr kritisch und lehnt eine zusätzliche Verlagerung arbeitsund sozialpolitischer Kompetenzen auf EU-Ebene nachdrücklich ab (Feld 2005, 20). Unter Berufung auf das Leitbild des Wettbewerbsföderalismus hält er positive Integration lediglich dort für sinnvoll, wo es um die Regulierung grenzüberschreitender Externalitäten (z.B. Umweltpolitik) oder die Bereitstellung europaweiter öffentlicher Güter im ökonomischen Sinn (z.B. Verteidigungspolitik) geht. Einigkeit besteht zwischen Feld (2005) und Kirchgässner (2006) jedoch – unter Rückgriff auf einen von Sinn (2005, 459ff.) ausgearbeiteten Argumentationsgang und Lösungsvorschlag – hinsichtlich eines punktuellen, allerdings bedeutsamen sozialpolitischen Problems in der EU (Feld 2005, 17ff.; Kirchgässner 2006, 169). Dabei handelt es sich um die (mögliche) Gefährdung einer angemessenen Höhe der sozialen Grundsicherung in den EULändern durch Wohlfahrtsmigration. An diesem Problem zeigt sich zugleich wiederum exemplarisch, dass sich die Frage nach der Legitimität politischer Entscheidungen und Institutionen der heutigen EU kaum sinnvoll ohne Rückgriff auf wirtschaftliche Sachverhalte und Argumentationsgänge aus der Ökonomik erörtern lässt, wie das in manchen politikdidaktischen Schulbüchern (z.B. Detjen 2006b, 141ff.) versucht wird. Zugleich kann (Europa-)Politik hieran exemplarisch als (potentiell) problemverursachender Prozess erkannt werden (Kapitel 4.2.). Das Problem betrifft die Höhe der sozialen Grundsicherung in den Mitgliedsstaaten EU und den indirekten Einfluss von EU-Entscheidungen auf diese. Es ist mit Blick auf das
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Schlüsselproblem der sozialen Ungleichheit (Weber 2004) und für die künftige Lebensqualität sozial benachteiligter Menschen und deren ökonomischer Verwirklichungschancen didaktisch bedeutsam, zumal sich hieran zugleich das kategoriale Denkschema des Sozialen Dilemmas exemplarisch veranschaulichen lässt. An diesem Beispiel (s.u.) wird nochmals (wie auch schon an der Argumentation der sozialdemokratischen Perspektive) deutlich, dass man didaktisch zwecks Verdeutlichung dieser indirekten und daher für den ersten Blick verdeckten, aber dafür umso wichtigeren Zwei-Ebenen-Zusammenhänge entweder das Thema Sozialpolitik bei der Auseinandersetzung mit der EU berücksichtigen sollte oder aber bei der Behandlung des Themas Sozialpolitik auch die von Seiten der EU ausgehenden, den diskretionären Handlungsspielraum des Nationalstaats faktisch einschränkenden Einflüsse exemplarisch in den Blick nehmen sollte. Demgegenüber erscheinen die EU und nationale Sozialpolitik jedoch in vielen Schulbüchern als zwei dichotome Bereiche, die anscheinend nichts miteinander zu tun haben (vgl. z.B. Bauer et al. 2008; Detjen 2006b; Floren 2006; Jöckel 2006; Kaminski 2006). Davon kann jedoch keine Rede sein. Erfahrungen aus den USA in den 70er Jahren zeigen, dass Grundsicherungsempfänger eine hohe Mobilität(sbereitschaft) aufweisen, sodass Bundesstaaten mit hohem Sicherungsniveau viele Grundsicherungsempfänger aus Bundesstaaten mit niedrigem Sicherungsniveau anziehen. Zur Eindämmung bzw. Verhinderung der aus solchen Wohnsitzverlagerungen entstehenden Kostenbelastungen besitzt jeder Staat einen starken Anreiz, ein möglichst niedriges Grundsicherungsniveau zu wählen, sodass eine „Race-to-the-Bottom“-Dynamik entsteht, selbst wenn viele Staaten eigentlich ein angemessenes Sicherungsniveau wünschen (Soziales Dilemma). Sozialpolitisch avancierte Bundesstaaten wie z.B. New York zogen in den 70er Jahren so viele sozial benachteiligte Bürger aus allen Teilen der USA an, dass sie ihre an westeuropäischen Leistungsstandards ausgerichteten Sozialprogramme angesichts der daraus folgenden Kostenlawine wieder drastisch kürzen mussten. Nimmt man die Erfahrungen mit den früheren Migrationsströmen aus den südeuropäischen Ländern als Kalkulationsbasis für die Migrationsbereitschaft der Osteuropäer, ist Feld (2005) im Anschluss an Sinn (2005) zufolge angesichts der gewaltigen Unterschiede des Grundsicherungsniveaus zwischen west- und osteuropäischen Staaten auch das gewohnte westeuropäische Grundsicherungsniveau von einem derartigen `Abschreckungswettbewerb´ bedroht. Politologisch betrachtet mag man einwenden, dass dies aufgrund des zu erwartenden politischen Protests ein wenig wahrscheinliches Szenario sei. Integrationsdidaktisch kann man diesbezüglich jedoch gerade aus der Politikwissenschaft (z.B. Pierson 1994) lernen, dass es zur Vermeidung politischen Protests bei der Absenkung sozialpolitischer Leistungen geschicktere und subtilere Maßnahmen gibt als die nominelle Kürzung von Sozialprogrammen, nämlich z.B. die unzureichende Anpassung der Leistungen an die Entwicklung der Preise / der Wirtschaft. Rechtlich-politischer Hintergrund der obigen Befürchtungen sind zum einen jüngere Urteile des – auch auf auf diesem Gebiet auf eine `Europäisierung sans phrase´ drängenden – EuGH bzgl. des Diskriminierungsverbots von Ausländern und zum anderen die neue Freizügigkeitsrichtlinie von 2004, die es den Mitgliedsstaaten faktisch zumindest in erheblicher Weise erschweren, aus anderen EU-Staaten stammende Nicht-Erwerbstätige bzw. Migranten mit hohem Arbeitslosigkeitsrisiko aus diesen Staaten von der Inanspruchnahme ihrer heimischen steuerfinanzierten Sozialleistungen (ALG II, Wohngeld, etc.) auszuschließen bzw. von einer Einwanderung abzuhalten (Sinn 2005, 498-503). Auch sozialwissenschaftliche Beiträge, die vor einer allzu großen Übertreibung der Gefahr warnen (Ochel
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2007), sprechen von schwer kalkulierbaren Risiken. Denn was auf den ersten Blick wie eine umfassende Verwirklichung von sozialen Menschenrechten aussieht, könnte sich aus den obigen Gründen vielmehr als sozialpolitisch problematisch erweisen. Um die Gefahr eines kompetitiven Unterbietungswettbewerbs zwischen den EUStaaten nach US-amerikanischem Muster zu verhindern, sprechen sich sowohl föderative als auch partizipative Perspektive im Anschluss an Sinn (2005) für die Niederlegung des Prinzips der verzögerten Integration und des Heimatlandprinzips in den EU-Verträgen bzw. einer eventuellen europäischen Verfassung aus (Apolte 1999, 161f.; Feld 2005, 17ff.; Sinn 2005, 508ff.). Demnach würden Erwerbstätige aus anderen EU-Staaten erst nach einer bestimmten Übergangsfrist Anspruch auf ergänzende steuerfinanzierte Sozialleistungen wie z.B. Wohngeld im Wohnsitzland erhalten; nicht erwerbstätige Personen müssten nach Auslaufen eventueller Anrechte aus der Arbeitslosenversicherung ihre Ansprüche gegenüber den Behörden im Heimatland zu den dortigen Konditionen geltend machen. Durch diese Bestimmungen soll der individuelle Anreiz zur Wohlfahrts-Migration von Ost- nach Westeuropa gesenkt werden. Die denkbare Alternative einer EU-weiten Harmonisierung der Grundsicherung auf westeuropäischem Niveau sei dagegen angesichts des volkswirtschaftlichen Rückstands der osteuropäischen Staaten für diese weder ökonomisch sinnvoll noch verkraftbar und daher politisch auch nicht realistisch.
7.2.5 Fachdidaktische Strukturierung des Themenfeldes gemäß Kapitel 4.5. Das zentrale Lernziel gestaltungsorientierten Unterrichts zum Themengebiet des politischen Systems der Europäische Union auf der Sekundarstufe II besteht darin, die Schülerin in die Lage zu versetzen, ein begründetes politisches Urteil bzgl. der Frage anzubahnen, ob bzw. inwieweit die demokratische Input- und Output-Legitimität der heutigen Form der EU in ihren Augen zufriedenstellend ausfällt, und falls nicht, welche politischen Reformen geeignet erscheinen, ein eventuelles Demokratiedefizit zu beheben. Als institutionenkundliche Grundlage hierfür sind gemäß Aspekt 1.1. (Institutionen) des Strukturschemas aus Kapitel 4.5. die historische Entwicklung und die zentralen Akteure der EU (EuGH, Kommission, Parlament, Regierung(skoalition)en im Rat), deren Aufgaben und Befugnisse sowie typische Muster des politischen Zusammenwirkens zwischen diesen zu erarbeiten. Zur Schulung kritischen Denkens sollte dieses politische System unter Rückgriff auf eine Auswahl aus den oben vorgestellten verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven normativ problematisiert werden. Dabei kann erarbeitet werden, dass zum einen umstritten ist, ob überhaupt ein Problem in Form eines wie auch immer gearteten Demokratiedefizits vorliegt und dass zum anderen auch zwischen den EU-kritischen Perspektiven aufgrund unterschiedlicher normativer Zielvorstellungen keine einheitliche Problemdefinition existiert (Aspekt 1.2. Problem + 1.3. Problemdefinition). So ist zwischen letzteren umstritten, ob die EU an einem sozialpolitischem Defizit (sozialdemokratische Perspektive), einem intergouvernementalem Überschuss (föderative Perspektive) oder der Abwesenheit einer direkten Kontrolle durch die Bürger (partizipative Perspektive) leidet. Um diese Unterschiede verständlich zu machen, ist herauszustellen, dass sich die Ursachendiagnosen (Aspekt 1.4.) der wissenschaftlichen Perspektiven auf differente Beziehungsstrukturen im EU-Geflecht fokussieren: Während sich die sozialdemokratische Per-
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spektive stark auf die Beziehung zwischen nationalstaatlichen Regierungen und dem EuGH als Exekutor einer konstitutionellen Asymmetrie der EU-Verträge konzentriert, rücken föderative und partizipative Perspektive die Prinzipal-Agent-Problematik zwischen der europäischen Bürgerschaft einerseits und den Regierungen der Mitgliedsstaaten bzw. der gesamten europapolitischen Elite andererseits in den Mittelpunkt ihrer Kritik. Gemeinsam ist allen drei zuletzt genannten Perspektiven – im Gegensatz zur intergouvernementalen Perspektive von Andrew Moravcsik – jedoch, dass sie nicht die problemlösenden, sondern vielmehr die problemverursachenden bzw. –verschärfenden Wirkungen der heutigen EU(Politik) betonen. Dieses Paradox der problemverursachenden Politik (Kapitel 4.2.) zeigt sich überdies auch an einem Teil der oben untersuchten Politikfelder (z.B. Fischereipolitik, Landwirtschaftspolitik, Sozialpolitik). Um dem Unterricht einen klaren gestaltungsorientierenden Charakter im Sinne von Kapitel 3 zu verleihen, können die von den wissenschaftlichen Perspektiven empfohlenen Handlungsvorschläge und deren Begründung (Aspekt 2.1. Alternativen + Aspekt 2.2. Argumente) einander gegenüber gestellt werden: 1.
2. 3. 4.
Etablierung einer konstitutionellen Parität des Sozialrechts in den Vertragsgrundlagen und bei Bedarf Widerstand der Mitgliedsstaaten gegen Urteile des EuGH (sozialdemokratische Perspektive), Beibehaltung des Status Quo (intergouvernementale Perspektive), vollständige Parlamentarisierung der EU und Erarbeitung eines klaren Kompetenzkatalogs (föderative Perspektive), Einführung direkter Demokratie und eines bikameralen Systems (partizipative Perspektive).
Der Verzicht auf die exemplarische Erörterung von derartigen gestaltungspolitischen Alternativen zum heutigen Status Quo ist aus Sicht der in dieser Arbeit konzipierten sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik ein zentrales Manko vieler gegenwärtiger Schulbuchkapitel zur EU (Detjen 2006, 141ff.: Floren 2006, 371ff.). Denn ohne die gleichberechtigte Erörterung von politischen Alternativen kann das wie in Kapitel 3.2.2. gesehen interfachdidaktisch konsensfähige Ziel der politischen Urteils- und Handlungsfähigkeit schwerlich erreicht werden. Bei der Kontrastierung der obigen politischen Handlungsvorschläge können die beiden zentralen, kategorialen normativen Zielkonfliktlinien (Aspekt 2.3. Ziel- und Wertvorstellungen) gesellschaftlicher Auseinandersetzungen nach Petrik herausgearbeitet werden, die sich in der (impliziten) Kontroverse der vier obigen Perspektiven spiegeln: Zum einen zeigt sich die sozioökonomische Verteilungskonfliktlinie in der Differenz zwischen einer Position, die stark den Wert der sozialen Sicherheit betont und folglich die Vorzüge einer stärkeren positiven Integration hervorhebt (sozialdemokratische Perspektive) und zwei anderen Positionen, die die heutige grenzüberschreitende Wirtschaftsfreiheit in der EU (negative Integration) entweder überhaupt nicht (intergouvernementale Perspektive) oder zumindest überwiegend nicht (föderative Perspektive) als problemgenerierenden, sondern als rein bzw. vornehmlich wohlfahrtsförderlichen Mechanismus wahrnehmen. Zum anderen kommt die politische Entscheidungskonfliktlinie in der Kontroverse zwischen einer Position (vertreten von der föderativen und der partizipativen Perspektive) zum Vorschein, wel-
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che zwecks Behebung von Prinzipal-Agent-Problemen und zur Kreation eines kollektiven europäischen Demos für eine mehr oder weniger starke Ausweitung der basisdemokratischen Mitbestimmung der europäischen Bevölkerung eintritt, und einer anderen Position (vertreten von der sozialdemokratischen und der intergouvernementalen Perspektive), welche keine schwerwiegenden Prinzipal-Agent-Probleme zwischen Bevölkerung und Politik erkennen kann und eine majoritäre Demokratisierung der EU nach nationalstaatlichem Vorbild wegen dem Fehlen eines europäischen Demos ablehnt. Durch die Erörterung dieser Konfliktlinien kann zugleich verdeutlicht werden, dass die damit verbundenen Reform-Forderungen nach einer verstärkten positiven Integration, Parlamentarisierung bzw. (Direkt)Demokratisierung auf empirisch unsicheren Prämissen ruhen (Aspekt 2.4. empirische Unsicherheit). So ist z.B. wissenschaftlich umstritten, ob der Regulierungs- und Steuerwettbewerb tatsächlich so stark ausgeprägt ist bzw. sein wird (wie von der sozialdemokratischen Perspektive behauptet) und ob ein solcher Wettbewerb eventuell nicht nur makroökonomisch, sondern auch verteilungspolitisch positiv beurteilt werden kann (via einer schnelleren Angleichung des Lebensstandards in Osteuropa an das westeuropäische Niveau). Ebensowenig abschließend geklärt ist der wissenschaftliche Erkenntnisstand hinsichtlich der theoretischen Thesen, dass der heutige stark intergouvernemental geprägte Charakter der EU i.d.R. für zufriedenstellende Politikergebnisse bürge (intergouvernementale Perspektive) oder dass eine Parlamentarisierung zu einem signifikanten Abbau eines unheilvollen Gewichts nationalstaatlicher Partikularinteressen im europapolitischen Verhandlungsprozess führen würde (föderative Perspektive). Dasselbe gilt für die These, dass eine dauerhafte Ausweitung direktdemokratischer Partizipationsgelegenheiten in Europa zu einem ausreichenden Anstieg des europapolitischen Wissens der Bürger und für diese zu vorteilhafteren politischen Ergebnissen führen würde (Benz/Stutzer 2004 versus Moravcsik 2006). Bei der Thematisierung der Zielkonfliktlinien kann man damit teilweise verknüpfte Interessenkonflikte (Aspekt 3.2. + 3.3.) einbeziehen. Hinsichtlich der sozioökonomischen Konfliktlinie kann man – neben den unterschiedlichen Auffassungen von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden zum Charakter des Integrationsprozesses – anhand der in der empirischen Studie von Hooghe (2003) zum Vorschein kommenden sozialpolitischen Spaltung der europapolitischen Präferenzen zwischen hochgradig mobilen Eliten und weniger mobilen Durchschnittsbürgern aufzeigen, dass sich mit der europäischen Integration verbundene unterschiedliche gesellschaftliche Interessenlagen und daran geknüpfte ideologische und politische Konflikte stark in (impliziten) wissenschaftlichen Auseinandersetzungen widerspiegeln. Sozialwissenschaftler `schweben´ also oft nicht objektiv über sozialen Interessen. Andererseits kann hinsichtlich der oben aufgezeigten Entscheidungskonfliktlinie Intergouvernementalismus – Parlamentarisierung – Direktdemokratisierung jedoch auch klargestellt werden, dass wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Kontroversen nicht immer identisch sind. So sind zwar gewisse Aspekte der (impliziten) wissenschaftlichen Debatte (z.B. Machtverteilung zwischen Rat und Parlament) während der in der EU regelmäßig vorkommenden konstitutionellen Momente durchaus gegenwärtig und korrelieren partiell auch mit den für das Verständnis europäischer Politik wichtigen eigennützigen Machtinteressen der Organe, doch tauchen die in der Wissenschaft sehr fundamental angelegten Auseinandersetzungen dort angesichts der bislang nur geringen basisdemokratischen Mobilisierung der Bevölkerung, der Dominanz der europapolitischen Eliten und insbeson-
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dere der nationalen Regierungen in den konstitutionellen Verhandlungen bisher nur in deutlich moderaterer Form auf. In diesem Zusammenhang können Schüler durch den exemplarischen Abgleich der Vorschläge der wissenschaftlichen Perspektiven mit den Ergebnissen der jüngsten konstitutionellen Momente (Verfassungsentwurf / Vertrag von Lissabon) zugleich erkennen, dass die kurz- bis mittelfristigen Chancen für die politische Durchsetzbarkeit (Aspekt 3.5.) intergouvernemental geprägter und – wenngleich mit Einschränkungen – sozialdemokratisch geprägter Verfassungskonzepte mehr oder weniger hoch ausfallen. Demgegenüber sind bei Vorschlägen, die eine vollständige Parlamentarisierung oder eine europäische Direktdemokratie als Endziel anstreben, die (vorläufigen) machtpolitischen Grenzen einer (kurz- bis mittelfristigen) freien Gestaltbarkeit von Gesellschaft aufzuzeigen (Kap. 4.4.). Derartige Reformvorhaben müssen auf Inkrementalismus sowie strategisch kluges AgendaSetting (z.B. die Forderung nach einem direkt von der Bevölkerung gewählten Reformkonvent) setzen sowie auf günstige Policy-Windows hoffen. Unabhängig davon kann jedoch herausgearbeitet werden, dass sich bereits in den beiden gerade genannten konstitutionellen Dokumenten durchaus entwicklungsfähige Ansätze zeigen (v.a. die Generalisierung des Mitentscheidungsverfahrens des EP in der ersten Säule und das Petitionsrecht der Bürger an die Kommission), die bei entsprechender politischer Bewährung und Lerneffekten langfristig eine inkrementelle Eigendynamik entwickeln können. Wiederum kann man jedoch am Scheitern des Verfassungsvertrags und der Ablehnung des Vertrags von Lissabon durch die irische Bevölkerung zeigen, wie schwer es nicht zuletzt in der EU mit ihren nunmehr 27 Mitgliedsstaaten ist, politischen Wandel auf den Weg zu bringen. Institutionelle Pfadabhängigkeit kann also als kategorialer Aspekt sozialer Wirklichkeit hervorgehoben werden, sollte allerdings nicht mit zwangsläufigem politischen Stillstand verwechselt werden. Auch wenn manche Fachdidaktiker politische Bildung als Teil eines langfristigen Demokratisierungsprozesses begreifen, der (angeblich) auf „Radikalisierung der Demokratie“ (Massing 2005, 20) und die Ausweitung von Partizipationschancen dränge, darf dies bei der Diskussion der EU nicht zu einer übermäßigen Konzentration auf das Urteilskriterium der Input-Legitimität führen. Um die abschließende exemplarische Evaluation der wissenschaftlichen Perspektiven auf ein einigermaßen solides Fundament zu stellen, ist es vielmehr von entscheidender Bedeutung, einige exemplarische empirische Politikfeldanalysen (wie z.B. hier die europäische Fischerei-, Landwirtschafts-, Umwelt- und Wettbewerbspolitik) hinzuzuziehen, um die dort zu beobachtenden machtpolitischen Politics-Prozesse sowie die daraus resultierenden Policy-Entscheidungen konkret auf ihre Performanz hinsichtlich des zweiten Urteilskriteriums der Output-Legitimität (Aspekt 3.1. Urteilskriterien) hin zu untersuchen und die dabei gefundenen Ergebnisse wie in den Teil-Kapiteln oben vorgeführt vergleichend auf zentrale Polity-Thesen ausgewählter wissenschaftlicher Perspektiven zu beziehen. Zu diskutieren wäre dabei nicht zuletzt das potentielle Spannungsverhältnis zwischen den beiden Urteilskriterien, d.h. der für manche Schüler vielleicht paradoxe Gedanke, dass hohe Input-Legitimität im Sinne einer umfassenden direkten Beteiligung der Bürger mit einer bescheidenen Output-Legitimität einhergehen kann. Hierzu kann man hinsichtlich der unbeabsichtigten Nebenfolgen (Aspekt 3.4.) von erhöhter Input-Legitimität aufzeigen, dass direkte Demokratie einen Nährboden für Populismus bieten kann (wie beim irischen Referendum im Juni 2008) und eine Parlamentarisierung nach dem Wunsch der föderativen Perspektive die Konflikte zwischen nationalen Partikularinteressen lediglich aus dem Rat in das EP verlagern könnte (Knill
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2008, 97). Gleichwohl lassen sich auch eine Reihe von problematischen Nebenfolgen einer intergouvernementalen EU aufzeigen (z.B. Politikversagen in der Fischereipolitik, Implementationsdefizite in der Umweltpolitik etc.), die bei Moravcsik nicht thematisiert werden. Nach Abschluss der persönlichen Urteilsbildung (Aspekt 3.6.) können sodann wieder die parteipolitischen Vorstellungen komparativ eruiert werden, damit die Schüler erkennen können, welche Partei sich für ihre jeweiligen Präferenzen einsetzt (Aspekt 3.7.). Zunächst kann man dabei feststellen, dass alle deutschen Parteien sich explizit für eine Weiterentwicklung der EU zu einem bikameralen System im reinen Sinne bzw. für eine deutliche Stärkung des EP aussprechen (CDU 2007, 99; Die Grünen 2005, 118; FDP 2005, 44f.; SPD 2007, 27). Die Forderung der partizipativen Perspektive nach der Einführung von direkter Demokratie auf die Ebene der EU findet sich hingegen nur bei den Grünen (2005: 99, 117) und der Linken65; bei der FDP ist diese auf die Europäische Verfassung begrenzt (FDP 2005, 45). Diese politische Position kann unter Bezug auf die intergouvernementale Perspektive kritisch reflektiert werden. Das Plädoyer der sozialdemokratischen Perspektive für eine Unternehmens-Mindeststeuer und für Sozialstandards, die nach der Leistungsfähigkeit der Staaten differenziert werden, hat sich die SPD auf ihre Fahnen geschrieben (SPD 2007, 28). Ähnliches steht bei den Grünen eher nur zwischen den Zeilen, wenn sie ein „Öko- und Sozialdumping“ ablehnen (Die Grünen 2005, 119). Soziale Mindeststandards werden aber auch von der CDU (2007, 102) befürwortet. Am weitesten geht diesbezüglich jedoch die Linke, die für (vollständige?) „Harmonisierung der Steuern“ und einen europäischen Mindestlohn eintritt66. Schüler, die derlei Ansinnen unter Bezug auf das Modell des Wettbewerbsföderalismus rundherum ablehnen, dürften ihre politische Heimat hingegen bei der FDP finden, in deren Programm derartige Forderungen gar nicht zu finden sind: Keine Aussage ist schließlich auch eine Aussage.
7.2.6 Themenspezifische Auswertung der drei integrationsdidaktischen Ansätze Hinsichtlich der Frage nach dem für eine gestaltungsorientierte Fachdidaktik angemessenen Integrationsverfahren für das Themengebiet `Politisches System der EU´ zeigt die obige Darstellung, dass weder der institutionenökonomische noch der politikwissenschaftliche Integrationsansatz geeignet ist, um die Frage nach der Input- und Output-Legitimität der EU hinreichend differenziert und ausgewogen zu erörtern. Vielmehr entspricht das obige didaktische Vorgehen weitgehend der Forderung des sozialwissenschaftlichen Integrationsansatzes nach einer kontroversen Gegenüberstellung von verschiedenen gleichberechtigten Perspektiven, wobei diese Perspektiven in diesem Themenbereich allerdings weniger interdisziplinärer Natur sind, sondern jeweils aus einer einzigen Sozialwissenschaft stammen. Dennoch wäre eine didaktische Reproduktion disziplinärer Grenzziehungen durch Gegenüberstellung `der´ ökonomischen und `der´ politologischen Perspektive aus Sicht gestaltungsorientierter Didaktik nicht angemessen, da hier wichtige Trennlinien zwischen gestaltungsorientierten Perspektiven nicht nur zwischen, sondern auch jeweils innerhalb der Disziplinen existieren (z.B. sozialdemokratische versus intergouvernementale Perspektive innerhalb der Politologie). 65 66
Siehe http://die-linke.de/politik/themen/positionen_a_z/europa/, abgerufen am 21.09.2008. Siehe vorherige Fußnote.
Gestaltungsorientierte Evaluation des politischen Systems der EU
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Im Gegensatz zur These des institutionenökonomischen Integrationsansatzes verdeutlicht die obige Gegenüberstellung von jeweils zwei Perspektiven aus der Politikwissenschaft und der Ökonomik zum wiederholten Mal, dass sich die Theorien und Untersuchungsergebnisse der sozialwissenschaftlichen Disziplinen bei einem gestaltungsorientierten Fokus sehr wohl gut miteinander vergleichen lassen. So kann man die vier obigen Perspektiven aus Ökonomik und Politologie zur europäischen Integration ohne große Schwierigkeiten anhand ihrer unterschiedlichen Auffassungen zu den folgenden Fragen und den damit verbundenen (kursiv hervorgehobenen) kategorialen Aspekten miteinander vergleichen: a.
Wie ist das politische System der EU hinsichtlich seiner Input-Legitimität (Beteiligung der europäischen Bürger an politischen Entscheidungen) und seiner Output-Legitimität (Problemlösefähigkeit) normativ zu beurteilen?
b.
Im Rahmen welches politischen Systems sollte die politische Willensbildung in der EU idealerweise ablaufen?
c.
Manifestiert sich im heutigen System der EU ein politisches Prinzipal-Agent-Problem zwischen den politisch Verantwortlichen und den Bürgern, sodass politische Macht nicht im Sinne des Gemeinwohls eingesetzt wird oder trifft diese These nicht zu?
d.
Welche politischen Handlungsempfehlungen ergeben sich aus der Tatsache, dass es zurzeit noch keine genuin europäische Öffentlichkeit und damit auch noch keine kollektive europäische Identität gibt?
e.
Durch welche Charakteristika zeichnet sich das politische Denken und Verhalten des europäischen Durchschnittsbürgers aus? (Bürgerbild)
f.
Wie sollte das Verhältnis zwischen negativer und positiver Integration in der EU austariert werden?
Nicht nur bei der Analyse nationaler politischer Systeme (siehe Kapitel 7.1.), sondern auch bei der Auseinandersetzung mit der EU wird somit deutlich, dass sich beliebte systemtheoretische Kurzschlüsse wie „Verschiedene Disziplinen für unterschiedliche Funktionssysteme“ (Willke 2006, 40f.) schlicht als falsch erweisen. Dies zeigen übrigens auch weitere diverse, hier aus Platzgründen und zwecks Komplexitätsreduktion nicht näher dargestellte konstitutionenökonomische Beiträge zum – wohlgemerkt – politischen System der EU (z.B. Berglöf/Eichengreen/Roland/Tabellini/Wyplosz 2003; Blankart/Mueller 2004; Blankart 2006, 629-653; Erlei/Leschke/Sauerland 2007, 517-537; Gerken/Märkt/Schick/Renner 2002; Schmidtchen 2004). Im Gegensatz zur These des politikwissenschaftlichen Integrationsansatzes zeigen sowohl diese Beiträge als auch die hier ausführlicher dargestellten Theorien der föderativen und partizipativen Perspektive, dass auch in diesem Themengebiet von einer Verselbständigung der Ökonomik gegenüber ethischen Gesichtspunkten und öffentlichen Angelegenheiten keine Rede sein kann, weil es im Kern dieser Beiträge sehr wohl um die Kategorie
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der politischen Legitimität und das `gute sowie gerechte Zusammenleben´ der europäischen Bürger geht. Wie gesehen spielen deren politische Partizipationsrechte in den beiden Perspektiven aus der Ökonomik eine zentrale Rolle. Da es ein deutlicher Verstoß gegen das Kontroversitätsgebot wäre, wollte man als Fachdidaktiker postulieren, dass die zwei obigen normativen Perspektiven aus der Ökonomik den zwei Perspektiven aus der Politologie wissenschaftlich `unterlegen´ seien, gibt es auch keinen überzeugenden Grund dafür, hier die Ökonomik der Politikwissenschaft unter Berufung auf Aristoteles `unterordnen´ zu wollen (Detjen 2006a, 76). Stattdessen ist es zur Förderung gestaltungsorientierter Urteilskraft bzgl. der EU ratsam, über den kontroversen Vergleich eines exemplarischen Teils der 4 Perspektiven hinaus Beiträge aus Ökonomik und Politologie sowohl synergetisch als auch antagonistisch aufeinander zu beziehen. Dies bedeutet, dass man die verschiedenen Polity-Konzeptionen eines ausgewählten Teils der 4 Perspektiven durch Rückgriff auf zusätzliche, unabhängige politologische und/oder ökonomische Politikfeldanalysen, die nicht direkt an eine der vier Perspektiven gebunden sind, exemplarisch auf ihre konkrete Überzeugungskraft prüft und so möglichen Zusammenhängen zwischen Polity-, Politics- und Polity-Dimension nachspürt. Dadurch kann man z.B. die sozialpolitische Kritik an der (angeblichen) konstitutionellen Asymmetrie der EU seitens der sozialdemokratischen Perspektive unter Rückgriff auf ökonomische Politikfeldanalysen kritisch hinterfragen (mögliches Fallbeispiel: Dienstleistungsrichtlinie von 2004). Ebenso wird es dann möglich, die empirische Überzeugungskraft der theoretischen Thesen der intergouvernementalen und der föderativen Perspektive vergleichend anhand ökonomischer und/oder politologischer Politikfeld-Analysen zur europäischen Fischerei-, Landwirtschafts- und Umweltpolitik zu evaluieren (mögliches Fallbeispiel: Emissionshandelsrichtlinie von 2003).
8 Fazit: Gestaltungsperspektiven vergleichen statt Universitätsdisziplinen addieren
Bevor sich die in dieser Arbeit aufgeworfene zentrale Fragestellung behandeln lässt, welches fachdidaktisches Instrument, d.h. welche Integrationstechnik für das Schulfach Sozialwissenschaften auf der Sekundarstufe II geeignet ist, muss zunächst ein übergreifendes fachdidaktisches Ziel spezifiziert werden. Dies bedeutet, dass zuerst ein bildungstheoretisches Fundament in Form einer Philosophie des Schulfaches (Bromme 1992) gelegt werden muss.
8.1 Gestaltungsorientierung als integratives fachdidaktisches Leit-Prinzip Hier wurde ausgehend von Klafki (1996) argumentiert, dass dieses bildungstheoretische Fundament in dem übergreifenden Ziel der Förderung einer gestaltungsorientierten Urteilsfähigkeit (Kapitel 3) besteht. Der Kern ebendieser Urteilsfähigkeit besteht in der Kompetenz, sozialwissenschaftlich reflektiert beurteilen zu können, wie gesellschaftliche Institutionen in Schlüsselproblembereichen ausgehend vom heutigen Status Quo politisch so gestaltet werden können67, dass sie – teilweise meritorische und daher im Unterricht bewusst zu machende – verallgemeinerungsfähige Interessen der SchülerInnen und ihrer Mitmenschen an einer nachhaltigen Lebensqualität und deren gerechter Verteilung fördern bzw. sichern. Zu dieser Kompetenz gehört natürlich auch ein Bewusstsein dafür, dass die Begriffe der gesellschaftlichen Lebensqualität, der Gerechtigkeit und der Verallgemeinerungsfähigkeit inhaltlich z.T. unterschiedlich gefüllt bzw. definiert werden können und dass die konkrete inhaltliche Definition/Füllung dieser allgemeinen Begriffe ein Gegenstand gesellschaftlicher Konflikte und sozialwissenschaftlicher Auseinandersetzungen ist. Sozialwissenschaftlicher Unterricht, der auf das Ziel dieser gestaltungsorientierten Urteilsfähigkeit hin ausgerichtet ist, folgt dem Prinzip der Gestaltungsorientierung. In Form dieser Gestaltungsorientierung wurde hier somit zum ersten Mal ein integratives fachdidaktisches Leitprinzip konzipiert und begründet, welches zugleich zwischen den sozialwissenschaftlichen Fachdidaktiken (wie in Kapitel 3.2.2. ausführlich nachgewiesen) grundsätzlich konsensfähig ist und über die bloße Nennung von abstrakten gemeinsamen ZielSchlagwörtern (wie z.B. Mündigkeit) weit hinausgeht.
67 Diese Kompetenzbeschreibung bezieht sich auf den ersten Meta-Lernbereich der sozialwissenschaftlichen Bildung, nämlich die solidarische Mitbestimmungsfähigkeit (Kapitel 3.2.). Der zweite Meta-Lernbereich der sozialwissenschaftlichen Bildung, die solidarische Selbstbestimmungsfähigkeit (Kapitel 3.1.) wurde in dieser Arbeit nicht ausführlich thematisiert, um die zentrale Fragestellung auf diejenigen Inhaltsbereiche (Politisches System und Wirtschaftssystem) fokussieren zu können, die gemäß dem jeweiligen Selbstverständnis der Politikdidaktik / Ökonomikdidaktik den zentralen Kern der politischen Bildung / ökonomischen Bildung bilden (Jung 2006, 12; Weisseno 2006, 136; Kaminski 2001, 52).
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Fazit: Gestaltungsperspektiven vergleichen statt Universitätsdisziplinen addieren
Die fachdidaktische Begründung für das Prinzip der Gestaltungsorientierung (siehe dazu Kapitel 3) liegt darin, dass sowohl die ökonomische Bildung als auch die politische Bildung bei den SchülerInnen die Ausbildung von kognitiven Strukturen und Handlungsmustern anregen will, die sich positiv auf die eigene Lebensqualität und nach Möglichkeit auch auf jene anderer Menschen auswirken (Bildungsziele Tüchtigkeit, Mündigkeit, Verantwortlichkeit). Vor diesem Hintergrund ist nun zu beachten, dass politische Entscheidungen gesellschaftliche Institutionen gestalten, deren Ausprägung für die gegenwärtige und spätere Lebensqualität der Lernenden eine gewichtige Rolle spielt. Zugleich wird die Art der getroffenen politischen Entscheidungen in signifikantem Ausmaß durch die dominanten politischen Präferenzen der Bevölkerung beeinflusst (Brooks/Manza 2007; Hobolt/ Klemmensen 2005: 381, Hobolt/Klemmensen 2008: 311; Wlezien/Soroka 2004, 2008 sowie die dort angegebene Literatur). Die politischen Präferenzen der Bevölkerung (und damit auch die politischen Präferenzen ehemaliger SchülerInnen) beeinflussen somit auf indirektem Wege die Ausprägung der gesellschaftlichen Institutionen und damit wiederum ihre eigene Lebensqualität. Zugleich kann jedoch nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass die politischen Präferenzen der Bevölkerung auch sachpolitisch angemessen informiert und sozialwissenschaftlich reflektiert sind. Vielmehr zeigen empirische Analysen zur politischen Erwachsenenbildung, dass sich die jeweilige politische Präferenz der Mehrheit nach einer systematischen, kontroversen Diskussion einer bestimmten politischen Streitfrage unter Rückgriff auf wissenschaftliche Argumentationen oft signifikant wandelt. Sollen es nun – gemäß dem Ideal der demokratischen Willensbildung – die sachpolitisch wirklich informierten Präferenzen der Bürger (ehemaliger Schüler) sein, welche die politischen Organe bei der Auswahl von politischen Handlungsprogrammen zur Gestaltung der Lebenswelt der Bürger beeinflussen, ist ein sozialwissenschaftlicher Unterricht erforderlich, der die gestaltungsorientierte Urteilsfähigkeit der (zukünftigen) BürgerInnen fördert. Das in dieser Arbeit herausgearbeitete fachdidaktische Leit-Prinzip der Gestaltungsorientierung darf freilich nicht dazu führen, bei den Schülern einen naiven Gestaltungsoptimismus, d.h. die Illusion einer grenzenlosen bewussten politischen Steuerbarkeit der sozialen Welt zu nähren. Vielmehr muss es (auch) darum gehen, die Sensibilität der SchülerInnen für die Komplexität gesellschaftlicher Zusammenhänge, d.h. für die Schwierigkeit (aber nicht: Unmöglichkeit) der Verbesserung der gesellschaftlichen Lebensumwelt des Menschen durch politisches Handeln zu fördern. Deshalb ist zumindest exemplarisch auf Ziel- und Interessenkonflikte, die ambivalente Wirkung von Institutionen, die empirische Unsicherheit von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen, die unbeabsichtigten Nebenfolgen politischen (Nicht-)Handelns, das Problem des Staats- bzw. Politikversagens und die Frage nach der machtpolitischen Durchsetzbarkeit von Entscheidungen im politischen System einzugehen. Die mit diesen wichtigen Aspekten verbundenen kategorialen Leitfragen lassen sich im Rahmen eines in dieser Arbeit zum ersten Mal entwickelten integrativen Strukturschemas (Kapitel 4.5.) für sozialwissenschaftliche Unterrichtsreihen einbetten, welches hier durch kritische Überarbeitung und Zusammenführung zweier inhaltlich ähnlicher Strukturschemata aus der Ökonomik- und Politikdidaktik erarbeitet wurde.
Ein gestaltungsorientiertes Strukturschema für eine integrative Fachdidaktik
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8.2 Ein gestaltungsorientiertes Strukturschema für eine integrative Fachdidaktik Dieses integrative Strukturschema setzt sich aus drei zentralen Teilen zusammen (vgl. ausführlich Kapitel 4.5.). Zunächst wird a) von einer problematisierenden Gegenwartsanalyse ausgegangen, in der zunächst das gegenwärtige institutionelle System eines bestimmten Wirklichkeitsbereiches, die damit verbundenen Probleme bzw. wissenschaftlichen Problemdefinitionen sowie die dafür verantwortlich gemachten Ursachen / Ursachedeutungen untersucht werden. Dabei wird – soweit jeweils angemessen – nicht nur das Phänomen des Marktversagens berücksichtigt, sondern auch das ebenso weit verbreitete Phänomen des Politikversagens herausgestellt. Soweit dies hinsichtlich der Förderung der gestaltungsorientierten Urteilsfähigkeit sinnvoll ist, kann dabei auch der historische Politikzyklus, der zu dem jeweiligen Problem geführt hat, eingebunden werden. Sodann werden b) in der komparativen Optionsanalyse sozialwissenschaftliche Alternativen zum derzeitigen institutionellen Status Quo, d.h. verschiedene sozialwissenschaftliche Lösungsvorschläge für das Schlüsselproblem und ihre jeweilige Begründung miteinander verglichen. Dabei sollen nicht zuletzt auch die konfligierenden Ziel- und Wertvorstellungen dieser Lösungsansätze sowie die in der Kontroversität zum Ausdruck kommende empirische Unsicherheit von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen und die Ambivalenz der Wirkungen von Institutionen herausgearbeitet werden. Schließlich wird c) in der evaluativen Entscheidungsanalyse eine persönliche Urteilsbildung angestrebt. Dazu werden Urteilskriterien erarbeitet, anhand deren die Verallgemeinerungsfähigkeit und die Leistungsfähigkeit der sozialwissenschaftlichen Lösungsvorschläge evaluiert werden kann. Zudem werden die Konsequenzen des Status Quo und der Lösungsvorschläge aus den Perspektiven von verschiedenen Interessengruppen betrachtet (Perspektivenwechsel, Breit 1999) und die damit verbundenen Interessenkonflikte analysiert. Überdies wird auf mögliche unbeabsichtigte Nebenfolgen der sozialwissenschaftlichen Lösungsvorschläge und auf die Frage nach der politischen Durchsetzbarkeit dieser Vorschläge im machtgesteuerten politischen System eingegangen. Zuletzt wird dann mit Blick auf das Ziel der politischen Mündigkeit in einer (zurzeit) repräsentativen Demokratie analysiert, in welcher Relation parteipolitische Lösungsvorschläge zu den sozialwissenschaftlichen Lösungsvorschlägen stehen. Dieses integrative Strukturschema besitzt gegenüber der bisherigen Ökonomikdidaktik als auch gegenüber der bisherigen Politikdidaktik wesentliche Vorteile. Zum einen beansprucht die Ökonomikdidaktik zwar, die Schülerinnen mit politischer Mitgestaltungskompetenz hinsichtlich der Wirtschaftsordnung auszustatten (DEGÖB 2004). In ökonomikdidaktischen Konzepten wird jedoch nicht berücksichtigt, dass die Schülerinnen dafür natürlich auch Wissen bzgl. der Frage benötigen, auf welche Weise bzw. inwieweit bestimmte (makro)ökonomische Lösungskonzepte im politischen System durchgesetzt werden können bzw. welche politische Systeme die Durchsetzung welcher (makro)ökonomischer Lösungskonzepte begünstigen, welche politischen Parteien für welche (makro)ökonomischen Lösungskonzepte eintreten bzw. diesen nahestehen, usw. Infolge dieses Mangels bisheriger ökonomikdidaktischer Konzepte und Schulbücher (z.B. Kaminski 2006) ist die Gefahr groß, dass das vermittelte (makro)ökonomische Wissen ein politisch weitgehend träges Wissen bleibt. Dieser integrative Nexus politisch-ökonomischen Lernens wird im hier ausgearbeiteten Strukturschema hingegen berücksichtigt.
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Fazit: Gestaltungsperspektiven vergleichen statt Universitätsdisziplinen addieren
Zum anderen löst sich das integrative Strukturschema von der euphemistischen Definition der Politik als „Problemlöseprozess“ durch die Politikdidaktik (z.B. Petrik 2007, 138; Detjen/Kruber 2007, 26), indem es die Kategorie des Staats- und Politikversagens mit einarbeitet, welche in der ökonomischen Theorie der Politik (Public Choice) sehr stark betont wird und die davon ausgeht, dass sich das Handeln der politisch Verantwortlichen nicht durch authentische Problemorientierung, sondern in erster Linie durch Macht- und Eigennutzorientierung auszeichnet. Politik wird hier dementsprechend nicht nur als ein endloser Versuch zur Bewältigung von gesellschaftlichen Problemen (Detjen/Kruber 2007, 26), sondern auch als ein endloser, mit partikularen Machtinteressen aufgeladener Prozess der Verursachung oder Verschärfung von gesellschaftlichen Problemen verstanden. Auf diese Weise wird der Kritik seitens der ökonomischen Bildung Rechnung getragen, die der Politikdidaktik eine Vernachlässigung des Phänomens des Politik- und Staatsversagens (Kaminski 2007, 5) und damit zusammenhängend eine unzureichende Nutzung der Erkenntnisse der Public-Choice-Tradition (ebd., 11f.) vorwirft.
8.3 Sechs Schlüsselproblemkomplexe als zentraler inhaltlicher Gegenstand Gestaltungsorientierte sozialwissenschaftliche Fachdidaktik verwendet das integrative Strukturschema zur reflektierten, systematischen Analyse gesellschaftlicher Schlüsselprobleme. Momentan können sechs zentrale gesellschaftliche Schlüsselproblemkomplexe identifiziert werden, denen eine besonders hohe Bedeutsamkeit im Sinne von Gagel (2000, 161-174) für die politische Sicherung der nachhaltigen Lebensqualität der Gesellschaft und damit der Lebenschancen der in ihr lebenden Schüler und ihrer Mitbürger zukommt: 1.
Gewährleistung der Effektivität und Legitimität politischer Entscheidungen in Deutschland und der Europäischen Union
2.
Gewährleistung gesamtwirtschaftlichen Wohlstands und sozioökonomischer Gerechtigkeit in Deutschland und der Europäischen Union
3.
Globale Sicherung der ökologischen Lebensgrundlagen der Menschheit (Nachhaltigkeit)
4.
Gewährleistung des friedlichen und produktiven Zusammenlebens von Menschen aus unterschiedlichen (sozial konstruierten) Kulturen (sozioökonomische und –kulturelle Integration)
5.
Sicherung des internationalen Friedens und Unterbindung von Gewalt in Form von Krieg und Terrorismus
6.
Bekämpfung bzw. Vermeidung von Armut in Entwicklungsländern
Eine zentrale Aufgabe der sozialwissenschaftlichen Lehrerausbildung besteht somit darin, angehende Lehrerinnen in die Lage zu versetzen, diese sechs bedeutsamen Schlüsselpro-
Integration als kontroverser Vergleich gestaltungsorientierter Perspektiven
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bleme mit Hilfe von fachwissenschaftlichen Theorien und empirischen Erkenntnissen zum Gegenstand des sozialwissenschaftlichen Unterrichts in der Schule zu machen und aus kontroversen gestaltungsorientierten Perspektiven zu betrachten. Gestaltungsorientierte sozialwissenschaftliche Fachdidaktik folgt also dem Klafkischen Verständnis von Wissenschaftspropädeutik (Klafki 1996, 167). Gegen diesen, in den Kapiteln 6 + 7 exemplarisch vorgeführten didaktischen Zugang, der das Bedürfnis der (jungen) Staatsbürgerinnen nach Lebensqualität in problemorientiertkontroverser Weise aufgreift, könnte man einwenden, dass dadurch die Bedeutsamkeit wichtiger etablierter, d.h. nicht (mehr) kontroverser Institutionen des demokratischmarktwirtschaftlichen Basiskonsens (siehe Petrik 2007, 200) aus dem Blick gerät. Da diese Institutionen jedoch sehr bedeutsam für die Sicherung des heutigen, historisch betrachtet relativ hohen Niveaus an Lebensqualität in den westlichen Gesellschaften sind, müsste es jedoch auch darum gehen, deren Wert zu verdeutlichen und den Glauben der Schülerinnen an die historische Selbstverständlichkeit dieser Institutionen zu irritieren. Insbesondere die Bedeutung der rechtsstaatlichen Demokratie als solcher (im Vergleich zur totalitären Diktatur), der Marktwirtschaft als solcher (im Vergleich zur Zentralverwaltungswirtschaft) und dem Freihandel (im Vergleich zum Protektionismus) für die derzeit erreichte Lebensqualität (siehe dazu den empirischen Forschungsüberblick bei Schmidt 2006, 522ff. sowie Apolte 2006) müsste dann (durch entsprechende exemplarische Kontraste mit anderen historischen oder empirischen Gesellschaftsordnungen) hervorgehoben werden. Dies ist allerdings eine Aufgabe, die ein zentrales Bildungsziel des sozialwissenschaftlichen Unterrichts in erster Linie auf der Sekundarstufe I bilden sollte, sodass dort das `KonsensFundament´ gelegt wird, auf dem der Vergleich darüber hinausgehender, kontroverser Perspektiven auf der Sekundarstufe II dann aufbauen kann. Dies soll nicht heißen, dass auf der Sekundarstufe I keine Kontroversen erörtert werden sollten; aber die Vermittlung des demokratisch-marktwirtschaftlichen Basiskonsenses (Petrik 2007, 200) sollte dort einen breiteren Raum einnehmen.
8.4 Integration als kontroverser Vergleich gestaltungsorientierter Perspektiven Anhand der ersten beiden der sechs oben genannten Schlüsselproblemkomplexe (1. Gewährleistung der Effektivität und Legitimität politischer Entscheidungen in Deutschland und der Europäischen Union und 2. Gewährleistung gesamtwirtschaftlichen Wohlstands und sozioökonomischer Gerechtigkeit in Deutschland und der Europäischen Union) wurde in dieser Arbeit in den Kapiteln 6 + 7 exemplarisch untersucht, welche Wissensstrukturen die sozialwissenschaftlichen Disziplinen zur Förderung der gestaltungsorientierten Urteilsfähigkeit anzubieten haben und welche der drei zurzeit in den sozialwissenschaftlichen Fachdidaktiken kursierenden Integrationshypothesen vor dem Hintergrund dieser Wissensstrukturen geeignet erscheinen, diese Kompetenz zu fördern. Diese beiden Themenbereiche wurden dabei aus fachwissenschaftlichen Gründen (hohe Spezialisierung heutiger Sozialwissenschaftler) und fachdidaktischen Gründen (Komplexitätsreduktion) noch einmal in drei exemplarisch ausgewählte, besonders bildungsrelevante Politikfelder (Arbeitsmarktpolitik, Sozialpolitik, Verbraucherpolitik) bzw. zwei politische Systeme (Politisches System der BRD, Politisches System der EU) ausdifferenziert, anhand denen man die beiden Themenbereiche im Unterricht jeweils exemplarisch behandeln kann.
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Im Gegensatz zu den bisherigen fachdidaktikwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Integrationsproblem (siehe Kapitel 1), die mit Ausnahme der Beiträge von Hedtke ohne themenspezifische Differenzierung auf hochgradig allgemeiner Ebene weitgehend unbelegte Behauptungen über die Fragestellungen und Ziele der einzelnen Fachwissenschaften als solche sowie deren fachdidaktisches Verhältnis zueinander aufstellen, wurde hier somit differenziert nach einer Reihe von bildungsrelevanten Unterrichtsthemen detailliert analysiert und konkret illustriert, welche Art von Integration bei welchem Thema als angemessen erscheint. In der Zusammenschau der Teil-Ergebnisse zur jeweils angemessenen Integrationstechnik in den insgesamt 7 Politikfeldern (siehe dazu die kurzen Zusammenfassungen in Kapitel 6.1.5., 6.2.4., 6.3.4., 7.1.5., 7.2.6.) schält sich trotz leichter Variationen zwischen den Politikfeldern doch ein gewisses übergreifendes Muster heraus. Zunächst wurde dabei die für den ein oder anderen vielleicht naheliegende Annahme, dass das Themengebiet Politisches System mit einem vorrangig politikwissenschaftlichen Fokus zu analysieren und das Themengebiet Wirtschafts- und Sozialsystem mit einem vorrangig wirtschaftswissenschaftlichen Fokus zu untersuchen sei, detailliert widerlegt. Infolgedessen überwindet das vorliegende Konzept bisherige fachdidaktische Vorstellungen (DAI 2008, 19; Willke 2006, 40f.) und additive Integrationskonzepte (MSWWF 1999, 12; MSWWF 2004, 9), die in einem systemtheoretischen Trugschluss von einer arbeitsteiligen Korrespondenz zwischen gesellschaftlichen Subsystemen und fachwissenschaftlichen Disziplinen ausgehen. Ebenfalls wenig zielführend erscheint im Lichte der vorliegenden Analyse aber auch der pauschale Vorschlag von Pandel (1978), jedes gesellschaftliche Problem generell aus den Perspektiven aller drei sozialwissenschaftlichen Disziplinen zu betrachten. Denn zum einen lässt sich nicht immer in jeder Disziplin zu jedem Themenbereich eine bildungsrelevante, d.h. gestaltungsorientierte Perspektive finden. Zum anderen existiert bisweilen in einer Disziplin auch mehr als eine gestaltungsorientierte Perspektive zu einem Themenbereich, deren Kontrastierung dann zielführender ist als die Kontrastierung von Disziplinen. Gestaltungsorientierte sozialwissenschaftliche Fachdidaktik verabschiedet sich also von ideologisierten Integrationskonzepten, die Interdisziplinarität implizit oder explizit als generelles Unterrichtsprinzip und damit als fachdidaktischen Selbstzweck miß-verstehen. Stattdessen ist Interdisziplinarität vielmehr als eine genauer zu prüfende fachdidaktische Option zu begreifen. So muss jeweils erst für jeden Themenbereich konkret nachgewiesen werden, ob bzw. bis zu welchem Grad Interdisziplinarität bildungstheoretisch tatsächlich unerlässlich ist (was nicht immer der Fall ist), um gestaltungsorientierte Urteilsfähigkeit zu fördern. Denn wie bereits in Kapitel 1 entgegen anderen fachdidaktischen Thesen (z.B. Kahsnitz 2005; Reinhardt 2000) betont und belegt wurde, ergibt sich aus der bloßen Interdependenz der gesellschaftlichen Teilbereiche noch lange nicht ein zwingendes Erfordernis nach Interdisziplinarität, da diese Interdependenz bereits innerhalb jeder sozialwissenschaftlichen Disziplin selbst analysiert wird. Auf Basis der vorliegenden Arbeit lässt sich vielmehr – zumindest zur Zeit – generell sagen, dass eine differenzierte, d.h. für sachliche und normative Kontroversität, Ambivalenz, Unsicherheit, unbeabsichtigte Nebenwirkungen und Zielkonflikte sensibilisierte gestaltungsorientierte Urteilsfähigkeit sowohl im Themenbereich Wirtschafts- und Sozialsystem als auch im Themenbereich Politisches System am effektivsten durch eine Integrationstechnik gefördert werden kann, welche in einem Politikfeld jeweils die Perspektive der
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Neuen Institutionenökonomik (NIÖ) (bzw. eine aus deren näherem Umfeld stammende Perspektive) systematisch mit einer oder mehreren weiteren gestaltungsorientierten Perspektive(n) vergleicht. Dabei werden jeweils die divergierenden Problemdefinitionen, Ursachendiagnosen und Lösungsvorschläge der NIÖ und der anderen Perspektiven systematisch gegenüber gestellt und sodann kontrovers mit Blick auf die jeweiligen Urteilskriterien erörtert. Bei der/den zusätzlichen (nicht: nachrangigen) Perspektive(n) kann es sich gemäß der Analyse dieser Arbeit – je nach Politikfeld – um interdisziplinär vertretene Perspektiven und/oder Perspektiven aus der Politologie und/oder politologisch-soziologische Perspektiven und/oder andere Perspektiven aus der Ökonomik handeln. Das Gesagte gilt allerdings mit Ausnahme des Politikfeldes der Verbraucherpolitik, in dem Integration weniger als ein Vergleich von kontroversen sozialwissenschaftlichen Perspektiven konzipiert werden sollte, sondern in dem sich vielmehr eine wechselseitige komplementäre Ergänzung von ökonomischen, wirtschaftshistorischen, politologischen und rechtswissenschaftlichen Beiträgen anbietet. Angesichts der aufgezeigten Unsicherheit sozialwissenschaftlichen Wissens sollten die gestaltungsorientierten Perspektiven in den übrigen Politikfeldern didaktisch nicht in einem hierarchischen, sondern grundsätzlich gleichberechtigten Verhältnis stehen. Entgegen dem Vorschlag von Krol/Loerwald/Zoerner (2006) sollte also nicht in suggestiver Manier zwischen sozialwissenschaftlichen „Mehrheits- und Minderheitsmeinungen“ unterschieden werden, zumal es berechtigte Zweifel daran gibt, dass der fachwissenschaftliche Arbeitsprozess auch nur annähernd einen herrschaftsfreien Diskurs im Sinne von Habermas darstellt. So existieren erhebliche Anzeichen dafür, dass dieser vielmehr in signifikanter Weise zugunsten der Erhaltung der bestehenden Vorstellungen der jeweils etablierten fachwissenschaftlichen Elite vermachtet ist, was eine indirekt erzwungene Reproduktion von (überkommenen) fachwissenschaftlichen Konventionen begünstigt und sinnvolle Originalität und Innovation seitens junger Wissenschaftler benachteiligt, wie die anreiztheoretische Analyse von Frey (2003a, 2005) und die sozialpsychologische Untersuchung von Janis (1972) gezeigt haben (siehe dazu ausführlich Kapitel 4.4.3.). Fachdidaktisch ratsam ist hier somit stattdessen die kritische Hinterfragung der Lösungsvorschläge sowohl von fachwissenschaftlichen Mehrheiten als auch von Minderheiten im Hinblick auf ihre jeweilige theoretische Plausibilität und ihre empirische Evidenz, sodass keiner unreflektierten Expertengläubigkeit das Wort geredet wird (Klafki 1996, 171). Durch diese kontroversen Vergleiche wird es der gestaltungsorientierten sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik möglich, die Schülerinnen nicht nur auf die so oft betonten Komplementaritäten zwischen Demokratie und Marktwirtschaft (Detjen/Kruber 2007, 37; Andersen 2007, 62), sondern auch auf das (potentielle) Spannungsverhältnis zwischen demokratischer Partizipation/Legitimität und ökonomischen Wettbewerb/Effizienz aufmerksam werden zu lassen. Beispiele dafür sind die dargestellten Kontroversen um den Wettbewerbsföderalismus, um die wirtschaftspolitische Kompetenz der Wähler, um die Legitimität des Steuerwettbewerbs in der EU, um die Bedrohung des deutschen Korporatismus (v.a. Mitbestimmung) durch die vier europäischen Freiheiten und um die politischen Folgen ökonomischer Ungleichheit.
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8.5 Beurteilung der drei fachdidaktischen Integrationshypothesen Mit Blick auf die im einleitenden Kapitel vorgestellten drei Integrationshypothesen folgt aus diesem Ergebnis zur Frage nach der angemessenen Integrationstechnik, dass deren Aussagen jeweils teilweise zutreffend sind, teilweise aber auch zurückzuweisen sind.
8.5.1 Zur institutionenökonomischen Integrationshypothese (Kaminski) Die erste, d.h. institutionenökonomische Integrationshypothese (Kaminski) erweist sich insoweit als angemessen, als die Neue Institutionenökonomik eine sehr leistungsfähige Perspektive darstellt, die als einzige Perspektive zu jedem der hier untersuchten Politikfelder ein klares und umfassendes gestaltungsorientiertes Konzept vorlegen kann. Da die institutionenökonomische Perspektive zudem in fast allen obigen Politikfeldern als einzige die rechte, d.h. wirtschaftsliberale Hälfte des ideologischen Koordinatenkreuzes von Petrik (2007, 200f.) abdeckt, kann man aus dem Kontroversitätsprinzip schlussfolgern, dass die didaktische Auseinandersetzung mit der jeweiligen institutionenökonomischen Perspektive bei der Behandlung eines Politikfeldes stets obligatorisch sein sollte, um einen `sozialdemokratischen´ Bias des Unterrichts zu vermeiden. Man kann der gestaltungsorientierten Fachdidaktik somit nicht vorwerfen, sie vernachlässige den ökonomischen Denkansatz. Andererseits trifft es jedoch – entgegen der Äpfel-Birnen-Metaphorik Kaminskis – nicht zu, dass sich die Kategorien und Verhaltensmodelle der Ökonomik (als einer angeblichen Markt-Wissenschaft) und der Soziologie sowie Politologie (als einer angeblichen Macht-Wissenschaft) grundlegend voneinander unterscheiden würden. Diese Argumentation wurde in dieser Arbeit umfassend widerlegt (siehe Kapitel 2). In Kapitel 6 und 7 wurde zudem empirisch belegt, dass keine Rede davon sein kann (wie Kaminski explizit behauptet), dass man die Theorien, Forschungsergebnisse, Problemkonstruktionen und normativen Wertvorstellungen der (institutionen)ökonomischen Perspektive nicht vernünftig mit jenen der anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen vergleichen könne. Vielmehr ist die fachdidaktische Konstitution einer solchen Vergleichsdimension, wie oben ausführlich gezeigt wurde, nicht nur ohne weiteres möglich, sondern bei vielen Themen auch unabdingbar – jedenfalls dann, wenn man dem Kontroversitätsprinzip gerecht werden möchte. Eine partielle Ausnahme hiervon stellt zurzeit nur das Politikfeld der Verbraucherpolitik (Kapitel 6.5.) dar, in dem die wirtschaftssoziologischen, rechtswissenschaftlichen und politologischen Beiträge eher in einem identisch-komplementären als in einem kontroversen Verhältnis zur institutionenökonomischen Perspektive stehen. Die NIÖ sollte also nicht, wie Kaminski meint, zu einem „invarianten Analyseschema“ (Kaminski 2001, 55) dogmatisiert werden, das andere Disziplinen bei der Auseinandersetzung mit ökonomischen Schlüsselproblemen auf den Status von `Hilfsarbeitern´ (Zulieferern von außerwirtschaftlichen Restriktionen) reduziert anstatt sie als (potentiell) gleichwertige Konkurrenten bzw. Partner bei der Analyse von Wirtschaft anzuerkennen. Im Gegensatz zur institutionenökonomischen Fachdidaktik gelingt es der gestaltungsorientierten sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik somit, die erforderliche Orientierung am Kontroversitätsprinzip nicht nur abstrakt-theoretisch zu postulieren (Kaminski 2001, 51; 2007, 4 & 6), sondern auch durchgängig konkret-praktisch einzulösen. Demgegenüber sind in der Praxis (institutionen)ökonomischer Bildung hingegen zumindest teilweise gravieren-
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de Verletzungen des Kontroversitätsprinzips zu beobachten (siehe dazu die kritischen Anmerkungen zur Behandlung der Themengebiete Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik im Schulbuch von Kaminski 2005 in den Kapiteln 6.1. und 6.2. der vorliegenden Arbeit). Ein wesentlicher Vorteil der gestaltungsorientierten sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik gegenüber der institutionenökonomischen Fachdidaktik besteht somit darin, dass sie – auch im Bereich der Wirtschaft – divergierende normative politisch-philosophische Vorstellungen vom gesellschaftlichen Zusammenleben der Menschen (GPJE 2004, 11 & 25) disziplinenübergreifend und systematisch thematisiert, d.h. das Denken in Alternativen deutlich stärker fördert. Damit wird einem zentralen Vorbehalt der Politikdidaktik gegenüber der Ökonomikdidaktik Rechnung getragen, ohne dabei jedoch zugleich – wie von der Ökonomikdidaktik befürchtet – die nötige fachwissenschaftliche Disziplinierung des Denkens aufzugeben, d.h. ohne der Gefahr anheimzufallen, zu einem unwissenschaftlichen „Laberfach“ (Kaminski 2002, 66) zu degenerieren, in dem die Arbeit mit kontroversen, aber nicht wissenschaftlichen Beiträgen von Journalisten, Parteien, Interessengruppen o.ä. dominiert (so z.B. die starke Tendenz im Sozialpolitik-Kapitel des Schulbuchs von Jöckel 2006, 145ff.).
8.5.2 Zur politikwissenschaftlichen Integrationshypothese (Detjen/Scherb) Die zweite, politikwissenschaftliche Integrationshypothese (Detjen/Scherb) stellt im Vergleich zu den anderen beiden Ansätzen zu Recht deutlich heraus, dass fachwissenschaftliche Theorien, Kategorien, Denkschemata, Erkenntnisse etc. nicht als solche, sondern unter dem Scheinwerfer einer bildungstheoretisch fundierten, fachdidaktischen Perspektive, d.h. der normativen Frage nach dem guten Leben und dem gerechten Zusammenleben (Detjen 2006a, 73) zu selektieren und zu betrachten sind, da Fachdidaktik auf das verallgemeinerungsfähige (meritorische) Interesse der Lernenden und nicht auf Sozialwissenschaft als l`art pour l`art zielt (Klafki 1996, 168). Hieraus folgt jedoch nicht, dass man (wie von Detjen (2006a) vorgeschlagen) mit Aristoteles die Ökonomik der Politikwissenschaft als Leitdisziplin unterordnen sollte. Denn wie hier ausführlich gezeigt worden ist, hat sich die Ökonomik gerade nicht gegenüber ethischen Gesichtspunkten verselbständigt (wie von Detjen/Scherb behauptet) – im Gegenteil. Vielmehr besteht eine zentrale didaktische Aufgabe ja gerade darin, den Mythos einer vermeintlich wertfreien ökonomischen Wissenschaft aufzuklären, indem die nicht in allen, aber doch in vielen ökonomischen Schriften explizit oder implizit anzutreffende hohe Wertschätzung für die Norm der negativen Freiheit des Individuums freigelegt wird und den davon abweichenden Wertvorstellungen der anderen Perspektiven (z.B. soziale Gleichheit) gleichberechtigt gegenübergestellt wird. In diesem Kontext wäre den Schülern auch die kontraintuitive Erkenntnis zu vermitteln, dass sich – entgegen dem krassen Trugschluss von Scherb (2006, 123) – aus diesem ausgeprägten ökonomischen Individualismus sehr wohl eine soziale Perspektive zur Entfaltung bringen lässt, d.h. ein ernstzunehmendes konstitutionenökonomisches Konzept gesellschaftlichen Gemeinwohls entwickeln lässt. Zudem existieren in der Ökonomik auch noch weitere gestaltungsorientierte Perspektiven mit anderen normativen Schwerpunkten (z.B. Perspektive des Instituts für Arbeit und Qualifikation), partizipative Perspektive, psychoökonomische Perspektive, siehe dazu ausführlich Kapitel 6 + 7).
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So sehr institutionen- und konstitutionenökonomische Gemeinwohlkonzepte auch den persönlichen normativen Vorlieben mancher Politikdidaktiker (z.B. Steffens 2007) widersprechen mögen, darf man solche Konzepte als Fachdidaktikerin und Lehrerin nicht einseitig abwerten und demgegenüber der Diskurstheorie von Apel und Habermas einen „systematischen Platzvorteil“ (ebd., 273) einräumen – ganz so, als ob man letzterer nicht genauso wie wohl jeder anderen gesellschaftspolitischen Theorie signifikante Schwächen attestieren könnte (vgl. für eine Kritik der Theorie von Apel und Habermas z.B. Fuchs-Goldschmidt 2008; Steinhoff 2006). Eine solche fachdidaktische Hybris, die beansprucht, über eine kritische Diskussion mit offenem Ergebnis hinaus `richtige´ und `falsche´ fachwissenschaftliche Gesellschaftstheorien mit Gewissheit voneinander separieren zu können, verletzt das von der Politikdidaktik ansonsten stets hochgehaltene Kontroversitätsprinzip in massiver Weise. Vom Standpunkt verallgemeinerungsfähiger fachdidaktischer Sprechakte betrachtet erscheint die von Steffens (2007) betriebene `manichäistische´ Abwertung der Neuen Institutionenökonomik jedenfalls ebenso wenig legitim wie deren von Kaminski angestrebte `monotheistische´ Dogmatisierung zu einem invarianten Analyseschema. Ein zentraler Integrations-Fortschritt der gestaltungsorientierten sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik gegenüber gängigen politikdidaktischen Ansätzen liegt zudem darin, dass konstitutionenökonomische Ansätze bei der Analyse des politischen Systems systematisch und gleichberechtigt mit eingeflochten werden – im Gegensatz z.B. zum Handbuch ökonomisch-politische Bildung von Althammer et al. (2007), wo dies bemerkenswerterweise völlig fehlt). Die in dieser Arbeit erstellte fachdidaktische Konzeption vermeidet dadurch die generell verbreitete, v.a. bei Detjen (2006) betriebene, erstaunlich einseitige Verengung des Integrationsproblems auf die Frage, wie der Sachbereich Wirtschaft zum Gegenstand des Politikunterrichts werden kann. Zugleich behebt gestaltungsorientierte sozialwissenschaftliche Fachdidaktik ein weiteres bemerkenswertes Desiderat der Politikdidaktik. Dieses Desiderat besteht darin, dass die Politikdidaktik weder in ihren allgemeinen Konzeptionen (z.B. Breit/Weißeno 2003; Deichmann 2004; Gagel 2000; GPJE 2004; Weißeno 2005) noch in ihren speziellen Beiträgen zur Integrationsdebatte (siehe v.a. die Beiträge in Weißeno 2006, Hartwich 2001) auf ein Paradigma aus ihrer eigenen Bezugswissenschaft verweist, welches sich auf den Sachbereich Wirtschaft spezialisiert hat und welches man der NIÖ gegenüberstellen könnte. Stattdessen zieht man es vor, die Grundzüge der NIÖ (noch einmal) nachzuerzählen (Detjen 2006, 74ff.). Auch Himmelmann (2006, 13) meint (fälschlicherweise), dass entsprechende Ansätze „rar“ seien. Dadurch bleibt völlig unklar, welchen Beitrag die Politikwissenschaft bzw. die Politikdidaktik eigentlich zur Analyse des Subsystems Wirtschaft beitragen kann. Im Gegensatz dazu füllt die in dieser Arbeit entwickelte gestaltungsorientierte Fachdidaktik diese klaffende Lücke der Politikdidaktik, indem sie auf die umfangreichen Beiträge jener politologisch-soziologischen Scientific Community zurückgreift, deren Mitglieder sich im Rahmen der Vergleichenden Politischen Ökonomie seit langem intensiv mit ökonomischen Phänomenen beschäftigen und die in Deutschland zumeist am Max-PlanckInstitut-für-Gesellschaftsforschung in Köln arbeiten bzw. ihre wissenschaftliche Karriere dort begonnen haben (entsprechende Beiträge solcher Politologen und Soziologen konstituieren einen wesentlichen Teil der VPÖ-Perspektive aus Kapitel 6.1., der egalitären Perspektive aus Kapitel 7.1. und der sozialdemokratischen Perspektive aus Kapitel 7.2.).
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8.5.3 Zur sozialwissenschaftlichen Integrationshypothese (Hedtke) Der dritten, sozialwissenschaftlichen Integrationshypothese (Hedtke) ist darin zuzustimmen, dass Integration in der Regel in Form einer komparativ-kontroversen In-BezugSetzung von gleichberechtigten heterogenen sozialwissenschaftlichen Denkweisen (und nicht so sehr von uniform gedachten Disziplinen) sowohl möglich als auch mit Blick auf die Förderung kritisch-reflexiv-unvoreingenommenen Denkens didaktisch überaus sinnvoll ist. Eine fachdidaktische Homogenisierung (Verschmelzung) der Perspektiven ist angesichts ihres kontroversen Verhältnisses in der Tat keine angemessene Option, wenngleich Schüler – angeregt durch die wechselseitige Aufdeckung von argumentativen Schwächen infolge der Kontrastierung der Perspektiven – versuchen können, in ihrer Urteilsbildung individuelle Synthesen zu bilden, wobei Zielkonflikte jedoch nicht unter den Tisch fallen dürfen. Allerdings zeigte sich in der Untersuchung, dass es – hier in Form des Politikfeldes der Verbraucherpolitik – auch partielle Ausnahmen von dieser Regel geben kann, d.h. wo eine kontroverse Gegenüberstellung von divergierenden sozialwissenschaftlichen Denkweisen weniger sinnvoll erscheint als eine wechselseitige Ergänzung von inhaltlich komplementären Beiträgen aus verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen. Überdies besitzt (im Gegensatz zur Annahme Hedtkes) nur ein Teil der gestaltungsorientierten Perspektiven einen interdisziplinären Charakter; oft muss man diesen interdisziplinären Charakter auch erst selber fachdidaktisch konstituieren, indem man diverse Beiträge aus verschiedenen Disziplinen zu einem bestimmten Problem, die sich inhaltlich wechselseitig ergänzen und so argumentativ stärken, zu einer Perspektive zusammenführt, die dann mit anderen, fachspezifischen Perspektiven konkurriert. Solche Zusammenführungen stellen neben der von Hedtke betonten kontrastiven Inbezugsetzung verschiedener Perspektiven eine weitere, wichtige Form von fachdidaktischer Integration dar. Insbesondere ist im Gegensatz zu Hedtke aus Sicht der hier erarbeiteten bildungstheoretischen Grundlage jedoch zu betonen, dass nicht rein analytische Perspektiven als solche miteinander verglichen werden sollten, sondern nur solche, die einen klaren gestaltungsorientierten Fokus im Sinne von Kapitel 3 aufweisen. Weil die Darstellung von Theorien in fachwissenschaftlichen Lehrbüchern diesem Kriterium oft zumindest nicht in stringenter Weise folgt und dort zudem Theorien außerhalb der eigenen Disziplin nicht selten ignoriert werden, ist größtenteils eine eigenständige, genuin fachdidaktische Strukturierung der sozialwissenschaftlichen Theorien-Landschaft erforderlich.
8.6 Ergebnis: (Partielle) Integration der drei Integrationshypothesen Als Fazit plädiere ich damit für eine vierte Integrationstechnik, die in gewisser Hinsicht einer Integration zweiter Ordnung, d.h. einer Integration der hier für zutreffend erachteten Elemente der drei Integrationshypothesen gleichkommt. Diese Integrationstechnik besteht im Kern darin, dass sie bei der Behandlung eines bestimmten Politikfeldes zunächst verschiedene sozialwissenschaftliche Perspektiven – eine davon in jedem Fall die NIÖ –, die eine Antwort auf die gestaltungsorientierte Frage nach dem guten Leben und dem gerechten Zusammenleben zu geben versuchen, in ein kontroverses Verhältnis zueinander setzt (mit Ausnahme des Politikfeldes der Verbraucherpolitik). Aus wissenschaftspropädeutischen
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Gründen sollte es sich bei diesen Perspektiven zumindest auf der Sek. II jedoch nicht – wie in der fachdidaktischen Konzeption von Petrik (2007) – um historische Perspektiven von Sozialphilosophen aus dem 19. Jahrhundert handeln, sondern um gegenwärtige sozialwissenschaftliche Perspektiven, wie sie in Kapitel 6 + 7 vorgestellt wurden. Anschließend sollten jedoch auch diverse politikfeldspezifische Handlungsprogramme von Parteien (und/oder ggf. auch solche von Interessengruppen, Bürgerbewegungen etc.) in Relation zu den verschiedenen sozialwissenschaftlichen Perspektiven gesetzt werden. Dadurch sollen zum einen parteipolitische Handlungsprogramme aus wissenschaftlicher Sicht beleuchtet und kritisch reflektiert werden; zum anderen soll dadurch mit Blick auf die politische Handlungsfähigkeit des Bürgers in einer repräsentativen Demokratie geklärt werden, welche parteipolitische Ideologien welchen gestaltungsorientierten sozialwissenschaftlichen Perspektiven (und welchen individuellen Urteilen der Schüler) nahestehen. Denn parteipolitische Programme spielen gemäß der empirischen Forschung – entgegen einem verbreiteten Vorurteil – für das faktische politische Handeln von Regierungsparteien sehr wohl eine bedeutsame Rolle (Rudzio 2006, 127). Diese hier entwickelte Integrationstechnik zielt erstens auf die Förderung einer deliberativen Ironikerin (Petrik 2007: 54, 349), die über ein normatives, gleichwohl sozialwissenschaftlich reflektiertes persönliches politisches Weltbild verfügt, sich aber dessen Kontingenz und der Notwendigkeit von politischen Kompromissen bewusst ist. Zweitens strebt diese Integrationstechnik die exemplarische Förderung gestaltungsorientierter Urteilskompetenz und darauf bezogener konventioneller politischer Partizipationsfähigkeit an, d.h. die Fähigkeit, durch die soziale Welt bereits vorgegebene politische Möglichkeitsstrukturen (Wahlen, Abstimmungen, Parteien, Interessenverbände) gemäß dem eigenen persönlichen Urteil identifizieren, kritisch reflektieren und kompetent nutzen zu können. Dieses Ziel entspricht zum einen dem derzeitigen empirischen politologischen Erkenntnisstand, dass die faktische Funktionalität von rechtsstaatlichen Demokratien auf die regelmäßige Beteiligung der Bevölkerungsmehrheit an Wahlen und Abstimmungen angewiesen ist, nicht jedoch auf deren permanenten, intensiven politischen Aktivismus (Patzelt 2007, 347f.). Zum anderen zeigt die empirische fachdidaktische Forschung, dass ein sozialwissenschaftlicher Unterricht, der die Förderung des kontroversen, eigenständigen Denkens über gegenwärtige politische Probleme betont, in der Tat in der Lage ist, die Bereitschaft zu steigern das Wahlrecht in informierter Weise auszuüben (Campbell 2004 + 2006). Die obige Darstellung lässt deutlich werden, dass die in dieser Arbeit konzipierte gestaltungsorientierte sozialwissenschaftliche Fachdidaktik einfache additive Ansätze wie im Handbuch ökonomisch-politische Bildung (Althammer et al. 2007) überwindet, die per se zu jedem Thema einfach `die´ wirtschaftswissenschaftlich (titulierte) und `die´ politikwissenschaftliche (titulierte) Perspektive weitgehend zusammenhangslos aneinanderreihen. Die Problematik solcher Ansätze besteht – im Vergleich zum Vorgehen in der vorliegenden Arbeit – darin, dass diese Perspektiven dort nicht wirklich – auch nicht in den Einleitungskapiteln und den sich jeweils anschließenden fachdidaktischen Kapiteln – integriert werden, d.h. es wird dort völlig darauf verzichtet, diese disziplinären Perspektiven (durch graphische und tabellarische Darstellungen sowie durch fortlaufende wechselseitige Textverweise, die Kontraste hervorheben) auf systematische und präzise Weise zueinander in einen stringenten komparativen Bezug zu setzen. Deshalb wird dort nicht deutlich, worin eigentlich zum einen die vergleichbaren Dimensionen und zum anderen die (behaupteten) Unterschiede dieser bloß aneinander gereihten Perspektiven bestehen sollen – außer der
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Tatsache, dass die Autoren der jeweiligen Texte an Fakultäten arbeiten, von denen sich die einen als `politikwissenschaftlich´ und die anderen als `wirtschaftswissenschaftlich´ bezeichnen. Durch diese weitgehende Zusammenhangslosigkeit gelingt es dem Handbuch im Gegensatz zur gestaltungsorientierten sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik zumeist auch nicht, konkret zu explizieren, an welchen Stellen welche Thesen, Argumente, empirische Ergebnisse usw. aus Politologie/Soziologie und Ökonomik synergetisch zusammengefügt werden oder aber antagonistisch kontrastiert werden sollten. Genau das leistet jedoch die in dieser Arbeit ausgearbeitete integrative fachdidaktische Konzeption. Unabhängig davon wird auch die implizite These des Handbuchs nicht belegt, warum es eigentlich genau diese (in abbilddidaktischer Manier kopierten) universitätsinternen Grenzziehungen zwischen Disziplinen – und nicht andersartige Differenzen – sein sollen, die in der Schule die größte Bildungsrelevanz beanspruchen können68. Die Konzeption der vorliegenden Arbeit rekurriert hingegen auf gestaltungsorientierte Perspektiven, weil sich deren Vergleich – wie in Kapitel 6 + 7 umfassend belegt – unmittelbar zur Förderung reflektierter gestaltungsorientierter Urteilsfähigkeit einsetzen lässt. Einschränkend ist zu betonen, dass künftig noch genauer untersucht werden muss, ob die in dieser Arbeit empfohlene Integrationstechnik auch in den anderen auf die Kompetenz der solidarischen Mitbestimmungsfähigkeit gerichteten vier Themenbereichen (Entwicklungsländer, Frieden in der Welt, Multikulturelle Gesellschaft, Ökologie, siehe Kapitel 3.2.) möglich und sinnvoll ist. Dasselbe gilt für die Themenbereiche der hier ebenfalls nicht systematisch behandelten solidarischen Selbstbestimmungsfähigkeit (Kapitel 3.1.). Zudem stellt die hier vorgenommene fachdidaktische Analyse der beiden Themenbereiche natürlich zwangsläufig nur eine Momentaufnahme dar, die sich im Laufe der Jahre wandeln kann, da manche gestaltungsorientierte Perspektiven veralten, während neue entstehen können – mit den entsprechenden Folgen für die empfehlenswerte Integrationstechnik. Unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen kann die obige Integrationstechnik aus meiner Sicht grundsätzlich die Grundlage einer sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik bilden. Indem sie das Nachdenken über die Linderung gesellschaftlicher Probleme mit Hilfe von klar voneinander abgegrenzten, aber systematisch vergleichbaren wissenschaftlichen Perspektiven übersichtlich strukturiert, kann sie die laut Hedtke (2006b) mit Interdisziplinarität potentiell verbundene Gefahr eines Rückfalls in ein ungeordnetes alltagstheoretisches, nicht wissenschaftlich diszipliniertes Denken vermeiden. Eine Gefahr der in dieser Arbeit vorgeschlagenen, stark komparativ ausgerichteten Integrationstechnik könnte darin bestehen, dass sie zu einem problematischen, ausgeprägten Relativismus dergestalt führt, dass Lernende zu dem Schluss kommen, dass sozialwissenschaftlich letztlich (fast) alles behauptet werden kann und sich der große Aufwand sozial-
68 Zu dieser Frage finden sich im Handbuch lediglich einzelne versprengte, nicht weiter belegte Thesen, die zumindest sehr fragwürdig sind, wie z.B. die Behauptung, dass `die´ Ökonomik sich im Gegensatz zu `der´ Politologie nicht dafür interessiere, wie Normen, Präferenzen und Werte entstehen, sondern diese nur als exogen vorgegebene Größe behandele (ebd., 12). Ein exemplarischer Blick auf die in dieser Arbeit herausgearbeitete partizipative Perspektive (Kapitel 7.1.2. und 7.2.4.) aus der Ökonomik mit ihrer These der normbeeinflussenden Kraft von Institutionen sowie auf einige der in Kapitel 2.3. aufgeführten ökonomischen Beiträge (z.B. Osterloh/Frey 2005; Tabellini 2007; Torgler 2003; Voigt 2002; siehe überdies z.B. auch die Beiträge von Bowles 1998 und Carpenter 2002 zu `endogenous social preferences´) zeigt jedoch, dass diese Behauptung wohl nicht (mehr) den Tatsachen entspricht.
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wissenschaftlicher Theoriebildung und Forschung letztlich gar nicht lohnt, da viele Thesen und Ergebnisse letztlich immer kontrovers sein und bleiben werden. Erstens muss man mit dieser Gefahr insofern teilweise leben, als sozialwissenschaftliches Wissen nun einmal oft unsicheres Wissen darstellt (Behrmann/Grammes/Reinhardt 2004). Zweitens ist dem genannten Problem dadurch vorzubeugen, dass die Perspektiven nicht einfach nur dargestellt werden, sondern kritisch auf die Plausibilität ihrer Argumente und ihre empirische Evidenz hinterfragt werden (reflektierte Kontroversität). Drittens ist zu verdeutlichen, dass die persönliche Urteilsbildung hinsichtlich der gestaltungsorientierten Perspektiven oft stark von den (pädagogisch zu bildenden) individuellen normativen Präferenzen der Lernenden abhängig ist, sodass es oft gar nicht darum geht, eine für alle verbindliche, einheitliche `Wahrheit´ herauszufinden. Viertens ist ein Bewusstsein für wissenschaftlichen Relativismus insofern auch sinnvoll, als es eine engstirnige, selbstgewisse, unreflektierte Begeisterung für bestimmte gestaltungspolitische Projekte verhindert und zu der Erkenntnis beiträgt, dass alle Perspektiven einen mehr oder minder umfangreichen Teil der `Wahrheit´ erfassen und dass eine gewisse politische (Mindest-)Balance zwischen verschiedenen, jeweils für sich genommen relativ einseitigen politischen Vorhaben und dahinter stehenden ideologischen Prinzipien eher in der Lage sein mag, die Gesellschaft (und die in ihr lebenden Interessengruppen) zumindest einigermaßen in einem sozialen Gleichgewicht zu halten.
8.7 Ausblick Die obige Integrationstechnik lässt sich unabhängig von der Frage anwenden, ob man die Auseinandersetzung mit den genannten Themenbereichen in einem Fach namens Sozialwissenschaften zusammenfasst oder ob man diese Themenbereiche arbeitsteilig in zwei konventionell geschnittene, einzeln wählbare Schul- und Studien-Fächer ausdifferenziert (z.B. in ein Fach `Politik´ mit den Themen Politisches System, Frieden in der Welt, Multikulturelle Gesellschaft und in ein Fach `Wirtschaft´ mit den Themen Wirtschafts- und Sozialsystem, Ökologie, Entwicklungsländer). Jedes der beiden Fächer müsste dann allerdings faktisch (und nicht nur in fachdidaktischen Sonntagsreden) offen für gestaltungsorientierte Interdisziplinarität sein. Auch im letzten Fall würde didaktische Spezialisierung (von Ausbildern, Lehrern etc.) also nicht mehr die Spezialisierung auf eine bestimmte sozialwissenschaftliche Disziplin bedeuten, sondern die Spezialisierung auf eine begrenzte Anzahl von interdisziplinär aufgeschlossen ausgerichteten, gestaltungsorientierten Themengebieten. Die heute so stark betonten fachwissenschaftlichen Kategorien und Denkschemata würden dann nicht durch „Einführung in die X-Wissenschaft“-Kurse erworben, sondern (notfalls mit eingelagerten Exkursen) anhand gestaltungsorientierter Problemstellungen eingeübt und angewandt – ganz im Sinne des Klafkischen Verständnis von Wissenschaftsorientierung (Klafki 1996, 162-172). Dadurch würde auch eine didaktische Rationalisierung im Sinne einer Reduktion des vermittelten Stoffes auf das tatsächlich bildungsrelevante Wissen (im Sinne von Kapitel 3) wahrscheinlicher. Unabhängig davon besteht die generelle professionspolitische Voraussetzung für die Umsetzung der obigen Integrationstechnik jedoch in der Ausbreitung einer sozialwissenschaftlichen Kultur in der jeweiligen Organisation, die sich zumindest teilweise durch eine entsprechende Einstellungspolitik und/oder obligatorische Weiterbildungsveranstaltungen
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für Lehrende (ggf. gekoppelt mit monetären und/oder beruflichen Anreizen) fördern lässt. Erstens müssten die jeweiligen Bereichsdidaktiken ihre unzutreffenden Repräsentationen der ihnen heutzutage jeweils weniger bekannten sozialwissenschaftlichen Disziplinen ebenso wie die immer noch verbreiteten systemtheoretischen Kurzschlüsse von sozialwissenschaftlichen Disziplinen und gesellschaftlichen Subsystemen (Willke 2006, 40f.) aufklären und die aus diesen Zerrbildern deduzierten Abschottungs-, Hierarchisierungs- und Monopolisierungsversuche zugunsten der eigenen bevorzugten Bezugsdisziplin aufgeben. Hinzu kommt zweitens eine weitere Voraussetzung: Sofern reine Fachwissenschaftler wie bisher weiterhin an der Ausbildung von Lehrern mitwirken sollen, müssten diese sich weniger als Vertreter einer einzelnen sozialwissenschaftlichen Disziplin begreifen, sondern sich vornehmlich als auf bestimmte Themengebiete spezialisierte und dort interdisziplinär informierte Forscher verstehen, die aus allen wichtigen gestaltungsorientierten Perspektiven argumentieren können. Wie wichtig eine solche thematisch spezialisierte Integration in den Köpfen ist, zeigt nicht zuletzt das Handbuch für ökonomisch-politische Bildung (Althammer et al. 2007). Denn die dortige, weitgehend beziehungslose Aneinanderreihung von disziplinären Beiträgen disziplinär spezialisierter Fachwissenschaftler zu einem Thema (die dann auch von den sich jeweils anschließenden fachdidaktischen Kapiteln nicht wieder klar erkennbar aufgegriffen geschweige denn systematisch relationiert werden), stellt keine Integration im genuinen Sinne dar, sondern verbleibt auf dem Niveau der Addition und kann nicht das letzte Wort sein. Die zunehmenden inhaltlich-kategorial-konzeptuellen Schnittmengen zwischen den Disziplinen (vgl. Kapitel 2) sollten eine Integration in den Köpfen künftig erleichtern. Last but not least sollten in der Lehrerbildung tätige Fachwissenschaftler durchgängig und explizit die (in)direkte Relevanz sozialwissenschaftlichen Theoretisierens und Forschens für Fragen der menschlichen Lebensqualität verdeutlichen können. Um die gerade genannten erforderlichen Veränderungen in der Lehrkultur breitenwirksam anzustoßen, besteht eine dringende zukünftige Aufgabe einer sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik darin, für eine entsprechende Wissensdiffusion zu sorgen. Dies bedeutet, entsprechende Lehrmaterialien zu allen sechs oben genannten Schlüsselproblemkomplexen mit den jeweils relevanten gestaltungsorientierten Perspektiven (und nur diesen) gemäß der in der vorliegenden Arbeit vorgeschlagenen Integrationstechnik zu konzipieren, zu veröffentlichen und in regelmäßigen Abständen (alle 5 bis maximal 10 Jahre) zu aktualisieren. Diese Lehrmaterialien müssen geeignet sein, zumindest unvoreingenommene Lehramtsstudenten, Fachdidaktiker und Fachwissenschaftler vom (Mehr)Wert einer grundsätzlich interdisziplinären Herangehensweise an die sechs Schlüsselproblemkomplexe zu überzeugen und sollten sich auch für das Selbststudium eignen. Dasselbe gilt für die vier Themenbereiche des Bildungsziels Solidarische Selbstbestimmungsfähigkeit (Kapitel 3.1.), das in dieser Arbeit nicht ausführlich behandelt werden konnte. Mit dem Einsatz solcher, gezielter Lehrmaterialien, die nicht Disziplinen als solche lehren, sondern nur deren jeweiliges bildungsrelevantes Problembearbeitungswissen verwenden, kann dem Verdacht begegnet werden, dass es sich bei integrativ geschulten Lehrpersonen angesichts der vermeintlich großen Masse an Wissen um „ausgebildete Generaldilettanten“ handeln müsse (Retzmann 2008, 86). Infolgedessen erweist sich auch der Einwand, ein interdisziplinärsozialwissenschaftlicher Unterricht müsse die LehrerInnen angesichts der Vielzahl der Disziplinen zwangsläufig überfordern und sei daher praktisch nicht möglich, als nicht über-
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zeugend. Denn aus Sicht der hier vertretenen fachdidaktischen Konzeption soll es nicht (primär) die Aufgabe der Lehrer, sondern vielmehr der Fachdidaktiker sein, mit einem weiten interdisziplinären Blickwinkel das bildungsrelevante, gestaltungsorientierte Wissen zu heutigen Schlüsselproblemen aus der Geografie, der Ökonomik, der Politikwissenschaft, der Psychologie, der Rechtswissenschaft und der Soziologie herauszufiltern, zusammenzutragen, in neue Strukturen zu fügen und im Anschluss daran entsprechende Unterrichts- und Fortbildungsmaterialien theoretisch zu konzipieren und praktisch auszuarbeiten, welche dann von Studenten, Referendaren und Lehrern genutzt werden können. Die gestaltungsorientierte sozialwissenschaftliche Fachdidaktikerin interessiert sich nämlich nicht für eine spezifische Fachwissenschaft, sondern vielmehr für gestaltungsorientiertes Wissen zu einem oder mehreren gesellschaftlichen Schlüsselproblemen. Aus welcher Disziplin dieses Wissen stammt, ist ihr vollkommen gleichgültig. Die gestaltungsorientierte sozialwissenschaftliche Fachdidaktikerin definiert ihre professionelle Identität also nicht über eine bestimmte Fachwissenschaft, sondern über bestimmte Schlüsselprobleme. Insofern kann man Fachdidaktik geradezu mit der Transzendenz von Disziplinarität gleichsetzen. Das entsprechende fachdidaktische Wissen könnte sodann immer mehr zum anerkannten Standard für universitäre Lehrveranstaltungen werden, diese strukturieren und schließlich als dasjenige Kerncurriculum festgeschrieben werden, dessen Kenntnis ein Absolvent eines sozialwissenschaftlichen (Lehramts)Studienganges an einer Universität im Rahmen entsprechender Prüfungen während des Studiums nachgewiesen haben muss. Bis dahin ist es noch ein sehr weiter Weg. Schon jetzt hat die vorliegende Arbeit jedoch gezeigt, dass die fachdidaktische sozialwissenschaftliche Integration nicht zwangsläufig an den vermeintlich inkompatiblen Unterschieden der Fachwissenschaften scheitern muss. Damit ist freilich nicht ausgeschlossen, dass sie an dem möglicherweise mangelnden Integrationswillen von zwei zurzeit sehr stark disziplinär fixierten fachdidaktischen Professionen scheitern kann.
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