Norbert Ricken Die Ordnung der Bildung
Für Hans Bokelmann, dem ich mehr verdanke, als er hören mag.
Norbert Ricken ...
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Norbert Ricken Die Ordnung der Bildung
Für Hans Bokelmann, dem ich mehr verdanke, als er hören mag.
Norbert Ricken
Die Ordnung der Bildung Beiträge zu einer Genealogie der Bildung
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Der vorliegende Text ist eine überarbeitete Fassung der vom Fachbereich Erziehungs- und Sozialwissenschaften der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster in 2003 angenommenen Habilitationsschrift Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bildung.
1. Auflage Dezember 2006 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Stefanie Laux Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15235-6
5
Inhalt
Einleitung:
9
Vom Ende der Bildung als Anfang – Anmerkungen zum Diskurs der Bildung
Studie I:
31
Die Macht der Macht – Stationen zu einer Anthropologie der Macht I
‘Macht hat, wer macht’ – Bedeutungsmuster und Begriffsgeschichte der Macht: Befunde und Weichenstellungen
37
II
Das ‘andere Gesicht der Macht’ – Zum Verhältnis von Macht und Freiheit bei Georg Simmel und Hannah Arendt. Zum Verhältnis von Handlung und Struktur bei Peter Bachrach & Morton Baratz und Niklas Luhmann
49
III
Die ‘Führung der Führungen’ – Theorie der Macht bei Michel Foucault: Systematische Linien und historische Formen
67
IV
Das ‘Zwischen der Macht’ – Habitus und Distinktion: Pierre Bourdieu. Subjektivation und Anerkennung: Judith Butler
102
V
Skizzen zu einer Anthropologie der Macht – Problem und Ansatz einer Anthropologie. Anthropologische Differenz und Anthropolitik: Helmuth Plessner
125
6
Inhalt
Studie II:
151
Bildung und Macht – Beiträge zu einer Genealogie der Bildung [A]
Bildung als Dispositiv – Eine methodologische Annäherung
163
I
Ein alltagsweltlicher Zugang
164
II
Ein ideengeschichtlicher Zugang
168
III
Ein sozialgeschichtlicher Zugang
172
IV
Ein begriffsgeschichtlicher Zugang
179
V
Ein diskursgeschichtlicher Zugang
186
VI
Ein genealogischer Zugang
199
[B]
Die Macht der Bildung – Eine ‘anthropolitische’ Interpretation
211
[1]
Von der ‘Genesis’ zur ‘Epigenesis’ – Bildung als Formation des Selbst
214
I
Zur Anthropologie der Genesis: Gottebenbildlichkeit und Sündenfall. Erbsünde und die Erfindung der Pastoralmacht. Die Technologie der Beichte
215
II
Zur Anthropologie der Aufklärung: Eine epigenetische Umschrift: Mangel aus Natur und die Begründung der Pädagogik
234
III
Zur Anthropologie der Bildung: Eine Zuspitzung: Entfaltung und Gestaltung als Selbst bei Johann Gottfried Herder und Wilhelm von Humboldt
247
IV
Die Macht der Bildung: Indizien ihrer Wirksamkeit
273
Inhalt
7
[2]
Vom ‘Gemeinsamen’ zum ‘Allgemeinen’ – Bildung als Formation des Sozialen
283
I
Bildung und Brauchbarkeit: Strategien der diskursiven Etablierung der Bildung
284
II
Vom ‘Gemeinsamen’ zum ‘Allgemeinen’: Naturrecht und Gesellschaftsvertrag
294
III
Sicherheit und Wohlfahrt: Die Welt der Policey
304
IV
Die Ordnung des Allgemeinen: Bildung als Individualisierung und Totalisierung: Wilhelm von Humboldt und Johann Gottlieb Fichte
313
V
Die Technologie der Prüfung
326
[C]
Bildung und Subjektivierung – Eine machttheoretische Bilanz in kritischer Absicht
337
I
Die Ordnung der Bildung – ein Blick zurück
339
II
Kritik der Bildung – ein Blick nach vorn
343
Literatur
349
9
Einleitung:
Vom Ende der Bildung als Anfang – Anmerkungen zum Diskurs der Bildung “Maybe the most certain of all philosophical problems is the problem of the present time, and of what we are, in this very moment. Maybe the target nowadays is not to discover what we are, but to refuse what we are. [...] We have to promote new forms of subjectivity through the refusal of this kind of individuality which has been imposed on us for several centuries.” (Michel Foucault) “Bildungsfragen sind Machtfragen.” (Heinz-Joachim Heydorn)
Bildung ist in aller Munde – wieder einmal. Wo auch immer man hinhört, von Bildung, ihrer gegenwärtigen Misere und dringlich erforderlichen Zukunft ist unablässig die Rede: kaum ein anderes gesellschaftliches Thema kann sich derzeit einer solch verdichteten, breit gestreuten und inzwischen auch durchaus anhaltenden Aufmerksamkeit erfreuen; und kaum ein anderes Thema provoziert soviel Streit und Ermüdung zugleich. Die vom damaligen deutschen Bundespräsidenten Herzog in seiner ersten ‘Berliner Rede’ im April 1997 medienwirksam formulierte Mahnung, “Bildung muß das Megathema unserer Gesellschaft werden” (Herzog 1997a, 9), hat sich publizistisch jedenfalls längst bewahrheitet: nicht vorrangig, weil die damalig von Herzog ausschließlich programmatisch vorgetragenen Überlegungen zur Bedeutung der Bildung für das 21. Jahrhundert zu neuen Einsichten und gesellschaftlicher Besinnung geführt hätten (vgl. Rutz 1997); schon gar nicht, weil Pädagogik – und mit ihr die Zunft derselben – sich plötzlich neuer Aufmerksamkeit und Wertschätzung erfreuen könnte; sondern vor allem, weil die von PISA für Deutschland ermittelten Befunde zu Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen wie nationalen Vergleich (vgl. Baumert u.a. 2001 wie 2002 und Prenzel u.a. 2004 wie 2005) als ebenso desaströs wie skandalös wahrgenommen wurden, so dass der von Herzog damalig beschworene ‘Ruck durch Deutschland’ eher einem nationalen ‘Erschrecken’ gleichkam. Kein Zweifel – “nach Pisa” (Terhart 2002) wird anders über Lernen und Bildung diskutiert und diskutiert werden müssen, als es vorher in der bundesdeutschen Öffentlichkeit je getan worden ist; kein Zweifel auch, dass “das Interesse und das Wissen über die Defizite im Bildungssystem [...] groß [sind], und die Unzufriedenheit mit der angebotenen Bildungspolitik [...] [mit PISA] einen Namen erhalten” hat (Reisch 2002, 7). Und doch ist PISA öffentlich vor allem aufgrund eines geradezu ‘sportlich’ interpretierten internationalen Vergleichs als ‘nationale Niederlage’ und ‘Deklassierung’ aufgenommen worden: es waren nicht so sehr die jeweiligen Einzelbefunde – seien es nun die Daten zur ‘Leselust’ deutscher Jugendlicher oder zur signifikanten sozialen Selektivität des deutschen Bildungssystems –, sondern vorrangig die durchgängig überaus schlechten Platzierungen im ‘unteren Tabellenmittelfeld’, die zunächst – europaweit
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Einleitung: Vom Ende der Bildung als Anfang
weitgehend unvergleichlich – eine tiefe nationale Beunruhigung und inzwischen vielfache Kompensations- und Reformbetriebsamkeit ausgelöst haben. Auch wenn inzwischen wohl kaum noch jemand PISA mit rein ‘architektonischen Schieflagen’ verbindet, so hat auch PISA – symptomatisch genug – nur selten zu einer ebenso differenzierten wie grundsätzlichen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Bildungsfragen geführt, in der nicht nur die Frage nach der Steigerung der Effizienz des Bildungssystems im Vordergrund steht, sondern auch die nach der allgemeinen Orientierung und Strukturierung gemeinsame Nachdenklichkeit auf sich zu ziehen vermag. So überrascht es nicht, dass PISA überwiegend nur als Diagnose schulisch – allerdings dann schlecht – vermittelter (und zu vermittelnder) Basiskompetenzen gelesen wird; bereits die in PISA mitformulierten Befunde, dass die enormen Leistungsunterschiede und -defizite auch Ausdruck einer kaum zu übersehenden Lern- wie Sozialkrise sind, werden nur nach Bedarf und zumeist recht folgenlos thematisiert. Schließlich die aus PISA auch resultierende Einsicht, dass eine hochentwickelte und in sich durchaus stabile Gesellschaft sich nicht quasi-automatisch qua Sozialisation reproduziert, sondern der ausdrücklichen und permanenten Bearbeitung des ‘Problems der Generation’ (Mannheim) bedarf, hätte Anlass genug sein können, über zentrale bildungs- und sozialpolitische Weichenstellungen wie auch ökonomischkulturelle Kontextbedingungen in einen ebenso offenen wie kritischen Diskurs einzutreten. Dabei hätte die – bereits früh von Schleiermacher formulierte – Frage, “was [...] denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren” will (Schleiermacher 2000c, 9), auch gerade nach PISA die Aufmerksamkeit dafür schärfen können, dass es im Generationenverhältnis bei aller sozialen Kontinuitätssicherung nie bloß um Fragen der erfolgreichen Reproduktion gehen kann, sondern immer auch um Fragen der Partizipation der Jüngeren und derer Eigen- und Zukunftsperspektiven gehen muss. Es ist vielleicht gerade dieser Problemkreis, der die Dramatik von PISA ausmacht: nicht nur, weil deutlich wird, wieviel Kraft zur Verbesserung des Bildungssystems mobilisiert wird, ohne dass die Beteiligten selbst – insbesondere LehrerInnen wie aber auch v.a. SchülerInnen – nach (Hinter)Gründen und Selbsteinschätzungen befragt würden; sondern vor allem, weil in den unterschiedlichen technokratischadministrativen Bewältigungsversuchen die bohrende Frage nach den Möglichkeiten sozialer Reproduktion in reflexiv-modernisierten Verhältnissen (vgl. Beck u.a. 1996) nicht radikal genug gestellt wird. Die sozialwissenschaftlich längst geteilte Einsicht jedenfalls, dass moderne Gesellschaften ihre eigenen Funktionsbedingungen nur sehr bedingt zu reproduzieren vermögen und insofern immer von etwas zehren, was sie nicht selbst herzustellen in der Lage sind (vgl. bereits Dubiel 1986), ist wohl nur selten Maßstab bildungspolitischer Steuerungsvorgaben. Dass aber PISA überwiegend nur als Ausdruck einer – allerdings auf beiden Seiten diagnostizierten – Kompetenzkrise gelesen wird, der mit der Einführung unterschiedlichster Bildungsstandards und flächendeckender Leistungserhebungen beizukommen sei, resultiert aus einem sich verschärfenden Umbau der Gesellschaft; die öffentlich überwiegend in unterschiedlichen ‘Rankings’ präsentierten und oft nur darauf reduzierten Vergleichsdaten erlangen ihre Brisanz erst vor dem Hintergrund einer auch publizistisch bereits weit länger auf- und vorbereiteten Debatte zum ‘Wandel der
Anmerkungen zum Diskurs der Bildung
11
Arbeitsgesellschaft’ von der Industrie- zur Wissensgesellschaft. Stichworte wie ‘Globalisierung’, ‘Rohstoffarmut’, ‘Humankapital’ und ‘Bildungsstandort Deutschland’ umreißen ein inzwischen vielfach von sozialer Abstiegsangst und Exklusionsdrohung geprägtes Zukunftsszenario und sensibilisieren für eine überwiegend ökonomische Lesart der weithin geteilten Diagnose: “Deutschland ist kein Bildungsland mehr” (Reisch 2002, 7). In dieser Justierung aber gilt zumeist – auch durchaus gegen die aufklärerischen Intentionen von PISA selbst: “PISA bestätigt eine Stimmung” (Reisch 2002, 7); eine Stimmung allerdings, die weniger darauf zielt, “daß unser System nicht stimmt” (ebd.), sondern weit mehr eine zunehmend verbreitete Befürchtung zum Ausdruck bringt, sowohl im nationalen Kampf um globalen Reichtum als auch im ‘schulischen Vorbereitungskampf’ für den ‘nachschulischen Arbeitskampf’ bereits allzu früh benachteiligt werden zu können und schon jetzt von sozialer Ausgrenzung und Misserfolg bedroht zu sein. Fast zwangsläufig richtet sich daher diese Angst gegen das Bildungssystem selbst, das – als ‘Heilmittel’ versprochen – zugleich auch als ‘Sündenbock’ ausgemacht wird, und artikuliert sich als dessen weithin geteilte Abwertung, die die ständige Beschwörungsformel, dass “Bildung die zentrale Aufgabe unserer Gesellschaft werden” muss (Baumert u.a. 2002a, 171), recht leicht konterkariert und irgendwie der Lächerlichkeit bloß ohnmächtigen Wünschens aussetzt. In diesen Spannungen und Widersprüchen bewegt und verhakt sich der seit geraumer Zeit öffentlich vehement geführte Diskurs zur ‘Zukunft der Bildung’ in Deutschland (vgl. exemplarisch die Programmschriften der Bildungskommission NRW 1995 wie auch von Killius u.a. 2002 und Lenzen 2003), so dass den immer wieder lauthals geforderten ‘Bildungsrevolutionen’ daher von Anfang an etwas Zweideutiges und Widersprüchliches anhaftet: nicht nur, weil dessen rhetorische Grundfigur – ‘laute Klage’ (Tenorth) einerseits, ‘Versprechungsrhetorik’ und emphatische Programmatik andererseits – ‘Bildung’ selbst permanent widersprüchlich thematisiert und sowohl als – bisweilen geradezu ursächlich verstandenes – ‘Übel’ als auch als verheißungsvolles ‘Heilmittel’ auslegt; auch nicht nur, weil wieder einmal als umfassend und überaus bedeutsam eingeschätzte gesellschaftliche Aufgaben einem pädagogischen System zugewiesen werden, dessen öffentliche Wertschätzung im gleichen Atemzug erheblich beschädigt wird, so dass dessen (auch wissenschaftlicher) Eigenstimme – wenn denn überhaupt formuliert – nur wenig Gewicht beigemessen wird; sondern vor allem, weil zwar vieles anders und besser werden muss, nichts aber – überpointiert formuliert – sich wirklich ändern darf. Nur exemplarisch: aus der Einsicht in die Zentralität der Bildung folgt noch lange nicht deren deutlich verbesserte Finanzierung; oder: trotz der durch PISA nachgewiesenen und sich pädagogisch insgesamt dysfunktional auswirkenden frühen Schultypendifferenzierung und Selektion der Schüler gilt eine kritische Befragung des dreigliedrigen Schulsystems in Deutschland in weiten Teilen immer noch als unangemessen oder gar als diskursiv überholt und erledigt. Auch wenn also die Diskussionen zur ‘Zukunft der Bildung’ längst die vermeintlich engen Zirkel der Experten überschritten und “die Titelseiten unserer Zeitungen und Zeitschriften” (Herzog 1997b, 13) erreicht haben, so überrascht doch nicht, dass
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Einleitung: Vom Ende der Bildung als Anfang
der von Herzog damalig intendierte “Aufbruch in die Bildungspolitik” (ebd.) zwar administrativ zur ‘Chefsache’ mit oberster Priorität gemacht wurde, aber noch immer nicht zu wirklichen Durchbrüchen geführt hat. “Nach PISA” (Terhart 2002) – so ließe sich pointieren – markiert insofern nicht nur eine unleugbare bedeutsame “bildungshistorische Zäsur” (Terhart 2002, 17), sondern kann auch als Kennzeichnung einer Ernüchterung gelesen werden, deren daraus resultierende Ratlosigkeit bis heute anhält. Kaum ernsthaft von der Hand zu weisen ist daher, dass mit PISA eine ‘Bildungskrise’ deutlich wird, die aber – weil es nicht leistet, was es zu leisten beauftragt ist – nur als Krise des bestehenden Bildungssystems selbst auszulegen ebenso unangemessen wie irreführend wäre. Dabei fehlt es (fast) nirgends an der Einsicht in die Unverzichtbarkeit und Dringlichkeit der Reform des deutschen Bildungssystems; etliche Mängeldiagnosen wie unzählige Reformvorschläge liegen auf dem Tisch. Sie belegen zwar unübersehbar, wie umstritten und heterogen die jeweilig vorgetragenen und diskutierten Vorstellungen und Ideen sind, können aber – bei allem inhaltlichen Streit – nicht hinreichend die immer wieder erfahrbare Lähmung und Blockierung der dringend anzustoßenden Transformationsprozesse verständlich machen. Auch Verweise auf die Zögerlichkeit politischer Gremien und die Schwerfälligkeit staatlich-bürokratischer Schulverwaltungsstrukturen mögen manches erhellen, erklären aber doch nicht alles; schon erheblich bedeutsamer sind finanzielle Erwägungen: angesichts zunehmend knapper öffentlicher Kassen und überaus ungünstiger Wirtschaftsprognosen sind angedachten Reformprojekten bereits strukturell enge Grenzen gesetzt, so dass auch hier – wenn auch noch verhalten – Liberalisierungserwägungen zunehmend Platz greifen und verunsichern (vgl. Lohmann / Rilling 2002). Lähmend aber wirkt vor allem zweierlei: erstens sind strukturell gravierende Eingriffe in die jeweiligen Bildungssysteme in ihren sozialen Folgen weitgehend unabsehbar, so dass angesichts der Zentralität des Bildungssystems für die gesellschaftliche Ordnung und soziale Hierarchie – pointierter: weil Bildungsfragen immer Machtfragen sind (Heydorn) – auch hier gilt, lieber vieles kleinschrittig zu verbessern als auch nur manches wirklich strukturell zu verändern; zweitens fehlt es an Gesamtvorstellungen, die gerade nicht bloß auf die Fortschreibung der derzeitigen Modernisierungsmechanismen hinauslaufen, sondern mit ermöglichen helfen, angesichts eines weitverbreiteten Wissens um die Nichtverallgemeinerbarkeit des nordwestlichen Lebensentwurfs überhaupt nach Alternativen zu suchen (vgl. Žižek 2001). Beides aber kollidiert nicht nur unweigerlich, sondern befestigt und befördert auch einen weithin resignativ-zynischen Fatalismus, dass ohnehin nur das geschieht, was geschieht; nichts aber ist schädlicher für ein Bildungssystem als dies. All das aber, so könnte man schließlich einwenden, ist nicht neu und kehrt geradezu zyklisch wieder: nicht nur, weil gesellschaftliche Modernisierungsprozesse immer wieder von ‘pädagogischen Alarmismen’ begleitet werden, in denen dramatisch vor drohenden ‘Bildungskatastrophen’ (exemplarisch Picht 1964) gewarnt wird, so dass schließlich nur noch von einer ‘Permanenz der Krisenrhetorik’ gesprochen werden kann (vgl. Oelkers 2001); auch nicht nur, weil neuzeitlich sich immer wieder radikale pädagogische Reform- mit eher bewahrenden Normal- oder Modernisierungsphasen
Anmerkungen zum Diskurs der Bildung
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abwechseln (vgl. Benner / Kemper 2001 wie 2003); sondern vor allem auch, weil Erziehung und – insbesondere – Bildung seit dem 18. Jahrhundert zunehmend mit Aufgaben einer kommunikativen Rekonstruktion des Sozialen betraut sind und daher als gesellschaftliches Funktionssystem strukturell vor solch komplexen und widersprüchlichen Problemstellungen stehen, in Unkenntnis der Zukunft der jeweiligen Gesellschaft die nächste (und übernächste) Generation zur Gestaltung derselben zu befähigen (vgl. Peukert 2000). Wenn auch diese bisweilen ‘abklärerisch’ formulierten Verweise nicht der angedeuteten gegenwärtigen Offenheit und damit verbundenen Unsicherheit entheben, so suggerieren sie doch nur allzu leicht, dass die bisherigen Mittel und Orientierungen zur Lösung der jeweiligen Probleme – seien es Institutionen, Praktiken, Vorstellungen oder auch kategoriale Bearbeitungsmuster selbst – insgesamt im Kern genügten und daher nur noch ‘richtig angepackt’ und ‘umgesetzt’ werden müssten. Überaus erstaunlich ist daher, dass – obwohl über (fast) nichts soviel gesprochen und gestritten wird wie über die ‘Zukunft unserer Gesellschaft’ – ein offener und produktiv angeregter Diskurs darüber, wie wir denn leben wollen, nicht nur faktisch nicht stattfindet, sondern weithin überhaupt als überflüssige, weil nutz- wie sinnlose ‘Dauerreflexivität’ (Schelsky) diskreditiert wird und – spätestens mit dem Zusammenbruch des ‘Ostblocks’ – als erledigt gilt. Erst wenn aber davon ausgegangen wird, dass Problemlösungen sich weder auf Zielbestimmungen oder funktionale Steuerungsmechanismen beschränken lassen noch bereits fertig vorliegen und auch mehr oder weniger ‘einsam’ ‘für alle’ gar nicht vorgelegt werden können, sondern allererst gemeinsam – und das heißt immer: diskursiv – erarbeitet werden müssen, haben Reformanstrengungen überhaupt eine Chance; Bedingung ihrer Möglichkeit jedoch ist, dass der Zusammenhang von Praxis und Selbstreflexion berücksichtigt wird und Zustimmungsfähigkeit zu gesellschaftlichen Entwicklungen und Ordnungen als nicht bloß sekundäres, geradezu nebensächliches Problem eingesehen wird. ‘Bildung’ – so meine Vermutung – aber taugt kaum noch dazu, einen solchen Diskurs zu initiieren oder gar produktiv zu orientieren.
I. Dem publizistisch wirksam inszenierten und sich bereits seit geraumer Zeit in einer Vielzahl programmatischer Denkschriften und Manifeste niederschlagenden gesellschaftlichen Diskurs zur ‘Zukunft der Bildung’ (vgl. exemplarisch Bildungskommission NRW 1995, Killius u.a. 2002 wie 2004 und Lenzen 2003) haftet etwas zutiefst Zwiespältiges an: nicht nur, weil er längst auch zum Tummelplatz politischer Rhetorik geworden ist, die auch oft genug ohne Expertisen auskommt; auch nicht nur, weil er – bei aller begrüßenswerten Aufmerksamkeit für Fragen der Bildung – eigentümlich halbiert erscheint; schon gar nicht, weil vieles umstritten ist und die vertretenen Perspektiven verständlicherweise höchst unterschiedlich ausfallen; sondern vor allem, weil trotz aller inhaltlichen Differenzen zentrale Einschätzungen geradezu unisono vertreten werden. Es ist erstaunlich und überaus irritierend, dass sowohl die Diagnose unserer Gesellschaft als ‘Wissensgesellschaft’ als auch die Etikettierung der unter-
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Einleitung: Vom Ende der Bildung als Anfang
schiedlichen Empfehlungen mit ‘Bildung’ weitgehend unbestritten von fast allen geteilt werden. So ist man sich – bei aller Differenz in Lösungskonzepten und Zukunftsvorstellungen – in zweierlei doch eigentümlich einig: erstens, dass der Bearbeitung und Lösung der (ja seit längerer Zeit nicht unbekannten) Probleme im Bildungssystem gerade angesichts des sich längst umfassend vollziehenden gesellschaftlichen Transformationsprozesses zu einer spätmodernen ‘Wissensgesellschaft’ höchste Bedeutung zukommt (a); und zweitens, dass ausgerechnet Bildung, wenn auch nicht schon Lösung selbst, so doch der zentrale Schlüssel zur Lösung dieser vielfältigen gesellschaftlichen Probleme ist (b). Dabei ist es gerade nicht der bloße Begriff, sondern dessen semantische Aufladung, die als – vermeintlich bis heute unabgegoltene – Vergangenheit des Konzepts der ‘Bildung’ nun als Zukunft beschworen wird: “Wilhelm von Humboldt hat noch immer Recht”, so oder ähnlich wird immer wieder durchgängig formuliert (vgl. Bildungskommission NRW 1995, 30 wie auch Killius u.a. 2002, 155f.). (a) Der Rekurs auf die ‘Wissensgesellschaft’ als dem heraufziehenden Zukunftsszenario unserer spätmodernen Gesellschaft ist in Bildungsfragen längst eine unerlässliche Pflichtübung. Kaum eine der bildungspolitischen Analysen und programmatischen Erklärungen kommt ohne den Verweis auf sie aus und legitimiert so die eigene Perspektive: ‘Rohstoffarmut’ und ‘Humankapital’, ‘Wissenstechnologien’ und ‘Kreativität der Köpfe’, ‘Globalisierung’ und ‘Konkurrenzfähigkeit’ – so oder ähnlich lauten die Schlagworte, mit denen allzu oft die Diagnose gegenwärtiger Gesellschaften bestritten wird. Zudem kommt dem Begriff ‘Wissensgesellschaft’ eine nicht zu unterschätzende Aura zu, die oft genug in zahllosen Szenarien medial kommunizierender und lernender Menschen in gläsernen Bauten vor blauem Himmel konkret ausgemalt und bebildert wird. Doch ist eben diese Diagnose einer Wissensgesellschaft so einhellig nicht: zum einen, weil die vermeintliche Bedeutungszunahme von Wissen so neu nicht ist und streng genommen wohl erheblich mehr Gesellschaftsformationen zugesprochen werden muss (vgl. exemplarisch Burke 2001 und Kintzinger 2003); zum anderen, weil die erkennbare Zunahme wissensbasierter Berufe (im Dienstleistungsbereich) gerade nicht automatisch die Abnahme industriegesellschaftlicher Arbeit nach sich zieht, sondern allenfalls deren Verlagerung in sogenannte ‘Niedriglohnländer’ kaschiert. Fragt man also genauer nach dem Bedeutungsgehalt von ‘Wissensgesellschaft’, dann zeigt sich durchgängig, dass allzu oft nur ein ‘Mythos Wissensgesellschaft’ (Kübler 2005) propagiert wird, während ernsthafte Analysen erheblich komplizierter und widersprüchlicher ausfallen – auch und gerade, weil das, was als vermeintliche Basis eben dieser Wissensgesellschaften gilt – das Wissen –, so einfach und verlässlich nicht zu fassen ist (vgl. Nowotny 1999 und 2006 wie auch Nowotny u.a. 2004)1. Kaum verwunderlich ist daher, dass auch der Diskurs der Wissensgesellschaft längst selbst 1
Dass daher bereits auch die Etikettierung dieser Transformationsprozesse umstritten ist, lässt sich an den verschiedenen ‘label’ der sozialwissenschaftlichen Diagnosen illustrieren, die von den erstaunlich frühen Kennzeichnungen einer ‘learning society’ (vgl. Hutchins 1968 und Husén 1974) über Daniel Bells Konzeption der ‘postindustrial society’ (vgl. Bell 1973) bis schließlich hin zu Konzepten der ‘Informationsgesellschaft’ und – seit dem Ende des 20. Jahrhunderts – ‘Wissensgesellschaft’ (vgl. Stehr 1994) reichen.
Anmerkungen zum Diskurs der Bildung
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Gegenstand (ideologie-)kritischer Befragungen geworden ist – mit dem deutlichen Befund, dass nicht nur mehr ‘Schein als Sein’ zu diagnostizieren ist (vgl. Bittlingmayer 2005 wie auch Bittlingmayer / Bauer 2006), sondern dass diesem ‘schönen Schein’ eine nicht zu unterschätzende machtpolitische Funktion im Rahmen der Transformationen des westlichen Kapitalismus in globalisierten Verhältnissen zukommt (vgl. Boltanski / Chiapello 2003). Erhebt man nun die in den unterschiedlichen Denkschriften wie Lern- und Bildungsberichten zur ‘Zukunft der Bildung’2 implizierten Problemhorizonte in ihrer jeweilig perspektivisch vorgenommenen Problemkonstruktion, auf die zu antworten Lernen und Bildung dann justiert werden, so zeigt sich eine auffällige Gemeinsamkeit: immer geht es zunächst und vorrangig um Fragen der Bildung als einem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Standortfaktor und um die damit verbundene Problematik umfassender gesellschaftlicher Transformationsprozesse von der Arbeits- und Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft, die die Forderungen einer Modernisierung des Erziehungs- und Bildungssystems provozieren und als erforderliche Anpassung begründen; eng damit verbunden sind fast immer dann weitreichendere zivilgesellschaftliche Fragen der individuellen Lebensführung und der sozialen Integration, die zu einer Stärkung von Bildung als einem ‘vernünftigen Umgang mit der Welt’ (Mittelstraß) führen und in Überlegungen zu einer strukturellen Neuorientierung des Bildungssystems münden; daran werden schließlich strukturell argumentierende Überlegungen zum Zusammenhang von Lernen, Bildung und Zukunft in globaler Perspektive angeschlossen, die angesichts vielfältig ungelöster – ökologischer, ökonomischer, sozialer und politischer - ‘Weltprobleme’ zur Überprüfung der jeweiligen Lebensweisen zwingen und insgesamt ‘substantielle Lern- und Transformationsprozesse’ (vgl. Peukert) einfordern. Trotz unterschiedlicher Gewichtung und Perspektivierung dieser verschiedenen Problemlagen besteht durchaus Einigkeit darin, dass die jeweilig benannten Krisen gerade nicht bloß als konjunkturelle, sondern als strukturelle Krisen eingeschätzt werden müssen, so dass es nicht nur darum gehen kann, bisherige Bearbeitungsmuster zu verbessern, sondern zugleich immer auch darauf ankommt, veränderte Weisen der Wahrnehmung von Wirklichkeit und des Umgangs mit ihr zu entwickeln. Nur exemplarisch: es ist durchaus kein Einzelfall festzustellen, dass es in den anstehenden Bildungsveränderungen gerade “nicht um die übliche Anpassung des Bildungssystems an eine sich kontinuierlich weiterentwickelnde Gesellschaft” (Bildungskommission NRW 1995, XII) geht, sondern vielmehr “Veränderungen zu erwarten [sind], die grundlegende Neuorientierungen 2
Exemplarisch ließen sich hier drei unterschiedliche Gattungen solcher Denkschriften anführen: zum einen eher schul- und bildungspolitisch motivierte Schriften wie der Nordrhein-westfälische Kommissionsbericht zur ‘Schule der Zukunft’ (Bildungskommission NRW 1995; vgl. zur erziehungswissenschaftlichen Rezeption Knoll 1996a, Ruhloff 1997 und Giesecke 1998), zum anderen eher gesellschaftspolitische Initiativen wie die der Unternehmensberatung McKinsey & Company ‘McKinsey bildet!’ (vgl. Killius u.a. 2002 wie 2004); und schließlich weltgesellschaftlich argumentierende Berichte zur Lage der Welt, wie sie sowohl vom ‘Club of Rome’ (vgl. Meadows u.a. 1972 wie Botkin u.a. 1979) als auch von der UNESCO initiiert und herausgegeben werden (vgl. Faure u.a. 1973, Delors u.a. 1996, UNESCO 1997 wie jüngst UNESCO 2005; vgl. zur erziehungswissenschaftlichen Rezeption Knoll 1996b, Merkel 1998 und Schöthaler 2000). Trotz aller inhaltlichen Differenzen, der in den verschiedenen Denkschriften skizzierte Problemkontext ist ähnlich umfassend und beschränkt sich nirgends bloß auf Fragen der schulischen Vorbereitung für zukünftige Arbeitskämpfe.
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Einleitung: Vom Ende der Bildung als Anfang
erfordern” (ebd. XII), so dass “Reparaturmaßnahmen auf der Grundlage traditioneller Gestaltungsmuster und Verantwortungsstrukturen” (ebd. XI) kaum noch ausreichen, “die globalen Entwicklungsprobleme” (ebd.) in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gestaltungsbereichen zu lösen. Und doch kann der Eindruck, dass die jeweilig programmatisch formulierten Aufgabenzuweisungen überwiegend dann doch auf ein überaus bekanntes, mit der Krise strukturell verbundenes Muster zurückgreifen und insofern auf eine lineare Modernisierung im Sinne von Bestandssicherung und -steigerung abzielen, nicht ernsthaft ausgeräumt werden: nicht nur, weil am Ende doch vieles mehr oder weniger unverblümt auf Konkurrenzfähigkeit und Reichtumssicherung hinausläuft (vgl. exemplarisch Kommission für Zukunftsfragen 1997); auch nicht nur, weil die insbesondere in den verschiedenen internationalen Lern- und Bildungsberichten der UNESCO scharf konturierte menschheitliche Problemlage im Konzept der Wissensgesellschaft so gut wie nicht mehr mitgehört wird, so dass die Dringlichkeit transformatorischer Lernprozesse mehr und mehr aus dem Blick rückt (vgl. exemplarisch von Faure u.a. 1973 über Delors u.a. 1996 bis hin zu UNESCO 1997 und zuletzt 2005)3; sondern auch, weil die Antwort – ungeachtet der enormen Unterschiedlichkeit der genannten Problemherausforderungen – immer gleich ausfällt: ‘Bildung’. (b) Der überaus erstaunliche Befund, dass ‘Bildung’ als Generallösung für zunehmend mehr Probleme – von konkreten Arbeitsmarktschwierigkeiten über zivilgesellschaftliche Integrationsfragen bis schließlich hin zu Moral- und Gerechtigkeitsfragen – beschworen wird, ließe sich zunächst ihrem trivialisierten Gebrauch zuschreiben, so dass nicht nur in politischen Reden umstandslos aneinander gereiht wird, was kaum konfliktfrei nebeneinander bestehen kann: Bildung heißt dann nicht nur Wissen, Reflexion, Orientierung und Urteilskraft oder allgemein ‘Kompetenz’, sondern auch “Anerkennung”, “Empathie” und “Herzensbildung” (Köhler 2006, 3) wie auch “Selbständigkeit”, “Bindungsfähigkeit”, “Unternehmensgeist” und “Verantwortungsbereitschaft” (Herzog 1997a, 10). Dass dies so einfach möglich ist und nicht bloß als schlichter Unsinn oder unerträglicher Kitsch zurückgewiesen werden kann, muss zugleich – in einer zweiten Lesart – auch der ‘Bildung’ selbst angelastet werden, ist doch das, was mit ‘Bildung’ bezeichnet werden kann, seinerseits ‘bestimmt unbestimmt’ (Ehrenspeck / Rustemeyer 1996), so dass diese selbst dazu taugt und neigt, 3
Wie sehr dieses bereits verschwunden ist, lässt sich – exemplarisch – an einer Formulierung erahnen, die vor wenigen Jahren noch weithin Geltung beanspruchen konnte (und heute doch mehr denn je sachlich zutreffend ist): “Die Menschheit steht in den kommenden zwei bis drei Generationen, kaum hundert Jahren [...] vor einer niemals zuvor erfahrenen und deshalb auch niemals zuvor bewältigten Herausforderung. Sie muß in kurzer Zeit ihre Lebensgewohnheiten [...] so grundlegend umgestalten, dass aus der bis heute anhaltenden, schädliche Nah- und Fernfolgen akkumulierenden Wirtschafts- und Lebensweise der Menschenvergangenheit eine intensive und auf Dauer erhaltungsfähige Bewirtschaftung der Biosphäre hervorgeht” (Markl 1998, 191). Auf diesen grundsätzlichen Problemhorizont hat immer wieder insbes. Helmut Peukert aufmerksam gemacht und eindringlich argumentiert, dass die Pädagogik – ob sie will oder nicht – vor der paradoxen Aufgabe steht, die nachwachsende Generation in etwas einführen zu müssen, in das sich entweder nur widersprüchlich oder kritisch einführen lässt, geht es doch immer auch darum, im Erlernen des jeweilig erforderlichen Wissens auch die Fähigkeit zur Transformation der eigenen Lebensweise mit zu erlernen. Vgl. dazu die Überlegungen Peukerts zum Begriff der ‘Bildung’ als eines ‘transformatorischen Lernens’ (Peukert 1984, 1998 wie 2000).
Anmerkungen zum Diskurs der Bildung
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sowohl als Mittel zu anderen – meist ökonomischen – Zwecken als auch als ‘Zweck an sich selbst’ beansprucht und kommuniziert zu werden. Aufgrund dieses ‘doublebind’ gilt ‘Bildung’ selbst als zweideutig und insgesamt harmonisierend, indem sie sowohl als Kennzeichnung zukünftig dringlicher ‘transformatorischer Lernprozesse’ (Peukert 1999) als auch als zentrales Moment der Konstitution eben jener zu transformierenden Gesellschaft selbst fungiert – mit dem fatalen Effekt, dass in dieser Doppelstellung Erhaltungs- und lineare Verbesserungsstrategien unter den Vorzeichen struktureller Veränderungen semantisch erschlichen werden können. Dass aber mit ‘Bildung’ auf etwas zurückgegriffen wird, das in das Kritisierte selbst konstitutiv einverflochten ist, belegt nicht nur die enorme Elastizität des Konzepts, sondern lässt sich – vielleicht bestenfalls – auch als Indikator gegenwärtiger Ratlosigkeit lesen, prinzipielle Alternativen entweder gar nicht (mehr) denken zu können oder – schlimmstenfalls – resigniert oder gar zynisch für aussichtslos und bloß utopisch zu halten. So aber kann sich der gegenwärtig inflationär praktizierte Rückgriff auf Bildung als Einlösung alter, bislang vermeintlich nur partiell eingelöster Konzepte und Interpretationsmuster ausgeben, indem er verdeckt, dass auf etwas zurückgegriffen wird, was als uneinlösbar, überholt oder gar selbst problemverstrickt gilt. Mit diesem Mechanismus aber schleicht sich in die verbreitete Bildungsrhetorik nicht nur ein eigentümlich, bisweilen illusorisch anmutendes Vertrauen auf die ‘innere Gutheit’ von Bildung überhaupt ein; vielmehr erwecken die öffentlich angestellten Überlegungen – gerade dadurch (!) – den Eindruck bloßer Rhetorik und befördern trotz aller gegenteiligen Beteuerungen, dass die menschliche Zukunft offen, gestaltbar und insofern auch veränderbar sei, einen gesellschaftlich zunehmend verbreiteten Fatalismus, dass ohnehin nur geschieht, was geschieht. Es ist vielleicht gerade diese Ambivalenz und Widersprüchlichkeit, die den Rekurs auf ‘Bildung’ ebenso problematisch und unglaubwürdig wie unglaublich ermüdend macht und dazu führt, den Gebrauch von ‘Bildung’ immer wieder neu als ideologisch entlarven zu wollen: sei es als bloße (und weitgehend entleerte) Semantik, die die reale soziale Funktion der ‘Bildung’ in der Reproduktion sozialer Ungleichheit hinter hehren Zielen zu kaschieren verhilft; oder sei es als Verrat und Missbrauch eines historisch formulierten ‘Humanisierungsversprechens’ zu bloß bürgerlichen Selbstbehauptungs- und Distinktionszwecken, in denen ‘Bildung’ schließlich als bloßes “Mittel der Wahrnehmung von Vorteilen inmitten des ungeschlichteten bellum omnium contra omnes” (Adorno 1972, 97) dient. Beide Perspektiven aber unterschätzen ‘Bildung’, indem sie den für Bildung bedeutsamen Zusammenhang von Qualifikation und Subjektivierung, Wissen und (Selbst)Reflexivität letztlich doch auflösen und gegeneinander wenden, so dass es immer wieder überzeugend scheint, vermeintlich bloße Konzentration auf Wissen, Qualifikation und Kompetenz als funktionalistisch zu diskreditieren oder umgekehrt Insistenz auf selbstbezügliche ‘Menschenbestimmung’ als bloß humanistisch abzutun. Wie zahnlos beide Kritiken aber längst geworden sind, zeigt sich auch daran, dass sie immer wieder auf bloß positionale Überzeugungen – insbesondere zwischen Bildungsempirie und Bildungsphilosophie – zurückgerechnet und als jeweilige Voreingenommenheit attackiert oder belächelt werden.
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Das aber legt nahe, in einer anderen – dritten – Lesart diese doppelte Justierung von ‘Bildung’ produktiv aufzunehmen und als Ausdruck einer auf das Individuum und seine Lebensführung zielenden, die unterschiedlichen Problemhorizonte verbindenden ‘anthropolitischen Technologie’ zu lesen. Bildung – so der Verdacht – taugt auch deshalb zu einer Zukunftsrhetorik, weil sich in ihr sich wandelnde Qualifikationserfordernisse und tieferliegende Subjektivierungsstrategien verknüpfen, so dass eine entweder bloß empirisch oder philosophisch justierte Perspektivierung von ‘Bildung’ sich (über sich selbst) täuschen muss, wenn sie glaubt, sich entweder bloß auf Qualifikations- und Kompetenzprobleme begrenzen oder ein ‘eigentlich Humanes’ gegen vermeintlich ökonomisch-politisch bedingte Funktionalisierung zur Geltung bringen zu können. Vielmehr verhilft ‘Bildung’ – und dies macht der Diskurs über die ‘Zukunft der Bildung’ bei aller Vorsicht gegenüber zu direkten Wirkungsannahmen deutlich – dazu, einen veränderten diskursiven Horizont zu etablieren, in dem nicht nur politische Strategien und Weichenstellungen leichter vorbereitet und vollzogen werden können (vgl. Zymek 1998), sondern auch bestimmte Thematisierungs- und Frageweisen figuriert werden. So mag man die verschiedenen und kaum bloß auf eine Seite der Beteiligten reduzierbaren Öffentlichkeitsstrategien, gesellschaftliche Situationsbeschreibungen mit schockierenden Defizitdiagnosen, umfassenden Herausforderungskatalogen und überlebensnotwendigen Lösungsperspektiven zu verknüpfen und mehr oder weniger medienwirksam zu präsentieren, bisweilen begründet zurückweisen können; weit schwerer aber ist es, sich den diskursiven Vorbahnungen und Zuschnitten – und dann noch allgemein verständlich – zu entziehen. Erziehungswissenschaftlich zwar verführerisch, aber überaus fatal wäre es daher, die neue und zugleich alt sich gebende ‘Konjunktur des Bildungsbegriffs’ als wachsende pädagogisch interessierte Aufmerksamkeit und öffentliche Wertschätzung aufzunehmen oder gar “als Einlösung alter pädagogischer Reformforderungen” (Zymek 1998, 802) misszuverstehen. Dass dem nicht so ist, ist offensichtlich: nicht nur, weil insgesamt nur selten Erziehungswissenschaftler zu Beratungen und Expertisen geladen werden und – wenn doch – deren argumentative Logik für nur begrenzt tauglich, angemessen und bedeutsam gehalten wird, so dass diese die zumeist politisch-sozial motivierte Missachtung oftmals selbst nur in Selbst- und kollegialer Anderenabwertung verarbeiten können; auch nicht nur, weil die eklatante Diskrepanz von hochtönender Rhetorik, überaus zäher politischer Praxis und mangelnder öffentlicher Wertschätzung und Anerkennung nicht nur angesichts der zunehmend prekären Finanzlage und Überlastung des pädagogischen Systems kaum zu verleugnen ist; sondern vor allem, weil sich das neue Interesse an Bildung zwar aus ganz anderen als pädagogischen Quellen speist, sich aber – erziehungswissenschaftlich fatal – durchaus nicht zu unrecht auf die pädagogische Semantik der Bildung berufen kann und sich ihrer gerade nicht bloß ideologisch bedient. Die Möglichkeiten aber, erziehungswissenschaftliche Vorbehalte und Kritik zu formulieren, stehen damit vor enormen begrifflichen und logischen Schwierigkeiten und belegen auch die Kritikuntauglichkeit der ‘Bildung’ selbst, der nicht zu entkommen ist durch ständig wiederholte Rekonstruktion ihres vermeintlich vormaligen kritischen Gehalts.
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Lässt sich aber den beobachteten Zweideutigkeiten der Denkschriften zur ‘Zukunft der Bildung’ nicht dadurch entkommen, dass man sie als bloß ideologische Funktionalisierung oder ohnmächtige Programmatik auslegt, so gilt es, die in den verschiedenen Denkschriften zur ‘Zukunft der Bildung’ mit ‘Selbsttätigkeit’ und ‘Selbstbestimmung’ markierte und nahezu durchgängig beobachtbare Focussierung des ‘inneren Menschen’ als ebenso zentrales wie umstrittenes Thema gesellschaftlicher Reproduktion ernst- wie aufzunehmen und nicht als leere Rhetorik bloß abzutun. Ihr aber lässt sich nicht beikommen, solange ‘Bildung’ als ‘Entdeckung’ und ‘Freilegung’ individueller Selbstbezüglichkeit und Subjektivität verstanden und nicht als deren spezifische Formation begriffen wird. Es ist gerade dieses prekäre Feld der ‘Führungen der Führungen’ (Foucault), das mit Bildung intoniert und als Aufgabenzuweisung an das pädagogische System delegiert wird, so dass es darum geht, Bildung selbst als spezifische Form und Strategie der Subjektivierung zu rekonstruieren und machttheoretisch zu problematisieren. Dazu aber taugt der grundbegriffliche Zuschnitt der Erziehungswissenschaft nur bedingt, markieren doch nicht Deformation oder gar Verhinderung von Subjektivität, sondern spezifische Figuration und Steigerung derselben – auch und gerade durch pädagogisches Handeln selbst – den gegenwärtigen Problemhorizont4.
II. Dabei ist die gegenwärtige Konjunktur der ‘Bildung’ im gesellschaftlichen Diskurs vor dem Hintergrund des erziehungswissenschaftlichen Diskurses durchaus auch verblüffend: zunächst, weil ‘Bildung’ trotz aller öffentlicher Dauerinanspruchnahme als wissenschaftlicher Begriff spätestens seit Ende der 60er Jahre nicht nur als antiquiert, sondern auch als wissenschaftlich unproduktiv galt und rasch durch andere Sprachspiele wie ‘Qualifikation’ und ‘Sozialisation’, ‘Kompetenz’, ‘Identität’ und ‘Emanzipation’ ersetzt wurde. Schlimmer noch: ihm hing – so schien weithin ausgemacht – als ideologieverdächtiger Begriff “ein Schicksal [an], an das man lieber nicht rührt. Klarheit wird einem von da nicht zuteil” (Hentig 1969, 146). Umso überraschender ist aber dann, dass die in den 80er Jahren sukzessive vollzogene Reetablierung des Bildungsbegriffs als eines erziehungswissenschaftlichen Grundbegriffs5 gerade nicht als Rehabilitierung des Begriffs gelesen werden kann, die sich nun auf eine inhaltliche Präzisierung oder gar empirische Fundierung hätte stützen können; eher im Gegen4
Nur folgerichtig hat sich gegenwärtig auch insbesondere in der Allgemeinen Erziehungswissenschaft eine Forschungsperspektive etabliert, in der – neben anderen Konzepten – auch ‘Bildung’ als gouvernementale Praktik der Macht und Subjektivierungsstrategie analysiert wird; vgl. dazu exemplarisch die Arbeiten von Andrea Liesner (2004 wie 2006) sowie die Dokumentation einer Arbeitsgruppe zu ‘Gouvernementalitätstheoretischen Perspektiven in der Erziehungswissenschaft’ anlässlich des Jahreskongresses 2006 der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft in Frankfurt/M. (vgl. Ricken / Liesner 2007).
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Eine – auch nur kleine – Geschichte der Bildung als eines erziehungswissenschaftlichen Grundbegriffs kann hier nicht geleistet werden; vgl. dazu stellvertretend zunächst Tenorth 1998 und 1999 wie die Sammelbände von Dietrich / Müller 1999 und Hoffmann 1999. Für die Reetablierung der Bildung lassen sich exemplarisch insbesondere die Arbeiten von Nipkow 1977, Kade 1983, Mollenhauer 1987 und Schweitzer 1988 nennen; bereits Spiegel und Folge dieser Reetablierung sind Hansmann / Marotzki 1988 und 1989.
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teil: auch wenn sich der Gebrauch von ‘Bildung’ durchaus versachlicht und erheblich verselbstverständlicht hat, so wird ‘Bildung’ doch im pädagogischen Diskurs überaus ambivalent und widersprüchlich kommuniziert (vgl. Tenorth 1997). Vielmehr umstritten bis heute taugt und zwingt ‘Bildung’ dazu, das jeweilig Gemeinte durch Negation und Position genauer zu bestimmen – so dass, wer auf ‘Bildung’ sich beruft, auch immer noch nicht um deren Präzisierung und Konkretion herum kommt und gerade dafür nicht nur mit jeweiligem Widerspruch, sondern auch mit dem nachsichtigen Lächeln der Zunft rechnen muss – wie man an der Rezeption der verschiedenen Begriffsneuauflagen durchaus nachvollziehen kann (vgl. exemplarisch Hentig 1996). So ist dieser erneute Rückgriff auf vermeintlich pädagogisch ‘einheimische Begriffe’ (Herbart) weder Folge einer endlich eingesehenen Begriffsüberlegenheit noch Ausdruck eines gestärkten disziplinären Selbstbewusstseins, sondern vielmehr auch der Versuch, im enormen Paradigmenwechsel pädagogisch-theoretischer Moden nicht unterzugehen und auch pädagogisch-erziehungswissenschaftlich ein ‘Eigenes’ für zu sich reklamieren. ‘Korrekturen am Bildungsbegriff’ (Mollenhauer 1987) gehören daher – neben inhaltlicher Bestimmung und Präzisierung überhaupt – zur ständig neuen Pflicht erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung und belegen insgeheim auch, mit der Wahl der Grundbegriffe (noch immer) nicht ganz einverstanden sein zu können. Bei aller neuen Selbstverständlichkeit, das begleitende Unbehagen am Begriff der Bildung lässt sich nicht übersehen und klingt auch noch in Tenorths salopper Kommentierung – “Bildung – was denn sonst?” (Tenorth 1999) – durch. Die gegenwärtig auch pädagogisch anhaltende und nach PISA rasant zunehmende Konjunktur der ‘Bildung’ bestärkt so die Schwierigkeit, sich jenseits oder diesseits derselben kaum bewegen zu können, ohne nicht doch dauernd mit ‘Bildung’ konfrontiert zu werden – mit der Folge, dass ‘Bildung’ zwar immer wieder als ebenso “überholt” wie “ohnmächtig”, aber eben auch als “unvermeidbar” (Gruschka 2001) apostrophiert wird. Gerade weil aber ihr längst inflationärer Gebrauch sich weniger einer inhaltlichen Begriffsfüllung und eigenen Überzeugung verdankt, muss sie auch – wenn auch sicherlich nicht ausschließlich – als wissenschaftspolitischer Versuch gelesen werden, am – allerdings überwiegend anders justierten – öffentlich-politischen Diskurs teilzuhaben und mindestens potentiell als deren Experte gelten zu können. Nichts aber belegt wohl mehr die “zu Ende gehende [...] Epoche des Begriffs” (Nipkow 1977, 205) als diese gleichzeitige Besetzung und Entleerung des Bildungsbegriffs: man zehrt irgendwie noch vom guten Klang der ‘Bildung’, ohne doch dessen semantischer Aufladung (und Überladung) noch anhängen zu müssen. Schärfer noch: ihre längst sichtbar gewordene Untauglichkeit als inhaltlich präzise gefasstes, kategorial angemessen ausgearbeitetes und disziplinär weithin geteiltes Konzept ist Bedingung der Möglichkeit ihres öffentlich-diffusen Gebrauchs. Nicht anders ist jedenfalls erklärbar, dass den immer wieder vorgetragenen, historisch oder systematisch orientierten Begriffsklärungen und Erinnerungen, was denn einst mit ‘Bildung’ – gar wirklich – gemeint war, nicht nur etwas Rechthaberisches und Besserwisserisches, sondern auch etwas ebenso Vergebliches wie Lächerliches anhaftet; so genau, so die oft gegebene Antwort, wollte man es denn auch nicht wissen. Und wenn dies auch noch von Vertretern der Disziplin selbst praktiziert wird, dann ist das ‘Ende der
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Bildung’ so gut wie sicher erreicht – und ein Anfang gemacht: der Anfang eines unverhohlen machtpolitischen Ausbaus der Bildung und deren Einbaus in die ‘Ordnung der Gesellschaft’. ‘Bildung ist auch eine Eintrittskarte’, so lautet die Botschaft, die längst bei vielen angekommen ist und erklärbar macht, warum trotz aller gutmeinenden Ornamentik inzwischen auch Schlachtenlärm zu hören ist, wenn von Bildung die Rede ist. Es ist diese Widersprüchlichkeit, diese Gleichzeitigkeit von Dominanz und Unbehagen, die die Ambivalenz der ‘Bildung’ kennzeichnet: einerseits als erziehungswissenschaftlicher Grundbegriff bereits historisch mit dem pädagogischen Geschäft so elementar identifiziert zu sein, dass jeder Versuch, sie preiszugeben, immer auch in Gefahr steht, das pädagogische System selbst zu gefährden und damit zugleich den disziplinären Anspruch auf ‘relative Autonomie’ der Erziehungswissenschaft aufs Spiel zu setzen; andererseits aber als nicht bloß pädagogischer Zentralbegriff der eigenen theoretischen Justierung und Bearbeitung insofern auch entzogen zu sein, als Präzisierungen und Korrekturen im verbreiteten Begriffsgebrauch sich kaum nachhaltig niederschlagen. Anders formuliert: man kann sich nicht nicht zu ‘Bildung’ verhalten; und doch führt eine Problematisierung der Bedeutung oft genug zu nichts. Folgt man nun den unterschiedlichen Verwendungsweisen des Bildungsbegriffs (vgl. Tenorth 1997), so zeigt sich darin überwiegend dreierlei: erstens wird – bei aller Umstrittenheit und jeweilig inhaltlicher Auslegung des ‘Was’ – ‘Bildung’ immer als etwas thematisiert, das auf Wissen bezogen und mit Entwicklung verbunden ist – mit dem nicht ganz unwichtigen Nebeneffekt, dass auch ‘Ungenügen’ und ‘Mangel’ in den Blick kommen, wenn von ‘Bildung’ die Rede ist. Neben aller sowohl zeitlich als auch thematisch gedachten Unabgeschlossenheit und Offenheit, die ‘Bildung’ ausmacht wie als Fortschrittsbegriff attraktiv macht, ist mit ‘Bildung’ daher nicht nur immer auch ein Defizit, sondern auch ein Besserwissen, Besserkönnen und mögliches Bessersein markiert. Damit ist zweitens verbunden, dass ‘Bildung’ durchgängig immer auch als Selbstreferentialität entfaltet und erläutert wird, so dass im Lernen von etwas man immer auch sich selbst mit erlernt: “‘Bildung’ steht im pädagogischen Gebrauch nicht für ein natürliches Werden, das von sich her unter wechselnden Bedingungen mal so und mal anders geschieht, sondern für ein Werden nach gedanklichen Maßgaben” (Ruhloff 1999, 119). Gerade diese selbstreferentielle wie vor allem selbstreflexive Komponente gilt weitgehend einstimmig als Eigenheit und Stärke des Bildungsbegriffs und begründet dessen anhaltenden Vorzug gegenüber andersbegrifflichen Ersetzungen wie Qualifikation, Kompetenz und Identität6 oder auch schlicht Erziehung (vgl. Tenorth 1999, 94ff. wie 99) und – komplizierter – Autopoiesis (vgl. Lenzen 1997). Schließlich – drittens – ist ‘Bildung’ zumeist irgendwie doch ein mora6
Die Debatte zur ‘Kompetenzentwicklung’ legt davon beredt Zeugnis ab: nicht nur, weil der (immer nur inhaltlich denkbare) Qualifikationsbegriff als eines zu engen ‘Positionsbegriffs’ zugunsten des (erheblich formaleren) Kompetenzbegriffs als eines ‘Dispositionsbegriffs’ verabschiedet worden ist; sondern auch, weil neben und in weltbezogenen und sozialen Kompetenzen immer auch selbstbezogene Kompetenzen – von der ‘Selbstorganisationsfähigkeit’ über das ‘Selbstwirksamkeitsvertrauen’ bis hin zu allgemeinen ‘Identitäts-‘ und ‘Selbstkompetenzen’ – mitgedacht werden müssen, so dass auch die bewusst kompetenztheoretische Abkehr von einer bildungstheoretischen Semantik – ob gewollt oder nicht – sich letztlich der ‘Bildung’ irgendwie wieder annähert; vgl. nur exemplarisch Nuissl u.a. (2002).
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lisch-normatives Moment eingebaut, das auch noch im Affekt gegen sie, nichts anderes als eine bloß leere “Wärmemetapher” (Weinberg 1999, 138) zu sein, spürbar wird und – wenn auch oft genug nur zwischen ‘allgemeiner Gutheit’ und ‘humanistischer Moralität’ bloß changierend – es nicht erlaubt, jedweden Transformationsprozess des Selbst als Bildungsprozess zu verstehen. Die Ambivalenz der ‘Bildung’ im pädagogisch-erziehungswissenschaftlichen Diskurs aber hängt genau an dieser Verknüpfung der Bedeutungsebenen: als ‘unabschließbarer Begriff’ zehrt er zum einen – fast unweigerlich – von normativen Überschüssen, die immer wieder dazu verführen, ‘Bildung’ entweder als überholtantiquierte ‘humanistische Phrase’ oder als ein historisch verratenes, zu vielfältig anderen als humanistischen Zwecken missbrauchtes und daher insgesamt ‘uneingelöstes Versprechen’ (Peukert 1988) auszulegen und als Kritik zur Geltung bringen zu wollen; kaum möglich scheint daher, einen ‘nicht-normativen Bildungsbegriff’ (Ruhloff 1999) zu denken, der der enormen Bedeutungsweite und anthropologischen Bedeutungstiefe – dass im Streit um Erziehung immer auch der Mensch selbst in Frage steht (vgl. Bokelmann 1989) – gerecht würde. Damit hängt – zum anderen – zusammen, dass alle Versuche, die problematische Normativität der Bildung in eine analytischdeskriptive Begrifflichkeit zu überführen und ‘Bildung’ als bloße Formwerdung des Individuums zu fassen, der ‘Macht der Bildung’ insofern nicht zu entkommen vermögen, als sie dem mit ‘Bildung’ immer implizierten kategorialen Zuschnitt, seinem explizit individualtheoretischen Aufriss auch noch in dieser konzeptionellen Abwendung folgen. Es ist so nicht nur die aus Theorie-Praxis-Zusammenhängen resultierende normative Problematik möglicher (und immer andersmöglicher) ‘Bildungsideale’, die die ‘Bildung’ belastet (vgl. Benner u.a. 1998), sondern vor allem deren individualtheoretischer Zuschnitt, der – weil oft unerkannt – den kategorialen Zugriff weitgehend auch dann noch bestimmt, wenn vermeintlich bloß deskriptiv oder gar gegenständlich von Bildung die Rede ist. So ist mit ‘Bildung’ gerade in ihrer spezifischen Akzentuierung eines wie auch immer jeweilig entfalteten und geforderten ‘Weltwissens’ (Elschenbroich) untrennbar die Konzentration auf selbstbezügliche Individualität verbunden, der es – in aller Relationalität mit ‘Welt’ – vorrangig um sich selbst und ihre als Entfaltung oder Gestaltung gedachte Entwicklung geht, so dass das einzelne Individuum als Letztbezug im Horizont eines damit verknüpften Allgemeinen fungiert. Nicht, dass Bildung inhaltlich plural und weitgehend heterogen entfaltet wird; auch nicht, dass Qualifikations- und Kompetenzentwicklungsfragen sich von Selbstfragen und damit immer auch verknüpften menschlichen Selbstdeutungen nicht trennen lassen, lässt sich also als Einwand überhaupt gegen ‘Bildung’ formulieren; darauf hingewiesen zu haben ist ja gerade der reflexive Gewinn bildungstheoretischen Nachdenkens. Vielmehr deren spezifisch individualtheoretische Focussierung ist problematisch, weil und indem sie sich gerade kategorial – und nicht bloß ausdrücklich normativ – durchsetzt. In dieser Perspektive aber rückt die Frage nach dem ‘Wie’ der Bildung in den Vordergrund, die in den anhaltend dominanten Auslegungen des ‘Was’ und ‘Wer’ der Bildung weit weniger Aufmerksamkeit hat auf sich ziehen
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können; mit ihr ist – weniger in pädagogisch praktischer Absicht7 – nun ausdrücklich ihr spezifisch kategorialer Zugriff anvisiert, der sich nur allzu oft im ‘Was’ der Bildung verbirgt oder gar als ‘quasi-natürlicher’ Befund ausgibt, ist doch die spezifisch bildungstheoretische Einsicht, dass Menschen sich gegeben wie aufgegeben sind, so dass sie sich allererst in Auseinandersetzung mit Welt als sie selbst hervorbringen können und müssen, gerade nicht die Entdeckung und Freilegung der existentiellen Struktur menschlicher Subjektivität überhaupt, sondern vielmehr deren spezifische Auslegung und praktische Formation und Zurichtung. Gerade indem ‘Bildung’ als Frage nach der “Ausstattung zum Verhalten in der Welt” in “subjektiver Bedeutung” (Robinsohn 1971, 13) überwiegend das ‘Was’ derselben thematisiert und kontrovers diskutiert, verbirgt sie, dass es sich dabei um ein ganz spezifisches Welt-SelbstVerhältnis handelt, das sich – schon in der Frage und nicht allein in ihrer vielfältigen Beantwortung – kategorial durchsetzt. Nach dem ‘Wie’ der Bildung zu fragen heißt daher, nach der Form der Bildung zu fragen und deren Subjektivierungseffekte zu erheben – und damit auch der Frage Raum zu geben, was es heißt, unter dem Anspruch von ‘Bildung’ das eigene und gemeinsame Leben leben zu müssen. Schließlich: die angedeutete Ambivalenz und spezifische Justierung der ‘Bildung’ schlägt sich in einer gewissen Rat- und Hilflosigkeit gegenüber den gegenwärtigen öffentlichen Inanspruchnahmen der Bildung nieder, denn steht doch der, wer sich diesen nicht bloß affirmativ anzuschließen vermag, vor der argumentativen Schwierigkeit, ständig neu einen Selbstanspruch verteidigen zu müssen, der nicht nur seinerseits als partikular sich erweist, sondern von den Inanspruchnahmen selbst semantisch kaum unterschieden werden kann. Auch noch im analytischen Nachzeichnen des ‘Strukturwandels der Bildung’ (Lohmann 1999a) schleicht sich so die Klage über ‘Bildungsruinen’ (Wimmer 2002) ein, kann doch – zurecht – die gegenwärtige Bildungspraxis kaum als Einlösung alter Bildungshoffnungen gelten. Auch wenn gilt, dass “Bildung [...] einst ein kritischer Begriff gewesen [ist]” (Nipkow 1977, 205), und auch wenn immer wieder neu versucht wird, dessen kritisches Potential zu rekonstruieren, indem – dem historischen Etablierungsmuster der ‘Bildung’ selbst folgend – gerade dessen angedeutete normativ-anthropologische Struktur gegenüber überwiegend ökonomisch und nationalpolitisch motivierten gesellschaftlichen Funktionalisierungstendenzen zur Geltung gebracht wird (vgl. Bernhard 1997), so ist doch überaus fraglich, ob ‘Bildung’ auch heute noch taugt, angesichts vielfacher gesellschaftlicher Transformationsprozesse eine kritische Perspektive zu eröffnen8: nicht nur, weil die 7
So hat Tenorth auf die auch bildungstheoretisch zentrale wie fruchtbare Bedeutung des ‘Wie-Fragens’ hingewiesen (vgl. Tenorth 2003) und damit einen – zwar nicht neuen (vgl. ebd. 424ff.), aber - durchaus vernachlässigten und überaus anregenden Fragehorizont markiert; seine spezifische Fassung der ‘Wie-Frage’ als “Wie ist Bildung möglich?” (ebd. 422) zielt jedoch in andere Richtung und beabsichtigt, die Frage nach einer “paradoxen Technologie” (ebd. 429) der Pädagogik auch und gerade bildungstheoretisch wieder diskutabel zu machen.
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So ist durchaus erstaunlich, dass die gegenwärtig zunehmenden Versuche der Rekonstitution einer ‘Kritischen Erziehungswissenschaft’ (vgl. Sünker / Krüger 1999) sich weitgehend gerade nicht mit der Rekonstruktion der ‘Idee der Bildung’ beschäftigen, sondern nach gänzlich anderen – und mit Bildung nicht immer leicht zu vereinbarenden – Maßgaben der Kritik suchen; vgl. dazu auch den von Benner u.a. jüngst herausgegebenen Sammelband zu ‘Kritik in der Pädagogik’ (Benner u.a. 2003).
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Semantik der ‘Bildung’ selbst Moment der gegenwärtigen politisch-ökonomischen Rhetorik geworden ist, so dass Kritik qua Bildung hieße, einen ‘eigentlichen’ Bildungsbegriff für sich zu rekonstruieren und in einer ‘Hermeneutik des Verdachts’ den anderen als ideologischen Missbrauch anzulasten – immer mit der Gefahr, in der Rekonstruktion sich selbst der umgekehrten ‘Ideologisierung’ schuldig zu machen; auch nicht nur, weil ‘Bildung’ als historisches Projekt selbst konstitutiver Bestandteil der gesellschaftlichen Ordnung und derer sozialen Reproduktion ist und insofern seinerseits in das Kritisierte einverwickelt ist, indem es die Verfügungsmacht über Welt und Andere entscheidend gestärkt und ausgeweitet hat (vgl. Meyer-Drawe 1999c wie Peukert 2000); sondern vor allem, weil im dauernden Einklagen von ‘Bildung’ als einem “unabgeschlossenen Projekt emanzipativer Selbstfindung” (Bernhard 1997, 68) deren längst beobachtbarer Erfolg gänzlich übersehen und verdeckt wird, der in der Durchsetzung einer spezifischen Form der Subjektivierung gesehen werden kann, die mit ‘paradoxem Selbstverhältnis’ und ‘Trennung von anderen’ qua Individualisierung und Totalisierung vorab hier angedeutet sei. Es ist die ‘Macht der Bildung’ (Groppe), die nicht nur immer wieder übersehen, sondern auch verstärkt wird, wenn Bildung immer nur als ‘Widerspruch zu Herrschaft’ (Heydorn) ausgegeben und kommuniziert wird. Wenn aber stimmt, dass “Bildungsfragen [...] Machtfragen” (Heydorn 1979, 337) sind, dann ist es weder sinnvoll noch überzeugend, Bildung in ihrem Kern von Macht auszunehmen und als Inbegriff des ‘Menschlichen’ auszugeben. Angesichts der erstaunlich wenigen erziehungswissenschaftlichen Versuche, sich im Begriffsgebrauch des in ‘Bildung’ tradierten kategorialen Zugriffs zu entziehen und einen explizit nicht individualtheoretischen Bezugsrahmen zu entwerfen (vgl. exemplarisch Wimmer 1996), ist durchaus Skepsis hinsichtlich des Erfolgs solcher Problematisierungen geboten: weniger, weil sie weitgehend unbemerkt vor sich gehen oder bisweilen auf harsche Kritik stoßen, weil doch ‘Bildung’ klassisch wirklich anderes markierte; sondern vor allem, weil sie – insbesondere der von Wimmer vorgelegte Versuch einer alteritätstheoretischen Erläuterung der ‘Gabe der Bildung’ (Wimmer 1996) – die kategorial-konzeptionelle ‘Macht der Bildung’ unterschätzen und im Versuch einer ‘Dekonstruktion der Bildung’ ungewollt noch deren hermeneutische Rekonstruktion betreiben – und sei es bloß auf Seiten derer, die solchen Versuchen zu folgen versuchen. Nur exemplarisch: unstrittig ist mit ‘Andersheit’ ein offenes ‘Bildungsproblem’ (vgl. Benner 1999a wie 1999b) markiert, das den traditionell selbstreferentiellen Grundzug der ‘Bildung’ bereits kategorial verstört und vielleicht auch zerbrechen kann (vgl. Meyer-Drawe 1999d), und doch belegt der Streit darum ein überwiegend defensiv-fatales Muster des Umgangs mit ‘Bildung’; entweder ist – so die etwas überpointierte Bündelung der Argumente – das Kritisierte immer schon in ‘Bildung’ enthalten und nur bislang zu wenig zur Sprache gekommen oder mit ‘Bildung’ nicht vereinbar und insofern als nicht zu ihr gehörig nicht (weiter) relevant. Wimmers “Spurensuche” danach, “inwiefern der Bildungsbegriff seine kritische Absicht” nicht bloß “von außen”, sondern “selbst ruiniert hat” (Wimmer 1996, 130), führt daher gerade nicht zu einer “Revision des Bildungsbegriffs” (Wimmer 1996, 127), sondern – gerade in der Ergänzung desselben um die Problematik von ‘Singularität’, ‘Alterität’ und ‘Gerechtigkeit’ (vgl. ebd. 158-162) – zu dessen subtiler Rekonstruktion, indem in
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‘Bildung’ eingetragen wird, was traditionell nicht enthalten scheint, so dass ‘Bildung’ aktualisiert, nicht aber revidiert wird. Allein: Grundbegriffe – auch erziehungswissenschaftliche – wählt man nicht, indem man sich für sie oder gegen sie entscheidet; ihren überpositionalen Status verdanken diese nicht der Macht einzelner, sondern einer weiterreichenden Verwendung und Zustimmung, die sich durch individuelle Gebrauchsanweisungen – seien es nun Bedeutungsfixierungen oder Verzichts- und Verbotsvorschreibungen – gerade nicht regulieren lassen, sondern diese als (dann auch überhebliche) ‘diskurspolizeiliche’ Überanstrengungen ausweisen. Lässt sich aber ‘Bildung’ weder bloß affirmativ noch rein negativ – nämlich gar nicht – verwenden, so bleibt allein, sich kritisch ihr zu nähern und sowohl Semantik als auch Performanz des Begriffs mit Blick auf die Form der Bildung zu problematisieren – auch und gerade, weil wissenschaftliche Grundbegriffe nicht bloß von theoretischem Interesse sind, sondern als Thematisierungsformen und kategoriale Weichenstellungen die alltäglichen Lebensführungen und Selbstinterpretationen entscheidend vorbahnen wie elementar mitbestimmen. Dies gilt in besonderem Maße für ‘Bildung’, insofern mit ihr ein überaus zentraler ‘anthropolitischer’ Grundbegriff ausgemacht werden kann, dessen Gewicht (aber auch Schwäche) vielleicht weniger in seiner – oft beklagten – weitläufigen Semantik liegt, sondern in der in ‘Bildung’ wirksamen Performanz, nicht nur Reflexionen und Perspektiven kategorial zu bestimmen, sondern darin die Handlungs-, Erfahrungs- und Wahrnehmungsweisen der Menschen selbst zu figurieren.
III. Vor diesem – sicherlich grob skizzierten – Hintergrund ist es plausibel, den Zusammenhang von ‘Bildung’ und ‘Macht’ zu problematisieren und auch nach der Machtverwicklung der ‘Idee der Bildung’ selbst zu fragen, so dass weder deren materialistische Unerheblichkeit und bloß ideologische Funktion noch deren vermeintlicher Missbrauch im Bildungsbürgertum und Einbau in staatliche Machtprozeduren verfallstheoretisch in den Blick kommen kann, sondern ‘Bildung’ selbst als eine gesellschaftliche Transformation durch individuelle Formation und so als spezifische Form der ‘Führung der Führungen’ (Foucault) gelesen werden kann. So ist die hier erarbeitete machttheoretische ‘Dekonstruktion der Bildung’ gerade keine – auch nicht verborgene – ‘Rekonstruktion’ derselben, zielt sie doch nicht darauf, eigentliche und uneigentliche Bedeutungen der Bildung zu unterscheiden und sich dann auf Funktionalisierung oder Missbrauch derselben zu konzentrieren; vielmehr wird versucht, im ausdrücklichen Selbstverständnis der Bildung selbst den Kern ihrer Machtförmigkeit und Kritikuntauglichkeit auszumachen, um nicht den vielfachen Entschuldigungsstrategien der Bildung nur eine weitere Unbedenklichkeitserklärung qua bester Absichten anzufügen. Im Gegenteil: es ist der kategoriale Erfolg der ‘Bildung’, der der Konzentration und Reflexion bedarf, nicht deren dauernd bekräftigter (historischer) Misserfolg; nicht die immer wieder beklagte ‘Ohnmacht der Bildung’, die auch vor Selbstkritik schützt und immer wieder neu zu einer verbesserten Rekonstruktion derselben anspornt, sondern die subtile ‘Macht der Bildung’ steht daher im Vordergrund.
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Einleitung: Vom Ende der Bildung als Anfang
Mit der Überschreibung der hier vorgelegten Studien mit ‘Die Ordnung der Bildung’ sollen Thematisierungs- und Problematisierungsgrenzen gezogen werden: angesichts des schier unendlich möglichen Fraghorizonts von ‘Bildung und Macht’9 geht es mir darum, ‘Bildung’ als eine ‘anthropolitische Matrix’ zu lesen, die – auch und gerade in ihrer theoretischen Ausfaltung – als eine modern bedeutsame Figur menschlicher Selbstauslegungen insofern praktisch ist, als sie die Lebensführungen der Menschen entlang spezifischer Weichenstellungen vorbahnt und figuriert. Wenn denn stimmt, dass Selbstdeutungen nie bloß nachträgliche Konstatierungen dessen sind, wofür Menschen sich selbst – vielleicht sogar fatalerweise – halten, sondern immer auch konstitutive Bedingung der eigenen Lebenspraxis und -entwicklung sind, die niemand für sich allein und aus sich selbst heraus entwickelt, sondern wesentlich von anderen erlernt, dann ist es nicht nur nicht unerheblich, als was, wer und wie ich mich verstehe, sondern auch höchst bedeutsam, in welchen kulturellen Mustern und sozialen Figurationen dies geschieht, ohne dass aber diese ‘Führungsführungen’ (Foucault) deswegen gar ‘Vormalungen’ wären, die das eigenen Leben determinierten. Mit ‘Bildung’, so der hier praktizierte Zugriff, ist eine ebensolche Matrix der Subjektivierung markiert – ein kulturelles ‘Deutungsmuster’ (Bollenbeck), das eine überaus spezifische und nicht universelle Weise impliziert, sein ‘eigenes Leben’ (Beck) zu leben, und zwar unter interpretativen Vorgaben, die gerade dem eigenen Zugriff doch weitgehend entzogen sind. ‘Bildung’ ist insofern ein – spezifisch modernes – ‘Dispositiv’ (Foucault), das die Weise, sich zu sich selbst, anderen und der Welt in ein Verhältnis zu setzen, in eine besondere Form bringt und so als ‘Formation von Subjektivität’ (Meyer-Drawe) fungiert. Die ‘Ordnung der Bildung’ zu rekonstruieren, heißt daher für mich, gerade ihre Form in machttheoretischer Hinsicht zu rekonstruieren und als ‘Anthropologik’ – d.h. als Formation der Art und Weise, wie Menschen sich selbst zu verstehen suchen und auslegen – zu skizzieren. Diese aber ist weitgehend losgelöst vom Bedeutungsgehalt des Begriffs der Bildung, so dass auch ihr nicht entkommt, wer dem – wie auch immer genau gefassten – Gehalt nicht (mehr) folgen will. Der Versuch, Bildung als ‘Machtschema des Menschlichen’ (Butler) zu verdeutlichen, setzt allerdings so manchen längeren Argumentationsweg und auch Umweg voraus: einerseits, weil die eigene ‘Brille’ justiert werden muss und dieses nur in der Durcharbeitung anderer wirkmächtiger Perspektiven gelingt; andererseits aber, weil die Schwerkraft der ‘Bildung’ die unternommenen Überlegungen immer wieder in 9
Dass es inzwischen seit wenigen Jahren zu einer verstärkten Problematisierung des Zusammenhangs von Bildung und Macht gekommen ist, sei angemerkt; vor allem zwei Perspektiven bestimmen dabei gegenwärtig die Auseinandersetzung: zum einen wird Bildung – bereits seit längerem, aber verstärkt nach PISA – als Moment der Reproduktion sozialer Ungleichheit analysiert, so dass zunehmend auch Fragen der Bildungsgerechtigkeit in den Blick gelangen (vgl. exemplarisch Below 2002, Berger / Kahlert 2005, Ecarius / Wigger 2006 wie Georg 2006); und zum anderen wird der Zusammenhang von Bildung und Ökonomie – sowohl in die eine als auch in die andere Richtung – kontrovers diskutiert (vgl. Bellmann 2001 wie Lohmann / Rilling 2002). Schließlich: auch die vielen anregenden Einwürfe und Diskussionen im Zusammenhang mit dem im März 2006 in Frankfurt/M. unter dem Titel ‘bildung – macht – gesellschaft’ veranstalteten Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft belegen die Wiederkehr dieser gesellschaftspolitischen Fragen eindrücklich; vgl. dazu sowohl den von Brumlik und Tenorth besorgten Themenschwerpunkt ‘Bildung -- Macht -- Gesellschaft’ im ersten Heft der Zeitschrift für Pädagogik 2006 als auch die leidenschaftliche Diskussion der sog. ‘Frankfurter Thesen’ zur Ökonomisierung der Bildung (vgl. Frost 2006).
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alte Bahnen zurückdrängt. Ob es gelungen ist, ihr wenigstens ein kleines Stück entkommen zu sein und ein anderes Deutungsangebot formuliert zu haben, mögen andere beurteilen. Mir schienen zweierlei argumentative Weichenstellungen unvermeidbar: (1) Eine Problematisierung von ‘Macht’: nicht nur, weil ein machttheoretischer Zugriff sich seiner eigenen Perspektive vergewissern muss, sondern vor allem, weil die gegenwärtigen Konzepte der Macht für eine anthropologisch justierte Analyse kaum hinreichen, ist es unverzichtbar, ‘Macht’ als Kennzeichnung eines oft nur oberflächlich durchsichtigen Phänomens allererst zu problematisieren und nicht subtil davon auszugehen, das bereits verständlich ist, wer von ‘Macht’ nur schon spricht. Wie sooft: die Klärung vermeintlich einfacher, weil elementarer Begriffe führt zunehmend in Schwierigkeiten und Abgründe, so dass das, was anfänglich als bloß methodologische Justierung begonnen wurde (und erheblich kürzer geplant war), zunehmend komplizierter wurde – auch, weil sich Macht selbst als ein mit menschlichen Selbstbeschreibungen verknüpfter Komplex erweist, den in lineare Gedankenketten zu zerlegen erhebliche Mühe bereitet hat. So hat die Frage danach, was unter ‘Macht’ begründet verstanden werden kann, schließlich auf einen – zunächst sicher auch befremdlich erscheinenden – Weg zu einer ‘Anthropologie der Macht’ geführt, der in der Rekonstruktion seiner Stationen nun in Studie I erläutert und nachvollziehbar gemacht werden soll. (2) Eine Problematisierung der ‘Bildung’: dass Bildung eine überaus zentrale Figur vielfältiger gesellschaftlicher Diskurse ist, ist weithin bekannt und erhöht nur den Reiz ihrer Auseinandersetzung; dass Bildung auch ‘bestimmt unbestimmt’ (Ehrenspeck / Rustemeyer) ist und daher einer einfachen Handhabung sich widersetzt, ist unmittelbar einsichtig für den, der sich im Diskurs der Bildung auch nur sporadisch bereits bewegt; dass aber Bildung in der Tat ein ‘historisches Bleigewicht’ (Jeismann) ist, das zu heben bereits beschwerlich und gegen seine eigene Bedeutungsfassung schließlich zu wenden überaus mühevoll ist, das ist der – auch leidige – Unterfaden der hier unternommenen Problematisierungen der ‘Bildung’ geworden. Gerade weil ebenso unbestimmt wie zentral und aus überaus ‘gutem Hause’ ist ‘Bildung’ als ‘Figuration der Macht’ nur gegen deren eigenes Selbstverständnis zu erläutern; ein solcher Zugriff sieht sich daher – auch in der dauernden Selbstbezweifelung spürbar – nicht nur vor einen ‘Wust’ an Bedeutungen und Aufrissen gestellt, sondern auch immer wieder dem Verdacht völliger Unangemessenheit ausgesetzt, weil doch mit ‘Bildung’ ‘eigentlich’ ganz anderes gemeint sei. So ist der in Studie II unternommene Versuch, ‘Bildung’ als ein anthropologisch justiertes ‘Deutungsmuster’ aufzunehmen und gerade nicht bloß äußerlich machttheoretisch auszulegen, ein überaus langer Weg mit vier großen Stationen geworden: eine methodologische Erkundung dessen, wie man sich nähern kann, wenn man sich ‘Bildung’ als einer praktischen anthropologischen Matrix nähern will [A]; eine explizit inhaltliche Rekonstruktion der ‘Macht der Bildung’ als einer spezifischen ‘Formation des Selbst’ [B.1] wie einer ‘Formation des Sozialen’ [B.2]; und schließlich eine Bilanzierung von ‘Bildung’ als einem Mechanismus der Subjektivierung – in kritischer Absicht [C].
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Die hier nur angedeuteten Argumentations- und Rekonstruktionsschritte stellen nicht selbst bereits eine ‘Genealogie der Bildung’ dar, deren komplexe Erarbeitung vermutlich nur in Teilschritten einlösbar ist; sie erkunden aber als systematisch-explorative Beiträge zu einer solchen Genealogie die Möglichkeit, mit der ‘Ordnung der Bildung’ einen – bis heute – wichtigen Baustein moderner Subjektivierungspraktiken zu kennzeichnen und so der ‘Genealogie des modernen Selbst’ (Foucault) zuzuarbeiten. Wenn es denn – im Kontext der anfänglich skizzierten Herausforderungen – auch plausibel ist, dass “das zentrale philosophische Problem [...] der Gegenwart” das ist, “was wir in eben diesem Moment sind”, “wobei das Ziel heute weniger darin besteht, zu entdecken, als vielmehr abzuweisen, was wir sind”, um “neue Formen der Subjektivität zustandebringen” (Foucault 1994, 250) zu können, dann ist gerade nicht die alternative ‘idealische Vormalung’ eines anderen und vermeintlich besseren Menschseins mit unweigerlich moralischem Anstrich, sondern die Dekonstruktion gegenwärtiger Selbstbeschreibungen ein “möglicher Weg, die Philosophie des Subjekts loszuwerden” (Foucault, zit. Butler 2003, 119). ‘Bildung’ als ‘Macht’ auszulegen und dies in ihrem eigenen Selbstverständnis zu plausibilisieren, widerspricht nicht nur ihrer ständig wiederholten Selbstauslegung, sondern macht auch deren bloß ‘humanistischen Anstrich’ deutlicher; Ziel ist daher nicht, ‘Bildung’ erneut zu verabschieden (um damit nur einer neuerlichen Renaissance bloß wieder zuzuarbeiten), sondern sie als eine überaus spezifische Matrix der Subjektivierung erkennbar zu machen, um sie nicht doch immer wieder als allgemein gültiges ‘Schema des Menschlichen’ schlechthin misszuverstehen und zu praktizieren. So ist das, was hier vorgelegt wird, allemal vorläufig und nicht fertig: nicht nur, weil – immer anfechtbar – manches anders, vieles besser und alles kürzer hätte geschrieben werden können (und müssen); auch nicht nur, weil dem vorliegenden Text die Spuren seiner Herkunft als Qualifikationsarbeit unübersehbar anhaften, die zu tilgen weder die Kraft noch die Zeit erlaubte; sondern auch, weil manches, was gedacht, nicht hat geschrieben werden können, und vieles, was nach Fertigstellung des Manuskripts inzwischen auch erschienen ist, nicht einfach noch hat aufgenommen werden können. In der Tat: wünschenswert wäre gewesen, die in Studie II erarbeiteten zwei machttheoretischen Konkretionen der ‘Macht der Bildung’ als einer ‘Formation des Selbst’ [B.1] und einer ‘Formation des Sozialen’ [B.2] um eine dritte zu ergänzen, die ausdrücklich das Bildungswissen selbst rekonstruiert und in seinem jeweiligen Inhalt und seiner wissenschaftlich-disziplinären Form hinsichtlich der Subjektivierungseffekte des Wissens befragt. Ebenso ausgeblieben ist auch eine ausführlichere Entfaltung der im machttheoretischen Zugriff implizierten Kritikperspektive; dies ist umso misslicher, als es sich dabei gerade nicht um ein weiteres Thema neben den bisherigen gehandelt hätte, sondern um einen systematisch relevanten ‘Unterfaden’ der hier entsponnenen Argumentation. Der vorliegende Text lässt sich unterschiedlich lesen: zunächst in großen Schritten, bei denen sich die Lektüre an die groß gesetzten Argumentationspassagen hält; dann aber auch in kleineren und bisweilen mühevolleren Schritten, in denen den kleiner gesetzten Rekonstruktionspassagen gefolgt wird; und schließlich auch in anderer Reihung: es ist weder erforderlich, sich an die Reihenfolge der beiden Studien ins-
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gesamt zu halten, noch gänzlich abwegig, auch innerhalb der Studien einen eigenen Lektüreweg einzuschlagen. Dass das, was hier nun vorgelegt wird, überhaupt hat entstehen und so hat vorgelegt werden können, verdankt sich auch vieler Unterstützung; ausdrücklich genannt seien vor allem Käte Meyer-Drawe und Jan Masschelein wie Roland Reichenbach, Bernd Zymek, Friedhelm Brüggen und Markus Rieger-Ladich, Henning Röhr, Maarten Simons, Nicole Balzer, Tobias Künkler wie nicht zuletzt Stefanie Laux vom VS Verlag. Ihnen gilt mein ganzer Dank.
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Studie I:
Die Macht der Macht – Stationen zu einer Anthropologie der Macht “Nothing appears more surprising to those who consider human affairs with a philosophical eye than the easiness with which the many are governed by the few.” (David Hume)
Macht fasziniert – immer wieder neu. Nicht nur lebenspraktisch, auch theoretisch zieht ‘Macht’ zunehmend Aufmerksamkeit auf sich und markiert darin eine Verschiebung der alt eingewöhnten Einschätzung, “daß die Macht an sich böse ist” (Burckhardt 1949, 61). Doch wie sooft: auch hier bedingen sich Popularität und Diffusität eines Begriffs und erschweren Begriffsdurchsicht wie Problemdurchstieg, scheint doch nur allzu selbstverständlich, was mit Macht jeweils gemeint ist. Wie vielen alltagsweltlich fest verankerten Begriffen entkommt daher auch der Begriff der Macht nicht der Dominanz lebensweltlicher Bedeutungszuschreibungen: auch wenn sich angesichts vielfältiger Bedeutungen und konträrer Einschätzungen die Nötigung einer begrifflichen Präzision oder gar Korrektur zwingend aufzudrängen scheint und immer wieder auch theoretisch eindringlich angemahnt wird, so sind doch solche Bemühungen zumeist recht fruchtlos und ohnmächtig angesichts der Beharrungskraft ihrer alltäglich eingewöhnten Bedeutungen. Es verwundert daher kaum, dass ‘Macht’ trotz wachsender diskursiver Attraktivität, zugeschriebener Zentralität und längst attestierter Grundbegrifflichkeit nur selten ausdrücklicher Gegenstand theoretischer oder gar phänomenaler Reflexionen geworden ist1; Luhmanns gewohnt spitze wie treffsichere Einschätzung – “Die Macht der Macht scheint im wesentlichen auf dem Umstand zu beruhen, daß man nicht genau weiß, um was es sich eigentlich handele” (Luhmann 1969, 149) – kann wohl auch heute noch uneingeschränkt Geltung beanspruchen. Gerade die vermeintliche “Evidenz des Phänomens” verstärkt die grassierende “Unklarheit des Begriffs” (ebd.) und befestigt dessen Dauerpräsenz in außerwissenschaftlichen wie wissenschaftlichen Diskursen. Eine Klärung der Begrifflichkeit der Macht steht daher vor nicht geringen Schwierigkeiten, die sich – ausnahmslos – in allen Versuchen einer exakten Definition zeigt. Was daher im folgenden unter Macht verstanden werden kann, muss als bekannt vorausgesetzt werden – so oder ähnlich ließe sich im Rückgriff auf eine hermeneutisch 1
“Daß es aber eine entsprechende theoretische Thematisierung nicht gegeben hat, wenn man nicht schlicht Macht mit Herrschaft verwechselt, ist eine in der Forschung weithin anerkannte Tatsache” (Röttgers 1990, 47) – so eine ausdrückliche Einschätzung; dass aber “Machtbegriff und Machttheorie [...] daher jüngeren Datums” sind, findet seinen Grund darin, dass sie “Spätprodukte eines Denkens [sind], das zur Staatlichkeit kein natürliches Verhältnis mehr besitzt” (Plessner 1981, V, 264). Inzwischen scheint sich dies zu ändern: ‘Macht’ wird zunehmend Thema theoretischer Auseinandersetzungen, weil deren klassische Begriffsfassung schlicht bislang unbefriedigend geblieben ist. Als ein erster machttheoretischer Überblick seien die Auseinandersetzungen von Luhmann (1969 wie 1975) und Arendt (1970) und die umfassenden Arbeiten von Galbraith (1987), Röttgers (1990), Popitz (1992) und Imbusch (1998) genannt wie die ebenso reichhaltigen wie ergiebigen lexikalischen Aufarbeitungen von Kobusch / Oeing-Hanhoff / Röttgers / Lichtblau 1982 wie Faber / Meier / Ilting 1982.
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begründete Formulierung Schleiermachers das gegenwärtige Dilemma bestimmen: nicht nur, dass immense Bedeutungsweite und Bedeutungsvielfalt Problemorientierung und Begriffsverständigung erheblich erschweren; auch nicht nur, dass Bedeutungsbestimmungen alltagsweltlich verankerter und überaus fest codierter Begriffe oft unvermeidlich tautologisch angelegt sind, indem sie stillschweigend voraussetzen, was zu bestimmen sie begrifflich sich vornehmen und zirkulär auf synonyme Begriffe – wie insbesondere Herrschaft, Gewalt und Zwang – verweisen; schließlich nicht nur, dass überhaupt jedes Verständnis von etwas auf kaum übersehbare Vorverständnisse verweist, so dass weder erste Anfänge noch definitorische Setzungen und Schlusspunkte einen Ausstieg aus hermeneutischer Zirkularität eröffnen, sondern nur jeweilige (und insofern dauernd erklärungsnötige) Einsätze markiert werden können. Vielmehr: Macht entzieht sich einer einfachen begrifflichen Fassung und Festlegung auch, weil das, was mit ihr bezeichnet werden soll, gerade – trotz verbreiteter gegenteiliger Praxis – nicht gegenständlich thematisierbar, sondern jeweilig nur interpretativ bestimmbar ist. Hängt aber das, was phänomenal in den analytischen Blick gelangt, ab von dem, was konzeptionell unter ‘Macht’ jeweils verstanden wird, so spielen gerade begrifflich-systematische Zugänge zur Macht ebenso eine bedeutsame Rolle wie umgekehrt begriffliche Unklarheit und Diffusion schwerwiegende Folgen nach sich ziehen. Es sind jedoch nicht nur semantische Schwierigkeiten, die den Begriff der Macht vermeintlich unnötig – weil als klärbar unterstellt – belasten; auch sein Gebrauch selbst erzeugt Turbulenzen, indem praktiziert (und beansprucht) wird, was scheinbar bloß gegenständlich thematisiert und gar neutral abgebildet werden soll (vgl. dazu Röttgers 1990, 27-32). Anders formuliert: wer analytisch von Macht spricht und mit ihr etwas zu bezeichnen versucht, tut dies mit dem Anspruch, etwas gerade nicht Offenkundiges, sondern bisher Unerkanntes aufzuzeigen oder aufzudecken und Verborgenes so zu entlarven. Damit aber macht – im Vollzug des Redens – Gebrauch von ihr, wer von Macht redet, so dass Macht sich nie gänzlich vergegenständlichen lässt, sondern immer auch ein ‘unsichtbares’ Moment “eben an dem Akt selbst bliebe”, “der sich auf sie als Gegenstand bezieht” (Röttgers 1990, 28). Lässt sich aber diese ‘symbolische Macht’ gerade nicht trennscharf von der anvisierten ‘Realität der Macht’ destillieren, so gehört zur Machtfrage auch immer die Frage nach den Bedingungen des Fragens nach Macht, so dass Macht immer “zugleich ein (Quasi-)Transzendentales” (Röttgers 1990, 28) wäre, dessen theoretische Veranschlagung vor erhebliche philosophische Schwierigkeiten stellt. Jeder Versuch aber, hinter diese hier nur angedeuteten Schwierigkeiten zurückzukehren und Macht als entweder für Einsicht undurchdringlich oder durch Definitionen und Axiome operational festlegbar zu behaupten, droht zu “einem derart simplizistischen Macht-Konzept [zu] führen [...], daß Machtanalysen dann kaum mehr der investierten Mühe wert wären” (Röttgers 1990, 29)2. Vielmehr geht es darum, diesseits definitorischer Engführungen, die ins2
Röttgers Modell der “Spur” (vgl. Röttgers 1990, 32ff.) nimmt auch methodologisch auf, was für Macht grundsätzlich bereits angedeutet ist: zwar gegenständlich nicht sichtbar, nicht jedoch spurenlos zu sein. Theorie der Macht wird so zu einer “Spurenkunde”, zu einem “Kunstwissen der Macht” (ebd.), “aus dem
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gesamt dazu neigen, das Problem der Interpretativität von Macht zu verdecken und als vermeidbare Ungenauigkeit zu diskreditieren, weitergesteckte Problemhorizonte zu erkunden und die Frage nach der Macht als Frage nach der Frage, worauf Macht zu antworten sucht, stellen zu lernen. Wer aber solchermaßen die ‘Macht der Macht’ befragt und problematisiert, kann bei bloß begrifflichen Justierungen und Fixierungen nicht stehen bleiben, sondern muss diese einbetten in phänomenale Erkundungen und anthropologische Reflexionen. ‘Macht’ – so ließe sich vorab pointieren – ist nicht nur ein überaus zentraler und elementarer thematischer Bestandteil nahezu aller menschlichen Selbstauslegungen, sondern auch aufgrund ihres interpretativen Charakters eng mit denselben verknüpft: was und wie Macht daher jeweilig verstanden und ausgelegt wird, hängt auch immer davon ab, als wer und wie sich Menschen jeweilig selbst verstehen. Ihr lässt sich daher nur nähern, wenn der Zusammenhang von Selbstauslegungen und ‘Macht’ auch ausdrücklich aufgenommen wird: nicht nur als Frage nach der Macht jeweiliger Selbstauslegungen und deren impliziten Vorbahnungen der praktischen Lebensführung von Menschen3, sondern auch als Befragung der in Macht jeweilig implizierten und auch beanspruchten anthropologischen Problemhorizonte. Ein solches machttheoretisches Vorhaben sieht sich aber – insbesondere in seinem Rückgriff auf Überlegungen Foucaults – vor zweierlei Einwände gestellt: einerseits scheint mit der Justierung der Frage nach der ‘Macht der Macht’ nun doch die Frage nach dem ‘Was der Macht’ wiederaufgenommen zu werden, deren Beantwortung Foucault nicht nur für uneinlösbar, sondern zudem für überaus irreführend hielt; seine ausdrückliche Beschränkung der eigenen Machtstudien auf das “Wie der Macht” (Foucault 1994, 251) und die damit einhergehende Einschätzung der Frage nach dem “Was” und “Warum” (ebd.) als einer unzulässigen Theoretisierung und Ontologisierung der Macht, “die das Ganze krönen würde” (Foucault 1999, 23)4, gelten bis heute bloß symptomatisch (als Spur) Anwesenden auf die Merkmale des Abwesenden zu schließen” (ebd. 33). 3
Eine solche erste Lesart impliziert aber bereits, Anthropologien gerade weder bloß als Abschriften der Macht und insofern als deren ideologischer Ausdruck noch gar als Vorschriften derselben zu lesen; vielmehr haben sie figurativen Charakter, gestalten und stellen zugleich die Weise dar, wie Menschen sich zu sich und anderen verhalten – sie sind ‘Kulissen der Macht’ (Ricken 2000b), nicht (unbedingt) die Aufführungen derselben.
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Als Belege werden immer wieder genannt die jeweiligen Überlegungen zum ‘Einsatz einer Genealogie’ in Foucault 1999, 22f. wie auch die entsprechenden Passagen in Foucault 1994, 251 (und auch 243f.); sie scheinen insgesamt die in einer Kurzformel bündelbare Lesart zu bestätigen, dass es Foucault nicht um eine “Theorie der Macht” (Foucault 1994, 243), sondern vielmehr um eine konkrete und kritische ‘Analyse der Machtverhältnisse’ gegangen sei: “Nicht die Macht [...] ist deshalb das allgemeine Thema meiner Forschung. [...] Brauchen wir eine Theorie der Macht? [...] Ich meine, daß die Begriffsbildung nicht auf einer Theorie des Objekts aufgebaut werden sollte” (ebd. 243-244). Während so zunächst die “Frage ‘Was ist die Macht?’” als eine “theoretische Frage [...], die das Ganze krönen würde, was ich nicht möchte” (Foucault 1999, 23), ausdrücklich negiert und als Indiz einer sich selbst missverstehenden ‘Analytik der Wahrheit’ abgetan wird (so dass deren Negation bis heute als Nachweis einer vermeintlich kritischen Haltung gelten kann), spricht Foucault später davon, dass er der Frage nach dem ‘Wie’ nur deshalb “einen gewissen vorläufigen Vorzug zubillige” (Foucault 1994, 251), weil die “Doppelfrage: Was ist die Macht? Woher kommt die Macht?” (ebd.) dazu verführt, Macht in “majestätischen, globalen und substantivierenden Begriffen” (ebd.) zu beschreiben und so die Einsicht, “daß die Macht nicht existiert” (ebd.), zu verdunkeln. Ausdrücklich aber geht es Foucault nicht darum, “die Frage nach dem Was und Warum aus[zu]schalten” (ebd.), sondern sie “anders stellen” (ebd.) zu lernen und in ihrem jeweiligen kategorialen Zuschnitt – ihrer Interpretativität – zu problematisieren..
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als verbindliche Orientierung einer an Foucault angelehnten Machttheorie (vgl. Butler 2003) und als zugleich willkommene Problematisierungsentlastung – ohne dabei allerdings zu bemerken, dass die kritische Befragung von Macht schließlich doch dazu führt, auch nach der Frage, worauf diese zu antworten justiert wird, selbst zu fragen und sich so dem vermeintlichen ‘Ratschlag’ Foucaults auch zu widersetzen (vgl. Butler 2003, 65). Andererseits aber setzt sich dieser Versuch, die Frage nach der ‘Macht der Macht’ ausdrücklich ‘anthropologisch’ aufzunehmen, nicht nur vielfachen gegenwärtigen theoretischen Fallstricken aus, sondern gilt auch als unvereinbar mit wichtigen Weichenstellungen Foucaults, ist es doch gerade Foucault gewesen, der in seinen historischen Studien nicht nur auf den zeit- und machtgebundenen Charakter einer jeden Anthropologie hingewiesen hat, sondern diese selbst als Inbegriff der modernen ‘episteme’ (vgl. Foucault 1971, 25ff.) eindrücklich nachgewiesen und als unaufgeklärten ‘anthropologischen Schlaf’ (vgl. ebd. 410) schließlich scharf zurückgewiesen hat, so dass seine These – “seltsamerweise ist der Mensch, dessen Erkenntnis in naiven Augen als die älteste Frage seit Sokrates gilt, [...] lediglich eine junge Erfindung [...], eine Gestalt, die noch nicht zwei Jahrhunderte zählt” und sich in ihrer Logik einem “Riß in der Ordnung der Dinge”, die schließlich zu einer neuen “Disposition” des Denkens geführt hat (Foucault 1971, 26 und 27) – vielfach als (wenn auch vehement umstrittenes) Verdikt einer jeden zukünftigen Anthropologie gilt5. Daher sei bereits hier eine für die eigene Argumentation wichtige Weichenstellung vermerkt, die im weiteren Verlauf des als sukzessive Problematisierung angelegten Gedankengangs erst allmählich entfaltet und begründet werden kann: auch wenn ‘Anthropologie’ gemeinhin als 5
Gemäß dieser Foucaultschen Weichenstellung gelten daher anthropologische Fragen als in neuzeitliche Machttransformationsprozesse eingebundene und für diese daher typische Justierungen, die es folgerichtig zu überwinden gilt. Gerade weil die “Anthropologie als Analytik des Menschen [...] mit Sicherheit eine konstitutive Rolle im modernen Denken gespielt” hat (Foucault 1971, 410), ist Foucaults vielfach zitierter ‘Aphorismus’ vom ‘Ende des Menschen’ – “der Mensch wird verschwinden [...] wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand” (ebd. 460 und 462) – auch ausdrücklich anthropologiekritisch zu lesen: “In der heutigen Zeit kann man nur noch in der Leere des verschwundenen Menschen denken” (ebd. 412). Sein Verdikt einer jeden anthropologischen Reflexion klingt unumstößlich und – bei Zuwiderhandlung – gänzlich desavouierend: “Allen, die noch vom Menschen, seiner Herrschaft oder von seiner Befreiung sprechen wollen, all jenen, die noch fragen nach dem Menschen in seiner Essenz, jenen, die von ihm ausgehen wollen, um zur Wahrheit zu gelangen, jenen umgekehrt, die alle Erkenntnis auf die Wahrheiten des Menschen selbst zurückführen, allen, die nicht formalisieren wollen, ohne zu anthropologisieren, [...] die nicht denken wollen, ohne sogleich zu denken, daß es der Mensch ist, der denkt, all diesen Formen linker und linkischer Reflexion kann man nur ein philosophisches Lachen entgegensetzen” (ebd. 412). Entscheidend aber ist: Anthropologie ist als ‘Analytik des Menschen’ für Foucault immer eine ‘Analytik der Wahrheit des Menschen’, indem sie die eine und universale Wahrheit des Menschen – dessen ‘Essenz’ – und – darin – ihn selbst als unerschütterliche Geltungsgrundlage jeden Denkens und Sprechens freizulegen sucht (vgl. Foucault 1992 wie auch Kögler 1994, 1-26; insgesamt dazu kritisch Schnädelbach 1989), – mit der Folge, dass Anthropologie und Anthropologiekritik unvereinbar sind und auseinander nicht folgen können. Das aber ist gerade das Resultat anthropologischer Reflexionen, wie insbesondere von Kamper (1973) überzeugend nachgewiesen wurde (vgl. dazu auch Kap. V dieser Studie). Gegen Foucault sei daher eingewandt: auch wenn eine jede – insbesondere substantial verfahrene – Anthropologie nur Ausdruck eines halbierten Bewusstseins sein kann, indem sie unterschlägt, dass Menschen zugleich Subjekt und Objekt jeder anthropologischen Reflexion sind und insofern sich nur ‘unbestimmt’ vor sich selbst bringen können (weil sie immer auch die sind, vor die sie sich selbst zu bringen suchen), lässt sich aus dem damit verknüpften ‘anthropologischen Schlaf’ nicht aufwachen: jeweilige Anthropologien sind hinsichtlich Inhalt und Form immer überholbar, die darin sich aber sedimentierende ‘Anthropologik’ menschlicher Selbstbeschreibungen – dass Menschen nur ‘menschlich’ über sich selbst zu denken vermögen (und nicht kosmologisch, systemisch etc.) – wohl kaum.
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Selbstkennzeichnung einer sich seit dem 16. Jahrhundert etablierenden und insbesondere im 18. Jahrhundert enorm verbreiteten wissenschaftlichen Disziplin ‘vom Menschen’ (Wulf) gilt (vgl. Marquard 1965, 1971 wie auch 1991), lässt sich ‘Anthropologie’ im heutigen Sprachgebrauch doch kaum darauf reduzieren; vielmehr markiert sie über einen solchen expliziten “Disziplinentitel” (Marquard 1965, 209) hinaus auch das – insbesondere neuzeitlich gewachsene – Bewusstsein der ‘Menschenbezüglichkeit’ aller Aussagen und Erkenntnisse, so dass neben den Begriff einer wissenschaftlichen Anthropologie – als allerdings unterschiedlich dimensionierter wissenschaftlicher Analyse des Menschen – ein auch strukturelles Verständnis derselben getreten ist, das allererst erlaubt, nach der ‘impliziten Anthropologie’ (Landmann 1962) auch nicht ausdrücklich anthropologischer Überlegungen und Interpretationen zu fragen. Diese begriffliche Doppelung ist alles andere als unproblematisch (vgl. Plessner 1957) und insofern immer wieder heftig umstritten (vgl. Marquard 1965), doch lässt sie sich – bereits allein aufgrund des Sprachgebrauchs – in keine eindeutige Begriffspraxis auflösen: weder die präzisierenden Versuche, ‘Anthropologie’ nur auf die “Tradition der philosophischen Menschenkunde, die sich selber ‘Anthropologie’ genannt hat” (Marquard 1965, 210), zu beschränken (vgl. Sombart 1938, Marquard 1965 und 1971), noch die vielfach unternommenen Ausweitungen derselben zu einer allumfassenden und universalen ‘Grundphilosophie’ (vgl. exemplarisch Landmann 1962 wie Dux 1998) vermögen zu überzeugen, erschweren sie doch beide die Einsicht in den Zusammenhang beider Verständnisse: Auch wenn ‘der Mensch’ – im abendländischen Denken – erst spät ausdrücklicher Gegenstand menschlicher Selbstbeschreibungen und Selbstauslegungen geworden ist, so ist doch mit dieser spezifisch neuzeitlichen Selbstthematisierungsweise auch die Einsicht verbunden, dass Menschen ihr Leben nie bloß ‘leben’ (und dann im ‘Nachhinein’ deuten) können, sondern immer auch ihr Leben ‘führen’ müssen, indem sie sich – wie auch immer inhaltlich justiert – zu sich selbst verhalten müssen. Auch wenn daher, zweitens, jeweilige ‘Anthropologien’ als praktizierte Selbstbeschreibungen immer überholbar sind und sogar prinzipiell überholt werden müssen (vgl. Dux 1992, 12), so ist doch die Einsicht in deren ‘Anthropologik’ – als Kennzeichnung der Struktur – menschlicher Reflexionen gerade nicht aufgebbar; gerade sie gilt es – trotz der vermeintlichen Trivialität, dass es für uns kein anderes als ein menschliches Denken geben kann (vgl. Marquard 1991) – unter der Überschreibung ‘Anthropologie’ festzuhalten und auch kategorial zur Geltung zu bringen. Begrifflich resultiert daraus, einerseits im Gebrauch der ‘anthropologischen Semantik’ auf diese Ambivalenz hinzuweisen und sie reflektiert zu handhaben, andererseits aber auch den Zusammenhang beider Bedeutungsstränge nicht aus dem Auge zu verlieren. So hat die neuzeitliche Etablierung der Anthropologie als einer spezifischen wissenschaftlichen Disziplin, die ‘den Menschen’ zum Gegenstand ihrer vielfachen und überaus unterschiedlichen Analysen hat, nicht nur immer wieder zu irreführenden und überanstrengten Fixierungen und Objektivierungen ‘des Menschen’ geführt, sondern auch eine ebenso deutliche und scharfe Kritik solcher ‘Bestimmungen des Menschen’ nach sich gezogen (vgl. Heidegger 1991 wie Kamper 1973), so dass – insbesondere im deutschen Diskurs – beiderlei Reflexionsgestalt mit ‘Anthropologie’ überschrieben wird. Auch wenn es daher nicht möglich ist, das ‘Was’ und ‘Wer’ des Menschen – gar substantial – zu bestimmen und zu einer fixen Grundlage aller anderen menschlichen Erkenntnisse auszubauen, ist die mit Anthropologie auch markierte interpretative Selbstbezüglichkeit aller menschlichen Praxis nicht nur nicht vermeidbar, sondern konstitutives Moment derselben. Sie aber auch in aller berechtigten Anthropologiekritik als strukturelles Moment festzuhalten, ließe sich als gegenwärtige Aufgabe anthropologischer Reflexionen benennen; gerade angesichts der weithin einmütig vollzogenen und als modisch-aufgeklärt geltenden ‘Abkehr von der Anthropologie’ (Marquard 1965) ginge es daher darum, die (zirkuläre) Struktur anthropologischer Reflexionen zu erarbeiten und als in allen menschlichen Vollzügen implizierte zur Geltung zu bringen: Menschen beziehen sich nicht nur immer thematisch auf sich, indem sie sich vor sich selbst zu bringen und als Menschen – einund ausgrenzend – auszulegen versuchen, sondern können ihr Leben überhaupt nur führen,
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indem sie – wie ausdrücklich auch immer – sich zu sich selbst verhalten; Selbstbeschreibungen sind daher gerade nicht nachträgliche ‘Feststellungen’ dessen, wozu Menschen bereits geworden sind oder sich gemacht haben, sondern ihrerseits Bedingungs- wie Strukturmomente der Lebensführung selbst. Menschen leben nicht nur immer sich selbst auslegend und insofern ‘anthropologisch’, sondern tun dies auch immer nur nach Maßgabe und Logik ihrer eigenen ‘Menschlichkeit’ – ‘anthropologisch’. Anthropozentrik wie auch Anthropomorphismen mögen zwar gegenwärtig theoretisch wenig angesehen sein, gelten sie doch als Indiz ungebührlicher Reduktionen oder arroganter Selbstüberhebungen; praktisch aber können sie nicht vermieden werden, beziehen sich Menschen doch auf sich selbst, indem sie sich auf anderes und andere beziehen (vgl. Ricken 2004a wie Kap. V dieser Studie). Der hier nur angedeutete ‘anthropologische Zirkel’ (Foucault 2003) – sich auf sich erkennend zu beziehen, indem auf andere an- und aberkennend Bezug genommen wird, wie auf andere an- und aberkennend sich zu beziehen, indem auf sich selbst Bezug genommen wird, so dass Erkenntnis und Anerkenntnis wie Selbst- und Anderenbezug ineinander unauflöslich verschlungen sind – ließe sich in seiner nur vermeintlich tautologischen Zirkularität mit Differentialität und Relationalität präzisieren und strukturell kenntlich machen (vgl. Ricken 2004a). Auch wenn begrifflich manches anders justiert werden kann, in der Sache vermeidbar ist er nicht. Gerade aber angesichts der gegenwärtig dominanten Einschätzung einer jeden Anthropologie als einer überholten Reflexionsfigur (vgl. Derrida 1988) gilt es, an der zirkulären ‘Anthropologik’ als Struktur aller menschlichen Selbstbeschreibungen – hier (und im folgenden) zur Formel ‘anthropologisch leben’ verkürzt – festzuhalten, sollen nicht doch dogmatisch fixierte ‘Anthropologismen’ auch in ausdrücklich ‘nach-anthropologische Reflexionsfiguren’ unerkannt Eingang finden (vgl. dazu Honneth / Joas 1980 wie auch Lindemann 1999 und 2001). Kann diese strukturell justierte Reflexion aber als Kennzeichnung des ‘Geschäfts’ einer ‘Anthropologie nach dem Tode des Menschen’ (Kamper / Wulf 1994) Zustimmung finden, dann ist es nicht weiter abwegig, auch von einer ‘Anthropologie der Macht’ zu sprechen, ohne damit – latent oder manifest – auf eine substantiale oder strukturale Verortung der Macht im menschlichen Wesen zielen zu müssen6.
Dass die hier unter der Frage nach der ‘Macht der Macht’ vorgelegten Überlegungen insgesamt zu einer ‘Anthropologie der Macht’ führen (können und) müssen, sei daher erst im Gang der Argumentation eingelöst; deren Leitfrage – ‘Was ist die Frage, worauf (mit) Macht zu antworten versucht (wird)?’ – führt dabei nicht nur zu einer Problematisierung eingewöhnter Machtverständnisse, sondern auch zu einer insgesamt kontingenztheoretischen Interpretation und Reformulierung der Machtproblematik. Ziel dieser überwiegend explorativen Überlegungen ist die Plausibilisierung und Entfaltung eines Machtverständnisses, das sich gerade nicht bloß auf Negation, Repression und Unterdrückung beschränkt, sondern – angesichts sich auch gegenwärtig vollziehender Transformationen der Macht – auch auf ‘produktive Mechanismen’ einer ‘Führung der Führungen’ (Foucault) bezogen werden kann. Der dabei beschrittene Gedankenweg sei daher in seinen fünf gewählten Stationen 6
Aufschlussreich wäre hier eine Neuinterpretation der von Foucault bereits früh vorgelegten anthropologischen Arbeiten: sowohl die unter dem Titel des ‘anthropologischen Zirkels’ publizierte (und nun endlich vollständige wie präzisierte) Neuübersetzung des letzten Kapitels von ‘Wahnsinn und Gesellschaft’ (Foucault 2003) als auch die bislang in deutscher Übersetzung nicht vorliegende Einleitung zur französischen Übersetzung der Kant’schen Anthropologie durch Foucault (vgl. Paragrana Band 11, Heft 2 (2002)) wären dafür bedeutsam und belegten auch insgesamt die Nähe Foucaults zu den hier vorgestellten Überlegungen einer Anthropologik. Der Nachweis dafür aber lässt sich hier nicht mehr führen; vgl. Frietsch 2002.
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angedeutet: so geht es zunächst in der Kontrastierung der Implikationen alltäglicher Rede von Macht mit begriffsgeschichtlichen und systematischen Befunden um ein Aufbrechen bloß negativer, repressiver und insofern eher irreführender Machtverständnisse (I), an die sich im Rückgriff auf ausgewählte bedeutsame Ansätze bisheriger Machttheorie eine erste Begriffsreformulierung von Macht anschließt (II), die vorzubereiten hilft, Macht auch als produktiven Mechanismus verstehen zu können. Eine ausgiebige Auseinandersetzung mit methodologischen und historischen Weichenstellungen Foucaults dient daher sowohl der genauen Explikation eines solchen Machtverständnisses als auch der Vorbereitung der ‘anthropologischen Befragung’ von Macht (III); diese wird im Rückgriff auf zwei ausdrücklich anerkennungstheoretisch justierte Bezugnahmen auf Macht – bei Bourdieu und Butler – bestätigt und präzisiert (IV), um schließlich in einem letzten Schritt (V) ausdrücklich entfaltet zu werden. Deren Befunde sollen dabei eine machttheoretische Interpretation von ‘Bildung’ vorbereiten helfen und dienen mir hier daher sowohl als ‘Prolegomena’ einer ‘Genealogie der Bildung’ (Studie II) als auch als Vorbereitung einer Neujustierung von Kritik, die sich – gerade weil Macht sich nicht länger bloß auf Fremdbestimmung eingrenzen lässt – nicht einfach bloß als Plädoyer für (vernünftige) Selbstbestimmung fassen lässt.
I. Nimmt man nun seinen ersten Einsatz einer begrifflichen Erkundung der Macht in einem (mehr oder weniger verbreiteten) Alltagsverständnis und versteht man unter ‘Macht’ dann sowohl Kraft und Möglichkeit als auch Recht und Befugnis, Einfluss zu nehmen und über andere bestimmen zu können (vgl. Duden 1983, 804), so lassen sich in dieser alltagsweltlichen Bedeutungsfassung insgesamt sechs Momente als kennzeichnend ausmachen (vgl. Luhmann 1969 wie Röttgers 1990), deren Explikation ebenso unverzichtbar wie bereits problematisch ist und in erhebliche philosophische Problemlagen führt: Macht wird erstens zumeist als eine substantial bestimmbare Habe, als ein Gut oder Vermögen vorgestellt, das personal zugeschrieben wird, asymmetrisch verteilt ist und insofern in einem Zentrum seinen Sitz hat bzw. von dort ausgeht; die Rede vom ‘Machthaber’ und ‘denen da oben’ mögen diese Substantialität und (hierarchische) Zentralität stellvertretend belegen. Zweitens gilt Macht als Kausalität und wird als eine spezifische Kraft der Bewirkung, als aus sich selbst Wirkungen freisetzende Ursache verstanden, so dass Macht über fremdes Verhalten schließlich dann gegeben ist, wenn dieses bei Wegfall der als Ursache unterstellten Einwirkung anders abliefe (vgl. Luhmann 1969, 150). Kombiniert man nun beide Momente, so gelangt man fast zwingend zur gängigen Vorstellung von Macht als einer ‘Verfügungsmacht über Mittel’. Dieser Kausalitätsfassung von Macht entspricht – drittens – allzu oft auch eine intentionalistische Auslegung von Macht: meint Macht alltäglich Beeinflussung oder gar Bestimmung und Beschränkung anderer, so ist die Absicht des vermeintlich Einflussnehmenden bedeutsam, um Verhalten als mächtiges Handeln erkennen zu können –
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denn fehlt diese Absicht, scheint auch der Begriff der Macht unpassend (vgl. Luhmann 2000, 25f.); zufälliges Bewirken ist weder machtvoll noch in seiner Kausalität eindeutig bestimmbar7. Nur folgerichtig gilt Macht gemeinhin daher als ein Mittel zu anderen Zwecken, so dass, wer sie als Zweck an sich selbst praktiziert, mit ‘schiefen Blicken’ und moralischer Verurteilung rechnen muss. Damit eng verknüpft ist viertens eine durchgängige Dualität und Oppositionalität der Begriffsstruktur: Macht wird nahezu ausschließlich als “Freiheitsbegrenzung” (Popitz 1992, 17) und Beeinträchtigung in ausdrücklicher Opposition zu Freiheit konzipiert, damit in ein Kontinuum mehr oder weniger großer Unfreiheit gestellt und dann allzu leicht mit Herrschaft, Gewalt und Zwang in Verbindung gebracht und bisweilen sogar synonym verwandt: Gewalt – so die beanspruchte Logik – ist dann nichts anderes als “gesteigerte Macht” (Schwartländer 1973, 869) und “die Erscheinung der Macht oder die Macht als Äußerliches” (Hegel, zit. Röttgers 1990, 524), während – umgekehrt – “Macht nichts anderes ist als gemilderte, nämlich durch Recht eingeschränkte Gewalt” (Schwartländer 1973, 869). Solchermaßen zwischen Gewalt und Herrschaft eingespannt gerät der Begriff der Macht fünftens in einen fast ausschließlich politischen Kontext, der seinerseits wieder auf den Begriff abfärbt und Macht als ein politisches Phänomen im engeren nahelegt. Schließlich ist Macht sechstens mit einer spezifischen normativen Problematik verbunden, die sich als ambivalente Bewertung auch begriffssystematisch niederschlägt: zwar gilt sie generell als ein (inzwischen) durchaus positiv anzustrebendes Gut, doch wird Macht dann doch weitgehend als negativ aufgeladener Begriff verstanden, der zumeist pejorative Bedeutung hat. Ihre Thematisierung nimmt daher allzu leicht immer wieder den Charakter der Entlarvung, der ‘Macht-Decouvrierung’ an, so dass der Begriff in seinem Gebrauch einen vermeintlich kritischen Anstrich erhält, den auf sich beziehen zu können meint, wer von Macht – wie auch immer offen – schon spricht. In dieser Ambivalenz aber scheint allemal zu gelten: wer die Macht ‘hat’, spricht nur selten von ihr, so dass der, der von ihr spricht, immer im Geruch steht, sie erlangen zu wollen. Dies gilt auch begriffstheoretisch, so dass auch jede Machtdefinition mindestens performativ in das, worüber sie spricht, selbst verwickelt ist. Summarisch ließe sich daher formulieren, dass Macht alltagsweltlich bedeutet, andere zu seinen eigenen Gunsten oder Zwecken beeinflussen und den eigenen Willen auch gegen andere und deren möglichem Widerstand durchsetzen zu können. Dabei wird diese Möglichkeit der Durchsetzung rückgebunden an eine spezifische Fähigkeit oder Essentialität – Autorität zum Beispiel – dessen, der die Macht – letztlich dann doch zumeist als eine Form der Übermacht und des Zwangs – (inne) hat, so dass Macht alltagssprachlich – auch in ihrer produktiven Bedeutung, etwas bewirken und hervorbringen zu können – schließlich doch an Repression und Gewalt gebunden bleibt. Folge machtvoller Durchsetzung ist dabei die dauerhafte (und gerade nicht bloß einmalige) Etablierung von Über- und Unterordnungsverhältnissen, die so auch 7
Die Differenz zweier Bedeutungsfassungen von ‘Intentionalität’ sei wenigstens vermerkt: während phänomenologisch ‘Intentionalität’ insbesondere Bezogenheit markiert, so dass ‘Bewusstsein’ immer ‘Bewusstsein von etwas’ ist, wird alltagssprachlich ‘Intentionalität’ – deutlich einfacher – als ‘Absicht’ kommuniziert und gemeinhin dem Handeln als motivierende Willensursache unterlegt (Vorhaben). Mit ‘intentionalistisch’ schließe ich mich – hier (!) – der alltagssprachlichen Bedeutung an.
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als soziale Ungleichheit thematisierbar werden und immer eine ökonomische Bedeutung enthalten; ihre Nähe zu Formen institutionalisierter Herrschaft ist damit angebahnt. Wie aber Macht alltagsweltlich erklärt, worauf sie gegründet und wie sie auf Menschen und ihre Konstitution rückbezogen wird, bleibt ebenso umstritten wie oberflächlich; auffällig ist aber, dass eher schlichte Modelle – wie etwa ‘Macht als Trieb’ oder ‘Macht als Zielsetzung’ – dominieren8. Es ist daher nicht erstaunlich, dass gerade jene Definition von Macht immer wieder rekapituliert und sogar als “in der Tat glücklich” eingeschätzt wird (Dahrendorf 1963, 569), die diese Elemente einer alltagsweltlichen Bedeutung auch theoretisch zu reformulieren scheint und ihnen so eine gewisse Weihe gibt. Seit gut 80 Jahren kann insbesondere Max Webers Definition von Macht als soziologische Kerndefinition gelten, die nicht nur immer wieder zustimmend aufgenommen worden ist, sondern auch ‘dogmengeschichtlich’ von außerordentlicher Bedeutung ist und inzwischen zu vielfachen ‘Plagiaten’ geführt hat (vgl. Hradil 1980, 22 wie Hejl 2001, 398)9: “Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht” (Weber 1972, 28). Machttheoretisch beunruhigend ist jedoch, dass Webers Definition zwar als begrifflicher Prototyp gelten kann, von ihm selbst jedoch nicht weiter verfolgt worden ist: da “alle denkbaren Qualitäten eines Menschen und alle denkbaren Konstellationen” jemanden “in die Lage versetzen” können, “seinen Willen in einer gegebenen Situation durchzusetzen” (ebd. 28-29), ist der Begriff der Macht “soziologisch amorph” (ebd. 28) und aufgrund seiner Willkürlichkeit wie Instabilität und nicht näher eingrenzbaren Abstraktheit wie Allgemeinheit “keine wissenschaftlich brauchbare Kategorie” (ebd. 542) – und wird von Weber direkt nach Einführung der Macht als einem soziologischen Grundbegriff zugunsten des für ihn präziseren Begriffs der Herrschaft bereits wieder fallengelassen – und das, obwohl mit ‘Herrschaft’ nur ein “Sonderfall von Macht” (ebd. 541, vgl. auch 122) ausgezeichnet werden kann. “Herrschaft soll heißen” – so Webers präzisierender Neueinsatz – “die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden” (ebd. 28), und markiert ein ebenso konkret fassbares und eingrenzbares wie institutionell verlässliches Sozialverhältnis, “für einen Befehl Fügsamkeit zu finden” (ebd. 29). Auch seine Unterscheidung und Analyse der verschiedenen “Typen der Herrschaft” (vgl. 8
Vgl. dazu insbes. Thomae (1962), der in seinen Überlegungen zum ‘Willen zur Macht’ die nahezu durchgängig behauptete bloße Faktizität des menschlichen Machtstrebens – als einem geradezu natürlichen und tierischen, weil gierigen und unstillbaren Verlangen (vgl. Thomae 1962, 129f.) – problematisiert und ausdrücklich ‘anthropologisch’ aufzunehmen versucht. Dennoch, trotz der Einsicht Gehlens, dass “anthropologische Vorstellungen [...] zum Verständnis des Machtproblems unentbehrlich” sind (Gehlen 1961, 78), lassen sich nur wenig Überlegungen zu einer ‘Anthropologie der Macht’ finden, die das Problem der Macht in einen Zusammenhang mit der anthropologischen Verfassung der Menschen zu bringen versuchen. Selbst unter diesem Titel publizierte Überlegungen (vgl. Gerhardt 1996) tragen bisweilen nicht allzu viel dazu bei.
9
Dass auch schon alltäglich dieser Begriff der Macht nicht mehr ‘nur’ überzeugt, lässt sich an einer interessanten und darin sehr bedeutsamen Verschiebung desselben verdeutlichen; in ihrer Dokumentation ‘Mythos Macht’ bestimmen Heine / Meißle ‘Macht’ – dabei an Weber zunächst anschließend – als jenes Vermögen oder jene “Chance, den Willen anderer für die Durchsetzung der eigenen Interessen zu nutzen”. Bedeutsam ist, dass in dieser ‘Weber’schen’ Umjustierung Macht und Freiheit gerade nicht mehr oppositional sind. Vgl. dazu Heine / Meißle 2002.
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Weber 1972, 122-176)10 belegt die eigentümliche Unbestimmtheit des Machtbegriffs als bloßem “Einfluß” (Weber 1972, 122) und verstärkt in der von ihm bewusst vorgenommenen Focussierung der Herrschaft den Brauch, Formen der Herrschaft und Macht weitgehend (nur) unter Legitimitätsaspekten zu diskutieren: “Daß dieser und nicht irgendein anderer Ausgangspunkt der Unterscheidung gewählt wird, kann nur der Erfolg rechtfertigen. [...] Die Legitimität einer Herrschaft hat – schon weil sie zur Legitimität des Besitzes sehr bestimmte Beziehungen besitzt – eine durchaus nicht nur ‘ideelle’ Tragweite” (ebd. 123). In dieser Umakzentuierung aber verengt Weber nicht nur das Problem der Herrschaft auf die – legitimitätstragende – Relation von Befehl und Gehorsam (vgl. Weber 1972, 29 wie 123 u.ö.)11; er verbaut sich auch die Möglichkeit einer theoretischen ‘Kritik der Macht’, indem er überwiegend die Legitimitätsproblematik von Herrschaft als einer notwendigen sozialen, durch Zustimmung getragenen Ordnung reflektiert. Auch Webers methodologischer Ausgangspunkt seiner verstehenden ‘Soziologie der Herrschaft’ – den Kern alles Sozialen im ‘subjektiv sinnhaften Handeln’ des einzelnen Individuums zu verankern (vgl. Weber 1972, 1 wie 6ff.) und insofern Gesellschaft nur als “Vergesellschaftung” (Weber 1972, 21f.) denken zu können – trägt zu einer weiteren begrifflichen Verengung bei, welche die Bahnen der folgenden machttheoretischen Diskurse maßgeblich vorgezeichnet hat12. Insbesondere in der neueren sozialwissenschaftlichen Diskussion ist es dabei (zunächst) zu einer – durchaus problematischen – Fortführung des Weber’schen Zugriffs gekommen: dabei ist Webers kausal- wie intentionaltheoretisch interpretierbare Bestimmung von Macht als einer zwar nicht weiter spezifizierten, aber wohl nicht bloß zufälligen “Form der sozialen Verhaltensbeeinflussung” (Lichtblau in Kobusch u.a. 1982, 612) insbes. von Bertrand Russell mit “Hervorbringen beabsichtigter Wirkungen” (Russell 1947, 29) zugespitzt worden, ohne dass sich aber dessen Formulierung – wie auch sein Vorschlag, analog zum Begriff der Energie in der Physik ‘Macht’ als den “Fundamentalbegriff in der Gesellschaftswissenschaft” (Russell 1947, 10) einzuführen – hätte durchsetzen können. Erst Robert A. Dahls Begriffsdefinition – “A has power over B to the extent he can get B to do something that B would not otherwise 10
Sie seien hier bloß stichwortartig genannt: Weber kontrastiert dabei ‘rational-legale Herrschaft’ als (typologischem) Inbegriff moderner, durch prozedurale Legalität getragener und insofern unpersönlicher Herrschaftsform mit als vormodern ausgelegter ‘traditionaler’ wie ‘charismatischer Herrschaft’, die jeweils im ‘Alltagsglauben’ an die Geltung faktischer Traditionen bzw. in der ‘außeralltäglichen Hingabe’ an eine als herausragend angesehene Person sich begründet und ein “bestimmtes Minimum an Gehorchenwollen, also: Interesse (äußerem oder innerem) am Gehorchen” (Weber 1972, 122) als intrinsischem Moment jedes ‘echten Herrschaftsverhältnisses’ impliziert (vgl. ausführlicher Weber 1972, 122-176). Vgl. dazu auch den Überblick in Neuenhaus 1998.
11
Dieser Verengung entspricht, dass in ‘Herrschaft’ insbesondere das Problem der “Disziplin” akzentuiert wird, die Weber als “Chance, kraft eingeübter Einstellung für einen Befehl prompten, automatischen und schematischen Gehorsam bei einer angebbaren Vielheit von Menschen zu finden” (Weber 1972, 28), auslegt.
12
Vgl. dazu exemplarisch die von Käsler publizierten Bände (Käsler 1972 wie 1995) wie auch Weiß 1989, Breuer 1991 und Imbusch 1998. Auch – nur exemplarisch – Luhmanns Entwurf einer systemtheoretischen Soziologie lässt sich als (an)dauernde Abarbeitung und Abrechnung mit Webers ‘verstehender Soziologie’ lesen, die in der Wahl dessen Ausgangspunkts bereits folgenreiche Akzentsetzungen akzeptiert; vgl. dazu insbesondere Luhmanns kritische Auseinandersetzung mit Kausalität und Intentionalität des Machtbegriffs in Luhmann 2000.
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do” (Dahl 1957, 201) – kann als klassische Formulierung eines solch kausaltheoretischen Zugriffs gelten. Auch Harold D. Lasswells und Abraham Kaplans diskurspolitisch einflussreiche Bestimmung der Macht als “participation in the making of decesions” (vgl. Lasswell / Kaplan 1950, 75)13 begrenzt nicht nur Machthandeln auf faktische Beeinflussung anderer sozialer Akteure, sondern bestärkt in dieser Kennzeichnung der Macht den intentionalistischen Problemzugriff (vgl. auch Bachrach / Baratz 1962 wie 1963). Selbst Kurt Lewins feldtheoretischer Zugang zu Macht – exemplarisch formuliert: “We might define power of b over a (pow b/a) as the maximum force which b can induce on a (;bf max/a.x), and the maximum resistance f max/a.x which a can offer” (Lewin 1951, 336) – bestimmt Macht trotz formulierter Relationalität verschiedener Kräfte als ‘Verwirklichung eigener Ziele’ und rekurriert damit wiederum auf Kausalität und Intentionalität; zugleich illustriert dessen zwar vermeintlich strenge, quantitativ aber gerade nicht operationalisierbare Begriffsfassung die enormen Schwierigkeiten, Macht als intuitiv irgendwie vertrautes Phänomen auch begrifflich möglichst genau (und empirisch operationalisierbar) zu fassen. Zunehmende Trivialisierung des Problems und wachsende begriffliche Untauglichkeit aus vermeintlich wissenschaftlicher Präzision (vgl. exemplarisch Zelger 1975 wie insgesamt Schneider 1988) haben so nicht nur in ein machttheoretisches “Dilemma zwischen Genauigkeit und Relevanz” (Hradil 1980, 139) geführt, sondern nur folgerichtig auch zu Begriffsreformulierungen und theoretisch anders justierten Phänomenbeschreibungen angeregt, die den bisherigen Problemhorizont – allein schon aus empirischen Gründen – erheblich erweitert haben. Kaum verwunderlich ist daher, dass trotz großer Eingängigkeit und weitverbreiteter Zustimmung der Webersche Problemaufriss immer wieder neu kritisch problematisiert worden ist (vgl. Röttgers 1990, 19f.): nicht nur dessen individualtheoretische Fassung, sondern auch die in diesem Machtbegriff implizierten Momente der Kausalität und Intentionalität vermögen angesichts ihres bloß konstruktiven Zurechnungscharakters nicht zu überzeugen (vgl. Luhmann 2000, 21-29) und sind als zwar durchaus bedeutsame, keinesfalls aber erschöpfende Momente des ‘Phänomens der Macht’ längst relativiert (vgl. Imbusch 1998, 11). Insbesondere aber die häufig unternommene und auch bei Weber gänzlich unproblematisierte Oppositionalität von Freiheit und Macht wird gegenwärtig zunehmend scharf kritisiert (vgl. exemplarisch Foucault 1994) und zwingt zu einer theoretisch fundierten Reformulierung des Problems der Macht (vgl. III). Kontrastiert man daher die alltagsweltliche Bedeutungsfassung samt ihrem wissenschaftlichen Analogon in Gestalt der Definition Webers mit begriffsgeschicht13
Ausführlich formulieren Lasswell und Kaplan, um Macht trotz ihrer ‘Fundamentalität’ zu einem operationablen politikwissenschaftlichen Begriff zu schärfen: “DF. Power is participation in the making of decisions: G has power over H with respect to the values K if G participates in the making of decisions affecting the Kpolicies of H. [...] But power in the political sense cannot be conceived as the ability to produce intended effects in general, but only such effects as directly involve other persons” (Lasswell / Kaplan 1950, 75). So meint ‘power’ gerade nicht bloß generellen Einfluss, sondern je konkrete Beeinflussung durch Drohungen: “It is the threat of sanctions which differentiates power from influence in general. Power is a special case of the exercise of influence: it is the process of affecting policies of others with the help of (actual or threatened) severe deprivations for nonconformity with the policies intended” (ebd. 76).
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lichen Befunden (vgl. auch Faber u.a. 1982), so ließe sich nicht nur überaus materialreich zeigen, dass in ‘Macht’ als traditionsreichem Problemtitel immer auch mehr und anderes thematisiert worden ist, sondern auch, dass die gegenwärtige Reduktion des Begriffs selbst begriffs- wie denkgeschichtlich rekonstruiert und nachvollzogen werden kann. So aber fördert “der Bezug auf die Tradition machttheoretischer Überlegungen einen Reichtum an Argumentationen zu Tage [...], der auch gegenwärtige Diskussionen aus gewissen Einseitigkeiten herauszuführen helfen könnte” (Röttgers 1990, 18). Die überaus mühsame Arbeit einer begrifflichen ‘Spurenkunde der Macht’ (vgl. Röttgers 1990, 32 u.ö.) hat insbesondere Kurt Röttgers in ebenso materialreichen wie systematisch angelegten Studien unternommen (vgl. Röttgers 1990, 1997, 109-150 und 2002a wie auch Röttgers und Lichtblau in Kobusch u.a. 1982). Seine aufschlussreichen Recherchen verfolgen dabei gerade keine reduktionistische Strategie, indem sie den Begriff der Macht auf politische Macht zu begrenzen (und vermeintlich zu vereindeutigen bzw. von seinen ‘metaphysischen’ Erblasten zu befreien) suchen, sondern legen ‘archäoloisch’ gerade dessen Vieldeutigkeit und dauernde Umstrittenheit frei: nicht nur, um den insbesondere neuzeitlich etablierten “Einseitigkeiten und Ausweglosigkeiten heutiger Konzepte der Macht” (Röttgers 1990, 49) entgegentreten zu können und mithilfe “des kritischen Potentials begriffsgeschichtlicher Methodik, überhaupt aus der Geschichte der Begriffe etwas zu lernen, was über archivarisches Wissen hinausgeht” (Röttgers 1990, 49); sondern auch, weil sich insgesamt der Begriff der Macht selbst als ein mehrdimensionaler und geradezu ‘zirkulärer’ Begriff erweist, der sich nur um den Preis, “sich selbst wesentlicher Erkenntnismittel zu berauben” (ebd. 53), auf die “eine oder andere Dimension” (ebd.) verkürzen lässt. Das aber verlangt einen ausdrücklich systematischen (und nicht bloß historischen) Zugriff, der entlang dreier zentraler Thematisierungsfelder – Möglichkeit, Recht und Freiheit – die Bedeutungsfülle der ‘Macht’ zu rekonstruieren erlaubt und damit der überwiegend neuzeitlichen Bedeutungsverschiebung und -verkürzung widerspricht. Dabei lässt sich die begriffsgeschichtlich beobachtbare Tendenz, das in unterschiedlichen Begriffsfassungen und Begriffsunterscheidungen sich facettenreich spiegelnde Problem der Macht durch ‘Verrechtlichung’ wie ‘Verstaatlichung’ zu entdifferenzieren und sukzessive zu vereinfachen (vgl. auch Faber u.a. 1982, 818ff.), auch als Folge der theoretischen Schwierigkeiten lesen, Macht nicht eindeutig und zirkelfrei bestimmen zu können. (1) Mit “Macht und Möglichkeit” (Röttgers 1990, 50) lässt sich ein erstes und überaus frühes Reflexionsfeld benennen, das äußerst zentral für den Machtbegriff ist und vor einer Engführung auf eine ausschließlich ‘politische’ Bedeutung schützen kann. Bereits etymologisch verweist Macht auf Möglichkeit, indem es gerade nicht auf ‘machen’, sondern als ‘maht’ (ahd. wie mhd.), ‘mah-ti-f’ (germ.) oder ‘mahts’ (got.) auf ‘magan’ (got.) zurückgeführt werden muss und daher vielmehr ‘können’ und ‘vermögen’ bedeutet (vgl. Kluge 1999, 530 wie auch Grimm 1885, VI, 1397). Doch zeigen sich bereits in der Auslegung und Erklärung von ‘Können’ erste Weichenstellungen, die in verschiedene Bedeutungsfelder führen: während ‘Können’ zunächst (nur) eine bestehende Möglichkeit anzeigt und damit einen (auch logischen) Relationsbegriff markiert, lässt es sich darüber hinaus auch als “Fähigkeit oder Kraft eines Handlungssubjekts” (Röttgers 1990, 51) auslegen und dann – allzu naheliegend – ‘substantialisch’ interpretieren. Dabei zeigt sich das eine als (wenn auch vermeidbare) Konsequenz des anderen: denn lässt sich Möglichkeit weder als ‘bloße Möglichkeit’ noch als ‘verwirklichte Möglichkeit’ konsistent bestimmen, so dass der Begriff der ‘Macht’ sich bereits hier in erste logische Schwierigkeiten verwickelt, so bietet es sich an, diesen – “freilich auf fragwürdige Weise” (Röttgers 1990, 51) – zu entkommen mithilfe der Konstruktion eines subjektiven ‘Vermögens’ als einer Art ‘innerer Kräfte’, “die im Extremfall auch permanent im Verborgenen der Innenwelt bleiben könnten,
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im Normalfall aber nach außen wirken” (Röttgers 1990, 51). Weil aber beides allein für sich – Macht als bloße Möglichkeit oder Macht als verwirklichte Fähigkeit – theoretisch nicht zu befriedigen vermag, wird ‘Macht’ weitgehend – exemplarisch von Zedlers Bestimmung der Macht als “Krafft oder Vermögen, das mögliche würcklich zu machen” (Zedler 1739, XIX, 86f.), bis hin zu Habermas’ Begriff der Macht als “Potenz [...], die sich in Handlungen aktualisiert” (Habermas 1978, 103) – ‘zwischen’ Wirklichkeit und Möglichkeit justiert. Die mit dieser Möglichkeitsfassung einhergehende Unbestimmtheit und Zweideutigkeit des Machtbegriffs hat Tradition und ist (auch) Folge der “Ambivalenz” (Röttgers 1990, 53) des griechisch-antiken Begriffs der ‘DžǞǎǂµNJǓ’, der – Möglichkeit wie Fähigkeit bezeichnend14 – “über ganz große Strecken seiner Geschichte im Überschneidungsbereich von Politik und Metaphysik” (Röttgers 1990, 53) situiert ist. So ist bereits auch in ‘DžǞǎǂµNJǓ’ ebenso unbestimmt wie umstritten, “ob Macht eine Relation oder eine Eigenschaft eines Substantiellen ist” (Röttgers 1990, 55): während für die einen nur die Macht, die sich auch in Handlungen ‘äußert’, als Macht gilt, so dass sie nur als ‘Wirklichkeit’, genauer: als ‘verwirklichte Möglichkeit’ aufgefasst werden kann, behaupten die anderen sie als ihrerseits gerade nicht sichtbare, insofern eher fiktionale ‘Bedingung der Möglichkeit realer Prozesse’ (vgl. Röttgers 1990, 55) – und stellen damit ebenso einseitig auf ‘Möglichkeit’ ab. Folgerichtig meint ‘DžǞǎǂµNJǓ’ insbesondere bei Platon jenes hinter jedem bestimmten Können als ‘ǕƾǘǎLj’ stets verborgene “Könnenkönnen” als einem “Urgrund des Könnens” (Röttgers 1990, 56), das als ebenso verursachend wie gewollt gedacht werden muss, so dass Kausalität und Intentionalität zentrale Bestandteile einer solchen substantiellen Auslegung von Macht als qualifizierbarer Fähigkeit werden – und Möglichkeitsvorstellungen bereits hier tendenziell aus dem Blick geraten (vgl. ebd. 60)15, indem immer wieder versucht wird, “die Kategorie der Kausalität der Kategorie der Modalität sozusagen über[zu]stülpen” (Röttgers 1990, 59). Es ist dieses antik befestigte metaphysische Schema von – nur substantial denkbarer – Ursache und Wirkung (vgl. Dux 2000, 115ff.), das das weitere Nachdenken über Macht bestimmt und letztlich verhindert, dass ‘Macht’ als Möglichkeitsproblem tradiert wird16. Auch wesentlich mitbedingt durch die stärker rechtliche Bedeutungsfassung der lateinischen Begriffe ‘potestas’ und ‘potentia’ im römischen Denken (vgl. Faber u.a. 1982, 830ff.) wird daher in der Beantwortung der Frage nach der Macht das Problem des ‘Ursprungs’ derselben dominant (vgl. Röttgers 1990, 73); nur folgerichtig verbinden sich in ihr Fragen der Handlungs14
Vgl. zum griechisch-antiken Wortfeld auch die begrifflichen Skizzen bei Faber u.a. 1982, 820ff. wie Kobusch u.a. 1982, 585f.; dort werden neben ‘DžǞǎǂµNJǓ’ – “dem allgemeinsten Begriff für Macht, Einfluß, Vermögen” (Faber u.a. 1982, 821) – auch v.a. ‘wǒǘ’ und ‘Ǐǐǖǔǀǂ’ genannt, die sowohl Amts- und Regierungsmacht als auch Erlaubnis und Vollmacht ausdrücken.
15
Vgl. zu dieser auf Handlungen bezogenen substantialen Interpretation von Macht auch die Platon zugeschriebene frühe Differenzierung verschiedener Machtformen und -ressourcen, in der zunächst zwischen ‘Verstandesmacht’, ‘Körpermacht’, ‘Geld-‘ und ‘kriegerischer Gewaltmacht’ (bzw. ‘Heeresmacht’) unterschieden wird (vgl. ausführlich Röttgers 1990, 63ff.), um dann dieser substantialen Unterscheidung doch auch eine modaltheoretische Fassung – Macht als Möglichkeit des ‘Befindens’, ‘Zustands’ und Tuns’ “nach der guten und schlimmen Seite hin” (Diogenes Laertius, zit. Röttgers 1990, 64) – anzufügen, die dadurch “das Handlungsmodell (und Machtmodell) eines substantiellen Subjekts als Handlungsorigo” (Röttgers 1990, 64) wieder zerbricht.
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Auch wenn die aristotelische Fassung von ‘DžǞǎǂµNJǓ’ zunächst eine konsequent modaltheoretische Auslegung erfordert, indem sie “Macht als universelles, immanentes Prinzip wirklicher Prozesse” (Röttgers 1990, 56) bestimmt und darin auf ‘mögliche Wirklichkeiten’ wie ‘wirkliche Möglichkeiten’ (Musil) zugleich abstellt, so konzipiert Aristoteles Macht letztlich doch wieder substantialisch als ‘Ursprungsmacht’ (‘wǒǘ’) und schreibt sie damit als Kraft, Fähigkeit und Vermögen der inneren Konstitution der Handelnden zu. Die Einsicht, “daß dieser Machtbegriff des Aristoteles ein Relationsbegriff ist, der eine Möglichkeitsrelation zwischen zwei Elementen festhält”, genauer: “den Wechsel zweier Zuständlichkeiten” (Röttgers 1990, 68) markiert, verschwindet nur allzu leicht darin.
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und Seinsmacht mit ordnungspolitischen Überlegungen, so dass schließlich als Macht gilt und legitimiert werden kann, was sich auf eine seinerseits nicht weiter ableitbare ‘Ursprungs-‘ und ‘Vollmacht’ zurückführen lässt. Die aber zur logischen Präzisierung und Differenzierung von Ursache und Wirkung zwingend eingeführte Unterscheidung von ‘potentia absoluta’ und ‘potentia ordinata’ (vgl. Röttgers 1990, 81) ist nicht nur politisch überaus bedeutsam, sondern führt auch theoretisch zurück in relationale Überlegungen, zwischen Ursprung und Möglichkeit unterscheiden und – insbesondere mit Verweis auf Duns Scotus – den Ursprung schließlich selbst als kontingent einsehen zu müssen (vgl. Röttgers 1990, 83). Die damit evozierte Vorstellung einer grundsätzlichen Andersmöglichkeit dessen, was ist und sein soll, lässt schließlich den mittelalterlichen theozentrischen Ordnungsgedanken im Gefolge seiner vermeintlichen theologischen Rettung allmählich zerbrechen. (2) So lässt sich mit ‘Macht und Recht’ ein daran anschließendes zweites Bedeutungsfeld machttheoretischer Reflexionen markieren (vgl. Röttgers 1990, 86-165), in dem – überwiegend entlang der lateinischen Begriffe ‘potestas’ und ‘potentia’17 – die metaphysische Frage nach dem Ursprungs in politischer Perspektive aufgegriffen und Macht so in ein Problem der Herrschaft verwandelt wird. In ihr aber bedingen Verrechtlichung wie (sukzessive) Verstaatlichung der Machtproblematik eine zunehmende Verengung und Vereinfachung der Beobachtungsperspektive – mit der Folge, dass nicht nur wichtige begriffliche Unterscheidungen schließlich fallengelassen werden, sondern auch weite Bereiche gänzlich außer Blick geraten. Zweierlei Folgen dieser machttheoretischen Weichenstellung sind bedeutsam und bestimmen in ihrer substantialen Denkform das Nachdenken über (politische) Macht: einerseits muss Macht, will sie legitime Macht und nicht bloß willkürliche Gewalt sein, auf einen ihr zugrundeliegenden, seinerseits nicht weiter ableitbaren Ursprung – eine “Ur-Ursächlichkeit” (Röttgers 1990, 93) sozusagen – zurückgeführt werden können, so dass faktische Macht schließlich als “Prozeß der Verwirklichung” (Röttgers 1990, 89) ihres Ursprungs gedacht und normativ geklärt werden kann. Diese Interpretationsperspektive lässt sich bereits neuplatonisch belegen (vgl. Röttgers 1990, 87ff.) und führt schließlich mittelalterlich zu einer ebenso verbreiteten wie heftig umstrittenen Erörterung von ‘göttlicher Allmacht’ – mit der prekären Folge, dass allein logische Paradoxien (z.B. ob Gott etwas so Schweres schaffen kann, dass er selbst es nicht aufzuheben vermag) politische Argumentationen verwirren und bisweilen zurück in die Anerkennung bloß ‘faktischer Gewalt’ führen können. Während so die einen die “Emanation der Macht aus einem einzigen, absoluten Machtursprung heraus hin zur Vielfalt der Mächte” (Röttgers 1990, 90) konzeptionell erarbeiten und auch politisch zur Legitimation von eindeutiger Hierarchie – “es gibt nur eine Ordnung dieser Welt, und in dieser Ordnung nur eine Spitze aller Machthierarchien, das ist der Stellvertreter Gottes, der Papst” (Röttgers 1990, 89) – nutzen, indem sie jede Form der ‘potestas’ als Amtsmacht als eine Form der (abgeleiteten) ‘potentia’ zu begreifen suchen, die ihrerseits in einer ‘reductio ad unum’ auf eine einzige ‘potentia absoluta’ zurückgeführt werden kann18, behaupten die anderen die wesentliche Differenz verschiedener Typen von Macht und deren jeweilige Unableitbarkeit auseinander
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Während ‘potentia’ eher dem griechischen ‘DžǞǎǂµNJǓ’ entspricht und auch im Deutschen mit ‘Macht’ angemessen wiedergegeben wird, bedeutet ‘potestas’ eher rechtliche Verfügungsgewalt und ‘Amtsmacht’ und wird weitgehend mit ‘Gewalt’ übersetzt, welche wiederum nicht nur potestas, sondern auch ‘violentia’ wiedergibt. Auch hier seien weitere Begriffe des Bedeutungsfeldes genannt, die die dominante rechtliche und institutionelle Perspektivierung im römischen Denken bestätigen: ‘auctoritas’, ‘dignitas’, ‘imperium’ als jeweiligen Spezifizierungen von ‘potestas’, die als die verschiedenen Formen übergreifende allgemeine Amtsgewalt gilt; aber auch ‘gratia’oder ‘opes’ als Markierungen der jeweiligen Grundlagen sozialen Einflusses belegen die deutlich politischeren Bedeutungsfassungen (vgl. insgesamt Faber u.a. 1982, 830-835 wie auch Kobusch u.a. 1982, 586-588).
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Vgl. dazu auch die Diskussionen zur Problematik ‘rechtmäßiger’ und ‘unrechtmäßiger’ Herrschaft wie deren Zusammenhang mit der Unterscheidung von ‘sacerdotium’ und ‘regnum’ (vgl. Faber u.a. 1982, 837-847).
Station 1: Bedeutungsmuster und Begriffsgeschichte
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(vgl. Röttgers 1990, 83-117 wie Kobusch u.a. 1982, 587-593). Dieser um die soziale Stellung von Papst und Kaiser figurierte ‘Machtstreit’ ließe sich auch theoretisch mithilfe der mittelalterlichen Lehre der ‘plenitudo potestatis’ nachvollziehen und illustriert die Schwierigkeiten einer logisch eindeutigen und in sich konsistenten ursprungstheoretischen Begriffsentfaltung (vgl. Röttgers 1990, 96ff.). Mit dieser Transformation des Machtproblems in eines der (legitimen) Herrschaft und (politischen) Ordnung geht andererseits eine zunehmende Verrechtlichung des Diskurses einher, die sich auch der – theologisch (!) – betriebenen “Emanzipation des politischen Denkens von der Vormundschaft theologischer Lehrmeinungen” (Röttgers 1990, 117) verdankt. So lässt sich der frühneuzeitlich einsetzende Diskurs zum Problem der Souveränität – von Machiavelli über Bodin bis hin zu Hobbes – als Nachfolgediskurs theologischer Ordnungsbegründungen lesen, der zwar deren Prämisse einer göttlichen ‘Ursprungsmacht’ nicht länger teilt, aber der damit verbundenen Denkform der ‘reductio ad unum’ weiterhin verpflichtet bleibt. Der in Aussicht gestellte Gewinn aber, Macht durch Recht ‘metaphysikfrei’ begründen und normativ klären zu können, hat sich als Illusion erwiesen, insofern Macht zwar Recht unterworfen werden kann, Recht aber seinerseits immer einer Macht bedarf, die – prekärerweise – außerhalb des Rechts stehen muss. Von Bodins Identifikation des ‘Souveräns’ mit der ‘höchsten Befehlsgewalt’ über Hobbes Modell einer vertragstheoretischen Konstitution des Souveräns, der dann vom Vertrag ausgenommen ist, bis hin zu Carl Schmitts berühmter Definition – “Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet” (Schmitt 1993, 11) –, es ist diese logische wie politisch-praktische Widersprüchlichkeit, die die Auflösung von Machtfragen in Rechtsfragen hintertreibt (vgl. Agamben 2002) und immer wieder in Fragen faktischer Herrschaft und Gewalt zurückführt. So wenig aber Recht bloß auf Macht basieren darf, so wenig lässt sich Macht allein in Recht fundieren (vgl. Röttgers 1997, 11-25); mit der Einsicht aber, dass Macht sich gerade nicht ihrer eigenen “Unwiderstehlichkeit” (Röttgers 1990, 11) verdankt, kehren vielfältige Schwierigkeiten der Relationalität von Macht zurück, die gerade hatten ausgeschlossen werden sollen. (3) Mit “Macht und Freiheit” (Röttgers 1990, 165) kann nun ein letztes, insbesondere neuzeitlich-modern problematisiertes Bedeutungsfeld überschrieben werden, das – bis heute – nicht nur für die Begriffsbestimmung und Systematik des Machtbegriffs kaum noch wegzudenken ist, sondern selbst als Folge der theoretischen Unzulänglichkeiten bisheriger Machtbestimmungen gelesen werden kann. In ihr verschiebt sich die konsistent nicht lösbare Frage nach dem Ursprung der Macht zur Frage nach ihren Grenzen, so dass Machtlegitimation nicht substantialisch, sondern – qua Freiheit als Gegenbegriff – funktional verfährt. Erst neuzeitlich gerät daher der Begriff der Macht zunehmend in Opposition zu ‘Freiheit’, wird doch Herrschaft nun als legitime Form der Ordnung nur dann zustimmungsfähig, wenn sie als Zurückdrängung gewalttätiger Macht – als “machteinschränkende Macht” (Röttgers 1990, 176) – und Ermöglichung von Freiheit ausgegeben und anerkannt werden kann. Damit aber ist die im metaphysischen Begriff der Ordnung noch mögliche Nebenordnung von Macht und Freiheit aufgegeben zugunsten der Überzeugung ‘hyperkritischer Aufklärer’ (Koselleck), dass Macht immer nur “Mißbrauch der Macht” (Koselleck 1973, 99) sein kann, so dass ‘Macht’ und ‘Gewalt’ – mindestens prinzipiell – in ein Bedeutungsfeld einrücken und ‘Gewalt’ nur die (maßlose) Steigerung von Macht ist. Der Verlust der – theonomen wie vertragstheoretisch formulierten – Legitimationsgründe wird dann als Beleg dessen gewertet, dass die ‘Macht an sich’ illegitim ist und sich nur provisorisch rechtfertigen lässt: “Je weniger (böse) Macht, desto mehr (vernünftige) Freiheit” (Röttgers 1997, 137). Doch die aus dieser Weichenstellung resultierende Dichotomie von Freiheit und Macht lässt sich nicht durchhalten: nicht nur, weil sie Macht überwiegend bloß als ‘Indiz des Mangels’ und “Ursprung des Bösen” (Röttgers 1990, 186) – “Macht heißt ein Mangel an Güte, an Perfektion, Mangel an Sein” (ebd.) – auslegt; auch nicht nur, weil sie die durchaus verständliche Einsicht, dass Macht Bedingung der Freiheit ist – denn frei ist nur, wer auch vermag, was er will (vgl. Röttgers 1990, 175) – unterschlägt und das Problem der Macht damit trivialisiert wie vereinseitigt; sondern vor allem, weil darin letztlich sowohl die Bedin-
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gungen der Freiheit selbst als auch die nicht bloß rechtlichen Mittel der Handlungs- und Erlebenssteuerung als Fragen der Macht unthematisiert bleiben (müssen). Die damit verbundene Strategie einer ‘Minimalisierung der Macht’ (Röttgers) aber, die Macht allein als ‘notwendiges Übel’ versteht und nur diejenige Macht als legitimiert anerkennt, die Publizität erträgt und sich auf (mindestens als möglich gedachte) (Selbst)Zustimmung zurückführen lässt (vgl. Faber u.a. 1982, 898ff. wie Röttgers 1997, 126ff. und 136ff.), verleugnet im Verweis auf deren Vernunft ihren eigenen Charakter als Macht, so dass unter dem Anspruch einer Mäßigung der Macht auch deren Intensivierung und Vertiefung betrieben werden kann. In den begriffsgeschichtlich nachvollziehbaren Schwierigkeiten einer Vergegenständlichung, Verrechtlichung und normativen Vereindeutigung der Macht aber kehren nur folgerichtig Fragestellungen zurück, die – gegen die Fragen nach Substanz, Wesen und Ursprung der Macht gerichtet – deren relationalen Charakter betonen und damit immer wieder neu in modallogische und kontingenztheoretische Überlegungen zurückführen.
Die begriffsgeschichtlichen Befunde illustrieren nicht nur die Zentralität der ‘Macht’ als einem durchgängigen Problem menschlichen Zusammenlebens, sondern belegen auch den unaufhebbaren Zusammenhang der mit Macht verknüpften Begriffe: weder lässt sich das Problem der Macht restlos in eines der Herrschaft verwandeln, indem diese auf Recht gegründet und jener als bloß unrechtmäßiger Gewalt entgegengestellt wird, ohne dass nicht doch in deren Explikation auf Macht – in welcher Form auch immer – zurückgegriffen werden müsste, noch kann die modern intuitive Plausibilität, Macht und Freiheit strikt oppositional zu konzipieren, konsistent durchgehalten werden. Trotz sich mehrender Zweifel, den Begriff der Macht nicht nicht-aporetisch und in sich konsistent bestimmen zu können (vgl. Röttgers 1990, 263), ist aber auch eine “Flucht aus dem Begriff der Macht” (Röttgers 1990, 18) gerade nicht möglich; vielmehr scheint es unvermeidbar, Macht immer auch als Möglichkeit im Sinne von ‘DžǞǎǂµNJǓ’ und ‘potentia’ zu erläutern und sich damit auf komplexe philosophische Überlegungen einlassen zu müssen. Eine solche Explikation von Macht aber muss ihrerseits der (begrifflichen wie logischen) Fallstricke gegenwärtig sein, die sich begriffsgeschichtlich nur haben andeuten lassen und zu den gegenwärtigen alltagsweltlichen Bedeutungsverengungen geführt haben. Daher seien – im Rückgriff auf Röttgers Bilanzierung des begriffsgeschichtlichen Befunds (vgl. Röttgers 1990, 491–504) – einige Markierungen des Machtbegriffs zusammengetragen und den (ausgeführten) Implikationen des Alltagsbegriffs gegenübergestellt. Macht lässt sich erstens nicht triftig als Substanz bzw. Effekt von Substanzen charakterisieren, sondern muss vielmehr ausdrücklich als Relation gefasst werden, bezeichnet sie doch ein Verhältnis, das sich – ursprungshaft – nicht zureichend auf nur eine Seite zurückführen lässt: weder Angeborenes noch Erworbenes, weder Reichtum, Besitz oder andere Privilegien noch innerlich zugeschriebene Vermögen und Fähigkeiten begründen aus sich selbst heraus jeweilige Macht und lassen sich linear als deren Quellen verstehen. “Macht ist mithin nicht etwas, was jemand ‘hat’, sondern etwas, das er ausübt: Wir haben Macht nur als Macht über andere, ohne sie ist der Machtbegriff sinnlos” (Paris 1998, 7) – so dass es schlicht irreführend ist zu sagen, jemand habe die Macht.
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Insofern Macht zweitens aber ein soziales Verhältnis markiert, ist sie weder in einem Zentrum zu verorten noch schlicht linear – z.B. als einfache Einwirkung – zu erläutern, sondern muss als Kräfteverhältnis, als Netzwerk u.U. konkurrierender und gegeneinander gerichteter Kräfte und damit als Kampf von Macht und Gegenmacht bzw. Widerstand verstanden werden, in die Kausalitäts- und Intentionalitätsunterstellungen jeweilig eingebettet werden müssen19. Logisch gesehen ist Macht daher drittens eng mit dem Problem von Möglichkeit und Wirklichkeit verknüpft und kennzeichnet diesseits von Notwendigkeit und Unmöglichkeit – als zwei Weisen eines Nicht-anders-sein-Könnens, in denen man gerade nicht von Macht spräche – jene schwierige Problematik der ‘Andersmöglichkeit’, die weder bloße Möglichkeit noch schlichte Faktizität meint, sondern als ‘wirkliche Möglichkeit’ wie ‘mögliche Wirklichkeit’ ausschließlich relational anvisiert werden kann: “Macht verhält sich zur Handlung wie Möglichkeit zur Wirklichkeit” (Röttgers 1990, 412). Es scheint daher ratsam, Macht vom Begriff der Kontingenz als ‘Andersmöglichkeit’ her zu erläutern (vgl. Ricken 1999a wie 2004b): nicht nur verweist Macht als Möglichkeitsphänomen auf ihre jeweilige Nichtnotwendigkeit, so “daß Macht ‘gemacht’ ist und anders als sie ist, gemacht werden kann” (Popitz 1992, 15); ein solch kontingenztheoretischer Zugang legt auch nahe, Macht auf Unbestimmtheit zu beziehen, mit Unsicherheit zu verknüpfen und in Endlichkeit zu situieren, so dass sie sich schließlich auch als “Macht über Möglichkeiten, d.h. als Macht über Macht” (Röttgers 1990, 494) auslegen lässt, indem sie als grundsätzliches Steuerungsmoment von Handeln unter Knappheitsbedingungen Handlungsmöglichkeiten jeweilig potentieller Akteure verschiebt, beschränkt und asymmetrisch figuriert, um so ‘Ordnungssicherheit’ und ‘Kontinuitätssicherung’ zu etablieren. Entscheidend ist aber dabei viertens, dass Macht und Freiheit gerade nicht bloß in ein Gegenverhältnis gesetzt werden dürfen, so dass Macht und Freiheit als voneinander getrennte und zueinander konträre Phänomene Geltung beanspruchen könnten; vielmehr gilt es, beide als aufeinander bezogene, ineinander verschränkte (und doch deutlich zu unterscheidende) Aspekte eines sozialen Zusammenhangs zu erläutern. Macht ist fünftens als Möglichkeitsbegriff unweigerlich mit Interpretativität verknüpft, so dass “Symbolisierung [...] daher ein notwendiges Merkmal von Macht” (Röttgers 1990, 493) ist. Schon bloß die Machtpraxis der Androhung (vermeintlich) ‘nackter Gewalt’ ist auf Vorstellungen angewiesen und lässt sich ohne symbolische Akte des Erkennens und Anerkennens nicht erläutern (vgl. Bourdieu 2001, 220). Der Wechsel “von der Ebene des Messens körperlicher Kräfte auf die der Symbolisierungen” (Röttgers 1990, 497) ist für Machtpraktiken daher unvermeidbar; Modalisierung, nicht Realisierung ist ihr Modus. Daraus resultiert, dass Macht nicht bloß – ursprungshaft – auf Gewalt zurückgeführt und als deren ‘Milderung’ betrachtet werden kann, so dass auch bisweilen ‘Gewaltverzicht’ Machtwirkung zeitigt; vielmehr sind Macht 19
Röttgers Pointierung belegt den Zusammenhang beider Momente: “Wenn Macht ein habbares Etwas wäre, dann hätte man sie auch, wenn es keine Anderen gäbe oder auch dort (in der Einsamkeit), wo es keine Anderen gibt. Das ist jedoch kaum eine sinnvolle Redeweise” (Röttgers 2002a, 391).
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und Gewalt strukturell unterschieden, kann sich doch Macht gerade nicht flächendeckend auf Gewalt als ihrer ‘ultima ratio’ stützen – schlimmer noch: Gewalt als Grund von Machtkonstellationen lässt – wenn sie nötig wird – allzu leicht Macht zusammenbrechen, verbraucht sie sich doch in ihrer Realisierung und der nicht-symbolischen Sichtbarmachung ihrer Mittel (vgl. Röttgers 1997, 130). Vielmehr agiert sie ihrerseits als Steuerungsmoment im Möglichkeitsraum auf der Ebene der Vorstellungen, so dass “das Verfügenkönnen über die Vorstellungen über das Verfügenkönnen zukünftiger Handlungen [...] bereits der wahrscheinlich wichtigste Teil des Verfügenkönnens über zukünftige Handlungen” (Röttgers 1990, 494) ist. Mit dieser symbolischen Struktur von Macht ist auch impliziert, dass Macht sich als Macht – will sie effektiv sein – zugleich präsentieren wie verbergen muss, so dass sie in ihren Repräsentationen und Symbolisierungen immer auch “auf der Flucht” (Röttgers 1990, 501) ist. Das aber macht es schließlich sechstens schlicht unsinnig, Macht als normativen Begriff nutzen zu wollen. “Macht ist zu konzipieren als strikt nicht-normativer Begriff; Macht-Decouvrierung wie [generelle] Macht-Kritik machen wenig Sinn” (Röttgers 1990, 412): nicht nur, weil es schlicht naiv wäre, Macht als solche abzulehnen; auch nicht nur, weil jede Machtkritik sich einem performativen Dilemma aussetzt, indem sie ihrerseits – durch die Aufdeckung von Mechanismen des Verfügens über mögliche Handlungen anderer – über Vorstellungen des Handelnkönnens (wenn auch unterschiedlich) zu verfügen sucht und insofern unweigerlich “in der gleichen Falle [sitzt], mit der sie andere fangen wollte” (Röttgers 1990, 494); sondern vielmehr, weil Macht ubiquitär scheint und kein absolutes oder bloß hinreichend generalisierbares Kriterium der Unterscheidung ‘guter’ und ‘böser’ Macht aufzufinden ist, mit dessen Hilfe sich der Ambivalenz des ‘Doppels der Macht’ triftig entkommen ließe. Kritik der Macht – theoretisch wie praktisch – setzt aber ihre “Entdämonisierung” (Paris 1998, 7) voraus und lässt sich (fast) ausschließlich nur analytisch betreiben. All das aber legt vor allem eines nahe: Macht ist kein gegenstandstheoretischer Begriff, mit dessen Hilfe ‘etwas’ bezeichnet und repräsentiert werden könnte, sondern muss als beobachtungstheoretischer Begriff gefasst werden. Mit ihr wird daher nicht auf etwas neben und getrennt von anderem verwiesen, das sich unabhängig vom jeweiligen Zugriff geradezu gegenständlich identifizieren ließe, sondern ein Moment an allem (sozialen) Handeln markiert, das von Interpretation und Reflexivität nicht losgelöst werden kann. Was also als ‘Macht’ in den Blick kommt, hängt ausschließlich davon ab, wie ‘Macht’ gedacht und auch begrifflich gefasst wird. Immer aber erlaubt ‘Macht’, soziale Verhältnisse unter der Perspektive ihrer jeweiligen Bedingtheit durch andere wahrzunehmen; in ihrer jeweiligen ‘Andersmöglichkeit’ aber ist sie gerade nicht Freiheit entgegengesetzt, sondern mit ihr verschränkt, so dass auch diese konsequent nur als transzendentaler Begriff (mit eminent praktisch bedeutsamen Folgen) justiert werden kann, mit dessen Hilfe ein anderer Aspekt von Sozialität – Unbedingtheit – beobachtet werden kann. Die Diskrepanz von alltagsweltlicher Bedeutungsfassung und erster begrifflicher wie methodologischer Orientierung ist frappierend: nicht nur ist – auffällig genug – begriffsgeschichtlich mit Macht ‘immer mehr und anderes’ thematisiert worden;
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vielmehr erscheinen die auch intuitiven gegenwärtigen Bedeutungszuschreibungen ihrerseits in erheblichem Maß verkürzt und um ihre philosophische Problematik verhängnisvoll bereinigt zu sein. Insbesondere die – mit Weber auch nachweisbare – Konzeptualisierung von Macht als einem (wenn auch auf Widerstand gefassten, letztlich aber doch) linearen ‘Einwirkungs- und Durchsetzungshandeln’ illustriert gerade in ihrer individualtheoretischen Fassung diesen Reduktionismus und nährt so den Verdacht, ob nicht gegenwärtige Machtverständnisse in ihrer Betonung der Offensichtlichkeit und vermeintlichen Positivierbarkeit von Macht selbst Teil der subtilen Verbergungsstrategien von Macht sind. Denn: dass Macht nicht ist, was sie zu sein scheint, sondern auch – allzu oft – das ist, was sie nicht ist, ist durchaus geläufig und nährt untergründig den Reiz jeder Machtkritik und Entlarvung. Weil aber Macht nicht gegenständlich ‘sichtbar’ ist, in ihrer Wirksamkeit aber darauf angewiesen ist, dass an sie geglaubt wird, bedarf sie der ‘Inszenierung ihrer Sichtbarkeit’, ihrer Repräsentation, ohne sich in ihr erschöpfen oder gar verlieren zu dürfen. Erst diese Einsicht in ihre “repräsentierte Unsichtbarkeit” (Röttgers 1997, 124) aber provoziert Irritation und Nachdenklichkeit – und den Wunsch, sich aus den Fesseln alltäglicher Bedeutungsfestschreibungen begründet lösen zu können. Ein eher kursorischer Blick in den Stand gegenwärtiger Machttheorie bestätigt nicht nur die eingeschlagene Richtung, sondern erlaubt auch, einen dazu veränderten Begriff der Macht zu formulieren.
II. Wie auch immer Macht genauer justiert wird, eines ist machttheoretisch ganz unumstritten: Macht markiert eine soziale Relation und kann daher nicht substantial oder verdinglicht vorgestellt werden. “Niemand hat Macht für sich allein. Macht entsteht, wenn Menschen aufeinander treffen und zusammen handeln, und sie verschwindet, sobald sie sich wieder zerstreuen. [...] Denn Macht ist stets ein soziales Verhältnis. [...] Die einzige Bedingung, die für die Entstehung von Macht unerläßlich ist, ist die Existenz eines sozialen Zusammenhangs. [...] Wer Macht sagt, sagt auch Gesellschaft, doch wer Gesellschaft sagt, sagt immer auch Macht” (Sofsky / Paris 1994, 9) – so oder ähnlich ließen sich die jeweiligen Eröffnungen der unterschiedlichen Machttraktate zitieren; immer wieder übereinstimmend kennzeichnen sie daher Macht als eine ‘Figuration’ (Elias), als ein Verhältnis sich wechselseitig ermöglichender, bedingender wie beschränkender Kräfte20. Doch bleibt darin ebenso immer 20
Unter ‘Figuration’ versteht Elias jeweilige ‘Verflechtungszusammenhänge’ menschlichen Zusammenlebens, die Menschen – “kraft ihrer grundlegenden Interdependenz” (Elias 1992, 90) – miteinander bilden; im Kontrast zu ‘Konfigurationen’, deren Ordnungsstruktur Elias eine gewisse Stabilität und äußere Fixierung zuschreibt (vgl. Elias 1992, 89), sind Figurationen veränderliche, raumzeitlich und symbolisch strukturierte Gebilde (vgl. ebd. 89), weil die einbezogenen ‘Elemente’ selbst aktiv an ihrer Bildung teilhaben. Diesseits der falschen Alternative von ‘Individuum’ und ‘Gesellschaft’ zielt daher der Begriff der ‘Figuration’ auf die wechselseitige Abhängigkeit und das soziale Ineinander von Menschen ab, in dem Unabhängigkeit einzelner wie Strukturdetermination nur relative Grenzfälle sein können (vgl. ebd. 90), so dass Freiheit wie Bindung im Verständnis einer (sozial) situierten Existenz immer verknüpft sind. Vgl. dazu auch ausführlicher Elias 1986.
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wieder unbestimmt, worin Macht als Relation gründet bzw. was genau an der Relation sie allererst möglich (und auch nötig) macht; auch die (überaus überzeugende phänomenale) Analyse jeweiliger Formen und Funktionsweisen, Muster und Prinzipien der Macht (vgl. Sofsky / Paris 1994 wie Paris 1998) kann einer solchen Zuspitzung sich nicht entziehen, sollen nicht doch immer wieder Alltagsplausibilitäten und Intuitionen reformuliert werden. Einer noch ausstehenden ‘Grammatik der Macht’ aber zuzuarbeiten ist der Sinn der folgenden Streifzüge im ebenso weiten wie wüsten Feld der Machttheorie; ihre Aufgabenstellung jedoch lässt sich nur in der Abkehr von eher vereinfachenden (und darin schon definitorisch engführenden) Fragen im Sinne eines ‘Was ist Macht?’ und Hinwendung zu eher problematisierenden Fragen im Sinne eines ‘Was ist die Frage, worauf (mit) Macht zu antworten versucht wird?’ erfassen. Mit ihr soll auch der Einsicht, dass Macht sich ohne Bezug auf menschliche Selbstauslegung und Selbstverständigung nicht erläutern lässt, Rechnung getragen werden. In einem ersten Zugriff finden sich durchaus vielfältige Positionen und Stationen einer Theorie der Macht, die den Weichenstellungen alltagsweltlicher Machtbedeutungen mehr oder weniger folgen und deren dominant oppositionale Logik stützen und fortsetzen; zwar rekurriert niemand auf Macht als einer Substanz, doch tradieren nahezu alle die problematische Dualität von Macht und Freiheit und begreifen Macht daher durchgängig als “Konfrontation von Macht und Freiheit: Alle Machtanwendung ist Freiheitsbegrenzung. Jede Macht ist daher rechtfertigungsbedürftig” (Popitz 1992, 15). Sowohl Webers handlungstheoretisches Verständnis von Macht als einer ‘Durchsetzungschance gegenüber anderen’ als auch Marx’ strukturalistisches Verständnis von Macht als einer übergreifenden und ebenso einschränkenden wie entfremdenden Struktur ziehen ihre Plausibilität daraus21. Auch noch Habermas’ architektonisch tragende Unterscheidung von kommunikativem Verständigungs- und strategischem Durchsetzungshandeln belegt die Dominanz traditioneller Begriffsfassungen22. Ihr Manko scheint mir dabei weniger eine wie auch immer unterstellte 21
Vgl. dazu die Überlegungen Röttgers, der die “Behauptung, daß Macht nicht in die Handlungstheorie gehört”, in der Tradition des “Historischen Materialismus” verortet – “Hier werden soziale Strukturen durchweg als subjektunabhängige Machtverhältnisse interpretiert” (Röttgers 1990, 321) – und mit einer Marxschen Formulierung belegt: “Diese Art [kapitalistischer] individueller Freiheit ist daher zugleich die völligste Aufhebung aller individuellen Freiheiten und die völlige Unterjochung der Individualität unter gesellschaftliche Bedingungen, die die Form von sachlichen Mächten, ja von übermächtigen Sachen – von den sich beziehenden Individuen selbst unabhängigen Sachen – annehmen” (Marx, zit. Röttgers 1990, 321). Es ist vielleicht nicht zufällig, dass aber strukturalistisch nur selten eine Theorie der Macht vorgelegt worden ist, scheint doch die Verhaftung des Machtbegriffs in handlungstheoretischen Zusammenhängen zu dominant.
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Dass damit allein Habermas’ schillerndes Machtverständnis nicht getroffen ist, sei angemerkt. Der Einsicht in die performative Macht der Sprachpraxis geschuldet sucht Habermas gerade im Anschluss an die Überlegungen Arendts und in der Abwendung von teleologisch-zweckrationalen Handlungsmodellen, die ausschließlich individualtheoretisch argumentieren und daher notwendig Freiheit und Macht scharf kontrastieren müssen (Weber), Macht kommunikationstheoretisch zu reformulieren, ohne jedoch dem dualistischen Aufriss – aus normativen Gründen – entkommen zu wollen: “Das Grundphänomen der Macht ist nicht die Instrumentalisierung eines fremden Willens für eigene Zwecke, sondern die Formierung eines gemeinsamen Willens in einer auf Verständigung gerichteten Kommunikation” (Habermas 1978, 104). Während Macht so an Kommunikation und Verständigung gebunden ist, sucht Habermas den Begriff der Gewalt als Gegenpol aufzubauen, indem er diesen an strategisches Durchsetzungshandeln und systemische
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Unrichtigkeit zu sein als vielmehr deren Unfähigkeit, die unterschiedlichen Gemengelagen von Macht und Freiheit angemessen thematisieren zu können; dies aber – so ließe sich bereits hier diagnostizieren – scheint eine der überaus zentralen Aufgaben einer gegenwärtigen Theorie der Macht zu sein. Formulierungssicher und überaus pointiert findet sich diese Einschätzung als Tenor der Ouvertüre in den phänomenologisch reichhaltigen Arbeiten von Wolfgang Sofsky und Rainer Paris (Sofsky / Paris 1994 wie Paris 1998). Ihren soziologischen Studien zu ‘Autorität’ (Sofsky / Paris 1994, 21-156), ‘Stellvertretung’ (ebd. 157-247), ‘Koalition’ (ebd. 248-379) wie aber auch zu ‘Drohungen’ (Paris 1998, 13-56), ‘Seilschaft’ (ebd. 139-151), ‘Schimpfklatsch’ (ebd. 127-138) und ‘Intrige’ (ebd. 195-211) liegt die zentrale Annahme zugrunde, dass Macht und Freiheit letztlich unvereinbar sind, so dass Macht als ‘sozialer Zwang’ verstanden werden kann, dem man immer wieder zu entrinnen sucht (vgl. Sofsky / Paris 1994, 20). Auch wenn bisweilen Macht die Freiheit verteidigt, “sie vor fremden Übergriffen” (ebd. 1994, 9) schützt und die “eigene Selbständigkeit” (ebd.) zu bewahren hilft, ist Macht immer “Freiheit zur Vernichtung von Freiheit”: “Sie erweitert die Freiheit des einen gegen den anderen, indem sie sein Nein bricht, seine Freiheit negiert” (ebd.). Dabei resultiert diese grundsätzliche Oppositionalität auch aus einem überwiegend individualtheoretischen Zugriff, in dem der eine als Grenze des anderen gilt: “Denn das Handeln des einen endet am Widerstand des anderen, seiner unhintergehbaren Selbständigkeit und Freiheit, etwas anderes zu tun, als von ihm erwartet wird. Dagegen geht die Macht vor” (ebd.). Was aber bei aller Triftigkeit damit ungesehen bleibt, ist das Problem sozial ermöglichter Freiheit; wie Macht so ist auch Freiheit ein soziales Geschehen, das “beginnt, wenn Menschen aufeinander treffen” (ebd. 12), und nicht – z.B. natural begründet – als vorgängig behauptet werden kann. Die immer wieder von den Autoren beanspruchte These, dass “in den Machtfigurationen [...] die Menschen alles andere als frei” sind (ebd. 16), mag zutreffen für die Seite der Macht, sagt aber nichts – oder bloß irreführendes – aus über die Seite der Freiheit. Uneingestanden zehrt sie trotz reklamierter Ubiquität und Omnipräsenz der Macht – “Die Macht ist immer schon da” (ebd. 10) – von der Hypostasierung möglicher Überformung zu binden sucht: “Mit dem Kommunikationsbegriff der Macht können wir die Institutionalisierung von Gewaltverhältnissen als eine Transformation von Gewalt in eine mit dem Schein der Legitimität ausgestattete Macht verständlich machen. Wenn man die Gewalt als Alternative zum handlungskoordinierenden Verständigungsmechanismus und Macht als Produkt verständigungsorientierten Handelns einführt, gewinnt man weiterhin den Vorteil, die Formen indirekter Gewaltausübung, die heute dominieren, in den Griff zu bekommen” (Habermas 1984, 548) – ein jedoch nur vermeintlicher Vorteil, ist er doch erkauft mit einer mehr als bloß kontraintuitiven Diffusion des Gewaltbegriffs. Denn weder lässt sich strategisches Handeln überhaupt – auch politisch – als eine Form der Gewalt kennzeichnen, noch ist es plausibel, kommunikatives Handeln auf (gar konsensuelle) Verständigung festzulegen. Das Ergebnis ist durchaus verstörend: Macht erscheint als ‘Doppel’ von ‘Zusammenschluss’ wie produktiver Handlungskoordinierung und ‘Instrumentalisierung’ wie strategischer Einflußnahme zugleich; dazu Habermas später: “Als Soziologe hätte ich wissen müssen, daß ein Kontinuum zwischen der bloß faktisch eingewöhnten und der in normative Autorität verwandelten Macht besteht. [...] Was ich fälschlich für einen kategorialen Unterschied gehalten habe, schrumpft zu einem graduellen” (Habermas 1986, 361f.; vgl. dazu auch Wagner / Zipprian 1988). Damit aber fällt auch die strikte Trennung bzw. typologische Unterscheidung von kommunikativem und strategischem Handeln; Kommunikation dient nicht nur der Verständigung, sondern auch der Auseinandersetzung, so dass Macht im Geflecht von Konsensualisierung und Dissensualisierung entsteht (vgl. Röttgers 1990, 298f.) und unweigerlich einen ‘Doppel’-Charakter erhält. Honneths zunächst überraschende Beobachtung, “daß Habermas den Begriff der Macht nicht mehr handlungstheoretisch, sondern nur noch systemtheoretisch einzuführen vermag” (Honneth 1989, 317), mag die zu ziehenden Konsequenzen illustrieren helfen, soll eine klare Aufteilung der Begriffe (und auch Phänomene) beibehalten werden. Damit aber lässt sich auch eine Rückkehr zu traditionellen Begriffsfassungen diagnostizieren, die auch der normativ argumentierenden Kritik des Machtkonzepts Foucaults zugrunde liegt, der er sowohl methodologische als auch normative ‘Zweideutigkeit’ im Begriff der Macht vorwirft (vgl. Habermas 1985, 317f.) – und damit mögliche Eindeutigkeit suggeriert, die er selbst begrifflich nicht einzulösen vermag.
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Freiheiten jenseits aller Machtfigurationen und fällt damit eher intuitiv in vergegenständlichbare Dimensionen zurück. Der machttheoretisch nicht widerlegbare und überaus fruchtbare Gedanke, dass auch in geronnener Struktur und Organisation Macht sich immer sozialer Verhältnisse verdankt und auf diese Prozesse zurückgeführt werden können muss – “Was einer hat und einsetzen kann, ergibt sich aus der Stellung, in der er zu den anderen steht” (ebd. 14) –, gilt auch freiheitstheoretisch uneingeschränkt. Insofern aber Macht wie Freiheit (allerdings zu unterscheidende) “Modi des Sozialen” (ebd. 15) sind, lässt sich deren strikte Oppositionalität nicht konsistent durchhalten.
Entlang einer zweiten Achse lassen sich nun aber auch Positionen einer Differenzierung und Präzisierung des Machtbegriffs gruppieren, die aus der traditionell leitenden Oppositionalität von Freiheit und Macht herausführen (1) und – darin nur konsequent – eine Zwischendimension zwischen Handlung und Struktur anstreben und damit einer ausschließlich handlungstheoretischen Fassung zu entkommen suchen (2). Ihr Tenor ist dabei die Einschätzung, dass Macht sich nur um einen theoretisch kaum eingehbaren Preis normativ verklaren lässt, so dass – trotz aller praktizierten (und nicht verzichtbaren) begrifflichen Abgrenzungen von Zwang, Gewalt und Herrschaft – Macht selbst nur als ‘Doppel’ thematisch werden kann. Die dabei durchgängig eingeschlagene relationale Erläuterungsperspektive erlaubt es, Macht nicht nur als Verhältnis unterschiedlicher Kräfte (und Gegenkräfte) zu kennzeichnen, sondern auch deren gegenseitiges Bedingungsverhältnis zu erläutern. Insgesamt führt dies – so das vorweggenommene Fazit der folgenden nur exemplarischen Erkundungen – zu einer Reformulierung des Begriffs der Macht als einer ‘Führung der Führungen’ (Foucault). (1) Insbesondere mit den soziologischen Untersuchungen Georg Simmels zum Problem der ‘Über- und Unterordnung’ (vgl. Simmel 1992, 160-283) (a) und Hannah Arendts pointierter Unterscheidung von ‘Macht und Gewalt’ (vgl. Arendt 1970) (b) lässt sich eine erste machttheoretisch bedeutsame Verschiebung exemplarisch festhalten: Freiheit und Macht sind nicht nur verschieden aufeinander bezogen, so dass deren gemeinhin unterstellte Oppositionalität schlicht zu kurz greift; vielmehr bedingen sie sich wechselseitig und verweisen darin auf eine oft unbeachtete Dimension, so dass der Zusammenhang von Macht und Freiheit, so der Leitfaden der folgenden zwei Rekonstruktionen, sich erst vom Phänomen der Sozialität her angemessen erläutern lässt. (a) Die soziologischen Untersuchungen Georg Simmels zum Problem der ‘Über- und Unterordnung’ (1908) sind ein erstaunlich frühes und differenziertes Plädoyer, Phänomene der Macht gerade in “ihrer Korrelation zur Freiheit” in den “soziologischen Gesichtswinkel” (Simmel 1992, 246) zu rücken: denn geht es in Macht gerade nicht nur darum, den Anderen zu eigenen Zwecken bloß zu bestimmen, sondern immer auch darum, “daß dieser Einfluß, diese Bestimmtheit des Andern auf ihn, den Bestimmenden, zurückwirke” (ebd. 160), so kann Macht gerade nicht als bloß “egoistische Rücksichtslosigkeit” (ebd.), sondern muss auch als wie auch immer begründetes und weitgehendes “Interesse” “am Andern” (ebd.) verstanden werden. Damit aber markiert Macht – diesseits der schiefen Alternativen von ‘Zweck an sich selbst’ und ‘bloßem Mittel’ – jene schwierigen Gemengelagen, in denen Freiheit und Macht ineinander verschränkt sind: “Genau angesehen, vernichtet das Über- und Unterordnungs-Verhältnis die Freiheit des Untergeordneten nur im Falle von unmittelbaren physischen Vergewaltigungen;
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sonst pflegt es nur einen Preis, den wir nicht zu bezahlen geneigt sind, für die Realisierung der Freiheit zu fordern und kann den Umkreis der äußeren Bedingungen, in dem sie sich sichtbar realisiert, mehr und mehr verengen, aber, außer in jenem Fall physischer Übergewalt, niemals bis zu völligem Verschwinden” (ebd. 161). Was Simmel hier zu unternehmen beabsichtigt, ist zum einen nichts weniger als der Versuch, gegen eine sichtlich verbreitete “populäre Ausdrucksweise” (ebd. 161), in der die “Ausschaltung jeglicher Spontaneität innerhalb eines Unterordnungsverhältnisses” (ebd.) suggeriert wird und in Redeweisen des “‘Zwanges’, des ‘Keine-Wahl-habens’” oder gar der “‘unbedingten Notwendigkeit’” (ebd.) sich niederschlägt, den Nachweis der “Mitwirksamkeit des untergeordneten Subjektes” (ebd. 162) zu führen und dadurch den zumeist normativ bedingten “oberflächlicheren Vorstellungsweise[n]” (ebd.) zugunsten einer präzisierten Analyse verschiedener ‘Über- und Unterordnungsverhältnisse zu entkommen. Denn selbst der ‘unbedingte Zwang’ des ‘grausamsten Tyrannen’ “ist tatsächlich immer ein durchaus bedingter” (ebd. 161), ist doch die vermeintliche Ausweglosigkeit – bei aller Nachvollziehbarkeit – “dadurch bedingt, daß wir den angedrohten Strafen oder sonstigen Konsequenzen der Unbotmäßigkeit entgehen wollen” (ebd. 161). Zum anderen aber taucht ein Gedanke auf, der – wenn auch nicht weiter ausgeführt – auch Freiheit nicht bloß individuell attribuiert und als menschlich-personales Vermögen fasst, sondern seinerseits an Sozialität bindet: auch die “Realisierung der Freiheit” (ebd. 161) ist an andere gebunden, so dass Selbstbestimmung und Fremdbestimmung gerade nicht weiter oppositional denkbar sind. Simmel zieht aus seinen soziologischen Beobachtungen dreierlei machttheoretische Konsequenzen: Über- und Unterordnung müssen erstens als “komplizierte Wechselwirkung” (ebd. 165) begriffen werden, in der es weder “absolute(s) Beeinflussen” noch “absolute(s) Beeinflußtwerden” (ebd.) gibt, so dass auf beiden Seiten Aktivität und Passivität sich ineinander verschränken; sowohl der vermeintlich bloß Passive ist seinerseits aktiv, so dass sich auch der Aktive selbst trotz seiner ‘Führerschaft’ einer Situation “bestimmende[r] und lenkende[r] Rückwirkung” (ebd. 164) ausgesetzt sieht: “Alle Führer werden auch geführt” (ebd.). Diese enge ‘Wechselwirksamkeit’ lässt sich aber zweitens nicht nur auf Phänomene der Über- und Unterordnung beziehen, sondern gilt auch für – analog strukturierte – Befreiungsprozesse, so dass auch “Befreiung von Unterordnung” (ebd. 252) nicht bloß auf “Nicht-Beherrschtwerden” (ebd. 254) zielt, sondern fast immer auch als neuer “Gewinn irgendeiner Herrschaft” (ebd. 252) erläutert werden kann: “daß das Erstreben und Gewinnen von Freiheit, in ihren mannigfachen, negativen und positiven Bedeutungen, sogleich das Erstreben und Gewinnen von Herrschaft zum Korrelat oder zur Folge hat” (ebd. 260), ist dann nur allzu einsichtig. Schließlich – so Simmel wegweisend – lässt sich diese wechselseitige Korrelation von Freiheit und Macht aber nur angemessen beschreiben mit dem Begriff der ‘Führung’ (vgl. ebd. 163 wie bes. 164), der sowohl in der Führung durch andere die eigene Aktivität mitzudenken erlaubt als auch die eigene Führung selbst als ‘geführt’ auszusagen vermag (vgl. 164). So markieren Simmels Überlegungen zur Relationalität von Macht als einem Verhältnis gleichzeitiger ‘Über- und Unterordnung’ einen nicht nur (gegenüber Webers Machtverständnis auch früheren) anders justierten Erläuterungsansatz, der die bisherigen Einseitigkeiten vermeiden helfen kann, sondern sie verschieben auch den Focus der machttheoretischen Überlegungen: nicht nur lässt sich moralische Vereindeutigung nur um den Preis soziologischer Unschärfe erkaufen (vgl. ebd. 161), so dass Macht nicht nur – und vielleicht sogar am wenigsten – als normativ entscheidbares Problem gehandelt werden kann und die Ambivalenz der Macht auch theoretisch in Rechnung gestellt werden muss; vielmehr erzwingen die Untersuchungen Simmels auch eine anders akzentuierte Perspektivierung des handelnden Subjekts und eröffnen einen ersten Ausgang aus individualtheoretischen Sackgassen, in denen das ‘subiectum’ als ausschließlich ‘Zugrundeliegendes’ und insofern konstitutiv Vorgängiges thematisiert wird (vgl. auch Ricken 1999a). Was zunächst eigentümlich ‘anthropologisch’ hypostasiert und moralistisch klingt, lässt sich aber auch analytisch erläutern: “Der Mensch hat ein inneres Doppelverhältnis zum Prinzip der Unterordnung: er will zwar einerseits beherrscht sein” – “die
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Mehrzahl der Menschen kann nicht nur ohne Führung nicht existieren, sondern sie fühlen das auch, sie suchen die höhere Gewalt, die ihnen die Selbstverantwortlichkeit abnimmt, und eine einschränkende, regulierende Strenge, die sie nicht nur gegen außen, sondern auch gegen sich selbst schützt” (ebd. 171) –, andererseits aber braucht er “die Opposition gegen diese führende Macht” (ebd.). Kurzum: erst in “Gehorsam und Opposition” als den zwei “Seiten [...] eines in sich ganz einheitlichen Verhaltens des Menschen” erlangen die Menschen – “gleichsam durch Zug und Gegenzug”– “die richtige Stelle im inneren Lebenssystem” (ebd.). Analytisch gelesen markiert Simmel damit Subjektivität als ‘situierte Existenz’ (Meyer-Drawe): weder bloß Produkt der Macht und insofern ‘Unterworfene’ noch freie Tat ihrer selbst und insofern ‘Unterwerfende’ entkommt ihre (nichthintergehbare) Führung des eigenen Lebens den Führungen anderer nicht; erst in ihrer Verschränkung – bestimmt wie bestimmend zu sein – lässt sich die Eigenart menschlichen Existierens fassen. (b) Ähnlich bedeutsam, zumeist jedoch unter der von Habermas eingenommenen normativen Perspektivierung von Macht auch verzeichnet (vgl. Habermas 1978 wie exemplarisch Kobusch u.a. 1982, 612), lassen sich die Überlegungen Hannah Arendts zu ‘Macht und Gewalt’ (Arendt 1970) lesen als ein ebenso politisch wie theoretisch motiviertes Insistieren auf der Differenz von Gewalt und Macht, das bei ihr schließlich zu einer positiven Wertschätzung von Macht führt, die in Sozialität von Anfang an eingeschrieben ist, ja sie allererst (auch) ausmacht wie ermöglicht. Wiederum gegen einen “unachtsamen Sprachgebrauch” (Arendt 1970, 44) gerichtet und die damit verknüpfte Überzeugung, dass es bei Macht bloß um politische Herrschaft ginge (vgl. ebd. 45), bestimmt Arendt Macht als die “menschliche Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln” (ebd. 45). Aus bisherigen Überlegungen mehr als vertraut liest sich ihre Begründung als – dann aber deutlich frühere – Bündelung neuerer machttheoretischer Befunde: “Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält. Wenn wir von jemandem sagen, er ‘habe die Macht’, heißt das in Wirklichkeit, daß er von einer bestimmten Anzahl von Menschen ermächtigt ist, in ihrem Namen zu handeln” (ebd.)23. Diesem Verständnis von Macht setzt sie einen scharf abgegrenzten Begriff der Gewalt entgegen und widerspricht damit – leidenschaftlich – der allgemeinen “Meinung [...], daß Macht und Gewalt dasselbe sind” und “Gewalt nichts weiter ist als die eklatanteste Manifestation von Macht” und “aufs höchste gesteigerte Macht” (ebd. 36). Während Macht durch soziale Unterstützung, Zustimmung und Ermächtigung kennzeichenbar ist und so als Macht allererst sozial entsteht, ohne durch eine äußere Zwecksetzung bestimmt wie bestimmbar sein zu können (vgl. ebd. 53), markiert Gewalt – so Arendt – ein ‘instrumentelles Verhältnis’, das der Werkzeuge als Gewaltmittel ebenso bedarf wie einer Zwecksetzung, die sie dirigiert (vgl. ebd. 52). Ihre immer wieder wiederholte und ausdrücklich typologisch pointierte (und überzogene) Leitthese – “Macht und Gewalt sind Gegensätze: wo die eine absolut herrscht, ist die andere nicht vorhanden. Gewalt tritt auf den Plan, wo Macht in Gefahr ist; überlässt man sie den ihr selbst innewohnenden Gesetzen, so ist das Endziel, ihr Ziel und Ende, das Verschwinden von Macht. [...] Gewalt kann Macht vernichten; sie ist gänzlich außerstande, Macht zu erzeugen” (Arendt 1970, 57) – erläutert sich aber in ihrer Plausibilität erst im Rückgriff auf ihren Begriff des Handelns. Denn markiert ‘Handeln’ – wiederum scharf abgegrenzt gegen ‘Arbeit’ und ‘Herstellen’ als zwei anderen, dem ‘Handeln’ aber untergeordneten menschlichen Tätigkeiten 23
Analog dazu formuliert Arendt bereits 1958 in ‘Vita activa’: “Wir erwähnten bereits, daß Macht überall da entsteht, wo Menschen sich versammeln und zusammen handeln, und daß sie immer dann verschwindet, wenn sie sich wieder zerstreuen” (Arendt 1981, 240). Das Komplement dieser These – die durch Trennung von einander provozierte Machtlosigkeit aller miteinander – hat sie bereits in ihren frühen Arbeit zur ‘Organisierten Schuld’ (vgl. Arendt 1946) angedeutet und in ihren Totalitarismusstudien ausgearbeitet (vgl. Arendt 1986, insbes. 954-979).
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(vgl. Arendt 1981, 14f.) – die Fähigkeit des Menschen, ‘selbst einen Anfang’ machen zu können und ‘etwas Neues’ hervorzubringen (vgl. Arendt 1981, 15 u.ö.), so ist erst mit ihr die Dimension des ‘Menschlichen’ erreicht, in der Freiheit praktisch wird. Ist aber Handeln immer an das “Faktum der Pluralität” – “nämlich die Tatsache, daß nicht ein Mensch, sondern viele Menschen auf der Erde leben und die Welt bevölkern” (ebd. 14) – gebunden, so kann Freiheit gerade nicht als Unbestimmtheit, Unabhängigkeit und “Souveränität” (Arendt 1981, 229 wie auch 1970, 10) begriffen werden. Doch markiert diese durchaus intuitive “Gleichsetzung von Souveränität und Freiheit” nicht nur einen zwar “grundsätzlichen”, aber insofern durchaus lässlichen “Irrtum” (Arendt 1981, 229); vielmehr wird sie in Arendts weiterer Argumentation ihrerseits als subtiler Mechanismus durchschaubar, in der Zerstörung des Handelns durch den “Sieg des animal laborans” (Arendt 1981, 312) die Freiheit der Menschen (als der Fähigkeit, produktiv zu handeln und einen Anfang zu setzen) im (vermeintlichen) Namen der Freiheit (als anzustrebender Unabhängigkeit und Souveränität) aufzuheben bzw. erheblich zu beeinträchtigen. Arendts Grundgedanke sei kurz skizziert: entlang Arendts leitender Überzeugung – “Für Menschen heißt Leben [...] so viel wie ‘unter Menschen weilen’ (inter homines esse)” (Arendt 1981, 15) – ist Handeln unweigerlich Moment menschlichen Zusammenseins und notwendig an Zusammenhandeln gebunden. “Handeln”, so erläutert Arendt den “Unterschied zum Herstellen, ist in Isolierung niemals möglich; jede Isoliertheit [...] beraubt der Fähigkeit zu handeln” (ebd. 180). Sind nun “Handeln und etwas Neues Anfangen dasselbe” (ebd. 166), so kann Handeln gerade nicht als Realisierung einer individuellen Potenz, etwas Neues aus sich heraus setzen zu können, vorgestellt werden, sondern seinerseits sozial dimensioniert werden: “Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein, die existierte, bevor wir in sie geboren wurden, und diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen” (ebd. 165). In dieser ‘Einschaltung’ treten wir nicht nur in Erscheinung (wie wir von außen auf eine Bühne treten), sondern werden wir erst ein ‘Jemand’, der vorher nicht Nichts, aber ein Niemand war (vgl. ebd. 166) – denn ‘Jemand’ ist einer nur für (und durch) andere: “was letztlich nichts anderes sagen will, als daß die Erschaffung des Menschen als eines Jemands mit der Erschaffung der Freiheit zusammenfällt” (ebd. 166). Von Menschen in eine schon bestehende Menschenwelt geboren (vgl. ebd. 174) markiert Arendt ‘Menschwerdung’ strukturell sozial, so dass Sozialität nicht durch Addition der Individuen bestimmt und Individualität nicht aus Sozialität abgeleitet werden kann. ‘Pluralität’ meint daher gerade nicht bloß die Tatsache des Plurals der Menschen, in mehreren “Exemplaren der gleichen Spezies” (Arendt 1970, 28) vorzukommen, sondern jene eigentümliche menschliche ‘Conditio humana’, erst im Zusammensein mit anderen zum eigenen Sein kommen zu können; sie ist folgerichtig daher eine “Vielheit, die die paradoxe Eigenschaft hat, daß jedes ihrer Glieder in seiner Art einzigartig ist” (Arendt 1981, 165). Handeln – so ließe sich folgern – markiert demnach die Möglichkeit der Unterbrechung. Weil es eingebunden ist (und nicht von außen dazu stößt) gehören “Handeln und Dulden” (ebd. 182) immer zusammen, so dass das Getane immer auch erlitten wird und – mindestens der Möglichkeit nach – eigenständiges Handeln hervorruft. Nur so erläutert sich Arendts oft kolportierter “Tatbestand, daß niemand die Folgen der eigenen Tat je voll übersehen kann” (ebd. 184), ohne deswegen von einer Verantwortung gänzlich dispensiert werden zu können (vgl. auch Röhr 2002). Doch ist die “Unabsehbarkeit der Folgen des Handelns” nicht nur durch Andershandeln anderer bedingt; vielmehr ist dem Handelnden selbst unklar, “wen er eigentlich als sich selbst zur Schau stellt” (Arendt 1981, 185), ist er doch selbst ‘Jemand’ nur durch andere, insofern Selbstbezug und Fremdbezug sich wechselseitig bedingen. Diese nun nicht nur theoretisch diagnostizierten, sondern allererst praktisch eminent bedeutsamen und existentiell tragischen “Aporien des Handelns” (ebd. 185) – die Unabsehbarkeit der Konsequenzen, das Nicht-wiederRückgängigmachen-Können der einmal begonnenen Prozesse als auch eine fundamentale Nichtberechenbarkeit und Vorausschaubarkeit (vgl. ebd. 214 wie auch 228f.) – provozieren
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immer wieder neu Versuche, “Handeln durch Herstellen zu ersetzen und überflüssig zu machen” (ebd. 214): “Allgemein gesprochen, handelt es sich nämlich immer darum, das Handeln der Vielen im Miteinander durch eine Tätigkeit zu ersetzen, für die es nur eines Mannes bedarf, der abgesondert von den Störungen durch die anderen, von Anfang bis Ende Herr seines Tuns bleibt” (ebd.). Souveräner ‘Herr seines Tuns’ aber sein zu wollen ist dabei nicht nur einem “grundsätzlichen Mißtrauen gegen menschliches Handeln” (ebd. 216), sondern (auch und vor allem) dem – gänzlich untauglichen – Versuch geschuldet, die eigene “menschliche Bedingtheit” (ebd. 16) zu leugnen und den strukturell miteinander verwandten Bedingungen der Existenz – Natalität, Mortalität und auch Pluralität als jeweilig unterschiedlichen Kennzeichnungen der Unmöglichkeit, allein aus sich selbst sein zu können (vgl. Arendt 1970, 16f.) – zu entkommen (vgl. Arendt 1981, 215 wie 229f.). “Wo immer Pluralität ins Spiel kommt, ist Souveränität nur in der Einbildung möglich, und der Preis für sie ist die Wirklichkeit selbst” (ebd. 230); Weltlosigkeit ist ihre unmittelbare Folge (vgl. ebd. 312). Arendt illustriert diese menschliche “Zerbrechlichkeit” (ebd. 227) und gegenseitige Angewiesenheit an zwei in der Tat elementaren wie auch anrührenden Phänomenen und belegt darin die Nichthintergehbarkeit von Sozialität: “Das Heilmittel gegen Unwiderruflichkeit– dagegen, daß man Getanes nicht rückgängig machen kann, obwohl man nicht wußte, und nicht wissen konnte, was man tat – liegt in der menschlichen Fähigkeit zu verzeihen. Und das Heilmittel gegen Unabsehbarkeit – und damit gegen chaotische Ungewißheit alles Zukünftigen – liegt in dem Vermögen, Versprechen zu geben und zu halten” (ebd. 231). Insbesondere in und an diesen beiden Fähigkeiten ließe sich verdeutlichen, woran Leben als der Existenz eines Jemands hängt und welcher Sinn mit ihm verknüpfbar ist (vgl. ebd. 231-243): der “Sinn des Sinns” – so ließe sich zugespitzt formulieren – ist “geteilter Sinn” (Reichenbach 2001, 429). In dieses soziale Feld der (nur durch Differenzen gekennzeichneten) Pluralität hat Arendt nun den Begriff der Macht situiert als Fähigkeit des Zusammenhandelns; ihre scharfe Kontrastierung mit Gewalt zielt dabei auf die jeweilige Neuermöglichung von Handeln und damit auf die Realisierung von menschlicher Freiheit (vgl. Arendt 1970, 7-35) als Kritik, Unterbrechung und vielleicht Außerkraftsetzung gegenwärtiger Prozesse der Reduktion des Menschlichen und der damit einhergehenden “Ohnmacht der Macht” (Arendt 1970, 85). Denn Ohnmacht provoziert Gewalt (vgl. ebd. 55): “wir wissen [...], daß jeder Machtverlust der Gewalt Tür und Tor öffnet, und sei es nur, weil Machthaber, die fühlen, daß die Macht ihren Händen entgleitet, der Versuchung, sie durch Gewalt zu ersetzen, nur sehr selten in der Geschichte haben widerstehen können” (ebd. 86). Soll Gewalt aber – auch als ‘Gegenwehr’ gegen Reduktion, ‘Verohnmächtigung’ und verhängte Weltlosigkeit – verhindert werden, gilt es Macht als veränderte Sozialität zu ermöglichen – und vorab als Bedingung der Möglichkeit von Freiheit bewusst zu machen. Politisch resultiert daraus ein überaus engagiertes Plädoyer für Demokratie und Öffentlichkeit als einem ‘Widerstreit’. Kritisch gegen die Geschichte grausamer ‘Menschenvernichtungserfahrungen’ gewendet: nicht nur stellt sich plötzlich heraus, “daß alles von der Macht abhängt, die hinter der Gewalt steht” (ebd. 50); vielmehr muss auch selbstkritisch eingesehen werden: “es hat nie einen Staat gegeben, der sich ausschließlich auf Gewaltmittel hätte stützen können. Selbst die totale Herrschaft, deren wesentliche Herrschaftsmittel Konzentrationslager, Polizeiterror und Folter sind, bedarf einer Machtbasis [...]. Selbst das despotischste Regime [...] beruhte nicht auf der Überlegenheit der Machtmittel als solchen” (ebd. 51). ‘Totalitarismus’ ist daher – wie sooft fälschlich unterstellt – gerade nicht Überwältigung und nur wehrlos hinnehmbare Unterdrückung oder gar Determinierung durch Zwang und Terror, sondern immer auch eine auf Anerkennung und Unterstützung durch die jeweilig Betroffenen angewiesene Form der Gewaltherrschaft24. Analytisch bedeutsam ist daher die jeweilige 24
Diesen Gedanken – “Was niemals aus den Gewehrläufen kommt, ist Macht” (Arendt 1970, 54) – hat Arendt eindrücklich in ‘Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft’ (Arendt 1986) ausgearbeitet, deren Grundmechanismus sie folgerichtig so benennt: “Totale Herrschaft, die darauf ausgeht, alle Menschen in ihrer
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Figuration von Sozialität: sowohl voneinander getrennt und insofern als Sozialität qua Pluralität zerstört zu sein, als auch durch Überwachung, Bespitzelung und Terror zu kollektiver Sozialität qua Homogenität neuerlich zusammengefügt zu sein. Machttheoretisch folgt daraus viererlei: Macht ist erstens nicht nur mit Freiheit verknüpft, so dass deren – wenn denn noch immer aufrechterhaltene – Oppositionalität schlicht inkonsistent wird, sondern auch als Bedingung von Freiheit auslegbar. Sie lässt sich zweitens nur vollständig unzureichend in einem individualtheoretischen Aufriss erläutern und muss daher relational als ‘Figuration’ (Elias) konzipiert werden. Relationen aber bleiben unverstanden, werden sie bloß als (auch wechselseitig gedachtes) äußerliches Verhältnis von x und y verstanden, so dass x y gilt; vielmehr geht es darum, x und y als wechselseitige Bedingung voneinander zu erläutern, so dass x(y) y(x) gilt. Arendts phänomenologische Überlegungen zur ‘conditio humana’ können überzeugend darin einführen, erläutern sie doch menschliche Existenz als situierte – weder Sozialität vorgeordnet (und insofern deren Bedingung) noch ihr nachgeordnet (und insofern deren Produkt). Drittens bindet Arendt in ihrer existenzialen Perspektive Macht an menschliche Bedingtheit und Endlichkeit, die so als nicht verzichtbarer Kontext jeder machttheoretischen Reflexion gelten können. Folgt man nun viertens der Kritik Habermas’ (vgl. Habermas 1978, 114f. wie 120f.), dass Macht und Gewalt sich so trennscharf vielleicht nur analytisch unterscheiden lassen, insofern nicht jede Gewalt durch Macht getragen sein muss wie nicht jede Zerstörung von Handelnkönnen bereits Gewalt ist (vgl. ebd. 115) – erkennbar in Strategie wie in Problemen sog. ‘struktureller Gewalt’ –, so ließe sich im Anschluss an Arendt der immer wieder beanspruchte Doppelcharakter der Macht auch konzeptionell zurückgewinnen: Macht ist nicht nur sozial gedachte Handlungsmacht und insofern Freiheitschance wie -bedingung, sondern als unvermeidbare Form der ‘Führung der Führungen’ (Foucault) auch deren Beschneidung und Beeinträchtigung (ohne damit den relationalen Charakter aufzuheben, wie es in Gewalt erfolgt). Beides aber als Macht zu kennzeichnen erzwingt es auch, Macht als Verhältnis verschiedener Kräfte und Gegenkräfte zu interpretieren; ihre jeweiligen Hauptfunktionen sind dann Verknüpfung (und Zusammenschluss) und Trennung (und Vereinzelung).
(2) Wurde Macht bislang ausschließlich handlungstheoretisch konzipiert und – traditionell – als ‘Durchsetzungschance’ wie ‘Beeinflussungsmöglichkeit’ an Intentionalität und Kausalität gebunden und so in das Dual von Selbst- und Fremdbestimmung eingespannt, so nimmt insbesondere Niklas Luhmann in seiner Kritik der klassischen Machttheorie (b) eine Weiterung des Machtbegriffs vor, die sich – im Anschluss an Peter Bachrachs und Morton S. Baratzs Unterscheidung ‘zweier Gesichter der Macht’ (a) – als Markierung einer dritten, systemischen Dimension der Macht verstehen lässt. Gegen die immer wieder unterstellte und zumeist normativ motivierte vermeintliche “Machtblindheit der Systemtheorie” sucht Luhmann, die “Systemblindheit der Machttheorie” (Luhmann 1969, 169) nachzuweisen, und gelangt zu einer Neufassung des Machtbegriffs als eines – Struktur und Handlung vermittelnden – ‘Mediums’. Es ist insbesondere dieser systemtheoretische Problemzugriff, der – trotz unendlichen Pluralität und Verschiedenheit so zu organisieren, als ob sie alle zusammen nur einen einzigen Menschen darstellten, ist nur möglich, wenn es gelingt, jeden Menschen auf eine sich immer gleichbleibende Identität von Reaktionen zu reduzieren, so daß jedes dieser Reaktionsbündel mit jedem anderen vertauschbar ist” (Arendt 1986, 907; vgl. auch ebd. 958f. wie 961 und 969). Dass aber diese – im deutschen Faschismus konkret erfahrbare – Vernichtung des ‘Zwischenraums’ zwischen Menschen überhaupt ‘erfolgreich’ sein konnte, hat demnach seine Gründe gerade nicht im ‘Terror’ allein, sondern in der Bestärkung und Anerkennung eines bereits weit älteren sozialen Misstrauens. Vgl. dazu auch ihre Überlegungen zur ‘organisierten Schuld’ in Arendt 1946.
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mancher methodologischer Schwierigkeiten – die eingefahrenen Argumentationswege bisheriger Machttheorie aufgebrochen und zu verlassen verholfen hat. (a) Dabei geht diese systemisch orientierte Kritikperspektive auf eine frühe politikwissenschaftliche Auseinandersetzung im amerikanischen Diskurs zurück, die sich – entlang der Frage ‘Who governs?’ (vgl. Dahl 1961) – an zunächst methodischen, dann auch konzeptionellen Schwierigkeiten der damaligen (kommunalen) Machtstudien entzündet hatte und inzwischen unter der Überschreibung ‘nondecisions’-Debatte längst Gemeingut machttheoretischer Erörterungen geworden ist (vgl. Offe 1977 wie auch Imbusch 1998, 11). In ihr haben v.a. Peter Bachrach und Morton S. Baratz die Aporien bisheriger Machttheorie als Resultat vermeintlich präziser, aber oberflächlicher Betrachtungsweisen scharfsinnig kritisiert und deren empirische wie systematische Unfruchtbarkeit nachgewiesen (vgl. Bachrach / Baratz 1962, 1963 wie 1977). In Auseinandersetzung mit zwei – nur typologisch rekonstruierten – Positionen eröffnen sie dabei eine dritte Perspektive: während die einen – die sogenannten ‘Elitisten’ – soziale Macht nur in einem “Modell der herrschenden Elite” (Bachrach / Baratz 1977, 47) als Durchsetzung mächtiger (Gruppen)Interessen verstehen können, gehen sie doch davon aus, dass Macht nur geordnet (und insofern personal zurechenbar) existiert, die soziale Stratifikation repräsentiert und auch geschichtlich akkumulierbar und insofern ‘schwerfällig’ ist (vgl. ebd. 44), behaupten die anderen – die sogenannten ‘Pluralisten’ – deren jeweilige Flexibilität und strategische Bündnisbindung; nicht feste Strukturen und Herrschaftszentren, sondern faktische Entscheidungsprozesse und die Möglichkeit der Teilnahme an ihnen implizierten Macht. Was praktisch offensichtlich als Streit unterschiedlicher politischer Richtungen verstanden werden kann, markiert auch theoretisch eine Konfrontation zweier differenter Zugänge: argumentieren die einen handlungstheoretisch, indem sie v.a. auf Intentionalität abstellen, um Beeinflussungsund Durchsetzungshandeln als Machthandeln erkennen und kennzeichnen zu können, beschränken die anderen schon aus empirischen Gründen ihre Analyse auf bloßes Verhalten und beschreiben Macht verhaltenstheoretisch als Kausalität. Beide jedoch focussieren Macht als in Handlungen enthaltenes Moment – sei es als im Durchsetzungshandeln erkennbarer Wille (der Beeinflussung etc.), sei es als im Prozess der Durchsetzung bedeutsame Teilnahme an Entscheidungsprozessen. Gegenüber diesen auf Erkennbarkeit (des Willens bzw. der Kausalität) angewiesenen Konzepte behaupten Bachrach und Baratz: “Es gibt zwei Gesichter der Macht” (ebd. 43). Nicht nur lässt sich Macht nicht nur auf die verrechnen, die entsprechende Positionen, gar Ämter inne haben, noch kann Macht überhaupt bloß als Entscheidungsprozess verstanden werden; vielmehr muss auch theoretisch das ‘weite Feld’ “an indirektem Einfluß” (ebd. 51) mitberücksichtigt werden, der darin besteht, bestimmte Alternativen gerade nicht zur Entscheidung kommen zu lassen: “Wenn man den relativen Einfluß ausschließlich an dem Vermögen mißt, Vorschläge einzubringen oder sein Veto dagegen einzulegen, dann übersieht man die mögliche Anwendung von Einfluß oder Macht, die darin bestehen kann, den Bereich von Initiativen einzuschränken [...] und potentiell gefährliche Streitpunkte gar nicht erst aufkommen zu lassen” (ebd. 53). In dieser “Existenz von Nicht-Entscheidungen” (ebd. 53) aber sehen beide das – weit bedeutsamere – ‘zweite Gesicht der Macht’ neben derer offensichtlichen Gestalt: “in a reasonably stable polity, power is mainly exercised not by those who make decisions nor by those who decide agendas, but by persons and groups who direct their energy to shaping or reinforcing predominant norms, precedents, myths, institutions, and procedures that undergird and characterize the political process” (Bachrach / Baratz 1975, 900f.). Doch stellen sich auch der empirischen Erforschung dieses ‘zweiten Gesichts der Macht’ beträchtliche Schwierigkeiten entgegen, solange die anvisierten Machtmechanismen nur als ‘Nicht-Entscheidungen’ oder in ihren Folgen nur als ‘Nicht-Ereignisse’ negativ umrissen werden können; zudem scheint auch bei Bachrach und Baratz unklar, ob es um ‘Nicht-Ent-
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scheidungen’ oder nicht doch um ‘Entscheidungen, dass nicht’ geht. Handlungstheoretisch jedenfalls ist es problematisch, mit dem Aspekt des ‘nondecision-making’ auch unbewusstes bzw. indirektes Handeln einbeziehen zu wollen. Nur konsequent hat daher genau diese Problemstellung zu unterschiedlichen Versuchen geführt, Macht selbst auch als strukturelles Moment zu reformulieren und damit dem – auch von Bachrach und Baratz noch verfolgten – “methodischen Individualismus” (Lukes 1974, 22) der bisherigen Machttheorie deutlicher zu entkommen. So haben insbesondere Steven Lukes (Lukes 1974) wie auch Johan Galtung (Galtung 1971 wie 1997) die von Bachrach und Baratz erarbeiteten ‘zwei Gesichter’ der Macht um eine dritte Dimension ergänzt, die mit ‘struktureller Gewalt’ (Galtung) zu bezeichnen ebenso längst geläufig wie immer noch umstritten ist. So versucht ein “three-dimensional view of power” (Lukes 1974, 25) – in kritischer Abarbeitung an bisherigen ‘ein-‘ und ‘zweidimensionalen’ Perspektiven (vgl. ebd. 11-25, Überblick 25) –, gerade jene Rahmenbedingungen und gesellschaftlichen Kontexte zu focussieren, die in handlungstheoretischer Sicht – sei es als ‘decision making’ oder als ‘nondecision making’ – unberücksichtigt bleiben müssen, weil sie sich weder auf identifizierbare Handlungssubjekte noch auf ‘Handlungsbedingungshandlungen’ zurückführen lassen können. Auch wenn die damit justierte Ebene einer systemischen “Metamacht” (Imbusch 1998, 11) weitgehend auf Zustimmung gestoßen ist, leiden die sowohl von Lukes als auch Galtung vorgestellten Versuche, systemische Bedingungen als ‘power’ oder gar ‘structural violence’ zu definieren, an der Schwierigkeit, ‘hinter’ der jeweiligen ‘Selbstbestimmung’ der Menschen nicht bloß generelle Einflussnahmen, sondern Manipulationen und Beeinträchtigungen (vgl. Lukes 1974, 34 wie Galtung 1971, 57) identifizieren zu können: “das Objekt der strukturellen Gewalt kann dazu überredet werden, überhaupt nichts wahrzunehmen. [...] Strukturelle Gewalt ist geräuschlos, sie zeigt sich nicht – sie ist im Grunde statisch, sie ist das stille Wasser [...], das als etwa ebenso naturgegeben betrachtet werden könnte wie die Luft, die uns umgibt ” (Galtung 1971, 67). So gewinnt Lukes Definition von Macht – “I have defined the concept of power by saying that A exercises power over B when A affects B in a manner contrary to B’s interests” (Lukes 1974, 34) – erst dann (allerdings umstrittene) Plausibilität, wenn eine Differenz zwischen Wünschen und Interessen eingezogen wird, die empirisch zu validieren vor enorme Schwierigkeiten stellt: “The three-dimensional view of power [...] maintains that men’s wants may themselves be a product of a system which works against their interests, and, in such a case, relates the latter to what they would want and prefer, were they able to make the choice” (ebd.). Auch Galtungs Definitionsversuch – “Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist as ihre potentielle Verwirklichung” (Galtung 1971, 57) – zehrt von einer zunächst durchaus einsichtigen Differenz, die – sowohl bei Galtung als auch bei Lukes – schließlich dazu führt, nahezu jede Art bloßer gesellschaftlicher Bedingtheit als ‘Fremdbestimmung’, ‘Macht’ und schließlich einschränkende ‘Gewalt’ markieren zu können. Offensichtlich aber erschwert dies die theoretische wie praktische Tauglichkeit solcher Ansätze erheblich: nicht nur, weil – gerade vor dem Hintergrund insgeheim unterstellter Autonomie des Subjekts – fast immer nur (diese) einschränkende gesellschaftliche und politische Bedingungen ausgemacht werden können, so dass die mit ‘Macht’ und ‘Gewalt’ sich formulierende Kritik auch stumpf werden kann; sondern auch, weil genau diese prinzipielle Unterstellung einer durchgängig möglichen freien Selbstbestimmung überaus problematisch ist und letztlich dazu führt, individuelles und soziales Sein letztlich doch grundsätzlich in Konkurrenz zueinander zu denken.
(b) Es ist das Verdienst Niklas Luhmanns, den benannten Aporien klassischer Machttheorie – empirische Erkennbarkeit des jeweiligen Machthandelns und Relevanz des Analysierten als einem umgekehrt proportionalen Verhältnis: je genauer die empiri-
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sche Justierung, desto unbedeutender (weil zunehmend beschränkter) die jeweiligen Aussagen und umgekehrt (vgl. Hradil 1980, 139) – in einer systemtheoretischen Perspektivierung der Problematik entkommen zu sein und einen sowohl konzeptionell gehaltvollen als auch empirisch durchaus operationalisierbaren Begriff der Macht als eines ‘symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums’ entworfen zu haben (vgl. Brodocz 1998). Luhmanns Überlegungen zum Problem der Macht nehmen ihren Ausgang von einer scharf akzentuierten (und bis heute durchgängig wiederholten) Kritik der vermeintlichen Prämissen ‘klassischer Machttheorie’ (vgl. Luhmann 1969 wie 2000)25: “Allen Machttheorien”, so ihr erster Einsatz, “liegt die Annahme von Kausalität zugrunde [...], verstanden als eine Beziehung von Ursachen und Wirkungen [...]. Im Rahmen dieses Vorverständnisses wird Macht als eine Ursache angesehen, durchweg als diejenige Ursache, welche den Ausschlag gibt und damit das Geschehen beherrscht. Demnach ist Macht über fremdes Verhalten dann gegeben, wenn das Verhalten bei Wegfall dieser seiner wesentlichen Ursache anders abliefe” (Luhmann 1969, 150). Doch stößt jeder Versuch, das Problem der Macht von der Seite möglicher Ursachen für dann als Wirkung kennzeichenbares Verhalten anzugehen, auf unzählige Schwierigkeiten: weder lassen sich bereits empirisch nahezu unendlich viele Bedingungen als (möglichen) Ursachen zu bestimmten Handlungen als deren (möglichen) Wirkungen eindeutig und kausal zuordnen, noch kann auch theoretisch “das Problem der Asymmetrie” (ebd.) – zwischen Bedingungen und Folgen ebenso wie zwischen Beobachtern und Beteiligten – allein kausaltheoretisch gehandhabt werden. Dabei ist die vermeintliche “Überforderung der Kausalkategorie” (ebd.) einer grundsätzlichen Unzulänglichkeit geschuldet: Kausalität ist gerade nicht strikt beobachtbar, sondern wird beobachtungs- wie auch beteiligungstheoretisch immer erst konstruiert und attribuiert, so dass erstens immer auch anders konstruiert werden kann, zweitens gar nicht alle Bedingungen sich erhellen lassen (vgl. auch Luhmann 2000, 22ff.) und schließlich bloß an die “Beobachtungsweise des Machthabers bzw. der Machtunterworfenen” (ebd. 26) angeschlossen werden muss. Aber auch jeder Versuch, so Luhmanns zweites Bedenken, angesichts dieser Schwierigkeiten auf Intentionalität als Machtkennzeichnung abzustellen, muss konsequent scheitern, lässt sich doch das beobachtete (und allein beobachtbare) Verhalten nur sehr unzureichend auf vermeintliche Absichten zurückführen wie überhaupt Absichten aufgrund der systemtheoretisch unterstellten ‘Intransparenz des Bewusstseins’ für fremdes Bewusstsein unzugänglich sind (vgl. Luhmann 2000, 25f.). Luhmanns lapidares Fazit – “Die Auffassung der Macht als einer Ursache reicht nicht aus, um an den Ursprung der Macht zu gelangen” (Luhmann 1969, 150) – lässt sich dann sowohl kausal- als auch intentionaltheoretisch lesen, verlieren sich doch beide Zugriffe notwendig im Unbestimmten. Dabei entwickelt Luhmann seine “Neukonzeption einer Theorie der Macht” (Luhmann 1969, 167) im Rahmen systemtheoretischer Begrifflichkeit auch als Antwort auf gegenwärtig diagnostizierbare Wandlungen des Machtphänomens: “Es fällt mithin auf, daß die [...] vermutlich größere Macht in der Form von Kommunikationen geübt wird, die sich nicht auf Zwangsmöglichkeiten stützen” (Luhmann 1969, 166) und insofern nicht repressiven, sondern auch produktiven Charakter haben (vgl. Luhmann 1975, 21). Ist Macht aber weder bloß Durchsetzungs- noch Beschränkungshandeln, muss es vielmehr – funktional – als Medium konzipiert werden; in erwartbarer Abstraktionslage – auch, weil die “klassische Theorie, [...] mit anderen Worten, zu konkret fixiert ist” (Luhmann 1969, 157) – formuliert Luhmann bereits 1969 Macht daher als einen “Selektionsvorgang”, “nämlich als Selektion von Verhaltensprä25
Wie so oft – auch hier verdankt sich die Plausibilität der Luhmannschen Position (auch) einer geradezu grob vereinfachenden Skizze der ‘theoretischen Gegner’, ist doch ‘Macht’ nie bloß als ‘bewirkende Ursache’ verstanden worden.
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missen für einen anderen” (ebd. 168). Ein solcher Zugriff erlaubt, Macht sowohl in der Selektivität konkreter Handlungen füreinander als auch in der “Selektivität von Systemstrukturen” (ebd. 151) zu verorten und hin auf deren jeweilige Funktion, “eine bestimmte Konstellation von Alternativen” (ebd.) zu konstruieren, zu analysieren; damit entkommt dieser Ansatz in seiner funktionalen Focussierung von Handlungsanschlussmöglichkeiten den Schwierigkeiten einer (oft substantial missverstandenen) Attribuierung von erkennbaren Ursachen, indem Macht als ein Mittel (und nicht als eine zuschreibbare Potenz oder gar Substanz) des “Prozessierens von Kontingenz” (Luhmann 1975, 118) gekennzeichnet wird. Zugleich gelingt damit eine weitere, überaus folgenreiche Weichenstellung: ist Macht mit Kontingenz strukturell verknüpft (vgl. ebd. 79) und funktional als deren (unterschiedlich mögliche) Bearbeitungs- und Ordnungsmöglichkeit qualifiziert, so ist die Zunahme gesellschaftlicher Komplexität durch Differenzierung und vermehrte Alternativenproduktion auch notwendig von einer Machtzunahme strukturell begleitet (vgl. Luhmann 1969, 168); wer also auf Kontingenz abstellt und Alternativen nicht nur vermehrt zulässt, sondern auch fördert (und fordert), der betreibt daher immer auch implizit den Wandel von Machtmechanismen – nicht ‘Entkontingentisierung’ (Lübbe) und Etablierung der ‘einen Ordnung’ ist nun das Ziel, sondern Ordnung durch Komplexitäts- und Alternativensteigerung (vgl. auch Luhmann 2000, 19-21). Diesen Gedanken der Macht als eines funktionalen Mediums hat Luhmann verschiedentlich entfaltet (vgl. Luhmann 1969 wie 1975) und – wenn auch in systemtheoretisch veränderter Begrifflichkeit – durchgängig bis heute reformuliert (Luhmann 2000, 18-68). Seine Grundthese nimmt dabei ihren Ausgang aus den benannten Aporien klassischer Machttheorie, indem sie Macht strikt relational verankert (und damit nicht jeweilig isolierten Individuen) zuschreibt; Macht, so die durchaus vertraute Überlegung, “beruht auf Antizipation” (Luhmann 2000, 28) – von Gehorsam ebenso (auf Seiten der Mächtigen) wie von ihrer tatsächlichen Anwendung (auf Seiten der Machtunterworfenen) – und ist daher immer in eine “Rückkopplungsschleife” (ebd.) eingebunden, indem antizipiertes fremdes Verhalten und mögliches eigenes Handeln miteinander verknüpft und zu wechselseitigen Bedingungen figuriert werden: nicht nur weiß ich, dass du weißt; vielmehr weiß ich auch, dass du weißt, dass ich weiß, so dass du weißt, dass ich weiß. Es ist diese Situation ‘doppelter Kontingenz’ (Luhmann 1975, 8f. wie auch 2000, 59), die Luhmann immer wieder zur Plausibilisierung seiner systemtheoretischen Überlegungen heranzieht und als Bedingung der Möglichkeit wie Notwendigkeit von Systembildungen erläutert (vgl. Luhmann 1984, 148-190): “Soziale Systeme entstehen dadurch (und nur dadurch), daß beide Partner doppelte Kontingenz erfahren und daß die Unbestimmbarkeit einer solchen Situation für beide Partner jeder Aktivität, die dann stattfindet, strukturbildende Bedeutung gibt” (ebd. 154). Dabei ist die Grundsituation doppelter Kontingenz – so Luhmann – recht schlicht und eröffnet sich, wenn man das immer anders mögliche Handeln eines jeden so mit dem Verhalten anderer verknüpft, dass das Verhalten des einen (alter) zur Bedingung des Handelns des anderen (ego) wird; wenn nun aber zusätzlich zur eigenen Verhaltensunsicherheit auch die Verhaltenswahl eines anderen unsicher ist und vom eigenen Verhalten mit abhängt, scheint es ratsam, “sich genau daran zu orientieren und im Hinblick darauf das eigene Verhalten zu bestimmen” (ebd. 166). Die aus wechselseitiger Antizipation und In-RechnungStellung des möglichen, aber unbestimmten Handelns des anderen als Bedingung des eigenen Handelns resultierende Unsicherheit lässt sich nicht auflösen, wohl aber – sei es durch Selbstfestlegung, Vertrauen, Vertrag oder auch Kontrolle – mildern und erzwingt Strukturbildung als Konturierung von jeweiligen Anschlussmöglichkeiten des eigenen wie fremden Handelns. Insbesondere das Phänomen der ‘Erwartungserwartung’ (und ihrer ebenso unvermeidlichen Enttäuschung) vermag, diese Situation ‘doppelter Kontingenz’ zu illustrieren und kennzeichnet deren Bearbeitungsmöglichkeit allein durch ‘Beobachtungen zweiter Ordnung’ (vgl. Luhmann 2000, 26f.). ‘Macht’ – so Luhmann nun weiter – “entsteht [...] nur unter der Voraussetzung doppelter Kontingenz” (Luhmann 2000, 59) und fungiert darin als ‘Überbrückungsfunktion doppelter
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Kontingenz’ (vgl. Luhmann 1975, 9), indem sie soziale Situationen doppelter Selektivität dadurch zu ordnen versucht, dass auf die Selektivität des einen durch Kommunikationen und Handlungen des anderen so Einfluss genommen wird, dass diese für den Einflussnehmenden erwartbarer, handhabbarer, in jedem Fall aber anschließbar(er) werden. Sie verliert aber ihre Funktion der Ordnung ‘doppelter Kontingenz’, wenn sie als Zwang oder Gewalt fremdes Handeln auf etwas genau Bestimmtes festzulegen sucht und so das fremde Handeln durch eigenes Handeln zu ersetzen versucht (vgl. 1975, 9). Luhmann folgert daraus zweierlei: erstens ist es wenig sinnvoll, “Macht Gebrauchen” auf “Macht Haben” (Luhmann 2000, 32) zurückzuführen und so Macht doch als individuell zurechenbare Potenz oder gar Substanz quasi gegenständlich auszulegen; zweitens wäre es verkürzt, Macht in seiner Selektivitätsordnung bloß als Beschränkung und Reduktion möglicher Alternativen zu verstehen. Vielmehr geht es in Macht auch darum, die “Übertragung von Selektionsleistungen und nicht [bloß] etwa das konkrete Bewirken bestimmter Wirkungen” (Luhmann 1975, 11) in den Blick zu nehmen. Die “Funktion der Macht liegt in der Regulierung von Kontingenz” (Luhmann 1975, 12), nicht in ihrer Außerkraftsetzung oder gar Zerstörung (vielmehr bleibt sie bleibend auf sie angewiesen); insofern hat sie eher die “Funktion eines Katalysators” (ebd.) – zu beschleunigen wie zu verlangsamen: “sie verändern, ohne sich selbst dabei zu ändern, die Eintrittsrate bzw. Wahrscheinlichkeit, die bei zufälligen Beziehungen zwischen Systemen [...] zu erwarten wäre” (ebd.). Solchermaßen an das (auch logische) Problem der Möglichkeit gebunden markiert Luhmann Macht als “Chance, die Wahrscheinlichkeit des Zustandekommens unwahrscheinlicher Selektionszusammenhänge zu steigern” (ebd.) und dadurch (auch existentiale) Unsicherheit zu absorbieren (vgl. Luhmann 2000, 36 wie 41ff.). Phänomene positiver wie negativer Sanktionen (vgl. ebd. 44-51) illustrieren den weiten Zugriff einer systemtheoretischen Perspektivierung von Macht als einem Medium; auch wenn Macht dann doch überwiegend als “Beschränkung des Selektionsspielraums des Partners” (Luhmann 1975, 11) fungiert, bleibt ihr aus dem relationalen Charakter resultierender Status bedeutsam: “Macht instrumentiert nicht einen schon vorhandenen Willen, sie erzeugt diesen Willen erst” (Luhmann 1975, 21), so dass Konditionierung und Motivierung sich verkoppeln (vgl. Luhmann 2000, 60). Damit aber verschiebt sich der Focus der Macht vom traditionellen Durchsetzungshandeln zu dem einer “Interaktionskonstellation” (Luhmann 1975, 13) und dem damit verbundenen Problem der Akzeptanz; versteht man Handlungen aufgrund ihrer jeweiligen Andersmöglichkeit als Entscheidungen, dann markiert Macht das Problem, “wie und wozu man andere dazu bringen kann, eine Entscheidung über ihre Entscheidung zu akzeptieren, obwohl die Welt andere Möglichkeiten anbietet” (Luhmann 2000, 59). Versteht man Macht solchermaßen als “symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium” (Luhmann 2000, 36)26 zur Bearbeitung von aus ‘doppelter Kontingenz’ resultierender Unsicherheit so sind fünferlei Weiterungen nur konsequent, mit denen Luhmann die systemtheoretische Perspektive auf Macht vertieft: Macht lässt sich erstens gerade nicht bloß auf politisches Handeln (und damit auf das Problem einer wie auch immer zu legitimierenden Herrschaft) eingrenzen, auch wenn – auch bei Luhmann selbst – dieses immer wieder als prototypisches Phänomen herangezogen wird (vgl. Luhmann 2000, 45f. wie 69ff.); vielmehr gilt ganz allgemein: “Wo immer Menschen miteinander kommunizieren, besteht die Wahr26
Vgl. dazu ausführlicher die Überlegungen Luhmanns zur Unterscheidung von Medium und Form (Luhmann 1990, 53ff., 181-189 wie auch Luhmann 1997, 190ff.), die zur Beobachtung der Anschlussmöglichkeiten von Kommunikation an Kommunikation eingeführt wird und damit das Problem der systemischen Kopplung focussiert. Dabei bezeichnet Form immer eine “rigide Kopplung” (Luhmann 1990, 53) von Elementen, die als jeweilige Realisierung eines verschieden möglichen, insofern bloß lose gekoppelten Zusammenhangs (Medium) interpretiert werden muss. Aus dieser Justierung von Form und Medium folgt, dass Medien “nicht etwa besondere Dinge” (Luhmann 1990, 181) sind, sondern nicht beobachtbare und insofern nur aus jeweiligen (erkennbaren) Formen erschließbare Ordnungsmöglichkeiten der Anschließbarkeit von Kommunikationen.
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scheinlichkeit, daß sie sich an der Möglichkeit wechselseitiger Beeinflussung orientieren und sich dadurch beeinflussen. Macht ist ein lebensweltliches Universale gesellschaftlicher Existenz” (Luhmann 1975, 90). Als ‘Prozessieren von Kontingenz’ ist sie zweitens gerade nicht auf Gewalt und Zwang zurückführbar (vgl. Luhmann 1969, 168), ist sie doch an Andersmöglichkeit konstitutiv gebunden: “die Kontingenz [...] muß in eine zuverlässig erwartbare Praxis überführt, muß erwartbar gemacht werden, ohne dadurch den Charakter der Kontingenz zu verlieren” (Luhmann 1975, 50). Auch wenn sich dieser Rückschluss von Macht auf Gewalt – auch bei Luhmann selbst (vgl. Luhmann 2000, 55 u.ö.) – immer wieder nahelegt, betont Luhmann unmissverständlich: “Macht setzt Freiheit voraus” (Luhmann 2000, 39) und zielt gerade nicht auf deren Aufhebung. Als “Modalisierung von Kommunikation” (Luhmann 1975, 32) lässt sie sich drittens nur sehr unzureichend auf ‘Machthaber’ reduzieren und als “eine Art innere Potenz, eine Art ‘Kraft’ des Machthabers” (Luhmann 2000, 27 wie auch 1969, 155, 158ff. wie 168) vorstellen; vielmehr ist sie gerade kein “besitzbares Gut” (Luhmann 1969, 158) – so dass ihr eine “sichere, besitzbare Basis” (Luhmann 2000, 67) im Sinne von Machtmitteln oder Quellen versagt ist –, sondern in ihrem Gebrauch instabil und riskant, weil dauernd erneuerungsbedürftig. Damit ist viertens eng verknüpft, dass Macht einerseits “ständig gezeigt werden” muss (Luhmann 2000, 32), andererseits aber nur funktioniert, wenn sie vermeidet, ihre Mittel anzuwenden: Macht – am Beispiel der Drohung veranschaulicht – “funktioniert also nur auf der Basis einer Fiktion, einer nicht realisierten zweiten Realität” (Luhmann 2000, 47). Ist Macht daher immer auch die “Anwesenheit des Ausgeschlossenen” (ebd.), so beruhen alle Besonderheiten der Macht – “vor allem seine Mystifizierbarkeit” – gerade auf dieser “Spur, die das Abwesende hinterlassen hat” (ebd.). Was für die Drohung gilt, lässt sich durchaus als Ambivalenz von Sichtbarkeit und Effektivität verallgemeinern: Macht erfordert “laufende symbolische Anstrengung” (ebd. 48), ist sie doch statt auf faktischer Realisierung ihrer selbst in erheblichem Umfang auf “symbolische Reproduktion” (ebd.) angewiesen. “Sie wird erneuert, wenn das Verlangte widerstandslos getan wird” (ebd.), und verbraucht sich zunehmend, muss sie sich – nicht nur als Ausnahme – realisieren. Anders formuliert: Macht ist die Regel, die von ihrer Ausnahme zehrt, und kollabiert, wenn die Ausnahme zur Regel wird. Sie kann daher “nur gesteigert werden, wenn gesichert ist, daß sie sich nicht laufend selbst diskreditiert” (Luhmann 1975, 51), und ist bleibend auf Glaubhaftigkeit angewiesen. Nur folgerichtig lässt sie sich daher fünftens als überwiegend reflexives Phänomen verstehen, stellt sie doch durchgängig auf Fiktion und Antizipation ab und ist qua Symbolisierung an Interpretativität gebunden. Solchermaßen “gesteigerte Symbolizität” bedeutet aber auch “gesteigerte symbolische Empfindlichkeit” (Luhmann 2000, 48). Systemtheoretisch gesprochen: Macht lässt sich nur sinnvoll als Problem von Beobachtungen zweiter Ordnung – d.h. als ständiges “wechselseitiges Beobachten von Beobachtungen” (Luhmann 1997, 374) – erläutern, auch wenn bisweilen Beteiligte der Ebene einfacher Beobachtungen verhaftet bleiben und Einschränkungshandeln auf ihr Handeln als nichthintergehbaren Zwang verstehen. All dies führt schließlich sechstens notwendig zur Systembildung von Macht, so dass Strukturbildung und Ausdifferenzierung wie auch Verrechtlichung und Institutionalisierung von Macht – z.B. im politischen System (vgl. Luhmann 2000) – unvermeidbar sind (ohne jedoch mit Macht identisch zu werden): “Ohne Systembildung lässt sich Macht nicht auf Dauer stellen” (Luhmann 2000, 69). Zwar gelingt Luhmann mit dieser funktionalen Justierung von Macht als eines ‘Kommunikationsmediums’ zur ‘konditionalen Verknüpfung differenter Alternativen’ (vgl. Luhmann 1975, 51) der Ausstieg aus handlungstheoretischen Verkürzungen und Aporien, indem statt Kausalität und Intentionalität nun ‘Interaktionskonstellationen’ hinsichtlich ihrer Ordnung von Anschlussmöglichkeiten und Kopplungsformen in den Blick genommen werden, doch verbleibt der Begriff der Macht als eines Mediums in einem eigenartigen Zwielicht: nicht nur schleicht sich immer wieder doch ein quasi-gegenstandstheoretischer Unterton in die Erläuterungen Luhmanns ein – dass man Macht ausüben, benötigen oder gar steigern kann (vgl. Luhmann 1975, 23 wie 51 u.ö.) –, so dass immer wieder schillernd bleibt, ob mit Macht
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nicht doch ‘ein besonderes Ding’ (vgl. Luhmann 1990, 180), ein Vermögen oder gar eine Substanz bezeichnet wird oder eine Beobachtungsperspektive artikuliert werden soll. Vielmehr legte Macht als eines in jeweilig realisierten Formen nur unterstellten ‘Mediums’ eine konsequente Transzendentalisierung des Begriffs nahe: mit Macht – so ließe sich formulieren – kann das Problem der jeweiligen Kopplung von Systemen unter der Perspektive der wechselseitigen Einflussnahme zu Zwecken der Beschränkung des Handlungsspielraums bzw. Möglichkeitsraums beobachtet werden. Ist aber ‘Ordnungsmöglichkeit’ der Sinn eines jeden Mediums (und der auf ihr realisierten Form), so markiert Luhmann Macht als jenen “Sonderfall”, in dem “das Handeln Alters in einer Entscheidung über das Handeln egos besteht, deren Befolgung verlangt wird” (Luhmann 1997, 355), und schränkt damit die erarbeitete Bedeutungsweite unnötig wieder ein, indem er – immer wieder und durchaus durchgängig – Macht als ‘Drohung’ (Luhmann 1975, 23), “Befehl”, “Weisung” oder “Suggestion, die durch mögliche Sanktionen gedeckt ist” (Luhmann 1997, 355) bestimmt und damit schließlich doch auf Gewalt zurückführt (vgl. Luhmann 2000, 49, 55 u.ö.). Luhmanns Begrifflichkeit schwankt so dauernd zwischen nahezu unerreichbaren systemtheoretischen Abstraktionslagen und ständigen, bisweilen ironischen Anspielungen auf Alltagsbedeutungen; eine konsistente Begriffsentfaltung und Verortung ist aber so kaum zu erwarten. Aber auch inhaltlich bleibt Macht dann doch recht unbestimmt: fragt man nämlich – durchaus in der Folge Luhmanns – nach dem ‘Ursprung’ der Macht (vgl. Luhmann 1969, 150), der ja weder bloß institutionentheoretisch noch handlungs- oder gar entscheidungstheoretisch hatte eruiert werden können und zur Kritik an diesen Konzeptionen provoziert hatte, so lassen sich trotz enormer Theorieaufbauten verblüffenderweise nur wenige Hinweise finden. So vermag das Theorem der ‘doppelten Kontingenz’ zwar das ‘dass’ der sozialen Verknüpfung von ‘ego’ und ‘alter’ zu kennzeichnen und zu beschreiben, nicht aber weiter in dessen ‘warum’ einzuführen. Die Frage nämlich, warum denn das Handeln des einen Bedingung des Verhaltens des anderen ist (und damit zur Ermöglichung von Macht überhaupt erst beiträgt), findet in Luhmanns immer wieder vorgetragenem Hinweis auf ein (nahezu grundsätzliches) “Aufeinanderangewiesensein” (Luhmann 2000, 40 u.ö.) nicht nur keine Beantwortung, sondern wird ausdrücklich in der Diagnose eines “autopoietischen Systems der Machtkonstitution” (Luhmann 2000, 28) stillgestellt. So richtig ist, dass Macht sozial allererst ‘entsteht’ (und insofern nicht bereits – gar akkumuliert – irgendwo vorhanden sein muss, um ‘angewandt’ zu werden), so problematisch ist diese Leerstelle, befördert sie doch auch unfreiwillig Illusionen möglicher Machtentunterwerfung durch vermeintlich erreichbare Unabhängigkeit. Damit eng verknüpft ist auch die Frage, warum eigentlich Gewalt als konkrete Festlegung des Verhaltens anderer nicht doch eine weit effektivere ‘Ordnungsmöglichkeit’ darstellt; oder anders formuliert: warum es im ‘Prozessieren von Kontingenz’ um deren Erhalt und nicht deren Zerstörung gehen soll. Luhmanns formallogisches Plädoyer für Differenzierung und Alternativensteigerung (bei gleichzeitig wachsendem Bedarf an Komplexitätsreduktion) kann dabei nicht hinreichend befriedigen; auch seine Überlegungen zum Problem der ‘strukturellen Kopplung’ bleiben genauere Klärung schuldig und übergehen letztlich damit das, was ‘Macht’ als soziales Problem allererst konstituiert und strukturiert (vgl. Luhmann 2002b, 118-141). Eine Phänomenologie der ‘Interaktionskonstellation’ (vgl. Meyer-Drawe 1984) aber wie auch eine Neufassung des Begriffs der Kontingenz (vgl. Ricken 1999a) könnten ebenso hilfreich wie fruchtbar sein, die Problematik der Macht als Phänomen zu schärfen, ohne dass damit Luhmanns grundsätzliche Justierung des Begriffs der Macht als eines – dann zu spezifizierenden – Mediums hinfällig würde. Im Gegenteil: erst jene würde diese plausibler machen.
Der hier nur kursorisch unternommene machttheoretische Streifzug erlaubt nun eine Neujustierung des Begriffs der Macht und damit auch die inhaltliche Einlösung der bislang bloß programmatisch formulierten Kennzeichnung von Macht. Insbesondere
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die Kennzeichnungen der Macht als einem ‘Wechselspiel’ von Macht und Freiheit (Simmel), als einem ambivalenten ‘Doppel’ von Macht als sozialer Verknüpfung und Gegenmacht als Trennung (Arendt) und als einem nur mehrdimensional fassbaren ‘Medium’ zur Ordnung von Andersmöglichkeit (Luhmann) markieren dabei wichtige Weichenstellungen, die es erlauben, von den sich immer wieder nahelegenden, fest eingewöhnten Gleisen alltäglicher Bedeutungszuschreibungen abweichen zu können. Gleichzeitig zwingen sie jedoch dazu, auch theoretisch-kategoriale Umbauten vorzunehmen und sich von diskursiv eingewöhnten Grundlagenkonzepten – stellvertretend seien Subjekt und Objekt, Individuum und Gesellschaft genannt – zu verabschieden und diese differenztheoretisch zu reformulieren (vgl. exemplarisch Ricken 1999a). Macht lässt sich repräsentationstheoretisch nicht einholen, sondern verweist in ihrem Status als ‘Beobachtungsbegriff’ auf das soziale Problemfeld einer ‘Interaktionskonstellation’, die durch Möglichkeit und Andersmöglichkeit – sprich: Kontingenz –, daraus resultierender Unbestimmtheit und darauf bezogener ‘Ordnungsnotwendigkeit’ gekennzeichnet ist; geht es in ‘Macht’ daher immer um die Möglichkeit der Einschränkung und Regulierung von Alternativenkonstellationen durch eine mehr oder weniger feste oder lose Verknüpfung vielfältiger Elemente, so ist ‘Macht’ ausschließlich relational zu erläutern und nicht auf einzelne Individuen zurückzurechnen. ‘Macht’ als Focus auf soziale Relationalität muss daher allerdings unterschieden werden sowohl vom bloßen ‘Handelnkönnen’ als auch davon, “den Zustand der Welt [...] nach eigenen Absichten verändern” zu können (Luhmann 2000, 39), und kann insofern auf ‘Durchsetzungshandeln’ nicht eingeschränkt werden; vielmehr rückt ‘Macht’ an diesem dessen relationales Gegenstück – wie also Durchsetzungshandeln Bedingung weiteren Handelns anderer wird – in den Mittelpunkt. Unweigerlich ist Macht damit an Handeln gebunden, ohne selbst bloß auf Handeln reduziert werden zu dürfen; vielmehr wird auch hier mit Macht dessen soziales – und gerade nicht naturales oder kosmisches – Bedingungsgefüge thematisch, so dass sowohl Handlungen als auch Strukturen in den Blick kommen, wenn von Macht als einer ‘Vorbahnung’ weiterer Handlungen die Rede ist. Macht ist daher nicht nur immer ein mit menschlicher Praxis verknüpftes Phänomen, sondern markiert an dieser deren soziale Konditionalität. Mit ihr werden – und das ausschließlich – erfolgreiche Strukturierungs- und Ordnungsleistungen von Alternativenkomplexen focussiert, die die Handlungs- und Verhaltensmöglichkeiten anderer (kon)figurieren und regulieren. Macht kann daher sowohl manifestes Einschränkungs- wie Anregungshandeln auf Handeln sein als auch als strukturelles Bedingungsgefüge von Handeln latent bleiben; entscheidend ist, dass das durch sie erfolgreich (bzw. – ohne Intentionalitätsanklang – faktisch) figurierte Handeln als sozial situiertes Handeln erkennbar bleibt. Das aber lässt sich individualtheoretisch gerade nicht fassen, sondern verlangt nach einem – wie auch immer genauer gefassten – sozialtheoretischen Aufriss: dass Menschen nur mit anderen existieren, ist nicht eine nachträgliche Auszeichnung oder Hinzufügung, sondern konstitutive Bedingung menschlicher Existenz schlechthin; Sozialität kommt daher nicht zu jeweilig ursprünglich gedachter Individualität hinzu,
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sondern ist in diese von Anfang an eingeschrieben, so dass Subjektivität immer ‘situierte Existenz’ ist: nichthintergehbar, insofern Menschen ihr Leben selbst führen müssen und nicht von anderen gelebt werden können; nichtursprünglich, insofern sie ihr Leben unter jeweiligen Bedingungen führen, an die sie nur anschließen können (vgl. ausführlicher Ricken 1999a wie 1999b). ‘Existentialität’ – als Kennzeichnung derer Nichthintergehbarkeit – und ‘Konditionalität’ – als Kennzeichnung derer Bedingtheit und bleibenden Angewiesenheit – verschränken sich darin, ohne voneinander getrennt und gegeneinander konturiert werden zu können, wie es die geläufige Dualisierung von Fremd- und Selbstbestimmung irreführend suggeriert: weder bloß unbestimmt und gezwungen, sich selbst aus sich selbst zu bestimmen, noch bestimmt und insofern durch andere und anderes produziert. Handlung und Struktur markieren daher nichts Gegensätzliches, sondern bezeichnen zweierlei Aspekte sozialer Praxis. Macht – so ließe sich pointieren – perspektiviert an dieser Situiertheit die Weisen derer Vorbahnung und thematisiert daher die jeweiligen Verknüpfungen von Existentialität und Konditionalität unter der Perspektive ihrer jeweiligen sozialen Figuration27. Ein solchermaßen relational gefasster Begriff der Macht als ‘Führen der Führungen’ (Foucault) setzt sich aber auch vielerlei Bedenken und Einwänden aus: nicht nur kann er nicht restlos befriedigen, bietet doch seine auch formale Allgemeinheit nur wenig Präzision und Unterscheidungshilfe; allein die naheliegende Frage, was denn Macht von (u.a.) liebender Kommunikation oder anderem sozialen ‘Einflusshandeln’ unterscheide, kann in Turbulenzen führen, denen definitorisch zu entkommen so wunderbar wäre. Auch die mit dieser Allgemeinheit verknüpfte ‘Ubiquität’ von Macht provoziert: wenn Macht überall und alles sei, so der immer wieder geäußerte Einwurf, dann verliere doch der Begriff jede Kontur und werde mangels Gegenbegriffe unsinnig28. Doch sind diese ‘definitorischen Unzulänglichkeiten’, auf die vermeintlich schlichte Frage, was denn ‘die’ Macht nun sei, nur (bisweilen gar umständlich) erläuternd oder bloß problematisierend antworten zu können, selbst Folge des begrifflichen Status der ‘Macht’: Macht – so sei zunächst erinnert – dient der Kennzeichnung bestimmter Momente an sozialer Praxis; da ‘Macht’ begrifflich daher eine Beobachtungskategorie und keine Gegenstandskennzeichnung ist und nur reflexiv wie selbstreferentiell formuliert werden kann, ist sie eingebunden in weitreichendere und vorgängige Verständnisse, die sich ihrerseits nur hermeneutisch erläutern lassen und Begriffsgeschichte wie auch Phänomensondierungen nötig machen. Aber insofern ‘Macht’ selbst Moment menschlicher Selbstauslegung und Selbstverständigung ist, kann deren sowohl ‘zirkulärer’ bzw. rekursiver und selbstreferentieller als auch unabgeschlossener Charakter einsichtig gemacht werden: als bestimmte Kennzeichnung sozialer 27
Es ist das Verdienst Foucaults, diese relationale Fassung von Macht auch in einer – in der Tat nun ihrerseits ‘glücklichen’ – Formulierung treffsicher eingefangen und als “Führen der Führungen” (Foucault 1994, 255) bestimmt zu haben; sie bietet – auch und gerade in ihrer Formelhaftigkeit – immer wieder eine hilfreiche Kennzeichnung des Zugangs zum Problem der Macht, erledigt aber nicht deren weitere Ausfaltung und konkrete Erörterung durch begriffliche Eindeutigkeit. Vgl. Kapitel III in dieser Studie.
28
Foucaults Kommentierung der “Allgegenwart der Macht” (Foucault 1977, 114) wird immer wieder übersehen (vgl. Breuer 1987): “Nicht weil sie alles umfaßt, sondern weil sie von überall kommt, ist die Macht überall” (ebd.); sie ist daher nicht alles, aber ein Moment an allem. Vgl. dazu auch Kap. III in dieser Studie.
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Figurationen ist sie in diese selbst pragmatisch eingebunden, dient sie doch auch derer Gestaltung durch begriffliche Kennzeichnung und Verständigung; als Moment menschlicher Selbstverständigung ist sie in deren Zirkularität eingebunden, die daraus resultiert, dass Menschen als Menschen sich selbst zu kennzeichnen versuchen, ohne dies jedoch ‘von außen’ tun und zu einem abschießenden Selbstverständnis kommen zu können. Insofern Menschen daher immer ‘anthropologisch’ leben (und nicht erst leben und dann nachträglich ihr Leben deuten), so dass die Deutung selbst Moment ihrer Lebensführung ist, ist auch ‘Macht’ solchermaßen in Zirkularität einverwickelt und ohne – wie auch immer bewerteten – hermeneutischen Rückgriff auf ihre alltägliche Bedeutung und ihren Gebrauch nicht verständlich zu machen. Der Versuch jedenfalls, diese Zirkularität stillzustellen und definitorisch der mit ihr verbundenen Offenheit zu entkommen, muss scheitern und führt nur immer wieder zurück in neuerliche Problematisierungen, ist doch keine Definition denkbar, Macht – für alle – eindeutig zu bestimmen und gegen anderes präzise abzugrenzen, ohne nicht doch wieder auf Alltagsbedeutungen zurückgreifen zu müssen. Was daher unter Macht jeweilig verstanden werden kann, ist immer auch als bekannt vorauszusetzen. Traditionell ist die theoriearchitektonische Position der Spezifizierung von Macht durch Unterscheidung besetzt mit der oppositionalen Justierung von Macht und Freiheit; Macht – so lässt sich nahezu einvernehmlich vernehmen – ist erst dann Macht, wenn Freiheit als Möglichkeit der Selbstbestimmung beeinträchtigt und beschränkt wird. Doch kann bereits Zustimmung allein nicht als Kriterium genutzt werden, so dass bereits hier ausgewichen werden muss: ‘Macht’ – so eine zweite Reformulierung der Dualität von Freiheit und Macht – verstellt, erschwert die oder beraubt gar der Fähigkeit, ‘Nein’ sagen zu können (vgl. Sofsky / Paris 1994, 9), so dass nicht faktisch erfolgte Bejahung bzw. mögliche Zustimmbarkeit, sondern ausgeschlossene und verstellte Ablehnungsmöglichkeit aufgrund asymmetrisch verteilter Handlungsmöglichkeiten zum Unterscheidungsmoment wird. Salopp formuliert: Macht will Unterwerfung, egal aus welchen Gründen, und zielt darin immer auf Begrenzung oder gar Zerstörung von Freiheit (vgl. Popitz 1992, 17). Aber auch hier ist Konsistenz nicht erreichbar, denn kann doch jedes ‘Nicht-Nein-sagen-Können’ auch ganz andere Gründe haben als Zwang oder Gehorsam. Wie auch immer – theoriestrategisch bleibt daher nur der Verzicht auf normative Eindeutigkeit aus Einsicht darin, dass ‘Macht’ gerade definitorisch nicht stillzustellen ist; ihn aber nicht bloß als Mangel aufzunehmen, sondern selbst produktiv zu nutzen, ist das Ziel der Reformulierung der Frage ‘Was ist die Macht?’ in die Frage ‘Was ist das Problem, worauf (mit) Macht (ge)antwortet (wird)?’. Mithilfe der Foucaultschen Überlegungen lässt sich nun die ‘Frage der Macht’ aus einer neuen Perspektive rekapitulieren.
III. ‘An Foucault führt kein Weg vorbei’ (vgl. Wehler 1998, 45) – so oder ähnlich ließe sich bündeln, was machttheoretisch sich längst eingewöhnt hat: welchen Überblick,
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theoretischen Kommentar oder empirischen Forschungsansatz auch immer man aufschlägt, immer wird auf Überlegungen Foucaults verwiesen und zurückgegriffen. Und in der Tat: trotz vielfach, oft auch vehement formulierter Kritik können die Arbeiten Michel Foucaults als wohl provozierendste wie auch ausgereifteste Thematisierung von Macht gelten; auch wenn Foucault selbst immer wieder bestritten hat, an einer ‘Theorie der Macht’ zu arbeiten (vgl. Foucault 1994, 243), verdankt der machttheoretische Diskurs seinen Überlegungen nicht nur mancherlei An- und Aufregung, sondern auch weithin geteilte, oft aufgegriffene und inzwischen auch vielfach weitergeführte Weichenstellungen in der Kennzeichnung neuzeitlich-moderner Machtpraktiken. Macht – so der Zentralgedanke Foucaults – lässt sich dabei nicht angemessen begreifen, wenn sie immer wieder neu auf ihre negative, repressive und ausschließende Funktion reduziert, als Souveränitäts- und Legitimitätsproblem diskutiert und als bloß offensichtliche Macht in staatlichen Instanzen lokalisiert wird29; gerade angesichts gegenwärtiger Verschiebungen in den vielfältigen (und neuzeitlichmodern eminent vervielfachten) ‘Regierungspraktiken’ gilt es zunehmend, Macht auch und zumeist als produktive Anreizung und positiv kennzeichenbare Effektivität zu verdeutlichen, will man nicht selbst den Mechanismen der Verbergung der Macht aufsitzen. Was aber historisch verfolgt und analysiert werden kann, schlägt sich auch systematisch nieder und erzwingt – vorab – eine Neujustierung des Machtbegriffs. Foucaults später Formel des ‘Führens der Führungen’ (vgl. Foucault 1994, 255) kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu, lässt sie sich doch auch als Zugang zu seinen historischen Studien – deren Resultat sie einst war – fruchtbar machen. Im folgenden Argumentationsschritt wird es daher zunächst darum gehen, den Überlegungen Foucaults in einigen systematischen Linien zu folgen (a), um dessen historisch justierten Machtanalysen daran anzuschließen, unter der Perspektive des ‘Führens der Führungen’ zu diskutieren und auch gegenwärtige Anschlüsse und Fortführungen der Foucaultschen Machttheorie aufzugreifen (b). Weil aber immer noch gilt, dass sich an Foucault die ‘Geister scheiden’, ist es nicht vermeidbar, die eigenen Lesefäden der Arbeiten Foucaults – auch ausführlich am Material – zu benennen und neben möglichen Befunden eigens zu begründen; das aber verlangt jene ebenso langsame wie mühsame, eher Kühen denn Menschen eigene und mancherlei Zeit, Raum wie Geduld beanspruchende ‘Lesekunst des Wiederkäuens’ (vgl. Nietzsche 1980.V, 256)30. (a) Ausgangspunkt der Überlegungen Foucaults zu seiner – allerdings erst in den späteren Arbeiten vorgenommenen – Kennzeichnung von Macht als einer Struktur des ‘Führens der Führungen’ ist dabei die Weigerung, Macht allein in ihrer “negativen Form” (Foucault 1978, 130) als juridisches oder ökonomisches Problem zu verstehen 29
Vgl. zu Distanz und (auch) Nähe von Foucaults und Webers Machtverständnis die Überlegungen in Neuenhaus 1993 wie Lemke 2001a.
30
Vgl. zur Rekonstruktion der Arbeiten Foucaults insbes. die präzisen Analysen von Lemke (Lemke 1997), Kögler (Kögler 1994) wie auch Schäfer (Schäfer 1995), die – angesichts der unübersehbaren Fülle der Literatur zu Foucault – hilfreiche Erkundungen der Architektonik wie der jeweiligen Diskurskontexte Foucaults darstellen. Einen guten, systematisch strukturierten Überblick über verschiedene Facetten und Lesarten bieten inzwischen Schneider 2004 und Sarasin 2005 wie auch der von Kleiner herausgegebene Einführungsband (Kleiner 2001).
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und als ein in sich selbst homogenes Phänomen zu erläutern. Kategorisch formuliert Foucault immer wieder: “Die Macht gibt es nicht” (ebd. 126 wie auch Foucault 1994, 251). Vielmehr scheint “die Idee, daß es an einem gegebenen Ort oder ausstrahlend von einem gegebenen Punkt irgendetwas geben könnte, das eine Macht ist, [...] auf einer trügerischen Analyse zu beruhen” (Foucault 1978, 126), die untauglich ist, allein schon historisch-analytisch “von einer beträchtlichen Anzahl von Phänomenen Rechenschaft zu geben” (ebd.). Schärfer noch: diesseits der schiefen Alternativen bisheriger machttheoretischer Justierung – “rechts wurde es nur unter dem Aspekt von Verfassung, Souveränität, Freiheit angegangen, also in juristischen Kategorien gefasst”, links nur “bezogen auf den Staatsapparat” (Foucault 1978, 30) diskutiert und darin allzuoft auf ein ökonomisches Phänomen reduziert – wurde “die Art und Weise, in der [die Macht] konkret und im einzelnen, mit der ihr eigenen Spezifizität, ihren Techniken und Taktiken ausgeübt wird” (ebd.), weitgehend noch gar “nicht erforscht; man beschränkte sich darauf, sie polemisch und global beim ‘Anderen’, bei den Gegnern zu denunzieren [...]. Aber der Mechanismus der Macht wurde niemals analysiert” (ebd.). Genau dies aber ist das Vorhaben der genealogischen Arbeiten Foucaults seit Anfang der 70er Jahre31; in ihrem Mittelpunkt steht daher nicht so sehr die Frage ‘Was ist die Macht?’, die – als rein “theoretische Frage” (Foucault 1999, 23) – eher eine “‘Metaphysik’ oder eine ‘Ontologie’ der Macht” (Foucault 1994, 251) befördert, sondern vielmehr die Frage nach den Mechanismen und Effekten der Macht: “Der Einsatz all dieser Genealogien besteht [...] in der Frage: Wie sieht diese Macht aus [...]?” (Foucault 1999, 22), – “‘Wie’ nicht im Sinne von ‘Wie manifestiert sie sich?’, sondern im Sinne von ‘Wie wird sie ausgeübt?’” (Foucault 1994, 251). Die gewissermaßen als “Spähtrupp vorgeschickte Frage: Wie spielt sich das ab?” hat dabei die Funktion, “eine kritische Untersuchung der Machtthematik anzugehen” (Foucault 1994, 251). Mit dieser Abwendung von traditionellen Konzepten der Macht gehen viererlei Weichenstellungen einher: Es ist erstens “völlig inadäquat”, den Begriff der Macht überwiegend als Repression und “Unterdrückung” (Foucault 1978, 34) auszulegen: “Wenn man die Machtwirkungen mit Hilfe des Begriffs der Unterdrückung definiert, so folgt daraus eine rein juristische Konzeption eben dieser Macht; sie wird mit einem Gesetz identifiziert, das nein sagt, und wäre vor allem eine Instanz, die Verbote ausspricht. Ich glaube, daß dies in Wirklichkeit eine völlig negative, beschränkte, zu kurz gefaßte Auffassung der Macht ist, die seltsamer Weise [...] von allen Seiten geteilt wurde” (ebd. 35). Diesem Verständnis von Macht hält 31
Foucaults machttheoretischer Neueinsatz lässt sich dabei auf den Antritt seiner Forschungstätigkeit am Collège de France (1970) datieren; in dem in seiner ‘Inauguralvorlesung’ zur ‘Ordnung des Diskurses’ (Foucault 1991) entworfenen Forschungsprogramm wird ‘Macht’ als neuer und zentraler Focus aller folgenden Arbeiten deutlich. Zwar versteht Foucault bereits hier Macht als ein praktisches Problem “gewisser Prozeduren” (ebd. 11), doch beschreibt er deren Funktion noch allein in Termini des ‘Verbots’, der ‘Zensur’, der ‘Ausschließung’ und ‘Verwerfung’ (vgl. ebd. 11f.), geht es doch in Macht immer darum, “die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine bedrohliche Materialität zu umgehen” (ebd.). Auch wenn Macht hier überwiegend mit ‘Unterwerfung’ und ‘Beherrschung’ identifiziert wird, stecken die von ihm benannten “methodischen Grundsätze” (ebd. 34f.) bereits den Rahmen seiner später deutlich weiter gefassten genealogischen Studien ab, indem sie das ‘Wie’ der Macht focussieren. Vgl. dazu ausführlicher auch die äußerst präzisen Rekonstruktionen bei Lemke 1997 wie auch Kögler 1994.
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Foucault entgegen: “Wenn sie nur repressiv wäre, wenn sie niemals etwas anderes täte als Nein sagen, ja glauben Sie dann wirklich, daß man ihr gehorchen würde? Der Grund dafür, daß die Macht herrscht, daß man sie akzeptiert, liegt ganz einfach darin, daß sie nicht nur als neinsagende Gewalt auf uns lastet, sondern in Wirklichkeit die Körper durchdringt, Dinge produziert, Lust verursacht, Wissen hervorbringt, Diskurse produziert” (ebd.). Man muss sie daher – so Foucault – vielmehr als “ein produktives Netz auffassen, das den ganzen sozialen Körper überzieht, und nicht so sehr als negative Instanz, deren Funktion in der Unterdrückung besteht” (ebd.). Der Erforschung dieser Produktivität der Macht gilt daher Foucaults historisch vielfältige Aufmerksamkeit; sie aber in dem zu verorten, was allererst durch Macht hervorgebracht worden ist, heißt dann auch, sie gerade nicht als ‘Instrument’ oder ‘Anwendung’ auf ihr vorgängige Objekte und Menschen zu verstehen (und damit als nachgängiges Einwirkungshandeln zu kennzeichnen), sondern sie selbst als ‘Möglichkeitsbedingung’ (vgl. Foucault 1991, 35) zu justieren: Macht – so Foucault pointiert – wird nicht auf Individuen “angewandt” (Foucault 1999, 39), sondern diese sind “eine der ersten Wirkungen der Macht” (ebd.); folgerichtig ist das Individuum “nicht das Gegenüber der Macht”, sondern seinerseits selbst ein “Machteffekt” (ebd.)32. Eng damit verknüpft ist zweitens, Macht gerade nicht als bloß lineares Einwirkungshandeln auszulegen, sondern als ein offenes “Bündel von Beziehungen” (Foucault 1978, 126) zu kennzeichnen: “Bei der Macht handelt es sich in Wirklichkeit um Beziehungen, um ein mehr oder weniger organisiertes, mehr oder weniger pyramidalisiertes, mehr oder weniger koordiniertes Bündel von Beziehungen” (ebd.). ‘Beziehungen’ aber können ‘bifurkal’ nur verkürzt in den Blick kommen, wenn deren jeweilige Pole zur Grundlage der Beziehung genommen werden; vielmehr geht es Foucault darum, Macht ausschließlich “auf der Grundlage der Beziehung selbst, insofern sie die Elemente, auf die sie sich bezieht, selbst konstituiert” (Foucault 1999, 306), zu analysieren, insofern relational zu erläutern und so als Netzwerk und Kräfteverhältnis vorzustellen. Zentrische Formulierungen ‘der’ Macht – so schwer es auch ist, sie zu vermeiden: “es ist wahr, ich habe diese Metapher einer allmählichen konzentrischen Ausbreitung benutzt, die nach und nach ...” (Foucault 1978, 127) – verbieten sich schlicht, verstellen sie doch die Eigenart der Macht, selbst ‘Kampf’ (vgl. Foucault 1999, 28) als einem Widerstreit zwischen “Herrschaft und Unterwerfung” (Foucault 1999, 36) zu sein. Anstelle des “für das Recht zentralen Problems der Souveränität und des Gehorsams” (ebd. 36) geht es Foucault darum, die Macht “in Kategorien wie Kampf, Konflikt oder Krieg” (ebd. 26) zu analysieren, um deren relationalen und dezentralen Charakter auszudrücken33. Weil aber 32
Diese insbesondere in ‘Überwachen und Strafen’ (Foucault 1976) entworfene These der ‘Produktion von Subjekten’ hat vielfach sowohl normativ als auch systematisch-analytisch dimensionierte Bedenken auf sich gezogen und in Verbindung mit dem auch von Foucault geprägten “Slogan” (Foucault 1974, 27) “des Verschwindens des Subjekts” (ebd. 24) zu einer generell ‘anti-humanistischen’ Einschätzung (vgl. Ferry / Renault 1987) beigetragen. Im systematischen Rückblick erweist sich dies aber als – höchstens phasenweise berechtigte – Fehleinschätzung gegenüber Foucaults Denken, geht es diesem doch in seiner späteren Reformulierung des Machtbegriffs gerade darum, die jeweiligen Weisen möglichen Selbstverhaltens als zentralem Moment von Macht zu betonen, ohne damit den strittigen produktiven Charakter der Macht aufzuheben. Vgl. dazu stellvertretend die Interpretation Köglers (1994, 96-98).
33
Die Produktivität einer solchen Perspektive lässt sich exemplarisch an den von Arlette Farge und Michel Foucault vorgenommenen Analysen der ‘Lettres de cachet’ (vgl. Farge / Foucault 1989) veranschaulichen: gelten diese traditionell als linear gehandhabte Machtpraktik des französischen Souveräns, ohne Einschaltung der Justiz missliebige oder verdächtige Untertanen für unbeschränkte Zeit zu inhaftieren, und insofern als drastisches Mittel ‘souveräner Willkür’ (vgl. ebd. 11), so haben Farge und Foucault in ihrer Durchsicht der Archive der Bastille (des 18. Jahrhunderts) vielfältige Belege erschlossen, die diese Form vermeintlich linearen Machthandelns als selbstgewählte familiäre Handlungsmöglichkeit nachweisen, sich in Briefen an den König oder den Generalleutnant der Polizei selbst missliebiger, schwieriger oder anders störender Familienmitglieder zu entledigen. So ließen Ehemänner ihre Frauen, Frauen ihre Männer und Eltern ihre Kinder in Gefängnissen verschwinden. Die historische Praxis dieser Sigelbiefe zeigt daher Macht gerade nicht als einen
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Macht sich weder als “Eigentum” substantial noch als “Potenz” (Foucault 1999, 194) intentional konzeptualisieren lässt (vgl. auch ebd. 36ff.), plädiert Foucault für ein relationales Modell der Macht als ‘praktischen Machtverhältnissen’, die nicht abstrakt, sondern “nur in actu” (Foucault 1994, 254) existieren: ‘Macht’, so Foucaults verschobene Perspektive, markiert ein Netz von verschiedenen Kräften, die “sich überkreuzen, aufeinander beziehen, die konvergieren oder sich im Gegenteil widersprechen und aufzuheben trachten” (Foucault 1999, 306; vgl. auch Foucault 1994, 253ff.), und kann ohne ‘Gegenmacht’ – sprich: Widerstand und Kritik – nicht überzeugend konzipiert werden; es ist daher einleuchtend, Macht auch (und gerade) von ihrer Gegenseite her – den Widerstandspraktiken – zu analysieren (vgl. Foucault 1994, 256, 259f.). Nur völlig unzureichend begreifen ließe sich Macht daher in einer Art einer “allgemeinen Matrix einer globalen Zweiteilung, die Beherrscher und Beherrschte einander entgegensetzt und von oben nach unten auf immer beschränktere Gruppen und bis in die letzten Tiefen des Gesellschaftskörpers ausstrahlt” (Foucault 1977, 115); statt sich ihr deduktiv zu nähern, geht es darum, “eine aufsteigende Machtanalyse vor[zu]nehmen” und “von den unendlich kleinen Mechanismen aus[zu]gehen” (Foucault 1999, 39), um so einer allgemeinen ‘Mikrophysik der Macht’ (vgl. Foucault 1976b) zuzuarbeiten. Konsequent unterscheidet Foucault daher verschiedene Ebenen einer solch relationalen Macht: “Unter Macht, scheint mir, ist zunächst zu verstehen: die Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren; das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kräfteverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt; die Stützen, die diese Kräfteverhältnisse aneinander finden, indem sie sich zu Systemen verketten – oder die Verschiebungen und Widersprüche, die sich gegeneinander isolieren; und schließlich die Strategien, in denen sie zur Wirkung gelangen und deren große Linien und institutionelle Kristallisierungen sich in den Staatsapparaten, in der Gesetzgebung und in den gesellschaftlichen Hegemonien verkörpern” (Foucault 1977, 113-114). Macht daher bloß auf Intentionen zurückzuführen, würde deren systemisch-strukturellen Charakter als einem gesellschaftlich strukturierten Netzwerk von vorgegebenen Handlungsmöglichkeiten negieren; aber auch umgekehrt ließe Macht sich nicht einfach als übergreifende Struktur und generelles System ansehen, in denen das Handeln und Gegenhandeln einzelner zum Verschwinden gebracht wird. Insofern aber Machtverhältnisse weder determinierende Strukturen noch bloße, sich in Handlungen ausdrückende “Sinnverhältnis[se]” (Foucault 1978, 29) sind, muss sie – geradezu streng nominalistisch – als “der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt” (Foucault 1977, 114) verstanden werden: ‘Strategie ohne Stratege’ (vgl. Foucault 1978, 132ff.), wie Foucault bisweilen pointiert. Auf konzeptioneller Ebene führt diese mit Produktivität, Relationalität und Pluralität kennzeichenbare Perspektivierung von Macht zur Einführung des Begriffs des ‘Dispositivs’ (vgl. Foucault 1978, 119ff.)34, mit dessen Hilfe ein “heterogenes Ensemble” von durchaus disparaten Elementen von ‘Gesagtem wie Ungesagtem’ (vgl. Foucault 1978, 120) wie “Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze” (ebd. 119) bezeichnet wird; entscheidend dabei ist aber die jeweilige “Natur der linear repressiven Machtmechanismus, der allein von oben nach unten als königliche Willkürmacht erläutert werden könnte, sondern als ein komplexes Beziehungsgeflecht unterschiedlicher Praxen. Zugleich kann gezeigt werden, wie durch diese Nutzung und auch Aneignung der Souveränitätsmacht diese ihrerseits effektiviert und stabilisiert werden konnte, so dass die “Privatleute, ohne es ausdrücklich zu wollen, auf diese Art teilweise spontane Agenten der öffentlichen Ordnung werden konnten” (ebd. 274). Anders formuliert: auch souveräne Macht kann letztlich sich nur durch Unterstützung und Zustimmung erhalten. 34
Der Begriff des Dispositivs taucht bei Foucault erstmalig in seinen disziplinartheoretischen Überlegungen zur Sexualität auf (vgl. Foucault 1977, 35) und bezeichnet (dort) Regelungen und Vorkehrungen zur Durchsetzung strategischer Operationen, die den Betroffenen nicht einfach ‘überstülpt’ werden, sondern durch sie selbst verändert werden können und müssen. Vgl. dazu ausführlicher Deleuze 1991 wie auch die Anregungen Jägers (2001) zu einer ‘Dispositivanalyse’.
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Verbindung [...], die zwischen diesen heterogenen Elementen sich herstellen kann” (ebd. 120) und die in ihrer Genese als ‘Reaktion auf einen Notstand’ (vgl. ebd.) erklärbar sein muss. Der Begriff des Dispositivs hebt daher sowohl das strategische und funktionale Verhältnis der heterogenen Machtbeziehungen als auch die damit verbundene Tendenz einer zunehmenden Durchsetzung spezifischer Logiken hervor. Eine dritte Akzentuierung des Foucaultschen Machtbegriffs lässt sich anschließen: Macht ist bei Foucault von Anfang an mit Wissen eng verknüpft und kann ohne diesen Zusammenhang nur sehr unzureichend verstanden werden. Doch während das Verhältnis von Wissen und Macht oft so gelesen wird, dass jenes in diesem plaziert und als dessen Ausdruck konzipiert wird, so dass Wissen nur eine – dann diskursive – Erscheinungsform der Macht wäre, ist es ebenso fruchtbar, das Verhältnis beider auch umzukehren und auch Wissen als Struktur der Macht auszulegen. Folgt man den Überlegungen Foucaults, so legt sich zunächst die erste Lesart nahe: Wissen, so ließe sich ein Befund der archäologischen Studien Foucaults benennen, ist weder ungeschichtlich noch unbedingt, sondern seinerseits historisch wie gesellschaftlich bedingt; nicht nur Inhalt und Struktur, sondern auch Wahrheit des jeweiligen Wissens müssen vielmehr als zeitlich wie sozial produziert verstanden werden. Foucaults historische Untersuchung und Unterscheidung verschiedener ‘Episteme’ – Analogiedenken der Renaissance, Repräsentationsdenken der Klassik und neuzeitlich-modernes Konstruktionsdenken – können als ein eindrücklicher Beleg dieser Historizität gelten (vgl. Foucault 1969). Was archäologisch zur erkenntnistheoretisch begründeten Dekonstruktion des Subjekts in seiner irreführend als überzeitlich angenommenen ‘Stifterfunktion’ führt, bekommt genealogisch einen weiteren Rahmen: Wissen ist selbst Moment der Macht, so dass Macht die Struktur des Wissens ausmacht. ‘Wahrheit’ – als Inbegriff einer möglichen Eigenstruktur des Wissens – kann nicht bloß in Opposition zu Macht gesetzt werden, sondern muss als deren ‘Effekt’ aufgenommen werden. In wiederum schroffer Abgrenzung zu traditionellen Zugängen, die Wissen und Wahrheit als Diskurs zur Begrenzung von Macht qua Rechtsfindung verstehen, formuliert Foucault vielmehr “mein Problem” dazu gegenläufig: “Welcher Machttyp ist in der Lage, Wahrheitsdiskurse zu produzieren [...]?” (Foucault 1999, 32). Diese Einschätzung des Wissens als einem Produkt von Macht (und Gegenmacht) ist dabei nur konsequent, analysiert man die jeweiligen Weisen der ‘Wahrheitsfindung’ genauer: jede Wahrheit, so Foucault eindringlich, “wird nicht konstatiert, sondern hervorgeholt: Produktion statt Apophantik” (Foucault 1980, 64-65); sie ist gerade nicht Abbild, sondern ihrerseits in ein heterogenes “Ensemble von strategischen Regeln, Prozeduren, Berechnungen und Anordnungen” (ebd. 65) eingeordnet, die “die rituelle Produktion des Ereignisses ‘Wahrheit’ gestatten sollen” (ebd.). Solchermaßen eingebunden in Machtpraktiken, die mit ‘Interessen’ (Habermas) nur sehr oberflächlich benannt würden, ist jedes Wissen insofern immer “Macht-Wissen” (ebd. 68); auch “die Wahrheit qua Konstatierung in Gestalt der Erkenntnis ist vielleicht nur ein partikularer Fall der Wahrheit qua Probe in Gestalt des Ereignisses” (ebd. 66). Lässt sich aber Wahrheit gerade nicht kontextfrei und nicht-perspektivisch erläutern, bleibt sie strukturell eingebunden in Macht; auch historisch vermag Foucault diesen Zusammenhang zu belegen, indem er den Wandel jeweiliger Wahrheitsprozeduren in Analogie zu den “wesentlichen Mutationen der okzidentalen Gesellschaften” (ebd. 68) hinsichtlich ihrer Machtstrukturen zu setzen in der Lage ist35. 35
Vgl. dazu die vielfältigen Studien zu Wahnsinn, Krankheit und Klinik wie auch die Konstruktion der Humanwissenschaften als Ausdruck veränderter Machtkonstellationen und Strategien. Auch hier geben Kögler (1994, insbes. 118-147) wie Lemke (1997, insbes. 327-346) einen hervorragenden Ein- und Überblick. Dass diese Einschätzung Foucaults vehemente Kritik auf sich gezogen hat, verwundert kaum; insbesondere seine Annäherung von Wahrheit und Macht wird bisweilen heftig bestritten, ohne dass jedoch darauf geachtet wird, dass auch Foucault selbst Wahrheit und Macht gerade nicht miteinander identifiziert und ineinander fallen lassen hat. Vgl. dazu ausführlicher Foucault 1980. Insbesondere die doppelte Justierung der Genealogie als einer Analyse der Genese jeweiligen ‘Macht-Wissens’ und einer kritischen “Wiederkehr des Wissens” (Foucault 1999, 14) als dem “Aufstand der ‘unterworfenen Wissen’” (ebd. 15) bestätigt die
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Eine umgekehrte Lesart provoziert daher zunächst: nicht nur war bereits genealogisch der Rahmen der Machtanalysen erheblich erweitert worden, so dass gerade nicht bloß Diskurse in ihrer Machtverwicklung analysiert werden konnten, sondern Macht als ‘heterogenes Ensemble’ unterschiedlichster Praktiken eingeführt wurde; vielmehr schien doch gerade Foucaults Verdikt, dass es in Macht nicht um ‘Sinnverhältnisse’ gehen könne, jede Rückführung von Macht auf Intentionalität zu versperren und damit die These, dass ‘Wissen’ auch die Struktur der Macht sei, von vornherein zu desavouieren. Foucaults salopp formulierte Bemerkung – “Wir können Macht nur über die Produktion von Wahrheit ausüben. Das gilt für jede Gesellschaft” (Foucault 1999, 32) – scheint daher auch in dieser Umkehrungslesart zunächst nur wenig herzugeben, ist sie doch – im Bild des Geständnisses stellvertretend symbolisiert – allzu offensichtlich an die ‘Produktion von Wahrheit’ als einem Modus der Unterwerfung gebunden (vgl. auch Foucault 1977, 76f.). Und doch ist mit ihr auch ein Moment der Macht – deren notwendige Angewiesenheit auf Symbolizität – benannt, das festgehalten werden muss: Macht ist, soll sie nicht bloß körperliches Zwangsverhältnis sein, ihrerseits auch immer an eine Form der Selbstreferentialität gebunden, die mit Interpretativität, Reflexivität und Symbolizität präzisiert werden kann. Gerade weil Macht nicht bloß – und bei Foucault sogar wesentlich nicht – Einwirkungs- und Unterdrückungshandeln ist, ist sie als ‘Figuration möglicher Alternativenkonstellationen’ immer auch ein – nun doch! – ‘Sinnverhältnis’ (vgl. Foucault 1978, 29). Dabei meint ‘Sinnverhältnis’ hier jedoch nicht, dass ‘Macht’ auf Absichten kausal zurückgeführt und in einem (Sinn)Ursprung begründet werden könnte; vielmehr ginge es darum, ‘Macht’ mit der Deutungsnotwendigkeit der Menschen so zu verknüpfen, dass sie als Moment menschlicher Selbstauslegungen in doppelter Weise verdeutlicht werden kann: zum einen, weil das, was unter Macht verstanden werden kann, immer auch davon abhängt, wie und als wer Menschen sich selbst verstehen und beschreiben; zum anderen aber auch, weil Macht – insbesondere in ihren produktiven Formen – immer auch über die Strukturierung und Figurierung jeweiliger Selbstverhältnisse wirkt und sich ebenso in sie einschreibt wie ihre bereits eingespielten Bahnen nutzt (vgl. ausführlicher Kap. V). Es ist diese Doppelung, die die Vereindeutigung des Begriffs der Macht immer wieder erschwert. Kaum verwunderlich daher, dass Foucaults immer wieder auch durch Verschiebungen und Umbauten gekennzeichnetes Verständnis der Macht ebenso engagiert wie grundsätzlich formulierte Kritik provoziert hat, die sich insbesondere an der von ihm vorgenommenen weiten Justierung von Macht festgemacht hat36. Ihr vielfach variiert vorgetragener und hier systematisch relevanter Vorwurf ist – neben dem der vermeintlichen Hypostasierung der Macht zu einem ‘Subjekt der Geschichte’ – v.a. der einer ‘paradoxen Suspension normativer Fragen’ (vgl. Fraser 1994, 33), die sich unter der Überschreibung ‘empirical insights and normative confusions’ (vgl. Fraser 1994) treffend bündeln lässt: trotz – so Frasers bereits früh formulierte Kritik – einer “ergiebigen empirischen Darstellung von einigen unverwechselbar modernen Modalitäten der Macht” (ebd. 31), die sich gerade der Ausweitung des Machtbegriffs durch die ‘Ausklammerung’ von Legitimitätsfragen verdanke (vgl. ebd. 33), verstricke sich Foucaults Argumachttheoretische Grundthese, indem sie sie auf an Gegenmacht gebundenes ‘Gegen-Wissen’ bezieht. Genealogisch geht es daher sowohl um die Analyse der Konstruktion legitimen Wissens als auch um die Freilegung des disqualifizierten, delegitimierten und insofern verdrängten Wissens, darum, gegen die zentralisierenden Machtwirkungen der organisierten Diskurse dieses ‘minoritäre Wissen’ (Deleuze) als Kritikmöglichkeit zu stärken. Vgl. insgesamt auch Foucault 1978. 36
Vgl. dazu den ebenso umfassenden wie präzisen Überblick bei Lemke (1997, 11-37 wie auch 2003), der nicht nur die angelsächsische und deutsche Diskussion in ihren Grundlinien rekonstruiert und vielfältige Literaturverweise auflistet, sondern diese auch seinerseits kritisch kommentiert. Gerade im Umbau des genealogischen Machtmodells zu einem Verständnis von Macht als ‘Gouvernement’ sieht er aber die Überwindung der Kritik an Foucault bereits vollzogen (vgl. Lemke 2001b). Vgl. auch generell zu dieser Debatte um eine paradoxe Normativität die ähnlich ausgerichteten und präzisen Überlegungen bei Schäfer (1995).
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mentation gerade aufgrund dieser zunächst methodologisch vorgenommenen Weichenstellung unweigerlich in vielfache normative Widersprüche, indem sie zugleich “politisch engagiert” und “normativ neutral” (vgl. ebd.) zu sein versuche. Sei aber Macht, so ihr Hauptargument, überall (und alles) und insofern nicht aufhebbar, so ließe sie sich nicht dadurch kritisieren, dass sie immer wieder eindringlich als Macht – Fraser verweist hier auf die Foucaultsche Semantik von Disziplinarmacht, Biomacht etc. (vgl. Fraser 1994, 46f.) – entlarvt und angeprangert werde. Vielmehr sei Foucaults Argumentation – so Fraser – paradox, ist es doch für sie “in der Tat wesentlich [...], bei den Praktiken und den Formen des Zwangs bessere von schlechteren zu unterscheiden” (ebd. 52); könne er aber die normativen politischen Urteile, die er dauernd implizit fälle, weder erklären noch rechtfertigen, so seien seine Überlegungen entweder selbstwidersprüchlich (vgl. ebd. 50) oder gar bloß trivialisierend und verharmlosend allgemein (vgl. ebd. 51). Der von Fraser diagnostizierte Grund dieser ‘Verwirrungen’ – “Das Problem besteht darin, daß Foucault zu viele Dinge Macht nennt” (ebd. 52) – kehrt dabei in der Folge der Rezeption Foucaults immer wieder und verselbständigt sich schließlich unter dem Etikett einer “Metaphysik der Macht” (Breuer 1987, 324) zu einem ‘Generaleinwand’37, ohne dass spätere Theorieumbauten und Präzisierungen wie Korrekturen angemessen zur Kenntnis genommen würden. Mit den bisherigen Kennzeichnungen der Produktivität, Relationalität (wie der mit ihr verknüpften Dezentralität) und Symbolizität der Macht ist schließlich viertens eine folgenreiche Verschiebung des methodologischen Status des Begriffs der Macht verbunden, die – auch ausdrücklich (vgl. Foucault 1985a, 20) – als Antwort auf die systematisch vorgetragenen Einwürfe gelesen werden muss: Macht ist nicht Kennzeichnung oder gar Repräsentation eines besonderen sozialen Handelns, das sich entlang der Frage ‘Was ist die Macht’ objektivieren ließe (vgl. Foucault 1994, 251), und lässt sich schon gar nicht mithilfe der Frage ‘Wer hat Macht?’ dingfest machen (vgl. Foucault 1999, 37); vielmehr markiert sie als durchgängige soziale Struktur ein schlechterdings konstitutives Organisationsmoment alles Sozialen, nicht bloß ein besonderes Thema desselben und muss insofern als ‘ubiquitär’ eingestanden werden. 37
Diese Zuspitzung der Kritik auf einen ‘Monismus der Macht’ (vgl. Fink-Eitel 1980, 64) ließe sich an vielfältigen Kritikern ganz unterschiedlicher intellektueller Herkunft illustrieren: während Habermas die Kritik Frasers aufgreift und auf die methodologischen wie normativen “Aporien [s]einer Machttheorie” (Habermas 1985, 313) verweist, um Foucaults Ansatz als ebenso untauglichen wie selbstwidersprüchlichen “bekennende[n] Irrationalismus” (Habermas 1985, 327) schlicht zurückzuweisen (vgl. dazu kritisch Dotzler / Villinger 1986, Kelly 1994 wie auch Lemke 1997, 18-20), zielt Honneths theoretisch differenzierte, die Intentionen Foucaults dabei durchaus aufgreifende Kritik auf die Bedingungen der Möglichkeit eines begründeten politischen Widerstands, der sich seiner eigenen normativen Prämissen nicht selbstwidersprüchlich vergewissern können müsse, soll er nicht in einen “perspektivelosen Relativismus” (Honneth 1989, 393) verführen. In ähnlicher Perspektive moniert Taylor sowohl dessen normativ wie erkenntnistheoretisch begründeten “monolithischen Relativismus” (Taylor 1988, 232), indem er den Begriff der Macht als in dreifacher Weise verkürzt rekonstruiert – “Macht ohne Subjekt” (ebd. 210), “Macht ohne Freiheit” (ebd. 220) und schließlich ‘Macht ohne Wahrheit’ (vgl. ebd. 220 wie 224) – und als theoretisch inkonsistent wie praktisch untauglich kennzeichnet; alle drei Dimensionen aber sind machttheoretisch unverzichtbar, soll nicht “anderenfalls [...] der Begriff der Macht jede Bedeutung” (ebd. 220) verlieren. – Schäfer wie auch Lemke haben nun in ihren jeweiligen Arbeiten überzeugend darauf hingewiesen, dass diese Kritik ihrerseits schief angelegt ist, indem sie sowohl spätere Überlegungen Foucaults weitgehend außeracht gelassen bzw. in ihrer machttheoretischen Neujustierung unterschätzt hat (vgl. Lemke 1997 wie 2001) als auch ihrerseits sich spezifischer Engführungen wie bloß gesetzter dualistischer Argumentationen schuldig macht (vgl. Schäfer 1995). Vielmehr sei der vermeintliche Mangel an normativen Kriterien seinerseits performative Antwort auf die subtilen Verknüpfungen von Macht und Moral, denen Foucault durch die Weigerung, eindeutig formulierte und legitimierte Kriterien der Kritik auszugeben, sich zu entziehen versuche (vgl. Foucault 1992, 30); auch Kritik sei nicht überperspektivisch und autoritär – insofern sie als ‘richtende Kritik’ (vgl. Foucault 1984a, 13f.) allgemein sagen könne, was zu tun sei (vgl. Foucault 1994d, IV, 32) –, sondern selbst eingebunden in jeweilig perspektivisch situierte Praktiken und Problematisierungen und insofern nur ‘skeptisch’ (vgl. Foucault 1990, 145), nie ‘kategorisch’ und fundamental, sondern immer nur ‘konditionell’ und provisorisch zu formulieren (vgl. insgesamt Lemke 2003, 3-6).
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Dabei meint aber “Allgegenwart der Macht” (Foucault 1977, 114) nicht, dass “sie alles umfaßt”, sondern dass “sie von überall kommt” (ebd.) und ein Moment an allem ist. Nicht einer ‘Theorie der Macht’ gilt daher seine Aufmerksamkeit, sondern einer “Analytik der Macht” (Foucault 1978, 125ff.), die ihre analytische Kraft erst in der Befragung des ‘Wie’ entfalten kann (vgl. Foucault 1994, 251) und vorrangig (aber nicht ausschließlich) mit ihr einsetzen muss. In dieser Fragerichtung aber markiert der Begriff der Macht – so Foucault nun ausdrücklich – eine besondere (und noch näher zu kennzeichnende) Beobachtungsperspektive und wird nur “gebraucht” (Foucault 1992, 32), um spezifische Momente des Sozialen – Mechanismen, Strategien, Techniken etc. – in ihrer Funktionalität sichtbar zu machen. Folgerichtig hat Macht “nur eine methodologische Funktion” (ebd.): mit ihr “sollen nicht allgemeine Wirklichkeitsprinzipien ausfindig gemacht” (ebd.) und objektiviert werden, sondern soziale Beziehungen funktional beobachtet werden. “Macht – das ist nur ein Analyseraster” (ebd. 33) – so ließe sich Foucaults Kennzeichnung des kategorialen Charakters des Begriffs der Macht bündeln. Mit ihr kehrt er auch methodologisch zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zurück, “daß die Macht nicht existiert” (Foucault 1994, 251), indem er sie nun auch methodologisch als “Transzendentale” (ebd. 318) ausgibt. Ihr Focus ist das ‘Tun des Tuns’, das sich in seiner Effektivität der Intentionalität der Handelnden entzieht: “Die Leute wissen, was sie tun; häufig wissen sie, warum sie das tun, was sie tun; was sie aber nicht wissen, ist, was ihr Tun tut” (Foucault, zit. nach Dreyfus / Rabinow 1994, 219). Vor diesem Hintergrund entwirft Foucault nun sein Verständnis von Macht als einer ‘Führung der Führungen’ und schränkt so den beobachtungstheoretisch enorm ausgeweiteten Begriff der Macht wieder ein, indem er nun dessen Spezifik präzisiert. In doppelter Abgrenzung von ‘Macht’ als bloßen “sachlichen Fähigkeiten” (Foucault 1994, 252), “die man über die Dinge ausübt und die einen instand setzen, zu verändern, zu gebrauchen, sie zu konsumieren oder zu zerstören” (ebd. 251), und “Kommunikationsbeziehungen” (ebd. 252), in denen man “Informationen durch eine Sprache, ein Zeichensystem oder jedes andere symbolische Medium” (ebd.) mitteilt, verankert Foucault die “Eigenart” (ebd.) von Machtverhältnissen pointiert im relationalen Charakter von sozialen Beziehungen: “Der Begriff der Macht bezeichnet Verhältnisse zwischen ‘Partnern’ (und dabei denke ich [...] an ein Ensemble von Handlungen, die sich gegenseitig hervorrufen und beantworten)” (Foucault 1994, 251-252). Auch wenn sich die vorgetragene Unterscheidung gegenstandstheoretisch nicht durchhalten lässt, handelt es sich doch gerade nicht um “drei getrennte Bereiche” (ebd. 252), so dass Kommunikation und zielgerichtetes “Herstellen oder In-Umlauf-Bringen” (ebd.) differente soziale Handlungen wären, so “dürfen [sie doch] nicht miteinander verwechselt werden” (ebd.). Vielmehr geht es – so Foucault – um “drei Typen von Verhältnissen, die allerdings immer ineinander verschachtelt sind, sich gegenseitig stützen und als Werkzeug benutzen” (ebd.): so zielt der Einsatz von sachlichen Fähigkeiten qua Technik und Arbeit auf die Dinge und deren zielgerichtete Transformation, während es in ‘Kommunikationsbeziehungen’ um “Fabrikation von Sinn” (ebd.) zwischen als gleich unterstellten Menschen qua Zeichennutzung geht. Macht hingegen focussiert jenes Moment an allen sozialen Verhältnissen, wie Menschen sich gegenseitig beeinflussen und ihr jeweiliges Handeln durch Handeln zu strukturieren versuchen: “Tatsächlich ist das, was ein Machtverhältnis definiert, eine Handlungsweise, die nicht direkt oder unmittelbar auf die anderen einwirkt, sondern eben auf deren Handeln” (Foucault 1994, 254). Pointierter formuliert: Macht ist immer ein “Handeln auf Handeln, auf mögliche oder wirkliche, künftige oder gegenwärtige Handlungen” (ebd.) – und zwar immer so, “daß der andere (auf den es einwirkt) als Subjekt des Handelns bis zuletzt anerkannt und erhalten bleibt und sich [...] ein ganzes Feld von möglichen Antworten, Reaktionen, Wirkungen, Erfindungen eröffnet” (ebd.). Damit gelingt Foucault eine erste bedeutsame Abgrenzung (und Eingrenzung) von Macht, indem er sie gegen Gewalt konturiert – “ein Gewaltverhältnis wirkt auf einen Körper, wirkt auf Dinge ein: es zwingt, beugt, bricht, es zerstört: es schließt alle Möglichkeiten aus; es bleibt ihm kein anderer Gegenpol als der der Passivität” (ebd. 254) – und so vermeidet,
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jene auf diese zurückzuführen, ohne dass damit behauptet würde, dass es in Machtverhältnissen nicht auch einen Gebrauch der Gewalt geben kann. Aus dieser Abgrenzung lässt sich zunächst eines folgern: Macht ist ein Möglichkeitsbegriff und konstitutiv an das Vorhandensein von Möglichkeiten gebunden; ja schärfer noch: er thematisiert nicht nur Möglichkeiten, insofern er “in ein Möglichkeitsfeld” (ebd. 254) eingeschrieben ist; Macht markiert vielmehr selbst einen Mechanismus der Handhabung von Möglichkeiten. Macht “ist ein Ensemble von Handlungen in Hinsicht auf mögliche Handlungen; sie operiert auf dem Möglichkeitsfeld, in das sich das Verhalten des handelnden Subjekte eingeschrieben hat: sie stachelt an, gibt ein, lenkt ab, erleichtert oder erschwert, erweitert oder begrenzt, macht mehr oder weniger wahrscheinlich; im Grenzfall nötigt oder verhindert sie vollständig; aber stets handelt es sich um eine Weise des Einwirkens auf ein oder mehrere handelnde Subjekte, und dies, sofern sie handeln oder zum Handeln fähig sind” (ebd.). Kurz formuliert: Macht “heißt in diesem Sinne, das Feld eventuellen Handelns der anderen zu strukturieren” (ebd. 255). Bezieht man nun diese Kennzeichnung zurück auf die Unterscheidung von Machtverhältnissen, Kommunikationsbeziehungen und sachlichen Fähigkeiten, so wird mit ‘Macht’ als einem ‘Analyseraster’ jene konditionale Strukturierung und Figurierung von Handlungs- und Verhaltensmöglichkeiten focussiert, die ein Moment an jedem Handeln, Verhalten und Sozialität überhaupt sind. So wird mit ‘Macht’ nicht nach dem ‘Warum’, ‘Was’ oder ‘Wer’ des sozialen Handelns gefragt, sondern danach, was das jeweilige ‘Tun’ selbst ‘tut’ mit dem ‘Tun’ der anderen, – ‘wie’ es also tut, ohne dabei bloß auf ein Tun reduziert zu werden. Es ist daher nicht überraschend, dass Foucault nun genau diese Eigenart der ‘Macht’ in einer durchaus griffigen Formel zu präsentieren sucht, um – quasi als Erläuterungshilfe – deren iterativen Charakter sowohl inhaltlich als auch methodologisch präsent zu halten: “Vielleicht eignet sich ein Begriff wie Führung gerade kraft seines Doppelsinns gut, das Spezifische an Machtverhältnissen zu erfassen. ‘Führung’ ist zugleich die Tätigkeit des ‘Anführens’ anderer (vermöge mehr oder weniger strikter Zwangsmechanismen) und die Weise des Sich-Verhaltens in einem mehr oder weniger offenen Feld von Möglichkeiten. Machtausübung besteht im ‘Führen der Führungen’ und in der Schaffung der Wahrscheinlichkeit” (ebd. 255) und kann daher gerade nicht bloß linear als Einwirkungs- oder gar Durchsetzungshandeln ausgelegt werden; vielmehr geht es in ‘Macht’ immer darum, wie das Handeln des einen und des anderen miteinander konditional verknüpft sind und werden38. Gerade diese Relationalität aber wird nun zum spezifischen Kriterium von Machtbeziehungen: “Macht wird nur auf ‘freie Subjekte’ ausgeübt und nur sofern diese ‘frei’ sind. [...] Dort wo die Determinierungen gesättigt sind, existiert kein Machtverhältnis; die Sklaverei ist kein Machtverhältnis” (ebd. 255). Foucault wird nicht müde, diesen systematischen Umbau des Machtbegriffs zu betonen; er ist selbst (auch) Folge der vielfach vorgetragenen Kritik am ‘Monismus der Macht’ (vgl. Fink-Eitel 1980, 64)39. 38
Mit dieser Doppelung von Führung ist es auch möglich, Macht in ihrem bei Arendt bereits diagnostizierten ‘Doppelcharakter’ zu erläutern: Macht ist sowohl die durch Sozialität neu ermöglichte Handlungsfähigkeit als auch die darin (!) geübte Form der Über- und Unterordnung. Was bei Arendt noch bisweilen schroff getrennt war, kann bei Foucault so als ein Zusammenhang eingesehen werden, lassen sich doch Machtbeziehungen und Herrschaftseffekte nicht voneinander trennen; vgl. dazu auch Foucaults ausdrückliche Hinweise auf Arendt (Foucault 1994b, 706f.).
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Darauf weist Foucault selbst hin, indem er den Hinweis, “daß es Machtbeziehungen nur in dem Maße geben kann, wie die Subjekte frei sind” (Foucault 1985a, 19), verknüpft mit dem Abweis der Frage, dass es keine Freiheit geben könne, wenn denn die Macht überall sei. Foucault: “Ich antworte: wenn es in jedem gesellschaftlichen Feld Machtbeziehungen gibt, dann deshalb, weil es überall Freiheit gibt” (ebd. 20). Und zur Verklarung betont Foucault: “Selbst wenn die Machtbeziehung völlig aus dem Gleichgewicht geraten ist, wenn man wirklich sagen kann, daß einer ‘alle Macht’ über den anderen hat, kann sich die Macht über den anderen nur in dem Maße auswirken, wie diesem noch die Möglichkeit bleibt, sich umzubringen, aus dem Fenster zu springen oder den anderen zu töten” (ebd. 19). Damit ist zweierlei festgehalten: Macht kann ohne
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Entscheidend ist daher, dass Macht und Freiheit gerade nicht ‘antagonistisch’, sondern ‘agonistisch’ – als ‘gegenseitige Anstachelung und Kampf’ und ‘fortwährende Provokation’ (vgl. ebd. 256) – justiert sind: “Macht und Freiheit stehen sich also nicht in einem Ausschließungsverhältnis gegenüber (wo immer Macht ausgeübt wird, verschwindet die Freiheit)”, sondern müssen “innerhalb eines sehr viel komplexeren Spiels” analysiert werden: einerseits ist Freiheit “Existenzbedingung von Macht”, d.h. “ihre Voraussetzung, da es der Freiheit bedarf, damit Macht ausgeübt werden kann” wie “ihr ständiger Träger, denn wenn sie sich völlig der Macht, die auf sie ausgeübt wird, entzöge, würde auch diese verschwinden und dem schlichten und einfachen Zwang der Gewalt weichen” (ebd. 256), andererseits ist sie aber auch Folge der Macht, sei es als ‘Produkt der Macht’ oder als Gegenmacht, die “sich nur einer Ausübung von Macht entgegenstellen kann” (ebd.), sind doch “Machtverhältnis und das Aufbegehren der Freiheit [...] gar nicht zu trennen” (ebd. 256). Nur konsequent ist es daher, auch den Begriff der Freiheit als – zwar praktisch bedeutsame, doch beobachtungstheoretisch justierte – Kategorie zu erläutern (vgl. auch Foucault 1985a, 20). Mithilfe des Begriffs des “Gouvernement” (ebd. 255) gelingt es Foucault, diese Kennzeichnung der Macht auch konzeptionell zu präzisieren und gegen zweierlei – nun auch selbstkritisch als untauglich eingesehene40 – Modelle in Anschlag zu bringen: Macht – so war bereits deutlich geworden – ist nicht Gewalt und lässt sich daher nur unzureichend im “Modell des Krieges” (Foucault 1999, 28) als “der mit anderen Mitteln fortgesetzte Krieg” (ebd. 26) fassen, basiert dieser doch letztlich auf einer “Kraftprobe, bei der schließlich die Waffen entscheiden werden” (Foucault 1999, 27); Macht kann aber auch nicht mit Herrschaft schlicht identifiziert werden, ist diese doch als institutionalisierte und auf Dauer gestellte Form asymmetrischer Handlungsregulierung durch “Verzicht auf Freiheit”, “Rechtsübertragung oder die Delegation der Macht aller an Einzelne” (Foucault 1994, 255) letztlich auf “Vertrag und Willensbande” (ebd.) gestützt, die insofern “der Ordnung der Übereinkunft” (ebd.) angehört und daher immer – mehr oder weniger – “Ausdruck eines Konsenses” (ebd.) ist. Herrschaft – so Foucault weiter – muss vielmehr als eine Form der Erstarrung der beweglichen und in sich immer wieder auch umkehrbaren Machtverhältnisse verstanden werden, so dass sie nur eine – allemal bedeutende – Weise der Macht darstellt: “Wenn es einem Individuum oder einer gesellschaftlichen Gruppe gelingt, ein Feld von Machtbeziehungen zu blockieren, sie unbeweglich und starr zu machen und – mit Mitteln, die sowohl ökonomisch als auch politisch oder militärisch sein können – jede Umkehrbarkeit der Bewegung zu verhindern, dann steht man vor dem, was man einen Herrschaftszustand nennen kann” (Foucault 1985a, 11)41. Freiheit nicht verstanden werden, so dass die Vorstellung einer ‘totalen Macht’ selbstwidersprüchlich ist; und: Macht definiert sich über “Widerstandsmöglichkeiten” (ebd.) und ‘Umkehrbarkeit’. Erst Herrschaft ist durch Stabilisierung und dauernde Asymmetrie der Handlungsmöglichkeiten gekennzeichnet (vgl. ebd. 20). 40
Die erstmalig in den Vorlesungen von 1978 und 1979 vorgetragene Neujustierung der Machttheorie mittels des Begriffs der ‘Gouvernementalität’ als verändertem ‘Leitfaden’ erlaubt dabei – so Lemkes Beobachtungen (vgl. 1997 und 2001b wie auch Lemke / Krasmann / Bröckling 2000) – nicht nur die kritische Absetzung von den Modellen des Rechts wie des Kampfes, sondern ermöglicht auch, strategische Machtbeziehungen und Herrschaftsverhältnisse aufeinander beziehen zu können (ohne damit die erarbeitete Differenzierung zwischen Macht und Herrschaft wieder preiszugeben; vgl. Foucault 1985a, 11 wie auch 2000). Kern dieses veränderten Machtverständnisses ist dabei die Integration von Selbstführungspraktiken in Regierungsformen.
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Doch auch hier überrascht Foucaults weite Interpretation von ‘Spielräumen’ möglichen Handelns; in einem Interview (Juni 1982) erläutert Foucault dies eindrücklich: “Well I don’t think the word ‘trapped’ is a correct one. It is a struggle, but what I mean by power relations is the fact that we are in a strategic situation towards each other. [...] When we deal with the government, the struggle, of course, is not symmetrical, the power situation is not the same, but we are in this struggle, and the continuation of this situation can influence the behavior or nonbehavior of the other. So we are not trapped. We are always in this kind of situation. It means that we always have possibilities, there are always possibilities of changing the situation. We cannot jump
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Mit dieser konzeptionellen Verschiebung ist schließlich auch eine weitere machttheoretische Weichenstellung verbunden: Macht lässt sich – so der bisherige systematische Befund – gerade nicht unabhängig von jeweiligen Wissensformationen und Selbsttechnologien verstehen, so dass sie nur innerhalb eines ‘analytischen Dreiecks’ analysiert werden kann, in dem die Dimensionen des Wissens, der Macht und der Selbsttechnologien so ineinander verschränkt sind, dass sie nicht unabhängig voneinander analysiert und diskutiert werden können. Damit justiert Foucault seine Machtstudien diesseits der schiefen Alternative von ‘Ideen-‘ und ‘Sozialgeschichte’, lassen sich doch weder jeweilige Ideen und Ideologien einer Gesellschaft als Matrix sozialer Praktiken rekonstruieren noch umgekehrt jene aus als allgemein unterlegten sozialen Strukturen ableiten; vielmehr geht es immer darum, “die Problematisierungen, in denen das Sein sich gibt als eines, das gedacht werden kann und muß, sowie die Praktiken, von denen aus sie sich bilden” (Foucault 1986, 19) mit den jeweiligen “Selbstpraktiken” (ebd. 20) zu verknüpfen: “Die archäologische Dimension bezieht sich auf die Formen der Problematisierung selbst; ihre genealogische Dimension bezieht sich auf die Formierung der Problematisierungen ausgehend von den Praktiken und deren Veränderungen” (ebd. 19); die ethische Dimension schließlich thematisiert die jeweilig darin einverwickelten ‘Technologien des Selbst’ (vgl. Foucault 1993, 24-32). Bei und mit sozialen Praktiken an- wie einzusetzen heißt daher immer, Problematisierungsformen und Diskurse, soziale Verhaltensweisen und Dispositive wie jeweilige Selbstverhältnisse zu berücksichtigen und miteinander zu verknüpfen, so dass ein Primat von Handlung oder Struktur kategorisch ausgeschlossen wird und vielmehr eine ‘Zwischenebene’ analytisch anvisiert werden kann. Mit dem Neologismus ‘Gouvernementalität’ bezeichnet Foucault nun jene Machtformen, in denen “Formen politischer Regierung auf Praktiken des ‘Sich-selbst-Regierens’ zurückgreifen” (Lemke 2002b, 474; vgl. auch Foucault 2000, 64). Ein solcher konzeptioneller Aufriß aber hat direkte Folgen: geht es in einer Analytik der Macht immer um eine Rekonstruktion jeweiliger ‘Führungen von Führungen’, so ist es nun keinesfalls abwegig, auch die Punkte zu analysieren, “where the technologies of domination of individuals over one another have recourse to processes by which the individual acts upon himself. And conversely, one has to take into account the points where the techniques of the self are integrated into structures of coercion or domination. The contact point, where the individuals are driven by others is tied to the way they conduct themselves, is what we can call, I think, government” (Foucault 1993a, 203). Entscheidend dabei ist in einer solchen praxeologischen Perspektive, Praktiken nicht in der schiefen Alternative zwischen Handlung und Struktur misszuverstehen: weder sind “diese Praktiken [...] vom Individuum selbst erfunden”, sind sie doch “Schemata, die es in seiner Kultur vorfindet, die ihm von seiner Kultur, seiner Gesellschaft, seiner sozialen Gruppe vorgeschlagen, nahegelegt und aufgezwungen werden” (Foucault 1985a, 19), noch lassen sie sich unabhängig vom jeweiligen (Selbst-)Verhalten der Menschen als vermeintlich objektive Strukturen erläutern; vielmehr wird es immer wieder darum gehen, sie miteinander zu verknüpfen und erst in ihrer Verknüpfung als bedeutsam zu erachten. Diese Neujustierung des Machtbegriffs – zwischen Gewalt und Herrschaft einerseits und Wissensformationen und Selbstpraktiken andererseits – ermöglicht es auch empirisch, weit zahlreichere Phänomene eines ‘Führens der Führungen’ in den Blick zu nehmen und machttheoretisch zu erschließen42. outside the situation, and there is no point where you are free from all power relations. But you can always change it. So what I’ve said does not mean that we are always trapped, but that we are always free – well, anyway, that there is always the possibility of changing” (Foucault 1997, 167; auch in Foucault 1994d, IV, 735746, hier 740). 42
Vgl. dazu die im angelsächsischen Diskurs seit Beginn der 90er Jahre etablierten und zunehmend verbreiteten ‘governmentality-studies’ (vgl. Burchell u.a. 1991, Barry u.a. 1996, Shore / Wright 1997 oder Dean / Hindess 1998, an denen die einschlägigen Autoren, Arbeiten wie Fragejustierungen exemplarisch ablesbar sind), die
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Foucaults Explikation der Macht als eines ‘Führens der Führungen’ erlaubt, den bislang erarbeiteten machttheoretischen Blick zu schärfen: nicht nur, dass Macht kein objektivierbares Handeln bezeichnet (und repräsentiert), sondern ein spezifisches Moment an allem sozialen – sei es direkten oder auch zu Strukturen geronnenen – Handeln markiert; auch nicht nur, dass Macht und Freiheit miteinander so verknüpft sind, dass sie gegenseitig Bedingung, Folge wie Widerspruch sein können und insofern als ein Zusammenhang thematisiert werden müssen; vielmehr gelingt es Foucault überaus überzeugend, Macht grundsätzlich in der Relationalität von Menschen zu verankern und als spezifische Figuration derer Konditionalität zu erläutern, ohne dabei in die alten Dualismen – Subjekt hier, Struktur dort – zurückzufallen. Trotz mancher Formulierungen, die die ‘Vorgängigkeit’ von Subjektivität vermeintlich nahelegen43, lässt Macht sich gerade nicht auf das intentionale Handeln von Subjekten reduzieren; vielmehr zielen Foucaults vielfältige Arbeiten zur ‘Effektivität der Macht’ durchgängig auf die Frage, wie ‘Menschen zu Subjekten gemacht’ werden (vgl. Foucault 1994, 243): “Kurz, es geht darum, den Modus der Subjektivierung zu bestimmen, denn dieser ist offensichtlich nicht [immer] derselbe” (Foucault 1994a, 699). Zweierlei Abgrenzungen sind damit markiert, ist doch ‘Macht’ weder seinerseits vorgängiges ‘Subjekt’, das ‘Subjektivität’ als (vollständig) determinierte produziert, noch – nachgängiger – ‘Widerspruch’ zu Subjektivität, insofern sie auf dieses bloß von außen einwirkt, sondern Moment wie Ausdruck der jeweiligen Situiertheit von Menschen: weder aus sich selbst ursprünglich sein zu können und insofern immer bedingt zu sein noch hinsichtlich ihrer eigenen Lebensführung vertretbar oder gar hintergehbar zu sein, sondern ausschließlich sozial situiert zu sein. Mit dieser Problemjustierung geht aber eine – auch überraschende – Verschiebung einher: Macht, so Foucault immer wieder, muss analysiert werden über die Weise der jeweiligen Konstitution von Erfahrung44. Denn ist das Subjekt gerade ‘keine Substanz’, sondern eine (jeweilige) ‘Form’ (vgl. Foucault 1984a, 137), dann geht es in einer kritischen
im deutschen Diskurs eher (noch) eine Ausnahme darstellen. Einen guten Überblick bieten Lemke 2000 wie auch Lemke / Krasmann / Bröckling 2000; exemplarisch für den deutschsprachigen Diskurs lassen sich die von Dane u.a. (1985), Schwarz (1994) und Bröckling u.a. (2000) herausgegebenen Bände als produktive ‘Anschlüsse an Foucault’ (Schwarz) nennen. 43
Fink-Eitels immer wieder vorgetragener These, dass die ‘späte’ Wende zu einer ‘Ästhetik der Existenz’ doch ein Widerruf und ein “Zurück zum Subjekt” (Fink-Eitel 1989, 98) sei, sei ausdrücklich widersprochen. Die von Fink-Eitel in der Erweiterung und Verlagerung der Foucaultschen Begrifflichkeit unterstellte “subjekttheoretische Wende” (ebd. 100) ist gerade kein “radikaler Bruch” (ebd. 98) mit bisherig archäologisch und genealogisch betriebener Subjektkritik, sondern eine Neujustierung und Zuspitzung wie Erweiterung der genealogischen Fragestellung um das Moment der ‘Selbsttechnologien’ (vgl. dazu auch Ricken 1999a, 168ff. wie insgesamt Lemke 1997 und jüngst Sarasin 2005).
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Vgl. dazu auch die Selbstanmerkungen Foucaults: “Im Grunde habe ich mich bis heute immer nur damit beschäftigt, wie die Menschen in den abendländischen Gesellschaften diese zweifellos grundlegenden Erfahrungen wahrgenommen haben: in den Prozeß der Erkenntnis eines Objektbereichs einzutreten und dabei gleichzeitig sich selbst als Subjekte mit einem festen und determinierten Status zu konstituieren. Zum Beispiel: mit der Erkenntnis des Wahnsinns sich als vernünftiges Subjekt zu konstituieren; mit der Erkenntnis der Krankheit sich als lebendiges Subjekt zu konstituieren; mit der Erkenntnis der Ökonomie sich als arbeitendes Subjekt zu konstituieren; in einer bestimmten Beziehung zum Gesetz sich als Individuum zu erkennen ...” (Foucault 1996, 52f.).
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‘Geschichte der Erfahrung’ (Foucault) vor allem darum “zu sehen, wie sich in den modernen abendländischen Gesellschaften ‘Erfahrung’ konstituiert” (Foucault 1986, 10). Meint ‘Erfahrung’ aber jene “Korrelation [...], die in einer Kultur zwischen Wissensbereichen, Normativitätstypen und Subjektivitätsformen besteht” (ebd.), dann ist Erfahrung – in dieser Dreidimensionalität – jeweiliges Resultat von Praktiken, ohne – z.B. transzendentaltheoretisch – auf ein als vorgängig gedachtes ‘Subjekt der Erfahrung’ zurückgeführt werden zu können (und zu müssen). Vielmehr ist “die Erfahrung [...] die Rationalisierung eines Vorgangs, der selbst vorläufig ist und in einem Subjekt mündet oder besser in Subjekten. Diesen Vorgang, durch den ein Subjekt, genauer noch eine Subjektivität, konstituiert wird, würde ich Subjektivierung nennen, die selbstverständlich nur eine der gegebenen Möglichkeiten der Organisation des Bewußtseins seiner selbst ist” (Foucault 1990, 144; vgl. Lemke 1997, 265-279)45. Es ist zwar nur folgerichtig, aber doch auch unzureichend, wenn Foucault immer wieder darauf verweist, dass mit dieser begrifflichen Fassung von Macht als einer ‘Weise des Einwirkens auf Handlungen’ (vgl. Foucault 1994, 257) diese “tief im gesellschaftlichen Nexus” (ebd.) verwurzelt ist und insofern gerade nicht eine zusätzliche Struktur “über der ‘Gesellschaft’” markiert wird, “von deren radikaler Austilgung man träumen könnte” (ebd.); auch sein (in der Tat erheblich simplifizierendes) Fazit – “in Gesellschaft leben heißt jedenfalls so leben, daß man gegenseitig auf sein Handeln einwirken kann” (ebd.) – weist zwar die Richtung weiterer Erläuterungen, greift aber angesichts der anvisierten Erkundung verschiedener Subjektivierungsweisen schlicht zu kurz, sollen nicht doch stillschweigend Konzepte einer ‘Sozialisation’ dem Theorem der ‘Subjektivation’ (Waldenfels)46 unterlegt werden. Will (und kann) man sich daher mit dieser Ausweitung der Macht zu einer generell beobachtbaren Struktur nicht begnügen, ist doch die Macht trotz ihrer unaufhebbaren ‘Omnipräsenz’ gerade kein “unvermeidliches Geschick” (Foucault 1994, 257), so ist es unvermeidbar, den paradoxen Prozess der Subjektivation als einer gleichzeitigen Produktion und regulierenden Unterwerfung von Subjektivität zu erläutern: denn weder ist das ‘Subjekt’ zur Macht vorgängig, so dass diese jenes reguliert und unterwirft, noch kann es bloß als deren nachgängiges Produkt konzipiert werden; vielmehr wird mit ‘Subjektivation’ eine Perspektive markiert, die ‘Subjektwerdung’ und ‘Unterwerfung’ als einen einzigen Prozess versteht, so dass ‘Unterwerfungspraktiken’ wie ‘Befreiungsprakti45
Dabei insistiert Foucault darauf, unter Erfahrung einen ‘Modus der Ent-Subjektivierung’ zu verstehen, insofern Erfahrung immer dazu dient, “das Subjekt von sich selbst loszureißen, derart, daß es nicht mehr es selbst ist oder daß es zu seiner Vernichtung oder Auflösung getrieben wird” (Foucault 1996, 27). Dieser ‘Idee der Erfahrung’ als ‘Anderswerden’ (vgl. ebd. 24) setzt er den Modus der Erkenntnis entgegen, “die es erlaubt, die erkennbaren Objekte zu vermehren, ihre Erkennbarkeit zu entwickeln, ihre Rationalität zu verstehen, bei der jedoch das forschende Subjekt fest und unverändert bleibt” (ebd. 52). Damit ist die elementare Bewegung Foucaults verdeutlicht, die Transformation der Erfahrung und des Erfahrungswissens in Erkenntnis als einen modernen Modus der ‘Konstitution der Erfahrung’ zu analysieren.
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Der Neologismus ‘Subjektivation’ findet sich so bei Foucault nicht, wird aber sowohl von Waldenfels (1987, 115) und Meyer-Drawe (1990, 48 u.ö.) als auch Butler (2001, 7 wie 187) als deutsch wie englisch angemessene Übersetzung des frz. ‘assujettissement’ (Foucault 1976, 42, 260, 283, 287 u.ö.) verwandt, um einerseits den Doppelcharakter von ‘Unterwerfung’ und ‘Subjektwerdung’, der das lat. ‘subiectum’ kennzeichnet (vgl. Meyer-Drawe 1990, 16f. wie 152), und andererseits dessen Prozessualität in einem Begriff markieren zu können.
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ken’ ineinander verschlungen sind und den Prozess der ‘Konstitution des Subjekts’ kennzeichnen (vgl. Foucault 1984a, 137f.). Mit dieser Justierung von ‘Macht’ ist zweierlei verbunden, ist sie doch als Moment der Konstitution von Erfahrung nun ausdrücklich gebunden an jeweilige Formen menschlicher Selbstbeschreibung: nicht nur, weil wir uns im Lernen von etwas immer auch selbst erlernen, sondern weil die Strukturen menschlicher Selbstbeschreibungen auch die Matrix der jeweiligen Erfahrungen und Erfahrungsweisen – durch Mechanismen der Zuschreibung und Zurechnung von anderen – figurieren. Das aber lässt sich nicht nur individualtheoretisch nur unangemessen aufgreifen, so dass auch machttheoretisch kategoriale Um- und Neuorientierung nötig wird47; vielmehr muss – umgekehrt – Individualtheorie selbst als auch durch Macht produziertes Kategorialgerüst gelesen werden, so dass es – so Foucault – praktisch wie theoretisch-kategorial darum geht, “neue Formen der Subjektivität zustande[zu]bringen, indem wir die Art von Individualität, die man uns jahrhundertelang auferlegt hat, zurückweisen” (Foucault 1994, 250)48. (b) Lässt sich Foucaults Analytik der Macht treffend als “eine Geschichte der verschiedenen Verfahren” beschreiben, “durch die in unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden” (Foucault 1994, 243), so ist es unabdingbar, die jeweiligen Weisen der sozialen Figuration möglichen Handelns in ihrer Differenz zueinander wie in ihrer jeweiligen Effektivität zu analysieren. Foucaults vielfältige historische Studien zu unterschiedlichen Formen und Wandlungen ‘der Macht’ können dabei auch als systematisch strukturierte Typologie verschiedener Machtformen gelesen werden, die sich mithilfe der – von Foucault allerdings erst spät formulierten – Präzisierung der Macht als eines ‘Führens der Führungen’ erläutern lassen können müssen. So gelesen stellen sie einen wichtigen Beitrag zur machttheoretischen Analyse verschiedener Subjektivierungsweisen dar, indem sie unterschiedliche Ebenen der Macht als Dimensionen der Situiertheit von Subjektivität zu entziffern erlauben. Im folgenden wird es daher darum gehen, der doch weitgehend bekannten ‘Typologie der Macht’ bei Foucault – stichwortartig: von der Souveränität und Repressionsmacht über die 47
Ausgangspunkt einer kategorialen Revision ist dabei das in Selbst-, Anderen- und Weltbezogenheit (und damit in Erfahrung ebenso wie in Verstehen und Verständigung) implizierte Problem der Relationalität, das sich nicht nur als Relation zwischen seinen Elementen beschreiben lässt, sondern auch die Relation selbst mitaufnehmen muss. Vgl. dazu auch in subjektivitätstheoretischer wie anthropologischer Hinsicht Ricken 1999a wie 2004a. Die Plausibilität einer solchen subjektivitätstheoretischen Interpretation auch für Foucault habe ich in Auseinandersetzung mit moderner Subjektbehauptung und postmoderner Subjektkritik aufzuweisen (vgl. Ricken 1999a, 159-172) und als Ausgangspunkt einer kontingenztheoretischen Reformulierung von Subjektivität als einer ‘doppelten Relationalität’ (vgl. ebd. 173-309) zu nutzen versucht; mit ihr geht einher, von identitätstheoretischem auf differenztheoretisches Denken umzustellen (vgl. dazu auch Gamm 1994 wie Kimmerle 2000) und Subjektivität als die ‘Differenz der Masken’ (vgl. Foucault 1973, 190) zu erläutern (vgl. Meyer-Drawe 1990 wie 1991).
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Studie II ist der Versuch, die Weise der Subjektivierung qua Bildung zu rekonstruieren und als – insbesondere in Deutschland – bedeutsame und überaus erfolgreiche Durchsetzung einer ausdrücklich individualtheoretischen Selbstbeschreibung zu lesen. Grundgedanke dabei ist, dass ‘Individualität’ – gerade in ihrer längst ‘quasi-natürlichen’ Evidenz und Plausibilität – als Produkt spezifischer Machtoperationen verstanden werden muss und nicht – wie sooft – als zeitlich zwar gebundene, letztlich doch aber überzeitlich geltende Einsicht in ‘anthropologische Fakten’ ausgelegt werden darf. Vgl. dazu insbesondere Sonntag 1999.
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Biomacht als Disziplinarmacht und Bio-Politik hin zur Gouvernementalität und Pastoralmacht – eine solche Zuspitzung zu geben49. In fast allen historischen Arbeiten Foucaults findet sich immer wieder eine – wenn auch ständig modifizierte und verschobene – Typologie verschiedener Machtformen, deren systematische Figur von einer Grundunterscheidung – negative und produktive Macht – und einer sich daran anschließenden dreifachen Differenzierung zwischen verschiedenen Mechanismen einer produktiven Macht getragen wird; auch begrifflich zieht sich deren jeweilige Kennzeichnung als Souveränitäts- und Repressionsmacht einerseits und Bio-Macht mit Disziplinarmacht, BioPolitik und Pastoralmacht andererseits durch. Aufschlussreich ist daher, wie Foucault diese Formen der Macht zueinander jeweilig ins Verhältnis gesetzt hat. In einer späteren Rekapitulation präsentiert er deren Zusammenhang auch in einer zeitlichen Logik (wenn auch hier – thematisch bedingt – in einer Reduktion auf das Problem des Staates), ohne dass damit aber mitbehauptet wäre, dass die unterschiedlichen Formen der Macht auch als sich ablösende Abfolge verstanden werden können; vielmehr sind sie – in ihrer wechselseitigen Ergänzung – als Bewegungsrichtung zu verstehen: “Und so könnte man vielleicht ganz allgemein, grob und folglich ungenau die großen Formen und die großen Ökonomien der Macht im Abendland folgendermaßen wiedergeben: als Erstes der in einer Territorialität feudalen Typs entstandene Gerechtigkeitsstaat, der im wesentlichen einer Gesellschaft des Gesetzes entspräche – Gewohnheitsrechte und geschriebene Gesetze – mit einer großen Garnitur an Verbindlichkeiten und strittigen Rechtsfällen; zweitens der im 15. und 16. Jahrhundert in einer durch Grenzen und nicht mehr feudal bestimmten Territorialität entstandene Verwaltungsstaat, der einer Gesellschaft von Reglementierungen und Disziplinen entspricht, und schließlich ein Regierungsstaat, der nicht mehr wesentlich durch seine Territorialität, durch die besetzte Fläche, sondern durch eine Masse bestimmt wird: die Masse der Bevölkerung mit ihrem Umfang, ihrer Dichte, mit, gewiss, dem Territorium, auf dem sie ausgebreitet ist, das aber gewissermaßen nur ein Bestandteil davon ist. Und dieser Regierungsstaat, der sich wesentlich auf die Bevölkerung stützt und sich auf die Instrumente der politischen Ökonomie beruft und davon Gebrauch macht, entspräche einer durch Sicherheitsdispositive kontrollierten Gesellschaft” (Foucault 2000, 66). Der Wandel der Machtmechanismen – so Foucaults leitende These – ist aber weniger Ausdruck und Resultat einer ‘Humanisierung der Macht’ (so dass zunehmend gewaltfreiere Formen der Macht gewalttätigere abgelöst hätten), sondern Folge einer Effektivierung der Macht; immer wieder verweist Foucault darauf, dass es in diesen Transformationen der Macht “weniger um Schwäche oder Grausamkeit als um eine fehlerhafte Ökonomie der Macht" (Foucault 1976, 101) geht: “Die Maschen des Netzes waren zu groß, eine fast unendliche Zahl von Dingen, Elementen, Verhalten, Vorgängen entzog sich der Kontrolle der Macht” (Foucault 1995, 30). Effektivierung der Macht ist daher immer auch ihre zunehmende Verbergung und Tieferlegung. 49
Mit dieser Typisierung gehe ich von den von Foucault selbst nur schrittweise erarbeiteten und entsprechend bezeichneten ‘Formen der Macht’ aus; was hier aber typologisch als Zusammenhang präsentiert wird, ist bei Foucault selbst nur jeweiliger (zeitlich auch eingegrenzter) Focus seiner Arbeiten. Mit der Entfaltung des Konzepts der Gouvernementalität ließe sich auch eine andere Form der Differenzierung einführen, in der Foucault zwischen “Machtbeziehungen als strategischen Spielen [...], Herrschaftszuständen [...], die das sind, was man üblicherweise Macht nennt, und [...] Regierungstechnologien” (Foucault 1985a, 26) unterscheidet. Dabei zielt diese Unterscheidung von “drei Ebenen” (ebd. 27) stärker auf die jeweilige institutionalisierte Gestalt: während strategische Beziehungen ubiquitär und als unmittelbar an Sozialität gebundene Formen im hohen Maße flexibel und reversibel sind, sind Herrschaftszustände eher starr, unbeweglich und (zumeist) linear; zwischen beiden nehmen die ‘Regierungstechnologien’ eine vermittelnde Position ein, indem sie als zwar strukturierte, systematisierte und auch regulierte Formen der Macht eng verknüpft sind mit Techniken der Selbstformierung und durch sie und in ihnen selbst transformiert werden können (vgl. dazu auch Lemke 2001b).
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Unter der Überschreibung ‘Souveränität’ als einer repräsentierten Macht lassen sich zunächst ebenso vielfältige wie auch heterogene Formen offensichtlicher Macht bündeln, deren Zusammenhang ausschließlich in ihrer ‘negativen’ Form liegt: “Die[se] Macht ist wesentlich das, was ‘du sollst nicht’ sagt” (Foucault 1995, 23); ihr “Kernpunkt [...] des Neinsagens” (ebd.) zeigt sich dabei in den unterschiedlichsten Formen des Verbots und des Gesetzes und impliziert eine überwiegend “formale Auffassung der Macht” (ebd.), die nahezu durchgängig juridisch thematisiert worden ist und sich im Problem der ‘Souveränität’ wie in einem Brennglas bündelt. Obwohl Foucault nie geleugnet hat, dass es trotz aller Wandlungen der Machtfigurationen immer auch Repression gibt, ja ausdrücklich zugestanden hat, dass “das Problem der Souveränität [...] im Gegenteil akuter geworden [ist] denn je” (Foucault 2000, 63), finden sich erstaunlich wenig ausführlichere Hinweise zu dieser Figuration von Macht als souveräner Herrschaft qua Repression durch Gesetz, Verbot und Gewalt. Aufgrund ihrer Offensichtlichkeit hat diese Form repräsentierter Macht nie Foucaults Aufmerksamkeit anders auf sich gezogen, als immer wieder bloß als (zumeist negativer) Ausgangspunkt seiner historischen Machtstudien zu fungieren: “Der Westen hat nie ein anderes Repräsentationssystem, kein anderes System der Formulierung und der Analyse der Macht gehabt als das des Rechts, des Systems der Gesetze. [...] Dies ist der Grund, weshalb wir letzten Endes bis vor kurzem keine anderen Möglichkeiten hatten, die Macht zu analysieren, als unter Verwendung dieser elementaren, fundamentalen Begriffe Gesetz, Regel, Souverän, Übertragung der Macht usw. Ich glaube von dieser juristischen Auffassung der Macht, von dieser Auffassung der Macht vom Gesetz und vom Souverän, von Regel und Verbot muß man sich jetzt befreien, wenn wir zu einer Analyse nicht mehr der Repräsentation der Macht, sondern ihres tatsächlichen Funktionierens kommen wollen” (Foucault 1995, 26). Ihre Merkmale – Repressivität, Legitimität, Zentralität und Repräsentativität – führen zu einem Verständnis von Macht als ‘Ordnung durch Unterwerfung’: “Wenn man die Machtwirkungen mit Hilfe des Begriffs der Unterdrückung definiert, so folgt daraus eine rein juristische Konzeption eben dieser Macht” (Foucault 1978, 34-35). Anders formuliert: repräsentierte Macht ist immer juridisch diskutierte Macht, insofern sie letztlich immer – verschieden legitimierte – repressive Macht ist50; in der Befragung, “wo die Macht ist, wer sie besitzt, von welchen Regeln sie regiert wird und was für ein Gesetzsystem sie über den sozialen Körper setzt” (Foucault 1995, 24), ist sie letztlich immer Thematisierung von (legitimer und illegitimer) Gewalt. Ihr alles tragendes Grundelement ist das jeweilig umstrittene “Recht über den Tod” (Foucault 1977, 159) als dem charakteristischen Privileg des Souveräns: “Der Souverän übt sein Recht über das Leben nur aus, indem er sein Recht zum Töten ausspielt – oder zurückhält. Er offenbart seine Macht über das Leben nur durch den Tod, den zu verlangen er imstande ist. Das sogenannte Recht ‘über Leben und Tod’ ist in Wirklichkeit das Recht, sterben zu machen und leben zu lassen. Sein Symbol war ja das Schwert” (ebd. 162). In dieser Hinsicht war Macht – wenn auch rechtlich formuliert – überwiegend Abschöpfungsinstanz und “Zugriffsrecht auf Dinge, Zeiten, Körper und schließlich das Leben; sie gipfelte in dem Vorrecht, sich des Lebens zu bemächtigen, um es auszulöschen” (ebd.). Im juridischen System der Souveränität – als der Frage nach der höchsten Gewalt in einem hoheitlichen Territorium – steht hinter dem Gesetz daher immer die Gewalt: “Das Gesetz kann nicht unbewaffnet sein und seine hervorragendste Waffe ist der Tod” (ebd. 171). Als Macht über ein Gebiet und die darin lebende Bevölkerung ist die Funktion des Gesetzes dabei immer die einer Grenzziehung zwischen Untertanen und Feinden des Souveräns zur Verteidigung des Territoriums und der Macht des Souveräns; entlang der Markierung, ‘erlaubt ist, was nicht verboten ist’, errichtet es 50
So unterscheidet sich die Macht des Souveräns von jeder beliebigen Gewaltwillkür letztlich allein durch Legitimitätsdiskurse, die die Anwendung der gleichen ‘Grausamkeiten’ ebenso rechtfertigen wie monopolisieren und so in das allein souveränitätstheoretisch nicht lösbare Problem einführen, wie die Bekämpfung von Gewalt durch Anwendung derselben Gewalt legitimiert werden kann (vgl. Agamben 2002); vgl. dazu auch Foucaults Analysen der ‘Vertragsmacht’ als einer spezifisch neuzeitlichen Figur von Souveränität (Foucault 1976, 114ff. u.ö.).
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als Normierung des Handelns eine umfassende Ordnung, deren Einhaltung unbedingte Pflicht ist: Gehorsam vor dem Gesetz des Souveräns ist Gehorsam vor dem Gesetz des absoluten Souveräns, Gott; Verletzung der Ordnung ist daher Verletzung des Souveräns als Vergehen gegen Gott. Eindringlich hat Foucault die Logik souveräner Macht am Beispiel der Marter erläutert (vgl. Foucault 1976, 9-90, insbes. 44ff.): als ausschließlich körperlich operierende ‘peinliche Strafen’ war die Marter öffentliche Zurschaustellung souveräner Macht, die die vorangegangene leibhaftige Verletzung souveräner Macht in einer “Kunst, das Leben im Schmerz festzuhalten, indem sie den Tod in ‘tausend Tode’ unterteilt” (Foucault 1976, 46), nicht nur sühnt oder bloß wiedergutmacht, sondern ausdrücklich heilt: “ein Zeremoniell zur Wiederherstellung der für einen Augenblick verletzten Souveränität. Sie erneuert sie, indem sie ein Feuerwerk ihrer Macht abbrennt” (ebd. 64), und bedarf daher vieler ausgeklügelter Techniken, den Tod nicht plötzlich und auf einmal, sondern sukzessive und äußerst quälend zuzufügen, umso Macht über das Leben zu erlangen. Doch als “Ritual des bewaffneten Gesetzes” (ebd. 67) ist sie selbst paradox und stößt in ihrer Praxis als leibhaftiger Symbolisierung der unbegrenzten Macht des Souveräns auf ihre eigene Grenze, indem sie immer auch erzeugt, was sie zu unterdrücken sich vornimmt: Widerstand. Gerade “das Übermaß ihrer Gewaltsamkeiten” ist sowohl “ein Element ihrer Glorie” (ebd. 47) als auch zugleich Anlass ihrer Begrenzung; was einerseits in einer ‘Ökonomie der Macht’ (Foucault) der Souveränität unverzichtbar scheint und als absolute Überlegenheit inszeniert werden muss, wird andererseits selbst zum Grund der Infragestellung. Die vielen kleinen und großen “Schaffott-Erregungen” (Foucault 1976, 79) legen davon Zeugnis ab: als gewalttätige Ausschreitungen im Umfeld von öffentlicher Marter, Folter und Hinrichtung sind sie selbst – bisweilen als bloß zielloser ‘Blutrausch’ der Menge, bisweilen auch als Ablehnung der Strafgewalt und Rebellion – radikale Gefährdung souveräner Gewalt und Ausdruck derer Begrenztheit: “Die souveräne Macht mußte ja in der Gräßlichkeit ihrer Vergeltungen eine Herausforderung sehen, die eines Tages angenommen werden könnte: wenn das Volk daran gewöhnt ist, ‘Blut strömen zu sehen’, lernt es schnell, daß ‘es sich nur mit Blut rächen kann’” (ebd. 93). Gerade weil die Gewalt als Inbegriff souveräner Macht sich nicht einseitig aufteilen und verfügen lässt, stellt jeder Machtrekurs auf sie sich selbst in Frage und provoziert jeweilig mögliche Gegengewalt. Ist der Tod und das Recht, ihn ungestraft zuzufügen, letztlich Grund jeder Souveränität, so ist er zugleich deren eindrückliche Grenze, entzieht sich doch jeder Getötete dem weiteren Zugriff des wütenden Machthabers; jeder Versuch, die Macht über das Leben als “Recht zum Töten” (Foucault 1977, 162) über den Tod hinaus auszudehnen, verstrickt sich aber in dieser Paradoxie, indem er inmitten der Macht deren Ohnmacht fixiert51. Souveränität, so ließe sich bündeln, setzt nicht nur voraus, was sie zu zwingen versucht, sondern setzt auch allererst ein, was ausgeschlossen werden soll: jede Praxis der Domination provoziert ihr Unterlaufen und bereitet darin möglichen Widerstand vor; ihre Geltung lebt vom Rekurs auf größere Gewalt, die offensichtlich nicht einseitig singularisiert werden kann. Die Prinzipien der Singularität, Exteriorität und Transzendenz des Souveräns (vgl. Foucault 2000, 45) sind daher zugleich Ausdruck der Instabilität und Paradoxalität souveräner Macht. Diese paradoxe Logik hat Giorgio Agamben im Anschluss an Foucault scharfsinnig rekonstruiert und als Ausgangspunkt seiner weiteren Überlegungen zur Bio-Macht genutzt (vgl. Agamben 2002)52. Lässt sich das “Paradox der Souveränität” (ebd. 25) als Gleichzeitigkeit 51
Zur von Foucault immer wieder klar abgelehnten Logik der Souveränität qua ‘Unterdrückung’ gehört auch die – zumeist anthropologisch sich formulierende – Annahme einer ursprünglichen (nicht unterdrückten, nicht entfremdeten) Natur oder Verfassung des Menschen, die als frei und unbedrückt den jeweiligen Machteinwirkungen vorangehen muss, insofern die Rede von Unterdrückung überhaupt einen Sinn haben soll. Vgl. dazu auch Foucault 1976, 249f. wie auch 1985, 25).
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Seine zentrale These, dass Foucaults Charakteristik der Bio-Macht in ihrer scharfen Entgegensetzung zur
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von Einsetzung einer Rechtsordnung und deren Außerkraftsetzung beschreiben – “‘Das Recht ist außerhalb seiner selbst’, oder: ‘Ich, der Souverän, der ich außerhalb des Rechts stehe, erkläre, daß es kein Außerhalb des Rechts gibt’” (ebd. 25) –, so markiert die Souveränität in ihrer Begründung des Rechts immer auch dessen Grenze, indem sie die Einsetzung des Rechts als Gesetz durch den Souverän an dessen Ausschließung aus dem Recht bindet; er allein – so Agamben – setzt sich nicht nur immer wieder, sondern strukturell außerhalb des Rechts, zu dem es kein Außerhalb geben darf. Nur konsequent lässt sich daher Souveränität in Termini der Regel und Ausnahme erläutern: nicht der Normalfall zeigt die Macht, sondern die Ausnahme – “Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet” (Schmitt 1993, 11), so lautet die einzig konsistente Definition von Souveränität. Scheint aber die Ausnahme zunächst offensichtlich bloßer Einzelfall und insofern von der generellen Norm ausgeschlossen, ist sie – genauer betrachtet – souveränitätstheoretisch Grund der Regel und insofern bleibend in sie eingeschlossen: nicht nur kennt jede Regel ihre Ausnahme, vielmehr wird die Ausnahme selbst subtil zur Regel. Dieser – bei Agamben zunächst abstrakt gewonnene Zusammenhang von Ausnahme und Regel als einer “einschließenden Ausschließung” (Agamben 2002, 31) – lässt sich konkretisieren: wird einerseits im Recht zwischen Gerechtigkeit und Gewalt unterschieden, so ist andererseits sowohl die Geltung des Rechts als auch dessen Inkraftsetzung selbst von Gewalt abhängig; erst in dieser Doppelung von Ausschluss und Einschluss konstituiert sich die souveräne Macht als Begründung des Rechts “in der Form einer ‘Suspendierung’” (ebd. 47)53: “Der Souverän ist der Punkt der Ununterschiedenheit zwischen Gewalt und Recht, die Schwelle, auf der Gewalt in Recht und Recht in Gewalt übergeht” (ebd. 42). Oder anders formuliert: jede konstituierte Gewalt setzt eine konstituierende Gewalt voraus (vgl. ebd. 50ff.), die in jener fortlebt – mit der prekären Folge, “daß jede rechtserhaltende Gewalt in ihrer Dauer die rechtssetzende, welche in ihr repräsentiert ist, durch die Unterdrückung der feindlichen Gegengewalten indirekt selbst schwächt” (Benjamin 1991, II.1, 202). In der römischen Rechtsfigur des ‘homo sacer’ – als Bezeichnung desjenigen, der weder geopfert noch ermordet werden kann, sondern straflos getötet werden kann (vgl. Agamben 2002, 81-124) – bündelt er die Struktur der Souveränität: “Souverän ist die Sphäre, in der man töten kann, ohne einen Mord zu begehen und ohne ein Opfer zu zelebrieren” (ebd. 93), so dass das Fundament der politischen Macht jenes “absolut tötbare Leben” (ebd. 98) ist, das – trotz Rechtserklärung des Lebens – straflos zu Tode gebracht werden darf. Das aber zwingt, auch Souveränitätsmacht als eine Weise der ‘Führung der Führungen’ zu erläutern, in der Subjektivität gerade nicht ausgelöscht oder bloß unterdrückt wird, sondern ihrerseits – in einer spezifischen Weise – hervorgebracht wird: als (potentiell) widerständige, ständig sich entziehende oder nur oberflächlich gehorsame Subjektivität. Ihr verlässlicher Gehorsam ist durch Zwang allein kaum zu bewerkstelligen und verlangt vielmehr weit anderer – ausgeklügelterer – Formen der Führung. Anders formuliert: Macht ohne Zustimmung ist letztlich Ohnmacht. Dieser Figur einer repressiven, letztlich immer auf Gewalt zurückgreifenden Macht stellt Foucault unter der Überschreibung ‘Bio-Macht’ (Foucault 1977, 167) ein Verständnis von Macht gegenüber, dessen Hauptkennzeichen deren Produktivität ist: “Nun hat das Abendland seit dem klassischen Zeitalter eine tiefgreifende Transformation dieser Machtmechanismen erlebt. Die ‘Abschöpfung’ tendiert dazu, nicht mehr ihre Hauptform zu sein, sondern nur noch ein souveränen Macht unzutreffend sei, insofern die “Produktion eines biopolitischen Körpers die ursprüngliche Leistung der souveränen Macht ist” (Agamben 2002, 16), knüpft an diese Skizze der Paradoxalität der Souveränität an, indem sie deren Grundmuster – der einschließenden Ausschließung – nutzt und biopolitisch fruchtbar macht. 53
Vgl. dazu auch Agambens Hinweise auf Hobbes (Agamben 2002, 46f. wie auch 115-121), bei dem er diese behauptete Gleichzeitigkeit von Regel und Ausnahme, Recht und Gewalt wie Rechtszustand und Naturzustand (der Gewalt) plausibel zu rekonstruieren vermag.
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Element unter anderen Elementen, die an der Anreizung, Verstärkung, Kontrolle, Überwachung, Steigerung und Organisation der unterworfenen Kräfte arbeiten: diese Macht ist dazu bestimmt, Kräfte hervorzubringen, wachsen zu lassen und zu ordnen, anstatt sie zu hemmen, zu beugen oder zu vernichten” (Foucault 1977, 163). Focus dieser neuen positiven Macht ist nicht länger der Tod, sondern das ‘Leben’ selbst; sie hat das ‘Leben’ in ihre Regie genommen und operiert ‘im Namen des Lebens’ als “Macht, leben zu machen und sterben zu lassen” (Foucault 1993b, 62): “worauf man zielt, das ist das Leben verstanden als Gesamtheit grundlegender Bedürfnisse, konkretes Wesen des Menschen, Entfaltung seiner Anlagen und Fülle des Möglichen” (Foucault 1977, 173). In dieser Zurichtung, “die Kräfte, die Fähigkeiten, das Leben im Ganzen zu steigern” (Foucault 1977, 168) und zu vermehren, liegt die veränderte Logik dieser veränderten ‘Unterwerfung’; sie ist eng gekoppelt an die Entwicklung und Etablierung weitgehender Wissenschaften vom Menschen, die nun das erforderliche Wissen der Steigerung bereit stellen: “Der abendländische Mensch lernt allmählich, was es ist, eine lebende Spezies in einer lebenden Welt zu sein, einen Körper zu haben sowie Existenzbedingungen, Lebenserwartungen, eine individuelle und kollektive Gesundheit, die man modifizieren, und einen Raum, in dem man sie optimal verteilen kann. Zum ersten Mal in der Geschichte reflektiert sich das Biologische im Politischen. Die Tatsache des Lebens ist nicht mehr der unzugängliche Unterbau, der nur von Zeit zu Zeit, im Zufall und in der Schicksalhaftigkeit des Todes ans Licht kommt. Sie wird zum Teil von der Kontrolle des Wissens und vom Eingriff der Macht erfaßt. [...] Anstelle der Drohung mit dem Mord ist es nun die Verantwortung für das Leben, die der Macht Zugang zum Körper verschafft”(Foucault 1977, 170). Es geht daher nicht mehr darum, den Tod auf dem Feld der Souveränität auszuspielen, sondern das Leben nach Nutzen und Wert zu ordnen; ihre Grundoperation ist nicht die der Normierung (nach erlaubt und verboten), sondern die der ‘Normalisierung’, indem sie das Leben und den Menschen als Lebewesen einsetzt (vgl. Foucault 1977, 172): “Eine Normalisierungsgesellschaft ist der historische Effekt einer auf das Leben gerichteten Machttechnologie” (ebd. 172). Nur folgerichtig – so Foucault – kennt die Macht den Tod nicht mehr: “Strenggenommen läßt die Macht den Tod fallen” (Foucault 1993b, 64) – auch, weil er selbst sich nur bedingt eignete, Macht auszuüben, war er doch immer zugleich auch die Grenze jeder Macht; in dieser Abwendung fällt der Tod auf die Seite des Allerprivatesten und ist nicht länger Thema der Auseinandersetzungen um Macht: nicht nur machttheoretisch uninteressant, sondern seinerseits nun Einspruchsmöglichkeit der Macht selbst. Die Todesstrafe ist daher überwiegend nicht – wie sooft nahegelegt – durch “humanitäre Gefühle” (Foucault 1977, 164) und wachsendes Rechtsbewusstsein erschwert worden, sondern hat schlicht ihren zentralen Platz in einer veränderten ‘Ökonomie der Macht’ verloren. Beides zusammen aber – Verantwortung für das Leben und Verdrängen des Todes – ergibt eine eigentümliche Verknüpfung, die Foucault als “Ironie” dieses neuen produktiven ‘Machtdispositivs’ versteht: “es macht uns glauben, daß es darin um unsere ‘Befreiung’ geht” (Foucault 1977, 190). Subtilität und Verbergung sind daher seine Kennzeichen54. 54
Agambens Reflexionen zur Bio-Macht ließen sich hier anschließen (vgl. Agamben 2002 wie auch 1994); in ihnen unterläuft er die von Foucault typologisch beanspruchte Entgegensetzung von souveräner Macht und Bio-Macht, indem er den souveränen Mechanismus der ‘einschließenden Ausschließung’ (s.o.) auch als biopolitische Grundfigur zu rekonstruieren sucht: auch deren ‘Lebensorientierung’ operiert mit einer ‘einschließenden Ausschließung’ des Todes, indem sie nacktes Leben (‘LJǐƿ’) und gestaltetes Leben (‘ǃǀǐǓ’) auseinander reißt bzw. umstandslos miteinander identifiziert (vgl. ebd. 197) und dadurch suggeriert, dass jenes die Bedingung des anderen (bzw. es selbst schon) sei, so dass sie – als vermeintlich neutrale Sicherstellung des nackten Lebens (‘LJǐƿ’) – selbst biopolitisches ‘Führungsmuster’ jedes gestalteten Lebens ist. Ihr ‘Ausschluß des Todes’ zugunsten des ‘Überlebens’ ist dann aber nicht anderes als ‘ständige’ Todesdrohung – um des Lebens willen (vgl. auch ebd. 19 wie auch 127ff.): “Biopolitik”als “Thanatopolitik” (ebd. 130). Damit aber widerspricht Agamben ausdrücklich der Diagnose Foucaults, dass die moderne Macht den Tod zunehmend habe fallen lasse; insbesondere seine Überlegungen zu ‘Menschenrechte und Biopolitik’ (ebd. 135-144), zum ‘lebensunwerten Leben’ als notwendiger Konsequenz der Lebensorientierung (vgl. ebd. 145152) wie zum ‘Lager als nómos der Moderne’ (ebd. 175-189) lassen sich als bedrückende Kurzstudien zur ‘Bio-
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Innerhalb dieser neuen, mit den großen sozialen Transformationen seit dem 17. und 18. Jahrhundert verbundenen ‘Macht zum Leben’ lassen sich nun verschiedene Machttechnologien unterscheiden, auch wenn deren Typisierung und Klassifizierung bei Foucault nicht immer eindeutig, konsequent oder in sich konsistent sind55: einerseits die unterschiedlichen Technologien einer ‘Disziplinar-Macht’, die als eine “politische Anatomie des menschlichen Körpers” um den menschlichen “Körper als Maschine” (Foucault 1977, 166) zentriert sind, ihn dressieren, abrichten und eingliedern in einen umfassenden Funktionsablauf, um seine Fähigkeiten zu steigern und die so neu freigesetzten Kräfte auszunutzen; ihr Effekt ist der einer Individualisierung, ihr Einsatzort “Schulen, Internate, Kasernen, Fabriken” (Foucault 1977, 167). Andererseits die Strategien und Mechanismen einer ‘Bio-Politik’ (vgl. Foucault 1977, 166 wie auch Foucault 1993b, 62), die sich um den Menschen als einem Gattungswesen zentrieren und auf die Regulation und Kontrolle der Bevölkerung zielen, indem sie – mithilfe empirischer “Prognosen, statistischer Schätzungen, globaler Messungen” (Foucault 1993b, 63) von Geburten- und Sterberaten, Lebensdauer, öffentlicher Gesundheit und Hygiene der Bevölkerung, der Wanderungs- und Siedlungsbewegungen etc. – die biologischen Lebensvollzüge der Menschen strukturieren und planend verwalten; ihr Effekt ist der einer Totalisierung und Vermassung (vgl. Foucault 1993b, 62), ihr Einsatzort die Etablierung vielfältiger Regulationsmechanismen und Institutionen wie Demographie und Geburtenkontrolle, Tabellierung von Reichtümern, Ressourcen und Bevölkerungsentwicklung, Kranken- und Altersversicherungssysteme (vgl. Foucault 1977 wie auch 1993b)56. Beide – ‘regulierende Lebenstechnologien’ und ‘disziplinäre Körpertechnologien’ – differieren zwar zeitlich durchaus (vgl. Foucault 1993b, 64), verweisen aber als “zwei durch ein Bündel von Zwischenbeziehungen verbundene Pole” (Foucault 1977, 166) aufeinander, indem sie sich gerade nicht ausschließen, sondern ineinander fügen (vgl. Foucault 1993b, 64)57. Mithilfe der Normproblematik hat Foucault dieses Ineinander beider Machtlinien – auch im Kontrast zur Souveränitätsmacht – zu erläutern versucht: während es in souveräner Macht um eine Art negative Durchsetzung der Norm als einer Grenzziehung zwischen ‘erlaubt / verboten’ geht, insofern alles erlaubt ist, was nicht verboten ist, ist das Verhältnis von disziplinierender und regulierender Bio-Macht zur Norm eher das einer positiven Durchsetzung im Sinne einer ‘Normalisierung’ (vgl. Foucault 1977, 172), so dass die Subjekte sich so an der Norm ausrichten, indem sie sich “um diese herum” (ebd.) anordnen. Das rechtliche Problem der Norm wird zwar nicht aufgehoben, aber doch entscheidend verschoben, indem zunehmend die Matrix ‘erlaubt / verboten’ in ‘normal / anormal’ verwandelt wird; nicht der – isoliert betrachtete – Verstoß Politisierung des Todes’ in der Moderne (vgl. ebd. 169) lesen. 55
Auch terminologisch differiert deren Kennzeichnung als ‘Bio-Macht’: was einmal als bündelnder und die produktive Eigenart pointierender Titel aller Machttechnologien gilt, wird – bisweilen im gleichen Text (vgl. Foucault 1977, 163-190 wie 1993b) – zugleich als Kennzeichnung einer besonderen, auf die Bevölkerung als Gesamtheit zielender Machttechnologie verwandt. Ich werde im folgenden der strengeren Unterscheidung zwischen ‘Bio-Macht’ und ‘Bio-Politik’ folgen und jenes allein zur Kennzeichnung des Gesamts ‘produktiver Macht’ bzw. der ‘Macht zum Leben’ verwenden.
56
Foucault hat später unter Zuhilfenahme der Regierungsproblematik die Sicherheitsproblematik als zentralen Kern der Bio-Politik (bzw. der regulierenden Bio-Macht) herausgearbeitet; vgl. dazu Foucault 2000 wie auch ausführlich Lemke 1997.
57
Im Schnittfeld beider Machtlinien lassen sich nun Foucaults Arbeiten zur Sexualität (vgl. Foucault 1977 wie 1986, 1986a) situieren, die Sexualität als ein “Scharnier” (Foucault 1977, 173) zwischen beiden kennzeichnen und so auch systematisch einen Verstehenszugang zu eröffnen helfen: “Der Sex eröffnet den Zugang sowohl zum Leben des Körpers wie zum Leben der Gattung. Er dient als Matrix der Disziplinen und als Prinzip der Regulierungen. [...] Allgemein wird also der Sex am Kreuzungspunkt von ‘Körper’ und ‘Bevölkerung’ zur zentralen Zielscheibe für eine Macht, deren Organisation eher auf der Verwaltung des Lebens als auf der Drohung mit dem Tode beruht” (ebd. 174-175).
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und dessen Ahndung, sondern die jeweilige Perspektivierung des Fehlverhaltens aus seinen Kontexten heraus in der Absicht der Regulation rücken in den Mittelpunkt58. “Eine Normalisierungsgesellschaft ist der historische Effekt einer auf das Leben gerichteten Machttechnologie” (ebd.), so formuliert Foucault bewusst pointiert59. Ziel beider Machtlinien – der disziplinären “Serie Körper-Organismus-Disziplin-Institution” wie der regulierenden “Serie Bevölkerungbiologische Prozesse-Regulierungsmechanismen-Staat” (Foucault 1993b, 64) – ist dabei die produktive Nutzbarmachung des Lebens, indem die Macht weit weniger ‘Nein sagt’ und bloß abschöpft, sondern anreizt, provoziert und steigert, um selbst davon zu profitieren und sich zu stabilisieren. Diese Verwandlung ist insofern auch der Einsicht in die Grenzen bloß souveräner Macht geschuldet und lässt sich daher auch historisch als Vertiefung wie auch Verbergung der Macht lesen. Zugleich ist diese Bio-Macht wie keine andere angewiesen auf ein differenziertes Wissen der Menschen über sich selbst; Foucault hat diesen Zusammenhang der Entfaltung neuzeitlich-moderner Bio-Macht und der Etablierung der (Human-)Wissenschaften immer wieder eindrücklich herausgestellt und auch – so insbesondere am Beispiel von Klinik und Medizin, Psychiatrie und Psychologie – empirisch nachzuweisen gesucht (vgl. Foucault 1976, 393f. wie Foucault 1971). In umfassenden, immer aber exemplarisch angelegten und insofern subtil systematisch argumentierenden historischen Untersuchungen hat Foucault seine Skizzen der Grundtypen modern-produktiver Macht zu vertiefen und zu plausibilisieren versucht60; insbesondere seine 58
Souveränitätstheoretisch ist die Ordnung schließlich das, “was übrig bleibt, wenn man alles verboten haben wird” (Foucault 1982, 7); disziplinartheoretisch kehrt sich diese negative Logik um, indem nun das determiniert ist, was zu tun ist, hingegen “das Undeterminierte [...] verboten” (ebd. 8) ist.
59
Die in den deutschen Übersetzungen immer wieder auftauchenden begrifflichen Verwirrungen zwischen “Normalisierungsgesellschaft” (Foucault 1977, 172) und “Normierungsgesellschaft” (Foucault 1993b, 65) gehen auf Übersetzungsschwierigkeiten zurück und lassen sich nicht umstandslos als Belege einer ‘gouvernementalen Weiterentwicklungen’ (vgl. Lemke 1997, 138-150) nutzen. So spricht Foucault in den französischen Texten durchgängig und von Anfang an von einer “société normalisatrice” (Foucault 1976a, 190) bzw. einer “société de normalisation” (Foucault 1996b, 225); vgl. zur Abgrenzung von ‘Normalisierungs-‘ und ‘Disziplinierungsgesellschaft’ ausführlicher auch Foucault 1996b, 225-226 wie 1999, 292-293: “Die Normalisierungsgesellschaft ist, so gesehen, nicht eine Art verallgemeinerter Disziplinargesellschaft, deren Disziplinarinstitutionen sich ausgebreitet und die schließlich den gesamten Raum abgedeckt hätten – dies ist nur die erste und, wie ich denke, unzureichende Interpretation der Idee der Normalisierungsgesellschaft. Die Normalisierungsgesellschaft ist eine Gesellschaft, in der sich entsprechend einer orthogonalen Verknüpfung die Norm der Disziplin und die Norm der Regulierung miteinander verbinden” (ebd. 292f.). In den jüngst auf deutsch erschienenen Pariser Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität (vgl. Foucault 2004a wie 2004b) wird die von Foucault pointiert praktizierte Differenz auch begrifflich nun präziser wiedergegeben: während Normierung nun die Durchsetzung einer Norm bezeichnet (vgl. Foucault 2004a, 88) wird das Modell der “disziplinarischen Normalisierung” (ebd. 89) nun angemessener mit “Normation” (ebd. 90) bezeichnet, um es deutlicher von der an der Unterscheidung von ‘normal / anormal’ orientierten Normalisierung zu unterscheiden: “wegen der Tatsache, daß die disziplinarische Normalisierung von der Norm zur abschließenden Spaltung des Normalen und des Anormalen führt, ziehe ich es vor zu sagen, daß es sich bei dem, was in den Disziplinartechniken geschieht, eher um eine Normation [normation] handelt als um eine Normalisierung. Entschuldigen Sie das sprachwidrige Wort, das dazu dient, den ursprünglichen und grundlegenden Charakter der Norm deutlich hervorzuheben” (ebd. 90; vgl. insgesamt ebd. 88-90 wie auch 98).
60
Neben den (bekannten) Publikationen (insbes. Foucault 1976 und 1977) sind dafür die am Collège de France abgehaltenen Vorlesungen und Seminare (insbes. in deutscher Sprache bislang weitgehend unveröffentlicht (vgl. Foucault 2001, 9)) zentral; bereits an ihrer Reihung lässt sich der Fortgang der Foucaultschen Theoriebildung eindrücklich ablesen: ‘La Volonté de savoir’ (1970-1971), ‘Théories et Institutions pénales’ (1971-1972), ‘Le Pouvoir psychiatrique’ (1973-1974; dt. Foucault 2005), ‘Les Anormaux’ (1974-1975; frz. Foucault 1999a, dt. Foucault 2003a), ‘Il faut défendre la société’ (1975-1976; frz. Foucault 1996b, dt. Foucault 1999), ‘Sécurité, Territoire et Population’ (1977-1978; dt. Foucault 2004a), ‘Naissance de la biopolitique’ (1978-1979; dt. Foucault 2004b), ‘Du gouvernement des vivants’ (1979-1980), ‘Subjéctivité et Vérité’ (1980-1981), ‘L’Herméneutique du sujet’ (1981-1982; frz. Foucault 2001a; dt. Foucault 2004c), ‘Le Gouvernement de soi et
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unter ‘Überwachen und Strafen’ veröffentlichten Studien zur ‘Geburt des Gefängnisses’ (vgl. Foucault 1976) können dabei als ebenso materialreiche, unterschiedliche Phänomene wie Militär, Krankenhaus, Schule und Fabrik erschließende wie systematisch bedeutungsvolle Untersuchung zum Problem der ‘Disziplinarmacht’ gelesen werden und helfen, deren produktiven Mechanismus als ‘Regieren über Freiheit’ (Krasmann 1999) zu präzisieren. Ihr – im 17. Jahrhundert auftauchender – Grundmechanismus ist dabei der einer einschließenden Ausschließung, die – durch Trennung, Einsperrung und Klassifikation realisiert – zur Matrix aller ‘Disziplinen’ aufsteigt. Foucault kommentiert: “Sie schafft eine Trennung zwischen den Ungeeigneten und den Übrigen, zwischen dem Normalen und dem Abnormalen. Disziplinarische Normalisierung ist der Entwurf eines optimalen Modells, die Operation der Disziplin besteht darin, die Leute an dieses Modell anzupassen. Die Norm hat den Charakter einer primitiven Vorschreibung des Normalen. Die Norm ist die endgültige Scheidung von Normal und Anormal” (Foucault 1982, 8; vgl. auch Foucault 2003a). Dabei lässt sich zunächst ihr – generalisierter – Mechanismus in vier Operationen rekonstruieren: die “Kunst der Verteilungen” (Foucault 1976, 181) in einem Tableau als einer raum-zeitlich dimensionierten Trennung der Individuen durch Parzellierung, Zuweisung von Funktionsstellen und Einschließung derselben in einem Netz von Relationen zu ihrer besseren Kontrolle durch Produktion einer “Zellenindividualität” (ebd. 207): „Jedem Individuum seinen Platz und auf jeden Platz ein Individuum“ (ebd. 183); die “Kontrolle der Tätigkeit” (ebd. 192) als einer zeitlich wie körperlich operierenden Reglementierung und Codierung der Tätigkeiten zu Zwecken ihrer “erschöpfenden Ausnutzung” (ebd. 197); die “Organisation von Entwicklung” (ebd. 201) als Einreihung der Tätigkeiten in einen zeitlichen wie logischen Zusammenhang insbesondere durch Übung und dauernde Wiederholung; und schließlich die “Zusammensetzung der Kräfte” (ebd. 209) zur Herstellung eines leistungsfähigen Apparates (vgl. ebd. 212), indem der einzelne Körper als ein Segment in die Gesamtheit eingefügt wird und so Moment eines taktischen Mechanismus wird. Ihr Effekt ist die Produktion einer vierfachen Individualität: sie ist “zellenförmig”, “organisch”, “evolutiv” und “kombinatorisch” (ebd. 216) strukturiert, einerseits gänzlich individualisiert und von anderen getrennt, andererseits vollständig totalisiert und generalisiert – ein dokumentierbarer “Fall” (ebd. 246). Ihre Logik ist nicht die der unterwerfenden, unterdrückenden Abschöpfung, sondern die der positiven Produktion von – spezifisch figurierter – ‘Subjektivität’: “Die Disziplin ‘verfertigt’ Individuen: sie ist die spezifische Technik einer Macht, welche die Individuen sowohl als Objekte wie als Instrumente behandelt und einsetzt” (ebd. 220); mithilfe der Mittel der “hierarchischen Überwachung” (ebd. 221ff.), der “normierenden Sanktion” (ebd. 229ff.) und derer Kombination im Verfahren der “Prüfung” (ebd. 238ff.) sucht sie als ‘Zuchtmacht’, die “Kräfte nicht in Ketten [zu legen], um sie einzuschränken”, sondern “sie allesamt so zu verbinden, daß sie vervielfältigt und nutzbar gemacht werden” (ebd. 220) können. Grundfigur der Disziplinarmacht ist daher die ‘Besserungsmaschine’ (vgl. Nutz 2001): “‘Menschlichkeit’ ist der ehrerbietige Name” (Foucault 1976, 117) , unter dem sich die Macht verfeinert und die alte “Dysfunktionalität der Macht” und ihre “fehlerhafte Ökonomie” (ebd. 101) zu überwinden sucht. Insbesondere Jeremy Benthams architektonischer Entwurf des Gefängnisses als eines ‘Panopticons’ kann als “Diagramm eines auf seine ideale Form reduzierten Machtmechanismus” (ebd. 264) verstanden werden und wird immer wieder angeführt, um Foucaults leitende These – “Die Seele: Effekt und Instrument einer politischen Anatomie. Die Seele: Gefängnis des Körpers” (Foucault 1976, 42) – überaus plastisch zu erläutern. Der ‘panoptische Grundgedanke’ ist dabei die Verlagerung der Macht als Selbstkontrolle in das Selbstverhältnis der Individuen durch die architektonische Etablierung dauernder Sichtbarkeit; sein Prinzip liegt dabei in der Umkehrung des Prinzip des Amphitheaters – vielen den Überblick über des autres’ (1982-1983), ‘Le Gouvernement de soi et des autres: le courage de la vérité’ (1983-1984; als dt. Mitschrift in Foucault 1988a). Vgl. dazu auch die jeweiligen Kurzüberblicke in Foucault 1997-2000, I, 3-106 wie in den jeweiligen (frz. wie dt.) Ausgaben der ‘Dits et Écrits’.
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weniges zu ermöglichen – und zielt in der räumlichen Anordnung der Gefangenen in ein- und duchsehbaren Zellen um einen seinerseits nicht einsehbaren Wachturm inmitten eines Rondells auf die Disziplinierung und Regulierung derselben durch sich selbst: nicht erzwungener und insofern immer auch instabiler Gehorsam, wie im Kerker plastisch veranschaulicht werden kann, sondern dauernde Selbstüberwachung und Selbstreglementierung, die als und durch körperliche Gewöhnung freiwilligen Gehorsam produziert. Obwohl nach Benthams Entwürfen selbst nie konkret realisiert, kann das ‘Panopticon’ als Prototyp aller späteren radialen wie polygonalen Gefängnis- und Anstaltbauten gelten61; seine – architektonisch zu Stein gewordene – Logik der ‘Kontrolle durch Selbstkontrolle’ ist zum Bauprinzip (nahezu) aller öffentlichen Anstalten avanciert: Einschließung und Separation der Individuen in jeweiligen ‘Zellen’ wie leichte Kontrolle möglicher Begegnungen durch Schneisen weitreichender Sichtbarkeit. Kaum verwunderlich, dass insbesondere Foucaults These einer umfassenden aufklärerischen Disziplinarmacht immer wieder – bisweilen überscharf und polemisch – kritisiert worden ist, zielt sie doch in ihrer Justierung auf eine kritische Revision vermeintlich aufklärerischer Praktiken und Überlegungen: nicht (bloß) Befreiung und Humanisierung einer zunehmend als unmenschlich eingesehenen Souveränitätsmacht, sondern auch Effektivierung und Steigerung der durchaus fehlerhaften souveränen Macht zugleich – Foucault: “Die Aufklärung, welche die Freiheiten entdeckt hat, hat auch die Disziplinen erfunden” (Foucault 1976, 285). In der dabei vorgetragenen Kritik gehen jedoch allzuoft historisch-empirische und methodisch-systematische Einwände durcheinander und führen in unfruchtbare Diskussionsblockaden: was den einen historisch überzeichnet, allenfalls exemplarisch zutreffend und insgesamt einseitig rekonstruiert ist, gilt anderen als Ausdruck einer gänzlich verschrobenen Methodologie mit unhaltbaren Prämissen; auch Foucaults – nur vermeintlich entlastender – Hinweis, nicht die “Geschichte der Vergangenheit”, wohl aber die “Geschichte der Gegenwart zu schreiben” (Foucault 1976, 43), hat jüngst Kritik auf sich gezogen, sei doch die Disziplinarmacht – wenn denn überhaupt – bloß die ‘fordistische’ Vergangenheit unserer längst ‘postfordistischen’ Gegenwart (Fraser, vgl. Lemke 2003, 2). Insbesondere Hans-Ulrich Wehlers Essay ‘Michel Foucault’ (Wehler 1998, 45-95) kann dabei als ein – wenn auch schlechtes, aber bereits bestehende Diskussionsbahnen nach- wie seinerseits vorzeichnendes – Beispiel einer historischen Rezeption gelten62: scheint es zunächst, als ob sich seine vernichtend formulierte Kritik an den “Grenzen und Unzulänglichkeiten der historischen Analyse Foucaults” (Wehler 1998, 45) 61
Vgl. dazu Nutz 2001 (hier bes. 174-207), der dezidiert nachzuweisen vermag, wie die ‘panoptische Logik’ zum Bau- und Strukturprinzip nahezu aller weiteren Strafvollzugsanstalten wird und – insbesondere im 19. Jahrhundert – vielfältig kopiert und variiert wird. Neben den verschiedenen Gefängnisbauten aber ließe sich auch das Münsteraner Universitätsklinikum als Beispiel anführen, dessen zwei ‘Türme’ der ‘panoptischen Logik’ des Rondells (bis in die Anlage der Fenster hinein) ausdrücklich folgen – und zwar aus Effektivitätsgründen erheblich kürzerer Laufwege für das Pflegepersonal. Aber auch die vielen, insbesondere in Berlin errichteten ‘gläsernen’ Neubauten (Parlamentarier-Haus am Spreebogen mit zueinander gekehrten Fenstern, DB-Hochhaus wie Sony-Center am Potsdamer Platz etc.) folgen dieser ‘Philosophie der Sichtbarkeit’ und haben für die Beteiligten vielfach unangenehme Folgen.
62
Unbeeindruckt durch Foucaults spätere Arbeiten ist dieser in Deutschland weitgehend als Theoretiker der ‘Disziplinargesellschaft’ wahrgenommen und auch verzeichnet worden (vgl. exemplarisch Habermas 1985 wie Honneth 1989); erst in den vielfältigen Arbeiten jüngerer Wissenschaftler – wissenschaftspolitisch bedeutsam ist insbes. Lemke 1997 – zeichnet sich ein erheblich differenzierterer Zugang ab, der die Arbeiten Foucaults mit großem Gewinn rezipiert. Vgl. zur historischen Fruchtbarkeit insgesamt auch Veyne 1992 wie zur (deutschsprachigen) geschichtswissenschaftlichen Rezeption eine erste Einschätzung bei Peukert 1991 wie jüngst die Überblicke in Maset 2002, 11-33 und Martschukat 2002, 7-26; dass sich dabei die etablierte Geschichtswissenschaft durchaus schwer getan hat, Foucaults Provokationen aufzunehmen, ist nicht nur offensichtlich, sondern zeigt sich auch darin, dass es v.a. die Arbeiten jüngerer Historiker sind, die – in sachlicher Unaufgeregtheit – den Foucaultschen Überlegungen und Weichenstellungen kritisch folgen (vgl. dazu die in Martschukat 2002 durchaus repräsentativ versammelten Autoren wie u.a. Dinges, Brieler, Sarasin und Bublitz wie auch jüngst – eindrücklich – Nutz 2001 und Sarasin 2001).
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festmacht, indem sie “wildeste Verallgemeinerungen” (ebd. 45) aus bloß “sporadischen französischen Beispielen” (ebd. 80) attackiert, insbesondere Foucaults Gebrauch des ‘Panopticons’ als beispielhaft unseriös zurückweist (vgl. ebd. 52f.; vgl. dagegen die materialreiche und überaus solide Studie von Nutz 2001, 206) wie auch den fehlenden “Gewinn an Rechtssicherheit und Liberalität durch die Strafjustizreform” (Wehler 1998, 81) bemängelt, um daraus generell zu folgern, dass die “wissenschaftliche Kritik an seinen empirischen Stücken” nur ergäbe, dass “nichts zuverlässig” sei, es “nirgendwo [...] einen historisch glaubwürdigen Text” (Wehler 1998, 80) gäbe und man sich “nie [...] auf Foucault verlassen” (ebd. 95) könne, so bezieht Wehler sich im Fortgang seines (selbst ohne jeden Nachweis arbeitenden) Textes gegen Foucault fast ausschließlich auf methodologische Argumente. Und wie sooft: Machtbegriff (ebd. 64ff.), Subjektverständnis bzw. vermeintliche Destruktion desselben (ebd. 73ff.) und scheinbar strukturalistische Ausrichtung (ebd. 56ff.) sind neben dem Dauervorwurf des ‘Kryptonormativismus’ (vgl. ebd. 82) immer wieder diagnostizierter ‘Dorn im Auge’, die schließlich zu der insgesamt vernichtenden Einschätzungen verführt, dass Foucaults Erfindung der Vergangenheit “eine historisch unhaltbare Vergangenheit, eine klassische Fehlkonstruktion vergangener Geschichte für die apokalyptische Zukunft der perfektionierten ‘Disziplinargesellschaft’” (ebd. 85) sei. Ausnahmslos wird – trotz “rigoroser Askese” einer zweimaligen “Lektüre aller ins Deutsche übersetzten Veröffentlichungen” (ebd. 46) – dabei nicht zur Kenntnis genommen, dass Foucaults spätere Arbeiten zur ‘Gouvernementalität’ als Präzision und auch Korrektur eines einseitig missverstehbaren disziplinartheoretischen Zugriffs gelesen werden müssen, dass Foucaults Machtbegriff eine präzise (und weit brauchbarere) Zuschneidung als bislang üblich erfahren hat und dass weder Freiheit noch Wahrheit methodologisch schlicht eliminiert worden sind; subtrahiert man also diese – ausdrücklich in der (wissenschaftspolitisch verheerenden) Nachfolge Habermas’ und Honneths unternommenen (vgl. ebd. 155)63 – Fehleinschätzungen, so ist die Bilanzierung Wehlers überaus erstaunlich, nennt er doch nun ‘Diskursorientierung’ (vgl. ebd. 91), ‘kapillarisches Machtverständnis’ (ebd. 91) und Verknüpfung desselben mit anderen Feldern (ebd. 92) wie insbesondere “Foucaults Interesse an Körpergeschichte” (ebd. 93) und dessen glücklichen Begriff der ‘Einkörperung’ (vgl. 54) als unverzichtbare “heuristische Anregungen” (ebd. 91): “Foucault vermag, so angreifbar er auch ist, doch den ‘Blick’ zu schärfen für Probleme, die andere Wissenschaften minimieren oder ganz übersehen. Man könnte ihn als eine Art Seismographen nutzen, um bisher verborgene oder verschüttete Probleme wahrzunehmen” (ebd. 95). Mit dieser zwiespältigen Einschätzung steht Wehler dabei durchaus nicht allein, heißt es doch immer wieder: “Tatsächlich ist das Konzept zu negieren und festzuhalten zugleich. Es ist zu negieren, soweit es sich zur Totalität aufspreizt und sich als Aussage über das Ganze der modernen Gesellschaft präsentiert [...]. Festzuhalten aber ist das Konzept, insofern es das Faktum registriert, daß die Disziplin den übrigen [...] Formierungsmechanismen eindeutig den Rang abgelaufen hat” und so “seit einiger Zeit [...] an Plausibilität” (Breuer 1987, 331) gewonnen hat. Liest man daher Foucaults Arbeiten auch als ‘seismographische’ Anregungen und Korrekturen eingewöhnter Diskursüblichkeiten, so ist nicht verwunderlich, dass sich längst vielfältige Studien ‘mit Foucault über Foucault hinaus’ bewegt haben und zu produktiven Überlegungen
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Dass sich Honneth später von seiner eigenen (engen) normativitätstheoretischen Interpretation Foucaults auch distanziert hat, sei wenigstens angemerkt: so notiert er bereits wenige Jahre später nicht nur, dass “die theoretische Eigenart der Machtanalyse Foucaults verkannt wird, wenn ihr der Verlust eines normativ ausweisbaren Bezugspunktes innerhalb der Gesellschaft vorgeworfen wird” (Honneth 1989, 386), sondern skizziert seinerseits einen veränderten Zugang, Macht nicht bloß als ‘eindimensionale Disziplinierung’, sondern als relationalen “sozialen Kampf” (ebd. 397) auszulegen. Dabei hängt diese Neuperspektivierung “mit dem Begriff der Macht zusammen, wobei ich jetzt einiges deutlicher sehe als z.B. noch in der ‘Kritik der Macht’. [...] Ich habe Foucault zu lange als einen Theoretiker der sozialen und nicht der historisch-transzendentalen Macht interpretieren wollen” (Honneth 1995, 19).
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vorgedrungen sind64. Im Rahmen einer Typologie der Macht sind dabei insbesondere die Überlegungen Gilles Deleuzes bedeutsam geworden, der in Auseinandersetzung mit der Foucaultschen These der Disziplinarmacht neuere Entwicklungen (im 20. Jahrhundert) unter der Überschreibung ‘Kontrollgesellschaft’ auf den Begriff zu bringen versucht hat (vgl. Deleuze 1990). Während die Disziplinargesellschaft – als Anknüpfung an die “Gesellschaften der Souveränität” (ebd. 5) – als Zusammenhang wechselnder “Einschließungsmilieus” (ebd.) wie Familie, Schule, Fabrik, von Zeit zu Zeit Krankenhaus oder gar Gefängnis charakterisiert werden kann, ist die gegenwärtige Gesellschaft – spätestens nach dem zweiten Weltkrieg – “wohl schon keine Disziplinargesellschaft mehr” (ebd.). Angesichts des zunehmenden Zerfalls der traditionellen Einschließungsmilieus und derer Logik (vgl. auch Foucault 1994d, III, 532534) lässt sich vielmehr die veränderte Form einer Kontrollmacht ausmachen, die zunehmend zum ‘Paradigma’ spätmoderner Macht avanciert: “Die Kontrollgesellschaften sind dabei, die Disziplinargesellschaft zu ersetzen” (Deleuze 1990, 6). Doch während die Disziplinarmacht in ihren Operationen auf eine – über Einschließung und Routinisierung vermittelte – ‘Verinnerlichung der Macht’ zielt, reguliert die sich neu abzeichnende Kontrollmacht die Lebensströme eher in systemischen, “metastabilen und koexistierenden Strukturen” (ebd. 7) qua elektronischer Modulation: “ein Sieb, dessen Maschen sich von Punkt zu Punkt wandeln” (ebd.7). In ihrer Orientierung an ‘Zugang / Nichtzugang’ zielt sie gerade nicht mehr auf ‘Verinnerlichung’, sondern auf Funktionalität und Passung als Ermöglichung von Sicherheit; ihr Leitbild ist das der ‘elektronischen Karte’ als Inbegriff der Zugangsberechtigung qua Passwort, im Kontrast zum disziplinargesellschaftlichen Leitbild der Matrikelnummer samt Unterschrift als Zeichen individueller Zugehörigkeit zu einer Masse (und jeweiliger Verortung in ihr) (vgl. ebd. 8). Entscheidend scheint: während es disziplinarisch eher um die praktische Durchsetzung einer ‘Norm’ geht, indem die einzelnen Individuen durch die Unterscheidung zwischen ‘Normalen’ und ‘Anormalen’ in einem durchaus homogenen und stabilen Kontinuum situiert werden und insofern immer als ‘besonderer Fall’ eines ‘normalisierten Allgemeinen’ erscheinen, wandelt sich ‘kontrolltheoretisch’ dieser geradezu substantial operierende Modus von Individualisierung und Totalisierung in eine funktionale Operation von Vereinzelung und (sozialer) Reintegration qua Funktionalität und Passung: nicht ein vermeintliches ‘personales Sein’ der Individuen, sondern deren bloß funktionale Passung entscheidet über Inklusion und Exklusion. Deleuzes Kontrastierung beider Modelle an eher “dürftige[n] Beispiele[n]” (ebd. 10) ist aber ‘seismographisch’ interessant und vermag, die Richtung dieser ‘neuen Kontrollmacht’ anzudeuten (vgl. ebd. 7-9): Fabrik (als Korps arbeitender Individuen) vs. Unternehmen (als ‘gesunder Wettstreit’ zwischen rivalisierenden Köpfen), Schule vs. ‘kontinuierliche Weiterbildung’, Energiemaschinen vs. Informatikmaschinen und Computer, Produktionskapitalismus vs. Markt- und ‘Überproduktions’kapitalismus, Geld als Goldrepräsentant vs. Geld als frei flottierender Tauschkurs, Einschließung und Entlassung vs. ‘elektronisches Halsband’ (vgl. ebd. 9 wie insgesamt Krasmann 1999)65. 64
Vgl. dazu sowohl die Arbeiten aus dem Umkreis Foucaults wie – exemplarisch – Donzelot (1980) und Ewald (1993) wie auch darüber hinaus Deleuze (1987 und 1990), Butler (insbes. 1991 und 2001) und auch jüngst Hardt / Negri 2002.
65
Deleuze hat seine Überlegungen zur spätmodernen Verwandlung der Macht insbesondere in enger Zusammenarbeit mit Guattari entwickelt und vorgestellt; vgl. Deleuze / Guattari 1992. Zweierlei darin bedeutsame Momente ließen sich hier anschließen: Macht operiert erstens als Modus der Trennung und Neuzusammenfügung, so dass nicht nur ‘soziale Trennung’ als ein effektiver(er) Mechanismus zunehmend eingesehen worden ist, sondern auch in der Weise der sozialen Zusammenfügung durchgehalten wird. Dies ist insbesondere das Thema der Reflexionen Guy Debords, dessen Analysen zur ‘Gesellschaft des Spektakels’ (vgl. Debord 1996) die jeweiligen Weisen der Trennung und Zusammenfügung als Getrennte in der Formel ‘être isolée ensemble’ plastisch verdeutlichen (vgl. ebd. 23, 45, 57 wie insbes. 148). Damit ist zweitens verbunden, dass Macht zunehmend als funktionales ‘Netzwerk’ funktioniert; dieser Aspekt ist insbesondere in den Analysen von Michael Hardt und Antonio Negri betont worden (vgl. Hardt / Negri 2002).
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Ein letzter, von Foucault in der Tat erst zunehmend konturierter Machttyp sei zum Schluss der Rekonstruktionen eingeführt66: unter der Bezeichnung ‘Pastoralmacht’ hat Foucault – neben Disziplinarmacht und Bio-Politik – eine dritte Form produktiver ‘Lebensmacht’ etabliert, deren Typik er gerade in der kritischen Auseinandersetzung mit den bisherigen disziplinartheoretischen wie biopolitischen Überlegungen gewonnen hat; sie taugt daher nicht nur dazu, die bisherigen Elemente der Macht zu bündeln und Machttechnologien wie Herrschaftsverhältnisse aufeinander zu beziehen, sondern bietet ihrerseits die Möglichkeit einer Reformulierung bisherig akzentuierter Machttechnologien. Denn lässt sich zwar die Geschichte der Macht auch als Zunahme zentralisierter Machtformen – Foucault nennt exemplarisch Staat, Verwaltung und Bürokratie (vgl. Foucault 1994c, 67) – beschreiben, so richtet sich sein Augenmerk zunehmend auf Techniken einer “individualisierenden Macht” (ebd. 67), die auf Individuen zielt und “diese auf stetige und beständige Weise lenken soll” (ebd.). Mit ihr ist daher eine spezifische ‘Führung der Führungen’ markiert, die – alles andere als repressiv, besteht doch ihre “Rolle in stetigem Sichern, Unterstützen und Verbessern des Lebens eines jeden einzelnen” (ebd. 75) – ausschließlich über die Figuration individueller Selbstverhältnisse operiert und daher das Problem der Macht mit der ‘Geschichte des Subjekts’ untrennbar verknüpft. In einer historischen Auseinandersetzung mit unterschiedlichen antiken ‘Führungskünsten’ rekonstruiert Foucault deren Grundfigur am Beispiel des christlichen Pastorats, das er den griechisch-römischen Modellen der ‘Selbstsorge’ wie auch den (durchaus verwandten) hebräischen Führungsmodellen als Markierung einer antiken ‘Epochenschwelle’ entgegenstellt: “Die Entwicklung der ‘Pastoraltechnologie’ zur Menschenführung bedeutete offenkundig einen tiefgehenden Bruch mit den Strukturen der antiken Gesellschaft” (Foucault 1994c, 70). Foucaults überaus knapp gebliebene Skizze der christlichen Pastoralmacht (vgl. Foucault 1994, 1994c)67 lässt sich dabei entlang der “Herden-Metapher” (Foucault 1994c, 67) entfalten, in der dem ‘Hirten’ eine zentrale Funktion zukommt; gerade darin unterscheidet sie sich von anderen 66
In den erst jüngst auf deutsch publizierten Vorlesungen zur ‘Geschichte der Gouvernementalität’ (vgl. Foucault 2004a wie 2004b) präzisiert Foucault die (produktive) Typologie der Macht mithilfe des zugestandenermaßen “häßlichen Begriffs ‘Gouvernementalität’” (Foucault 2004a, 173) und bezeichnet damit jene Formen der Macht, in der die “Formen politischer Regierung auf Praktiken des ‘Sich-selbst-Regierens’ zurückgreifen” (Lemke 2002b, 474). Begrifflich verdankt sich ‘Gouvernementalität’ nicht – wie oft notiert (vgl. Lemke 2002a) – der Zusammensetzung von ‘gouverner’ und ‘mentalité’ als vermeintlicher Kennzeichnung einer zunehmenden ‘Regierungsmentalität’, sondern der substantivischen Ableitung von ‘gouvernemental’ (die Regierung betreffend) (vgl. Sarasin 2005, 176). Kern der gouvernementalen Machtform ist ein Verständnis von ‘Regierung’, in der es gerade nicht um die Regierung von Territorien geht, sondern um die ‘Regierung von Menschen’: “Das, was man regiert, sind die Menschen” (Foucault 2004a, 183) – und zwar so, dass sie “zugleich als Objekt und Subjekt” (Foucault 2004a, 27) der Macht erscheinen, weil die Art und Weise, wie Menschen ihr Leben führen und sich selbst regieren, nun in die Praktiken der politisch-administrativen Regierung der Menschen selbst eingebaut werden. Paradigmatische Grundfigur dieser insbesondere im frühen Christentum entwickelten und seit der frühen Neuzeit radikal zunehmenden Machtform ist die Pastoralmacht (vgl. dazu ebd. 173ff.). “Die Idee, daß es eine Regierung der Menschen geben kann und daß die Menschen sich regieren, ist also, wie ich denke, [...] eine Idee [...], deren Ursprung man eher im Orient suchen muß, in einem zunächst vorchristlichen und dann im christlichen Orient. Und dies in zweierlei Gestalt: Erstens in Gestalt der Idee und der Organisation einer Macht des pastoralen Typus und zweitens in Gestalt der Gewissensleitung, der Seelenführung” (ebd. 185). Vgl. insgesamt ausführlicher zum Typos der Gouvernementalität insbes. die Kennzeichnungen bei Lemke 2002a und 2002b. Zugleich wird von hier aus Foucaults spätere Ausarbeitung von Subjektivationsmustern – seien es nun die griechisch-römischen Modelle der ‘Selbstsorge’ (insbes. Foucault 2004c wie auch Foucault 1986 und 1986a) oder die christlich-pastoralen Vorstellungen eines ‘Selbstverzichts’ – als eine Form der historischen Machtanalyse verständlich(er).
67
Eine ausführlichere Rekonstruktion der Pastoralmacht findet sich auch in den 1978 und 1979 gehaltenen Vorlesungen zur ‘Geschichte der Gouvernementalität’ (vgl. insbes. Foucault 2004a). Doch – trotz ausdrücklicher Justierung der Perspektive auf den Zusammenhang von Macht und Selbstverhältnis bleibt gerade dieser hier doch zugunsten der Problematisierung der Sicherheitsdispositive eher eigentümlich unterbelichtet; vgl. dazu auch Liebsch 2005, 298f..
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Studie I: Die Macht der Macht
Metapherngruppen der ‘Menschenführung’ – z.B. der des ‘Steuermanns’ (vgl. ebd. 69) – deutlich: der Hirte übt nicht nur Macht über eine Herde aus, indem er sie “versammelt, leitet und führt” (ebd. 68), vielmehr konstituiert er erst die Herde als Herde, indem er (ansonsten) “verstreute Individuen” (ebd.) zusammenbringt und zusammenhält. Das Bild der ‘führerlosen Herde’ ist gerade keines der Herde: verschwindet der Hirte, zerstreut sich die Herde. “Anders gesagt, die Herde existiert durch die unmittelbare Anwesenheit und direkte Aktion des Hirten” (ebd. 69). Seine Aufgabe der ‘Herdenführung’ ist daher eine doppelte: er muss sowohl die Herde als ganzes zusammenhalten und zu ihrem Wohl führen als auch die einzelnen Mitglieder der Herde jeweilig dauernd hüten; in seiner Verantwortung liegt daher sowohl das Schicksal der ganzen Herde als auch jedes einzelnen Schafes, ja im Notfall gehört dem einzelnen die Aufmerksamkeit des Hirten, der ihm zuliebe die ganze Herde verlässt (vgl. Foucault 1994c, 69f.). Das Ziel der Herdenführung liegt aber nicht außerhalb ihrer selbst, sondern ist das der ‘Hut’ selbst. Aus dieser ersten (metaphorischen) Skizze der Pastoralmacht als einer ‘individualisierenden Macht’ entwickelt Foucault deren zwei Hauptkennzeichnungen, die unterscheidend eingeführt werden und einen ums Ganze verschobenen Machttypus zu rekonstruieren erlauben68: es ist, erstens, die Einführung und Begründung einer institutionell ‘heilsnotwendigen’ ‘Führung der Führungen’, so dass die Menschen in ihren je eigenen Lebensführungen auf die Führung durch andere – christlich dann die kirchliche Macht – angewiesen sind, die sich aber gerade nicht als ‘Repressionsmacht’ durchsetzt, sondern als Macht ‘pastoral’ begründet und sakramental praktiziert wird. Ihr Kennzeichen ist in der Tat der ‘gute Hirte’, der seine Herde nicht patriarchal dominiert und bloß zu eigenen Zwecken ausnutzt, sondern sie selbstlos regiert und ihr dient, indem er sie sammelt, leitet und führt und sich darin für sie (wachend und hütend) aufopfert, um sie – das ist entscheidend – zu ihrem ‘ewigem Heil’ zu erretten (vgl. dazu Foucault 1994c, 68-70). Darauf gestützt und damit verbunden ist ein zweites Moment, das sich als Etablierung eines paradoxen Selbstverhältnisses bezeichnen lässt und als Geständnis und Beichte vor einem anderen praktiziert wird: Selbstaffirmation als Selbsterforschung und (v.a.) ‘Hermeneutik des Begehrens’ (Foucault) einerseits, Selbstnegation als Selbstüberwindung und Selbstverzicht oder Selbstopferung andererseits. Gerade dieses Moment der Führung durch Selbstprüfung und Gewissenskontrolle gilt Foucault dabei als zentral: nicht nur muss der Hirte jedes seiner Schafe kennen und auf seine Bedürfnisse eingehen, sondern diese müssen ihm auch – als einzelne – persönlich folgen und unterworfen sein. “Gehorsam ist eine Tugend”, “ein Dauerzustand” (Foucault 1994c, 76), der um seiner selbst willen, nicht aber um der Erreichung anderer Ziele willen praktiziert wie ausdrücklich geübt wird und zur Erlösung von “Eigensinn” (ebd. 77) führen soll; als ‘Zweck an sich selbst’ beruht er gerade nicht auf der erzwungenen Einhaltung eines autoritären Gesetzes, sondern verwandelt sich durch Selbstverzicht in freiwilligen Gehorsam. In diesen Zusammenhang von “absolutem Gehorsam, Selbsterkenntnis und Beichte” (ebd. 78) mischt sich daher ein zusätzliches Element, das nur als paradoxe Figuration des Selbstverhältnisses verstehbar ist: “Alle christlichen Prüf-, Beicht-, Lenkungsund Gehorsamstechniken haben ein Ziel: Individuen zu veranlassen, ihr eigenes Absterben von dieser Welt zu betreiben” (ebd. 78) und “Selbstverzicht” (ebd.) um des (jenseitigen) Heils willen zu praktizieren. “‘Absterben’ ist [...] ein konstitutiver Teil der christlichen Identität” (Foucault 1994c, 78). In der Verknüpfung beider Momente aber vertieft sich die Macht, indem sie sich gerade nicht als Gewalt und ‘Todesdrohung’ formuliert, sondern sich als stellvertretende Sorge, Verantwortung und ‘Lebensermöglichung’ auszugeben vermag, sich so im Selbstverhältnis der Menschen einnistet und dieses von innen figuriert. 68
Die folgende Kennzeichnung der Pastoralmacht habe ich in einer theologisch wie anthropologisch justierten Auseinandersetzung ausführlicher erarbeitet (vgl. Ricken 2000b). Sie setzt sich kritisch ab gegen ein Verständnis dieser Machtform als einer Ablösung ethischer Selbstsorge-Modelle durch Modelle einer juridisch-kodifizierten Moral und ‘christlichen Doktrin’ (Foucault) (vgl. exemplarisch Erdmann 1995).
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Es ist diese pastorale Figur einer offensichtlich verborgenen ‘Führung der Führungen’, der Foucault zunehmend erhebliche Bedeutung zuschreibt: so beruht zum einen der ‘tiefgehende Bruch mit den Strukturen der antiken Gesellschaft’, der mit der “Entwicklung der ‘Pastoralmacht’ zur Menschenführung” (Foucault 1994c, 70) vollzogen wird, nicht so sehr auf der Ablösung antiker Ethiken der ‘Selbstsorge’ durch die Etablierung einer juridisch-kodifizierten Moral und “christlichen Doktrin des Fleisches” (Foucault 1986, 177), sondern vielmehr auf der Einführung einer zugleich individualisierenden wie totalisierenden Machtpraktik, die die ‘Seelsorge’ als spezifisch christlicher ‘Führung der Führungen’ markiert; zugleich sieht er zum anderen in ihr auch jene Machtfigur, die – seit den religiösen Auseinandersetzung des 15. und 16. Jahrhunderts – zunehmend an Bedeutung gewonnen hat und nun als verallgemeinerte, ‘säkularisierte Pastoralmacht’ zentrales Moment des neu sich etablierenden Staates geworden ist69. Entscheidend dabei ist für Foucault, den modernen Staat nicht als eine “Entität” zu betrachten, “die sich unter Mißachtung der Individuen entwickelt hat” (Foucault 1994, 249), sondern “im Gegenteil als eine sehr raffinierte Struktur” (ebd.) zu verstehen, die Individuen zu integrieren – “unter einer Bedingung jedoch: daß die Individualität in eine neue Form gebracht [...] werde” (ebd.). Muss aber der moderne Staat auch als neue “IndividualisierungsMatrix” (ebd.) verstanden werden, die zugleich individualisierend wie totalisierend wirkt, so lässt sich seine spezifische Logik – neben der der Souveränitäts- und Repressionsmacht70 – gerade in Analogie zum Pastorat als ‘Sorge’ und ‘Fürsorge’ erläutern: auch ihm, so Foucault, geht es statt um bloße Domination der Individuen um Entwicklung und Stärkung derer Leben als Bedingung staatlicher Stärke (vgl. Foucault 1994c, 90), so dass nun – statt jenseitigem Heil – “Gesundheit, Wohlergehen (das heißt: ausreichende Mittel, Lebensstandard), Sicherheit, Schutz gegen Unfälle” (Foucault 1994, 249) zur Orientierung und Begründung staatlichen Handelns werden; auch ihm geht es um die Etablierung einer als notwendig anerkannten und praktizierten ‘Führung der Führungen’, so dass die Entwicklung des Staatsapparates immer auch – und zunehmend – als Bereitstellung fürsorgender Institutionen verstanden werden muss; schließlich ist die pastorale Logik des vermeintlichen ‘Dienens’ und ‘Förderns’ selbst zentraler Bestandteil staatlicher Rationalität – und damit auch Teil seiner Legitimität als Souverän – geworden, ist doch der Staat nicht mehr bloß jene Herrschaftsform und Souveränität, die allein das ‘Monopol legitimen physischen Zwangs’ (Weber) beansprucht und negativ gegen seine Bürger durchsetzt, sondern längst auch jene Instanz, die positiv die Grundrechte der Menschen schützt und für seine Bürger durchsetzt: Aufrechterhaltung der äußeren Ordnung, Stärkung und Vermehrung der politischen Stärke auch gegen äußere und innere Feinde einerseits wie Gewährleistung der Sicherheit, Förderung und Stärkung der Wohlfahrt andererseits markieren den Horizont staatlichen Handelns. ‘Sicherheit und Wohlfahrt’, so ließe sich die staatliche Aufgabe pointiert bestimmen. Beides aber dient nur dem einen “Ziel der modernen Regierungskunst oder Staatsrationalität”, “nämlich die konstitutiven Elemente des Lebens der Individuen dergestalt zu entwickeln, daß deren Entwicklung auch die der staatlichen Stärke fördert” (Foucault 1994c, 90). Gerade in der Verknüpfung beider Machtlinien – Souveränität und Pastorat – sieht Foucault die besondere Herausforderung der Etablierung des 69
Angesichts der zentralen Rolle, die Foucault der Pastoralmacht auch neuzeitlich-modern zugewiesen hat, ist es durchaus überraschend, dass der Topos dieser spezifischen Form der ‘Menschenführung’ – verglichen mit den Aufregungen um die ‘Disziplinarmacht’ – bislang nur eher wenig Interesse auf sich gezogen hat; vgl. dazu erste Überlegungen in Erdmann 1995, Mette 1995 wie Steinkamp 1995 und 1999 wie auch Meyer-Drawe 1996. Ausführlicher auch die präzise Rekonstruktion bei Lemke 1997.
70
Was zunächst noch scheinbar nebeneinander besteht – souveräne Ordnung und pastorale Fürsorge –, gerät zunehmend zu einem Zusammenhang, insofern die Souveränität des Staates selbst abnehmend souveränitätstheoretisch denn pastoraltheoretisch begründet wird, wird doch der Zweck des Staates – wenn auch umstritten – in der Gewährleistung von äußerer Ordnung, innerer Sicherheit und Rechtsfrieden (Hobbes), dem Eigentumsschutz (Locke) oder gar der Versittlichung (Hegel) – alles klassischen ‘Sorgehandlungen’ – gesehen.
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Studie I: Die Macht der Macht
Staates als eines zunehmend umfassenden, gar totalitären Machtdispositivs: “Wirklich dämonisch sind unsere Gesellschaften geworden, als sie diese beiden Spiele – das Stadt-Bürger-Spiel und das Hirte-Herde-Spiel – in Gestalt des sogenannten modernen Staates kombinierten” (Foucault 1994c, 78). In vielfältigen historischen Studien – von der frühneuzeitlichen Entwicklung der politischen Staatsräson und der Etablierung der ‘Policey’ (vgl. Foucault 1994c, 81-91) über die Erfindung der liberalen Regierungskünste, die Einführung moderner ‘Sicherheitsdispositive’ (vgl. Foucault 2004a wie 2004b) und die Entstehung moderner Rassismen bis schließlich hin zur neoliberalen ‘Regierung der Individuen’71 – bearbeitet Foucault immer wieder diese neu gewonnene Problemstellung der ‘Gouvernementalität’; sie belegen nicht nur eindrücklich die systematische Tauglichkeit wie empirische Fruchtbarkeit des zunehmend präzisierten Machtbegriffs als der ‘Führung von Führungen’, sondern stellen selbst auch eine – bis heute noch nicht zureichend ausgelotete – ‘Fundgrube’ historisch-kritischer Untersuchungen zu einer ‘Genealogie der Moderne’ dar.
Die hier unternommene Rekonstruktion einer historischen ‘Typologie der Macht’ bei Foucault – Souveränität und Repression einerseits, Bio-Macht als Disziplinarmacht, Bio-Politik und (gouvernementale) Pastoralmacht andererseits – lässt sich nun machttheoretisch in mehrfacher Hinsicht lesen: zunächst als historisch dimensionierter Beleg seiner immer wieder formulierten Vermutung, dass Macht neuzeitlich-modern nicht bloß und nicht vorrangig als Repression und Unterdrückung konzipiert werden darf, sondern auch in ihrer Tendenz einer gleichzeitigen Vertiefung und Verbergung analysiert werden muss, sollen nicht doch bedeutsame Praktiken der ‘Menschenführung’ schlicht außeracht gelassen werden; dann als nicht nur empirisch fruchtbare, sondern auch systematisch hilfreiche Differenzierung verschiedener Machtformen entlang der unterschiedlichen Ebenen möglicher ‘Führungsführungen’ und insofern als überaus reichhaltiger Beitrag zu einer ‘Phänomenologie der Macht’; schließlich auch als äußerst umfangreiche und anregende “Werkzeugkisten” (Foucault 1978, 53) zur Formulierung von Kritik überhaupt. Folgt man daher zunächst den systematischen Weichenstellungen Foucaults, so erweist sich dessen relational und transzendental situierter Machtbegriff als präzise Justierung einer spezifischen Beobachtungsperspektive, in der mithilfe der Formel des ‘Führens der Führungen’ die jeweilige Konditionalität menschlichen Handelns focussiert wird. ‘Vertraut’ man nun aber doch auch den historischen Arbeiten Foucaults insofern, dass sie empirisch gehaltvoll und – wenn auch bisweilen fragmentarisch und exemplarisch – überaus ‘kerngenau’ verschiedene Machtmechanismen zu beobachten und zu differenzieren erlauben, dann lässt sich mit ihrer Hilfe der zunächst (beobachtungstheoretisch) sehr weit gefasste Begriff der Macht durch Unter71
Die allermeisten dieser Studien sind in den langjährigen, am Collège de France seit Mitte der 70er Jahre abgehaltenen Vorlesungen vorgestellt worden und haben im engeren wie auch weiteren Umfeld Foucaults zu vielzähligen Publikationen geführt. Die Publikation der Vorlesungen – sowohl auf französisch als auch auf deutsch – hat gerade erst begonnen und ist noch lange nicht abgeschlossen (vgl. dazu Foucault 1999, 2003a, 2004a, 2004b wie auch 2004c und zuletzt 2005). Lemke gibt in seiner ausführlichen Rekonstruktion der “Genealogie des modernen Staates” (Lemke 1997, 151-256) präzise Einblicke in die jeweiligen Stationen des Foucaultschen Denkens, indem er nicht nur dessen jeweilige Arbeiten berücksichtigt, sondern auch die der Mitarbeiter Foucaults – z.B. Ewald, Donzelot, Pasquino u.a. – wie anderer Wissenschaftler im Gefolge Foucaults – wie Rose, Miller u.a. – einbezieht.
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scheidung präzisieren und in einer ‘Phänomenologie der Macht’ (Popitz) entfalten. Während souveräne Macht qua Repression und Todesdrohung letztlich auf direktes Handeln angewiesen ist und qua Verbot immer zu Gegenhandeln und Widerstand provoziert, kann Bio-Politik als strukturelle Macht verstanden werden, die auf einer elementaren Ebene der strukturellen Handlungsbedingungen die jeweiligen Handlungsmöglichkeiten anderer zu regulieren sucht. Erstaunlicherweise setzt diese genau an jenen anthropologischen Grundbedingungen an, die inzwischen als ‘conditio humana’ (Plessner) fester Bestandteil philosophisch-anthropologischer Reflexionen wie auch historisch-anthropologischer Studien geworden sind: Geburt und Tod, Entwicklung und Verzögerung, Gesundheit und Krankheit, Hunger und Durst, Geschlechtlichkeit, Fortpflanzung und Sexualität, Verbundenheit und Getrenntsein wie Schutz, Beheimatung und Mobilität (vgl. auch Nussbaum 1999, 49-59). Zwischen diesen beiden Ebenen einer direkten und indirekten ‘Führungsführung’ durch Handlung und Struktur lassen sich nun zwei Weisen der Macht – Disziplinarmacht und Pastoralmacht – differenzieren, die eher auf die ‘Seele’ der Menschen abzielen, indem sie einerseits am Körper ansetzen und diesen zu disziplinieren suchen, andererseits direkt das Selbstverhältnis berühren. Beide Formen einer produktiven ‘Lebensmacht’ focussieren dabei eine Differenz der Menschen zu sich selbst, die sich identitätstheoretisch nicht erschließen ließe – weder bloß (als Körper) gegeben zu sein noch (als Bewusstsein) sich aufgegeben zu sein; in dieser anthropologischen Differenz aber, sich sowohl gegeben als auch aufgegeben zu sein, so dass sich kein Erstes ausmachen lässt, liegt ihr jeweiliger Einsatz. Dreierlei ‘Führungsweisen’ lassen sich grob verdeutlichen: Führung meint erstens direktes Handeln qua Gewalt, Zwang, Erpressung und daran gebundene Drohung oder Versprechung; die Form der dadurch provozierten Lebensführung ist die der Unterwerfung und des Gehorsams aus Sorge, Furcht und Angst – immer verbunden mit der dazu gegenläufigen Tendenz, sich soweit wie möglich dem Machtzugriff zu entziehen und subtil oder gar offen widerständig zu agieren. Diese erste Kennzeichnung der Macht als einer Handlungsmacht lässt sich auch als ‘Aktionsmacht’ und ‘instrumentelle Macht’ (vgl. Popitz 1992, 43ff.), als direktes und intentionales Handeln auf Handeln anderer bezeichnen, das – im Verfügenkönnen über Strafen wie auch Belohnungen – letztlich auf die körperliche Verletzbarkeit von Menschen zielt und als mögliche ‘Übermächtigung’ deren (auch und zunächst überwiegend körperliche) Ausgesetztheit nutzt (vgl. Popitz 1992, 44): “Die Verletzbarkeit des Menschen durch den Menschen ist nicht aufhebbar. [...] ‘Zum Nachteil der Beherrschten und zum Vorteil der Herrschenden ist der Mensch aber so beschaffen, daß man ihm, solange er lebt, immer noch etwas antun kann’ (Solschenizyn)” (Popitz 1992, 44)72. 72
Unbestreitbar ließe sich bereits hier auch anders – vielleicht phänomenologisch auch überzeugender – typisieren; so unterscheidet Popitz weit ausdrücklicher ‘Aktionsmacht’ als bloßer körperlicher Gewalt und ‘instrumentelle Macht’ als Drohung oder Versprechung (vgl. Popitz 1992, 23-27 wie auch 43ff. wie 79ff.). Aber – auch wenn in der Drohung bedeutsame Momente (wie z.B. das Phänomen der Bindung des Drohenden an das Verhalten des Bedrohten (vgl. ebd. 83)) unterscheidend angeführt werden können, zehrt auch diese Form letztlich doch von Gewalt, so dass erst diese ‘Fürchten und Hoffen’ als Führungsmöglichkeiten zu stabilisieren vermag, – auch wenn vieles davon abhängt, dass sie letztlich gerade nicht zum Einsatz kommt, weil sie, nur allzu schnell, mit der ‘Grenze der Macht’, dem Tod, verknüpft ist. Vgl. dazu auch Paris 1998, 13-56.
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Führung meint zweitens Struktursetzung und Veränderung wie Hintergrundarrangement, indem Handlungsbedingungen und Spielräume zumeist vorab figuriert werden. Auch diese Kennzeichnung der Macht als einer Strukturmacht ist machttheoretisch weithin unumstritten und wird auch mit ‘Metamacht’ (vgl. Imbusch 1998, 11) bezeichnet, die durch die Konstellation struktureller Rahmenbedingungen auf die Öffnung oder Schließung bestimmter Optionen und Handlungskorridore abzielt und in der Strukturierung sozialer Situationen die generelle soziale wie naturale Situiertheit der Menschen zu nutzen sucht. Schließlich lässt sich Führung drittens als Beeinflussung und Figuration des Selbstverhältnisses von Menschen verstehen, die konkrete Handlungsweisen wie allgemeinere Verhaltensfiguren auch ohne Zwang und Einschränkung zu regulieren erlauben; entscheidend für diese Form der Macht ist ihr Ansatz in der Differentialität der Menschen: Menschen leben ihr Leben, indem sie es – wie auch immer ausdrücklich reflexiv – selbstreferentiell führen müssen; ihr Selbstverständnis ist daher nicht nachträgliche Selbstkonstatierung und Selbstvergewisserung, sondern als unschließbar differentielles Selbstverhältnis (sich zu sich verhalten zu müssen, ohne darin zu einem Endpunkt gelangen zu können) die Weise ihrer Existenz selbst (vgl. Ricken 1999a wie auch 2004a). Bei Foucault nun ließen sich zwei Mechanismen einer solchen konditionalen Macht ausmachen: Disziplinarmacht als körperlich operierende ‘Kontrollmacht’ (Imbusch 1998, 11) einerseits, Pastoralmacht als seelisch operierende ‘Konditionalmacht’ andererseits; beide zielen als Formen einer ‘inneren Macht’ (Popitz 1992, 28) auf das sowohl körperlich als auch sozial situierte und konstituierte Selbstverhältnis der Menschen, das sie – sei es als Bewusstsein, Überzeugung, Einstellung oder Glaube – nicht nur zu beeinflussen, sondern selbst zu figurieren suchen, insofern sie ‘Orientierungsbedürfnis’ (Popitz) und soziale Ansprechbarkeit der Menschen ausnutzen73. Im Gegensatz zu Handlungs- und Strukturmacht, die wesentlich nicht auf das Selbstverhältnis von Menschen rekurrieren, sondern dieses zu überspringen bzw. zu hintergehen suchen (und darin auch ihre jeweilige Beschränktheit erfahren), ist mit solcher ‘Konditionalmacht’ eng verknüpft, wie Menschen sich zu sich selbst und anderen verhalten– so dass es nun gerade überhaupt nicht egal ist, warum Menschen was und wie denken, fühlen, hoffen und glauben. Was auf den ersten Blick klassifikatorisch interessant sein mag und – bisweilen neue, bisweilen auch nur alte – Sortierungsmöglichkeiten bietet, lässt sich in einem zweiten Blick anders aufnehmen. Denn liest man diese Typologie auch in ihrer zeitlichen Genese, so zeigt sich eine bedeutsame Tendenz, die als zunehmende Zurückverlagerung der Repressionsmacht zu einer zwar unverzichtbaren, doch immer mehr ‘allerletzten’ Machttechnologie und als neuzeitlich-moderne Zunahme an mehr oder weniger indirekter Macht sich beschreiben lässt. Foucaults listige Pointierung – Freiheit sei die Weise, ‘wie die Macht sich akzeptabel macht’ (vgl. Foucault 1978, 35 wie 38) – mag von hier einleuchten und verweist darauf, das Problem der Macht nicht 73
Auch hier ließe sich anders und differenzierter klassifizieren (vgl. Imbusch 1998 wie auch Galbraith 1987); unter dem Stichwort ‘autoritative Macht’ hat Popitz (1992, 104-131 wie 132-159) beide Seiten der ‘Autoritätsbindung’ thematisiert und als Problem von Anerkennung und Anerkennungsanerkennung zu dechiffrieren versucht. Vgl. dazu auch Sofsky / Paris 1994, 21-156.
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bloß und ausschließlich in seiner Offensichtlichkeit – nämlich als Handlungs- und Strukturmacht – zu thematisieren. Es daher auch und vor allem in den “Formen der Subjektivierung”, ja in der “Unterwerfung durch Subjektivität” (Foucault 1994, 247) zu studieren heißt, Subjektivität weder als ursprüngliches noch als bloß “abgeleitetes Phänomen, Konsequenz anderer ökonomischer und gesellschaftlicher Prozesse: Produktivkräfte, Klassenkonflikte und ideologischer Strukturen” (ebd.) zu bestimmen, sondern selbst als ein – vielleicht sogar das – zentrale(s) Feld der Macht zu markieren. Das aber widerspricht immer wieder einer machttheoretischen Gewöhnung, entweder zu personal oder zu anonym zu reden, entweder in Selbstbestimmung den Hort der Freiheit zu verankern und nur offensichtliche Fremdbestimmung als Macht zuzulassen, oder strukturtheoretisch als irrelevant zu disqualifizieren (und bisweilen zu belächeln), was Menschen – auch über sich selbst – denken und fühlen und Macht geradezu objektivistisch zu dimensionieren. Beides aber – so unabdingbar es sein mag, direktes wie indirektes Handeln und Strukturen zu berücksichtigen – greift zu kurz, interpretiert man es nicht als Figuren der ‘Führungsführungen’ und rückbezieht man es nicht seinerseits auf das Problem der unaufhebbaren Selbstbezüglichkeit; terminologisch ist damit aber ‘Subjektivität’ als ‘Feld der Macht’ markiert, so dass gerade nicht mit gesagt ist (und sein darf), dass ‘Subjektsein’ die natürliche und unüberbietbare Form menschlichen Existierens ist74. Schließlich: von Macht lässt sich kaum sprechen, wenn nicht Kritik – wie ausdrücklich auch immer – mit gesagt wird; nicht Freiheit ist daher ihr ‘Gegenstück’, sondern Kritik die Perspektive eines machttheoretischen Geschäfts. Auch Foucaults immer wieder auch leidenschaftlich vorgetragene Analysen sind weder ‘normativ neutral’ und bloß ‘historisch informativ’ noch ‘ideologisch positioniert’ und geradezu ‘klassenkämpferisch’ unternommen; vielmehr zeigen sie – auch und gerade in ihrer so oft und so vehement attackierten normativen Zweideutigkeit und Widersprüchlichkeit – das ebenso unverzichtbare wie unabschließbare ‘Geschäft der Kritik’: als analytische Distanzierung, reflexive Problematisierung und praktische “Entunterwerfung” [‘désassujettissement’] (Foucault 1992, 15). Es ist gerade nicht der Bezug zu eindeutig formulierbaren und geltungstheoretisch ausweisbaren Kriterien, der Kritik als (legitime und insofern notwendige) Kritik auszuweisen vermag75, sondern ihr problemati 74
Es ist hier kaum anders als ‘scherenschnitthaft’ möglich, das hier beanspruchte Verständnis von ‘differentieller und relationaler Subjektivität’ als einer ‘elliptischen Struktur’ um die Pole der Existentialität (sein Leben selbst führen zu müssen und darin nicht hintergehbar zu sein) und Konditionalität (dies immer nur bedingt und durch andere konstituiert tun zu können und insofern selbst nicht ursprünglich sein zu können, sondern – bleibend – angewiesen zu sein) zu erläutern und gegen Konzepte der Autonomie, Identität und des Subjektseins zu konturieren. Vgl. daher ausführlicher meine Überlegungen in Ricken 1999a wie – kürzer – in 1999b oder 2000a. Begrifflich ist darauf zu bestehen, Subjektivität, Subjekt, Individualität, Individuum, Identität und Personalität zu unterscheiden (vgl. Ricken 1999a, 175). Macht nun auf Subjektivität zu beziehen hieße, deren ‘Dreigestalt’ – seinerseits Bedingung wie durch andere bedingt zu sein und zu beidem sich verhalten zu müssen – mit der Unterscheidung von Handlungs-, Struktur- und Konditionalmacht zu verbinden.
75
Die ständig wiederholte Aufforderung, die jeweilig beanspruchten oder bloß unterstellten Maßstäbe prinzipiell auf- und nachzuweisen, ist selbst längst Werkzeug disziplinierender Denkregulationen: angesichts der Unmöglichkeit, universale Maßstäbe auszuweisen, dient sie – insbesondere in Diskussionen – nicht der Klärung sachlicher Fragen, sondern weit mehr der sozialen Selbstüberhebung durch Anderendisqualifizie-
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sierender ‘Krebsgang’, sich in der Verabredung möglicher Kriterien kritischer Widerrede und Widerpraxis auf kein letztes Fundament zurückziehen zu können, sondern – transzendental-skeptisch – immer auch die Kritik der Kritik mitbetreiben zu müssen. Foucaults gelegentliche Hinweise auf Kritik zeugen von dieser Schwierigkeit: nicht abschließende Realisierung von Freiheit und Wahrheit – als nur vermeintlich machtfreien Gegenbegriffen – ist sein Ziel, sondern – weil nicht immer eindeutig unterscheidbar vom vermeintlichen Gegenstück – permanente “Entunterwerfung” (Foucault 1992, 15). Konsequent markiert Foucault daher Kritik als “kritische Haltung” und “Kunst, nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden” (ebd. 12) – kurz: “nicht dermaßen regiert zu werden” (ebd.) –, und nicht, überhaupt “nicht regiert zu werden” (ebd., vgl. auch 52), wie bisweilen irreführend angenommen wird. Kritik ist – so Foucault – daher jene “Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihr Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin” (ebd. 15), jene praktische Haltung, “nicht als wahr anzunehmen, was eine Autorität als wahr ansagt, oder jedenfalls nicht etwas als wahr annehmen, weil eine Autorität es als wahr vorschreibt” (ebd. 14) – ohne dabei seinerseits auf einen Wahrheitsbegriff, der außerhalb der Macht wäre, zurückgreifen zu können. Foucaults Erläuterung der Kritik als einer ‘permanenten Aufgabe’ – “Criticism is a matter [...] to show that things are not as self-evident as one believed, to see that what is accepted as self-evident will no longer be accepted as such. Practicing criticism is a matter of making facile gestures difficult” (Foucault 1988d, 155) – zielt auf Nichtnotwendigkeit dessen, was ist, und sucht daher jeweilige Spielräume, sich auch anders dazu verhalten zu können, anzureizen. Daher ist sie nicht – schon gar nicht: bloß theoretisch-normatives – ‘Projekt’, sondern permanente Negation, nicht ‘regulatives Prinzip’, unter dessen Anleitung Phänomene organisiert werden könnten, sondern ständige Problematisierung, die auch im Konsens nicht zur Ruhe kommt. “Ich würde sagen”, so Foucault auf Habermas bezogen, “daß es eine permanente kritische Überlegung ist: sich zu fragen, welcher Anteil von Nichtkonsensualität in einem Machtverhältnis enthalten ist, und ob dieser Grad an Nichtkonsensualität notwendig ist oder nicht. Danach lässt sich dann jedes Machtverhältnis in Frage stellen” (Foucault 1994b, 707)76. Dieses Verständnis einer ‘Kritik ohne Fundament’ irritiert, hat es sich doch – spätestens mit Habermas – eingewöhnt, Kritik selbst auf ihre normativen Grundlagen zu befragen und erst in diesen zu begründen, um diese und jene Kritik als unzulässige abweisen zu können77. Doch kein – wie auch immer transzendentaltheoretisch oder rung. Nichts aber enthebt der eigenen Verantwortung – jeweiliger Kritik zuzustimmen oder seinerseits entgegenzutreten. 76
Und mit Blick auf Habermas fährt er fort: “Ich würde höchstens soweit gehen zu sagen, daß man vielleicht nicht für Konsensualität, sondern gegen Nichtkonsensualität sein sollte” (Foucault 1994b, 707). Vgl. insgesamt zu Foucaults Kritikverständnis als einer ‘Haltung’ (vgl. Foucault 1992, 11-12) bzw. ‘Tugend’ (Butler) die kontroversen Überlegungen von Butler (2002), Figal (2002) und Geuss (2002).
77
Wenn es denn stimmt, dass Kritik weder an bloß vorgegebenen noch auch an (einmal?) selbstgegebenen Maßstäben und Kriterien sich verlässlich orientieren kann, sondern in der inhaltlichen Kritik immer auch ihre Maßstäbe mitproblematisieren muss, dann ist nicht nur die Unterscheidung in berechtigte und unberechtigte
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transzendentalpragmatisch gearteter – Rückgang vermag dieses Fundament zu garantieren: weder die Idee einer “ursprünglichen Freiheit” (Foucault 1992, 53) noch die Fiktion “universale[r] und unverjährbare[r] Rechte” (ebd. 13) können als ‘machtfrei’ überzeugend rekonstruiert werden; vielmehr schlägt auch in ihnen immer wieder die Weise ihrer jeweilig bedingten sozialen und historischen Konstitution durch, so dass ein jeder Universalismus sich unter der Hand doch immer wieder bloß als historischer Partikularismus erweist und ein ‘quasi-archimedischer Punkt’ außerhalb der Macht schlicht nicht erreicht werden kann. Lässt sich aber Kritik gerade nicht nicht-perspektivisch formulieren, ist sie untrennbar an Subjektivität und Pluralität gebunden und Ausdruck derer Differentialität: denn ist Subjektivität weder Realisierung ‘ursprünglicher Freiheit’ noch bloße Hinnahme des eigenen Produktcharakters, ist mit ihr – als ‘Inter-Subjektivität’ (Meyer-Drawe 1984) – eine Form der ‘Selbstbildung’ und ‘Formung’ markiert, die in immer schon mehr oder weniger vorgegebenen Formen sich vollzieht. Das ‘Selbst’ formt sich selbst, aber es formt sich immer im Rahmen von Formierungspraktiken, die ihm vorangehen; die damit bezeichnete Differenz – der Formung in Formung – ist nicht aufhebbar oder auflösbar und muss praktisch gehandhabt werden. Insofern aber der unaufhebbare Zwang, sich zu sich selbst verhalten zu müssen, nicht bloß ein Additum der Existenz, sondern deren Modus selbst ist, ist auch Kritik nicht einfaches (an äußerliche Kriterien gebundenes) Ja- oder Nein-Sagen zu jeweiligen Formung (so als ob es etwas Ungeformtes gäbe), sondern Ausdruck einer unaufhebbaren Differenz im Feld der Macht: Verhältnis zu sich selbst als einem Verhältnis, insofern Selbstdistanz zu diesem jeweiligen Ja- und Nein-Sagen und daraus resultierende Selbsttransformation. Als “Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit” (Foucault 1992, 15) ist sie daher nicht einfach bloß Ungehorsam gegen Formierungspraktiken, sondern Problematisierung und ‘Nein-Sagen’ zur eigenen (durch andere bedingten) Gewordenheit im Bewusstsein der Einverwicklung in das Kritisierte. Kritik ist daher nicht linear gedachte ‘vernünftige Urteilskraft’ (im Sinne der Anwendung geprüfter Vernunftprinzipien), sondern – auch und vor allem – Problematisierung der Prinzipien und Muster jeweiligen Urteilens selbst, ohne sich außerhalb dieser Muster stellen zu können noch sich von ihnen determinieren zu lassen: “A critique is not a matter of saying that things are not right as they are. It is a matter of pointing out on what kinds of assumptions, what kinds of familiar, unchallenged, unconsidered modes of thought the practices that we accept rest” (Foucault 1988d, 154). Was aber an Macht sich normativ nicht klären ließ, ist diese doch weder generell vermeidbar (und als Fremdbestimmung durch ursprünglich gedachte Selbstbestimmung kritisierbar) noch prinzipiell normativ regulierbar, das aber lässt sich an Kritik deutlicher profilieren: Kritik ist als Problematisierung der Bedingungen des Ja- und Nein-Sagens Negation des eigenen ‘Nicht-Nein-Sagen-Könnens’ und daraus resultierende Selbstveränderung. Entscheidend für Foucault ist dabei: Kritik ist nicht bloß Kritik qua dritter Kriterien bereits überaus problematisch (und auch arrogant), sondern dauernder öffentlicher ‘Streit’ das Medium der Kritik selbst. Eine ‘kritische Kultur’ ist daher nicht eine des ständigen Nörgelns oder dauernder ‘Besserwisserei’, sondern eines institutionalisierten öffentlichen Streits: nicht bloß Zustimmung, auch (und gerade) Streit verbindet (vgl. Loraux 1994 wie Reichenbach 2001).
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Studie I: Die Macht der Macht
theoretisch-skeptische Geltungsprüfung, sondern als ‘bestimmte Negation’ immer ‘praktische Entunterwerfung’ und insofern eine ‘Tugend’; und: sie operiert nicht – auch nicht negativ – mit unerreichbar ‘regulativen Prinzipien’ (wie Freiheit und Wahrheit), sondern bindet sich an konkrete Subjektivität als einer unaufhebbaren Differenz, argumentiert daher nicht (auch nicht skeptisch-negativ) identitätstheoretisch, sondern durchgängig differenztheoretisch. Wie kaum ein anderer hat Foucault diese Haltung auch zur eigenen theoretischen Grundhaltung seiner Arbeiten gemacht und unter der Überschreibung einer ‘kritischen Ontologie der Gegenwart’ (Foucault) die Grenzen des Denkens wie dessen Einbindung in jeweilige historische Praktiken betont, die es gerade nur illusorisch bzw. selbsttäuschend möglich machen, Wissenschaft als eine ‘Analytik der Wahrheit’ betreiben zu können.
IV. Folgt man den bisherigen Weichenstellungen, Macht zunächst als einen Beobachtungsbegriff für jeweilige soziale Konditionalität zu justieren und dann als Moment auf jeweilige Selbstverhältnisse zu beziehen, so bewegt man sich machttheoretisch in einem eigentümlichen ‘Zwischenraum’: weder auf vermeintlich objektive Strukturen noch auf als subjektive Expressionen gedachte Handlungen reduzierbar und von denen her jeweilig linear analysierbar, ist Macht vielmehr ‘zwischen Handlung und Struktur’ justiert und – soll nicht doch wieder ein lineares Folgerungs- und Ableitungsdenken Einzug halten – in ihrer Effektivität an jeweilige Selbstverhältnisse gebunden, die aber auch ihrerseits nicht als Fundament ausgelegt werden können. Was zunächst machttheoretisch als vermeintlicher Rückschritt gegenüber Strukturtheorien der Macht gelten könnte, erweist sich – auch und gerade im Anschluss an Foucault – nun seinerseits als Präzisierung; vielmehr scheint es machttheoretisch nun umgekehrt ‘naiv’, Macht ohne Berücksichtigung jeweiliger Selbstverhältnisse konzipieren zu wollen. Mit Macht wird daher eine doppelte Relation markiert: als Focussierung des Verhältnisses zwischen Menschen bleibt sie gebunden an deren jeweiliges Selbstverhältnis, das sich allerdings in diesen Verhältnissen allererst konstituiert; ja, schärfer noch: Macht thematisiert dieses Selbstverhältnis der Menschen in seiner jeweiligen sozialen Konstituiertheit, ohne jedoch in strukturale Ableitungsschemata zurückfallen zu können. Damit ist aber Macht als ein soziales (Beobachtungs-)Konzept in seiner Plausibilität auf die Erläuterung von situierter Subjektivität angewiesen – denn: würde Subjektivität verstanden als konstituierende, allem vorgängige und insofern ursprüngliche Subjektivität eines Subjekts, wäre Macht schlicht unverständlich und ließe sich normativ eindeutig als grenzverletzende Fremdbestimmung als unzulässig diagnostizieren; würde man aber umgekehrt sie als bloß nachträglichen Reflex auf determinierende Strukturen, als deren jeweiliges Produkt verstehen, wäre Macht als Problemstellung nicht nur sinnlos, sondern auch in ihrer sozialen Dramatik und Virulenz nicht einsehbar. Aber auch Macht bloß allgemein in sozialer Beeinflussbarkeit zu situieren, entspricht zwar bisweilen durchaus dem dann eher dürftigen
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Theoriestand mancher Diskurse, ist aber gänzlich unannehmbar und theoretisch schlicht unbefriedigend. Vielmehr scheint es – in diesem ‘Zwischenraum’ – darum zu gehen, Macht aus einer doppelten Schwierigkeit herauszulösen: zum einen aus ihrer gegenwärtig dominanten linearen Fassung, in der sie weitgehend – trotz aller immer wieder behaupteten Relationalität – entweder als (zwar unterschiedlich bewerteter) Übergriff und Grenzverletzung von als basal verstandener individueller Freiheit oder als eben diese determinierende Struktur gedacht wird; zum anderen aus ihrer weitgehend akzeptierten Trivialisierung – ich denke an Erklärungskonstrukte wie Machttrieb, Durchsetzungsstreben, Ordnungsnotwendigkeit oder anderes – und durchgängig pejorativen Kennzeichnung. Beides aber gehört zusammen und schlägt sich systematisch verheerend nieder: denn nur indem Freiheit und Macht oppositional gedacht, je nach theoretischer Herkunft zum jeweiligen Ausgangspunkt stilisiert und dann eindeutig mit gut und schlecht bewertet werden, so dass Freiheit entweder als erstrebenswert und als in gegen Fremdbestimmung gerichteter Selbstbestimmung praktiziert gilt oder nur als Selbstillusionierung angesichts strukturaler Weichenstellungen belächelt werden kann, lässt sich verbergen, dass linear – d.h. entweder individual- oder strukturtheoretisch – gedachte Freiheit und Macht selbst Ausdruck ihrer Verschleierung sind. Schlimmer noch: individualtheoretisch gefasste Freiheit ist dann selbst eine Form der Unterwerfung durch Trennung von anderen, indem Macht ihres Doppelcharakters (nämlich auch sozial generierbare Handlungs- und Kooperationsfähigkeit zu sein) beraubt wird. Blickt man aber solchermaßen in den machttheoretischen Diskurs, so ist doch auch überraschend, dass mit Subjektivitätstheorie ein durchaus eher selten bearbeitetes Desiderat der Machttheorie gekennzeichnet werden kann, das nicht nur aufgrund seines ‘Jargons der Innerlichkeit’ nur schlecht in diesen Diskurs zu passen scheint; auch umgekehrt liegt es nicht oft nahe, situierte Subjektivität auch machttheoretisch zu erläutern. Vielmehr überwiegen die Bestrebungen, Macht in Abgrenzung von Konzepten der Subjektivität zu theoretisieren. Auch Foucault – dies war bislang überdeutlich geworden – hat sich immer wieder vehement gegen die Annahme eines vorgängig gedachten, ursprünglichen Subjekts ausgesprochen; seine vielfältigen Überlegungen müssen zunächst – vielfach rekonstruiert und bestätigt (vgl. Ricken 1999a, 159-171 wie auch jüngst Rieger-Ladich 2002, 359-437) – vielmehr als mehrdimensional angelegte und ebenso ausdrückliche wie scharfe Kritik des Subjekts gelesen werden, bevor sie dann auch als Beitrag zu einem veränderten Verständnis von Subjektivität aufgenommen werden können. Die damit einhergehenden Schwierigkeiten lassen sich anschaulich an einer an Foucault eng anschließenden Rekonstruktion von ‘Subjektivierung’ illustrieren, die Gilles Deleuze entlang der Metapher der ‘Faltungen’ vorgelegt hat (vgl. Deleuze 1987). Dabei ist, so Deleuze, die Zuwendung Foucaults zur Problematik der Subjektivierung als einem ‘Denken des Innens’ (vgl. ebd. 131) selbst Folge einer machttheoretischen “Sackgasse” (ebd. 133), die Macht stringent als “Denken des Außen” (ebd. 99) konzipieren zu wollen. Gegen die immer wieder herangezogene und westlich-kulturell scheinbar so naheliegende Versuchung, Subjektivität als sukzessive Ausfaltung vorgängiger, geradezu ursprünglicher Einfaltungen zu verstehen, betont Deleuze Foucaults dazu grundsätzlich oppositionale Grundthese: “Das Innen als Werk des Außen: in
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Studie I: Die Macht der Macht
seinem Werk scheint Foucault von diesem Thema eines Innen verfolgt zu werden, das nur die Faltung des Außen ist, so als ob das Schiff lediglich eine Falte des Meeres wäre” (ebd. 135). An verschiedenen Beispielen, Texten und Überlegungen Foucaults vermag er dabei – durchaus durchgängig – zu zeigen, “wie das Innen stets die Faltung eines vorausgesetzten Außen ist” (ebd. 137), das entsteht, in dem das Außen sich faltet, krümmt und zu einem Innen sich bildet. Was aber auch zunächst strukturalistisch missverstanden werden kann, wird ebenso programmatisch korrigiert: “Die grundlegende Idee Foucaults ist die einer Dimension der Subjektivität, die sich von der Macht und vom Wissen herleitet, aber nicht von dort abhängig ist” (ebd. 142). Beides aber zugleich zu behaupten, führt – mindestens linear gedacht – in theoretische Aporien, ist doch die Kennzeichnung des ‘Innen’ als einer “Ableitung des Außen” (ebd. 149) mit deren Nichtabhängigkeit nur schwerlich vereinbar. Überzeugend scheint zunächst daher nur eines: ‘Subjektivität’ ist in keinem Fall Kennzeichnung einer nicht vermittelten Innerlichkeit. Verfolgt man nun Deleuzes Rekonstruktion weiter, so zeigt sich ein erster – allerdings doch wenig ausgearbeiteter – Ansatz zur Interpretation der Subjektivationsproblematik: ‘Faltung’, so Deleuze, meint auch Krümmung zu einer Doppelung, die einen Bezug zu sich entstehen lässt (vgl. ebd. 139); der in dieser Krümmung, Drehung, Dopplung oder Verdopplung entstehende “Riß” (ebd. 137) ist gerade “kein Defekt des Gewebes mehr, sondern die neue Regel” (ebd. 137): “Doppelung als Beziehung zu sich” (ebd. 141), die sich im ‘unablässigen Vollzug’ (ebd. 145) “vertieft und entwickelt” (ebd. 140) und als dauerndes “Sich-durch-sich-Affizieren” auf die “allgemeinste Formel der Beziehung zu sich” (ebd. 146) gebracht werden kann. Selbstbezug als Bezug zu einem Selbst ist aber – so Deleuze – keine anthropologische ‘Universale’, sondern ihrerseits kulturell bedingter Modus menschlichen Existierens: “Das Auftreten einer Faltung des Außen könnte sich als Eigentümlichkeit der okzidentalen Formationen erweisen” (ebd. 149; vgl. auch dort Anm. 31), so dass die Form des ‘Sich-durch-sich-Affizierens’ nicht notwendig auf ein ‘Selbst’, ein ‘Ich’ als einer “Universalie” (ebd. 161) hinauslaufen muss, sondern auch im Modus der ‘Selbstlosigkeit’ sich vollziehen kann – eben “ohne spezifische Produktion von Subjektivität” (ebd. 149). Dreierlei Schlussfolgerung lassen sich ziehen: es ist erstens wohl unbestreitbar, dass es eine “rohe Erfahrung” (ebd. 158) – von sich oder der Welt – gerade nicht geben kann, die sich rekonstruieren ließe und als fundierende Basis zur Erläuterung von Subjektivität und Macht nutzen ließe; damit geht zweitens einher, dass jede Weise der Gestaltung des ‘Sich-durch-sichAffizierens’ geschichtlich-kulturell bedingt ist und in ihrer jeweiligen Bedingtheit analysiert werden muss; drittens aber verbietet ein solcher Zugriff auch die Konstruktion eines seinerseits unvermittelten ‘Außen’, von dem her – linear – sich die jeweilige Formung des ‘Innen’ erschließen ließe. Deleuze markiert dies, indem er zum einen auf die ‘Homologie’ von ‘Innen und Außen’ als Ausdruck derer ‘Ineinanderverwebung’ verweist (vgl. ebd. 168), zum anderen aber das ‘Außen’ als ‘reines‘Außen’ mit dem Tod identifiziert und damit als unzugänglich aufzeigt. Alle drei Markierungen aber lassen sich im Gedanken der Relationalität bündeln, die sich gerade nicht als nachträgliche Inbezugsetzung vorgängiger Pole erläutern lässt, sondern als Prozess der Differenzierung dieser aus ihrer Bezogenheit heraus verstanden werden muss. Die Metapher der ‘Faltung’ steht zwar in ihrer Akzentuierung als ‘Einfaltung des Außen’ im scharfen Kontrast zur eingewöhnten Vorstellung einer ‘Ausfaltung und Entfaltung von Einfaltungen’, bleibt aber doch in ihrer Logik an die Oppositionalität von Innen und Außen gebunden und verstellt so eher eine Neujustierung von ‘Subjektivation’, als dass sie diese eröffnete. Die dabei aus ‘Relationalität’ resultierende prinzipielle ‘Unbestimmtheit’ ist aber gerade nicht auflösbar, gilt doch deren jeweils wechselseitige Konstitution und Einschließung, so dass ein jedes x immer nur als x (y) gelten kann, dessen y seinerseits immer ein y (x) ist. Kategorial resultiert daraus unweigerlich der Umbau von Identitäts- in Differenztheorie: denn lassen sich weder Anfang noch Ende als mögliche Ausgangspunkte ausmachen, ist es denkerisch nur möglich, jeweilige Einsätze zu markieren, um in die benannte Relationalität einzusteigen. Unbestimmtheit ist dann aber nicht Ausdruck mangelnder denkerischer Präzision,
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sondern – im Gegenteil – präzises Bewusstsein der Grenzen des Denkens selbst78. Ein solcher Denkstil scheint dabei – oft als Ärgernis konstatiert – auch die Überlegungen Foucaults zu prägen; insbesondere sein Verständnis von ‘Subjektivität’ als einer “Differenz der Masken” (Foucault 1973, 190)79 vermag dies eindrücklich zu belegen, markieren doch ‘Masken’ für Foucault weder eine Verbergung des Eigentlichen noch eine in ihrer Summe erreichbare Identität, sondern die Weise unserer Existenz selbst.
Ließ sich so an Deleuzes metaphorischer Fassung von situierter Subjektivität als einer ‘Faltung des Außen’ eine erste Justierung der Perspektive vornehmen, die mit (doppelter) Relationalität und daraus resultierender thematischer wie methodologischer Unbestimmtheit gekennzeichnet werden kann80, so ist es wohl auch machttheoretisch unabdingbar, den ‘Raum des Zwischen’ genauer auszuloten; angesichts der doppelten Fragestellung, wie Macht sich als ‘Führen der Führungen’ verstehen lässt, und – korrespondierend – was es möglich macht, regiert zu werden, scheint es naheliegend, auf vorliegende Ansätze zurückzugreifen, die die Genese des Selbst von einer strukturierenden Sozialität her zu erläutern suchen, ohne jene aus diesen bloß ableiten zu wollen. Vielmehr geht es gerade darum, ‘Sozialisation’ als Zusammenhang von ‘Individuation’ und ‘Soziation’ (Schaller) erläutern zu können und nicht – wie sooft – bloß programmatisch behaupten zu müssen. Zweierlei Überlegungen seien daher hier aufgegriffen: auch wenn Pierre Bourdieus Konzept des Habitus machttheoretisch nicht unbedingt über Foucaults Überlegungen hinaus geht81, lässt sich ihm ein bedeutsamer Hinweis entnehmen, der als Weichenstellung der folgenden Überlegungen zu fungieren vermag; Macht – so die verkürzte Auskunft Bourdieus – ist in ihrer Funktionslogik eng an Distinktionspraktiken gebunden und muss als performative Unterscheidungs- und Anerkennungsproblematik erläutert werden (a). In ähnliche Richtung weisen auch Überlegungen Judith 78
Vgl. dazu die Überlegungen in Gamm 1994, der das Problem der wechselseitigen Bedingung unter dem Titel der Unbestimmtheit zu erläutern und (erkenntnis-)theoretisch fruchtbar zu machen versucht hat.
79
Vgl. zu Foucaults Verständnis von Subjektivität als einer ‘différence des masques’ (Foucault) insbesondere die vielfältigen Arbeiten Meyer-Drawes (exemplarisch Meyer-Drawe 1990, 1991 wie 1998a), die diese Kennzeichnung ausdrücklich nutzt, um die Dimension einer unaufhebbaren Unbestimmtheit und Versagung von Identität in Subjektivität zur Geltung zu bringen und gerade nicht bloß zur aufhebbaren Bedingung der Möglichkeit von Selbstbestimmung zu degradieren.
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Der Versuch, Subjektivität als ‘doppelte Relationalität’ auszulegen, um der jeweiligen Situiertheit auch begrifflich Rechnung zu tragen, lässt sich insbesondere mit Verweis auf Kierkegaards Erläuterung des Selbst als eines ‘Verhältnisverhältnisses’ stärken: “Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das an dem Verhältnis, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält” (Kierkegaard 1992, 8). Was zunächst durchaus ‘verschroben’ erscheinen mag, gewinnt – auch und insbesondere phänomenologisch – zunehmend Plausibilität: erstens bin ich nicht eine (körperliche) Entität, sondern (auch schon körperlich!) immer eine Relation mit anderem und anderen; zugleich ist mein – immer auch leibliches – Verhältnis zu mir selbst nicht nachträgliche Konstatierung dessen, was ich bin, sondern bereits selbst die Weise, wie ich bin, ohne dass das eine auf das andere zurückführbar wäre. Vgl. dazu ausführlicher meine Überlegungen in Ricken 1999a und 1999b.
81
Vgl. zu den Bezügen zwischen Bourdieu und Foucault exemplarisch Wayand 1998, Eribon 1998 wie auch Rieger-Ladich 2002, 359ff.; Bourdieus eigene Bezugnahmen (vgl. insbes. Bourdieu 1989, 67-74 wie auch Bourdieu 1995) sind eher vom Bild des ‘Disziplinartheoretikers Foucault’ bestimmt (vgl. ebd. 70f.) und betonen – trotz der Nähe in einem ‘nicht-totalen’ politischen Denken – daher deutlicher die Differenz beider.
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Butlers, die es – ebenso verkürzt – erlauben, das Problem machttheoretisch situierter Subjektivität über den Gedanken der Performanz auch anerkennungstheoretisch zu reformulieren (b). Beiden Denkansätzen eignet dabei nicht nur die Einschätzung, ‘Macht’ überwiegend zwischen Handlung und Struktur situieren zu müssen und insofern weder strukturalistisch-materialistisch noch idealistisch erläutern zu können, sondern auch die Überzeugung, soziale Macht als Moment jeweiliger leiblicher Selbstverhältnisse zu verstehen und insofern ausschließlich relational fassen zu müssen. (a) Pierre Bourdieus weit gespannte soziologische Untersuchungen gelten als vielfach ausgearbeitete und inzwischen überwiegend zustimmend rezipierte Theorie, die das komplexe Wechselspiel zwischen gesellschaftlichen Strukturen und der Verfasstheit der einzelnen thematisiert und im Begriff des ‘Habitus’ diskurspolitisch bedeutsam auf den Begriff gebracht hat; trotz einer von Bourdieu oft unnachgiebig vorgetragenen Kritik des (starken) Subjekts lassen sich ihre jeweiligen Akzentuierungen dabei nutzen, die hier umrissene Problemstellung situierter Subjektivität auch machttheoretisch zu präzisieren. Bourdieus anthropologischer Einsatz bestätigt diese Perspektive, nennt er doch “Konditionierbarkeit als natürlicher Fähigkeit, nicht naturgegebene, beliebige Fähigkeiten zu erwerben” (Bourdieu 2001, 175), als zentrale Ausgangsbedingung seiner reflexiven Soziologie82. Höchst bedeutsam ist dabei eine von Bourdieu immer wieder vorgenommene grundsätzliche methodologische Weichenstellung, die auch als Negation zweier geläufiger Machtkonzeptionen – personal gedachte Macht als Problem physischer Stärke (damit letztlich als Gewalt) und strukturell gedachte Macht als Problem ökonomischer Herrschaft – verstanden und als dauernder Versuch beschrieben werden kann, den soziologisch eingewöhnten Verführungen eines zweiwertigen, zwischen Individuum und Gesellschaft alternativ changierenden Denkens zu widerstehen und dem Dualismus von “Subjektivismus und Objektivismus” (Bourdieu 1987, 49) zu entkommen. Beide, so Bourdieus wiederkehrende Erläuterung seiner wohl soziologisch “wichtigste[n] Absicht meiner Arbeit” (Bourdieu 1992a, 137), taugen nicht, die Komplexität und Relationalität der sozialen Welt angemessen zu thematisieren, indem sie einerseits – subjektivistisch – in der Focussierung der Erfahrung als fundierender Struktur deren soziale und geschichtliche Bedingtheit unterschlagen und andererseits – objektivistisch – in der Reduktion der Sozialwelt auf vorgängige Strukturen das Individuum als eine bloß abgeleitetes und dann 82
Bourdieus reflexive Soziologie ist längst vielfach rezipiert und rekonstruiert worden, so dass hier auf eine umfassende Darstellung derselben verzichtet werden kann; vgl. dazu ausführlicher insbesondere die Arbeiten von Schwingel (1993 und 1995), Wittpoth 1994 wie jüngst Papilloud 2003 und – darstellungskürzer – Wayand 1998 und Rieger-Ladich 2002, 285-358; die Diskussionsbände von Wulf / Gebauer (1993) wie jüngst Bittlingmayer u.a. (2002) und Rieger-Ladich u.a. (2006) geben gute Über- und Einblicke in die enorme Vielfalt der Bourdieuschen Soziologie. – Wenn auch machttheoretisch – trotz unübersehbarer metaphorischer Differenzen (vgl. Bourdieu 1989, 71) – mancherlei “Ähnlichkeiten” zu den Arbeiten Foucaults erkennbar sind, was “die Ablehnung einer substantialischen Auffassung der Macht, die Pluralität der Machtformen, die nicht auf die Sphäre des Politischen beschränkt ist” (Bourdieu 1989, 70), anbelangt, so ist Bourdieus Denkeinsatz doch durchaus eher traditionell: nicht nur wird Macht begrifflich immer wieder mit Herrschaft, Gewalt, Kapital und sogar Ungleichheit bisweilen synonym verknüpft, sondern auch ausdrücklich als ökonomisches Problem aufgenommen: “Reichtum bleibt die Grundlage von Macht, kann jedoch nur unter symbolischen Formen des Kapitals seine Wirkung zeitigen” (Bourdieu 1976, 375). Ich werde mich daher im folgenden ausschließlich mit einigen Momenten des Habitusbegriffs beschäftigen und dessen Präzisierungen als Weichenstellung der eigenen Argumentation zu nutzen suchen.
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auch soziologisch ableitbares “Epiphänomen der Struktur” (Bourdieu 1998, 8) auslegen und die mit ihm immer auch verbundene Handlungsfähigkeit negieren (vgl. Bourdieu 1987, 49-96). Bourdieus daraus resultierendes Plädoyer für ein relationales Denken (vgl. ebd. 12 u.ö.) zielt daher auf ‘Aufhebung’ eines solchen substantialischen und strukturalen Denkens in einer praxeologischen Perspektive, so dass deren jeweilig produktive Einsichten aus ihrer Vereinseitigung gelöst und gerade nicht “annulliert”, sondern ausdrücklich “bewahrt” (Bourdieu 1976, 148) und (miteinander verknüpft) auch überschritten werden können. Praxeologisch betrachtet sind Strukturen aber nichts anderes als geronnene und sedimentierte Objektivationen historischer Praxen, während umgekehrt individuelle Handlungen nur als Subjektivationen sozialer Praxen beschreibbar sind. Bourdieus zunächst methodologische Insistenz auf einem “Primat der Relationen” (Bourdieu 1998, 7) zwingt daher auch thematisch dazu, das Handeln der einzelnen – diesseits der unfruchtbaren Alternative von Subjekt und Struktur – als kompliziertes Wechselspiel zwischen gesellschaftlichen Strukturen und individuellen Dispositionen zu begreifen, ja – schärfer noch – die eigenen Handlungen sich gerade nicht umstandslos selbst zuzuschreiben und zur kreativen Expression seiner selbst zu stilisieren, sondern auch als Ausdruck sozialer Relationalität verstehen zu lernen (vgl. Bourdieu 1990a). Doch vollzieht Bourdieu diesen “radikalen Bruch”, der dem anthropologischen “Narzißmus nicht gerade schmeichelt”, indem er gemeinhin ausgegebene Freiheitsideen als “illusorische Freiheiten” (Bourdieu 1998, 9) gerade in Frage stellt, nicht um willen einer zynischen Destruktion des Menschen, sondern – par excellence aufklärerisch – um dessen möglicher Befreiung willen: “Die anthropologische Wissenschaft verlohnte nicht die Mühe einer einzigen Arbeitsstunde, stellte sie sich nicht die Aufgabe, den Subjekten den Sinn ihres Verhaltens wieder verfügbar zu machen” (Bourdieu 1970, 39). Pointiert bündelt Bourdieu den – mit Foucault durchaus verwandten – Einsatz seines soziologischen Denkens: “Doch anders als es der Augenschein will, ist die befreiende Kraft der Sozialwissenschaft um so größer, je mehr an Notwendigkeit sie wahrnimmt und je besser sie die Gesetzmäßigkeiten der sozialen Welt erkennt. Jeder Forschritt in der Erkenntnis der Notwendigkeit ist ein Fortschritt in der möglichen Freiheit. Wohingegen das Nichterkennen, das Verkennen der Notwendigkeit eine Form der Anerkennung der Notwendigkeit beinhaltet, und vermutlich die absoluteste, die totalste, weil sie von sich selbst absieht” (Bourdieu 1993, 44). Bedingung einer solch ‘aufklärerisch’ verfassten Soziologie ist aber – nur folgerichtig im Denken Bourdieus – eine selbstkritisch betriebene und distanzierte Soziologie der Soziologie selbst; im Kern zielt dabei seine ‘Kritik der scholastischen Vernunft’ (vgl. Bourdieu 2001) auf eine Rekontextualisierung aller wissenschaftlichen Arbeit in einem ‘akademischen Raum’ als einem spezifischen, durch eigene Distinktionspraktiken gekennzeichneten sozialen Feld innerhalb anderer Felder: “Der Wissenschaftler, der nichts von dem weiß, was ihn als Wissenschaftler bedingt, nämlich die ‘scholastische Sicht’, läuft Gefahr, [...] die schlimmsten epistemologischen Fehler [...] zu begehen” (Bourdieu 1998, 207 u. 210). Unter der Maßgabe, “die Objektivierung [zu] objektivieren” (Bourdieu 1987, 57), hat dabei Bourdieu immer wieder sein Programm einer soziologischen Kritik der Soziologie (wie aller Wissenschaften) vorgelegt (vgl. insbes. Bourdieu 1998a) und damit bisweilen auch das Missverständnis genährt, dass die Rückbindung wissenschaftlicher Objektivierungsarbeit an objektive gesellschaftliche Soziallagen aus anfänglich zugestandener sozialer (und methodologischer) Relationalität herauszuführen vermöge83.
83
Es ist wohl diese bei Bourdieu durchaus häufig nachlesbare Metaphorik der ‘sozialen Objektivität’ und ‘Objektivierung’, die immer wieder auch zu Interpretationen der Überlegungen Bourdieus als einem ‘Sozialdeterminismus’ verführen; und in der Tat legt eine programmatische Formulierung wie ‘die Objektivierung objektivieren’ genau dies nahe, suggeriert sie doch die ‘Objektivität’ wissenschaftlicher Objektivierungsarbeit in ihrer Rückführung auf Soziallagen allererst zu begründen. Es wird daher hier besonders auch darum gehen, den unauflöslich Charakter aller (sozialen wie methodologischen) Relationalität zu betonen.
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Kernstück dieser relationalen Soziologie ist das von Bourdieu in Anlehnung an Panofsky entfaltete Konzept des Habitus84, das erlauben soll, “im Zentrum des Individuellen selber Kollektives zu entdecken” (Bourdieu 1970, 132) und so den Dualismus von Individuum und Gesellschaft zu unterlaufen. Seit dessen theoretischer Aufnahme und Transformation zu einem soziologischen Grundbegriff hat Bourdieu immer wieder neu den Begriff des Habitus erläutert und durchgängig als ‘innere Form’ (Humboldt) bestimmt, die als sozial gedachte “Dialektik von opus operatum und modus operandi” (Bourdieu 1987, 98) verstanden werden muss und es ermöglicht, “alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen einer Kultur zu erzeugen – und nur diese” (Bourdieu 1970, 143). So definiert Bourdieu immer wieder (vgl. Bourdieu 1976, 164f.): “Die Konditionierungen, die mit einer bestimmten Klasse von Existenzbedingungen verknüpft sind, erzeugen die Habitusformen als Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, als strukturierte Strukturen, die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungieren, d.h. als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlage für Praktiken und Vorstellungen, die objektiv an ihr Ziel angepaßt sein können, ohne jedoch bewusstes Anstreben von Zwecken und ausdrückliche Beherrschung der zu deren Erreichung erforderlichen Operationen vorauszusetzen, die objektiv ‘geregelt’ und ‘regelmäßig’ sind, ohne irgendwie das Ergebnis der Einhaltung von Regeln zu sein, und genau deswegen kollektiv aufeinander abgestimmt sind, ohne aus dem ordnenden Handeln eines Dirigenten hervorgegangen zu sein” (Bourdieu 1987, 98f.). Gerade nicht als Repräsentationsbegriff konzipiert – besteht doch der “Wert des Habitusbegriffs” ausschließlich darin, “welche falschen Problemstellungen und Lösungen er beseitigt und welche Fragen mit seiner Hilfe besser gestellt oder gelöst werden können” (Bourdieu 1987, 99 Anm. 1) – ist ‘Habitus’ nun seinerseits ein Beobachtungsbegriff, dem als Vermittlungskategorie zwischen konkreten Praxen und gesellschaftlichen Strukturen eine doppelte Funktion zukommt: einerseits dient er der Erläuterung und Erklärung der erstaunlichen Homogenität und Regelhaftigkeit sozialer Praxen, indem er als Übersetzungsbegriff von objektiven Strukturen in individuelle Dispositionen fungiert und insofern die “Interiorisierung der Exteriorität” (Bourdieu 1976, 164) markiert; andererseits aber – so Bourdieu ebenso – “gibt [er] dem Akteur eine generierende und einigende, konstruierende und einteilende Macht zurück” (Bourdieu 2001, 175), indem er daran erinnert, “daß diese sozial geschaffene Fähigkeit, die soziale Wirklichkeit zu schaffen, nicht die eines transzendentalen Subjekts ist, sondern die eines sozial geschaffenen Körpers, der sozial geschaffene und im Verlauf einer räumlich und zeitlich situierten Erfahrung erworbene Gestaltungsprinzipien in die Praxis umsetzt” (ebd.) und insofern die erst sozial ermöglichte “Exteriorisierung der Interiorität” (Bourdieu 1976, 164) markiert. Auch wenn immer wieder in der Rezeption (vgl. exemplarisch Krais 1981) und bisweilen auch bei Bourdieu selbst diese doppelte Funktion aus dem Blick gerät und der Habitusbegriff einseitig als bloße “Verinnerlichung der Äußerlichkeit” (Bourdieu 1987, 102) nahezu deterministisch verstanden wird (vgl. Müller 1992, 238-351), gilt es um so entschiedener mit Bourdieu, bisweilen auch gegen Bourdieu selbst auf deren Zusammenhang zu insistieren und darauf zu verweisen, dass gesellschaftliche Objektivität – auch und gerade in ihrer geronnenen Materialität – nicht unabhängig von jeweiligen (sozial ermöglichten) Selbstverständnissen existiert, sondern erst in ihnen existiert und materialisiert wie sich durch sie dauernd reproduziert. Denn nur so erklärt sich die von Bourdieu ständig neu unternommene soziologische “Wühlarbeit”, “durch Bewußtmachung [der sozialen Bedingtheit] die Denkkategorien [zu] verändern” und so zu einer veränderten “Orientierung der individuellen und kollektiven Praktiken” (Bourdieu 1987, 257) beizutragen85. 84
Vgl. zum Habitusbegriff die begriffsgeschichtliche Rekonstruktion bei Kosenina 1996 wie auch die präzise Darstellung bei Wittpoth 1994, 93-98 und Rieger-Ladich 2002, 314-326.
85
Zum Kritikverständnis Bourdieus vgl. ausführlicher Wayand 1998 wie auch Rieger-Ladich 2002; die Chance einer sozialen Transformation impliziert die Gleichzeitigkeit von kognitiv-kategorialer Subversion und praktisch-politischer Aktion, die ihrerseits eine strukturelle Krise voraussetzen: ‘daß es so, wie es geht, nicht
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Als Relationsbegriff justiert meint ‘Habitus’ ein dreifaches: erstens lässt er sich nur erläutern in enger Korrelation zu jeweiligen sozialen Räumen und Feldern, so dass Dispositionen und soziale Positionen aufeinander bezogen sind und einander bedingen; das aber verlangt neben der Analyse der Genese des Habitus86 auch eine korrelative Soziologie des ‘sozialen Raums’ als einer “Sozialtopologie” (Bourdieu 1985, 9), die Bourdieu insbesondere in seiner kultursoziologischen Untersuchung der ‘feinen Unterschiede’ unternommen hat (vgl. Bourdieu 1982). Die von Bourdieu immer wieder betonte ‘Doppelheit’ der sozialen Welt – die “zum Körper gewordene” und die “zum Ding gewordene Geschichte” (Bourdieu 2001, 193) – kann dann aber nur unangemessen als Bezeichnung zweier voneinander getrennter Gegenstandsbereiche verstanden werden, sondern muss vielmehr – wie schwierig auch immer – als ein Zusammenhang beschrieben werden, so dass soziale Felder ihrerseits nicht mechanistisch als starre und stabile Strukturgebilde, sondern als ‘dynamische Situationen’ und als “ein Feld von potentiellen Kräften” (Bourdieu 1982, 164) gelten. Schärfer noch: ebenso wie Praktiken mittels des Habitusbegriffs auf soziale Strukturen und Klassenlagen zurückbezogen werden müssen, müssen diese auch ihrerseits als spezifische Praktiken entschlüsselt werden. Es ist dieser eigentümlich praxeologische Zusammenhang beider Dimensionen, den Bourdieu immer wieder und durchgängig als “performative Magie des Sozialen” (Bourdieu 1987, 107) kennzeichnet: nicht nur ist das eine im anderen jeweils präsent, so dass es immer auch um eine “Beziehung fast magischer Teilhabe” (Bourdieu 2001, 193) geht; vielmehr ist das eine nur durch das andere existent, so dass deren praktisches Ineinander im Rückgriff auf Performanztheorie und Rituskonzepte durchaus als “Transsubstantiation” (Bourdieu 1976, 200) ausgelegt werden kann. Bourdieus Bemerkung, dass die “Subjekte im eigentlichen Sinne nicht wissen, was sie tun, weil das, was sie tun, mehr Sinn aufweist, als sie wissen” (Bourdieu 1976, 179), so dass sie insofern immer mehr tun, als sie tun, markiert den praktischen – und insofern immer “unsichtbare[n], nicht herzeigbare[n] und nicht anfaßbare[n]” (Bourdieu 1998, 23) – Charakter jeder sozialen Struktur und führt ein in eine eigentümlich paradoxe Logik sozialer Praxis: die beobachtbare Stabilität87 der sozialen Verhältnisse ist Folge einer erstaunlichen Instabilität, insofern sie nicht an Materialitäten und Entitäten hängt, sondern im Handeln der Menschen sich vollzieht (und im immer möglichen Andershandeln sich auch änderte); sie erklärt sich aber mit Blick auf die durch Machtverhältnisse konstituierten Sinn- und Selbstverhältnisse. weitergehen kann’. 86
Angesichts der vielfachen Rekonstruktionen des Habitusbegriffs sei hier auf die von Bourdieu erarbeitete Genese desselben nur summarisch verwiesen; unterscheiden lassen sich dabei dreierlei Dimensionen (vgl. Rieger-Ladich 2002, 322-326): erstens die unmerklichen und zumeist beiläufigen Prozessen des ‘Vertrautwerdens mit der eigenen Kultur’, die in der spielerischen Übernahme sozialer Perspektiven und der Gewöhnung an Klassifikationsmuster etc. als ‘Beheimatung’ in der jeweiligen sozialen Welt beschrieben werden können; zweitens jene ausdrücklichen und expliziten Praktiken der Unterweisung und der Überlieferung, die die Erzeugung des ‘modus operandi’ systematisch betreiben; schließlich drittens jene – für Bourdieu besonders bedeutsamen – “strukturale Übungen” (Bourdieu 1976, 192; vgl. auch 1987, 138), die auf Verleiblichung der sozialen Ordnung zielen und als “stille Pädagogik” (Bourdieu 1987, 128) bezeichnet werden kann: “Die List der pädagogischen Vernunft liegt gerade darin, daß sie das Wesentliche unter dem äußeren Schein abnötigt, nur Unwesentliches [...] zu erheischen” (ebd. 128), “indem sie den Respekt der Formen und die Formen des Respekts erwirkt, die die sichtbarste und zugleich meistverborgene, weil natürliche Manifestation der Unterwerfung unter die herrschende Ordnung darstellen” (Bourdieu 1976, 200). Bedeutsam ist dabei, dass in allen drei Dimensionen der Körper der Individuen als bevorzugtes Objekt der Strategien herausgestellt wird, so dass Bourdieu oft – nur konsequent – vom Habitus als einer “einverleibten, zur Natur gewordenen und damit als solcher vergessenen Geschichte” (Bourdieu 1987, 105 u.ö.) sprechen kann.
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Bourdieu wird nicht müde, die aus den beachtlichen “Beharrungskräfte[n] des Habitus” resultierende enorme und nahezu durchgängige Stabilität zu betonen, “die sich nicht durch eine einfache, auf die befreiende Bewußtwerdung gegründete Willensanstrengung aufheben lassen” (Bourdieu 1997, 171). Diese Insistenz aber ist ihm immer wieder in der Rezeption als sozialer Determinismus angelastet worden (vgl. z.B. neben den genannten Krais und Müller auch Honneth und Hradil); zur Kritik dieser Kritik vgl Steinrücke 1988.
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Aus der Verknüpfung von Habitus und Feld resultiert nun zweitens, auch materielle und symbolische Herrschaft als einen Zusammenhang zu denken und nicht – wie allzu oft geschehen – als Bewusstsein und Sein dichotomisch zu konzipieren (und je nach Geschmack und politischer Orientierung mal das eine oder das andere zu präferieren). Gerade im Gegenteil, der Begriff des Habitus sucht die ‘Präsenz’ gesellschaftlicher Strukturen ohne deren “unmittelbare Gegenwart” (Bourdieu 1987, 105) zu fassen, indem er diese gerade als ‘inkorporierte Strukturen’ auslegt; das aber zieht nach sich, auch materielle Existenzbedingungen, soziale Strukturen, ja selbst geronnene und materialisierte Institutionen nicht objektivistisch (oder gar naturalistisch) misszuverstehen, sondern nun ihrerseits zurückzubinden an Symbolisierungsprozesse, die jenen – in sie einverwoben – erst ihre jeweilige Bedeutung beimessen, ohne wiederum selbst zu einem sozial ‘Ersten’ stilisiert werden zu können. Unmissverständlich betont Bourdieu – vielleicht auch zur Überraschung mancher Rezipienten (vgl. Müller 1992, 255) –, dass soziale Klassifizierungskämpfe sich nur verstehen lassen, “wenn man über den Gegensatz von Realität und Vorstellung hinauskommt [...], und wenn man in das Reale auch die Vorstellungen vom Realen miteinbezieht” oder, “genauer gesagt”, den sozialen Kampf als “Kampf zwischen Repräsentationen” (Bourdieu 1990, 95) interpretiert, die gerade nichts unabhängig von sich repräsentieren, sondern ihrerseits performativ wirken88. Das aber bindet “Prinzipien der sozialen Gliederung (di-vision)” an sie begleitende, stützende und durch sie bedingte “Vorstellungen (vision) von der sozialen Welt” (ebd. 95) und markiert Macht als Zusammenhang beider. Nur konsequent erläutert Bourdieu diesen Zusammenhang an zweierlei Problemstellung: zum einen gilt uneingeschränkt, dass, “selbst dann, wenn Herrschaft auf nackter Gewalt – der der Waffen oder der des Geldes – beruht, [...] sie stets auch eine symbolische Dimension” hat, sind doch “die Akte der Unterwerfung und des Gehorsams [...] Akte des Erkennens und Anerkennens” (Bourdieu 2001, 220) eben dieser Materialität als einer bedeutsamen (hier bedrohlichen bzw. beherrschenden) Materialität. Gleiches gilt – zum anderen – für die von Bourdieu ausgearbeitete und längst weit rezipierte Kapitalienlehre89, in der schließlich die Unterscheidung dreierlei Kapitalsorten – ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital (vgl. Bourdieu 1992, 49-79) – rückgebunden wird an “symbolisches Kapital” (Bourdieu 1985, 22), ohne jedoch darauf zurückgeführt zu werden: “Symbolisches Kapital – anderer Name für Distinktion – ist nichts anderes als Kapital (gleich welcher Art), wahrgenommen durch einen Akteur, dessen Wahrnehmungskategorien sich herleiten aus der Inkorporierung der spezifischen Verteilungsstruktur des Kapitals, mit anderen Worten: ist Kapital, das als selbstverständliches erkannt und anerkannt ist” (ebd. 22). Machttheoretisch bedeutsam (und durchaus nicht überraschend) ist dabei der Zusammenhang von politisch-sozialer Herrschaft und “symbolischer Ordnung und Benennungsmacht” (ebd. 23), den Bourdieu auch als “Durchsetzung der Doxa” (Bourdieu 1982, 734) beschreibt – als einen im “Akt der Erkenntnis und [...] der Anerkennung der Sozialordnung” implizierten “Akt der Verkennung” (ebd. 735), so dass die hierarchische und ungleiche Organisation des Sozialen kaum noch als Resultat erbitterter Kämpfe und ungleicher Kapitalverteilung erkannt werden kann, sondern als – mehr oder weniger – gerechtfertigt und gleichsam ‘natürlich’ zu erscheinen vermag. Folgerichtig diagnostiziert Bourdieu genau darin die ‘verborgenen Mechanismen der Macht’ (vgl. Bourdieu 1992): “Die symbolische Macht ist ein Macht, die in dem Maße existiert, wie es ihr gelingt, sich anerkennen zu lassen, sich Anerkennung zu verschaffen; d.h. eine (ökonomische, politische, 88
Vgl. dazu ausführlicher die sprachtheoretischen Überlegungen Bourdieus in Bourdieu 1990.
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Es ist immer wieder erstaunlich und ärgerlich, dass die Unterscheidung der verschiedenen Kapitalien zwar oft als Anregung aufgenommen, ebenso oft aber auch objektivistisch missverstanden worden ist und daher zu der durchaus ‘vulgärpraxeologischen’ Vorstellungen geführt hat, dass neben ‘Geld und Besitz’ auch ‘Kultur’, ‘Bildung’ und ‘Beziehungen’ ‘die Welt’ regieren. Demgegenüber gilt es, immer wieder auf die Verknüpfung der Kapitalien mit ‘symbolischem Kapital’ hinzuweisen und so an Interpretativität rückzubinden.
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kulturelle oder andere) Macht, die die Macht hat, sich in ihrer Wahrheit als Macht, als Gewalt, als Willkür verkennen zu lassen. Die eigentliche Wirksamkeit dieser Macht entfaltet sich nicht auf der Ebene physischer Kraft, sondern auf der Ebene von Sinn und Erkennen” (Bourdieu 1992a, 82)90. Erst auf diesem Hintergrund aber lässt sich sinnvoll von “freiwillig-unfreiwilliger Unterwerfung” (Rieger-Ladich 2002, 327) sprechen: “Jede symbolische Herrschaft setzt vonseiten der Beherrschten ein gewisses Einverständnis voraus, das keine passive Unterwerfung unter einen Zwang von außen, aber auch keine freie Übernahme von Wertvorstellungen darstellt” (Bourdieu 1990, 27). Die angesichts praxeologischer Instabilität erstaunliche Stabilität der sozialen Verhältnisse ist daher nicht (nur) Folge machtvoller Durchsetzung der Herrschenden, sondern immer auch Resultat deren allgemeiner Anerkennung auch von denen, die nicht von ihr profitieren und so unfreiwillig-freiwillig zu ‘Komplizen’ der eigenen Unterwerfung werden (vgl. Bourdieu 1989, 43); ihren – allerdings auf “bequeme Unmündigkeit” (RiegerLadich 2002, 348) allein nicht reduzierbaren – Sinn aber verstehen zu lernen verbietet, Konzepten wie ‘Entfremdung’, ‘Verblendung’ und ‘falsches Bewusstsein’ das Wort zu reden91. Ein letztes, drittes Bedeutungsmoment mag dies erläutern helfen: der Begriff des Habitus dient, so Bourdieu, nicht nur zur Erklärung der immer auch erstaunlichen (und durchaus unwahrscheinlichen) “Abstimmung der Praktiken”, sondern muss seinerseits auch als “Praktik der Abstimmung” (Bourdieu 1987, 111) interpretiert werden können, figuriert er doch mögliche Handlungen immer auch ‘im Hinblick auf mögliche Reaktionen anderer’ (vgl. Bourdieu 1987, 115) und ist daher – zeitlich wie sozial – zu verstehen als “Vorwegnahme der Reaktion, die von diesen Reaktionen wiederum ausgelöst wird” (ebd. 115). Als aus “objektiven Grenzen” resultierender “Sinn für Grenzen” markiert der Habitus jene “Fähigkeit zur praktischen Vorwegnahme dieser Grenzen” und kann schließlich – im Rückgriff auf eine Formulierung Goffmans (vgl. Bourdieu 1992, 141) – als “sense of one’s place [bezeichnet werden], der ausschließen lässt (Objekte, Menschen, Orte etc.), was einen selbst ausschließt” (Bourdieu 1982, 734). Mit dieser Formulierung aber eröffnet sich eine durchaus neue – hier nun ausdrücklich anerkennungstheoretisch formulierte (vgl. auch Bourdieu 1987, 125 wie 2001, 183) – Perspektive auf ‘prinzipielle Relationalität’: sozial situiert zu existieren heißt dann, die eigene Identität (und Subjektivität) erst in sozialer Distinktion als Abgrenzungs- wie Zugehörigkeitspraxis gewinnen zu können, so dass “eine jede soziale Lage [...] mithin durch die Gesamtheit dessen [bestimmt ist], was sie nicht ist, insbesondere jedoch durch das ihr Gegensätzliche: soziale Identität gewinnt Kontur und bestätigt sich in der Differenz” (Bourdieu 1982, 279). Als bis tief in den eigenen Leib reichendes ‘Gespür für Differenzen’ ist der Habitus daher immer auch die sozial figurierte Praxis von (das Subjekt allererst ermöglichender) Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit: nicht nur Resultat praktisch relationaler Selbstverortung, so dass “in einem Raum existie-
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So unmissverständlich Bourdieus Justierung des Zusammenhangs von Macht und Symbolik auch ist, so prekär sind bisweilen seine eigenen Kommentierungen, die immer wieder die Differenz ‘eigentliche’ und’uneigentliche Macht’ nahelegen, indem sie einseitig Verbergung mit Symbolik und sozialer Anerkennung identifizieren (vgl. Bourdieu 1992a, 82); dabei resultieren Bourdieus ‘objektivistische Neigungen’ insbesondere aus der Angst, angesichts der Interpretationsproblematik doch “wieder der Tradition der Subjektphilosophie, der Bewußtseinsphilosophie zu verfallen und sich diese Akte der Anerkennung wie freie Akte der Unterwerfung und der Komplizenschaft vorzustellen” (ebd. 82). So verständlich dies ist, so wenig hilfreich ist doch ein bloß objektivistischer Gegenschlag, der die ‘Anerkennung der Strukturen’ dann doch zum Resultat einer geschlossenen ‘politischen Sozialisation’ macht, habituell automatisiert und schließlich ‘verzwangsläufigt’.
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Bourdieu betont in einem Interview zum ‘politischen Fetischismus’, dass ‘symbolische Macht’ eine Macht markiert, “sich Anerkennung zu verschaffen” (Bourdieu 1989, 42), so dass die eigene Wirksamkeit und Durchsetzungsfähigkeit nicht “auf der Ebene physischer Stärke, sondern auf der des Sinns und der Erkenntnis” (ebd.) liegt; aber – und das ist entscheidend: ‘Anerkennungshandeln’ ist gerade nicht eine freie Handlung, so dass Machtanerkennung freiwillige Unterwerfung und insofern geheimes Einverständnis eines bereits vorgängigen Subjekts wären, sondern ein Akt der Subjektkonstitution selbst.
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ren, ein Punkt, ein Individuum in einem Raum sein, heißt, sich unterscheiden, unterschiedlich sein” (Bourdieu 1998, 22), sondern darin auch praktische Handhabung eigener Bedeutung und Bedeutungslosigkeit – “bedeuten im Gegensatz zu keine Bedeutung haben, in mehr als einem Sinne” (ebd.), wie Bourdieu anschließt.
Gerade aber diese bei Bourdieu vorgenommene Verknüpfung von strukturierten Selbstverhältnissen und sozialen Distinktionspraktiken ist nicht nur verblüffend, sondern ein auch bedeutsamer Hinweis: denn lässt sich das ‘Einverständnis der Beherrschten’ nicht bloß als ‘negatives Selbstkonzept’ oder gar ‘Verblendung’ auslegen, sondern auch als Selbstkonstitution durch positive Selbstzurechnung zum und Selbstverortung im eigenen Feld, dann geht es in diesen Distinktionspraktiken der Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit immer auch um sozial praktizierte Anerkennung und Nichtanerkennung. Anerkennung aber ist nicht eine nachträgliche Konstatierung einer bereits vorgängigen Person, sondern immer auch deren Konstitution selbst; sich selbst in einer sozialen Landschaft zu verorten, ein Selbstverständnis zu entwickeln, indem ich mich den einen zurechne und von den anderen – meistenteils durch Abwertung des Anderen – distanziere, zeigt die Anderengebundenheit des Eigenen. Es ist vermutlich nicht zufällig, dass Bourdieu sich für die Frage der (biographischen) Identität – wie es im deutschen sozialphilosophischen und kulturwissenschaftlichen Diskurs vielfach geschieht92 – in der direkten nie sonderlich interessiert hat; vermutbar ist, dass das Eigene nur im Anderenbezug ermittelbar ist, weil es als es selbst mir entzogen ist; schärfer formuliert: die Distinktion erzeugt das Eigene allererst, indem Ab- und Ausgrenzung wie ‘Einfaltung’ (Deleuze) schließlich in eins fallen. Es ist vielleicht dieses – hier noch unterstellte – Moment der Selbstentzogenheit, das Distinktionspraktiken strukturell in Gang bringt und zugleich in ihnen thematisch agiert wird. Anders formuliert: was ich bin, als wer ich mich verstehe, zeigt sich nicht an sich, sondern nur in dem, wie ich mich von anderen unterscheidend lebe. (b) In einer ähnlichen Ausrichtung lassen sich auch die immer wieder explizit an die Überlegungen Foucaults anschießenden Arbeiten Judith Butlers lesen, zielen diese doch in ihrer nahezu durchgängigen und vielfach variierten Problematisierung des von Foucault aufgeworfenen Begriffs des ‘assujettissement’ (vgl. Foucault 1976, 42) – der gleichzeitigen (und insofern paradoxen) Hervorbringung und Unterwerfung von Subjektivität, so dass diese selbst “zum Prinzip [ihrer] eigenen Unterwerfung” (Foucault 1976, 260) wird93 – auf eine machttheoretische Interpretation situierter 92
Vgl. dazu exemplarisch die Arbeiten Keupps (neuestens Keupp u.a. 1999) wie auch die Diskussionsbände Straub 1998 und Renn / Straub 2002. Bourdieus geradezu ketzerische Kritik solcher biographietheoretischer Identitätskonstruktionen zielt dabei auf die Unmöglichkeit, sich selbst als ein ‘Selbst’ zu ‘repräsentieren’; will man gerade nicht zum “Ideologen seines eigenen Lebens” (Bourdieu 1990a, 76) (auch gemacht) werden, ist es – sowohl biographie- als auch interviewtheoretisch – unabdingbar, einen “Umweg über die Konstruktion des [sozialen] Raumes” (ebd. 81) zu nehmen.
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Wie ein ‘roter Faden’ durchzieht diese mit ‘assujettissement’ markierbare Problemstellung die Arbeiten Butlers (vgl. dazu die jeweiligen Erörterungen in Butler 1991, 198, Butler 1997, 39, 60 u.ö., Butler 1998, 45 u.ö., Butler 2001, 21, 81f. u.ö. wie auch durchgängig in Butler 2003); entgegen der auch bei Foucault latent durchschimmernden Annahme, dass es einen ‘prädiskursiven Körper’ geben könne – hatte Foucault doch davon gesprochen, dass die “Seele [...] ständig [...] um den Körper, am Körper, im Körper” durch Machtaus-
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Subjektivität: “Macht”, so Butler ihre Fragestellung kennzeichnend, “denken wir uns gewöhnlich als das, was von außen Druck auf das Subjekt ausübt, was es zur Unterordnung zwingt und es auf eine niedrigere Stufe der Ordnung verbannt. Damit ist die Wirkung der Macht sicherlich zum Teil angemessen beschrieben. Verstehen wir aber mit Foucault Macht auch als das, was Subjekte allererst bildet oder formt, was dem Subjekt erst seine schiere Daseinsbedingung und die Richtung seines Begehrens gibt, dann ist Macht nicht einfach etwas, gegen das wir uns wehren, sondern zugleich im strengen Sinne das, wovon unsere Existenz abhängt und was wir in uns selbst hegen und pflegen” (Butler 2001, 7f.). Der eingehenden und über Foucault hinausgehenden Analyse dieses Mechanismus gleichzeitiger Unterwerfung und Hervorbringung gilt dabei ihre ganze Aufmerksamkeit (vgl. ebd. 8); der dabei anvisierte Doppelsinn aber sperrt sich einer einfachen (linearen) Theoretisierung: “Als Form der Macht ist die Subjektivation paradox” (Butler 2001, 7), setzt sie doch einerseits in der Unterwerfung das voraus, was andererseits erst in seiner Hervorbringung erklärt werden soll – mit der unbequemen Folgerung, dass sich weder die Macht noch das Subjekt jeweilig einander vorordnen bzw. auseinander ableiten lassen. Lässt sich aber weder das Subjekt auf die Macht zurückführen noch diese auf jenes reduzieren, tut theoretischkategoriale Neuorientierung not. Sowohl in ihren inzwischen oft umstritten-rezipierten und theoretisch äußerst komplexen Überlegungen zu einer politisch-feministischen Theorie der Performanz als auch in ihren jüngst publizierten Reflexionen zu ‘the psychic life of power’ (vgl. Butler 2001) sucht sie, nicht nur dem ambivalenten Charakter aller Subjektivierungspraktiken auch theoretisch Rechnung zu tragen, sondern der “post-befreiungstheoretische[n] Einsicht”, dass “eine oppositionelle Beziehung zur Macht [...] schon in eben der Macht angelegt ist, gegen die man sich wendet” (Butler 2001, 21)94, auch ihrerseits eine ausdrücklich kritische Perspektive abzugewinnen (vgl. Butler 2002), ohne dabei doch in “scheinheilige Formen” eines zynischen Fatalismus – ‘alles ist Macht’ – oder “naive Formen” eines humanistisch inspirierten politischen Optimismus – ‘nicht alles ist Macht’ – zu verfallen: “Von beiden Haltungen hoffe ich, mich hier freihalten zu können” (Butler 2001, 22). Ständiger Ausgangspunkt aller theoretischen Anstrengungen Butlers ist dabei ein ebenso scharfer wie kompromissloser Bruch mit all jenen ‘metaphysischen’ Denkformen, die linearund identitätstheoretisch von einem unmittelbar ‘Gegebenen’ auszugehen suchen, um von dort alles andere in seinen jeweiligen Vermittlungen verstehen und rekonstruieren zu können. Dieser Bruch – so Butler immer wieder thematisch variierend – ist unvermeidlich, denn ein solcher ‘quasi-archimedischer Ausgangspunkt’ lässt sich nirgends auffinden: weder das Subjekt noch selbst dessen materieller Körper können als ein vorab gegebenes und dann zu gestaltenübung produziert wird (Foucault 1976, 41; vgl. Butler 1991, 198f.) –, betont Butler dessen konstruktive Einverwicklung in kulturelle Praktiken der gleichzeitigen Erzeugung und Regulierung. Begrifflich sei darauf hingewiesen, dass Butler ‘assujettissement’ inzwischen durchgängig mit ‘subjection’ übersetzt, was im Deutschen durchaus angemessen mit ‘Subjektivation’ wiedergegeben werden kann. Vgl. hierzu auch Anm. 42 dieser Studie. 94
Entlang der Maßgabe – “Man kann in der Kritik jener Begriffe, die einem die eigene Existenz sichern, nicht zu weit gehen” (Butler 2001, 122) – insistiert Butler auf dieser generellen “Verwicklung der kritischen Begriffe in das Feld der Macht” (Butler 1993a, 36).
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des ‘Seiendes’ ausgelegt werden, das sich in seinen ‘Aufführungen’ (performances) selbst zum Ausdrück brächte; vielmehr müssen beide selbst als “inszenierte, kontingente Konstruktionen” (Butler 1991, 205) begriffen werden, in denen diese allererst hervorgebracht werden. Doch darf diese ausdrücklich anti-essentialistische Perspektive der Konstruktion ihrerseits nicht verwechselt werden mit einer “Rückkehr zur existentialistischen Theorie des Selbst, das sich durch seine Akte konstituiert” (ebd.) und darin noch als “vordiskursive Struktur” (ebd.) festgehalten werden soll. Vielmehr geht es in ihrer durchgängigen These, “daß es keinen ‘Täter hinter der Tat gibt’, sondern daß der Täter in beständiger, veränderlicher Form erst in und durch die Tat hervorgebracht wird” (ebd. 209), immer wieder darum, die diskursive Konstruktion von Geschlecht und Körper wie schließlich auch Subjektivität zu betonen und dadurch alle genannten Dimensionen als “Effekte einer spezifischen Machtformation enthüllen” zu können (Butler 1991, 9). Was Butler ausdrücklich im Zusammenhang der gesellschaftlichen Konstruktion von geschlechtlicher Identität formuliert, gilt daher auch weit darüber hinaus: “Anders formuliert: die Akte, Gesten und Begehren erzeugen den Effekt eines inneren Kerns oder einer inneren Substanz; doch erzeugen sie ihn auf der Oberfläche des Körpers, und zwar durch das Spiel der bezeichnenden Abwesenheiten, die zwar auf das organisierende Identitätsprinzip hinweisen, aber es niemals enthüllen. Diese im allgemeinen konstruierten Akte, Gesten und Inszenierungen erweisen sich insofern als performativ, als das Wesen oder die Identität, die sie angeblich zum Ausdruck bringen, vielmehr durch leibliche Zeichen und andere diskursive Mittel hergestellte und aufrechterhaltene Fabrikationen / Erfindungen [‘fabrications’] sind. Daß der geschlechtlich bestimmte Körper performativ ist, weist darauf hin, daß er keinen ontologischen Status über die verschiedenen Akte, die seine Realität bilden, hinaus besitzt. Dies bedeutet auch: Wenn diese Realität als inneres Wesen fabriziert / erfunden [‘fabricated’] ist, erweist sich gerade die Innerlichkeit als Effekt und Funktion eines entschieden öffentlichen, gesellschaftlichen Diskurses” (Butler 1991, 200)95. Aufschlussreich ist daher Butlers Auseinandersetzung mit Austins Theorie performativer Sprechakte: Zum einen erlaubt diese es mit ihrer Unterscheidung konstativer und performativer Sprechakte (und deren weiteren Differenzierung in aus sich selbst bereits wirkenden (illokutionären) und durch sich bestimmte Wirkungen erst freisetzenden (perlokutionären) Sprachhand95
Butlers oft provozierende geschlechts- und körpertheoretischen Arbeiten (insbes. Butler 1991 wie 1997) haben längst weite Verbreitung gefunden (vgl. dazu exemplarisch die Arbeiten von Maihofer 1995, Lorey 1996 wie auch Hauskeller 2000 und jüngst Bublitz 2002). Dabei erfährt ihre leitende These, dass die soziale wie körperliche ‘Geschlechtsidentität’ eine soziale Konstruktion sei, die regelmäßig ihre Genese verschleiere (vgl. Butler 1991, 205), im weiteren Verlauf eine überaus bedeutsame Präzisierung, die sich nur als Ausdruck eines konsequenten relationalen Denkens verstehen lässt: während die Behauptung der Konstruktivität der sozialen Geschlechtsidentität (‘gender’) fast ausnahmslos geteilt wird, hat ihre weit darüber hinaus gehende These der ‘sozialen Konstruktion’ auch des biologischen ‘Körpergeschlechts’ (‘sex’) weitgehend scharfe Kritik auf sich gezogen (vgl. Butler 1997). Und doch scheint mir ihre Argumentation überaus überzeugend, muss sie doch auch als nur konsequente methodologische Justierung des eigenen Denkens gelesen werden: so insistiert Butler nicht nur auf der Annahme, dass es einen prädiskursiven Körper nicht geben könne, indem sie dessen Materialität selbst als dauernden Prozess der ‘Materialisierung’ und ‘Verstofflichung’ (vgl. Butler 1993, 57, 67 u.ö.) nachzuweisen vermag, in dem kulturelle Normen nicht nur vermittelnd maßgeblich werden, so dass der körperliche Geschlechtsunterschied von seinen diskursiven Abgrenzungen nicht zu trennen sei, sondern ihrerseits selbst produzierend und verursachend wirken; vielmehr verbindet sie diese zunächst ‘überstark’ erscheinende, an Lacans Idee der ‘bildnerischen Wirkung’ von Ideen ‘auf den Organismus’ (vgl. Lacan 1973, 65) anschließende Behauptung mit einer Reflexion des methodologischen Status dieser Behauptung, indem sie sich von zweierlei monistischer ‘Metaphysik’ – dem Essentialismus, der den Körper als unvermittelt Gegebenes absolut setzt, und dem (linguistischen) Konstruktivismus, der die Konstruktion absolut setzt – abgrenzt und diesen nun ihrerseits ‘überstarken Denkmodellen’ jeweilige Inkonsistenzen nachweist (exemplarisch: die Konstruktion des Nichtkonstruierten, vgl. Butler 1993, 62). Angesichts der immer wieder diagnostizierten Unmöglichkeit, einen ‘ersten Ursprung’ ausmachen zu können, zielt ihr eigener ‘dekonstruktivistischer’ Denkeinsatz in der Weigerung, etwas ‘Erstes’ und ‘Unvermitteltes’ bzw. alles andere ‘Vermittelndes’ anzunehmen, auf die Begrenzung des eigenen Denkens (vgl. Butler 1993, 66-69, insbes. 68f.).
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lungen), den paradoxen Zusammenhang von Erzeugung und Regulation, Konstitution und Unterwerfung phänomenal überzeugend zu erläutern (vgl. Butler 1998, 11, 30f., 67ff.). Am Beispiel des ‘verletzenden Sprechens’ (‘hate speech’) vermag Butler eindrücklich aufzuzeigen, wie ein solches Sprechen gerade nicht eine nachträgliche (und insofern auch immer abschüttelbare) Benennung ist oder bloß ein ‘Haßgefühl’ repräsentiert und vermittelt, sondern die ‘Verletzung’ selbst bewirkt und den / die andere/n als – ‘verletztes’ – Subjekt konstituiert; “‘hate speech’”, so Butler, “offenbart eine vorgängige Verletzbarkeit durch die Sprache, die uns anhaftet, insofern wir als gleichsam ‘angerufene Wesen’ von der Anrede des Anderen abhängen, um zu sein” (Butler 1998, 44). Auch wenn oft angenommen wird, dass man, um angeredet werden zu können, zuerst existieren muss, scheint sich hier eine Umkehrung zu ergeben: “Die Anrede selbst konstituiert das Subjekt innerhalb des möglichen Kreislaufs der Anerkennung oder umgekehrt, außerhalb dieses Kreislaufs, in der Verworfenheit. [...] Angesprochen werden bedeutet also nicht nur, in dem, was man bereits ist, anerkannt zu werden; sondern jene Bezeichnung zu erhalten, durch die die Anerkennung der Existenz möglich wird. Kraft dieser grundlegenden Abhängigkeit von der Anrede des Anderen gelangt das Subjekt zur ‘Existenz’. Das Subjekt ‘existiert’ nicht nur dank der Tatsache, daß es anerkannt wird, sondern dadurch, daß es im grundlegenderen Sinne anerkennbar ist” (ebd. 14f.). Zum anderen verdeutlicht Butlers in Auseinandersetzung mit Bourdieu und Derrida vorgenommene politische Interpretation der ‘Theorie der Performativität’ auch methodologisch ihre stringent relationale und kritische Denkweise. Entlang der bereits von Austin aufgeworfenen Frage, woher denn der Sprechakt die Macht bezieht, “das Subjekt so wirksam zu konstituieren” (Butler 1998, 33), ist diese doch nicht per se an jenen gebunden (und kann insofern immer auch missglücken), justiert sie ihre eigene machttheoretische Lesart genauer: in Abgrenzung zu Austin, der die Kraft performativer Äußerungen im Rekurs auf bestehende, mehr oder weniger stabile soziale Konventionen zu bestimmen sucht (vgl. Butler 1998, 206), teilt sie zunächst Bourdieus Einschätzung, dass diese Kraft gerade nicht “im Diskurs selber, das heißt in der eigentlichen sprachlichen Substanz” (Bourdieu 1990, 73) aufzufinden ist, sondern dieser als “Autorität von Außen” (ebd.) erst zukommt und sich so einer “außersprachlichen Macht” (ebd.) verdankt. Doch Bourdieus Einschätzung, dass “die Macht der Wörter [...] nichts anderes [sei] als die delegierte Macht des Sprechers, und seine Worte [...] allenfalls ein Beweis – neben anderen – der Delegationsgarantie [sind], mit der er versehen ist” (Bourdieu 1990, 73), vermag sie aus phänomenalen wie methodologischen Überlegungen nicht zuzustimmen: auch wenn Bourdieus Auslegung der Performativität eine nicht unerhebliche empirische Triftigkeit zukomme, lasse sich nicht leugnen, dass auch der “uneigentliche Gebrauch performativer Äußerungen den Effekt der Autorität erzeugen kann, wo kein Rückgriff auf eine vorgängige Autorität möglich ist” (Butler 1998, 223). Anders formuliert: es ist schlicht nicht zutreffend, dass nur derjenige, “der über eine legitime Macht verfügt” (Butler 1998, 207), auch Sprache zum Handeln zu bringen vermag, und insofern alle diejenigen, die nicht über diese Macht verfügen, zwar den gleichen Wortlaut aussprechen können, nicht aber eben solche Wirkungen hervorrufen werden; zudem verkenne Bourdieu, so Butler weiter, dass auch “gesellschaftliche Positionen selbst aus einer verschwiegenen Performativität bestehen” (Butler 1998, 221), ist doch ‘Delegation’ immer eine performative Autorisierung, die zu repräsentieren, durch die man ermächtigt ist und die man in dieser Repräsentation allererst (als Gruppe etc.) konstituiert. Vielmehr gilt es gerade, auch in kritischer Perspektive daran festzuhalten, dass – so Butler in Anlehnung an Derridas Interpretation der Performativität (vgl. Derrida 1988a, 291-314) – die “Kraft der performativen Äußerung [auch] aus ihrer Dekontextualisierung [...], aus ihrem Bruch mit einem früheren Kontext und ihrer Fähigkeit, neue Kontexte an sich zu ziehen” (Butler 1998, 209), abzuleiten sei. Beispielhaft nennt Butler verschiedene Phänomene “subversiver Resignifikation” (Butler 1998, 222): “wenn diejenigen, die nicht die gesellschaftliche Macht haben, ‘Freiheit’ oder ‘demokratische Rechte’ für sich in Anspruch zu nehmen, sich diese eifersüchtig gehüteten Begriffe aus dem herrschenden Diskurs aneignen, sie für eine neue politische Bewegung umarbeiten und resignifizie-
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ren” (ebd. 222f.); oder “wenn man sich gerade die Begriffe aneignet, von denen man verletzt wurde, um ihnen ihre degradierende Bedeutung zu nehmen oder aus dieser Degradierung eine Affirmation abzuleiten” (ebd. 223). Während aber Bourdieu den auch immer möglichen Kontextbruch theoretisch nicht angemessen aufzunehmen vermag und damit “unbeabsichtigt die Möglichkeit einer Handlungsmacht [verwirft], die an den Rändern der Macht entsteht” (Butler 1998, 220), verbleibt Derrida in einer allein formal argumentierenden Interpretation der Sprechakttheorie, die eine gesellschaftliche Analyse der wirkungsvollen Äußerung schlicht “lähmt” (Butler 1998, 213). Nur konsequent legt Butler daher Performativität als ambivalente Differenz aus, die sich weder bloß sprachlich noch ausschließlich sozial festschreiben lässt, sondern eben ‘riskant’ bleibt (vgl. ebd. 230): einerseits ist die performative Äußerung “keine einzelne Handlung eines schon fertigen Subjekts, sondern eine mächtige und hinterhältige Form, in der Subjekte aus zerstreuten sozialen Bereichen in ein gesellschaftliches Leben gerufen werden” (Butler 1998, 225), so dass sie ein wesentlicher Bestandteil der unterwerfenden “Subjektbildung” (ebd. 226) ist, indem sie die bestehende soziale Ordnung selbst bewirkt; andererseits ist aber die gleiche performative Äußerung immer auch Möglichkeit des Widerstands gegen Herrschaft, indem sie in einer Kontextverschiebung das unterworfene Subjekt selbst verschiebt: “Wenn hate speech die Art von Handlung ist, die denjenigen zum Schweigen bringen soll, an den sie sich richtet, die aber in den Worten dessen, der zum Schweigen gebracht wird, als unerwartete Replik wieder aufleben kann, dann bewirkt die Antwort auf hate speech, daß die performative Äußerung entoffizialisiert und für neue Zwecke enteignet wird” (Butler 1998, 226). So geht “die Arbeitsweise performativer Diskurse über die autorisierenden Kontexte hinaus, aus denen sie hervorgehen, und verwirrt sie” (Butler 1998, 224). Diese dauernde Ambiguität und daraus resultierende Unklarheit ist immer wieder unbefriedigend, doch hat sie durchaus Methode; Butlers ‘negatives’ philosophisches Bemühen, Positivitäten jeder Art zu unterlaufen und eingewöhnte Dualismen – Materie und Form, Substanz und Akzidenz, Körper und Seele, Natur und Kultur, Individuum und Gesellschaft etc. – neu ineinander zu verschlingen, zieht sich wie ein ‘roter Faden’ durch ihre Überlegungen: weder ist es der soziale Status, der den performativen Sprechakt ermöglicht, noch ist es der Sprechakt selbst; weder ist es der Körper, der das Geschlecht determiniert, noch ist es dessen soziales Verständnis, das den Körper figuriert; schließlich: weder ist es das Subjekt, das die Macht konstituiert, noch ist es die Macht, die das Subjekt determiniert – die Reihe dieser dauernd doppelt vorgenommenen Abgrenzung ließe sich zwanglos verlängern. Es ist diese Idee einer ‘Determinierung, die nicht determiniert’, eines Zwangs, der unterwirft, nicht aber gänzlich bindet, die die Überlegungen Butlers bestimmt und den Charakter ihrer stringent relationalen Argumentationsweise illustriert, “ohne letzte Grundsätze” (Butler 1998, 227) auskommen zu müssen; gegen Dogmatismen jeder Art geht es ihr immer wieder darum, “eine Vorstellung von Differenz” (ebd.) einzubringen und stark zu machen96. Genau diese Denkfigur aber ist kennzeichnend auch für ihr unter dem Titel der ‘Subjektivation’ entworfenes Verständnis von Subjektivität und verweist auf es; es kann wohl als Zentrum der Butlerschen Überlegungen ausgemacht werden. In ihren – mit ihren methodologischen Überlegungen zum Problem der Performativität zeitgleich vorgelegten – “Theories in Subjection” (vgl. Butler 2001) entwirft sie daher ein radikal differenztheoretisches Verständnis menschlicher Subjektivität, sozial konstituiert zu sein, ohne darin und dadurch festgelegt zu sein. In bekannter Manier erläutert sie ihren Einsatz: “Die Macht ist dem Subjekt äußerlich, und sie ist zugleich der Ort des Subjekts selbst. [...] Macht ist niemals bloß eine äußerliche oder dem Subjekt vorhergehende Bedingung, noch kann sie ausschließlich mit dem Subjekt identifiziert werden” (Butler 2001, 20). Dieser “offensichtliche Widerspruch” (ebd.) aber markiert einen ‘Riss in der Ordnung’, in dem Butler Subjektivität situiert: “Wenn das Subjekt weder durch die 96
Vgl. dazu auch ausführlicher Butlers Überlegungen zum Problem der ‘Kontingenz der Grundlagen’ in Butler 1993a wie auch Butler / Laclau / Žižek 2000 (insbes. 5-7, 263-280).
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Macht voll determiniert ist noch seinerseits vollständig die Macht determiniert (sondern immer beides zum Teil), dann geht das Subjekt über die Logik der Widerspruchsfreiheit hinaus, es ist gleichsam ein Auswuchs, ein Überschuß der Logik” (ebd. 22). Doch ist dieses “Hinausgehen” gerade kein “Entkommen” oder die Kennzeichnung einer “selbstgeschaffenen Freizone” (ebd.), sondern dauernd möglicher Bruch mit dem, “an was es gebunden ist” (ebd.). Anders formuliert: Butler versucht, ‘Handlungsfähigkeit’ zu denken, ohne sie als quasi ursprünglich in einem Subjekt lokalisieren oder in den Determinationen der Macht untergehen lassen zu müssen (vgl. Butler 1993a, 44-47 wie auch 2003, 55-59). Es ist nun nicht zufällig, dass Butler die paradoxe Logik der Subjektivation als einer gleichzeitigen hervorbringenden Erzeugung und regulierenden Unterwerfung zunehmend anerkennungstheoretisch erläutert97, erlaubt es dieser Zugriff doch, ‘Selbstsein’ und ‘Mitanderen-Sein’ relational ineinander zu denken, ohne das eine aus dem anderen ableiten oder auf es zurückführen zu müssen. Den immer wieder focussierten Doppelsinn der Subjektivation erläutert Butler daher in zweierlei Richtung: einerseits ist das “Subjekt [...] genötigt, nach Anerkennung seiner eigenen Existenz in Kategorien, Begriffen und Namen zu trachten, die es selbst nicht hervorgebracht hat” (Butler 2001, 25), so dass die “Annahme von Machtbedingungen” nichts anderes ist als die “nüchterne Grundlage der Subjektwerdung”: “Unterordnung ist der Preis der Existenz” (ebd.). Kann “Selbstverhaftung” – als Bedingung der Möglichkeit von “Selbsterhaltung” und “Selbsterweiterung” (Butler 2003, 62) – aber als (wenn auch kulturell spezifisches und insofern alles andere als universelles98) Kennzeichen von Subjektivität überhaupt gelten, so ist es nur folgerichtig, dass “wir [...] ein Verhaftetsein mit uns selbst [nur] über vermittelnde Normen [entwickeln], Normen, die uns einen Sinn dafür zurückgeben, was wir sind, die unsere Anteilnahme an uns selbst kultivieren. Je nachdem, welches nun diese Normen sind, sind wir aber auch im Beharren auf unserem Selbstsein beschränkt. Was aus den Normen fällt, ist streng genommen nicht anerkennbar” (ebd., 62f.). Um zu sein und sein zu 97
In dem überaus eindrucksvollen, mir allerdings erst später zugänglichen Essay ‘Gewalt, Trauer, Politik’ (vgl. Butler 2005) spitzt Butler ihre “relationale Sicht des Selbst” (ebd. 41) zu, indem sie das “Ausgesetztsein” von Subjektivität (ebd. 42) auch körperlich interpretiert: “von Anbeginn, sogar noch vor der eigentlichen Individuation, [sind wir] aufgrund körperlicher Erfordernisse einer Anzahl von primären Anderen anvertraut” (ebd. 48). Der daraus resultierende Grundzug ihrer “Konzeption des Menschlichen” (ebd. 48) impliziert nicht nur, dass “‘Ich’ ohne ‘Dich’” (ebd. 39) nicht bin und sein kann, sondern dass die Bindung an andere der “Ausbildung des ‘Ichs’ vorausgeht” (ebd. 48). Bedeutsam daran aber ist nicht nur, dass “wir durch unsere Beziehungen [...] begründet werden”, sondern auch, dass wir “durch sie auch enteignet werden” (ebd. 41). Es ist diese Figur der (implizierten) Selbstfremdheit und Selbstentzogenheit, die Butlers Konzeption zunehmend kennzeichnet. Eindrücklich bebildert sie diesen Befund in ihrem Text ‘Gewalt, Trauer, Politik’: “Ich kenne mich selbst nicht durch und durch, weil ein Teil dessen, was ich bin, aus den rätselhaften Spuren der anderen besteht” (ebd. 63-64). Nachzutragen bleibt schließlich, dass diese Grundfigur auch den Grundriss ihrer Ethik darstellt, denn die Frage “Wer ‘bin’ ich ohne dich?” (ebd. 39) verweist unmittelbar auf das ethische Problem, “ob ‘du’ für das Schema des Menschlichen, in dem ich mich bewege, in Frage kommst” (Butler 2003a, 144). Verantwortung resultiert dann aber nicht aus einer Verknüpfung von Freiheit und Gleichheit, sondern daraus, dass “mein Schicksal ursprünglich oder letztlich von deinem nicht zu trennen ist” (Butler 2005, 39); kurz: wir sind “nicht deshalb aneinander gebunden [...], weil wir vernünftig denkende Wesen sind, sondern vielmehr deshalb, weil wir einander ausgeliefert sind und einer Anerkennung bedürfen, die den Anerkennenden nicht durch den Anerkannten ersetzt” (ebd. 67). Vgl. dazu ausführlicher Ricken 2006.
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Butlers hier immer wieder vorgenommener Bezug auf Spinoza (Butler 2001, 31 und 189 (Anm. 15) wie auch 2003, 62), dass “jedes Ding [danach] strebt, soviel an ihm ist, in seinem Sein zu beharren” (Spinoza, zit. in Butler 2001, 189), ist aber auch irreführend, legt er doch nahe, sich auf sich selbst nur im Modus der ‘Selbstbeharrung’ beziehen zu können, und schließt so aus, sich auch auf sich selbst im Modus der Selbstlosigkeit und Selbstentäußerung beziehen zu können. Begrifflich legt sich hier nahe, zwischen Selbstbezüglichkeit und Selbstverhältnis einerseits und konkreten Figurationen dieser Selbstdifferenz – seien es Selbsterhaltung, Selbstbehauptung und Selbststeigerung oder Selbstvergessen und Selbstentäußerung – zu unterschieden. Beiden Lesarten ist aber gemeinsam, ‘Selbstsein’ immer als Differenz auszulegen und damit als ein Verhältnis zu markieren, das sich zu sich selbst in seiner Verhältnishaftigkeit verhält (Kierkegaard).
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können, ist das Subjekt zur Wiederholung der gesellschaftlichen Normen gezwungen, durch die es hervorgebracht wurde, und doch geht das Subjekt in diesen Wiederholungen nicht auf; insofern es durch Normentsprechung und daraus resultierende Konventionalität als ein ‘Jemand’ – wie alle – anerkennbar wird, versucht es zugleich, die Normen der Anerkennung zu verschieben, um als ein besonderer ‘Jemand’ – gerade nicht wie alle – gesehen zu werden, immer in der Gefahr, zu einem ‘Niemand’ zu werden. So ist aber das, “was aus den Normen herausfällt” (ebd., 63), nun andererseits genau “der Bereich unserer selbst, den wir ohne Anerkennung leben” (ebd.), und in dem wir uns als ‘wir selbst’ konstituieren, ohne damit den vorgängigen Normen der Anerkennung entraten zu können. Verleiht die Normbefolgung “einen Augenblick lang die volle Anerkennbarkeit” (ebd., 64), so ist die daraus resultierende Konformität selbst Zeichen der Beschränkung, sind doch die Normen der Anerkennung immer begrenzt: “Wir können vielleicht wirklich spekulieren, daß der Moment des Widerstandes, der Opposition eben dann entsteht, wenn wir uns an unsere Beschränkung verhaftet finden, wenn wir uns gerade in unserem Verhaftetsein beschränkt finden” (ebd.). Unvermeidliche Normbefolgung, die uns als Subjekte allererst hervorbringt, wie ebenso nichtaufgebbare Nichtbefolgung markieren so die zwei ineinander verschlungenen Mechanismen der Subjektivation; ihre Analyse ist daher “immer eine doppelte: sie geht den Bedingungen der Subjektbildung und der Wendung gegen diese Bedingungen nach, durch die das Subjekt – und seine Perspektive – erst entsteht” (Butler 2001, 33). Butlers zentrale Kennzeichnung – “Nur indem man in der Alterität beharrt, beharrt man im ‘eigenen’ Sein” (Butler 2001, 32) – muss daher in zweifacher Weise gelesen werden: als analytische Kennzeichnung der Genese des Subjekts vom Anderen her wie als – eher programmatische – Markierung dessen dauernder Nichtpassung. Nicht nur existiert kein Subjekt ohne leidenschaftliche Verhaftung an andere (vgl. Butler 2001, 12), so dass ‘das Eigene’ erst vom ‘Anderen’ her entsteht und durch dieses hervorgebracht wird; vielmehr markiert Alterität auch jenen Raum des ‘Eigenen’, der sich der normalisierenden Anerkennbarkeit entzieht und die darauf gegründete ‘Identität des Selbst’ mit sich dauerhaft aufbricht, ohne sie zu zerstören. Es ist daher nur überzeugend, wenn Butler – mit Foucault – den Modus des ‘Selbstseins’ als ständige ‘Überschreitung’ (vgl. Butler 2003, 65) kennzeichnet: als “Wendung, die, durch das Gesetz ermöglicht, eine Abwendung vom Gesetz ist” (Butler 2001, 122)99. Das Subjekt jedoch, das hier von Butler skizziert wird, “ist auch weiterhin nicht souverän; es ist noch immer kein Subjekt, dem es freisteht, die Effekte der Macht, die ihm begegnen, anzueignen oder auch nicht anzueignen, und es ist kein Subjekt, das man sich ausgestattet oder nicht ausgestattet mit grundlegenden Rechten oder Eigenschaften vorstellen kann. Dieses Subjekt ist viel tiefreichender beschränkt und manifestiert seine Handlungsfähigkeit inmitten dieser Beschränkung” (Butler 2003, 66). ‘Diesseits von Allmacht und Ohnmacht’ (vgl. MeyerDrawe 1990) markiert Subjektivität – wie ich hier statt ‘Subjekt’ lieber sagen würde, markiert doch ‘Subjektsein’ bereits eine spezifische Auslegung von ‘Subjektivität’ als Kennzeichnung der unhintergehbaren Selbstdifferenz – jenen ‘Riss der Ordnung’, der die Ordnung ständig reproduziert und verschiebt zugleich. Immer wieder umspielt Butler diese relationale ‘Formation der Subjektivität’ und markiert sie mit ‘Ausgeliefertheit’ (Butler 2003, 67) und daraus resultierender “Verletzlichkeit” (Butler 2001, 25); weder vollständig für sich selbst noch leer an sich selbst und insofern bleibend an andere ausgeliefert und auf andere und anderes verwiesen zu sein, so ließe sich mit Butler differentielle Subjektivität buchstabieren. Eindringlich betont sie: “Man mag gegen das eigene Verhaftetseins mit manchem anderen wüten (was bloß heißt, die Bedingungen der Bindung zu ändern), aber kein Zorn kann die Verhaftung mit der Alterität lösen, außer vielleicht ein selbstmörderischer Zorn, der im Normalfall noch immer eine Nachricht hinterlässt, eine letzte Anrede und damit das allokutorische Band bestätigt” (Butler 2001, 181). Was subjektivitätstheoretisch einleuchtet, ist auch machttheoretisch bedeutsam: “Ohne Appetit wären wir frei von Zwang; weil wir aber von Anfang an dem ausgeliefert sind, 99
Vgl. dazu auch die Überlegungen zum unvermeidbaren ‘Anderswerden’ in Ricken 1999a.
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was außer uns ist und uns den Bedingungen unterwirft, die unserer Existenz Form geben, sind wir in dieser Hinsicht unumkehrbar anfällig für Ausbeutung” (ebd. 15). So ist diese intrinsische Verwiesenheit auf Andere auch der ‘Ort der Macht’: nicht nur, weil jedes ‘Selbstsein’ immer schon durch andere und Andere bedingt und vermittelt ist, so dass das ‘Eigene’ unweigerlich nur in Auseinandersetzung mit den Anderen erst erprobt und praktiziert werden kann und die ‘Führung des eigenen Lebens’ immer nur unter und in den ‘Führungsbedingungen anderer’ stattfinden kann: “Das Selbst formt sich selbst, aber es formt sich selbst im Rahmen von Formierungspraktiken” (Butler 2002, 264)100. Sondern auch (und modern vielleicht vor allem), weil unterwerfende Anerkennung verspricht, was Subjektivität nicht ist: ‘Identität’; Butler erläutert: “Man darf nicht vergessen, daß die Wendung zum Gesetz nicht durch den Ruf [der Anrufung] erzwungen wird; sie ist zwingend weniger in einem logischen Sinn, denn sie verspricht Identität” (Butler 2001, 103). Es ist gerade diese aus strikter Relationalität resultierende Unfähigkeit, “in einem selbstidentischen Sinne zu ‘sein’” (Butler 2001, 123), die unsere “Anfälligkeit” (ebd. 103) für “Identitätsverlockungen” (ebd. 122) und Vollständigkeitsversprechungen ausmacht und uns gerade im Namen vermeintlicher Unabhängigkeit derart ‘regierbar’ macht101, erfordert doch die ‘Wendung gegen das Gesetz’ auch “die Bereitschaft, nicht zu sein” (Butler 2001, 122).
Der Gedankengang schließt sich: gründete zunächst alltagsweltlich die ‘Macht der Macht’ ausschließlich in der ‘Macht über den Tod’, so dass Macht jede Chance bezeichnete, den eigenen Willen auch gegen Widerstand anderer durchzusetzen, weil – letztlich – mit Gewalt und Tod gedroht werden kann, so haben die hier unternommenen, bisweilen durchaus auch ‘streunenden Streifzüge’ im Gebiet der Machttheorie einen dazu ums Ganze verschobenen Befund ergeben. Was daher zunächst möglicherweise als ‘subjektivistische Reduktion’ problematisch erschien und auch im Durchgang immer wieder verunsicherte, zeigt sich nun als Konsequenz einer relational konzipierten Machttheorie selbst, Macht – so der verkürzte Befund – mit der Problematik situierter Subjektivität zu verknüpfen und anerkennungstheoretisch zu reformulieren. Nicht nur die Hinweise Bourdieus, der eines solchen Reduktionismus sicher unverdächtig ist, sondern auch die ausdrücklich auf ‘the psychic life of power’ (vgl. Butler 2001) gerichteten Überlegungen Butlers legen eine solche Erweiterung und anerkennungstheoretische Interpretation der Machttheorie nahe; denn will man Macht gerade nicht bloß als innerlich verankerte und äußerlich wirkende Bestimmungskraft verstehen und damit als subjektives Handlungsvermögen über andere nahezu zwangsläufig kausaltheoretisch konzipieren, ist es ebenso zwingend wie dringend, die allseits eingestandene und längst weithin geteilte Relationalität der Macht – als einer 100 Immer wieder betont Butler den ambivalenten Charakter dieser ‘Unterwerfung’: “Die Macht lastet auf diesem Verhaftetsein mit mir selbst, und sie lastet auf anderen”; aber sie “bindet uns in dieser Beschränkung und im Widerstand gegen das Angebot der Anerkennbarkeit [...] zusammen. Sie führt uns auch die Gefahren der Anerkennbarkeit vor Augen. [...] Die Tatsache, daß die menschliche Leidenschaft der Selbsterhaltung uns anfällig und verletzlich gegenüber denen macht, die uns unser Brot versprechen, bringt auch die Bedingungen der Revolte mit sich” (Butler 2003, 66f.). 101 Butler bestätigt an anderer Stelle diese Lesart: “In diesem Sinne stellt die Autonomie die logische Konsequenz einer verleugneten Abhängigkeit dar. Dies bedeutet, daß das autonome Subjekt die Illusion seiner Autonomie nur insofern aufrechterhalten kann, als es den Bruch, aus dem es sich konstituiert, verdeckt. Diese Abhängigkeit und dieser Bruch beziehen sich auf immer schon gegebene soziale Beziehungen, die der Bildung des Subjekts vorausgehen und sie bedingen” (Butler 1993a, 44).
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‘Führung der Führungen’ (Foucault) – so in Sozialität hinein zu denken, dass Macht auch und gerade als intrinsisches Moment der Subjektkonstitution selbst betont werden kann. Versteht man aber “Anerkennung [...] nicht bloß als einen Ausdruck von Höflichkeit, den wir den Menschen schuldig sind”, sondern auch als ein gerade nicht beiläufiges und nachträgliches “menschliches Grundbedürfnis” (Taylor 1993, 15), in dem sich die elementare Erfahrung spiegelt, “daß sich die Integrität des Menschen auf untergründige Weise der Zustimmung oder Anerkennung durch andere Subjekte verdankt” (Honneth 1990, 1044), dann bietet ‘Anerkennung’ für eine relationale Fassung von Sozialität einen durchaus geeigneten Zugriff. Insofern erlauben die hier unternommenen Versuche, die Doppelstruktur dieses Führungsbegriffs nicht bloß programmatisch als (nicht antagonistischen) ‘Agonismus von Freiheit und Macht’ (Foucault) zu kennzeichnen und mit einem überaus allgemeinen Hinweis auf den generellen ‘sozialen Nexus unserer Existenz’ (Foucault) vorschnell zu erläutern, sondern mithilfe des Begriffs ‘situierter Subjektivität’ auch analytisch zu präzisieren, indem ‘Selbstverhaftung’ und ‘Anderenverhaftung’ gerade nicht bloß äußerlich verknüpft werden. Zugleich bietet dieser Einsatz die Möglichkeit, den nicht bloß (und modern zunehmend weniger) repressiven, sondern immer auch produktiven Charakter der Macht als einen Zusammenhang von ‘Unterwerfung’ und ‘Erzeugung’ in einem überzeugend auszulegen102. Zweierlei Weichenstellungen sind jedoch damit verbunden, auf denen zu insistieren nicht folgenlos ist, erlauben sie doch gerade nicht, Machttheorie durch Anerkennungstheorie umstandslos zu ersetzen; vielmehr erzwingen sie auch umgekehrt eine machttheoretische Lesart der Anerkennungsproblematik: erstens impliziert ein solcher Zugriff eine methodologische Neujustierung, die sich als Abwendung von individualtheoretischen Kategorien und Hinwendung zu relationalen Modellen menschlicher ‘Inter-Subjektivität’ (Meyer-Drawe) markieren lässt. Ein solches relationales Denken aber, das war in Bezug auf Deleuze, Bourdieu wie insbesondere Butler deutlich geworden, bricht gänzlich mit Vorstellungen eines reflexiv erreichbaren Ursprungs und damit verbundener argumentativer Linearität und muss insofern als kategoriales Differenzdenken in kritischer Absicht praktiziert werden; es eignet sich nur sehr missverständlich bzw. ungenügend zur positiven Begründung eines ‘sozialen Projekts’103. Insofern ist es bedeutsam, die trotz nachgewiesener theoretischer Inkonsistenzen überaus mächtige Verhaftung am Atomismus, “der dadurch gekennzeichnet ist, daß als eine Art von Naturbasis der menschlichen Vergesellschaftung die Existenz voneinander isolierter Subjekte vorausgesetzt wird” (Honneth 1992, 22), nicht nur immer wieder (aber auch) als theoretisch unangemessen zurückzuweisen, sondern 102 Es ist daher wenig überraschend, dass dieser Weg – insbesondere von Honneth – von einer ‘Kritik der Macht’ (Honneth 1989) zu einer anerkennungstheoretischen Interpretation derselben als einem ‘Kampf um Anerkennung’ (Honneth 1992) bereits längst zurückgelegt und im Rückgriff auf Theoreme Hegels und Meads theoretisch eindrücklich plausibilisiert worden ist. Neben Honneth kann Taylor (vgl. insbes. Taylor 1993) als einer der bedeutenden Theoretiker der Anerkennung gelten. 103 Vgl. dazu erneut die Unterscheidung Foucaults zwischen den zwei Denkstilen einer ‘Analytik der Wahrheit’ und einer ‘kritischen Ontologie der Gegenwart’ und deren jeweiliger Kennzeichnung insbesondere in Foucault 1992.
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selbst als funktionale Folge und Moment gegenwärtiger Machtfigurationen auszulegen. Sozialer Atomismus, so eine mögliche Einschätzung, ist dann nicht nur ein noch unaufgeklärter, ‘quasi-metaphysischer Denkrest’, in dem zur alltäglichen Orientierung immer wieder auf geradezu ursprungstheoretische Vorstellungen eines ‘Subjekts an sich’ zurückgegriffen wird; vielmehr ist diese Vorstellung auch Folge einer ‘machtvollen’ sozialen Trennung voneinander, so dass die regulativ installierte Vision des ‘unabhängigen und autonomen Subjekts’ als Inbegriff moderner Freiheit selbst Ausdruck seiner subtilen Unterwerfung ist. Dieser Mechanismus – er “macht uns glauben, daß es darin um unsere ‘Befreiung’ geht” (Foucault 1977, 190) – ist insofern nicht nur eine “Ironie des Dispositivs” (ebd.), sondern dessen Strategie selbst. Die anerkennungstheoretisch begründete Reformulierung von Subjektivität als einem “Ineinander von Vergesellschaftung und Individuierung” (Honneth 1992, 28f.) ist daher sowohl eine – längst vielfach beschworene und vorgenommene – unverzichtbare kategoriale Neujustierung der Humanwissenschaften, als auch eine Markierung und Präzisierung eines anerkennungstheoretisch reformulierten Machtbegriffs, geht es doch in Macht immer auch um ‘Figurationen von Inter-Subjektivität’: als Konstitution und Formation von Sozialität in und durch Subjektivität – und umgekehrt. Mit dieser (überwiegend) methodologischen Weichenstellung ist aber zweitens eine auch inhaltliche, ebenfalls mit der Differenzproblematik verbundene Verschiebung verknüpft, die machttheoretisch zu einer – vielleicht noch gewagten – Zuspitzung führt. Denn vertieft man das Problem der Anerkennung und folgt man dabei nicht nur dem von Honneth gelieferten Aufriss einer kommunikationstheoretisch inspirierten ‘symmetrischen Intersubjektivität’ (vgl. Honneth 1992), so zeigen sich – ebenso bei Bourdieu wie auch insbesondere bei Butler – Brüche und Verwerfungen, die die Statik und Harmonik der Anerkennung erheblich verunsichern. Vielmehr erzwingt auch eine anerkennungstheoretisch justierte Interpretation von Subjektivität als ‘InterSubjektivität’ (Meyer-Drawe), die damit verbundenen Differenzen, Brechungen und Verwerfungen in nur vermeintlicher wechselseitiger Symmetrie, Präsenz und daraus resultierender ‘Identität’ überaus ernst zu nehmen und nicht vorschnell in stabile Identität als Einheitlichkeit, Totalität und Transparenz wie in Kontinuität und Kohärenz des Selbst zu überführen104. Es ist Honneths durchgängig leitende Perspektive 104 Dies ließe sich weit schärfer an Mead zeigen, einem der zwei Hauptbezugsautoren Honneths, und gerade nicht an Hegel, dem Honneth theoriearchitektonisch weit stärker folgt. Die Meadsche Grundfigur eines Ineinander von ‘I’ and ‘You’ läuft dabei auf eine ausdrücklich differenztheoretische Fassung des ‘self’ hinaus, das – als Zusammenhang von ‘I’ und ‘Me’ ausgelegt – ‘Nicht-Identität’ und nicht ‘Identität’ mit sich selbst markiert. So entzieht sich nicht nur das ‘I’ dem ‘Me’ – “I cannot turn around quick enough to catch myself” (Mead 1962, 174), wie Mead eindrücklich erläutert –, so dass das ‘self’ nur einen gänzlich unvollständigen Zusammenhang markiert; Mead erklärt unmissverständlich: “The seperation of the ‘I’ and the ‘me’ is not fictitious. They are not identical, for, as I have said, the ‘I’ is something that is never entirely calculable” (ebd. 178). Vielmehr ist auch das ‘Me’ – als Inbegriff des durch die Blicke der anderen konstituierten Selbstbildes – von unauflösbaren Asymmetrien und Differenzen durchzogen, ist doch das Bild der anderen von mir (desssen Übernahme mein Selbstbild kennzeichnet) wiederum mir nur als Interpretation desselben zugänglich, so dass das ‘I’ zum ‘you’ sich eben nicht so verhält wie das ‘you’ zum ‘I’. Diese in der unaufhebbaren Differenz von ‘I’ und ‘me’ gründende Selbstfremdheit kennzeichnet das ‘self’ als eine ambivalente, in sich paradoxe Struktur: sich gegeben wie entzogen zugleich zu sein (vgl. auch Schäfer 2000). Damit aber wird ‘Selbstentzug’ als ein konstitutives Moment von ‘Identität’ verstanden und als Unverfügbarkeit des ‘I’ im ‘self’ ausgelegt, dem der Begriff der Identität kaum gerecht zu werden vermag: “One does not ever get it fully
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einer zwar durch Anerkennung bedingten, aber mindestens prinzipiell möglichen “ungestörten Selbstbeziehung” (Honneth 1992, 8), die sich als weder analytisch zutreffend und empirisch einholbar noch als – auch moraltheoretisch – taugliche Orientierung von Kritik überhaupt erweist. Vielleicht ist es gerade sie, die den spezifischen Charakter der Machtproblematik geradezu unerkannt lässt. Vorab ließe sich daher vielleicht zuspitzen: situierte Subjektivität meint in machttheoretischer Perspektive nicht nur, sich in immer vorgängig strukturierten Formung selbst zu formen, so dass das vermeintlich ‘Eigene’ gerade nicht ‘quasi-archimedisch’ bestimmt, sondern nur als durch Andere bereits Bedingtes allererst entwickelt und erlernt werden kann; in dieser unauflösbaren Doppelung von Gegebenheit und Aufgegebenheit aber wird zugleich ein drittes Moment sichtbar, das die Relation von Gegebenheit und Aufgegebenheit aufsprengt105: denn hängt das ‘Eigene’ immer auch am ‘Anderen’, ohne dass dieses als Produkt des Anderen verstehbar würde, so ist es dem Selbst immer auch entzogen. Es ist vielleicht dieses Moment der ‘Alterität des Selbst’ (vgl. Ricœur 1996), das die Problematik situierter Subjektivität auch machttheoretisch so bedeutsam macht und die Dynamik sozialer Anerkennungspraktiken als ‘Kämpfen des Anerkennens und Aberkennens’ antreibt, indem es “die in der Bewegung des Anerkennens aufscheinende Unausdeutbarkeit des Selbst” (Gamm 2000, 219) zum Focus dieser Kämpfe erklärt106. Und doch, trotz dieser Resituierung von Anerkennungstheorie in Machttheorie, wie es die kurzen Überlegungen zur unauflöslichen Differenzstruktur des Anerkennungsphänomen nahelegen, bleibt ein Unbehagen: wird nicht doch – trotz bester Absichten und immer wieder erhobener Versicherungen – das Problem der Macht entscheidend verkürzt und unter dem Deckmantel der Relationalität schließlich doch auf ein quasi-innerpsychisches Phänomen reduziert? Entspricht nicht doch die gegenwärtige Konjunktur einer ‘Politik der Anerkennung’ (Taylor), dem darin verankerten und bisweilen ausschließlich gepflegten Bestreben nach ‘Pluralismus’ und ‘Multikulturalismus’ genau der Verbergung von – sei es intra- oder international – gegenwärtig ebenfalls wachsender materieller Ungleichheit und Ungerechtigkeit107? Nur zu Recht hat Nancy Fraser – im Kontext dieser Debatten – daher auf diesen Zusammenhang einer zweifelhaften Ablösung von Problemen sozioökonomischer Ausbeutung hin zu before himself” (Mead 1962, 203). Vgl. dazu auch ausführlicher meine Überlegungen in Ricken 2002b. 105 Und bereits im Doppelsinn von ‘aufgeben’ – in der Bedeutung, eine Aufgabe zu übernehmen oder aufzugeben – bereits mit anklingt. 106 Darauf hat insbes. Gamm in seinen überaus anregenden Überlegungen zur ‘Sozialität der Freiheit’ (vgl. Gamm 2000, 207-227) hingewiesen. Seine Betonung, dass es bereits Hegel nicht um einen ‘Kampf um Anerkennung’, sondern einen ‘Kampf des Anerkennens’ gegangen sei (vgl. ebd. 220), zielt darauf, Anerkennung nicht (bloß) konkretistisch als Anerkennung von etwas Bestimmten (und bereits Vorhandenen) zu verstehen, sondern weit grundsätzlicher als Konstitutionsweise von Freiheit überhaupt auszulegen. 107 In den unterschiedlichen Reichtums- und Armutsberichten (vgl. exemplarisch Weltbank 2001) wird nicht nur die Tendenz einer wachsenden Verstärkung sozioökonomischer Ungleichheit weltweit empirisch nachgewiesen; sie belegen zugleich selbst die Schwierigkeiten, ‘Armut’ nicht bloß quantitativ zu definieren, sondern auch qualitativ messbar zu machen (vgl. ebd. Kap. 1), so dass auch hier der Zusammenhang von Kapital- und Sinnverhältnissen nicht vermeidbar ist.
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neueren Fragestellungen der kulturellen Dominanz hingewiesen (vgl. Fraser 2001, 2366) und vor einer Ersetzung und Ablösung sozioökonomisch justierter machttheoretischer Überlegungen durch identitäts- oder kulturtheoretische Anerkennungstheoreme gewarnt108. Ihr engagiertes Plädoyer für eine radikal ‘dualistische’ Verknüpfung beider ‘politischer Vorstellungsrepertoires’ (vgl. Fraser 2001, 32 Anm. 13) – des sozialistischen einer Gerechtigkeit durch Umverteilung wie des kulturalistischen einer Gerechtigkeit durch Anerkennung (vgl. ebd. 24) – lässt sich dabei nicht nur als Diagnose des “Teufelskreis[es] sich gegenseitig verstärkender kultureller und wirtschaftlicher Unterordnung” (ebd. 66) lesen, sondern auch als ein praktisch bedeutsames Korrektiv im gesellschaftlichen Kampf um mögliche und notwendige politische Strategien. Ihre überzeugende Kennzeichnung der dilemmatischen Struktur ‘vertikaler’ (sozioökonomischer) und ‘horizontaler’ (kultureller) Gerechtigkeitsvorstellungen ist aber beunruhigend: während ‘Umverteilung’ mithilfe der Unterstellung universaler Gleichheit soziale Besonderung aufzuheben trachtet, zielt ‘Anerkennung’ gerade auf kulturelle Besonderung und Abgrenzung. Trotz ihres eher einseitig gewählten Denkeinsatzes – “ich schlage vor”, so Fraser pointiert, “Ansprüche auf Anerkennung vom Standpunkt sozialer Gleichheit aus zu beurteilen” (ebd. 25) – erlauben ihre Unterscheidungen von affirmativen und transformatorischen politischen Strategien (vgl. ebd. 46ff.), sich im diagnostizierten “Umverteilungs-Anerkennungs-Dilemma” (ebd. 27) zu orientieren, indem sie jeweilige Wechselwirkungen und Unverträglichkeiten focussieren. Dabei zeichnet sich zunächst zweierlei Untauglichkeit ab: ebenso wie bloß affirmative Identitätspolitik als vorschnelle Anerkennung partikularer Gruppen zu einem Pluralismus eines bloßen ‘Nebeneinander’, zu wechselseitiger Immunisierung und Indifferenz führt und damit vorhandene soziale Ungleichheit nur stabilisieren kann, erzeugt auch generell unternommene Umverteilung neuerliche Distinktionspraktiken, die die angestrebte sozioökonomische Gleichheit hintertreiben und neue Ungleichheiten quasi notwendig produzieren. Was schließlich – bisweilen auch plakativ – als notwendiger Zusammenhang von ‘Dekonstruktion und Sozialismus’ (ebd. 56, 63 u.ö.) von Fraser gefordert wird, ist nicht nur insbesondere in seiner Frontstellung gegen den ‘liberalen Wohlfahrtsstaat’ und die mit diesem verknüpfte Politik des ‘Pluralismus und Multikulturalismus’ bedeutsam, sondern zieht auch eine differenztheoretische Argumentation nach sich, die sich der Dichotomie von Universalismus und Partikularismus zu entziehen sucht. Frasers Schlussfolgerung ist pragmatisch wie kritisch zugleich; aus ihrer theoretisch begründeten Einsicht – “Das Umverteilungs-Anerkennungs-Dilemma ist real gegeben. Einen sauberen theoretischen Zug, durch den es völlig aufgelöst oder gelöst werden kann, gibt es nicht. Das Beste, was wir tun können, ist eine Entschärfung des Dilemmas herbeizuführen” (Fraser 2001, 63) – folgt daher zweierlei: wir sehen, so Fraser mit Blick auf die “politische Szene in den USA” (ebd. 65), wie sehr wir uns “auf dem Holzweg” (ebd.) befinden, wenn der doppelten Ungerechtigkeit durch “gutgemeinte Bemühungen” 108 Vgl. ausführlicher zu dieser insbesondere von Fraser und Honneth geführten Debatte um ‘Umverteilung vs. Anerkennung’ die Arbeiten von Honneth 2001 wie Fraser 2003; argumentativ eindrucksvoll ist deren ‘Schlagabtausch’ in Fraser / Honneth 2003. Gute Einblicke ermöglicht auch der von Taylor initiierte und mit Kommentaren von Walzer, Habermas u.a. versehene Band zur ‘Politik der Anerkennung’ (Taylor 1993).
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um einen liberalen Wohlfahrtsstaat, “ergänzt um einen gängigen Multikulturalismus” (ebd. 66) zu Leibe gerückt werden soll. Und zweitens: “Wir können das Erfordernis der Gerechtigkeit für alle nur dann erfüllen, wenn wir uns alternativen Konzeptionen von Umverteilung und Anerkennung zuwenden” (ebd. 66). Ein kurzer Seitenblick auf eine Überlegung Ernesto Laclaus mag diese von Fraser nur angedeutete Perspektive einer differenztheoretisch argumentierenden politischen Philosophie vielleicht konkretisieren, thematisiert dieser doch in seinen um ‘Hegemonie und radikale Demokratie’ kreisenden Arbeiten (vgl. insbes. Laclau / Mouffe 1991) immer wieder die Unfruchtbarkeit und Untauglichkeit einer oppositionalen Kontrastierung von Universalismus und Relativismus: einerseits, so Laclau mit Verweis auf ‘real existierende’ politische Konzepte, zieht die jeweilig einseitige Handhabung von Universalismus oder Partikularismus eine Zerstörung von Sozialität nach sich, indem sie entweder die unaufhebbare Differenz der Menschen untereinander leugnet und im Namen des Zusammenhangs aller als einer “Tyrannei der Majorität” (ebd. 23) nahezu notwendig ‘totalitär’ wird, oder in einer bloß pluralistischen ‘Feier der Differenzen’ (vgl. ebd. 24) in Partikularismus, Segregationismus und neuer ‘Apartheid’ verführt und damit den sozialen Zusammenhang aller mit allen schlicht verstellt. Beide Strategien aber beziehen ihre Plausibilität aus einer einseitig und positiv gehandhabten Fundierung des Sozialen: der sozialistischen ‘Gleichheit aller Ungleichen’ oder der liberalistischen ‘Ungleichheit aller Gleichen’. Andererseits, so Laclau weiter, verweisen aber Universalismus und Partikularismus wechselseitig aufeinander, müssen sie doch – in ihrer jeweiligen Selbstbegründung – notwendige Anleihen beieinander machen: so verteidigt der Partikularismus das Recht auf Differenz als ein universales Recht (vgl. Laclau 2002, 61) wie ebenso der Universalismus sich – in jeder seiner historischen Konkretionen – als ein verleugneter Partikularismus und Relativismus erweist, ist doch “das Universelle nichts anderes [...] als ein zu einem bestimmten Zeitpunkt dominant gewordenes Partikulares” (Laclau 2002, 52). Diesseits dieser beiden schiefen Alternativen entwickelt Laclau daher sein theoretisches Modell einer differenztheoretischen Verknüpfung, das zwar die Notwendigkeit von Universalismus eingesteht, um puren Partikularismus zurückweisen zu können, doch dabei den Begriff der Universalität radikal transformiert und als ‘negative Universalität’ fasst: “Das Universelle entspringt dem Partikularen. Nicht als irgendein Prinzip, das dem Partikularen zugrunde liegt und es erklärt, sondern als unvollständiger Horizont, der eine dislozierte partikulare Identität näht. [...] Das Universelle ist Symbol einer abweichenden Fülle” (Laclau 2002, 52f.). Es ist diese paradoxe Verbindung von Universalismus und Partikularismus, die Laclau als Spannung zu erhalten sucht und deren “Nicht-Lösung die eigentliche Voraussetzung von Demokratie ist” (Laclau 2002, 64); jede Lösung dieses Zusammenhangs aber wäre eine Aufhebung radikal verstandener Demokratie, hätte doch das ‘Universelle’ seine vermeintlich wahre Gestalt gefunden: “Wenn Demokratie möglich ist, dann weil das Universelle keinen notwendigen Körper und keinen notwendigen Inhalt besitzt; statt dessen wetteifern verschiedene Gruppen miteinander, um ihren Partikularismen eine
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Funktion universeller Repräsentation zu geben. [...] Weil aber Gesellschaft letztinstanzlich daran scheitert, sich selbst als Gesellschaft zu konstituieren, wird [...] den konkreten sozialen Akteuren jene unmögliche Aufgabe aufgebürdet, demokratische Interaktionen zustande zu bringen” (Laclau 2002, 64). Demokratie, so Laclau folgerichtig, ist daher nichts anderes als die Institutionalisierung des “grundlegend unvollständigen und prekären Charakters” des Gesellschaftlichen (Laclau / Mouffe 1991, 236): “Der Kompromiß, der prekäre Charakter jeder Anordnung sowie der Antagonismus sind die primären Wirklichkeiten” (Laclau / Mouffe 1991, 236). Kern eines solch ‘leeren Universalismus’ ist aber die Frage, was der eine mit dem anderen zu tun hat, kann doch keine ‘Identität’ konstituiert werden, ohne nicht doch “einen internen Bezug zu Universalität als dem Fehlenden” (Laclau 2002, 59) beizubehalten. Ausdrücklich expliziert Laclau daher die Vorstellung einer differentiellen, insofern in sich gerade nicht vollständigen und insofern selbst durch einen Mangel konstituierten Subjektivität (vgl. Laclau 1999, 126-133 wie auch Laclau / Mouffe 1991, 228), ist doch die Anerkennung eines ‘differentiellen Selbst’ die Bedingung der Möglichkeit, Sozialität diesseits der Konzepte einer praktizierten Indifferenz – sei es als differenzlose ‘homogene Gemeinschaft’ oder als bloß ‘pluralistisches Nebeneinander’ – als einen durch das ‘Band der Teilung’ (vgl. Lorraux 1994) ermöglichten ‘Zusammenhalt’ zu begreifen: nicht nur ‘Streit zerteilt uns nicht’ (Herman van Veen), sondern ‘Aufruhr verbindet’ auch109.
V. Der Gang der bisherigen Überlegungen hat von einer alltagsweltlich verankerten Konzeption der Macht als einem Durchsetzungs- und Beeinflussungshandeln über Erwägungen struktureller Macht schließlich zu einem relationalen Verständnis der ‘Führung der Führungen’ (Foucault) geführt, in dem Macht mit jeweiligen Selbst- und Anderenverhältnissen nicht nur eng verknüpft, sondern als eines derer zentralen Momente ausgewiesen werden konnte. Die hier unternommene sukzessive ‘Tieferlegung’ der Machtproblematik legt daher nahe, die bisher unter den Vorzeichen der Differenz und Relationalität reformulierte ‘Frage der Macht’ nun auch ausdrücklich anthropologisch aufzunehmen und mit der Problematik der immer wieder vorgenommenen Selbstkennzeichnungen der menschlichen Verfasstheit zu verknüpfen. Denn soll ‘Macht’ nicht bloß äußerlich und als insofern aufhebbar oder mindestens minimierbar gedacht werden, ist es hilfreich, der durchgängig leitenden Intuition, dass mit ‘Macht’ als einem menschheitlichen ‘Dauerthema’ eines der zentralen ‘anthro109 Die hier nur andeutbare differenztheoretische Debatte um Demokratie lässt sich insbesondere in den ausführlichen Studien Reichenbachs zum Zusammenhang von differentieller Subjektivität und demokratischer Sozialität (vgl. Reichenbach 2001) verfolgen. Seine durchgängige These, “daß sich das spezifische Wesen der demokratischen Lebensform auch im Selbst des Einzelmitglieds derselben auf spezifische Weise repräsentieren müßte, daß also das Selbst [...] im Grunde selbst ‘demokratisch verfaßt’ sein muß” (ebd. 13), bestätigt nicht nur den hier eingeschlagenen Denkpfad, sondern erweist sich als eine äußerst fruchtbare und anregende Orientierung in den unterschiedlichen Diskursen gegenwärtiger politischer Philosophie (insbes. zu Liberalismus und Kommunitarismus); mit ihrer Hilfe gelingt es Reichenbach, sich vor jeweiligen Vereinseitigungen zu schützen und Demokratie als notwendigen ‘Widerstreit’ zu formulieren.
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pologischen Probleme’ markiert werden kann, nun auch ausdrücklich nachzugehen. Dabei geht es mir darum, einerseits anthropologische Konzepte überhaupt in ihrer jeweiligen ‘anthropolitischen Funktion’ (vgl. Steffens 1999) machttheoretisch lesbar zu machen, andererseits aber auch ‘Anthropologie’ selbst als einen – in der Tat weiten – systematischen Rahmen des ‘Problems der Macht’ zu entfalten. Beides aber ist machttheoretisch nicht unmittelbar zwingend oder gar selbstverständlich und verlangt daher nach Erläuterung. Eine erste Lesart dieses Zusammenhangs von Anthropologie und Macht scheint zunächst recht unproblematisch: Anthropologien – verstanden als Kennzeichnung der durch die Geschichte hindurch immer wieder betriebenen Versuche der Menschen, sich über sich selbst zu vergewissern und als ‘Menschen’ festzustellen – sind in ihrer Funktion als einer reflexiven, meist spekulativ betriebenen Selbstvergewisserung immer auch Vorbahnungen und praktische Orientierungen der jeweiligen Selbstgestaltung konkreter Menschen; als Ausdruck wie Form jeweilig gesuchter Freiheit dienen sie nur allzu oft dazu, die unternommenen Selbstdeutungen auch anderen gegenüber verbindlich zu machen und als Matrix sozialer Praktiken durchzusetzen, und sind so mit Macht eng verknüpft. Diesen Machtcharakter in den jeweiligen anthropologischen Selbstbeschreibungen zu verdeutlichen, ist daher ein überaus einsichtiger Leitfaden einer machttheoretischen Annäherung an jeweilige (historisch und gesellschaftlich gebundene) Anthropologien, entspricht er doch einer längst eingewöhnten sozialwissenschaftlichen Tendenz, anthropologische Konzepte und Versuche als ‘intellektuelle Überanstrengungen’ und allein methodologisch bereits unhaltbare Abstraktionen und Selbsthypostasierungen zu kennzeichnen, sozialwissenschaftlich daher einzuklammern und als bloß historisch bedingte Ausdrücke jeweiliger Zeiten in umfassendere gesellschaftliche Kontexte zurückzusetzen und zu analysieren110. Doch ist diese bisweilen subtile Einklammerung, bisweilen durchaus auch polemische Sinnlosigkeitserklärung einer jeden philosophischen Anthropologie selbst nur Folge einer als Anthropologiekritik philosophisch betriebenen Anthropologie (vgl. Wimmer 1998), deren performative Implikation einer – allein methodologisch bereits – nicht vermeidbaren ‘Anthropologie’ dazu herausfordert (vgl. Lindemann 1999), den Zusammenhang von Anthropologie und Macht nun auch in umgekehrter Richtung zu entfalten und in einer anthropologischen Interpretation der Machtproblematik zu formulieren111. 110 Diese Perspektive auf jeweilige Anthropologien als Objekte historischer Analyse ist eine der zentralen Momente einer ‘historischen Anthropologie’, die darauf zielt, “nach dem Ende der Verbindlichkeit einer abstrakten anthropologischen Norm” (Wulf 1997, 13) die enorme Pluralität und Kulturalität wie Historizität menschlicher Selbstdeutungen zu erforschen; dabei lässt sich historische Anthropologie sowohl in historischer als auch in anthropologischer Absicht betreiben. Zur enormen Fruchtbarkeit beider Richtungen einer Historischen Anthropologie vgl. exemplarisch die historischen Arbeiten um Richard van Dülmen (exemplarisch Dülmen 1998) und die anthropologischen Studien um Christoph Wulf (exemplarisch Wulf 1997); einen guten methodologischen Über- und Einblick geben die Arbeiten von (zuerst) Gebauer u.a. 1989 wie auch Dressel 1996 und Wimmer 1998. 111 In methodologischer Absicht haben dies Honneth und Joas unternommen, indem sie die in den unterschiedlichen soziologischen Untersuchungen jeweils verwendeten Kategorien und Begriffe auf ihre impliziten anthropologischen Annahmen befragt haben (vgl. Honneth / Joas 1980); vgl. jüngst auch die Arbeiten von
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In einer solchen zweiten Lesart des Zusammenhangs von Anthropologie und Macht lassen sich dabei zunächst dreierlei Aspekte unterscheiden: so lässt sich in einer ‘anthropology of policy’ (vgl. Shore / Wright 1997) erstens nach den jeweiligen anthropologischen Annahmen und Unterstellungen der unterschiedlichen Machtstrategien und Politiken fragen, so dass jene ‘Menschenbilder’ als Strukturen jeweiliger Machtpraktiken verdeutlicht werden können. In dieser Perspektive zeigt sich aber dann zweitens, dass der ‘Mensch’ selbst modern längst bevorzugtes Objekt der Macht geworden ist, insofern jeweilige Auffassungen vom ‘Menschsein’ nicht nur eine politische Rolle spielen, sondern nun selbst zu einer der Hauptmaximen von Macht und Politik geworden sind; Politik, so Steffens pointiert (vgl. Steffens 1999), wird – insbesondere spätmodern – “mit dem Ziel betrieben [...], einen bestimmten Menschen hervorzubringen” (ebd. 95), und lässt sich insofern nur folgerichtig als “Anthropolitik” (Steffens 1999, 14) – als ‘Politik der Menschenformung’ und einer ‘Politik am Menschen’ (vgl. ebd. 14-17) – kennzeichnen112. Vertieft man aber diese – bei Steffens materialreich und überzeugend entfaltete – Perspektive einer ‘Anthropolitik’, so zeigt Lindemann 1999 wie 2001. 112 Steffens greift in seiner Begriffswahl auf bereits frühe Überlegungen Edgar Morins zurück, der – wohl erstmalig – ‘anthropolitique’ als Inbegriff einer dringend gebotenen ‘politique de l’homme’ (Morin 1969) verwendet und mit ihr eine neu zu justierende, den umfassenden planetarischen Herausforderungen angemessene politische Orientierung zur Wiederherstellung und Sicherung von Humanität überhaupt bezeichnet; auch in neueren Schriften hält Morin an der Konzeption einer ‘anthropolitique’ als einer “Politik für den Menschen” (Morin 1999, 160) fest, die er folgendermaßen bestimmt: “Was sich im Grenzbereich der Politik befand (die Fragestellungen zum Sinn des Lebens, die Entwicklung, das Leben und der Tod der Individuen, das Leben und der Tod der Gattung), tendiert ins Zentrum. Daher müssen wir eine Politik für den Menschen in der Welt konzipieren, eine Politik der planetaren Verantwortlichkeit, eine multidimensionale, aber nicht totalitäre Politik. Die Entwicklung der Menschen, ihrer gegenseitigen Beziehungen, des gesellschaftlichen Seins stellt das zentrale Vorhaben der Politik für den Menschen in der Welt dar, die die weitere Verfolgung der Menschwerdung fordert” (ebd. 160). Demgegenüber betont Steffens in seinem Begriffsgebrauch die von ihm intendierte Umkehrung von ‘Anthropolitik’ zu einer “Kategorie zur Bestimmung dessen, was sich in den Politiken der Unmenschlichkeit ereignet” (Steffens 1999, 15 Anm. 5), so dass er mit ‘Anthropolitik’ schließlich insbesondere die nationalsozialistischen und sozialistischen ‘Züchtungsphantasien’ des ‘neuen Menschen’ bezeichnet (vgl. ebd. 87-203), deren Grundfigur – “einen bestimmten Menschen hervorzubringen” (ebd. 95) – sich jedoch nicht allein auf diese beiden Ausgestaltungen beschränken lässt; vielmehr geht es Steffens darum, die zunächst philosophische Skizze eines “idealen Menschseins, auf das alle Lebenden ausnahmslos verpflichtet sind” (ebd. 97) und von dem abzuweichen impliziert, “sein eigenes Lebensrecht” zu verwirken (ebd.), als “Instrument einer Politik der Menschenformung” (ebd. 97) zu rekonstruieren, so dass ‘Anthropologie’ als ‘Anthropolitik’ zu einer “bewaffneten Philosophie” (ebd. 95) wird, die gerade nicht nur sich für ihr äußerliche Zwecke instrumentalisieren lässt, sondern selbst als ‘Komplizin dieser neuen Politik’ versteht. Steffens Befund einer insbesondere im 20. Jahrhundert neu einsetzenden ‘Anthropolitik’ lässt sich dabei durchaus verknüpfen mit den Überlegungen Foucaults zur machttheoretisch bedeutsamen Etablierung einer ‘Bio-Politik’ und kann dann in der Tat als ein Teilmoment derselben zur Geltung gebracht werden. Ich verstehe daher unter ‘Anthropolitik’ weder bloß eine ‘positiv’ aufgeladene ‘Politik für den Menschen’ (Morin) noch eine ausschließlich negativ verstandene ‘Politik der Unmenschlichkeit am Menschen’ (Steffens), sondern eine ausdrücklich auf die Konstitution und Verfasstheit der Menschen abzielende Politik, die nicht erst im 20. Jahrhundert Platz greift, sondern bereits im neuzeitlichen Prozess der Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft rekonstruiert werden kann. ‘Anthropolitik’ kann daher taugen, den ‘politischen’ Charakter der Etablierung von Anthropologien insbesondere seit dem 18. Jahrhundert zu bezeichnen und so die Verknüpfung zwischen der Etablierung der unterschiedlichen anthropologischen Wissenschaften und der zeitgleich sich vollziehenden Transformation der Machtmechanismen in Erinnerung zu halten. Vgl. dazu auch die jeweilig von van Dülmen (van Dülmen 1998) und Lepp u.a. (Lepp u.a. 1999) herausgegebenen eindrücklichen Dokumentations- und Ausstellungsbände zur ‘Selbstschöpfungsproblematik’ der Menschen.
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sich dieser neue “politische Ehrgeiz, einen anderen Menschen zu schaffen und eine neue Menschennatur hervorzubringen” (ebd. 92), nun selbst als paradoxe Praxis einer menschlichen Selbstauslegung, die ihrerseits – aus längst diagnostizierter prinzipieller Unbestimmbarkeit der Menschen resultierend – nur als eine “Revolte gegen die ursprüngliche Negativität” (ebd. 161) des Menschseins verstanden werden kann. Dies aber führt daher schließlich drittens zu einer anthropologisch justierten Interpretation von Macht, in der danach gefragt wird, was denn die Frage ist, worauf Macht zu antworten sucht, indem ein weiter anthropologischer Rahmen systematisch rekonstruiert wird. Eine solchermaßen anvisierte anthropologische Interpretation des Problems der Macht stößt aber gegenwärtig auf nahezu durchgängige Skepsis: nicht nur, weil anthropologische Fragestellungen und Systeme längst im Verdacht stehen, als kompensatorisch unternommenen Abstraktionen und Hypostasierungen von den jeweilig konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen und Praktiken und derer selbst gemachten Ungerechtigkeit abzulenken (Marx) und als Ideologien daher nur den “Schlaf des Geistes” (Hegel 1905, 340) befördern zu können; auch nicht nur, weil (explizite) Anthropologien ihrerseits eine erst “junge Erfindung” (Foucault 1971, 462) sind, die der – neuzeitlich-modernen – Veränderung in den fundamentalen Dispositionen des Wissens sich verdankt und mit der machttheoretisch bedeutsamen Etablierung der Humanwissenschaften strukturell einhergeht; sondern auch und vor allem, weil sich kein verbindlicher anthropologischer Rahmen ausmachen lässt, der es erlaubte, Macht als ein ‘anthropologisches Problem’ zu interpretieren. Adornos oft kolportiertes und ‘diskurspolizeilich’ durchaus häufig genutztes Diktum – “Daß nicht sich sagen läßt, was der Mensch sei, ist keine besonders erhabene Anthropologie sondern ein Veto gegen jegliche” (Adorno 1966, 130) – mag insgesamt für diese Skepsis einstehen, die Anthropologie zumeist unmittelbar mit schlechter Metaphysik identifiziert. Versteht man aber Anthropologie weder als – inzwischen als unerreichbar eingesehene – Substanzmetaphysik und Wesenskennzeichnung des ‘Menschen an sich’ noch als eine bloß neuzeitlich-modern produzierte und insofern nicht nur überwindbare, sondern auch notwendig zu überwindende ‘Falte’ in der menschlichen Denkgeschichte (vgl. Foucault 1971, 27), ist es zwingend nachzuweisen, dass Anthropologie weder fundamental noch überhaupt nicht betrieben werden kann, indem die Struktur anthropologischer Reflexionen erarbeitet und als eine ebenso faktisch wie programmatisch unvermeidbare Implikation aller menschlichen Lebensformen und Praxen verdeutlicht wird113. Markiert aber Anthropologie nicht nur das “Wissen des Menschen von sich selbst” (Landmann 1962, 5), sondern immer auch die Weise dieses ‘Selbstwissens’ als einem zentralen – und insofern performativen – Modus menschlichen Existierens selbst, so gilt es daher, die “Frage ‘des Menschen’” (Derrida 1988, 123) nach sich selbst kategorial aufzunehmen und – durchaus in Abgrenzung von
113 Vgl. dazu auch die Überlegungen bei Lindemann 1999 wie 2001 wie auch der jüngst von Krüger und Lindemann herausgegebene Sammelband zur ‘Philosophischen Anthropologie im 21. Jahrhundert’ (Krüger/Lindemann 2006).
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traditionellen ‘was’ und ‘wer’-Befragungen – fragen zu lernen, wie Menschen sind114. Diese in der Tat auch ungewöhnliche Perspektive einer ‘Anthropologie nach dem Tode des Menschen’ (vgl. Kamper / Wulf 1994) sei nun in drei Gedankenschritten erläutert: ausgehend von einer um den Begriff des ‘anthropologischen Zirkels’ kreisenden Explikation der Struktur menschlicher Selbstbeschreibungen (a) wird mithilfe des Konzepts der ‘anthropologischen Differenz’ eine auch inhaltlich bedeutsame anthropologische Perspektive zu entfalten versucht (b), die es schließlich erlauben soll, die Problematik der Macht auch anthropologisch zu reformulieren (c). (a) Bereits am Begriff ‘Mensch’ und seinem Gebrauch lässt sich die eigentümlich selbstreferentielle Struktur menschlicher Selbstbeschreibungen verdeutlichen: schon sprachlich eine Besonderung fungiert es – von Anfang an und ebenso sprach- wie kulturübergreifend – als Selbstzuschreibung, mit der Menschen sich selbst zu kennzeichnen suchen. Dabei reflektieren Menschen über sich und bestimmen sich selbst, indem sie sich von anderen – die eben nicht als ‘Menschen’, sondern u.a. als ‘Tiere’, ‘Barbaren’ bloß ‘Fremde’ oder gar ‘Götter’ bezeichnet werden – abgrenzen und in dieser Selbstzurechnung des ‘Menschseins’ sich als Gemeinschaft sich Anerkennender eingrenzen; diese als Identität praktizierte Differenz wird oft als Aufwertung des Eigenen und Abwertung des Fremden zumeist auch hierarchisch gehandhabt und als jeweilig partikulare Selbstauslegung zu favorisieren und untereinander verbindlich zu machen gesucht. Insbesondere dieser letzten, ‘anthropolitischen’ Dimension entspricht dabei auch der ebenso triviale wie immer wieder übersehene Befund, dass es ‘den Menschen’ schon empirisch so gar nicht gibt. Vielmehr ist ‘Mensch’ als sprachliches Abstraktum eine praktisch bedeutsame Zurechnung und markiert so einen repräsentationstheoretisch kaum einholbaren Frage- und Streitkomplex. Damit ist eine erste methodologische Weichenstellung unternommen: wenn denn – das ist weitgehend Konsens in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung – ein allgemeines ‘Wesen’ des Menschen raum- und zeitübergreifend sich nicht bestimmen lässt, sondern nur dessen kulturell und historisch unermessliche Vielfältigkeit und Unterschiedlichkeit rekonstruiert werden kann, so zerfällt dennoch das, was mit ‘Menschen’ gewöhnlich bezeichnet wird, nicht in eine bloß heterogene, untereinander gänzlich zusammenhangslose oder gar sich wechselseitig ausschließende phänomenale Pluralität. Der damit insinuierte (und auch beobachtbare) Zusammenhang ‘des Menschen mit dem Menschen’ lässt sich aber weder positiv noch gar substantial bestimmen; vielmehr ist die (prinzipiell) unterstellte “fundamentale Einheit des Menschengeschlechts” (Geertz 1992, 60) ihrerseits ein pragmatisches Moment menschlicher Selbstauslegungen überhaupt und damit Ausdruck des Zurechnungscharakters des Menschlichen: wir kennen und erkennen nicht vorab und abstrakt den Menschen und das Menschliche, um Lebewesen dann als Menschen bzw. 114 Diese hier skizzierte anthropologische Fragestellung verdankt sich dabei nicht nur einer zunehmend beobachtbaren Konjunktur anthropologischer Reflexionen (vgl. dazu exemplarisch Kamper / Wulf 1994, Barkhaus u.a. 1996 wie auch Gebauer 1998), sondern ist auch Folge einer radikal betriebenen Anthropologiekritik, die – gerade von der Unmöglichkeit einer substantialen Bestimmung ‘des Menschen’ ausgehend – sich zur Nichtaufgebbarkeit anthropologischer Reflexionen als einer durchgängigen Struktur aller sozial- und kulturwissenschaftlichen Reflexionen durchgearbeitet hat (vgl. Wimmer 1998, Dux 2000).
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Nichtmenschen anzuerkennen, so dass Erkenntnis Anerkenntnis fundierte, sondern anerkennen und aberkennen andere uns erkennend als Menschen. Methodologisch gewendet: zwar setzt jede Anthropologie – wenn auch oft nur implizit – den Menschen schon als Menschen (vgl. Heidegger 1991, 204-246, bes. 230), um ihn sich dann kulturell und historisch verwandelt und variiert zurückgeben zu lassen, doch gründet die praktische Identifizierung und Anerkennung anderer als ‘Mensch’ oder ‘Nichtmensch’ gerade nicht in einer vorgängigen, in sich sicheren und positiven Anthropologie, sondern (nahezu umgekehrt) in seiner, in spezifischen kulturell-historischen Praxen immer selbstreferentiell gehandhabten ‘Unergründlichkeit’ (Plessner) — mit der auch prekären Folge, dass praktische Aberkennungen der Menschlichkeit und Menschenverfolgung wie Menschenvernichtung gerade nicht ein ‘metaphysischer Verstoß gegen das Humanum’ sind, sondern eine sozial brutale, historische Praxis der Selbstkonstitution durch Anderenvernichtung. Dieser ‘anthropologische Zirkel’ – sich auf sich erkennend zu beziehen, indem auf andere an- und aberkennend Bezug genommen wird, wie auf andere an- und aberkennend sich zu beziehen, indem auf sich selbst Bezug genommen wird, so dass Erkenntnis und Anerkenntnis wie Selbst- und Anderenbezug ineinander unauflöslich verschlungen sind – kennzeichnet nicht nur die Struktur menschlichen Existierens überhaupt, sondern führt auch in erhebliche und gerade nicht auflösbare Schwierigkeiten: Menschen können sich nicht so weit vor sich bringen, dass sie ihrer selbst gewissermaßen ‘von außen’ ansichtig würden, so dass sie – ob sie wollen oder nicht – immer anthropozentrisch denken müssen; zugleich aber können sie sich nicht unmittelbar und schlicht auf sich selbst beziehen und sich ‘von innen’ bestimmen, so dass sie sich immer auch im Anderen ihrer selbst aufsuchen und von dort zu bestimmen suchen müssen. Anthropomorphismus wie auch dessen Umkehrung zur ‘anthropomorphia inversa’ (vgl. von Foerster 1990, 438) sind unweigerlich die Folge und können insofern nicht als prinzipiell aufhebbare Fehlformen des Denkens diskreditiert werden. Vielmehr bestimmen Menschen immer das, was sie an sich selbst als kennzeichnend auszumachen scheinen, in Bezug zu dem, was sie nicht zu sein meinen (und umgekehrt) – im Vergleich, ein Vergleich jedoch, der die sie selbst konstituierende Differenz gerade nicht von außen an- und auszusprechen vermag, sondern seinerseits nur von Menschen ‘menschlich’ angestellt werden kann und insofern ein wie auch immer geartetes Selbstverständnis bereits voraussetzt. Nicht zufällig ist daher die Geschichte menschlicher Selbstauslegungen auch eine Geschichte der Vergleichungen, in der ‘Gott’, ‘Tier’ wie auch ‘Maschine’ (vgl. Meyer-Drawe 1996b) als dauernde Bezugs- wie Streitpunkte menschlicher Selbstvergewisserungen fungieren, ohne dass jedoch mit und in ihnen ein archimedischer Punkt je erreichbar würde (vgl. Ballauff 2000, 21-35); vielmehr vermag sie die unvermeidbare Aporetik der ‘Frage des Menschen’, weder (auf)zulösen noch zu verabschieden und insofern nur als ‘offene Frage’ (Plessner) zu tradieren. Konsequent sind daher im anthropologischen Diskurs des 20. Jahrhunderts sowohl die Gewissheit darüber, was der Mensch ist, als auch das vermeintlich verlässliche Wissen darum, wer ein Mensch ist, weitgehend zerrieben und als unbezweifelbare Grundlagen allemal verschwunden,
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ohne dass aber Anthropologie als überhaupt unsinnig abgewiesen werden konnte. Zugleich rückt damit die Frage, wie (und wann) ein Mensch ist, in den Kreis menschlicher Selbstaufmerksamkeit. In der Differenz der vielfältigen und in ihrer Heterogenität unermesslichen menschlichen Lebensformen und Selbstauslegungen lässt sich daher eine Spirale anfangloser Selbstfraglichkeit und dauernder Selbstvergewisserung rekonstruieren, die in keiner wie auch immer gearteten Vorstellung des Menschlichen – und sei es bloß additiv oder subtraktiv als ‘consensus gentium’ (vgl. Geertz 1992, 63) – stillzustellen ist, so dass Menschen über jede ihrer Selbstverständigungen immer wieder hinausgehen können und schließlich auch hinausgehen müssen. Weil sie aber in keiner Selbstbeschreibung endgültig heimisch sein können, ist der Prozess dauernder Selbstauslegung nicht schlicht suspendierbar. Die ‘Frage des Menschen’ (Derrida) ist insofern eine ebenso offene und unbeantwortbare wie darin zugleich nicht aufgebbare und verzichtbare Selbstbefragung, führt sie doch ein in die Problematik menschlichen ‘Existierens’ und markiert deren durchgängig selbstreferentielle Struktur: weder durch Natur noch Kultur als Menschen in ihrer Lebensform festgelegt müssen sie Lebensform und ihr jeweilig historisches ‘Wesen’ selbst praktisch konstituieren, indem sie sich darin zu sich selbst verhalten. Menschen leben insofern immer ‘anthropologisch’, sich selbst auslegend (und können es nicht nicht tun): in der Bestimmung ihrer Lebensform bestimmen sie – sei es explizit oder auch nur implizit – immer auch sich selbst, so dass Welt- und Selbstgestaltung unauflöslich ineinander verwickelt sind. So wie explizite (jeweilig partikulare) Anthropologien daher immer auf sie konstituierende kulturelle Lebensformen (und deren historische Genese) verweisen, können diese ihrerseits nicht ohne Rückbezug auf ihre implizite anthropologische Struktur aufgenommen und erläutert werden. Zwar sind anthropologische Reflexionen als menschliche Selbstbeschreibungen immer auch (ausdrücklicher) Gegenstand jeweilig kultureller Diskurse; sie sind aber in diese auch immer als Form und Struktur eingelassen (vgl. Dilthey 1958, VII, 269), so dass auch im Umgang mit den Dingen “es der Mensch nun gleichsam ständig mit sich selbst zu tun” (Cassirer 1996, 50) hat115. Markiert ‘Anthropologie’ daher die Weise menschlichen Existierens insofern, dass Menschen – wie auch immer sie sich jeweilig selbst verstehen: als ‘Geschöpfe Gottes’, ‘Zufallsprodukte der Evolution’ oder ‘erfinderische Tat ihrer selbst’ – nicht nicht ‘anthropologisch leben’, d.h. selbstauslegend leben können, so rückt mit ‘Anthropologie’ nun die Gesamtheit menschlicher Selbstdeutungen wieder in den Blick: nicht als Illustration der Geschichte der Anthropologie als einer ‘Fortschrittsgeschichte’ immer zutreffenderer Selbstdeutungen oder als eine Sammlung ebenso kurioser wie 115 Mit einem Seitenblick auf Kant ließe sich die hier eingenommene Perspektive einer kategorial-strukturalen Interpretation der menschlichen Selbstfrage ‘Was ist der Mensch?’ erhärten, benennt doch Kant in seiner kurzen Kennzeichnung der philosophischen Reflexion überhaupt diese Frage nach dem Menschen als die zentrale philosophische Frage überhaupt: so münden nicht nur die drei klassischen Fragen der Metaphysik – ‘Was kann ich wissen?’ –, der Moral – ‘Was soll ich tun?’ – und der Religion – ‘Was darf ich hoffen?’ in der anthropologischen Fragestellung (vgl. Kant 1956, III, 448); vielmehr muss diese letzte Frage, “weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen” (ebd.), selbst als alle anderen Fragen begleitende verstanden werden, so dass diese einen kategorialen Rahmen jener drei philosophischen Fragen markiert und nicht deren thematische Zusammenfassung oder gar inhaltliche Zuspitzung.
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grandioser menschlicher Fehleinschätzungen und Irrtümer, sondern als jeweilig konkreten Kennzeichnungen der Differenz, die die Menschen sich selbst sind116. (b) Dieser Versuch, die ebenso unverzichtbare wie stets problematische ‘Frage des Menschen nach sich selbst’ (vgl. Derrida 2001, 11) als alle menschlichen Lebensformen begleitende Struktur auszulegen, führt daher dazu, Anthropologie als historischsystematische ‘Wissenschaft der Differenzen’ (vgl. Kamper 1973) in pragmatischer Absicht zu betreiben, kann diese doch weder positiv zur ‘Erkenntnis des Menschlichen’ (vgl. Plessner 1981, V, 189) durchstoßen, noch sich negativ mit der (oft wortreichen) Erläuterung seiner Unergründbarkeit begnügen (vgl. exemplarisch Sonnemann 1969). Ihr Grundbegriff ist daher der einer sowohl methodologisch als auch inhaltlich auszulegenden ‘anthropologischen Differenz’ (Kamper), wie dies von Dietmar Kamper im – gerade anthropologiekritisch justierten – Rückgriff auf die Weichenstellungen der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners erarbeitet worden ist (vgl. Kamper 1973). Daher kann Plessners Konzeption einer ‘exzentrischen Positionalität’ als nicht übergehbarer Ausgangspunkt neuerer Anthropologien gelten und sei hier entgegen einer zunehmend reflexionstheoretischen Verkürzung ausführlicher erinnert117. Bereits in seiner schon 1928 unter dem Titel ‘Die Stufen des Organischen und der Mensch’ veröffentlichten ‘Einleitung in die philosophische Anthropologie’ (Plessner 1981, IV) entwickelt Plessner die später immer wieder präzisierte und reformulierte “These”, “daß sich der Mensch 116 Denn: sich zu sich selbst verhalten zu müssen, ohne sich darin überhaupt einholen zu können, impliziert auch, sich im Rahmen (historisch und kulturell) gegebener symbolischer Ordnungen zu sich selbst verhalten zu müssen. Lassen sich also in diesem skizzierten ‘anthropologischen Zirkel’ weder Anfang noch Ende menschlicher Selbstbefragungen ausmachen, so kann ‘anthropologisch’ nur angeknüpft werden an bisherige, jeweilig kulturell wie geschichtlich formulierte und überlieferte Selbstauslegungen (vgl. Lorenz 1990, 58). Sie sind ein nicht hintergehbarer, wenn auch jeweilig nur partikularer ‘hermeneutischer Horizont’ aller menschlichen Selbstverständigungen, in denen die ‘Frage des Menschen’ (Derrida) praktiziert wird und nur als offene, nicht schließbare wach gehalten werden kann. Dabei zeigt sich in einer historischen Rekonstruktion westlich-abendländischer ‘Menschenauslegungen’ das Konzept einer ‘anthropologischen Differenz’ nicht nur als deren Resultat, sondern auch als eine präzise Kennzeichnung der darin jeweils verhandelten Problematik, so dass die ‘Geschichte der Anthropologie’ sich durchaus als eine Geschichte der ‘anthropologischen Differenz’ schreiben ließe: während es in der jüdisch-biblischen Tradition der Genesis darum geht, die ‘Differentialität’ der Menschen (zwischen Gottebenbildlichkeit und Sündenfall) historisch auszulegen und als Differenz offen zu halten, lässt sich bereits christlich deren Hierarchisierung und Substantialisierung beobachten (vgl. ausführlicher Ricken 2000b). In einer ähnlichen Perspektive lässt sich auch die Tradition griechisch-antiker menschlicher Selbstbeschreibungen als Transformation eines differentiell bestimmten ‘Zwischenwesen’ zu einem substantialisch gedachten und in sich hierarchisch strukturierten ‘Doppelwesen’ lesen. Diese Weichenstellungen führen neuzeitlich schließlich dazu, den Menschen – ebenso differenzvergessen – als ‘unbestimmte Bestimmtheit’ und ‘Bestimmtheit zur Selbstbestimmung’ (Benner) auszulegen. Vgl. dazu insgesamt Lorenz 1990 wie auch Ricken 2004a. 117 Vgl. ausführlicher zur Anthropologie Plessners und deren Diskussion immer noch den Band von Ziegler 1957, die Arbeiten von Lorenz 1990, Eßbach 1994, Weiland 1995, Arlt 1993 und 1996 wie auch jüngst den von Eßbach u.a. herausgegebenen Diskussionsband zu Plessners ‘Grenzen der Gemeinschaft’ (Eßbach u.a. 2002). Dass eine Rezeption Plessners nicht so üblich geworden ist, wie es eigentlich erwartbar wäre, hat auch seinen Grund darin, dass die – gänzlich anders (und schlichter) justierten und um die Begriffe des ‘Mängelwesens’ und der ‘Kompensation’ desselben gruppierten – Überlegungen Gehlens zu einer ‘Philosophischen Anthropologie’ (vgl. exemplarisch Gehlen 1997) trotz ihrer allzu bereitwilligen Aufnahme und weiten sozial- und kulturwissenschaftlichen Rezeption letztlich dann doch eher zu erheblicher Skepsis und Distanz gegenüber anthropologischen Überlegungen überhaupt geführt haben.
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in seinem Sein vor allem anderen Sein dadurch auszeichnet, sich weder der Nächste noch der Fernste zu sein, durch eben diese Exzentrizität seiner Lebensform sich selber als Element in einem Meer des Seins vorzufinden und damit trotz des nichtseinsmäßigen Charakters seiner Existenz in eine Reihe mit allen Dingen dieser Welt zu gehören” (Plessner 1981, IV, 12). Ausdrücklich ‘gegen’ die philosophische Tradition des ‘Doppelwesens’ gerichtet, die – seit ihren griechisch-antiken Anfängen (vgl. Lorenz 1990) – insbesondere in der cartesischen Subjekt-Objekt-Dualität verheerend fortwirkt und den “Zwiespalt in den Konstituentien der Welt zu einem Zerfall in zwei verschieden geartete Welten werden” lässt, in der einer “Innenwelt” die “Außenwelt” (Plessner 1981, IV, 98) entweder berührungs- und vermittlungslos oder hierarchisch angeordnet gegenüberstehen muss (vgl. ausführlicher ebd. 78-114), sucht Plessner in der Thematisierung der Grenze die Einheit des “Doppelaspekts von Körperlichkeit und Innerlichkeit” (ebd. 115) zu skizzieren: “Nicht auf die Überwindung des Doppelaspekts als eines (unwidersprechlichen) Phänomens, sondern auf die Beseitigung seiner Fundamentalisierung [...] ist es im folgenden abgesehen. Auf die Entkräftung dieses Doppelaspekts als eines [...] die Selbstanalyse zerreißenden Prinzips kommt alles an” (ebd. 115). Dabei gelingt Plessner in der Reflexion des Zusammenhangs von Organismus und Umwelt und der Differenzierung von Körper und Leib die Rekonstruktion zweier ineinander gefalteter Strukturprinzipien – Positionalität und Exzentrizität – als den zwei Aspekten des Menschen als eines paradoxen ‘Doppels’. Während aber das Tier die Differenz von Leibsein (Innen) und Körperhaben (Außen) zentrisch lebt, indem es sein ‘Sein’ zum ausschließlichen Bezugspunkt seiner Existenz hat und insofern positional strukturiert ist, ist der durch die Fähigkeit des Selbstbewusstseins, sich reflexiv auf sich selbst beziehen und darin gegenüber anderen relativieren zu können, kennzeichenbare Mensch ‘exzentrisch’ strukturiert: “Exzentrizität ist die für den Menschen charakteristische Form seiner frontalen Gestelltheit gegen das Umfeld”, “ohne [dabei jedoch] die Zentrierung durchbrechen zu können” (ebd. 364). Während so ‘Positionalität’ seinerseits bereits als durchaus selbstreferentielle Relation von Zentrum und Umwelt skizziert wird – auch das Tier muss zwischen sich (‘Wirken’) und der Außenwelt (‘Wahrnehmen’) unterscheiden und beide (durchaus variabel) miteinander vermitteln können (vgl. Plessner 1981, IV, 316ff.) –, markiert Plessner mit ‘exzentrischer Positionalität’ eine doppelte Relation: sich als solcher zu sich als einer Relation (der ‘Positionalität’) zu verhalten, sich darin selbst als ein ‘Selbst’ zu erfassen und insofern zugleich innerhalb und außerhalb seiner selbst zu stehen. Erst diese ‘Exzentrik’ der nicht auflösbaren ‘Positionalität’ aber ermöglicht (und erzwingt), sich und andere als ein ‘Selbst’ wahrzunehmen und sie darin aus aktuellen Aktionserfordernissen (‘Zentrik’) entlassen zu können: “von sich absehen und sich in ein anderes versetzen zu können” (Plessner 1983, VIII, 176). Während für Wesen zentrischer Positionalität daher die Relation von Zentrum und Umwelt nicht selbstveränderlich handhabbar ist, weil sie – selbst nur Moment der Relation – ‘feststehen’, müssen Wesen ‘exzentrischer Positionalität’ diese ‘Feststellung’ allererst vollziehen, weil sie sich als solche auf sich selbst beziehen können. Diese Doppelung aber ermöglicht nicht nur die Wahrnehmung anderer als ihrerseits auf sich selbst bezogener Wesen, sondern verunmöglicht zugleich die Kennzeichnung eines wie auch immer verstandenen ‘Wesens des Menschen’. Was zunächst aber als “Abstand in mir und zu mir” (Plessner 1983, VIII, 190) ausschließliche Folge eines reflexiven (und nicht bloß selbstreferentiellen) Selbstverhältnisses zu sein scheint – Plessner formuliert: der Mensch “lebt und erlebt nicht nur, sondern er erlebt sein Erleben” (Plessner 1981, IV, 364) –, wird von diesem ausdrücklich auch in sozialer Hinsicht erläutert: “Wenn ich mich als Mittelpunkt eines von meinem Leibe umschlossenen Innen, wie in einem Futteral steckend, erleben kann, undurchsichtig für andere in dem, was in mir vorgeht; wenn ich mich als Gefangenen meines Bewußtseins erleben kann, umschlossen von einem Horizont, der mit meinen Wahrnehmungen und Aktionen unübersteigbar, undurchbrechbar mitwandert, dann bin ich dieser Immanenz durch die Sprache enthoben. In ihr gibt es keinen solus ipse. Die Immanenz verliert sich als Möglichkeit nie, wird aber vor der Sprache
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zu einem bloßen Aspekt” (Plessner 1983, VIII, 178). So in sich selbst gebrochen kann der andere als anderes Selbst, als Anderer, der seinerseits selbstreflexiv auf sich als Relation zu anderem bezogen ist, wahrgenommen werden – mit der Folge, dass eigene Erwartungen vermeintliche Erwartungserwartungen anderer in Anschlag bringen müssen und wechselseitig bewusste ‘Rücksicht’ erzwingen: ‘ich weiß, dass Du weißt, dass ich weiß ...’. Damit aber sind (reflexive) ‘Distanz in sich zu sich’ und Sozialität als ebenso reflexive Anderenbezüglichkeit so ineinander verschlungen, dass weder das eine noch das andere als vorausgehende Bedingung oder resultierender Effekt des einen oder anderen verstanden werden können; vielmehr gilt: “Bei der Annahme der Existenz anderer Iche handelt es sich nicht um Übertragung der eigenen Daseinsweise, in der ein Mensch für sich lebt, auf andere ihm nur körperhaft gegenwärtige Dinge, also um eine Ausdehnung des personalen Seinskreises [...]. Daß der einzelne Mensch sozusagen auf die Idee verfällt, ja daß er von allem Anfang an davon durchdrungen ist, nicht allein zu sein und nicht Dinge, sondern fühlende Wesen wie er als Genossen zu haben, beruht nicht auf einem besonderen Akt, die eigene Lebensform nach außen zu projizieren, sondern gehört zu den Vorbedingungen der Sphäre der menschlichen Existenz” (Plessner 1981, IV, 375). Nur unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen aber, in denen der “Egozentrismus unseres Binnenaspekts” (Plessner 1983, VIII, 178) – so Plessner weiter – dominant praktiziert wird, kann die Sprache “zu einer Verabredung zwischen isolierten Individuen, zu einem contract social” (ebd.) degradiert werden (vgl. insgesamt Lindemann 1999). Die Folgerungen, die Plessner aus dieser doppelt relationalen Kennzeichnung der ‘exzentrischen Positionalität’ des Menschen zieht, sind weitreichend und revidieren insgesamt gängige anthropologische Selbstbeschreibungen. Gerade weder ein allzu harmonisch gedachtes ‘Sowohl-als-auch’ von Körper und Leib, Animalität und Reflexivität noch dessen unglückliches (aber traditionelles) Gegenstück einer unvermittelbaren Frontstellung von Instinkt und Bewusstsein, sondern die in der Analyse jeweiliger ‘Umweltverhältnisse’ sichtbar gewordene “Grenze” als einem “wirklichen Bruch seiner Natur” und einem “Hiatus” (Plessner 1981, IV, 365) markieren den Menschen: weder bloß im konkreten “Hier-Jetzt” noch im reflexiv-geistigen “Nirgendwo-Nirgendwann” ist er zugleich “in seine Grenze gesetzt und [...] über sie hinaus”, ohne ihr damit bereits entkommen zu sein. Endlichkeit ist unweigerlich Moment seiner “Grenzgesetztheit” (ebd. 364) – “außerhalb seiner selbst” in “Selbststellung” (ebd. 371) zu stehen und insofern nur als ‘anthropologische Differenz’ existieren zu können: nicht nur muss er sich “zu dem, was er schon ist, erst machen” (ebd. 383), so dass alles ‘Gegebene’ immer ein ‘Aufgegebenes’ ist (vgl. 384), sondern er kann sich gar nicht zu dem machen, was er zu sein sich vornimmt, und ganz als er selbst existieren. Exzentrizität – so Plessner später – heißt aber dann, dass “der Mensch, der einzelne, [...] nie ganz das [ist], was er ist” (Plessner 1983, VIII, 200): nicht nur, weil er sich zu sich verhalten muss und sich insofern auch immer anders verhalten kann, so dass er “für sich und andere [...] ‘wer’ ist” (ebd. 202) und auf kein ‘letztes Selbst’ als Fixpunkt reduziert werden kann, ist doch das, “als was und wen sich das Individuum versteht, [...] völlig offengelassen (ebd. 199); auch nicht nur, weil Selbstabstand gerade keine vermeintlich nachträgliche “Zerklüftung und Zerspaltung meines im Grunde ungeteilten Selbst” (ebd. 190) markiert; sondern vielmehr, weil “ein jeder ist, aber sich nicht hat” und “sich nur im Umweg über andere und anders als ein Jemand hat” (ebd. 195). Pointiert und ausdrücklich sozial dimensioniert: “Nur an dem anderen seiner selbst hat er – sich” (ebd. 203). Diese “Angewiesenheit des Menschen auf ein Gegenüber” (ebd. 213) aber ist nicht nur provisorischer ‘Entwicklungsdurchgang’; vielmehr gilt: nichts “hilft [...] über die keimhafte Spaltung hinweg, die das Selbstsein des Menschen, weil es exzentrisch ist, durchzieht, so daß niemand von sich selber weiß, ob er es noch ist, der weint und lacht, denkt und Entschlüsse faßt, oder dieses von ihm schon abgespaltene Selbst, der Andere in ihm” (Plessner 1981, IV, 372). Erst diese von Plessner als “spezifische Lebensstruktur” des Menschen erarbeitete ‘doppelte Relationalität’ als einem ‘Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält’ (Kierkegaard), “gibt das Recht, vom homo absconditus zu sprechen” (Plessner 1983, VIII, 357):
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“Die Verborgenheit des Menschen für sich selbst wie für seine Mitmenschen [...] ist die Nachtseite seiner Weltoffenheit. Er kann sich nie ganz in seinen Taten erkennen – nur seinen Schatten, der ihm vorausläuft und hinter ihm zurückbleibt, einen Abdruck, einen Fingerzeig auf sich selbst” (Plessner 1983, VIII, 359). In Erfahrung wie Anerkennung bleibend verwiesen an und auf Andere und anderes ist er sich selbst fremd, weil immer bereits ‘ent-äußert’ (vgl. Plessner 1983, VIII, 364). Es ist nur konsequent, dass Plessner ‘Selbstentfremdung’ als das “anthropologische Rückgrat des Marxismus” (ebd. 363) ausdrücklich negiert, wird doch darin die Möglichkeit einer “Heimkehr aus der Fremde” (ebd. 365) suggeriert; gegen jede “Romantik von Entfremdung und Heimkehr” (ebd. 366) akzentuiert er vielmehr: “der Mensch hat sich nie verlassen. Keine Art von Arbeit hat ihn je von sich entfremdet. [...] So kehrt denn der Mensch auch nie zurück” (ebd.). Nur für den Glauben gibt es daher ein ‘Zuhause’, aus dem aber der Geist unentwegt vertreibt und den Menschen von sich fort und über sich hinaus weist (vgl. Plessner 1981, IV, 425). Was aber anfänglich noch durchaus als substantiale Kenn- und Auszeichnung des Menschen und seiner Beschaffenheit gelesen werden kann und insofern den ohnehin unzähligen Selbstdefinitionen des Menschen nur eine weitere – die des ‘homo excentricus’ – hinzufügt, wird später methodologisch präzisiert und anders justiert: denn steht “jede dem Menschen zugeschriebene Wesensbestimmung unter Geschichtsverdacht” (Plessner 1983, VIII, 216), so “daß alles, was er aus sich macht, geschichtlichem Wandel unterliegt” (ebd. 217), dann muss die (anthropologische) Erkundung der Menschen zunächst auf die Kennzeichnung “gewisse[r] Anforderungen an das Verhalten” zielen und die “Bedingungen [...], denen der Mensch [...] unterworfen ist” (ebd.), erarbeiten, ohne dadurch wiederum zu “Invarianten der Natur” oder “gewissen Konstanten seines Verhaltens” (ebd. 216) gelangen zu können, die doch “immer wieder anders aussehen” (ebd. 217) werden. Ist aber solchermaßen das ‘Was’ des Menschen mit einem jeweiligen ‘Wer’ verknüpft, so gilt es darüber hinaus, beide Befragungen in die Frage nach dem ‘Wie’ des Menschen einzubetten, können doch weder das ‘Was’ noch das ‘Wer’ als ihrerseits unbedingte Fluchtpunkte zur Geltung gebracht werden. Damit aber wird die jeweilige Praxis der Unterscheidung zwischen Mensch und Nichtmensch bedeutsam; Aufgabe anthropologischer Reflexion ist es daher, sie reflexiv in den Blick zu nehmen und ihrerseits kritisch an sich selbst zurückzubinden (vgl. Lindemann 1999 wie auch 2001). In der Wiederaufnahme der alten Selbstfrage nach der ‘conditio humana’ verschiebt sich damit die üblicherweise eingenommene Perspektive einer Kennzeichnung der menschlichen Beschaffenheit zu einer Erkundung der Bedingungen der Menschen, so dass mit ‘exzentrischer Positionalität’ nicht deren Wesen oder Substanz gekennzeichnet, sondern die Form ihres jeweiligen ‘Sich-Verhaltens’ focussiert wird. Hannah Arendt hat diese konditionale Logik präzise formuliert: “Menschen sind bedingte Wesen, weil ein jegliches, womit sie in Berührung kommen, sich unmittelbar in eine Bedingung ihrer Existenz verwandelt” (Arendt 1981, 16); indem sie aber zwischen ‘Natur’ und ‘Bedingtheit’, zwischen Bedingungen als “Mitgift ihrer irdischen Existenz” und “selbstgeschaffenen Bedingungen” (ebd.) unterscheidet, wird deutlich, dass die jeweiligen Bedingungen gerade nicht festliegen, sondern in deren ‘Sich-Verhalten’ selbst eingebettet, insofern gestaltbar und veränderbar sind, ohne dass ein Ausstieg aus dieser ‘konditionalen Logik’ möglich wäre: ‘Natalität’, ‘Mortalität’ und ‘Pluralität’ wie auch ‘Weltlichkeit’ und ‘Lebendigkeit’ markieren konstitutive Strukturen (vgl. Arendt 1981, 18) menschlichen Existierens, nicht deren substantiale Festlegung. Als ‘was’ und ‘wer’ sich die Menschen selbstverstehen, ist insofern immer darin, ‘wie’ sie sich praktizieren, mit einverwickelt; damit aber sind Menschen auch sich selbst Bedingung und stehen ihrerseits auf dem Spiel: “Denn die Frage nach den inneren Bedingungen des geschichtlichen Werdens hat sich längst dahin radikalisiert: welches sind die Bedingungen der Möglichkeit menschlichen Seins?” (Plessner 1983, VIII, 140).
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Die von Plessner erarbeitete und immer wieder reformulierte und präzisierte Kennzeichnung der Menschen als einer ‘exzentrischen Positionalität’ kann wohl als paradigmatische Strukturformel gegenwärtiger Anthropologien gelten. Mit dem Begriff der ‘anthropologischen Differenz’ hat nun Dietmar Kamper (vgl. insbes. Kamper 1973) die mit (und von) Plessner eröffnete ‘anthropologiekritische’ Reflexionsbewegung präzisiert und in sowohl methodologischer als auch inhaltlicher Sicht zugespitzt: “Ein ‘Begriff’ vom Menschen, der die Unmöglichkeit eines (identifizierenden) Begriffs vom Menschen begrifflich nachweist, steht noch aus. Dies genau wäre der Inhalt der ‘anthropologischen Differenz’” (Kamper 1973, 26). So markiert das Konzept der ‘anthropologischen Differenz’ zunächst methodologisch die “Unabschließbarkeit der humanwissenschaftlichen Begriffsbildung” (ebd. 312), steht doch die Anthropologie “vor dem Problem, ein ‘Objekt’ zu verstehen, das sich selbst versteht oder schon immer verstanden hat” (ebd. 312). Ist aber das “‘Objekt’ der Humanwissenschaften zugleich ‘Subjekt’ dieser Wissenschaften”, so dass “der ‘Gegenstand’ der Anthropologie selbst Anthropologie betreibt” (ebd. 22), so kann ein ‘definiter’ Begriff vom Menschen aus dieser Doppelung heraus bereits methodologisch nicht formuliert werden. “Selbst jene humanwissenschaftlichen Ansätze, die von der menschlichen Offenheit und Nichtfestgestelltheit handeln, konnten nicht umhin, eine ‘schlüssige’ Theorie dieser Offenheit zu erarbeiten und diese Nicht-Festgestelltheit definitorisch festzustellen” (ebd. 26). Dieser ersten methodologisch begründeten ‘Differenz’ lässt sich auch im Vergleich von Mensch und Tier oder Mensch und Maschine nicht entkommen, weil es der Mensch ist, der vergleicht und – wenn auch zumeist nur implizit sich auf sich selbst beziehend – unterscheidet. Doch gilt es, das Konzept einer ‘anthropologischen Differenz’ auch inhaltlich zu reformulieren und damit die “Unabgeschlossenheit seines Selbstverständnisses” (ebd. 155) nicht nur reflexiv zu begründen. Vielmehr kann der Mensch – so Kamper – “nur als Relation zu anderen Menschen bestimmt werden” (ebd. 162), “weil der Mensch sich nur dann versteht, wenn andere ihn verstehen” (ebd. 154). Diese “‘Zugänglichkeit’ des Menschen durch andere und durch sich selbst” (ebd. 155) meint aber gerade nicht bloß nachträgliche Ansprechbarkeit und ‘Offenheit’, sondern konstitutive und insofern nichtauflösbare Bezogenheit und Angewiesenheit: “Der Mensch hat den Mittelpunkt seiner selbst freigegeben für das Geschehen der Differenz, das grundsätzlich ein soziales Geschehen ist: Dialog, Begegnung, Interaktion” (ebd. 165). ‘Anthropologische Differenz’ meint daher immer ein Doppeltes: methodologisch begründete ‘Offenheit’ und ‘Identifizierungsunmöglichkeit’ wie Ineinander von Selbst- und Anderenbezogenheit, von Subjektivität und Alterität. Erst aber diese doppelte Justierung der ‘anthropologischen Differenz’ verhindert, Exzentrizität – wie bisweilen praktiziert (vgl. kritisch Lorenz 1990, 109) – allein mit Reflexivität zu identifizieren, darin einseitig als Kompensation naturaler Mängel auszulegen und so eingewöhnte Selbstdeutungen einer ‘Doppelnatur’ fortzuschreiben. Denn weder lässt sich der Mensch als Animalität und dazu kommende Reflexivität (Tier plus x) noch als über Animalität hinausgehende und insofern konträr-besondernde Reflexivität (x statt Tier) beschreiben; vielmehr zielt die von Plessner entwickelte
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und inzwischen durchaus weit rezipierte Skizze einer ‘exzentrischen Positionalität’ auf eine Selbstauslegung “ohne Vergleichung und eigentliche Gegeneinandermeßung [als] seine [eigene] Art” (Herder 1891, V 94; vgl. Ricken 2000b, 436f. wie 447f.): weder bloß Additum noch Oppositum zu einer auch menschlich wie tierisch beobachtbaren Positionalität, sondern als Ineinanderfaltung zweier Relationen zu einer ‘Eigenart’, so dass – mit Herder formuliert – “mit dem Menschen [...] sich die Scene ganz” (Herder 1891, V 25) und ums Ganze ändert. Exzentrisch bezogen zu sein meint dann, mich auf meine Bezogenheit als solche beziehen zu können und in dieser ‘Gegenlage’ ebenso mich als ein ‘Ich’ wie andere als ein ebenfalls auf sich und andere bezogenes Verhältnis wahrnehmen zu können, ohne aber meine Bezogenheit (und darin situierte Perspektivität) dadurch aufheben und in (ent-subjektivierte) Objektivität verwandeln zu können. Entzogenheit – als Selbst- wie Anderenentzogenheit – ist daher die Struktur, in der Menschen sich gegeben und (als Gegebene) sich aufgegeben sind. Konsequent lässt sich daher das Konzept der ‘anthropologischen Differenz’ nur als doppelte Relationalität erläutern: als einander bedingende wie durchkreuzende Verhältnisse zu Natur, zu anderen als Anderen und zu mir selbst. Insbesondere in der dialogischen Erfahrung lässt sich deren jeweiliges Ineinander verdeutlichen, so dass das Selbst weder vorgängige noch nachgängige Entität außerhalb dialogischer Redeund Handlungszusammenhänge ist, sondern sich darin allererst ‘bildet’; bedeutsam ist darin die Wahrnehmung des anderen als eines Anderen, als eines auf sich selbst und andere bezogenen Selbsts, so dass das eigene Tun zugleich erlitten wird und zu einem “Sich-im-Anderen-Erkennen” (Lorenz 1990, 106) führt. Konkrete Verhaltensabhängigkeit und abstrakte Handlungsfähigkeit aber eröffnen erst im Ineinander einen Spielraum praktischer Bestimmung, so dass menschliches ‘Handeln’ immer aktive Selbstbestimmung und passives ‘Widerfahrnis’ (Kamlah) zugleich ist: eine Umund Neujustierung bisheriger Relationen – gegenüber Natur, Anderen und mir selbst. Bereits 1849 hat Kierkegaard diese Ineinanderfaltung als Struktur des ‘Selbst’ formuliert und damit der unvermeidbaren Situiertheit der Existenz Rechnung zu tragen versucht, so dass der Mensch weder bloß fremdgesetzt (und bestimmt) noch durch sich selbst gesetzt (und selbstbestimmend) ist: “Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das an dem Verhältnisse, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält [...], und, indem es sich zu selbst verhält, zu einem Andern sich verhält” (Kierkegaard 1992, 8f.). Ein solcher Ansatz, der Sozialität als konstitutive Bedingung und Moment von Individualität zu denken sucht, impliziert eine erhebliche kategoriale Umorientierung, die nur – wie angedeutet – als Abkehr von bisherig eingewöhnten individualitäts- und identitätstheoretischen Konzeptionen zu einem differenztheoretischen Denken beschrieben werden kann (vgl. exemplarisch Gamm 1994 wie 2000): Beziehungen lassen sich in dieser Hinsicht gerade nicht als bloßes Wechselspiel ihrer Elemente beschreiben [x Û y], sondern müssen als wechselseitige Konstitution und Einfaltung verstehbar gemacht werden [x(y) Û y(x), insofern jedes x immer ein x(y) und umgekehrt ist]. Ein Ausstieg aber aus Differenzen zugunsten fundierender Elemente und
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kausaler Linearität unterbietet die Komplexität wechselseitiger Einfaltung und Bedingtheit; Relationalität wird damit zur methodologischen Grundstruktur eines solchen Differenzdenkens. Erst diese Problemfassung zweier Differenzen als einem Zusammenhang aber macht den Weg frei, diesseits anthropologischer ‘Verankerungen’ in einem ‘Was’ und ‘Wer’ des Menschen zu fragen, “wie es ist, ein Mensch zu sein” (Pothast 1987, 43). Diese hier rekonstruierte konzeptionelle Umstellung der Reflexion auf ‘anthropologische Differenz’ als einer mehrfach dimensionierten und seinerseits irreduziblen Relation hat dabei nicht nur zu einer systematischen Neuverknüpfung zweier alter, bisweilig bloß nebeneinander gestellter Kennzeichnungen der Menschen – als eines ‘animal rationale’ bzw. ‘animal rationabile’ und eines ‘animal sociale’ – geführt (vgl. Lorenz 1990), indem (allzu oft bloß) ‘reflexiv’ gedachte Selbstbezüglichkeit (Subjektivität) und sozial dimensionierte Anderenbezüglichkeit (Alterität) als ein Ineinander zweier Differenzen rekonstruierbar werden; insbesondere Portmanns folgenreiche Prozessualisierung der Plessnerschen Strukturformel der ‘exzentrischen Positionalität’ im Theorem des ‘extra-uterinen Frühjahrs’ als Kennzeichnung der Menschen als einer ‘strukturellen Frühgeburt’ (vgl. Portmann 1956) hat die Perspektive einer “radikale[n] Soziabilisierung des menschlichen Lebewesens” (Fischer 2000, 124) nachdrücklich erzwungen. Vielmehr ermöglicht das Konzept einer ‘anthropologischen Differenz’ auch eine präzisierende Reformulierung der Intersubjektivitätsproblematik und den – machttheoretisch unverzichtbaren – konzeptionellen Ausgang aus bisher damit verbundenen Denkblockierungen. Während substanzlogisch das ‘Erscheinen des Anderen’ kein theoretisches Problem darstellte, sind doch ‘Ich’ und ‘Du’ von einem entweder impersonal (griechisch) oder personal (christlich) gedachten ‘Dritten’ umfasst und in ihm aufgehoben, ist dies bereits früh als ein stringent subjektlogisch nicht lösbares Problem bewusst geworden; alle Versuche, seit Hegels folgenreicher Transformation des Problems des Selbstbewusstseins in eines der Anerkennung – “Das Selbstbewusstsein ist an und für sich, indem und dadurch, daß es für ein Anderes an und für sich ist; d.h. es ist nur als ein Anerkanntes” (Hegel 1970, 145; vgl. Honneth 1992) – das ‘Mitsein’ als gleichursprünglich mit dem je eigenen ‘Selbstsein’ aufzuweisen, haben zu verschiedentlich problemverkürzenden Konzeptualisierungen geführt (vgl. Meyer-Drawe 1984): weder die bloße Setzung des anderen durch das sich selbst setzende ‘Ich’ (Fichte) und dessen dialektische Aufhebung in einem ‘Dritten’ (Hegel) noch die in Analogie zur Selbstauslegung phänomenologisch unternommene Konstruktion des anderen als eines ‘alter ego’ (Duplizität und Varietät) (Husserl; vgl. Schütz 1974, 137-197, bes. 156f.) und die daran anschließende Konzeption einer ‘transzendentalen Intersubjektivität’ erwiesen sich dabei als ein angemessener Zugriff und haben in ihrer methodologisch wie inhaltlich unternommenen ‘Vorordnung des Selbst’ konsequent jeweilige Gegenpositionen einer ‘Anderenvorordnung’ und ‘Selbstabwertung’ provoziert118. Bereits Feuerbachs frühe Intonierung solcher ‘Interexistentialität’ als einem “Geheimniß der Nothwendigkeit des Du für das Ich” (Feuerbach 1967, 111) – “Zwei Menschen gehören zur Erzeugung des Menschen – des geistigen so gut wie des physischen: die Gemeinschaft des Menschen mit dem Menschen ist das erste Princip und Kriterium der Wahrheit und
118 Zur Rekonstruktion des intersubjektivitätstheoretischen Denkens vgl. ausführlicher die ausführliche Studie von Theunissen 1977 wie auch die Arbeiten von Honneth 1992, 2003 wie schließlich jüngst Honneth 2005. Ergänzend sei hier wenigstens auf Düttmann 1997 wie Ricœur 2006 hingewiesen.
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Allgemeinheit” (ebd. 96) – markiert den damit einhergehenden kategorialen Umbau (vgl. Röhr 2000); er findet seine konsequente Fortsetzung in Bubers dialogischer Relationierung des nur vermeintlich monologischen Subjekts: “Es gibt kein Ich an sich, sondern nur das Ich des Grundworts Ich-Du und das Ich des Grundworts Ich-Es” (Buber 1984, 8). Insbesondere in den philosophischen Meditationen Lévinas’ findet dieser Blickwechsel seine radikale Zuspitzung: nicht nur ist das ‘Ich’ dem Anderen nachgeordnet, ihm unterworfen und darin allererst als ‘Ich’ ermöglicht; der Andere entzieht sich auch in seiner radikalen Andersheit jedem Versuch einer verstehenden Aneignung und markiert seinerseits eine irreduzible, nur ethisch aufnehmbare ‘Differenz’ zwischen ‘Phänomen’ und forderndem ‘Antlitz’ (vgl. Lévinas 1992), so dass – in letzter Konsequenz – jede ‘Selbstauslegung des Verstehenden’ auf gerade nicht einholbaren, insofern in sich immer gebrochenen ‘Akten des Fremdverstehens’ gründen muss. Dieser Theoriefiguration aber, in der sich Subjektivität (bzw. Identität) und Alterität in ihrer jeweilig ausschließlich beanspruchten fundierenden Funktion oppositional gegenüber stehen und einander blockieren, weil weder Selbstbezogenheit auf Anderenbezogenheit noch umgekehrt Anderenbezogenheit auf Selbstbezogenheit bruchlos zurückgeführt werden kann, lässt sich durch die ‘Komplettierung’ einer bislang überwiegend dyadisch gedachten ‘Intersubjektivität’ (symmetrisches ‘Ich-Du’ (Buber) und asymmetrisches ‘Ich-Anderer’ (Lévinas)) durch die Einführung der Figur ‘des/der Dritten’ entkommen (vgl. exemplarisch Fischer 2000). Erst die Berücksichtigung ‘des/der Dritten’ und deren Erhebung zu “kategorialem Rang” (Fischer 2000, 104) erlaubt die präzisierende Neujustierung bisheriger Sozialanthropologie als eines dreidimensionalen Geschehens, denn ‘der/die Dritte’ bezeichnet gerade nicht einen weiteren anderen, der neben den Anderen als Repräsentation der ‘Vielen’ tritt, sondern markiert neben der ‘Selbstposition’ des ‘Ich’ und der ‘Alteritätsposition’ des ‘Du’ die weitere Position einer ‘fremden Zugehörigkeit’ (‘Alienitätsposition’) (vgl. Turk 1990, 10f.), die nicht mit der ‘Objektposition’ der Dinge (‘Es’) zusammenfällt und die Thematisierung von und in ‘Abwesenheit’ erlaubt (‘Er’ oder ‘Sie’). “Der Dritte ist der Kniff zwischen Identität und Alterität und Alterität und Pluralität” (Fischer 2000, 125); mit ihm verwandelt sich das intersubjektive Szenario ums Ganze: als ‘Dritte/r’ ist er/sie nicht nur ein weiterer Anderer für mich, sondern auch Anderer des Anderen und insofern mir Fremder, der mich in meiner Bezogenheit zum Anderen stört und aus ihr vertreibt. Während das ‘Auftreten des Anderen’ Dezentrierung des Selbst und dessen ‘Veranderung’ als Bezogenheit wie Entzogenheit meint, indem ich mich – durchaus noch wechselseitig – als Bewusstsein eines Anderen weiß, das ich nicht wissen kann (und insofern auch umgekehrt), bedeutet das ‘Erscheinen des/der Dritten’ “das bewußte Erfassen des Füreinander zweier Wesen” (Fischer 2000, 127) – ohne mich: ich bin nicht mehr nur Beobachter eines anderen Blickes (auch auf mich), den ich nicht einzunehmen vermag, sondern – bisweilen ‘lachender’, bisweilen ‘ausgeschlossener’ Dritter (vgl. Scharmann 1959) – Beobachter einer fremden, gerade nicht an mich selbst gebundenen Zugehörigkeit. Erst diese “triadische Urszene” (Fischer 2000, 127) aber lässt den Zusammenhang von reflexiv und sozial gedachter ‘anthropologischer Differenz’ – und damit die Möglichkeit ‘exzentrischer Positionalität’ – nachvollziehen, indem der ‘Blick des Dritten’ den “Zuschauer in mir herausdreht” (ebd. 128) und mich eine “neutrale Sicht in mir auf mich bezüglich meiner selbst einnehmen” (ebd.) lässt: als einer unter anderen potentiell überflüssig, im Vergleich mit anderen missfallend oder gar störend, marginal und nicht mehr zugehörig. Im ‘Dritten’ wird daher nicht nur die paradoxe Vorstellung einer ‘Welt auch ohne mich’ greifbar; mit ihm konstituiert sich auch das ‘Feld der Macht’, indem es aus unbedingter Anderenbezogenheit partiell austreten und diese – exemplarisch im ‘Dreiecksverhältnis’ – partikular wählen lässt, ‘Freund-Feindverhältnisse’ (Schmitt 1987) schafft und Strategien der Produktion von ‘Sündenböcken’ (Girard 1988) nahelegt, um der ‘Ausstoßung des/der Dritten’, der ja auch ich selbst sein könnte, zuvor zu kommen. ‘Der/die Dritte’ zwingt nicht nur zur immer ungerechten Generalisierung (vgl. Lévinas 1992, 343ff.), sondern spitzt die bisweilen allzu ‘koexistentiell-friedlich’ gedachten philosophischen Begriffe wie ‘Begegnung’, ‘Dialog’ und ‘Kommunikation’ machttheoretisch zu, geht es doch in
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aller Bezogenheit nicht nur um Politiken der ‘Anerkennung’, sondern immer auch der ‘Aberkennung’, ‘Verachtung’ und ‘Vernichtung’ (vgl. Margalit 1999). Insbesondere Todorov hat in seinem ‘Versuch einer Allgemeinen Anthropologie’ (vgl. Todorov 1998) diesen intersubjektivitätstheoretischen Problemaufriss als Leitfaden aufgenommen und die “Geselligkeit” der Menschen als etwas nicht “Unwesentliches oder Zufälliges”, sondern als “Grundbestimmung der Conditio Humana” (ebd. 26) zu erläutern unternommen; in ausdrücklicher Gegenstellung zur neuzeitlich-modern etablierten Selbstkennzeichnung der Menschen als (auf sich und in sich zentrierten) Subjekten ihrer selbst entwirft er sein anthropologisches ‘Panorama’ gerade nicht entlang (ausschließlich) besondernder Vernunft- und Sprachfähigkeit (‘animal rationale’), sondern entlang Anderenbezogenheit und Anerkennung als den Fäden seiner Argumentation: nicht nur findet sich keiner außerhalb menschlicher Beziehungen vor, in die er allererst einträte, so dass ‘Robinsonaden’ zwar immer wieder verführerisch ausgelegt, nicht aber triftig konzipiert werden können; vielmehr – so Todorov – sei “das Bedürfnis nach Anerkennung [...] das konstitutive Faktum”: “Das Humane beginnt dort, wo sich die ‘biologische Begierde nach Erhaltung des Lebens’ der ‘menschlichen Begierde nach Anerkennung’ unterordnet” (ebd. 34). “Ursprüngliche” und “konstitutive Unvollständigkeit” (ebd. 48) der Existenz ist aber Grund der Anerkennungsproblematik; sie lässt sich gerade nicht ausfüllen und auflösen: “unsere Unvollständigkeit ist nicht nur konstitutiv, sondern auch unheilbar” (ebd. 106).
Eine solchermaßen anvisierte doppelte Relationalität – pointiert als ein ‘Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält’ (Kierkegaard) formulierbar – lässt sich jedoch nur dreidimensional erläutern: nicht nur ist das, was gegeben ist, jeweilig immer aufgegeben, so dass jede vermeintliche Objektivität auf sie konstituierende Subjektivität bezogen bleibt (mit John Irving literarisch eingängig formuliert: ‘The World according to Garp’) und diese sich auch als (bejahende oder negierende) Zuwendung zum eigenen Leben unweigerlich zum Ausdruck bringt; kann aber auch Subjektivität ihrerseits nicht als ungewordene, unbedingte, sondern nur als ihrerseits bedingte, befristet endliche wie sozial situierte und auf andere angewiesene zur Geltung gebracht werden, so ist diese selbst – in ihrer Gewordenheit wie Angewiesenheit auf Andere (und Dritte) wie anderes – sich immer auch fremd, in sich gebrochen und entzogen. Dieses Moment der Entzogenheit aber verwirrt als ‘Unbestimmtheitsrelation des Selbst’ (vgl. Gamm 2000) die geläufige ‘Antithetik’ von Subjektivität und Objektivität und ließe sich in erfahrungs-, anerkennungs- wie machttheoretischer Hinsicht erläutern: nicht nur lässt sich im Umgang mit dem, was ich nicht bin, das ‘Ich’ gerade nicht herausrechnen (Subjektivität), weil es seiner selbst in seiner Gewordenheit auch durch die ‘Dinge’ nicht ansichtig zu werden vermag, so dass die unverzichtbare Abstraktion einer gewissermaßen ‘intuitiven Objektivität’ – als einem nur sozial vermittelten Gegenhalt gegen Phantasterei – gerade nicht vermeintliche ‘Sachlichkeit’ (Weber), sondern immer auch paradoxe Ahnung einer ‘Wirklichkeit auch ohne mich’ ist; aber auch im Bezug des ‘Ich’ auf sich selbst sind die Blicke der Anderen für mich ebenso konstitutiv wie auch strukturell unzugänglich, so dass das ‘Ich’ sich immer auf andere verwiesen sieht und sich allererst von diesen her erlernt, ohne aber deren Position als Andere überhaupt einnehmen zu können (Alterität). Insofern führt die ‘Unausdeutbarkeit des Selbst’ (Gamm) immer auch in ‘Kämpfe des Anerkennens’, die auch die paradoxe Illusion nähren, in der Aneignung und Bemächtigung des Anderen als einem verfüg-
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baren anderen der eigenen Selbstentzogenheit und Nichtzugehörigkeit (Alienität) irgendwie Herr werden zu können. Im Durchgang der hier entwickelten anthropologischen Argumentation zeigt sich die im ‘anthropologischen Zirkel’ zunächst methodologisch interpretierte ‘anthropologische Differenz’ auch als Thema menschlicher Selbstauslegungen: Menschen leben nicht nur ‘anthropologisch’, so dass in (allen) kulturellen Praktiken immer auch Momente der Selbstverständigung, des Streits als Auseinandersetzung wie Neuinbezugsetzung, agiert werden; sie gehen darin auch immer thematisch mit ihrer ‘anthropologischen Differentialität’ um. Aufgabe einer ausdrücklich anthropologisch justierten Reflexion ist daher nicht nur die Reklamation einer grundsätzlichen ‘Zweidimensionalität’ gegen verobjektivierende (und identifizierende) ‘Eindimensionalität’ (Marcuse), lässt sich doch – mit Habermas formuliert – das “Sein des Menschen” nicht abtrennen “von dem Sinn, zu dem er sich versteht” (Habermas 1973, 90); vielmehr geht es um die Markierung derer ‘Dreidimensionalität’, die sowohl Selbst-, Sozial- und Naturdimension als auch Zeitdimension strukturiert: Menschen sind sich als ‘Vorübergang’ nicht nur gegeben und aufgegeben (vgl. Habermas 1973, 105), sondern sich darin immer auch entzogen, so dass keiner der drei Momente ohne die beiden anderen plausibel expliziert werden kann. Der damit umrissene ‘Zirkel’ anthropologischer Reflexionen lässt sich dabei zu keiner seiner Momente auflösen; vielmehr legt die damit in Gang gesetzte Bewegung allererst den (nicht fundierenden) ‘Grund’ solcher nicht abschließbarer Selbstbefragung frei, indem – sowohl gegenstandstheoretisch als auch methodologisch – ‘naturale Verfassung’, ‘kulturale Gestaltung’ und ‘anthropologische Selbstverständigung’ als ein zusammenhängender Fragekomplex aufgenommen werden und an die jeweilige ‘Unausdeutbarkeit’ und Selbstentzogenheit angeschlossen werden: Menschen leben ‘anthropologisch’, weil sie in der (auch reflexiven) Gestaltung der Differenz zu anderem sich auch in Differenz zu sich selbst stellen müssen und insofern auf Selbstdeutung qua Sinnbildung in symbolischen Ordnungen angewiesen sind, ohne damit jedoch in eine ‘echte Gegenlage’ (vgl. Plessner 1981, IV, 382) – zu sich und anderen wie anderem – eintreten zu können. Zwar lassen sich soziale und kulturelle Praktiken daher nicht ohne einen Bezug auf ein jeweiliges ‘Sich’ rekonstruieren, so dass Selbstreferentialität nie bloß nachträgliche Folge, sondern immer auch deren konstitutives Moment ist; doch bietet auch diese in ihrer jeweiligen Bedingtheit und Gewordenheit keine Ausstiegsmöglichkeit. Theoriestrategisch folgert daraus zweierlei: weder lässt sich “Anthropologie als Grundwissenschaft” (Dux 1998) etablieren, weil der Zusammenhang von Selbstverständnissen, Denkweisen und Praktiken nicht linear auflösbar ist, so dass kein ‘Erstes’ sich ausmachen lässt, noch aber ist auch ein Aufwachen aus dem ‘anthropologischen Schlaf’ (vgl. Foucault 1971, 410ff.), in dem sich der Mensch als unbedingtes ‘fundamentum’ nur erträumt, als ‘Ausstieg’ in ein kategoriales ‘Jenseits’ – der Sprache, der Struktur oder des Systems – möglich. Solchermaßen einverwickelt erinnert anthropologisches Denken nicht nur an die Unumgänglichkeit des ‘anthropologischen Zirkels’, der es nicht erlaubt, ‘den Menschen’ als fundierenden kulturwissenschaftli-
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chen Grundbegriff anzusetzen noch auf ihn gänzlich verzichten zu können; diesseits dieser schiefen Alternativen etabliert es vielmehr ein relationales Denken, das sich seiner eigenen Bedingtheit und Partikularität bewusst bleibt, ohne diese wiederum von einer abtrennbaren und isolierbaren Grundlage aus positivieren zu können. Lässt sich aber Anthropologie weder fundamental noch gar nicht betreiben, so ist sie nur ‘pragmatisch’ möglich (vgl. Böhme 1985, 7-14)119 und damit bleibend auf die jeweiligen lebens- und alltagsweltlichen Praktiken und Vorstellungen der Menschen ‘über sich’ bezogen (vgl. Peukert 1978, 114ff. wie 160ff.). An sie anzuknüpfen, in sie – analytisch diskursiv – einzugreifen und durch sie hindurchzustoßen ist die Funktion eines anthropologisch dimensionierten Denkens, das seines eigenen ‘metaphorischen Charakters’ weder grundbegrifflich noch methodologisch zu entkommen vermag (vgl. Blumenberg 1997); vielmehr ist dieser paradigmatischer Ausdruck eines situierten Denkens (vgl. Meyer-Drawe 1999a) und unvermeidbares “Korrelat der Anthropologie eines Wesens, dem Wesentliches mangelt” (Blumenberg 1981, 124). (c) Die hier im Rückgriff auf Plessners Formel der ‘exzentrischen Positionalität’ entworfene Perspektive der ‘anthropologischen Differenz’ (Kamper) als Kennzeichnung der Struktur anthropologischer Reflexionen wie der anthropologischen Problematik selbst bietet nun einen systematisch fruchtbaren Rahmen zu einer anthropologisch unternommenen Reinterpretation der Frage der Macht: nicht nur, weil Sozialität (und mit ihr grundsätzliche Beeinflussbarkeit, Angewiesenheit und Verwiesenheit) – mit Selbstreferentialität und Selbstreflexivität verknüpft – als zentrale Struktur der menschlichen Verfasstheit aufgewiesen werden konnte; auch nicht nur, weil die Genese des Selbst als Genesis vom Anderen beschrieben und konzeptualisiert werden konnte; sondern auch, weil – in aller ‘Gegebenheit’ und längst zugestandener ‘Aufgegebenheit’ – dabei eine prinzipielle Brechung und Gebrochenheit der Menschen sichtbar gemacht werden konnte, die mit ‘Entzogenheit’ gekennzeichnet wurde und nun als systematischer Ort des Problems der Macht verstehbar gemacht werden kann. In seinen verschiedenen Überlegungen zu einer “politischen Anthropologie” (Plessner 1981, V, 140) – insbesondere den beiden bereits 1924 bzw. 1931 publizierten Schriften über die ‘Grenzen der Gemeinschaft’ (vgl. Plessner 1981, V, 7-133) wie über ‘Macht und menschliche Natur’ (vgl. Plessner 1981, V, 135-234) – hat Helmuth Plessner selbst einige Elemente einer solchen anthropologischen Reflexion der Macht vorgelegt. Ihr leitender Grundgedanke ist dabei die immer wieder formulierte Überzeugung, dass der “Kampf um Macht [...] zum Wesen des Menschen” (Plessner 1981, V, 139) gehört, so dass die “politische Sphäre” – wie vielfach unterstellt – gerade nicht “Ausdruck seiner Unvollkommenheit” ist, deren “Überwindung, wenn sie auch vielleicht nicht faktisch gelingen kann, durch die Ideale einer wahren Humanität 119 Die Nähe zu Kants ‘Anthropologie in pragmatischer Hinsicht’ (1798) ist unübersehbar und mag zugleich als Abgrenzung dienen: während Kant in seiner “Lehre von der Kenntnis des Menschen” zwischen ‘physiologischer Hinsicht’, der es um die Frage geht, “was die Natur aus dem Menschen macht” (Kant 1956, VI, 399), und “pragmatischer Hinsicht”, die auf die Frage zielt, “was er, als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll” (ebd.), unterscheidet, um sich dann recht bald vernunfttheoretisch einseitig allein mit letzterer zu beschaffen (vgl. Riedel 1994), markiert ‘Pragmatik’ hier ein Doppeltes: einerseits – zeichentheoretisch – als Kennzeichnung der Veknüpfung von jeweiligen Anthropologien und konkreten Betreibern und ‘Zeichenbenutzern’, andererseits – alttagsbegrifflich – als Markierung einer ‘mittleren Reflexionsebene’ zwischen ‘Fundamentalität’ und ‘Unmöglichkeit’.
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[...] gefordert ist” (ebd. 143); vielmehr geht es Plessner in seiner “Genealogie [des] politischen Lebens aus der Grundverfassung des Menschen” (ebd. 140) insbesondere darum, die Unmöglichkeit wie auch Gefährlichkeit einer letztlich apolitischen Utopie der Macht- wie Politikfreiheit (bzw. derer Geringschätzung) nachzuweisen und das dieser Illusion zugrundeliegende ‘Theorem der Zurückholbarkeit des Menschen aus der Entfremdung’ (vgl. Plessner 1983, VIII, 365 wie auch 1981, V, 60f.) – als der unterstellten Bedingung der Möglichkeit harmonischen Existierenkönnens jenseits aller Machtproblematik – einer scharfen Kritik zu unterziehen. Zentraler Focus seiner Überlegungen ist dabei eine (gerade nicht äußerliche) Verknüpfung des Theorems der ‘exzentrischen Positionalität’ mit der politischen Problematik, die Plessner mithilfe des sowohl methodologisch als auch inhaltlich justierten Gedankens der “Unergründlichkeit des Menschen” (Plessner 1981, V, 161) vornimmt: was ‘der Mensch’ ist, “muß offenbleiben” (ebd. 161), weil sich – zum einen – auch methodologisch ‘kein Fundament’ einer solchen Selbstbetrachtung auffinden lässt: “Auch die Anthropologie liefert es nicht” (ebd. 141); zum anderen auch inhaltlich, “weil wir nicht wissen, wessen der Mensch fähig ist”, lässt sich doch – gewissermaßen vorab und ungeschichtlich – gerade “die Möglichkeit zum Menschsein, in der beschlossen liegt, was den Menschen allererst zum Menschen macht” (ebd. 161), gerade nicht bestimmen. Doch lässt sich auch ‘Unergründlichkeit’ nicht als anthropologisches ‘definiens’ der menschlichen Natur verstehen, kennzeichnet es doch weder dogmatisch deren Substanz noch subjekttheoretisch die Bedingung der Möglichkeit menschlicher “Selbstmacht” (ebd. 164); vielmehr muss sie als Struktur anthropologischer Reflexionen strikt geschichtlich gelesen werden: “Historisch begreifen heißt infolgedessen am Ende sich selbst und seine Welt als aus der Macht vergangener Generationen geworden erkennen und damit die eigene Gegenwart in der Breite ihrer sämtlichen Dimensionen auf das sie aufschließende menschlichen Verhalten zurückführen” (ebd. 182). Anthropologisch rückgewendet heißt dies für Plessner: “Das Prinzip der Verbindlichkeit der Unergründlichkeit ist die zugleich theoretische und praktische Fassung des Menschen als eines historischen und darum politischen Wesens” (ebd. 184). Plessner verknüpft diesen anthropologischen Grundgedanken der ‘exzentrischen Positionalität’ mit der Problematik der Macht dabei in viererlei Hinsichten: als ‘Nichtfestgelegtheit’ ist sie erstens Bedingung der Möglichkeit, sich selbst handelnd festzulegen und jeweilig als ‘ein Mensch’ allererst hervorzubringen, so dass die Wahrheit jeweiliger Menschenbestimmungen “nur durch die Geschichte selbst erhärtet werden” (ebd. 191) können; Diltheys Satz – “Was der Mensch ist, sagt nur die Geschichte” (Dilthey 1914, IV, 529) – lässt sich daher doppelt lesen, kennzeichnet er doch den Zusammenhang, “geschichtsbedingend” wie “durch die Geschichte bedingt” (Plessner 1981, V, 190) zu sein. Es ist eben diese “Relation der Unbestimmtheit zu sich”, in der “sich der Mensch als Macht” (ebd. 188) fasst und sich theoretisch wie praktisch “als offene Frage” (ebd.) entdeckt; Macht ist daher als “Selbstmacht” (ebd. 164) Ausdruck seiner – allerdings nicht uneingeschränkten, sondern immer situierten – ‘Weltoffenheit’. Dieser Zugriff bietet nun zweitens die politisch dimensionierte Möglichkeit, in der Bestimmung der ‘Grenzen der Gemeinschaft’ (vgl. Plessner 1981, V) der vollständigen Einbindung (und Festlegung) der Menschen in eine organisch begründete ‘Bluts’- oder sachlich fundierte ‘Werte’-Gemeinschaft mit Verweis auf deren jeweilige ‘Doppelexistenz’ zu widersprechen, unterbietet doch eine jede Festlegung des Menschen durch definierte Zugehörigkeit (vgl. ebd. 58) die “hinter jeder Bestimmtheit unseres Seins schlummern[den] unsagbaren Möglichkeiten des Andersseins” (ebd. 63); weil aber “in Wirklichkeit” die Zugehörigkeitsforderungen der Gemeinschaft “nie voll erfüllt” werden können (ebd. 59), muss diese daher immer auch als Instrument sozialer Disziplinierung verstanden werden. Doch zielt Plessner in seiner Kritik der Gemeinschaft nicht nur auf den Punkt, “wo Gemeinschaft unerträglich und würdelos ist” (ebd. 57); vielmehr sucht er – drittens – den Hintergrund der immer wieder beobachtbaren Attraktivität von ‘Gemeinschaft’ in einer sozialtheoretischen Interpretation der ‘exzentrischen Positionalität’ genauer zu bestimmen: nur ‘außer sich in sich’
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zu sein heißt dann auch, dass “jemand [...] nur etwas in der möglichen Anerkennung durch andere” ist (ebd. 83), “denn unter nichts leidet die Seele so wie unter dem Nichtbeachtetsein” (ebd. 64). Doch ist ‘Beachtung’ ihrerseits – so Plessner eindrücklich – ein zweideutiges Geschehen: zwar “sehnt” sich die Seele “danach, gesehen und gewürdigt” zu werden (ebd. 64), doch ist jedes Verstehen immer auch “Nichtverstehen”, “Verfehlen und Treffen” (ebd.) zugleich: “ein treffendes Urteil trifft uns, verletzt uns ebensosehr als ein falsches. Getroffen, sehen wir uns, im eigenen oder fremden Blick, vereinseitigt und festgelegt” (ebd.). Nur konsequent folgert Plessner weiter: die “Seele zieht sich zurück, um nicht gesehen und getroffen zu sein” (ebd.), so dass “Drang nach Offenbarung” und “Geltungsbedürftigkeit” wie “Drang nach Verhaltung” und “Schamhaftigkeit” (ebd. 63) unauflöslich nebeneinander bestehen und ihre “wesenhafte Zweideutigkeit” (ebd. 64) ausmachen; aus ihr führt kein Weg heraus, “weder die Flucht ins Urteil noch die Flucht vor dem Urteil. Mißdeutbarkeit ist ihr Schicksal” (ebd.), so dass sich die Seele schließlich danach sehnt, “aus eigener Zweideutigkeit zur bestimmten Form, zum festumrissenen Charakterbild gebracht zu werden” (ebd.). “Das Individuum” – so Plessner den Gedanken weiter entfaltend – “muß zuerst sich eine Form geben, in der es unangreifbar wird, eine Rüstung gleichsam, mit der es den Kampfplatz der Öffentlichkeit betritt. Auf solche Art sichtbar geworden, [...] verzichtet er auf sein Beachtet- und Geachtetwerden als Individualität, um wenigstens in einem stellvertretenden Sinne, in einer besonderen Funktion, repräsentativ zu wirken und geachtet zu sein. [...] Der Mensch verallgemeinert und objektiviert sich durch eine Maske, hinter der er bis zu einem gewissen Grade unsichtbar wird, ohne doch völlig als Person zu verschwinden” (ebd. 82)120. Plessners detaillierte Studien zum ‘Kampf ums wahre Gesicht’ wie den daraus folgenden ‘Wegen der Unangreifbarkeit’ lassen sich als anthropologische ‘Miniaturen’ der Anerkennungsproblematik lesen und belegen phänomenal eindrücklich die Verstricktheit und Ausweglosigkeit radikal gedachter sozialer Existenz, so dass jeweilige Lebensführungen und ‘Führungsführungen’ voneinander nicht getrennt werden können. Plessner nimmt schließlich viertens diese sowohl selbstreferentiell und (selbst)reflexiv als auch sozial interpretierte ‘exzentrische Positionalität’ der Menschen ausdrücklich als Struktur wie Thema der Problematik der Macht auf, indem er die aus der “wesenhaften Inkongruenz” (ebd. 199) der Menschen resultierenden Phänomene der “Unsicherheit” (ebd. 191), “Bodenlosigkeit” (ebd. 206) und “Gewagtheit und Bedrohtheit” (ebd. 198) mit der Etablierung von ‘FreundFeind-Verhältnissen’ verknüpft: nicht nur kann der Mensch in keiner möglichen Selbstbestimmung aufgehen und ‘sich’ verwirklichen; vielmehr muss er “seinen eigenen Lebenssinn” immer “im Kampfe (d.h. gegen das Fremde)” (ebd. 191) erringen, “gegen ein Fremdes sein Eigenes sichernd” (ebd. 196). Es ist diese Kehrseite der ‘Weltoffenheit’ – nur am anderen seiner selbst sich selbst haben zu können –, die nicht nur “ineins mit dem Vorgriff ins Unbekannte die Sicherung gegen das Unbekannte” (ebd. 198) verlangt, sondern auch ihrerseits nahelegt, in konkreten ‘Freund-Feind-Verhältnissen’ (vgl. ebd. 191 u.ö.) zu agieren und immer wieder zwischen Vertrautheit und Fremdheit zu scheiden, wissen doch die Menschen “um die Gefährlichkeit dieser ‘vie expérimentale’” und die “Zerbrechlichkeit ihrer sozialen, ethnischen, ökonomischen Basis” (ebd. 219). Ausdrücklich betont Plessner aber deren anthropologische Justierung: “Die Freund-Feind-Relation wird hier vielmehr als zur Wesensverfassung des Menschen gehörig begriffen, und zwar gerade dadurch, daß eine konkrete Wesensbestimmung von ihm abgehalten, er als offene Frage oder Macht behandelt wird” (ebd. 192, vgl. auch 231). Damit schließt sich der von Plessner beschrittene Gedankenkreis, werden doch Macht als ‘Selbstmacht’ aus Nichtfestgestelltheit und als ‘Ohnmacht’ verknüpft; auch wenn ihr Verhältnis 120 Plessners Verständnis der ‘Maske’ ist dabei durchaus ambivalent, markiert es doch sowohl eine Form der (zu Zwecken der Schonung unternommenen) Verbergung als auch die Weise des Sich-Zeigens überhaupt; vgl. dazu auch die obigen Überlegungen zu Foucault wie ausführlicher Meyer-Drawe 1991 und Fischer 2002. Zur durchaus feststellbaren Nähe von Foucault und Plessner vgl. Arlt 1996, 100, 105 wie auch 116-119, 124-126.
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als weder fundierend noch dialektisch verstanden werden kann (vgl. ebd. 225), ist ihr Zusammenhang kaum negierbar: “In seiner Macht”, so Plessner, “scheint der Mensch also auf seine Ohnmacht [...] durch” (ebd. 226). Plessners daraus resultierendes ‘Lob’ der Diplomatie und des Taktes wie seine – den ‘Willen zur Macht’ einbindenden – Mahnungen einer ‘Pflicht der Macht’ (vgl. ebd. 130) als konkreten Gestaltungen des ‘Spielraums’ des Politischen müssen in ihrer deutlichen Kritik der ‘Direktheit der Gemeinschaft’ (vgl. ebd. 27) als – wenn auch keinesfalls eindeutiges – Plädoyer für die “Unaufhebbarkeit der Öffentlichkeit” (ebd. 55) gelesen werden, die als ‘politische Sphäre’ zum Schutz der ‘Zweideutigkeit der Menschen’ und ihrer wechselseitigen ‘Schonung’ unabdingbar ist; nur sie bewahrt vor einer ‘Tyrannei der Intimität’ (Sennett) und ermöglicht durch “Verhaltenheit” (ebd. 130) den “geselligen Verkehr”, “weil sie nie zu nahe noch auch zu ferne kommen läßt” (ebd. 107). Bedeutsam aber ist, dass ‘Öffentlichkeit’ und politische Gestaltung derselben auch programmatisch durch das Theorem der ‘exzentrischen Positionalität’ strukturiert werden: gilt zunächst für “alles Psychische”, dass es “diesen Umweg, um zu sich zu gelangen” braucht und es sich nur gewinnen kann, “indem es sich verliert” (ebd. 91), so ist auch ‘Öffentlichkeit’ als politische Sphäre des Widerstreits insbesondere vom “Verzicht auf die Vormachtstellung des eigenen Wert- und Kategoriensystems” (ebd. 185) geprägt und durch diesen allererst ermöglicht. Diese “Durchgegebenheit in das Andere seiner Selbst im Kern des Selbst” (ebd. 231) und die damit verbundene Akzentuierung des ‘Fremden im Eigenen’ widerspricht aber eklatant der von Plessner bisweilen nicht bloß analytisch formulierten und insbesondere von Carl Schmitt entlehnten Formel ‘unvermeidlicher Freund-Feind-Verhältnisse’ (vgl. ebd. 191), legt diese – trotz einer Kennzeichnung der jeweiligen Relativität aller Grenzziehungen (vgl. ebd. 194) – doch sowohl individuell als auch politisch nahe, die Fragwürdigkeit und Entzogenheit der eigenen Identität als Ausgrenzung des Anderen als dem Feindlichen und als damit verknüpfte Selbsteingrenzung in das Vertraute, kurz: als “Kampf [...] gegen das Fremde” (ebd. 191) zu praktizieren (vgl. ebd. 192ff.). Was aber noch 1924 in der Frage nach einer möglichen Unvermeidlichkeit von “Gewaltmitteln als Schutzmitteln der Distanz und Verhaltenheit” (ebd. 132) nur angedeutet wurde und (vielleicht noch) im Kontext seiner Kritik der Gewalt – als einem “Verbrechen, statt der Logik des Spiels, die nackte Gewalt anzuwenden” (ebd. 106) – gelesen werden konnte, wandelte sich bereits 1931 in eine nun ausdrückliche “Haltung von politischer Entschlossenheit” (ebd. 219), die nicht nur dem Schmittschen Dezisionismus weit näher stand, als es aus heutiger Perspektive möglich und wünschbar scheint (vgl. exemplarisch ebd. 141), sondern auch die ‘physische Tötung des Fremden’ (vgl. Schmitt 1987, 27-37, insbes. 33) mindestens nicht ausdrücklich ausschloss und insofern durchaus auch einkalkulierte (vgl. Plessner 1981, V, 133). Mag Plessners unmissverständliche Kritik des ‘politischen Liberalismus’ als einer untauglichen Orientierung “in einer Epoche, in der die Diktatur eine lebendige Macht geworden ist” (ebd. 141), vielleicht noch aus ihrem Kontext einleuchten, so kann die von ihm – bis heute kommentarlos wiederveröffentlichte – Kennzeichnung der der “Bodenlosigkeit des Seienden” entsprechenden “bestimmte[n] Haltung in und zum Leben” (ebd. 218) kaum “ohne ein Gefühl wachsender Beklemmung” (Honneth 2002, 27) gelesen werden: “Eine Haltung von politischer Entschlossenheit, welche die Abhängigkeit ihrer selbst von der Sprache und ihrer Weltgeltung, von einem bestimmten Wohlstand der sie weitertragenden Schichten, von der ganzen Lage ihres Volkes, das zu dieser Tradition als seiner Vergangenheit bluthafte Affinität besitzt, ständig im Auge behält und darum entschlossen ist, das Dasein ihrer Nation im geistigwerktätigen, im wirtschaftlichen, im boden- und siedlungspolitischen Vorgriff mit allen geeigneten Mitteln zu verteidigen” (Plessner 1981, V, 219)121. 121 Die damit hier nur angedeutete Diskussion des Verhältnisses von Schmitt und Plessner ist gegenwärtig heftig umstritten und bedarf weiterer Sondierungen (z.B. des Briefwechsels beider): während Schmitt in der zweiten
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Nimmt man nun Plessners Hinweise zum Zusammenhang von Anthropologie und Macht gerade weder ‘metaphysisch’ – Plessner selbst warnt vor einer solchen an Heidegger erinnernden ‘Umbiegung’, in der “Macht erst Macht auf dem Hintergrunde von Ohnmacht; selbst Sein [...] erst als Selbst-Sein auf dem Grunde eines Nichtselbstseins” (ebd. 225) ausgelegt wird – noch ‘subjektivisch’ – als Inthronisierung der kulturellen Handlungsmacht als nahezu uneingeschränkter Mängelkompensation – auf, sondern liest man sie als radikale Ernstnahme von ‘Politik’ als einem impliziten Moment einer praxeologisch justierten Anthropologie selbst (und gerade nicht bloß als deren Anwendung oder Übersetzung) (vgl. ebd. 219f.), dann lässt sich die Perspektive einer ‘Anthropolitik’ auch im Rückgriff auf Plessner genauer bestimmen122: Anthropologien sind nicht nur immer auch “für Politik bedeutsam” (ebd. 220 Anm. 21), weil sie in ihrer jeweiligen Gewichtung und Hierarchisierung der benannten Differenzpole als praktisch bedeutsame Weichenstellungen und Vorbahnungen fungieren; sie sind – weil gerade nicht Varianten einer neuen fundierenden ‘Ersten Philosophie’ – immer selbst “auch durch Politik bestimmbar” (ebd.), muss doch die Differenz, die die Menschen sich selbst sind, gestaltet werden, ohne dabei in einer endgültigen Auslegung festgelegt werden zu können. Plessners Maxime – “Den Menschen als offene Frage behandeln heißt die Entscheidung über den Primat von Philosophie, Anthropologie, Politik offen lassen” (ebd. 221) – impliziert daher nicht nur, Anthropologie als Aufweis der Doppelstruktur menschlicher Existenz als ‘Matrix’ menschlicher Praxen in Rechnung zu stellen, sondern auch menschliches Handeln als jeweilig konkrete Handhabung dieser ‘Doppelexistenz’ auszulegen, so dass mit dem Theorem der ‘exzentrischen Positionalität’ sowohl Struktur als auch Thema menschlicher Praxen systematisch markierbar und beobachtbar werden123. Auch Macht – so ließen sich die Überlegungen Plessners abschließend pointieren – kann unter Rückgriff auf ‘exzentrische Positionalität’ erläutert werden: nicht nur als daraus resultierende ‘Handlungsfähigkeit’ und ‘Selbstmacht’, wie Plessner nicht müde
Auflage seiner Schrift ‘Der Begriff des Politischen’ Plessners Aufsatz zu ‘Macht und menschliche Natur’ als adäquate anthropologische Grundlegung seiner Theorie ausgibt (vgl. Schmitt 1987, 60) und damit die Nähe beider Denker suggeriert wird (was Kramme 1989 zu einer entsprechenden Studie veranlasst hatte; vgl. auch Lethen 2002, 52ff. wie Eßbach 2002), betonen andere mit Verweis auf Plessners Anthropologie die erhebliche Distanz beider – zur Not auch mit Plessner gegen Plessner selbst (vgl. Honneth 2002). 122 Plessners Markierung des Zusammenhangs von ‘Macht und Ohnmacht’ (vgl. Plessner 1981, V, 185 wie 226) lässt sich systematisch nutzen: weder ist das eine des anderen Grundlage noch dessen jeweilige Aufhebung; vielmehr geht es darum, beide Momente in ihrer unauflöslichen Verknüpfung zu verdeutlichen und nebeneinander bestehen zu lassen. Damit grenzt sich Plessner gerade von einer hierarchischen Interpretation beider Momente ab, wie sie u.a. von Gehlen (als Ohnmacht aufhebende Selbstmacht) vorgenommen wird. ‘Politik’ ist dann aber – systematisch gelesen – die Kennzeichnung des prinzipiell praxeologischen Charakters einer jeden Anthropologie. 123 Anschaulich ließe sich dies in sozialtheoretischer Hinsicht zeigen: während sich in ‘Gemeinschaft’ im Zeichen der ‘Vertrautheit’, des ‘Blutes’ oder der ‘Gemeinsamkeit’ (als einer Habe) ‘Positionalität’ gegenüber ‘Exzentrizität’ – mindestens tendenziell – verselbständigt, so dass die immer mögliche und nötige (Selbst-)Distanz der Menschen zu sich und zueinander nicht nur unterboten, sondern auch eingeschränkt und unterlaufen wird, neigt ‘Gesellschaft’ im Zeichen der ‘Vernunft’ und der ‘Sache’ dazu, ‘Exzentrizität’ von ‘Positionalität’ abzulösen und diese als ‘aufklärungsresistente Überreste’ zu denunzieren. Vgl. dazu Fischer 2002 wie auch – in einer anderen Begrifflichkeit von ‘demos’ und ‘ethnos’ – Reichenbach 2001.
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wird zu betonen; auch nicht nur als in sozialer Verwiesenheit implizierte wechselseitige Beeinflussbarkeit und jeweilige Bedingtheit; vielmehr scheint insbesondere die von Plessner in der menschlichen Selbstgegebenheit und Aufgegebenheit – sein Leben allererst führen zu müssen – aufgewiesene Struktur der Entzogenheit und Fremdheit jenes verworrene und paradoxe Feld der Macht zu markieren: sie ist nicht nur Bedingung aller Macht und insofern durchgängige Struktur, sondern auch das Thema jedes Machtagierens, insofern das Eigene ‘nur’ am Fremden gewonnen werden kann und dazu verleitet, in der Bestimmung und Aneignung des Anderen sich vermeintlich seiner eigenen prinzipiellen Entzogenheit und Andersheit zu entledigen wie zugleich der damit verknüpften und daraus resultierenden Selbstentzogenheit und Selbstfremdheit zu entkommen. Gerade weil aber beides sich bedingt – hängt doch das ‘Eigene’ vom ‘Anderen’ ab, der mir nicht zugänglich ist – und sich nicht in jeweilige Unabhängigkeit und Souveränität überführen lässt, kann Macht – überpointiert – als Praxis gelten, der durch ‘exzentrische Positionalität’ markierbaren Paradoxalität der eigenen Existenz zu entkommen zu versuchen: sei es als Unterwerfung und Aneignung anderer zu eigenen Zwecken der Selbststabilisierung und Selbsterhaltung (Zentrik bzw. Positionalität), so dass die Negation der anderen als Anderen vermeintlich die eigene ‘Exzentrik’ – als Verwiesenheit, Bedingtheit und daraus resultierende Fremdheit – zu minimieren erlaubt und ein Eigenes suggeriert; sei es als Unterwerfung unter andere zu Zwecken gesicherter Anerkennung und Reduktion eigener (Selbst-)Verantwortung (Dezentrik), so dass die Negation des eigenen Selbst vermeintlich auch von dessen Bedrängtheit und Riskanz suspendiert. Pointierter formuliert: nicht nur, weil wir auf die Anerkennung anderer angewiesen sind, sind wir regierbar; sondern auch, weil wir uns – dadurch und darin – selbst strukturell entzogen sind, wollen wir regieren. Der Grund, den eigenen Willen auch gegen Widerstand anderer durchzusetzen und den Willen anderer zu eigenen Zwecken zu nutzen, ist die nur vermeintlich erreichbare Möglichkeit, der Zentrik der eigenen Positionalität ungebrochen folgen und sich darin der eigenen Exzentrik entledigen zu können. Aber erst die – die doppelte Relationalität auszeichnende – Kombination von sozialer Bedingtheit, Verwiesenheit und Angewiesenheit wie damit verknüpfter Entzogenheit und Fremdheit des Menschen für sich selbst vermag die ‘Dramatik’ sozialer Existenz verständlich(er) zu machen, verwickelt sie doch Subjektivität und Alterität unauflösbar ineinander: nicht nur bin ich auf andere bezogen, die mir immer auch fremd bleiben müssen; vielmehr bin ich mir auch selbst fremd, erlerne ich mich doch allererst von diesen anderen her. Anschaulich wird diese paradoxe Struktur in den vielfältigen Bedürfnissen der Spiegelung, des (konkurrierenden) Vergleichs und der darin implizierten Versuchung einer bloß ‘komparativen Existenz’, sich in der praktizierten Abwertung anderer selbst aufwerten zu können, die – allesamt – den unvermeidbaren Selbstentzug umso eindrücklicher manifestieren und vertiefen und gänzliche ‘Selbstbejahung’ schlicht ad absurdum führen. Diese Problematik aber nicht länger als einen wie auch immer substituierbaren und insofern erfüllbaren Mangel auszulegen, der der Kompensation bedürfte, sondern als konstitutive Entzogenheit leben zu lernen, verweist wohl auf ein auch aufklärerisch unabgegoltenes ‘religiöses
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Problem’, ohne dass damit aber traditionell-institutionelle ‘religiöse Bearbeitungen’ – allzuoft bloß Versuche einer haltgebenden Positivierung dieser Entzogenheit in einer ‘Manifestation der Transzendenz’ und damit derer ‘Erledigung’ – ‘reanimiert’ werden könnten. Ihr wohl radikalster Ausdruck ist der Tod, der sich jeder Sinnbildung (und Aneignung) entzieht und doch nicht als bloß bedeutungslos vom Leben isoliert und zum Verschwinden gebracht werden kann124; mit ihm ist aber weniger ein explizit ‘religiöser Gegenstandsbereich’ markiert, der Religion zur bloß paradoxen (und insofern ohnmächtigen bzw. als allmächtig gedachten) ‘Kontingenzbewältigungspraxis’ (Lübbe) degradiert, sondern ein strukturelles, insofern nicht nur mit ‘Tod’ identifiziertes Problem ‘menschlichen Existierens’ überhaupt benannt, das gegenwärtig auch als Ungewissheits- und Unsicherheitsproblematik neu diskutiert und kanalisiert wird (vgl. Hahn 1998 wie auch Liesner 2002). Die hier vorgetragenen Überlegungen zu einer Anthropologie der Macht dienen daher nicht dazu, Macht als zu interpretierendes soziales Phänomen aus einer nur vermeintlich bestimmbaren ‘Wesensverfassung’ des Menschen abzuleiten; vielmehr stecken sie in methodologischer wie inhaltlicher Hinsicht einen theoretischen Rahmen ab, innerhalb dessen sich machttheoretisch argumentieren lässt. Dabei lässt sich die Plausibilität einer solchen anthropologischen Reflexion in vierfacher Hinsicht erläutern: nicht nur verhilft sie dazu, den Ort der Macht im ‘Zwischen der Menschen’ (Arendt) zu lokalisieren; sie ermöglicht auch, in der Explikation der Logik dieses ‘Zwischens’ die Struktur der Macht zu kennzeichnen, indem sie Macht relational als ‘Führung der Führungen’ (Foucault) auslegt und in den Kontext von miteinander verknüpfter Selbstgestaltungs- und Anerkennungsproblematik einbettet. Zugleich erlaubt sie, in der Buchstabierung dieser doppelten Relationalität als einer auf andere bezogenen und durch andere bedingten Selbstbezogenheit auch das Thema der Macht zu markieren, indem sie das Moment der Entzogenheit und Fremdheit als unaufhebbar ausweist: nicht nur bin ich in mir different und mir fremd, weil ich mich anderen verdanke, die ich nicht angemessen zu verstehen und einzuholen vermag; vielmehr entziehen sich die Anderen mir grundsätzlich, auf die ich bleibend verwiesen bleibe – mit der Folge, dass weder soziale Homogenität – ‘hier machen alle, was ich will’ – noch soziale Heterogenität – ‘hier kann jeder machen, was er will’ – möglich sind. So ist ‘Macht’ zunächst unvermeidlich, weil wir – ob gewollt oder nicht – einander Bedingung sind und die Führung des eigenen Lebens immer nur in ‘Führungsführungen’ möglich ist; sie ist aber auch verführerisch, weil die damit benannten Differenzen gerade nicht festliegen, sondern unterschiedlich gestaltbar sind. Die Dramatik sozialer 124 Ein kurzer Seitenblick bestätigt die angedeutete Paradoxalität: nicht nur lassen sich Leben und Tod nicht in zwei voneinander getrennte ‘Gegenstandsbereiche’ sortieren und in ihrer vermeintlichen Unabhängigkeit – solange ich lebe, bin ich nicht tot; wenn ich tot bin, lebe ich nicht mehr (Epikur) – thematisieren; auch die Behauptung derer Unverträglichkeit – “ohne Fantasmen der Unsterblichkeit oder doch zumindest einer gewissen Fortdauer über den allzuengen Horizont unseres Erdendaseins hinaus kann der Mensch nicht leben” (Assmann 2000, 14) – unterbietet die Problematik eklatant. Vielmehr gehören beide antinomisch zusammen; vgl. dazu ausführlicher die Überlegungen Borkenaus zum Problem der Todesantinomie (Borkenau 1984, 83-119). Machos daran anschließende Deutung der Todeserfahrung als einer (auf den Toten bezogenen) “anwesenden Abwesenheit” (Macho 2000, 100) korreliert dabei der hier erarbeiteten Kennzeichnung des Lebens als einer ‘abwesenden Anwesenheit’; vgl. dazu ausführlicher Ricken 2004a wie 2005.
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Existenz – und mit ihr die Problematik der Macht – wird insofern erst verständlich, wenn sie auf dem Hintergrund einer nicht schiedlich-friedlich handhabbaren Sozialität erläutert wird. Indem eine solche anthropologisch-kategoriale Reflexion eine – noch abstrakte – Matrix zur Analyse menschlicher Praktiken vorschlägt, ermöglicht sie schließlich auch eine Kritik der Macht auf zwei Ebenen: methodologisch als Kritik eines identitätstheoretischen Denkens, das die benannten (Selbst- und Anderen-)Differenzen, die sich die Menschen selbst sind, als auflösbar suggeriert, indem sie diese hierarchisch aufnimmt und vervorläufigt und so die Menschen sowohl voneinander ‘trennt’ als auch ‘entleert’ und so in einen unendlichen Prozess gegen sich selbst treibt (vgl. zum Problem der ‘Identität’ exemplarisch Ricken 2002b); und inhaltlich als Kritik der gegenwärtig zunehmenden Diskreditierung von Verwiesenheit und Abhängigkeit, in der Sozialität in ihrer auch beschwerlichen Seite als ‘Last des Zusammenlebens’ als vermeidbar ausgegeben wird und stillschweigend auf andere abgewälzt wird. Das aber verlangt auch, auf der Bildlosigkeit als einem Moment der in vermeintlich unbezweifelbaren Vorbildern und Abbildern figurierbaren Bildangewiesenheit der Menschen zu insistieren und (auch) durch ‘Bilderkritik’ die Möglichkeit zu wagen, nicht bloß Abbild der eigenen wie fremden Bilder zu sein (vgl. Flusser 1994).
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Studie II:
Bildung und Macht – Beiträge zu einer Genealogie der Bildung “Bildung macht den Menschen ungefährlich.” (Niklas Luhmann)
“Bildungsfragen sind Machtfragen” (Heydorn 1979, 337) – wohl kaum prägnanter ließe sich formulieren, was (nicht nur) innerhalb der pädagogischen Disziplin unumstritten ist und als weithin geteilter Konsens Geltung beanspruchen kann. Angesichts der Selbstverständlichkeit und Alltäglichkeit dieser Einsicht aber erstaunt umso mehr, dass die ‘Macht der Bildung’ (Groppe) bislang eher selten ausdrücklich befragt und rekonstruiert worden ist; auch wenn denn immer wieder und durchaus unterschiedlich das Verhältnis von Bildung und Macht thematisiert und analysiert wird, so herrscht doch – angesichts der Zentralität und Verwickeltheit der Bildung in Machtfragen überaus irritierend – weitgehend Schweigen, wenn es darum geht, den spezifischen Charakter der Macht der Bildung selbst genauer zu bestimmen: nicht nur, weil das, was mit ‘Bildung’ jeweils genauer gemeint ist, überaus strittig ist und daher insgesamt zu einer allenfalls summarischen, nahezu gegenständlich verfahrenden Kennzeichnung von ‘Bildung’ als einem Komplex individuell (zumeist dann schulisch) erworbener Welt- und Selbstfähigkeiten taugt; auch nicht nur, weil man insofern über eher generelle Einschätzungen, dass ‘Bildung’ in der Konstruktion der sozialen Ordnung – und damit auch in der pädagogisch unternommenen kommunikativen Rekonstruktion derselben – ebenso unverzichtbar wie strukturbildend ist und insofern von Anfang an auch in die jeweilige soziale Ordnung der Macht eingelassen ist, pädagogisch nur selten hinauskommt; sondern vor allem, weil Macht fast immer als etwas der Bildung äußerliches gedacht und bestimmt wird. Die Gründe dafür sind überaus vielfältig und hängen durchgängig mit der spezifischen Justierung von ‘Erziehung’ und ‘Bildung’ als den beiden zentralen pädagogischen Grundbegriffen zusammen: denn während erziehungstheoretisch die Einsicht, dass Erziehung systematisch die “Ausübung von Macht über Menschen” (Flitner 1989a, 56) einschließt und “das erziehende Verhältnis eins der Machtübung ist” (ebd. 61), überaus unproblematisch als pädagogische Grundüberzeugung kommuniziert wird – geradezu lapidar formuliert: “Macht und Erziehung haben miteinander zu tun” (Lichtenstein 1962, 51) –, so ist dieser Zusammenhang bildungstheoretisch alles andere als triftig. Vielmehr gilt immer wieder: auch wenn “Erziehung sein muß” (Flitner 1989b, 191) und auf ‘Machtübung’ (Flitner) nicht verzichten kann, so ist sie doch als allerdings unterschiedlich praktizierbarer “Machtgebrauch gegenüber der Jugend” (Flitner 1989a, 57) nur dann “sittlich erlaubt” (Flitner 1989b, 190), “gerade weil sie und sofern sie zum Aufbau selbständigen Lebens hilft, zum Gebrauch von Vernunft, zum Eingang in die Wechselwirkung mit anderen mündigen Personen, zum Verstehen ihrer Sprache und Lebensordnungen, zur Teilnahme an ihrer Wertsicht” (ebd. 191). Flitners Begründung ist längst klassisch geworden: “Erlaubt ist die Fremd-
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bestimmung, weil sie zur Freiheit führt, im Recht wie in der Erziehung” (ebd.). Erziehung ist daher zwar eine von Macht durchzogene und auf ihr aufruhende Notwendigkeit, doch modern – qua Bildung – auf ihr “Gegenteil, nämlich Selbständigkeit, Mündigkeit, Selbstbestimmung” (ebd. 192) bezogen; erst in dieser Freiheitsorientierung und -unterordnung findet sie als “stellvertretendes Handeln” (Flitner 1989a, 62) und ‘Anwaltschaft’ “des künftigen Erwachsenen im gegenwärtigen Kind” (ebd. 65) ihre spezifische Eigenstruktur und Grundgestalt, die seitdem als und in ‘Bildung’ kommuniziert wird: “Im Begriff der Bildung kommt die Erziehung zu sich selbst” (Heydorn 1980, 9). Zweierlei Folgen sind damit verknüpft: erstens kann Bildung pädagogisch gerade nicht gemacht werden, sondern muss von Anfang an (vor allem) als Selbstbildung ausgelegt werden, die zu ihrer Ermöglichung der helfend-ermöglichenden ‘Fremdtätigkeit’ bedarf; gerade dies aber verlangt zweitens, so die traditionelle Einschätzung, die machtvolle Inszenierung und Etablierung eines ‘pädagogischen Raums’, den “jungen Menschen [...] von vielerlei Nötigungen freizuhalten” (Flitner 1989a, 56) und so “unter Umständen mit Macht” (ebd. 62) gegen andere Macht zu verteidigen. Der Befund hinsichtlich der Macht ist daher ambivalent: auch wenn pädagogische Macht erzieherisch nicht vermeidbar ist, so kann sie ihrerseits niemals ‘Zweck an sich selbst’ sein, besteht doch “zwischen dem Willen, über die Menschen zu herrschen, und dem Willen, sie um ihrer selbst willen zu fördern” (Spranger 1966, 221), ein ‘Unterschied ums Ganze’1; vielmehr ist Macht ein ‘notwendiges Übel’, das pädagogisch hinsichtlich seiner Wirkungen reflektiert und – am Maßstab der ‘Bildung’ – “gezähmt” (Spranger 1973, 173) und begrenzt werden muss (vgl. Uhle 1997). ‘Bildung’ aber, so die Unterstellung, kann dann angemessen nur als das ‘Gegenüber der Macht’ verstanden und theoretisch entfaltet werden. Auch wenn Sprangers Hinweis, dass es vielleicht “zur deutschen Art [gehöre], in der Theorie möglichst zu ignorieren, daß das Leben und Zusammenleben der Menschen überall von Machtverhältnissen durchwirkt ist, denen ebenso viele Abhängigkeitsverhältnisse entsprechen” (Spranger 1973, 173), nicht als Erklärung auszureichen vermag, so bezieht doch auch er sich damit auf die angedeutete, spezifisch pädagogische Justierung von Erziehung und Bildung als dem Hintergrund dieser machttheoretischen Eigentümlichkeit der Bildung: während Macht nahezu ausschließlich als negativer Begriff aufgenommen und mit Fremdbestimmung, Einschränkung und Unterwerfung ausgelegt wird, kann Bildung sich geradezu oppositional dazu justieren 1
Dabei hätte Sprangers eigenes, von Weber abweichendes Machtverständnis – “Macht ist also die Fähigkeit und (meist auch) der Wille, die eigene Wertrichtung in den anderen als dauerndes oder vorübergehendes Motiv zu setzen” (Spranger 1966, 213) – durchaus die Möglichkeit geboten, eine andere Justierung von ‘Bildung und Macht’ zu erproben; auch gerade angesichts der Beobachtung Sprangers – “Das ganze menschliche Leben ist von Macht- und Rivalitätsverhältnissen durchzogen. Auch in den bescheidensten und engsten Kreisen spielen sie eine Rolle. Jeder einzelne ist irgendwie ein Machtzentrum und auch wieder ein Machtobjekt” (ebd. 213), so dass auch noch der, der “sie ausrotten möchte, [...] auch dazu noch Macht bräuchte” (ebd. 212) – verwundert das Unternehmen Sprangers umso mehr, ‘Bildung’ von Macht auszunehmen und so zur Etablierung und Festigung eines ‘Deutungsmusters’ beizutragen, das in seiner polaren Justierung gerade so noch nicht entschieden war. Vgl. dazu auch Sprangers Kapitel über den ‘Machtmenschen’ (ebd. 212-235), dessen “einseitige [...] Anspannung nach außen” (ebd. 221) letztlich verhindert, zur “eigensten Vollendung ]...] der inneren Form” (ebd.) zu gelangen.
Einleitung
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und als Kennzeichnung von vernünftiger Selbstbestimmung, freier Selbstentfaltung und individueller Selbstverwirklichung qua Wissen und Reflexivität ausgeben. Es ist vielleicht dieser bis heute immer wieder beschworene ‘Humanismusvorschuß’ und die daraus resultierende vermeintliche ‘Vorzüglichkeit der Bildung’ (vgl. MeyerDrawe 1999a, 162), die jene davor bewahren, allzu leicht mit Machtfragen vermischt oder gar identifiziert zu werden: “Dabei gilt ‘Bildung’ [...] trotz aller Unterschiede im einzelnen als der noblere Ausdruck. ‘Erziehung’ kann, selbst wenn sie mit emanzipatorischen Potentialen ausgestattet wird, an diese Vorzüglichkeit nicht heranreichen” (ebd.)2. Nur folgerichtig hat sich insbesondere bildungstheoretisch eine – durchaus bis heute gepflegte – Thematisierungsform des Verhältnisses von Bildung und Macht durchgesetzt, die die – prinzipielle oder wenigstens ideelle – Unvereinbarkeit von Bildung und Macht behauptet und insbesondere in Heydorns Diktum vom ‘Widerspruch von Bildung und Herrschaft’ (Heydorn 1979) ihre pointierte Gestalt erhalten hat; auch wenn deren Zuspitzung, dass die “Frage der Bildung” letztlich nur als “Frage nach der Liquidation der Macht”(ebd. 337) gelesen werden könne, in dieser Schärfe wohl kaum von allen (noch) geteilt wird, so ist doch das pädagogische Selbstbewusstsein insgesamt – und auch die damit verknüpfte disziplinäre Identität – weitgehend von der Überzeugung geprägt, dass es in ‘Bildung’ mindestens um die “Vermenschlichung der Macht” (Heydorn 1980, 7) ginge3 – und gerade nicht um ein “Instrument zum Erwerb von mehr Macht” (Peukert 1988, 12). Nur vor diesem Hintergrund ist aber verständlich, dass ‘Bildung’ als immer wieder vergessener, vielfach verratener wie zu anderen Zwecken missbrauchter Topos und insofern bislang weitgehend ‘uneingelöstes Versprechen’ (Peukert 1988) ausgelegt worden ist und daher ständig zu – inhaltlich überaus anspruchsvollen – kritischen “Neubestimmung[en] des Bildungsbegriffs” (Peukert 1998) provoziert hat4: “Der Kern des Bil2
Auch wenn die ‘humanistischen Illusionen’ (Schäfer) der Bildung spätmodern weitgehend an Plausibilität verloren haben, so hält sich doch deren ‘Humanismusanstrich’ erstaunlich hartnäckig durch alle Vernunftund Humanismusirritationen hindurch. Vgl. dazu exemplarisch die Studien Schäfers (1996): was inzwischen an ‘Bildung’ bezweifelt wird, ist die Tatsächlichkeit der Kraft der Besserung und ‘Vermenschlichung der Macht’ (Heydorn), nicht aber deren Anspruch und Justierung daraufhin. ‘Bildung’ aber ihrerseits selbst als Figuration der Macht zu entziffern, setzt voraus, genau diese Identifizierung zu befragen und sie selbst als Folge der semantischen Tradition der ‘Bildung’ zu verstehen.
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Heydorns bisweilen überpointierte Formulierungen seien ausführlicher aufgenommen, spiegeln sie doch in ihrem kategorialen Aufriss die darin unterlegte und verbreitete Entgegensetzung von Fremd- und Selbstbestimmung überaus deutlich: “Bildung aber antizipiert; indem sie den Menschen aus Bergung und fraglos Gewesenem entläßt, aus aller Eingewöhnung und Selbstverständlichkeit zeigt sie auf eine neue, von allen Zwängen befreite Wirklichkeit, in der das Licht des Geistes die Landschaft erhellt. Sie ist das Gedächtnis des heilen Menschen inmitten der Paradoxie; mitten in der Determination zeigt sie die Möglichkeit der Freiheit mit jedem neuen Menschen wieder an. So meint sie Wiedergewinnung, nun aber auf der Stufe einer vollzogenen Selbstschöpfung, der vollen Einholung der individuellen und kollektiven Geschichte in das Bewußtsein” (Heydorn 1980, 9). Auch wenn es eher leicht ist, sich über das ‘theologische Vokabular’ Heydorns zu erheben (vgl. Tenorth 1997, 978), und auch wenn in dieser Zuspitzung kaum jemand noch von ‘Bildung’ zu sprechen wagt, so scheint mir gerade diese – in der Tat hier überpointierte – Entgegensetzung von Bildung und Macht die Matrix darzustellen, vor der pädagogisch Tätige – gefragt um das Worumwillen ihrer pädagogischen Arbeit – diese zu bedenken versuchen.
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Es ist gerade dieses überaus ernsthafte, sich nie modisch gebende Bemühen um eine kritische Reformulierung
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dungsverständnisses kann heute nur noch unter der Bedingung vertreten werden, daß er durch alle beschämenden Kapitulationen der Pädagogik hindurch als ein uneingelöstes Versprechen sichtbar gemacht wird. Die Definition der Bildung als die Freiheit zu Urteil und Kritik kann im Sinne der Tradition von demjenigen bestätigt werden, der hinzufügt, daß dieses Bildungsverständnis bisher immer wieder entgegen seiner Versprechungen dazu mißbraucht wurde, politische Verhältnisse zu rechtfertigen, die in Wirklichkeit die Bedingung für Bildung im behaupteten Sinne nicht zuließen” (Blankertz 1974, 68)5. Dieser durchgängig oppositionalen Problemjustierung von Bildung und Macht ist bildungssoziologisch – spätestens mit der sozialwissenschaftlichen Wende in der Erziehungswissenschaft zu Beginn der 70er Jahre – immer wieder (neu) widersprochen worden, indem gerade nicht mehr bloß eingestanden wurde, “daß die Erziehungswirklichkeit [...] zweifellos weitgehend mit den gesellschaftlichen Herrschaftsformen korreliert” (Lichtenstein 1962, 52), sondern nun die zentrale gesellschaftliche Funktion der Bildung innerhalb der Rekonstruktion des Sozialen in den Blick rückte und ‘Bildung’ selbst als konstitutive Bedingung der Macht insbesondere in der gesellschaftlichen Reproduktion sozialer Ungleichheit analysiert werden konnte6. des Bildungsgedankens, das die Arbeiten Helmut Peukerts durchzieht und bestimmt; dreierlei Pointierungen seien darin festgehalten, markieren sie doch jeweilig nicht selbstverständliche Weichenstellungen: sollen gesellschaftlich organisierte Erziehung und Bildung angesichts der gegenwärtigen strukturellen Herausforderungen nicht insgesamt zu einer paradoxen und in sich widersprüchlichen Praxis geraten, in eine Lebensform einzuführen, die “die Zukunft unserer Gesellschaft selbst in Frage stellt” (Peukert 1998, 22), gilt es erstens, auch bildungstheoretisch danach fragen zu lernen, “welchen Anteil die bisherige Form des Lernens und der systemisch organisierten Bildung an der Entstehung dieser Krise hat” (Peukert 1984, 129), denn es könnte sein, “daß wir in die Krise geraten sind, gerade weil wir erfolgreich gelernt und das Gelernte angewendet haben” (ebd.); damit ist zweitens unweigerlich auch verknüpft, nicht einfach davon auszugehen, dass der Begriff der Bildung bereits historisch systematisch ausformuliert vorläge und nur – revidierend – rekonstruiert werden müsste; mit dieser – die Arbeiten Peukerts insgesamt leitenden – “These, daß die Erziehungswissenschaft sich bei ihrem Begriff von Bildung nicht mit einer historischen Rekonstruktion begnügen kann”, ist drittens verbunden, “daß sie die Aufgabe hat, diesen Begriff neu zu bestimmen, und zwar aus einer interdisziplinär betriebenen Analyse der geschichtlich-gesellschaftlichen Situation, ihrer bestimmenden inneren Tendenzen und der Lage der einzelnen in ihr” (Peukert 2000, 509). Dass dies aber auch dazu führen kann, ‘Bildung’ als pädagogische ‘Leitorientierung’ nicht nur zu problematisieren, sondern – aus Gründen (!) – u.U. auch gänzlich aufzugeben, findet sich in Peukerts Plädoyer für ‘Bildung’ weitgehend anders entschieden. Vgl. dazu auch Peukert 1984, 1988, 1992 und 1998 wie auch Brachel / Mette 1985 und Abeldt u.a. 2000. 5
Die Fortsetzung der Überlegungen Blankertz’ sei nicht verschwiegen, wird doch hier der Versuch unternommen, zwischen bildungstheoretischer und sozialwissenschaftlicher Forschungstradition eine Verbindung zu schaffen: “Damit aber deutet sich an, daß die unpolitisch gehandhabte Bildungstheorie auch früher eine, wenn auch uneingestandene politische Funktion ausgeübt hat. [...] In ideologiekritischer Zuspitzung kann man sogar sagen: indem die sozioökonomischen Strukturen für die Bildung als uninteressant erklärt wurden, konnten sie umso sicherer für die Ausbildung als ein nichthinterfragbarer Sachzwang gelten” (Blankertz 1974, 68). Diese Perspektivierung von ‘Bildung’ aber erzwingt dann in einem zweiten Schritt, die Geschichte der ‘Bildung’ selbst als eine ‘Verratsgeschichte’ zu schreiben, deren kritische Neuerinnerung einen emanzipatorischen Aufbruch zu neuen pädagogischen Ufern ermöglichen soll(te); vgl. Blankertz 1979 wie 1982.
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Die seit PISA 2000 und 2003 inzwischen sich abzeichnende Konjunktur der Thematisierung von Macht aus pädagogischer Perspektive hat sich daher folgerichtig genau dieser Problematik zugewandt, was – bloß exemplarisch – bereits ein nur kurzer Blick in das Veranstaltungsangebot des unter dem Titel ‘bildung – macht – gesellschaft’ durchgeführten Jahreskongresses 2006 der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft in Frankfurt/M. verdeutlicht. Vgl. dazu auch das gleichnamige Heft 1 der Zeitschrift für Pädagogik 52 (2006).
Einleitung
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Sozialgeschichtlich ließ sich so die bildungstheoretische These von der emanzipativen Funktion der Bildung nur bedingt noch aufrechterhalten; vielmehr zeichnete sich dort ein – bis heute durchgängiges – Bild ab, ‘Bildung’ selbst als zentrales Moment der Verfestigung sozialer Ungleichheiten zu interpretieren: was einerseits als Grundlage der bürgerlichen Ablehnung der Ständegesellschaft gelten konnte, fungierte andererseits als ein auf Leistung und Besitz basiertes Prinzip bürgerlicher Ordnung, indem es die Ungleichheit zwischen den sozialen Klassen vielleicht verschob, nicht aber aufhob. Auch wenn strukturfunktionalistisch so die gesellschaftliche Funktion der Schule überwiegend als Mittel und Medium des individuellen Aufstiegs konzeptualisiert und als – wenn auch zentraler – Teil einer zwar durchlässigen, aber insgesamt auf Verdienstherrschaft begründeten neuen sozialen Ordnung gefasst werden konnte, so ist diese Auslegung auch reproduktionstheoretisch bereits nicht hinreichend; bildungssoziologisch geht es vielmehr darum, ‘Bildung’ – sowohl in ihrer institutionalisierten Gestalt als ‘System’ als auch in ihrer inkorporierten Gestalt als ‘Habitus’ (Bourdieu) – insgesamt als Thema und Funktion der sozialen und kulturellen Reproduktion der gesellschaftlichen Strukturen und der darin sedimentierten Ungleichheit zu analysieren: so trägt zum einen bis heute die ungleiche Verteilung von Bildungschancen in einem erheblichen Umfang zu einer ungleichen Verteilung von Lebensmöglichkeiten bei, indem sie hinsichtlich zukünftiger Arbeitslosigkeit, erzielbarem Einkommen, Gesundheit, sozialer Teilhabe und Orientierung wie der Möglichkeit zur individuellen Lebensführung elementare Weichenstellungen trifft und damit erhebliche soziale Differenzen etabliert bzw. zu befestigen hilft (vgl. Klemm 2000)7; darüber hinaus muss aber zum anderen das Bildungssystem – und mit ihm auch der Begriff der Bildung selbst – als “die zentrale Rechtfertigungsfabrik sozialer Ungleichheit in der modernen Gesellschaft” (Beck 1988, 265) verstanden werden: “Es verwandelt nach den Maßstäben ‘individueller Leistung’, individuell zurechenbar und nachvollziehbar, Gleiche in Ungleiche (in Rang, Bezahlung usw.), und zwar so, daß die Benachteiligten in der Geltung des Gleichheitsprinzips ihre Benachteiligung akzeptieren” (ebd.)8. Die Einsicht aber, dass ‘Bildung’ nicht nur als ‘kulturelles Kapital’ in den Kreis der Machtbedingungen aufgenommen werden muss, sondern selbst auch als ‘symbolische Gewalt’ interpretiert werden kann, hat insbesondere durch die Studien Bourdieus eine enorme Verbreitung erfahren; so ist es vor allem sein Verdienst, nicht nur auf die ‘konservative Funktion’ der Schule bereits zu einem Zeitpunkt hingewiesen zu haben, als man gerade gesellschaftspolitisch begann, Bildung als politisches Instrument des Abbaus sozialer Ungleichheit zu propagieren (vgl. Bourdieu / Passeron 1971), 7
Dieser bildungssoziologische Befund ist inzwischen überaus selbstverständlich geworden und – bloß exemplarisch – unlängst wieder durch die Schulforschungsstudie PISA eindrücklich belegt worden (vgl. Baumert u.a. 2001, 323-407, insbes. 351ff.). Vgl. dazu insgesamt Kreckel 1983, 1992 wie Müller 1992, in pädagogischer Perspektive Sünker u.a. 1994 und Büchner 2003.
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Vgl. ausführlicher auch die Überlegungen von Bourdieu und Passeron, die in ihrer Studie zur ‘Illusion der Chacengleichheit’ (Bourdieu / Passeron 1971 wie auch systematisch in dies. 1973) diesen Mechanismus der Reproduktion sozialer Ungleichheit durch Rechtfertigung der Ungleichheit und Selbstselektion aufgezeigt haben; vgl. in diesem Band Studie I / Kap. IV.
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sondern auch – bisweilen ungesehen – den Gefahren eines ‘Reproduktionismus’ (Wexler) widersprochen zu haben, der insgesamt dazu neigt, Bildungsprozesse auf nahezu allen Ebenen unter die Totalität und Reproduktion von Machtstrukturen zu subsumieren und insofern bloß als ideologisches Epiphänomen der Macht misszuverstehen (vgl. Kolbe u.a. 1994, 27)9. Die daraus resultierende methodologische Einsicht, gegenüber vielfachen ökonomistischen und strukturalistischen Verkürzungen auch einen “Begriff vom Subjekt” (ebd. 24f.) als nichthintergehbaren ‘Faktor’ in die Produktions- und Reproduktionsanalysen einführen zu müssen, um (auch) die ‘Eigenlogik von Bildungsprozessen’ nicht nur analytisch, sondern auch handlungstheoretisch stärker zur Geltung bringen zu können (vgl. ebd. 30), hat schließlich zurück in bildungstheoretische Fragestellungen geführt. So ist in der zunächst wenig verblüffenden Einsicht – “Bildungspolitik ist Gesellschaftspolitik” (Kolbe u.a. 1994, 11) – immer auch deren Umkehrung (mindestens als Horizont) mit gesagt: Gesellschaftspolitik muss immer auch Bildungspolitik sein, weil “eine demokratische Gesellschaft auf gebildeten – und dies meint handlungsfähigen, in politische Angelegenheiten eingreifenden – BürgerInnen aufruht” (Kolbe u.a. 1994, 30). Was also zunächst als widersprüchliche Thematisierung von ‘Bildung’ gelesen werden konnte (und musste), erweist sich im Fortgang nun als durchaus verwandte – wenn auch komplementäre – Einschätzung von ‘Bildung’, die ihren gemeinsamen Bezugspunkt gerade darin findet, “die gesellschaftliche Instrumentalisierung öffentlicher Bildung” (Friedeburg 1989, 477) zu kritisieren und an der Permanenz reformpädagogischer Praxis festzuhalten: “Die Bildungsreform bleibt auf der Tagesordnung” 9
Dreierlei Pointierungen Bourdieus seien festgehalten, die den soziologischen Diskurs der ‘Bildung’ nachhaltig bestimmt haben: es ist erstens der empirische wie theoretische Nachweis, dass ‘Bildung’ qua ‘Titel’ und Berechtigungen Ungleichheit produziert, indem sie als ‘kulturelles Kapital’ fungiert, damit Zugangschancen verteilt und die daraus resultierende Ungleichheit gleichzeitig symbolisch sanktioniert, erlaubt sie doch, “jegliche Ungleichheit [...] als natürliche, als Ungleichheit der Begabung anzusehen” (Bourdieu / Passeron 1971, 82; vgl. dazu auch Bourdieu 1973a, 93): “Damit die am meisten Begünstigten begünstigt und die am meisten Benachteiligten benachteiligt werden, ist es notwendig und hinreichend, daß die Schule beim vermittelten Unterrichtsstoff, bei den Vermittlungsmethoden und -techniken und bei den Beurteilungskriterien die kulturelle Ungleichheit der Kinder der verschiedenen gesellschaftlichen Klassen ignoriert. Anders gesagt, indem das Schulsystem alle Schüler, wie ungleich sie auch in Wirklichkeit sein mögen, in ihren Rechten wie Pflichten gleich behandelt, sanktioniert es faktisch die ursprüngliche Ungleichheit gegenüber der Kultur. Die formale Gleichheit, die die pädagogische Praxis bestimmt, dient in Wirklichkeit als Verschleierung und Rechtfertigung der Gleichgültigkeit gegenüber der wirklichen Ungleichheit in bezug auf den Unterricht und der im Unterricht vermittelten oder, genauer gesagt, verlangten Kultur” (Bourdieu 2001a, 39). Damit verbunden ist zweitens eine kritische Revision der schulischen Funktionen (der Allokation und der Selektion): “Die wahre Auswahl geschieht vor dem Examen, dessen Funktion gerade noch darin besteht, diese zu bestätigen. Von unten bis ganz oben funktioniert das Schulsystem, als bestände seine Funktion nicht darin, auszubilden, sondern zu eliminieren. Besser: in dem Maß, wie es eliminiert, gelingt es ihm, die Verlierer davon zu überzeugen, daß sie selbst für diese Eliminierung verantwortlich sind” (Bourdieu 2001a, 21). Aus beiden Diagnosen aber folgt gerade nicht eine skeptische Einschätzung der ‘Zukunft der Bildung’, sondern – drittens schließlich – die Forderung derer Rationalisierung: “Ich denke, daß die Pädagogik den Fortschritt unterstützen, kontrollieren kann. Sie kann ihn aber nicht auslösen. [...] Deshalb bin ich im Gegensatz zu unseren Sozialphilosophien, die immer mit einem Appell an die Pädagogik enden, davon überzeugt, daß man für Bedingungen sorgen muß, die die Voraussetzung für die Pädagogik bilden” (Bourdieu 2001a, 16). “Es geht mir nicht darum, die Erben zu enterben, sondern darum, allen das zu geben, was einige ererbt haben” (ebd. 24). Vgl. dazu insgesamt die jüngst vorgelegte Textsammlung wichtiger bildungssoziologischer Arbeiten Bourdieus (Bourdieu 2001a) wie auch die Überblicke in Egger u.a. 1996 und Bauer 2002.
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(ebd.). Kontinuität aber bewahrt darin ein mit Macht nicht identifiziertes und von ihr mindestens typologisch unterscheidbares Verständnis von Bildung. Selbst ein machttheoretisch sensibler Zugang zu ‘Bildung’ tut sich daher schwer, diese selbst als Macht einzuschätzen und sie nicht doch immer wieder bloß als Bedingung oder Folge, Instrument oder Feld einer Macht zu analysieren, die – letztlich – doch anderer Struktur ist. Schließlich aber zehrt auch ein in seinen kritischen Ansprüchen und utopischen Überschüssen erheblich ermäßigter und – alltäglich wie pädagogisch-erziehungswissenschaftlich – eher pragmatischer Gebrauch von ‘Bildung’ als Kennzeichnung des Zusammenhangs von Wissen, Fähigkeiten und – wenn denn überhaupt – Selbsthaltungen und deren (zumeist schulischer) Aneignung noch vom, wenn auch verblichenen ‘alten Zauber der Bildung’ (Reinhartz 2001)10, so dass auch in ihm – mindestens latent – die Weichenstellung einer typologischen Abgrenzung von Bildung und Macht weiter tradiert und befestigt wird. Symptomatisch genug (und durchaus als eine ‘Ironie der Geschichte’ der Bildung zu lesen), dass auch eine – gegenüber traditionell geisteswissenschaftlicher Semantik überaus empfindliche – sozialwissenschaftlich und historisch verfahrende erziehungswissenschaftliche Forschung sich inzwischen zur Selbstkennzeichnung dieses ‘Zaubers’ zu bedienen sucht und unter der (Neu-)Überschreibung der – sei es nun historischen oder empirischen – ‘Bildungsforschung’ auftritt und damit nur den gegenüber der vermeintlich kruden ‘Erziehung’ besseren und erhabeneren ‘Klang der Bildung’ bestätigt (vgl. exemplarisch Tippelt 2002)11. All das aber macht auch plausibel, angesichts der beobachtbaren enormen Aktualität der Bildung (vgl. Einführung) ‘Bildung’ als eine bis heute anhaltende und durch die Postmoderne nicht gänzlich außer Kraft gesetzte ‘Erzählung der Moderne’ (Lyotard) einzuschätzen: nicht nur erziehungswissenschaftlich, sondern auch ins10
Die von Reinhartz vorgelegte Studie zum ‘alten und neuen Zauber der Bildung’ (Reinhartz 2001) belegt – wenn auch empirisch schmal –, dass auch eine “realistische Wendung des Bildungsverständnisses” (ebd. 149) und die damit verbundene Abkehr von traditionellen Überhöhungs- und Mystifizierungstendenzen (vgl. ebd.) sich weiterhin in den thematischen Vorbahnungen des klassischen Bildungsbegriffs bewegt.
11
Die von Tippelt genannte Begründung der Titelwahl der ‘Bildungsforschung’ ist – neben dem Verweis auf ihre erst zum Ende der 80er Jahre beginnenden Tradition – bezeichnend: “Bildungsforschung verschließt sich keinesfalls der philosophischen Tradition, aber prüft man die Verwendungsweisen des Begriffs Bildung, dann wird bewusst, dass eine Vielfalt der Nutzung dieses Begriffs gegeben ist” (Tippelt 2002, 11). Ohne seinerseits auch nur anzudeuten, was genau mit ‘Bildung’ gemeint und empirisch dann erforscht wird, grenzt Tippelt sich gerade gegen die immer noch als Übermacht geltende ‘geistesphilosophische’ Bildungstradition ab: “In diesem Handbuch wird nicht die Suche nach einem wahren und gültigen Begriff von Bildung traditionsrekonstruierend, klassikerauslegend und textexegetisch fortgesetzt. Der Bildungsbegriff wird in diesem Handbuch auch nicht als Gesamtbeschreibung der abendländischen Vernunft reklamiert, es finden sich keine Aussagen in der Nähe der Metaphysik und es finden sich keine Texte, die immer gültige Bilder der menschlichen Möglichkeiten und Zukünfte festlegen. Die hier vertretene Bildungsforschung ist keiner weltanschaulichen oder utopischen Geschichtsphilosophie verpflichtet” (ebd. 11f.). Gerade weil aber Tippelt ‘Bildung’ als einen “pädagogisch zentrierten” und auch für “andere Disziplinen wichtigen Begriff” (ebd. 12) markiert, der durch die folgenden Beiträge “präzisiert” (ebd.) wird, ist eine ausbleibende Bedeutungsreflexion geradezu fahrlässig und führt schließlich dazu, dass ‘Bildung’ bloß als quasi gegenständliche Bezeichnung des ganzen Komplexes organisierter und nichtorganisierter Praktiken der Vermittlung von Wissen und Lernen zu fungieren scheint. In dieser vermeintlich bloß empirischen Handhabung aber wird die – alles andere als selbstverständliche – kategoriale Struktur der Bildung als Figuration dieser Praktiken gerade übersehen – und vermutlich ungesehen fortgeschrieben.
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gesamt gesellschaftlich kann mit ‘Bildung’ sowohl ein zentraler Nerv unserer gegenwärtigen westlichen Gesellschaften markiert als auch dessen ‘innere Logik’ bezeichnet werden. ‘Bildung’ muss daher – trotz der allfälligen Defizitanalysen und sie begleitenden ‘lauten Klagen’ (Tenorth) – als eines der effektivsten und erfolgreichsten modernen pädagogischen Konzepte betrachtet werden, das gesellschaftliche Transformation und Entwicklung gerade durch individuelle Formation betreibt; gerade indem sie weniger (wenn auch immer wieder) auf kanonisierbare ‘Bestände des Wissens’ zielt, sondern vielmehr ein spezifisches, nicht nur auf Reflexivität und Sprachlichkeit reduzierbares (Selbst-)Verhältnis dazu markiert und in ein – ebenso durch Selbstbestimmung wie Selbstentfaltung charakterisierbares – Gesamtverständnis ‘epigenetischer Subjektivität’ integriert, kann ‘Bildung’ als die wohl auch gegenwärtig immer noch dominante Form menschlicher Selbstbeschreibung verstanden werden. Die für sie zentrale Verknüpfung von ‘Selbsthervorbringung’ in und durch ‘Weltaneignung’ und ‘Ausarbeitung’ (Humboldt) ist nicht nur die noch immer zentrale Legitimation des pädagogischen Systems, sondern auch die in unseren westlichen Gesellschaften praktizierte Form der Subjektivierung überhaupt12. Auch wenn Lyotards Begründung der Diagnose einer zunehmenden “Delegitimierung” (Lyotard 1986, 112) der beiden ‘großen Erzählungen der Moderne’ – der politisch formulierten “Erzählung der Emanzipation” (ebd.) und der eher philosophisch gehaltenen “spekulativen Erzählung” (ebd.) der “Bildung” (ebd. 99)13 – insbesondere in ihrer kritischen Thematisierung von metaphysisch aufgeladenen und postmodern nicht mehr haltbaren Totalitäts- und Einheitsvorstellungen durchaus zugestimmt werden kann, so vermag die daraus gezogene Schlussfolgerung Lyotards – “Die große Erzählung hat ihre Glaubwürdigkeit verloren” (ebd. 112), so dass man “bei großer Vereinfachung [...] die Skepsis gegenüber den Metaerzählungen für ‘postmodern’” (ebd. 14) halten muss – nicht gänzlich zu überzeugen. Sicher: kaum jemand knüpft – allemal ‘spätmodern’ – überaus große Hoffnungen an die von Lyotard ausgemachten ‘Metaerzählungen’ der Aufklärung und der Bildung, sind doch diese insbesondere in den verstörenden ‘Menschenvernichtungserfahrungen’ (Bokelmann) des letzten Jahrhunderts zerrieben und als bloß ‘humanistische Illusion’ (Schäfer) entlarvt worden, so dass ungebrochen kein Bezug zu ihnen mehr hergestellt werden kann; auch verspricht sich kaum jemand von der Etablierung neuer universeller “Legitimierungserzählungen” (ebd. 96) die Lösung gegenwärtiger praktischer wie theoretischer Probleme (vgl. ebd. 188), gelten doch Pluralismus, Differenz und Heterogenität gegenwärtig längst als nicht weiter reduzierbare und hintergehbare 12
Angesichts der überwiegend deutschen ‘Bildungsbesonderung’ erstaunt, dass ‘Bildung’ gegenwärtig auch im anglo-amerikanischen Diskurs rezipiert und diskutiert wird; vgl. dazu exemplarisch die jeweilig mit ‘Bildung’ überschriebenen Themenhefte der Zeitschriften ‘Journal of Philosophy of Education’ (36 (2002), No. 3) und ‘Educational Theory and Philosophy’ (35 (2003), No. 2).
13
Vermerkt sei, dass Lyotard im ‘Widerstreit’ (Lyotard 1987) den “Niedergang der universalistischen Diskurse”und der “metaphysischen Doktrinen der Moderne” um die “Erzählungen vom Fortschritt, vom Sozialismus, vom Überfluß, vom Wissen” (ebd. 12) erweitert. Vgl. insgesamt zu einer bildungstheoretischen Auseinandersetzung mit den Arbeiten Lyotards die präzisen und differenzierten Überlegungen Kollers (Koller 1999), der gerade im Durchgang durch die Bestreitungen Lyotards einen kritischen und an Pluralität und ‘Widerstreit’ orientierten Bildungsgedanken zu reformulieren sucht.
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Erfahrungen schlechthin, so dass Lyotards Feststellung des ‘Endes der großen Erzählungen’ auch gerade in ihrer negativen Bedeutung – als Festhalten durch Leiden am Fehlen – uneingeschränkt zugestimmt werden muss: “Man kann heute sagen, daß diese Trauerarbeit abgeschlossen ist. Sie muß nicht wieder begonnen werden” (ebd. 122). Und doch fungiert insbesondere ‘Bildung’ gegenwärtig als – zwar philosophisch ermäßigte, aber darin weitgehend durchgesetzte und modern überaus erfolgreiche – ‘kleine Erzählung der Spätmoderne’: nicht, weil sie die durch das postmoderne ‘Ende der großen Erzählungen’ entstandene ‘Leere’ unbeschadet überstanden hätte und sich heute als neuerlich moderne ‘Resterzählung’ präsentieren könnte; auch nicht (nur), weil sie immer wieder neu den Anschein zu erwecken vermag, “sich am Leben” zu erhalten, “weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward” (Adorno 1966, 15); sondern vor allem, weil sie angesichts der enorm gestiegenen gesellschaftlichen Bedeutung von Wissen und funktionaler Reflexivität als ‘kleine Erzählung der Inklusion’ neu inszeniert wird, die mithilfe sozialer Mechanismen der Exklusion und Exklusionsdrohung durchgesetzt und ‘motivkräftig’ rezipiert wird: “Das Wissen ist in der Form einer für die Produktionspotenz unentbehrlichen informationellen Ware zunehmend ein bedeutender, ja vielleicht der wichtigste Einsatz im weltweiten Konkurrenzkampf um Macht. Es ist denkbar, dass die Nationalstaaten in Zukunft ebenso um die Beherrschung von Informationen kämpfen werden, wie sie um die Beherrschung der Territorien und dann um die Verfügung und Ausbeutung der Rohstoffe und billigen Arbeitskräfte einander bekämpft haben” (Lyotard 1986, 26). Wenn denn daher gegenwärtig überhaupt auf ‘gesellschaftliche Erzählungen’ zurückgegriffen wird, um sich nicht gänzlich in Ratlosigkeit, Resignation oder gar Zynismus angesichts systemischer ‘Unaufhaltsamkeit’14 zu verstricken, dann taugt allemal noch ‘Bildung’ – auch und gerade aufgrund ihres ‘Humanismusvorschusses’ – als ‘semantischer Pool’ unvermeidbarer Sinnkonstruktionen: einerseits als Ergänzungs-, Verbindungs- wie auch Kompensationserzählung der zwei gegenwärtig zentralen Erzählungen des ‘Individualismus’ (Dumont 1991) und des ‘Funktionalismus’ (Luhmann 2002b); und andererseits als Versuch, angesichts von ‘Alternativlosigkeit’ (Žižek) und Folgenlosigkeit politischen Handelns und eines daraus resultierenden, weithin beobachtbaren Fatalismus wenigstens einigermaßen mit und vor sich selbst bestehen zu können. 14
Interessant ist, dass Lyotard gerade diese Seite gesellschaftlicher Modernisierung zunehmend in den Blick genommen hat; vgl. dazu die Zusammenhänge seiner Erörterung einer ‘postmodernen Fabel’ (Lyotard 1998a) mit der mit ‘Mauer, Golf, System’ (Lyotard 1998b) überschriebenen Bestimmung des “gegenwärtigen Stand[s] der geschichtlichen Lage” (ebd. 67): so hat sich der durch das ‘Scheitern der großen Erzählungen’ entstandene “Freiraum” (ebd. 78) gerade nicht als Ermöglichungsbedingung neuer ‘Freiheiten’, sondern vielmehr als ‘funktionaler Freiraum’ der Perfektionierung des Systems erwiesen. “Das System braucht keinerlei metaphysische Legitimation, es braucht diesen Freiraum” (ebd. 78), so dass auch Kritik zu einer Funktion, einer “Verteidigungspraxis” (ebd. 68) des Systems geworden ist. “Die Kritik hat genau die Aufgabe, jedes Versagen des Systems [...] aufzuspüren und zu kritisieren [...], um diese Aufgabe [des Systems] noch effektiver zu erfüllen” (ebd. 69). In diesen Freiraum plaziert Lyotard nun seine ‘postmoderne Fabel’, “die nichts Kritisches hat, die schlichtweg ‘darstellend’ und eher referentiell als reflektierend ist, also ganz naiv und kindlich” (ebd. 79); in Gestalt einer auf ‘Entropie’ (Lyotard 1998a, 83) basierten ‘Menschenerzählung’ thematisiert die ‘Fabel’ das mit der Zerstörung der Erde und des ‘Verglühens des Systems’ (ebd. 81) einhergehende Verschwinden der Menschen – als Anstoß zu neuer Nachdenklichkeit: “Aber, alles in allem gesehen, diese Fabel soll nicht geglaubt, sondern reflektiert werden” (ebd. 96).
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Die hier vorgelegten Überlegungen zum Zusammenhang von Bildung und Macht zielen daher auf dreierlei: zunächst geht es darum, die spezifische Machtform der Bildung zu befragen und ‘Bildung’ selbst als – insbesondere anthropologisch praktizierte – ‘Figuration der Macht’ zu analysieren, die ihre Effektivität gerade ihrer Produktivität und Konstruktivität verdankt, die sich von bloßer Repression und Negation deutlich absetzt; darin geht es zweitens um eine – wenn auch zunächst erziehungswissenschaftlich motivierte – Problematisierung von ‘Bildung’ als einer längst grundbegrifflich verankerten pädagogischen Kategorie, die schließlich darauf zielt, ebenso kategoriale Alternativen anzudenken wie andersmögliche menschliche Selbstbeschreibungen zu erörtern, die tauglich sein könnten, der gegenwärtigen Fixierung und gesellschaftlichen Ratlosigkeit zu entkommen. Alles drei aber sind Momente einer ‘Genealogie der Bildung’. Vielerlei ließe genealogisch sich zeigen und müsste machttheoretisch auch gezeigt werden (vgl. Marchand 1997): wie sich darin ‘Bildung’ auch methodologisch nähern lässt und was unter ihr dann jeweils verstanden werden muss oder kann [A]; wie ‘Bildung’ sich als gesellschaftliches Dispositiv konstituiert und sich in der Jahrhundertwende zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert erstaunlich schnell als ‘anthropolitische Matrix’ und ‘Führung der Führungen’ etabliert [B]; aber auch, wie sich ‘Bildung’ im Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts wandelt und rekonstituiert, um als gesellschaftliche Macht bestehen zu können15; und schließlich, wie ‘Bildung’ als erziehungswissenschaftliche Kategorie etabliert, profiliert und oppositional justiert wird, um als nach innen wie außen orientierter ‘disziplinärer Grundbegriff’ einer permanent bezweifelten, strukturell irritierten und insofern ständig neu ‘disziplinierten Disziplin’ auf die Beine zu verhelfen16. Nicht alles aber lässt sich leisten. Angesichts der Überfülle der Materialien und vorliegenden Bearbeitungen wie der nur begrenzten eigenen Kraft beschränken sich meine Explorationen einer machttheoretischen Interpretation von ‘Bildung’ auf bloß zwei – bereits angedeutete – Beiträge zu einer ‘Genealogie der Bildung’: in einem ersten Schritt (Vgl. [A]) geht es um eine methodologische Reflexion und Justierung der eigenen Perspektive einer ‘Genealogie der Bildung’ in Auseinandersetzung mit anderen Bearbeitungsmöglichkeiten; sie dient nicht nur der – wenn auch bloß exemplarischen – Vergewisserung bisheriger ‘Bildungstheorie’, sondern auch dem Versuch, die inhaltlich kaum bändigbare Fülle und Widersprüchlichkeit des Bildungsbegriffs 15
Stellvertretend für viele andere historischen Untersuchungen zur Rekonstitutionsphase der Bildung ließen sich neben den breiten Überlegungen Bollenbecks (1996) auch die Arbeiten von Groppe (1997) und auch Drewek (1990) nennen.
16
Eine entlang des Bildungsbegriffs machttheoretisch justierte Disziplingeschichte der (deutschen) Erziehungswissenschaft stellt m.W. ein wissenschaftgeschichtliches Desiderat dar; es ginge dabei auch darum, den erst spät erfolgreichen Konstitutionsprozess der pädagogischen Disziplin als einen auch durch die überaus umstrittene Semantik der ‘Bildung’ ermöglichten ‘Disziplinierungsprozess’ lesbar zu machen und doppelt auszulegen: als einen ‘kategorialen Kampf’ gegen andere kategoriale Justierungen einerseits wie als einen (damit verbundenen) ‘Kampf um wissenschaftliche Reputation’ andererseits. Beides aber ließe sich nur vor dem Hintergrund der ‘Rekonstitutionsphase der Bildung’ angemessen verstehen; Namen wie Dilthey, Spranger, Nohl und auch Flitner mögen diesen Zusammenhang andeuten. Vgl. dazu wiederum Drewek 1990 wie auch Tenorth 1999b und 2000, 222-244.
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produktiv zu nutzen und unter der Überschreibung ‘Bildung als Dispositiv’ auch als methodische Justierung zu plausibilisieren. Unweigerlich führt daher die methodologische Erläuterung einer ‘Genealogie der Bildung’ auch zur Eingrenzung der von mir leistbaren Arbeitsschritte und der Konzentration auf eine ‘Anthropolitik der Bildung’. Ein zweiter Schritt rekonstruiert die Struktur einer solchen ‘Anthropolitik’ (Morin) der Bildung in ihrer Konstitutionsphase in zweifacher Hinsicht: als diskursive Durchsetzung einer spezifisch anthropologischen Selbstbeschreibung, die auf Selbstbezüglichkeit sich stützt, an besondere Selbsttechnologien geknüpft ist und insgesamt die Etablierung einer neuen gesellschaftlichen Praxis moderner Pastoralmacht ermöglicht [B 1]; als Präferierung und Durchsetzung einer bestimmten Sozialitätsvorstellung, in der das (miteinander) Verbindende des ‘sozialen Bands’ vom ‘Gemeinsamen’ zum ‘Allgemeinen’ verschoben und im individuellen Selbstverhältnis mit verankert wird [B 2]. Ein bündelnder Blick auf die Subjektivierungseffekte der Bildung [C] erlaubt daher die Einschätzung, dass es die ‘Form der Bildung’ ist, die sich in den verschiedenen Bildungsinhalten als bedeutsam erweist; sie ließe sich als “List der pädagogischen Vernunft” (Bourdieu 1976, 200) bezeichnen, überwiegend im Wissen die Form des Individuums zu erwirken, indem sie “unter dem Deckmantel, das Bedeutungslose zu fordern, das Wesentliche zu entreißen” (ebd.) sucht17. Entscheidend ist jedoch, die durchgängige machttheoretische Justierung nicht immer wieder misszuverstehen und als ‘Strategie’ verborgener Agenten auszulegen; vielmehr zielt der Versuch, ‘Bildung’ als eine Form moderner ‘Führung der Führungen’ (Foucault) zu begreifen, darauf, die ‘Macht der Bildung’ (Groppe) nicht bloß als etwas an und zu Bildung zusätzlich Hinzutretendes zu verstehen, sondern als etwas im Konzept der Bildung bereits selbst Enthaltenes zu bestimmen – um so die in ihr gerade ‘verborgenen Mechanismen der Macht’ (Bourdieu) zu rekonstruieren, ‘Bildung’ ihres ‘Humanismusvorschusses’ zu berauben und den Grund ihrer andauernden Wirksamkeit gerade darin aufzuzeigen, dass sie nicht bloß beiläufig befördert, was sie überaus angestrengt verbirgt: den Zugriff der Macht. Es ist weniger die immer wieder beklagte vermeintliche ‘Ohnmacht der Bildung’ (Schütz)18, sondern deren anthropolitischer wie kategorialer Erfolg, der ‘Bildung’ als auch heute noch dominante pädagogische Orientierung und erziehungswissenschaftliche Grundbegrifflichkeit so problematisch macht.
17
Dies in einer weiteren Teilstudie auch am ‘Bildungswissen’, seiner historischen Etablierung und Kanonisierung nachzuzeichnen, kann hier nicht eigens geleistet werden.
18
Die ‘pädagogische Klage’ – längst zum Topos geworden – gehört von Anfang an zum pädagogischen Habitus; sie aber verdeckt – auch historisch (vgl. Osterwalder 2002) – den ebenso unaufhaltsamen wie ‘stillen Sieg’ (vgl. Tenorth 1992a) derselben.
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[A]
Bildung als Dispositiv – Eine methodologische Annäherung “Bildung ist das, was übrig bleibt, wenn man alles vergessen hat. [...] Bildung ist kein Arsenal, Bildung ist ein Horizont.” (Hans Blumenberg) “Der Bildungsbegriff bezeichnet die ‘innere Form’, die das Individuum sucht und annimmt. [...] Es ist diese Form, die erzieht, nicht der Inhalt.” (Niklas Luhmann)
‘Bildung’ ist ein ‘historisches Bleigewicht’ (Jeismann) – fast ohne gleichen: trotz ihrer alltagssprachlich festen Verankerung und Selbstverständlichkeit entzieht sie sich einer leichtfertigen Handhabung, ist ‘Bildung’ doch – wie kaum ein anderer (nicht bloß) pädagogischer Begriff im deutschsprachigen Diskurs – elementar mit der Konstitution der Moderne verwickelt, so dass sie ohne Bezug zu den diese begleitenden Hoffnungen wie Enttäuschungen sich nicht erläutern lässt. Eine jede Annäherung an ‘Bildung’ konfrontiert daher mit erheblichen methodischen Schwierigkeiten: nicht nur, weil sich trotz weit verbreiteter alltäglicher Verständlichkeit und Selbstverständlichkeit der Begriff der Bildung nicht auf eine präzise Definition festlegen lässt, so dass – mindestens auf Nachfrage – kaum vermeidbar ist, in immer wieder neu ansetzenden Erklärungen und Präzisierungen dem Begriff der Bildung eine Bedeutung abzuringen, die gegenüber der Fülle der mit Bildung verknüpften Bedeutungsmöglichkeiten sich immer nur als partikular erweisen kann und insofern von dauerndem Unbehagen begleitet ist; auch nicht nur, weil man sich in den unvermeidlichen Bedeutungssondierungen und der – bisweilen auch überaus verzweifelten – begrifflichen Abarbeitung an ‘Bildung’ immer wieder an die Geschichte des Begriffs verwiesen und damit vor eine ungemeine Komplexität und Heterogenität gestellt sieht, die angemessen einzufangen die je eigene ‘Begreifungskraft’ (Heine) schlicht übersteigt, lassen sich doch leicht immer wieder andere, bislang vernachlässigte oder gar übersehene Bedeutungsfacetten nachtragen, so dass der Streit um ‘Bildung’ nur allzu schnell in begrifflich-historische Rechthaberei um ‘echte’ und ‘wahre Bildung’ umschlägt und perspektivische Verständigung ‘nach vorn’ oft genug blockiert; sondern vor allem, weil ‘Bildung’ selbst – immer noch – überaus emphatisch aufgeladen ist und im deutschen Sprachgebrauch als eines der zentralen modernen (und nicht nur pädagogischen) ‘Dogmen’ fungiert, die allzu oft nur in die Entscheidung zwischen nahezu gläubig argumentierender Orthodoxie und ebenso bekennender Häresie führen, so dass jeder Versuch auch einer bloß ‘realistischen’ oder gar ‘pragmatisch-funktionalen’ Begriffsfassung sich mit als uneingelöst behaupteten Überschüssen konfrontiert sieht. Was aber semantisch und bedeutungsgeschichtlich bereits frustriert, ist auch pragmatisch nicht verheißungsvoller, denn blickt man auf den Begriffsgebrauch und die jeweiligen Verwendungsweisen (vgl. Tenorth 1997), so verschärfen sich die Schwierigkeiten, muss doch neben und in aller Heterogenität der inhaltlichen Bedeutungen auch eine “unübersehbare Heteronomie der Betrachtungsweisen” (Tenorth
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Studie II A: Bildung als Dispositiv – eine methodologische Annäherung
1997, 971) eingestanden werden. Es ist dieses jeweilige “Sprechen nach unterschiedlicher Gesetzlichkeit” (ebd.), das den ‘Diskurs der Bildung’ ebenso unübersichtlich und widersprüchlich wie mühsam und verständigungslos macht, so dass ‘Bildung’ auch in ihrem begrifflichen Status zwischen theoretischem Begriff, praktisch-relevantem Konzept und institutionalisierter sozialer Praxis einerseits und vermeintlich bloß deskriptiver Perspektive oder unvermeidlich normativer Aufladung andererseits changiert. Unstrittig scheint nur, dass ‘Bildung’ “bestimmt unbestimmt” (Ehrenspeck / Rustemeyer 1996) und insofern zwar “jedem vertraut”, aber “keinem verfügbar” (Meyer-Drawe 1998a, 126) ist; doch ist – bei näherer Betrachtung – ihre immer wieder beklagte, bisweilen auch schadenfroh diagnostizierte und dann in ihrer zweideutigen “diskursiven Funktion” (Rustemeyer 1997, 96) beobachtbare semantische und pragmatische Unbestimmtheit keinesfalls bloß diffus und willkürlich, sondern überaus ‘bestimmt’, so dass sich “neben dem Allbegriff, also der Vielfalt” der Bildung, durchaus ein “Inbegriff von Bildung” (Tenorth 1997, 975) rekonstruieren lässt. Es ist die ‘Form der Bildung’, die in all den heterogenen Bedeutungsfacetten derselben als durchgängig sich erweist und die unterschiedlichen heteronomen Verwendungsweisen miteinander verbindet19; sie insbesondere machttheoretisch zu interpretieren ist Ziel der folgenden Überlegungen.
I. Wie auch immer ‘Bildung’ pragmatisch justiert und semantisch präzisiert wird, immer thematisiert sie die Differenz von Subjekt und Objekt, Individuum und Gesellschaft oder Mensch und Welt in wissenstheoretischer Absicht und bestimmt die Form dieser Relation in temporaler und logischer (individuell / allgemein) Hinsicht (vgl. Rustemeyer 1997), so dass ‘Bildung’ insgesamt die Verschränkung allgemeiner Bestimmungen des Selbst- und Weltverhältnisses mit besonderen Bestimmungen konkreter Individualität von Personen (vgl. Langewand 1994, 69) markiert. Dabei bezeichnet sie nicht nur Prozess und jeweilig erreichte Gestalt der Relationierung von Selbst und Welt, so dass ‘Bildung’ in der Differenz von ‘schon jetzt’, aber ‘noch nicht’ zwar auf Dauer gestellt, aber prinzipiell als auflösbar und versöhnbar gedacht wird, sondern legt diese Relationierung zugleich als miteinander harmonierende Individualisierung und Verallgemeinerung (Totalisierung) aus. Bedeutsam ist dabei, dass dieser Prozess der subjektiven Einarbeitung in und Ausarbeitung von objektiver Kultur selbst als durchgängig zwangloser Prozess menschlicher “Selbstgestaltung in Freiheit” (MeyerDrawe 1998a, 124) gedacht wird, so dass ‘Bildung’ als ein zwar auf Differenzen aufruhender, letztlich aber auf deren Auflösung und Versöhnung zielender Begriff die ‘Formwerdung des Individuums’ (Bokelmann) als einen selbstreferentiellen ‘Prozess der Subjektivation’ interpretiert; auch als bloß ‘materiale’ oder ‘formale Bildung’ ist sie daher immer ‘kategoriale Bildung’ (vgl. Klafki 1975), können doch Selbst- und 19
Auch wenn Tenorths Differenzierung verschiedener Thematisierungsformen (vgl. Tenorth 1997, 970-974) überaus hilfreich ist und darauf zielt, diesen ‘Inbegriff der Bildung’ als einen weitgehend formal bestimmten “Minimalbegriff” (ebd. 975) zu bestimmen, so bleibt die ‘Form der Bildung’ (Luhmann) – die Thematisierung der “Subjekt-Welt-Relation” (ebd.) – doch weitgehend unbestimmt.
Ein alltagsweltlicher Zugang
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Weltbezug in ihrer jeweiligen Verschränkung gerade nicht voneinander gelöst werden, so dass ‘Bildung’ – verkürzt – immer meint, im Erlernen von etwas sich auch immer selbst zu erlernen und als Selbst allererst hervorzubringen. Es ist dieser ‘Doppelaspekt’ der Bildung, der diese ebenso kenn- und auszeichnet wie beschwert, indem er zu Vereinseitigungen neigt und anhaltende ‘Scheinkämpfe’ – wie zwischen ‘Kanon der Inhalte’ und ‘Form der Kompetenzen’ oder ‘Allgemein-‘ und ‘Ausbildung’ – provoziert20. Die Behauptung eines ‘Inbegriffs der Bildung’ (Tenorth) lässt sich mit Blick auf einen eher alltagssprachlichen Gebrauch von Bildung bekräftigen; so lassen sich in einem ersten, wenn auch zunächst noch auf einer semantischen Oberfläche operierenden Zugriff verschiedene Bedeutungsdimensionen typologisch unterscheiden und trotz Begriffspluralität und Heterogenität in ihrem Zusammenhang skizzieren (vgl. Pleines 1971): Bildung kann erstens als erwerbbares und besitzbares ‘Gut’ verstanden werden, das aus ausgezeichneten Wissens- und Kulturbeständen besteht und in immer wieder neu formulierbaren ‘Bildungskanones’ objektivierbar scheint: “alles, was man wissen muß” (Schwanitz 1999), wie Schwanitz seinen ironischernsten und erstaunlich weit rezipierten Traktat über ‘Bildung’ überschrieben hat. Doch drängt dieses Verständnis eines zwar historisch kanonisierten, aber letztlich dann doch nur willkürlich kanonisierbaren Wissens gleichsam aus sich selbst über sich hinaus, markiert doch Bildung gerade in der Beschwörung der “Kenntnisse, nach denen man nicht fragen darf” (ebd. 396), nicht nur ein durch “Thematisierungstabus” und “rhetorischen Terrorismus” (ebd. 398) praktiziertes soziales ‘Unterstellungs-’ und ‘Unterscheidungsspiel’ (vgl. ebd. 395), sondern zweitens einen insbesondere durch Wissen, Nachdenklichkeit und Geschmack ausgezeichneten, aufgeklärt-reflexiven “Zustand des Bewußtseins” (Pleines 1971, 6), so dass Bildung gerade nicht mit ‘bloßem Wissen’ und ‘nackten Kompetenzen’ verwechselt werden darf, sondern immer auch eine Auslegung des jeweilig ‘Wahren, Guten und Schönen’ mit meint21. Bezeichnet Bildung daher auch den “geschmeidigen und trainierten Zustand des Geistes, der entsteht, wenn man alles einmal gewußt und wieder vergessen hat” (Schwanitz 1999, 394), so ist drittens damit verknüpft, Bildung nicht nur als Ergebnis, sondern auch – und mit weit mehr Gewicht, ist doch ein Endzustand nicht erreichbar – auch als Vorgang und “Prozeß des Geistes” und der “geistigen Formung des Menschen” (Pleines 1971, 8) zu verstehen – mit der immer wieder
20
Fuhrmanns geradezu anachronistisch anmutender, aber historisch durchaus begründeter Versuch, Bildung als eine für die ‘kulturelle Identität’ Europas unverzichtbare “Tradition” und dezidiert inhaltliche “Form des Bewahrens” (Fuhrmann 2002, 6) zu erinnern, mag die angedeuteten Spannungen belegen helfen; so richtet sich sein engagiertes Plädoyer für einen durch die christliche wie humanistische Tradition bestimmten ‘europäischen Bildungskanon’ (Fuhrmann 1999) zwar konsequent gegen die gegenwärtig grassierende ‘Formalisierung’ und ‘Entleerung’ von Bildung zu bloßem ‘Lernenlernen’ und ‘Kompetenzgehabe’, belegt aber in ihrem weit ausholenden Begründungsstreben deren längst eingetretenen Verfall. Kaum verwunderlich ist daher, dass Fuhrmanns Versuch, den klassischen Bildungsbegriffs ‘doppelpolig’ unter dem “europäischen Aspekt des Kanons bürgerlicher Allgemeinbildung” und dem “deutschen Aspekt einer spezifischen Bildungsidee” (Fuhrmann 2002, 35) zu reformulieren und damit sowohl inhaltlich – als spezifischen kulturellen Bestand – als auch formal – als im “Prozeß des Sich-Bildens” und des “erreichte[n] Zustand[s] des Gebildetseins” (ebd. 37) sich ausdrückende “Form [...], in der die Individuen an der Kultur teilhaben” (ebd. 36) – zu bestimmen, angesichts der gegenwärtigen ‘Krise der Bildung’ (vgl. ebd. 52f.) fast zwangsläufig auf “Verfall” und “Mißbrauch” (ebd. 53) der einst akzeptablen, dann aber bildungsbürgerlich deformierten ‘Idee der Bildung’ abstellen muss.
21
Kursorisch sei angemerkt, dass dieser spezifische Bewusstseinszustand immer wieder als Zeichen ‘echter Bildung’ vermerkt worden ist: sowohl Schelers Nebenbemerkung, dass Bildung jenes “Wissen [sei], von dem man gar nicht mehr weiß, wie man es gewann” (Scheler, zit. nach Pleines 1971, 24), als auch Webers ‘charismatisches Bildungsverständnis’ (vgl. Zymek 1984) belegen dies eindrücklich.
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Studie II A: Bildung als Dispositiv – eine methodologische Annäherung
getroffenen Einschränkung, nicht gerade jede ‘Formwerdung des Individuums’ bereits als Bildungsprozess anerkennen zu können oder zu wollen22. In dieser normativen Aufladung von Bildung zugunsten einer spezifischen Sittlichkeit ist eine vierte Bedeutung impliziert, die Bildung gerade nicht als natürlichen Reifungsprozess, sondern als “Selbstverwirklichung des Menschen in Freiheit” (Pleines 1971, 9) auslegt und insofern ausschließlich als einen Prozess der ‘Humanisierung’ qua ‘Selbstformung’ (Taylor) intoniert. Damit ist nur folgerichtig verbunden, Bildung schließlich fünftens als “permanente Aufgabe” und “unendliches Streben” (Pleines 1971, 8) auszugeben und dann deren Struktur fast ausschließlich nur noch als ein Geschehen des ‘Sich-Bildens’ (vgl. Hentig 1996, 39) zu buchstabieren, so dass ‘Bildung’ schließlich durchgängig als ‘Selbst-Bildung’ (vgl. Wimmer 1996, 136) entfaltet und tradiert wird23. Die hier nur oberflächlich unternommene Rekonstruktion des Zusammenhangs der verschiedenen Bedeutungsfacetten belegt: trotz der enormen Bedeutungsweite – vom vermeintlich ‘objektiven Wissen’ einer jeweiligen Kultur bis zur damit verknüpften ‘subjektiven Existenzform – thematisiert Bildung in sowohl deskriptiver als auch normativer Hinsicht eine spezifische ‘Form der Subjektivation’, die als temporal und logisch strukturierte ‘Formwerdung des Individuums’ in seiner jeweiligen Kultur justiert und als stetiger selbstreferentiell angelegter Aufbau- und Entwicklungsprozess konzipiert wird, der sich nur als aktiv und selbstbezogen zu leistende Auseinandersetzung mit ‘Welt’ vollzieht und insofern immer ‘zweipolig’ reflektiert werden kann: einerseits hinsichtlich des ‘Weltpols’, der sowohl material als auch relational genauer bestimmt werden kann; andererseits hinsichtlich des jeweiligen ‘Selbstpols’, der sowohl formal als auch relational genauer erläutert werden kann. Es ist gerade die Verknüpfung dieser beiden Aspekte, die ‘Bildung’ auszeichnet und als einen enorm fruchtbaren wie immer wieder ‘aufregenden Begriff’ (vgl. Koselleck 1990, 15) ausweist. Sofern Bildung daher als handelnde Aneignung von Wissen und damit immer verbundene Einübung in eine Praxis immer auch auf die Interpretation dieser Praxis und – darin – auf eine Selbstverständigung des Handelnden mit sich selbst zielt, ist ‘Bildung’ in sich selbst ausdrücklich ‘anthropologisch’ strukturiert, indem sie das Erlernen lebensweltlich unverzichtbarer Fertigkeiten und Fähigkeiten mit Erkenntnis- und Erfahrungsweisen und allgemeinen Zweck- und Sinnbestimmungen zu verknüpfen erlaubt. Es ist daher durchaus plausibel, ‘Bildung’ insgesamt als nichts anderes als eine – allerdings spezifisch zugeschnittene und figurierende – “Verständigung der Handelnden mit sich selbst über sich selbst” (Buck 1981, 36) zu bestimmen.
Die bereits nur alltagsweltlich beobachtete erstaunliche Elastizität der ‘Bildung’ setzt sich auch in ihren wissenschaftlichen Verwendungsweisen fort und befördert die Tendenz, ‘Bildung’ nicht nur als einen historisch verorteten ‘gesellschaftlichen Programmbegriff’ (vgl. Koch 1999), sondern auch als einen geradezu überzeitlich und transdisziplinär justierten ‘geisteswissenschaftlichen Grundbegriff’ (vgl. Steenblock 1997) aufzunehmen. Während so für die einen ‘Bildung’ als ‘bürgerlicher Kampf22
Mit dem Zusatz, dass es in ‘Bildung’ gerade um die ‘Figuration der Innerlichkeit’ geht, so dass als ‘gebildet’ nur gilt, was nicht bloß ‘künstlich’ äußerlich ist, sondern in “Anstand und Sitte”, “Gewissen” und “Gesinnung” zur eigentlich ‘zweiten Natur’ geworden ist: “Nicht mehr den schwankenden Meinungen der lauten Menge folgend oder den womöglich unberechtigten Ansprüchen der Herrschenden blindlings unterworfen, hat er, in sich zentriert und begründet, auch innerlich den rohen Naturzustand bewußtloser Triebe, ungebändigter Leidenschaften und eigensüchtiger Interessen hinter sich gelassen, um als dieser wahrhaft gute Wille den reinen Sinn des überprüften und für sich als unbedingt gültig anerkannten Gesetzes in seinem tun zu verwirklichen” (Pleines 1971, 11).
23
Wenn auch ‘bilden’ grammatikalisch nicht ausdrücklich auf die reflexive Form festgelegt ist und auch – historisch allemal – immer wieder auch anders belegt ist (ist doch die Aufgabe der Schule, ihre SchülerInnen ‘zu bilden’), so setzt Hentig schlicht: “Der prägnante Sinn des Wortes Bildung kommt jedenfalls in der reflexiven Form des Verbums am klarsten zum Ausdruck” (Hentig 1996, 39).
Ein alltagsweltlicher Zugang
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begriff’ mit der Etablierung des Bürgertums in Deutschland um 1800 verknüpft ist und insofern als historischer und sozialer Begriff gelesen werden muss, der nicht nur Ausdruck und Folge eines gesellschaftlichen Transformationsprozesses ist, sondern diesen auch als “genuiner historischer Faktor” (Koselleck 1990, 13) bestimmt und bisweilen provoziert hat, sehen andere in ihm eine zwar historisch datierbare, in ihrem Geltungsanspruch jedoch nicht begrenzbare neuzeitlich-moderne Einsicht des Menschen in und mit sich selbst formuliert, so dass ‘Bildung’ als theoretischer Begriff längst kategorialen Rang erlangt hat und inzwischen auch als formale Kennzeichnung einer relational verstandenen ‘Formwerdung des Individuums’ (Bokelmann) tradiert wird. Verknüpft man beide Markierungen, so bietet sich an, ‘Bildung’ als ein spezifisch deutsches ‘semantisches Deutungsmuster’ (Bollenbeck 1996) zu verstehen, mit dem Erfahrungen interpretiert und Handlungen in geschichtlich besonderen Konstellationen motiviert werden, so dass ‘Bildung’ auch als ein – vielfältige theoretische Differenzierungen übergreifender – praktischer Begriff und praktisches Konzept verstanden werden kann (vgl. Jeismann 2000, 184). All das aber legt nahe, ‘Bildung’ insgesamt als eine ebenso weitreichende wie überaus traditionsreiche “Selbstbeschreibung des Menschen” (Meyer-Drawe 1998a, 124) aufzunehmen und so als einen komplexen anthropologischen Begriff auszulegen, dessen spezifische Codierungen und praktische Weichenstellungen bis heute Geltung beanspruchen – auch und gerade, indem sie sich als nicht bloß zeitlich gebundene auszugeben vermögen24. Auch die gegenwärtig erstaunlich häufig vorgenommenen Bearbeitungen und Rekonstruktionen des Begriffs der ‘Bildung’25 lassen sich trotz auch gegenteiliger Intentionen durchaus in eine solche Richtung lesen, belegen sie doch in ihrer jeweiligen Perspektive nicht nur die neuzeitlich-moderne Zentralität des Konzepts der ‘Bildung’, sondern immer auch deren enge Verknüpfung mit menschlichen Selbstbefragungen und Sinnbestimmungen. Mit ‘Bildung’ – so die These der folgenden Überlegungen – kann daher nicht nur eine erstaunlich dominant gewordene und theoretisch weit ausgearbeitete Selbstbeschreibung insbesondere im deutschen
24
Eine solch weite anthropologische Justierung des Bildungsbegriffs mag gerade angesichts der Versuche, den Bildungsbegriff durch Be- und Eingrenzungen als einen ‘geisteswissenschaftlich’ wie ‘erziehungswissenschaftlich’ bedeutsamen Grundbegriff zu rehabilitieren, durchaus erstaunen oder gar ärgern, versucht aber der Beobachtung Rechnung zu tragen, dass auch in einer solchen grundbegrifflichen Verwendung ‘Bildung’ der mit ihr implizierten spezifischen anthropologischen Matrix nicht nur nicht zu entkommen vermag, sondern diese ausdrücklich zu reflektieren nicht mehr erlaubt. ‘Bildung’ markiert aber gerade kein anthropologisch konstantes Problem, sondern präsentiert eine spezifische, zeitlich und kulturell gebundene Selbstinterpretation; ausdrücklich sei daher der Tendenz widersprochen, ‘Bildung’ vermeintlich bloß formal oder objekttheoretisch zu verstehen und als einen dann überzeitlich behaupteten Begriff auch auf Kulturen und Zeiten zu projizieren, die von ‘Bildung’ jedenfalls nicht sprachen.
25
Exemplarisch seien hier die überwiegend begriffs- und bedeutungsgeschichtlich wie diskursanalytisch justierten Arbeiten von Assmann (1993), Bollenbeck (1996), Koselleck (1990), Meyer-Drawe (1998a, 1999a, 1999b), Rustemeyer (1997), Steenblock (1997) wie Tenorth (1994, 1997, 1998), genannt; gerade sie ermöglichen in ihrer jeweilig beeindruckenden Materialfülle, nicht nur die neuzeitlich-moderne Zentralität des überaus praktisch dimensionierten und permanent theoretisch reflektierten Konzepts der Bildung zu belegen, sondern legen auch die überwiegend anthropologische Justierung von Bildung als einer spezifisch deutschen und höchst folgenreichen Selbstverständigung nahe.
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Studie II A: Bildung als Dispositiv – eine methodologische Annäherung
Sprachraum markiert werden26; vielmehr dient diese auch als anthropologische Matrix der lebenspraktischen Orientierung und kann insgesamt als eine praktische Anthropologie eingeschätzt werden. Kerngedanke derselben ist dabei die Verknüpfung von grundsätzlich gedachter menschlicher Unbestimmtheit und Nichtfestgelegtheit mit der Vorstellung eines darin ermöglichten wie daraus resultierenden, zeitlich und relational strukturierten ‘Selbstgestaltungsvorgangs’ (Meyer-Drawe), in dem sich das Selbst in tätiger Auseinandersetzung mit der Welt und ohne Rückgriff auf gegebene Vorbilder als es selbst – sei es als freie Entfaltung, sei es in freier Bestimmung – im Horizont universaler Menschlichkeit allererst selbst hervorbringt. Als “Wissen, das uns mit uns selbst in ein Verhältnis setzt” (Buck 1981, 19), ist Bildung von Anfang an relational verfasst und focussiert dreierlei mit- und ineinander verschränkte Verhältnisse: Weltverhältnisse, die ebenso Wissen, Reflexion und Geschmack wie Fertigkeiten und Fähigkeiten umfassen; Selbstverhältnisse, die neben Reflexivität vor allem durch Selbstbestimmung und die ‘proportionierliche Entfaltung aller menschlichen Kräfte’ (Humboldt) gekenzeichnet sind; und schließlich – wenn auch oft unterbelichtet – Anderenverhältnisse, die von Geselligkeit und Verständigung bis hin zur allgemein sittlichen Anerkennung anderer reichen. Erst alle drei Dimensionen erlauben, den Horizont der ‘Bildung’ zu umreißen, indem sie Wissens- und Kompetenzfragen mit Selbst- und Anderenbezügen verknüpfen und zu einer ‘Gesamtfigur’ zusammenschließen. Diese hier angezielte Justierung von ‘Bildung’ als einer spezifisch neuzeitlichmodernen anthropologischen Matrix, mit deren Hilfe Menschen sich über sich selbst verständigen und sich zugleich theoretisch wie praktisch in der gemeinsamen Welt orientieren, lässt sich mit Blick auf die unterschiedlichen Annäherungen an ‘Bildung’ plausibilisieren; dabei geht es nicht darum, die jeweiligen Differenzen einer begriffsund sozialgeschichtlichen Rekonstruktion und einer diskurs- wie metapherngeschichtlichen Bearbeitung von ‘Bildung’ zu verdeutlichen und bloß zu bestätigen, sondern darum, in einer Neueinschätzung von ‘Bildung’ als einem ‘Dispositiv der Macht’ (Foucault) deren Zusammenhang auch methodologisch Rechnung zu tragen. Dies sei daher in einem kurzen Durchgang durch exemplarische Stationen einer eher semantischen und begriffsorientierten Auseinandersetzung mit Bildung unternommen, um den Einsatz einer ‘Genealogie der Bildung’ vorzubereiten.
II. Weitgehend Konsens besteht wohl in der methodologischen Einschätzung, dass eine ausschließlich begriffsgeschichtliche Annäherung an ‘Bildung’ nicht hinreichend sein kann, um deren theoretisch wie praktisch justierten Charakter angemessen ausloten und insbesondere hinsichtlich seiner Machtförmigkeit verständlich machen zu 26
Doch darf der Hinweis auf die deutsche Spezifizität nicht immer nur als Ausdruck eines dann eher abschätzig gemeinten ‘Sonderwegs’ verstanden werden. Der im angelsächsischen Sprachraum verbreitete Topos der ‘liberal education’ könnte hier durchaus als Analogon zur ‘Bildung’ gelesen werden; vgl. dazu insgesamt immer noch insbesondere Peters 1969 wie auch Peters 1967. Einen guten Überblick bieten Smeyers / Marshall 1995 wie auch Blake u.a. 2003.
Ein ideengeschichtlicher Zugang
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können. Sondiert man aber die unterschiedlichen Beiträge zu einer begriffsgeschichtlichen Rekonstruktion von ‘Bildung’, so überwiegen – trotz der verbreiteten Einsicht in das “Ungenügen an den Gipfelwanderungen der traditionellen Ideengeschichte” (Bödeker 2002, 10) – doch weitgehend ideen- bzw. sachgeschichtlich argumentierende Erkundungen, die sich allzu oft nur auf “Höhenkammzitate” (Reichardt 1985, 64) kanonisierter ‘großer Theoretiker’ ‘von Platon über Humboldt bis (inzwischen) Derrida’ beschränken, ohne aber “deren gesellschaftliche Repräsentativität nachzuweisen und zur politischen Alltagssprache vorzudringen” (Reichardt 1985, 63). Nur folgerichtig haben spätestens seit Ende der 60er Jahre die Auswahl der berücksichtigten Quellen und die interpretativ vorgenommenen Abstraktionen vom politisch-sozialen Kontext scharfe Kritik auf sich gezogen – auch und vor allem, weil diese zumeist dann philosophiegeschichtlich angelegten Untersuchungen den Zusammenhang von Begriff und Realität nur ungenügend (oder gar nicht) aufzuhellen vermochten. Dennoch: gerade hinsichtlich des Bildungsbegriffs lassen sich diese traditionell ideengeschichtlichen Begriffsrekonstruktionen nicht schlicht übergehen oder gar als belanglos disqualifizieren; vielmehr taugen sie – auch in ihrer Abstraktionslage – durchaus dazu, sowohl jeweilige Kontinuitäten und Diskontinuitäten als auch Bezüge und Verweise im Begriff der Bildung zu erinnern und damit sowohl dem auffälligen Bedeutungswandel der ‘Bildung’ als auch deren enormer Elastizität konkrete Gestalt zu geben. Begriffsgeschichtliche Rekonstruktionen der ‘Bildung’ haben Tradition und bestimmen in ihrem Zugriff – von Hans Weil (1930) über Günther Dohmen (1964 wie 1965) bis schließlich hin zu Volker Steenblock (1999) – die Form der pädagogisch-theoretischen Abarbeitung. So haben insbesondere Ilse Schaarschmidt (1931) und Ernst Lichtenstein (1966 wie 1971) in ihren Arbeiten die traditionsreiche und ausgesprochen lange Begriffsgeschichte der ‘Bildung’ in eher philosophiegeschichtlicher Perspektive materialreich rekonstruiert. Auch wenn sich der dabei immer auch unternommene Versuch, verschiedene Ausgestaltungen des Begriffs der Bildung zu unterscheiden, einer bündelnden Bilanzierung sperrt, lässt sich ein enormer Bedeutungsund Statuswandel des Begriffs beobachten, der von der ‘Idee der Bildung’ über das ‘Prinzip’ und ‘Ideal der Bildung’ schließlich zum ‘kategorialen Begriff der Bildung’ geführt hat und eine sowohl teleologische als auch identitätstheoretische Lesart zuzulassen scheint (vgl. Buck 1984). Schaarschmidts früher Aufriss mag dafür exemplarisch einstehen: ausgehend von der Überzeugung, dass die “Geschichte der Worte” in ihrem jeweiligen Bedeutungswandel die “Geschichte der Dinge” nicht nur “spiegelt” (Schaarschmidt 1931, 25), sondern auch – insbesondere durch die Findung “neuer Worte” auch “ruckartig” – ‘nach vorne’ “orientiert” (ebd.), so dass bereits die Analyse der “Sprachakte” (ebd.) nicht nur aufschlussreich ist, sondern sich auch auf die “Dichter” (ebd.) und ‘Denker’, die doch den “stärksten Anteil” am “geistigen Leben” (ebd.) haben, beschränken kann – dem “Volk” kommt dabei ‘nur’ die “Aufnahme, Verbreitung und Verwandlung, die Auswahl, die Mischung, das Verwischen und Verkümmern, aber auch die Bewahrung und Sicherung des Wortgutes” (ebd.) zu –, hat Schaarschmidt den enormen “Bedeutungswandel” (ebd.) umfassend in sowohl geschichtlicher als auch systematischer Hinsicht rekonstruiert. Ihr Befund sei daher gebündelt und – auch im Rückgriff auf Lichtensteins Studien – in vierfacher Hinsicht genutzt: (a) ‘Bildung’ kann als ein historischer Begriff relativ exakt datiert werden; allein wortmetrisch lässt sich ein zwischen 1747 und 1770 zunächst zögerlich zunehmender, dann enorm sich verbreitender und um 1800 nahezu selbstverständlicher Wortgebrauch nachweisen (vgl. ebd.
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Studie II A: Bildung als Dispositiv – eine methodologische Annäherung
81-85), so dass Bildung – trotz einer weitaus längeren Wortgeschichte – in der Tat als eine ‘semantische Erfindung’ der ‘Epochenschwelle’ (Koselleck) gelten kann. Ihr Geltungsraum kann zunächst weitgehend auf Deutschland eingeschränkt werden, auch wenn dies “uralte rein germanische Wort dazu berufen war, einen europäischen Kulturvorgang auszudrücken, der so erschöpfend in keiner anderen Sprache wiedergegeben werden kann” (ebd. 28). Beide von Schaarschmidt gemachten Beobachtungen beanspruchen bis heute uneingeschränkte Geltung: nicht nur wird (seit 1896, vgl. ebd. 25) immer wieder – sozusagen stellvertretend – auf die 1784 formulierte Beobachtung Moses Mendelssohns hingewiesen, der zufolge “die Worte Aufklärung, Kultur, Bildung [...] in unserer Sprache noch neue Ankömmlinge” sind, die noch “vor der Hand bloß zur Büchersprache” (Mendelssohn, zit. Vierhaus 1972, 508; vgl. u.a. auch Lichtenstein 1971, 921) gehören; auch der danach diagnostizierte signifikant zunehmende Wortgebrauch wird bis heute gern lexikometrisch belegt – insbesondere mit dem Hinweis, dass bereits 1825 so häufig von Bildung die Rede gewesen sei, dass “vielleicht nichts schwerer zu bestimmen sei, als eben sie”, so dass der “weidlich hin und her gezerrte, mal so mal anders verstandene und gerade deshalb sehr fragwürdig gewordene Begriff der Bildung” kaum noch über “die Rolle eines dekorativen Aushängeschildes” hinauskomme: “Was kann Bildung heute nicht alles bedeuten” (Rheinisches Conversations-Lexicon von 1825, zit. nach Vierhaus 1972, 537). Schließlich gilt auch die Einschätzung von ‘Bildung’ als eines kaum oder nur unzureichend übersetzbaren deutschen Begriffs bis heute (vgl. exemplarisch Vierhaus 1972, 508 wie auch Koselleck 1990, 14f.). (b) Verständlicher wird diese beobachtete Konjunktur und zunehmend breiter werdende Rezeption des Bildungsbegriffs aber erst auf dem Hintergrund zweier begrifflicher ‘Beerbungen’, die es erlauben, in ‘Bildung’ unterschiedliche und in sich selbst bereits traditionsreiche Bedeutungsdimensionen zu verknüpfen: einerseits als begriffliche Entsprechung von ‘forma’ (Gestalt) und ‘formatio’ (Gestaltung), so dass ‘Bildung’ sowohl als – verbal formuliert – ‘bilden’ als auch als ‘sich bilden’ verstanden werden kann und insofern ‘äußere’ wie ‘innere Gestalt’ bezeichnet; andererseits aufgrund seiner – bereits alt- wie mittelhochdeutsch (ahd. ‘bildunga’, mhd. ‘bildunge’) rekonstruierbaren – mystisch-theologischen Abkunft als Verknüpfung mit der um den Begriff des ‘Bildes’ – sei es ‘Ab-‘ und ‘Ebenbild’ wie auch als ‘Vor-‘ und ‘Nachbild’ – konfigurierten biblischen ‘Imago-dei-Lehre’ und der daraus resultierenden Vorstellung einer ‘imitatio Christi’, so dass in ‘Bildung’ schließlich alte theologische Assoziationen mit neuen Figuren menschlicher Selbstbeschreibung – wenn auch nicht immer widerspruchsfrei – verknüpfbar wurden (vgl. insgesamt Schaarschmidt 1931, 28-41 wie auch jüngst Meyer-Drawe 1999a, 167). Die von Schaarschmidt erarbeiteten und von Lichtenstein bestätigten Stationen einer nicht bloß humanistischen ‘Vorgeschichte’ der Bildung – von Meister Eckhart über Heinrich Seuse, Jacob Böhme wie auch Paracelsus bis hin zum Pietismus (vgl. Schaarschmidt 1931 wie Lichtenstein 1971) – können daher als Belege einer zwar zunehmend ‘säkularisierten Anthropologie’ angeführt werden, die nicht nur ihr theologisches Erbe nicht loszuwerden vermag, sondern dieses im späteren Gebrauch immer wieder aktualisiert und reformuliert. (c) Den von ihr über viele literarische wie philosophische ‘Klassiker’ hinweg beobachteten “Bedeutungswandel” markiert Schaarschmidt daher als einen enormen “Bedeutungszuwachs”, der aufgrund seiner vielfältigen Wurzeln nur als ein “Bedeutungszusammenwachs” (Schaarschmidt 1931, 86) verständlich gemacht werden kann; dies in zweierlei Hinsicht: erstens führt die von Schaarschmidt rekonstruierte – und in der Tat bei Platon beginnende und über Klopstock und Wieland bis schließlich Herder, Humboldt und Hardenberg reichende – Wandlungsbewegung der ‘Bildung’ von einer religiösen über eine “poetische Metapher” (ebd. 86) schließlich zu einem ebenso philosophischen, ästhetischen wie auch pädagogischen Begriff: “Ein uraltes deutsches Wort wird im Laufe eines halben Jahrtausends immer wieder umgedeutet und mit neuem Gehalt erfüllt: Bildung war Religion. Bildung war Natur. Bildung war Kunst” (ebd. 87) – bis schließlich: Bildung ist Philosophie; und Bildung ist Pädagogik. Zweitens aber weist sie mit großem Recht auf die enorme ‘Saugkraft’ des Begriffs der ‘Bildung hin, sind
Ein ideengeschichtlicher Zugang
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doch durch und in ‘bilden’ und ‘Bildung’ erstaunlich viele Synonyma – wie ‘erziehen’, ‘lernen’ und ‘lehren’, ‘(in)formieren’, ‘(aus)üben’, ‘erleuchten’ und ‘ausbilden’ (vgl. ebd. 82ff.) – schließlich zusammengefallen; Schaarschmidts genaue Explikation dieser jeweiligen semantischen Ablösungen ist auch heute noch überaus lesenswert wie überzeugend (vgl. ebd. 83-85). Die von Mendelssohn bereits aufgeworfene Frage – “War nun das Wort neu oder auch die damit bezeichnete Sache?” (Mendelssohn, zit. nach Schaarschmidt 1931, 87) – muss daher wohl mit einem entschiedenen ‘sowohl als auch’ beantwortet werden, mindestens dann, wenn – mit Wittgenstein – Bedeutung in ihrem jeweiligen Gebrauch einbeschlossen liegt. (d) Schließlich: auch wenn die Überlegungen Wilhelm von Humboldts in philosophiegeschichtlicher Perspektive nicht übergehbar sind, das Zentrum der begrifflichen Entwicklung des Bildungsbegriffs stellen sie kaum dar. Wenn daher Humboldt in einer jeden Begriffsrekonstruktion der ‘Bildung’ genannt werden muss, kann er – allein aufgrund seiner zeitgenössisch nur wenig verbreiteten Schriften – nur “unzutreffend” als “klassische[r] Repräsentant” und “theoretische[r] Begründer” (Lichtenstein 1966, 26) gelten und wohl kaum als einer der ‘philosophischen Protagonisten’ erachtet werden; vielmehr überragen philosophiegeschichtlich sowohl Fichte als auch insbesondere Hegel diesen weit, so dass – so nun Lichtenstein – nicht nur erst mit diesen von ‘Bildung’ als einer philosophisch bedeutsamen und produktiven Kategorie gesprochen werden kann (vgl. 1966, 25-30 wie 30-39), sondern schließlich auch Hegel als avanciertester Theoretiker der Bildung gelten muss, dessen Begriff der Bildung sowohl “noch den Bogen bis zurück zur mystischen Wurzel” “überspannt” als auch “schon die moderne Kritik an der Zweideutigkeit und ideologischen Struktur des Bildungsanspruchs in der bürgerlichen Gesellschaft vorweggenommen” und damit “in gewisser Weise [...] bereits für Nietzsche und Lagarde, für Löwith, Gehlen und Adorno die Kategorien hergegeben” (Lichtenstein 1966, 39) hat. (e) Der seit Hegel beobachtbare Wandel des Bildungsbegriffs wird daher – einerseits – als ein Prozess gesellschaftlich bedingter ‘Ideologisierung’ (vgl. Lichtenstein 1971, 927) interpretiert, in dem ‘Bildung’ insbesondere im Verlauf des 19. Jahrhunderts “zu einem bürgerlichen Statussymbol” (ebd.) degenerierte, dem sich – andererseits – insbesondere im 20. Jahrhundert eine Rückbesinnung “auf die pestalozzischen und humboldtischen Grundlagen” (ebd.) anschloss, die schließlich – insgesamt betrachtet – zu einer zeitgemäßen Erneuerung der ‘Bildung’ als einem unverzichtbaren, kategorial dimensionierten Begriff der Bildung (vgl. Lichtenstein 1971, 931-937) und einem “durch Personalität, Bewußtseinserhellung und soziale Verantwortung ausgezeichneten Modus des menschlichen In-der-Welt-Seins” (ebd. 937) geführt hat: “Es scheint, als habe damit, kritisch gereinigt und vertieft, der Bildungsbegriff die Rückkehr in die Ausgangslage seiner neueren Geschichte vollzogen, die er in der Auseinandersetzung mit dem Geist der Aufklärung begann” (ebd.)27. Insgesamt aber bestätigt Lichtensteins “Rekapitulation der deutschen Geistesgeschichte [...] von Meister Eckhart zu Fichte, von Paracelsus zu Herder, von Shaftesbury zu Schiller, von Jakob Böhme zu Oetinger” (Lichtenstein 1966, 38f.) nicht nur die von Schaarschmidt erarbeiteten Markierungen und fügt ihnen jeweilige Präzisierungen und (ausschließlich philosophiegeschichtlich bedeutsame) Verflechtungshinweise hinzu; vielmehr verleitet sie auch dazu, die heterogene Vielfältigkeit der verschiedenen “Bedeutungsschichten” (ebd. 39) der ‘Bildung’ zugunsten eines ‘Kern-‘ und ‘Echtbegriffs’ abzublenden und als einen generellen Struktur- und Theoriezusammenhang vorzustellen, in dem sich im “Pathos des Genetischen” (ebd.) Vorstellungen der “Entwicklung des Lebens von innen heraus” mit Elementen der auf “Welt” und “Wissen” bezogenen “Erfahrung” zu Bildern eines umfassend “Gestalthaften” verknüpfen (ebd. 39). Es ist genau diese Perspektive auf ‘Bildung’, die den diagnostizierten Wandel der Bedeutungen vom einmal erreichten ‘Problem- und Theoriestand’ her geradezu 27
Auch Dohmens pädagogisch justierten Befunde bekräftigen dies und legen eine – wenn auch ihrerseits normativ justierte – anthropologische Lesart nahe (vgl. Dohmen 1965, 235-244).
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Studie II A: Bildung als Dispositiv – eine methodologische Annäherung
‘rückwärts’ beschreibt und als jeweilige Vorstufen wie Rückfälle in einem Theorieprozess interpretiert.
Zweierlei Gewohnheit hat sich in dieser ideengeschichtlichen Weichenstellung, Begriffsbildung als theoretischen Reflexionsprozess auszulegen, festgesetzt: gelten einmal erreichter Theoriestand, Konsistenz und Reflexivität als Kriterien der Interpretation, so muss erstens das, was traditionell ideengeschichtlich als Bedeutungswandel sichtbar gemacht werden kann, nicht nur in seiner praktischen und sozialen Funktion weitgehend unbestimmt und unverstanden bleiben, sondern – angesichts eines einmal erreichten ‘Echtbegriffs der Bildung’ (Lichtenstein) – auch in seiner jeweiligen theoretischen Eigengestalt fast übersehen und bloß als mehr oder weniger konsistente Stufe eines Theoriebildungsprozesses angesehen werden, so dass die nachträgliche Konstruktion ‘seherischer Vorgriffe’ wie eklatanter ‘Rückschritte’ und grober ‘Vereinfachungen’ diskursive Plausibilität erlangen kann. Eng damit verbunden ist zweitens, dass Bildung und Macht einander fremd sind: nicht nur, weil ‘Bildung’, so die einhelligen Notierungen, als ‘Idee der Bildung’ den jeweiligen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen distanziert gegenüber steht und allenfalls von diesen ‘gebraucht’, ja häufiger ‘missbraucht’ worden ist; sondern vor allem, weil ‘Bildung’ als aufklärerisch-humanistischer Begriff durch seine eigenwillige Intonation menschlicher Selbstreferentialität einen Anspruch auf Selbstbestimmung aller markiert, der sich engführenden standes- und klassenpolitischen Zwecken ‘an sich’ daher verweigert. So ist nicht verwunderlich, dass ‘Bildung’ ideengeschichtlich weitgehend nur als Kritik der Macht vorgestellt (und rekonstruiert) werden kann – mit der dann immer wieder aufbrechenden Schwierigkeit, der politischen und sozialen Rolle der ‘Bildung’ im Prozess der Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft dann nur mit einer ‘Verratsund Verfallsrhetorik’ Rechnung tragen zu können. Problematisch ist daher zweierlei: ideengeschichtliche Rekonstruktionen zehren zumeist von einem ‘normativen Überschuss’, den sie allein historisch nicht begründen können; ihr dezisionistischer Charakter provoziert daher – bis heute – eine Rhetorik ‘ideologischer Entlarvung’, die allzuoft nur die Kehrseite ideengeschichtlicher Argumentationen darstellt, weil auch sie ihre leitenden Kriterien nicht ohne bildungstheoretische Rückgriffe auszuweisen vermag. Damit hängt – erheblich schwerwiegender – zusammen, dass ‘Bildung’ sowohl als (begrifflicher) Gegenstand der Reflexion als auch als jeweiliger hermeneutischer Horizont der Interpretation fungiert, so dass ‘Gegenstand’ und ‘Perspektive’ kaum angemessen voneinander getrennt werden können – mit der Folge, dass ideengeschichtlichen Rekonstruktionen oft ein eigentümlich affirmativer Grundzug anhaftet, der sich in seinen Verstrickungen allein ideengeschichtlich kaum auflösen lässt.
III. Vor diesem überwiegend durch ‘Klassiker’ rekonstruierten und ausschließlich geistesgeschichtlich kolorierten Hintergrund verblüfft es daher nicht, dass in scharfer methodologischer Abgrenzung sozialgeschichtlich immer wieder darauf verwiesen
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wurde, dass die enorme praktische und gesellschaftliche Relevanz des Konzepts der Bildung sich gerade nicht aus ihren ‘theoretischen Gipfelwanderungen’ erklären lässt, so dass die vielfachen und jeweilig eigenperspektivisch vorgenommenen Differenzierungen verschiedener theoretischer Bildungsbegriffe philosophiegeschichtlich vielleicht aufschlussreich, sozialgeschichtlich jedoch weitgehend vernachlässigbar sind. Vielmehr kann und muss mit ‘Bildung’ “ein die Gesellschaft aktiv umformender, aber zugleich von ihr bestimmter Faktor der materiellen Entwicklung sowie der sozialen und politischen Kohäsion” (Jeismann 2000, 188) identifiziert werden, dem im Prozess der Modernisierung der deutschen Gesellschaft seit dem 19. Jahrhundert – insbesondere bei der “Ablösung der ständisch gegliederten Gesellschaft durch eine Funktionsgesellschaft” (ebd. 308) – eine überaus zentrale und kaum zu überschätzende Funktion zuzumessen ist. In einer Sozialgeschichte der ‘Bildung’ geht es daher vorrangig darum, ‘Bildung’ – insbesondere in ihrer institutionalisierten Gestalt eines staatlichen Unterrichtswesens – in den Gesamtzusammenhang der gesellschaftlichen Entwicklung zu stellen, als integrierten, aktiv wie passiv auszulegenden Faktor zu rekonstruieren und in ihrer jeweiligen Funktion für das gesamtgesellschaftliche Gefüge im Zusammenhang mit anderen historischen Sektoren genauer zu bestimmen (vgl. Jeismann 2000, 308); damit eng verknüpft ist zugleich die Nötigung, ‘Bildung’ auch sozial zu verorten, so dass eine ‘Sozialgeschichte der Bildung’ immer auch als eine Geschichte des (Bildungs-)Bürgertums – als dem ‘sozialen Träger’ der Bildung – geschrieben werden muss28. Die ebenso vielfältigen wie unterschiedlichen Arbeiten zu einer sozialgeschichtlich orientierten Bildungsforschung belegen – auch in ihrer oft vorgenommenen schulgeschichtlichen Akzentuierung – so nicht nur die durchgängig praktische Bedeutung von ‘Bildung’ als einer mit der Etablierung der bürgerlichen Welt strukturell verknüpften Leitorientierung, indem sie ‘Bildung’ als sowohl reflektierendes als auch anstoßendes Programm einer gesellschaftlichen Transformation durch individuelle Formation rekonstruieren und als jeweiligen Kampf um gesellschaftliche Macht zu interpretieren versuchen, sondern erlauben auch eine genauere Analyse der Funktion der Schule im historischen Prozess, – sei es als Aufklärung des Beitrags des Bildungssystems zu und seiner Abhängigkeit von der ökonomisch-politischen Entwicklung, sei es als Klärung desselben für die Reproduktion sozialer Ungleichheit und damit für die Stabilisierung und Auflösung politischer Herrschaft. Doch resultiert aus dieser sozialgeschichtlichen Konzentration auf die gesellschaftliche Funktion von ‘Bildung’ bisweilen auch, die inhaltlichen Momente der ‘Bildung’ selbst zu vernachlässigen und ‘Bildung’ zum bloßen Titel eines durch (insbesondere schulisches) Lernen angeeigneten Wissens, Könnens und daraus resultierenden Habitus zu verkürzen und geradezu gegenständlich zu justieren29. 28
Vgl. insgesamt zum Ansatz einer Sozialgeschichte immer noch Wehler 1974 und 1996 wie (gebündelt) 1987, 6-31 und Kocka 1977. Zur Sozialgeschichte der Bildung seien exemplarisch Jeismann (1987, 1989, 1996a, 1996b und 2000), Lundgreen (1973, 1980, 1981 wie 2000b), Müller (1977, 1981) und Herrmann (1991) genannt; vgl. zur Sozialgeschichte des Bürgertums insbes. Ringer (1983), Engelhardt (1986), Kocka (1987) wie Conze u.a. (1985-1992) und Lundgreen (2000a).
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Einer solchen ‘vergegenständlichenden Rede’ von ‘Bildung’ entspricht dann auch die bisweilen eigentümlich
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Studie II A: Bildung als Dispositiv – eine methodologische Annäherung
Auch wenn die Überfülle der Einzel- wie Gesamtbefunde der sozialgeschichtlichen Bildungsforschung – insbesondere von “Nicht-Experten” (Baumgart 1990, 8) – kaum noch angemessen überblickt werden kann, möchte ich – im exemplarischen Rückgriff – viererlei für den eigenen Gedankengang bedeutsame Akzentuierungen von ‘Bildung’ festhalten: (a) Innerhalb des seit dem späten 18. Jahrhundert sich abzeichnenden Transformationsprozesses vom ständischen Staat zur bürgerlichen Gesellschaft spielt ‘Bildung’ als Indikator und Faktor der Veränderung und Ausbreitung von gesellschaftlich wichtigem Können und Wissen eine wesentliche Rolle als ein “Mittel der Umpolung von Identitäten, der Legitimation und Sicherung neuer Herrschaftsformen, der Mobilisierung von intellektuellen Ressourcen” (Jeismann 2000, 187): nicht nur reduzierte sich während des 19. Jahrhunderts durch die flächendeckende Implementierung eines staatlich-öffentlichen Schulsystems die Alphabetisierungsrate erheblich, so dass schließlich Wissen insbesondere als ‘bürgerliches Leistungswissen’ (Jeismann 1987, 2) zunehmend als – wenn auch nicht streng kausaler (vgl. Jeismann 2000, 188) – Produktionsfaktor auf allen ökonomischen Ebenen an Bedeutung gewinnen konnte; ‘Bildung’ war auch im Transformationsprozess sozialer wie politischer Herrschaft ein konstitutives Moment, erlaubte sie doch in der Auflösung der traditionell geburtsständischen Gliederung der ‘alten Gesellschaft’ die Etablierung einer bürgerlichen, zunehmend berufsständisch organisierten Ordnung mit neuen, auch durch ‘Bildung’ bestimmten sozialen Grenzen “zwischen den ‘literati’ und den ‘illiterati’” (Jeismann 1987, 3). So bedeutet ‘Bildung’ auch als bürgerliches ‘Herrschafts-‘ und ‘Deutungswissen’ (vgl. Jeismann 1987, 2), wenn nicht selbst schon Macht, so doch mindestens die Fähigkeit, Macht zu verteidigen oder zu erobern, die mit den zunehmend stabilen Verknüpfungen von “Bildung und Amt” wie auch “Bildung und Besitz” (ebd.) trotz der noch anhaltenden Dominanz von “Amt und Geburt” (Jeismann 2000, 309) auch politisch-sozial wirksam wurde. Vor diesem Hintergrund ist es insgesamt überaus plausibel, “Bildung als gesellschaftliche Macht” (Jeismann 1987, 2) zu kennzeichnen, war sie doch nicht nur für immer mehr gesellschaftliche Tätigkeiten unentbehrlich geworden, sondern darin auch zu einem dominanten ‘Kriterium der sozialen Stellung’ (Jeismann): “Der Mensch schafft sich mittels seiner Bildung seinen eigenen gesellschaftlichen Stand” (Jeismann 1987, 2) – mit dem Effekt, dass ‘Bildung’ bis heute in dieser Ambivalenz zwischen ‘Emanzipation und Disziplinierung’ (Jeismann) verhaftet geblieben ist: einerseits als “Befreiung der Individuen und der Gesellschaft aus den Fesseln überkommener Sitte und festgefügter Lebensweise”, andererseits als Neutralisierung und auch Umkehrung “individueller und gesellschaftlicher Aufklärung” (Baumgart 1990, 209) durch neue Formen politischer Herrschaft, sozialer Ungleichheit und ökonomischer Ausbeutung, die “an die Stelle traditionaler Herrschaft und ständischer Privilegien” (ebd.) traten30. Anders formuliert: “Bildung blieb ein gesellschaftliches Privileg; sie war unhistorische Praxis, zwar einerseits auf der Historizität und Gesellschaftlichkeit von Bildung vehement zu bestehen, diese aber andererseits selbst sowohl als Gegenstand als auch als kategorialen Aufriss völlig unproblematisch auf erheblich frühere Zeiten zurückzuprojizieren – so, als ob institutionalisierte Wissensformen oder damit verbundene anthropologische Reflexionen immer mit ‘Bildung’ bezeichnet worden wären. So ist es (auch) irreführend, von der ‘Bildung der Griechen’ etc. zu sprechen, ohne zugleich darauf hinzuweisen, dass dies bloß ‘übertragene Rede’ ist: nicht nur, weil zwischen historischer und kategorialer Hinsicht nicht nur nicht genügend unterschieden wird, sondern auch, weil die in Bildung implizierte Anthropologie – trotz aller Beteuerungen – ungehindert einsickert und deren spezifische Fassung eines genetischen Werdens der Menschen als Individuen in eine Sozialität hinein als überzeitliche Matrix suggeriert – mit der überaus prekären Folge, dass die stillschweigende Fixierung des ‘individuellen Selbstverhältnisses’ zu einer ‘anthropologischen Konstante’ schließlich zu gesamtgeschichtlich überaus problematischen Konstruktionen einer zunehmenden ‘Individualisierung’ führen kann, vor deren Hintergrund frühere Zeiten dann nur als Mangel rekonstruiert werden können. Alternativ wäre davon auszugehen, dass insbes. Individualität und Selbsttätigkeit immer gesellschaftlich wahrgenommen, nicht aber geschätzt worden sind und schon gar nicht in dieser spezifischen Codierung und Justierung thematisch geworden sind. 30
Damit eng verknüpft ist auch die sozialgeschichtlich bedeutsame Beobachtung einer zeitlichen Differenz
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das Ergebnis privilegierter Lebenschancen und diente zugleich zu deren Rechtfertigung und Stabilisierung” (ebd.). (b) Auf die ökonomisch wie politisch-sozial unverzichtbare Bedeutung der Schule in diesem Prozess der Transformation und Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft ist oft hingewiesen worden (vgl. Müller 1977 wie auch Lundgreen 1980); auch ihre konstitutive Rolle und insgesamt integrierende Funktion im Prozess der Schaffung eines die vielfältigen Partikularstaaten überwindenden deutschen Nationalstaats ist vielfach thematisiert worden (vgl. Jeismann 1987 wie Kocka 1989). ‘Bildung’ kann aber nicht nur als ein die Konstitution und ‘Systemfindung’ des Bildungssystems reflexiv begleitendes wie immer wieder anstoßendes ‘praktisches Konzept’ (vgl. Baumgart 1990) gekennzeichnet werden31, sondern muss ihrerseits als elementare Ermöglichungsbedingung selbst verstanden werden, gelang doch mithilfe der ‘Bildung’ die ‘Lösung’ einer bis dahin nicht auflösbaren spätaufklärerischen ‘pädagogischen Antinomie’ (vgl. auch Jeismann 2000, 204-224). So bemühten sich die Landesherren zwar schon seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts darum, ihren durch die langanhaltenden Religionskriege materiell wie politisch empfindlich gestörten Staaten durch die Verbesserung des Erziehungswesens aufzuhelfen, doch scheiterten diese Bemühungen letztlich immer wieder an einer konzeptionellen Nichtvereinbarkeit von ‘Brauchbarkeit’ (als Ausdruck der Anpassung des Erziehungssystems an die sich wandelnden Erfordernisse der Beschäftigungssystems) und ‘Eigentümlichkeit’ (als Inbegriff einer “ungehemmten Aufklärungspädagogik in Schule und Gesellschaft” (Jeismann 2000, 212)), die bereits vorrevolutionär in ihren destabilisierenden Möglichkeiten durchschaut wurde). Die daraus resultierende Antinomie lässt sich dabei durchaus als eine ‘praktische Blockierung’ verstehen, entweder die Erziehung als unkalkulierbares Instrument weitgehender gesellschaftlicher Transformationen zu befördern oder sie doch “als eine gefährliche Sprengkraft in Inhalten und Organisationsformen so wenig wie möglich zu entwickeln und auf dem Niveau der Bedürfnisse jedes Standes zu halten” (Jeismann 2000, 213). Erst das Konzept der ‘Bildung’, in deren Mitte der “Begriff der allgemeinen Menschenbildung” als ein “gemeinsame[r] Nenner für miteinander verwandte, aber keineswegs identische Reformkonzepte” (Baumgart 1990, 37) ausgemacht werden kann, erlaubte es, diesem Widerspruch zu entgehen und unter der Überschreibung der ‘Bildung’ ein staatlich organisiertes und enorm rasch sich durchsetzendes Bildungssystem zu etablieren, auf das man “zur Entwicklung und zur Stärkung der finanziellen und moralischen Kräfte des Staates” (Jeismann 2000, 213) nicht zu verzichten können meinte. Mit ‘Bildung’ kann daher nicht nur eine spezifische Verknüpfung von Pädagogik und Politik markiert werden, die gleichermaßen auf “Bürgerwohl und der Regenten Sicherheit” (Voss, zit. Jeismann 2000, 213) abstellt und als eher “gebremste Modernisierung, die das politische und soziale System nicht erschütterte” (ebd.), beschrieben werden muss; sie ist auch als Leitsemantik an die Etablierung eines “alle Kinder umfassenden, staatlich kontrollierten Schulsystems, dessen einzelne, hierarchisch aufeinander bezogene Teile zwischen der sog. ‘Bildungsrevolution’ und den (in Deutschland) erst später folgenden politischen und wirtschaftlich-industriellen Revolutionen; gerade diese – gegenüber den westlichen Nachbarstaaten differierende Reihenfolge – hat immer wieder Anlass zu Analysen wie Spekulationen über den sog. ‘deutschen Sonderweg’ gegeben, die gerade in der daraus resultierenden “Disparität zwischen Herrschaftssystem und Sozialsystem” (Jeismann 2000, 311) auch den Grund der späteren “katastrophalen Entwicklung des 20. Jahrhunderts” (ebd.) auszumachen versuchen (vgl. Jeismann 2000, 223f., 310ff. wie auch insgesamt Kocka 2000). 31
Kann die ‘Systembildung’ des preußischen Bildungswesens in drei Phasen – Systemfindung (vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis Ende der 50er Jahre), Systemkonstitution (bis in die 80er und 90er Jahre) und Systemkomplementierung (bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts) (vgl. Müller 1981, 250ff.) – rekonstruiert werden, so ist der ganze Strukturwandel des Bildungssystems von bildungstheoretischen Reflexionen nicht nur begleitet, sondern immer wieder auch sowohl vorlaufend ermöglichend als auch nachgängig legitimierend reflektiert worden und insofern in ‘Bildung’ strukturell enthalten – wenn auch meistens als Verschleierung der diagnostizierten sozialen Funktion der Bildung (vgl. Müller 1981, 257-260).
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organisatorisch und curricular geregelt, von ausgebildeten Lehrern getragen und hinsichtlich ihrer Abschlüsse und Berechtigungen normiert waren” (Baumgart 1990, 207), gebunden und darin unweigerlich Ausdruck des “Doppelgesichts der modernen Gesellschaft” (Jeismann 2000, 222): “Sie befreite die Bürger Schritt um Schritt von ständischer Gebundenheit, erleichterte die soziale Mobilität, korrespondierte mit der wirtschaftlichen Entwicklung im Übergang zum Industriezeitalter. Auf der anderen Seite disziplinierte das neue Bildungswesen in vorher nie gekannter Weise die Lebensführung der Jugend, forderte Leistungsbereitschaft, spannte die Aufstiegswilligen in ein Prüfungssystem” (ebd.). In dieser institutionellen Hinsicht ist sie – nicht nur aufgrund ihrer Funktion in einer ‘Reform von oben’ – als sowohl anstoßender wie integrierender Faktor mit der Festigung (national-)staatlicher Macht eng verknüpft: “nach dem Militär- und dem Steuerstaat entstand mit dem ‘staatlichen Unterrichtswesen’ der Schulstaat” (Jeismann 1987, 4). Muss aber ‘Bildung’ daher insgesamt verstanden werden als “Teil eines umfassenden politischen, sozialen und ökonomischen Transformationsprozesses, in dem sich langsam, im ungleichen Tempo und keineswegs durchgängig erfolgreich, traditionale Lebensformen und Mentalitäten auflösten und sich die Grundstrukturen und der normative Horizont der bürgerlichen Gesellschaft herausbildeten” (Baumgart 1990, 209), so ist mit ihr immer auch mehr gemeint als die bloße (wenn auch erstaunlich schnelle und wirksame) Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht (vgl. Wehler 1987, 485) und die dafür notwendige Überführung des Bildungswesens aus der Dominanz kirchlich geprägter und ständisch organisierter Erziehungspraxis in ein staatlich organisiertes und flächendeckend reguliertes Unterrichtswesen. Vielmehr markiert ‘Bildung’ in ihrer Doppelfunktion der Transformation und Etablierung von alter und neuer Ordnung einen sowohl für die Lebensführung der einzelnen als auch für die gesellschaftliche Ordnung insgesamt unverzichtbaren ‘historischen Faktor’; ihre Bedeutung reicht daher weit über die jeweiligen (bildungsbürgerlichen) Eliten hinaus “in die reale Lebenswelt, Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen breitester Bevölkerungskreise” (Jeismann 1987, 2). (c) Als ‘Reflexions-‘ und ‘Leitsemantik’ eines staatlich organisierten Schul- und Bildungswesens ist ‘Bildung’ daher untrennbar auch mit dessen Organisation als eines – schließlich – hierarchisch-vertikal gegliederten ‘niederen’ und ‘höheren’ Schulsystems verbunden, dessen konstitutiver Anschluss an das Beschäftigungssystem spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts zur Etablierung eines ‘Berechtigungswesens’ geführt hat, so dass ‘Bildung’ durch die Verleihung von für die Berufs- und Arbeitswahl unverzichtbaren Zertifikaten zunehmend mit Aufgaben der “Regulierung des sozialen Aufstiegs” (Jeismann 2000, 309) betraut war und seitdem in den Prozess der Ziehung neuer sozialer, politischer wie ökonomischer Grenzlinien verwickelt ist: “Prüfungs- und Berechtigungswesen werden so zu einem Instrument der bürgerlichen Gesellschaft, das den Privilegierten jenes Privileg verschafft, nicht als sozial privilegiert, sondern als besonders begabt und leistungsfähig zu erscheinen” (Müller 1981, 254). Durch die Praxis des Unterrichtswesens, “Bildung zu portionieren, Berechtigungen zu monopolisieren [und] Karrieren zu regulieren” (ebd. 325), ist ‘Bildung’ – bis heute – zu einem bedeutsamen Faktor sozialer Ungleichheit geworden, der sich nicht nur in der formalen Ungleichheit unterschiedlicher Bildungsabschlüsse und der damit jeweilig eröffneten und verschlossenen Berufs- und Arbeitsmöglichkeiten niedergeschlagen hat, sondern zunehmend auch als – klassenspezifisch gebundene – ‘habituelle Distinktionspraxis’ (Zymek) ausgewirkt hat: “Bildung ist nicht der Besitz spezifischer Kenntnisse und Fertigkeiten. Alles das, was schnell oder systematisch oder durch Mühe oder Fleiß erworben werden kann, ist nicht Bildung. Der, dem man seinen Entwicklungsprozeß ansieht, der Aufsteiger, ist ohne ‘innere Kultur’; die hat nur der, der sie wie selbstverständlich hat” (Zymek 1985, 92f.)32. Bis in die 32
Mit der Folge, dass solch bürgerlicher ‘Bildungsdünkel’ vielfach Spott und Zorn auf sich zog, als ‘Halbbildung’ (Stolberg) und ‘Bildungsphilistertum’ (Nietzsche) bereits zeitgenössisch scharf attackiert wurde – und so zugleich als ‘soziale Distinktion’ vermeintlich ‘wahrerer Bildung’ neu reproduziert werden konnte.
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(schulischen) Inhalte hinein war ‘Bildung’ daher in die jeweiligen sozialen Interessens- und Verteilungskämpfe der Gesellschaft verwickelt und gehorchte weitgehend unwidersprochen dem sozialpolitischen Zweck einer ‘Agentur zur Verteilung von Sozialchancen’ (Schelsky) – immer auch verknüpft mit der Ironie, neben der Formung einer ‘staatstragenden Elite’ im gleichen Bildungssystem auch eine ‘oppositionelle Intelligenz’ hervorzubringen (vgl. Jeismann 2000, 222 Anm. 27). Der Kampf – insbesondere des sog. ‘vierten Standes’ – um schulische ‘Bildung’ ist daher immer auch als ein mit pädagogischen Argumenten geführter sozialer Aufstiegskampf zu interpretieren, in dem es vorrangig um die Verteilung ‘sozialen und kulturellen Kapitals’ (Bourdieu) in seinem jeweiligen Zusammenhang mit ökonomischem Kapital geht33. (d) Vor diesem sozialgeschichtlich skizzierten Hintergrund ist es zwingend, den insbesondere im 19. Jahrhundert zu beobachtenden Bedeutungswandel der ‘Bildung’ gerade nicht als einen (bloßen) Verfallsprozess zu deuten, sondern als einen – auch als Kontinuität zu begreifenden (vgl. Baumgart 1990, 131f.) – “Funktionswandel” (Jeismann 1987, 2) zu beschreiben, der aus der wachsenden gesellschaftlichen Bedeutung und sozialen Umstrittenheit der ‘Bildung’ resultiert34 und sich insbesondere ihrer umfänglichen Institutionalisierung verdankt. Dabei wird zugleich immer wieder auch ein bislang eher ideengeschichtlich propagiertes Deutungsmuster der ‘Geschichte der Bildung’ fortgeschrieben, das diesen Wandel der Bildung – von einem insgesamt eher standes- und ordnungskritischen und insofern emanzipatorischen Konzept in der Konstitutionsphase zu einem überwiegend restaurativen und berufsständisch orientierten Prinzip sozialer Distinktion – nicht nur als einen “Verwässerungsvorgang” beschreibt, “währenddessen Bildung zum Berechtigungsanspruch, auf der Sprosse der Karriereleiter emporzuklettern, degenerierte” (Wehler 1995, 733), sondern auch als eine “Deformierung” (ebd. 732) der ursprünglichen ‘Idee der Bildung’ auslegt, die durch den Verlust des ‘emanzipatorischen Gehalts’ der Bildung kennzeichenbar ist (vgl. auch Jeismann 2000, 198). Gerade weil aber die “Bildungsidee [...] weiterhin attraktiv” blieb und “für Tausende von Bildungsbürgern die Aufgabe einer umfassenden, verbindlichen Lebensorientierung wie seit jeher übernahm” (Wehler 1995, 732), kann eine solche Lesart sozialgeschichtlich nicht befriedigen; benennt man daher die einzelnen Momente dieses sozialen Funktionswandels genauer (vgl. Wehler 1995, 734-750) und summiert deren Struktur, so zeigt sich ein in der Tat erstaunlicher sozialgeschichtlicher Befund: die (vermeintliche) Erfolglosigkeit der ‘Bildung’, so ließe sich überpointieren, liegt weitgehend in ihrem breiten quantitativen wie qualitativen Erfolg; gerade weil ‘Bildung’ nicht exklusiv und individuell blieb, sondern “im 19. Jahrhundert für alle organisiert” (Jeismann 1987, 20) wurde und als “öffentliche Macht” (Jeismann 2000, 201) wirksam wurde, “geriet sie in den Streit der politischen und gesellschaftlichen Kräfte, blieb nicht mehr Selbstzweck, sondern wurde Mittel zum Zweck. Dies war der Preis, den die Bildungsideen beim Versuch ihrer generellen Umsetzung in ein öffentliches, staatliches Erziehungswesen entrichten mußten” (Jeismann 1987, 20). Dieser Problematik aber lässt sich weder verfalls- noch verschwörungstheoretisch angemessen Rechnung tragen; vielmehr
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Der Zusammenhang von Schulsystem und Sozialstruktur ist vielfach insbesondere am Beispiel des ‘preußischen Gymnasiums’ und seines Wandels rekonstruiert und diskutiert worden; vgl. dazu sowohl die von Jeismann bereits 1974 vorgelegten und 1996 neuerlich publizierten Arbeiten zum ‘preußischen Gymnasium’ als auch die dazu durchaus kontroversen Überlegungen Müllers (1977) und Krauls (1984) wie insgesamt Baumgart (1990).
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Bedeutsam dabei ist, dass sowohl eher progressive als auch deutlich restaurativ-konservative Kräfte bei aller Umstrittenheit und höchst divergenten Bestimmung derselben auf ‘Bildung’ insgesamt nicht verzichten können; auch Friedrichs nachrevolutionäres Urteil über die ‘revolutionäre Afterbildung’ hat ihn nie daran gehindert, den Ausbau des preußischen Bildungssystems unter dem Programm der ‘Bildung’ voranzutreiben. Vgl. zu solchen Kontinuitätslinien einer konservativ-restaurativer Bildungspolitik auch Baumgart 1990, 83132 wie 184-209, insbes. 195 und Jeismann 1996a wie b.
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erzwingt sie eine funktionale Rekonstruktion der durch ‘Emanzipation und Disziplinierung’ kennzeichenbaren Bedeutung der ‘Bildung’. Es ist daher sozialgeschichtlich zwingend, auch die zum Ende des 19. Jahrhunderts beobachtbare neue ‘Konjunktur’ der Bildung als Folge wie Moment ihrer sozialen Verfasstheit zu thematisieren und sie nicht als ‘Wiederentdeckung’ bzw. ‘Wiederbelebung’ der alten ‘Idee der Bildung’ auszugeben; erst der anhaltende Erfolg, die damit enorm gewachsene soziale Bedeutung wie die daraus resultierenden (Qualifikations- und Überfüllungs-)Krisen des Bildungssystems erzwingen eine Überprüfung und Reform desselben (vgl. Müller 1977), die mit einer auch bildungstheoretischen Neujustierung einhergeht und insgesamt als ‘Rekonstitution der Bildung’ (Groppe 1997, 61) beschrieben werden kann. “Unter dem Legitimationsdruck der wachsenden Erfolge der Naturwissenschaften, durch die rasante Industrialisierung und die akademische Arbeitslosigkeit zusätzlich belastet, wurde der Bildungsbegriff um 1900 in einer gegenwartsbezogenen Neubegründung an den um 1800 entwickelten Bildungsbegriff rückgebunden” (ebd. 61f.) – mit jedoch nicht unerheblichen Bedeutungsdifferenzen gegenüber der Konstitutionsphase der Bildung (vgl. Groppe 1997, 62) und einer insgesamt sozial konservativen Funktionsbestimmung.
Dass ‘Bildung’ und Macht in einem engen Verhältnis stehen, ist sozialgeschichtlich nur offensichtlich: wie kaum ein anderes neuzeitlich-aufklärerisches Konzept hat ‘Bildung’ – wenn auch regional auf Deutschland begrenzt – im Prozess der Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft eine derart zentrale Bedeutung erlangen können, so dass nicht nur die Verknüpfung von ‘Bildung’ und ‘Bürgertum’ als Manifestation der ‘Macht der Bildung’ nahe liegt und sozialgeschichtlich zwingend erscheint; vielmehr gilt ‘Bildung’ überhaupt als eines der zentralen Strukturmomente, ohne die die spezifische Transformation neuzeitlicher Gesellschaften nicht angemessen verstanden werden kann. Nur folgerichtig ist daher gerade ‘Bildung’ als Ausdruck und Inbegriff bürgerlicher Ideologie aufgenommen worden, in der sich jeweilige Machtpraxen und -bestrebungen reflektieren und verbinden; sozialgeschichtlich geht es immer auch darum, dieser Verwicklung und ideologischen Aufladung der ‘Bildung’ analytisch wie ideologiekritisch nachzugehen. Trotz aller Selbstkritik (vgl. Baumgart 1990) – der mit dieser Justierung immer auch verbundenen Gefahr einer “fast zwangsläufigen [...] Ableitungsgeschichte” (Baumgart 1990, 6) der ‘Bildung’ ist nicht leicht zu entkommen: weniger, weil ‘Bildung’ immer noch als bloß ideologisches Epiphänomen ökonomisch bzw. politisch bedingter Modernisierungsprozesse ausgelegt würde und so als eigenständiger ‘historischer Faktor’ (Koselleck) unterschätzt wäre; sondern weit mehr, weil Macht als sozial, ökonomisch und politisch dimensionierter Struktur- und Bedingungsrahmen menschlicher Praxis verstanden wird, der – vor allen Intentionen – die jeweiligen Handlungen der Menschen allererst generiert und figuriert, nicht aber seinerseits von deren ‘subjektiven Selbstdeutungen’ und Selbstverständnissen abhängt. Damit aber wird – genauer betrachtet – Macht auch sozialgeschichtlich gerade nicht in ‘Bildung’ situiert, sondern als ein ‘Außen’ derselben vorgestellt, das sich geradezu material ‘dingfest’ machen lassen muss. Indem aber so versucht wird, gerade nicht in überwunden geglaubte bloß geistesgeschichtliche Deutungsmuster zurückzufallen, kann und darf die ‘Macht der Bildung’ (Groppe) nicht in ihr selbst rekonstruiert werden; vielmehr muss sie in überwiegend ökonomisch und politisch justierten sozialen Praktiken verortet werden, deren Akteure und Bedingungen
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namhaft gemacht werden können. Die Konsequenz aber daraus führt zurück in geistesgeschichtliche Dualismen, ist doch die ‘Macht der Bildung’ entweder nur ein Reflex der ‘Macht in der Bildung’ (vgl. Jeismann 1987, 1) oder – als ‘kulturelles’ wie auch ‘soziales Kapital’ (Bourdieu) – die Bedingung der Möglichkeit von Macht qua sozialer Ungleichheit; nie aber ist ‘Bildung’ – überpointiert – ‘an und für sich selbst’ eine Form der Macht35.
IV. Nur folgerichtig ist es daher zu einer methodologischen Revision begriffsgeschichtlich argumentierender Ansätze und damit zu einer Etablierung einer ‘sozialhistorischen Semantik’ (Reichardt) gekommen, die sich insgesamt – sowohl in kritischer Abgrenzung zur traditionellen Ideengeschichte als auch in selbstkritischer Fortführung sozialgeschichtlicher Ansätze – als eine Sozial- und Mentalitätsgeschichte begrifflich orientierter Sprachhandlungen lesen lässt. Ausgangspunkt dieser – insbesondere von Reinhart Koselleck (vgl. Koselleck 1972a) und Rolf Reichardt (vgl. Reichardt 1985) vorangetriebenen – Arbeiten ist dabei nicht nur die Beobachtung, dass sich der Wandel der sozialen Wirklichkeit semantisch in bestimmten – von Koselleck dann mit ‘geschichtlichen Grundbegriffen’ bezeichneten – Leitbegriffen der politisch sozialen Welt niederschlägt, so dass Sprachwandel immer auch als nachgängige Reflexion des sozialen Wandels interpretiert werden kann, sondern auch die Überzeugung, dass sich der soziale Wandel seinerseits nicht von Sprachhandlungen und der mit diesen verbundenen Sinnproduktion trennen lässt, so dass die jeweiligen Begriffe auch als Orientierungen und Vorbahnungen qua Reflexion und Sinn gelesen werden können müssen: “Semantik, so könnte man sagen, indiziert oder favorisiert einen bestimmten Weg, seine Erfahrungen und Gedanken zu organisieren und zu steuern” (Koselleck 2002, 40), und ist auf diese Weise mit geschichtlicher Praxis verknüpft. Es ist dieser rekonstruktive wie konstruktive ‘Doppelcharakter’ der geschichtlichen Grundbegriffe, der deren Bearbeitung auch historiographisch so fruchtbar macht: “Begriffsgeschichte im strengen Sinne ist eine historiographische Leistung: es handelt sich um die Historie der Begriffsbildungen, -verwendungen und -veränderungen” (Koselleck 1983, 15). In der Verknüpfung der verschiedenen “Konzentrate der Bedeutungsinhalte” mit der
35
Auch sozialgeschichtlich ist es daher nicht unmöglich (wenn auch nicht unbedingt naheliegend), trotz der Einsicht in den ‘ideologischen Charakter’ der ‘Bildung’ auch deren historisch unabgegoltenen Gehalt zu erinnern und den vermeintlichen ‘Überschuss’ der Bildung auch methodologisch festzuhalten: so hat insbesondere Jeismann daraufhin gewiesen, dass es nicht ‘sachangemessen’ wäre, Bildung “nur als einen gesellschaftlichen Faktor unter anderen auf[zu]fassen [und] als ein funktionales Element, beliebig einsetzbar und manipulierbar im Sinne partieller Interessen, [...] auf die Ideologien bestimmter Gruppen” (Jeismann 2000, 203) zu reduzieren; vielmehr wiche historische Bildungsforschung “vom inneren Kern ihres Gegenstands” dann ab, “wenn sie als ‘erkenntnisleitendes Interesse’ nichts mehr von jener Hoffnung in sich trüge, die am Beginn der Entwicklung der modernen bildungsgeschichtlichen Tradition stand” (Jeismann 2000, 202). Doch stößt Jeismanns – geradezu ideengeschichtlich formulierter – Befund, “Bildung als eine Selbstverbesserungsanstalt von Staat und Gesellschaft, nicht als ihr Instrument zur Selbstbestätigung” (ebd.) zu interpretieren und insofern als noch nicht abgegoltene “historische Potenz” (ebd.) zu erinnern, sozialgeschichtlich nicht nur auf Verständnis, sondern gilt – bisweilen – auch als Ausweis methodischer Inkonsistenz.
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“Vielfalt der geschichtlichen Bewegung” (Koselleck 1972a, XXII) wird daher der besondere Charakter der als “Leitbegriffe” auszeichenbaren Wörter gesehen, erschließen diese doch Erfahrungsstrukturen wie Ereigniszusammenhänge (vgl. ebd. XXII) und fungieren daher gleichermaßen als Indikatoren wie Faktoren historischer Entwicklung, so dass Begriffsgeschichte – nun verstanden als sozialhistorische Semantik – gleichsam als “conditio sine qua non von sozialgeschichtlichen Fragen” (Koselleck 1972c, 127) behauptet werden kann. Sozialhistorische Begriffsgeschichte bzw. Semantikanalyse lässt sich daher in einer doppelten Gegenstellung verständlich machen: als scharfe Kritik bisherig durchaus immer noch verbreiteter politischer Ereignisgeschichte und bloß ideengeschichtlich argumentierender Begriffsgeschichte ebenso wie als pointierte Korrektur einer eher struktur- und ableitungsgeschichtlich argumentierenden Sozialgeschichte; insofern trägt gerade sie der anthropologischen Beobachtung, dass Menschen immer ‘anthropologisch leben’ (vgl. Studie I wie insgesamt Ricken 2004a), auch historisch-methodologisch Rechnung. Dies sei in zweierlei Überlegung – methodologisch (1) wie auch inhaltlich auf Bildung bezogen (2) – erläutert. (1) Die sozialgeschichtlich orientierte begriffsgeschichtliche Forschung ist in Deutschland insbesondere mit dem Projekt des von Brunner, Conze und Koselleck herausgegebenen Lexikons ‘Geschichtliche Grundbegriffe’ verbunden36; die dort den jeweiligen Grundbegriffen unterlegten Kennzeichen – bedeutsame (Re-)Formulierung der Begriffe in der ‘Sattelzeit’ zwischen 1750 und 1850, Bildung von ‘Kollektivsingularen’, Demokratisierung der jeweiligen Begriffe und Verwendung derselben auch in anderen (als bürgerlichen) sozialen Schichten, ‘Ideologisierung’ derselben als ‘polemische Waffe’ und schließlich ‘Verzeitlichung’ und ‘Politisierung’ der Begriffe zu ‘Bewegungsbegriffen’ durch die Aufladung mit Erwartungen und Zielvorstellungen auf Kosten der in ihnen gebündelten Erfahrungen (vgl. Koselleck 1972a, VVII) – markieren deren jeweiligen Status nicht nur in formaler, sondern auch inhaltlicher Hinsicht: “Die Bedeutung des Wortes verweist immer auf das Bedeutete, sei es ein Gedankengang, sei es ein Sachverhalt. Dabei haftet die Bedeutung zwar am Wort, sie speist sich aber ebenso aus dem gesprochenen oder geschriebenen Kontext, sie entspringt zugleich der Situation, auf die sie sich bezieht. Ein Wort wird zum Begriff, wenn dieser Bedeutungszusammenhang, in dem – und für den – das Wort gebraucht wird, insgesamt in das Wort eingeht. Der Begriff haftet am Wort, ist aber zugleich mehr als das Wort” (Koselleck 1972b, 86)37. Ist ein Wort daher dadurch Begriff, dass es vorangegangene Bedeutungen und jeweilige Bedeutungskontexte in sich absorbiert und zu einer “Bedeutungsfülle, die sich nicht in verschiedene Bedeutungsmöglichkeiten aufspalten läßt” (Koselleck 1972c, 127), vereinigt, so folgt aus dieser in Gebrauch und Bedeutung beobachtbaren Differenz von Wort und Begriff auch, dass Begriffe – im Gegensatz zu exakt definierbaren Wortbedeutungen – “nur interpretiert werden” (Koselleck 1972b, 86) können, weil deren “Mehrdeutigkeit” und “Vieldeutigkeit” (Koselleck 1972a, XXII) nicht nur Kennzeichen ihrer ‘Begrifflichkeit’ sind und insofern nicht zugunsten eines ‘echten Begriffs’ reduziert werden können, sondern selbst als konstitutive Voraussetzung ihrer Rolle 36
Während die von Koselleck formulierte Programmatik weitgehend auf weite Zustimmung stieß, wurde die jeweilig unterschiedliche begriffsgeschichtliche Praxis in den unterschiedlichen ‘Grundbegriffen’ z.T. als in vieler Hinsicht hinter dem Entwurf zurückbleibend scharf kritisiert; vgl. dazu ausführlicher Berding (1976) wie jüngst Bödeker (2002b, 81ff.).
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Vgl. dazu auch Koselleck jüngst: “As distinguished from concepts in general, a basic concept, as used in GG, is an inescapable irreplaceable part of the political and social vocabulary. [...] Basic concepts combine manifold experiences and expectations in such a way that they become indispensable to any formulation of the most urgent issues of a given time” (Koselleck 1996, 64).
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als Geschichtsfaktor angenommen werden müssen. Damit aber lösen sich Begriffe von ihrer als ‘normal’ unterstellten Bezeichnungsfunktion und eröffnen ein verändertes – durch einen einzelnen Begriff in keiner Weise repräsentierbares – Feld von Wissens- und Deutungszusammenhängen, auf die mit der Verwendung von unterschiedlichen und aufeinander verweisenden Begriffsworten in kommunikativen Akten angespielt wird: “Ein Begriff liegt erst dann vor, wenn diejenigen Bedeutungen einzelner Termini, die einen gemeinsamen Sachverhalt bezeichnen, jenseits ihrer bloßen Bezeichnungsfunktion in ihrem Zusammenhang gebündelt und reflektiert werden” (Koselleck 1972a, XXIII). Es ist aber daher nicht nur “eine logische Lässigkeit” (Koselleck 1983, 14), sozialhistorische Semantik weiterhin mit ‘Begriffsgeschichte’ zu überschreiben, entziehen sich doch Begriffe aufgrund ihres einmal erreichten fixierten Status gerade der Veränderung, so dass schließlich doch die im durchgehaltenen “Wortgebrauch” (ebd. 34) sich verschiebenden Bedeutungen und Sachverhalte in den Blick genommen werden müssen; damit aber wird der begriffsgeschichtlich intendierte Zusammenhang zwischen Bedeutungswandel und Ereignisgeschichte selbst zweifelhaft, so dass Begriffsgeschichte immer wieder neu in der Gefahr steht, “bloße Ideengeschichte zu bleiben” (Bödeker 2002b, 98). Es sind u.a. diese Schwierigkeiten, die Reichardt bewogen haben, Begriffe weit stärker als ‘reale Faktoren’ der geschichtlichen Entwicklung selbst zu veranschlagen (vgl. Reichardt 1985, 67); Begriffsgeschichte, so sein Einwand, sei nicht dadurch bereits Sozialgeschichte, dass Begriffe auf “materielle Verhältnisse und Dinge” “mehr oder weniger unmittelbar” verweisen (Reichardt 1985, 64) bzw. diese gar spiegeln, sondern vor allem dadurch, dass sie vom “sozialen Charakter der Sprache selbst” (ebd.) ihren Ausgang nehme. Begriffe aber sind als “gemeinschaftlicher ‘Speicher angehäufter Erfahrungen und Bedeutungen’” (Reichardt 1985, 65) epochen- und gesellschaftsspezifische Ordnungs- wie Orientierungsschemata, die “zu Erwartens- und Verhaltensdispositionen, zu Sinngebilden, die unabhängig von der Faktizität des Einzelfalls die Gültigkeit von Konventionen erlangen (‘Objektivationen’)”, führen und “als ‘soziales Wissen’ Gewißheit über die Wirklichkeit verschaffen” (ebd.). Für eine “sozialhistorische Semantik” (Reichardt 1985, 67) folgt daraus, dass Begriffe einerseits selbst als gesellschaftliche Produkte verstanden werden müssen, die andererseits – indem sie auf ihre ‘Produzenten’ zurückwirken – “eine nicht an materielle Fakten gebundene Dynamik gewinnen” können (ebd.); es ist daher wenig überzeugend, auf die “irgendwie eingeborene ‘Eigenkraft der Worte’ (Koselleck)” (ebd.) zu setzen, um die “Durchsetzungs- und Beharrungskraft gesellschaftlich institutionalisierten Wissens” (ebd.) beschreiben zu können: “Wie also die Dinge erst durch ihre Versprachlichung gesellschaftlich-psychisch existent werden, so ist umgekehrt für das soziale Wissen der Begriff wirklicher als die materielle Realität und kann zum Handeln entgegen nachweisbaren Sachverhalten motivieren und antreiben” (ebd. 67). Der Gegenstand begriffsgeschichtlicher Forschungen ist daher nicht der nicht näher bestimmbare Zusammenhang von ‘historischem Ereignis’ bzw. ‘historischer Erscheinung’ und derem ‘sprachlichen Reflex’, sondern die in ‘diskursiver Konstruktion und Rekonstruktion’ sich vollziehende Interpretation jeweilig vergangener Welt- und Selbstverständnisse; sie untersucht weniger die Verbindung von Wort- und Sachgeschichte – gemäß der Formel Kosellecks: “Begriffsgeschichten bezeugen Sachverhalte” (Koselleck 1972a, XV) –, sondern zielt auf deren jeweilige ‘geistige Bewältigung’ qua Begriffs- und Bedeutungsanalyse. Unterstellt ist dabei, ohne dass dies jedoch ausdrücklich thematisch würde, dass jeweilige Praktiken sich von sprachlicher Reflexion und Sinnproduktion nicht trennen lassen. Zwar kann uneingeschränkt gelten, dass Sprache weder ein bloß nachgängiges “Epiphänomen der sogenannten Realgeschichte” (Koselleck 1988, 664) noch für sich “die Realität selbst” (ebd.) ist; doch der Versuch einer genaueren Verhältnisbestimmung von Sprache und Realität – sowohl als “Faktor der geschichtlichen Bewegung” als auch als “Indikator eben dieser Bewegungen” (ebd.) – führt in allein begriffsgeschichtlich nicht lösbare Schwierigkeiten, kann doch die ‘historische Realität’ nicht nicht-interpretativ rekonstruiert und mit Sprache dann relationiert werden. Begriffsgeschichtlich geht es daher in der Aufhebung der Trennung von als außersprachlich gedachter Wirklichkeit und sprachlicher Bezeichnung um
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die ihrerseits nur diskursiv anlegbare Rekonstruktion vergangener diskursiver Konstruktionen von Wirklichkeit – immer aber auch mit der Einschränkung, “daß es auch nichtsprachliche Konstitutionsbedingungen der Wirklichkeit gibt” (ebd.). Auch wenn daher beide – Sprache und Geschichte – nicht vollständig aufeinander bezogen noch gar miteinander identifiziert werden können, ist deren unlösbare Verwicklung miteinander nicht aufzuheben, ist doch ‘geschichtliche Wirklichkeit’ als sprachlich gebundene ihrerseits nur im Medium der Sprache zugänglich38. Damit aber öffnet sich Begriffsgeschichte als sozialhistorische Semantik der Diskursanalyse und -geschichte, wie Koselleck selbst – auch im Kontrast zu früheren Aussagen (vgl. Koselleck 1988, 664) – jüngst zugestanden hat: “Although basic concepts always function within a discourse they are pivots around which all arguments turn. For this reason I do not believe that the history of concepts and the history of discourse can be viewed as incompatible and opposite. Each depends inescapably on the other. A discourse requires basic concepts in order to express what it is talking about. And analysis of concepts requires command of both linguistic and extralinguistic context, including those provided by discourses. Only by such knowledge of context can the analysis determine what are concepts-multiple meanings, its content, importance, and the extent to which it is contested” (Koselleck 1996, 65). Begriffe – so ließe sich vorerst bündeln – können nicht als bloße Indikatoren der Sachgeschichte ausgelegt werden, sondern müssen vielmehr ihrerseits – in einer Begrenzung und Ausweitung ihres Status zugleich – als die gesellschaftliche Wahrnehmungsfähigkeit, das kollektive wie individuelle Bewusstsein und das jeweilige Handeln figurierende Faktoren aufgenommen werden, “die keinen geringeren Wirklichkeitscharakter besitzen als die materiellen Verhältnisse” (Bödeker 2002, 116). Daraus aber resultiert, dass die “politisch-soziale Begrifflichkeit nicht primär als Indikator für außersprachliche Sachverhalte, sondern vielmehr wesentlich als eigenständiger politisch-sozialer Faktor, als bewußtseinsbildendes und handlungsdisponierendes Element” (ebd.) reflektiert und analysiert werden muss. Erst in dieser dann weitgehend diskursgeschichtlichen Justierung aber lässt sich ‘Begriffsgeschichte’ als sozialhistorische Semantik mit anthropologischen Überlegungen – auch einer Historischen Anthropologie (vgl. Dressel 1996) – fruchtbar verknüpfen; denn: thematisiert eine ‘historische Semantik’ gerade jene in, um und durch Begriffe figurierten “bestimmten Weg[e], seine Erfahrungen und Gedanken zu organisieren und zu steuern” (Koselleck 2002, 40), so focussiert sie damit in konkreten ‘historischen Konzepten’ die jeweilig zeitlich und sozial strukturierte Selbstreferentialität menschlicher Lebensführung und benennt darin ihrerseits (reflexive) Momente der ‘Führung der Führungen’ (Foucault). Auch Kosellecks begriffsgeschichtliche Arbeiten zielen daher auf eine Geschichte begrifflich orientierter Sprachhandlungen und damit auf eine Geschichte der Sinnproduktion durch Sprache und öffnen sich so – mindestens ansatzweise – einer sozialhistorischen Diskursanalyse. (2) Dass für die Einlösung des kritischen Programms einer ‘historischen Semantik’ oft weniger die im Lexikon ‘Geschichtliche Grundbegriffe’ versammelten Artikel stehen können
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Bödeker kommentiert diese bisweilen eingestandene, bisweilen subtil verborgene Widersprüchlichkeit eindrücklich: “Die bedeutungs- und gegenstandskonstitutive Funktion der Sprache wird in der historiographischen Begriffsgeschichte nur in Ansätzen akzeptiert. Dies gründet wahrscheinlich in dem Bemühen eines Teils der Begriffshistoriker, ‘Strukturen’, ‘Bewegungen’, ‘Zusammenhänge’ zu analysieren, deren Existenz sie außerhalb der Geschichte ihrer sprachlichen Erfassung voraussetzen” (Bödeker 2002b, 115). In Abgrenzung dazu laufen Bödekers Überlegungen darauf hinaus, die sich abzeichnende ‘doppelte Diskursivität’ – ‘gegenständlich’ wie historiographisch zugleich – auch methodologisch aufzunehmen und ‘Geschichte’ auch als ‘Diskurs über Diskurse’ zu verstehen. Vgl. dazu bereits einige Beiträge zur ‘Historischen Semantik’ in Koselleck 1978 wie auch die äußerst präzisen und ausführlichen Überlegungen von Busse (1987); als Kurzüberblick über verschiedene Ansätze innerhalb der ‘sozialhistorischen Semantik’ vgl. auch Bödeker 2002a, der die spezifisch deutsche Tradition der ‘Begriffsgeschichte’ vor dem Hintergrund unterschiedlicher internationaler Forschungstraditionen – der ‘conceptual history’ im anglo-amerikanischen Bereich (ebd. 18-22) ebenso wie der ‘analyse du discours’ in Frankreich (ebd. 16-18) – diskutiert und miteinander verknüpft.
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und daher immer wieder auf die von Koselleck verfassten bzw. in seinem Umkreis entstandenen späteren Arbeiten verwiesen wird (vgl. Bödeker 2002b, 119), lässt sich auch mit Blick auf die jeweiligen begriffsgeschichtlichen Bearbeitungen von ‘Bildung’ durchaus bestätigen. Denn während Vierhaus in seiner zwar enorm materialreichen und nicht nur auf ‘Großtheoretiker’ gestützten Rekonstruktion des Bildungsbegriffs (vgl. Vierhaus 1972) den Bedeutungswandel der ‘Bildung’ durch die verschiedenen Phasen der Herausbildung und Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft seit 1800 nachzeichnet und in der Konzentration auf die darin beobachtbare enorme Bedeutungsheterogenität die soziale Funktion von Bildung überwiegend in deren – weit über den pädagogischen Diskurs hinausreichenden – diskursiven Status verortet, erlauben die begriffsgeschichtlichen Überlegungen Kosellecks (vgl. Koselleck 1990) nicht nur die begründete Kennzeichnung von ‘Bildung’ als einem der zentralen Grund- und “Leitbegriff[e] unserer Neuzeit” (Koselleck 1990, 12), indem sie in vielfacher Hinsicht ‘Bildung’ als bedeutsamen Indikator wie Faktor eines umfassenden historischen Transformationsprozesses belegen; vielmehr plausibilisieren sie auch eine Rekonstruktion von ‘Bildung’ als einem ebenso umfassenden wie spezifischen ‘anthropologischen Konzept’ und weisen diese damit als ‘Programmbegriff’ aus. Drei Pointierungen der Befunde seien daher festgehalten: (a) Trotz der engen Verknüpfung von Bildung und Bürgertum verbietet es sich, “Bildung auf Bürgerlichkeit zurückzuführen”: “Bildung” – so Koselleck pointiert – “ist weder Ausbildung noch Einbildung” (Koselleck 1990, 11), lässt diese sich doch weder auf ihre institutionellen Einlösungen und Voraussetzungen noch auf ihre soziale Herkunft reduzieren und eingrenzen; vielmehr muß sie als ein überaus umfassendes wie spezifisches “anthropologisches Grundmuster” (ebd. 21) aufgenommen und ausgelegt werden, dass zwar der konkreten historischen Situation um 1800 in Deutschland entstammt (vgl. ebd. 38), nicht aber darauf festgelegt oder gar daraus kausal hinreichend abgeleitet werden kann (vgl. ebd. 13). Erst die damit verknüpfte und seitdem im Begriff der ‘Bildung’ enthaltene “produktive Spannung” (ebd. 11) erlaubt, ‘Bildung’ nicht nur als soziales Epiphänomen, sondern “selber [als] einen genuinen historischen Faktor” (ebd. 13) zu verstehen und so als einen “genuinen Beitrag zur sprachlichen Erfahrungsbewältigung im revolutionären Europa” (ebd. 15) zu betrachten, der “von einem bis heute aufregenden Sachverhalt” (ebd.) zeugt. ‘Bildung’ ist daher trotz seiner sozialen Funktion und Bedeutung selbst “kein sozialer Begriff” (ebd. 13). (b) Mithilfe seiner semantischen Besonderung, nicht angemessen in andere Sprachen übersetzt werden zu können (vgl. ebd. 13ff.), können dreierlei erste Kennzeichnungen in den deutschen Begriff der Bildung eingetragen werden: erstens, “daß er den Sinn einer von außen angetragenen Erziehung, der dem Begriff im 18. Jahrhundert noch innewohnt, umgießt in den Autonomieanspruch, die Welt sich selbst einzuverwandeln” (ebd. 14), so dass ‘Bildung’ sich grundsätzlich von ‘education’ unterscheidet; zweitens, “daß er den gesellschaftlichen Kommunikationskreis nicht mehr zurückbezieht auf die politisch begriffene societas civilis, sondern zunächst auf eine Gesellschaft, die sich primär durch ihre mannigfaltige Eigenbildung begreift” (ebd. 15), so dass auch hier die Differenz von ‘Bildung’ zu ‘civility’ oder ‘civilisation’ festgehalten werden muss; und schließlich drittens, “daß er die kulturellen Gemeinschaftsleistungen, auf die er sich natürlich auch bezieht, zurückbindet in eine persönliche Binnenreflexion, ohne die eine gesellschaftliche Kultur nicht zu haben sei” (ebd.), so dass ‘Bildung’ und ‘culture’ zwar durchaus aufeinander bezogen sind, nicht aber als identisch behauptet werden können. ‘Bildung’ – so ein erster Befund – muss daher als ein relationaler Begriff aufgenommen werden, der zwar verschiedene, aber aufeinander bezogene Verhältnisse des Individuums zu sich, zu anderen und zur Welt markiert, diese aber in einer spezifischen, auf das jeweilige Selbst rückbezogenen Weise figuriert. (c) Die sich hier bereits andeutende Spezifizität von ‘Bildung’ als eines anthropologischen Deutungsmusters kann mit Blick auf die Geschichte des Bildungsbegriffs und deren möglicher Dreigliederung in eine “theologisch dominierte”, dann “aufgeklärt-pädagogische” und schließlich “moderne”, “primär selbstreflexiv” (ebd. 18) bestimmte Phase in einem ‘idealtypi-
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schen Umriß der ‘Bildung’ (vgl. ebd. 19ff.) präzisiert werden, den Koselleck – “quer durch allen diachronen Wandel und quer durch schier unendliche Diversifikationen” (ebd. 41) – in einer “semantische[n] Gemeinsamkeit” sieht: in einer “minimale[n], aber nicht verrückbare[n] Struktur der Selbstdeutung” (ebd.), die Bildung nur “anthropologisch” (ebd.) begreifen lässt: Erstens kann festgehalten werden, dass Bildung “primär auf den je einzelnen Menschen bezogen” (ebd. 20) ist, der sich selbst bilden muss, “wie immer die Umstände auf ihn einwirken” (ebd.). So markiert ‘Bildung’ “alle Innen-Außenbeziehungen” (ebd.) in der Weise, “daß der Mensch nur in seiner Individuation er selbst sein und werden könne” (ebd. 21), so dass ‘Bildung’ auch ‘Selbstentfaltung’ immer nur als ‘Selbstbildung’, als ‘tätige Auseinandersetzung mit Welt’ zu buchstabieren vermag: “Daß also ein Leben geführt werden müsse, und nicht nur ertragen oder erlitten werden darf, das zeichnet den Stil aus, der von ‘Bildung’ – reflexiv oder kommunikativ – geprägt wurde” (ebd. 23); gerade darin aber kann ihre “sich gegen alle Autoritäten” richtende “emanzipatorische Funktion” (ebd. 22) gesehen werden. Mit dieser Rekonstruktion von Bildung als einem ‘anthropologischen Grundmuster’ der “Lebensführung” (ebd. 21) ist zweitens eine spezifische Struktur derselben verbunden, die – so Koselleck – insbesondere aus ihrem trotz einer unübersehbaren “Bedeutungssäkularisierung” (Vierhaus 1972, 511) nie völlig verschwundenen religiösen Gehalt resultiert, beerbt ‘Bildung’ doch – auch in ihrer säkularen Gestalt – das in der christlichen Sündenlehre implizierte “Gefühl der Zerissenheit” (ebd. 25), indem sie dies nun als “reflektiertes Bewußtsein der Selbstentfremdung” (ebd.) auf den Begriff bringt und zugleich als – allerdings allein durch ‘Bildung’ – überwindbar denkt: “Ob erreichbar oder nicht, Bildung ist jedenfalls das Wissen um die Selbstentfremdung und zugleich der Weg, ihr zu entkommen” (ebd. 26). Es ist gerade diese ‘unglücklich-emphatische’ Aufladung des Bildungsbegriffs, die diesen als Matrix der Lebensführung so wirkungsvoll gemacht hat, so dass sowohl ein “säkularer Erlösungsanspruch” als auch vielfältige “Weltanschauungen” (ebd.) an ‘Bildung’ anschließbar wurden. Was sich religiös andeutete, setzt sich – drittens – fort: Bildung ist ein politisch-sozialer “Metabegriff” (ebd. 27 u.ö.), der trotz unmittelbarer politischer wie sozialer Funktionen sich nie hat auf “eine einzige Parteirichtung” (ebd. 28) reduzieren oder eine einzige Klasse, Schicht oder Berufsgruppe einengen lassen, sondern “vielmehr diese immer zu überschreiten fordert” (ebd. 29). Es ist dieser ‘übersoziale’ und ‘überpolitische’ (und deswegen nicht von Anfang an unpolitische) Charakter der ‘Bildung’, der diese in nahezu allen politischen Konzepten und zu vielen sozialen Zwecken hat brauchbar gemacht. Auch wenn “Bildung als Selbstbildung und als kommunikative Lebensführung” (ebd. 28) sozial offen und “in alle Schichten hinein anschlußfähig” (ebd.) ist, ist sie immer wieder zu einem “Statuselement” (Vierhaus 1972, 532) der bürgerlichen Leistungsgesellschaft geworden, so dass sich der “emanzipatorische Charakter von ‘Bildung’ verflüchtigte” (Vierhaus 1972, 551), und sie als neuer ‘Besitz’ von Leistungs- und Herrschaftswissen distinktiv in Anschlag gebracht werden konnte. Obwohl aber eine solche politische oder soziale Festschreibung von ‘Bildung’ in einer “argumentationsimmanente[n] Ideologiekritik” (ebd. 30) “leicht” als “funktionalisierte Begriffsverwendung” (ebd.) entlarvt werden könnte, so dass – bis heute – ‘Bildung’ immer auch mit Kritik und Selbstkritik verknüpft wird und auch in Gestalt der Destruktion des ‘Bildungsphilisters’ (Nietzsche) oder der ‘Halbbildung’ (Adorno) noch an diese gebunden bleibt (vgl. ebd. 32), ist es gerade diese “stumme Funktion der Bildung” (ebd. 43), die nicht nur dazu geführt hat, dass “keine genuin politische Kultur” (ebd.) hat geschaffen werden können, sondern auch dazu beigetragen hat, “die Katastrophen unseres Jahrhunderts” (ebd. 42) mit zu ermöglichen – “weil sie eben primär nicht politisch war” (ebd.). Schließlich viertens: ‘Bildung’ ist auch in funktionaler Hinsicht ein Integrations- und Verbindungsbegriff – und damit ein Begriff des Allgemeinen; dies sei an drei verschiedenen materialen Auslegungen von ‘Bildung’ verdeutlicht. Zunächst gilt: “Bildung ist ohne Wissenschaft nicht zu haben” (ebd. 33), kann aber auf keine Einzelwissenschaft reduziert werden; insofern sie mit bestimmten und gewusstem Wissen nicht identifiziert werden kann, bezeichnet sie eine ‘Haltung’, diesseits der unterschiedlichen Spezialisierungen den jeweiligen Zusammenhang des empirisch segmentierten
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Wissens allererst herzustellen, so dass ‘Bildung’ zunächst jene reflektierte und insofern “gebildete Rückkopplung” (ebd. 36) des Wissens an ein Allgemeines meint. Dann: Gerade indem ‘Bildung’ nicht nur mit Wissen, sondern auch Ästhetik verknüpft ist, drängt sie über den bloßen ‘Besitz’ hinaus zur “Eigentätigkeit” (ebd. 36); erst im konkreten reflektierten Urteil oder im eigenen musischen Schaffen zeigt sich Bildung als “eine aktive Vollzugsweise gebildeten Lebens” (ebd.), so dass ‘Bildung’ nicht nur verschiedene Kulturdimensionen, sondern auch Erkenntnisse wie Fähigkeiten umgreift und nur als “Selbsttätigkeit [...] zu haben ist” (ebd. 37). Schließlich: In ihrer integrativen Funktion lässt sich ‘Bildung’ als ‘Allgemeinbildung’ nur polemisch von ‘Ausbildung’ trennen, ist diese doch immer – wie auch immer vermeintlich konkret fixierbar – angewiesen auf übergreifende und generelle Fähigkeiten wie Fertigkeiten; in dieser Justierung aber unterläuft sie die gemeine Unterscheidung zwischen Hand- und Kopfarbeit, so dass “jede Arbeit bildet” (ebd. 32) – aber nur, insofern in ihr “die besonderen Fähigkeiten und Aufgaben mit den Anforderungen der Allgemeinheit” (ebd.) vermittelt sind. Insgesamt folgert Koselleck daher hinsichtlich des Wissens, der Fähigkeiten wie der Arbeit: “Bildung allein stellt jene Verbindungen heterogener Faktoren her, ohne die unsere arbeitsteilige Welt nicht bestehen könnte” (ebd. 34). Mit diesen drei Akzentuierungen gelingt es Koselleck, ‘Bildung’ als eine – oder gar die – spezifische praktische Anthropologie der deutschen Moderne verständlich zu machen. Sowohl ihr eigenständiger und sozial nicht einfach reduzierbarer Charakter als auch ihre auf Individualität und Selbstreferentialität abstellende Struktur erlauben es, ‘Bildung’ als eine ‘anthropologische Matrix’ auszulegen, in der die individuelle Lebensführung insgesamt als ein relational verfasster und epigenetisch strukturierter “Selbstgestaltungsvorgang” (Meyer-Drawe 1998a, 127) vorgestellt wird, in dem “sich das Selbst die Vorbilder gibt” (ebd.) – und nicht bereits existierenden schlicht nacheifert. Es ist diese Struktur der ‘Bildung’, die – trotz ihrer Einverflechtung in “die Katastrophen unseres Jahrhunderts” (Koselleck 1990, 42) – diese als einen “bis heute aufregenden Sachverhalt” (ebd. 15) auszuweisen vermag: “So wenig die Bildung einst auf den Bürger zurückgeführt werden konnte, so groß bleiben heute ihre Chancen, auch die Transformation der bürgerlichen Gesellschaft zu überdauern. Es gibt Strukturen der einmal auf den Begriff gebrachten Bildung, die epochenübergreifend wirksam bleiben” (ebd. 46).
Die hier nur angedeuteten Befunde einer sozialhistorischen Semantik können wohl als gegenwärtig anspruchsvollste Rekonstruktion des Begriffs der Bildung gelten; sie legen überzeugend nahe, ‘Bildung’ diesseits jeweiliger inhaltlicher Konkretisierungen und Bestimmungen als ein zwar historisch gebundenes, in seiner Geltung aber darauf nicht reduzierbares ebenso umfassendes wie spezifisches ‘anthropologisches Grundmuster’ zu verstehen. Die daraus resultierende Verhältnisbestimmung von Bildung und Macht aber bleibt ambivalent: nicht nur, weil ‘Bildung’ im historischen Prozess sowohl als Kritik der Macht als auch als Moment derselben gelesen werden muss, indem sie zugleich als Kritik einer geburtsständisch strukturierten gesellschaftlichen Ordnung wie als Prinzip einer insgesamt dann berufsständisch orientierten bürgerlichen Gesellschaftsordnung fungierte; sondern vor allem, weil angesichts des auch sozialsemantisch reklamierten unabgegoltenen Anspruchs der Bildung deren Machtförmigkeit dann doch nicht in ihr selbst, sondern in ihrer – durch ihren dominant metapolitischen (nicht aber unpolitischen) Charakter bedingten – ‘Machtanfälligkeit’ gesehen wird39. Zweierlei Eigentümlichkeit wird ins Feld geführt: auch wenn ‘Bil39
Koselleck bündelt dies pointiert: “Eher läßt sich sagen, dass Bildung nicht kausal, sondern funktional [...] eine zentrale Position eingenommen hat. Aus dieser Position hat sie nichts verändert, weil sie eben primär nicht politisch war. Aber sie war anschlußfähig in viele Richtungen” (ebd. 42), so dass die “stumme Funktion der
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dung’ “sozial bedingt” ist, so ist sie gerade nicht “sozial radizierbar” (Koselleck 1990, 31); ihre “über zahlreiche Friktionen hinweg” bis heute andauernde auch “selbstkritische Verwendung” (ebd. 11) aber lässt sich nicht anders erklären, als dass mit ihr etwas getroffen und formuliert ist, das “epochenübergreifend wirksam” (ebd. 46) bleibt. So aber ist die behauptete Ambivalenz der ‘Macht der Bildung’ wenigerAusdruck einer subtil vorgenommenen Distanzierung von Bildung und Macht, die nur in alte ideen- und sozialgeschichtliche ‘Kampflinien’ zurückführen würde, sondern vielmehr Folge des anthropologischen ‘Überschusses’ der Bildung selbst, der bis heute als unüberbietbare Form menschlicher Selbstdeutung weitgehend verbindliche Geltung beansprucht.
V. In vielen – weitgehend transdisziplinär betriebenen – neueren Arbeiten zu einer historischen Diskursanalyse ist daher versucht worden, der Doppelung von Gegenstand und Perspektive auch methodologisch Rechnung zu tragen, indem die eigenen hermeneutischen und normativen Horizonte selbst relativiert und historisiert und als jeweilig bedingte ‘soziale Konstruktionen’ gekennzeichnet werden; wenig verwunderlich ist daher, dass auch in den diskursgeschichtlichen Arbeiten zum ‘Diskurs der Bildung’ (vgl. Assmann 1993 wie Bollenbeck 1996) die Konzentration auf die machttheoretische Justierung von ‘Bildung’ einhergeht mit der generellen Einschätzung, dass ‘Bildung’ sich als auch heute noch bedeutsame ‘Semantik’ überlebt und weitgehend erledigt hätte. Angesichts der Überfülle möglicher Diskursbegriffe wie deren gegenwärtiger Konjunktur (vgl. Gerhard u.a. 2001) sind diskursgeschichtlich zweierlei Abgrenzungen bedeutsam: ‘Diskurs’ fungiert weder bloß als “Chiffre für den Dialog” und “das freie Gespräch” (Schalk 1998, 58), das insbesondere im Anschluss an Jürgen Habermas zu einer Idealtypik ‘herrschaftsfreier Kommunikation’ (vgl. Habermas 1981) ausgearbeitet worden ist und daher mit Diskurs eine “Instanz” zur “Rechtfertigung von Aussagen” (Waldenfels 1995, 237) bezeichnet, noch als weitgehend unbestimmte Gesamtkennzeichnung aller “regelbestimmten Sprachspiele” (Fohrmann 1997, 372) überhaupt, mit der dann – überwiegend in sprachanalytischer Perspektive – insbesondere der Zusammenhang von generativem Regelsystem und jeweils konkreter sprachlicher Aussage thematisiert wird; vielmehr wird – insbesondere im Anschluss an Michel Foucault – mit ‘Diskurs’ ein historisches ‘Formations-‘ und ‘Transformationssystem des Gesagten’ (vgl. Foucault 2001, 875), eine “diskursive Formation” (Foucault 1973, 156) und “Instanz, die es mit der Produktion von Wissen zu tun hat” (Waldenfels 1995, 237), bezeichnet. Daher wird mit ‘Diskurs’ ein “Ensemble von geregelten Verfahren für Produktion, Gesetz, Verteilung, Zirkulation und Wirkungsweise der Aussagen” (Foucault 1978, 53) markiert, durch die die Grenzen des Sagbaren und Nichtsagbaren bestimmt werden; insofern focussieren ‘Diskurse’ nicht bloß die jeweilig getroffenen Aussagen als eine “Gesamtheit von Zeichen (von bedeutungsBildung” (ebd. 43) und die jeweilige Politisierung derselben immer wieder Hand in Hand gehen konnten.
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tragenden Elementen, die auf Inhalte und Repräsentationen verweisen)” (Foucault 1973, 74), sondern behandeln diese als Ausdruck wie Vollzug einer “regulierte[n] Praxis”, einer gesellschaftlichen “Praxis von regulierten Aussagen” (ebd.). “Der Diskurs” – so Foucault pointiert – “ist durch die Differenz zwischen dem konstituiert, was man in einer Epoche korrekt (gemäß den Regeln der Grammatik und der Logik) sagen konnte, und dem, was tatsächlich gesagt wurde” (Foucault 2001, 874). Historische Diskursanalyse fragt daher in ihrer Bearbeitung der “Geschichte des Gesagten” (ebd. 875) weder nach den allgemeinen und überzeitlich justierten Möglichkeitsbedingungen von Aussagen überhaupt (Strukturalismus) noch nach den jeweilig historisch und subjektiv intendierten Bedeutungen und implizierten Sinngehalten (Hermeneutik), sondern zielt in ihrer Rekonstruktion der jeweiligen ‘Ordnung der Diskurse’ (vgl. Foucault 1991) auf die historisch-praktischen Existenzbedingungen von Aussagen und deren strukturierende Funktion; entgegen dem hermeneutischen Imperativ, beim Lesen eines Textes in die Tradition eines ‘vorgeschriebenen Denkens’ einzurücken und nach dem jeweiligen ‘Sinn’ zu fragen, ist ihre Leitfrage vielmehr: “Wie kommt es, daß eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle?” (Foucault 1973, 42). Aussagen aber werden daher nicht (nur) in ihren jeweiligen Bedeutungen – und damit als Geltungsproblematik – aufgenommen, sondern als ein Problem des “Wahrsprechens” (Foucault 1996, 176) angenommen und hin auf ihre “Beziehung zwischen der Tätigkeit des Wahrsprechens und der Machtausübung” (ebd. 177) befragt. Damit geht es Foucault weder um eine Analyse des “Verhaltens der Menschen (das zum Gebiet der Sozialgeschichte gehört)” noch um eine Bestimmung der “Ideen in ihren repräsentativen Werten” (ebd. 178), sondern um eine Rekonstruktion der jeweiligen ‘historischen Problematisierungen’: “Ich versuchte von Anfang an, den Prozeß der ‘Problematisierung’ zu analysieren – was heißt: Wie und warum bestimmte Dinge (Verhalten, Erscheinungen, Prozesse) zum Problem wurden” (Foucault 1996, 178) und so in einem “gegebenen Augenblick das Ziel sozialer Regulierung” (ebd. 179) werden konnten. Gerade weil Foucault davon ausgeht, dass eine “Beziehung zwischen Denken und Realität im Prozeß der Problematisierung” (ebd. 180) aufgewiesen werden kann, ist es möglich, die “Analyse einer spezifischen Problematisierung als die Geschichte einer Antwort vorzunehmen” (ebd.)40. Diskursanalyse zehrt also davon, dass historische Praktiken von Menschen nicht ohne ihre jeweiligen Reflexionen und Deutungen erhoben werden können, so dass Diskurse hin auf ihre jeweilig implizierten ‘Deutungsmuster’ (Bollenbeck) befragt werden können, die – insgesamt – Wahrnehmungen leiten, Erfahrenes interpretieren und Verhalten motivieren (vgl. Bollenbeck 1996, 19 u.ö.).
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Foucaults Justierungen lassen sich dabei als Abwehr zweierlei Missverständnisse lesen: weder kann Diskursanalyse als “eine Form historischen Idealismus” (Foucault 1996, 179) interpretiert werden, noch ist sie der Versuch, jeweilige Problematisierungen bloß als “Wirkung oder Folge eines historischen Kontextes oder einer historischen Situation” (ebd. 180) zu verstehen; vielmehr markieren sie “eine von bestimmten Individuen gegebene Antwort” (ebd.), die “immer etwas Schöpferisches” (ebd.) hat und nicht aus einer bestimmten Situation gefolgert werden kann, sondern – weichenstellend – auf eine bestimmte Situation und Herausforderung antwortet. Diskursanalyse kann sich daher nur jeglicher – insbesondere kausaltheoretischer – Totalitätsansprüche enthalten.
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Studie II A: Bildung als Dispositiv – eine methodologische Annäherung
Der ‘Diskurs des Diskurses’ ist längst ebenso unübersichtlich wie widersprüchlich: trotz einer enormen, insbesondere auf Foucault zurückgehenden und inzwischen oft scharf kritisierten Konjunktur von ‘Diskursanalyse’ und ‘Diskursgeschichte’ kann auch gegenwärtig auf keine ebenso umfassende wie in sich konsistente Diskurstheorie zurückgegriffen werden, die es erlaubte, bereits von einer ausgearbeiteten ‘Methodologie der Diskurses’ zu sprechen. Auch wenn es daher nur allzu leicht fällt, über die Unschärfe des ‘Diskurses’ zu spotten (vgl. Frank 1988), so verdankt sich dessen Anziehungskraft auch einem theoretischen Ungenügen entweder bloß ideen-, begriffs- oder sozialgeschichtlich argumentierender Ansätze. So ist mit ‘Diskursanalyse’ auch der theoretische Versuch verbunden, auch methodologisch die Entgegensetzung von Sprache und Geschichte zu unterlaufen und die jeweilig differenten Hinsichten mindestens konzeptionell zu verbinden; doch birgt die damit eingegangene ‘Zwischenlage’ diesseits ‘von Strukturalismus und Hermeneutik’ (Dreyfus / Rabinow 1994) mancherlei Unannehmlichkeiten, die auch mit einer ‘differenztheoretischen’ Etikettierung nicht einfach überspielt werden können41. Dabei verdanken sich die Schwierigkeiten mit dem Diskursbegriff und seiner theoretischen Justierung auch manchen von Foucault selbst unternommenen Weichenstellungen42: nicht nur, weil Foucault selbst seinen mit ‘Archäologie des Wissens’ (vgl. Foucault 1973) überschriebenen Versuch einer Methodologie des Diskurses nicht weiter verfolgt und schließlich sogar wieder aufgegeben hat; auch nicht nur, weil der Fortgang der eigenen Arbeiten ihn immer wieder zu neuen methodischen ‘Bastelarbeiten’ (Waldenfels 1991, 292) gezwungen hat, deren spätere methodologische Ausarbeitung ihn dann nur noch wenig interessierte; sondern vor allem, weil die Mehrdeutigkeit und opake Stellung des ‘Diskurses’ selbst nicht auflösbar schien und schließlich dazu geführt hat, “den zu schmal angelegten Rahmen einer Diskursanalyse” (ebd.) mithilfe neuer Überschreibungen wie ‘Dispositiv’ und ‘Genealogie’ ebenso zu erweitern wie auch zu verlassen. Kernproblem einer mit Foucault betriebenen Diskursanalyse ist dabei insbesondere deren machttheoretische Justierung; dies sei in viererlei Hinsicht angedeutet: (a) Bereits in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France (vgl. Foucault 1991) ist der ‘Diskurs’ von einer fundamentalen Widersprüchlichkeit gekennzeichnet, fungiert er doch sowohl als durch Sprache errichtetes Ordnungs- und Formationssystem von Aussagen als auch als ein geradezu vorsprachlich gedachtes “wilde[s] Außen” (ebd. 25), das den reglementierenden und ordnenden Mechanismen vorausgeht und unterliegt, so dass der Diskurs schließlich sowohl das durch Macht bedingte und gezähmte Produkt als auch der den Machtpraktiken unter- und insofern vorausliegende Gegenstand ist: “der Diskurs [...] ist dasjenige, womit man kämpft”; und zugleich: “er ist die Macht, deren man sich zu bemächtigen sucht” (ebd. 11). “Ich setze voraus”, so benennt Foucault seine leitende Hypothese, “daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und 41
Die differenztheoretische Einsicht, zu keinem ‘Ersten’ oder ‘Letzten’ verbindlich vordringen zu können, von dem her (oder auf das hin) alles andere erklärt oder in seiner Bedeutung zurückgeführt werden könnte (vgl. Kimmerle 2000), kann auch als praktische Operationsregel der Diskursanalyse verstanden werden, so dass Diskurse sowohl gegenstandstheoretisch als auch methodologisch in einen unauflösbaren Zirkel gestellt sind (vgl. auch Studie I). Als Überblick des ‘Diskursdiskurses’ eignen sich neben den historisch aufschlussreichen Beobachtungen bei Schalk (1998) und einem ersten lexikalischen Aufriss von Jäger (1996) wie Gerhard, Link und Parr (Gerhard u.a. 2001) insbesondere die Arbeiten von Waldenfels (1991 wie 1995), Kammler (1997), Winko (1997) wie zuletzt Jäger (1999); einen durchaus repräsentativen Ein- und Überblick geben auch die verschiedenen Beiträge in Nennen (2000).
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Die folgenden Überlegungen zur Diskursanalyse im Anschluss an Foucault greifen insofern vor, als dass sie zunächst der Weiterung der Diskurs- zur Dispositivanalyse folgen, um dann doch – am Beispiel historischer Rekonstruktionen des ‘Bildungsdiskurses’ (Assmann und Bollenbeck) – wieder zu diskursanalytischen Verfahren zurückzukehren.
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bedrohliche Materialität zu umgehen” (ebd. 11). Diese Ambivalenz des Diskursbegriffes, Bedingung wie Folge der Macht zu sein, verdankt sich dabei einer einseitig vorgenommenen Identifikation der Positivität und Produktivität von Diskursen mit ihrer “restriktive[n] und zwingende[n] Funktion” (ebd. 25), so dass der ‘Diskurs’ sowohl als “diskursive ‘Polizei’” (ebd.) als auch als ‘diskursiver Rebell’ zugleich fungiert. In dieser Doppelstellung ist aber Diskursanalyse als Rekonstruktion der Grenze des ‘Sag-‘ und ‘Unsagbaren’ vor unlösbare Schwierigkeiten gestellt, will sie sich nicht insbesondere in der Thematisierung des Unsagbaren bloß spekulativ auf ein ‘Außerhalb der Diskurse’ beziehen. Auch die von Foucault im Verlauf der Vorlesung erarbeiteten und weitgehend repressiv justierten Kontroll- und Beschränkungsprozeduren des Diskurses – exemplarisch genannt seien die Mechanismen der ‘äußeren Ausschließung’ (wie “das verbotene Wort; die Ausgrenzung des Wahnsinns; der Wille zur Wahrheit” (Foucault 1991, 16)) und der ‘inneren Verknappung’ durch interne Strategien der Regulation des Diskurses (wie u.a. der Kommentar, die Instanz des Autors und die Organisation des Wissens in Disziplinen (vgl. Foucault 1991, 17-25)) – zielen bereits in ihrer methodischen Justierung auf die Schnittstelle diskursiver und nichtdiskursiver sozialer Praktiken und bleiben so – trotz ihrer enormen Anregungskraft – zwielichtig. (b) Eng damit verbunden ist eine zweite Schwierigkeit, der produktiven Machtfunktion von Diskursen genauer nachzugehen und doch das Verhältnis ‘diskursiver Praktiken’ und ‘nichtdiskursiver Praktiken’ allein diskurstheoretisch bestimmen zu wollen. Während Foucault so einerseits behauptet, dass Diskurse “systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen” (Foucault 1973, 74), so dass soziale Wirklichkeit in Diskursen nicht repräsentiert, sondern konstruiert wird und nicht außerhalb von Diskursen existiert, so beansprucht er gerade machttheoretisch zugleich immer wieder Vorstellungen eines ‘nichtdiskursiven Außen’ (vgl. ebd. 68ff.), auf das sich die Diskurse regulierend wie auch produzierend beziehen. So ist der ‘Diskurs’ einerseits nur eine Praxis unter anderen Praktiken (vgl. ebd. 69-70), soll aber andererseits in seiner “Positivität der Äußerungsereignisse” (ebd. 112) nicht hintergehbar sein, wie Foucaults Weigerung, “im Diskurs [bloß] die Oberfläche symbolischer Projektionen von Ereignissen oder anderswo angesiedelten Prozessen zu sehen” (ebd. 235), nahelegt. Wie aber beides machttheoretisch aufeinander bezogen werden kann, muss allein diskurstheoretisch – entlang Foucaults Weisung: “Man bleibe in der Dimension des Diskurses” (ebd. 112) – weitgehend unklar bleiben. Waldenfels Einschätzung, dass Foucault “sich selber in eine gewisse Sackgasse manövriert [habe], indem er die Ordnungsformationen der Geschichte in seiner Theorie zunächst als Wissensordnungen (Epistemai), dann als Redeordnungen (Discours) konzipiert hat, anstatt von einer Ordnung auszugehen, die sich auf die verschiedenen Verhaltensregister des Menschen verteilt, auf sein Reden und Tun, aber auch auf seinen Blick, auf seine Leibessitten, seine erotischen Beziehungen, seine technischen Hantierungen, seine ökonomischen und politischen Entscheidungen, seine künstlerischen und religiösen Ausdrucksformen und anderes mehr” (Waldenfels 1991, 291), ist nicht nur zuzustimmen, sondern markiert auch den weiteren Gang der Foucaultschen Überlegungen, selbst den Ordnungsbegriff enorm ausweiten zu müssen, um der eigenen machttheoretischen Intuition weiterhin Rechnung tragen zu können. (c) Der drohenden Tendenz, nun alles unter dem Oberbegriff des ‘Diskurses’ zu subsumieren und in einer ‘Archäologie des Wissens’ analysieren zu wollen, ist Foucault aber ausgewichen, indem er den Begriff des Diskurses um den des Dispositivs erweitert hat, ohne damit zugleich die zentrale Stellung des Diskurses (und damit die Dringlichkeit seiner Analyse) aufzugeben (vgl. Deleuze 1991). Dabei geht es ihm darum, diskursive und nichtdiskursive Praktiken in ihrem Zusammenhang verknüpfbar und als strategische Operationen analysierbar zu machen. Erstmalig bereits 1976 eingeführt (vgl. Foucault 1977, 35) definiert Foucault den Begriff des Dispositivs als ein “entschieden heterogenes Ensemble” und bestimmt dessen “Elemente” als “Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophi-
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sche, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes” (Foucault 1978, 119f.). Entscheidend jedoch ist, dass mit ‘Dispositiv’ “das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann” (ebd. 120), bezeichnet wird, so dass weniger die heterogenen Bestandteile des Dispositivs – als Sagbarkeiten, Machbarkeiten und Sichtbarkeiten – focussiert werden, sondern vielmehr “die Natur der Verbindung” verdeutlicht werden soll, “die zwischen diesen heterogenen Elementen sich herstellen kann” (ebd.). Foucault kennzeichnet daher das Dispositiv als eine “Formation, deren Hauptfunktion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand zu antworten. Das Dispositiv hat also eine vorwiegend strategische Funktion” (ebd.). Wenn auch Foucaults Begriff des Dispositivs seinerseits unausgearbeitet und auch methodologisch weitgehend unbestimmt geblieben ist, so können doch die von ihm vielfältig vorgelegten Studien – insbesondere seine Analyse des ‘Gefängnisdispositivs’ (vgl. Foucault 1976) wie des ‘Sexualitätsdispositivs’ (vgl. Foucault 1977) – als deren materiale Einlösung gelten; sie machen inhaltlich deutlich, worauf methodologisch mit der Erfindung des ‘Dispositivs’ reagiert werden sollte. Von hierher ist es – in Kenntnis der späteren Schriften Foucaults – daher nicht abwegig, das Dispositiv selbst als Zusammenspiel von Wissensformationen, Machtpraktiken und Selbsttechnologien zu verstehen; Foucaults Hinweis – “Eben das ist das Dispositiv: Strategien von Kräfteverhältnissen, die Typen von Wissen stützen und von diesen gestützt werden” (Foucault 1978, 123) – weist bereits in diese Richtung43. (d) Schließlich: Dieser von Foucault vorgeschlagenen Weiterung entspricht auch dessen Neujustierung der ‘Archäologie des Wissens’ zu einer ‘Genealogie der Macht’, die sich nun nicht mehr bloß um “das große Modell der Sprache und der Zeichen” (Foucault 1978, 29) dreht, sondern diese in ihrem Zusammenhang mit historisch-konkreten Machtprozessen auch in ihrem produktiven Charakter zu analysieren sucht und insofern auch explizit nach den jeweilig äußeren Bedingungen, Beschränkungen und Institutionalisierungen von Diskursen fragt (vgl. Lemke 1997, 54-67). Beschränkt man ‘Genealogie’ nicht allein auf den Zusammenhang von ‘Wissen und Macht’, so dass Wissen allzu eilig oft als bloßes “Macht-Wissen” (Foucault 1980) rezipiert worden ist und dadurch insgesamt zu Vorstellungen einer ‘Metaphysik der Macht’ (Breuer) geführt hat, so zeichnet sich – bereits erheblich vor der auf den Beginn der 80er Jahre datierbaren Einführung der Dimension der Subjektivierung (vgl. Lemke 1997) – eine darüber hinausgehende Perspektive ab, die es erlaubt, auch die späteren Arbeiten Foucaults zu den ‘Technologien des Selbst’ (vgl. Foucault 1993) als genealogische Arbeiten zu verstehen: “Man muß sich” – so Foucault in einem Interview von 1977 – “vom konstituierenden Subjekt, vom Subjekt selbst befreien, d.h. zu einer Geschichtsanalyse gelangen, die die Konstitution des Subjekts im geschichtlichen Zusammenhang zu klären vermag. Und genau das würde ich Genealogie nennen” (Foucault 1978, 32). Es ist daher nicht verwunderlich, wenn Foucault aus späterer Sicht heraus seine Arbeiten insgesamt unter dem Titel einer “Geschichte der Subjektivität” (Foucault 1994a, 700) bündelt und mit der Fragestellung, ‘wie Menschen in Subjekte verwandelt werden’ (vgl. Foucault 1994, 243), überschreibt. Die Analyse der verschiedenen ‘Modi der Subjektivierung’ (vgl. Foucault 1994a, 699) aber verlangt eine Analyse der historisch-sozialen Bedingungen und Praktiken, innerhalb derer die jeweiligen “Objektivierungsweisen” und “Wahrheitsspiele” als Formen jeweiligen “‘Wahrsprechens’ (véridictions)” (ebd. 700) eine besondere Rolle einnehmen. Leitfaden aller genealogischen Arbeiten ist daher die Analyse der
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Vgl. zur Problematik des Dispositivs ausführlicher die Überlegungen von Deleuze (1991) und Balke (1998) wie die – bereits zu einer ‘Dispositivanalyse’ ausgeweiteten – Erläuterungen Jägers (1999 wie 2001). Deleuzes Kennzeichnung des Dispositivs als eines sich gegenseitig bedingenden Zusammenspiels von Wissensformationen, Machtpraktiken und Selbsttechnologien greift nicht nur Foucaults spätere Korrekturen der eigenen Überlegungen auf (vgl. exemplarisch Foucault 1994), sondern kann auch gegenüber der allerdings “seismisch” (Deleuze 1991, 153) überaus überzeugenden Foucaultschen Bestimmungen des Dispositivs als einem ‘heterogenen Ensemble’ als Präzisierung gelten.
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“Praktiken, verstanden gleichzeitig als Formen des Handelns und des Denkens, die den Schlüssel zum Verständnis der gegenseitigen Konstitution von Subjekt und Objekt geben” (ebd. 702). Foucault bilanziert seinen eigenen machttheoretischen Einsatz daher folgendermaßen: “Es ist klar, daß es nicht darum geht, die ‘Macht’ nach ihrem Ursprung, ihren Prinzipien oder legitimen Grenzen zu befragen; sondern es handelt sich darum, das Verfahren und die Techniken zu studieren, die in verschiedenen institutionellen Kontexten benutzt werden, um auf das Verhalten von Individuen – als einzelne oder in Gruppen – einzuwirken, es zu formen, zu lenken, zu verändern [...]. Diese Machtbeziehungen charakterisieren die Art und Weise, in der Menschen voneinander ‘regiert’ werden, und ihre Analyse zeigt, wie durch bestimmte Formen der Regierung [...] das Subjekt objektiviert wird” (ebd.). Genealogisch geht es daher nicht darum zu zeigen, wie die Macht die Subjekte gleichsam “aus dem Nichts geschaffen hat”, sondern darum, “daß die unterschiedlichen und besonderen Formen der ‘Regierung’ von Individuen in den verschiedenen Modi der Objektivierung des Subjekts bestimmend gewesen sind” (ebd.). Das ‘Subjekt’ ist – in all seinen Variationen – daher keine anthropologische Konstante schechthin, die historisch jeweilig durch Macht ‘verformt’ würde, sondern “eine seiner ersten Wirkungen” (Foucault 1978, 83); die gemeinhin verbreitete Vorstellung, die Subjekte seien “als eine Art elementarer Kern, primitives Atom, als vielfältige und träge Materie aufzufassen, auf die die Macht angewandt oder treffen würde, eine Macht, die die Individuen unterwerfen oder zerbrechen würde” (ebd. 82f.), muss daher selbst als Folge spezifischer – neuzeitlich-moderner – Subjektivierungsweisen verstanden werden. Zugleich aber kann das ‘Individuum’ gerade nicht bloß als freie ‘Erfindung der Macht’ – gleichsam aus dem ‘Nichts’ – verstanden werden: “Die Macht geht durch das Individuum, das sie konstituiert, hindurch” (ebd. 83). Das aber erfordert eine anthropologische Justierung und Reformulierung der Frage nach der Macht44. Genealogie, so ließe sich summarisch folgern, ist daher der Versuch, den Zusammenhang diskursiver Wissensformationen mit (auch) nichtdiskursiven Machtpraktiken und Technologien des Selbst hinsichtlich ihrer jeweiligen Subjektivierungsweise zu analysieren; Diskursanalyse und -geschichte nehmen als ‘Archäologie des Wissens’ darin einen zwar nicht hinreichenden, aber weiterhin bedeutsamen und unverzichtbaren Platz ein45.
Die mit Foucault unternommene Problematisierung diskursanalytischer und diskursgeschichtlicher Verfahren hat einen insgesamt durchaus erstaunlichen Befund erho44
Vgl. insgesamt zur methodologischen Justierung der Genealogie Foucaults die Überlegungen bei Kögler (1994) wie Lemke (1997); zugleich habe ich in Studie I versucht, diese Justierung der Genealogie – als Frage nach dem Zusammenhang von Wissensformen, Machtpraktiken und Selbsttechnologien – ‘anthropologisch’ zu interpretieren: einerseits als dreidimensionale Figuration jeder Anthropologie (in Welt-, Anderen- und Selbstverhältnisse) und andererseits als historisch spezifische Antwort auf das durch unauflösbare Differenzen konstituierte ‘anthropologische Problem’ selbst. Genealogie aber, darauf sei hingewiesen, geht in Anthropologie als jeweiliger ‘Anthropolitik’ (Morin) nicht auf, bedarf aber derer Unterstützung.
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In einer kurzen Vorlesungsskizze des genealogischen Ansatzes (vgl. Foucault 1999, 7-30) weist Foucault der ‘Genealogie’ – unter dem Titel einer Analyse des “unterworfenen Wissens” (ebd. 15) – die Aufgabe zu, das jeweilige Wissen als Resultat historischer Kämpfe verständlich machen zu können; unverzichtbar dafür aber ist – neben einer präzisen machttheoretischen Justierung der eigenen Fragestellung – jene “zärtliche und warmherzige Freimaurerei unnützer Gelehrsamkeit” (ebd. 11), die allein die ‘unterworfenen Wissen’ aus ihrer funktional-systemischen Verborgenheit “wieder zum Vorschein bringen” (ebd. 15) kann. “Als Genealogie bezeichnen wir die Verbindung von gelehrten Kenntnissen und lokalen Erinnerungen, eine Verbindung, die es ermöglicht, ein historisches Wissen der Kämpfe zu erstellen und dieses Wissen in aktuelle Taktiken einzubringen. Dies ist die provisorische Definition der Genealogien, die ich mit Ihnen im Laufe der letzten Jahre zu erarbeiten versucht habe” (ebd. 17). Damit aber dient ‘Genealogie’ dem “Widerstand und Kampf gegen den Zwang eines einheitlichen formalen und theoretischen Wssenschaftsdiskurses” (ebd. 19), der sich erst in der Delegitimation der lokalen, unzusammenhängenden und disqualifizierten Wissen als nicht legitimierten Wissensweisen konstituiert.
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ben: alle Versuche, allein diskurstheoretisch die mit Diskursanalyse und -geschichte verknüpfte machttheoretische Justierung einzulösen und gerade nicht bloß eine ‘Geschichte des Gesagten’ zu rekonstruieren, sondern – auch in der Unterscheidung des ‘Sagbaren und Unsagbaren’ (Frank) – Diskurse hin auf ihre Machteffekte zu befragen, hat – zumindest bei Foucault, dessen Weichenstellungen hier genutzt werden sollen – dazu geführt, das Projekt einer kritischen Diskursgeschichte hinsichtlich der zu analysierenden Materialien erheblich zu erweitern wie hinsichtlich der eingenommenen Perspektive und Fragerichtung zuzuspitzen. Was aber methodologisch zu überzeugen vermag, stellt bereits methodisch vor erhebliche Schwierigkeiten: so wenig es möglich ist, sich in materialer Hinsicht bloß auf spezifische Diskurse als jeweiligen Produktionen von Wissen zu beschränken, so wenig aussichtsreich und machbar ist es zugleich, die Analyse von Dispositiven material wie formal umfassend überhaupt leisten zu können. Nicht zufällig eignet Foucaults eigenen Arbeiten daher immer wieder ein auch eklektizistischer Charakter, der ihm – insbesondere aus historischer Perspektive – immer wieder neu zum Vorwurf gemacht worden ist (vgl. Wehler 1998). Mit Blick auf ‘Bildung’ lässt sich diese Einschätzung durchaus bestätigen, konnte doch bislang weder in ideen- und begriffsgeschichtlicher noch allein sozialgeschichtlicher Abarbeitung an ‘Bildung’ derer enormen Zentralität als einem ebenso theoretischen als auch praktischen Konzept gänzlich Rechnung getragen werden. Erstaunlich wie verständlich zugleich ist daher, dass eine ‘Genealogie der Bildung’ immer noch ein Desiderat darstellt (vgl. Marchand 1997) und – angesichts der mit ‘Bildung’ verknüpften Komplexität – auch nur in jeweiligen Einzelbeiträgen einzulösen ist: nicht, weil sich ‘Bildung’ dazu insgesamt nicht eignete; auch nicht, weil der ‘Diskurs der Bildung’ bislang nicht in seinen Grundzügen rekonstruiert worden wäre; sondern vor allem, weil ‘Bildung’ entweder als theoretischer Begriff zumeist nur philosophisch oder als jeweilig soziale Praktik und kulturelle Aktivität des Bildungsbürgertums zumeist ohne ihre philosophischen Implikationen aufgenommen worden ist. Offensichtlich aber ist, dass mit ‘Bildung’ weder bloß ein theoretischer Diskurs und damit eine spezifische Wissensformation noch eine ausschließlich soziale Machtpraxis, sondern auch – und vielleicht darin vor allem – eine spezifische ‘Technologie des Selbst’ markiert werden kann; der weithin durchaus unstrittige Zusammenhang aller drei Dimensionen der ‘Bildung’ legt daher nahe, ‘Bildung’ insgesamt als ein Dispositiv zu bezeichnen, in dem sich – gemäß der Foucaultschen Bestimmung – “Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes” (Foucault 1978, 119f.) verknüpfen und durchmischen46.
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Was als bloß aufzählendes und in sich äußerst heterogenes Konglomerat gelesen werden könnte, dessen Bearbeitung zunächst wenig(er) aufschlussreich und fruchtbar zu sein scheint, wird nun in seiner Konkretion durch ‘Bildung’ durchaus einsichtiger – und im Gesamten uneinlösbarer zugleich: denn das, was hier unter der Überschreibung einer ‘Genealogie der Bildung’ vorgelegt werden kann und wird, ist nur ein erster kleiner Beitrag, der den Ansatz einer solchen Genealogie erproben soll.
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Ich werde im folgenden daher immer wieder vom ‘Dispositiv der Bildung’ sprechen und beziehe mich dabei sowohl auf theoretische Diskurse und soziale wie institutionalisierte Machtpraktiken als auch auf spezifische Selbsttechnologien; zentraler Focus einer damit verknüpften ‘Genealogie der Bildung’ ist dabei die Frage, wie in und durch ‘Bildung’ als einem theoretisch formulierten und praktisch bedeutsamen gesellschaftlichen Programm “Menschen in Subjekte” (Foucault 1994, 243) verwandelt werden, so dass ‘Bildung’ als eine spezifisch deutsche Antwort auf gesellschaftliche Transformationserfordernisse und -nöte durch individuelle Formation verstehbar werden kann. Die bislang vorliegenden diskursgeschichtlichen Untersuchungen der ‘Bildung’ als einem ebenso umfassenden wie sozial bedeutsamen ‘semantischen Deutungsmuster’ (Bollenbeck) bestätigen in ihren materialreichen Befunden zunächst die mit der Kennzeichnung von ‘Bildung’ als einem Dispositiv behauptete Komplexität und Mehrdimensionalität; auch wenn ihrerseits selbst nicht genealogisch justiert, so lassen sie sich doch auch als wichtige diskursgeschichtliche Beiträge zu einer ‘Genealogie der Bildung’ lesen, die nicht nur bildungstheoretisch, sondern auch machttheoretisch über die bisherigen (grund-)begriffsgeschichtlichen Arbeiten hinausgehen, indem sie der spezifischen ‘Eigenlogik’ der Bildung weit größere Beachtung schenken. An den Arbeiten Assmanns (1993) und Bollenbecks (1996) sei dies exemplarisch verdeutlicht47. (1) So hat Aleida Assmann in ihrer mit ‘Arbeit am nationalen Gedächtnis’ überschriebenen ‘kurzen Geschichte der deutschen Bildungsidee’ (vgl. Assmann 1993) einen wichtigen Beitrag zu einer diskursgeschichtlichen Annäherung an ‘Bildung’ geleistet, indem sie den bislang “jeweils nur in Teilaspekten” erhellten “Gesamtkomplex Bildung” (ebd. 8) entlang der Frage nach seinem “inneren Zusammenhang” (ebd.) nachzuzeichnen versucht hat. Auch wenn ihre “Thematisierung des Ganzen der Bildung” (ebd.) ausdrücklich durch eine in anderen Zusammenhängen entwickelte erinnerungstheoretische Perspektive bestimmt ist (vgl. Assmann 1999)48 – “Bildung verstehe ich als eine spezifische Form, die das kulturelle Gedächtnis in der sich modernisierenden Gesellschaft annimmt” (ebd. 8), so resultiert ihr (eher) diskursgeschichtlicher Zugriff aus einer Einschätzung des Status der ‘Bildung’: ‘Bildung’ ist – diesseits seiner überwiegend theoretischen Ausformulierung – vor allem ein praktisches Konzept, das in und über seine inhaltlichen Auffüllungen hinaus auch performativ wirksam ist, indem es in seinem Bezug auf “Einheits-, Universalitäts- und Totalitätsideale” (ebd. 9) daran erinnert, “daß es nicht 47
Die Arbeiten von Assmann (1993) wie insbesondere Bollenbeck (1996) haben – wie die vielen gerade nicht bloß fachwissenschaftlichen Rezensionen belegen – große Aufmerksamkeit auf sich gezogen (vgl. exemplarisch Gille 1996) und sind insbesondere pädagogisch immer wieder bestritten worden (vgl. Tenorth 1996 wie auch 1997); es ist wohl kaum zufällig, dass Tenorth gerade überschätzte ‘soziale Wirksamkeit’ des Deutungsmusters wie unterschätzten Geltungsanspruch der ‘Bildung’ als Monita anführt (vgl. Tenorth 1996, 304f.). Auch wenn beide Arbeiten den Foucaultschen Weichenstellungen nicht explizit folgen und allemal selbst nicht auf eine ‘Genealogie der Bildung’ zielen, erlaubt ihr Zugriff auf ‘Bildung’ als einem historischpraktischen ‘Deutungsmuster’ jedoch, sie auch in der Perspektive einer an Foucault anschließenden (historischen) Diskursanalyse zu lesen.
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Vieles spricht dafür, Erinnerungstheorie gerade nicht bloß als ideengeschichtliche Rekonstruktion misszuverstehen, zielt doch das Programm einer ‘Erinnerungsgeschichte’ (Jan Assmann) – trotz einer bisweiligen Konzentration auf ‘Großtheoretiker’ (vgl. Assmann 1993) – insgesamt auf die Rekonstruktion von Ideen, Praktiken und kulturellen Objektivationen in ihrer jeweiligen sozialen Funktion (insbesondere für die individuelle wie nationale bzw. kulturelle Identitätsbildung); vgl. dazu ausführlicher die Überlegungen von Jan Assmann (1997) wie auch die verschiedenen Beiträge in Assmann / Hölscher (1988).
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nur darauf ankommt, was man kann, sondern auch darauf, was man sein kann, nicht nur auf das, was man weiß, sondern auch darauf, wer man ist” (ebd. 9). Diese “im Begriff selbst wirksame Energetik” (ebd. 9) wird aber sowohl in einer bloß theoretischen Rekonstruktion als auch in der Verwendung von ‘Bildung’ als einem rein deskriptiven Begriff einer Sozialgeschichte übersehen, so dass “die Innenbeleuchtung des Phänomens” (ebd.) weitgehend außen vor bleibt: Bildung war – bevor sie “zu einem Präfix zur Klassifizierung von Gruppen wurde wie im Kompositum ‘Bildungsbürgertum’” (ebd. 10) – ein “wirkendes Wort, sei es als Zauberformel, sei es als ohnmächtige Parole” (ebd.). Methodologisch geht es daher darum, “den zahlreichen und grundlegenden neueren Darstellungen von Bildung aus soziologischer und historischer Perspektive [...] eine kurze Geschichte der Bildungsidee an die Seite” zu stellen, “die den Akzent auf die mit diesem Begriff verbundenen Ideale, Sehnsüchte, Hoffnungen, Enttäuschungen und nicht zuletzt: Aversionen legt” (ebd. 10). Gerade aber dieser Verknüpfung von theoretischer und praktischer Bedeutung der ‘Bildung’ lässt sich vor allem diskursgeschichtlich nachgehen, indem die ‘Struktur des Bildungsdiskurses’ (vgl. ebd. 72) als Problematisierung einer ‘anthropologischen Matrix’ entfaltet wird. Es sind vor allem zwei Problemfelder, die mit ‘Bildung’ thematisiert werden: “Bildung” – so Assmann – “hat ihr Fundament in einer Anthropologie der Selbstbildung” (Assmann 1993, 18), in der die “allgemeine und offene Frage, was der Mensch ist und sein kann” (ebd.), in einer spezifischen Weise beantwortet wird; deren Pointe ist dabei ein ‘formatives Selbstbild’, das “Unfertigkeit und Plastizität” (ebd. 23) mit “Selbstbestimmung” (ebd. 20) verknüpft und als “Auftrag zum eigenen Entwurf, zur autonomen Selbstgestaltung” (ebd. 30) etabliert, so dass “Bildung [...] sich mit ihrer Anpassung an Evolution und Zeitlichkeit als das Gegenteil von Bindung” (ebd.) erweist: nicht nur geraten “Sein und Werden” (ebd. 10) in ein ambivalentes Spannungsverhältnis, so dass die paradoxe Aufforderung, ‘werde der Du bist’ (Pindar), für ‘Bildung’ als typisch gelten kann, und die behauptete Freiheit sich einer natürlichen, “im Inneren verankerten Instanz” (ebd. 29) verdankt (vgl. auch 83); vielmehr geht mit dieser “Idee vom Menschen als einem sich selbst erzeugenden Wesen” (ebd. 20) eine sich auf Individualität und Innerlichkeit stützende kulturelle und soziale Perspektive einher, die individuelle und kollektive Identität – ebenso geheimnisvoll (vgl. ebd. 10) – miteinander identifiziert, wird doch “Menschwerdung” auch immer als “Verinnerlichung der Kultur” (ebd. 25) ausgelegt, so dass insgesamt ‘Bildung’ sich von Anfang an in den Widerspruch verstrickt, sich selbst vorzubehalten, “wem [sie] im konkreten Falle das Prädikat ‘Mensch’ verleiht und wem [sie] es entzieht” (ebd. 30). Rückbezieht man ‘Bildung’ auf ihren gesellschaftlichen Herausforderungskontext – dem “Umbau der neuzeitlichen Gesellschaft von einer stratifizierten in eine funktional differenzierte” (ebd. 27 wie auch 33) –, so lässt sich ‘Bildung’ uneingeschränkt als “komplexe Lösung für neue soziale Probleme” (ebd.) verstehen, die sehr bald “an die Stelle des offenen und universalistischen Ideals [...] distinktive, kollektive, exklusive Menschenbilder” (ebd. 33) gesetzt hat. Es ist dieser Wandlungsprozess, den Assmann hinsichtlich seiner Inhalte (insbesondere Sprache, Geschichte und Kunst) und seiner strukturellen Funktionen – vom “Integrationsprinzip” (ebd. 87) über die Etablierung einer ‘Bildungsreligion’ (vgl. ebd. 45) bis hin zu einer Distinktions- und Exklusionspraxis (vgl. ebd. 66 wie 88) – in seinen Stationen zu beschreiben und als spezifische “Gedächtnis-Strategie” (ebd. 52) zu bestimmen sucht; ihr insgesamt bilanzierender Befund ist in beiderlei Hinsicht desillusionierend: “Die Bildungsidee, die angetreten war, die Entfremdung des Menschen in einer rapide sich modernisierenden Welt zu heilen, hat diese Entfremdung durch die effektive Spaltung in Privatheit und Öffentlichkeit noch vertieft” (ebd. 59); und: “Bildung wurde zu einer Defensivwaffe in einer Zeit des sozialen Wandels, mit der die neuen andrängenden Schichten abgewehrt wurde. Die progressive Bildungsidee der Aufklärung ist [...] zum Stillstand gekommen” (ebd. 66), so dass “Bildung, ursprünglich eine Integrationsformel, [...] sich so im Laufe ihrer Geschichte zu einer Exklusionsformel entwickelt” (ebd. 90) hat. Assmanns Kennzeichnung des Wandlungsprozesses als eines
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‘Schließungsprozesses’ – “die alte Bildungsidee [...], die den Akzent ja gerade aufs Werden und die konstitutionelle Unfertigkeit des Menschen legte, [wurde] durch die neue Bildungsidee ersetzt, die der festen Konturierung einer kollektiven Identität gilt” (ebd. 86) – lässt sich durchaus verallgemeinern und strukturell nutzen. Unangemessen aber ist es, den beobachtbaren Wandel entweder bloß verfallsgeschichtlich als “irrationales Umschlagen” oder gar “Perversion der Bildung” (ebd. 88) einzuschätzen oder als nur äußerliche Transformation der sozialen Funktion von ‘Bildung’ zu justieren; bedeutsamer scheint es daher, ihn auch in der Struktur des ‘Bildungsdiskurses’ selbst zu verorten, ist doch dieser in seinen zentralen Stichworten durch eine grundsätzliche Asymmetrie und Hierarchizität gekennzeichnet, so dass “jeweils ein positiver Wert” und der “Schatten seines Unwerts” (ebd. 72) die durch Bildung visierten Differenzen strukturiert. Assmanns Nennungen – “zentral versus peripher” (ebd. 72), “einheitlich versus zersplittert” (ebd. 74), “verbindlich versus beliebig” (ebd. 7) und “energetisch versus statisch” (ebd. 7) – belegen diese jeweilig hierarchische Sortierung und machen ihre insgesamt skeptische Einschätzung der ‘Bildungsidee’ durchaus verständlich: auch wenn der “Bildungsbegriff keineswegs von der Bildfläche der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit verschwunden ist” (ebd. 11), scheint er “heute seine zentrale und zentrierende gesellschaftliche Funktion eingebüßt zu haben. Das Zentrum, auf das er verwies, die Mitte der Person oder die Mitte der Nation, existiert nicht mehr. Wir haben den mit der Bildungsidee verbundenen Universalisierungsanspruch in leidvollen Folgen des Imperialismus und Kolonialismus kennengelernt. Die ‘naive Verwechslung europäischer, das heißt westeuropäischer Menschlichkeit mit der Gesamtmenschheit’ (Mann) ist heute nicht mehr möglich. Noch radikaler ist der an der Bildungsidee haftende Fortschritts- und Kontinuitätsgedanke zerstört durch die Erfahrung des vom deutschen Hitler-Staat organisierten Judenmords. Vor diesem Einbruch des Grauens in die deutsche Geschichte verstummt die Bildung. Sie läßt sich nicht als Tradition beerben, sie ist vielmehr als Teil der deutschen Geschichte zu erinnern” (ebd. 111). (2) Bollenbecks erheblich materialreicheren Überlegungen zu ‘Bildung und Kultur’ (vgl. Bollenbeck 1996) als einem spezifisch deutschen “Deutungsmuster” (ebd. 11) bestätigen und ergänzen in sowohl formaler als auch materialer Hinsicht die hier mit Assmann skizzierten diskursanalytischen Befunde: nicht nur, weil auch Bollenbeck ‘Bildung’ als ein theoretisch formuliertes und praktisch überaus bedeutsames ‘Deutungsmuster’ kennzeichnet, dessen “Analyse seiner Entstehungs- und Verwendungsgeschichte” (ebd. 16) auch methodologisch diskursgeschichtliche Verfahren einer sozialhistorischen Semantik verlangt (vgl. 16f.); auch nicht nur, weil die bei Bollenbeck formelhaft zusammengefasste skeptische Einschätzung der ‘Bildung’ als einem “semantische[n] Gefängnis” (ebd. 27, vgl. 225, 285 u.ö.) die bei Assmann formulierte Distanz gegenüber deren gegenwärtigen Tauglichkeit bestätigt; sondern vor allem, weil auch die von Bollenbeck vorgetragenen Überlegungen um die beiden Pole einer Anthropologie der ‘sich bildenden Individualität’ (vgl. ebd. 113) und ihrer ‘symbolischen Vergesellschaftung’ (vgl. ebd. 193) kreisen. Nur dreierlei Ergänzungen seien daher erwähnt: (a) Auch wenn man auf ein “Deutungsmuster [...] nicht zeigen” (ebd. 16) kann, so kommt einem solchen doch eine erhebliche gesellschaftliche Bedeutung und Effektivität zu: “Das Deutungsmuster leitet Wahrnehmungen, interpretiert Erfahrenes und motiviert Verhalten” (ebd. 19), so Bollenbecks immer wiederkehrende Beteuerung. Insgesamt können mit einem ‘Deutungsmuster’ daher “Elemente der Weltdeutung mit möglicher Handlungsanbindung” (ebd.) gekennzeichnet und als eine “vorgefertigte Relevanzstruktur” (ebd.) aufgewiesen werden, “die man nicht auswählt, sondern eher übernimmt” (ebd.); seine Rekonstruktion lässt sich – allein aufgrund des methodologischen Status eines Deutungsmusters – nur im Rahmen einer zwar sozialgeschichtlich anschlussfähigen, insgesamt aber überwiegend doch semantisch justierten “Diskursanalyse” (ebd. 18) leisten, geht es doch darum, anhand eines Deutungsmusters Prozesse der “individuellen Sinnbildung” und der “symbolische[n] Vergesellschaftung zu entziffern” (ebd. 19). Mit einem ‘Deutungsmuster’ wird daher der diskursiven Inter-
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pretativität menschlicher Lebensvollzüge Rechnung getragen, ohne dass damit – wie bisweilen moniert (vgl. Tenorth 1996, 304) – kausale Wirkungsannahmen oder gar Primatbehauptungen gesellschaftlicher ‘Ideen’ unterstellt werden müssen. Realität gewinnt ein ‘Deutungsmuster’ daher nur interpretativ – als nur interpretativ rekonstruierbares Interpretationsmuster; neben der Rekonstruktion des gesellschaftlich Gesagten und Sagbaren ist es daher unverzichtbar, das jeweilig “Nichtgesagte und Ausgegrenzte” (Bollenbeck 1996, 19) mit zu thematisieren. Zugleich ist bedeutsam, dass ‘Deutungsmuster’ – allemal ‘Bildung’ – nicht bloß oder vorrangig theoretische Konzepte darstellen, sondern als “eine Art diskursiver Angelpunkt” (ebd. 25) erst in gesellschaftlichen Kommunikationen ihre ‘Prägekraft’ entwickeln und insofern wesentlich ‘vor‘ oder ‘nachwissenschaftlich’ (vgl. ebd. 17 wie auch 157) sind; zu “den unmittelbaren Akteuren der semantischen Innovation” zählen daher nicht oder nicht vorrangig “die großen Denker des deutschen Idealismus” (ebd. 100) – wie Fichte, Schelling oder Hegel –, “wohl aber die Theoretiker und Praktiker des Bildungssystems wie (allen voran) W. v. Humboldt, Niethammer oder von Süvern” als bedeutsamen “Stichwortgeber[n] des Deutungsmusters” (ebd.; vgl. auch 148)49. Mit diesen Weichenstellungen aber stellt Bollenbeck insgesamt – überaus überzeugend – auf die Historizität von ‘Bildung’ als einem ‘gesellschaftlichen Begriff’ ab und erschwert damit eine vorrangig systematisch justierte Aneignung von ‘Bildung’ als einer – erziehungswissenschaftlich inzwischen überaus bedeutsamen – theoretischen Kategorie ohne Zeitindex; es ist gerade diese vermeintlich unbedeutende Doppelung von historischem Programm- und kategorialem Grundbegriff, die machttheoretisch stutzig macht. (b) Seine Macht als “diskursive und schließlich auch institutionelle Hegemonie” (ebd. 148) verdankt das Deutungsmuster der ‘Bildung’ – so Bollenbeck – nicht zuletzt seinem “kommunikationsfreundliche[n], synkretistische[n] Charakter”, d.h. der “Mixtur unterschiedlicher Traditionslinien” (ebd. 156), in der sich die “Vereinfachung des Gedankens der sich selbst vervollkommnenden Persönlichkeit” (ebd. 149) mit einer im Neuhumanismus durch den Rückgriff auf antik-griechische Traditionen ermöglichten Konkretisierung und “Verstofflichung der Bildungsmittel” (ebd.) und der damit verbundenen “Stabilisierung des Bildungsideals durch Institutionen” (ebd.) zu einem theoretisch wie praktisch dimensionierten Syndrom – mit Foucault wohl auch als ‘Dispositiv’ bezeichenbar – verbinden; insbesondere in ihrer “im Pathos des Allgemeinen” (ebd. 166) beschworenen polemischen Abwertung von ‘Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit’ (vgl. ebd. 149f. u.ö.) und der damit assoziierten Harmonie und zwecklosen Orientierung am ‘ganzen Menschen’ und seiner ‘Eigentümlichkeit’ (Schleiermacher) findet ‘Bildung’ ihren kleinsten gemeinsamen Nenner, so dass sie inhaltlich zwar weitgehend durchaus unbestimmt bleiben kann (vgl. ebd. 163 wie 166), um sozial allerdings umso wirksamer werden zu können (vgl. ebd. 87). Ihre zentrale Funktion bestimmt Bollenbeck zunächst systematisch als symbolische Vermittlung von Individuum und Gesellschaft – auf drei Ebenen: ‘Bildung’ drückt gesellschaftliche Beziehungen aus und organisiert sie, befestigt die soziale Identität ihrer ‘Trägerschicht’ (in und durch Distinktionen ‘nach oben und unten’) und reguliert schließlich gesellschaftliche Bewusstseins- und Wissensbestände (vgl. ebd. 159). Historisch kommt ihr dabei im Kontext einer “defensiven Modernisierung, in der die alte Ordnung durch Reformen ‘von oben’ gegen die Revolution ‘von unten’ gefestigt werden soll” (ebd. 167), eine bislang weitgehend “unterschätzte Modernisierungsfunktion” (ebd. 193) zu: gerade indem sie “erhöhte Individuierungsansprüche” (ebd. 192) ausdrückt – Bollenbeck: “Ihr Leitbild ist der sich selbst vervollkommnende, selbsttätige und selbstverantwortliche, in geistiger wie materieller Hinsicht freie Mensch” (ebd. 192) – und diese zunächst kritisch gegen Religion und ständische Herkunft 49
Vgl. dazu auch: “Humboldt ist nicht der ‘Erfinder’ des Bildungsideals, und er ist auch nicht der Heros der Bildungsreform. Er kann aber als dessen herausragender Repräsentant und deren wichtigster Diplomat gelten, als Diplomat eines ideativen Bewußtseins, das [...] den ‘gebildeten Menschen’ und seine sittliche Menschwerdung zum Endzweck erklärt” (Bollenbeck 1996, 180).
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profiliert, ist sie schließlich für die “Herstellung ‘kultureller Hegemonie’ des Bildungsbürgertums” (ebd. 166) funktional unverzichtbar, indem sie deren ‘berufsständische Neuordnung’ reflektiert wie legitimiert. (c) Die von Bollenbeck ebenso detailliert wie bisweilen auch unübersichtlich rekonstruierte soziale Verwendungsgeschichte des Deutungsmusters (vgl. ebd. 160-288) hilft nicht nur, zweierlei Phasen – analog zu Konstitutions- und Rekonstitutionsphase jeweilig um 1800 und 1900 – zu unterscheiden, sondern legt auch nahe, den sich darin vollziehenden Wandel als einen ‘Verfall’ “von einem Aktivposten der Modernisierung zu einem Faktor der Modernisierungskrise” (ebd. 232) zu verstehen. Dabei resultiert die Auflösung des Deutungsmusters und seine zunehmende Ohnmacht, Erfahrungen zu interpretieren und Handlungen zu motivieren und insofern “individuelle Sinngebung und symbolische Vergesellschaftung” (ebd. 28, vgl. 239) zu ermöglichen, nicht – so Bollenbeck – vorrangig aus Komplikationen und inneren Strukturmomenten der ‘Bildung’ selbst, sondern aus einem mit der Entfesselung des Kapitalismus (vgl. ebd. 28) einhergehenden Bedeutungsverlust des Bildungsbürgertums, das nun mit anderen Funktionseliten konkurrieren muss und seine ‘kulturelle Hegemonie’ schließlich nur noch negativ als ‘illiberale’ und ‘nationalistische Kulturkritik’ (vgl. 226) zu behaupten vermag. Die solchermaßen intonierte Verwendungsgeschichte von ‘Bildung’ aber fördert ein ebenso spannungsreiches wie dann auch überaus altbekanntes ‘Deutungsmuster’ der ‘Geschichte der Bildung’ zutage: einerseits unterscheidet Bollenbeck – ganz traditionell – zwischen ‘Bildung’ als einem anfänglich emanzipatorisch wirksamen, dann aber weitgehend restaurativ justierten Deutungs- und Handlungsmuster (vgl. ebd. 237); eingängig formuliert Bollenbeck: “Und in der Tat, die Emanzipationsansprüche werden nicht eingelöst: Was universell gemeint ist, wird zum trennenden Standeselement” (ebd. 238) – ‘Bildung’ wird “parteiisch und partikular” (ebd. 244). Andererseits aber verknüpft er beide Momente gerade nicht in der üblichen eher ‘verfallsgeschichtlichen’ Weise, die zumeist mit Argumenten eines bürgerlichen ‘Verrats’ oder gar ‘Missbrauchs’ zu Distinktionszwecken einhergeht, sondern sucht deren intrinsische Verbindung freizulegen, indem er sowohl den späteren Kulturpessimismus als auch dessen zunehmende nationalistische Aufladung in dem bereits von Anfang an implizierten metapolitischen und nahezu ausschließlich idealisch-individualistischen Charakter der ‘Bildung’ angelegt sieht (vgl. ebd. 169ff. wie 284)50. Das aber führt schließlich zu einer insgesamt ambivalenten Einschätzung der Aktualität von ‘Bildung’: einerseits muss der vermeintliche “Siegeszug des Bildungsideals” (ebd. 191) mindestens auch als ein Prozess einer semantischen Einschließung gelesen werden (vgl. ebd. 27 wie auch 225 und 285), der schließlich zu einer grundsätzlichen “Entwertung des Deutungsmusters” (ebd. 308) führt und ‘Bildung’ nur noch als – zwar sozialgeschichtlich aufschlussreiche – “akademische Pflegefälle” (ebd. 307) hinterlässt; andererseits aber kann – trotz der “erledigten Geschichte des Deutungsmusters” – die “Idee der ‘Bildung’ und ‘Kultur’” als “noch nicht erledigt” (ebd. 312) behauptet werden: zwar kann “das Konzept [...] nicht gerettet werden, selbst wenn man es gegen seine Verwendungsgeschichte aufpoliert. Ob aber die Idee der ‘Selbstbildung aller’ und einer geglückten Identität obsolet ist, das darf bezweifelt werden” (ebd.).
Wenn auch die diskursgeschichtlichen Befunde neben der Thematisierung der jeweiligen sozialen Funktionen von ‘Bildung’ ausdrücklich auch die in der ‘Idee der Bildung’ implizierten Inhalte und Strukturmomente akzentuieren und – insbesondere 50
Bollenbecks demonstrativer Hinweis auf eine die Unverzichtbarkeit idealischer Bildung insgesamt preisende Auslassung Hitlers (vgl. ebd. 292) belegt dies in der Tat eindrücklich; ausdrücklich sei jedoch darauf hingewiesen, dass Bollenbeck ‘Bildung’ gerade nicht in einer teleologischen Sichtweise als eine zwangsläufig in den Nationalsozialismus mündende Figur auslegt: “Eine solche Teleologie mag geistesgeschichtlich erwägenswert sein, historiographisch ist sie allerdings wenig aufschlußreich” (ebd. 165). Kurz: “Von der spezifisch deutschen semantischen Innovation führt keine gerade, abschüssige Linie zu Hitler” (ebd. 285).
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in einer spezifischen Verknüpfung von Individuum und Gesellschaft – als ‘reale Faktoren’ im historischen Prozess einzuschätzen erlauben, so bleibt doch der Versuch, gerade in der Verknüpfung von Inhalt und Funktion, ‘Idee’ und Verwendung den jeweiligen Machtcharakter der ‘Bildung’ zu erheben, bisweilen eigentümlich unergiebig und überaus ambivalent: zwar wird diskursgeschichtlich immer wieder betont, dass die ‘Macht der Bildung’ (Groppe) gerade nicht bloß in ihrer engen Verknüpfung mit den machtvoll aufstrebenden Protagonisten der bürgerlichen Gesellschaft und damit in ihrer sozialen Funktion als ‘kulturelles’ und ‘soziales Kapital’ des Bürgertums in der Etablierung neuer sozialer Ungleichheiten verortet werden kann, sondern auch – und vielleicht vor allem – in einer in und mit ‘Bildung’ implizierten spezifischen Form der ‘Führung der Führungen’ (Foucault) gesehen werden muss; doch greift der Versuch, ‘Bildung’ als ‘Führung von Führungen’ auch machttheoretisch zu rekonstruieren, entweder dann doch immer wieder auf ‘äußere Momente’ der Bildung zurück oder focussiert deren ‘inneren’ Strukturmomente als für den Prozess einer ‘defensiven Modernisierung’ bloß funktionale oder gar kompensatorische Elemente, so dass letztlich doch immer wieder zwischen ‘inhaltlicher Idee’ und ‘sozialer Funktion’ getrennt wird bzw. werden muss. Hintergrund einer solchen Einschätzung ist dabei die Gleichsetzung des ‘Inbegriffs der Bildung’ – als einer epigenetisch gedachten und selbstreferentiell strukturierten Selbstentfaltung und Selbstbestimmung – mit der ‘Entdeckung’ und ‘Freisetzung’ von werdender Subjektivität und selbstbezüglicher Individualität überhaupt. Auch wenn diskursgeschichtlich immer wieder darauf hingewiesen wird, dass ‘Bildung’ von Anfang an elementarer Bestandteil einer ‘Reform von oben’ gewesen sei, in der die Kritik der geburtsständischen Ordnung der Gesellschaft mit der Etablierung einer neuen, nun berufsständisch strukturierten Ordnung in eins gefallen ist, hält sich die traditionell emanzipatorische Einschätzung der ‘Idee der Bildung’, diese als vermeintlich neu aufbrechendes Freiheits- und Kritikbewusstsein auszulegen, erstaunlich kontinuierlich durch. Es ist aber diese Gleichsetzung von ‘Bildung’ und Freiheit, die nicht nur immer wieder auch dazu verführt, ‘Bildung’ und Macht mindestens prinzipiell zu kontrastieren, sondern auch weitgehend verhindert, in der mit ‘Bildung’ assoziierten vermeintlich neuen ‘Entdeckung’ der Unhintergehbarkeit der Selbstführung des eigenen Lebens eine – in der Tat gerade nicht repressive – Formation der ‘Führungsführungen’ zu sehen und ‘Bildung’ selbst auch als Nutzung von Selbsttätigkeit in veränderten Machtformationen und Strategien zu verstehen51. Die bei Assmann wie Bollenbeck ausdrücklich formulierte Skepsis gegenüber ‘Bildung’ als einer aktuell noch tauglichen oder gar fruchtbaren Semantik steht dabei in auffälligem Widerspruch zur gegenwärtig beobachtbaren neuerlichen Konjunktur der ‘Bildung’. Soll dies nicht nur als Anlass zur Häme aufgenommen und – gemäß 51
Auch die Einsicht, dass die in ‘Bildung’ polemisch betriebene Geringschätzung von ‘Funktionalität’ und ‘Brauchbarkeit’ und damit verbundene hohe Wertschätzung von ‘Eigentümlichkeit’ und ‘Zweckfreiheit’ ihrerseits funktional interpretiert werden muss (vgl. exemplarisch Bollenbeck 1996, 148ff.), zehrt in ihrer ideologiekritisch gedachten ‘Entlarvungsrhetorik’ noch davon, dass Freiheit (nur) als – nun besser zu justierende – ‘Zweckfreiheit’ verstanden werden kann, und verhindert, die darin enthaltene kategoriale (genauer: individualtheoretische) Zurichtung aufzudecken.
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dem Motto: ‘Totgesagte leben länger’ – als Beweis der ‘Vitalität der Bildung’ ausgegeben werden (vgl. Tenorth 1997, 970), ist es – umgekehrt – erforderlich, von dem darin immer wieder unterlegten ‘Deutungsmuster’ der ‘Geschichte der Bildung’ selbst abzurücken und diese nicht immer wieder als eine nur durch das Bürgertum indizierte Verfalls- und Missbrauchsgeschichte einer ansonsten ‘emanzipatorischen Idee’ zu buchstabieren; vielleicht ist es gerade nicht der bislang vermeintlich unabgegoltene Sinn- und Bedeutungsgehalt der Bildung, der diese – bis heute – weithin anschlussfähig macht und so den anhaltenden Erfolg der Bildung weitgehend in ihrem historischen Misserfolg begründet sieht, sondern ihr grundsätzlicher und überwiegend ‘stiller Erfolg’ in sowohl theoretischer als auch praktischer Hinsicht. Dies zu problematisieren sei mit Blick auf eine ‘Genealogie der Bildung’ methodologisch vorbereitet.
VI. Vor der nur kursorisch skizzierten Topographie methodologisch verschiedener Annäherungen an ‘Bildung’ gilt es nun, die eigenen Überlegungen zum Zusammenhang von ‘Bildung und Macht’ genauer zu justieren und als einen – allerdings begrenzten – Beitrag zu einer ‘Genealogie der Bildung’ auszuweisen; sie beanspruchen weder inhaltlich noch methodologisch Ausschließlichkeit, suchen aber im Rahmen einer bislang weitgehend unausgeführten ‘Genealogie der Bildung’ einen – wie ich meine – zentralen Baustein derselben zu explorieren. ‘Bildung’ – so der inhaltliche Befund der methodologischen ‘Streifzüge’ – muss als ein zwar auch theoretisch ausformuliertes, überwiegend jedoch praktisch justiertes und umfassendes ‘anthropologisches Grundmuster’ (Koselleck) verstanden werden, so dass ‘Bildung’ gerade aufgrund ihrer Mehrdimensionalität und Vielgestaltigkeit als ein ‘Dispositiv’ (Foucault) gekennzeichnet werden kann. In Absetzung zu weitgehend dann doch diskursanalytisch ansetzenden Positionen einer ‘Dispositivanalyse’ (vgl. Jäger 1999, 2000 und 2001) werde ich den von Foucault vorgenommenen späteren Justierungen einer Genealogie folgen und nach dem Zusammenhang von Wissensformen, Machtpraktiken und Selbsttechnologien hinsichtlich derer jeweiligen Subjektivierungsweise fragen; sowohl die vorgetragenen Dimensionierungen der ‘Bildung’ als auch die mit einer Genealogie verbundene Frageperspektive nach jeweiligen Subjektivierungsweisen scheinen mir zur Explikation des gerade nicht repressiven, sondern nahezu ausschließlich produktiven Machtcharakters von ‘Bildung’ überaus geeignet und fruchtbar. Das aber gelingt erst, wenn – erstens – Bildung gerade nicht mit Subjektivität und deren geschichtlicher Entdeckung identifiziert wird, sondern vor einer weitergehenden anthropologischen Folie diskutiert wird (vgl. Ricken 2004a), und – zweitens – Macht nicht bloß repressions- oder disziplinartheoretisch ausgelegt wird; dazu aber bieten die Arbeiten Foucaults insbesondere zur Struktur und neuzeitlichen Rekonstitution der Pastoralmacht einen überaus fruchtbaren Zugang52. 52
Vgl. dazu insgesamt Meyer-Drawe 1996; zu einem nicht vorrangig und ausschließlich bloß repressionstheoretisch formulierten Machtverständnis vgl. die ausführlichen Rekonstruktionen in Studie I wie insgesamt auch die verschiedenen Beiträge in Ricken / Rieger-Ladich 2004.
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Denn überblickt man die bisher unternommenen und an Foucault anschließenden Versuche einer ‘Archäologie’ und ‘Genealogie der Bildung’, so zeigen sich deren Grenzen gerade in der Verengung auf einen dann doch weitgehend repressions- oder disziplinartheoretisch justierten Machtbegriff; an drei Facetten einer explizit bildungstheoretischen Auseinandersetzung mit Foucault sei dies exemplarisch skizziert. Die – deutschsprachig bisher eher randständige, gegenwärtig aber stark zunehmende – erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit den genealogischen Arbeiten Foucault ist von einer eigentümlichen Schieflage gekennzeichnet53: während metatheoretisch oder methodologisch überwiegend eher skeptisch nach der Vereinbarkeit von Bildungstheorie und Genealogie gefragt wird (1), gelten Foucaults genealogische Studien bildungshistorisch durchaus als anregender Bezugsrahmen, ohne dass allerdings systematische Rückschlüsse gezogen würden (2); angesichts dessen scheint es fruchtbarer, beide Facetten miteinander zu verknüpfen und von einer historischen Situiertheit aller Kategorien auszugehen, so dass jede historisch angelegte ‘Genealogie der Bildung’ selbst zu systematischen Neujustierungen kommen muss (3)54. (1) In ausdrücklich subjekttheoretisch und -kritisch angelegten Diskussionen sind insbes. Forneck (vgl. Forneck 1993), Brinkmann (vgl. Brinkmann 1999) und Schäfer (vgl. Schäfer 1996 wie 1996a) den Foucaultschen Weichenstellungen einer machttheoretisch begründeten Dezentrierung und Dekonstruktion des Subjekts nachgegangen, um deren Herausforderung auch und gerade in bildungstheoretischer Absicht zu reflektieren. Ausgangspunkt ist dabei immer wieder die durch Foucaults Analysen provozierte “Kritik der modernen Subjektvorstellung”, tangiert diese doch die Überlegungen der “Bildungstheorie zentral, da [diese] ihre Existenz eben jener Archäologie der Moderne verdankt” (Forneck 1993, 155). Bildung – so Forneck – muss daher nicht nur als integraler Bestandteil der modernen Episteme gekennzeichnet werden, sondern nimmt darin als spezifische “Entwicklungstheorie des Subjekts” (ebd. 161) einen zentralen Platz ein; auch wenn Forneck daher in ‘Bildung’ und der in ihr “im Zentrum stehenden modernen Vorstellung von der Selbsterschaffung des Subjekts” eine “fundamentale Funktion” (ebd. 162) im Prozess der Transformation der Machtmechanismen zuweist, schreckt er – dann eigentümlich methodologisch reduziert – vor den darin sichtbar werdenden Konsequenzen zurück: “würde letztere [hier: die vernünftige Subjektivität, NR] verabschiedet, so versänke auch jener Vorgang im Treibsand der Geschichte, mit dem sich das Subjekt selbst hervorbringt: Bildung” (ebd. 172). Durchaus ähnlich argumentiert Brinkmann, wenn er in seiner bildungstheoretisch begründeten Kritik des “Verblassens des Subjekts bei Foucault” (Brinkmann 1999) den Versuch unternimmt, die bei Foucault erkennbare subjektkritische Matrix trotz ihrer fruchtbaren Provokationen (vgl. Brinkmann 1999, 13ff.) als insgesamt inkonsistent zurückzuweisen und 53
Inzwischen liegen ausführlichere Studien zur erziehungswissenschaftlichen Rezeption der Arbeiten Foucaults vor; vgl. dazu sowohl Balzer 2004 und Ricken 2006 als auch die Sammelbände von Pongratz u.a. 2004, Ricken / Rieger-Ladich 2004 und jüngst Weber / Maurer 2006.
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Auf die erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit und Rezeption von Foucault kann hier insgesamt nicht eingegangen werden; zweierlei Beobachtungen im deutschen Diskurses seien – im scharfen Kontrast zum anglo-amerikanischen Diskurs (vgl. exemplarisch Ball 1990 wie insbes. Rose 1996 und 1999 und auch Baker 2001) – festgehalten: außer oftmals bloß methodologischen Überlegungen und (meistenteils) damit verbundenen Zurückweisungen des Foucaultschen Denkens (vgl. exemplarisch Prondczynsky 1992) finden sich eher selten ausdrückliche inhaltliche Ab- und Aufarbeitungen (vgl. Schütz 1989 und 1992, MeyerDrawe 1990, 1991 und insbesondere 1996 wie auch Schäfer 1996 und Brinkmann 1999); meistenteils aber konzentrieren sich diese entweder um den Erziehungsbegriff (vgl. Meyer-Drawe 2001) oder thematisieren insgesamt die Funktion der Pädagogik im Prozess der Moderne (vgl. z.B. Dreßen 1982, Pongratz 1987, 1989 und 1990 wie auch Coelen 1996).
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unter der Überschreibung einer “Restitution der Anthropologie” (ebd. 17) auch in bildungstheoretischer Absicht zu revidieren. Kern seiner Erwägungen ist dabei allerdings nicht die Unannehmbarkeit einiger Foucaultscher Einschätzungen “der Pädagogik als übende Disziplinarpraxis, als prüfende Disziplinarwissenschaft und als sexuelle Diskursivierungspraxis und Geständniswissenschaft” (ebd. 306)”, sondern die darin vermeintlich methodologisch vollzogene ‘Verabschiedung des Subjekts’: denn sonst “gibt es keine Identität, keine Freiheit, keine souveräne Vernunft und insofern keine Bildung[...], dann zerplatzt das Ziel oder das ‘Projekt’ einer Bildung, auf die sich die Pädagogik verpflichten könnte [...]. Humanismus und Bildungstheorie wären subtile, aber effiziente unterwerfende ‘Rechtfertigungsideologien’” (ebd. 307). Auch wenn Brinkmanns Bilanz – Foucault “denunziert Pädagogik als behavioristische Konditionierungsmaschine und als diskursiv-sexuelle, machtmäßige Einkörperungspraxis” (ebd.) – durchaus den allgemeinen Tenor der erziehungswissenschaftlichen Wahrnehmung Foucaults trifft, so verdankt sie sich eben nicht nur einer moralisierend-ängstlichen, allein auf die Disziplinarmacht beschränkten und insofern halbierten Rezeption Foucaults – was allein die Auswahl und Bearbeitung der Foucaultschen Schriften bereits belegt (vgl. ebd. 1-3, 313f.); vielmehr resultiert diese Einschätzung vor allem aus der mit ‘Bildung’ immer implizierten Doppelung des Begriffs als einem spezifisch historischen Programmbegriff und einem vermeintlich überzeitlich angelegten systematischen Grundbegriff, den auf- und preiszugeben nicht möglich ist. Nur folgerichtig hat daher – wenn auch unabhängig davon – Schäfer einer solch halbierten Interpretation widersprochen (vgl. Schäfer 1996), indem er – in methodologischer Perspektive – die Problematik zugleich konstituierter wie konstituierender Subjektivität bei Foucault verfolgt und gerade in dessen späterer Konzeption einer “Ästhetik der Existenz als der Subjektivierungsform des Ethos der Moderne” (Schäfer 1996, 230) die Umrisse einer revidierten “Bildungstheorie” sieht – und nicht deren Bestreitung55. Mithilfe des Foucaultschen Instrumentariums sucht Schäfer dies zu verdeutlichen, indem er die moderne Subjektivierungsweise als eine “individualisierende Unterwerfung” (ebd. 229) beschreibt, in der ‘Autonomisierung’ und ‘Disziplinierung’ (vgl. auch Schäfer 1997, 122f.) so zusammenfallen, dass ‘Normalisierung’ und ‘Verinnerlichung’ als deren zwei Hauptmomente erkennbar werden. Erziehung und Pädagogik aber sind in diesen Prozess der Transformation von “Fremddisziplinierung” in “Selbstdisziplinierung” “über Lernverfahren, ausgewählte Inhalte und soziale Umgangsformen” (ebd. 123) strukturell verwickelt, ohne dass damit aber die Möglichkeit, “in der Disziplinierung gegen diese zu steuern” (ebd. 124), bereits ausgeschlossen wäre: “genau dies ist der Ort pädagogischer Intentionalität und der Ort des Schwankens zwischen Illusion und schlechtem Gewissen. [...] Genau dies macht Erziehung zum Problem und den Erzieher als Person (und nicht nur als soziale Funktion) verantwortlich” (ebd. 124). Erst aber in der Wahrnehmung und Reflexion der “Aporie von Disziplinierung und Autonomisierung” (ebd. 124) eröffnet sich eine kritische Dimension, die es erlaubt, Erziehung nicht nur als “disziplinierende Normalisierung”, sondern auch als “autonomisierende Entunterwerfungsstrategie “(ebd. 131) zu verstehen. Entscheidend dabei ist aber, den “Versuchen nicht zu unterliegen, die Freiheit und die Möglichkeit zur SelbstBestimmung gerade gegen diese Unterwerfung zu behaupten” (Schäfer 1996, 229); vielmehr geht es darum, den theoretisch aporetischen und praktisch dilemmatischen Zusammenhang von Disziplinierung und Autonomisierung bewusst zu halten und in der “Endlosigkeit der Kritik” (ebd. 230) als einer praktisch-experimentellen Entunterwerfung zu bewähren: “Das Ethos der 55
Wenn bisweilen in einer solchen ‘ästhetisierenden’ Lesart insgesamt von Fragen der Macht Abstand genommen wird, ja letztere durch den Aufweis der ‘Unhintergehbarkeit von Subjektivität’ (Frank) für überwunden behauptet wird, so folgt diese – hier von Schäfer ausdrücklich nicht geteilte – Einschätzung einer auch philosophisch durchaus verbreiteten Interpretationsperspektive (vgl. exemplarisch Fink-Eitel 1989 wie Schmid 1991; pädagogisch auch Reichenbach 2000); ihr ist in der Foucaultrezeption immer wieder eindringlich widersprochen worden (vgl. insbes. Lemke 1997).
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Moderne bildet nicht die Grundlage für die Autonomisierung des souveränen Subjekts, sondern die Haltung, die den Konflikt zwischen individualisierender Unterwerfung und der Kunst, dieser individuell [...] zu widerstehen und damit eine Würde zu gewinnen” (ebd.). Wenn auch Schäfer damit eine kategoriale Neujustierung pädagogischen Denkens und Handelns anbahnt und als Reformulierung situierter Subjektivität intoniert (vgl. insgesamt Ricken 1999a), so verbleiben doch – wenn auch sehr unterschiedlich – die genannten Versuche in einer irritierenden Zweideutigkeit, bekräftigen sie doch im Festhalten an ‘Bildung’ als einem – wenn auch gegenwärtig zu reformulierenden – vermeintlich überzeitlichen und ausschließlich systematisch zu entfaltenden Grundbegriff deren nahezu ausschließlich individualtheoretischen kategorialen Aufriss. In diesem aber ist die Oppositionalität von Freiheit und Macht mitgesetzt, so dass ‘Bildung’ als zwar schillernde, nicht aber produktive genealogische Matrix rekonstruiert werden kann: allein die – auch bei Schäfer so justierte – Fragestellung, ob nicht doch trotz aller gesellschaftlichen Disziplinierung auch von Autonomisierung gesprochen werden kann, verdankt sich noch diesem kategorialen Aufriss und perpetuiert die Dualität von Freiheit und Macht in ‘Bildung’ allein schon grundbegrifflich. (2) Die in der Tat bislang eher seltenen bildungshistorischen Aufarbeitungen Foucaults – exemplarisch seien Dreßen (vgl. Dreßen 1982) und Pongratz (vgl. Pongratz 1989) genannt – zielen darauf, Erziehung, Schule und Pädagogik insgesamt als ‘Dispositive der Macht’ (Pongratz 1990) zu kennzeichnen und in den Kontext umfassender gesellschaftlicher Disziplinierungsprozesse zu stellen; diese gelten innerhalb einer solchen Perspektive als Ausdruck wie “Instrument der Macht” (Dreßen 1982, 8), die für die Realisierung und Durchsetzung des Ziels der bürgerlichen Gesellschaft – die “allgemeine Selbstregulierung” (ebd.) – kennzeichnend wie unverzichtbar sind: “Erst wenn diese Erziehung gelungen ist, kann Freiheit zugestanden werden, weil die allgemeine Ordnung jetzt als Freiheit wahrgenommen wird” (ebd. 9). Während Dreßens ebenso materialreiche wie durchaus selektive Arbeit zur ‘pädagogischen Maschine’ (Dreßen 1982) eher von einem durchgängigen “Affekt gegen das Institutionelle” (Meyer-Drawe 1996, 655) getragen wird und insgesamt auf die “Denunzierung erzieherischer Tätigkeiten im Sinne von Gewaltakten” (ebd.) zielt (und insofern durchaus auch als eine ‘Instrumentalisierung’ Foucaults gelesen werden kann), sucht Pongratz – am Beispiel der Schule (vgl. Pongratz 1990) – den Wandel der Pädagogik mithilfe machthistorischer Transformationen und Umakzentuierungen zu erläutern: erst in der historischen Durchsetzung der Disziplinarmacht erlangt Schule – und mit ihr die Pädagogik – die gesellschaftliche Bedeutung, die sie als “Schule des repressiven Machttyps” (Pongratz 1990, 295) hat nie erlangen können; ihre (doppelt auslegbare) disziplinäre Verfasstheit – insbesondere rekonstruierbar mithilfe der von Foucault analysierten Strategien der “Zerlegung und produktive[n] Resynthetisierung” (ebd. 298) wie der ‘Sichtbarmachung’ (vgl. ebd. 306) – muss trotz des offensichtlichen Wandels der Schule von der “Drillanstalt” über das “jugendbewegte Landerziehungsheim” (ebd.) bis hin zur ‘modernen Reformschule’ als eine bis heute anhaltende Kontinuität gelesen werden: “Auch weiterhin bleibt die Disziplinargesellschaft mit ihren Intentionen im Schulsystem voll wirksam” (ebd. 307). Auch wenn “Foucaults Analytik der Macht” daher als “für die Pädagogik unverzichtbar” (ebd. 307) behauptet wird, um sich der eigenen ‘verborgenen Machteffekte’ zu vergewissern, auch wenn diese machttheoretisch justierten Studien zu Schule und Pädagogik als einem “Dispositiv der Disziplinarmacht” (ebd. 298) insofern insgesamt durchaus geeignet sind, die bisweilen intonierte Humanisierungsgeschichte durch Pädagogik ideologiekritisch zu befragen und zu korrigieren, so sind doch diese Überlegungen in inhaltlicher wie kategorialer Hinsicht bisher recht folgenlos geblieben: nicht nur, weil sie aufgrund des eigenen Machtverständnisses und dessen überwiegend ‘negativer Semantik’ als einer einschränkenden ‘Disziplinarmacht’ wie auch in ihrem zumeist bloß implizit beanspruchten pädagogischen Theorierahmen dem traditionellen Aufriss von ‘Erziehung und Bildung’ verhaftet bleiben; auch nicht nur, weil sie in allein bildungshistorischer Perspektive zu kategorialen Neujustierungen nicht herausfordern;
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sondern vor allem, weil sie in ihrer (über)totalisierenden ‘Disziplinardiagnose’ der Schule als einer ‘pädagogischen Maschine der Macht’ (Dreßen) vielfach widerstreitende Momente verdecken und so immer wieder in die unfruchtbare Opposition von Macht und Freiheit zurückzwingen – und sei es als ‘Rück- und Kurzschlüsse’ dritter, die den Verweis auf die verdeckten anderen Seiten und vermeintlich besseren schulischen Intentionen, die insbesondere mit ‘Bildung’ kommuniziert worden sind, als Gelegenheit nutzen, sich der disziplinär auch unangenehmen Kritiken im Anschluss an Foucault schnell wieder zu entledigen. (3) Vor diesem Hintergrund bieten insbesondere “einige Anregungen” (Meyer-Drawe 1996, 655) von Meyer-Drawe (vgl. insbes. Meyer-Drawe 1996 wie 1999a) nicht nur die Möglichkeit, inhaltliche und methodologische Fragen miteinander zu verknüpfen, sondern deren Zusammenhang auch als Folge der im Prozess der Moderne entfalteten ‘disziplinären Identität’ der Pädagogik und Erziehungswissenschaft zu entziffern. Dabei versucht sie, den bisherigen jeweiligen Einseitigkeiten innerhalb der Rezeption Foucaults dadurch zu entkommen, dass sie zweierlei Akzentuierung vornimmt: nicht nur historisch, sondern auch systematisch geht es erstens darum, “daß man Erziehung nicht jenseits von Macht denken kann” (ebd.), so dass nicht nur die allzu oft pädagogisch beanspruchte “Alternative von Freiheit und Macht irreführend” (ebd.) ist, sondern auch insgesamt verändert gefragt werden muss: “nicht daß Erziehung [immer] ein Machtverhältnis bedeutet, steht in Frage, sondern ob die Machtformation so sein muß, wie sie sich im Lichte der Foucaultschen Analysen zeigt” (ebd.). Nicht nur der immer wieder pädagogisch thematisierten Frage, ob denn Erziehung auch ohne Macht möglich sei, wird dabei eine Absage erteilt; auch der darin bis heute Geltung beanspruchende kategoriale Aufriss mit seinen dualistischen Weichenstellungen – insbes. Selbst- und Fremdbestimmung – wird damit als untauglich aufgegeben. Damit eng verknüpft ist zweitens eine Erweiterung der jeweilig pädagogisch beanspruchten ‘Werkzeugkiste’ Foucaults um dessen “Untersuchungen zu Technologien des Selbst” (ebd.), stellen diese doch nicht nur einen veränderten methodologischen Rahmen auch disziplinartheoretischer Erörterungen (vgl. Schäfer 1996), sondern auch eine Neujustierung und Zuspitzung der machttheoretischen Frage selbst dar: “Erzieherische Praxis wird vor allem als Pastoraltechnik ausgeübt” (Meyer-Drawe 1996, 656), so MeyerDrawes kurze Pointierung. In einem solchen Aufriss aber geht es weniger darum, immer wieder neu zu zeigen, wie Erziehung als Disziplinarmacht praktiziert und routinisiert wird, sondern vor allem darum, wie Erziehung als “Transformation der überlieferten Pastoralmacht” (Meyer-Drawe 1997a, 312) gelesen werden kann und muss. Damit aber ist unweigerlich verknüpft, Macht nicht von außen zu Erziehung hinzuzudenken, sondern auch und gerade in deren ‘besten Absichten’ zu analysieren und insbesondere in der “Privilegierung des Selbst, die die Therapeutisierungen der Schule ebenso beherrscht wie Reformprogramme einer Schule der Zukunft” (ebd. 311), zu rekonstruieren, “kulminiert [doch] diese Macht in der ungebrochenen Option für Selbstbestimmung und Selbstfindung” (Meyer-Drawe 1996, 656). Es ist gerade dieser ‘pädagogische Blick’, der den Machtverdacht auf sich zieht; Meyer-Drawe pointiert: “Das nicht problematisierte pastorale Machtverhältnis stattet das pädagogische Primat der Selbstbestimmung mit einem Humanismusvorschuß und mit einer quasi transhistorischen Selbstverständlichkeit aus, die eine durchgreifende Kritik der herrschenden Machtdispositive verhindern” (ebd. 656f.), indem sie ‘Selbstbestimmung’ gerade nicht als eine subtile “Technologie der Selbstunterwerfung” (ebd. 656) zu entziffern erlauben. Daher dürften – so ihre Folgerungen – auch “eine Archäologie des pädagogischen Blicks und eine Genealogie pädagogischer Machttechniken [...] nicht vor dem Verdacht haltmachen, daß Individualität und Selbstbestimmung historisch bedingte Technologien des Selbst sind, die in langen Traditionen der Unterwerfung der Selbstbeziehungen unter Wahrhaftigkeit und der Wissensordnungen unter Wahrheit stehen und als solche Machttechniken zu kritisieren sind” (Meyer-Drawe 1997a, 313). Auch Meyer-Drawes weitere Kennzeichnungen einer pädagogisch transformierten Pastoralmacht – nur stichwortartig: Produktivität der Macht als Normalisierungs- wie Individualisierungspraxis und deren Verknüpfung mit ihrer wissenschaftlichen Disziplinierung im Kontext
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der Etablierung der Humanwissenschaften (vgl. Meyer-Drawe 1996, 658ff.) – plausibilisieren den Versuch, gerade ‘Bildung’ einer nicht nur archäologischen, sondern auch genealogischen Analyse zu unterziehen und als eine subtile, auf eine spezifische Subjektivierung zielende Machtpraxis und ‘Führung der Führungen’ lesbar zu machen; bedeutsam ist dabei vor allem der Hinweis Meyer-Drawes, deren Machtcharakter in der Diskursivierung und “Verbalisierung des Selbst” (ebd. 662) selbst zu suchen, markieren die spezifisch pädagogischen Individualisierungstechniken doch einen entscheidenden “Umbruch” (ebd.), in dem die “bis dahin moralisch gebotenen Verzichtsleistung[en]” (ebd.) des Selbst sich nun von dessen freier Bestimmung lösen und dadurch deren alleinige Positivierung als möglich suggerieren. “Vermuten kann man [...], daß damit eine inhärente Spannung verlorengeht, eine Potenz von Einwänden, so daß sich die Privilegierung des Selbst unangefochten durchsetzen und sich als Unterwerfungspraxis unkenntlich halten kann” (ebd.). Ergänzend sei daher auf die von Meyer-Drawe metapherngeschichtlich justierten Überlegungen zu ‘Erziehung und Bildung’ hingewiesen (vgl. Meyer-Drawe 1999a): nicht nur, weil sie auch methodologisch neben begriffs- und diskursgeschichtlichen Ansätzen eine weitere – inzwischen zunehmend verbreitete (vgl. insgesamt Bödeker 2002) – Annäherungsperspektive an ‘Bildung’ demonstrieren, die der ‘unbestimmten Bestimmtheit’ derselben nicht nur eine semantische oder diskursive Funktion, sondern auch eine spezifisch anthropologische Bedeutung zuweisen (vgl. Meyer-Drawe 1999a, 162)56; auch nicht nur, weil sie gerade ‘Bildung’ aufgrund ihres vermeintlich ‘nobleren Status’ gegenüber ‘Erziehung’ und der in dieser unübersehbaren Machtförmigkeit zu problematisieren erzwingen (vgl. ebd. wie 172); sondern vor allem, weil sie insgesamt die Genese des Bildungsbegriffs auch als einen Prozess der ‘menschlichen Selbstvergöttlichung’ (vgl. ebd. 173) lesbar machen, sich in der sukzessiven Etablierung einer “deus-primus-Vorstellung” (ebd. 173) und der damit verbundenen doppelten (thematischen wie strukturellen) Privilegierung des Selbst – “‘Bildung’ ist pure Selbstschöpfung” (ebd.) – der im alten theologischen ‘Bildgedanken’ noch enthaltenen verstörenden Momente der Selbstversagung und Entzogenheit zu entledigen: “‘Bildung’ wird im Verlauf der weiteren Entwicklung immer mehr zur bloßen Selbstbespiegelung ohne Versagung, wie sie das Bilderverbot in der Unfaßlichkeit Gottes noch in Erinnerung hielt” (ebd. 172). Verknüpft man beide Hinweise Meyer-Drawes, so scheint es nicht länger abwegig, gerade in dieser Bewegung der ‘Entkontingentisierung’ durch Hierarchisierung der – den Begriff der ‘Bildung’ konstituierenden – Differenzen zu dualistischen Polen die pastorale Machtspezifik derselben zu rekonstruieren (vgl. Ricken 2000b).
Vor diesem Hintergrund seien abschließend einige methodologische Weichenstellungen der folgenden Überlegungen skizziert, die angesichts der möglichen Weite und Komplexität einer ‘Genealogie der Bildung’ (vgl. Marchand 1997) für die eigene Perspektive unverzichtbar sind: 56
Immer wieder fungieren dabei die metaphorologischen Überlegungen Blumenbergs als nicht übersehbarer wie nicht hintergehbarer Bezugspunkt einer solchen Methodologie (vgl. auch Zill 2002, Danneberg 2002 wie auch – pädagogisch – Reichenbach 2002); sie suchen, gerade in deren – gegenüber vermeintlich wissenschaftlicher Präzision und Definiertheit – offenkundiger Unbestimmtheit und interpretativen Vagheit ein überaus produktives Moment zu rekonstruieren, das nicht nur diskursiv unverzichtbar ist, sondern auch aus den jeweiligen ‘logischen Verlegenheiten’ (vgl. Blumenberg 1997, 10) resultiert, so dass ‘metaphorische Rede’ gerade keine uneigentliche – und insofern auch anders exakter mögliche – Rede ist, sondern – insbesondere mit Blick auf Blumenbergs ‘absolute Metaphern’ (vgl. ebd. 23) – vielmehr als “Korrelat der Anthropologie eines Wesens, dem Wesentliches mangelt” (Blumenberg 1981, 124), verstanden werden muss und insofern eine spezifisch menschliche und nicht weiter reduzierbare Redeform darstellt. Metaphern tragen daher der anthropologisch unbestreitbaren ‘Unbestimmtheitsrelation’ der Menschen zu sich selbst auch ‘begrifflich’ Rechnung, so dass metapherngeschichtliche Überlegungen im Rahmen historisch-anthropologischer Erkundungen einen überaus zentralen Platz einzunehmen vermögen.
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(1) In einer machttheoretischen Analyse von ‘Bildung’ geht es entschieden darum, ‘Bildung’ selbst als eine ‘Figuration der Macht’ zu rekonstruieren, so dass Macht gerade nicht bloß von außen hinzugedacht werden darf, sondern als innere Struktur von ‘Bildung’ selbst entziffert werden muss. Foucaults machttheoretische Weichenstellungen – insbesondere seine Unterscheidung verschiedener Machtstrategien und dimensionen (vgl. Studie I) – sind dabei überaus tauglich, gerade ‘Bildung’ als ein ‘Dispositiv der Macht’ zu kennzeichnen: nicht nur, weil sie im Konzept des ‘Dispositivs’ die Mehrdimensionalität und Heterogenität von ‘Bildung’ aufzunehmen und als einen Zusammenhang diskursiv-theoretischer wie praktisch-institutioneller Momente auszulegen erlauben; auch nicht nur, weil sie im Kontext der Foucaultschen Unterscheidung produktiver und negativ-repressiver Machtmechanismen eine auch pädagogisch dimensionierte Rekonstruktion der neuzeitlich-modern beobachtbaren Transformation der Macht erlauben; sondern vor allem, weil sie die genealogische Erkundung von ‘Bildung’ als ebenso disziplinierende Normalisierungs- wie pastorale Individualisierungspraxis justieren helfen, diese darin als eine auf das jeweilige Selbstverhältnis zielende ‘Führung der Führungen’ (Foucault) auszuweisen in der Lage sind und damit gerade der in ‘Bildung’ positiv akzentuierten Selbstbezüglichkeit auch machttheoretisch bedeutsam Rechnung tragen können. (2) Unstrittig ist daher, dass ‘Bildung’ insgesamt als eine historisch an die Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland gebundene und insofern spezifisch moderne Form der Subjektivation verstanden werden kann, die sich sowohl auf Wissensformen (Weltverhältnis), Machtpraktiken (Anderenverhältnis) wie Selbsttechnologien (Selbstverhältnis) bezieht und diese miteinander in einem ‘Dispositiv’ verknüpft. Es ist aber genealogisch nicht hinreichend, ‘Bildung’ bloß “als eine Art von ‘Technologie des Selbst’”, “ein pädagogisch-psychologisches Mittel für den Selbstentwurf und die Selbsterkenntnis” (Marchand 1997, 337) zu sehen; vielmehr ist es entscheidend, ‘Bildung’ auch im Kontext einer “politischen Technologie der Individuen” (Foucault 1993, 169) als Neuinszenierung des Verhältnisses von Individuum, Gesellschaft und Staatsmacht auszulegen und mit der zeitgleich sich vollziehenden Etablierung der Humanwissenschaften zu verknüpfen. Vieles spricht sogar dafür, dass ‘Bildung’ gerade in einer spezifischen Kombination dieser verschiedenen Momente ihre Eigenheit hat, so dass spezifische Weltverhältnisse und Wissensformen von Selbst- und Anderenverhältnissen nicht nur nicht getrennt werden können, sondern – wie verschwiegen auch immer – jeweilig mit gesagt sind, wenn in ‘Bildung’ von bestimmten – zumeist (selbst)reflexiv gedachten – Wissensformen und deren individueller Aneignung die Rede ist. (3) Methodisch kann sich eine solchermaßen justierte ‘Genealogie der Bildung’ nicht mit der traditionellen Entgegensetzung von ideen- wie begriffsgeschichtlichen Zugriffen einerseits und sozialgeschichtlichen Verfahren andererseits begnügen; vielmehr ginge es darum, dem ‘Diskurs der Bildung’ in seinen vielfältigen Verzweigungen und Dimensionen zu folgen, unterschiedlichste Materialien – bekannte Texte, Gesetze und Vorlagen ebenso wie Lehrerhandreichungen, Schüleraufsätze, Tagebücher und amtliche Berichte (vgl. Marchand 1997, 341) – heranzuziehen und zu mischen, um die positiven und negativen Regulierungen und Mechanismen der
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‘Bildung’ insgesamt besser verstehen zu lernen und so ‘Bildung’ als ein zentrales – wenn nicht gar als das zentrale – Subjektivationsmuster der europäischen Moderne zu rekonstruieren. (4) Angesichts der damit provozierten Komplexität und Arbeitsintensität tut Selbstbescheidung not, können doch hier nur einige Elemente einer solchen ‘Genealogie der Bildung’ erarbeitet werden. Auch wenn daher ein weitgehend anthropologisch dimensionierter und nach der mit ‘Bildung’ etablierten ‘Formation von Subjektivität’ fragender Zugang zu ‘Bildung’ allemal nicht aus- und hinreichend sein kann, um ‘Bildung’ genealogisch zu rekonstruieren, ist eine solche Perspektive macht- wie bildungstheoretisch durchaus zentral und insgesamt unverzichtbar. Dieser Justierung entspricht auch der vielfache Befund, ‘Bildung’ insgesamt als ein spezifisches ‘Deutungsmuster’ (Bollenbeck) zu verstehen, das Wahrnehmungen leitet, Erfahrungen interpretiert und Handlungen orientiert, und damit als eine ebenso umfassende wie besondere ‘anthropologische Matrix’ zu kennzeichnen und in den Kontext einer machttheoretisch justierten ‘Geschichte der Individualität’ (vgl. Sonntag 1999) zu stellen57. (5) Voraussetzung einer solchen anthropologisch dimensionierten Interpretation von ‘Bildung’ ist aber, dass ‘Bildung’ nicht länger grundbegrifflich als ‘Entdeckung’ oder gar ‘Erfindung’ von genetisch gedachter individueller Selbstbezüglichkeit anund systematisch aufgenommen wird; die immer wieder – historisch – als Beleg angeführte Differenz zu älteren, sich weitgehend an normativen Vorstellungen orientierenden Formen menschlicher Subjektivation besteht dann gerade nicht (nur) darin, dass zumeist ungeschichtlich gedachte und normativ ausgeführte Konzepte einer ‘Perfektion’ des Menschen durch Vorstellungen einer selbstreferentiell und epigenetisch strukturierten ‘Perfektibilität’ der Menschen ersetzt werden58, sondern 57
Im Rahmen der von Sonntag intonierten ‘Geschichte der Individualität’ (Sonntag 1999) käme ‘Bildung’ für die Etablierung einer individualtheoretischen Perspektive und Praxis eine große (wenn auch semantisch auf Deutschland beschränkte) Bedeutung zu; leider leistet Sonntag dies in seiner Studie zum ‘Verborgenen Herzen’ gerade nicht (vgl. insgesamt auch Dülmen 2001). Sonntags nur kurze methodologische Hinweise aber lassen sich nutzen, orientieren doch auch sie sich daran, dass – hier – ‘Individualität’ weder als sukzessive Freilegung und Entdeckung einer angelegten Menschenstruktur verstanden wird, noch als – daran anschließend – dann als verbindliche Matrix in Geschichte zurückprojiziert wird (was unterstellte, dass methodischer Zugriff und Gegenstand keinerlei Beziehung zueinander hätten): “Im folgenden wird Geschichte nicht als Entfaltung von durch Gott, Natur oder was auch immer vorgegebenen menschlichen Fähigkeiten gesehen, sondern als in Gemeinschaft(en) erfolgende fortwährende Produktion der Bedingungen, Ordnungen und Möglichkeiten menschlichen Lebens” (ebd. 16). Entscheidend ist jedoch – auch für Sonntag –, dass mit Produktion nicht eine freie Verfügung und Selbstkonstruktion gemeint ist (so dass ‘Individualität’ als eine bloße “Fiktion” (ebd. 17) ausgegeben werden könnte), sondern eine Differenzstruktur aufgewiesen wird, in der die Menschen sowohl Produkt als auch Produzenten ihrer selbst sind (vgl. ebd. 17). Erst diese Justierung aber macht möglich, sich “für die jeweils zeitgenössischen ‘Individualitätsformen’” (ebd. 19) zu interessieren (vgl. auch ebd. 26), ohne damit zugleich heutige Individualitätsformen bloß zurück in die Geschichte zu projizieren; impliziert ist damit aber, dass mit ‘Individualität’ eine zeitlich sich verändernde, aber sachlich sich durchhaltende und unabweisbare Strukturfrage menschlicher Selbstauslegungen markiert werden kann: sein (eigenes) Leben selbst führen zu müssen und nicht von außen ‘gelebt’ werden zu können.
58
Vgl. dazu auch die verschiedenen Überlegungen Benners, der diese Differenz nicht nur zur Abgrenzung der Bildungsproblematik von jeweiligen noch auf Perfektionsidealen aufruhenden Vorstufen nutzt (so Benner / Brüggen 1996 wie auch Benner / Kemper 2001, 31-59), sondern auch innerhalb des Bildungsbegriffs selbst zur Geltung zu bringen versucht, indem zwischen (zumeist normativem) Bildungsideal und (reflektierender) Bildungsidee unterschieden und deren systematische Unvereinbarkeit behauptet wird (vgl. Benner u.a. 1998
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darin, dass nichthintergehbarer Selbstbezüglichkeit und Selbsttätigkeit ein systematisch erheblich differierender Ort zugewiesen wird: während diese in älteren, zumeist christlich formulierten ‘Anthropologien’ weitgehend als Störfall der ‘Menschwerdung’ verstanden und vermeintlich ausgeschlossen worden sind, werden sie in ‘Bildung’ zum Zentrum einer neuen ‘Anthropolitik’ erhoben und darin ausdrücklich eingeschlossen, so dass diese neue diskursive Aufmerksamkeit nicht bloß Ausdruck einer vermeintlichen Wertschätzung, sondern weit eher auch Ausdruck einer neu einsetzenden produktiven Nutzung derselben ist. Mit ‘Bildung’ – so ließe sich zeigen – wird daher ‘Selbsttätigkeit’ nicht historisch erstmalig intoniert, sondern als Bearbeitungsfeld machttheoretisch justiert; in einer solchen Perspektive aber zeigt sich dann auch, dass ‘Selbstbezüglichkeit’ und ‘Selbsttätigkeit’ gerade in beiden ‘Anthropologien’ focussiert und einer sozialen Bearbeitungspraxis unterzogen wird – wenn auch jeweilig unter geradezu umgekehrten Vorzeichen: als eher repressiver Versuch, sie in ihrem schädlichen Einfluss zu begrenzen bzw. gar auszuschalten und sie der ‘fixierten Ordnung’ zu unterwerfen, oder als produktiver Versuch, sie für die Etablierung einer neuen ‘Ordnung des Subjekts’ (Waldenfels) selbst nutzbar zu machen und insofern in spezifischer Hinsicht zu steigern. (6) Dieser Versuch einer genealogisch justierten Interpretation von ‘Bildung’ als einer ‘Anthropolitik’ aber gelingt nur, wenn menschliche Selbstbeschreibungen und jeweilig formulierte Anthropologien als eine nicht vermeidbare und insofern unverzichtbare Struktur und Dimension aller kultur- und sozialwissenschaftlichen Reflexionen aufgewiesen werden können (vgl. Ricken 2004a). Abgewiesen wird damit zweierlei überaus verbreitete Denkfigur: Anthropologien sind weder jeweilig allgemeine Geltung für sich beanspruchende ‘Entdeckungen’ und ‘Freilegungen’ eines substantiell Menschlichen und insofern dessen begriffliche Repräsentation noch bloß kulturell plurale ‘Erfindungen’ der Menschen und insofern deren zwar freie, weitgehend jedoch bloß funktionale Selbstkonstruktion; vielmehr müssen sie gelesen werden als zwar historisch und kulturell bedingte (wie diese ihrerseits auch bedingende) Antworten auf eine Frage, die sich die Menschen selbst sind – mit der Folge, dass in Anthropologien Antwortfiguration und Fragehorizont durchaus unterschieden werden können. Eine solche Perspektivenjustierung verdankt sich nicht nur der anthropologiekritischen Einsicht, dass Menschen sich historisch nicht definit haben auslegen können59, sondern zehrt – geradezu umgekehrt – davon, dass Menschen immer sich selbst auslegend und insofern ‘anthropologisch leben’, so dass menschliche Selbstbeschreibungen sowohl thematisch – als jeweilig auch durchaus substantial justierte Bestimmung des Menschen – als auch strukturell – als jeweilige Antwort auf die eigene Anfanglosigkeit und Selbstfraglichkeit – reflektiert werden können60. wie auch Benner / Kemper 2003, 299). Vgl. insgesamt auch Benner 2001, 150-181. 59
Mit der ebenso geläufigen wie kurzschlüssigen Schlussfolgerung, dass der Abweis einer allgemeinen und verbindlichen substantiellen Anthropologie mit der generellen Unmöglichkeit anthropologischer Reflexionen gleichgesetzt wird. Vgl. dazu ausführlicher Ricken 2004a.
60
Diese methodologische Interpretation anthropologischer Reflexionen habe ich ausführlich in Ricken 2004a entwickelt; sie ist auch in Teilen in Studie I wieder aufgenommen worden. Ausgangspunkt dieser Überlegun-
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(7) Ziel einer solchen differenztheoretischen und die Zirkularität menschlicher Selbstverständigungen nutzenden Anthropologieinterpretation ist daher nicht eine – und sei es noch so subtile – Rekonstruktion einer dann doch weitgehend zeitübergreifend gedachten ‘strukturalen Anthropologie’ (Lévi-Strauss), die als strukturelle Folie jeder inhaltlich anders möglichen Selbstbeschreibung hinterlegt werden könnte, sondern eine differenztheoretische Präzision einer ‘historischen Anthropologie’61: Anthropologien sind nicht nur jeweilige, historisch und kulturell bedingte Antworten auf menschliche Selbstungewissheit und daraus resultierender Selbstfraglichkeit, sondern fungieren auch als (hermeneutischer) Horizont neuerlich ein- und ansetzender Selbstbeschreibungen, indem sie Selbstungewissheit und Selbstfraglichkeit jeweilig historisch wie kulturell gebunden vorbahnen und figurieren. Möglich wird damit, sich in der Unterscheidung von Antwortskizze und impliziertem Problemaufriss als zwei unterschiedlichen Momenten einer jeden Anthropologie von einer linearen Argumentationsfigur zu lösen, in der menschliche Selbstbeschreibungen entweder bloß Abbild oder gar Vorbild jeweiliger gesellschaftlicher Praktiken sein müssen und so in ihrer jeweiligen sozialen Bedeutung missverstanden werden müssen. Die im bisherigen methodologischen Durchgang mehrfach plausibilisierte Einschätzung von ‘Bildung’ als einem – wenn auch typisch deutschen – ‘anthropologischen Grundmuster’ (Koselleck) lässt sich daher so präzisieren, dass ‘Bildung’ als spezifische Formation von Subjektivität, als Subjektivation verstanden werden kann. In dieser Justierung erlangt ‘Bildung’ zweierlei Status: einerseits ist sie – wie jeder anthropologische Selbstentwurf – immer auch der Versuch, eine bestimmte Figuration der Selbstauslegung für andere allgemein verbindlich zu machen und praktisch durchzusetzen, und, insofern sie ausdrücklich ‘den Menschen’ thematisiert und der gen ist dabei die doppelte Beobachtung, dass – erstens – Menschen immer ‘anthropologisch leben’ und sich so über sich selbst zu vergewissern suchen, ohne damit aber zu einem abschließbaren Befund oder gar einer festschreibbaren Selbstverständigung gelangen zu können; damit verknüpft ist aber – zweitens –, dass Selbstauslegungen weder lineare ‘Selbstdarstellungen’ und – historisch zwar variierende – Repräsentation des ‘Menschlichen’ noch bloß freie ‘Selbsterfindungen’ und ‘Selbstkonstruktionen’ sind, sondern jeweilige Antworten auf ein – wenn auch nicht überhistorisch, so doch – historisch strukturelles ‘anthropologisches Problem’ sind. Mit dieser Justierung können daher jeweilig inhaltlich ausgeführte Anthropologien in einer doppelten Hinsicht befragt werden: als wer Menschen sich jeweils vorstellen und auf was sie darin wie antworten. 61
Vgl. zum Ansatz einer ‘Historischen Anthropologie’ insgesamt Dressel 1996 und Dülmen u.a. 1997 wie auch Gebauer u.a. 1989 und Wulf 1997. Beiden genannten ‘Traditionslinien’ einer ‘Historischen Anthropologie’ aber eignet ein Mangel: während die historisch-anthropologische Forschung zwar erfolgreich die bislang festgefügten Grenzen politik-, wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Studien nachhaltig problematisiert hat, indem sie in der Beschreibung ‘objektiver Lebenszusammenhänge’ auch den Blick auf die jeweilig involvierten Subjekte und deren produktive Gestaltung von Kultur nicht vernachlässigt und damit nach der jeweiligen ‘Formwerdung’ von Subjektivität fragt (vgl. Dülmen u.a. 1997, 8), so führen deren Studien dennoch bisweilen zu bloß pluraler Unübersichtlichkeit und einem insgesamt heterogenen Nebeneinander menschlicher Lebensformen und Möglichkeiten; umgekehrt neigen eher historisch-anthropologisch orientierte Arbeiten dazu, trotz ihres ausdrücklichen Bewusstseins einer doppelten Historizität (auch des jeweilig eigenen methodischen Zugriffs) in der diagnostizierten Vielfalt unterschiedlichster Lebensformen und Selbstauslegungen jeweilig nur Variationen einiger grundsätzlicher “Phänomene des Menschlichen” (Wulf 1997, 13) zu sehen. Die hier vorgeschlagene differenztheoretische Reformulierung von jeweiligen Anthropologien als spezifischen Antwortversuchen und implizierten Fragehorizonten böte eine Möglichkeit, beiden ‘Einseitigkeiten’ zu entkommen, ohne damit in eine substantial missverständliche ‘philosophische Anthropologie’ zurückfallen zu müssen (vgl. dazu Ricken 2004a).
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praktischen Bearbeitung unterzieht, immer auch eine spezifische ‘Anthropolitik’62; andererseits aber ist sie als Antwort auf (nur in ihren Antworten analysierbare) jeweilige Selbstfraglichkeit ihrerseits Umgang mit in Selbstgegebenheit und Selbstaufgegebenheit immer implizierter Selbstentzogenheit. Beides aber ist machttheoretisch nicht nur von Bedeutung, sondern unverzichtbar (vgl. dazu ausführlicher Studie I).
62
Vgl. zur unterschiedlichen Dimensionierung des Begriffs der ‘Anthropolitik’ auch die Überlegungen in Studie I wie Morin 1999 und Steffens 1999. Ich verstehe im folgenden unter ‘Anthropolitik’ weder die von Morin anvisierte planetarische Humanisierungsstrategie einer ‘Politik für den Menschen’ (vgl. Morin 1999, 155-172) noch die bei Steffens vorgenommene Umkehrung der Anthropolitik zu einer ‘Politik der Unmenschlichkeit am Menschen’ (vgl. Steffens 1999, 14f. wie 87ff.), sondern eine ausdrücklich auf die Konstitution und Verfasstheit der Menschen abzielende und sich über deren Bearbeitung realisierende Politik, die nicht erst im 20. Jahrhundert Platz greift, sondern bereits im neuzeitlichen Prozess der Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft rekonstruiert werden kann. ‘Anthropolitik’ kann daher taugen, den ‘politischen’ Charakter der Etablierung von Anthropologien insbesondere seit dem 18. Jahrhundert zu bezeichnen und so die Verknüpfung zwischen der Etablierung der unterschiedlichen anthropologischen Wissenschaften und der zeitgleich sich vollziehenden Transformation der Machtmechanismen in Erinnerung zu halten.
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[B]
Die Macht der Bildung – Eine ‘anthropolitische’ Interpretation “Ein schwachsinniger Despot kann Sklaven mit eisernen Ketten zwingen; ein wahrer Politiker jedoch bindet sie viel fester durch die Kette ihrer eigenen Ideen; deren erstes Ende macht er an der unveränderlichen Ordnung der Vernunft fest. Dieses Band ist umso stärker, als wir seine Zusammensetzung nicht kennen und es für unser eigenes Werk halten. Verzweiflung und Zeit nagen an Ketten aus Eisen und Stahl, sie vermögen aber nichts gegen die gewohnheitsmäßige Vereinigung von Ideen, sondern binden sei nur noch fester zusammen. Auf den weichen Fasern des Gehirns beruht die unerschütterliche Grundlage der stärksten Reiche.” (Joseph Michel Antoine Servan, 1767)
Wie kaum ein anderes ‘anthropologisches Deutungsmuster’ ist ‘Bildung’ als praktisch-theoretisches Konzept mit der modernen ‘Geburt des Subjekts’ verknüpft und damit im deutschen Diskurs elementarer Teil des modernen Selbstverständnisses, gilt doch das ‘Subjekt’ als das neuzeitlich-moderne Paradigma der theoretischen wie auch praktisch-politischen Selbstverständigung in der westeuropäischen Kultur schlechthin. In der Zentralität ähnlich dem Begriff der Substanz fürs Mittelalter ist dabei der Begriff des Subjekts und der Subjektivität für Neuzeit und Moderne von ausgesprochen programmatischer Bedeutung: “unter den Titeln von Selbstbewußtsein, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung” lässt sich der “normative Gehalt der Moderne” (Habermas 1988, 19) entfalten und als “Durchsetzung des Prinzips der Subjektivität” (Habermas 1985, 27) bilanzieren; wie nur wenig andere neuzeitliche Begriffe symbolisiert gerade der Begriff des Subjekts das europäischkulturelle Selbstverständnis: als ‘Freispruch’ von festlegenden, die Menschen unterordnenden metaphysischen Bestimmungen und damit verbundener ‘Anspruch’, sich – qua eigener Vernunft oder Vernunftfähigkeit – in und aus dauernder Selbstbezüglichkeit selbst bestimmen zu lernen, wie daraus resultierender ‘Zuspruch’ unbedingter Würde und eigener Besonderung (vgl. Ricken 1999a). Innerhalb dieses mit Freiheitsmöglichkeit, Vernunftfähigkeit und Handlungsmächtigkeit umrissenen ‘Subjektfeldes’ nimmt nun ‘Bildung’ eine überaus zentrale und strategisch bedeutsame Rolle ein: nicht nur kann sie als eine spezifische (und weitgehend allein im deutschen Diskurs beheimatete) Ausgestaltung modernen Subjektdenkens gelten, deren theoretische Figur vor dessen Hintergrund als Korrektur und Präzision mancher subjekttheoretischer Einseitigkeiten erläutert werden kann (vgl. Buck 1984); vielmehr fungiert ‘Bildung’ aufgrund ihrer enormen lebensweltlichen und überwiegend praktischen Bedeutung als zentrales Moment der Durchsetzung des modernen Subjektdenkens, so dass beide Dimensionen – Kritik der alten “Anthropotheologie” (Löwith 1964, 5) und der mit ihr verbundenen Ordnung wie auch Etablierung der neuen ‘Ordnung des Subjekts’ – gerade an ihr rekonstruiert werden können. Überpointiert ließe sich daher bilanzieren: während ‘Autonomie’ qua Vernunfttätigkeit eher als Inbegriff des theoretischen Diskurses der Moderne
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Studie II – B: Die Macht der Bildung – eine ‘anthropolitische’ Interpretation
gelesen werden muss (vgl. Meyer-Drawe 1998c), so lässt sich mit ‘Bildung’ ein zentrales Moment des alltagspraktischen Diskurses benennen, das die neuzeitlichmoderne Anthropologie des nicht festgelegten, insofern unbestimmten und zur Selbstbestimmung bestimmten wie aus sich selbst entwickelnden Menschen nicht nur auf einen eingängigen Begriff bringt und auch praktisch bedeutsam macht, sondern als ein umfassendes Konzept zu entfalten ermöglicht, in dem unterschiedliche Aspekte nun zu verschiedenen Dimensionen verbunden und als Relationen des Subjekts etabliert werden. Es ist gerade die Eigentümlichkeit der ‘Bildung’, diese Relationen – des Selbst zu sich selbst, zu anderen und zur Welt insgesamt – konzeptionell zu verknüpfen und in einem Entwurf zu synthetisieren, so dass sie einander wechselseitig stützen und aufeinander verweisen. Erst diese Vielseitigkeit und Totalität erlaubt, ‘Bildung’ als die zentrale praktische Anthropologie im deutschen Diskurs der Moderne einzuschätzen und gerade nicht bloß zu einer modernen ‘Legitimationserzählung’ des Wissens (Lyotard) zu vereinseitigen. Soll nicht ein ‘Mythos der Bildung’, “einst ein kritischer Begriff gewesen” (Nipkow 1977, 205) zu sein, der dann zu gänzlich bürgerlich verkehrten Zwecken der Selbstermächtigung und Distinktion nur vielfältig missbraucht und vernutzt worden sei (vgl. Jäger / Tenorth 1987, 71 u.ö.), immer wieder nur wiederholt werden, so geht es darum, die Macht auch in der ‘Idee der Bildung’ selbst denken zu lernen und sie nicht doch immer auch und vor allem außerhalb zu verorten. Die ‘Macht der Bildung’ (Groppe)63 aber liegt zunächst in einer enorm schnellen und weiten Verbreitung und Akzeptanz eines ‘praktischen Deutungsmusters’, das – nahezu ungebrochen bis heute – als weithin geteilte menschliche Selbstbeschreibung und anthropologische Matrix Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Handlungsweisen der Menschen interpretativ bestimmt und so figuriert. So kann gerade ‘Bildung’ einerseits als ‘Inbegriff’ und ‘Instrument’ der Verbreitung und Durchsetzung der ansonsten theoretisch recht abstrakt bleibenden modernen ‘Anthropologie des Subjekts’ (Stichwort ‘Autonomie’) verstanden werden, deren Figuration sie nicht einfach übernimmt, sondern – andererseits – ausdrücklich praktisch ausgestaltet und als eine ‘praktische Anthropologie’ gesellschaftlich institutionalisiert, in der die ‘Lebensführung der Menschen’ schließlich – und mit Notwendigkeitsanspruch – einer geradezu ‘heilsnotwendigen’ ‘Führungsführung’ (Foucault) unterstellt wird. Damit kann nicht nur die moderne Pädagogik überhaupt, sondern insbesondere die Figur der ‘Bildung’ als zentrales Moment einer säkularisierten Pastoralmacht verstanden werden, deren Fruchtbarkeit und Effektivität gerade darin liegt, im Abweis von Fremdbestimmung und Repression den eigenen formierenden Zugriff auf die Lebensführung der Menschen selbst unkenntlich zu machen und als ‘stellvertretende Sorge’ auszugeben.
63
Die hier mit ‘Die Macht der Bildung’ überschriebenen Überlegungen zielen auf eine Rekonstruktion des spezifischen Machtcharakters der Bildung selbst und setzen sich daher von eher geläufigen Rekonstruktionen der Bildung als einer Bedingung oder Folge der Macht ab, die diese in etwas der Bildung ‘Äußerlichem’ und insofern von ihr ‘Unterschiedenem’ zu sehen versuchen; weil aber die dafür in der Tat präzise Kennzeichnung mit ‘Macht der Bildung’ bislang nur als Titel einer einzigen Monographie seine Verwendung fand, sei auf diese – trotz ihrer anderen Justierung – ausdrücklich verwiesen (Groppe 1997).
Einleitung
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Kern dieser praktisch bedeutsamen ‘anthropologischen Matrix’ der ‘Bildung’ ist dabei eine Figur menschlicher Selbstbeschreibung, die weitgehend als Beschreibung des Selbst angelegt und mit der gesellschaftlichen Etablierung spezifischer Subjektivierungspraktiken verbunden ist, so dass ‘Bildung’ machttheoretisch zunächst als ‘epigenetische Formation des Selbst’ [1] rekonstruiert werden muss, in der die Individuen sich schließlich gegen sich selbst wenden. Eng verbunden mit dieser “Machtform, die aus Individuen Subjekte macht” (Foucault 1994, 246), ist zugleich die Entfaltung und Etablierung einer auf Individualität sich gründenden und mithilfe spezifischer Teilungspraktiken sich durchsetzenden Sozialitätsfassung, die qua Individualisierung und Totalisierung die Menschen voneinander trennt und homogenisierend zusammensetzt und so die Formation des Sozialen betreibt [2]. So sind es nicht bloß Akzeptanz und Verbreitung, die ‘Bildung’ zu einer kulturell machtvollen Selbstbeschreibung werden lassen; vielmehr ist ihre spezifische Form selbst eine ‘Figuration der Macht’: nicht nur, weil sie die Führung der Menschen formiert und ihrerseits ‘führt’; auch nicht nur, weil sie dies – gerade in ihrer Selbstüberschreibung mit ‘freier Selbstgestaltung’ – weitgehend unkenntlich lässt und als Inbegriff des ‘Menschlichen’ auszugeben vermag, so dass Kritik und praktische ‘Entunterwerfung’ oft ins Leere laufen müssen; sondern vor allem, weil sie in ihrer paradoxen Formation des Selbstverhältnisses und ihrer damit verbundenen Trennung der Menschen voneinander Herrschaftsverhältnisse zu etablieren hilft, die gerade nicht als bloße Unterdrückungsverhältnisse erkennbar sind, sondern jene qua Selbstbestimmung stützen. Es ist die in ‘Bildung’ implizierte wie explizit formulierte und gesellschaftlich praktizierte ‘Illusion der Souveränität und Unabhängigkeit’, die als Freiheit sich anpreist und Ohnmacht produziert.
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[1]
Studie II – B: Die Macht der Bildung – eine ‘anthropolitische’ Interpretation
Von der ‘Genesis’ zur ‘Epigenesis’ – Bildung als Formation des Selbst “Es gibt keine vollkommenere Unterwerfung als die, die den Schein der Freiheit wahrt: so nimmt man den Willen selbst gefangen.” (Jean-Jacques Rousseau)
‘Bildung’ kann als eine spezifische Form menschlicher Selbstbeschreibung gelten, die sich insbesondere als eine Beschreibung des Selbst verstehen lässt: nicht nur, weil sie ‘das Selbst’ zum zentralen Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit macht und es so – breitenwirksam überaus bedeutsam – erstmalig in einen theoretischen Rang erhebt; auch nicht nur, weil sie dessen Figuration unter der kollektivsingularen Überschreibung ‘des Menschen’ zum schlechthinnigen Kennzeichen desselben überhaupt erhebt und als neuzeitliche ‘Entdeckung’ von Selbstbezüglichkeit und durch Selbstentfaltung und Selbstbestimmung gekennzeichnete Selbstgestaltung präsentiert; sondern vor allem, weil ihre spezifische theoretische Figuration des Selbst mit der Etablierung gesellschaftlicher Praktiken einher geht, in denen das Selbst nicht nur jeweilig bearbeitet, sondern als solches allererst hervorgebracht und produziert wird. Gilt – mit Foucault – das Subjekt aber nicht als das ‘Gegenüber der Macht’, sondern als dessen erster Effekt (vgl. Foucault 1999, 39), so ist es entscheidend, die ‘Produktion des Selbst’ weder als Entdeckung einer vermeintlich überzeitlichen (Menschen-)Struktur noch als ‘freie Erfindung’ desselben auszugeben, sondern als eine spezifische Formation von Subjektivität zu rekonstruieren und machttheoretisch zu analysieren64, die sich einem historisch und systematisch vorgängigen Kontext verdankt und erst vor dessen Folie verständlich wird. Der hier zurückgelegte Weg einer Rekonstruktion der spezifischen Formation des Selbst greift – weil gerade nicht vor einer allgemeingültigen Folie universalen Menschseins sichtbar zu machen – daher auf eine historische Kontrastierung zweier kulturell bedeutsamer ‘Menschenerzählungen’ zurück, die mit Genesis (I) und Epigenesis (II) überschrieben werden können und hinsichtlich ihrer Differenzen des in ihnen enthaltenen Subjektivierungsmusters befragt werden sollen. Dabei markiert die ausführliche Beschäftigung mit einer der ältesten Ursprungserzählungen der Menschen nicht nur den hermeneutisch unverzichtbaren Kontext der zwar erheblich jüngeren, aber ebenso mächtigen neuzeitlich-aufklärerischen Menschenerzählung, sondern dient auch dazu, die Spezifik christlicher Pastoralmacht zu erarbeiten, ohne die der neuzeitliche Aufbruch der Pädagogik weitgehend unverständlich bleiben müsste: weniger, weil zunächst überwiegend Theologen das pädagogische Geschäft betrieben und auch theoretisch mit justiert haben; sondern vor allem, weil die päd64
Es ist bedeutsam, ‘Subjekt’, ‘Subjektivität’ wie auch ‘Individuum’ und ‘Individualität’ präzise zu unterscheiden und nicht – wie häufig vorgenommen – ineins fallen zu lassen; denn erst eine solche Differenzierung macht möglich, ‘Subjektivität’ – als begrifflicher Kennzeichnung von nichthintergehbarer wie nichtursprünglicher Selbstbezüglichkeit – vom Begriff des ‘Subjekts’ zu unterscheiden, so dass diese als eine spezifisch moderne ‘Formation des Selbst’ gelten kann, die schließlich sogar im ‘Subjektsein’ geradezu metaphysisch überhöht worden ist. Vgl. dazu ausführlicher die Unterscheidungen in Ricken 1999a.
Bildung als Formation des Selbst: Zur Anthropologie der Genesis
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agogische Figur selbst als ein säkularisiertes Pastorat verständlich gemacht werden kann, die an die christliche ‘Seelsorge’ anschließt. Vor diesem Hintergrund einer typologischen Kontrastierung zweier bedeutsamer Selbstbeschreibungen gilt es dann, die Figur der Bildung zu verorten und in ihren Linien als eine – ausdrücklich anthropologisch argumentierende – Matrix moderner Subjektivierung zu rekonstruieren (III) und hinsichtlich ihrer historischen Wirksamkeit (IV) wenigstens in Ansätzen zu befragen. Dabei lässt sich die Rekonstruktion des Wegs von der ‘Genesis’ zur ‘Epigenesis’ des Menschen auch als ein Prozess zunehmender Entkontingentisierung lesen (vgl. Ricken 1999a): nicht nur, weil Handlungsmacht und Selbststeigerung zunehmend bedeutsamer werden und der Mensch sich sukzessive vom ‘Geschöpf Gottes’ – über den Platz eines ‘deus secundus’ (Cusanus) – schließlich zum ‘deus primus’ und ‘Schöpfer seiner selbst’ (Herder) verwandelt (vgl. Meyer-Drawe 1999a); sondern auch, weil Versagung, Selbstohnmacht und Entzogenheit zunehmend kulturell weniger bedeutsam werden und ebenso ‘vervorläufigt’ (Marquard) wie ‘entmangelt’ werden. Auch wenn gegenwärtig – trotz vielfach anhaltender epigenetischer Anleihen – die hier beschriebenen ‘Schemata des Menschlichen’ wohl kaum ungebrochen kulturelle Geltung beanspruchen können, so ist doch die in Gang gesetzte Bewegung allemal gegenwärtig, so dass es heute wenig abwegig scheint, von der ‘Autogenesis’ des Menschen zu sprechen; zu glauben, ihr entkommen zu können, indem auf alte Muster zurückgegriffen wird, ist aber bloße Selbsttäuschung65.
I. Die spezifische Struktur der ‘Anthropologie der Bildung’ als einer epigenetischen Formation des Selbst bliebe weitgehend unverstanden, bezöge man sie nicht zurück auf ihren (auch systematischen) Entstehungskontext, dem sie sich als Abgrenzung wie Kontinuität verdankt. Dabei kann insbesondere die alte ‘Menschenerzählung’ des Ursprungs, der ‘Genesis’ des Menschen, die sich um den Mensch-Gott-Vergleich rankt und auf die ‘Restitution’ des ‘alten Menschen’ zielt, als hermeneutischer Horizont gelten, der – insbesondere lebenspraktisch (!) – trotz vielfacher Reinterpretationen und Variationen wie schließlich erheblich differierender theoretisch-philosophischer Weichenstellungen bis weit ins 19. (und bisweilig auch 20.) Jahrhundert Geltung beanspruchen konnte. Es ist gerade diese ‘anthropotheologische’ Geschichte von Gottes Schöpfung, von Paradies, Sündenfall und Vertreibung, in der die Menschen im Erzählen ihrer Her- und Abkunft sich ihrer selbst und ihrer ambivalenten Verfasstheit vergewisserten, die als Paradigma einer europäisch vormodernen Anthropologie gelten kann; in ihr thematisieren die Menschen sich als ein zwar einge65
Die Idee der Konstitution des ‘neuen Menschen’ hat menschliche Selbstbeschreibungen – von der Genesis über die Epigenesis zur Autogenesis – immer wieder beschäftigt, – mit leider allzu oft verheerenden praktischen Folgen. Was ‘genetisch’ aber als ‘Restitution’ des ‘Alten Menschen’ und ‘epigenetisch’ als ‘Konstitution’ des ‘Neuen Menschen’ qua Selbstausfaltung aus Natur galt, ist heute ‘reprogenetisch’ als wirkliche Selbstschöpfung anvisiert; vgl. dazu u.a. die von Dülmen (1998) und Lepp (Lepp u.a. 1999) dokumentierten Ausstellungen zum ‘Neuen Menschen’ wie auch Hondrich 2001.
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ordneter und insofern ihr zugehöriger, aber auch besonderer und insofern aus ihr hervorgehobener Teil einer alles andere mit umfassenden Ordnung göttlicher Herkunft. Die darin durchgängig (durchaus aber nicht kulturübergreifend selbstverständlich) praktizierte Kennzeichnung des Menschen als eines Wesens besonderer Art (vgl. Hügli 1980, 1061) schlägt sich dabei sowohl begrifflich als auch systematisch in einer Ab- und Ausgrenzung des Menschen aus Natur und Kosmos nieder, die im westlichen Denken bis heute nicht einfach aufgebbar erscheint und insbesondere auch die Matrix der ‘Bildung’ strukturell kennzeichnet. So reichen die Ursprünge der jüdisch-biblischen ‘Genesis’-Erzählung bis ins 9. Jahrhundert v.u.Z. zurück; als konstitutiver Bestandteil des hebräischen und später auch christlichen Denkens hat sie als kanonisierte Eröffnung der für heilig erklärten Schriften eine bis heute kaum zu überschätzende Bedeutung. In ihr bestimmen sich die Menschen ausschließlich in ihrem Verhältnis zu Gott, als dessen Geschöpfe sie sich verstehen, und werden dadurch vornehmlich in ihrer Kreatürlichkeit, Welthaftigkeit und Vergänglichkeit gesehen und als ‘Zwischenwesen’ – weder Gott noch bloß Tier – charakterisiert (vgl. Genesis 1-11): als Geschöpf unter anderen Mitgeschöpfen sind sie vergänglicher Teil der Schöpfungsordnung und in sie – wenn auch allen voran – eingeordnet; als Besonderung qua auszeichnender Gottebenbildlichkeit sind sie dieser zugleich übergeordnet wie auch – im Ungehorsam des Sündenfalls – gegenübergestellt. Ihre gegen konkurrierende Schöpfungsmythen (vgl. Eliade 1998) gerichtete Grundfigur sei erinnert und systematisch vorgetragen. Gott – einzig und aller Schöpfung vorgeordnet – erschafft in einer ‘creatio ex nihilo’ schrittweise die Welt und alles Leben auf ihr; dabei zeigt sich die Erschaffung des Menschen als Besonderheit: nicht nur zeitlich als Abschluss, sondern auch qualitativ als Krönung ist der Mensch ‘zu seinem Bilde, ihm ähnlich’ (vgl. Genesis 1,26) erschaffen. Gottebenbildlichkeit66 – im späteren lateinischen Begriffspaar der ‘imago dei’ und 66
Der Gedanke der Gottebenbildlichkeit – gemeinhin als ursprünglich biblisch interpretiert und exemplarisch v.a. auf Genesis 1,26f. bezogen – ist kein exklusiv hebräischer Gedanke (vgl. insgesamt Schlüter 1974, von Rad 1987, Gross u.a. 1995), sondern schließt an vielfältige Traditionen im Vorderen Orient an, die ‘Gottebenbildlichkeit’ als Königstitel kennen und so diesen als ‘Repräsentanten Gottes auf Erden’ kennzeichnen (vgl. Gross u.a. 1995, 872). Der in mehrfacher Hinsicht geführte Streit um die Interpretation dieser biblischen Passage ist bislang ungelöst: die hebräische Formulierung ‘ ’ (‘bezalménu kidmuténu’) wird – aufgrund der schleichenden Übersetzungsverschiebungen in den Formulierungen der Septuaginta (‘NjǂǕ ƾNJNjǐǎǂ µƾǕJǒǐǎ NjǂNJ NjǂǕ µµǐNJǐǔNJǎ’) und der Vulgata (‘ad imaginem et similitudinem nostram’) mitbedingt – überwiegend im Deutschen mit ‘nach unserem Bild und Gleichnis’ bzw. ‘uns ähnlich’ (vgl. z.B. Jerusalemer Bibel) wiedergegeben; die popularisierende Einheitsübersetzung formuliert noch undifferenzierter ‘als unser Abbild, uns ähnlich’. Während exegetisch umstritten ist, ob die hier verwendeten hebräischen Termini ‘záelaem’ (Bild, Statue von Gottheiten als plastisches Standbild wie wesenloser Schatten) und ‘demút’ (Ähnlichkeit) nicht doch bloß als Doppelausdruck eines einheitlichen Sachverhalts gelesen werden müssen, ist dieser Begriffsgebrauch in der Tradition – insbesondere durch die ontologisierende Interpretation des Irenäus (vgl. Pannenberg 1983, 44ff.) – theologisch genutzt und zu einer systematischen Unterscheidung ausgebaut worden: danach ist ‘J¨NjÆǎ’ das Abbild, das aber als solches vom Urbild verschieden ist und hinter ihm zurückbleibt; ‘´µǐǀǚǔNJǓ’ hingegen bezeichnet die aktuelle Gemeinschaft mit dem Urbild, die im menschlichen Sündenfall verloren gegangen ist und durch Jesus Christus als Rechtfertigung des Sünders erneuert worden ist. Während die lateinische Scholastik diese Hauptlinie im Verständnis der Gottebenbildlichkeit fortgeführt hat, weicht die reformatorische Interpretation von ihr ab, indem sie die ‘Gottebenbildlichkeit’ mit der aktuellen Gottesbeziehung identifiziert und insofern folgerichtig im Sündenfall nicht nur die ‘similitudo’, sondern auch die ‘imago dei’ verloren gegangen sieht. Neuere exegetische Forschungen und Übersetzungen weisen aber daraufhin, dass hebräisch gerade keine abbildtheoretische (Wesens-)Aus-
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‘similitudo dei’ als folgenreiche Doppelbestimmung tradiert – wird von hier zum anthropologischen Grundgedanken der Genesis der Menschen (vgl. Wenzel 1999), auch wenn unbestreitbar ist, dass dieser Gedanke im Kontext der hebräischen Schriften immer auch ein Fremdkörper geblieben ist, der nicht nur selten wiederaufgenommen ist, sondern auch in erheblicher Spannung zum hebräischen Gottesgedanken selbst steht. Im Zusammenhang der Bildlosigkeit Gottes und des begleitenden Bilderverbots67 gewinnt dabei die Aussage der Gottebenbildlichkeit einen doppelten Sinn: einerseits dient sie als Auszeichnung des Menschen als eines besonderen Geschöpfs Gottes wie als Kennzeichnung seiner spezifischen Gottesnähe und fungiert so als Begründung der besonderen Stellung des Menschen innerhalb der Schöpfung, nämlich deren wie auch immer gedachter Herrscher zu sein, andererseits sieht sich der Mensch durch den Zuspruch einer paradoxalen Gottebenbildlichkeit, nämlich Ebenbild eines Gottes zu sein, von dem ein Bild sich zu machen verboten ist, in seiner Geschöpflichkeit sowohl an Gott verwiesen als auch radikal unterschieden und getrennt, ist dieser doch (und damit auch er sich selbst) letztlich unerreichbar; Teilhabe und Zugehörigkeit wie Fremdheit und Nichtzugehörigkeit markieren so den anthropotheologischen Rahmen der ‘Genesis’Erzählung. Innerhalb der über zweitausendjährigen Rezeptionsgeschichte, die gerade nicht zwischen verschiedenen Traditionen des Schöpfungsberichts unterschieden hat68, wird biblisch diesem Gedanken der Gottebenbildlichkeit ein zweiter, ebenso mächtiger Grundgedanke zur Seite gestellt: der Sündenfall Adams und Evas als Ungehorsam gegenüber Gott, der nicht nur deren Vertreibung aus dem Paradies nach sich zieht und zu einem beschwerlichen und schmerzreichen, ja quälenden Leben führt, sondern auch den Tod – sei es als Sündenstrafe oder als Erkenntnisfolge69 – mit sich bringt und sich schließlich in der ‘Verdunkelung’ der Gottebenbild sage, sondern vielmehr eine sinnbildliche, unmittelbar mit einer praktischen Aufgabe verknüpfte Vorstellung gemeint sei, in der dem Menschen als ‘Repräsentanz Gottes’ (Gross) eine stellvertretende Funktion zugewiesen werde, die angemessener daher mit ‘zu unserem Bild, uns ähnlich’ übersetzt werden müsse; Buber / Rosenzweig formulieren dies noch schärfer mit ‘in unserem Bild nach unserem Gleichnis’ (Buber / Rosenzweig 1981, 11). Vgl. auch ausführlicher zu den beiden zentralen Begriffen ‘záelaem’ und ‘demút’ die Überlegungen in Schroer / Staubi 1998. 67
Vgl. dazu bes. Dtn. 4,15 und 5,8; siehe auch die Erörterungen bei Dohmen 1987 wie Brumlik 1994 und Nordhofen 2001.
68
Die Zuordnung des Gottebenbildlichkeitsgedankens zur priesterschriftlichen Tradition ist unumstritten (vgl. auch Gen 5,1 wie Gen 9,6), so dass dieser als spätere (zwischen 530 und 450 v.Chr.) Ergänzung und Erläuterung der deutlich älteren jahwistischen Tradition (9. / 8. Jh. v. Chr.) gelesen werden muss und – aus philologischer Sicht – nicht bruchlos mit dem dort formulierten Gedanken von Paradies und Sündenfall kombiniert werden kann. Die exegetisch längst geteilte Unterscheidung mind. zweier Erzähltraditionen innerhalb des Schöpfungsberichts der Genesis ist aber für meine Argumentation vernachlässigbar: rezeptionsgeschichtlich gilt vielmehr, dass spätestens seit Kanonisierung der verschiedenen Erzähltraditionen im 4. Jh. v. Chr. über gut zweitausend Jahre von der Homogenität dieses Textes und seiner mosaischen Autorschaft ausgegangen worden ist. Erst 1711 (Witter) bzw. 1753 (Astruc; vgl. LThK² I, 967) wurden erstmalig Überlegungen zur Differenzierung verschiedener Erzählstränge innerhalb der Genesis vorgetragen; spätestens seit dem Ende des 19. Jhs. gilt diese sog. ‘Urkundenhypothese’ auf altkatholischer wie protestantischer Seite als exegetisch überzeugendere Arbeitshypothese. Vonseiten der katholischen Kirche ist schließlich bis 1943 / 1948 an der literarischen Einheit und mosaischen Autorschaft des Pentateuch lehramtlich festgehalten worden; noch 1906 verbot der Papst die Rezeption und Verbreitung der damaligen exegetischen Befunde (vgl. LThK² VIII, 262).
69
Das Verständnis des Todes im Schöpfungsbericht ist spannungsreich formuliert: so wird einerseits der Tod als ‘Sündenstrafe’ (vgl. Gen 2,17) interpretiert und damit paradiesische Unsterblichkeit behauptet; andererseits wird aber die Paradiesesvertreibung v.a. damit begründet, Adam und Eva daran zu hindern, auch noch “vom Baum des Lebens nehmen und essen und in Weltzeit leben” (Gen 3,22) zu können, so dass hier – durchaus überraschend – ursprüngliche Sterblichkeit mitbehauptet scheint und der menschliche Tod eher als Bewusstseinsproblematik aufgenommen ist. Dogmatisch ist diese Frage erst auf der Kirchversammlung
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lichkeit manifestiert. Was aber in der Erzählung der Genesis diachron gereiht wird, ist in seiner Logik synchron aufzunehmen: der Mensch, endliche, aber hervorgehobene Kreatur, ist durch eine elementare Differenz gekennzeichnet, die mit Gottebenbildlichkeit und aus dem Sündenfall resultierender Paradiesesvertreibung – als Inbegriff einer selbst zu führenden, insgesamt beschwerlichen wie vergänglichen Existenz – umrissen wird; er ist damit sowohl Teil der guten, alles umfassenden Ordnung Gottes und insofern beheimatet, als auch freies (wenn denn auch ungehorsames) Gegenüber Gottes und insofern fremd und verlassen. Der aus dieser extremen Spannung von gleichzeitiger Gottesnähe und Gottesferne vielstimmig entwickelte geschichtliche Grundgedanke des ‘Bundes Gottes’ mit den Menschen kennzeichnet die hebräische Tradition; ihr durch ausbalancierte Differenzen gekennzeichnetes Grundmodell ist daher die Figur des ‘Exodus’ als geschichtlich zu realisierender ‘Gottesnähe’70.
Im christlichen Denken wird nun diese Spannung von Gottebenbildlichkeit und Sündenfall hierarchisch aufgenommen, unter der Perspektive der in Jesus Christus behaupteten Erlösung latent entdifferenziert wie heilsgeschichtlich vervorläufigt und schließlich zu einer um den Begriff der ‘forma’ figurierten und dogmatisch verankerten theologischen ‘Menschenlehre’ ausgebaut71. Entscheidend ist dabei, dass – zunächst bei Paulus – die als Ursprung behauptete, aber durch den Sündenfall Adams verdunkelte Gottebenbildlichkeit in Jesus Christus erneut sichtbar geworden ist und so für alle als Zielperspektive wieder eingeführt wird: einerseits ist Christus selbst, so Paulus im Kolosserbrief, “das Ebenbild des unsichtbaren Gottes” (Kol 1,15), ausdrücklich ihm gleich (vgl. Phil 2,6: “ǎ µǐǒQ ljJǐº”) und nicht unterschieden; andererseits werden die Gläubigen im Glauben an dessen Auferweckung – so Paulus im 2. Korintherbrief – zukünftig ‘in dasselbige Bild verwandelt’ (vgl. 2 Kor 3,18: “Ǖǎ ǂ½Ǖǎ J¨Nj´ǎǂ µJǕǂµǐǒQǐ½µJljǂ”) werden. Dieser gegenüber der hebräischen Tradition neue Gedanke spannt das Gebäude christlicher Anthropologie auf, indem der ätiologisch gedachte Ursprung des Menschen nun teleologisch reformuliert und als zu Karthago (418 n.Chr.) entschieden worden – nicht zufällig im Kontext der pelagianischen Auseinandersetzungen: “Jeder, der sagt, Adam, der erste Mensch, sei sterblich gebildet worden, so daß er dem Leibe nach sterben mußte, ob er nun sündigte oder nicht, d.h. daß er aus dem Leben scheiden mußte, nicht zur Strafe für seine Sünden, sondern aus Naturnotwendigkeit, der sei ausgeschlossen” (DS 222 / NR 338 in Neuner / Roos 1971). Erst dieses christliche Dogma ursprünglicher Unsterblichkeit (und der damit verbundenen Interpretation des Todes als ‘Sündenstrafe’) erlaubt, die christliche Heilsaussicht als Wiederherstellung des Urzustands zu formulieren; vgl. dazu Jüngel 1971, 75-120. 70
Die Charakterisierung der hebräischen Tradition als einem geschichtlichen ‘Bundesdenken’ in Opposition zum griechisch-metaphysischen ‘Seinsdenken’ ist weitgehend unumstritten (vgl. dazu auch Metz 1989 und Habermas 1993); auch über die Zentralität der Figur des ‘Exodus’ im hebräischen Glauben besteht kein Dissens (vgl. Walzer 1996 wie Zenger 1998).
71
Der weite Rückgriff – insbesondere dann auch auf Augustinus – mag überraschen, verdankt sich aber zum einen der theologiegeschichtlich enormen Zentralität von Augustinus als dem wohl bedeutsamsten ‘lateinischen Kirchenvater’, “dem offen zu widersprechen auch im Mittelalter schlechterdings unerlaubt war” (Pesch 1983, 91); zum anderen aber kann gerade Augustinus als der Protagonist der Etablierung einer auf dem Theorem der Erbsünde aufbauenden Theologie und Pastoral gelten, hat doch mit ihm die christliche ‘Anthropotheologie’ ihre bis heute kaum veränderte, weil im Anschluss an Augustinus dogmatisch fixierte Grundstruktur erhalten, die mit ‘Gottebenbildlichkeit’, ‘Sündenfall’ und ‘Erlösung’ einerseits, ‘Erbsündigkeit’, ‘Gnade’ und dadurch bewirktem ‘Glauben’ und ‘Lieben’ andererseits gekennzeichnet werden kann (vgl. Pesch 1983, 91ff.). Dennoch sei darauf hingewiesen, dass die hier aufgestellte Kontinuitätsbehauptung insgesamt aber typologisch, nicht theologie- und geistesgeschichtlich justiert ist.
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dessen – allerdings noch ausstehendes – Ziel interpretiert wird: Vollendung meint sowohl die Wiederherstellung der ursprünglichen, durch Sünde und Tod nicht gestörten Weltordnung als auch die Neuschöpfung von Himmel, Erde und Mensch; die ‘restitutio’ des ‘alten Adam’ ist zugleich die ‘constitutio’ des ‘neuen’ – und umgekehrt72. Sind so Ursprung und Ziel des menschlichen Lebens miteinander verknüpft, ohne damit ineins zu fallen, so rückt sowohl das, was beide trennt, als auch das, was beide verbindet, in den Mittelpunkt: einerseits erscheint die endliche und sündige Existenz der Menschen als uneigentliche Lebensgestalt, ist sie doch zwischen paradiesischer Ursprünglichkeit und zukünftiger Paradiesesverheißung nur qualvolle ‘Durchgangszeit’; andererseits wird die Figur Jesu Christi in unbestrittener Zentralstellung als ‘Mittler’ zwischen Mensch und Gott installiert: als wahres Abbild ist er praktisches Vorbild und insofern ‘ǑǂNJDžǂDŽǚDŽǝǓ’ (Tertullian) der Menschen, als Heilbringer und Selbstoffenbarung Gottes ‘Messias’ und ‘ƸǒNJǔǕǝǓ’. In der Verknüpfung beider Dimensionen aber lässt sich die Grundfigur des christlichen Glaubens mit ‘Nachfolge Christi’ bzw. ‘imitatio Christi’ kennzeichnen. Kein anderer ‘Topos’ hat in der langen christlichen Geschichte eine so heterogene und intensive Bearbeitung gefunden; das durch unerbittliche Streitigkeiten und wechselseitig scharfe Verfolgungen gekennzeichnete Nachdenken um die christliche Lebensführung hat sich dabei auch immer anthropotheologisch formiert, indem Gottebenbildlichkeit und Sündenfall wie bereits angebrochene und noch ausstehende Erlösung unterschiedlich miteinander relationiert wurden. Die darin aber vorgenommenen Weichenstellungen und Vorbahnungen sind figurierende Kontexte daran anschließender auch drastischer Regulierungen und Reglementierungen des gläubigen Lebenswandels. Im Rahmen der Ausarbeitung einer christlich verbindlichen Lehre und der mit ihr verbundenen Etablierung einer spezifisch christlichen Machtpraktik – der Pastoralmacht – spielt nun Augustinus eine wohl kaum zu überschätzende Rolle, verschiebt sich doch mit ihm der Horizont, innerhalb dessen zukünftige Auseinandersetzungen um die ‘imitatio Christi’ sich zu formieren haben. Darin übernimmt die von Augustinus allererst formulierte und nur wenig später auch dogmatisch endgültig verankerte Lehre der Erbsünde eine wichtige Scharnierfunktion, indem sie zur Steigerung der Heilsbedeutung Jesu Christi im Menschen eine radikale und ebenso absolute Erlösungsbedürftigkeit etabliert und markiert. Trotz immer wieder vorgetragener polemischer Einwände und subtiler Differenzierungen gehört sie – kirchlich durchaus bis heute – dogmatisch wie pastoral zum Grundbestand des christlichen Glaubens und konnte in ihrem verbindlichen Geltungsanspruch wenn auch – zwar nur selten –
72
Theologiegeschichtlich ist bedeutsam, dass die im hebräischen Denken eher geschichtlich und damit praktisch justierten Markierungen im Kontext der frühchristlichen Auseinandersetzungen um die ‘richtige Lehre’ weitgehend ontologisiert wurden und schließlich zu einer um den Begriff der ‘Bildes’ angelegten ‘Menschenlehre’ ausgebaut worden sind. Folgerichtig lassen sich die drei Dimensionen der christlichen ‘Bildungsidee’ (Assmann 1993, 21) als eine Variation um das Thema der ‘forma’ lesen und mit ‘deformare’ als Entstellung der Gottebenbildlichkeit im Sündenfall, ‘reformare’ als – insbesondere in Jesus Christus vollzogene – Erneuerung des Menschen durch göttliche Gnade und Liebe und ‘conformare’ als Annäherung des Menschen ans Urbild durch Glaube und Liebe benennen. Vgl. dazu auch Assmann 1993, 20-25.
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angetastet, nie aber gänzlich außer kraft gesetzt werden73; vielmehr lässt sich gerade umgekehrt nachweisen, dass entscheidende ‘Reformationen’ innerhalb der Kirche und ihrer Theologie sich erst unter Berufung auf die Erbsündenlehre und deren Radikalisierung durchzusetzen vermochten74. Dabei steht Augustinus Zuspitzung der Sündhaftigkeit der Menschen zur Erbsünde in einem mehrfachen politisch-institutionellen Kontext: es ist der frisch geweihte Bischof (396) eines gerade erst zur Staatsreligion erklärten Christentums (380/381), der diese Überlegung entwickelt und damit das nur scheinbar vordergründige Problem der Kindertaufe argumentativ zu bewältigen sucht und den Kirchenkampf mit Pelagius so für sich entscheidet. Während Augustinus noch zwischen 389 und 391 in seiner gegen den Manichäismus gerichteten Schrift ‘De vera religione’ (Augustinus 1983) die Sünde klar als “freigewollt Böses” kennzeichnet und damit “freie Willensentscheidungen” nicht nur respektiert, sondern als Auszeichnung der “besten Diener” (Augustinus 1983, 45) Gottes preist, so spricht er nur wenige Jahre später (396) in den ‘Quaestiones ad Simplicianum’ (vgl. Augustinus 1995²) bereits von einer “ursprünglichen Schuld (‘reatus originale’), die in allem bleibt” (Augustinus 1995², 20 / 708 [226 / 227]) und so alle in einen einzigen “Sündenklumpen (‘massa peccati’), der von der höchsten Gerechtigkeit her die Todesstrafe verdient” (Augustinus 1995², 16 / 470 [203]), verwandelt hat. Die Ursünde Adams ist nicht nur als Sündenstrafe anwesend, sondern wirkliche Schuld und eigene Sünde geworden: “peccatum originale” (Quaestiones I1, 10 / 174, zit. n. Flasch 1995², 281 Anm. 33). Auch ihre Struktur als einer “Verkehrtheit des Menschen” (‘perversitas hominis’), ist sie doch in der “Hinwendung zum Geschaffenen” (‘ad condita inferiora conversia’) nichts als “Abkehr vom Schöpfer” (‘aversio a deo’) (Augustinus 1995², 18 / 553 [210 / 211]), wird bereits hier ausschließlich auf die “concupiscentia carnalis” (Augustinus 1995², 20 / 705 73
Zentralität und praktische Wirkmächtigkeit der durch Augustinus etablierten Erbsündelehre sind in der Christentumsgeschichte kaum zu überschätzen; so gehört diese immer noch zum systematisch-dogmatischen Kernbestand des christlichen Glaubens (vgl. dazu exemplarisch Scheffczyk 1981, Pesch 1983, 115-151 wie Pagels 1991). Dabei lässt sich weder alttestamentlich noch neutestamentlich auch nur der Ansatz einer Erbsündenlehre feststellen: Sünde meint hier immer eine aktive Übertretung des göttlichen Gebotes (vgl. Pesch 1983, 119ff.); auch die vermeintlich ‘erste’ Sünde Adams und Evas wird gerade nicht als ‘Ursprungssünde’, sondern als ‘Symbol’ aller menschlichen Sünden verstanden. Selbst Röm 5,12ff. – Hauptstütze verschiedener ‘Schriftbeweise’ – lässt sich nicht erbsündentheologisch interpretieren; vielmehr verdankt sich die Perspektive der kausalen Rückführung aller Sünden auf Adam einem lateinischen Übersetzungsfehler (das griechische ‘QW Ò’ wird in der Vulgata mit ‘in quo’ wiedergegeben und verschiebt den Sinn erheblich: von ‘weil’ zu ‘in’; vgl. dazu Pesch 1983, 126f. wie 130f.), so dass aus einer symbolisch-typologischen Argumentation (wir sündigen wie Adam, ahmen also nach) ein Kausal- und Ursprungsverhältnis konstruiert werden kann. Der dogmatische Kern der Erbsündenlehre ist schließlich auf der II. Kirchenversammlung zu Orange [529] lehramtlich eindeutig verabschiedet (DS 371-372 / NR 350-351 in Neuner / Roos 1971) und auf dem Konzil zu Trient [1546] ausdrücklich bestätigt worden (DS 1510-1516 / NR 352-358); vgl. dazu auch Pesch 1983, 128-133 wie 147-151.
74
Die Bedeutung Augustinus für die deutsche Reformation, insbesondere Luther, ist hinlänglich bekannt (vgl. insgesamt Lohse 1996); dass aber gerade deren Rückbezug auf die Schriften und Intentionen Augustinus auch die Wirksamkeit reformatorischer Überlegungen befördert hat, zeugt nicht nur von der ungeheuren Präsenz augustinischen Denkens über viele Jahrhunderte hinweg, sondern belegt auch deren machttheoretische und strategische Fruchtbarkeit, so dass insgesamt dogmatisch motivierte Radikalisierungen immer durchsetzungsfähiger blieben als pastoral begründete Ermäßigungen. So weicht auch insgesamt die reformatorische Lehre in ihren mit ‘sola fide’, sola gratia’ und ‘sola scriptura’ bündelbaren (erheblichen) Modifikationen der traditionell katholischen Dogmatik und Pastoral von diesem Gesamtaufriss nicht nur nicht ab, sondern befestigt und radikalisiert diesen vielmehr – im Rückgriff auf Augustinus. Sie kann daher angemessener als eine theologisch betriebene – als Verinnerlichung wie Privatisierung verstandene – Individualisierung der christlichen ‘Anthropotheologie’ gekennzeichnet werden, die die christlich betriebene hierarchisierende Umschrift der ‘Genesis’ – von einer symmetrischen Differenz (Gottebenbildlichkeit und Sündenfall) zu einer hierarchischen Figur (Erbsündigkeit und Rechtfertigung) – insgesamt nur verstärkt hat.
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[226]), einer nicht nur leiblich, sondern auch sozial zu denkenden Begehrlichkeit Anderer, durch die sich die Ursünde qua Zeugung vererbt, zurückgeführt75. Drei weiterführende Hinweise zur Problematik der Erbsündenlehre bei Augustinus seien angeschlossen und mögen deren systematisch überaus zentralen Stellenwert belegen: (a) Die Folgen, die Augustinus aus dieser Grundskizze zieht, sind konsequent und verheerend zugleich: zugunsten einer ebenso übermächtig wie auch willkürlich gedachten Gnade Gottes wird – verkürzt – der freie Wille zwar nicht gänzlich negiert, aber doch zur alleinigen Möglichkeitsbedingung des Bösen degradiert. Nur rhetorisch fragt Augustinus: “Der freie Wille hat sehr großen Wert, gewiß, es gibt ihn, aber welchen Wert hat er bei denen, die unter die Sünde verkauft sind? [...] Uns ist aufgegeben, sittlich gut zu leben; dafür wird uns als Lohn in Aussicht gestellt, daß wir in Ewigkeit glücklich zu leben verdienen. Aber wer kann sittlich gut leben und gute Werke tun, wenn er nicht aus dem Glauben gerechtfertigt ist? [...] Was uns zu Gott bringt, wird [...] durch Gottes Gnade eingegeben und geschenkt. Es wird nicht durch unseren Willen und unsere Anstrengung oder durch verdienstvolle Werke erworben” (Augustinus 1995², 21 / 740 [231-233]). So gibt es keinen menschlich eigenen Weg zu und mit Gott, vielmehr ist alles – das gerechte Tun allemal wie selbst das eigene Wollen – auf die erwählende und errettende, ausschließlich durch die Kirche sakramental vermittelte Gnade Gottes angewiesen: “Gott, [...] gib, was Du verlangst, dann verlange, was Du willst” (Augustinus 1987, X, 29.40 [551]), so formuliert Augustinus später den Grundsatz seiner Theologie. (b) Der mit der Etablierung des Christentums als Staatsreligion sich drastisch wandelnde institutionelle Kontext ist unverzichtbar: sowohl beim Problem der Kindertaufe wie im Streit mit Pelagius geht es darum, den ‘ersten Schritt’ aus den Händen der Menschen in Gottes Hände, damit in die sakramentale Praxis der Kirche zu verlegen, der so ‘Heilsnotwendigkeit’ zugesprochen wird: das bereits ältere kirchentheologische Axiom ‘extra ecclesiam nulla salus’ wird von Augustinus nun auch ‘anthropologisch’ reformuliert und als Geltungskriterium aller kirchlichen und sakramentalen Handlungen etabliert. Das führt – im Streit mit den Donatisten – zur Umdeutung der Sakramentenlehre, indem Augustinus die Wirkung des ‘sacrum signum’ von den Beteiligten löst und in das Zeichen selbst verlegt: ‘ex opere operato’, wie eine spätere Formel bündelt76. 75
Die Entwicklung des augustinischen Sünden- und Erbsündenverständnisses ist ebenso verwickelt wie umstritten und kann hier nicht rekonstruiert werden (vgl. dazu exemplarisch Scheffczyk 1981 wie Flasch 1994); bedeutsam ist jedoch, dass Augustinus den Gedanken der Erbsünde nicht von Anfang an (vgl. exemplarisch Augustinus 1983, insbes. 45ff.), sondern erst allmählich – in enger zeitlicher Nähe mit bedeutsamen Stationen seiner eigenen ‘Kirchenkarriere’ [Taufe 387, Priesterweihe 391, Ernennung zum Koadjutor des Bischofs von Hippo 395 und Bischofsweihe 396] – ausformuliert hat. Die Datierung der Erbsündenlehre auf die späteren antipelagianischen Schriften ist jedoch unzutreffend; bereits in den ‘Quaestiones ad Simplicianum’ (396) spricht Augustinus sowohl von ‘peccatum originale’ (vgl. Quaestiones I1, n.10,174, zit. Flasch 1995², 281 Anm. 33) als auch von einer “ursprünglichen Schuld, die in allem bleibt” (Quaestiones I2, zit. Augustinus 1995², 227), und sich “von ihm [Adam] als dem Ursprung [...] über das ganze Menschengeschlecht ausgebreitet” (Augustinus 1995², 201 / 203) hat. Ausdrücklich als Lehrstück aufgenommen und im strikten Sinn ausformuliert wird die Erbsündenlehre dann in Augustinus erster antipelagianischen Schrift ‘De peccatorum meritis et remissione et de baptismo parvulorum’ (411 / 412). In den um 427 verfassten Retractiones, in denen Augustinus seine früheren Schriften aus späterer Perspektive ausführlich kommentiert, nimmt er den Wandel seines Sündenverständnisses (vgl. Retractiones 5, in: Augustinus 1983, 193) explizit auf und harmonisiert die eklatante Differenz seiner eigenen gedanklichen Entwicklung; dort fällt auch der seitdem eingewöhnte Fachterminus “peccatum hereditarium” (Retractiones I, 13.5), der nun mit dem bereits früher geprägten ‘peccatum originale’ gleichgesetzt wird (vgl. dazu insgesamt Flasch 1994², 191212 wie Theobald u.a. 1995, bes. 745).
76
Die klassisch katholische Formel ‘ex opere operato’ ist erst im 12. Jh. geprägt worden, findet sich aber der Sache nach bereits bei Augustinus vorformuliert (vgl. dazu Vorgrimler 1987, insbes. 59f., 64-66); auch sie verdankt sich einem kirchenpolitischen Streit um die Wirksamkeit der von als unglaubwürdig eingeschätzten Priestern gestifteten Sakramente und steht so im engen Zusammenhang mit Augustinus Kirchentheologie (vgl. dazu Ratzinger 1954).
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(c) Eng damit verknüpft ist Augustinus Modell einer ‘imitatio Christi’77, das sich konzentrisch um den Begriff des ‘homo interior’78 rankt, ist dieser ‘innere Mensch’ doch der eigentliche Ort der Gottessuche und -begegnung; Augustinus fragt: “Siehe, welchen Raum ich durchmesse [...], um Dich zu suchen, Herr, und es war nicht außerhalb, wo ich Dich gefunden habe” (Augustinus 1987, X, 24,35 [545]); vielmehr gilt gerade umgekehrt: “Du warst innen und ich war draußen”, “Du warst bei mir und ich war nicht bei Dir” (Augustinus 1987, X, 27,38 [547]). Augustinus verdeutlicht: “Bin ich dann nicht ich, Herr, mein Gott? Wahrhaftig, solch ein Unterschied ist zwischen mir und mir” (Augustinus 1987, X, 30,41 [553]. Die von Augustinus präzise erarbeitete Differenz des Ich mit sich wird – konsequent und der Erbsündenlehre gemäß – hin zu Gott aufgelöst und eröffnet so den ‘inneren Menschen’ als praktisches Bearbeitungsfeld: “Ich [...] mühe mich an mir selber ab: es ward mein eigen Ich mir zum Boden der Mühsal, und ich bestelle ihn mit vielem Schweiß” (Augustinus 1987, X, 16,25 [525]). Und hin zu Gott gesprochen: “Mein Leben, ganz voll von Dir, wird erst lebendiges Leben sein. Wen Du erfüllst, den richtest Du auf, ich aber, weil ich Deiner noch nicht voll, ich bin mir selber jetzt zur Last” (Augustinus 1987, X, 28,39 [549]). Klassischer formuliert: “Denn geschaffen hast Du uns zu Dir, und ruhelos ist unser Herz, bis daß es ruht in Dir” (Augustinus 1987, I, 1,1 [13]). Zwei Momente dieser auf den ‘inneren Menschen’ zielenden ‘imitatio Christi’ seien hervorgehoben: Nachfolge meint so – erstens – ‘Arbeit an sich selbst’ als Selbstentzifferung und pastorales Selbstgeständnis: “Ich beschwöre Dich, mein Gott, enthülle mir auch mich selbst, damit ich den Brüdern, die für mich beten sollen, die wunde Stelle eingestehe, die mir alsdann offenbar sein wird. Ich will mich noch einmal, noch genauer ins Verhör nehmen” (Augustinus 1987, X, 37,62 [587]). Mit ihr eng verknüpft ist – zweitens – ‘Enthaltsamkeit’ (continentia), die auf Selbstüberwindung durch Selbstentsagung zielt und als Gegenorientierung zur ‘concupiscentia’ und Strukturierung wie Kennzeichnung der ‘vita christiana’ dient: “Durch Enthaltsamkeit”, so Augustinus, “wird der Mensch gesammelt und zurückgeführt in die Einheit, von der entfernt er ins Vielerlei zerflossen war. Denn es liebt Dich zu wenig, wer neben Dir ein anderes liebt, das er nicht um Deinetwillen liebt” (Augustinus 1987, X, 29,40 [551]). Damit aber wird – höchst folgenreich – die sowohl fleischlich als auch sozial gedachte Horizontale zwischen Menschen in eine dominante Vertikale transformiert und zugleich entwertet, so dass Menschenverbindungen wie Verletzungen nur im Horizont der Ordnung Gottes gerechtfertigt bzw. als Ordnungsverstoß sichtbar gemacht werden können. ‘Arbeit an sich selbst’ meint aber nun nicht Anerkennung einer vermeintlichen Subjektivität, sondern zielt vielmehr umgekehrt auf radikale Selbstentsagung und Selbstüberwindung des eigenen Ich hin zu Gott; in ihr sind Selbstbejahung qua Selbstentzifferung und Selbstgeständnis wie Selbstverneinung als Selbstentsagung paradox ineinander verwoben. Augustinus bindet diese paradoxe Grundstruktur des ‘inneren Menschen’ – kurz: Selbstaffirmation und Negation zugleich – an den Gedanken der Gottebenbildlichkeit zurück, indem er auch die Genesis in dieser Perspektive des ‘Gehorsams’ interpretiert: “Und darum sagst Du nicht: ‘Es werde’ der Mensch, sondern: ‘Laßt uns den Mensch machen’; sagst nicht: ‘nach seiner Art’, sondern: ‘nach unserm Bild und Gleichnis’. Denn wer in seinem Geist erneuert ist und Deine erkannte Wahrheit vor Augen hat, bedarf nicht des Menschen als Wegzeigers, um doch nur Wesen der eigenen Art nachzuahmen (‘imitetur’), sondern unter Deiner Führung (‘te demonstrante’) prüft er selbständig, ‘was Dein Wille ist, was gut und wohlgefällig und 77
Dieser Terminus findet sich bei Augustinus immer wieder; dabei meint ‘Nachfolge Christi’ den durch Gnade ermöglichten Weg der ‘restitutio’ der im Sündenfall gefallenen Gottebenbildlichkeit des Menschen (vgl. dazu ausführlicher Frank 1994, 690f.).
78
Der Gedanke des ‘inneren Menschen’ gilt als überwiegend christliche Erfindung und taucht daher häufig in spätantiken und frühmittelalterlichen Texten christlicher Spiritualität auf; wortstatistisch findet sich der Begriff ‘homo interior’ am häufigsten bei Augustinus (vgl. Angenendt 1997, 255).
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vollkommen ist’ [...]. So wird der Mensch ‘erneuert zur Erkenntnis Gottes nach dem Bilde dessen, der ihn erschaffen hat’” (Augustinus 1987, XIII, 22,32 [805]). Die Paradoxalität dieser Grundfigur des ‘inneren Menschen’ – ein erst christlich etablierter und praktisch relevant gewordener Topos der ‘Anthropologie’ – lässt sich exemplarisch verdeutlichen: so nimmt Paulinus von Nola, ein Zeitgenosse Augustinus, in einem Antwortbrief (auf die Bitte, ein Bildnis von sich zu schicken) das Bild des “himmlischen” und “irdischen Menschen” in Analogie zu “Urbild” – als der “Form, nach der du selbst geformt bist” (Nola 1998, 717) – und Abbild auf und beschreibt sich selbst in dieser Differenz als einen “Zwiespalt mit mir selbst”, der einen “inneren Krieg” nach sich zieht: “Wie werde ich es wagen, mich für Dich zu malen, da ich zu offensichtlich das Bild des himmlischen Menschen verdunkle? [...] Ich erröte zu malen, was ich bin, ich wage nicht zu malen, was ich nicht bin; ich hasse, was ich bin, und ich bin nicht, was ich liebe” (Nola 1998, 719). So wünscht er sich: “Daß wir aus uns zu jenem Menschen verwandelt werden, der Gott entsprechend geschaffen worden ist und dessen Urbild der Himmlische ist, indem wir den (sc. alten Menschen) ablegen, der verdorben wird durch die Sehnsucht nach dem Irrtum. Dessen Bild möge Gott – so bitte ich – in mir zerstören und unser Bild, das heißt das irdische, in seiner befestigten Stadt vernichten, und sein Bild möge er in uns wiederherstellen und vollenden, nach dessen Vorlage gemalt zu werden uns nicht mit Scham erfüllt” (Nola 1998, 725). Paulinus von Nola endet: lass dies für mich “zum Untergang für meinen äußeren Menschen und zur Auferstehung für meinen inneren Menschen [werden], damit in mir die Sünde zu Fall kommt, die auf dem Fall der Seele beruht, und sich jener unsterbliche Mensch erhebt, der durch die Erhebung der Sünde gefallen ist” (Nola 1998, 727).
Vor dem Hintergrund der – hier insbesondere im Rückgriff auf die theologiegeschichtlich überaus bedeutsamen Überlegungen Augustinus – zunächst typologisch rekonstruierten Grundfigur einer christlichen, um die Problematik von angebrochener und ausstehender Erlösung und damit korrelierter Erbsündigkeit angereicherter ‘Anthropotheologie der Gottebenbildlichkeit’ lassen sich nun einige, für diese zentrale Weichenstellungen verdeutlichen, die nicht nur dogmatisch, sondern vor allem lebenspraktisch von großer Bedeutung sind79: (1) So lässt sich zunächst der hier rekonstruierte Weg von der hebräischen zur christlichen ‘Menschenerzählung’ als Prozess einer doppelten Umschrift interpretieren: die in der hebräischen Ursprungserzählung symmetrisch konstruierte und allein praktisch bedeutsame und entsprechend gehandhabte ‘anthropotheologische’ Differenz von Gottebenbildlichkeit und Sündenfall wird frühchristlich – v.a. durch Paulus – soteriologisch bearbeitet und zu einer eschatologischen Differenz von bereits an79
Zur Problematik der patristischen Reformulierung der christlichen Lehre zu einer weitgehend ontologisch argumentierenden Dogmatik vgl. die unter der Überschreibung ‘Hellenisierung des Christentums’ ausgetragene Debatte (Anstöße in Metz 1989 wie Überblicke in Geyer 1990 und Theobald 1996); mit ihr ist eine überaus bedeutsame Station der Etablierung einer christlichen Anthropotheologie markiert, die sich durch den Einfluss und die Rezeption griechischen Denkens zu einer zunehmend dualistisch argumentierenden ‘Substanzen-Lehre’ des Menschen als einem aus Fleisch und Geist zusammengesetzten ‘Doppelwesen’ entwickelt hat und zunehmend mit der christlich pointierten Differenz von Gottebenbildlichkeit und Sündhaftigkeit identifiziert worden ist. Auch aus ihr resultiert daher die – für ‘typisch christlich’ gehaltene und historisch zentrale – christliche Negation von Leiblichkeit und Sexualität. Vgl. zur ontologisch-dualistischen Problematik der griechisch-antiken Anthropologie Lorenz 1990 wie auch Dux 2000. Sie ist zugleich verknüpft mit einer ebenso dualistischen Interpretation der Wirklichkeit, die sich unter den Titeln des ‘Diesseits und Jenseits’ (vgl. exemplarisch Dinzelbacher 1999) einprägsam entwickelt hat und die christliche, ätiologisch-teleologisch strukturierte Verzeitlichungsperspektive auch substantial bestimmt hat.
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gebrochener und noch ausstehender Erlösung umgebaut. Diese erste christliche Umschrift ermöglicht aber die Wiedereinführung der Gottebenbildlichkeit als einer doppelten Figur – Ursprung und Ziel zugleich zu sein –, und führt so konsequent zu einer zeitlich gedachten Hierarchisierung der anfänglichen Symmetrie. In diesem Umbau der einstigen Ursprungserzählung von Paradies und Sündenfall zu einer ‘Paradiesesverheißung’ werden nun die Menschen in eine teleologische Spannung versetzt, die nun das, was in der Sprache dieser Tradition als Sünde und Sündenstrafe bezeichnet wird, als etwas Vorübergehendes wie zu Bearbeitendes auszeichnet. Spätestens aber mit der Ausformulierung der Erbsünden- und Gnadenlehre durch Augustinus und deren dogmatischer Etablierung auf der Kirchenversammlung zu Orange zerbricht diese zu einer Hierarchie ausgebaute differentielle Grundstruktur: die Degradierung des freien Willens und die daran anschließende paradoxe Selbstgestaltung – als mühsam einzuübender Selbstverzicht, der der Selbstentzifferung vor sich selbst wie vor berufenen anderen bedarf – führt die Menschen in einen Prozess gegen sich selbst, in den sich dann die kirchlich-institutionelle Praxis samt Lehrautorität heilsnotwendig einzulagern vermag. Der Paradiesesverheißung entspricht dabei nicht nur eine ‘Existenzentwertung’; vielmehr wird jene durch diese allererst ins Werk gesetzt. Kaum verwunderlich ist daher, dass gerade die Erbsündenlehre den – systematisch bedeutsamen – ‘Einsatzpunkt’ spezifisch christlicher Machtpraktiken markiert und so in den vielfältigen ‘Reformationen’ und ‘Gegenreformationen’ kirchlicher Machtpraxis zu einem bevorzugten und immer wieder heftig umstrittenen ‘Auseinandersetzungsfeld’ gerät. Gegen eine antik durchaus ungebrochen vorstellbare Selbstsorge gerichtet muss sie als theoretischer Versuch gelesen werden, die in der traditionellen ‘Genesis’-Erzählung aufbewahrte Kennzeichnung der Gebrochenheit, (Selbst-)Fremdheit und (Selbst-)Entzogenheit der Menschen neuerlich zur Geltung zu bringen, indem sie die ‘Selbstmächtigkeit’ der Menschen nicht nur begrenzt und relativiert, sondern schließlich gänzlich und grundsätzlich außer Kraft setzt; in dieser Perspektive ist sie systematisch notwendiges ‘Gegenstück’ einer durch die Einführung des Gedankens der (in sich selbst allerdings paradoxen) Erlösung vollzogenen Positivierung der menschlichen Gebrochenheit und Entzweiung, die nun – ursprünglich und schließlich auch endzeitlich gedacht – als aufhebbar ausgegeben wird und als Verheißung bereits gegenwärtig wirksam geworden ist. Doch gelingt der Versuch, die anfängliche Symmetrie der Differenz von Gottebenbildlichkeit und Sündenfall durch die Markierung und Insistenz auf einer radikalen Negativität wieder herzustellen, nicht, sondern befestigt nur – ex negativo – die eschatologisch gedachte Auflösung aller Differenzen, indem sie jene nun – ebenso differenzlos – als Gegenwart festschreibt. Damit aber ist das Theorem der Erbsünde Teil einer christlich hochambivalenten Thematisierung von Negativität und Entzogenheit, indem sie diese aus ihrer Differenzstruktur löst und in einer hierarchischen Aufteilung – zwischen ‘anzustrebender’ bzw. ‘geschenkter’ Positivität und zu überwindender Negativität – ‘vervorläufigt’, – mit dem (nur vermeintlich) paradoxen Effekt, dass gerade sie zum Hauptthema alltäglicher Lebenspraxis zwischen ‘verstelltem Paradies’ und ‘noch nicht eingetrete-
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ner Erlösung’ werden konnte und darin zugleich als Grundlage unzähliger Praktiken einer ‘Führung der Führungen’ (Foucault) ‘qua Angst’ fungierte80. ‘Anthropotheologisch’ führt diese Weichenstellung zu einer im theologischen Denken kaum auflösbaren ‘Konkurrenz’ zwischen der Größe und Herrlichkeit Gottes und der entsprechenden Nichtigkeit der Menschen, die als nahezu durchgängige Problematik allen theologischen Denkens gelten kann und die enorme Schwierigkeit markiert, Ordnung und Freiheit, Geschöpflichkeit und Selbständigkeit wie damit verbundene Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit der Menschen – insbesondere ontologisch – in einen Zusammenhang zu bringen. Die in der Tradition immer wieder zugunsten der Heilsbedeutung Gottes unternommene Problematisierung und Begrenzung oder gar Ausschaltung der ‘Selbstmächtigkeit’ der Menschen kennzeichnet nicht nur ein überaus zentrales Streitfeld christlicher ‘Anthropotheologie’, sondern bestimmt auch die jeweiligen Konzeptionen einer ‘imitatio Christi’81. Ein Blick auf den – erheblich später (1524 / 25) – zwischen Erasmus von Rotterdam und Martin Luther ausgetragenen Streit um den ‘freien Willen’ mag nicht nur die Kontinuität dieser Problematik exemplarisch belegen helfen, sondern erlaubt auch, zwei einander konträre Positionen christlicher ‘Anthropotheologie’ – wenn auch typologisch – zu verdeutlichen: in seiner ausdrücklich gegen Luthers Thesen gerichteten “Entgegnung” (Erasmus 1998, 14) sucht Erasmus nicht nur die “Widersinnigkeit” und “Unzweckmäßigkeit” (ebd. 21) einer radikalen Negation und Destruktion des ‘freien Willens’ – per Schriftbeweis – aufzuweisen, sondern auch dessen Unverzichtbarkeit sowohl systematisch als auch pastoral argumentativ zu begründen. Auch wenn sein eigenes Plädoyer ‘De libero arbitrio’ (1524, vgl. Erasmus 1998) bisweilen halbherzig und “kompromißlerisch” (Flasch 2000, 660) klingen mag, gesteht Erasmus doch dem freien Willen nur eine kleine, ja überaus geringe Wirksamkeit zu (vgl. Erasmus 80
Vgl. zum Zusammenhang von Erbsündenlehre und Heilszusage mit Führungstechnologien, die die Angst als Steuerungsimplus zu nutzen suchen, die Studien zur ‘Geburt des Fegefeuers’ von Le Goff (1991) wie auch die Überlegungen von Delumeau zur ‘Geschichte der Angst im Abendland’ (Delumeau 1989) und dem Zusammenhang von ‘Angst und Sünde’ (Delumeau 1983). – Dass die Problematik der Erbsünde auch heute noch heftigen Widerstand zu provozieren vermag, belegt nicht nur deren über Jahrhunderte anhaltende Dominanz in den menschlichen Selbstbeschreibungen der Christen, sondern markiert auch deren enorme alltagspraktische Bedeutung. Vgl. dazu nur die publizistische Aufregung, die Schnädelbachs massiver Angriff auf das ‘institutionalisierte Christentum’ (vgl. Schnädelbach 2000a) ausgelöst hat (vgl. Maier 2000, Schröder 2000, Spaemann 2000, Žižek 2000 wie Schnädelbachs Antwort (2000b)); dabei stützt sich Schnädelbachs Einschätzung des ‘Fluchs des Christentums’ auch gerade auf eine anthropologische Auslegung der Erbsündenlehre, die ihm als einer der ‘sieben Geburtsfehler des Christentums’ gilt. Doch seine scharfe Kontrastierung von jüdischem ‘Gerechtigskeitsdenken’ und christlicher ‘Menschenverachtung’ überzeugt insofern nicht ganz, weil sie letztlich daran festhält, Menschen- und Freiheitsrechte allein subjekt- und autonomietheoretisch begründen zu wollen, und so auch noch in der berechtigt scharfen Kritik der christlichen Hierarchisierung die darin – nur verzerrt tradierte – jüdische Differenzproblematik menschlicher Existenz unkenntlich lässt; vgl. insbesondere dazu die Problematisierung der ‘Abwesenheit Gottes’ in Žižek 2000.
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Die Geschichte dieses christlich zentralen Topos – vom ‘apostolischen Zeugnis’ über die konkret-praktische ‘Nachfolge’ bis hin zur christlichen Frömmigkeit und Sittlichkeit – lässt sich dabei als ein Prozess der zunehmenden Ethisierung und Verinnerlichung lesen, so dass sich – bei aller inhaltlichen Umstrittenheit der jeweiligen Vorstellungen eines in der ‘Nachfolge Christi’ ‘gottgefälligen Lebens’ – im Gedanken der ‘imitatio Christi’ nahezu durchgängig eine Ambivalenz zwischen Vorstellungen einer praktischen Gerechtigkeit und einer eher spirituell gedachten ‘Entsagung’ und ‘Selbstentäußerung’ beobachten lässt. Ein eindrücklicher Beleg der Wirkmächtigkeit dieses Topos lässt sich mit Thomas von Kempens Erbauungsbuch ‘De imitatione Christi’ (1441) markieren, das – als das nach der Bibel am meisten gelesene Buch der europäischen Literatur (vgl. Janowski 1978, 26) – nicht nur über Jahrhunderte den Gedanken der Nachfolge verbreitete und zum Inbegriff des wahren, vollkommenen Christenlebens machte (vgl. Blank 1985, 175-182), sondern auch eine wahre Fundgrube der verschiedenen Bearbeitungsmöglichkeiten des ‘inneren Menschen’ darstellt (vgl. Kempen 1997).
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1998, 95), so ist doch das, was Erasmus überaus entschieden ablehnt, unmissverständlich formuliert und argumentativ begründet: erstens – so Erasmus in Anspielung auf ein von Luther immer wieder gern aufgenommenes Paulus-Zitat (Röm 9,21-23) – ist es nicht nur logisch widersinnig (vgl. ebd. 102), sondern auch inhaltlich wider die Würde der Menschen zu behaupten, diese seien nichts anderes als “Ton in des Töpfers Hand” (ebd. 67), so dass “niemand außer dem Töpfer für die Beschaffenheit des Gefäßes, wie die auch sei, verantwortlich zu machen” sei (ebd.); mit Recht fragt Erasmus daher, “wozu [denn] der ganze Mensch taugen [würde], wenn Gott so an ihm wirkte, wie der Töpfer am Ton wirkt oder wie er an einem Steine wirken könnte?” (ebd. 104). Zweitens ist daher – weit schlimmer – in einer solchen Theologie die Göttlichkeit und Barmherzigkeit Gottes selbst angetastet, ist doch ein Gott, der “ein Gefäß, das keiner Selbstbestimmung fähig ist und das deshalb unmöglich etwas verschuldet haben kann, ins ewige Feuer geworfen” hat (ebd. 67), nicht nur “grausam” und “unbarmherzig” (ebd. 101), sondern seinerseits auch “äußerst kärglich” (ebd.); ein solcher Gott aber, der einer “fremden Sünde [Adams] wegen derart gegen das gesamte Menschengeschlecht wütete” (ebd. 101), sei ein “Ungeheuer” (Flasch 2000, 661), das alle ethischen Prädikate verloren habe, und ziehe nur folgerichtig Widerstand und Hass auf sich. Schließlich – drittens – ist auch in pastoraler Hinsicht der freie Wille unverzichtbar: nicht nur, weil angesichts der von Luther behaupteten Notwendigkeit allen Geschehens als durch Gott bewirkt jede “Ermahnung zur Buße” (ebd. 66) eine “zwecklose Mahnung” (ebd.), alle “Warnungen, Gebote, Drohungen und Vorwürfe” (ebd. 91) ebenso vergeblich wie unnötig und jede Rede von “Schuld” und “Gericht”, “Strafe”, “Verdienst” und “Lohn” (ebd.) schlicht unsinnig wären, sondern auch, “damit es [überhaupt] etwas gibt, was verdientermaßen den Gottlosen zugerechnet werden kann, die sich der Gnade Gottes willentlich entziehen” und “von uns ferngehalten werde die Verzweiflung ebenso wie die Sicherheit und damit wir zum Streben angespornt werden” (ebd. 104). Erasmus eigentümlich laxe Schlussfolgerung – “Mir sagt die Meinung derer zu, die einiges dem freien Willen, doch das meiste der Gnade zuschreiben” (ebd. 104), so “daß es [zwar] einen freien Willen gibt, der aber [...] ohne die dauernde Gnade Gottes unwirksam ist” (ebd.) – mag dabei verwundern und als Ausdruck einer oft kritisierten ‘Milde des Urteils’ (vgl. ebd. 16) oder eines – wie Luther formuliert – ‘aalglatten’ (vgl. Luther 1983, 283) und halbherzigen theologischen Denkens gelten. Sie bleibt aber auch dann weitgehend unverstanden, wenn sie nur als praktische Folge eines bewusst gepflegten Skeptizismus gegenüber ‘metaphysischen Überanstrengungen’ gelesen wird, der “unnötig tiefes Eindringen” (ebd. 105) zu vermeiden sucht, um nicht “über das Maß des menschlichen Geistes” (ebd. 18) hinauszugehen; vielmehr muss sie auch als kirchenpolitisch wie theologisch begründete ‘Unentschiedenheit’ (vgl. ebd. 17) aufgenommen werden, die nicht nur angesichts einer als Inquisition praktizierten kirchlichen Dogmatik, sondern auch aufgrund einer problematischen ‘Paradoxalität’ (vgl. 100) der traktierten Thematik versucht, “maßzuhalten” (ebd. 104)82. Kern der Überlegungen des Erasmus ist dabei eine in der Theologie der Erbsünde selbst ausgemachte Schwierigkeit, die zwar kurz berührt, nicht aber ausgeführt, geschweige kritisiert wird und fälschlich allein – bewusst oder unbewusst – der einseitigen Interpretation und dem “Übereifer” (ebd. 102) Luthers, nicht aber Augustinus zugerechnet wird (vgl. ebd. 40f.): “Man übertreibt daher die Bedeutung der Erbsünde ins Ungeheuerliche und behauptet, daß durch sie auch die hervorragendsten Fähigkeiten des Menschen so verderbt seien, daß er aus sich selber nichts 82
Trotz mancher theologischer ‘Paradoxienverliebtheit’ ist Erasmus Haltung dazu eindeutig: “Wo aber zur Feststellung der Wahrheit Grundsätze aufgestellt werden, dürfen Paradoxa dieser Art, die sich wenig von dunklen Andeutungen unterscheiden, wohl kaum zur Anwendung kommen” (Erasmus 1998, 103); seine methodologische Schlussfolgerung – “ich wenigstens tue hierbei nicht gern des Guten zu viel” (ebd.) – bedingt auch die inhaltliche Einschätzung, “daß gute Werke, wenn auch nicht vollkommene Werke, möglich sind, doch ohne daß der Mensch sich etwas darauf einbilden dürfte; auch ein Verdienst dürfte möglich sein, im ganzen aber wäre es Gott zu verdanken” (ebd. 104).
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anderes vermöge als Gott zu verkennen und zu hassen und daß nicht einmal jemand, der seines Glaubens wegen gerechtfertigt ist, irgendein Werk vollbringen kann, das nicht Sünde sei; und selbst die Neigung zum Sündigen, die in uns von der Sünde der ersten Eltern zurückgeblieben ist, sei – so behauptet man – Sünde und zwar eine dermaßen unausrottbare Sünde, daß es kein Gebot gebe, das ein Mensch, und sei er auch durch den Glauben gerechtfertigt, von sich her erfüllen könne; all die vielen Gebote Gottes sollen vielmehr nichts anderes bezwecken als die Verherrlichung der Gnade Gottes, die das Heil reichlich schenke ohne Rücksicht auf Verdienste” (ebd. 100f.). Nicht zufällig beschränkt sich daher seine eigene Interpretation des ‘Wesens des Christentums’ (vgl. ebd. 18f.) auf zwei Orientierungen, die er mit einer Mahnung verknüpft: “Befinden wir uns auf dem Weg der Frömmigkeit, so sollen wir freudig voranschreiten zum Besseren [...]; sind wir in Sünden hineingeraten, so sollen wir mit aller Kraft herauszukommen trachten, das Heilmittel der Buße auf uns nehmen und uns auf jede Weise bemühen um die Barmherzigkeit des Herrn, ohne die weder der Wille des Menschen noch sein Streben wirksam ist [...]. Dieses zu wissen, so wollte ich sagen, genügt meines Erachtens zur christlichen Frömmigkeit und man hätte nicht in unfrommer Neugierde eindringen sollen in jene abgründigen, um nicht zu sagen: überflüssigen Fragen” (ebd. 18). Kaum überraschend ist daher, dass Luther in seiner Antwort ‘De servo arbitrio’ (1525, vgl. Luther 1983) auf Erasmus gerade diese ‘Unentschiedenheit’ aufgreift und polemisch attackiert, ist sie für ihn doch nicht nur Ausdruck einer kirchenpolitisch nachvollziehbaren ‘Taktiererei’ – “Du willst nämlich weder in den Verdacht kommen, unsere Sache schlechthin zu verdammen, noch die Tyrannei des Papsttums antasten, was für Dich äußerst gefährlich werden könnte” (Luther 1983, 180) –, sondern auch Indikator eines auch in der Sache skeptischungläubigen Denkens: “In Summa, diese Deine Worte klingen so, als ob Dir nichts daran liege, was von wem auch immer wo nur immer geglaubt werde, wenn nur der Friede der Welt erhalten bleibe [...]. Denn mit diesem Vornehmen tust Du nichts anderes, als daß Du kundgibst, daß Du in Deinem Herzen eine Gesinnung nährst, die selbst durchaus nicht glaubt, daß ein Gott sei, und heimlich alle verlacht, die das glauben und bekennen” (ebd. 159). Luthers oft kommentierte Entschiedenheit – “Laß uns Menschen sein, die feste Meinungen haben, [...] feste Gewißheiten, die gewisser und fester sind als das Leben selbst und alle Erfahrung.” (ebd. 160) – ist daher nicht nur Folge einer kämpferischen Haltung, die in ihrer Prinzipialität – auch ex negativo – die Dominanz inquisitorischen Denkens belegt, sondern auch unnachgiebige Hartnäckigkeit in der Sache; Luthers ‘Lob’ und ‘Dank’ (vgl. ebd. 332f.), “daß Du als einziger von allen anderen die Sache selbst angegangen bist, das heißt den eigentlichen Kern der Sache, und mir nicht zugesetzt hast mit jenen nicht eigentlich zur Sache gehörenden Fragen über das Papsttum, das Fegefeuer, den Ablaß und ähnlichen Dingen, die mehr Lappalien als wirkliche Probleme sind, mit denen bisher fast alle auf mich vergeblich Jagd gemacht haben” (ebd. 332f.), bestätigt daher die Zentralität der umstrittenen Thematik: “Denn darauf sind wir aus, daß wir untersuchen, was der freie Wille vermag, was er zuläßt, wie er sich zur Gnade Gottes verhält. Wenn wir das nicht wissen, wissen wir rein gar nichts von den Angelegenheiten der Christen und werden schlimmer sein als alle Heiden” (ebd. 169). Luthers radikale und entschiedene Bestreitung der ‘Nichtswürdigkeit’ und ‘Nichtsnutzigkeit’ des freien Willens (vgl. exemplarisch 197f.), ja schließlich seiner Existenz überhaupt (vgl. ebd. 200) ist dabei zunächst Folge der gläubigen Einsicht, “daß menschliche Macht, Kraft, Weisheit, Beschaffenheit und alles, was unser ist, völlig nichts ist, wenn es mit der göttlichen Macht, Kraft, Weisheit, Erkenntnis und Beschaffenheit verglichen wird” (ebd. 328f.). Sie geht einher mit einer sündentheologisch dominierten ‘Anthropotheologie’, in der der Mensch aufgrund seiner grundsätzlichen (und insofern nicht auf Fleisch und Geist auf- und verteilbaren) ‘Selbstsucht’, ‘Undankbarkeit’ und ‘grundsätzlichen Widerwilligkeit gegen Gott’ (vgl. Pesch 1983, 144f.) nichts anderes ist als “lebendiger Widerspruch zu Gott” (Pesch 1983, 145), so dass – durch Christus vermittelt – ‘nur Gott allein’ ihn daraus zu erretten vermag. Luthers bündelnde Begründung seines Fazits, “daß es keinen freien Willen kann” (ebd. 332), markiert nicht nur dessen prinzipielle
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Konkurrenzlogik, sondern bekräftigt auch die Zentralität der Erbsündenlehre: “Denn wenn wir glauben, es sei wahr, daß Gott alles vorherweiß und vorherordnet, dann kann er in seinem Vorherwissen und in seiner Vorherbestimmung weder getäuscht noch gehindert werden, dann kann auch nichts geschehen, wenn er es selbst nicht will. [...] Ebenso, wenn wir glauben, daß die Erbsünde uns so verderbt hat, daß sie auch diejenigen, die vom Geiste getrieben werden, durch den Widerstand gegen das Gute außerordentlich böse zu schaffen macht, so ist es klar, daß an dem Menschen, der den heiligen Geist nicht hat, nichts übrig ist, was sich zum Guten wenden könne, sondern nur zum Bösen. [...] In Summa: wenn wir glauben, daß Christus die Menschen durch sein Blut erlöst hat, sind wir gezwungen zuzugeben, daß der ganze Mensch verloren gewesen ist; wir werden sonst Christus entweder überflüssig oder zum Erlöser des wertlosesten Teiles (im Menschen) machen” (ebd. 331-332). Und doch verdankt sie sich auch einer pastoralen Sorge, die – insbesondere in endzeitlich aufgeladenen Zeiten – nicht unterschätzt werden darf und Luthers theologischer Prinzipialität einen anderen Klang zu geben vermag: “Ich bekenne fürwahr in bezug auf mich: wenn es irgendwie geschehen könnte, möchte ich nicht, daß mir ein freier Wille gegeben werde, oder daß etwas in meiner Hand gelassen würde, womit ich nach dem Heil streben könnte. Nicht allein deswegen, weil ich [...] so vielen Gefahren [...] nicht Stand zu halten [...] vermöchte. Sondern auch weil ich [...] dennoch gezwungen wäre, fortwährend im Ungewissen zu arbeiten [...]. Denn mein Gewissen würde, wenn ich auch ewig lebte und wirkte, niemals gewiß und sicher, wieviel es tun müßte, damit es Gott genug tue [...], immer bliebe der beunruhigende Zweifel zurück, ob Gott es gefalle oder ob er irgend etwas darüber hinaus fordere [...]. Aber jetzt, da Gott mein Heil aus meinem Willen herausgenommen und in seinen Willen aufgenommen hat, und nicht durch mein Werk oder Laufen, sondern durch seine Gnade und Barmherzigkeit mich zu erhalten verheißen hat, bin ich sicher und gewiß, daß er getreu ist und mir nicht lügen wird [...]. So sind wir auch gewiß und sicher, daß wir Gott gefallen, nicht durch das Verdienst unseres Werkes, sondern durch die Huld seiner uns verheißenen Barmherzigkeit” (ebd. 326-327). Es ist gerade diese eigentümliche Verknüpfung von ‘Heilssorge’ und ‘Gewissheitsstreben’, die die reformatorischen Auseinandersetzungen zu kennzeichnen vermag. So markiert Luthers Argumentation nicht nur eine theologiegeschichtlich überaus bedeutsame Erneuerung der Augustinischen Theologie (vgl. Flasch 2000, 658), die schließlich die langen Bemühungen, “den antiken Vernunftbegriff unter spätaugustinischen Prämissen fortzuführen” (ebd. 662), zum Scheitern verurteilt, sondern belegt – auch und gerade in ihrem öffentlichen Erfolg der gegen die ‘jahrtausendalte Abschwächung’ (vgl. Flasch 2000, 658) gerichteten Radikalisierung der Erbsündenlehre – die Effektivität und paradoxe Struktur der christlichen Seel- und Selbstsorge. Auch wenn mit Luther eine einschneidende Wende markiert werden kann, in der “für einen Teil der europäischen Menschheit das päpstliche Weltsystem” (ebd. 663) einstürzte, so hat auch gerade Luther in seiner Insistenz auf einem “anthropologischen Pessimismus” (ebd. 663) zu einer folgenreichen und anhaltenden Befestigung religiöser und theologischer Praxen beigetragen, die schließlich insgesamt zu einer erheblichen Stärkung und Vervielfältigung weltlich-geistlicher ‘Regierungspraktiken’ geführt hat (vgl. Foucault 1992, 10f.) – sei es als reformatorisch betriebene Individualisierung, Verinnerlichung und Privatisierung bisheriger kirchlicher Pastoral, sei es als gegenreformatorische Bekräftigung und Verschärfung kirchlich-traditioneller Pastoral (insbesondere durch das Tridentinum).
(2) Die insbesondere von Augustinus vorgenommene, durch Luther bekräftigend erinnerte und das christliche Nachdenken insgesamt prägende hierarchische Umschrift der ‘Genesis’ lässt sich daher verstehen als ein zentrales – nämlich anthropotheologisch argumentierendes – Moment innerhalb der Etablierung und Verfestigung einer spezifisch christlichen Machtpraxis, die Foucault sehr treffend als ‘Pastoral-
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macht’ gekennzeichnet hat. Deren hauptsächliche Kennzeichen sind zwei Momente83, die mit der augustinischen Erbsündenlehre und der darin vorgenommenen Degradierung des freien Willens eng verknüpft sind: es ist, erstens, die Einführung und Begründung einer institutionell heilsnotwendigen ‘Führung der Lebensführungen’ (Foucault), so dass alle Individuen – unabhängig von Alter und Stellung (vgl. Foucault 1992, 9) – in ihrer jeweiligen Lebensführung ihr ganzes Leben hindurch auf die Führung durch eine kirchliche Macht angewiesen sind, die sich aber gerade zunächst nicht als ‘Repressionsmacht’ durchsetzt, sondern als Macht ‘pastoral’ begründet und sakramental praktiziert wird, um die Menschen ‘zu ihrem Heil’ zu lenken. Auf sie gestützt und mit ihr verbunden ist, zweitens, ein bereits umrissenes paradoxes Selbstverhältnis: Selbstaffirmation als Selbsterforschung und ‘Hermeneutik des Begehrens’ (Foucault) einerseits, Selbstnegation als Selbstüberwindung und Selbstopferung andererseits. Mit der Verknüpfung beider Momente aber vertieft sich die Macht, indem sie sich gerade nicht (bloß) als ‘Gewalt’ und ‘Todesdrohung’ formuliert (die ja das, was sie zu zwingen versucht, immer notwendig voraussetzt), sondern sich als stellvertretende Sorge, Verantwortung und ‘Lebensermöglichung’ auszugeben vermag, indem sie sich im Selbstverhältnis der Menschen einnistet und dieses von innen figuriert. Gehorsam beruht daher gerade nicht nur auf der Einhaltung eines autoritären Gesetzes, sondern verwandelt sich durch den Verzicht auf jeden Eigenwillen in ‘freiwilligen Gehorsam’ und umfassende Abhängigkeit. In dieser paradoxalen Verknüpfung von Selbstsorge und Selbstnegation, ja Selbstopferung, die sich mit der Etablierung einer notwendigen pastoralen Führung der eigenen Lebensführungen koppelt, diagnostiziert Foucault den Kern der Pastoralmacht als einer doppelten Selbstlosigkeit: ihr Sinnbild ist der seinerseits selbstlose ‘gute Hirte’, der über seine Herde wacht, sie zugleich führt und ihr hingebungsvoll dient. So beruht – wie Foucault formuliert – der “tiefgehende Bruch mit den Strukturen der antiken Gesellschaft”, der mit der “Entwicklung der ‘Pastoralmacht’ zur Menschenführung” (Foucault 1988c, 59) vollzogen wird, nicht so sehr auf der Ablösung antiker Ethiken der ‘Selbstsorge’ durch die Etablierung einer juridisch-kodifizierten Moral und “christlichen Doktrin des Fleisches” (Foucault 1986, 177), sondern vielmehr auf der Einführung dieser Figur der ‘Seelsorge’ als spezifisch christlicher ‘Führung der Führungen’84. 83
Ausdrücklich sei vermerkt, dass die reformatorische Verschiebung der christlichen Pastoral – insbesondere durch die (zumindest theoretische) Festschreibung des ‘allgemeinen Priestertums’ und die Reduktion der Sakramente und ihrer Bedeutung – nicht zu einer Aufhebung der ‘Führung der Führungen’, sondern insgesamt zu einer verstärkten Individualisierung, Verinnerlichung und Privatisierung derselben geführt hat, die sich vor allem der Weigerung Luthers verdankt, die Stellung und Heilsnotwendigkeit der Kirche rechtlich und sakramental zu begründen und festzuschreiben. Vgl. dazu auch Hahn 2000, 197-236. Foucaults knappe Skizze der Grundstrukturen einer christlichen Pastoralmacht resultiert dabei aus einer eher ‘katholisch’ geprägten Perspektive, die sich aus der Dominanz der katholischen Kirche in Frankreich und Europa erklärt; sie bedürfte daher auch einer reformatorisch geprägten Ergänzung, die allerdings weniger als ‘Gegenbild’ denn als ‘Fortschreibung’ pastoraler Techniken entwickelt werden muss. Vgl. zu einer Analyse ‘katholischer’ Pastoralpraktiken die Überlegungen in Steinkamp 1999.
84
Zum sowohl christlichen als auch neuzeitlich säkularisierten Konzept der Pastoralmacht bei Foucault vgl. insbes. dessen Überlegungen in Foucault 1988c wie 1994, 243-250; insbes. im zwar fertiggestellten, jedoch nicht veröffentlichten Band 4 von ‘Sexualität und Wahrheit’ hat sich Foucault unter dem Titel ‘Die Geständ-
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Vor diesem Hintergrund lässt sich nun ein überaus zentrales und alltagspraktisch kaum zu überschätzendes Moment christlicher Pastoral erläutern, das als Paradigma christlicher Seelsorge gelten kann und die religiös-theologisch wie lebensweltlich wohl bedeutsamste christliche ‘Technologie des Selbst’ als einer ‘Führung der Führungen’ (Foucault) markiert: die Beichte als dem – späteren – Inbegriff von Buße schlechthin. Sie kann in ihrer Grundstruktur nicht nur als eine praktische ‘Übersetzung’ – Inszenierung und Ritualisierung – dogmatisch gefasster Wahrheiten gelten, indem sie menschliche Hinfälligkeit und Sündhaftigkeit mit – kirchlich vermittelter – göttlicher Gnade und vergebender Liebe relationiert, sondern markiert darin den überaus effektiven Mechanismus einer ‘subjektivierenden Unterwerfung’ der Menschen, der – trotz vielfacher theoretischer Bestreitung – bis weit ins 20. Jahrhundert hinein von durchaus anhaltender und bisweilen sogar ungebrochener Wirksamkeit geblieben ist85. Dabei lässt sich die Geschichte der Beichte als ein Prozess zunehmender Extensivierung und Intensivierung beschreiben: während noch bis ins hohe Mittelalter hinein die Buße – als bereits frühchristlich fest verankertes Sakrament – auf die Wiedergutmachung von als Sünden aufgefassten äußeren Handlungen praktiziert wurde, verschob sich spätestens seit dem 12. Jahrhundert deren Schwerpunkt auf die in den Handlungen implizierten Intentionen, so dass mit Sünde zunehmend weniger die einzelnen ‘Missetaten’, denn die darin sich zum Ausdruck bringende innere Haltung bezeichnet wurde (vgl. Hahn 2000, 198ff.). Erst dieser “Wandel von einer Schamkultur zu einer Schuldkultur” (Dinzelbacher 2001, 43) macht dabei die Etablierung der Beichte verständlich und geht einher mit einer Verinnerlichung der Buße; nicht äußere Wiedergutmachung (satisfactio), sondern allein innere reuige Zerknirschung (contritio) hilft, die innere Wirklichkeit der Sünde zu tilgen, so dass schließlich die “reuige Seele [...] der Strafe nicht mehr” (Hahn 2000, 199) bedarf. Darin zentral aber ist die Pflicht, die eigene Schuld zu thematisieren und zu beichten; so hat die christliche Kirche auf dem 4. Laterankonzil (1215) die jährliche Beichte – in der Osterzeit beim Ortspfarrer – im Canon 21 ‘Omnis utriusque’ (vgl. Ohst 1995, 1f.) für beiderlei Geschlecht verbindlich festgelegt und ihr damit eine – mindestens nisse des Fleisches’ ausführlich mit dem christlichen Pastorat beschäftigt (vgl. Foucault 1986, 20); vgl. insgesamt auch Foucault 1993 und 1993a, in denen Foucault seine machttheoretische Perspektivenverschiebung – von Disziplinar- zu Gouvernementalitätsüberlegungen – erläutert. Die v.a. bei Erdmann 1995 und Lemke 1997 betonte Interpretation, die Etablierung der Pastoralmacht sei primär mit der Ablösung einer antiken Ethik der Selbstsorge durch eine streng juridisch-kodifizierte Moral als einer “christlichen Doktrin des Fleisches” (Foucault 1986, 177) verbunden, findet bei Foucault selbst nur wenig Anhalt (vgl. Foucault 1986, 121f. wie 177ff.); vielmehr betont Foucault immer wieder den gerade nicht gesetzlichen Charakter eines ‘freiwilligen Gehorsams’ der Unterworfenen gegenüber dem ‘guten Hirten’ (vgl. Foucault 1988c, 60ff.): erst die Etablierung einer nicht repressiv-gebietenden autoritären (die das Zuzwingende bzw. Gezwungene seinerseits als frei voraussetzt und damit als Widerstand allererst erzeugt), sondern vielmehr fürsorglichen und heilsverantwortlichen pastoralen Macht ermöglicht die Etablierung einer umfassenden und subtilen (weil für sich selbstlosen und anderenorientierten) Machtpraktik der ‘Führung der Führungen’. Vgl. dazu auch Mette 1995 und Steinkamp 1999, der diese Struktur der ‘sanften Macht’ als spezifisch christliche ‘Pastoraltechnologie’ herausarbeitet. 85
Wenig erstaunlich ist daher, dass die ‘Beichte’ auch diesseits religiös-theologischer Thematisierungen und ‘Erneuerungsversuche’ (vgl. exemplarisch Baumgartner 1978) inzwischen vielfach soziologische, historische und auch pädagogische Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat; vgl. dazu insbesondere die – diese Auseinandersetzungsperspektive wohl anstoßende – Studie von Hahn (1982, zit. Hahn 2000) wie auch die Arbeiten von Browe 1933, Ohst 1995, Freimuth 1999, Bilstein 2000 und 2001a wie Dinzelbacher 2001 (dort auch jüngste Literatur). Schwerpunkt dieser Forschungen ist dabei insbesondere die Frage nach der Bedeutung von Selbstthematisierungsprozessen für die jeweilige Subjektkonstitution. Doch ist die Einsicht in den disziplinierenden Zusammenhang von Selbstkontrolle und Fremdkontrolle nicht erst Resultat moderner Religionssoziologie, wie der Schreiber des Abtes von Zweifalten 1507 verdeutlicht: “Die Priester und Bischöf haben uns Laien unterdruckt und in die höchste Dienstbarkeit geführt. Denn erstlich haben sie erdacht ein Weg, daß wir ihnen müssen bekennen unser Heimlichkeit durch die Beicht. Zum andern sind wir gezwungen, hineinzugehen in die Kirchen und ihnen auch Geld zu opfern” (zit. nach Dinzelbacher 2001, 50).
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in der katholischen Kirche bis heute anhaltende – institutionelle Wirklichkeit gegeben, so dass schließlich das Versäumnis der Pflichtbeichte und des Sakramentenempfangs als Indiz der Zugehörigkeit zu ketzerischen Gruppierungen gelten konnte und zur Einschaltung der Inquisition führte. Aus dieser enorm wirksamen ‘Revolutionierung’ der christlichen Pastoral86 resultierte dabei nicht nur die Einführung von Beichtregistern und Beichtzetteln, die – bis weit ins 18. Jahrhundert hinein – bei Policey und weltlicher Obrigkeit vorgelegt werden mussten; vielmehr setzte sich durch diese Verallgemeinerung der Beichtpflicht (vgl. Hahn 2000, 204) eine erstaunlich ausgeweitete Form der Selbstthematisierung durch, ging es doch im Beichtgeständnis nicht bloß um das – meist überaus knappe – Eingeständnis eigener Verfehlungen, sondern auch – und dann vor allem – um die Erkundung und Erhellung der ‘circumstantiae peccatorum’: die (in vielen Beichtspiegeln nachlesbare) Befragung ‘quis, quid, quando, ubi, cur, quemadmodum, quibus admiculis’ (vgl. Bilstein 2000, 616) vermag nicht nur die Weite der Beichtkasuistik eindrücklich zu belegen, sondern stellt als Anleitung zur Gewissenserforschung ein – bis heute wirksames – “Raster” der Selbstbeurteilung und damit ein “Deutungsmuster” von Individualität dar (vgl. Hahn 2000, 208). So wird die Thematisierung und das (freiwillige) Geständnis innerer Seelenzustände zur dominanten Form der Beichte schlechthin87; in ihr bringt sich das Individuum als ‘Sündenselbst’ allererst hervor, indem es sich – durch das Beichtgeheimnis geschützt und bereits frühmittelalterlich als Ohrenbeichte praktiziert (vgl. Bilstein 2000, 611) – einem Beichtvater gesteht und ‘entblößt’ (vgl. Hahn 2000, 230f.). Die Figur der christlichen (katholischen) Beichte repräsentiert so ‘in nuce’ die Figuration christlicher Pastoral, indem in ihr die ‘Lebensführung’ der Christen – gerade nicht in repressiver oder bloß äußerlich disziplinierender Absicht – der Führung durch andere unterstellt wird. Deren Funktion würde daher missverstanden, beschränkte man sie auf die Funktion sozialer Kontrolle oder gar bloß einer Sanktionsinstanz; der ‘Pastor’, Beichtvater oder geistliche Begleiter fungierte vielmehr als Richter und Zeuge eines durch Fremdkontrolle inszenierten Prozesses zunehmender Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung. Auch wenn “eine der vielleicht einschneidendsten Veränderungen des religiösen Lebens durch die europäische Reformation [...] in der Umgestaltung der Institution der Beichte” (Hahn 2000, 215) bestanden hat, so überrascht dennoch, dass die Beichte – trotz Aufhebung ihrer Heilsnotwendigkeit und Sakramentalität und der für diese bedeutsamen Mittlerfunktion des Priesters – auch reformatorisch “keineswegs an Relevanz” (ebd.) verloren hat; so wird die Beichte gerade nicht ersatzlos abgeschafft, sondern ändert ihre Form, theologische Bedeutung und ethische Funktion, indem sie sich ausdifferenziert und zu einer “Zweiteilung” (Hahn 2000, 217) in individuell verselbständigte Gewissenserforschung und durch Priester oder Gemeinde vollzogene Überwachung des äußeren Lebens führt (vgl. ausführlicher Hahn 2000, 215-225). Darüber hinaus kann sie als ein weiterer Schritt der Verknüpfung und Intensivierung von Selbsterforschung und Selbstkontrolle verstanden werden, der auch reformatorisch nicht auf die Instanz eines ‘Führers der Führungen’ verzichtet und schließlich sowohl eine “gesamtbiographische Verantwortung” (ebd. 218) hervorbringt als auch die Konstruktion einer
86
Die Bedeutung der effektiv durchgesetzten Pflichtbeichte (vgl. Browe 1933) sowohl für die Christianisierung Europas als auch die damit verknüpfte Individualisierung kann nicht überschätzt werden; vgl. zu den unterschiedlichen Folgen dieser Pastoralpraktik die Übersicht bei Dinzelbacher 2001, 46-60.
87
Vgl. zum bedeutsamen Zusammenhang von Beichte, Geständnis und Folter auch die Ausführungen in Hahn 2000, 209-214, der den Einzug der Folter in die Rechtsverfahren (auch) mit dem Prozess zunehmender Verinnerlichung in Verbindung bringt, durch den der ‘Beweis’ einer Schuld zunehmend allein im ‘Bekenntnis’ gesehen wird – und so die Folter als ein “Instrument zur Erzeugung von Geständnissen” (Hahn 2000, 213) ermöglicht. Auch hier ging es dabei gerade nicht bloß um das ‘erzwungene Geständnis’, sondern – analog zur Beichte – um die Preisgabe von Informationen, über die allein der Täter verfügte; auch die Wiederholung des Geständnisses nach der Folter sollte erlauben, einen inneren (!) Zusammenhang zwischen Tat und Täter herzustellen.
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“Sündenbiographie” (ebd. 228) nach sich zieht88: “Das Resultat ist eine generelle Rationalisierung des Lebensführung” (ebd. 222), wie Hahn mit Verweis auf die einschlägigen Arbeiten Webers festhält89. So spricht vieles dafür, die Institution der Beichte insgesamt gerade nicht bloß als einen Mechanismus der Disziplinierung im Kontext repressiver Machtstrategien zu lesen, sondern sie vielmehr – wie von Foucault angeregt (vgl. Foucault 1977, 27-49) – als einen Prozess der produktiven Konstruktion einer spezifischen Formation des Selbst zu verstehen, die – weil eher repressionstheoretisch missverständlich – nicht angemessen mit ‘erzwungener Individualität’ (Dinzelbacher 2001) markiert werden kann, sondern weit mehr als Bedürfnis der Individuen selbst aufgenommen werden muss90. Foucaults These, dass der Mensch abendländisch zum “Geständnistier” (Foucault 1977, 77) geworden sei, zielt daher weniger auf die mit der Pastoralpraktik verbundene “Geständnispflicht” – “alles muß gesagt werden” (Foucault 1977, 30), soll die erteilte Absolution überhaupt wirksam sein –, sondern bezieht sich viel mehr auf die (selbst mit Lust verbundene) “quasi unendliche Aufgabe, sich selbst oder einem anderen so oft als möglich alles zu sagen” (ebd. 31). Ihr Effekt ist ein auf das Innere der Individuen gerichtete Selbstwahrnehmung und Selbststeuerung, die allererst das, was sie beobachtet, qua Differenzierung des Seelenlebens und ‘culpabilisation’ (Delumeau 1983) hervorbringt (vgl. Dinzelbacher 2001, 58) und in einem Prozess der Subjektivation beschreibbar macht, der Selbstaffirmation und Selbstnegation von Anfang an paradox ineinander verschränkt. In ihm wird unter dem ‘Deckmantel’ einer an der Defizienz der Menschen orientierten ‘armen Anthropologie’ (vgl. Blumenberg 1981, 104) die Illusion einer ‘reichen Anthropologie’ genährt, der Mensch könne sich qua Selbstthematisierung gänzlich vor sich selbst bringen und – gegen alle Negativität – schließlich restlos positivieren (vgl. Bilstein 2000, 625).
Es ist diese – hier nur in ihren Grundlinien typologisch rekonstruierte – dogmatische Figuration und pastoral betriebene Formation des ‘inneren Menschen’, die die Spezifik christlicher Pastoralmacht kennzeichnet; in ihr wird die ‘Selbsttätigkeit’ der Einzelnen nicht qua Repression zurückgedrängt, sondern – wenn auch im Rahmen einer im Gedanken der ‘Imitatio Christi’ vorgeschriebenen ‘Perfektion’ der Menschen 88
Was reformatorisch als Individualisierung – als Verinnerlichung wie Privatisierung – der Selbsterforschung beschrieben werden kann, wird gegenreformatorisch gerade nicht zurückgedrängt, sondern – im Kontext traditioneller katholischer Praktiken – aufgegriffen und intensiviert; so können gerade die zentralen Aussagen des Konzil zu Trient (1551) zu Rechtfertigung und Buße nicht nur als gegenreformatorische Klarstellung und Bekräftigung bisheriger katholischer Dogmatik und Pastoral gelten, sondern markieren darin auch eine Intensivierung bisheriger Beichtpraktiken, die nicht zufällig auch zu einem Kernpunkt jesuitischen Wirkens wurden. Zugleich erfährt die Beichte auch nachreformatorisch – insbesondere im Pietismus Speners – eine neue Aufmerksamkeit; vgl. dazu Hahn 2000, 197-236 wie auch Dinzelbacher 2001.
89
Hahn verbindet damit eine – religionssoziologisch argumentierende – Ergänzung der Zivilisationsthese von Elias, indem er den Prozess der ‘Selbstdomestikation’ nicht nur als Resultat höfischer ‘Verhüllungspraktiken’ (Dissimulation und Simulation), sondern auch christlicher ‘Enthüllungspraktiken’ auslegt und beide Momente in der Praxis der Beichte rekonstruiert; vgl. Hahn 2000, 230-231: “Geheimnis und Verhüllung, Selbstkontrolle und Selbsterkenntnis, Verbergen und Offenbaren, Bekennen und Simulieren bzw. Dissimulieren erweisen sich als zwei Seiten eines Prozesses, der von religiösen, therapeutischen und politischen Zielsetzungen ergriffen und befördert werden kann und dessen Resultate jene eigentümliche Selbstdomestikationen sind, die die Moderne auszeichnen” (ebd. 231).
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Vgl. dazu auch Dülmen (1997, 40f.), der die Beichte als “Mittel der neuzeitlichen Gewissensbildung” (ebd. 41) versteht und insofern als einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Individualisierung einschätzt; vgl. ebenso die ausführlichen Arbeiten von Kittsteiner (insbes. 1995) zur Konstitution des modernen Gewissens wie die von Störmer-Caysa herausgegebene Textsammlung ‘Über das Gewissen’ (Störmer-Caysa 1995).
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– ausdrücklich focussiert, als das zentrale Bearbeitungsfeld aufgewiesen und vielfältigen Praktiken einer ‘Formation des Selbst’ unterworfen. Ihre Grundfigur einer paradoxen Justierung und Figuration des Selbst – Selbstaffirmation als Moment der positivierenden Selbsterforschung, Selbstnegation als Ziel wie bereits praktizierte Struktur des reuigen Selbstgeständnisses – führt die Menschen in einen anhaltenden Prozess gegen sich selbst, in dem diese in ihrem Innern geteilt werden und sich als zu überwindende erlernen, die für ihre eigene Lebensführung der Führung anderer notwendig bedürfen. Die Geschichte der christlichen Pastoral lässt sich – gerade am Beispiel der Beichte – daher nicht nur lesen als eine Geschichte der Etablierung und andauernden Differenzierung wie Verfeinerung bedeutsamer Technologien des ‘Führens der Führungen’, die nur unangemessen repressionstheoretisch rekonstruiert werden kann; vielmehr geht sie einher mit der Implementierung und Intensivierung produktiver Selbsttechnologien, die daher insgesamt als – qua “Teilungspraktiken”, die “das Subjekt entweder in seinem Innern” teilen oder “von den anderen” abteilen (Foucault 1994, 243)91 – eine spezifische “Art von individualisierender Macht” (Foucault 1994, 249) beschrieben werden können und die neuzeitliche ‘Geburt des Subjekts’ auch pädagogisch92 strukturell vorbereiten93. 91
Die Analyse der ‘Teilungspraktiken’ ist für Foucault machttheoretisch von großer Bedeutung (vgl. auch Studie I); sie stellen daher einen zentralen (und durchgängigen) Aspekt seiner unterschiedlichen Machtstudien dar, kennzeichnen sie doch eindrücklich den Doppelsinn von Subjektivation: sich hervorzubringen und als Selbst zu positivieren, indem man sich selbst in spezifischer Hinsicht negiert. Foucaults Analysen der neuzeitlichen “Aufteilung in Verrückte und geistig Normale, in Kranke und Gesunde, in Kriminelle und ‘anständige Jungs’” (Foucault 1994, 243) vermag daher nicht nur diesen Zusammenhang von Selbstpositivierung und Negativierung zu illustrieren, sondern markiert auch die Konstitutionsweise des ‘neuzeitlichen Subjekts’ selbst. Sie ließe sich daher auch pädagogisch rekonstruieren, geht doch die ‘Konstruktion des autonomen Selbst’ pädagogikgeschichtlich auch einher mit der – insbesondere in pietistischer “Seelenspionage” (Kersting 1992, 207) betriebenen – ‘Konstruktion’ des ‘pervers-lüsternen Selbst’; vgl. dazu insbesondere die Hinweise in Meyer-Drawe 1996, 661-662.
92
Pädagogisch außerordentlich bedeutsam ist dabei, dass gerade die Traditionen, die sich nachreformatorisch der Bearbeitung des ‘inneren Menschen’ verschrieben haben – wie u.a. Pietismus, Jansenismus und Jesuiten –, auch als zentrale Traditionen der Pädagogik gelten können; in ihren Konzeptionen und Legitimationen des jeweiligen Wirkens ist dabei der Zusammenhang von struktureller Defizienz der Menschen (Erbsündigkeit) und geradezu heilsnotwendiger Gegenbearbeitung (Pastoral) als dem zentralen (legitimatorischen) Kern ihrer jeweiligen Praxen der ‘Arbeit mit Kindern’ besonders eindrücklich beobachtbar. Insbesondere die pädagogischen Schriften Franckes bieten eine überaus reichhaltige Fundgrube für die Entwicklung und Verfestigung pastoraler Technologien, die die Führung der Kinder als Brechung derer Eigen- und Mutwillen gerade ‘mit aller Liebe, Sanftmut und Geduld’ (vgl. exemplarisch Francke 1957, 18) zu bewerkstelligen und als ‘Seelen-‘ und ‘Gemütsführung’ qua ‘Selbsterforschung’ und ‘Selbstkontrolle’ (auf beiden Seiten) zu justieren suchen; vgl. dazu auch die ‘Instructionen für die Praeceptores’ (Francke 1957, 107-119, bes. 112). Vgl. insgesamt zum Zusammenhang theologischer Apologetik und pädagogischer Argumentation die detaillierten Studien zu sowohl reformatorischen als auch gegenreformatorischen Traditionen der Pädagogik von Osterwalder 1992 wie 1995 als auch die Hinweise bei Kersting 1992 und Böhm / Grell 1995; sie belegen insgesamt – spätestens für das 18. Jahrhundert – die Zentralität von Erbsündenlehre und einer auf den ‘inneren Menschen’ gerichteten Pastoralpraxis für die Konstitution der Pädagogik überhaupt. Zu einer kurzen Kulturgeschichte des ‘bösen Kindes’ vgl. auch Richter 1993.
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Der oft vorgetragenen These, dass sich Individualitätsbewusstsein und -aufmerksamkeit erst Renaissance und Humanismus verdankten, muss daher ausdrücklich widersprochen werden, übersieht diese doch die lange – allerdings pastoral begründete – Aufmerksamkeit für das Individuum; vielmehr muss die neuzeitliche ‘Wende zum Subjekt’ auch als Versuch gelesen werden, die sich zunehmend abzeichnenden Schwierigkeiten und Diskrepanzen zwischen Individualität und objektiver Ordnung durch Neujustierung des Verhältnisses beider zu bearbeiten; vgl. dazu auch Ohlig 2001 wie insgesamt Dülmen 1997 und 2001.
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II. Zum Ende des 18. Jahrhunderts nun bricht diese traditionelle Figur menschlicher Selbstverständigung – wenn auch nicht unvorbereitet, so doch erstaunlich – weitgehend um: die religiös-theologische Schöpfungserzählung der ‘Genesis’ des Menschen verliert zunehmend an Plausibilität und zerbricht schließlich an Überlastung, kann sie doch die sich historisch wandelnden Lebenserfahrungen der Menschen nicht mehr zu einem Sinn integrieren: ‘Riß im Himmel’, wie eine Ausstellung bezeichnend titelte94. Ihr folgt eine andere, inzwischen längst ebenso wirkmächtig gewordene menschliche Selbstbeschreibung, die nun seit knapp dreihundert Jahren tradiert, immer wieder neu erzählt und bisweilen immer noch als ‘Uraufführung’ emphatisch gefeiert wird: es ist die aufklärerisch-neuzeitliche Erzählung der ‘Epigenesis’ des Menschen, der allmählichen Neubildung, Entwicklung und Selbstbestimmung, ja Erfindung und Erschaffung des Menschen durch sich selbst, die die verschiedenen Stränge der neuzeitlich-modernen Selbstbeschreibung bündelt und daher wohl als die – durchaus auch bis heute – zentrale und dominante menschliche Selbsterzählung der Moderne gelten kann. Ihre Grundfigur ist die – im deutlichen Kontrast zur traditionellen theologischen Lehre der ‘Restitution’ des ‘alten Menschen’ formulierte – Idee der Konstitution des ‘neuen Menschen’, die den Gedanken der Neuerfindung des Menschen als eines gerade nicht (mehr) bestimmten, weder ätiologisch noch teleologisch festgelegten, sondern sich allererst selbst bestimmenden und insofern noch nicht gekannten ‘neuen Menschen’ betont, und im Begriff der ‘Epigenesis’ pointiert gefasst werden kann95. 94
Vgl. dazu die zum 300. Geburtstag des Kölner Kurfürsten und Erzbischofs Clemens August (1700-1761) u.a. in Schloss Brühl veranstaltete Ausstellung ‘Der Riss im Himmel. Clemens August und seine Epoche’ (Schloss Brühl, 13. Mai – 1. Oktober 2000). Als ein solcher – exemplarischer – ‘Riß im Himmel’ der christlichmetaphysischen ‘Anthropotheologie’ kann dabei das Erdbeben von Lissabon (1755) gelten, das diskursgeschichtlich das ‘Ende der alten Ordnung’ einläutete: “Gott, der Schöpfer und Erhalter des Himmels und der Erden, [...] so weise und gnädig [...], hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewiesen”, wie Goethe rückblickend (1811) notierte (zit. Weinrich 1986, 74). Vgl. zur Problematik der Theodizee auch Ricken 1999a, 51-58.
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Der Rückgriff auf den Begriff der ‘Epigenesis’ zur Kennzeichnung der neuzeitlich-aufklärerischen Anthropologie mag angesichts seiner zunächst ausschließlich naturgeschichtlichen Bedeutung überraschen und als ‘uneigentlicher Gebrauch’ verstanden werden: so markiert Epigenesis – eine heute weitgehend wieder unüblich gewordene Wortschöpfung des 18. Jahrhunderts, die durch Caspar F. Wolffs ‘Theoria generationis’ (1759) in den deutschen Diskurs eingegangen ist (vgl. Nobis 1972) – anfänglich Entwicklung als eine ‘spätere Entstehung’ und ‘wirkliche Neubildung’ und grenzt sich darin ab von damalig überaus geläufigen Vorstellungen einer Präformation alles Entstandenen (bereits in und vor der Zeugung), die im Begriff der ‘Genesis’ als dem Ineinander von Ursprung und Entstehung (Werden) greifbar geworden war; bereits wenig später hat der Begriff der Epigenesis überaus schnell Eingang gefunden in andere Diskurse und konnte dort als ‘Signum’ einer Natur, Vernunft und Sprache miteinander verbindenden und insgesamt auf die “Befreiung aus präformationistischen Fesseln” (Müller-Sievers 1993, 13) zielenden Perspektive auf den Menschen überhaupt fungieren: was bei C. F. Wolf und Blumenbach zunächst als naturgeschichtlicher Ausbruch aus mechanistischen Vorstellungen begann, bei Kant in der Annahme einer als möglich gedachten “Epigenesis der reinen Vernunft” (Kant 1956, II 158) kritisch rezipiert wurde und sich so als “leise Hoffnung auf Anschauung menschlicher Autonomie” (Müller-Sievers 1993, 13) fortsetzte, wird schließlich in den Überlegungen von Herder, Fichte, Schiller und auch Humboldt zu einem moralisch-praktischen Grundbegriff überhaupt und dem Inbegriff der menschlichen Verfasstheit; es ist diese im Begriff der Epigenesis nachzeichenbare wechselseitige Durchdringung von naturwissenschaftlicher, historischer und philosophischer Dimension, die diesen für die neuzeitlich-aufklärerische Anthropologie so typisch macht und dessen Vorzug gegenüber der eingewöhnten Kennzeichnung der ‘Geburt des Subjekts’ (vgl. Ricken 1999a) begründet. Vgl.
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So bildet sich um die ‘Epochenschwelle’ (Koselleck) herum im Gegenzug zu christlicher Theologie und mit ihr aufs engste verknüpfter Metaphysik – als deren (wohl letzter) repräsentativer Aufriss Christian Wolffs ‘Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen’ (vgl. Wolff 1751) gelten können – eine neue Form menschlicher Selbstvergewisserung aus, die sich gezielt den Namen einer ‘menschlichen Philosophie’, einer ‘philosophia anthropologica’ (vgl. Schings 1994, 1)96 gibt und sich weigert, die Besonderung des Menschen außerhalb seiner selbst zu suchen und um den Preis der Negation seiner eigenen Natur erkaufen zu müssen. Ihr durchgängig wiederkehrender Grundgedanke ist dabei die – auch sozialgeschichtlich begründbare – Überzeugung, dass der Mensch angemessen weder als bloß stiller Teilhaber einer apriorischen Ordnung noch als ausschließlich intellektuell begründetes und als autonom behauptetes Selbstverhältnis begriffen werden kann, sondern als ‘ganzer Mensch’ (Schings 1994), als “Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen” (vgl. Schiller 1990a)97 verstanden werden muss, der sich dazu ausführlicher die detaillierte Rekonstruktion des epigenetischen Diskurses bei Müller-Sievers 1993, der – unter dem Stichwort der ‘Unterdrückung durch Befreiung’ (Müller-Sievers 1993, 13) – auch den inneren Zusammenhang von Epigenesistheorie und neuer Geschlechterphilosophie erarbeitet. Zur Philosophie und Anthropologie der Aufklärung insgesamt vgl. die ebenso material- wie umfangreichen Arbeiten von Schneiders (1974), Moravia (1989), Barkhoff / Sagarra (1992), Ciafardone (1993), Schings (1994), Jüttner (1998) wie insbes. Riedel 1994, der in einem breit angelegten Panorama einen hervorragenden (auch Forschungs-)Überblick gewährt; auch die beiden beeindruckenden Ausstellungsbände ‘Die Erfindung des Menschen’ (van Dülmen 1998) und ‘Der neue Mensch’ (Lepp u.a. 1999) bieten interessante und reich illustrierte Ein- und Überblicke. 96
Auch wenn Riedels Diagnose – “eine Geschichte der Anthropologie und des anthropologischen Denkens im deutschen achtzehnten Jahrhundert gibt es nicht” (Riedel 1994, 119) – immer noch zutrifft, so können doch dessen Ausführungen (vgl. Riedel 1994) als eine ebenso präzise wie bereits umfassende Prolegomena einer solchen Geschichte gelten, die nicht nur einen enorm weiten Überblick bieten, sondern diesen auch systematisch pointieren, um eine ‘literarische Anthropologie’ bereichern (vgl. Riedel 1994, 101 wie 133-155) und darin eindrücklich belegen, dass insbesondere die literarischen “Diskurse vom Menschen” nicht nur ein weit weniger geschöntes “Wunschbild” des Menschen präsentieren, wie dies nahezu ausschließlich für alle theoretischen Diskurse gelten kann (vgl. ebd. 154), sondern auch – in den “ungeschönten Protokollen seiner imperfekten Existenz” – die wahrscheinlich “umfassendste, genaueste und, wenn es denn eine gibt, wahrste Anthropologie, die die Moderne besitzt” (ebd. 155), dartsellen. Vgl. zur Tradition ausdrücklich ‘anthropologisch’ betriebener Selbstverständigungen insbesondere die Rekonstruktionen bei Sombart (1938), Marquard (1965, 1971 und 1991) und – immer wieder – Riedel (1994). So fällt in der Tat der Beginn einer “selbständigen Wissenschaft vom Menschen” (Sombart 1938, 99) auch begrifflich zusammen mit frühneuzeitlichen Aufbrüchen (vgl. Hundts bereits 1501 publiziertes ‘Anthropologium de hominis dignitate’ als auch Casmanns 1594 veröffentlichte ‘Psychologia anthropologia’, dessen Eröffnungssatz “Anthropologia est doctrina humanae naturae. Humana natura est geminae naturae mundanae, spiritualis et corporeae, in unum hyphistamenon unitae, particeps essentia” (zit. nach Sombart 1938, 102) über lange Zeit als vorbildliche Kennzeichnung des neuen anthropologischen Denkens Geltung beanspruchen konnte) und gelangt schließlich im 18. Jahrhundert zu ihrer “Blütezeit” (Sombart 1938, 105), so dass ‘Anthropologie’ bereits 1726 lexikalisch als etablierte ‘Lehre von dem Menschen’ (vgl. Walch 1726) vermerkt ist und sich in einer enorm zunehmenden Zahl von Publikationen niederschlägt (vgl. dazu die überaus umfangreichen Überblicke in Sombart 1938, Riedel 1994 wie Schings 1994), die Popes frühe Einschätzung ‘The real study of the man kind is the man’ (1733, zit. nach Sombart 1938, 105) materialreich belegen.
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Schillers Markierungen mögen als Beleg dieser insgesamt vorgenommenen Weichenstellung dienen, brandmarkt er doch in seinem Traktat ‘Über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen’ (1780) die Behauptung, “daß der Körper gleichsam der Kerker des Geistes sei, daß er solchen allzusehr an das Irdische hefte, und seinen sogenannten Flug zur Vollkommenheit hemme” (Schiller 1990a, 43), als “eine schöne Verirrung des Verstandes, ein wirkliches Extremum, das den einen Teil des Menschen allzu enthusiastisch herabwürdigt, und uns in den Rang idealischer Wesen erheben will”, die er
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selbst diesseits bestimmender Festlegungen allererst selbst hervorbringt und ‘werdend’ realisiert. Mit Anthropologie, so ließe sich pointieren, wird daher sowohl Gegenstand als auch Struktur dieser veränderten Selbstbeschreibung markiert, ist doch nun der Mensch selbst zugleich Subjekt und Objekt einer sich neu abzeichnenden, ebenso extensiven wie intensiven dynamischen Selbsterforschung; in ihr “begriff sich [der Mensch] überhaupt nicht, sondern er ahnte sich im Prozeß fortlaufender Humanisierung” (Schmidt-Biggemann 1994, 13)98. Kaum verwunderlich dürfte daher sein, dass Neuaufbrüche sich zunächst auch als Kritik gerade auf dem Feld formieren, das als ebenso zentral wie problematisch für das alte Ordnungsdenken samt dem darauf gestützten absolutistisch-kirchlichen Ordnungsregiment ausgemacht wurde: Kritik der Erbsündenlehre, sei sie ausdrücklich oder stillschweigend durch bloßes Übergehen formuliert, ist eines der zentralen und die vielfältigen Positionen verbindenden Momente aufklärerischen Denkens überhaupt (vgl. Cassirer 1998, 188). Voltaires Kennzeichnung der Erbsünde als einer ‘frevelhaften Zuschreibung’ und ‘Erfindung’ der Kirche (vgl. Schreiner 1998, 58) und erst recht Rousseaus radikale Umkehrung derselben zur anfänglich guten Natur des Menschen markieren – mehr als nur symbolisch – den anthropologischen ‘Neueinsatz’ und haben daher folgerichtig ebenso zu Verurteilung, Verfolgung und Bücherverbrennung durch seine Gegner wie zu subtilen Umschriften auch durch seine Anhänger geführt99. Was in Kants eher mäßigendem Umbau des Sündenfalls zur nicht nur als “einseitig” und wegen ihrer Enthebung “unserer Menschlichkeit” (ebd.) entschieden ablehnt, sondern die auch “allem, was wir von der Evolution [...] historisch wissen und philosophisch erklären können, schnurgerade zuwiderläuft” (ebd.). 98
Die von Schmidt-Biggemann angefügte Kommentierung – “Humanisierung übernimmt die Funktion der alten Christologie, denn sie leistet selbst die Versöhnung der entzweiten Seele” (Schmidt-Biggemann 1994, 13) – bedarf einer Präzisierung, soll sie nicht – wie durchaus immer wieder behauptet – bloß als ‘Verweltlichung’ christlicher Theologie verstanden werden. Blumenbergs Überlegungen zum Theorem der Säkularisierung können dabei als geeignete Justierung dienen: so meint Säkularisierung weder den Prozess eines “Verfall[s] einstiger Transzendenzfähigkeit” (Blumenberg 1999, 12) noch – unter positiven Wertvorzeichen – den der Einlösung und ‘Umsetzung’ bislang christlich nur ‘verhimmelter Einsichten’ (vgl. ebd. 133), sondern muss als “Umbesetzung vakant gewordener Positionen von Antworten”, “deren zugehörige Fragen nicht eliminiert werden konnten” (ebd. 75), beschrieben werden. Mit dieser Überlegung sucht Blumenberg die Annahme, “es gebe einen festen Kanon der ‘großen Fragen’, die durch die Geschichte in konstanter Dringlichkeit die menschliche Wißbegierde beschäftigen und den Anspruch auf Welt- und Selbstdeutung provozieren” (ebd.), abzuwehren, indem er die ‘Überständigkeit von Antworten’ als ‘Grund’ (auch) neuzeitlichen Fragens ausmacht: “Nicht immer gehen die Fragen den Antworten voraus” (ebd. 76); vielmehr setzen auch gegebene Antworten, können sie nicht länger überzeugen, einen ‘Frageüberhang’ frei, der die jeweiligen Neuansätze vorbahnt und so nach ‘funktionellen Umbesetzungen’ verlangt, die – auch in ihrer schärfsten Bestreitung des Vorangegangenen – “an den Bezugsrahmen ihrer Absagen gebunden” (ebd. 79) bleiben. Blumenbergs These der ‘Legitimität der Neuzeit’ markiert daher deren Eigengestalt weder als einen ‘absoluten Anfang’ noch als eine bloße Fortsetzung des Vorangegangen; vielmehr gilt: “Die Neuzeit greift aber nicht so sehr zurück auf das ihr Vorgegebene, sondern sie widersetzt sich und stellt sich seiner Herausforderung. Diese Differenz [...] macht Weltlichkeit zum Kennzeichen der Neuzeit, ohne daß diese aus Verweltlichungen entstanden sein müßte” (ebd. 86). Vgl. insgesamt zur Säkularisierungsdebatte insbes. deren Rekonstruktion bei Schmidt-Biggemann 1991, 105-125.
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Dass sich die Anthropologie der Aufklärung vor allem im Kampf gegen das kirchliche Dogma der Erbsünde entwickelt hat, ist kaum zu übersehen und insbesondere von Cassirer materialreich belegt worden (vgl. Cassirer 1998). Bei aller Einigkeit der Ablehnung ist aber der aufklärerische Umgang damit durchaus unterschiedlich: während Rousseau diese im Eröffnungssatz des ‘Émile’ (1762) scharf attackiert und ihr seinen Gegensatz des ‘anfänglich guten Menschen’ entgegenhält (vgl. Rousseau 1971, 9) – programmatisch
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Möglichkeitsbedingung von Vernunft, Freiheit und Menschlichkeit noch ambivalent bleibt, wird bereits in Herders Interpretation der Sündhaftigkeit des Menschen – mit Marquard gesprochen – zu einer “felix culpa, die kaum noch culpa, sondern nur noch felix” ist (Marquard 1981, 58)100. Die aufklärerisch-anthropologische Auseinandersetzung mit der traditionellen Menschenerzählung der ‘Genesis’ hat dabei Tradition und kann als eine durchaus bedeutsame Weichenstellung gelten: denn während noch Pico della Mirandolas humanistisch-frühneuzeitliche ‘Gegenerzählung’ der Herkunft und Entwicklung der Menschen das Problem des Sündenfalls verschweigen muss, um Besonderung und Würde des Menschen im Sinnbild des ‘chamaeleon’ (vgl. Pico della Mirandola 1990, 6) preisen zu können101, focussieren insbesondere Herder (1776, vgl. Herder 1884, VII 1-172), Kant (1786, vgl. Kant 1964, VI 83-102), Schiller (1790, vgl. Schiller 1990b) wie auch Schelling (1792; vgl. Schelling 1976) gerade diesen – in ‘guter’, allerdings nun umgekehrter Tradition – als Inbegriff der ‘Menschlichkeit des Menschen’. Bereits Herders abwägende Kommentierung der Erbsünde als ‘Strafe und Wohltat’ zugleich – “Was auf dieser Seite Strafe heißt, kehre das Blatt um, ist auf jener Wohlthat” (Herder 1884, VII 102) – und die darin unternommene Umdeutung der “Sünde Adams”zur Möglichkeitsbedingung eines “höhere[n], geistige[n], ewige[n] Wohl des ganzen Geschlechts” (ebd. 120)102 markiert die in seinem 1762 als Antwort auf das durch Bischof Christophe de Beaumont verhängte Verbot seiner Schriften ‘Du contrat social’ und ‘Émile’ geschriebenen offenen Brief bestätigt: “Der Hauptgrundsatz aller Moral, den ich in meinen Schriften [...] ganz auseinandergesetzt habe, lautet, daß der Mensch von Natur aus gut ist und die Gerechtigkeit und die Ordnung liebt, daß das menschliche Herz von Natur nicht verdorben ist [...]. Ich habe gezeigt, daß alle Laster, welche man dem menschlichen Herzen zuschreibt, ihm nicht natürlich sind, ich habe ihre Entstehungsart gezeigt und sozusagen ihre Genealogie geschrieben und endlich habe ich gezeigt, wie durch die allmähliche Veränderung seiner natürlichen Güte der Mensch das geworden ist, was er jetzt ist” (Rousseau 1978, 508f.) –, mildert die philanthropisch besorgte Übersetzung des ‘Émile’ dessen Radikalität aus zumeist disziplinarischen und pädagogischen Gründen bereits erheblich ab oder widerspricht ihr gar, wie dies die unterschiedlichen Kommentare eindrücklich belegen (vgl. dazu Campe 1785, XII, 27-30). Vgl. zur ‘Anthropologie’ Rousseaus und deren Zusammenhang mit dem deutschen Diskurs die einflussreiche Interpretation von Rang (1959) wie auch (aus pädagogischer Perspektive) die Arbeiten von Buck (1976 und 1984), Zirfas (1996), Ruhloff (1998), Benner / Kemper (2001) und Schäfer (2002). 100 Vgl. dazu insgesamt Marquard 1981, Messadié 1987, Pagels 1991 wie auch Schreiner 1998. 101 Pico della Mirandolas ‘Oratio de homine dignitate’ (1486) gilt als einer der ersten humanistischen Versuche, die “Vorzüglichkeit der menschlichen Natur” (Pico della Mirandola 1990, 3) zu loben und dessen Besonderung in seiner – von Gott durch ‘Schöpfungsverausgabung’ verursachten – Fähigkeit, “wie dein eigener [...] schöpferischer Bildhauer [‘plastes et fictor’] dich selbst zu der Gestalt” auszuformen, “die du bevorzugst” (ebd. 5), zu sehen und sich so in scharfen Kontrast zur damalig geläufigen Tradition der ‘Miseria hominis’-Literatur zu stellen; vgl. dazu ausführlicher Cassirer 1959, Riemen 1989 und Buck 1990 wie auch insgesamt Heller 1988 und Ruhloff 1993. 102 So sucht Herder in seinem überaus ausführlichen Kommentar der ‘Aeltesten Urkunde des Menschengeschlechts’ (1776, vgl. Herder 1883 wie 1884) immer wieder, “das ganze Geheimniß der Menschenbestimmung” – “‘Menschengottseligkeit’” (Herder 1884, 121) als Bestimmung zu einem höheren Leben, die sich nicht begnügt mit “Adams Erdheiligkeit” (ebd. 120) – zu plausibilisieren und – als in der Vorsehung Gottes bereits mitgewusste – Implikation der ersten Schöpfung zu entfalten; so gilt ihm der “Tod Adams, Gesetz und Sünde” als “ein neben eingekommener eingemischter Sauerteig”, damit “höheres Leben, höheres Gute würde, als je durch Adams Selbststreben hätte werden können” (ebd. 122), so dass sich “durch Zwischenund Mißtöne [...] das Lied der Schöpfung zum höhern Wohllaut” (ebd.) hat entwickeln können. Vgl. auch zu Herders durchgängigem Bemühen, Aufklärung und Theologie miteinander zu verbinden, dessen durchaus bissige Kommentierung der aufklärerischen Menschenerzählung – der Entwicklung des Menschen vom “perfektibelste[n] unter den Thieren” (ebd. 72) zum – qua Vernunft: “kein Ersatz [...], aber eine kleine Erstattung” (ebd. 74) der Übel – durch “Zufall” (ebd. 73) ‘perfektionierten Wesen’ (vgl. ebd.) –, die er – bei aller Distanz – nicht nur als “Eins” (ebd. 76) mit der Genesis-Erzählung aufzuweisen, sondern schließlich auf
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aufklärerisch-anthropologisch eingenommene Perspektive, der sowohl Kant als auch Schiller in ihren jeweiligen Aneignungen der ‘Genesis’ folgen103: so kann Kants ‘Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte’ zunächst weitgehend als eine Rekonstruktion der ‘Epigenesis der Vernunft’ (Kant) gelesen werden, die den Menschen mit der Bewusstwerdung “seiner Vernunft als eines Vermögens” (Kant 1964, VI 88) beginnen lässt, ihn im “ersten Versuch von einer freien Wahl” (ebd.) qua Vernunft aus dem durch Instinkt bestimmten ‘Stand der Natur’ befreit – “Weigerung war das Kunststück” (ebd. 89) – und schließlich zum “Zweck der Natur” (ebd. 91) überhaupt erhebt – mit fatalen Folgen, wie bereits Kant selbst (allerdings gänzlich unkritisch) notiert: “Das erstemal, daß er zum Schafe sagte: der Pelz, den du trägst, hat dir die Natur nicht für dich, sondern für mich gegeben, ihm ihn abzog, und sich selbst anlegte: ward er eines Vorrechts inne, welches er, vermöge seiner Natur, über alle Tiere hatte, die er nun nicht mehr als seine Mitgenossen an der Schöpfung, sondern als seinem Willen überlassene Mittel und Werkzeuge zu Erreichung seiner beliebigen Absichten ansah” (ebd. 91); in einer zweiten Lesart aber erweist sich diese ‘Befreiungsgeschichte’ auch als moralisch-praktisch “ersprießlich[e] [...] Lehre” (ebd. 101) und ambivalente Wiederaneignung der Erbsündenlehre, zeigt sie dem Menschen doch auf, “daß er der Vorsehung, wegen der Übel, die ihn drücken, keine Schuld geben müsse; daß er seine eigene Vergehen auch nicht einem ursprünglichen Verbrechen seiner Stammeltern zuzuschreiben berechtigt sei [...]; sondern daß er das von jenen Geschehene mit vollem Rechte als von ihm selbst getan anerkennen, und sich also von allen Übeln, die aus dem Mißbrauche seiner Vernunft entspringen, die Schuld gänzlich selbst beizumessen habe” (ebd. 101) – eine angesichts der vorherigen Thematisierung der Sterblichkeit der Menschen nicht bloß aufbauende ‘Mahnung’, “dem Gange menschlicher Dinge im ganzen, der nicht vom Guten anhebend zum Bösen fortgeht, sondern sich vom Schlechtern zum Bessern allmählich entwickelt [...], soviel in seinen Kräften steht, beizutragen” (ebd. 102)104. Was aber bei Kant – gemäß seines Wahlspruchs: “aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden” (Kant 1964, VI 41) – noch durchaus ambivalent gefasst bleibt, wird aber bei Schiller weitgehend in eine ‘Fortschrittserzählung’ verwandelt, die den Ausgang des Menschen “aus der Vormundschaft des Naturtriebes” (Schiller 1990b, 721) – trotz seines ‘sanften und lachenden Anfangs’ (vgl. ebd. 721) – nicht nur als seine Befreiung auslegt, sondern auch als eine Verbesserung der Natur selbst preist (vgl. ebd. 723). Schillers ‘Ode der Genesis’ sei daher ausführlicher aufgenommen: diese selbst zurückzuführen sucht (vgl. ebd. 72-78). 103 Vgl. zu den aufklärerisch explizit vorgenommenen Umschriften der Genesis insgesamt die Rekonstruktionen von Lämmerzahl 1934, Wimmershoff 1934 und Metzger 1959 wie auch die jeweiligen Überlegungen bei Marquard 1981, Jauss 1981, Taubes 1981 und zuletzt Schreiner 1998. 104 Dass Kant schließlich in seinen späteren religionstheoretischen Überlegungen (1793/94) zu einer Konzeption des ‘radical Bösen’ (vgl. Kant 1956, IV 665) gelangte, von einem ‘angebornen Bösen in der menschlichen Natur’ (vgl. ebd. 680) als dem Preis der Freiheit und der strukturellen ‘Verkehrtheit des bösen Herzens’ (vgl. ebd. 686) als Folge der menschlichen ‘Ex-Zentrik’ zwischen ‘Selbstliebe’ und moralischer Anderen-Orientierung (vgl. ebd. 685), die insgesamt weder in ihrem Ursprung aufzuklären (vgl. ebd. 693) noch “durch menschliche Kräfte [...] zu vertilgen” (ebd. 686) sei, sprach und als ‘vernunfttheoretische’ Reinterpretation des Sündenfalls präsentierte (vgl. ebd. 692f.), hat ihm – bis heute – nicht nur Kritik und vielfachen Widerspruch, sondern auch aufklärerischen Zorn eingetragen: so empörte sich Schiller, dass es Kant wohl “darum zu thun [gewesen sei], die Autorität der Schrift wohl zu unterstützen” (Schiller, zit. Schreiner 1998, 60) und “das morsche Gebäude der Dummheit” (ebd.) zu flicken; auch Goethe sah – wohl nicht zufällig in einem Brief an Herder formuliert – in dieser Überlegung Kants nichts anderes als einen Abklatsch der kirchlichen Lehre vom Sündenfall, mit der nun aber Kant auch “seinen philosophischen Mantel [...] freventlich mit dem Schandfleck des radikal Bösen beschlabbert” (Goethe, zit. Schreiner 1998, 60) habe, “damit doch auch Christen herbeigelockt werden können, den Saum zu küssen” (ebd.). Vgl. auch Schulte 1988 wie Schreiner 1998.
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“Sobald seine Vernunft ihre ersten Kräfte nur geprüft hatte, verstieß ihn die Natur [...] oder richtiger gesagt, [...] er selbst riß [sich] ab von dem leitenden Bande, und [...] warf sich in das wilde Spiel des Lebens, macht [...] sich auf den gefährlichen Weg zur moralischen Freiheit” (ebd. 722). Durch Vernunft ausgezeichnet und so “zu etwas ganz anderm bestimmt”, “sollte er jetzt selbst für sich übernehmen”, “was die Natur in seiner Wiegenzeit für ihn übernommen hatte”: “Er selbst sollte der Schöpfer seiner Glückseligkeit werden, und nur der Anteil, den er daran hätte, sollte den Grad dieser Glückseligkeit bestimmen” (ebd.). Nur folgerichtig spannt sich die Differenz von Gottebenbildlichkeit und Sündenfall bei Schiller zur natural-zeitlichen ‘Epigenesis’ des Menschen: “Wenn wir also jene Stimme Gottes in Eden, die ihm den Baum der Erkenntnis verbot, in eine Stimme seines Instinktes verwandeln [...], so ist sein vermeintlicher Ungehorsam gegen jenes göttliche Gebot nichts anders als – ein Abfall von seinem Instinkte – also, erste Äußerung seiner Selbsttätigkeit, erstes Wagestück seiner Vernunft, erster Anfang seines moralischen Daseins”, kurz: “ohne Widerspruch die glücklichste und größte Begebenheit in der Menschengeschichte” (ebd.), “ein Riesenschritt der Menschheit [...] zur Selbstherrschaft” (ebd. 723): “Jetzt war er für das Paradies schon zu edel” (ebd.). Die sich an diese Ausgangsskizze der ‘ersten Menschengesellschaft’ bei Schiller anschließende Rekapitulation der menschlichen Sozialgeschichte – von der ‘Standesgleichheit’ und ‘wechselseitigen Zartheit’ über verschiedene ‘Kollisionen des Menschen mit dem Menschen’ (vgl. ebd. 729) zu Krieg und gegenwärtiger ‘Ungleichheit’ – dient nicht nur dem Aufweis, “daß der erste König [und mit ihm jeder weitere] ein Usurpator war” (ebd. 736), sondern wird von Schiller auch als Rekonstruktion und Nachweis des ‘Grundübels’ solcher ‘Sittenverderbnisse’ genutzt: “Die Abhängigkeit der Menschen von Menschen fing an” (ebd. 731); aus ihr lassen sich – sozusagen in einer Geschichte der “Verfeinerung zur Verschlimmerung” (ebd. 732) – alle weiteren Übel geradezu ableiten.
So ist die Philosophie der Aufklärung konsequent Anthropologie in doppelter Ausrichtung: Kritik der alten “Anthropotheologie” (Löwith 1964, 5) wie Entwurf neuer Anthropologie zugleich, so dass beides nahezu ineins fällt: wer aufklärerisch denkt, argumentiert anthropologisch – und umgekehrt (vgl. Marquard 1971)105. Und doch sind ‘Kritik’ fremder Ordnungen und Bestimmungen und ‘Projekt’ der Neu- und Selbstbestimmung des Menschen nicht identisch; vielmehr wie Negation und Position gegeneinander verschoben verdeutlichen sie in ihrer Differenz die neuzeitlich sich abzeichnende Transformation der Macht106. Kants aufklärerisch paradigmatisch gewordener “Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit” (Kant 1964, VI 53) korreliert daher nicht zufällig dem mutmaßlichen “Ausgang des Menschen aus dem [...] Paradiese” als dem “Übergang [...] aus dem Gängelwagen des Instincts zur Leitung der Vernunft, [...] aus der Vormundschaft der Natur in den 105 Auch hier kann Kant als Zeuge angeführt werden, belegt doch dessen weithin bekannte Bündelung der philosophischen Fragen – “Das Feld der Philosophie in dieser weltbürgerlichen Bedeutung lässt sich auf folgende Fragen bringen: 1) Was kann ich wissen? 2) Was soll ich tun? 3) Was darf ich hoffen? 4) Was ist der Mensch?” (Kant 1958, III 447f.) – nicht nur die thematische Zentralität der “Anthropologie” (ebd. 448), sondern auch deren strukturelle Dominanz in allen anderen Fragen: “Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen” (ebd.). 106 Vgl. hierzu Foucault 1992, der in seiner Vorlesung ‘Was ist Kritik?’ (1978) mithilfe dieser Unterscheidung (am Beispiel Kants) seine Interpretation der ‘Dialektik der Aufklärung’ erläutert; Kants negativer Aufklärungsbegriff als einer kritischen Haltung, “nicht dermaßen, von denen und mit den Gründen regiert zu werden” (Foucault 1992, 12) verwandle sich aber, so Foucault, zunehmend zum positiven Konzept einer ‘endlichen Vernunft’ und dem daraus resultierenden Projekt der Moderne als der Neuerrichtung einer neuen Ordnung der Vernunft.
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Stand der Freiheit” (Kant 1964, VI 92); beides ist die kritische Vorderseite des nun mit den Mitteln der Vernunft betriebenen Entwurfs und Aufbaus einer eigenen “Ordnung des menschlichen Lebens” (Rousseau 1971, 56), in der sich der Mensch als neuer Ordner zu etablieren sucht. Es ist die aufklärerische Anthropologie, die hier die Weichen stellt und in ihrem Umbau der alten ‘Anthropotheologie’ die Kritik zum Projekt verschiebt. Ihre vielfach differenzierte, aber weitgehend doch durchgängige Grundfigur beschreibt den Menschen in dreifacher Hinsicht als – mit Pestalozzi formuliert – ‘Werk der Natur’, ‘Werk der Geschichte’ und ‘Werk seiner selbst’107; in der Verschränkung dieser drei Dimensionen zu einer neuen ‘Menschenerzählung’, die sich vor allem im Mensch-Tier-Vergleich begründet und als daraus resultierende und epigenetisch gedachte Selbstgestaltung organisiert, wird eine durchgängige Differenz sichtbar: der Mensch ist sich sowohl – natural wie historisch – gegeben als auch aufgegeben. Doch ist diese ‘anthropologische Differenz’ von Anfang an als Hierarchie konzipiert, die zwar der traditionellen Hierarchie von Sündenfall und Gottebenbildlichkeit auch und gerade in ihren Gegenakzentuierungen strukturanalog bleibt und doch eine bedeutsame ‘Umbesetzung’ des Sündenfalls und der mit ihm verbundenen Sterblichkeit zum naturalen Mangel vornimmt: von Natur aus unbestimmt und geradezu mangelhaft ausgestattet ist der Mensch gezwungen wie durch kompensatorische Vernunft befähigt, sein Leben selbst zu führen und sich eine eigene, nunmehr menschliche ‘Lebensweise’ zu geben. Dabei ist die Ausgestaltung der eigenen Lebensweise auf eigene wie fremde Erfahrungen verwiesen, so dass ein zeitlich wie räumlich neuer Horizont aufbricht; Kant hat diesen Zusammenhang geradezu poetisch formuliert, als er ‘Lebensweise’ und ‘Lebensreise’ miteinander identifizierte und zum anthropologischen Kerngedanken erklärte: mit der Bewusstwerdung der “Vernunft als eines [eigenen] Vermögens [...] gingen dem Menschen hierüber doch die Augen auf. Er entdeckte in sich ein Vermögen, sich selbst eine Lebensreise auszuwählen, und nicht gleich anderen Tieren an eine einzige gebunden zu sein” (Kant 1964, VI 88). Mit dieser Weichenstellung gelang es zugleich, den Gang des Menschengeschlechts als Geschichte – sei es nun als Fortschritts- oder Verfallsgeschichte – zu deuten und in einer Philosophie der Geschichte grundzulegen: aus Natur und in Geschichte erfährt sich der Mensch als ein selbsttätiges Wesen, das sich zu sich selbst verhalten und darin als ein Selbst in und gegenüber der Welt ausgestalten muss. Zentraler Kern dieses neu entstehenden Subjektdenkens ist: der Mensch ist nicht Objekt anderer Bestimmungen, sondern Subjekt seiner selbst, nicht anderen Ordnungen Unterworfener, sondern seinerseits ‘zugrundeliegender Ordner’ (Waldenfels) einer neuen, nunmehr menschlichen Ordnung der Welt: Mensch aus eigener Anstrengung108.
107 Diese Dreiteilung folgt – typologisch – einer Unterscheidung Pestalozzis, der in seinen ‘Nachforschungen’ den Menschen solchermaßen dreifach situiert hat; mit ‘Werk seines Geschlechts’ bezeichnet er dabei die gesellschaftlich-geschichtliche Bedingtheit des Menschen (vgl. Pestalozzi 1998, 55-61, 61-79, 84-96 wie die Zusammenfassungen 97-100, 130-133). 108 Vgl. zur Geschichte des Subjektdenkens Kible u.a. 1998 wie auch Fetz u.a. 1998.
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Zwei Pointierungen innerhalb dieses – hier eher typologisch rekonstruierten – anthropologischen Diskurses der (Spät)Aufklärung seien vorgenommen, markieren sie doch zwei bedeutsame wie ebenso folgenreiche Weichenstellungen innerhalb der spätaufklärerisch unternommenen Umschrift der Genesis-Erzählung zu der einer ‘Epigenesis’ des Menschen: (1) Auch wenn “Vernunft” als “Einheitspunkt und Mittelpunkt” (Cassirer 1998, 5) der aufklärerischen Denkform gelten kann, so ist doch vielmehr die unter dem Topos der ‘Natur des Menschen’ vorgenommene Naturalisierung des Menschen kennzeichnend für den “anthropologischen Denkraum zwischen 1750 und 1800” (Riedel 1994, 105), ermöglicht doch gerade sie eine weder bloß metaphysisch-rationalistische noch religiös-theologische, sondern naturwissenschaftlich-philosophische Selbstkennzeichnung des Menschen109 – in doppelter Hinsicht: einerseits ist der Mensch “als Pflanze und Tier“ (Schiller 1990b, 721) selbstverständlicher und in deren Ordnung eingeordneter Teil der Natur, andererseits aber – gerade aus und als Natur – unbestimmt und ihr – qua Vernunft – vermeintlich gegenübergestellt. Aufklärerisch typisch ist nun aber, diese Differenz von Natur und Kultur gerade nicht (bloß) dichotomisch zu denken und in die alte Selbstkennzeichnung des Menschen als eines ‘Doppelwesens’ zurückzufallen, sondern beide Dimensionen – insbesondere im Rückgriff auf das Konzept einer ‘zweiten Natur’110 – miteinander zu vermitteln und zeitlich auszulegen: aus ‘erster Natur’ gefallen, kann die “‘zweite’, erworbene Natur, die Natur aus Freiheit [...] als die eigentliche, wahre Natur” (Rath 1996, 25) gelten; gerade sie gilt es nun zu entwickeln, zu steigern und zu vervollkommnen – “bis vollkommene Kunst wieder Natur wird: als welches das letzte Ziel der sittlichen Bestimmung der Menschengattung ist” (Kant 1964, VI 95)111.
109 Diese Weichenstellung verdankt sich dabei der anatomisch-physiologischen Herkunft des anthropologischen Diskurses, die auch noch den Diskurs des 18. Jahrhunderts prägt; vgl. zu dieser medizinisch-anatomischen Tradition im Diskurs der aufklärerischen Anthropologie ausführlicher Marquard 1971 und Riedel 1994 wie auch die ausführlichen Recherchen bei Hartmann / Haedke 1963, die eindrucksvoll deren Entfaltung seit Magnus Hundts ‘Anthropologium de hominis dignitate’ (1501) (vgl. dazu auch Marquard 1971, 363) belegen. 110 Vgl. dazu ausführlicher den – in einer begriffsgeschichtlich argumentierenden Rekonstruktion des Konzepts der ‘zweiten Natur’ erarbeiteten – Befund Raths (vgl. Rath 1996),”daß gerade nach 1780 dem Terminus ‘zweite Natur’ – über die ältere Gleichsetzung mit ‘Gewohnheit’ hinaus – neue semantische Gehalte und neue Orientierungsfunktionen zuwachsen, so daß er um 1800 zu einem der Schlüsselbegriffe der klassischromantischen Ästhetik und der idealistischen Philosophie wird, zu einem Potenzierungsbegriff, mit dem sich die Möglichkeit der Wiederkehr einer neuen, transformierten und gesteigerten Natur inmitten der Kultursphäre behaupten läßt” (ebd. 10). 111 Dieser Topos einer gerade nicht als simples ‘Zurück zur Natur’, sondern höherstufig gedachten ‘Rückkehr zur Natur’ findet sich – u.a. von Rousseau über Herder, Schiller, Goethe, Kleist bis Hegel – vielfach variiert wieder und hat in Kleists Kommentierung der biblischen Genesis (vgl. Kleist 2002, 83) – “Doch das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist” (ebd. 82f.) – seine bis heute vielfach zitierte, allerdings bereits eher skeptisch utopische Fassung erhalten; spätestens aber (mit und) nach Hegel zerbricht die Utopie einer Aufhebung der Entzweiung und der daraus resultierenden neuen Unmittelbarkeit und führt zu einem Bewusstsein dauernder ‘Vermitteltheit’. Zu den durchaus erheblichen Differenzen zwischen den verschiedenen Konzeptionen (u.a. insbes. zwischen Herder und Kant) vgl. ausführlicher Rath 1996.
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So ist es gerade nicht Kants – bereits ab 1772 gehaltene, aber erst 1798 publizierte – Vorlesung zu einer ‘Anthropologie in pragmatischer Hinsicht’ (vgl. Kant 1964, VI 395-690) sondern vielmehr Platners ‘Anthropologie für Ärzte und Weltweise’ (vgl. Platner 1772), die in ihrem Problemaufriss für die Aufklärung repräsentativ ist (vgl. Riedel 1994, 104f.), geht es dieser doch darum, “Körper und Seele in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen” (Platner 1772, XVII) zu studieren – eine bisweilen bis heute philosophisch als unerheblich disqualifizierte Anstrengung (vgl. dazu Marquard 1971, 367). Kants anti-physiologische Polemik gegen Platner ist für diese Missachtung durchaus symptomatisch, wird aber weder der argumentativen Gestalt der weithin betriebenen empirisch-anthropologischen Studien (vgl. Müller-Sievers 1993) noch den auch mit ihr verknüpften Erwartungen gerecht; vielmehr ist sie, “polemisch zugespitzt, weniger eine Anthropologie denn eine pragmatische, alltagsorientierte Moral- und Klugheitslehre” (Riedel 1994, 104), die in ihrer konträren und hierarchischen Positionierung von Natur und Vernunft nur die von Kant betriebene Einseitigkeit seiner Vernunft- und Moralphilosophie spiegelt: was zunächst perspektivisch in ‘physiologische’ und ‘pragmatische Hinsicht’ unterschieden wird, gerät in der bloßen Gegenüberstellung von dem, “was die Natur aus dem Menschen macht”, und dem, “was er, als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll” (Kant 1964, VI 399), zu einer einseitigen Frontstellung, aus der schließlich Natur und Leiblichkeit als anthropologische Problematiken schlicht ausgeschieden werden (vgl. Böhme / Böhme 1983). Doch weder Kants erkenntnistheoretisch durchaus überzeugendes Argument – “Wer den Naturursachen nachgrübelt, [...] muß aber dabei gestehen: daß er in diesem Spiel seiner Vorstellungen bloßer Zuschauer sei, und die Natur machen lassen muß, [...] [so daß] mithin alles theoretische Vernünfteln hierüber reiner Verlust ist” (ebd. 399) – noch dessen bereits früher Hinweis auf die Problematik der ‘anthropologischen Zirkularität’112 verhindern, dass schließlich gerade Kants Anthropologie als ‘Apologie des Menschen’ als eines Vernunftwesens rezipiert wird und als Plädoyer für eine weitgehend ungebrochen gedachte Selbstbestimmung qua Vernunft tradiert wird – mit der aufklärerisch durchaus paradoxen Folge, dass die einseitige Betonung der ‘Aufgegebenheit’ immer mehr das Bewusstsein der ‘Gegebenheit’ verdrängt.
Im Gefolge dieser Naturalisierung des Menschen kommt es dabei durch Zuspitzung zu einer bedeutsamen Neufassung des Entwicklungsgedankens, die – bezeichnenderweise – gerade vom naturwissenschaftlichen Diskurs ihren Ausgang nimmt und sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Gestalt der Theorie der ‘Epigenesis’ erstaunlich rasch und diskursübergreifend durchsetzt113. Verblieb bis dahin die 112 In seiner ‘Anthropologie in pragmatischer Hinsicht’ notiert Kant bereits die Schwierigkeiten einer jeden Anthropologie, die “allen Versuchen, zu einer solchen Wissenschaft mit Gründlichkeit zu gelangen”, entgegen stehen und aus “der menschlichen Natur selber” (Kant 1964, VI 401) resultieren; seine Beobachtungen, dass jede Fremdbeobachtung “verlegen (geniert)” macht und insofern jede ‘Einsicht’, “wie er ist”, verhindert, dass aber auch jede Selbstbeobachtung nur “Verstellung zuläßt” – “nämlich daß, wenn die Triebfedern in Aktion sind, er sich nicht beobachtet; und wenn er sich beobachtet, die Triebfedern ruhen” (ebd.) – markieren sehr genau die Problematik des ‘anthropologischen Zirkels’, in der Anthropologie zugleich Subjekt und Objekt des Fragens zu sein. 113 Vgl. dazu insgesamt Liebsch 1992, 112-181 wie auch Müller-Sievers 1993, die beide den naturwissenschaftlichen Diskurs der Epigenesis umfassend rekonstruieren und dessen Übersetzungen in andere Diskursformationen beispielhaft – u.a. bei Kant, Fichte, Herder und Humboldt – nachgezeichnet haben. Riedel bestätigt die These der Entwicklung als der neuen Leitformel der Aufklärung (vgl. Riedel 1994, 107ff.), die er eindrücklich auch als Paradigma der literarischen Produktion – als dem ‘Anderen’ der Vernunftphilosophie – der Aufklärung erarbeitet (vgl. ausführlicher ebd. 133-141), und in der er deren “wahrste Anthropologie” (ebd. 155) sieht, gibt sie uns doch statt der philosophischen ‘Träumereien’ über den Menschen “die ungeschönten Protokolle seiner imperfekten Existenz zu lesen” (ebd.).
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Vorstellung von Zeugung und Entwicklung des (menschlichen) Lebens als einer Präformation noch im Horizont eines (meistenteils dann durch den Pietismus auch verschärften) theologisch motivierten Ordnungsdenkens, so eröffnete die Erfindung des Modells der Epigenesis einen gänzlich dazu verschobenen Horizont. Kernstück dieser sukzessiven Verschiebung und allmählichen Auflösung der langanhaltend dominanten Denkform der Präformation war dabei der – zunächst weitgehend hypothetisch angelegte – Versuch, Entwicklung nicht als ein Sichtbarwerden bloß latenter und unsichtbarer Anlagen und Präformationen verstehen zu müssen und so als nur ‘scheinbares Entstehen’ und ‘bloße Entwickelung’ (Bonnet) – pointiert: als bloße Ausfaltung vorgängiger Einfaltungen oder Verwirklichung eines zumeist als ursprünglich gedachten Ziels – auslegen zu dürfen, wie es bis (fast) zum Ende des 18. Jahrhunderts – insbesondere in der Gestalt Hallers – üblich war, sondern als einen produktiven Prozess der Entstehung eines wirklich Neuen, eines “wahrhaft Producierte[n]” (C. F. Wolff, zit. nach Liebsch 1992, 123) denken zu können, so dass schließlich Entwicklung “als selbst hervorbringend, nicht bloß als entwickelnd” (Kant 1957, V 545), d.h. als selbst generativ und neue Möglichkeiten allererst erzeugend, begriffen werden konnte, wie bereits Kant – sich ausdrücklich wertschätzend auf die Arbeiten Blumenbachs beziehend (vgl. ebd.) – dies kommentierte. Die Folgen dieser Weichenstellung sind überaus zentral und in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzen: nicht nur zerbröckelt epigenetisch die bis dahin selbstverständliche Überzeugung eines ‘paradiesischen Ursprungs’, so dass mit dieser schließlich auch die Hoffnung auf ‘Rückkehr’ und ‘Restitution’ desselben schwindet und die überwiegend schöpfungstheologische begründete Ordnung ins Wanken gerät; sondern vielmehr zeichnet sich nun im Gedanken der Epigenesis ein Möglichkeits- und Steigerungsdenken ab, das – im Rückgriff auf ‘Möglichkeitsmöglichkeiten’ (Bloch) – gänzlich neue Räume der Welt- und Selbstgestaltung eröffnet und so die modern schließlich umfassende ‘Entkontingentisierung’ (Marquard) der Wirklichkeit vorbereiten hilft114. Auf diesem Weg markieren insbesondere Caspar Friedrich Wolffs ‘Theoria generationis’ von 1759, die 1764 auch in deutsch erschien (vgl. Wolff 1759), wie Johann Friedrich Blumenbachs auf 1781 datierbare Erfindung des “Bildungstriebs” (‘nisus formativus’) (Blumenbach 1971, 13) zwei bedeutsame Stationen115: während zunächst Wolffs frühe Überlegungen zum Problem der ‘Generation’, die die Möglichkeit ‘wahrhafter Produktion’ embryologisch nachzuweisen und als sukzessive Entstehung – in der jeder spätere Schritt durch den jeweils vorangehenden ermöglicht, nicht aber von Anfang an bereits präformiert ist – zu plausibilisieren suchen, weitgehend durch die Dominanz Hallers wirkungslos blieben (vgl. Liebsch 1992, 125f.), gelangt erst mit Blumenbachs Reformulierung der Wolffschen ‘vis essentialis’ zu einem ‘Bildungstrieb’ (‘nisus formativus’; vgl. Blumenbach 1971, 13-18) dieses Denken zu größerer Wirksamkeit (vgl. Liebsch 1992, 132) – mit der eigentümlichen Folge, dass manchen bisweilen 114 Vgl. dazu ausführlicher die Überlegungen in Makropoulos 1997 und Ricken 1999a wie auch die verschiedenen Beiträge in Graevenitz / Marquard 1998. 115 Vgl. zu anderen Stationen insgesamt Engels 1982 wie auch Liebsch 1992; dort finden sich auch Hinweise zu Rousseau (ebd. 117), der zumeist als Initiator einer philosophischen genetischen Anthropologie gilt, indem er insbesondere das Kind aus der Vorstellung eines ‘verkleinerten Erwachsenen’ herauslöste und auf dessen Eigen- und Andersheit hinwies (vgl. auch Benner 1999c).
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gerade Blumenbach als “Vater der Anthropologie” (Lassahn 1983, 10f.) gilt. Was zunächst als Kritik des “scholastischen Stumpfsinn[s]” (Blumenbach 1971, 22) jeglicher Präexistenz- und Präformationsannahmen entwickelt und als argumentativ überzeugendere Folie zur Erklärung biologischer Phänomene, “das Geheimnis des Zeugungsgeschäftes endlich einmal aufgeklärt zu sehen” (ebd. 2), gedacht war, gerät mit Blumenbachs ausdrücklich hypothetischer (!) Unterstellung eines ‘Bildungstriebs’ zu einer insgesamt folgenreichen Verschiebung des traditionellen Konzepts der Entwicklung: nicht bloß Entfaltung oder Verwirklichung einer Präformation, sondern die Vorstellung einer “allmäligen Bildung” (ebd. 7), einer “allmähliche[n] Ausbildung (Epigenesis)” (Blumenbach 1807, 16) als einer wirklichen Neu- und Umschaffung wird dominant. So wird in Blumenbachs Behauptung – “Daß in allen belebten Geschöpfen vom Menschen bis zur Made und von der Ceder zum Schimmel herab, ein besondrer, eingebohrner, lebenslang thätiger würksamer Trieb liegt, ihre bestimmte Gestalt anfangs einzunehmen, dann zu erhalten, und wenn sie ja zerstört worden, womöglich wieder herzustellen. Ein Trieb (oder Tendenz oder Bestreben, wie mans nur nennen will) der sowohl von den allgemeinen Eigenschaften der Körper überhaupt, als auch von den übrigen eigenthümlichen Kräften der organisirten Körper ins besondre, gänzlich verschieden ist; der eine der ersten Ursachen aller Generation, Nutrition und Reproduction zu seyn scheint, und den ich hier um aller Misdeutung zuvorzukommen, und um ihn von den andern Naturkräften zu unterscheiden, mit dem Namen des Bildungs-Triebes (Nisus formativus) belege” (Blumenbach 1971, 12-13) – dieser zu einer Struktur alles Lebendigen erklärt und – schon durch Blumenbach selbst – zu einer umfassenden Deutungsfolie ausgeweitet: nicht nur, indem Blumenbach die Beschränkung der Idee der Epigenesis auf die Generation (Zeugung) aufhebt und auch Nutrition und Reproduktion als nur ”unmerklich fortgesetzte Erzeugung” (Blumenbach 1971, 70) versteht; sondern vor allem, indem er sie auch zur “Untersuchung der Menschenvarietäten” (ebd. 64) heranzieht und zu einem der Grundbegriffe seiner Anthropologie erklärt. In seinem seit 1779 vielfach erschienenen ‘Handbuch der Naturgeschichte’ (vgl. Blumenbach 1807) lassen sich anthropologische Argumentation und Entwicklungsdenken in ihrem Zusammenhang studieren: gerade weil der Mensch “außer den Sexualtrieben wenig andere Spuren von Instinct” (Blumenbach 1807, 44) zeigt, ist er nicht festgelegt und kommt “bloß durch allmähliche Ausbildung (Epigenesis)” (ebd. 16) zu seiner Gestalt; auch die als Mängelkompensation gedachte Vernunft – “Was ihn hingegen für diesen scheinbaren Mangel entschädigt, ist der Gebrauch der Vernunft” (ebd. 44), der “hinwiederum im ausschließlichen Besitze” (ebd. 42) des Menschen ist – unterliegt solcher epigenetischer Entwicklung und wird konsequent als eine “sich nach den Umständen gleichsam accomodirende Vernunft” (ebd. 45) charakterisiert: “Denn da ihm die ganze bewohnbare Erde zum Aufenthaltsort offen steht, und fast die ganze organische Schöpfung zur Speise überlassen ist, so erzeugt fraglich eben die große Verschiedenheiten der Climate [...] eben so verschiedene Bedürfnisse, die er durch keinen einförmigen Kunsttrieb, aber wohl durch den Gebrauch seiner sich nach den Umständen gleichsam accomodirenden Vernunft aus eben so mannigfaltige Weise zu stillen vermag” (ebd. 44f.) – mit der generellen Folge, dass dieser “Vorzug” (ebd.) daher den Menschen ‘über die ganze übrige thierische Schöpfung’ hinaushebe (vgl. ebd.) und diesen zu “unbeschränkte[r] Herrschaft [...] über das ganze Naturell dieser seiner Mitgeschöpfe nach seiner Willkür disponiere” (ebd.). Die Argumentationsfigur ist geradezu klassisch: obwohl uneingeschränkt Teil der Natur – Blumenbach erläutert den Menschen im Kapitel der Säugetiere (vgl. ebd. 49-137, darin 65-72) und weigert sich, ihn aufgrund seiner Vernunftfähigkeit außerhalb der tierischen Ordnung zu setzen – ist er qua Natur (Instinktlosigkeit) zu Vernunft und “Rede aller Sprache” (ebd. 66) befähigt – ihr zugleich übergeordnet und insofern insgesamt doch enthoben: “Und so folgt aus jenen beyden ausschließlichen Vorzügen das große Eigenthum des Menschenspecies, wodurch sie über die ganze thierische Schöpfung erhoben
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wird, das Vermögen, sich selbst zu vervollkommnen” (ebd. 66). Zwischen beide Markierungen aber lagert sich – ebenso selbstverständlich wie klassisch – die Notwendigkeit der Erziehung als einer gesellschaftlichen Praxis ein, entwickelt dieser sich doch gerade nicht – wie das Tier – “ohne allen Unterricht” und “gleichsam maschinenmäßig” (ebd. 43): “Der Mensch ist für sich ein wehrloses, hülfsbedürftiges Geschöpf. Kein anderes Thier außer ihm bleibt so lange Kind [...]. Selbst seine großen Vorzüge, Vernunft und Sprache, sind nur Keime, die sich nicht von selbst, sondern erst durch fremde Hilfe, Cultur und Erziehung entwickeln können; daher dem bey dieser Hilfsbedürftigkeit und bey diesen zahllosen dringenden Bedürfnissen die allgemeine natürliche Bestimmung des Menschen zur gesellschaftlichen Verbindung” (ebd. 66)116. Auch wenn Blumenbach seine Erfindung eines ‘nisus formativus’ weder mechanistisch noch vitalistisch verstanden wissen wollte (vgl. Blumenbach 1807, 17) und trotz der von ihm behaupteten Fruchtbarkeit der Erfindung und Nutzung des ‘Bildungstriebs’ vorsichtig genug blieb, diesen als hypothetisch anzusetzen, erkläre der Verweis auf eine sogenannte Lebenskraft doch zunächst gar nichts, sondern tauge allein dazu, eine – nur in ihrer Wirkung beobachtbare (!) – “besondere Kraft unterscheidend [zu] bezeichnen”, die für uns insofern eine “qualitas occulta” (ebd. 19) bleiben müsse, so kann doch gerade mit ihr der unwiderrufliche Bruch mit präformationistischen Überzeugungen markiert werden – mit der eigentümlichen Folge, dass gerade die verschiedenen Anschlussversuche an Blumenbach sich dieser Vorsicht weitgehend entledigten und versuchten, die der belebten Natur zugeschriebenen Kräfte auch ‘psychomorph’ zu verstehen und zu weitreichenden Konzepten menschlicher Epigenesis als eines “subjektiven Bildungsprozesses” (Liebsch 1992, 133) zu nutzen: “Einen solchen Ansatz verfolgte vor allem Herder” (ebd.)117.
Es ist schließlich diese – im Gedanken der Epigenesis grundgelegte und sich von dort breit durchsetzende – Idee der Entwicklung als einer produktiven Selbsthervorbringung und sukzessiven Progression lebendiger Wesen, die die spätaufklärerische Selbstverständigung der Menschen so radikal von den alten Ordnungsfiguren unterscheidet und bis heute nachhaltig verändert; mit ihr lässt sich das Programm der Konstitution des ‘neuen Menschen’ auf einen argumentativ veränderten Boden stellen und produktiv entfalten. (2) Diesem anthropologischen Aufriss ist von Anfang an eine pädagogische Figur eingeschrieben, mit der die Konstitution des ‘neuen Menschen’ als Projekt sich 116 Dabei dient der Gedanke der Epigenesis auch als Grundlage der Differenzierung der Menschheit in (fünf) Rassen, führt er deren Unterscheidungen doch auf die unterschiedlichen Entwicklungen und Kontexte derselben zurück: “Doch die bey weiten merkwürdigsten Veränderungen und Abweichungen der Bildung sind zuverlässig die, so anfangs durch die Kunst, aus Gewohnheit, Landessitte etc. veranlaßt, nach und nach haftend, gleichsam zur andern Natur und erblich worden sind” (Blumenbach 1971, 63-64). So präsentiert sich Blumenbachs ‘Rassenlehre’ als eine Hierarchie der Rassen, indem er der ‘caucasischen Rasse’ (Blumenbach 1807, 67) als “Stamm- oder Mittel-Rasse” (ebd. 69) eine besondere Stellung zuweist und die anderen Rassen entweder – wie die ‘americanische Rasse’ (vgl. ebd. 68) und die ‘malaysische Rasse’ (ebd. 69) – als Übergang versteht oder – wie die ‘mongolische Rasse’ und ‘äthiopische Rasse’ (vgl. ebd. 69) als “Extreme” (ebd.) und Ausartungen kennzeichnet. 117 Vgl. dazu sowohl Kants Würdigung der “Beschränkung eines zu vermessenen Gebrauchs” “dieser Theorie der Epigenesis” durch “Herr[n] Hofr. Blumenbach” (Kant 1957, V 545) selbst als auch dessen kritische Kommentierung der Herderschen Konzeption, die ‘Bildung des Menschen’ in “Analogie mit den Naturbildungen” (Kant 1964, VI 790) zu konzipieren; demgegenüber beharrt Kant auf der strikten Trennung der “bloß denkenden” von der übrigen Natur, ist doch für ihn schlechthin unbegreiflich, wie die seelische und womöglich auch die vernünftige Natur des Menschen “aus nach und nach hinzukommenden Kräften allererst geworden” (ebd. 788) sein soll.
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etabliert118: Erziehung – mit Kant formuliert – ist nicht nur unvermeidlich, weil der Mensch zur eigenen Lebensführung “aber nicht sogleich im Stande ist” (Kant 1964, VI 697) und “die Entwickelung der Naturanlagen bei dem Menschen nicht von selbst geschieht” (ebd. 703), sondern auch anthropologisch notwendig, “damit ein zukünftig besserer Zustand dadurch hervorgebracht werde” (ebd. 704) und “jede folgende Generation einen Schritt näher tun wird zur Vervollkommnung der Menschheit” (ebd. 700); deren argumentative Grundfigur lautet – bis heute: “Ein Tier ist schon alles durch seinen Instinkt; eine fremde Vernunft hat bereits alles für dasselbe besorgt. Der Mensch aber braucht eigene Vernunft. Er hat keinen Instinkt, und muß sich selbst den Plan seines Verhaltens machen. Weil er aber nicht sogleich im Stande ist, dieses zu tun, sondern roh auf die Welt kommt: so müssen es andere für ihn tun” (ebd. 697). Doch dient Erziehung gerade nicht bloß der praktischen Disziplinierung und kultivierenden Unterweisung, sondern fungiert – qua Moralisierung – auch als “Prospekt zu einem künftigen glücklichern Menschengeschlechte” (ebd. 700). Insgesamt wird damit der Erziehung eine umfassende Funktion in der Neukonstruktion des Sozialen zugewiesen, die sich – verkürzt – dann auch in der Ausdifferenzierung der Pädagogik aus ‘Regierung’ und ‘Policey’ niedergeschlagen hat119. Doch bleibt Erziehung aufklärerisch mehr disziplinierende ‘Zurückdrängung der Tierheit im Menschen’ (vgl. ebd. 697) als produktive Ermöglichung der Freiheit selbst, kann (und will) sie sich doch ihres offenkundigen Machtcharakters nicht entledigen; Kants eher skeptische Frage – “Wie kultiviere ich [denn] die Freiheit bei dem Zwange?” (ebd. 711) – relativiert gerade nicht seine Grundüberzeugung, dass “der Mensch [...] nur Mensch werden [kann] durch Erziehung” (ebd. 699), sondern betont darin die Notwendigkeit des Zwangs. Was so in der kantischen Erziehungsfigur – dass man das Kind jetzt diszipliniere, “damit es einst frei sein könne” (ebd. 711) – paradox bleibt, führt in seiner Geschichtsphilosophie zu erheblicher Skepsis, ist der Mensch doch “aus so krummen Holze”, aus dem nun mal “nichts ganz Gerades gezimmert werden kann” (Kant 1964, VI 41). Darin aber bleiben die beiden Pole der anthropologischen Differenz – naturaler Mangel einerseits und kulturale Selbstbestimmung andererseits – auch in ihrer Hierarchisierung einander noch zugeordnet. ‘Vervollkommnung des Unverbesserlichen’ (vgl. Kamper / Wulf 1994) und nicht 118 Kaum zufällig ist daher, dass die konstitutive Abwehr der christlichen Erbsündenlehre einher geht mit der ‘Entdeckung’ und ‘Erfindung’ der Kindheit und seiner Unschuld; vgl. dazu auch die Hinweise in Riedel 1994, 114. 119 Die – exemplarisch – von Trapp vorgenommene Ausweitung des Erziehungsbegriffs ist aufschlussreich; so fordert Trapp in seinem ‘Versuch einer Pädagogik’ (1780), “daß man Erziehung nicht in dem eingeschränkten Verstande nehmen muß, da es heißt, Kinder bis zu einem gewissen Alter in die Schule schicken; sondern in dem weiten Sinn, in welchem sie die ganze Bildung des Menschen zu einem gewissen Zweck bedeutet, sich auch über das männliche Alter noch erstreckt [...], und also ein Teil dessen ausmacht, was man heutigen Tages Polizei nennt, obgleich in sofern ein erheblicher Unterschied zwischen beiden ist, daß die Polizei, so wie sie nämlich bisher ist, den Leuten bloß sagt, was sie nicht thun sollen, und sie straft, wenn sie es dennoch thun; die Erziehung aber, wenn sie gehörig eingerichtet ist, zugleich befiehlt, was man thun, und Anleitung gibt, wie mans thun solle, um Vergehungen und Fehler so viel möglich zu verhüten und dadurch der Strafen weniger zu machen” (Trapp 1977, 19). Vgl. dazu auch Hinweise bei Meyer-Drawe 1996, 660ff. wie Pauly 2000; zur Bedeutung und Geschichte der ‘guten Policey’ vgl. ausführlicher auch Teil [2] dieser Studie / Kapitel III.
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bloß aspirative ‘Vollendung’ (vgl. Oelkers 1997), so ließe sich das immer auch skeptische aufklärerische Programm betiteln120. So ist es weniger der oft als krude und unkritisch bewertete Erziehungsgedanke, der – wie Meyer-Drawe formuliert – nicht dazu taugt, “den Akt [der Unterwerfung] [...] zu verleugnen” ( Meyer-Drawe 1999a, 172), sondern der viel ‘noblere’ und als kritisch bewertete Bildungsbegriff121, der die von Foucault diagnostizierte Verwandlung und Intensivierung der Macht von souveräner Repression über die produktiveinschränkende Disziplinarmacht zur positiv ermöglichenden Bio-Macht auch pädagogisch nachvollziehen lässt. Im Bildungsdenken – so der hier leitende Verdacht – vertieft sich der Zugriff der Macht, indem diese sich – analog zur Pastoralmacht – auf das Selbstverhältnis focussiert, dieses paradox figuriert und sich darin als Macht gerade ‘invisibilisiert’122.
III. Innerhalb dieses Grundrisses der spätaufklärerischen Anthropologie nimmt nun die Theorie und Anthropologie der Bildung eine besondere Stellung ein, fungiert sie doch gleichsam sowohl als deren Ausdruck und Inbegriff als auch als deren Folge und Aufhebung. Insbesondere die Auffassung, dass Menschsein kein statischer Zustand, in den der Mensch hineingeboren werde, sondern eine – lebenslange – Aufgabe sei, der er nur durch die selbstbezüglich gedachte Entfaltung und Entwicklung seiner Anlagen und Fähigkeiten und insofern nur durch mit Welt vermittelter Selbstgestaltung nachkommen könne, vermag den aufklärerischen Grundgedanken der Bildung angemessen zu markieren; auch wenn mit dieser spätaufklärerisch einsetzenden ‘Enttheologisierung’ der Bestimmung des Menschen (noch) nicht eine endgültige Distanzierung vom christlichen Selbstverständnis einhergegangen ist, so vollzieht sich doch mit und in ihr eine zunehmend bedeutsamer werdende ‘anthro120 Meine Überlegungen zur Pädagogik der Aufklärung beschränke ich daher auf diese wenigen Anmerkungen; vgl. ausführlicher Kersting 1992 wie auch Herrmann 1993 und die verschiedenen Beiträge in Herrmann 1989 wie Hager 1997. 121 Vgl. zur kritischen Rekonstruktion der Traditionslinien des Bildungsbegriffs auch die Studien MeyerDrawes (Meyer-Drawe 1998a, 1999a, 2000), die – in ähnlicher Richtung – die Kritik des Bildungsbegriffs in einer einseitig an der Selbstmacht des Menschen orientierten Auflösung der (historisch bereits früh reflektierten) Ambivalenz des Bildungsbegriffs (zwischen Zusagung und Versagung) situiert und historisch materialreich belegt hat. 122 Dies ließe sich auch an der Verschiebung der philanthropischen Erziehungstheorie zur neuhumanistischen Bildungstheorie aufzeigen (vgl. dazu insbes. Kersting 1992): was einerseits als Kritik und Überwindung der auf Brauchbarkeit und ‘Industriösität’ zielenden ‘Menschenmacherei’ gilt, gerät andererseits zu einer gezielten Bearbeitung des Selbst, indem Individualität und mit ihr verbundene Glückseligkeit als jeweilige Grenzen pädagogischen Eingreifens verabschiedet und nun der ‘Bearbeitung’ ausdrücklich zugänglich werden. Vgl. dazu auch Luhmanns anregende und geradezu gegenpädagogisch lesbare Interpretation von Philanthropismus und Neuhumanismus aus systemtheoretischer Perspektive (Luhmann 1981), in der sich der Umbau der gesellschaftlichen Differenzierung zur funktionalen Differenzierung über die Neuthematisierung eines ausschließlich selbstbezüglichen Selbsts organisiert und mit ihr einhergeht, so dass nicht mehr Zugehörigkeit (als Limitation von Möglichkeiten), sondern Nichtzugehörigkeit (als Möglichkeitseröffnung und gesellschaftliche Bedingung von Selbstbestimmung) die anthropologische Grundstruktur der Moderne ausmacht (vgl. dazu auch Luhmann 1980).
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pologische Wende’, die die Menschen schließlich aus den traditionellen Strukturen einer christlich-dogmatisch begründeten und pastoral praktizierten ‘Führung der Führungen’ befreit und sie zugleich einer ebensolchen, allerdings nun ausschließlich anthropologisch begründeten und pädagogisch praktizierten Führungsfigur unterwirft. Mit ihr lässt sich daher der von Foucault vielfach beschriebene moderne Wandel der Macht nicht nur auch anthropologisch nachvollziehen, sondern auch – durchaus in seinem Kern – als ein spezifisch anthropologischer Wandel beschreiben (vgl. auch Studie I). Dabei lassen sich zunächst durchaus zwei verschiedene Traditionen des Bildungsdenkens rekonstruieren, die sich hinsichtlich ihrer Grundfigur zwar in eine eher teleologische und eine deutlicher identitätstheoretische Konzeption der Bildung unterscheiden lassen (vgl. Buck 1984, 13-24), nicht aber in ihrem Zusammenhang getrennt oder gar einander konträr gegenüber gestellt werden können; vielmehr verdankt der spätaufklärerisch rasant aufkommende Bildungsbegriff seine enorme Integrations- und Durchsetzungskraft gerade dieser bereits anfänglichen begrifflichen ‘Unbestimmtheit’, die schließlich ‘Bildung’ sowohl als “Ausfaltung praeformierter Möglichkeiten” und “Erfüllung eines Werdensplans” (Buck 1984, 15) als auch als geschichtlich offene, auf “Selbstübereinstimmung” (ebd. 16) zielende und allein durch Selbstgestaltung ermöglichte “Selbsterhaltung” (ebd. 16) qua “Selbststeigerung” (Buck 1976, 217) zu denken erlaubt123. Beiden Bildungstraditionen sei daher typologisch nachgegangen: während für die eine – deutlicher teleologische – Figur insbesondere Herder als repräsentativ gelten kann (1), lässt sich das andere – eher identitätstheoretische – Verständnis von Bildung im Rückgriff auf Schiller und schließlich Humboldt erläutern (2). Beide aber können als zwei bedeutsame Ausgestaltungen des spätaufklärerisch anbrechenden Bildungsdenkens gelten, das – insbesondere in der Gestalt Humboldts – bis heute immer wieder erinnert und rekonstruiert wird. Dabei zehren sie – darauf hat insbesondere Buck in seinen Arbeiten immer wieder hingewiesen (vgl. Buck 1976 wie 1984) – in ihren jeweiligen Ausgestaltungen insbesondere von den ideengeschichtlichen Weichenstellungen Rousseaus, dessen Konzept der “perfectibilité” (Rousseau 1995, 108) innerhalb des aufklärerischen Diskurses zu einer bedeutsamen Bezugs- und Auseinandersetzungsfigur geworden ist, indem es die Differenz von Mensch und Tier gerade in einer “sehr eigentümliche[n], beide unterscheidende[n] Eigenschaft” markiert und diese als “Fähigkeit zur Vervollkommnung” – “eine[r] Fähigkeit, die mit Hilfe der Umstände alle anderen allmählich entwickelt und uns, der Gattung wie
123 Die von Buck nicht nur typologisch, sondern seinerseits geradezu normativ vorgenommene Unterscheidung zweier verschiedener Bildungsbegriffe mag ‘theoriestrategisch’ überzeugen, dient sie doch bei Buck dem Versuch, einer weit verbreiteten und überaus gängigen, in sich aber enorm problematischen teleologischen Auffassung von Bildung eine andere, identitätstheoretische Fassung des Bildungsbegriffs – “des eigentlich neuzeitlichen Begriffs der Bildung!” (Buck 1984, 18) – entgegenzusetzen; historisch gesehen ist sie aber angesichts der von ihm selbst zugestandenen Popularität des anderen Verständnisses (ebd. 14 und 15) nicht plausibel, sondern verdeckt ihrerseits nur die Ambivalenz wie Problematik des Bildungsbegriffs insgesamt. Vgl. ausführlicher Buck 1984 wie auch dessen Skizze der aufklärerischen Anthropologie der Selbsterhaltung qua Selbststeigerung in Buck 1976.
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dem einzelnen innewohnt” (Rousseau 1995, 107/109) – entwirft124. Mit ihr aber geht eine “Inversion der alten Teleologie” (Buck 1976, 216) einher, die gerade nicht bloß eine Aufhebung teleologischen Denkens ist, sondern eine Zuspitzung der neuzeitlichen Anthropologie der ‘Selbsterhaltung’ darstellt, ist diese doch – wie Buck an Rousseau eindrücklich nachweist (vgl. Buck 1976) – “nur denkbar als Selbststeigerung” (Buck 1976, 217). Von hier aber zeigt sich erst ein identitätstheoretisches Verständnis von Bildung als angemessen. (1) Im deutschsprachigen Diskurs kann insbesondere Johann Gottfried Herder als einer der bedeutsamsten Protagonisten des neuen Bildungsdenken gelten, ist es doch gerade sein Verdienst, den epigenetischen Grundgedanken aus seiner – bei Wolff und Blumenbach zunächst naturtheoretisch begrenzten – Bedeutung herausgelöst, in andere Diskurse hineingetragen und durch – bisweilen eigenwillige – Übersetzung und produktive Verwandlung zu einem schließlich geschichtsphilosophischen ‘Bildungsprinzip’ ausgebaut zu haben125, dessen Grundgedanke in der poetischen Formel Goethes – ‘geprägte Form, die lebend sich entwickelt’ (Goethe 1817) – bündelbar ist und bis heute als typische Kennzeichnung des deutschen Bildungsdenken gilt (vgl. Buck 1984, 14f. wie 155f.). Auch wenn Herders Arbeiten insgesamt ein eher schillernder und oft mehrdeutiger Charakter anhaftet, der diese zu vielerlei Zwecken interpretierbar macht, so lässt sich gerade bei ihm der Zusammenhang von Anthropologie und Bildungstheorie in seinen (besonderen) Weichenstellungen exemplarisch studieren: nicht nur, weil gerade Herder – lange vor Kant und Feuerbach – den Neubeginn philosophischen Nachdenkens als “Einziehung der Philosophie auf Anthropologie” (Herder 1985, 132) bestimmte und im Bild der kopernikanischen Wende bündelte126; auch nicht nur, weil Herders Arbeiten anthropologisch längst 124 Insofern ist auch Rousseaus Denken Ausdruck eines radikal epigenetisch argumentierenden Denkens, sucht dieser doch die Entwicklung des Menschen nicht aus Anlagen und vorgängigen Einfaltungen abzuleiten, sondern als eine nachträgliche historische Genese zu erläutern. Für den deutschsprachigen Diskurs – auch und gerade den der ‘Bildung’ – ist jedoch bedeutsam, dass die Rezeption des Begriffs der ‘perfectibilité’ von Anfang an in einem “teleologischen Interpretationsschema” (Buck 1976, 213) stattgefunden hat und so den Versuch Rousseaus, “der Historizität des Menschen unter möglichster Absehung von teleologischen Deutungen nahezukommen” (ebd.), “von vorneherein in schiefem Licht erscheinen” (ebd.) ließ. Vgl. dazu ausführlicher Buck 1976, 210-215 wie auch insgesamt Buck 1976 und Buck 1984, 91-134. So kann die zeitgenössische Distanz sowohl von Herder als auch Humboldt zu den Überlegungen Rousseaus nicht überraschen (vgl. dazu auch Menze 1965, 296 wie auch Schriewer 1975); sie erschwert es aber auch, in der Rekonstruktion des ‘Bildungsdenken’ ungebrochen (bzw. bisweilen nur) auf Rousseau zurückzugreifen, wie dies – seit Blankertz’ Versuch einer Neuinterpretation des neuhumanistischen Bildungsbegriffs (vgl. Blankertz 1963) – immer wieder geschieht (vgl. Buck 1976 und 1984 wie auch Benner / Brüggen 1996 und Benner / Kemper 2001), um den vielen (teleologischen) Schwierigkeiten, die insbesondere das Herdersche und auch Humboldtsche Denken durchziehen und so zweideutig machen, doch entkommen zu können. – Eine machttheoretisch justierte Interpretation und Rekonstruktion auch Rousseaus wäre insofern ebenso interessant wie fruchtbar, scheinen mir doch auch die anthropologischen, erziehungs- wie sozialtheoretischen Überlegungen Rousseaus vielfältige Einstiege und Anschlüsse dazu anzubieten; vgl. dazu Schäfer 2002. 125 Was ideengeschichtlich eher ‘unfein’ ist, wird genealogisch von besonderer Bedeutung: es ist gerade die – von Buck insgesamt eher monierte – Rolle Herders als eines überaus geschickten “Kompilator” und ‘Plagiator’ der ‘Bildungsidee’, die dessen Bedeutung als “einem der wirksamsten Schriftsteller der Zeit” (Buck 1984, 138) ausmacht und insbesondere in seiner “Geschicklichkeit ihrer Weiterverbreitung” (ebd. 139) sieht. 126 So kommentiert Herder in seiner Schrift ‘Wie die Philosophie zum Besten des Volks allgemeiner und
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maßstäblich geworden sind und als erfahrungstheoretisch argumentierende wie ästhesiologisch dimensionierte Philosophie für die Entfaltung einer vernunftkritischen ‘Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft’ (Herder 1799) zunehmend an Bedeutung gewonnen haben127; sondern vor allem, weil dessen bildungsprinzipielle Umschrift der aufklärerischen Anthropologie als eine bedeutsame, das weitere Bildungsdenken bestimmende und entscheidend vorbahnende Weichenstellung gelesen werden muss, deren Kern – trotz aller teleologisch-theologischen Kontexte – als Figur einer durch ‘Entmangelung’ und ‘Entgrenzung’ etablierten ‘steigerbaren Existenz’ gelten kann. Bereits in seiner Preisschrift ‘Über den Ursprung der Sprache’ (1770/1772, vgl. Herder 1891, V) hat Herder seine anthropologische Grundfigur skizziert und als eine bedeutsame Variation des aufklärerisch geläufigen Diskurses einer ‘Mängelanthropologie’ entfaltet128: sich sowohl gegen Rousseaus “philosophischen Roman” (Herder 1891, V 147) einer Naturgeschichte des Menschen als auch gegen Kants Vernunftapriorismus verwahrend sucht er, mithilfe “feste[r] Data aus der menschlichen Seele” und einer Analyse “der menschlichen Organisation” (ebd. 147) zu zeigen, dass der Unterschied zum Tier gerade nicht (bloß) in der durchaus triftigen nützlicher werden kann’ bereits 1765 – also gut 20 Jahre vor Kants Selbstvergleichung seiner Philosophie und der darin vorgenommenen “Revolution der Denkart” (Kant 1956, II 22) “mit den ersten Gedanken des Kopernikus” (ebd. 25) – das Motto seiner als “Plan zur Bildung” (Herder 1985, 131) des Volkes betriebenen anthropologischen Philosophie: “Alle Philosophie, die des Volkes sein soll, muß das Volk zu seinem Mittelpunkt machen, und wenn man den Gesichtspunkt der Weltweisheit in der Art ändert, wie aus dem Ptolemäischen, das Kopernikanische System ward, welche neue fruchtbare Entwickelungen müssen hier nicht zeigen, wenn unsere ganze Philosophie Anthropologie wird” (ebd. 134). 127 So gilt Herder zurecht als einer der immer wieder zitierten Väter neuzeitlicher Anthropologie, hat doch insbesondere Arnold Gehlen, einer der immer wieder zitierten Väter der philosophischen Anthropologie des 20. Jhs., gerade auf Herder zurückverwiesen: “Die philosophische Anthropologie hat seit Herder keinen Schritt vorwärts getan, und es ist im Schema dieselbe Auffassung, die ich mit den Mitteln moderner Wissenschaft entwickeln will. Sie braucht auch keinen Schritt vorwärts tun, denn dies ist die Wahrheit” (Gehlen 1997, 84). Seine eigene (Herder allerdings zuwider laufende) ‘Diagnose des Tieres’ (Nietzsche), das aufgrund seiner Mängelausstattung und der daraus resultierenden Handlungsfreiheit zur Kompensation durch Vernunft und Kultur gezwungen ist, so dass “der Mensch von Natur ein Kulturwesen” (ebd. 80) sei, das notwendig der ‘Führung’ bedürfe (vgl. ebd. 61), steht nicht nur inhaltlich, sondern bereits konzeptionell im scharfen Kontrast zu den Herderschen Überlegungen. Es ist genau dieses Missverständnis der Herderschen Anthropologie, das Gehlen zu seinen fatalen – auch nationalsozialistisch ausformulierten (vgl. Gehlen 1935) – institutionstheoretischen Überlegungen einer notwendigen ‘Führung der Selbstführungen’ (vgl. ebd. 61) geführt hat; vgl. dazu auch Böhme 1985, 237ff., insbes. 246.Vgl. zum neuerdings enorm zunehmenden Interesse an Herder insbes. Schings 1994 und Riedel 1994 wie auch Müller 1997 und Heise 1998. 128 Sie erlaubt es ausdrücklich nicht, Herder als einen aufklärerischen ‘Kompensationstheoretiker’ zu interpretieren. Herders spezifische Pointierung der ‘Mängelthese’ zielt vielmehr auf ein Ende dauernder MenschTier-Vergleiche, die nicht taugen, die menschliche ‘Eigenart’ genauer zu fassen. So lassen sich zwar durchaus viele bildreiche Passagen finden, in denen Herder die ‘Instinktarmut’ als anthropologische Kennzeichnung thematisiert (vgl. Herder 1891, 26f. wie Herder 1887, 142-150), doch nimmt sein anthropologischer Versuch eine gänzlich andere Wende. Auch wenn man “sichs einander nach[spricht], daß der Mensch ohne Instinct sey, und daß dies Instinctlose Wesen den Charakter seines Geschlechts ausmache”, so betont Herder immer wieder, dass dies nur die “eine Seite seiner Oberfläche [sei] und auch die stehet im falschen Licht” (ebd. 94): “er hat alle Instincte, die ein Erdethier um ihn besitzet; nur hat er sie alle, seiner Organisation nach, zu einem feinern Verhältnis gemildert” (ebd. 142), ist der Mensch doch, “wenn ich so sagen darf, dem Haupt zuerschaffen” (ebd. 143); so ist Vernunft, jene “menschliche Lebensweise, die kein Thier hat und lernet” (ebd. 144), weder göttlicher noch tierischer, sondern allein menschlicher Herkunft, “nicht angebohren”, sondern “erlangt” (ebd. 145), nicht Kompensation, sondern ‘Eigenart’. Bildung ist daher der Grundgedanke der Herderschen Anthropologie, sowie dieser allein anthropologisch begründet wird.
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Beobachtung besteht, “daß der Mensch den Thieren an Stärke und Sicherheit des Instinkts weit nachstehe, ja daß er das, was wir bei so vielen Thiergattungen angebohrne Kunstfähigkeiten und Kunsttriebe nennen, gar nicht habe” (ebd. 22); vielmehr entwickelt er den menschlichen ‘Eigensinn’ “aus der allgemeinen tierischen Ökonomie” (ebd. 27) und kennzeichnet den “Gesichtspunkt” der “Sphäre” (ebd. 22) als Differenz: während “jedes Thier” gerade aufgrund seiner ‘scharfen Sinne’ und der es auszeichnenden ‘Kunsttriebe’ “seinen Kreis [habe], in den es von der Geburt an gehört, gleich eintritt, in dem es lebenslang bleibet, und stirbt” (ebd.)129, so könne hingegen dem Menschen “keine so einförmige und enge Sphäre, wo nur eine Arbeit auf ihn warte” (ebd. 25), zugeschrieben werden; vielmehr habe er “Sinne für Alles und natürlich also für jedes Einzelne schwächere und stumpfere Sinne” (ebd. 24). Was den einen – und wohl bis heute meisten – aber als “Lücken und Mängel” (ebd. 26) gilt, in die hinein “die Vernunft des Menschen als eine neue, ganz abgetrennte Kraft in die Seele hineingedacht” (ebd. 29) wird, “die dem Menschen als eine Zugabe vor allen Thieren zu eigen geworden” (ebd.) sei, ist für Herder nicht nur, “mögen es so große Philosophen sagen, als da wollen, Philosophischer Unsinn” (ebd. 29), sondern ein grundsätzliches Selbstmissverständnis des Menschen. Dessen “eigene Art” (ebd. 94) resultiere vielmehr aus dessen natural gedachter Offenheit und Unbestimmtheit: “so bekommt eben hiemit der Mensch, mehrere Helle” (ebd. 28), wird “freistehend, kann sich eine Sphäre der Bespiegelung suchen, kann sich in sich bespiegeln” (ebd.) – pointiert: “nicht mehr eine unfehlbare Maschine in den Händen der Natur, wird er sich selbst Zweck und Ziel der Bearbeitung” (ebd.). Es ist dieser erstmalig bei Herder anklingende und mit “Besonnenheit” (ebd. 31) bezeichnete Zusammenhang von Weltoffenheit und Reflexivität, der dessen Anthropologie so nachdrücklich von eingeschliffenen Mängeldiagnosen und Vernunftkompensationen unterscheidet, sieht doch Herder dessen Eigenheit in dieser “ganze[n] Disposition seiner Kräfte” (ebd. 28), die sich angemessen weder als “abgesonderte Kräfte” noch als “bloße Stuffenerhöhungen der Thierkräfte” (ebd.) beschreiben lassen, so dass der Mensch “schon als Tier” (ebd. 5) ganzer Mensch ist und keine Handlung wie ein Tier hätte je tun können: “Ist nehmlich die Vernunft keine abgetheilte, einzelnwürkende Kraft, sondern eine seiner Gattung eigne Richtung aller Kräfte, so muß der Mensch sie im ersten Zustande haben, da er Mensch ist” (ebd. 31). Was ausdrücklich sprachlich gilt – “Schon als Thier hat der Mensch Sprache” (ebd. 5), ist doch Sprache weder göttlichen noch tierischen Ursprungs, sondern Folge natural allererst eröffneter ‘Selbstbildung’ und – als “Erfindung” (ebd. 34) des Menschen – schlicht ‘menschlichen Ursprungs’ (vgl. ebd. 146) –, ist auch anthropologisch unabweisbar: “Das Instinktlose, elende Geschöpf, was so verlaßen aus den Händen der Natur kam, war auch vom ersten Augenblicke an, das freithätige, vernünftige Geschöpf, das sich selbst helfen sollte, und nicht anders, als konnte. Alle Mängel und Bedürfniße, als Thier, waren dringende Anläße, sich mit allen Kräften als Mensch zu zeigen: [...] nicht etwa bloß [als] schwache Schadloshaltungen gegen die ihm versagten größern Thiervollkommenheiten [...], sondern [...], ohne Vergleichung und eigentliche Gegeneinandermeßung [als] seine Art” (ebd. 94), – immer mit dem Zusatz gedacht, “daß es gleich vom Ersten Momente an kein Thier, sondern ein Mensch, zwar noch kein Geschöpf von Besinnung, aber schon von Besonnenheit” (ebd. 94f.) gewesen sei. Aus dieser anthropologischen Grundskizze der Besonderung des Menschen folgert Herder nun zweierlei: erstens sei dieser weder vorbestimmt noch bloßes Entfaltungsprodukt, sondern – aufgrund einer gewissen “Biegsamkeit der Seele” (ebd. 73) – selbst eine “Progreßion durch Erfahrung” (ebd. 97) – gezwungen, “vom Ersten Augenblicke sich zu entwickeln” (ebd. 95), und so in eine unendliche “Kette [...] bis an den Tod” gestellt: “gleichsam nie der ganze 129 Herders Beobachtung einer “umgekehrte[n] Proportion” – “je schärfer die Sinne der Thiere, [...] desto kleiner ist ihr Kreis” (Herder 1891, V 22) – kann dabei als durchaus präzise Beschreibung ‘tierischer Zentrik’ dienen und dient ihm dazu, den tierischen “Instinkt” (ebd. 24) gerade nicht bloß durch “blinde Determinationen” (ebd. 23) zu erklären, sondern als Folge der Ausrichtung “auf Einen Punkt” (ebd. 24) zu bestimmen.
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Mensch: immer in Entwicklung, im Fortgange, in Vervollkommnung” (ebd. 98); zweitens aber sei kein Mensch allein “für sich da” (ebd. 116), sondern “in das Ganze des Geschlechts eingeschoben, [...] nur Eins für die fortgehende Folge” (ebd.) und insofern Teil der “ganze[n] Kette” (ebd.) der Menschheit: “Eben deßwegen kommt der Mensch so schwach, so dürftig, so verlaßen von dem Unterricht der Natur, so ganz ohne Fertigkeiten und Talente auf die Welt, wie kein Thier, damit er, wie kein Thier, eine Erziehung genieße, und das Menschliche Geschlecht, wie kein Thiergeschlecht, ein innigverbundnes Ganze werde” (ebd. 115). Beides aber – so Herder immer wieder – sei mit ‘Bildung’ gemeint und im Begriff der “ganze[n] Kette der Bildung” (ebd. 134) markiert; es ist dieses Bild der ‘Kette’, das Herder immer wieder nicht nur zur Kennzeichnung des zeitlichen wie sozialen Zusammenhangs der Menschen bemüht, sondern auch als Inbegriff einer – dann doch auch göttlich gedachten – Ordnung aufgreift130. In seinen späteren Schriften zur ‘Geschichte der Menschheit’ (1784-1791, vgl. insbes. Herder 1881, VII wie 1887, XIII) hat Herder nun diesen Grundsatz seiner Anthropologie – “mit dem Menschen ändert sich die Scene ganz” (Herder 1891, V 25) – immer wieder aufgenommen, differenzierend vertieft und im Gedanken der “Bildung zur Humanität” (Herder 1881, XVII 138) geradezu zum anthropologischen Prinzip schlechthin ausformuliert: “Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung; er stehet aufrecht” (Herder 1881, XVII 146), darf nicht nur zwischen dem Guten und dem Bösen wählen, sondern soll “selbst Gewicht [...] seyn auf der Waage” (ebd.) – mit der bedeutsamen Folge, dass sowohl “Perfectibilität” als auch “Corruptibilität” (Herder 1881, XVII 110) zum “auszeichnenden Charakter seiner Gattung” (ebd.) gehören. Darin aber spitzt Herder seinen Gedanken der Bildung zu: “Indessen ist er, auch seiner Freiheit nach, und selbst im ärgsten Mißbrauch derselben ein König” (ebd. 147), der – trotz aller Schöpfung und Vorsehung – “ist und bleibt für sich ein freies Geschöpf. [...] So ist der Mensch im Irrthum und in der Wahrheit, im Fallen und Wiederaufstehen Mensch, zwar ein schwaches Kind, aber doch ein Freigebohrner: wenn noch nicht vernünftig, so doch einer bessern Vernunft fähig, wenn noch nicht zur Humanität gebildet, so doch zu ihr bildbar. Der Menschenfresser in Neuseeland und Fenelon, der verworfene Pescherei und Newton sind Geschöpfe Einer und derselben Gattung” (ebd. 147). Gerade wenn “Selbsterhaltung” das erste ist, “wozu ein Wesen da ist: [...] was es ist, zu bleiben” (ebd. 319), so kann der Mensch – “gehorchend diesem Gesetz” (ebd.) – nur bleiben, was er ist, indem er wird, was er ist, und sich entfaltet und entwickelt; folgerichtig ist “Bildung der Humanität”, so formuliert Herder eindringlich, der “Zweck unsres jetzigen Daseyns” (ebd. 189) und der “Zweck des Menschengeschlechts auf der Erde” (Herder 1909, XIV 209) zugleich: “Es ist eben diese Gottähnliche Humanität, die verschlossene Knospe der wahren Gestalt der Menschheit” (Herder 1881, XVII 191), auf die der Mensch menschheitlich zustrebe und in der Herder schließlich die eigentliche ‘Natur’ des Menschen ausmacht: “so vergönne man mir, nach allem was ich über die Nationen der Erde gelesen und geprüft habe, diese innere Anlage zur Humanität so allgemein als die menschliche Natur, ja eigentlich für diese Natur selbst anzunehmen. Sie ist älter, als die speculative Vernunft, die durch Bemerkung und Sprache sich erst dem Menschen angebildet hat, ja die in praktischen Fällen kein Richtmaas in sich hätte, wenn sie es nicht von jenem dunklen Gebilde in uns borgte” (ebd. 394). Offenkundig ist daher Herders Verständnis einer ‘Bildung zur Humanität’ in mehrfacher Hinsicht spannungsreich: nicht nur, weil sein Verständnis der Humanität131 immer wieder 130 So spricht Herder ebenso selbstverständlich von der verheißungsvollen “goldene[n] Kette der Bildung” (Herder 1887, XIII 353) wie skeptisch von der “Kette von Tradition” (ebd. 378) und der “Kette des Schicksals” (Herder 1909, 32), an der die Menschen “hangen [...] wie teuflische Sklaven”, die nur “mechanisch die Kette weiter” (Herder 1881, XVII 370) ziehen, so dass Utopie und Skepsis sich unlösbar ineinander mischen (vgl. auch Herder 1881, XVII 467f.). 131 Humanität ist ohne Zweifel einer der Zentralbegriffe Herders; an ihm lässt sich zugleich Herders eigentümlich ‘finalisierte’ Denkfigur illustrieren: “Ich wünschte, daß ich in das Wort Humanität alles fassen könnte,
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zwischen der Idee einer grundsätzlichen Humanität allen Menschlichens, die “nur gradweise” (ebd. 348) Unterschiede kennt, und der Vision des “eigentliche[n] Mensch[en]” (ebd. 370) als einer werdenden “gottähnlichen Humanität” (ebd. 191) schwankt und so immer wieder sein leidenschaftliches Plädoyer hintertreibt, Humanität markiere gerade nicht jenen teleologisch missverstehbaren “Punkt der Vollkommenheit, der außer uns ist und den wir nie erreichen könnten” (Herder 1909, XIV 208), sondern jene freie “Humanität, wie [immer der Mensch] sich dieselbe auch dachte” (ebd.): “Der Mensch sei Mensch! Er bilde sich seinen Zustand nach dem, was er für das Beste erkennet” (ebd. 209), wie Herder sein “Hauptgesetz der Natur” (ebd.) formuliert: “Was also jeder ist und sein kann, das muß Zweck des Menschengeschlechts sein” (ebd. 350). Sondern vor allem, weil Epigenesis als nachträgliche, freie Ausbildung qua Selbstbestimmung und Genesis als ursprüngliche Bestimmung des Menschen – wenn auch bisweilen widersprüchlich – ineinander gedacht werden und miteinander verflochten sind, so dass ‘Bildung’ sowohl bedeutet, ‘zu sein, was man wird’, als auch ebenso heißt, ‘zu werden, was man ist’. So gilt ‘Bildung’ einerseits als Einlösung des Urbildes: “Den Thieren gabst du Instinct, dem Menschen grubest du dein Bild, Religion und Humanität in die Seele: der Umriß der Bildsäule liegt im dunkeln tiefen Marmor da” (ebd. 394); und – ohne alle Einschränkungen: “Die Regel der Gerechtigkeit, die Grundsätze des Rechts der Gesellschaft, selbst die Monogamie als die dem Menschen natürlichste Ehe und Liebe, die Zärtlichkeit gegen Kinder, die Pietät gegen Wohlthäter und Freunde, selbst die Empfindung des mächtigsten, wohlthätigsten Wesens sind Züge dieses Bildes, die hie und da bald unterdrückt, bald ausgebildet sind, allenthalben aber noch die Uranlage des Menschen selbst zeigen, der er sich, sobald er sie wahrnimmt, auch nicht entsagen darf” (ebd. 395). Andererseits aber sind “die Vorzüge des Menschengeschlechts ihm nur als Fähigkeit angebohren” (ebd. 435), so dass er diese nun “durch Erziehung, Sprache, Tradition und Kunst” (ebd.) selbst erwerben muss: “Der Mensch soll sich nemlich diesen Grad des Lichts und der Sicherheit durch Uebung selbst erwerben, damit er [...] ein edler Freier durch eigne Bemühung werde” (ebd. 191). Herders Bild des Menschen als einer ‘künstlichen Maschine’ – “Der Mensch ist also eine künstliche Maschiene, zwar mit genetischer Disposition und einer Fülle von Leben begabt; aber die Maschiene spielet sich nicht selbst und auch der fähigste Mensch muß lernen, wie er sie spiele” (ebd. 345) – sucht nun, beide Momente – Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung wie auch Bedingtheit und spezifische Bestimmtheit (durch Gott)– miteinander so zu verknüpfen, dass keines der beiden allein zum leitenden Prinzip wird: weder ist die “zweite Genesis des Menschen” (ebd. 348), mit der Herder die Sphäre der Kultur begrifflich kennzeichnet, bloße Einlösung der ersten Genesis, noch darf sie – wie Herder nicht müde wird zu betonen – als Selbsterfindung und Selbsthervorbringung aus sich selbst qua Vernunft missverstanden werden. Vielmehr ist es die Idee einer ‘werdenden Gottebenbildlichkeit’, die Herder mithilfe seines bildungsprinzipiellen Grundsatzes – “daß wir eigentlich Menschen noch nicht sind, sondern täglich werden” (Herder 1887, XIII 350f.) – entwirft; in dieser “finalisierten Perfektibilität” (Liebsch 1992, 135) finden sich gegebene Bestimmung und aufgegebene Selbstbestimmung ineinander aufgehoben und letztlich teleologisch ausgelegt: “Vollkommenheit eines einzelnen Menschen ist also, daß er im Kontinuum seiner Existenz er selbst sei und werde. Daß er die Kräfte brauche, die die Natur ihm als Stammgut gegeben hat; daß er damit für sich und andere wuchere” (Herder 1881, 115). Auch seine daraus resultierende Absage an den Gedanken der Epigenesis – als einer vermeintlich bloß nachträglichen und ausschließlich von außen provozierten Entwicklung (was allerdings auch ein Missverständnis des Epigenesisgedankens darstellt) – verdankt was ich bisher über des Menschen edle Bildung zur Vernunft und Freiheit, zu feinern Sinnen und Trieben, zur zartesten und stärksten Gesundheit, zur Erfüllung und Beherrschung der Erde gesagt habe; denn der Mensch hat kein edleres Wort für seine Bestimmung, als er selbst ist, in dem das Bild des Schöpfers unsrer Erde, wie es hier sichtbar werden konnte, abgedruckt lebet. Um seine edelsten Pflichten zu entwickeln, dürfen wir nur seine Gestalt zeichnen” (Herder 1887, XIII 154).
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sich gerade dieser Perspektive: “so, dünkt mich, spricht man uneigentlich, wenn man von Keimen, die nur entwickelt würden, oder von einer Epigenesis redet, nach der die Glieder von außen zuwüchsen. Bildung (genesis) ist’s, eine Wirkung innerer Kräfte, denen die Natur eine Masse vorbereitet hatte, die sie sich zubilden, in der sie sich sichtbar machen sollten” (ebd. 173). Bildung – so Herder – ist daher zwar nicht bloße Ausfaltung vorgängiger Einfaltungen, aber doch Folge einer alles durchherrschenden, den Geschöpfen “organisch noch einwohnend[en]” “genetischen Lebenskraft” (ebd. 275), die den weiteren epigenetischen Prozess steuert und lebenslang erhalten bleibt. Mit dieser Herderschen Umschrift der aufklärerischen Anthropologie von einer ‘armen Anthropologie’ (Blumenberg), als deren zentraler Topos gelten kann, dass der Mensch ‘von Natur aus nichts’ sei und infolgedessen ‘alles aus sich selbst’ heraus sein müsse, zu einer individuell wie menschheitlich gedachten ‘reichen’ ‘Philosophie der Bildung’ ist nun viererlei Weichenstellung verbunden, die auch das weitere Bildungsdenken entscheidend vorbahnt: Erstens bedeutet “eigentlich Mensch sein” – so ließe sich bildungsprinzipiell formulieren – immer “gesteigertes Menschsein” (Böhme 1985, 73); was in der Figur des ‘homo humanus’ zunächst als Ende ständig mangelproduzierender Vergleichungen mit Gott oder Tier gelesen werden kann und darin zur Verabschiedung einer eher repressiven Disziplinarmacht beiträgt, führt in der einseitigen Focussierung des Menschen als ‘homo possibilis’ zu einer bis dahin weithin ungekannten Entgrenzung und Selbstüberdehnung des Menschen zum werdenden “Menschengott” (Herder 1889, XXIX 143 wie auch 1909, XIV 248): der Mensch ist nicht nur ‘Geschöpf Gottes’, sondern – als ‘Gehülfe Gottes’ (Herder 1887, XIII 350), dem dieser “seine Bildung ihm selbst und seinesgleichen überlassen habe” (ebd.) – auch selbst “Gott auf Erden” (Herder 1909, XIV 210), der das “Principium eigner Wirksamkeit” (ebd.) in sich selbst trägt; nur folgerichtig formuliert Herder: “was an der Brust der großen Mutter, der belebenden Natur, von Elementen in dich floß, [...] bist du nicht Selbst. Du selbst bist, was aus Allem du dir schufst und bildetest und wardst und jetzo bist, Dir bist, dein Schöpfer selbst und dein Geschöpf” (Herder 1889, XXIX 139). Entmangelung und Entgrenzung aber bedingen sich gegenseitig und führen schließlich zum Bild einer – individuell wie auch menschheitlich gedachten – ‘steigerbaren Existenz’, in der nicht nur menschliche “Unvollkommenheit” zum “Mittel” der Vervollkommnung “unsres irdischen Daseyns” (Herder 1887, XIII 350) umgeschrieben wird, sondern auch Selbstwerdung und Selbstvervorläufigung in Selbststeigerung paradox zusammenfallen, weil der Mensch als ebenso unvollendbares wie unendliches ‘Geschöpf seiner selbst’ gedacht wird: “indem wir eigentlich Menschen noch nicht sind, sondern täglich werden” (ebd.), “gleichsam nie der ganze Mensch: immer in Entwicklung, im Fortgange, in Vervollkommnung” (Herder 1891, V 98)132. Solchermaßen eingespannt zwischen ‘immer schon Mensch’ und ‘noch nicht eigentlich Mensch’ ist der Mensch nun zweitens, gerade weil er weder “seiner natürlichen Geburt nach” noch “im Gebrauch seiner geistigen Kräfte ein Selbstgebohrner” (Herder 1887, XIII 344) ist, angewiesen auf die Hilfe und Erziehung anderer: “kein einzelner von uns ist durch sich selbst Mensch worden. Das ganze Gebilde der Humanität in ihm hängt durch eine geistige Genesis, die Erziehung, [...] mit der ganzen Kette des Geschlechts zusammen” (ebd.). Es ist erst diese “Zusammenwirkung der Individuen [...], die uns allein zu Menschen macht” (ebd. 347); Herders Leitsatz aber – “So gern der Mensch alles aus sich selbst hervorzubringen wähnet; so sehr hanget er doch in der Entwicklung seiner Fähig132 Durchaus bemerkenswert ist dabei, dass Herders bildungsprinzipielles Denken auch den Tod – mindestens übertragen – zu einem bloßen Übergangs- und Durchgangsstadium ‘degradiert’; sein immer wieder wiederholter Grundsatz – “Nehmet die äußere Hülle weg, und es ist kein Tod in der Schöpfung; jede Zerstörung ist Übergang zum höhern Leben” (Herder 1887, XIII 178) – perspektiviert den Tod daher als ebenso bloß ‘natürlichen Tod’ wie letztlich unbedeutenden Tod: “Niemand ist, der ihm hierin Grenzen setzen könnte, selbst der Tod nicht” (Herder 1881, XVII 117). Ähnlich lautet daher: “Was an mir stirbt, bin ich nicht selbst! Was an mir lebet, mein Lebendigstes, mein Ewges kennet keinen Untergang” (Herder 1889, XXIX 144).
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keiten von andern ab” (ebd. 343) – markiert dabei aber weniger ein Bewusstsein unaufhebbarer Angewiesenheit, sondern muss als Plädoyer für eine “Erziehung des Menschengeschlechts” (ebd. 345) gelesen werden: “eben weil jeder Mensch nur durch Erziehung ein Mensch wird und das ganze Geschlecht nicht anders als in dieser Kette von Individuen lebet” (ebd. 345). Damit aber verschiebt sich der Focus der Funktion der Erziehung: was aufklärerisch eher als ‘Zurückdrängung der Tierheit im Menschen’ (vgl. Kant 1964, VI 697) verstanden und daher weitgehend sozial als Disziplinierung, Kultivierung und Moralisierung praktiziert wurde, gerät nun zur Möglichkeitsbedingung gesteigerter Existenz und wird der unendlich gedachten Bildung untergeordnet. Mit diesen zwei Markierungen ist drittens eine – insbesondere in Herders breit angelegter Anthropologie exemplarisch nachvollziehbare – Kritik einer vernunfttheoretischen Vereinseitigung verbunden, wehrt doch Herder immer wieder die aufklärerische These, der Mensch sei nichts anderes, als was er qua Vernunft aus sich mache, entschieden ab, um den ‘ganzen Menschen’ (Schings) in den Blick zu rücken: so hat gerade nicht “unsre vernünftige Seele sich ihren Körper im Mutterleibe und zwar durch Vernunft gebauet” (Herder 1887, XIII 174); ‘wir Menschen’ mögen zwar insgesamt “fähig zu ihr auf der Welt erscheinen”, können “sie aber weder eigenmächtig besitzen noch erobern” (ebd. 174). Gerade dies führt schließlich viertens dazu, daß Bildung – läßt sie sich doch “weder von innen noch aussen begreifen” (ebd. 174) – nur relational verstanden werden kann; auch wenn Herder bisweilen davon spricht, daß der Mensch “nichts aus sich selbst”, sondern nur – “wie ein Wachs” (!) – ”alles durch Vorbild, Lehre, Uebung” (Herder 1887, XIII 351) werde, so betont er doch immer wieder, daß das, was er von außen erwerbe, “nur durch seine, des Aufnehmenden, Kräfte bestimmt” (ebd. 348) werde. Bildung meint daher weder Ausfaltung vorgängiger Einfaltungen noch freie Selbstkonstruktion, sondern Selbstgestaltung aus und in selbstbezüglicher Auseinandersetzung mit Welt; sie aber bleibt – bei allem Bewusstsein der jeweilig nichthintergehbaren Kulturalität der Menschen: “Wie jene [Kultur] ist, und wie diese sich bilden lassen, so wird der Mensch, so ist er gestaltet” (ebd. 349) – eingebunden in und getragen von dem Gedanken der wachsenden Entfaltung und Vervollkommnung der Menschen, macht doch erst “die Kette der Bildung [...] aus diesen Trümmern ein Ganzes, in welchem zwar Menschengestalten verschwinden, aber der Menschengeist unsterblich und fortwirkend lebet” (ebd. 352): “Immer verjüngt in seinen Gestalten, blüht der Genius der Humanität auf und ziehet palingenetisch in Völkern, Generationen und Geschlechtern weiter” (ebd. 353)133.
(2) An diese erste Skizze eines – weitgehend entelechial gedachten und auf umfassende Selbstentfaltung zielenden – Bildungsbegriffs lässt sich nun Wilhelm von Humboldts ‘Theorie der Bildung’ anschließen, stellt diese doch insgesamt nicht nur eine bedeutsame Fortschreibung des Bildungsgedankens zu einem ausdrücklich relational und selbstbezüglich strukturierten Bildungsbegriff dar; vielmehr gilt sie – in ihrer Korrektur und Neujustierung wie auch Fortsetzung und Kontinuierung des spätaufklärerischen Bildungsdenkens – bis heute als paradigmatische Figur der Bildung schlechthin, auf die zu beziehen und an die – sei es nun zustimmend oder auch bisweilen harsch ablehnend – anzuschließen legitimatorisch unverzichtbar ist – mit der ebenso erstaunlichen wie nur allzu verständlichen Folge, dass die jeweilig eigenen bildungstheoretischen Präferenzen immer bereits schon bei Humboldt angelegt
133 Herders ‘bildungsprinzipieller Imperativ’ mag dies illustrieren: “Wo und wer du gebohren bist, o Mensch, da bist du, der du seyn solltest: verlaß die Kette nicht, noch setze dich über sie hinaus; sondern schlinge dich an sie. Nur in ihrem Zusammenhange, in dem, was du empfängest und giebst und also in beidem Fall thätig wirst, nur da wohnt für dich Leben und Friede” (Herder 1887, XIII 350).
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oder gar ausgeführt sind134. Es ist gerade diese rezeptionsgeschichtlich begründete Bedeutung des “Mythos Humboldt” (Ash 1999), die dessen – weitgehend nur kursorisch ausgeführtes und zeitgenössisch allemal kaum bekanntes – Bildungsverständnis so bedeutsam macht und schließlich zum Inbegriff einer (nicht nur) pädagogischen ‘Bildungserzählung’ macht, die bis heute als “Eigenstruktur der Erziehung” (Blankertz 1982, 306) gilt und deren weitere inhaltliche Ausfaltung durch implizite Metaphern, Bilder und eingelagerte Orientierungsmuster prägt. Kern des Humboldtschen Bildungsdenkens ist dabei eine explizit individualtheoretische Zuspitzung des Bildungsbegriffs, die allerdings in eine gewisse Spannung mit den insbesondere bei Herder entwickelten teleologischen Überlegungen gerät und schließlich – in einer Lesart Bucks (vgl. Buck 1984) – durchaus als eine zweite, eher identitätstheoretisch argumentierende Fassung des Bildungsbegriff gelten kann135. So meint Bildung vor allem: die Entfaltung aller Kräfte des Menschen zu einem Ganzen, so dass schließlich ein jeder die Menschheit in seiner Person darzustellen vermag. Ihr weitgehend anerkannter ‘idealischer Grundzug’ kann dabei durchaus als generelles Kennzeichen eines sich von Humboldt her ausprägenden Bildungsdenkens gelten. Im folgenden geht es daher darum, an Humboldts Bildungsvorstellungen und deren Kontexten die ‘Anthropologik’ der Bildung typologisch zu rekonstruieren136. 134 In einer genaueren Rekonstruktion der Rezeptionsgeschichte Humboldts – von Haym (1856) über Spranger (1909 wie 1910) wie Litt (1955) und Blankertz (1963), Menze (1965) wie Heydorn (1980a, 247-266 wie 1980b, 21-30) bis hin zu Benner (1995), Schäfer (1996) und Koller (1999) – ließe sich dies erhärten wie präzisieren und im Bild des ‘umstrittenen Humboldt’ (Baumgart 1985) bündeln: während – immer durchaus kontrovers – zunächst Humboldts ‘idealischer Grundton’ der Bildung hauptsächlich Gegenstand der Auseinandersetzung war, so geriet dann dessen individualtheoretischer Zugang zunehmend in den Blick, um schließlich – weitgehend durch Trabant (1986 und 1990) wie Borsche (1981 und 1990) angeregt – mithilfe seiner sprachtheoretischen Überlegungen reformuliert zu werden. Vgl. zur Rezeption Humboldts v.a. die Arbeiten von Menze (1965 und 1972), Kawohl (1969), Schriewer (1975), Baumgart (1985) und Fingerle (1997) wie auch insgesamt den von Wicke u.a. herausgegebenen Sammelband (1997). 135 Bucks Rekonstruktion dieses zweiten Bildungsbegriffs stützt sich dabei überwiegend auf eine Rekonstruktion des Bildungsgedankens bei Schiller, die – im Anschluss an Rousseau – als “Kritik der Selbstentfremdung” (Buck 1984, 168) interpretiert wird: angesichts der durch Kultur selbst hervorgebrachten “Zerrüttung” (Schiller 2000, 23), “Zerstückelung” (ebd. 26) und ‘Selbstentgegensetzung’ der Menschen (vgl. ebd. 19) – “Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft” (ebd. 23) – wird Bildung hier als Widerspruch wie Überwindungsmöglichkeit derselben hin zur “Totalität des Charakters” (ebd. 18) wie der “Totalität der Gattung” (ebd. 21f.) insgesamt gedacht: “Es muß also falsch seyn, daß die Ausbildung der einzelnen Kräfte das Opfer ihrer Totalität nothwendig macht; oder wenn auch das Gesetz der Natur noch so sehr dahin strebte, so muß es bey uns stehen, die totalität unsrer Natur, welche die Kunst zerstört hat, durch eine höhere Kunst wieder herzustellen” (ebd. 28). Dabei versteht Schiller die umfassende – daher nicht bloß moralische, sondern ausdrücklich ‘anthropologische’ (vgl. ebd. 15) – Aufgabe, dass “der innere Mensch mit sich einig” (ebd. 17) werde, als Rettung der “Eigenthümlichkeit” und ‘höchste Universalisierung” (ebd. 17) zugleich: “Jeder individuelle Mensch [...] trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechselungen übereinzustimmen, die große Aufgabe seines Daseyns ist” (ebd. 15). Vgl. dazu ausführlicher Buck 1984, 168-177 wie 212-215. 136 Die hier eingeschlagene Perspektive dient daher nicht einer umfassenden Rekonstruktion der Bildungstheorie Humboldts; sie versucht, sich in ihrer Problematisierungsabsicht auch den eingewöhnten, zumeist legitimatorisch bestimmten Interpretationswegen zu entziehen – wohl wissend, dass gerade Humboldts
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Auch dieser zweite, von Paulsen schließlich als ‘neuhumanistisch’ bezeichnete Begriff der Bildung (vgl. Paulsen 1885, II) zehrt von den durch Herder vorgenommenen anthropologischen Umschriften und lässt sich ohne Rekurs auf epigenetische Annahmen nicht verständlich machen (vgl. Müller-Sievers 1993): nicht nur, weil Humboldts Denken – ebenso wie das Schillers – insgesamt weitgehend naturphilosophisch geprägt war und gerade darin nicht den Kantischen vernunftphilosophischen Markierungen folgte (vgl. Borsche 1990, 79-121); sondern vor allem, weil dessen zentrales Modell einer ‘Bildung’ des Menschen im Horizont der Menschheit ausdrücklich als Widerspruch zu präformationistischen Annahmen formuliert ist und in seiner weiteren Entfaltung unmittelbar an den Gedanken der Epigenesis anschließt. So ist Borsches Beobachtung, dass “sich sein Denken insgesamt aus naturphilosophischen Problemstellungen heraus entwickelt hat” (Borsche 1990, 108), immer wieder übersehen und in eine freiheits- und vernunfttheoretische Richtung interpretiert worden, die nur allzu leicht unterschlägt, dass Humboldts Überlegungen “Herder sehr viel näher stehen als Kant” (Borsche 1995, 663)137. Humboldts Begriff der Bildung ist weithin bekannt und immer wieder rekonstruiert worden138; dabei kann gerade die darin von ihm vorgenommene und Individualität wie Universalität in eins setzende Ausrichtung als dessen Zentrum gelten: “Der wahre Zwek des Menschen – nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt”, so formuliert Humboldt programmatisch (1792), “ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste, und unerlassliche Bedingung. Allein ausser der Freiheit erfordert die Entwikkelung der menschlichen Kräfte noch etwas andres, obgleich mit der Freiheit eng verbundenes, Mannigfaltigkeit der Situationen. Auch der freieste und unabhängigste Mensch, in einförmige Lagen versezt, bildet sich minder aus” (Humboldt 1903, I, 106). Unabtrennbar von dieser Aufgabe jedes einzelnen, “sich aus sich selbst, in seiner Eigenthümlichkeit, zu entwikkeln” (I, 111), ist dabei die umfassende Orientierung am Allgemeinen, ist doch “die letzte Aufgabe unsres Daseyns: dem Begriff der Menschheit in unsrer Person, sowohl während der Zeit unsres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so grossen Inhalt als möglich zu verschaffen” (I, 283). Erst beides zusammen kann als die eine Seite der Grundstruktur des Humboldtschen Bildungsbegriffs gelten und lässt sich (nur) vor dem Hintergrund seines anthropologischen Denkens verständlich machen (a). Eng damit verbunden ist ein zweites Grundmoment des Bildungsverständnisses bei Humboldt, das als Relationalität und Selbstbezüglichkeit der Bildung bestimmt werden kann und schließlich auch sprachtheoretisch bedeutsam geworden Denken aufgrund seines fragmentarischen wie ebenso umfassenden Charakters sich einer vereindeutigenden Interpretation sperrt und insofern auch immer anders – je nach Einsatzort der Interpreten – rekonstruiert werden kann. Die von Kähler berichtete Bemerkung Meineckes – “Humboldt ist eine Sphinx, welche jeden Betrachter anders ansieht, und welche jeder Betrachter anders ansieht” (Kähler 1927, 577) – sei daher ebenso mahnend wie selbstkritisch erinnert. – Im folgenden werden die Schriften Humboldts, wenn nicht anders vermerkt, nach der von Litzmann besorgten und von der Preussischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Ausgabe der ‘Gesammelten Schriften’ nur mit Bandangabe und Seitenzahl zitiert (vgl. Humboldt 1903-1936). 137 Zum umstrittenen Verhältnis zwischen Humboldt und Herder vgl. die ausführliche ‘Indizienbeweisführung’ bei Gipper 1981; sein – gegen Aarsleffs Bestreitung des Zusammenhangs beider gerichtetes – Fazit einer unbestreitbaren Nähe aufgrund ‘auffälliger Ähnlichkeiten’ (vgl. ebd. 110f.) wird inzwischen weitgehend geteilt. Vgl. auch Oesterreicher 1981, der die französischen Bezüge Humboldts klärt und – gegenüber Herders Bedeutung – relativiert. 138 Dass er sich gerade nicht – wie der Schillers – explizit gegen ‘Selbstentgegensetzung’ und ‘innere Zerreissung’ pointieren lässt, macht die enorme Schwierigkeit der Buckschen Interpretation aus (vgl. Buck 1984, 223), ohne dass damit aber dessen Kennzeichnung einer zweiten Bildungstradition als eines ‘identitätstheoretischen’ Bildungsbegriffs damit hinfällig würde.
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ist (b). Während aber das zweite Moment bildungstheoretisch immer wieder rezipiert und inzwischen geradezu zu kategorialem Rang erhoben worden ist, gilt dessen anthropologischer Aufriss aufgrund seiner impliziten ‘Kräftemetaphysik’ (Menze 1965) als weithin überholt – ohne dass aber mitgesehen wird, wie das zweite am ersten hängt und erst von diesem her seine Plausibilität erhält. Eingebettet sind beide schließlich in einem politisch-sozialen Kontext, der als gesellschaftlicher Rahmen der ‘Bildung’ fungiert (c). (a) Überaus zentral für Humboldts anthropologische Argumentation ist dessen Verständnis der ‘Kraft’, das sich – auch im Rückgriff auf Leibniz Konzept derselben als einer Substanz (vgl. insgesamt Menze 1965, 96-105) – gerade seiner naturphilosophischen Kontexte nicht entledigen kann und als Gegenbegriff zu mechanischer Kausalität wie transzendentaltheoretischer Vernunft fungiert; in ihm knüpft Humboldt ausdrücklich an Wolffs und Blumenbachs Konzeption des ‘Bildungstriebs’ an (vgl. III, 116), den er nur als eine “besondre Modification” der grundsätzlich gedachten “Lebenskraft” (I, 328) selbst ansieht. So pointiert Humboldt seine Grundkonzeption: “Alles im Universum ist Eins und Eins Alles, oder es giebt überhaupt keine Einheit in demselben; die Kraft, welche in der Pflanze pulsirt, ist nicht bloss ein Theil, sondern die ganze Kraft der Natur, oder es öfnet sich eine unüberspringbare Kluft zwischen ihr und der übrigen Welt, und die Harmonie der organischen Formen ist unwiederbringlich zerstört; jeder gegenwärtige Augenblick fasst alle vergangenen und zukünftigen in sich, da es nichts giebt, woran die Flüchtigkeit des Vergangenen haften kann, als die Fortdauer des Lebendigen” (II, 191f.). Kraft – so Humboldt – ist dabei nicht auf anderes rückführbarer Ursprung allen Seins: “Alles, was wir mit Sicherheit zu behaupten im Stande sind, ist nur soviel, dass irgend eine Kraft, sey es nun eine gleiche oder ungleiche [...], zuerst und unabhängig von allen sie umgebenden Umständen vorhanden ist, weil ja sonst nichts da wäre, worauf von aussen eingewirkt werden könnte” (II, 91). Es ist dieser Gedanke einer tätigen und alles wirkenden ursprünglichen Kraft, welcher Humboldts Anthropologie erheblich vom klassischen Aufriss der spätaufklärerischen Anthropologie unterscheidet, insofern diese weder bei natural bedingten Mängeln und damit verbundener Instinktarmut ansetzt, noch auf kompensierende Vernunft und freie Selbstbestimmung setzt; vielmehr muss sie in ihrer Weichenstellung als eine – radikal individualtheoretisch argumentierende – Fortschreibung und Zuspitzung des Herderschen Bildungsgedanken gelesen werden, dessen Grundfigur mit ‘Entmangelung’ und ‘Entgrenzung’ genauer bestimmt werden konnte. So wie sich alles “Lebendige” nur “dadurch von dem Todten” unterscheidet, “dass es in sich und durch sich beweglich, wechselnd und vorschreitend ist”, und insofern “nie aus einem einzelnen Zustand”, sondern “nur aus der Kraft begriffen werden kann, welche jene alle begründet” (II, 2), so ist auch der Mensch – “als Glied in der Kette der physischen Natur” (I, 395) – durch Kraft bestimmt; diese aber kann nicht “als eine Substanz angesehen werden, die entweder selbst, oder in der irgend etwas ruhte”, sondern muss als “Energie” (III, 139) und Tätigkeit aufgenommen werden, so dass alles Leben “von Energie beseelt[es]” “Daseyn” (I, 333) ist. Solchermaßen Prinzip alles Lebendigen ist sie auch “das wahre a priori [...] im Menschen” (Humboldt 1981, 205), hat doch der Mensch “diese innere Selbstständigkeit, die wir durch die ganze organische Natur hindurch antreffen, [...] in einem noch vorzüglicheren Verstande” (II, 90): “diess führt uns nothwendig auf eine innere und ursprüngliche Kraft in ihm, die sein eigentliches Ich, seinen wahren Charakter ausmacht” (II, 89). Humboldts direkt anschließende Kennzeichnung ist bedeutsam, ist doch diese Kraft, “der wir uns [...] wohl nähern können, die wir aber nie ganz zu enthüllen hoffen dürfen” (II, 89), weder in Herkunft noch Ursprung auslotbar. Die “Ahndung einer Grundkraft” (III, 346) ist daher Zentrum der Humboldtschen Anthropologie und – darüber hinaus – auch Kennzeichen jeder “ächten Wissenschaft” (III, 345) des Menschen überhaupt; in Ursprung und Herkunft weitgehend unbestimmt ist sie ihrerseits mit Entfaltung und Steigerung von Anfang an verknüpft: “In jedem Menschen” – so Humboldt
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weiter – “regt sich eine solche, aber wenige sind glücklich genug, dass [sie] sie [...] rein und bestimmt offenbaren, noch weniger, dass sie auf ächt idealischem Wege der Urform der Menschheit entgegengehn, und am seltensten ist das Glück, [...] durch Befriedigung neue Kraft zu gewinnen” (III 205)139. Humboldts eigener anthropologischer Einsatz, im Anschluss an die naturphilosophischen Überlegungen seiner Zeit nun die inneren Kräfte der als lebendigen angesehenen Natur näher zu bestimmen, zielt zunächst vor allem darauf, im Rückgriff auf das Konzept der Kraft dreierlei Missverständnis abzuwehren: weder ist es möglich, den “Menschen vollständig aus den Umständen, die auf ihn eingewirkt haben, her[zu]leiten und durchaus begreifen und darstellen [zu] wollen” (II, 90), noch ist dieser “das Resultat eines blossen Naturmechanismus” (II, 92) – “gleich einer Maschine” (II, 87), erklärbar und berechenbar. Aber auch die durch Kant überaus geläufige Einsicht, “dass jeder Charakter, den uns die Natur eingeprägt haben könnte, unter der Macht unsres Willens stehen muss” (II, 92), soll moralisches Handeln überhaupt möglich sein, darf nicht darüber hinweg täuschen, “dass ein wahrhaft ursprünglicher und angebohrner Charakter auf keine Weise ausgerottet werden kann” (II, 92), so dass der Mensch auch nicht bloße Tat seiner Vernunft sein kann, wie bereits Herder eindringlich dargelegt hatte140; vielmehr ist diese selbst nur Ausdruck jener Lebenskraft: “Der Mensch ist von seinem ersten Odemzug an Mensch, und sein ursprünglicher Charakter ist kein andrer als der Charakter seiner Persönlichkeit, von welcher dasjenige, was wir Vernunft nennen, nichts anders als eine Form ist, unter der wir sie selbst, die an sich unergründlich ist, am deutlichsten und bestimmtesten erkennen” (II, 93). Positiv geht es Humboldts ‘Anthropologie der Kraft’ daher um zweierlei: einerseits ist der Mensch immer Ausdruck und Folge einer “Wechselwirkung” (I, 312), verhält sich doch “keine lebendige Kraft [...] gegen fremdes Einwirken bloss leidend” (II, 90) oder ausschließlich tätig und schöpfend – will man nicht vergessen, “dass die menschlichen Kräfte wirklicher Lagen bedürfen, um sich zu ihrer wahren Stärke zu sammeln” (II, 70). So darf Humboldts leidenschaftliches und immer wieder wiederholtes Plädoyer der ‘Innerlichkeit’ dieser Kraft – “wie sehr man sie auch von aussen stärken, leiten und unterstützen mag, so ist dennoch alles, was in ihr geschieht, nur das Werk ihrer eignen und innern Energie” (ebd.) – nicht darüber hinweg täuschen, dass es in der Bestimmung der Kraft immer um ‘Spontaneität’ und ‘Rezeptivität’ zugleich geht: nicht nur entsprechen sich “im Menschen immer Selbstthätigkeit und Empfänglichkeit einander gegenseitig” (I, 320); sondern jede Kraft ist, um überhaupt sein zu können, auf Stoff angewiesen, dessen sie sich bemächtigt und an dem sie sich entwickelt (vgl. (b)). Andererseits aber ist der Mensch dadurch immer auch ein Wesen der Möglichkeit, möglicher Entwicklung, Veränderung und Neubestimmung: “der Mensch ist mehr und noch etwas anders, als alle seine Reden und Handlungen, und selbst als alle seine Empfindungen und Gedanken; und wie genau man auch ein Individuum kennen mag, so versteht man immer nur einzelne seiner Aeusserungen und [...] niemals [...] dasjenige, was es eigentlich ist” (II, 89)141. 139 Vgl. dazu auch Menzes daran anschließende Interpretation der Bildung als eines “Vorgangs, in dem sich diese Idee zunehmend in die Erscheinung bringt” (Menze 1975, 48); dabei wird dieses “fortschreitende ZumVorschein-Bringen” – mit Verweis auf Schiller (ebd. Anm. 5) – als “Vergöttlichung oder Gottwerdung des Menschen” (ebd.) gekennzeichnet. Vgl. dazu auch Menze 1965. 140 Humboldts Kennzeichnung der Vernunft als einer Instanz, die “wohl Fähigkeit, vorhandnen Stoff zu bilden, aber nicht Kraft, neuen zu erzeugen” (I, 80), hat, bestätigt dessen nicht bloß vernunfttheoretische Justierung. 141 Es ist daher nicht wenig erstaunlich, dass Humboldt seine anthropologischen Grundüberlegungen gerade auch im Kontext der Zeugungsproblematik entwickelt, die er abgrenzt gegenüber mechanischer oder göttlicher Erklärung und damit ausdrücklich gegen ‘Präformation’ auslegt: “Bei allem Erzeugen entsteht etwas vorher nicht Vorhandenes. Gleich der Schöpfung, ruft die Zeugung neues Daseyn hervor, und unterscheidet sich nur dadurch von derselben, dass dem neu Entstehenden ein schon vorhandener Stoff vorhergehen muss. Dieser Notwendigkeit ungeachtet, hat indess das Erzeugte dennoch eine von dem
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Weil Humboldt aber die – hier nur angedeutete – dynamische Spannung des Menschen mit sich selbst in der Logik der ‘Steigerung der Kräfte’ denkt und am Gedanken der Ganzheit orientiert, kann er sie als Differenz zwischen Faktizität und Idealität bestimmen und als “Geseze der Entwikkelung der menschlichen Kräfte auf Erden” (I, 93) formulieren, in der individuelle wie gesellschaftliche Totalität zusammenfallen: “Denn nur gesellschaftlich kann die Menschheit ihren höchsten Gipfel erreichen, und sie bedarf der Vereinigung vieler nicht bloss um durch blosse Vermehrung der Kräfte grössere und dauerhaftere Werke hervorzubringen, sondern auch vorzüglich um durch grössere Mannigfaltigkeit der Anlagen ihre Natur in ihrem wahren Reichtum und ihrer ganzen Ausdehnung zu zeigen. Ein Mensch”, so Humboldt in seinem ‘Plan einer vergleichenden Anthropologie’ (1795), “ist nur immer für Eine Form, für Einen Charakter geschaffen, ebenso eine Classe der Menschen. Das Ideal der Menschheit aber stellt soviele und mannigfaltige Formen dar, als nur immer mit einander verträglich sind. Daher kann es nie anders, als in der Totalität der Individuen erscheinen” (I, 379). Anthropologie aber heißt für Humboldt dann “individualisirende Menschenkenntnis” (I, 383) – sowohl “Kenntniss der Charaktere” (I, 383) und der “Verschiedenheit der Charakterformen” (I, 384) als auch praktische Beeinflussung derselben und “vernünftige Leitung zur Eigenthümlichkeit” (I, 384), geht es doch nicht (nur) um eine ‘bloss historische Erkenntnis des Menschen’ (vgl. I, 395), sondern auch – und gerade – um eine praktische Beförderung der menschlichen Idealität (vgl. I, 384). So geht das “Bestreben der vergleichenden Anthropologie” nicht nur dahin, “die mögliche Verschiedenheit der menschlichen Natur in ihrer Idealität auszumessen” und so zu “untersuchen, wie das menschliche Ideal, dem niemals ein Individuum adäquat ist, durch viele dargestellt werden kann” (I, 389), sondern auch dahin, in der Erforschung des “individuelle[n] Charakter des Menschen zum Behuf seiner möglichen Idealisierung” (I, 394) selbst “eine grössere [Idealität] hervorzubringen und die schon wirklich vorhandene zweckmässiger zu leiten” (I, 384). Idealität heißt für Humboldt so gerade nicht ‘Aufstellung eines allgemeinen Ideales’ (vgl. I, 389) für alle Menschen, sondern – ganz in der Logik seiner Kräfteanthropologie – “die nach allen Richtungen hin erweiterte, von allen beschränkenden Hindernissen befreite Natur” (I, 390): höchste Eigentümlichkeit der Individuen und Allgemeinheit zugleich142. Es ist die Idee der ‘Höherbildung der Menschheit’, die die Erzeugenden unabhängige Kraft des Lebens, und weit entfernt, dass diese aus demselben erklärbar wäre, bleibt es vielmehr ein unergründliches Geheimnis, wie nur sein Daseyn daraus hervorgeht” (I, 315f.). Doch während Zeugung eine “Erweckung” (II, 316) durch andere ist und auf den ‘Konkurs beider Geschlechter’ zurückführt, muss Bildung als “nachfolgende Bildung des Erzeugten” als eigene, selbstbezügliche Tätigkeit verstanden werden, die dem Individuum “selbst, nicht dem Erzeugenden” (ebd.) gehört. So führt ihn schließlich sein anthropologischer Ansatz bei ‘Kraft’ zu einer Unterscheidung der Geschlechter als zwei einander gegenüber gestellten Kräften (I, 400-410 wie auch I, 311-334 und I, 335-369), deren Kennzeichnung nicht nur typische Zuschreibungen und ‘Geschlechterstereotype’ aufgreift und ‘kräfteanthropologisch’ reformuliert, sondern auch seinen Ansatz einer auf Wechselwirkung der Kräfte basierenden Anthropologie illustriert – mit der bisweilen übersehenen Folge, dass auch Humboldt teilhat an der Etablierung einer Geschlechtertheorie, die die Antithetik von Natur und Kultur, Sinnlichkeit und Vernunft umstandslos auf den Unterschied von Frau und Mann projiziert und die Frauen zum ‘Körpergeschlecht’ stilisiert: nicht nur sein ‘Plan einer vergleichenden Anthropologie’ und andere Aufsätze zum ‘Geschlechtsunterschied’ (vgl. Humboldt 1903, I, 377-410, 311-334 wie 335-369), auch seine Gedichte ‘Weibertreue’ und ‘Die Griechensklavin’ (vgl. IX, 72-80 und 93-151) sprechen eine unzweideutige Sprache. Vgl. dazu Borsche 1990, 108-121 wie insbes. Müller-Sievers 1993 wie 1994, der den inneren Zusammenhang von Anthropologie, Sprachphilosophie und Geschlechtertheorie bei Humboldt nachgezeichnet und die darin sich abzeichnende Figur “klassischer Oppression” als Kehrseite der epigenetisch begonnenen “Befreiung von präformationistischen Fesseln” (Müller-Sievers 1993, 13) interpretiert hat (vgl. ebd. 159-161); vgl. dazu insgesamt Riedel 1994, 117ff. wie auch Honegger 1991, die ebenso eindrücklich wie materialreich den inneren (!) Zusammenhang von Subjektkonstitution und Geschlechtertheorie in der aufklärerischen Anthropologie rekonstruiert und so das Zusammenspiel von partikularer Emanzipation und neuer Machtordnung nachgewiesen hat. 142 An einer kurzen “Episode über Individualität, wie sie ist und seyn sollte” (III, 138), lässt sich die bei Humboldt rekonstruierbare ‘ambivalente Logik’ verfolgen, in der immer wieder die unaufhebbare Differenz
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individuelle Steigerung der Kräfte zu ‘ächter Eigenthümlichkeit’ provoziert und idealisch orientiert. Damit aber lässt sich die von Humboldt eingenommene anthropologische Perspektive genauer bestimmen: ihre Focussierung der “wirkliche[n] Beschaffenheit des Menschen mit Hinsicht auf seine mögliche Entwicklung” (I, 390) zielt – explizit als “das allgemeinste Bestreben der menschlichen Vernunft” formuliert (II, 6) – auf die “Vernichtung des Zufalls” (II, 6), sowohl hinsichtlich der Natur als auch des menschlichen Willens. ‘Vernichtung des Zufalls’ aber meint für Humboldt, Unter- und Ausscheidung des Zufälligen im Menschen von seinem Wesentlichen (vgl. II, 87); gerade diese ‘Operation’ wird für Humboldt zur Hauptaufgabe einer “richtigen Menschenkenntnis” (II, 119), lässt sich doch der Zusammenhang von Idealität und Individualität weder als bloße Applikation des Besonderen auf ein bereits bestehendes Allgemeines (vgl. II, 109) noch als umstandlose Anerkennung faktischer Individualität mit all ihren “Flecken, die das Individuum entstellen” (II, 17) fassen: “Je schwerer es [also] ist, den Begriff der Idealität mit dem der Individualität zu verbinden, desto nothwendiger wird die Trennung des Zufälligen im Charakter [...] von dem Wesen desselben” (II, 100). So verknüpft Humboldt zunächst Individualität und Wesentlichkeit – alles, “was aus der ächten Eigenthümlichkeit des Individuums herfliesst, [ist] demselben durchaus wesentlich”, und alles, was “nicht aus der wahren oder nicht aus der ganzen Individualität” entspringt, ist das “Zufällige” (II, 105f.) –, um dann Zufälligkeit mit dem zu verbinden, “was von aussen eingewirkt wird und also gewissermaassen dem Charakter immer fremdartig bleibt” (II, 106). Folglich kommt es “nur darauf an, die wahre und die ganze Individualität des Subjects zu kennen, und es wird nicht mehr schwer seyn, zu entscheiden, was aus ihrem Innern herfliesst oder nur von aussen an sie angeknüpft ist, was aus ihrem Ganzen oder nur aus einzelnen Theilen derselben hervorgeht” (II, 110f.); entscheidend ist, “dass das Zufällige dem reinen und vollendeten Begriff der Individualität fremd ist” (II, 111). Angesichts der von Humboldt – wohl auch selbst empfundenen – Schwierigkeit, der Aufgabe der Unter- und Ausscheidung von Zufälligem und Wesentlichem gerecht zu werden und beides in Abgrenzung voneinander genau zu bestimmen, reformuliert er – ganz in pragmatischer Absicht – seine Typologie kräftetheoretisch: “Was mit voller Energie, mit der ganzen Anstrengung des Gemüths geschieht, kann nicht anders, als aus seiner eigenthümlichen Natur entspringen. [...] Man suche daher das Beste und Höchste, was irgend ein Subject nach allen verschiedenen Richtungen hin geleistet hat, man knüpfe diess in Eins zusammen, und nehme diess so gestaltete Ganze als seine eigenthümliche und wesentliche Beschaffenheit an. Alles, was diesem Begriff nicht entspricht, wird nun zufällig heissen können, es sey nun, dass es wirklich fremdartige Eigenschaften, oder nur geringere Grade oder einseitige Aeusserungen jener Eigenthümlichkeit zeige” (II, 98). Dies aber macht nicht nur den überaus konstruktiven Charakter der Unterscheidung deutlich, sondern lässt auch den Prozess der ‘Verwesentlichung’ und ‘Vereigentlichung’ des Individuums als einen Zusammenhang von ‘Selbststeigerung von Individualität’ und ‘Selbstverallgemeinerung’ – insgesamt verstanden als ein Prozess, in dem “sich gleichsam die Ekken seiner eigenen” Individualität abschleifen (I, 262) – entziffern (vgl. Buck 1984, 226). des Menschen mit sich selbst und ‘seinem Ideal’ in eine Logik der Steigerung umgeschrieben wird: während einerseits Individualität, Pluralität und auch Heterogenität der jeweiligen Individuen nicht geleugnet, sondern als “nicht aufzuhebender Widerspruch” “zwischen jedem und jedem [...] und zwischen allen und dem Ideal” (III, 138) zunächst anerkannt werden, wird andererseits die daraus resultierende Folgerung, dass es “der Individualität das Ideal zu erreichen [...] unmöglich” (III, 138) sei, als nur ‘scheinbarer Widerstreit’ gefasst – erstens, weil jede “individuelle Kraft des Einen [...] dieselbe mit der aller Andern” (III, 139) ist, und zweitens, weil jedes Individuum in seinem “beschränkten Daseyn” ein immer auch noch “verborgene[s] und unergründbare[s] Vermögen” ist, “das sich bloss jetzt in solcher Beschränktheit offenbart” (III, 140) und in einem “ewige[n] Wettkampf” “zwischen Idee und Leben” (ebd.) allererst noch hervorgebracht werden kann. Wenig erstaunlich ist daher Humboldts Markierung: “Zu dem Uebergange vom Endlichen zum Unendlichen, der immer nur idealisch ist, taugen ausschliessend die schaffenden Kräfte des Menschen” (III, 140).
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Sowohl in einem Brief an Schiller (1795) als auch in seinem ‘Fragment einer Selbstbiographie’ (1816) hat Humboldt diese zu einer hierarchischen Dynamik getürmte Selbstdifferenz eindrücklich formuliert und “zwischen dem Symbolischen im Menschen, und dem einzeln, und gleichsam nur als Schlacke der Wirklichkeit in ihm da Stehenden” unterschieden: “Es giebt in dem Menschen, wie in jedem wirklichen Wesen, immer einen gewissen Theil, der nur ihn und sein zufälliges Daseyn angeht, und recht füglich von anderen unerkannt mit ihm dahinstirbt; dagegen giebt es in ihm einen andren Theil, durch den er mit einer Idee zusammenhängt, die sich in ihm vorzüglich klar ausspricht, und von der er das Symbol ist” (XV, 452). Nur folgerichtig versteht Humboldt unter einer “Selbstbiographie” daher “nicht eine Beschreibung meines Lebens, die ich für höchst unbedeutend, noch eine Geschichte meiner Zeit, zu der ich mich nicht berufen halten würde” (XV, 452), sondern jenen Prozess der Selbstwahrnehmung und Selbstbearbeitung, das an sich selbst zu ermitteln, was als ‘ächte Eigenthümlichkeit’ vor sich selbst bestehen kann; das aber, was Humboldt dann als seine “hervorstechenden Seiten” (XV, 455) nennt und erläutert, bestätigt die hier eingeschlagene Interpretationslinie der ‘Entkontingentisierung’: “vollkommene Herrschaft des Willens über mich selbst; vorwaltende, innerhalb gewisser Schranken, und in einer bestimmten Art sehr bedeutende, und nimmer ermüdende Denkkraft; bei gar keiner Neigung auf das Aeussere, als solches, leidenschaftliches Verlangen nach innerer, auf ganz eigenthümliche Weise idealischer Beschäftigung mit und in mir selbst” (XV, 455). Es ist diese von Humboldt entwickelte ‘Selbsttypik’, die den hierarchischen, sich selbst spaltenden Zugriff der ‘Bildung’ – in Vorzüge und Stärken wie “Anklagen und Mängel” (XV, 460) – illustriert; der daraus resultierende bildungstheoretische Imperativ ist insofern nur folgerichtiger Ausdruck seiner Kräfteanthropologie: “Jeder muß seine Eigenthümlichkeit aufsuchen und diese reinigen, das Zufällige absondern” (Humboldt in einem Brief an Schiller, zit. Buck 1984, 225). Und gegen Missverständnisse betont Humboldt: “Es bleibt dennoch immer Eigenthümlichkeit” (ebd.), nicht überformende Allgemeinheit – kurz: die jeweils eigene Darstellung des Begriffs der Menschheit in der individuellen Person. Es ist diese Einsicht Humboldts – “Der Einzelne kann das Ideal menschlicher Vollkommenheit [...] nur nach Maassgabe seiner Eigenthümlichkeit darstellen” (II, 38) –, die immer wieder als Beleg angeführt wird, dass “Ehrfurcht für die Individualität” wie “Sorge für die Freiheit” (Borsche 1995, 663) – und nicht normativ verstandene Allgemeinheit – die kennzeichnende Typik des Humboldtschen Bildungsgedanken ist, die schließlich als “Befreiung des Menschen zu sich selbst” (Blankertz 1982, 307) interpretiert und ‘gefeiert’ werden kann; so richtig und angemessen dies ist – übersehen oder verschwiegen wird dabei, dass bei Humboldt mit ‘ächter Eigenthümlichkeit’ ein Prozess bezeichnet ist, der von Anfang an einer paradoxen Logik von Selbstaffirmation und Selbstnegation durch permanente Selbstüberholung und Steigerung verhaftet ist und folglich das Individuum in einen permanenten Prozess der ‘Entkontingentisierung’ gegen sich selbst führt. Denn ist weder bloße Orientierung an einem vorgegebenen Allgemeinen noch jede gegebene Faktizität und Individualität bereits ‘ächte Eigenthümlichkeit’, sondern nur “die grösseste Summe der Stärke und der Thätigkeit” (II, 38) deren Indikator, so verlangt ‘Bildung’ als praktische Selbstgestaltung genaueste Selbsterkenntnis wie permanente Selbstbearbeitung des einzelnen: “was in ihm aufkeimt, wird er nie versäumen, nach den ewigen Gesetzen des Guten, Wahren und Schönen zu richten, und selbst was vor diesem Richterstuhl besteht, wird er alsdenn seiner übrigen Eigenthümlichkeit in consequenter Stätigkeit anpassen. Durch ein genaues Studium seiner selbst, und durch die Schärfung seines Sinnes für jede Art der Eigenthümlichkeit wird er verhindern, dass nichts Disharmonisches und Unzusammenhängendes in ihm aufsteige, und sich die vollendete Einheit und Bestimmtheit der Charakterzüge verschaffen, in welcher sich das Schöne mit dem Interessanten verbindet [...]. Zu diesem Ziele aber gelangt man nur durch eine Methode, bei der die Freiheit der Neigung, die Stärke des Willens und die Schärfe der Beobachtung in gleichmässiger und gehöriger Vertheilung geschäftig sind; nur wenn wir uns selbst, und jede innere
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oder äussere Veränderung, die mit uns vorgeht, unaufhörlich mit prüfendem und richtendem Nachdenken verfolgen, alles in uns wissen und würdigen, aber nie anders an uns bilden oder handeln, als wenn wir durch dringende dazu vermocht werden” (II, 38). Nicht Selbstbemeisterung durch Disziplinierung an einem Vorgegebenen, sondern Selbstbemeisterung als produktive Stärkung und dauernde Selbststeigerung ist so Grundstruktur der bildenden Tätigkeit. Es ist dieses qua Steigerung ‘idealisch gebildete Individuum’ (vgl. Humboldt 1904, II, 38), das den Kern des Humboldtschen Bildungsdenken ausmacht und sich im Begriff ‘ächter Eigenthümlichkeit’ bündeln lässt; gerade weil dieses “keine Grenze der Vervollkommnung” (II, 329) kennt, sich “ins Unendliche hin” ausbildet, ohne je “seinen Endzweck” zu erreichen (II, 330), ist die “Würde des Menschen” schließlich in seiner je “höheren Vervollkommnung” (ebd. II, 325) situiert. Was auf der einen Seite als Freiheitsgewinn erscheint, ist doch der Mensch nicht mehr bloßes Mittel fremdgesetzter Zwecke und Bestimmungen, sondern, weil “der Zwek des Menschen im Menschen liegt” (I, 76), ‘Zweck in sich selbst’, verwandelt sich auf der anderen Seite zu neuerlicher Zurichtung: in die – ausdrücklich weder an ‘äußerer Perfektion’ orientierte noch bloß teleologisch formulierte – Spannung zwischen unaufgebbarer “Eigenthümlichkeit” (I, 382) und ebenso unverzichtbaren “idealischen Forderungen” (I, 391) versetzt gerät das Individuum in einen ‘progressus ad infinitum’, bleibt doch als ausdrücklich durch kein “Glück” (II, 325) begrenzbare “letzte Aufgabe unseres Daseyns”, “dem Begriff der Menschheit [...] einen so grossen Inhalt, als möglich, zu verschaffen” (I, 283), ein dauerndes und unbeendbares Bestreben. Darin aber wird das, was der Mensch jeweils ist, zugunsten dessen, was er immer auch sein könnte und auch werden sollte, abgewertet: nicht äußere idealische Vormalungen degradieren seine faktische Existenz; es ist der Gedanke einer ‘von allen beschränkenden Hindernissen’ befreiten Epigenesis des Menschen (vgl. I, 390), der diesen in einen permanenten Prozess gegen sich selbst führt und dauernden Selbstmangel hervorruft, der zu unablässiger Selbststeigerung provoziert. “Eigentlich Mensch sein”, so ließe sich (wiederholt) mit Böhme formulieren, “bedeutet gesteigertes Menschsein” (Böhme 1985, 73). (b) Es ist oft genug darauf hingewiesen worden (vgl. Buck 1984, 216-227) – der Humboldtsche Bildungsgedanke wäre missverstanden, würde man die damit bezeichnete ‘Menschwerdung des Menschen im Horizont der einen Menschheit’ (Peukert) als einen bloß an äußerer Perfektion orientierten Prozess oder als ein an inneren Vorgaben anschließendes und geradezu präformistisch gedachtes Entfaltungs- und Entwicklungsgeschehen verstehen; vielmehr muss Bildung – gerade weil die “Bestimmung des Menschen als eines freien und selbstthätigen Wesens allein in ihm selbst enthalten” (II, 331) ist – als ein sowohl relational als auch selbstreferentiell strukturierter Prozess der Selbstgestaltung verstanden werden. Es ist dieser Grundzug der Bildung, der – neben der These der Entfaltung und Steigerung aller Kräfte zu einem Ganzen – immer wieder rekonstruiert und als zweite ‘Besonderung’ des Humboldtschen Bildungsdenkens gelten kann; dessen Spezifik aber zeigt sich erst auf dem Hintergrund der Humboldtschen ‘Anthropologie der Kräfte’. Ohne Zweifel – keine Kraft kann, so Humboldt immer wieder, in sich selbst bleiben oder sich allein aus sich selbst bestimmen (vgl. II, 70): nicht nur, weil jede Selbsterhaltung – “seinem Wesen Werth und Dauer” (I, 283) zu verschaffen – ‘kräftetheoretisch’ nur als Selbststeigerung, als Stärkung und Erhöhung der “Kräfte seiner Natur” (I, 283) möglich ist; sondern vor allem, weil – wie “die blosse Kraft einen Gegenstand braucht, an dem sie sich üben, und die blosse Form, der reine Gedanke, einen Stoff, in dem sie, sich darin ausprägend, fortdauern könne” (I, 283) – “auch der Mensch einer Welt ausser sich” (I, 283) bedarf. Als Kraft bloßes Streben und ‘innere Unruhe’, “die ihn verzehrt” (I, 283), ist der Mensch, um “nicht in sich müssig zu bleiben” (ebd.), auf etwas angewiesen, “dessen eigentlich unterscheidendes Merkmal es ist, NichtMensch, d.i. Welt zu seyn” (ebd.); folgerichtig “sucht er, soviel Welt, als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden” (ebd.). Steigerungstheoretisch ist auch hier keine Grenze gesetzt: “Der Mensch kann wohl vielleicht in einzelnen Fällen und
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Perioden seines Lebens, nie aber im Ganzen Stoff genug sammeln. Je mehr Stoff er in Form, je mehr Mannigfaltigkeit in Einheit verwandelt, desto reicher, lebendiger, kraftvoller, fruchtbarer ist er” (I, 385). Zweierlei Weichenstellung ist mit dieser “Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt” (I, 284) verbunden: zum einen darf das je eigene Ich nicht als monadisch-statisches oder bloß transzendentales Ich verstanden werden, das der Welt als solcher gegenüber steht; vielmehr muss es als Relation, als “allgemeinste, regeste und freieste Wechselwirkung” (I, 283) mit der Welt aufgenommen werden, so dass sich das Ich allererst durch und in Welt als es selbst hervorzubringen vermag. Dabei markiert Humboldt diese Angewiesenheit auf Welt als ‘NichtMensch’ als geradezu prinzipielle, anthropologische Konstante, ist doch allein der Mensch “nicht anders, als nur vermöge eines Dritten” (I, 283) fähig, sich selbst zu entfalten und zu bilden. Zum anderen aber ist diese bildungstheoretisch zentrale und in der Tat nicht übergehbare ‘Ineinanderfaltung von Welt und Selbst’ erneut von einer Hierarchisierung der Pole dieser Differenz gekennzeichnet, die – umstritten bis heute – durchaus als dominante Kennzeichnung neuzeitlicher Bildungsprozesse gelten kann; vielfache Formulierungen und Umschreibungen des Vorrangs des Selbst vor der Welt und der Nachrangigkeit und Funktionalität der Welt als eines ‘blossen Gegenstandes’, “der die Wechselwirkung seiner Empfänglichkeit mit seiner Selbstthätigkeit möglich mache” (I, 285), belegen Humboldts weitgehend unzweideutige Pointierungen: nicht nur ist die Welt, als Inbegriff all dessen, was ‘NichtMensch’ ist, bloßer Stoff für den Menschen, dem es “nicht eigentlich an dem, was er von jener erwirbt, oder vermöge dieser ausser sich hervorbringt, sondern nur an seiner inneren Verbesserung und Veredlung, oder wenigstens an der Befriedigung der innern Unruhe” (I, 283) liegt; vielmehr ist sie und alle “leblose Natur, die ihn umgiebt” (I, 284), jenes Medium, durch das der Mensch, indem er ihr “das Gepräge seines Werthes sichtbar aufdrücke” (ebd.), sich seine eigene “Fortdauer”, “Veredlung und Bildung” (ebd.) ermöglicht, denn “ohne dies [...] wäre das Daseyn des Menschen vergänglicher, als das Daseyn der Pflanze, die, wenn sie hinwelkt, wenigstens gewiss ist, den Keim eines ihr gleichen Geschöpfs zu hinterlassen” (ebd.). Angesichts der natürlichen Tendenz des Menschen, “beständig von sich aus zu den Gegenständen ausser ihm überzugehen” (I, 284), kommt es besonders darauf an, dass “von allem, was er ausser sich vornimmt, immer das erhellende Licht und die wohlthätige Wärme in sein Innres zurückstrale” (ebd.). “Zu dieser Absicht”, wie Humboldt weiter formuliert, “muss er die Masse der Gegenstände sich selbst näher bringen, diesem Stoff die Gestalt seines Geistes aufdrücken und beide einander ähnlicher machen” (ebd.). Doch geht es im Versuch, “die Natur aufzufassen”, nicht darum, “sie von allen Seiten kennenzulernen, als vielmehr um durch diese Mannigfaltigkeit der Ansichten die eigene inwohnende Kraft zu stärken” (I, 285). Auch wenn Humboldt die “unabhängige Selbstständigkeit” der Welt, die “dem Eigensinn unsres Willens die Gesetze der Natur und die Beschlüsse des Schicksals entgegenstellt” (I, 285), nicht verschweigt, so fungiert auch diese nicht als ‘Eigensinn’, sondern als Möglichkeitsbedingung der Selbststeigerung, kann doch ein Gegenstand nur “genügen”, unser “ganzes Wesen in seiner vollen Stärke und seiner Einheit zu beschäftigen”, wenn “er der Gegenstand schlechthin, die Welt” (I, 285) ist143. 143 Die Interpretation dieser Passagen Humboldts ist – bis heute – umstritten (vgl. exemplarisch Benner 1995, 92-108) und schwankt zwischen einer rein anthropozentrischen Deutung des Mensch-Welt-Verhältnisses, in der sich das ‘monadische Subjekt’ der Welt gegenüber stellt und seiner bloßen Willkür unterwirft (vgl. kritisch Benner 1995, 96), und einem “von der Tradition bildungstheoretischen Nachdenkens her” (ebd. 98) argumentierenden Versuch, der die Besonderheit des Humboldtschen Bildungsdenken als einer weder subjektivistisch-monadischen noch teleologischen Argumentation mit der Abwehr einer bloß ‘dienenden Bedeutung der Welt’ (vgl. Benner 1995, 106) verknüpft. Doch so sehr Benners differenzierten Justierungen hinsichtlich des relationalen Verständnisses von Bildung zuzustimmen ist, so wenig scheint mir damit die Problematik eines hierarchisch geordneten Selbst-Welt-Verhältnisses bereits mitentschieden bzw. gar gelöst zu sein; auch seine extensive Nutzung der Humboldtschen Kommentierung des ‘wahren Strebens des menschlichen Geistes’ als “ebensowohl sein höchster Schwung, als sein ohnmächtigster Versuch” (I, 284)
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Humboldts Beschreibung des Bildungsgeschehens als eines ebenso relationalen wie ausdrücklich selbstbezüglichen Prozesses der ‘Menschwerdung’ ist ohne Rekurs auf seine Anthropologie der Kraft nicht verständlich; verknüpft man daher beide Dimensionen seiner Überlegungen, zeichnet sich ein Bild des ‘gebildeten Individuums’ ab, das sich – in der Abund Ausarbeitung von Welt – allererst als es selbst hervorzubringen und als ‘ächte Eigenthümlichkeit’ zu bilden sucht. Indem dieses aber – gerade angesichts der Unmöglichkeit, sich ungebrochen vor sich selbst zu bringen – an ‘etwas Drittes’ verwiesen ist, von dem her es sich als es selbst allererst zu ‘bilden’ vermag, sieht es sich in einen anhaltenden Prozess gesetzt, sich durch – an individueller Idealität orientierter – Selbststeigerung der eigenen Entzogenheit und Negativität zu entledigen. Bildung ist daher weder bloße Setzung von Positivität noch schlichte Leugnung von Negativität, sondern sowohl regulativ gedachte Überwindung und Aufhebung von Negativität in idealisch ausgemalter Positivität, als auch – weil gänzlich unerreichbar – permanente Neuinszenierung derselben als Selbstmangel und andauernde Unzulänglichkeit. Eine Überlegung Humboldts, festgehalten in einem Brief an Schiller (1800), bekräftigt diese Interpretationsperspektive, indem sie Entmangelung und Entgrenzung einerseits wie Unerreichbarkeit und Komparativität andererseits ausdrücklich in einen thematischen Zusammenhang stellt144: “Alle unsere Endlichkeit rührt daher, daß wir uns nicht unmittelbar durch und an uns selbst, sondern nur in einem Entgegengesetzten eines andern erkennen können, besteht in einem ewigen Trennen, unseres Wesens in einzelne Kräfte, der Welt in einzelne Gegenstände, der Menschheit in einzelne Menschen, des Daseyns in vorübergehende Zeiten. Da diese Endlichkeit nicht in der That aufgehoben werden kann, so muß sie es in der Idee; da es nicht auf göttliche Weise geschehen kann, muß es auf menschliche. Des Menschen vermag die bei Humboldt weit häufiger zu findenden hierarchischen Pointierungen letztlich nicht zu entkräften (vgl. Benner 1995, 103ff.). Seiner abschließenden Bündelung ist daher nur bedingt zuzustimmen: zwar gilt uneingeschränkt, dass “Entfremdung und Rückkehr aus der Entfremdung [...] gleichermaßen konstitutiv für die Bildung des Menschen” (Benner 1995, 107) sind; die sich darin abzeichnende “Dialektik von Entfremdung und Rückkehr aus der Entfremdung” (ebd.) aber dahingehend zu verstehen, dass gerade sie Bildung weder als “Aufhebung der Entfremdung in eine bloße Selbstidentität” noch als “bloßes Verbleiben oder gar als Befreundung mit der Entfremdung” (ebd.) auszulegen erlaube, unterschlägt, dass der Gedanke der ‘Höherentwicklung’ gerade hier seinen genuinen Ort hat, indem er die in der Unmöglichkeit der Aufhebung der Entfremdung sich andeutende Differenz des Menschen mit sich selbst in ein Steigerungsverhältnis umschreibt und – in idealischer Ausrichtung – auf Dauer stellt. So ist es die Idee einer zwar weder vorgefundenen noch freihändig entworfenen, aber im Gedanken einer ‘ächten Eigenthümlichkeit’ selbst gestalteten Identität, die gerade in ihrer Nichterreichbarkeit den Prozess der Selbststeigerung in Gang setzt und anhaltend ‘befeuert’. 144 Sie entstammt dabei Humboldts sprachtheoretischen Überlegungen, die weder als eine – nur sprachtheoretisch reformulierte – Bestätigung seiner bildungstheoretischen Konzeption noch als grundsätzlicher Bruch mit derselben und sprachphilosophischer Neueinsatz verstanden werden können; vielmehr spricht vieles dafür, sie – sowohl in sich selbst als auch im Zusammenhang mit seinen bildungstheoretischen Überlegungen – als eine spannungsreiche Konstruktion aufzunehmen, die sowohl als Fortsetzung als auch als Neujustierung gelesen werden kann. Vgl. dazu insbesondere die abwägende und die jeweiligen Widersprüchlichkeiten wie inneren Spannungen der Überlegungen Humboldts nicht unterschlagende Interpretation bei Koller 1999, 70-93. Rezeptionsgeschichtlich jedoch haben Humboldts Sprachüberlegungen erst seit knapp zwei Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung gewonnen; dies gilt insbesondere pädagogisch, hat doch lange Zeit Sprangers Diktum – “Humboldts sprachphilosophische Leistungen sind [...] für den Zusammenhang unseres Themas sekundär” (Spranger 1909, 75f.) – und die aus seiner Focussierung der “Humanitätsidee” (ebd. 40) resultierende Einschätzung derselben als einer bloßen “Nachblüte” (ebd.) die pädagogische Wahrnehmung insgesamt geleitet; so erwähnen Litt (1955), Heydorn (1980) wie auch Buck (1984) sein sprachtheoretisches Werk überhaupt nicht. Genealogisch ist es daher wichtig, den sprachphilosophischen Neujustierungen – so bedeutsam sie systematisch auch heute sein mögen – keine dominante Rolle in der Interpretation des Bildungsgedankens zuzumessen, ließe sich doch leicht zeigen, dass weit mehr Humanitätsidee und “präformistische Metaphysik der Individualität” (Buck 1984, 227) das bestimmt hat, was im Anschluss an Humboldt als Bildung Geltung beanspruchen konnte (vgl. insgesamt Buck 1984).
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Wesen aber ist es, sich erkennen in einem Andern; daraus entspringt sein Bedürfniß und seine Liebe” (Humboldt 1981, 197). Ist aber “Verschmelzung mit einem unendlichen Object” (ebd.) als Form der Aufhebung der eigenen Endlichkeit und Selbstentzogenheit nicht möglich, so ist “das Einzige, was daher übrigbleibt, [...] alle, zu irgend einer Zeit, und auf irgend eine Weise erlangte Stärke und jegliche Richtung der inneren Kraft [...] zu versammeln, daß [...] sie doch immer einen ereile, in dem es voller, an einem größeren Object und in innigerer Berührung mit demselben geschehe” (ebd. 197). Diese Pointierungen Humboldts aber nun – wie allzuoft geschehen – als bloß metaphysische (und insofern heute stillschweigend zu übergehende) Ideen der Einheit und Ganzheit abzutun oder gar für sprachphilosophisch überwunden zu halten, wird nicht nur insgesamt den erheblichen Spannungen in Humboldts Überlegungen nicht gerecht, sondern unterschlägt auch die theoriestrategische Bedeutung seiner ‘metaphysischen Logik’ der ‘Idee der Menschheit’145.
145 Weitgehend unstrittig ist, dass im Brief an Schiller Humboldts Sprachauffassung bereits in ihren wesentlichen Grundzügen enthalten ist (vgl. Koller 1999, 72 wie auch Trabant 1990, 36), so dass die im direkten Anschluss an diese Überlegung Humboldts formulierte Einschätzung der Sprache – “Dahin aber zu gelangen, ist die Sprache das einzige sinnliche und – als aus der innersten Menschheit stammend, und nur in ihr möglich – menschliche Mittel, und zu diesem Zweck muss man sie brauchen und tauglich machen” (Humboldt 1981, 197) – daher auch die Perspektive zur Interpretation seiner sprachphilosophischen Überlegungen markiert: “die Sprache diesem höheren Bildungszweck zuzuführen” (ebd. 198). Humboldts sprachtheoretischer Grundgedanke ist dabei die Abkehr von einem mitteilungs- und repräsentationstheoretischen Modell der Sprache – “Die zunächst liegende, aber beschränkteste Ansicht der Sprache ist die, sie als ein blosses Verständigungsmittel zu betrachten” (VI, 22) – zu einem konstruktionstheoretischen Denken, das nicht nur an und in der Sprache den Prozess der Bildung konkretisiert, sondern auch als Sprache begreifbar macht: “Die Sprache ist daher, wenn nicht überhaupt, doch wenigstens sinnlich das Mittel, durch welches der Mensch zugleich sich selbst und die Welt bildet, oder vielmehr seiner dadurch bewußt wird, daß er eine Welt von sich abscheidet” (Humboldt 1981, 196). Auch wenn der ‘metaphysische Grundton’ der Humboldtschen Überlegungen auch sprachtheoretisch nicht einfach verschwindet und sich immer wieder in Formeln des ‘Verlangens nach Vervollständigung’ und ‘Übereinstimmung’ niederschlägt, so finden sich aber durchaus vielfache Belege einer Neujustierung des Bildungsdenkens, die sich mit Pluralität, Heterogenität wie Dialogizität beschreiben lassen: so steht – erstens – Humboldts einheitstheoretische Überzeugung, dass jede “Wechselrede” (VI, 25) zwar “Zweiheit in den Menschen” (ebd.) voraussetze, sich in “Satz und Gegensatz” (ebd.) manifestiere und zur Unterscheidung “zweie[r] Classen, Einheimische[r] und Fremde[r]” (ebd.) führe, doch letztlich – wie “alles getheilte Seyn” – auf “Einheit” (ebd.) ziele (vgl. auch VI, 181), durchaus seiner differenztheoretischen Einsicht in die Unaufhebbarkeit der Differenzen gegenüber, ist doch “alles Verstehen [...] daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen, alle Uebereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen” (VII 65); darüber hinaus bieten – zweitens – seine anerkennungstheoretisch erschließbaren Überlegungen zur Problematik der Konstituiertheit des Ichs durch den Anderen qua Sprache (vgl. VI, 25ff. wie auch 181ff.) durchaus auch veränderte bildungstheoretische Perspektiven (vgl. dazu ausführlicher insbesondere Koller 1999), ohne jedoch übersehbar zu machen, dass auch hier ‘Selbstbezüglichkeit’ weitgehend dominant gesetzt wird: “der Mensch versteht sich selbst nur, indem er die Verstehbarkeit seiner Worte an Andren versuchend geprüft hat. Dies liegt schon in dem allgemeinen Grunde, dass kein menschliches Vermögen sich in ungeselliger Vereinzelung entwickelt [...]. [Vielmehr wird] die Objectivität [...] gesteigert, wenn das selbstgebildete Wort aus dem Munde eines Andern wieder tönt. Der Subjectivität wird nichts geraubt, da der Mensch sich immer eins mit dem Menschen fühlt; ja auch sie wird verstärkt, da die in Sprache verwandelte Vorstellung nicht mehr ausschliessend Einem Subject angehöret” (VI, 155). So sieht sich jeder der bisweilen unternommenen Versuche, mithilfe der sprachtheoretischen Überlegungen Humboldts den bildungstheoretisch anerkannten Schwierigkeiten zu entkommen, mindestens vor die Schwierigkeit einer ambivalenten und widersprüchlichen Denkfigur gestellt (vgl. Koller 1999), die weit weniger dazu taugt, die Probleme zu beheben, denn sie zu verdeutlichen. Aber so verständlich und begründet es auch sein mag, die sprachphilosophischen Studien Humboldts zu Zwecken einer bildungstheoretischen Revision und Reformulierung heranzuziehen, so wenig sind gerade sie bildungstheoretisch bedeutsam und wirksam geworden; vielmehr zehrt die historisch äußerst bedeutsam gewordene Figur der “allgemeinen Menschenbildung” als dem “gemeinsame[n] Nenner für miteinander verwandte, aber keineswegs identische Reformkonzepte” (Baumgart 1990, 37) von dessen anthropologisch justierter und individualtheoretisch formulierter ‘Kräftemetaphysik’.
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(c) Dabei steht Humboldts Bildungsgedanke nicht zufällig in einem staatlich-politischen Kontext, der den gesellschaftlichen Rahmen der ‘Bildung’ markiert und hermeneutisch unverzichtbar ist146: kritisch sowohl gegen absolutistische Repression als auch gegen soziale Brauchbarkeit gerichtet und den Regierungen als Reformmöglichkeit zur Verhinderung des “immer auch mit Verderben begleitete[n] Ausbruch[s] tobender Vulkane” (I, 101) anempfohlen, kennzeichnet ‘Bildung’ selbst die innere Struktur einer auf Steigerung und Fortschritt setzenden bürgerlichen Gesellschaft. Auch wenn Humboldt immer wieder die ‘Bildung der Menschen’ einklagt, damit “es dem Bürger möglich bleibt, auch Mensch zu sein, das heisst, seine ganze Bestimmung als Mensch vollkommen zu erfüllen” (I, 54), so ist doch seine Insistenz auf ‘Eigenthümlichkeit’ statt ‘Brauchbarkeit’ gesellschaftlich alles andere als bloße ‘Nutzlosigkeit’; denn gerade weil eine “zu ausgedehnte Sorgfalt des Staates” die “Energie des Handelns überhaupt” beschränken und dazu verführen würde, auch noch “den Ueberrest seiner Selbstthätigkeit gleichsam freiwillig zu opfern” (I, 123), dient die von ihm radikal geforderte Begrenzung staatlicher Ordnungsbemühungen auf bloß negative Handlungen vielmehr einer – allein durch Bildung eröffneten – Möglichkeit gesellschaftlicher Transformation durch individuelle Formation, steht doch “das Menschengeschlecht jezt auf einer Stufe der Kultur, von welcher es sich nur durch Ausbildung der Individuen höher emporschwingen kann” (I, 142f.), so dass “alle Einrichtungen, welche diese Ausbildung hindern, und die Menschen mehr in Massen zusammendrängen, jezt schädlicher als ehmals” (I, 143) sind. Nur folgerichtig ist der Staat daher “nichts als ein Mittel, diese Bildung [des Bürgers als Menschen] zu befördern” (I, 69), um schließlich sich selbst in eine viel zweckmäßigere “Maschine zu verwandeln, die durch die innere Kraft ihrer [der Bürger] Triebfedern in Gang erhalten würde, und nicht unaufhörlich neuer äussrer Einwirkungen bedürfte” (I, 72)147.
Trotz zeitgenössisch mangelnder Publizität der Humboldtschen Schriften148 – mit ihm erlangt ‘Bildung’ ihre paradigmatische und insgesamt historisch überaus wirksame Ausgestaltung, so dass schließlich, wer von ‘Bildung’ spricht, von Humboldt nicht schweigen kann; dabei ist Humboldts kritische “ursprüngliche Einsicht” in die “prinzipielle Unhaltbarkeit jedweder teleologischen Bestimmung des Menschen” (Benner 1995, 33), indem er den Menschen weder von einem Außen noch bloß in einem Innern bestimmt, sondern als ‘bildende Wechselwirkung von Mensch und Welt’ (Benner) zu denken versucht, ist von Anfang an in einem Horizont einer positiv formulierten Logik der Individualität qua Selbststeigerung entwickelt, so dass eine analytische Trennung beider – mindestens für Humboldt – nicht angemessen ist. Der Begriff der Bildung muss bei Humboldt daher in seiner ganzen Ambivalenz studiert werden: was einerseits als Negation und Kritik jeder äußeren Bestimmung und identifizierenden Festschreibungen des Menschen qua Insistenz auf als Möglichkeit 146 So markiert insbesondere Humboldts Versuch, die ‘Gränzen der Wirksamkeit des Staates’ (1792; vgl. Humboldt 1903, I) zu bestimmen, jenen Kontext, in dem er die ‘Idee der Bildung’ erstmalig ausführlich entfaltet hat. 147 Es sei bei dieser überaus kurzen Grundskizze der Humboldtschen sozialtheoretischen Perspektive belassen, wird diese doch ausführlicher in der folgenden Teilstudie [B / 2] zur ‘Formation des Sozialen’ erläutert und diskutiert. 148 Diese oft gegen die Stellung Humboldts eingewandte mangelnde Publizität seiner Schriften darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Humboldt wohl einer der bedeutendsten Gestalten des zeitgenössischen Diskurses gewesen ist, der nicht nur im Austausch mit vielen damaligen Gelehrten stand, sondern sich auch selbst auf vielen Gebieten der Wissenschaft probierte; vgl. auch Borsche 1990.
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und Entwicklung gedachter Individualität gelesen werden kann, gerät andererseits gerade in der idealischen Ausrichtung der Konzeption der Bildung zu einem positiven Projekt, das nicht nur insgesamt als Prinzip gesellschaftlicher Ordnung und Entwicklung fungieren soll, sondern auch die Menschen zu ‘Subjekten ihrer selbst’ und ‘idealisch gebildeten Individuen’ bilden soll. ‘Bildung’, so ließe sich zunächst bilanzieren, markiert damit nicht nur eine der dominanten und zentralen modernen Formationen des Selbst, sondern strukturiert auch den Prozess der Subjektivierung, indem es die jeweiligen Individuen als eine – durch ein erst menschheitlich erreichbares ‘Ideal’ strukturierte – Progression auszulegen lehrt und in einer paradoxen Logik gleichzeitiger Selbstaffirmation und Selbstnegation einer ständigen, an Selbststeigerung orientierten Selbstbearbeitung unterzieht, die Identität durch Negation von Nichtidentität verheißt. Was aber zunächst als Kritik einer überkommenen Ordnung (und zugleich als Abwehr revolutionärer Kritik) gedacht war, gerät in der Einlösung des praktischen ‘Projekts der Bildung’ zur Etablierung einer neuen Ordnung, einer ‘Ordnung des Subjekts’ und muss als aufklärerische Kritik insofern verstummen. So lässt sich die – oft für Humboldt reklamierte – Akzentuierung von Selbstbezüglichkeit und Relationalität der ‘Bildung’ gerade nicht (nur) als historisch neue Einsicht in nur relational (mit Welt vermittelt) mögliche und in unaufhebbarer Unbestimmtheit fundierte Selbstgestaltung und Selbstentwicklung verstehen und – schließlich – pädagogisch zu kategorialem Rang erheben, sondern muss als eine spezifische Formation des Menschen interpretiert werden; Bildung markiert gerade nicht den Prozess der ‘Formwerdung des Individuums’ (Bokelmann) schlechthin, sondern rekonstruiert diesen in einer ganz spezifischen Hinsicht, in der Innerlichkeit und Selbstbezüglichkeit wie Entfaltung, Steigerung und Idealität den jeweiligen Blick figurieren. Es ist gerade diese doppelte Fixierung auf Individualität und Idealität, die sich – bis heute – im Begriff der Bildung erhält und die Metapher der Bildung vereinseitigt, so dass mit ‘Bildung’ zwar Entfaltung und Entwicklung – sei es als Wachstum und Reifung oder Selbstgestaltung und Selbstbestimmung – wie auch Individualität und Selbstmächtigkeit, nicht aber Verfall, Abhängigkeit und Sozialität in den Blick kommen können. Der hier unternommene bildungskritische Gedankengang sei mehr abgebrochen als beendet, um eine erste Bilanz zur ‘Anthropologik der Bildung’ zu ziehen; dabei lässt sich die spätaufklärerische Anthropologie und der aus ihr resultierende Bildungsgedanke als eine doppelte Umschrift der beiden nicht nur zeitlich zugrundeliegenden christlichen ‘Anthropotheologie’ (Löwith) kennzeichnen: (1) Was sich zunächst in der aufklärerischen Kritik der traditionellen christlichen ‘Anthropotheologie’ als Abweis der hierarchischen Differenz von Gottebenbildlichkeit und Sündenfall liest, indem der Sündigkeit des Menschen nicht nur dessen postulierte gute Natur entgegengehalten wird, sondern auch dessen Selbsttätigkeit und Selbstmächtigkeit neu zur Geltung gebracht wird, gerät in der positiven Ausformulierung der naturalen Bestimmung des Menschen im Tiervergleich zu einer neuerlich hierarchischen Differenz, in der naturaler Mangel und kultural mögliche Selbstbestimmung oppositional einander zugeordnet werden. So ist es auch hier –
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strukturanalog zur traditionellen theologischen Figur – der Mangel des Menschen, der eine Bearbeitung erzwingt, um das, was als positive Existenzmöglichkeit ausgemalt wird, zu ermöglichen und im Gedanken der ‘zweiten Natur’ als ‘eigentliche Natur’ des Menschen zu preisen. Solchermaßen eingespannt zwischen ‘schon Mensch’ und ‘noch nicht Mensch’ wird der Mensch spätaufklärerisch einer ausdrücklich pädagogischen Bearbeitung unterzogen, die als notwendig sich behauptet und den Menschen ‘allererst durch Erziehung’ (Kant) zum Menschen macht. In dieser ersten, einer die christlich hierarchischen Pointierungen zunächst bloß umkehrenden Umschrift bleibt aber bereits das, was traditionell als Folge der Sünde bezeichnet worden ist und als Inbegriff der Endlichkeit der Menschen gilt, die Sterblichkeit, weitgehend außen vor; sie wird – das kann hier nur angedeutet werden – nur folgerichtig in eine Theorie des natürlichen Todes umgearbeitet, so dass Sterben und Tod in einem ausgelebten Leben nicht länger Stachel mehr sind149. Solange aber der naturale Mangel und die mit diesem verbundene Tierheit des Menschen strukturell nicht aufgehoben werden können, ist Erziehung nicht nur notwendig und überwiegend als Disziplinierung unverzichtbar, sondern auch konsequent als ‘Selbsterziehung’ auf Dauer gestellt. Das sich – v.a. aus den Traditionen des ‘imago’- und ‘forma’-Gedankens wie der naturphilosophischen Theorie der Epigenesis speisende – Bildungsdenken stellt nun seinerseits eine zweite Umschrift der anthropologisch begründeten und pädagogisch praktizierten Hierarchie dar, indem es den aufklärerischen Pol des Mangels zur Möglichkeitsbedingung von Entwicklung umdeutet, dadurch radikal entschärft und die spätaufklärerisch etablierte Hierarchie von Mangel und Selbstbestimmung schließlich gänzlich zerbricht. In der durch Entmangelung ermöglichten Entgrenzung zum Bildungsgedanken aber perpetuiert sich der Mangel, indem dieser nun strukturell eingebaut wird und als immer auch steigerbare Existenzmöglichkeit prozessualisiert wird. Es ist dieser Gedanke einer ‘gesteigerten’ und unendlich ‘steigerbaren’ Existenz, der mit der Idee der Bildung bis heute verbunden ist; die Erfahrung der menschlichen Begrenzung aber lässt sich bildungstheoretisch kaum integrieren und verwandelt sich konsequent in noch zu bearbeitende Aufgabenstellungen zukünftiger Entwicklung. Die – hier nur exemplarisch rekonstruierte und – von Herder wie auch Humboldt epigenetisch vollzogene Entschärfung des Mangels zur nahezu leeren Möglichkeit von Entwicklung wird pädagogisch in der sukzessiven Etablierung des Bildsamkeits-
149 Vgl. zur Problematik des natürlichen Todes als der neuzeitlich dominanten Todesdeutung vor allem die Arbeiten von Fuchs (1969, insbes. 50-82), Nassehi / Weber (1989, insbes. 207-231) wie zuletzt Priester (2001). Nur exemplarisch: was bei Kant noch als “Unzufriedenheit der Menschen [...] in Ansehung der Kürze des Lebens” (Kant 1964, VI 100) notiert und als ‘Schade’ der menschlichen Endlichkeit, “daß man alsdann sterben muß, wenn man eben angefangen hat einzusehen, wie man eigentlich hätte leben sollen” (ebd. 95 Anm. 1), beklagt wird, ist bei Rousseau – ganz ‘perfektibilitätslogisch’ – weitgehend entproblematisiert: nicht nur ist die Vorstellung, “nicht ewig [zu] leben” angesichts der Mühsal des Lebens überaus “süß” (Rousseau 1971, 58), so dass “Unsterblichkeit auf Erden” nur ein “traurige[s] Geschenk” (ebd.) wäre; vielmehr ist Sterben nur dann “hart, wenn man noch nicht zu leben begonnen hat [...]. Von Natur aus sorgt der Mensch nur soweit für seine Selbsterhaltung, als er die Mittel beherrscht. Sobald sie sich ihm entziehen, beruhigt er sich und stirbt friedlich” (ebd. 59).
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begriffs als Korrelat des Bildungsbegriffs nachvollzogen150. So situiert zunächst Fichte den Begriff der Bildsamkeit “als Charakter der Menschheit” im Kontrast zur Bestimmtheit und Vollendetheit der Tiere und identifiziert ihn mit gänzlicher ‘Unbestimmtheit’, die zur Selbstbestimmung auffordert: “der Mensch allein ist ursprünglich gar nichts. Was er seyn soll, muss er werden: und da er doch ein Wesen für sich seyn soll, durch sich selbst werden. Die Natur hat alle ihre Werke vollendet, nur von dem Menschen zog sie die Hand ab, und übergab ihn gerade dadurch an sich selbst” (Fichte 1845, III 87). Diese von Fichte vorgenommene Umdeutung des “Mangels an Vollendung” zur “Bildsamkeit” als einer “Bestimmbarkeit ins Unendliche” (ebd. 86) zielt zwar auf argumentative Ermöglichung freier Selbstbestimmung gegen die Übermacht festlegender Bestimmungen, eröffnet aber zugleich das ‘Projekt der Bildung’ als eines (dann auch nationalstaatlich orientierten) ‘Neuaufbaus der Menschen’, indem er die hierarchisierte anthropologische Differenz durch Abwehr eines begrenzenden ‘freien Willens’ aufhebt und radikal prozessualisiert151. Herbarts daran anschließende und geradezu disziplinbildende Fixierung der ‘Bildsamkeit’ zum zentralen “Grundbegriff der Pädagogik” (Herbart 1964, 5) ist hinlänglich bekannt und markiert eindrücklich deren theoriestrategische Bedeutung: nicht nur, weil gerade mit ihr eine pädagogische Interpretation der subjekttheoretisch diagnostizierten Unbestimmtheit des Menschen gelingt, die – in der disziplinär weitgehend betriebenen Konzentration auf Plastizität und Lernfähigkeit – den bildungstheoretisch eröffneten Prozess der ‘Entmangelung’ und ‘Entgrenzung’ fortschreibt und als pädagogisches Paradigma bis heute etabliert; sondern vor allem, weil sie –insbesondere bei und durch Herbart – zur Legitimationsfigur eines gesellschaftlich sich neu formierenden Funktionssystems wird, das sich deren Bearbeitung verschreibt. Nicht zufällig ist ‘Bildsamkeit’ daher das Resultat anthropologischer wie bildungstheoretischer Überlegungen: weil biologisch unfertig und weitgehend ohne Instinkt, entwickelt sich der Mensch – qua Vernunft – nicht linear zu sich selbst; vielmehr bedarf er der pädagogischen Beeinflussung, um – im Namen der Bildung – zu ‘rechter Individualität’ und “Sittlichkeit” (ebd. 15) erzogen zu werden. “Also verlangt man eine vielseitige Selbsttätigkeit. Aber nicht alle Vielseitigkeit ist erwünscht, sondern nur die rechte im rechten Maße, sonst braucht man lebhafte Kinder nur sich selbst zu überlassen; man brauchte sie nicht zu erziehen und nicht einmal zu regieren”. Erziehung aber “soll ihre Gedanken und Bestrebungen richten, aufs Rechte lenken” (Herbart 1964, 29-30). So markiert Bildsamkeit – zunächst als formal unterstellte Voraussetzung der Pädagogik – schließlich deren Tätigkeitsfeld und wird bereits bei Herbart subtil in eine “Bestimmbarkeit durch Erziehung” (Herbart 1964, 5) überführt – und 150 Vgl. zur Geschichte des Begriffs der Bildsamkeit immer noch Schwenk 1967 wie – durchaus kontrovers – Böhm 1988 und Brüggen 1998 wie jüngst Tenorth 2001a. Die immer wieder diskutierte systematische Frage aber, ob denn Bildsamkeit ausschließlich passivisch oder auch aktivisch gedacht werden könne bzw. müsse, verbleibt m.E. unkritisch im Horizont der thematisierten Machtpraktiken; fruchtbar wäre, den Begriff der Bildsamkeit auch von seiner Gegenseite her als pädagogische Geschichte der Ausgrenzung der ‘Blödsinnigen’ (Locke) und ‘Unerziehbaren’ zu studieren (vgl. Richter 1993) und ihn so als vermeintlichen ‘Auszeichnungstitel’ des Menschen zu dekonstruieren; vgl. dazu jüngst Jantzen 2003 wie – eher dazu gegenteilig – Ellger-Rüttgardt / Tenorth 1998. 151 Vgl. dazu Fichtes zweite und dritte ‘Reden an die deutsche Nation’ (Fichte 1845, VII 280-310).
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damit zugleich als Notwendigkeitsargument einer institutionalisierten Erziehung formuliert, ohne dass dafür noch ‘Schlechtigkeit’ oder gar ‘Erbsündigkeit’ eine Rolle spielten152. (2) Die genannten zwei anthropologischen Umschriften, in deren Vorbahnungen die Pädagogik als Projekt der Erziehung und Bildung sich organisiert, spielen in Foucaults Analysen zur Machtstruktur moderner Gesellschaften eine elementare Rolle; sie erlauben, diesen Prozess als Säkularisierung und Intensivierung einer auch pädagogisch reformulierten modernen Pastoralmacht zu lesen, die für Foucault eine der zentralen Stützen moderner Bio-Macht ist. Doch sie nur in ihr äußerliche machttheoretische Kontexte einzubetten und historisch zu interpretieren, wäre zu einfach; ihre eigene, innere Struktur stellt selbst eine Figuration der Macht dar: so lässt sich das aufklärerisch immer wiederkehrende und anthropologisch entfaltete Bekenntnis zur ‘freien Selbstführung’ der Menschen kaum bloß als deren Entdeckung oder gar Erfindung lesen, sondern muss auch als Neueinsatz und Verschiebung der Macht genau auf diesem Feld interpretiert werden. Während der Erziehungsgedanke in der hier verfolgten anthropologischen Grundlegung zwar zur Etablierung eines notwendigen pädagogischen Führungssystems führt, so bleibt er allein doch als noch zumeist disziplinierende, bisweilen sogar repressive Machtfigur durchsichtig, die meist von bereits etablierten Normierungen zehrt. Erst in dessen Kombination mit dem pädagogisch fortan insgesamt leitenden Bildungsgedanken vertieft sich der Zugriff der Macht: nicht nur, weil das pädagogische System der ‘Führung der Führungen’ in der bildungsmetaphorisch implizierten Konzentration auf ‘Innerlichkeit’ nun viel schärfer das Selbstverhältnis der Menschen focussiert und unter Verweis auf Individualität und Idealität einer intensiven (Selbst)Bearbeitung unterzieht; auch nicht nur, weil nun unter der Obhut der ‘Bildung’ Erziehung zu einer allererst ‘ermöglichenden’ Handlungsform aufsteigt; sondern auch, weil im Verweis auf dauernde Selbststeigerungsmöglichkeit die Individuen in Paradoxien einer gleichzeitigen Selbstaffirmation und Selbstnegation gestürzt werden, in der die strukturelle Gegebenheit und (Selbst)Entzogenheit der Menschen wenn auch nicht geleugnet, so doch als mindestens regulativ aufhebbar gedacht wird – mit der prekären Folge, dass die Unmöglichkeit der eigenen ‘Vervollkommlichkeit’ (Wieland) einen permanenten Selbstmangel provoziert, der sich – im Leiden an der Unmöglichkeit, aus sich selbst heraus zu sein – in der kompensatorisch inszenierten Vergleichung mit anderen niederschlägt, die Menschen voneinander trennt und komperativisch und generalisierend neu aufeinander bezieht. In der zugleich darin justierten notwendigen Fremdermöglichung von freier Selbstbestimmung und Selbstbildung aber versteckt sich so die Macht, indem sie das Projekt der ‘Epigenesis der Menschen’ als deren ‘ursprüngliche’ anthropologische Eigenstruktur ausgibt und darin als gesellschaftliche Zurichtung gerade unsichtbar 152 Vgl. dazu pointiert Buck 1984, 145-150 und Ricken 1999a, 357-374 wie auch ausführlicher Anhalt 1999. Es ist gerade Herbart, an dem sich der – durch das Theorem der ‘Bildsamkeit’ ermöglichte – Zusammenhang von ‘Kinderregierung’ und Erziehungsnotwendigkeit und Orientierung an ‘Individualität’ und ‘Vielseitigkeit’ auch machttheoretisch studieren ließe, verfolgt doch dessen ‘Allgemeine Pädagogik’ eine sowohl anthropologisch als auch bildungstheoretisch argumentierende Begründung von Erziehung.
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macht; in ihr wird die pädagogische Macht jetzt im Namen der unterworfenen ZuErziehenden selbst ausgeübt und auf deren Ermöglichung ‘zu sich selbst’ ausgerichtet. Das bildungstheoretisch häufig propagierte ‘Werde, der Du bist’ (Pindar) verdeckt dabei nur, dass es in der führenden Ermöglichung der ‘Selbstführung’ um eine spezifische Lebensform und ‘Selbstregierung’ geht, die als ‘Entdeckung’ und ‘Freilegung’ von eigentlicher Individualität zu beschreiben geradezu euphemistisch wäre. Scharf gegen jede vorgängige ‘Entmächtigung’ der Menschen qua Sündhaftigkeit gerichtet zielt Bildung auf Selbstermöglichung und Selbstermächtigung, so dass auch noch die Sünde Ausdruck seiner Tatkraft wird: “Es ist eine abgeschmackte Verleumdung der menschlichen Natur, dass der Mensch als Sünder geboren werde [...]. Er lebt sich zum Sünder; und das bisherige menschliche Leben war in der Regel eine im steigenden Fortschritte begriffene Entwickelung der Sündhaftigkeit” (Fichte 1845, VII 421). Ist aber ‘Sünde’ – als traditioneller Titel nicht nur für die ‘Schlechtigkeit der Menschen’, sondern auch die Anmaßung und Selbstüberhebung der Menschen gebraucht – nicht natürlich, sondern historisch und Folge menschlicher Taten, so ist sie – mindestens prinzipiell – als aufhebbar denkbar. Was aufklärerisch-anthropologisch zunächst als Umakzentuierung und Überführung der menschlichen Gegebenheit in Aufgegebenheit gelesen werden kann, ohne dass darin Selbstmächtigkeit absolut gesetzt würde, gerät bildungstheoretisch zu einer – auf Unendlichkeit ausgerichteten – Bewegung der Selbstvervollkommnung, die die Erfahrung der Negativität nur als Anreizung weiterer Steigerung aufzunehmen vermag und diese daher – prozessual – als positivierbar ausgibt. Durchaus zutreffend ist gerade ‘Ent-Fremdung’ einer der zentralen Momente der Bildung überhaupt (vgl. Buck 1984, 155ff.), die – ausdrücklich gegen die christliche Idee der ‘alienatio’ als Inbegriff der “nachparadiesischen Verbannung im ‘Elende’, in der Fremde” (Buck 1984, 157) gerichtet153 – in ‘Mangel’ und ‘Fremdheit’ ihre Herausforderung sieht und an möglicher Erfüllung festhält: nicht als Rückkehr qua Erlösung, sondern als offener Aufbruch durch sich selbst. So ist der ‘Preis der Höherentwicklungsidee’ (Reichenbach 1998) nicht nur ein gewisser Antipluralismus (vgl. ebd. 218), der an (insbesondere normativer) ‘Höhe’ oder ‘Tiefe’ festhält und zu spätmoderner ‘Oberfläche’ und ‘Pluralität’ nur wenig taugt, sondern auch ständige Selbstvervorläufigung und Mangelproduktion – die es in neuerlicher Selbststeigerung vermeintlich aufzuheben gilt. Alles andere als ‘imaginär’ suggeriert ‘Bildung’ die Eindeutigkeit des Selbstbildes als Heilmittel der – ausdrücklich zugestandenen (vgl. Humboldt 1903, I 237f.) – Gefahr des Selbstverlusts. Die Frage aber, wozu taugt an etwas festzuhalten, das als ‘illusionär’ und unerreichbar längst zugestanden ist154, lässt sich nicht länger bloß mit dem Verweis 153 Das christliche Motiv der ‘alienatio’ zeigt auf seine Weise die Problematik der Ontologisierung jüdischer Überlegungen: während ‘Paradiesesvertreibung’ und daraus resultierende ‘Welt-‘ und ‘Selbstfremdheit’ im jüdischen Denken geschichtlich und eschatologisch-apokalyptisch gedacht werden, markiert ‘alienatio’ im christlichen Denken nicht nur die “allgemeine Kontingenz der Welt” und “Defizienz alles Seienden, vorzüglich der endlichen Menschenseele, die sich ihres Mangels beständig erinnert” (Buck 1984, 157), sondern auch die “erinnernde Sehnsucht nach der gewesenen Heimat” (ebd.), so dass Entfremdung und Heimkehr als Restitution des Ursprungs gedeutet werden kann. 154 Die plastische Darstellung der Bewegungsrichtung der ‘Höherentwicklung’ illustriert dies wunderbar: “Wo Es war, soll Ich werden, wo Heteronomie war, soll Autonomie werden, wo Haut und Körper waren, soll
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auf dessen rein regulativen Charakter beruhigen, sondern hat regulierende Funktion: es ist gerade nicht bloß eine leider nicht realistische und ansonsten folgenlose ‘Idealisierung’, die dann als ‘illusionär’ eingestanden wird, sondern die Produktion permanenten Selbstmangels zu Führungszwecken der eigenen Lebensführung. Ist mit ‘Bildung’ eine der zentralen Folien und Mechanismen moderner Subjektivierungsstrategien markiert, so kann diese Formation des Selbst als eines ihrer entscheidenden Momente gelesen werden, eine spezifische individuelle Innerlichkeit ‘herzustellen’.
IV. Auch wenn sich die historische Wirksamkeit der ‘Idee der Bildung’ (Humboldt) nicht angemessen durch jeweilige Rekurse auf ausgesuchte ‘Höhenkammzitate’ (Reichardt) belegen lässt, so taugen diese – weit mehr als deren alltäglich-lebensweltlichen ‘Niederschläge’ – doch dazu, die in ‘Bildung’ implizierte ‘Anthropologik’ in ihrer theoretischen Figuration wie auch der darin vorgebahnten praktischen Bedeutung zu rekonstruieren. Sie aber auch als zunehmend dominant werdende Folie der Lebensführung einzelner wie der pädagogischen ‘Führung der Führungen’ insgesamt zu plausibilisieren, gelingt damit allein nicht; vielmehr bedarf ein solcher ‘Beweisgang’ – bei aller Unstrittigkeit des Befunds insgesamt (vgl. Jäger / Tenorth 1987) – auch gänzlich anderer Materialien und Quellen, die Prozess wie Effekt einer veränderten Subjektivierung durch ‘Bildung’ erschließen helfen und konkret nachvollziehbar machen. Bereits lexikographisch lässt sich der Befund der erstaunlichen Wirksamkeit und Verbreitung der ‘Bildung’ grob nachzeichnen: was 1733 nur mit der “höchst wunderbaren” Frage der “Bildung der Frucht im Mutter-Leibe bey Menschen und Thier” verknüpft und als Übersetzung von “Formatio” und “Generatio” (Zedler 1733, III, 1834) aufgeführt wird, noch 1784 von Mendelssohn ausdrücklich als ‘sprachlicher Neuankömmling’ vermerkt (vgl. Vierhaus 1972, 508) und 1793 – neben der gemeinhin üblichen Kennzeichnung der ‘äußeren Gestalt’ mit ‘Bildung’ – nur beiläufig als Bezeichnung, “den Fähigkeiten des Geistes und Willens die gehörige Richtung [zu] geben” (Adelung 1793, I, 1015), notiert ist, findet sich bereits 1807 als – wenn auch noch ‘uneigentlicher Gebrauch’ – auf “Geist und Herzen” wie “Verstand” bezogener “Zustand, da ein Mensch [...] Geschicklichkeiten und feine Sitten angenommen hat” (Campe 1807, I, 534) aufgenommen, mit “Vervollkommnung” (ebd.) verknüpft und als Oberbegriff – zu ‘Bildungsanstalt’, Bildungsfähigkeit’, ‘Bildungsgeschäft’ wie auch ‘Bildungskraft’ (vgl. ebd.) – genutzt. Nur wenig später – 1815 – wird mit ‘Menschenbildung’ bereits die “höchste und allgemeinste Aufgabe der Erziehung” (Brockhaus 1815, VI 268) bezeichnet und als “Bildung zur Reife und sittlichen Vollkommenheit im Denken und Handeln” (ebd. 270) ausgelegt, die insgesamt auf das “Fortschreiten der Menschheit” (ebd.) ziele, so dass – wiederum nur wenig später – bereits 1825 lexikalisch verzeichnet wird, dass – obgleich von nichts häufiger als von Bildung die Rede sei – “nichts schwerer zu bestimmen sei, als eben sie” (Rheinisches Conversationslexikon 1825, zit. Vierhaus 1972, 537) – mit der Folge, dass bereits Geist kommen, wo das Uneigentliche war, soll sich das Eigentliche zeigen, wo Getriebensein war, soll Kognition kommen, wo Fremdeinfluß war, soll Souveränität kommen, wo Inkongruenz und Ambivalenz warn, soll das wahre Selbst kommen, wo Dunkelheit war, soll Transparenz kommen, wo das bloße Bedürfnis war, soll der freie Wille kommen, und wo die Sehnsucht war, soll Überzeugung kommen” (Reichenbach 1998, 210f.).
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1817 ein Autor notiert, dass Bildung “so verschroben [sei], daß man oft wünschen muß, keine Bildung zu haben” (Pabst, zit. Vierhaus 1972, 531). Seitdem finden sich nicht nur in jedem allgemeinen Lexikon entsprechende Einträge und eigenständige Artikel zur ‘Bildung’; vielmehr ist nun die genaue Begriffsfassung und Auslegung derselben bedeutsam, so dass zunehmend verschiedene – konfessionelle und nicht-konfessionelle – Bildungsverständnisse entfaltet und unter den jeweiligen Überschreibungen ‘echter’ und ‘wahrer Bildung’ gegeneinander profiliert werden; wie unterschiedlich auch immer diese dabei inhaltlich ausfallen, immer geht es bei ‘Bildung’ darum, “das Eigenthümliche jedes Einzelnen zu achten”, “Alles aus dem Kinde herauszubilden, was einer Ausbildung fähig ist”, mit dem “Charakter der menschlichen Gattung überhaupt” (Allgemeine Encyclopädie 1842, I 461) zu verknüpfen und als prinzipielle pädagogische Maxime zur Geltung zu bringen: “es ist der ganze Mensch, den er [der Erzieher] ins Auge fassen soll” (ebd. wie auch 463). Von hier wird nun ‘Bildung’ – längst paradigmatisch gewordener Topos der pädagogischen Debatten – gegen jede “Einseitigkeit der Ältern und Erzieher” justiert, “die sich begnügen, das aus dem Kinde herauszubilden, was es einmal in seinen bürgerlichen Verhältnissen werden soll, ohne an die Entwickelung des rein Menschlichen in dem Zögling zu denken” (ebd. 463). Die geradezu späte Grimmsche Kommentierung der ‘Bildung’ – “ein heute sehr gangbarer ausdruck und für unsere mundart bezeichnend” (Grimm 1860, II, 22) – mag den kursorischen Durchgang beschließen; ihre ausführliche Rekonstruktion – von ‘Bild’ über ‘Bildbarkeit’ und ‘Bilden’ bis hin zu ‘Bildung’ und ihren vielfältigen Composita (vgl. ebd. 8-24) – belegt deren weite Verbreitung jenseits einer inhaltlich eng gefassten Monopolstellung einer bestimmten Bildungskonzeption.
Die rasche begriffsgeschichtliche Karriere des Konzepts der ‘Bildung’ um 1800 ist erstaunlich und belegt sowohl deren konzeptionelle Kraft als auch deren enorme Anschlussfähigkeit – mit dem Effekt, dass auch der Bedeutungsgehalt gerade dadurch sich vielfach multiplizieren konnte. Es ist diese weitgehend ohne Widerlager gedachte ‘Idee der Bildung’ als einer selbstreferentiell strukturierten und idealisch orientierten ‘Entfaltung aller Kräfte’, die sich sukzessive als neue anthropologische Matrix durchsetzt und die Lebensführung der Menschen zunehmend bestimmt: nicht nur, weil gerade sie zur Leitsemantik und konzeptionellen Matrix eines – sich allererst auch mit ihr etablierenden – pädagogischen Systems wird (vgl. Jeismann 1990 wie Tenorth 2000, 159ff., 164ff.)155, sondern auch, weil sie schließlich auch von ihren Gegnern als weitgehend verbindliche, allerdings unterschiedlich auszulegende Konzeption anerkannt wird, der daher nicht generell, sondern nur graduell – im Namen selbstbeanspruchter ‘echter Bildung’ gegen kritisierte ‘Halbbildung’ (Stolberg) wie ‘Überbildung’ (Raumer) anderer – widersprochen werden kann (vgl. Vierhaus 1972). Wenn es denn zutrifft, dass ein historischer Wandlungsprozess nur unzureichend verstanden wird, wenn nicht auch Gegenkonzepte, Gegenbegriffe oder Gegenideen mitberücksichtigt werden, dann vermag ein – wenn auch hier nur kursorisch mögli155 Vgl. dazu auch die unter [2] (dieser Studie) folgenden Überlegungen zur ‘Formation des Sozialen’ qua Bildung: so vollzieht sich die diskursive Etablierung des ‘neuhumanistischen Bildungsdenkens’ überwiegend nicht im anthropologischen Diskurs selbst, sondern weitgehend in einem – damit allerdings eng verknüpften – ‘sozialitätstheoretischen Diskurs’, der durch die oppositional justierte und zunehmend die Auseinandersetzung dominierende Unterscheidung von ‘Bildung und Brauchbarkeit’ (Blankertz) strukturiert wird, so dass es gelingt, ‘Bildung’ schließlich als eine vermeintlich bloß ‘individualpädagogische’ Weichenstellung zu verstehen – mit dem Effekt, dass Bildung mit Freiheit und Brauchbarkeit mit Macht identifiziert werden.
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cher – Blick in den ‘Gegendiskurs’ der ‘Bildung’ zweierlei Auffälligkeit zu belegen: auch wenn das Bildungsdenken kaum widerspruchslos angenommen und argumentativ aufgenommen worden ist, so finden sich einerseits insgesamt – nicht nur historiographisch unterrepräsentiert – nur wenige Stimmen, die ihre Kritik oder gar Ablehnung der ‘Idee der Bildung’ ausdrücklich theoretisch-systematisch entfaltet und argumentativ vorgetragen hätten156; vielmehr scheint auch der – zweifellos vorhandene – Widerstand gegen ‘Bildung’ weitgehend auf einem nur allzu selbstverständlichen und insofern kaum ausführlich zu explizierenden konservativen Denken aufzuruhen, das sich überwiegend aus christlichen Überzeugungen speist und gerade angesichts der Erfahrungen (mit) der französischen Revolution an der überlieferten ständischen Ordnung des Gemeinwesens aus Gründen der Kontinuität und des Herkommens festzuhalten sucht157. Kern dieses christlichen Selbstverständnisses ist dabei die Einsicht in die eigene Unvollkommenheit und Begrenztheit der Erkenntnismöglichkeiten wie die daraus resultierende Unterwerfung unter die von Gott gegebene Ordnung, die erst in der Unterwerfung unter die von Gott gesetzten ‘höheren Mächte’ – voran der Kirche – vollzogen wird. Es ist dieses Doppel, einerseits “die Endlichkeit, Schwäche und Sündhaftigkeit des Menschen” (Baumgart 1990, 91) zu betonen und andererseits auf der Einhaltung und Festigung der jeweilig gegebenen – monarchischen – Ordnung und Institutionen zu insistieren, das entscheidend dazu beigetragen hat, dass ‘konservative Doktrin’ und ‘pessimistische Anthropologie’ (vgl. Baumgart 1990, 90f.) nicht nur ideologisch verknüpft und schließlich umstandslos miteinander identifiziert werden, sondern auch ‘Endlichkeit’ – bisweilen bis heute – bloß als (nachträgliche) Legitimationsideologie von sozialer ‘Ungleichheit’ ausgelegt wird158. So gelten 156 In der Tat ist eine Rekonstruktion des ‘Gegendiskurses’ auch mit historiographischen Schwierigkeiten verbunden, finden sich doch in den gemeinhin üblichen Darstellungen der Geschichte sowohl der Anthropologie (vgl. exemplarisch Hirschberger 1981, Mühlmann 1984, Weiland 1995) als auch der Pädagogik (vgl. Ballauff / Schaller 1970, Blankertz 1982, Tenorth 2000) – wenn denn überhaupt – nur wenige detaillierte und zumeist bloß insgesamt bilanzierende Hinweise auf ausdrücklich systematisch argumentierende Gegenpositionen; ausführlicher z.B. Vierhaus 1972, Baumgart 1990, 88-102; vgl. auch Baumgarts ausdrücklichen Hinweis auf ein “relativ schmales Quellenmaterial” (Baumgart 1990, 92). 157 Widersteht man der Neigung, die sog. ‘Gegenaufklärer’ umstandslos und pauschal als ‘Obscuranten’ und politisch opportune ‘Konterrevolutionäre’ einzustufen (vgl. Weiß / Albrecht 1997), dann zeichnet sich nicht nur ein weites Feld (früh-)konservativen Denkens ab, sondern auch ein durchaus häufiger Grundtenor: ‘Gegenaufklärung’ ist auch immer Antwort – so auch die Selbstauskunft vieler Beteiligten (vgl. Kraus 1999) – auf Einseitigkeiten, Überheblichkeiten und offene Probleme der Aufklärung selbst (wie auch ein Blick in manche ‘biographische Karriere’ – vom Aufklärer zum religiös konvertierten Kritiker und Gegenaufklärer – zu verdeutlichen vermag). Zu den Anfängen und Formen konservativen Denkens vgl. exemplarisch die großen Studien von Epstein 1973 und Kondylis 1986 wie den anregenden Beitrag von Berlin 1994 und den neueren Gesamtüberblick von Schildt 1998. 158 Die konfessionelle Färbung der Bildung darf nicht übersehen werden: während protestantisch sich vielfache Nähen zu ‘Bildungsdenken’ wie ‘Bildungspraxis’ nachweisen lassen (vgl. dazu Timm 1990, der die “Affinität des deutschen Bildungswesens zur konfessionellen Kultur des Luthertums” (ebd. 57) nicht nur belegt, sondern u.a. auch in dessen ‘individualtheoretischer Weichenstellung’ begründet sieht), muss aus katholischer Perspektive durchaus von einer ‘Bildungsferne’ gesprochen werden, die sich nicht nur in den allgemein justierten und “erbittert” ausgetragenen “Abwehrkämpfen der Kirche gegen die ‘moderne Bildung’: gegen den Liberalismus im allgemeinen, gegen den staatlichen Schulzwang, gegen die Aufhebung der kirchlichen Schulaufsicht, gegen die ‘moderne Wissenschaft’, die Pressefreiheit, gegen die Freiheit der
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denn auch die immer wieder genannten Protagonisten der – erst später so bezeichneten – ‘konservativen Reaktion’ – von Eylert und Beckedorff über Möser, Müller und Rehberg bis hin zu Stahl, Görres und Haller – eher als Vertreter einer ‘pessimistischen Anthropologie’ (vgl. Quittschau 1931 wie Gleich 1933), die ihre christlichreligiös motivierte Opposition gegen die liberalen Reformen (in Preußen) mehr durch praktische Einflussnahmen und königliche Beratungen ausübten denn theoretisch formulierten und argumentativ begründeten; aufgrund des überwiegend defensiven Charakters ihrer Interventionen, der kaum einer explizit systematischen Entfaltung bedurfte, reichte es dabei zumeist aus, die zentralen Implikationen und Voraussetzungen der bildungsphilosophischen Neuansätze zu bestreiten und überwiegend auf die vermeintlich drohenden Gefahren der Zerrüttung und des Verfalls hinzuweisen, um dann in der bestehenden Ordnung Zuflucht nehmen und jede Neuerung als ‘künstliche Veranstaltung’ diskreditieren zu können. Historiographisch galt daher lange Zeit als ausgemacht, dass der (neu)humanistisch-aufklärerischen Bildungspolitik der preußischen Reformära “eine Phase der Eindämmung” folgte, die auf “eine von konservativ-klerikalem Geist getragene Restauration vormoderner obrigkeitsstaatlicher Bildungskonzepte” (Baumgart 1989, 118) zielte und nur als “tiefe Zaesur” und “folgenreiche Abkehr vom Weg der Humboldt-Süvernschen Bildungsreform” (ebd. 117) beschrieben werden kann159. Blickt man aber nun andererseits genauer in die jeweiligen Überlegungen des ‘Gegendiskurses’, so überrascht – trotz ausdrücklich gegenteiliger politischer Perspektive – doch zweierlei: erstens wird, bei aller deutlichen und bisweilen überaus scharfen Ablehnung der “sogenannten allgemeinen Bildung” (Beckedorff 1822, 227), wie sie von den ‘liberalen Reformern’ angestrebt wird, nicht der Begriff der ‘Bildung’ selbst radikal verworfen, sondern – zumeist religiös – angeeignet und ausgelegt, so dass zunehmend allein der “Bildungsweg” (Beckedorff 1822, 227) als Differenz ausgemacht, unterschiedlich – “nämlich: durch die Religion” (ebd.) – bestimmt wird und zur Legitimation eines in seiner Existenz (wenn auch nicht Ausgestaltung) weithin akzeptierten pädagogischen Systems genutzt wird; damit verbunden ist zweitens, dass die jeweilig vorgenommenen Eigenakzentuierungen auch immer wieder innerhalb des kategorialen Aufriss der Bildung formuliert und erläutert werden. Beides aber belegt – trotz unumstößlicher Differenzen und Gegensätze – die Wirksamkeit der Bildung als einer “leider weit verbreitete[n] Ansicht der heutigen Lehre nichtkirchlicher Professoren usw.” (Weber 1990, 143) manifestierte, sondern auch statistisch im sog. ‘katholischen Bildungsdefizit’ niedergeschlagen hat (vgl. Klöcker 1990 und Weber 1990). 159 Die von Baumgart vorgelegten Überlegungen zu einer “Modernisierung unter konservativen Vorzeichen” (Baumgart 1989) relativieren nicht nur die historiographisch eingeschliffene Wahrnehmung (vgl. exemplarisch Blankertz 1982, 134f.), indem sie die faktische Kontinuität konservativer Bildungspolitik belegen und die “Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis konservativer Bildungspolitik” (ebd. 121) als “inneren Widerspruch von forciertem Schulausbau und dem konservativen Programm einer Bildungsbegrenzung im Dienste des gesellschaftlichen Status quo” (ebd.) rekonstruieren; vielmehr weist Baumgart auch nach, wie es zu diesem bis heute tradierten ‘Geschichtsbild’ gekommen ist (vgl. ebd. 126f.). Vgl. dazu auch Jeismanns Einschätzung, dass es “keine Kehrtwendung der Bildungspolitik in Preußen” (ebd. 118) gibt (vgl. Jeismann 1996b, 103-115 wie 116ff.), wie auch die ausführlichere Darstellung in Baumgart 1990, 83-132. Vgl. insgesamt zu Beckedorff auch Meyer 1991.
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Zeit” (Beckedorff 1822, 230) und erlaubt (auch), die ansonsten durchaus befremdliche Beobachtung zu verstehen, dass trotz einer sich diskursiv aufdrängenden “polarisierende[n] Gegenüberstellung von Reform- und Restaurationszeit” (Baumgart 1990, 99) die bildungspolitische Praxis der Konservativen gerade nicht bloß als “Kontinuitätsbruch der preußischen Bildungspolitik nach 1820” (ebd. 101) ausgelegt werden kann, sondern als – wenn auch ‘gebremste’ (vgl. Baumgart 1989, 124) – Fortführung derselben verstanden werden muss. So ist die Ambivalenz der oppositionellen Argumentation – ohne damit den ‘Gegendiskurs’ zur Bildung insgesamt rekonstruieren zu wollen (vgl. Baumgart 1985 wie 1989) – den jeweiligen Stellungnahmen und Denkschriften durchaus eingeschrieben: die im Ton unmissverständlichen Bemerkungen von Eylert “über das Verderben der jetzigen Zeit” (Eylert 1819, 380), als deren Quelle die humanistische ‘Idee der Bildung’ gilt, wie sie – in einem späteren Promemoria von (u.a.) Beckedorff und Eylert präzisiert – “durch das seit 1809 eingeführte System des Schul- und Erziehungswesens im Preußischen Staate immer allgemeiner und zerstörender geworden ist” (Beckedorff u.a. 1821, 390 wie auch Eylert 1819, 381 u.ö.), belegen zunächst die ausdrücklich ordnungspolitisch begründete Widerrede: “Das Hauptübel, an welchem der Staat leidet, ist, daß die bindende Furcht vorzüglich die Behörden, fast in allen Zweigen, der Mehrzahl nach, verlassen hat. Von dem, was [...] der Wille des Landesherren will und befiehlt, geschieht, wenn es herrschenden Meinungen zuwider ist, kaum die Hälfte, oft das Gegenteil [...]. Aber ohne Furcht vor dem Gesetzgeber und dem Gesetze ist keine Zucht und Ordnung möglich [...]. Nichts als die Furcht vor der Strafe kann dies unschädlich machen, nur allein in der Furcht liegt der Zentralpunkt der Kräfte, die abweichen und ihre eigenen Wege gehen wollen. Es wird darum allgemein gewünscht, daß der König [...] mit drohendem Ernst erklären möge, [...] daß jeden unausbleiblich Kassation treffen werde, der Seinen Absichten zuwiderhandele” (Eylert 1819, 388). Fast folgerichtig verbindet sich dieser Ruf nach schärferen “Disziplinargesetzen” (ebd.) mit allgemeinen Hinweisen auf die ‘Schwäche der Menschen’: “Hier ist deutlich die Hand des Verderbers zu erkennen, der die schwachen Menschen durch solche Vorspiegelungen zum ewigen Unheil zu verführen sucht, indem er das Zauberbild einer übermenschlichen Vollkommenheit ihren betörten Augen vorgaukelt. Wo [aber] die Gebote Gottes nicht höher als alle menschliche Weisheit geachtet werden, wo die Offenbarung des Herrn durch Christum, wo die Erlösung des Menschen durch den Heiland den Glauben verloren hat und an seine Stelle die törichte Einbildung philosophischer Erkenntnis der göttlichen Natur des Menschen eingetreten ist, da kann weder Kirche noch Staat länger bestehen, da versinkt alles Heil der Gegenwart und Zukunft in einen bodenlosen Abgrund” (Beckedorff u.a. 1821, 395). So ist es die – insbesondere von den Universitäten ausgehende (vgl. Eylert 1819, 383) und für die ‘allgemeine Menschenbildung’ überaus zentrale – Idee der “Selbstentwicklung der Religion und der Sittlichkeit in den jungen Menschen” (ebd. 393), die “die Revolutionsideen mit fanatischer Kraft belebt” und so “für die bürgerliche Ordnung und Sicherheit die höchste Gefahr herbeiführt” (ebd.), weil in ihr “der Mensch sich zu seinem eigenen Götzen erhebt” (ebd.). Was so zunächst als bloßes Plädoyer des Zurückdrängens von Selbsttätigkeit durch Einschränkung und Ordnung gelesen werden kann, erfährt bei Eylert bereits eine bedeutsame Wendung, weiß doch auch dieser, dass “durch Zwangsregeln” allein diesen “Irrtümern und der Wohlfahrt des Ganzen gefährlichen Grundsätzen selbst” (Eylert 1819, 381) nicht beizukommen ist: nicht nur, weil “die Mitteilung und Verbreitung derselben [...] tausend Mittel und Wege [finden], die keine Macht der Gesetze verbieten kann” (ebd.); sondern auch, weil die bloß “äußere beschränkende Gewalt” (ebd.) gerade nicht dazu taugt, die ‘innere Verfassung’ derselben zu bekämpfen: “in allen Epochen begegnet uns die Erfahrung, daß jeder
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revolutionäre Fraktionsgeist in demselben Grade tiefer drang und schneller und weiter sich verbreitete, je mehr er von außen durch bloß polizeiliche Maßregeln bewacht, beschränkt und gedrückt wurde” (ebd.). Das aber erklärt (auch), warum die Absage an ‘allgemeine Menschenbildung’ nicht einhergeht mit einer generellen Abwendung; Eylerts fast beiläufig formulierte Schlussfolgerung bestätigt daher die Unverzichtbarkeit der begonnenen pädagogischen Praxis – mit nun jedoch gänzlich anderen Vorzeichen: “Ein Übel, das gründlich geheilt werden soll, muß in seiner Quelle versiegen, und auf demselben Wege, wo es entstand und einwurzelte, muß man ihm begegnen. Dieser Weg ist freilich ein langer und mühevoller, aber er ist der einzige sichere, der zum Ziele einer fest begründeten, gesetzlichen Wohlfahrt führt” (Eylert 1819, 381). So ist denn seine daran direkt anschließende Erörterung von Volksschule, Gymnasium und Universität als jeweilig staatlich zu organisierenden Veranstaltungen nicht weiter verwunderlich, sondern kennzeichnet die Stoßrichtung seiner Intervention; auch seine abschließenden kurzen Hinweise zu einer ‘geführten Öffentlichkeit’ zielen in eine ähnliche Richtung und lassen sich lesen als eine machtpolitisch begründete Neujustierung von Herrschaft – weg von der reinen Repression und hin zu verschiedenen Formen der produktiven Führung: “Am einfachsten, kürzesten, schnellsten und wirksamsten kann dies geschehen durch das Vehikel der politischen Zeitungen, und bei der Redaktion derselben im ganzen Lande sollten einige gebildete, geistreiche und gutgesinnte Männer angestellt werden, die unter der eingeführten Rubrik ‘wissenschaftliche Nachrichten’ in kurzen Aufsätzen, Erzählungen, Rezensionen usw. den Sinn für Wahrheit und Recht, Gesetz und Ordnung in der Nation schärften und nährten und so das Fundament der öffentlichen Wohlfahrt in den Ansichten und Gesinnungen der Untertanen befestigten. Auf diesem Wege ist das Gift verbreitet, und auf demselben Wege kann auch das Gegengift seine heilende Wirkung tun. Unsere Staatszeitung hat damit einen guten Anfang gemacht, aber es muß in jeder Provinz, in jeder Provinzialzeitung geschehen” (ebd. 390). Aber auch Beckedorffs immer wieder zitierte und – bei aller Skepsis (vgl. Baumgart 1990, 92) – durchaus als “repräsentative Ausarbeitung des konservativen Bildungsprogramms” (Baumgart 1990, 92; vgl. auch ebd. 99) lesbare Beurteilung des Süvernschen Unterrichtsgesetzentwurfs von 1819 (vgl. Beckedorff 1822) bestätigt die Ambivalenz der jeweiligen Akzentsetzungen einer ‘konservativen Bildungsprogrammatik’: weniger, weil Beckedorff zur Abwehr der “Gesinnung” der “sogenannten allgemeinen Bildung” (Beckedorff 1822, 227), die die “natürliche Verschiedenheit unter allen einzelnen” bloß als eine “Unvollkommenheit der Natur” auszugeben sucht, “welche aber durch die geselligen Verhältnisse womöglich wieder gutgemacht werden solle” (ebd. 225), ein politisches Credo der ‘natürlichen Ungleichheit aller Menschen’ entfaltet, dessen ideologischer Charakter nur zu nahe liegt: “Daß die Menschen von Natur ungleich sind, dieser Satz steht fest. Er ruhet auf der Erfahrung. Diese ihre natürliche Ungleichheit ist aber keineswegs ein Nachteil für sie, sondern vielmehr das weiseste Mittel, dessen sich die gütige Weltordnung bedient, um sie desto fester miteinander zu verbinden. Aus dieser Ungleichheit entspringt das Gefühl ihrer Hilfsbedürftigkeit, und folglich der Trieb nach geselligem Leben. Nicht diejenigen, welche einerlei Kräfte, Wünsche, Neigungen, Gaben, Fähigkeiten und Ansprüche besitzen, bedürfen eines des anderen, und schließen sich daher aneinander; sondern diejenigen, welche durch ihre wesentliche Verschiedenheit sich gegenseitig ergänzen und aushelfen, diese suchen sich auf und verbinden sich fest und dauerhaft. Die natürliche Ungleichheit der Menschen ist folglich kein Hindernis, sondern im Gegenteil das eigentliche Band der Gesellschaft; sie soll daher keineswegs aufgehoben, sondern vielmehr befestigt und gesichert werden” (ebd. 225f.). Der bildungsphilosophisch beanspruchten ‘künstlichen Gleichheit’ (vgl. ebd. 225) hält Beckedorff daher die ‘wahre Gleichheit’ “vor Gott” (ebd. 227) entgegen: “Bildet die Menschen zu Christen, und ihr führt die wahre Gleichheit auf Erden ein, nicht die Gleichheit der Ansprüche, die vermessenen Strebens, der eigennützigen Wünsche und der Willkür, sondern die
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Gleichheit der Liebe, der gegenseitigen Fürsorge, der Demut und des unerschütterlichen Vertrauens auf eine alles ausgleichende Gerechtigkeit Gottes” (ebd. 228). So wird Beckedorffs daran anschließende Argumentation gegen ein allgemeines Schulgesetz überwiegend als Problematisierung der staatlichen Verfasstheit des Schulsystems selbst vorgetragen, die schließlich in ein überaus traditionelles Plädoyer für eine staatsferne Schulerziehung in kirchlicher Trägerschaft mündet: nicht der Staat, so Beckedorff, habe die Pflicht und das Recht, durch gesetzlich geregelten “Schulzwang” (ebd. 242) “für die allgemeine Volksbildung, für die sogenannte Nationalerziehung” (ebd. 236) zu sorgen; vielmehr sei dies alleinige “Angelegenheit der Kirche” (ebd. 237), die “ohne Zweifel” “die nächste und dringendste Aufforderung zur Anlegung von Schulen und Unterrichtsanstalten hat” (ebd. 236). Weil aber allein “der geistliche Stand [...] der wahre und natürliche Lehrstand” sei und daher “die Bildung einer tüchtigen und würdigeren Geistlichkeit, welcher die Jugend aufs neue vertrauensvoll übergeben werden kann, das Hauptaugenmerk einer weisen Regierung in der gegenwärtigen Zeit sein muß” (ebd. 238), so ist es unnötig wie überaus schädlich, “anjetzt Einrichtungen” zu befestigen, “durch welche dem geistlichen Stand sein unmittelbarer Einfluß auf das Volkslehrwesen geschmälert oder erschwert wird” (ebd. 238). Sicherlich – Beckedorffs Einsatz zielt durch die Befestigung unproblematisierter und positiver Religion auf eine Restauration der politischen Ordnung, wenn er – bloß exemplarisch – der ironisierten Süvernschen Bestimmung des Religionsunterrichts, “das religiöse und sittliche Gefühl zum Bewußtsein [zu] erheben” (ebd. 232), seine “auf ganz einfache Weise” formulierte Bestimmung desselben – “Die Schule soll Gott und seinen Willen kennen, und soviel wie möglich lieben, ehren und ihm gehorchen lernen” (ebd. 232) – entgegenhält; auch sein geradezu irritierendes und weit ausholendes Plädoyer für die “Freiheit des Gewissens und der Überzeugung” (ebd. 239) der Eltern, die in ihren Erziehungsrechten wie Pflichten nicht durch “Zwang”, “Strafen” und “Maßregeln der Strenge gegen ‘fahrlässige Eltern und Vorgesetzte’” (ebd. 239) beeinträchtigt werden dürfen, kann weniger als Ausdruck einer freiheitlichen und gegenobrigkeitlichen Orientierung denn als Argumentation zugunsten herkömmlicher (Schul-)Verhältnisse (vgl. ebd.226f., 229, 240) gelesen werden, die es – gegen ein modisch gewordenes “Wohlgefallen an Neuerungen und Gesetzgebungen” (ebd. 240) – zu bewahren gelte (vgl. auch Baumgart 1990, 97ff.). Und doch zeigt Beckedorffs Argumentation – gerade in ihrer rhetorisch geschickten Justierung – die Unmöglichkeit auf, bloß zu traditionellen Verhältnissen zurückzukehren: nicht nur, weil Beckedorff in seinem Plädoyer für eine kirchliche Trägerschaft der Schulen gerade nicht die bereits längst gesetzlich geregelte Schulpflicht als einer staatlichen Veranstaltung antastet, sondern als hilfreichen ‘Beistand’ (vgl. Beckedorff 1822, 237) reformuliert; sondern auch, weil sein Einspruch gegen jede Art von Schulzwang selbst das Argument ‘wahrer Liberalität’ beansprucht, die er den ‘Liberalen seiner Zeit’ gerade abspricht: “Man trauet kaum seinen Augen, wenn man in unserem Zeitalter, das sich vorzugsweise der Liberalität zu rühmen pflegt, dergleichen Grundsätze niedergeschrieben sieht. Wohin führt eine solche Willkür? Werden nicht mit demselben Rechte, womit man die Kinder durch Gensdarmes in die Schulen treiben läßt, auch die Erwachsenen in die Kirche und zum Abendmahl gezwungen werden können? Wo bliebe denn da die Freiheit des Gewissens und der Überzeugung?” (ebd. 239). So überrascht es daher nicht, dass Beckedorff die ‘Idee der Bildung’ gerade nicht insgesamt bestreitet und bekämpft, sondern überwiegend religiös aneignet und auslegt: “Gott hat allen Menschen die nämlichen Anlagen und Vermögen des Leibes und der Seele verliehen und zwar als Pfunde, die nicht vergraben, sondern genutzt werden sollen, nämlich nach seinem Willen zur eigenen Glückseligkeit und zum Wohl der Mitmenschen” (Beckedorff 1827a, 116). Bei aller “naturgemäßen Ungleichheit der Standeserziehung” in Form “guter Bauern-, Bürger-, Adels- und Gelehrten-Schulen” (Beckedorff 1822, 229) geht es auch ihm daher darum, dass diese “Anlagen”, die “in allen Menschen dem Wesen nach die nämlichen und nur den Graden nach verschieden” (Beckedorff 1827a, 21) sind, “also nicht allein unterdrückt oder nur ver-
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nachlässigt, sondern sie sollen entwickelt, geübt und ausgebildet werden” (Beckedorff 1827a, 116). Beckedorffs Schlussfolgerung illustriert die eingeschlagene Ambivalenz – “Schulen sind wünschenswert, sind nötig, sind höchst wirksam; allein die Bildung der Jugend allein zu besorgen vermögen sie nicht” (Beckedorff 1822, 231) – und kann so gerade nicht als ein Plädoyer gegen jede staatliche Schule überhaupt verstanden werden160. Ein letzter Blick in ein – von Friedrich Julius Stahl wohl erstmalig entfaltetes – “System des Konservativismus” (Gleich 1933, 53) mag schließlich diese Ambivalenz im ‘Gegendiskurs’ der Bildung bekräftigen. So kann dessen ‘Philosophie des Rechts’ (Stahl 1830) als “die bis heute bedeutendste theoretische Grundlage” (Gleich 1933, 53) des frühen Konservativismus gelten; in deren erstem Buch, das später auch eigenständig publiziert und mit ‘Fundamente einer christlichen Philosophie’ (Stahl 1846) überschrieben worden ist, entfaltet Stahl in einer “wissenschaftlichen Befestigung der christlichen Weltanschauung” (Stahl 1846, VII) seine “Grundannahmen” (ebd. VIII) ausdrücklich systematisch, um in einer “Auseinandersetzung mit der philosophischen Entwicklung von Cartesius und Grotius an bis auf Hegel” die “Unhaltbarkeit und Undurchführbarkeit der Annahmen dieser philosophischen Entwicklung” (ebd. VIII) aufzuzeigen und – kontrastierend – die “positive Wahrheit” (ebd. IX) der christlichen Philosophie nachzuweisen. Bereits Stahls Aufriss – mit Gott als dem ‘Absoluten’ metaphysisch beginnend, über die Schöpfung schließlich zum Menschen und dessen Freiheit kommend, um dann das ethische Problem der Sittlichkeit zu diskutieren – dokumentiert die traditionelle Gestalt seiner ‘christlichen Philosophie’; in ihr finden sich nur folgerichtig alle zentralen Theologoumena aufgenommen und in einem systematischen Zusammenhang philosophisch reformuliert. So markieren “Paradies”, “Sündenfall” und “Erlösung” (ebd. 38) nicht nur die “einfache große Anschauung des Christentums” (ebd. 39), sondern fungieren auch als Matrix seiner philosophisch-metaphysischen wie ethischen Betrachtungen: einerseits ist “der Mensch [...] das Ebenbild Gottes, daher seiner Natur nach gottähnlich, vollkommen und in sich” (ebd. 59), andererseits steht er “durch eigene That” (ebd. 38) und daraus resultierender Erbsünde (vgl. ebd. 65) in “Entferntheit von Gott” und unter der “Macht des Bösen mit dessen Gefolge natürlicher Uebel (Tod, Schmerz, usw.)” (ebd.). Zwar ist das ‘Urbild Gottes’ noch in ihm lebendig, so dass “in der Natur des Menschen immerhin noch das Gute [liegt], sonst hätte er aufgehört Mensch zu seyn” (ebd. 116), doch ist dieses Gute “nur ein beschränktes und verdunkeltes Gutes”, so dass “der Mensch in diesem Zustande des wahrhaften, d.i. des Gott genügenden, Guten schlechterdings unfähig ist” (ebd.). So vermag das menschliche “Doppelvermögen” (ebd. 117) zum Guten und Bösen die “absolute Erlösungsbedürftigkeit” (ebd. 172) nicht nur nicht aufzuheben; vielmehr bekräftigt diese die ‘Passivität’ zum Guten, “die heiligen Triebe, die er wieder erhalten, in sich gewähren zu lassen, oder sie von sich zu stoßen” (ebd. 117). Auch die aus dieser Grundskizze gefolgerten Orientierungen der menschlichen Praxis bestätigen den klassischen Zuschnitt und führen in eine christlich begründete Anerkennung der “bürgerlichen Ordnung” (ebd. 129), die – in “Recht und Staat” (ebd. 130) zusammengefasst – als “Mittelstufe zwischen dem Reiche der Natur und dem Reiche Gottes” (ebd. 130) die Aufgabe hat, qua Gesetz die “Potenz des Bösen” (ebd.) zu begrenzen und die Menschen zu regieren; auch wenn sich die sittliche Welt nicht in der bürgerlichen Ordnung, die Gottes160 Beckedorffs Tätigkeit in der preußischen Cultus-Sektion (1819-1828) wie auch seine zahlreichen Beiträge in den von ihm selbst herausgegebenen ‘Jahrbüchern des preußischen Volks-Schul-Wesens’ (1825-1828) belegen dessen schulisches Engagement eindrücklich; insbesondere in seiner scharfen Rezension einer von Eduard Glanzow unter dem Titel ‘Kritik der Schulen und der pädagogischen Ultra’s unserer Zeit zu ihrem und der Staaten Besten’ (Bremen 1824) veröffentlichten Schrift (vgl. Beckedorff 1827a) lässt sich Beckedorffs eigenes Bildungs- und Erziehungstheorie recht kompakt rekonstruieren, die in einer ‘christlichen Erziehung’ (vgl. ebd. 57) beide Aspekte – Vernunft, Freiheit und Selbstbestimmung (vgl. ebd. 22-28) wie Gott, Glaube und Gehorsam (vgl. ebd. 28ff. u.ö.) – gemäß der These ‘ohne Gehorsam keine Freiheit’ (vgl. Beckedorff 1827b) miteinander zu verbinden sucht.
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gemeinde nicht in der Kirche erschöpfe (vgl. ebd. 131), so ist doch die Ordnung selbst unverzichtbar und Folge wie Ausdruck der Sündhaftigkeit der Menschen: “Denn die sündhafte Natur des Menschen und der Masse der Menschen bleibt immer unverändert dieselbe und fordert immer die sichernden Schranken. Hier werden dies Schranken erst fallen, wenn das Irdische aufhört. [...] So lange der Mensch mit Schmerzen geboren wird und hülflos in die Welt kömmt, so lange uns Hunger zur Speise nöthigt, Krankheit und Leiden uns aufreiben und der Tod unser Erbtheil ist, so lange hat auch die Einrichtung des öffentlichen Lebens der Materialität ihren Zoll zu entrichten. So lange ist es thöricht, den festen Boden des Grundbesitzes zu lockern zum Vortheil der Kapacitäten, die wohlumgrenzten Sitze der Ansässigkeit und wechselseitigen Ernährung schrankenlosem Zudrang zu öffnen. So lange ist es thöricht, die uralte Macht des Königthums gegen den Willen oder die Ueberzeugung des Volkes zu vertauschen, den Glauben der Kirche dem zufälligen Meinen der Menschen preis zu geben, so lange vor allem ist es thöricht, von freiwilliger Erfüllung die Reinheit der Sitte, die Würde und die Heiligkeit des öffentlichen Lebens zu erwarten” (ebd. 134). Gerade weil es “im Menschen ein Wollen [gibt], das seinem Sollen widerspricht” (ebd. 85), ist ausschließlich “Gehorsam” (ebd. 91) der Weg zur angestrebten freiwilligen Gottes – und Menschenliebe: “Im Gehorsam und der Pflichttreue ist der Mensch vollkommenes Geschöpf, in der Liebe ist er gottgleich. Das Streben des Menschen braucht aber allerdings nur das Erstere zu seyn, das Letztere ist eine Wirkung, die sich von selbst durch höhern Beistand daran knüpft, und die jedenfalls ganz außer seiner Verantwortung liegt” (ebd. 92). Nicht bürgerliche “Liebe des Wohls”, nicht romatische “Liebe der Empfindung”, sondern allein christliche “Liebe des Gehorsams” ist “die unerläßliche Basis der Sittlichkeit”, und ohne sie “ist die Liebe auch wirklich immer nur pathologisch und daher zufällig” (ebd. 92). Was unzweideutig als enger Zusammenhang von Endlichkeit, Schwäche und notwendiger Ordnung und Herrschaft entfaltet wird und so in der Tat als klassisch konservativer Aufriss einer ‘pessimistischen Anthropologie’ gelten kann, ist bei Stahl aber kategorial und auch semantisch vom Bildungsdenken längst geprägt: nicht nur, weil das “Leben des Menschen nicht bloß Ausfluß sittlicher Nöthigung, sondern auch freier gestaltender Kraft” (ebd. 19) sein soll; sondern vor allem, weil es die Aufgabe der Menschen ist, “jede Sphäre, jede Beziehung des menschlichen Daseyns zur vollständigen Entfaltung zu bringen” (ebd. 61) und “den unentfalteten Zustand der Menschheit zu dem der völligen Entfaltung zu erheben” (ebd. 41). Trotz aller Bestimmtheit und Festgelegtheit des Menschen ist dieser denkbar nur als “schöpferische Freiheit”, “d.i. neu beginnend, Neues setzend” (ebd. 21), so dass die Ebenbildlichkeit des Menschen mit Gott ihr alleiniges “Urbild an der Idee der vollendeten Persönlichkeit” (ebd. 79) zu finden vermag, die – dann wieder ganz christlich – mit der “Heiligkeit Gottes” (ebd.) identifiziert wird. Es ist diese bildungsphilosophisch provozierte Steigerungs- und Entfaltungssemantik, die Stahls christliche Philosophie durchgängig prägt; entscheidend ist dabei jedoch, “diese Entfaltung” nicht außerhalb von Gott zu denken und als bloß weltliche “Perfektibilität” (ebd. 41) zu verstehen, sondern “in Gott” (ebd. 41) und ‘durch Gott’ (vgl. ebd. 42) als “fortgesetzte neue Schöpfung” (ebd. 41) zu vollziehen. So verwundert es kaum, dass Stahl – ausdrücklich im Kontext der nach der gescheiterten Revolution gegen den Protestantismus erhobenen Vorwürfen, dieser habe “durch dieses allgemeine Princip der Bildung [...] die gesellschaftliche Welt aus ihren Fugen gehoben” Stahl 1853, 58) – das “Princip des Protestantismus” ausgerechnet als “Princip der Bildung” (Stahl 1853, 59) bekennt: “Ich läugne nicht – und habe nicht Grund zu läugnen – der evangelische Glaube ist auch ein neues Princip der Bildung, und ein wesentlicher Zug dieser neuen Bildung ist die Kritik. Allein es giebt nicht blos eine falsche Kritik, die da zersetzt und auflöst, sondern auch eine wahre Kritik, die da reinigt und steigert, und eben diese ist das Princip des Protestantismus. Diese wahre Kritik ist nicht ein Gegensatz des Glaubens, sondern seine getreueste Dienerin, ja sie ist der Anfang des wahren Glaubens” (ebd. 59).
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Weit davon entfernt, damit zwischen dem Diskurs der Bildung und seinem Gegendiskurs eine inhaltliche Nähe oder gar Identität der jeweiligen Grundannahmen zu behaupten – die drei kurzen Stationen zeigen dennoch, wie prägend und strukturierend die Figur des Bildungsdenken bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts geworden ist: der ‘Streit um Bildung’ wird überwiegend nicht in der Kontrastierung von ‘Bildung’ mit etwas anderem ausgetragen, sondern zunehmend als Streit um ‘echte und wahre Bildung’ vs. ‘falsche Bildung’ geführt – mit der Folge, dass die Figur der Bildung in ihrem kategorialen Aufriss so zur implizit dominanten Struktur menschlicher Selbstbeschreibungen und Selbstverständigungen wird; auch noch die schlichteste ‘pessimistische Anthropologie’ kommt dabei kaum ohne Bezug auf sie aus, um nicht als unverständlich und unangemessen abgelehnt zu werden. Zugleich aber wird mit der im ‘Streit um Bildung’ immer wieder reformulierten Verknüpfung von ‘Idealität’ mit ‘Gleichheit’ und ‘Endlichkeit’ mit ‘Ungleichheit’ eine überaus problematische Weichenstellung vollzogen, die bildungstheoretisch schließlich dazu führt, ein ganzes Problematisierungsfeld bloß schematisch und dadurch erheblich unterkomplex zu strukturieren: nicht nur, weil jeder Einspruch gegen Bildung als Kritik menschlicher Selbstmächtigkeit allzu leicht als Widerspruch gegen Partizipation und soziale Gleichberechtigung ausgelegt werden kann, so dass – bloß exemplarisch – auch Schleiermachers theologisch begründete Insistenz auf dem “Bewußtsein schlechthinniger Abhängigkeit” (Schleiermacher 1960, 28) – ist doch “unsere ganze Selbsttätigkeit ebenso von anderwärts her” (ebd.) – bis heute bildungstheoretisch nahezu unbedeutende geblieben ist (vgl. Ricken 1999a, 117-126); sondern vor allem, weil bereits hier Bildung und Herrschaft als eine vermeintliche Opposition etabliert werden, die – in ihrer ‘freiheitlichen’ Semantik – weitgehend verdeckt, wie Bildung selbst an Ordnung und veränderter Herrschaft teilhat. Gerade dies aber lässt sich am erstaunlich früh einsetzenden pädagogischen Diskurs der Bildung als der ‘neuen’ Leitsemantik des pädagogischen Systems nachvollziehen, der – bezeichnenderweise – in einem anderen Diskursfeld ausgetragen wird und das Pathos der ‘neuen Bildung’ durch die Abwertung einer bloß aufklärerischen Pädagogik der ‘Philanthropinisten’ zu einer geradezu unaufgeklärten ‘Brauchbarkeitspädagogik’ durchzusetzen sucht. Gilt es aber, beide Weichenstellungen innerhalb des Bildungsdiskurses zu problematisieren, so sei dem bisher anthropologisch orientierten Versuch, das Problem menschlicher Endlichkeit als Boden der Macht aufzuzeigen, ein zweiter Gedankengang zur ‘Formation des Sozialen’ durch die ‘Idee der Bildung’ angeschlossen.
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Vom ‘Gemeinsamen’ zum ‘Allgemeinen’ – Bildung als Formation des Sozialen
Wo von ‘Bildung’ die Rede ist, wird ‘Schule’ immer schon mitgehört. Dieser – insbesondere heute – kaum noch verblüffende Assoziationszusammenhang ist dabei Folge einer doppelten Etablierung: so wie die allgemeine Durchsetzung des Bildungsdenkens Ausdruck wie Folge der spätestens seit dem Jahrhundertwechsel sich vollziehenden Ausweitung der ‘Schule’ als eines neuen gesellschaftlichen Funktionssystems ist, so verdankt sich die flächendeckende und erstaunlich schnell als verbindlich akzeptierte Etablierung des pädagogischen Systems in den deutschen Ländern auch der ‘diskursiven Macht’ des Bildungsdiskurses selbst. So wenig erstaunlich dieser Zusammenhang heute vielleicht ist, so überraschend ist dabei vielleicht doch, dass sich die diskursive Durchsetzung des Bildungsdenkens als der zentralen Semantik und konzeptionellen Matrix wie Logik des – sich auch mit ihr etablierenden – Schulsystems weitgehend gerade nicht in jenen Diskursfeldern vollzieht, in denen sich der Gedanke der ‘Bildung’ als einer neuen anthropologischen Selbstbeschreibung formiert hatte, sondern seine erstaunliche Plausibilität und enorme Durchschlagskraft einem – wenn auch damit eng verbundenen – sozialphilosophischen Diskurs verdankt, der die pädagogischen Selbstverständigungsdebatten so von Anfang an begleitet wie durchgängig strukturiert. Es sind die dort – insbesondere mit der oppositionalen Justierung von ‘Bildung und Brauchbarkeit’ (Blankertz 1965) – vollzogenen Weichenstellungen, die sowohl die nachfolgenden Auseinandersetzungen um die gesellschaftliche Funktion des pädagogischen Systems als auch dessen jeweiliges Selbstverständnis überaus wirksam vorbahnen und insgesamt als einen bis heute anhaltenden ‘pädagogischen Universalienstreit’ (Euler 1989) lesbar machen. Machttheoretisch ist dieser Befund in doppelter Weise bedeutsam: zum einen, weil die Durchsetzung des Bildungsdenkens weder nur Ausdruck theoretischer Um- und Neujustierungen ist, die den Aporien einer Aufklärungspädagogik Rechnung zu tragen suchten (vgl. Benner / Kemper 2001), noch als bloß nachgängige Folge und Epiphänomen veränderter gesellschaftlicher Verhältnisse und derer bürgerlichen Modernisierung gelten kann (vgl. Bauer / Matis 1988); vielmehr belegt dieser Zusammenhang von System- und Semantiketablierung, dass ‘Bildung’ selbst als ein ‘genuiner historischer Faktor’ (vgl. Koselleck 1990, 13) verstanden werden muss, der – auch in seiner konzeptionellen Gestalt – nicht unterschätzt werden darf. Zum anderen aber, weil die Verortung der ‘Bildung’ in einem sozialtheoretischen Diskurs nun – in und trotz der mit Bildung auch verbundenen Kritik der ‘alten Ordnung’ – auch die Frage aufwirft, welche neue soziale Ordnung mit ‘Bildung’ nicht nur angedacht, sondern auch mit angestoßen worden ist. Das aber erfordert, sich den bis heute anhaltenden diskursiven Vorbahnungen, die Bildung mit Individualität, Selbstbestimmung wie Emanzipation identifizieren und als Ausdruck gesellschaftlich neuer Freiheit traditioneller Brauchbarkeit und Nützlichkeit als längst überholten Macht- und Herrschaftsansprüchen entgegenstellen, zu entziehen und auch den sozialtheoretischen ‘Diskurs der Bildung’ machttheoretisch zu rekonstruieren.
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In den folgenden Überlegungen geht es daher darum, den bildungstheoretischen Rekurs auf Individualität und Eigentümlichkeit gerade nicht bloß als ‘Leerstelle’ des Sozialen qua Innerlichkeitsrhetorik zu verstehen, sondern ‘Bildung’ – auch und gerade in ihrer individualtheoretisch vorgetragenen Kritik der ‘alten Ordnung’ der spätabsolutistischen Gesellschaft – auch als veränderte und ihrerseits überaus produktive ‘Formation des Sozialen’ aufzunehmen. Deren Logik lässt sich dabei – mit Foucault gesprochen – als eine Figur gleichzeitiger Individualisierung und Totalisierung (vgl. Foucault 1994) beschreiben, in der der Rückgang auf das einzelne Individuum zur Neujustierung von Sozialität genutzt wird; es ist diese veränderte ‘Logik des Sozialen’, die – so die hier eingenommene Blickrichtung – die bisherige ‘Formation des Sozialen’ als einem ‘Gemeinsamen’, das sich geradezu substantial bestimmen lässt und unter das sich die einzelnen unterwerfen, zersetzt und zur Konstruktion eines ‘Allgemeinen’ qua Generalisierung der Individuen zu Subjekten verschiebt. Von paradigmatischer Bedeutung ist dabei die von ‘neuhumanistischer’ Seite entfachte und vehement vorgetragene Polemik gegen die als ‘Philanthropinisten’ diskreditierten Pädagogen der Aufklärung (I), bietet doch deren argumentatives Plädoyer für ‘Bildung’ und gegen überkommene soziale Brauchbarkeit überaus bedeutsame Einblicke in diskursstrategische Weichenstellungen: nicht nur, weil ‘Bildung’ bis heute mit Individualität und Allgemeinheit identifiziert und immer noch – wie auch immer abgemildert – als mindestens nicht deckungsgleich mit ‘Ausbildung’ (vgl. Koselleck 1990, 11) ausgelegt wird; auch nicht nur, weil damit ein vermeintlicher Gegensatz etabliert und justiert wird, der verdecken hilft, welchen veränderten gesellschaftlichen Funktionsanforderungen der bildungstheoretische Imperativ der freien ‘Selbstgestaltung’ zuarbeitet (vgl. Zymek / Harney 1994); sondern vor allem, weil dieser Streit ausdrücklich sozialtheoretisch justiert ist und in ihm wie durch ihn ein ‘Umbau’ von Sozialität sich vollzieht, der sich als machttheoretisch bedeutsame ‘Formation des Sozialen’ qua Trennung der Menschen zu einzelnen Individuen (Individualisierung) und Neuzusammensetzung zu einem Ganzen (Totalisierung) verstehen lässt und erst vor dem Hintergrund neuzeitlichmoderner Sozialkonzepte interpretierbar wird (II), auf die er antwortet wie er sie verändert fortschreibt (III); anders formuliert: ‘Bildung’ markiert und etabliert nicht nur eine veränderte Selbstauslegung der Menschen, sondern dient zugleich auch einer ebenso theoretisch wie praktisch vollzogenen Rekonstruktion von Sozialität – ‘vom Gemeinsamen zum Allgemeinen’, wie sich pointiert formulieren ließe. Sie ist daher sowohl Konzept und Reflexion einer solchermaßen veränderten Sozialität als einer ‘Ordnung des Allgemeinen’ (IV) als auch deren – in der ‘Prüfung’ exemplarisch konkretisierbarer (V) – praktischer Mechanismus und überaus effektives Durchsetzungsinstrument.
I. Der ‘Streit des Philanthropinismus und Humanismus’ (Niethammer 1808) ist theoriegeschichtlich – bis heute – von besonderer Bedeutung: nicht nur, weil sich in ihm die Ablösung der aufklärerischen Semantik der ‘Erziehung’ durch die der neuhuma-
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nistischen ‘Bildung’ exemplarisch vollzogen hat, so dass der damit verbundene “relativ abrupte [...] Paradigmenwechsel [...] von der Philanthropie zum Neuhumanismus” (Luhmann 1981, 121) erstaunlich präzise datierbar und rekonstruierbar ist; auch nicht nur, weil diese semantische Ablösung überaus zeitnah einhergegangen ist mit der Etablierung des pädagogischen Systems als eines neuen und sich schnell ausbreitenden gesellschaftlichen Funktionssystems, so dass im ‘Streit’ zwischen aufklärerischer und neuhumanistischer Pädagogik die jeweiligen diskursstrategischen Weichenstellungen und Fixierungen nachvollzogen werden können (vgl. Buck 1984, 231-264); sondern auch, weil die seitdem beobachtbare Dominanz des Bildungsdenkens im pädagogischen Diskurs bis heute anhält und von der vermeintlichen Einsicht zehrt, sie sei nachweislicher Ausdruck semantischer wie theoretischer Überlegenheit, so dass man sich immer wieder auch jener Argumente bedient, die in diesem ‘pädagogischen Universalienstreit’ (Euler 1989) erstmalig entfaltet worden sind. So erstaunt daher nicht, dass gerade dieser – allerdings höchst einseitig provozierte und inszenierte – ‘Streit’ zwischen zwei pädagogischen Konzeptionen inzwischen vielfach rekonstruiert wie kommentiert worden ist und so längst Eingang in die disziplinäre ‘Mythomotorik’ (Assmann)161 der Pädagogik gefunden hat: seit Evers bereits früher polemischer Kritik der ‘Schulbildung zur Bestialität’ (Evers 1807) und Niethammers daran anschließender Kritik der Aufklärungspädagogik als ‘Philanthropinismus’ (vgl. Niethammer 1808) sind die dort vorgenommenen diskursiven Weichenstellungen – bündelbar in der Entgegensetzung von gesellschaftlicher ‘Brauchbarkeit’ und allgemeiner ‘Menschlichkeit’ – zu einem überaus zentralen pädagogischen Topos geworden, der – nur exemplarisch – durch die ‘Erinnerungsarbeiten’ von Grube (Grube 1934) über Blankertz (Blankertz 1963 wie 1982, 79-101) bis hin zu Luhmann (Luhmann 1981), Buck (Buck 1984), Euler (Euler 1989) wie auch Benner und Kemper (Benner / Kemper 2001, 236-242) als fester Bestandteil eines bildungstheoretisch justierten Selbstverständnisses der pädagogischen Disziplin gelten kann. Überraschend ist jedoch, dass beide – sowohl semantische als auch systemische – Neuerungen sich (auch) einer überaus polemisch vorgetragenen Polarisierung und argumentativ wenig überzeugenden Schieflage verdanken, die pädagogisch – bisweilen bis heute – als durchaus angemessene Weichenstellung gilt und so die Debatten um Funktionalität wie Selbstverständnis des Bildungssystems anhaltend bestimmt162. 161 Mit dem Begriff der ‘Mythomotorik’ sucht Assmann (vgl. 1997) jene “orientierende Kraft” zu kennzeichnen, die ein Mythos – verstanden als “die zur fundierenden Geschichte verdichtete Vergangenheit” (ebd. 78) – für eine Gruppe in einer bestimmten Situation haben kann (vgl. ebd. 79f.); vgl. zur Nutzung dieses Konzepts als eines auch wissenschaftsgeschichtlich fruchtbaren Instruments auch die Überlegungen bei Zymek 2002, der vorschlägt, die ‘Geschichte der deutschen Pädagogik’ in doppelter ‘mythomotorischer Perspektive’ zu lesen: einmal als Strategie, durch den “Rückgriff auf eine heroisierte historische Epoche” (Zymek 2002, 352) bedeutsame Weichenstellungen vorzunehmen, ein andermal als Struktur des ‘diskursiven Selbstverständnisses’ der Disziplin selbst, die – so Zymek – auf einen mit ‘Bildung’ beschreibbaren “Gründungsmythos” (ebd. 354) zurückgeführt werden kann und so die Disziplingeschichte als ‘Erinnerungsgeschichte’ dieses Mythos lesbar macht. 162 So hat insbesondere Buck in seiner Rekonstruktion des neuzeitlich-modernen Bildungsdenkens schließlich auf den Zusammenhang von Bildungs- und Schultheorie aufmerksam gemacht und deren zentrale Fixierungen – zwischen “Allgemeinbildung und Spezialbildung” (Buck 1984, 231) – u.a. im Zusammenhang der
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Was aber bereits zeitgenössisch als nicht unbedingt plausible (und insofern vielleicht auch nur polemisch vortragbare) Schematisierung des pädagogischen Diskurses in bloß zwei vermeintliche Lager – der als ‘Philanthropinismus’ diskreditierten Aufklärungspädagogik und dem späterhin als ‘Neuhumanismus (Paulsen 1885, II) bezeichneten Bildungsdenken – galt, ist in seiner gegenwärtigen disziplinären Selbstverständlichkeit Folge einer ausdrücklich bildungstheoretisch argumentierenden Strategie, die vorhandenen Differenzen pädagogischer Theoriebildung entlang des Schemas ‘Utilitarismus’ vs. ‘kritische Vernunft’ zu sortieren und so in einen Konflikt zweier als unvereinbar geltender Positionen zu verwandeln. Mit ihr ist ein – bis heute – wirkungsgeschichtlich überaus einflussreiches Deutungsmuster installiert worden, das die Vorzugswürdigkeit der ‘Bildung’ als emanzipatorischer Kritik der “erzieherischen Verknechtung des Menschen in merkantilistischer Ausbeutung” (Blankertz 1975, 63) sich erschleicht mit der Abwertung des aufklärerischen Erziehungsdenkens zu bloßem ‘Utilitarismus’, der “erfülltes Menschentum” allein “in der Idee der sozialen Bauchbarkeit” (Blankertz 1963, 67) zu denken erlaube: “In ihrer Theorie der utilitären Erziehung rechtfertigten sie [die deutschen Philanthropen] das, was die Praxis des merkantilistischen Staates war, nämlich den einzelnen Menschen dem gesellschaftlichen Anspruch preiszugeben, durch die Aufgabe, an dem ihm angewiesenen Ort zu funktionieren” (Blankertz 1982, 82). Es ist gerade diese insbesondere von Blankertz entwickelte und wiederholt vertretene theoriegeschichtliche Interpretation (vgl. Blankertz 1963), die die pädagogischen Denkgewohnheiten bestimmt, indem sie Selbstbestimmung wie Vollkommenheit mit Freiheit und Brauchbarkeit mit Zwang strikt oppositional identifiziert und ‘Bildung’ so als einen kritischen Begriff suggeriert. Durch diese theoriegeschichtlich aber überscharfe Kontrastierung von aufklärerischer und neuhumanistischer Pädagogik (vgl. Bellmann 2002, 186-196) sucht Blankertz, ‘Bildung’ als “Eigenstruktur der Erziehung” (Blankertz 1982, 306) zu etablieren, indem er sie als emanzipatorische Orientierung an der ‘Menschwerdung des Menschen’ (vgl. Blankertz 1963, 115) bestimmt und dem “Primat der Gemeinnützigkeit als der obersten Verpflichtung” (ebd. 114) als dem aufklärerisch-philanthropisch vertretenen “Erziehungsaxiom der ständischen Gesellschaft” (ebd. 41) entgegensetzt; nur folgerichtig ist es Blankertz’ durchgängiges Anliegen zu zeigen, warum und worin die Aufklärungspädagogik “vor dem Ansturm des geistig so viel tiefer fassenden Neuhumanismus zerschellen mußte” (ebd. 67)163. Doch was theoriegeschichtlich bereits nicht unproblematisch ist, hat auch einen systematischen Preis, der – so Bellmann treffend (vgl. Bellmann 2002, 196) – auch als ‘Kern’ der Blankertz’schen Weichenstellung gelten kann: dass “das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft als ein grundsätzlicher Konflikt zwischen Freiheit und Schriften Evers und Niethammers erörtert; vgl. dazu insgesamt Buck 1984, 231-264. 163 Blankertz’ ausdrückliches Verdienst ist dabei zugleich, der neuhumanistisch praktizierten Dichotomie von ‘Allgemeinbildung’ und ‘Berufsbildung’ ausdrücklich entgegen gearbeitet und deren jeweiliges Ineinander nachgewiesen zu haben (vgl. Blankertz 1963): nicht nur, weil “die Utilität selbst als ein im Dienste höherer Zwecke stehender Wert zur Bildung mediatisierbar sein muß” (Blankertz 1963, 119), sondern auch, weil “Berufsbildung als Bildung” sich zeigt, indem sie bloße, “sich inhaltlich gegen Beruf und berufliche Arbeit absichernde ‘Allgemeinbildung’ als nichtig” (ebd.) erweist. Vgl. dazu auch Blankertz 1975.
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Zwang zu sehen sei” (ebd.). So führt (wie zehrt) Blankertz’ Bestimmung von Erziehung als einem “Prozeß der Emanzipation, d.h. der Befreiung des Menschen zu sich selbst” (Blankertz 1982, 307), zu (bzw. von) einer Disjunktion von Individuation und Vergesellschaftung, gilt doch für Blankertz – “systematisch gesprochen” (Blankertz 1975, 62) –, “daß das vergesellschaftete Dasein immer schon ein defizienter Modus der menschlichen Möglichkeiten ist”, so “daß die in aller Erziehung wirksamen gesellschaftlichen Implikationen prinzipiell dasjenige reduzieren, was als Mündigkeit doch die erklärte Norm der Bildung sein sollte” (Blankertz 1975, 62)164. So problematisch diese Justierung auch ist, wird sie einmal ungeschützt benannt, so disziplinär selbstverständlich ist die mit ihr einhergehende Justierung des ‘Widerspruchs von Bildung und Herrschaft’ (Heydorn) geworden – mit der überaus prekären Folge, dass die in ‘Bildung’ als Kritik der ‘alten Ordnung’ vorgenommene ‘Formation des Sozialen’ weitgehend ungesehen bzw. unproblematisiert geblieben ist. Dieser – allerdings durch Blankertz nur befestigten (vgl. Grube 1934) – grundbegrifflich motivierten und theoriegeschichtlich operierenden Interpretation des ‘Streits zwischen Philanthropinismus und Humanismus’ (Niethammer) ist von verschiedener Seite widersprochen worden: zum einen als “Versuch der Rehabilitierung der Aufklärungspädagogik” (Tenorth 1992, 118), der – im Rückgriff auf die aufklärungspädagogischen Kommentierungen Rousseaus (vgl. Tenorth 1992, 118f.) – deren ‘pädagogischen Denkform’ zu rekonstruieren sucht, indem er den bildungstheoretisch eingewöhnten “generellen Widerspruch von Mensch und Bürger” (ebd. 124) problematisiert und als ‘prinzipialistische Überanstrengung’ interpretiert165; zum anderen als Nachweis des “utilitären Moments in der neuhumanistischen Bildungsidee” (Bellmann 2002, 192) selbst, der sozialgeschichtlich belegt, dass nicht nur “das Konzept der ‘allgemeinen Menschenbildung’, wie es im Kontext der Reformära entwickelt und schließlich in eine spezifische schulpolitische Strategie übersetzt wurde, in keinem prinzipiellen Gegensatz zur utilitären Qualifizierung stand” (Harney / Zymek 1994, 408), sondern selbst in seiner Orientierung an “universalistischen Kriterien” der Produktion eines funktional erforderlichen “neuen Menschentypus” (ebd.) diente166. Wie auch immer jeweilig justiert – immer geht es in den beiden hier nur angedeuteten Interpretationsperspektiven darum, die sicherlich nicht zu 164 Fast wortgleich bestimmt auch Mollenhauer – in seinem als Klassiker der ‘Kritischen Erziehungswissenschaft’ geltenden Text ‘Pädagogik und Rationalität’ (zuerst in Mollenhauer 1964, wieder publiziert in Mollenhauer 1969) – ‘Bildung’ als ‘kritisches Kriterium’ von Erziehung, indem er den “Kern des im Begriff der Rationalität implizierten pädagogischen Problems” (ebd., 65) expliziert und mit individuell gedachter ‘Mündigkeit’ identifiziert. 165 Vgl. dazu auch die ausführlichen Arbeiten Kerstings (1992 wie 1997), die in ihrer Rekonstruktion der Aufklärungspädagogik den ‘disziplinären Selbstverständigungsschneisen’ nicht folgt und vielmehr die Ambivalenz – als Nutzen wie Nachteil – der Aufklärungspädagogik am Beispiel des Revisionswerks betont. 166 Vgl. dazu auch Bellmann (2001), der in seiner Rekonstruktion des ‘Streits’ zwischen Philanthropie und Neuhumanismus “die Programmatik allgemeiner Menschenbildung als funktionales Äquivalent einer modernen Wachstumsökonomie” (Bellmann 2001, 194) interpretiert und mit Rekurs auf Überlegungen Humboldts, die die Funktionalität der Bildung betonen (vgl. ebd. 193), in zweierlei Hinsicht belegt: einerseits als Strategie, durch Selbsttätigkeit (statt bloßer Mechanik) Effizienz wie Flexibilität zu fördern, andererseits als “Entdeckung der Bildsamkeit [...] als Ressource [...], die man auch für fremde Zwecke ausschöpfen kann” (ebd. 193).
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übersehenden “Differenzbefunde nicht erneut und umstandslos in Defizitdiagnosen zu übersetzen” (Tenorth 1992, 128) und so der weithin geteilten Einschätzung zu widersprechen, dass die Kritiker der Aufklärungspädagogik “in nahezu allen Bereichen überlegen” gewesen wären, weil sie “epistemologisch, politisch, ökonomisch, bildungstheoretisch und -politisch, universitätspolitisch und bildungssoziologisch das angemessenere [...] Programm” (Fuchs 1984, 23) geboten hätten167. All das aber legt nahe, den offensichtlichen pädagogischen Paradigmenwandel von aufklärerisch-philanthropischer ‘Erziehungstheorie’ zu neuhumanistischer ‘Bildungstheorie’ einer Revision zu unterziehen und machttheoretisch fruchtbar zu machen: nicht nur, weil die gängige Dichotomisierung zweier pädagogischer Konzepte sich einer theoriegeschichtlichen Vereinfachung zu disziplinär-strategischen Zwecken verdankt, die sowohl die kritische Relevanz und Fruchtbarkeit des aufklärungspädagogischen Denkens als auch die durchgängige Funktionalität des neuhumanistischen Bildungsdenkens unterschlägt (vgl. Hohendahl 1982); sondern vor allem, weil sich die zeitgenössische Plausibilität der von neuhumanistischer Seite vorgetragenen Argumentation und Polemik einem längst eingetretenen Wandel jeweiliger Sozialitätsvorstellungen verdankt, den sie zugleich bewirkt und – insbesondere schulpädagogisch – verstärkt. Erst dieser Wandel aber macht verständlich(er), warum ‘Brauchbarkeit’ und ‘Eigentümlichkeit’ bzw. ‘Vollkommenheit’ als Oppositionen überhaupt nutzbar und als Argument, “es gehe um den Begriff des Menschen” (Luhmann 1981, 127), einsehbar wurden. Ein machttheoretisch justierter Blick in den ausschließlich von neuhumanistischer Seite inszenierten Streit verlangt aber, sich vom bildungstheoretisch eingewöhnten Aufriss des ‘Streits’ zu lösen und dessen Bedeutung nicht nur in einer ‘theorietechnischen’ Umjustierung zu sehen; vielmehr erlaubt er, den generellen Wandel der Macht – von der ‘Repression’ über die ‘Disziplinierung’ zur ermöglichenden ‘Produktion’ (vgl. Foucault 1977) – auch pädagogisch nachzuvollziehen und zur Präzisierung der sozialtheoretischen Logik dieser Transformation zu nutzen. Die zunächst von Evers, dann von Niethammer vorgetragenen Argumente sind hinlänglich rekonstruiert und kommentiert worden (vgl. Jeismann 1996a, 243-248); sie laufen insgesamt darauf hinaus, die bildungstheoretische Option vor dem Hintergrund einer zur bloßen ‘Brauchbarkeitspädagogik’ degradierten Aufklärungspädagogik zu profilieren. Was aber Evers in seiner Streitschrift ‘Über die Schuldbildung zur Bestialität’ (Evers 1807) nur ironisch-polemisch unternimmt, sucht Niethammer in seiner Denkschrift über den ‘Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unserer Zeit’ (Niethammer 1808) systematisch-argumentativ zu bewerkstelligen; bei aller Gegensätzlichkeit der Argumentation, 167 Ob man sich aber deshalb zum Umkehrschluss hinreißen lassen muss, dass mit dem Neuhumanismus “ja eher die schwächere Theorie gegen die Philanthropen obsiegt, mehr Reputation trotz fehlender Leistung errungen” (Tenorth 1992, 128) habe, sei bezweifelt, ist doch auch ein solcher Blickwinkel einer bloß theoriegeschichtlichen Betrachtung und Bewertung geschuldet – und unterscheidet sich daher kaum von umgekehrt vorgetragenen Interpretationen, die von der ‘bleibenden Überlegenheit’ der Bildungstheorie (vgl. Benner / Kemper 2001) überzeugt sind. Einer anderen Logik folgt Luhmann (Luhmann 1981), der in seiner Rekonstruktion der pädagogischen “Theoriesubstitution [...] von der Philanthropie zum Neuhumanismus” (ebd. 105) auf theorie- und wissenschaftsgeschichtliche Weichenstellungen abstellt und so den semantischen Vorteil neuhumanistischer Bildungsrhetorik für funktional-differenzierte Verhältnisse nachzuweisen sucht (vgl. ebd. 178f. u.ö.).
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in ihrer grundsätzlich bildungstheoretischen Justierung sind beide sich einig und lassen sich als Durchsetzungsstrategien der neuen Begrifflichkeit lesen168. So zielt Evers Polemik – “es ist nicht Aufklärung, nicht Vollkommenheit, nicht Sittlichkeit, nicht Humanität, wozu ihr das heranwachsende Menschengeschlecht erziehen müsst, sondern einzig und allein – die Bestialität” (Evers 1807, 49) – zunächst allein darauf, die realistische Orientierung der Aufklärungspädagogik zu verfremden und als ‘idealische Orientierung’ an der “Thierheit” (ebd. 51) im Menschen ironisch zu empfehlen. Dabei markiert ‘Bestialität’ jene “Gemütsstimmung” (ebd.), die in “Einheit und Ruhe” auf die “Ausdehnung des gegenwärtigen physischen Wohlseins über sein ganzes Dasein“ (ebd.) ziele; dieser pädagogisch zuzuarbeiten – sei es “durch Unterdrückung der Vernunft, denn diese treibt ihn stets über die Gegenwart hinaus”, sei es “durch eine ausschließende Richtung des Verstandes und aller Äußerungen der Sinnlichkeit auf den einen Hauptzweck: möglichste Steigerung des Wohllebens” (ebd. 51) – ist Zweck einer jeden ‘Erziehung zur Bestialität’. Egal, was Evers zur ‘Einübung in Bestialität’ empfiehlt – sei es Campes Plädoyer für “Sparsamkeit, Fleiß, Industrie und wohlgeordneten Erwerbungstrieb” (ebd. 59) als kaum überbietbarer Antwort auf die Fragen der Zeit, sei es die Bestärkung des “durch Furcht gelenkte[n] Eigennutz”, der als “die einzige Triebfeder aller Bestrebungen” (ebd. 62) gelten kann –, immer ist es die sich abzeichnende dichotome Entgegensetzung von Humanität und Bestialität – “Humanität wird empfangen von der Vernunft, geboren von der Würde (dem Gefühl des Vorzugs des Ewigen vor dem Zeitlichen), erzogen durch Kunst und Wissenschaft für die Zukunft. Bestialität wird empfangen von den Sinnen, geboren von dem Verstand, erzogen durch die Bedarfsdressur für die Gegenwart” (ebd. 52) –, die die Überlegungen Evers bestimmt und sich in den Dualismen “Wahrheit” und “Opinion”, dem “Gutem” und der “Konvenienz”, dem “Schönen” und dem “Nutzen” (ebd.) fortsetzt. Es ist schließlich diese Orientierung am “Ertrag” (ebd. 53), auf die das aufklärerisch-pädagogische Denken festgelegt wird, fragt sie doch vermeintlich bei allem, “was bringt’s mir ein?” (ebd. 70); sie allein – so Evers in seiner durchgängigen Ironie – bewahrt durch “mechanische Erlernung”, “Tödtung der bildenden Phantasie” und “Unterdrückung des gefährlichen Triebes nach Unabhängigkeit” vor jeder möglichen “Humanität” (ebd. 66f.). Auch wenn Evers Kritik der Philanthropie nicht bloß als ungebrochenes Plädoyer für ‘humanistische Bildung’ gelesen werden kann169, auffällig wie überaus bedeutsam ist jedoch, dass durch die rhetorische Komposition nahegelegt wird, “Ahndung” (ebd. 68) wie daraus resultierende Entfaltung von Humanität sei – würde sie nicht erzieherisch-staatlich gebremst und gelenkt – eigentlich etwas, was von selbst entsteht und sich vollzieht (vgl. ebd. 51, 65f. wie 87): nicht nur, weil der ‘bestialischen Bewahrung’ vor der ‘Gefahr der Humanität’ (vgl. ebd. 79) eine ‘humanistische Natürlichkeit’ entgegengesetzt wird, die nur verhindert, nicht aber befördert werden könne, zielt doch die “Forderung der Bestialität” darauf, “alle Künste anzuwenden, um die schlichte Natur der jungen Seele zu verkünsteln, ihre Lauterkeit zu verfälschen und ihr die harmonische Selbständigkeit [...] zu nehmen” (ebd. 86); sondern auch, weil durch die einseitige Festlegung der Aufklärungspädagogik auf eine Ertrags- und Brauchbarkeitsideologie suggeriert wird, diese diene allein der Erhaltung der bestehenden Verhält168 So dass sich Niethammer in einer der beiden Fußnoten zustimmend auf Evers’ Schrift ‘Über die Schuldbildung zur Bestialität’ beziehen kann: “Unerachtet es dem Zwecke dieser Schrift entgegen ist, Namen zu nennen, so mag doch hier eine Ausnahme statt finden in Absicht einer kleinen Schrift, die unlängst über das, was der Erziehung Noth ist, ein heftiges, aber treffliches Wort gesagt hat, und eine ehrenvolle Erwähnung besonders verdient” (Niethammer 1808, 47, Anm. *). 169 So haben Benner und Kemper darauf hingewiesen, dass Evers in seiner Problemexposition nicht nur als Kritiker der Aufklärungspädagogik aufträte, sondern gleichermaßen auch den von Fichte propagierten ‘spekulativen Bildungshumanismus’ attackiere (vgl. Benner / Kemper 2001, 239, 241f.); seine Polemik sei daher als “zweifache Kritik an der realistischen Pädagogik der Aufklärung und der sich als deren Alternative begreifenden spekulativen Reformpädagogik” (ebd. 241) zu lesen.
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nisse und sei daher selbst ein Mittel der Unterdrückung – auf dass der ‘erzogene Mensch’ “nur nicht unternimmt, Selbstschöpfer seiner Überzeugung zu werden” (ebd. 78). Gerade an diese Entgegensetzung von ‘Selbsttätigkeit’ und ‘Nützlichkeit’ knüpft nun auch Niethammers überaus akademisch gehaltene und geradezu penibel durchgeführte Analyse des ‘Streits zwischen Philanthropinismus und Humanismus’ (Niethammer 1808) an, ohne (sich) zugleich einzugestehen, dass diese vermeintlich nachgängige Analyse selbst auch der performativen Produktion dieses Streits dient. Dabei sucht Niethammer, sich in der Entgegensetzung von ‘altem Schulhumanismus’, der die Utilität des zu Lernenden der bloßen Geistigkeit opfere, und ‘moderner Erziehungsphilanthropie’, die das Problem der Moralität der Menschheit weitgehend unterschlage, zu einer Vermittlung beider Positionen durchzuarbeiten, die den Einsichten beider Positionen Rechnung trägt, ohne deren jeweiligen Einseitigkeiten zu verfallen (vgl. Niethammer 1808, 37-74), sondern erlaubt, “beides in Eines” (ebd. 67) zu denken. Erst diese Neujustierung aber wird der von Niethammer als “Hauptgegensatz” (ebd. 36) gekennzeichneten Differenz beider Pädagogiken gerecht, lieg deren ‘Streit’ doch “unstreitig in der Idee des Menschen und seiner Bestimmung” (ebd.) begründet – und der darin sichtbar werdenden wie damit einhergehenden Unfähigkeit, den traditionellen “Gegensatz von Geist und Thier, Vernunft und Kunstverstand, Rationalität und Animalität zu Einem wunderbaren Ganzen” (ebd. 37) zu verknüpfen. Weder bloß Tier noch reiner Geist ist der Mensch “ein Drittes” (ebd. 67) – eine “durch Vernunft modificirte Thierheit” ebenso wie eine “durch Thierheit modificirte Vernunft” (ebd.). Das “Princip” der Vermittlung ist für Niethammer aber weder eine einfache “Beiordnung” noch “Zusammenmischung” beider Positionen, sondern eine “Entscheidung dieses Streites nach dem Princip der Unterordnung” (ebd. 117), die dann zugunsten des ‘Primat des Humanismus’ getroffen wird: “Erstens, den Geist zu bilden, ist nicht nur die wichtigere, sondern sogar die unbedingte Aufgabe des Erziehungsuterrichts” (ebd. 117), geht es doch darum, “den Geist des Lehrlings frei zu machen und die Vernunft desselben zur Selbständigkeit zu entwickeln” (ebd. 118). “Zweitens [...] kann niemand bezweifeln, daß, wenn man auch die Wichtigkeit der entgegengesetzten Zwecke des Erziehungsunterrichts nur nach der größeren Nützlichkeit und Brauchbarkeit abmessen wollte, gleichfalls die Ansicht des Humanismus den Vorzug verdiente. Ein durch Unterricht aufgeweckter und sich selbst gegebner Geist beherrscht leicht und sicher jedes Geschäft und jeden Gegenstand, und es bedarf in der That des mühsäligen Ringens mit dem rohen Stoffe nicht, um ihn der Herrschaft unsres Geistes zu unterwerfen, der Geist kann diese Übermacht in seiner eignen Sphäre sich erringen. Eine noch so große Masse von Kenntnissen dagegen, womit der Unterricht den Geist anfüllen mag, macht an und für sich den Lehrling noch nicht brauchbar, vielmehr bedarf sie selbst, um nicht eine todte unbrauchbare Masse zu bleiben und wohl den Geist zu erdrücken, der Belebung und Beherrschung des zur Selbständigkeit gebildeten Geistes” (ebd. 118). So nimmt Niethammers daraus gezogene Schlussfolgerung, “daß Bildung des Geistes zur Selbständigkeit der Hauptzweck des Erziehungsunterrichts sey” (ebd. 119), nicht nur Blankertz’ bildungstheoretischen Einsatz einer emanzipatorisch-kritischen Erziehungswissenschaft fast wörtlich vorweg, indem sie “allgemeine Bildung” als “Humanitätsbildung” und “Bildung des Menschen zum Menschen” (ebd. 162) bestimmt, die zwar insgesamt auf die “Erschaffung einer andern Natur des Menschen” (ebd. 248) ziele – “nicht einer ihm fremden Natur, [...] aber der bessern Natur” (ebd.) –, sich aber bereits in der Orientierung an Utilität begründet170; vielmehr verlässt sie gerade mit diesem Utilitätsargument den 170 Vgl. dazu auch die Schlusspassagen bei Blankertz (1982), der die pädagogische Orientierung an ‘Mündigkeit’ auch und gerade dann bestätigt sieht, wenn bloße Tradition und Fortsetzung des Gegebenen beabsichtigt ist: “Doch auch dann, wenn die Erwachsenen die Bewahrung des Vorgegebenen wünschen, nur Gehorsam, Einübung, Nachahmung und Nachfolge verlangen, liegt das Ziel in der Freigabe der Erzogenen. Denn der Nachwuchs muß das Tradierte schließlich selbständig, in eigener Verantwortung und unter Berücksichtigung im einzelnen nicht vorhersehbarer Situationen verwalten, interpretieren und verteidigen. [...] Wer pädagogische Verantwortung übernimmt, steht im Kontext der jeweils gegebenen historischen
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Schematismus von ‘Brauchbarkeit’ und ‘Individualität’ und markiert so sehr präzise den teils aufgegriffenen, teils selbst betriebenen Wandel, indem sie ‘Utilität’ argumentativ aus ihrem sozialtheoretischen Kontext löst und – unter dem Vorzeichen der Bildung – individualtheoretisch interpretiert und reformuliert. Dann aber – so Niethammer weiter – ist ‘Bildung’ nichts anderes als die “Bildung der Menschheit in dem Individuum” (ebd. 184): einerseits als “Vernunftbildung” (ebd. 190), die – weil diese “bei aller Verschiedenheit der menschlichen Individuen in allen Eine und dieselbe ist” (ebd. 185) – als notwendig sich erweist, “insofern die als Bedingung der Menschheit nicht nur von allen Individuen, die menschliches Antlitz tragen, ohne Ausnahme gefordert wird, sondern auch in dem Verein vernünftiger Wesen Gegenstand des Zwanges ist, den die entwickelte Vernunft gegen die noch Unmündigen anzuwenden die Befugnis und Verpflichtung hat” (ebd. 190f.); und andererseits als “Humanitätsbildung” (ebd. 190), die die einzelnen gerade nicht qua Idealität auf “totale Einförmigkeit aller Individuen” (ebd. 198) festzulegen sucht, sondern darauf abstellt, deren “Individualität frei zu lassen” (ebd. 202), kann doch “die Forderung des Ideals der Menschheit nur Gegenstand des freien Auftretens der Individuen” (ebd. 191) selbst sein. Es ist diese – bei Humboldt bereits deutlich gewordene – Doppelbestimmung der Bildung, die Niethammers Überlegungen kennzeichnet und manchen – bisweilen bis heute – theoretisch attraktiv macht (vgl. Euler 1989). Nur unangemessen und verkürzt lässt sie sich in die bei Evers entfaltete Dichotomie von Brauchbarkeit und Eigentümlichkeit, von Herrschaft und Freiheit bringen, umgreift sie doch ihrerseits durchaus beide Pole; vielmehr muss sie daher beschrieben werden als Neu- und Umjustierung von ‘Utilität’ – und darin als Neubestimmung von Sozialität selbst. Denn gerade im Kontext der Abwendung von einem vermeintlich unkritischen Philanthropinismus, der diesen neuhumanistischen Gedanken eines auf freier Individualität basierenden ‘Allgemeinen’ nicht zu denken vermag, sondern Sozialität nur als Unterordnung unter ein ‘Gemeinsames’ verstehen kann, kommt Niethammers Weichenstellung damit eine durchaus große Bedeutung zu: was auf den ersten Blick als Fortsetzung einer – bei Evers überaus polemisch betriebenen – Dichotomisierung von Brauchbarkeit und Eigentümlichkeit qua Bildung gelesen werden kann, zeigt sich nun bei genauerem Hinsehen als bildungstheoretische Neukonstruktion von Sozialität als einem ‘Allgemeinen’. Kaum verwunderlich daher, dass Niethammers Zugeständnis an notwendige Utilität sich gerade nicht dem problematisierenden Abwägen eines möglichen Konflikts zwischen ‘Vollkommenheit und Brauchbarkeit’ verdankt, wie es insbesondere Villaume noch angestellt hatte (vgl. Villaume 1785), sondern als systematisch begründete Unterordnung von ‘Brauchbarkeit’ unter ‘Menschlichkeit’ gänzlich unproblematisch vollzogen werden kann. Die (auch) von Niethammer entfaltete bildungstheoretische Grundfigur ist daher nur unzureichend als ‘Individualisierung’ beschrieben, sondern muss als ‘Individualisierung und Totalisierung zugleich’ (vgl. Foucault 1994) verstanden werden; in ihr wird nicht Individualität und Selbstbezüglichkeit allererst erfunden und gegen ‘Verknechtung’ (Blankertz) und ‘Zurichtung’ pädagogischpraktisch etabliert, sondern bloß unter anderen Vorzeichen bestimmt und ebenso zu Sozialitätszwecken genutzt. Der pädagogisch ausgetragene ‘Universalienstreit’ (Euler) ist daher von Anfang an auch ein Streit um Sozialität; in ihm verschiebt sich deren Matrix vom ‘Gemeinsamen’ zum ‘Allgemeinen’.
Bereits ein nur kurzer Blick in die Denkform der Aufklärungspädagogik bestätigt den hier erarbeiteten Befund auch von seiner Gegenseite; denn kontrastiert man die von Evers propagierte und bei Niethammer erheblich präziser reflektierte Skizze des ‘Philanthropinismus’ mit – auch nur ausgewählten – Überlegungen im Umkreis der Bedingungen unter dem Anspruch des unbedingten Zweckes menschlicher Mündigkeit – ob er das will, weiß, glaubt oder nicht” (Blankertz 1982, 306f.).
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Aufklärungspädagogik, so zeigt sich zweierlei: nicht nur erweist sich die neuhumanistisch unternommene Kennzeichnung derer Grundfigur als einer ‘Brauchbarkeitspädagogik’ als weitgehend unzutreffendes Zerrbild, bleibt doch eigentümliche Individualität auch aufklärungspädagogisch gerade nicht ungedacht; vielmehr verdankt sich die Betonung und Höherwertung von sozialer Brauchbarkeit einem anderen kategorialen Zugriff, in dem Individualität ausschließlich sozial gedacht und in Sozialität eingeordnet wird. In dieser Perspektive aber erscheint das, was bildungstheoretisch scheinbar mühelos gelingt – nämlich Sozialität von Individualität ausgehend zu denken –, nicht nur aufklärungspädagogisch uneinlösbar, sondern auch durchaus irreführend, wird doch – wie bei Niethammer deutlich ausgesprochen – das ‘disziplinierende Moment’ in Individualität nun selbst hineingedacht und damit seines offensichtlichen Machtcharakters enthoben. Der ‘gute Ruf’ der ‘Bildung’ aber verdankt sich dann einer Erschleichung, die an sich selbst kaschiert, was sie bei anderen moniert. Denn folgt man – bloß exemplarisch – dem von Trapp vorgelegten und aufklärungspädagogisch durchaus repräsentativen ‘Versuch einer Pädagogik’ (Trapp 1780; vgl. Kersting 1997), so zeigt sich, dass der unstrittig bestimmende Gedanke der sozialen Nützlichkeit – “die Bildung des Menschen muß auf die Art und zu dem Grade getrieben werden, als es die Bedürfnisse der Gesellschaft, worin sie leben sollen, erfordert” (Trapp 1780, 45) – eingebunden ist in ein ‘Denken der Glückseligkeit’, die als letztes Ziel auch der Erziehung gilt (vgl. ebd. 36): “Das letzte Ziel aller menschlichen Wünsche, Hoffnungen und Bestrebungen muß Glückseligkeit, das ist, ein Zustand angenehmer Empfindungen sein; denn das Gegenteil läßt sich nicht denken, und ist wider alle Erfahrung” (ebd. 35). Zweierlei ist nun an Trapps Erörterung der Glückseligkeit bedeutsam – zum einen seine bis heute überaus überzeugende, nur kantisch völlig unzureichende Begründung: denn nur Glückseligkeit – so Trapp – vermag als ‘letztes Ziel’ zu fungieren, bleibt doch alles andere – sei es Tradition, Tugend und Humanität oder schließlich gar Gott selbst – immer auf sein ‘Woraufhin’ und ‘Warum’ befragbar; allein Glückseligkeit bricht ab den unendlichen Regress: “Nun kann ich nicht weiter fragen: warum soll ich den glücklich zu werden versuchen? Man fühlt, da die Frage ungereimt wäre, daß sie gar nicht statt finden kann, daß man hier am Ende des Fragens ist” (ebd. 37). Zum anderen seine Bestimmung derselben: “Ich lasse mich nicht darauf ein, von Empfindung und angenehmer Empfindung eine Definition zu geben. [...] Alles, was man tun kann, ist, daß man die verschiedenen Ausdrücke sammelt, mit welchen die verschiedenen Arten und Grade der Empfindungen bezeichnet und unterschieden werden, und dann einen jeden auf sein eigenes Gefühl hinweist” (ebd. 34). Denn auch wenn “wahre, lange, unvergängliche und vollkommene Glückseligkeit ohne Zweifel den Vorzug vor jeder der entgegen gesetzten” (ebd. 38f.) hat, so lässt sich doch keine allgemeine Hierarchie von Glückseligkeit errichten und verbindlich machen – “will man nicht in die lächerliche Thorheit [...] verfallen, daß man jemanden überreden wolle, seine Empfindungen seien nicht seine Empfindungen, und daß man behaupten wolle, was ihm süß schmecke, sei sauer” (ebd. 39). Glückseligkeit – so Trapps erstes Fazit – bleibt an jeweilige Erfahrung gebunden und ist darin ausdrücklich nicht hintergehbar; sie ist
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aber gerade nicht bloß individuell, sondern ausdrücklich auf andere bezogen, kann doch “einer [...] ohne den anderen nicht da sein, kann des anderen zu seiner Glückseligkeit nicht entbehren” (ebd. 17). Aus dieser zweiten Bestimmung der Glückseligkeit – eines ‘wechselseitigen Nichtentbehrenkönnens’ (vgl. Bellmann 2002, 190) – folgert Trapp Orientierung an ‘Nützlichkeit’: “Können wir andere zu unserer Glückseligkeit nicht entbehren, so müssen wir zu machen wissen, daß sie uns wiederum zu der ihrigen auch nicht entbehren können” (ebd. 17). So aber wird sie zum Mittel, nicht Zweck der Bestimmung des Menschen: “Um in der menschlichen Gesellschaft nicht entbehrlich zu seyn, müssen wir uns nützlich und beliebt machen” (ebd. 18). Trapps Weichenstellungen belegen eindrücklich: weder ist Individualität schlicht ungedacht noch bloß auf Nützlichkeit bezogen, sondern – ausdrücklich gegen Kant gerichtet, der Glückseligkeit wie Nützlichkeit gleichermaßen unter Heteronomie subsumiert und so folgenreich entdifferenziert – sowohl weit radikaler in den Blick genommen als auch von Anfang an sozial gedacht. Aber auch Villaumes immer wieder zitierte und letztlich doch bejahende Problematisierung der Frage, ‘Ob und inwiefern bei der Erziehung die Vollkommenheit des einzelnen Menschen seiner Brauchbarkeit aufzuopfern sei?’ (vgl. Villaume 1785), bestätigt in ihrer argumentativen Entfaltung die hier vorgenommene Problemjustierung: nicht nur, weil Villaume in seiner frühen Bearbeitung der Frage – “unter dieser Gestalt halte ich diese Frage für ganz neu” (ebd. 72) – den Gegensatz von ‘Brauchbarkeit’ und ‘Vollkommenheit’ nur für einen scheinbaren hält und so ‘Brauchbarkeit’ sehr präzise in “Eigenbrauchbarkeit” und “Gemeinbrauchbarkeit” (ebd. 78) differenziert; auch nicht nur, weil sein – als rein befürwortendes Plädoyer eindeutig missverstandenes (vgl. exemplarisch ebd. 126) – Eingeständnis der Vorrangigkeit der ‘Gemeinbrauchbarkeit’ in seiner Begründung ausdrücklich auf die soziale Verfasstheit der menschlichen Existenz abhebt (vgl. ebd. 109f.); sondern auch, weil er überaus scharfsichtig darauf hinweist, dass auch jede Rede von “Aufklärung und Veredlung des Volks” (ebd. 108) nicht darauf zielt, “alles weg[zu]räsonieren”, sondern die Ordnung umso “fester” zu glauben: “Man will nicht, daß es die Gesetze verachten lerne, sondern, daß es sie willig befolge” (ebd. 108). Vor diesem – hier nur angedeuteten – aufklärungspädagogischen Hintergrund171 muss daher der von Evers wie auch Niethammer entworfene Schematismus der Entgegensetzung von Philanthropie und Neuhumanismus nicht nur relativiert, sondern korrigiert und in seiner Bedeutung anders gelesen werden: nicht ‘Brauchbarkeit’ vs. ‘Eigentümlichkeit’, ‘Verknechtung’ vs. ‘Humanität’ markieren die jeweiligen Differenzen der erziehungs- und bildungstheoretischen Überlegungen, die in solcher Perspektivierung nur folgerichtig als Defizite analysierbar sind; vielmehr verdanken 171 Vgl. dazu ausführlicher insbesondere die differenzierten Analysen bei Kersting (1992 wie 1997), die an Trapp, Campe, Villaume und Stuve die Unangemessenheit der ‘dichotomen Interpretation’ nachzeichnet. Durchaus unbestritten bleibt dabei, dass die philanthropisch und aufklärungspädagogisch erreichte Problemtiefe und Radikalität den nachfolgenden bildungstheoretischen Reflexionen insgesamt nicht ebenbürtig gewesen sind, sondern auch von Verkürzungen und Verklärungen geprägt waren – exemplarisch hinsichtlich der Vereinbarkeit von Glückseligkeit und sozialer Nützlichkeit (vgl. Bellmann 2002, 191 wie auch Brüggen 1989, 98f.). Doch lässt sich diese Problematik wohl nur unangemessen auf den Gegensatz von ‘sozialer Verknechtung’ und ‘individueller Befreiung’ bringen.
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diese sich einem weitaus umfassenderen Wandel der Sozialitätsvorstellung – vom ‘Gemeinsamen’ zum ‘Allgemeinen’ –, der dann auch veränderte Freiheits- und Individualitätsverständnisse nach sich zieht. Die aber zeitgenössisch durchaus beobachtbare Fruchtbarkeit und Wirksamkeit der Diskursstrategie Evers und Niethammers (vgl. Jeismann 1996a, 246)172 zehrt – gerade in ihrer überaus schiefen Problemjustierung – von der Akzeptanz und Plausibilität eines sich längst vollziehenden ‘politischen Wandels’, der insbesondere in den deutschen Ländern insgesamt nicht zu einer angemessenen politischen Ausgestaltung gelangt ist, sondern sich nun überwiegend pädagogisch artikuliert und – in der Tat überpointiert – mit ‘Bildung statt Demokratie’ überschrieben werden könnte. Dies aber ließe ‘Bildung’ als einen der zentralen Mechanismen der ‘Formation des Sozialen’ als einer am ‘Allgemeinen’ orientierten Gesellschaft erkennbar werden; deren Logik einer gleichzeitigen Individualisierung und Totalisierung erlaubt, die Struktur der ‘Bildung’ als einem überaus bedeutsamen ‘Subjektivierungsmuster’ auch in einer sozialitätstheoretischen Perspektive zu ergänzen, und soll daher mit Blick auf den neuzeitlich sich vollziehenden Wandel von Sozialitätsmustern präzisiert werden.
II. Der immer wieder beschriebene neuzeitliche Wandel des Sozialitäts- und Gesellschaftsdenkens lässt sich als eine Verschiebung vom ‘Gemeinsamen’ zum ‘Allgemeinen’ lesen und – exemplarisch – am Wandel des Naturrechts nachvollziehen; mit ihm ist zugleich jener Bedeutungskontext benannt, vor dem sich das bildungstheoretische Denken schließlich entfaltet und profiliert. So ist es insbesondere der politische Aristotelismus, der das alteuropäische Verständnis des Menschen in seinen sozialen und politischen Lebensverhältnissen überaus nachhaltig – in Deutschland gar bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (vgl. Kersting 1994) – geprägt hat; seine im vierten vorchristlichen Jahrhundert von Aristoteles formulierten Lehrstücke von der politisch-sozialen Natur des Menschen, von der Differenz zwischen ‘ǐ«NjǐǓ’ und ‘ǑǝnjNJǓ’, von den daraus resultierenden verschiedenen Sozial- und Regierungsformen wie den damit verbundenen politischen Verfassungen galten nicht nur antik wie mittelalterlich als weitgehend alternativlose und verbindliche Matrix, sondern bildeten bis weit in die Neuzeit die insgesamt unbezweifelte Grundlage der gesellschaftlichen und politischen Selbstverständigung in Philosophie und Wissenschaft. Ihr Grundgedanke ist die Kennzeichnung des
172 Vgl. dazu auch die überaus anerkennende Rezension der Denkschrift Niethammers durch Schelling (vgl. Schelling 1808). Dabei bestätigen die behutsam vorgenommenen Korrekturen bzw. Verdeutlichungen Schellings den bei Niethammer begonnenen Gedanken der ‘Allgemeinnützlichkeit der Bildung’, indem er sowohl dem Gegensatz von ‘Animalität und Rationalität’ (vgl. Schelling 1808, 460ff.) als auch der Entgegensetzung von ‘Ideen und Gemeinnützlichem’ (ebd. 470) durch die Verklarung ihrer jeweiligen Zusammenhänge widerspricht und in einer Pointierung des ‘Allgemeinen’ als eines ‘individuellen Ganzen’ bündelt: “Das Allgemeine kann nicht gegeben werden; nicht lernen, nur finden lässt es sich; nur erregen und anleiten kann der Lehrer zum Selbstfinden” (ebd. 477). Zielt aber ‘Bildung’ darauf, das ‘Ganze’ mit dem ‘Einzelnen’ zu verbinden, so kann gerade sie – anstelle des “religiöse[n] Glaubens, der verschwunden ist” -das neue “innere Band” (ebd. 471) der deutschen Nation werden.
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Menschen als eines ‘politischen Lebewesens’ (‘LJÊǐǎ ǑǐnjNJǕNJNjǝǎ’‘) (vgl. Aristoteles 1995, IV 1253a3), so dass “derjenige, der von Natur und nicht durch zufällige Umstände außer aller staatlichen Gemeinschaft lebt, ,[...] entweder mehr oder weniger als ein Mensch” (ebd.) ist – “eben damit entweder ein Tier oder aber ein Gott” (ebd. 1253a29). Ungeachtet der erheblichen Ungleichheit der Menschen, gilt doch diese Bestimmung weitgehend nur für die kleine Klasse der freien Männer der Stadt, ist allein die politische Existenzform, das Leben des – freien und männlichen – Bürgers mit seinesgleichen in der politischen Gemeinschaft die einzig der Natur angemessene Lebensweise der Menschen: “Nur in der auf Pluralität basierenden, durch Differenz belebten Gemeinschaft des Miteinanderredens und Miteinanderhandelns lassen sich die den Menschen ausmachenden natürlichen Fähigkeiten, seine Vernünftigkeit, Sprachfähigkeit und Handlungsfähigkeit entwickeln” (Kersting 1994, 2). So schlägt sich die uralte Einsicht in die Abhängigkeit der Menschen voneinander in der für lange Zeit nicht bezweifelbaren Überzeugung nieder, dass der Mensch von Natur aus auf den Bürger ausgelegt sei – mit der überaus bedeutsamen Folge, dass im Gefolge dieser These der durchgängigen Sozialität der Menschen nicht die Tatsache des ‘dass’, sondern allenfalls des ‘wie’ der Sozialität zur Disposition gestellt werden konnte. Auch wenn alles ‘um der Menschen willen’ gemacht ist (vgl. Aristoteles 1995, IV 1256b22), so kommt der ‘ǑǝnjNJǓ’ ein sowohl ontologischer als auch sittlicher Vorrang vor dem einzelnen zu, ist diese doch – so Aristoteles – “auch von Natur ursprünglicher [...] als das Haus und jeder einzelne von uns” (ebd. 1253a20). Die aristotelisch vorgenommene – und bis heute immer wieder attraktive – Unterordnung der Eigeninteressen unter das ‘Gemeinwohl’ hat hier ihren systematischen Ort; sie ist bestimmt von der Frage nach dem gemeinschaftlichen ‘guten Leben’ (vgl. ebd. 1252b29), die sich gerade nicht in der Erhaltung des ‘bloßen Lebens’ (ebd.) erschöpft. Freiheit ist damit doppelt gedacht: bezogen auf die Teilhabe am Politischen ist sie ‘Erfüllung der guten Ordnung’ und teleologisch justiert, bezogen auf die darin praktizierte Asymmetrie ist sie Freiheit zur politischen und kulturellen Bevormundung anderer. Erst beides zusammen prägt das aristotelische Naturrechtsdenken, indem auf eine übergeordnete Normsphäre zurückgegriffen wird, die es für die vielen anderen verbindlich und verpflichtend zu machen gilt; Naturrecht ist daher von Anfang an Lehre der gerechten und guten Herrschaft (vgl. Ilting 1978). Bis hinein in das christliche Naturrecht, schließlich repräsentativ von Thomas von Aquin formuliert (vgl. Thomas von Aquin 1985, 1.2, qu. 90-108 wie 2.2, qu. 57), bestimmt dieser Aufriss das weitere politische Denken: nicht nur ist der Mensch – wie Thomas nun umformuliert – von Natur aus ein ‘animal sociale’, dessen Streben – den verschiedenen Seinsstufen entsprechend – auf Selbsterhaltung, Arterhaltung und schließlich Gemeinschaft miteinander wie mit Gott zielt; auch die Frage der sozialen Ordnung ist nur teleologisch beantwortbar und verweist auf die in ‘lex aeterna’, ‘lex naturalis’ und ‘lex humana’ differenzierbare göttliche Schöpfungsordnung (vgl. ebd. 1.2, qu. 91). Zweierlei tut daher not: die Bestimmung der ‘lex humana’ durch Rückführung und Auslegung des ‘lex naturalis’ (vgl. Ilting 1978, 265), und die Lenkung der vielen durch den einen, “qui ad bonum commune intenderet” (Thomas von Aquin 1985, 1.2, qu. 96). Herrschaft impliziert daher sowohl die Suche
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nach der guten politisch-sozialen ‘Ordnung’ als auch die Frage nach dem Inhaber der politischen Macht und ist insofern in einen weit gefächerten Legitimationskontext gestellt. Alle drei Akzentuierungen aber – ‘socialitas’, ‘bonum commune’ und ‘auctoritas’ wie ‘potestas’ – figurieren den naturrechtlichen Diskurs, verlieren aber in dem Maße ihre hermeneutische Tauglichkeit, wie sie die wachsende politisch-soziale, ökonomische wie kulturell-religiöse Differenzierung und Komplexität nicht angemessen auszulegen vermögen – sei es, weil die Deduktion alltagsweltlich relevanter Regeln längst in eine kasuistische Zerfaserung geführt hat und so deren Anwendbarkeit unterminiert, sei es, weil die ‘oberste Norm’ der Ordnung – ‘Gott’ selbst – zunehmend fremd, schillernd und strittig geworden ist (vgl. Blumenberg 1999). So bricht das ältere Naturrechtsdenken mit Heraufkunft der politischen Neuzeit um und macht zunehmend einem nun kontraktualistisch argumentierenden Denken Platz, als dessen – wiederum als Naturzustand gedachten – argumentatives Zentrum die politische Anthropologie eines ungebundenen, ontologisch ortlosen, asozialen und gänzlich auf sich allein gestellten, selbstzentrierten Menschen fungiert. Nicht das Glück der Gemeinschaft, nicht das ‘gute Leben’, auch nicht Tugendhaftigkeit und Gerechtigkeit markieren die politischen Leitvorstellungen; diesen Platz haben vielmehr Selbsterhaltung und Machtsteigerung eingenommen, so dass die aristotelisch wie christlich propagierte “Kooperationsanthropologie” nun einer “Konfliktanthropologie” (Kersting 1994, 10) weicht, in deren Mitte ein neuer Gedanke steht: der politische Vertrag173. Er gilt nun als das ‘vinculum sociale’, das die Gesellschaft einigt und zusammenhält, und markiert darin einen überaus zentralen Mechanismus der europäischen politischen Philosophie der Neuzeit und Moderne, dessen Logik seitdem nicht nur die Vorstellungen von Sozialität figuriert, sondern auch zunehmend die Praktiken der Menschen miteinander bestimmt. Nicht zu unrecht kann insbesondere Thomas Hobbes als ‘Erfinder’ des politischen Kontraktualismus gelten, ist es doch sein Aufriss des neuzeitlichen Staates als eines ‘Leviathans’ (vgl. Hobbes 1966), der die Theorie des Gesellschaftsvertrags einführt wie weithin verbindlich macht. Dessen Grundfigur ist dabei eine – den politischen Aristotelismus in beinahe jeder Hinsicht geradezu umkehrende – pastorale Begründung von sozialer Herrschaft im Interesse individueller Selbsterhaltung: ausgehend von einem Zustand, in dem – weil Natur – alle Ordnungs- und Sicherheitsleistungen fehlen und jeder seinen Interessen mit allen ihm geeignet wie geboten erscheinenden und verfügbaren Mitteln nachgeht, ist es überaus vernünftig und im Interesse der Selbsterhaltung, den drohenden und letztlich unerträglichen ‘Krieg aller gegen alle’ dadurch zu vermeiden, dass ein jeder auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung zugunsten eines fast allmächtigen Souveräns verzichtet, der allein erlaubt, den gesetzlosen vorstaatlichen Zustand zu verlassen, und qua machtbewehrter Ordnung die friedliche, wenn auch weitgehend nicht mehr freiheitliche Koexistenz der Menschen miteinander verbürgt. Weil aber Selbstnegation und empfindliche Freiheitsein173 Auch wenn das Vertragsmotiv so neu nicht ist, wie Kersting (1994) differenziert nachweist, so ist doch dessen Nutzung als Instrument der Autoritäts- und Herrschaftslegitimation erst neuzeitlich nachweisbar: “Erst in der Neuzeit ist der Vertrag in den Rang eines theoretischen Konzepts erhoben worden” (ebd. 14); vgl. dazu ausführlicher Kersting 1994, 11-18.
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schränkung nur unter Bedingungen der Reziprozität zumutbar wie erwartbar sind, müssen die Menschen einen Vertrag miteinander schließen, in dem sie sich wechselseitig der Preisgabe ihrer ‘natürlichen Freiheit’ versichern und zu politischem Gehorsam verpflichten, indem sie eine mit Gewaltmonopol ausgestattete Vertragsgarantiemacht einrichten174. Die von Hobbes entworfene vertragstheoretische Legitimation staatlicher Herrschaft ist weithin bekannt und immer wieder rekonstruiert worden (vgl. Kersting 1992a wie 1994 und Münkler 2001). Ihre zentrale These, dass der Naturzustand ein Kriegszustand ist, in dem keinerlei Rechte gelten, so dass hier kaum von einem Naturrechtszustand gesprochen werden kann, zielt darauf, in der Trennung der Menschen voneinander175 das “Wesen des Krieges” (Hobbes 1966, 96) als Matrix natürlicher Sozialität zu verankern, auch ohne dass Schlachtenlärm den Naturzustand erfüllt (vgl. Foucault 1999, 101-113): “so besteht das Wesen des Kriegs nicht in tatsächlichen Kampfhandlungen, sondern in der bekannten Bereitschaft dazu während der ganzen Zeit, in der man sich des Gegenteils nicht sicher sein kann” (Hobbes 1966, 96). Vor diesem Hintergrund dauernden “gegenseitigen Mißtrauens” (ebd. 95), daraus resultierender Machtfixierung und Selbstverausgabung aller Kräfte “zum Erwerb von mehr Macht” (ebd. 66) markiert allein vertraglich eingegangene “Selbstbeschränkung” (ebd. 131) und Errichtung einer “Zwangsgewalt” (ebd.) den Weg, “dem elenden Kriegszustand zu entkommen” (ebd.): “Denn die natürlichen Gesetze wie Gerechtigkeit, Billigkeit, Bescheidenheit, Dankbarkeit, kurz, das Gesetz, andere so zu behandeln wie wir selbst behandelt werden wollen, sind an sich, ohne Furcht vor einer Macht, die ihre Befolgung veranlaßt, unseren natürlichen Leidenschaften entgegengesetzt, die uns zu Parteilichkeit, Hochmut, Rachsucht und Ähnlichem verleiten” (ebd.). Kooperation durch “Verträge ohne das Schwert” (ebd.) sind daher kein gangbarer Weg, besitzen sie doch “nicht die Kraft, einem Menschen auch nur die geringste Sicherheit zu bieten” (ebd.); denn ist die errichtete “Zwangsgewalt [...] für unsere Sicherheit nicht stark genug, wird und darf jedermann sich rechtmäßig zur Sicherung gegen alle anderen Menschen auf seine eigene Kraft und Geschicklichkeit verlassen” (ebd.). So liegt der “alleinige Weg zur Errichtung einer solchen allgemeinen Gewalt” (ebd. 134) in der “Übertragung ihrer gesamten Macht und Stärke auf einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen, die ihre Einzelwillen [...] auf einen Willen reduzieren können. Das heißt soviel wie einen Menschen 174 Kersting hat darauf aufmerksam gemacht, dass gerade nicht die – in der deutschen Naturrechtstradition übliche – Konstruktion eines Doppelvertrags (als einigendem Gesellschafts- und unterwerfendem Herrschaftsvertrag) als typologische Grundfigur gelten kann; vielmehr kennen die allermeisten kontraktualistischen Entwürfe nur “einen einzigen Vertrag” (Kersting 1994, 14). Vgl. dazu ausführlicher die Auseinandersetzung Kerstings mit Gierke, auf den die Interpretation der doppelten “kontraktualistischen Standardtheorie” (ebd.) zurückgeht (Kersting 1994, 13 Anm. 11 wie insbes. 219ff.). 175 In einer “kurzen Genealogie des Sozialvertragstheorien” (Benhabib 1989, 463) hat Seyla Benhabib – gerade mit Verweis auf Hobbes – auf die “einfache und gewichtige Botschaft” (ebd. 464) einer jeden Naturzustandslehre – “am Anfang war der Mann allein” (ebd.) – aufmerksam gemacht und Hobbes’ wenig bekannte Beschreibung desselben – “Betrachten wir die Menschen [...], als ob sie eben jetzt aus der Erde gesprießt und gleich Pilzen plötzlich ohne irgendeine Beziehung zueinander gereift wären” (Hobbes 1966a, 109) – als “Leugnung des Geborenwerdens durch eine Frau” und seiner “natürlichsten und fundamentalsten Abhängigkeit” (Benhabib 1989, 464) interpretiert, die in dieser Negation von Angewiesenheit und Abhängigkeit schließlich dazu führt, die Frau nicht nur anthropologisch komplementär zum Mann als Mangel zu bestimmen – “die Frau ist schlicht das, was Männer nicht sind” (ebd. 466) –, sondern auch von politischer Partizipation – wie exemplarisch in den Menschenrechtserklärungen der französischen Revolution geschehen – auszunehmen. So dient auch der “letzte Akt in diesem Drama”, der “Sozialvertrag” (ebd. 465), – so Benhabib – dazu, in der Idee des ‘verallgemeinerten Anderen’ nicht nur “von unseren Gemeinsamkeiten” (ebd. 468) zu abstrahieren, sondern uns als voneinander getrennte Individuen zu ‘erträumen’, die erst nachträglich in Beziehung zueinander treten und – qua Universalisierung – treten müssen.
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oder eine Versammlung von Menschen bestimmen, die deren Person verkörpern sollen, und bedeutet, daß jedermann alles als eigen anerkennt, was derjenige, der auf diese Weise seine Person verkörpert, in Dingen des allgemeinen Friedens und der allgemeinen Sicherheit tun oder veranlassen wird, und sich selbst als Autor alles dessen bekennt und dabei den eigenen Willen und das eigene Urteil seinem Willen und Urteil unterwirft. Dies ist mehr als Zustimmung oder Übereinstimmung: Es ist eine wirkliche Einheit aller in ein und derselben Person, die durch Vertrag eines jeden mit jedem zustande kam, als hätte jeder zu jedem gesagt: Ich autorisiere diesen Menschen oder diese Versammlung von Menschen und übertrage ihnen mein Recht, mich zu regieren, unter der Bedingung, daß du ihnen ebenso dein Recht überträgst und alle ihre Handlungen autorisierst. [...] Dies ist die Erzeugung eines großen Leviathan, [...] jenes sterblichen Gottes, dem wir unter dem unsterblichen Gott unseren Frieden und Schutz verdanken” (ebd. 134). Erst Rechtsverzicht und Übertragung, Autorisierungshandlung und Einheitsherstellung konstituieren jene “Souveränität” (ebd. 135), die – da mit allen Machtmitteln als “höchste Gewalt” (ebd.) ausgestattet – als Vertragsgarantiemacht tätig werden kann und das hoch unwahrscheinliche “Vertrauen, [...] gegen alle anderen geschützt zu werden” (ebd. 135), ermöglicht; aus ihnen lassen sich alle weiteren Rechte des Souveräns und Pflichten der Untertanen ableiten176.
Die von Hobbes entfaltete Konstruktion des Gesellschaftsvertrags aber hat geradezu transzendentalen Charakter und dient allein der veränderten Begründung faktisch gleichbleibender politischer Herrschaft, nicht derer Begrenzung; was bisweilen als “radikalindividualistische Begründung absoluter Macht” (Kersting 1994, 96) überaus paradox anmuten mag und als vermeintlich anerkennender Rekurs auf Individualität missverstanden werden kann, muss daher als in Individualität übersetzte und verankerte ‘Verteidigung der Gesellschaft’ (Foucault 1999) gelesen werden: einerseits, weil gerade nicht mehr auf die Existenz objektiver Normen – seien sie teleologischer oder theologischer Natur – zurückgegriffen wird, so dass Normativität nicht vorgefunden, sondern eigens durch die Menschen eingeführt werden muss; andererseits aber, weil in der von Hobbes immer wieder hervorgehobenen Zumutung, alle Begrenzungs- und Unterwerfungshandlungen des Souveräns “als eigene Handlungen anzuerkennen und sich als ihr Autor ansehen zu lassen” (Hobbes 1966, 136), jede Heteronomie auf kontrafaktisch unterstelle Autonomie zurückgeführt wird, so dass politische Herrschaft nicht von außen angetragen und durchgesetzt werden muss, sondern geradezu freiwillig von selbst eingegangen werden soll. Es ist diese Figur der ‘Vertiefung’ und ‘Verinnerlichung’ von Herrschaft, die die Konstruktion Hobbes’ ebenso trägt wie kennzeichnet und den Menschen zum “Werkstoff und Konstrukteur” (ebd. 5) der Macht macht. Ihre Logik kann in einer doppelten Operation beschrieben werden: als – wenn auch bloß gedanklich unternommene – analytische ‘Zerlegung’ menschlicher Sozialität in ihre als nicht weiter zerlegbar geltenden Grundelemente – dem natürlichen individuellen Menschen – und synthetische ‘Neuzusammensetzung’ derselben qua Generalisierung ihrer Elemente zu einem neuen Ganzen. Hobbes Kennzeichnung des ‘Leviathans’ als eines durch “Verträge und 176 Für die weitere Entfaltung und Ausgestaltung dieses Grundgedankens – den Rechten und Aufgaben des Souveräns, den Weisen seiner Konstitution durch Einsetzung oder Eroberung und Gewalt etc. – sei hier auf die vielen Rekonstruktionen verwiesen (vgl. exemplarisch Kersting 1992a, Münkler 2001). Eine differenzierte Übersicht verschiedener kontraktualistischer Konzeptionen bietet Kersting 1994.
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Übereinkommen” aus einzelnen Teilen “zuerst geschaffen[en], zusammengesetzt[en] und vereint[en]” künstlichen “politischen Körpers” (Hobbes 1966, 5) markiert diese Struktur sehr genau; wohl kaum zufällig vergleicht er sie mit “jenem ‘Fiat’ oder ‘Laßt uns Menschen machen’, das Gott bei der Schöpfung aussprach” (ebd. 5). Auch wenn der Hobbessche Grundgedanke eines ‘stillschweigenden Vertrags’ als bloße – allerdings jederzeit mögliche – ‘kontrafaktische Unterstellung’ gelten muss, so ist die dadurch justierte Perspektive auf Sozialität überaus bedeutsam wie wirksam geworden: erstens wird in ihr kompromisslos jede mögliche Selbstauslegung negiert, in der sich die Menschen ihrer Sozialität als einer – wie auch immer verstandenen – ursprünglichen Qualität zu versichern suchen, indem sie stattdessen das vereinzelte, atomistisch gedachte und nur in Unabhängigkeit souveräne Individuum als ursprünglich etabliert, dem es in seinem ‘Sein’ nur ‘um sein Sein selbst’ (Heidegger) geht; Hobbes’ Einschätzung, dass “die Menschen am Zusammenleben kein Vergnügen, sondern im Gegenteil großen Verdruß” (ebd. 95) empfinden, mag diese Weichenstellung bekräftigen. Mit ihr einher geht zweitens die Justierung sozialen Zusammenlebens als einer bloß die eigene Individualität reduzierenden und einschränkenden Lebensform, die allein qua Angst aufrecht erhalten werden kann (vgl. ebd. 228), so dass Antastbarkeit Grund wie Struktur von Macht ist: “Souveränität entsteht immer von unten, kraft des Willens derjenigen, die Angst haben” (Foucault 1999, 110). Sozialität ist drittens nicht länger als etwas konstruiert, was allen vorgängig und insofern gemeinsam ist, sondern was durch Generalisierung und Totalisierung allererst als ein ‘Allgemeines’ aktiv konstituiert wird; in ihr und durch sie sind die Menschen in ein strategisches, auf “reflektierter Gegenseitigkeit der Instrumentalisierung” (Apel 1984, 27) beruhendes Verhältnis gesetzt, so dass das ‘Allgemeine’ nicht nur nicht mehr das ‘Gemeinsame’ ist, sondern Ausdruck wie Ergebnis vorgenommener ‘Selbstgeneralisierung’ wird. All das aber legt nahe, die Hobbessche Konstruktion des Gesellschaftsvertrags so zu interpretieren, dass sie – mindestens auch – als Antwort auf problematische Sozialität und nicht bloß ‘kriegerische Individualität’ qua “Erhaltung seiner eigenen Natur” (Hobbes 1966, 99) gelesen werden kann: auch wenn Hobbes immer wieder eingestreute Hinweise, dass sich der ‘Naturkriegszustand’ auch einer Anerkennungsproblematik verdanke (vgl. Hobbes 1966, 95 u.ö.), die im “Wetteifer um Anerkennung” (ebd. 76) zu einem “rastlosen Verlangen nach immer neuer Macht” (ebd. 75) führe, sich nicht seinem individualtheoretischen Aufriss des Naturzustands widerspruchsfrei einfügen, so markieren sie doch jenen bedeutungsvollen ‘hermeneutischen Kontext’, auf den der Vertrag als Antwort justiert werden soll; es sind die erst im aufeinander bezogenen sozialen Zusammenleben erlebbaren und wirksamen “Konfliktsursachen” wie “Konkurrenz”, “Mißtrauen” und “Ruhmsucht” (ebd. 95), die “in der menschlichen Natur” (ebd.) liegen und den Naturzustand – so Hobbes – so unerträglich gestalten: “Denn jedermann sieht darauf, daß ihn sein Nebenmann ebenso schätzt, wie er sich selbst einschätzt, und auf alle Zeichen von Verachtung oder Unterschätzung hin ist er von Natur aus bestrebt, soweit er es sich getraut (was bei weitem genügt, Menschen, über denen keine allgemeine, sie zum stillstand zwingende Macht steht, dazu zu bewegen, daß sie sich gegenseitig vernichten),
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seinen Verächtern durch Schädigung und den anderen Menschen durch das Exempel größere Wertschätzung abzunötigen” (ebd. 95). Die aber erlaubt, die ‘natürlich’ etablierte Unabhängigkeit nicht als Problem, sondern als bereits in den Problemaufriss ‘hineingeheimniste’ Antwort zu verstehen, so dass Zerlegung wie Neuzusammensetzung von Sozialität daher auch der Etablierung einer allgemeinen sozialen Struktur dienen, in der die Menschen voneinander getrennt sind und sich – trotz aller Generalisierung – zueinander in ein Verhältnis der Komparation gesetzt sehen. Nicht weil die Menschen einander Wölfe sind, so ließe sich vermuten, sondern weil sie für sich selbst ‘unvollständig’ sind und sich so aneinander verwiesen sehen, geraten sie in einen ‘Kriegszustand’, auf den qua Vertrag allein souveränitätstheoretisch zu antworten hinsichtlich der Angemessenheit dieser Antwort bezweifelt werden kann177. Die Geschichte des vertragstheoretisch argumentierenden jüngeren Naturrechtsdenkens lässt sich daher auch als Geschichte der Modifikationen des von Hobbes entworfenen Aufrisses menschlicher Sozialität verstehen: einerseits als Korrekturen des Naturzustands, so wie sie insbesondere von Locke vorgenommen worden sind, andererseits als Korrekturen des ‘Allgemeinen’, wie sie bei Rousseau deutlich geworden sind. In ihnen bleibt aber die Grundfigur einer gleichzeitigen ‘Individualisierung und Totalisierung’ durchgängig erhalten178. 177 In seinen ‘metakontraktualistischen Betrachtungen’ erörtert Kersting verschiedene vertragstheoretische Schwierigkeiten (vgl. Kersting 1994, 19-58); sie lassen sich bündeln in der Frage nach der legitimatorischen Kraft und Zustimmungsfähigkeit solcher Verträge – sei es, weil sie freiwillig eingegangen sind, sei es, weil sie über die Generationendifferenz hinweg verbindlich gemacht werden müssen. Kerstings auch skeptisches Urteil belegt die offensichtlichen Schwierigkeiten einer ‘vertragstheoretischen Didaktik’: “denn noch vorteilhafter als ein Zustand, in dem alle ihre Kooperationsopfer der Vertragstreue bringen und darum die Kooperationsverfassung der menschlichen Welt in Geltung ist, ist ein Zustand, in dem die Kooperationsverfassung der moralischen Welt durch hinreichend große Kooperationsopferbereitschaft der anderen wirksam ist, man selbst aber die Kosten der Vertragstreue spart. Die aus dem Selbstinteresse geborene moralische Welt läuft also Gefahr, durch Selbstinteresse unterminiert und durch Moralparasitismus ausgehöhlt zu werden” (ebd. 52). 178 Auch wenn die Differenzen innerhalb des nachfolgenden kontraktualistischen Diskurses durchaus erheblich sind, sei hier auf deren weitere Entfaltung verzichtet; vgl. dazu ausführlicher wiederum Kersting 1994, der neben Locke und Rousseau auch die naturrechtlichen Überlegungen Kants und Hegels rekonstruiert und als Variationen des “großen Hobbesschen Vorbild[s]” (Kersting 1994, 109) interpretiert. Nicht unerwähnt sei zweierlei: Lockes Korrektur des Naturzustands zu einem “Rechtsanspruch auf vollkommene Freiheit” (Locke 1977, 253) zieht auch eine Relativierung des Souveräns und Ermäßigung seiner Macht nach sich, vermag doch Hobbes’ ‘Selbstauslieferungsvertrag’ – “Das heißt die Menschen für solche Narren zu halten, daß sie sich zwar bemühen, den Schaden zu verhüten, der ihnen durch Marder und Füchse entstehen kann, aber glücklich sind, ja, es für Sicherheit halten, von Löwen verschlungen zu werden” (ebd. 258) – nicht zu überzeugen; sie geht zugleich einher mit einer Neubewertung des Eigentums (vgl. ebd. 278). Aber auch Rousseaus Umkehrung des Hobbesschen Grundgedankens ‘rex est populus’ zu ‘populus est rex’ (vgl. Kersting 1994, 93, 148) markiert in ihrer Neukonstruktion des ‘Allgemeinen’ als ‘volonté générale’ nicht nur keinen grundsätzlichen Bruch im kontraktualistischen Denken; vielmehr interpretiert sie Kersting – trotz Rousseaus Insistenz auf der Freiheit der Menschen (vgl. ebd. 154 wie Rousseau 2001, 55ff.) – als Radikalisierung der Entäußerung zu einer ‘aliènation totale’ (vgl. Kersting 1994, 148 wie 171): “Rousseaus Republik also überbietet den Absolutismus des Leviathan mühelos. Die Rousseausche Gemeinschaft duldet keinen Bereich nicht-vergesellschafteter Subjektivität, keinen Interpretationsvorbehalt für Selbsterhaltungsfragen. Es gibt keinen entäußerungsresistenten Freiheits- und Rechtskern bei Rousseau. In seinem Gesellschaftsvertrag wird das Individuum von der Gemeinschaft mit Haut und Haaren verschlungen” (ebd. 149). Auch wenn bei Rousseau im ‘contrat social’ die Gemeinschaft der Vertragschließenden selbst die Souveränitätsposition einnimmt, so ist – bei aller aktiver Herrschaftsteilhaberschaft – auch der Grad der Herrschaftsunterwerfung
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Vor diesem – hier schematisch skizzierten – Hintergrund politisch-sozialen Denkens kann die Besonderheit des deutschen jüngeren Naturrechtsdenkens als Gleichzeitigkeit von und Ambivalenz zwischen aristotelischer und kontraktualistischer Orientierung verständlich gemacht werden; es ist insbesondere Samuel Pufendorf – bisweilen als einer der “größten aller Naturrechtslehrer” (Ilting 1978, 287) eingeschätzt –, dessen in seinem Werk ‘De iure naturae et gentium’ (1672) vorgenommenen Weichenstellungen die politischen Diskurslinien bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bestimmt und vorgezeichnet haben. So fungierte das Naturrecht Pufendorfschen Zuschnitts bis hin zu Kants Vernunftrecht unangefochten als politische Philosophie des absolutistischen Wohlfahrtsstaates (vgl. Klippel 1987), die sich zwar durchaus eines kontraktualistischen Vokabulars bediente, sich aber dessen individualistischen Implikationen mit Hilfe eines Restaristotelismus natürlicher Sozialität weitgehend entzog. Damit folgte Pufendorf durchaus der bereits bei Grotius formulierten Maxime, die – unter der Bedingung der bloß theoretischen Gottlosigkeit entwickelt (etsi deus non daretur) – den Rechtsgedanken in einem der menschlichen Natur von Anfang an zugehörigen ‘appetitus societatis’ begründete, so dass ‘socialitas’ und nicht individuelle Selbsterhaltung zum zentralen Grundbegriff des deutschen Naturrechtsdenkens werden konnte (vgl. HWPh IX, 1113f.), in dem das aristotelische ‘LJÊǐǎ ǑǐnjNJǕNJNjǝǎ’ noch unüberhörbar nachklingt; zugleich erlaubte Althusius aristotelisch gedachter “Consociationsvertrag” (Kersting 1994, 222) die Übernahme kontraktualistischer Argumente, ohne damit den Grundgedanken einer naturgegebenen und gottgewollten Gesellschaftlichkeit der Menschen preisgeben zu müssen179. Der bei Pufendorf zugrunde gelegte ‘status naturalis’ ist nicht nur erheblich freundlicher ausgestattet als der Hobbessche ‘status belli’, sondern auch von Anfang an ein Naturrechtszustand: auch wenn in einer gewissen Hinsicht dieser auch als “natürliche Freiheit” (Pufendorf 1994, 143) bezeichenbare Zustand, in dem der Mensch “selbständig und in eigener Machtvollkommenheit lebt und keines Menschen Befehlsgewalt unterworfen” (ebd. 143) ist, dadurch gekennzeichnet ist, dass er “mit allen Mitteln für die Erhaltung seines Körpers und seiner Lebens zu sorgen und alles fernzuhalten [hat], was ihm seiner Ansicht nach schadet” (ebd. 144), so überwiegt doch in Pufendorfs Auslegung des Naturzustands die ‘imbecellitas’ der Menschen, die diese aneinander verweist und miteinander verknüpft: “Jene Lage der menschlichen Natur [...] würde wahrlich elender sein als die eines jeden wilden Tieres, wenn man sich vor Augen hält, wie schwach der Mensch diese Welt betritt, zum Sterben verurteilt ohne Hilfe anderer. Und wie dürftig wäre das Leben, das erfahren müßte, wenn ihm nichts anderes zur Verfügung stünde als das, was er seinen eigenen Kräften und seinem eigenen Geist verdankt. Daß wir trotz so großer Schwäche aufwachsen können, daß wir ungezählte erheblich gestiegen. Rousseaus berühmt gewordene Formel – “Chacun de nous met en commun sa personne et toute sa puissance sous la suprême direction de la volonté générale; et nous recevons en corps chaque membre comme partie indivisible du tout” (Rousseau 2001, 57) – markiert daher nicht nur eine Präzisierung, sondern auch eine Stärkung der Interpretation von Sozialität als eines homogenen Allgemeinen und (geradezu totalitären) Ganzen; Souveränität ist – weil unveräußerlich, unvertretbar, unteilbar und unfehlbar – gerade nicht (wie noch bei Locke) liberale Einhegung von Willkürfreiheit, sondern Konstruktion strikt verbindlicher politischer Allgemeinheit (vgl. Kersting 1994, 176f.). 179 Im folgenden beziehe ich mich in der Rekonstruktion Pufendorfs auf die von Luig vorgelegte deutsche Übersetzung der als präzises Kompendium geltenden (vgl. Luig 1994, 217 wie 224) Schrift ‘De officio hominis et civis juxta legem naturalem’ (1673) (vgl. Pufendorf 1994).
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Annehmlichkeiten genießen, daß wir Geist und Körper zu unserem und anderen Nutzen ausgebildet haben, all das beruht auf der Hilfe anderer Menschen” (ebd. 141f.; vgl. auch ebd. 45f.). Kaum verwunderlich ist daher, dass Pufendorf ‘Selbsterhaltung’ ausschließlich sozial zu denken vermag, ist doch der Mensch “auf sich allein gestellt ganz hilflos” und “nicht in der Lage, ohne Unterstützung von seinesgleichen zu überleben” (ebd. 47). Kurz: allein schon “um zu überleben”, muss der Mensch “ein Leben in der Gemeinschaft führen, d.h., er muß sich mit seinen Mitmenschen zusammentun und sich ihnen gegenüber so betragen, daß sie ihrerseits nicht jeden Vorwand ergreifen, ihm zu schaden, sondern stattdessen bereit sind, auch seinen Vorteil zu wahren und zu fördern” (ebd. 47f.). Unterscheidet sich diese sozialtheoretische Auslegung des Naturzustands bereits erheblich vom individualtheoretischen Aufriss Hobbes, so markieren die von Pufendorf daraus gezogenen Folgerungen eine ums Ganze verschobene Perspektive: nicht Negation von willkürlicher Gewalt qua Konstitution einer Souveränität und Unterwerfung unter dieselbe, sondern Ermöglichung “angenehmen Lebens” durch “gegenseitige Förderung” (ebd. 47) und sozialen Zusammenschluss bestimmen das politische Denken, ist doch “all das, was das Leben des Menschen an Annehmlichkeiten bietet, das Ergebnis gegenseitiger menschlicher Hilfe. Neben Gott gibt es nichts auf der Welt, was dem Menschen mehr nützen kann als der Mensch selbst” (ebd. 48). Im Wissen um die weit verbreiteten Neigungen und Fähigkeiten der Menschen, “sich gegenseitig Schaden zuzufügen” (ebd. 47), bestimmt Pufendorf die “Grundregel des Naturrechts” (ebd. 48) gerade nicht negativ, sondern positiv – das heißt sozial: “Jeder muß die Gemeinschaft nach Kräften schützen und fördern. [...] Gebot des Naturrechts ist alles, was für das Leben in der Gemeinschaft notwendig und nützlich ist; was stört und schadet, ist verboten. Alle übrigen Vorschriften, deren Richtigkeit im Lichte der natürlichen Vernunft, die dem Menschen gegeben ist, unmittelbar einleuchtet, sind nur Folgesätze dieses obersten Grundsatzes” (ebd. 48). Nur folgerichtig sind die “Pflichten aller gegen alle” nach der Erörterung der “Pflichten gegen Gott” und “gegen sich selbst” (vgl. ebd. 51-58 und 59-71)180 zentrales naturrechtliches Lehrstück und durch ‘Schädigungsverbot’ (vgl. ebd. 72-77), ‘Anerkennung der natürlichen Gleichheit der Menschen’ (vgl. ebd. 78-81), die Pufendorf erstmalig “in einer gewissen Würde” (ebd. 78) der Menschen situiert, wie ‘Förderungsgebot’ anderer bestimmt: “Unter den Pflichten aller gegen alle, die mit Rücksicht auf das gemeinsame Leben in der Gesellschaft zu erfüllen sind, steht an dritter Stelle: Jeder muss den Vorteil des anderen fördern, soweit er es ohne eigene Einbuße kann. Da nämlich von Natur aus eine Verwandtschaft zwischen allen Menschen besteht, wäre es zu wenig, die anderen nicht zu verletzen oder zu verachten. Vielmehr muß man den anderen alles zuteil werden und sich alles gegenseitig zukommen lassen, woraus das gegenseitige Wohlwollen unter den Menschen gespeist wird. Wir nützen aber den anderen entweder mittelbar oder unmittelbar und auch ohne eigenen Nachteil oder unter Opfern” (ebd. 82). In der von Pufendorf entwickelten Logik kommt nun dem Vertrag eine für die Staatenbildung nur noch 180 Während die Aufnahme der ‘Pflichten gegen Gott’ in diesem Aufriss Pufendorfs (und an dieser zentralen Stelle) nicht überrascht, bestätigt ein genauerer Blick in die ‘Pflichten des Menschen gegen sich selbst’ Pufendorfs prinzipielle soziale Justierung: “Die Liebe des Menschen zu sich selbst ist im Menschen fest verankert. Sie bringt ihn dazu, sich selbst sorgsam zu erhalten und auf alle erdenkliche Weise für den eigenen Vorteil zu sorgen. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es also überflüssig, von einer [naturrechtlichen] Verbindlichkeit zu sprechen. Aber in anderer Hinsicht ist der Mensch verpflichtet, bestimmte Grundsätze in bezug auf die eigene Person einzuhalten. Er ist nämlich nicht für sich allein in der Welt, sondern ist mit hervorragenden Gaben von seinem Schöpfer versehen worden, um seinen Ruhm zu preisen und als nützliches Glied der Gesellschaft zu leben. Aus diesem Grund ist der Mensch verpflichtet, sich so zu verhalten, dass er die Gaben des Schöpfers nicht infolge mangelnder Pflege verderben lässt und nach seinen Kräften einen Beitrag zu der menschlichen Gesellschaft leistet. So gereicht zwar die eigene Ungeschicklichkeit am meisten einem jeden selbst zu Schaden und Schande. Dennoch bekommt der Schüler zu Recht Schläge vom Lehrer, wenn er Fertigkeiten nicht erwirbt, zu denen er in der Lage ist” (ebd. 59). Aber auch im Verbot der Selbsttötung (vgl. ebd. 60) wie der Selbstverstümmelung (vgl. ebd. 68) fungiert der Verweis auf prinzipielle Sozialität an zentraler Stelle.
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nebengeordnete Bedeutung zu, um die “Strafe [...] stets der bösen Tat auf dem Fuße” (ebd. 162) folgen lassen zu können, sind doch weder Gottesfurcht noch Anderenunterstützung “genügend stark, die Menschen von schlechten Taten abzuhalten” (ebd.). Wohlfahrt und Sicherheit (ebd. 165; vgl. auch Lüdtke 1992) markieren daher die Leitlinien politischen Denkens und Handelns, Strafgewalt und Festlegung des ‘bonum commune’ ihre praktischen Mechanismen (vgl. Pufendorf 1994, 164f.), sowohl der beobachtbaren “Verschiedenheit der Neigungen und Ansichten bei der Beurteilung dessen, was für die Erreichung des Ziels am besten ist” (ebd. 164), als auch der verbreiteten “Trägheit und Abneigung, etwas freiwillig zu tun, was von aller Nutzen ist” (ebd.), entgegen zu wirken. Für die Etablierung dieser Instanz aber ist Vertragsschluss – sei es ausdrücklich oder bloß stillschweigend – unverzichtbar: einmal als ‘Zusammenschluss zu einer Gemeinschaft’ qua Gesellschaftsvertrag (pactum unionis), einmal als ‘Beschluss über die Regierungsform’ qua Unterwerfungsvertrag (pactum subiectionis) (vgl. ebd. 165): “erst aus der richtigen Durchführung dieser Verträge entsteht ein sachgerechter und vollkommener Staat” (ebd. 165).
Es ist dieser um ‘Wohlfahrt’ und ‘Sicherheit’ kreisende Sozialitätsaufriss, der die naturrechtliche Tradition im deutschen politischen Denken kennzeichnet und sich bis in die praktische Politikgestaltung des absolutistischen Wohlfahrtsstaates durchsetzt181: nicht nur, weil die Konstitution des politischen Körpers mit Hilfe eines vereinheitlichenden, durchsetzungsstarken souveränen Willens der Etablierung eines die Gesellschaft als Staat ermöglichenden ‘Gemeinsamen’ dient, so dass sich das Bündnis zwischen naturrechtlichem Eudämonismus und politischem Absolutismus im ‘absoluten Fürstenrecht’ und ‘bedingungslosem Untertanengehorsam’ konkretisieren kann; sondern auch, weil durch die Integration kontraktualistischer Argumente in einen gerade nicht individualtheoretisch verfassten Aufriss von Sozialität deren – insbesondere bei Rousseau deutlich werdende – ‘republikanische Sprengkraft’ weitgehend abgewehrt werden konnte: “die natürliche Freiheit, vor der sich staatliche Herrschaft [seit Hobbes] rechtfertigen muß, verliert durch ihre Einbettung in eine Sozialitätsnatur die Rolle einer den gesamten Argumentationsgang bestimmenden normativen, legitimationstheoretischen Ausgangsprämisse” (Kersting 1994, 228)182. So wird die Herstellung und Bewahrung von gemeinschaftlicher Ordnung zu einem obrigkeitsstaatlichen Projekt, das nicht mehr auf eine göttlich vorgegebene, die empirische Realität transzendierende Gerechtigkeitsvorstellung zurückgeht, sondern zunehmend zum bloß temporären und prekären Resultat politischer Auseinandersetzungen wird und insofern Inbegriff einer staatlich gestifteten und garantierten Ordnung ist (vgl. Sonntag 1999, 100ff.).
181 So ist auch noch das preußische ‘Allgemeine Landrecht’ von 1794 von dieser ambivalenten Soziallogik bestimmt, in der zwar die “natuerliche Freiheit, sein eigenes Wohl [...] suchen und befördern zu können” (ALR, Einleitung § 83), anerkannt und zugestanden wird, um sie dann sogleich am Gemeinwohl auszurichten: “Ein jedes Mitglied des Staates ist, das Wohl und die Sicherheit des gemeinen Wesens, nach dem Verhaeltnis seines Standes und Vermoegens, zu unterstuetzen verpflichtet” (ebd. § 73). Folgerichtig lautet einer der bekanntesten Formulierungen: “Einzelne Rechte und Vortheile der Mitglieder des Staates muessen den Rechten und Pflichten zur Befoerderung des gemeinschaftlichen Wohls, wenn zwischen beiden ein wirklicher Widerspruch eintritt, nachstehen” (ebd. § 74). 182 Vgl. zu Differenzen im deutschen Naturrechtsdenken auch ausführlicher Kersting 1994, 218-249 wie auch Stolleis 1988.
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III. Patriarchalische Herrschaftsform und fürsorgliche Gewalt materialisieren sich dabei in dem Begriff der ‘guten Policey’, der – bereits erstmalig im 15. Jahrhundert notiert (vgl. Knemeyer 1978) – schließlich zum Kenn- und Markenzeichen der obrigkeitsstaatlichen Regierungspraktiken avancierte und so den Wandel der Ordnungsvorstellungen “vom ordos zur policey” (Sonntag 1999, 101; vgl. auch Nitschke 1992) illustriert. Mit ihm ist “zuerst die ganze innere Ordnung und dann der diese garantierende Herrschaftsapparat” (Brunner 1980, 53) bezeichnet, so dass ‘Policey’ schließlich zum Kernstück neuzeitlicher ‘Sozialdisziplinierung’ (vgl. Oestreich 1969) werden konnte und neben dem “Zustand der guten Ordnung für ein Gemeinwesen” auch deren “Gesetze” wie “Mittel und Wege zur Herstellung und Durchsetzung eben dieses guten Zustands bzw. Gesetzes” (Nitschke 1992, 12) bezeichnete. Anders als heute beschränkte sich ihre Bedeutung dabei nicht auf eine eng gefasste und weitgehend negative Aufgabendefinition – wie Gefahrenabwehr, Strafvereitelung und -verfolgung –, sondern markierte über ‘Sicherheit’ hinaus die umfassende Herstellung und Gewährleistung einer stabilen inneren Ordnung des absolutistischen Gemeinwesens als ganzem, welche die Förderung der (materiellen) ‘Wohlfahrt’ und (ideellen) ‘Glückseligkeit’ der Untertanen mit der Stärkung des Staates verknüpfte und identifizierte (vgl. Rassem 1992). Die Besonderheit der politischen Praxis der ‘guten Policey’ bestand daher darin, zwischen privaten und öffentlichen Angelegenheiten ebensowenig zu unterscheiden wie zwischen ökonomischen und moralischen Fragen; so umfasste der Themenkatalog der territorial (und nicht mehr personal) für verbindlich erklärten ‘Policey-Ordnungen’ alle Probleme menschlichen Zusammenlebens – von ‘Gottesdienst’, ‘Sonntagsheiligung’ und ‘Gotteslästerung’ über ‘Eheschließung’, ‘Aufwand bei Hochzeiten’, ‘Kindtaufe’ und ‘Kindererziehung’ wie ‘Kleiderordnung’, ‘Bettelordnung’ und ‘Begräbnisbeschränkungen’ bis hin zu ‘Eigentum’, ‘Gewerbe’, ‘Handel’ und ‘Abwendung von Wucher’ (vgl. Oestreich 1980, 370) –, die nicht eindeutig unter die Begriffe “‘Frieden’ und ‘Recht’” (Knemeyer 1978, 875) fielen und damit als klassische Herrschaftsaufgaben definiert waren. Neben der erheblichen Zunahme des Umfangs der staatlich zu regelnden Bereiche änderte sich auch deren Logik, markiert doch die neue Rationalität der Regierung – jene Gouvernementalität Foucaults (vgl. Foucault 2000) – eine strategische Umkehrung: ‘Glück’ und ‘Wohlfahrt’ sind nicht länger Resultat und Ziel einer guten Regierung, die darin ihrer Sorgepflicht für das ihr von Gott anvertraute Gemeinwesen nachkam, sondern notwendige Voraussetzung und insofern unverzichtbares Mittel für das Überleben und die produktive Stärke eines Staates, so dass schließlich der Begriff der ‘Policey’ im 18. Jahrhundert zur Bezeichnung von Theorie und Praxis obrigkeitsstaatlicher Verwaltung diente, mit ‘innerer Verwaltung’ gleichgesetzt werden konnte und in seiner produktiven, nun auf den Staat ausgerichteten Bedeutungsfassung festgeschrieben wurde. Die ‘Welt der Policey’ ist eine Welt umfassender Regelungen und derer detaillierten Überwachung, erfordert doch die Herstellung und Sicherung der ‘guten Ordnung’ nicht nur Formen der kollektiven Regierung der Bevölkerung, sondern ebenso der permanenten Aufsicht und Kontrolle des Verhaltens der einzelnen. Ihr neuzeitli-
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cher Durchbruch und Wandel markiert dabei nicht nur die Auf- und Ablösung der traditionellen Ständeordnung (vgl. Maier 1986, 62f. wie 68), sondern auch die Etablierung einer veränderten Herrschaftsform, die im Konzept der ‘Sozialdisziplinierung’ (Oestreich) ihre – weithin geteilte – geschichtstheoretische Auslegung gefunden hat183: so zielt der Begriff der ‘Sozialdisziplinierung’ nicht nur auf die bloße Ausübung von Gewalt zu herrschaftlichen Zwecken, sondern bezeichnet eine spezifische “Beziehung zwischen den das politische Gebilde und Gemeinwesen beherrschenden Gruppen und seinen Mitgliedern”, die nicht nur und zunehmend weniger gewaltsam-repressiv ist, sondern auch “integrativen, ‘sozialisatorischen’ Charakter nach der Seite der Mitglieder hin hat, regulierenden oder steuernden nach der Seite der Struktur oder Ordnung dieses Gemeinwesens” (Sonntag 1999, 132). Entscheidend ist dabei, dass ‘Regierung’ nicht mehr auf den bloßen Machtwillen oder die faktische Macht der Herrschenden zurückgeführt werden kann, sondern – nahezu umgekehrt – aus der vorgängigen Determinierung von Strukturen und Ordnung resultiert, auf die der herrschaftliche Wille zwar zugreift, die er aber selbst nicht hervorbringt. Dabei verdankt sich diese offenkundige “Explosion der Menschenregierungskünste” (Foucault 1992, 10) auch der veränderten Einsicht, dass Macht nicht bloß als ‘repressive Herrschaft’ und ‘Gewalt’ praktiziert werden kann, sondern selbst als ‘Führungskunst’ entwickelt und vervielfältigt werden muss, die an den konkreten Lebensvollzügen der Menschen und den Bedingungen derselben ansetzen muss (vgl. Foucault 1992). Unverzichtbar ist daher ein auch empirisch begründetes, umfassendes Wissen um Sozialzusammenhänge, das – seit Ende des 17. Jahrhunderts – zur Ausdifferenzierung und Etablierung der ‘Policey-Wissenschaften’ als einem überaus zentralen Kernstück der ‘Staatswissenschaften’ geführt hat184. Entwicklung wie Struktur der neuzeitlichen ‘Policey-Wissenschaft’ sind vielfach rekonstruiert und kommentiert worden und lassen den Wandel der Vorstellungen und Praktiken jeweiliger ‘guter Ordnung’ nachvollziehen: seit 1727 sogar universitär institutionalisiert (vgl. Toppe 1999, 50 wie Pauly 2000, 33-38) markiert die Ausdifferenzierung der ‘Policey-Wissenschaften’ eine Besonderung im deutschen Diskurs, die – trotz der Verbreitung der älteren policeylichen Literatur des 15. und 16. Jahrhunderts auch in anderen europäischen Ländern wie Frankreich oder England – ein singuläres Ereignis (Toppe 1999, 51) ist, das für die Entfaltung des deut-
183 Das von Oestreich im historischen Diskurs eingeführte Konzept der Sozialdisziplinierung zur Interpretation neuzeitlicher Veränderungsprozesse hat – wenn auch mit Modifikationen – weitgehend Zustimmung erhalten und kann als das analytische Paradigma des ‘aufgeklärten Absolutismus’ gelten; vgl. dazu Oestreich 1969 wie 1980 und auch Breuer 1983, 1986 wie 1987, Sachße / Tennstedt 1986 und Sachße / Engelhardt 1990 wie jüngst Sonntag 1999 und Türk u.a. 2002. In ähnliche Richtung zielen auch Foucaults Überlegungen zur Formierung einer Disziplinargesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert (vgl. insbes. Foucault 1976). 184 Vgl. dazu auch Foucault 1988c und 1992, der zugleich darauf aufmerksam gemacht hat, dass ‘Regierungsentfaltung’ und ‘Vervielfältigung’ mit der Intensivierung von ‘Kritik’ und ‘Entunterwerfungspraxen’ zusammenhängen und sich wechselseitig bedingen wie beeinflussen, so dass das, was als ‘Negation’ beginnt, nur wenig später als ‘Projekt’ von Interesse ist. Ausführlichere Überblicke in Maier 1986, Knemeyer 1967 wie 1978, Stolleis 1988, 1992 und 1996 wie Nitschke 1992, Toppe 1999 und Pauly 2000; dass dabei ‘Policey’ wie auch ‘Policey-Wissenschaften’ zunehmend ein nicht mehr ausschließlich historisch bedingtes Forschungsinteresse auf sich gezogen haben (vgl. Seitter 1985, Toppe 1999, Sonntag 1999, Türk u.a. 2002), ist auch Ausdruck für die wachsende Problematisierung von – historischen wie gegenwärtigen – Sozialitätsvorstellungen und -praktiken.
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schen Sozialitätsverständnisses von überaus großer Bedeutung ist. So dokumentieren die vielfältigen ‘policeywissenschaftlichen’ Schriften – angefangen mit Oldendorps früher Erörterung ‘Van radtslagende, wo men gude Politie und ordenunge, ynn Steden und landen erholden möghe’ (1530) und Obrechts ‘Fünff Unterschiedliche Secreta Politica von Anstellung, Erhaltung und Vermehrung guter Policey’ (1617/1644) über Bechers ‘Politischen Diskurs’ (1673) und Laus ‘Entwurff einer wohleingerichteten Policey’ (1717) bis hin zu den bekannten Handbüchern Justis (vgl. Justi 1760/1761 und 1782), Sonnenfels (vgl. Sonnenfels 1787) und schließlich Mohls (vgl. Mohl 1832/1833)185 – nicht nur die wachsende enorme Verbreitung wie Zentralität dieses Diskursfeldes, sondern erlauben, den sich darin abzeichnenden Wandel zunächst als einen Prozess der Ausdifferenzierung zu verstehen: als zunehmende Ausdehnung der traktierten Inhalte einerseits wie als damit durchaus einhergehende Einengung ‘policeylicher Gegenstände’ durch sukzessive Ausgliederung rechtlicher, finanzieller und – überaus spät – auch wohlfahrtlicher Fragestellungen (vgl. Knemeyer 1978, 881ff. wie 889f.) im modernen Begriff der ‘Sicherheitspolizei’ (vgl. auch Toppe 1999, 42-62) andererseits. So lässt sich – exemplarisch für das 18. Jahrhundert – an der Bestimmung der ‘Policeywissenschaft’ durch Justi deren grundsätzliche Justierung als einer Staatswissenschaft studieren: ausgehend von naturrechtlichen Überlegungen über das Zusammenleben der Menschen “im Stande der natuerlichen Freiheit” (Justi 1760, 3), in dem viele einzelne Familien zwar miteinander existieren, ohne jedoch “ihre Kraefte und ihren Willen mit einander vereiniget [zu] haben” (ebd.), so dass eine jede nur “ihre besondere Wohlfahrt” (ebd.) verfolgt, bestimmt Justi die Differenz der “Staaten von denen Gesellschaften in dem Stande der natuerlichen Freiheit” (ebd.) darin, dass die Menschen erst in ersteren “ihre Kraefte und ihren Willen mit einander vereinigen [können], um ihre gemeinschaftliche Gueckseeligkeit zu befoerdern” (ebd.). Endzweck eines jeden Staates ist daher, “alle einzeln Kraefte [...] zu dem allgemeinen Endzwecke der gemeinschaftlichen Glueckseeligkeit” und “ueberdieß auch alle einzelne Willen in einem gesamten Willen mit einander” zu vereinigen (ebd.). Nur folgerichtig bestimmt Justi: ”Ein jeder muß seinen besonderen Willen dem vereinigten Willen unterwerfen; und gleichwie sich der vereinigte Wille des Volkes auf keine andere Art als durch die Gesetze erklären kann, so muß man zufoerderst Grundgesetze machen, in welchen festgesetzet wird, auf was Art sich dieser vereinigte Wille erklaeren soll; das ist, man errichtet eine oberste Gewalt und bestimmet die Art und Weise ihrer Ausuebung” (ebd. 4). Aufgabe dieser ‘obersten Gewalt’ ist es, “das Wohl einer jeden besondern Familie mit dem allgemeinen Besten zu vereinigen” (ebd.); erst aus der Vereinigung beider resultiert des Staates “Macht und Glueckseeligkeit” (ebd. a2), so dass die ‘Policeywissenschaften’ “in der That die Grundveste des Staats” (ebd.) ausmachen. Es ist diese Maxime, die die policeywissenschaftliche Arbeit durchgängig bestimmt und von anderen Wissenschaften wie der “Staatskunst, der Finanzwißenschaft und andern Regierungswißenschaften” (ebd. 4f.) unterscheidet. Entscheidend ist jedoch, dass die Orientierung am ‘gemeinen Besten’ nicht (bloß) Zweck an sich selbst ist, sondern Bedingung der Möglich185 Eine breit angelegte Übersicht über policeywissenschaftliche Quellen bieten Maier 1986, 297-302 wie Toppe 1999, 239-244; in seiner Studie zur Wissenschaftsgeschichte des öffentlichen Rechts rekonstruiert Pauly eine eher unbekanntere Tradition policeywissenschaftlichen Denkens (vgl. Pauly 2000). Dass insbesondere Justis ‘Grundsätze der Policey-Wissenschaft’ (vgl. Justi 1782) wie deren weitere Entfaltung und Systematisierung in seinem zweibändigen Handbuch ‘Die Grundfeste zu der Macht und Glückseeligkeit der Staaten oder ausführliche Vorstellung der gesamten Policey-Wissenschaft’ (1760/1761; vgl. Justi 1760 und 1761) zum bekanntesten und überaus exemplarischen Text der gesamten ‘Policeywissenschaften’ avancieren konnten, verdanken sie nicht nur ihrer Erörterung durch Foucault (vgl. Foucault 1988c wie 1994a); vielmehr markiert Justi den Übergang vom ‘akademischen Kameralismus’ zum ‘wissenschaftlichen System’, bezeichnete er doch seine ‘Grundsätze’ als das “erste vollstaendige und wohlabgesonderte der Policey-Wissenschaft” (Justi 1782, V), das sich nicht mehr kasuistisch präsentiert. So ist es daher wenig erstaunlich, dass seine – wie allerdings fast jede – Erörterung der ‘Policey-Wissenschaften’ ihren Anfang in einer gegenüber der Tradition sich absetzenden und präzisierenden Bestimmung ihres Gegenstandes nimmt (vgl. exemplarisch Justi 1760, a2ff.).
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keit einer “gruendlichen und dauerhaftigen Glueckseligkeit eines Staats” (ebd. 7) ist; wird sie aufgegeben zugunsten der bloß “besondern Wohlfahrt der einzeln Familien” (ebd.) oder dem jeweiligen “Beste[n] der obersten Gewalt und des Regenten” (ebd. 9), so sind beide “von keiner langen Dauer” (ebd. 7): der Staat wird “alsdenn [...] nach und nach alle seine Kräfte” (ebd.) verlieren und ist “vom Untergang” (ebd. 8) bedroht. Entlang des policeywissenschaftlichen “allgemeinen Grundsatzes” – “man muß in allen innern Landesangelegenheiten die Wohlfahrt der einzeln Familien mit dem gemeinschaftlichen Besten, oder der Glueckseeligkeit des gesammten Staates, in die genaueste Verbindung und Zusammenhang zu setzen suchen” (ebd. 9) – systematisiert Justi die Gegenstände der ‘Policey’ nach ‘unbeweglichen’ und ‘beweglichen’ Gütern und Eigentum (vgl. ebd. 10-19) und benennt als “dritten großen Hauptgegenstand der Policey’ [...] die moralische Beschaffenheit, oder den sittlichen Zustand der Unterthanen” (ebd. 19), ist doch allein “Tugend [...] die allgemeine Triebfeder aller Staaten, ohne die sich eine buergerliche Verfaßung niemals eine wahre und dauerhaftige Glueckseeligkeit versprechen” (ebd. 19) kann. Was zunächst grob mit “Pflichten eines Buergers gegen den Staat und seine Mitbuerger” (ebd. 19) überschrieben ist, wird dann als “Treue gegen den Staat”, “Liebe des Vaterlandes” und “Eifer und Fleiß, dessen Bestes zu befoerdern”, wie als “Redlichkeit”, “Gerechtigkeit” und “Billigkeit in dem Betragen gegen unsere Mitbuerger”, “gemeinschaftlicher Beystand”, das “Aufnehmen des gesamten Nahrungsstandes” bestimmt und als Pflicht auferlegt, “den Betrug, die Bosheit, die Gewaltthätigkeiten und andere Frevelthaten im Staate auszurotten und die besondere, als öffentliche und vollkommene Sicherheit zu garantieren” (ebd. 20)186. Zweierlei Gefahren erzwingen dabei eine nicht nachlassende Intensität ‘policeylicher’ Aufmerksamkeit: da “in Ansehung der menschlichen Schwachheiten und Leidenschaften” dieser Gegenstand der Policey “nicht zur Vollkommenheit gebracht werden kann”, sondern auch (noch) durch die “Maaßregeln der Policey” selbst einem “nachtheiligen Einfluß” (ebd. 21) ausgesetzt wird, ist es unabdingbar, dem “Intereße und Eigennutz”, die sich “ungluecklicher Weise in alle Verwaltungen des gemeinen Wesens einmischen und die heilsamsten Einrichtungen verderben” und insofern “den groeßten Fehler und unseelige Hinterniß“ (ebd. 23) darstellen, dadurch entgegen zu arbeiten, dass er immer und überall auf das ‘gemeine Beste’ zurückbezogen wird (vgl. ebd. 22) und in der gegen “Schläfrigkeit und Trägheit” gerichteten Förderung von “Genie und Arbeitsamkeit” (ebd. 687) als die “einzige natürliche Triebfeder” der “Begierde nach dem Vorzuge” (ebd. 689 Anm.*) genutzt wird, “sich durch Geschicklichkeit, Fleiß und Arbeitsamkeit unter einander hervorzuthun” (ebd. 687). Angesichts der Orientierung an ‘gemeinschaftlicher Glueckseeligkeit’ ist aber dies ein durchaus überraschendes Instrumente policeylicher Regierung, das sich allein strategischen Überlegungen verdankt und den produktiven (und nicht bloß repressiven) Charakter policeylicher Praxis belegt: “Es giebt nur [...] zwey große Triebfedern, woraus alles Genie, Geschicklichkeit und Arbeitsamkeit eines Volkes entsteht. Das sind die Begierde, sich das Leben bequehm und angenehm zu machen und das Verlangen nach dem Vorzuge” (ebd. 689); doch während jene ‘Bequemlichkeitsbegierde’ erlöscht, sobald Sättigung eintritt, ist das Verlangen nach dem Vorzuge – ungeachtet “der urspruengliche[n] [...] Gleichheit” (ebd. 690) der Menschen – angesichts der sozial möglichen wie faktischen Ungleichheit geradezu unersättlich: “Es kommt lediglich auf die Regierung an, diese Begierde der Menschen nach dem Vorzuge solchergestalt zu leiten, daß daraus ein Trieb zur Geschicklichkeit und Arbeitsamkeit entstehet. Es ist weiter nichts noethig, 186 So bietet der zweite Band der Policey-Wissenschaften Justis (Justi 1761) einen eindrücklichen Einblick in die Weite und Tiefe der policeylichen Eingriffe in den ‘sittlichen Zustande der Unterthanen’, wird doch – angefangen bei Religion und Wissenschaften über häusliche Regierung und Kinderzucht (vgl. Justi 1761, 101-192) wie Verbrechens- und Feuersbekämpfung bis hin zu Trauer- und Kleiderordnungen nahezu jeder Bereich lebensweltlichen Zusammenlebens gemäß der Maxime des ‘gemeinen Bestens’ traktiert und reguliert. Ihm folgt eine fast ebenso lange, ausdrücklich verwaltungstheoretisch angelegte Erörterung ‘Von der Ausuebung und Verwaltung einer guten Policey’ (vgl. ebd., 441-651).
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als daß keine Wege in dem Staate vorhanden sind, zu Vorzuegen zu gelangen, als Geschicklichkeit und Arbeitsamkeit. [...] Alle Maasreguln der Regierung koennen in nichts anders bestehen, als diese Triebfedern mehr zu spannen, und wirksamer zu machen” (ebd.). Justi fährt direkt fort: “Dieses ist sogar sehr selten noethig. Diese Triebfedern sind an sich selbst ueberaus stark und wirksam. Es ist gemeinglich weiter nichts noethig, als daß die Regierung die Hinternisse aus dem Wege raeumet, welche die freye Wirkung dieser Triebfedern aufhalten. Ich muß hier dasjenige noch einmal wiederholen, was ich schon so oefters gesagt habe; naemlich die natuerlichen Triebfedern, Bewegungsgruende und Eigenschaften der Menschen sind also beschaffen, da daraus allemal die vortrefflichste Uebereinstimmung, sowohl zur Wohlfahrt der einzeln Familien, als zum gemeinschaftlichen Besten entstehet, wenn keine Hinternisse im Staate vorhanden sind, welche die natuerliche Wirkung dieser Dinge hemmen” (ebd.). So folgert Justi aus seinem Plädoyer zur Nutzung dieses “Triebs nach dem Vorzuge” (ebd. 690) vor allem zweierlei: “ein despotischer Regent und seine Minister, die gemeiniglich eine große Unwissenheit mit ihrer willkuerlichen Gewalt verbinden” (ebd. 691), richten ebenso wie die erzieherische Vernachlässigung der Jugend – “sie in einer großer Unwissenheit und Superstition” (ebd. 696) zu belassen – überaus großen Schaden an; sich beider Aufgaben daher zuzuwenden, ist auch Aufgabe policeylicher Tätigkeiten.
Justis Handbuch der ‘Policeywissenschaften’ stellt so nicht nur einen repräsentativen Aufriss derselben dar, indem dieser die Aufgaben der ‘Policey’ im Kontrast zur negativen Bestimmung der politischen Aufgaben als die positive Aufgabe entfaltet, “die konstitutiven Elemente des Lebens der Individuen dergestalt zu entwickeln, daß deren Entwicklung auch die der staatlichen Stärke fördert” (Foucault 1988c, 66); vielmehr ist mit ihm bereits auch ein Übergang markiert, in dem ‘Gemeinnutz’ und ‘Eigennutz’ gerade nicht mehr bloß oppositional gedacht werden müssen, sondern – wenn auch strategisch und noch unter dem Primat ‘gemeinschaftlicher Glueckseeligkeit‘ – aufeinander bezogen werden können. Damit deutet sich an, was exemplarisch am Wandel des Begriff der Glückseligkeit – vom frühen ‘gemeine Nutz’ des 16. Jahrhunderts (vgl. Sonntag 1999, 103ff.) über das staatlich ‘gemeinsame Beste’ schließlich zum (mehr oder weniger) individuellen ‘pursuit of happiness’ – nachvollzogen werden kann und als tiefgehende Umwertung vom traditionsreichen Integrationstheorem zum absolutistischen Leitbegriff verstanden werden kann, der schließlich in der liberalen Bestreitung der Einheit von Staat und Gesellschaft seine soziale Plausibilität gänzlich verlor und zu einem bloß subjektiven Begriff wurde (vgl. Engelhardt 1981). Was aristotelisch bis hin zur politischen Metaphysik eines Christian Wolff Be- und Kennzeichnung des naturrechtlichen Axioms war – “nämlich, daß die Menschen verbunden [sind], nebeneinander und miteinander zu leben” (Wolff, zit. Engelhardt 1981, 42) –, wird policeywissenschaftlich als Staatsendzweck zwar beibehalten, sukzessive als “Schlüsselbegriff der kameralistischen Staats- und Gesellschaftslehre” (Engelhardt 1981, 45) aber zur Phrase entleert (vgl. ebd. 44) – wie die geradezu stereotype und inhaltlich sich nicht präzisierende Formel der ‘Befoerderung der gemeinschaftlichen Glueckseeligkeit’ (Justi) belegt; Justis Eingeständnis – “allein, wenn man von mir verlangte, ich sollte erweisen, daß die Glückseligkeit der Unerthanen allenthalben der Hauptzweck von den Maßregeln der Regenten wäre, so würde ich diesen Erweis für so schwer halten, daß ich lieber alleruntertänigst bitten
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wollte, diese Arbeit einem andern aufzutragen” (Justi 1761, 73)187 – legt daher zweierlei nahe: einerseits, dass die Orientierung an ‘Glueckseeligkeit’ angesichts der faktischen Regierungspraxis des absolutistischen Wohlfahrtsstaates zum ideologischen Vokabular verkommen ist, das die obrigkeitliche Willkür und Gewalt zu kaschieren zunehmend weniger taugt; andererseits aber auch, dass die – wenn auch nur noch in Resten praktizierte – aristotelische Hintergrundannahme des Menschen als eines ‘LJÊǐǎ ǑǐnjNJǕNJNjǝǎ‘ angesichts wachsender Vernunftbestimmungen des Menschen an Plausibilität verloren hat. Dieser durch den “Verlust der aristotelischen Tradition” (Conze 1978, 207) bedingte Bruch im Denken lässt sich – geradezu mikroskopisch – auch im ‘policeywissenschaftlichen’ Denken selbst studieren und eindrücklich an der von Zincke 1759 besorgten und kommentierten Neuausgabe des Becherschen ‘Politischen Discurs’ von 1680 konkretisieren (vgl. Zincke 1759): bereits Bechers ‘Erster Satz’ (vgl. Zincke 1759, 9) – “Ehe ich den Anfang mache zu erweisen, worinnen das Aufnehmen eines Landes, oder einer Stadt bestehe, muß ich nothwendig zuvor erinnern, daß der Mensch, als die Materie der Republic, ein animal sociabile, oder gesellschaftliches Thier sey, und Gesellschaft suche” (ebd. 9f.), so dass “allein die menschliche Gesellschaft das menschliche Leben von dem viehischen unterscheidet” (ebd. 10) – zieht einen mehrseitigen Kommentar Zinckes nach sich (vgl. ebd. 10-16), in dem dieser – wie dann immer wieder vorgenommen – nicht nur die Unbestimmtheit Bechers moniert, sondern auch für Nachsicht diesem gegenüber plädiert; Zincke: “Man muß dem Verfasser in diesem Buche nicht übelnehmen, wenn er sich [...] nicht eben allemahl so ausdrücket, wie es eine genau bestimmende und unterscheidende Denckungsart nach der heutigen Weltweisheit erfordert” (ebd. 10f.). Sein Einwand zielt dabei auf die aristotelische Tradition selbst: “Allein ein guter Kenner der Vernunft-Lehre wird sehr viel dabey auszusetzen finden. [...] Die Vernunft ist der eigentliche Grund desjenigen Triebes, welchen man die menschliche Geselligkeit nennet. Denn diese würde sonst so wenig, als die daraus entstehende menschliche Gesellschaft, ohne der Vernunft, so die menschliche Natur und die darauf gegründete strenge Nothwendigkeit, gesellig zu leben, entdecket, erfolgen” (ebd. 11). Da man nämlich auch “unter dem Vieh eine Gesellschaft” (ebd. 12) findet, langt es – so Zincke – nicht hin, das “menschliche Leben [...] von dem viehischen” (ebd.) mithilfe der ‘Sociabilität’ zu unterscheiden; vielmehr liegt die spezifische Differenz in der Vernunft selbst. Was Zincke selbst zunächst als bloß “theoretischen Einspruch” versteht und angesichts der bloß “practischen Wahrheiten” (ebd. 15) Bechers als ‘zu genau’ eingesteht – “es wird aber doch künftig sehr selten wieder geschehen” (ebd.) – hat dennoch durchaus einige Bedeutung für die Begründung und Auslegung von ‘gemeinschaftlicher Glückseligkeit’, an der er selbst – wenn auch überaus floskelhaft – durchaus festhält (vgl. Zincke 1751, 61 u.ö.): denn während Becher ‘Glückseligkeit’ als natürlich bestimmt und als strenge Gemeinorientierung auslegt – “Alles, was die menschliche Gesellschaft schwächt, ist abzuschaffen, und zu strafen” (ebd. 16) –, sieht Zincke diese Orientierung am “allgemeinen 187 Auch Justis policeywissenschaftliches Schlusskapitel belegt die Ambivalenz des Glückseligkeitsbegriffs – zwischen Zentrum und Phrase – und Justis damit einhergehende Unsicherheit: “Solchergestalt bin ich nunmehr am Ende dieses ziemlich weitläuftigen Werkes. Ich hoffe, wenige Leser zu haben, die mein Werk bis auf die letzte Seite durchgelesen haben, und nicht ueberzeuget seyn sollten, da mein einziges Augenmerk darinnen gewesen ist, vor die Glueckseeligkeit meiner Nebenmenschen und der buergerlichen Gesellschaft zu arbeiten” (ebd. 650f.). Trotz aller Beteuerungen: “das schon mehrfach (nicht nur von Machiavelli) überhaupt bestrittene Ziel des ‘gemeinschaftlichen Besten’ als verbindlicher Verhaltensmaxime stand jedenfalls nicht erst in der aufgeklärt-absolutistischen Praxis, sondern schon in der kameralistischen Ideologie selbst letztlich so sehr unter dem Primat der Orientierung auf Macht und Glückseligkeit eines Staates” (Engelhardt 1981, 69), dass der Begriff bereits zeitgenössisch längst unglaubwürdig geworden war und als bloße ‘Bemäntelung der Tyrannei’ (Lessing) galt (vgl. Engelhardt 1981, 70 wie auch Vierhaus 1968).
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Zweck”, “untereinander glückselig [zu] leben, und sich deswegen gemeinschaftlich [zu] helfen” (ebd. 13), nicht in der “Natur des Menschen [...], bloß weil sie Menschen [...] sind” (ebd.), verankert, sondern allererst durch “besondere Verträge [...] unter freyen Menschen, darinnen sie sich gegeneinander gewisser Rechte der Gleichheit und Freyheit um ihrer gemeinsamen Glückseligkeit willen begeben” (ebd. 13f.), einerseits wie “Regenten-Gesetze, Ordnungen und Strafen” (ebd. 13) andererseits ermöglicht. So ist nicht die “blosse menschliche Gesellschaft die Grund-Ursache aller Gesetze” (ebd. 14), sondern – geradezu umgekehrt – jene durch diese allererst konstituiert; ihre Gesetzesgeltung können sie daher nicht ihrer sozialen Herkunft entnehmen, sondern müssen sie anderweitig nachweisen: sie sind dem Menschen von “seinem Schöpfer” auch dann aufgegeben, “wenn derselbe nunmehro auch auch ausser aller menschlichen Gesellschaft, gleich einem Robinson, lebte” (ebd. 14). So zieht der bei Zincke deutlich werdende Verlust aristotelischen Denkens eine veränderte Begründung ‘gemeinschaftlicher Glückseligkeit’ nach sich, die – in ihrer vernunfttheoretischen Justierung – schließlich zu einer individualtheoretischen Bestimmung derselben führt, indem sie den Gedanken des gemeinsamen Besten zunehmend nur strategisch denkbar macht und so insgesamt – wenn auch noch nicht bei Zincke – zur Reformulierung des ‘Gemeinsamen’ als eines ‘Allgemeinen’ führt.
Vor diesem Hintergrund wird verständlicher, was spätestens mit Kants Geringschätzung der Glückseligkeit als dem “Losungswort aller Welt” (Kant, zit. Engelhardt 1981, 38) einsetzte und sich dann – insbesondere in dessen argumentativem Aufweis der Glückseligkeit als einer untauglichen Orientierung für ein “bestimmtes allgemeines und festes Gesetz” (Kant 1957, V 552) – diskursübergreifend festsetzte: logisch-analytisch wie politisch-praktisch war ‘Glückseligkeit’ als Telos staatlicher Tätigkeit nachhaltig unterminiert; auch durch den zunehmend ‘individuellen Ton’ im Diskurs der Glückseligkeit verdeutlicht, das späte 18. Jahrhundert war an der Legitimation der ‘guten Policey’, der obrigkeitlichen ‘Wohlfahrt’ und ‘Glückssorge’ geradezu “irre geworden” (Toppe 1999, 57), so dass ‘Wohlfahrt’ und ‘Glückseligkeit’ als politische Maximen nicht nur ideologisch verdächtig, sondern auch zunehmend ‘verhaßt’ (Fichte) waren. So erklärte bereits Bergs ‘Handbuch des Teutschen Policeirechts’ (1799) die rechtsstaatliche “Sicherheit der ganzen Gesellschaft und jedes einzelnen Gliedes” zum “Hauptzweck des Staates” (Berg, zit. Maier 1986, 214), in dem schließlich ‘allgemeine Wohlfahrt’ als ein “Zwangsrecht zur individuellen Glückseligkeit” (Schlözer, zit. Maier 1986, 215) keinen Platz mehr hatte: “Wohltaten dürfen niemandem aufgedrungen werden, die Polizei darf die natürliche Freiheit nicht ohne hinreichende Gründe der öffentlichen Wohlfahrt einschränken” (Maier 1986, 215). Mit dieser Ablösung ging zugleich eine prinzipielle Umorientierung einher, die – von Humboldt bereits 1792 intoniert– den Staatszweck selbst verdrehte: “Der Mensch kann nicht blos als Mittel für die Staatszwecke benützt werden, sondern im Gegentheile ist der Staat ein Mittel für die Zwecke des Bürgers” (Mohl 1832, 416). Mit Mohls Neubegründung der ‘Polizey-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates’ (vgl. Mohl 1832) als einer “Anstalt zur Verhinderung von Rechtsverletzungen” (ebd. IV) erlangt die Policey schließlich (fast) modernen Zuschnitt (vgl. auch Maier 1986, 219-233); angesichts der “verschiedenen Ansichten vom Zweck des Lebens” (Mohl 1832, 3) – von der religiösen Zwecksetzung, “dieses Leben nur als eine Vorbereitung und Prüfung für ein
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künftiges ewiges Daseyn” zu betrachten, bis hin zur animalischen Zwecksetzung, “als einzigen Zweck des menschlichen Lebens physischen Genuß an[zu]erkennen” (ebd. 3) – sieht Mohl einzig “in der möglichst allseitigen vernunftgemäßen Ausbildung aller geistigen und körperlichen Kräfte, welche in den Menschen gelegt sind” (ebd. 4), den ‘selbstbestimmten Zweck’ des menschlichen Lebens: “Nur auf diese Weise benützt und genießt er, was er itzt hat, ohne doch für den, ebenfalls anzunehmenden, künftigen Zustand sich untauglich zu machen” (ebd. 6). Mohl entwickelt dies deutlicher: “Jeder Einzelne legt, und zwar in seiner Doppeleigenschaft als sinnlich-geistiges Wesen, einen hohen Wert auf sich, verlangt über sich verfügen zu dürfen, und findet darin sein Glück. Die einzigen Beschränkungen, welche er als vernünftiges Wesen zugeben muß, sind die, daß er nichts unternehmen könne, was vernunftwidrig wäre, und zweitens, daß er in seinen Kraftäusserungen keinen andern Menschen in dessen gleichen Rechten verletzen dürfe, weil sonst ein Zusammenleben nicht möglich wäre” (ebd. 4). Nur folgerichtig kann der “Zweck des Staates [...] kein anderer seyn, als der Zweck des Lebens nach der herrschenden Volks ansieht, denn er ist ja blos ein Mittel zur Beförderung der letzteren. Ein Widerspruch zwischen beiden muß entweder mit einer gewaltsamen oder allmählichen Umänderung der Staatseinrichtung enden, oder er ist die drückende Last für das Volk” (ebd. 5). Indem aber Mohl – wenn auch als rhetorische Frage: “denn welchen andern Zweck des irdischen Daseyns kann der Mensch, der in seinen Ansichten und Strebungen sich über das Pflanzen- und Thier-Leben erhoben hat, und doch sich nicht überzeugen kann, daß dieses itzige Leben, mit allen seinen Kräften, Neigungen, mit seiner ganzen positiven Existenz nur ein Unterrichts- und Vorbereitungszustand sey, welchen andern Zweck kann er vernünftigerweise auffinden, als die möglichst vollständige und somit harmonische Ausbildung aller seiner Anlagen und Kräfte?” (ebd. 6) – den ‘Zweck des Daseyns’ mit ‘Bildung’ benennt, bestimmt er den Rechtsstaat nicht nur als Korrelat der Idee der Bildung (vgl. ebd. 6ff.), sondern auch ‘Bildung’ als jenes Instrument zur Herstellung neuer Ordnung. Mohl: “Ein Rechtsstaat kann also keinen andern Zweck haben, als den: das Zusammenleben des Volkes so zu ordnen, daß jedes Mitglied desselben in der möglichst freien und allseitigen Uebung und Benützung seiner sämmtlichen Kräfte unterstützt und gefördert werde. [...] Die Freiheit des Bürgers ist bei dieser Lebensansicht der oberste Grundsatz; er selbst soll handeln und sich bewegen innerhalb der Gränzen der Vernunft und des Rechts; gerade eine selbständige Ausbildung ist sein Recht und seine Pflicht gegen sich selbst. Die Unterstützung des Staates kann daher nur negativ seyn, und blos in der Wegräumung solcher Hindernisse bestehen, deren Beseitigung den Kräften des Einzelnen zu schwer wäre” (ebd. 7). Mohls Ableitung polizeilicher Aufgaben aus dieser Bestimmung des Staatszwecks führt dabei zunächst in ein modern inzwischen geläufiges Verständnis einer ‘Sicherheitspolizei’, bleibt aber – weil es nicht bloß um negatives Handeln gehen kann, sondern auch um Unterstützung und Sorge geht (vgl. ebd. 10ff.) – dabei nicht stehen, sondern führt über die “Einrichtung und Ausdehnung der einzelnen Hülfs-Anstalten des Staates gegen übermächtige äussere Hindernisse” (ebd. 13) schließlich auch zur Entfaltung und Erörterung verschiedener Aufgaben einer “BildungsPolizei” (ebd. 423), um der “Sorge des Staates für die geistige Persönlichkeit der Staatsbürger” (ebd. 403) Rechnung zu tragen. So gelangt Mohl – nach einer ausführlichen Darlegung allgemeiner Grundsätze (vgl. ebd. 403-430), die den Humboldtschen Weichenstellungen der ‘Bildung’ als einer “harmonische[n] Entwickelung und Ausbildung seiner sämmtlichen Kräfte” (ebd. 403) uneingeschränkt folgt – zu drei ‘policeylichen Bildungsaufgaben’, die “ohne Zwang, allein durch Darbietung geordneter Hülfe die gewünschte Bildung methodisch herbeiführen und fördern” (ebd. 409): die ‘Förderung der Verstandesbildung’ durch Unterrichtsanstalten (vgl. ebd. 431-515), der ‘sittlichen Bildung’ (vgl. ebd. 516-556) und schließlich die ‘Förderung der religiösen Bildung’ (vgl. ebd. 557-567) wie ‘Bildung des Geschmacks’ (vgl. ebd. 568-579). Ihre – angesichts der zunächst vorgenommenen Beschränkung ‘policeylicher’ Aufgaben auf bloß negative – durchaus erstaunliche Begründung finden sie daher ausschließlich darin, “immer dann einzuschreiten, wenn die Kräfte der Staatsbürger nicht hinreichen, um
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die Hindernisse wegzuräumen, welche die Ausführung einer vernunftgemäßen, rechtlich erlaubten und allgemein nützlichen Unternehmung im Wege stehen” (ebd. 18) – doch auch deswegen, weil Bildung, so Mohl später, im Staat den “für ihn selbst nützlichsten Puncte” bezeichnet, “denn er selbst ruht ja wesentlich auf der Ansicht vom menschlichen Leben, nach welcher die vollständige und freie Entwicklung aller Kräfte der Zweck des irdischen Daseyns ist” (ebd. 414).
So dokumentiert Mohls ‘janusköpfiger’ (vgl. Maier 1986, 232) Versuch der Neubestimmung der Policeywissenschaften nicht nur den sich unaufhaltsam vollziehenden Wandel der Polizei zur ‘Sicherheitspolizei’, sondern belegt zugleich die enorme Funktionalität von Bildung als einer neuen ‘sozialen Ordnungsidee’, die – polemisch gegen ‘Wohlfahrt’ und ‘Glückseligkeit’ als bloßer Brauchbarkeit gerichtet – ungemein schnell und diskursübergreifend rezipiert und verbreitet wird. Es sind insbesondere Humboldts – wenn auch nur in Teilstücken publizierte – ‘Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen’ (1792), die die Konstruktion des Staates als einer Instanz der Gewährleistung eigenverantwortlicher Persönlichkeitsentfaltung zu einem selbsttätig-glücklichen Leben des Individuums als Alternative zur traditionellen ‘gemeinschaftlichen Glückseligkeit’ ins Spiel bringen und virulent halten (vgl. Rassem 1992, 625f.). Der bisher zurückgelegte Weg einer sozialtheoretischen Erkundung erlaubt daher, Bildung auch als Antwort auf anders kaum zu lösende Schwierigkeiten vorangegangener Sozialitätsmodelle auszulegen und darin als eine spezifische ‘Formation des Sozialen’ zu bestimmen, in der die Idee des ‘Gemeinsamen’ durch die des ‘Allgemeinen’ abgelöst und aufgehoben wird; mit ihr kommt eine – naturrechtlich wie policeywissenschaftlich bereits angedachte und vorbereitete – aus einzelnen Individuen (und nicht Solidargemeinschaften) zusammengesetzte Gesellschaft in Sicht, die sich zwar bereits innerhalb einer auf den Souverän zentrierten Sphäre des Staates herausgebildet hat, im Rechtsstaat aber erst zur Entfaltung gelangt. Jede “Form der Gesellung” (Sonntag 1999, 158) kann nun nicht anders als ein – expliziter oder bloß stillschweigender – Zusammenschluss von isolierten und autonomen Individuen gedacht werden, so dass diese weniger als soziale Wesen, sondern als sozialisierbare Wesen in den Blick kommen, die ihrem prinzipiell gedachten Selbsterhaltungstrieb auch dann bzw. darin noch folgen, wenn sie mit anderen beschäftigt und auf diese bezogen sind. Was aber gemeinhin als Aufwertung und Verteidigung von Individualität gegen soziale Unterwerfung und Vernutzung ausgelegt und bisweilen als ‘Entdeckung des Ich’ (vgl. Dülmen 2001) gefeiert wird, kann – machttheoretisch – auch als Effektivierung und Etablierung der Macht durch Vertiefung und Verinnerlichung verstanden werden, in deren Mittelpunkt das vereinzelte – weil von anderen getrennte – und allein auf sich selbst bezogene – weil nun sich selbst erhaltende – Individuum steht, dessen Soziabilität allererst her gestellt werden muss und qua Verallgemeinerung hergestellt werden kann. Ihre – gegen die aristotelische These des ‘animal sociale’ gerichtete – Grundfigur lässt sich daher überaus angemessen als ‘Gleichzeitigkeit von Individualisierung und Totalisierung’ bestimmen (vgl. Foucault 1994) und als machttheoretisch bedeutsame Trennung voneinander und homogenisierende Neuzusammensetzung konkretisieren.
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IV. Es ist im deutschen Diskurs insbesondere die ‘Idee der Bildung’, die die Ablösung traditioneller gemeinschaftlicher Glückseligkeit befördert und die Etablierung einer neuen ‘Ordnung des Allgemeinen’ erlaubt, indem sie unter dem Kampfbegriff des ‘Menschen schlechthin’ eine überaus spezifische ‘Menschenfassung’ (Seitter 1985) diskursübergreifend und enorm erfolgreich durchsetzt; mit ihr ist daher ein zentrales Moment einer spezifisch deutschen Variante gleichzeitiger Individualisierung und Totalisierung bezeichnet, die – exemplarisch – an Humboldts und Fichtes sozialtheoretischer Bestimmung der ‘Idee der Bildung’ nachvollzogen werden kann. Ihre ‘diskursive Macht’ verdankt sie dabei einer entschiedenen Kritik von ‘Wohlfahrt’ und ‘Glückseligkeit’, die als Inbegriff der absolutistischen Ordnung demontiert werden; dies erlaubt zugleich, in der Kritik der ‘alten’ Ordnung die der ‘neuen’ unerläutert zu lassen und als ‘Verteidigung des Menschen’ nahezulegen. So eröffnet Fichte in seiner ‘Zurückforderung der Denkfreiheit’ (1793) das ‘bildungstheoretische Programm’ als Kritik: “Und besonders ihr alle, die ihr Kräfte dazu habt, kündigt doch jenem ersten Vorurtheile, woraus alle unsere Uebel folgen, jener giftigen Quelle alles unseres Elendes, jenem Satze: dass es die Bestimmung des Fürsten sey, für unsere Glückseligkeit zu wachen, den unversöhnlichsten Krieg an; verfolgt ihn in alle die Schlupfwinkel, durch das ganze System unseres Wissens, in die er sich versteckt hat, bis er von der Erde vertilgt, und zur Hölle zurückgekehrt sey, daher er kam” (Fichte 1845, VI 8f.). Es ist dabei gerade die pastorale Logik, die durchgängig als ‘Despotismus’ (Humboldt) entlarvt und negiert wird; in ihrer Kritik kündigt sich an, was als neuer Maßstab fungiert: “Wir wissen nicht, was unsere Glückseligkeit befördere: weiss es der Fürst, und ist er dazu da, uns zu ihr zu leiten, so müssen wir mit verschlossenen Augen unserem Führer folgen; er thut mit uns, was er will, und wenn wir ihn fragen, so versichert er uns auf sein Wort, dass das zu unserer Glückseligkeit nöthig sey; er legt der Menschheit den Strick um den Hals und ruft: stille, stille! es geschieht alles zu deinem Besten” (ebd. VI, 9). Wenig verwunderlich ist daher, dass ‘Bildung’ – als Inbegriff des neuen – vor allem auf ‘freie Selbstthätigkeit’ rekurriert, um sich zeitgenössisch zu plausibilisieren; ihre eher übersehene soziale Dimension sei daher hier in den Vordergrund gerückt. Wohl kaum zufällig – auch Humboldts ‘Idee der Bildung’ ist von Anfang an in einem politisch-staatlichen Kontext formuliert und entfaltet worden; auch wenn seine Überlegungen zu den ‘Gränzen der Wirksamkeit des Staates’ (1792) nur in manchen (aber zentralen) Teilen veröffentlicht werden konnten188, so ist mit ihnen doch eine insgesamt nicht mehr hintergehbare Weichenstellung zugunsten eines liberal-rechtsstaatlichen Denkens markiert, das seitdem – und bis heute immer wieder (vgl. Rassem 1992, 625f.) – als bedeutsamer Einschnitt und Veränderungsschritt interpretiert und als Beleg für das – zunächst gedankliche – Ende des aufgeklärten Absolutismus zitiert wird.
188 Zur Rezeption der frühen Denkschrift Humboldts vgl. insgesamt Menze 1965 wie auch 1998; auch die unmittelbar auf Humboldt antwortende Schrift Dalbergs ‘Von den wahren Gränzen der Wirksamkeit des Staats’ (Dalberg 1793) belegt die öffentliche Brisanz der Überlegungen.
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So profiliert sich Humboldts bildungspolitischer Einsatz zunächst in zweierlei Richtung: einerseits als unmissverständliche Kritik des absolutistischen “Princip[s], dass die Regierung für das Glük und das Wohl, das physische und moralische, der Nation sorgen muss” (Humboldt 1903, I, 83), in dem er den wohl “ärgste[n] und drükkendste[n] Despotismus” (ebd.) sieht – nicht nur, weil “der Zwang [...] nunmehr auf Dinge ausgedehnt [wird], die an sich gar keiner positiven Bestimmung fähig sind” (ebd. 52), sondern auch, weil dessen vermeintlich fürsorgliche ‘Logik der Sorge’ – “weil [darin] die Mittel der Unterdrükkung so versteckt, so verwikkelt waren, so glaubten sich die Menschen frei und wurden an ihren edelsten Kräften gelähmt” (ebd.) – bereits in sich den Keim neuer Unterdrückung enthielt und hier “also auch die Revolution zuerst entstehen” (ebd. 83) musste: “Die Menschheit hatte an einem Extrem gelitten, in einem Extrem musste sie ihre Rettung suchen” (ebd. 84). Aus Erfahrung und Einsicht, dass Freiheit nicht durch ein “System der Vernunft”, ein “Ideal der Staatsverfassung” (ebd.) ermöglicht und befördert werden kann – immer wieder zitiert: “Staatsverfassungen lassen sich nicht auf Menschen, wie Schösslinge auf Bäume pfropfen” (ebd. 80) –, sind seine Überlegungen – andererseits – daher auch ein Versuch, den revolutionären und “immer auch mit Verderben begleitete[n] Ausbruch tobender Vulkane” (ebd. 101) zu vermeiden und diesseits beider ‘Sackgassen’ einen produktiven Weg gesellschaftlicher Transformation zu suchen. Wenn auch Humboldts Einschätzung und Kommentierung der französischen Revolution weithin bekannt ist, so kennzeichnet sie doch nicht nur seine insgesamt als liberal-reformerische ausgelegte Grundhaltung, sondern auch seine Distanz zu zeitgenössischen vernunftund naturrechtlichen Ansätzen; denn die Überzeugung Humboldts von der Unmöglichkeit, “ein völlig neues Staatsgebäude, nach blossen Grundsäzen der Vernunft, aufzuführen” (ebd. 79), ist gerade nicht Ausdruck bloß ‘reformerischer Gesinnung’189, sondern Folge seines spezifisch bildungstheoretischen Zugriffs: “Nun aber kann keine Staatsverfassung gelingen, welche die Vernunft – vorausgesetzt, dass sie ungehinderte Macht habe, ihren Entwürfen Wirklichkeit zu geben – nach einem angelegten Plane gleichsam von vornher gründet; nur eine solche kann gedeihen, welche aus dem Kampfe des mächtigeren Zufalls mit der entgegenstrebenden Vernunft hervorgeht. Dieser Saz ist mir so evident, dass ich ihn nicht auf Staatsverfassungen allein einschränken möchte, sondern ihn gern auf jedes praktische Unternehmen überhaupt ausdehne” (ebd. 78). Den Grund dieser Unmöglichkeit sieht Humboldt aber gerade weder in zu ‘spekulativen’ “Grundsäzen des Systems” noch in den immer möglichen “Schwierigkeiten der Ausführung” (ebd. 80), sondern – einzig und allein – in der Missachtung “von dem Individuellen” (ebd. 79): “Was im Menschen gedeihen soll, muss aus seinem Innren entspringen, nicht ihm von aussen gegeben werden” (ebd. 80)190. Es ist die in der ‘Idee von dem Individuellen’ implizierte Überzeugung menschlicher Selbstbezüglichkeit, die Humboldt – schließlich als ‘Bildung’ formuliert – auch politisch veranschlagt und als politische Maxime schlechthin zu nutzen sucht, muss doch jeder Versuch der ‘Regulierung’ derselben in erhebliche Schwierigkeiten führen. So geht es Humboldt nicht (bloß) darum, die Frage, wie denn “die Freiheit des Menschen mit dem Zwang des Staates zu vereinen” (ebd. 55) möglich sei, immer wieder neu balancierend und abwägend zu beantworten, sondern grundsätzlich umzudrehen: nicht nur, weil der “Staat [...] nichts [ist], als ein Mittel, diese Bildung [des Bürgers als Menschen] zu befördern” (ebd. 69); sondern auch, weil ein jeder Staat, der sich darin gut versteht, “das Wohl des Staats zum eignen Interesse des Bürgers zu machen, und den Staat in eine Maschine zu verwandeln, die durch die innere Kraft 189 Humboldts politisches Diktum – “Erhaltung aber muß immer der erste und hauptsächlichste Zweck aller politischen Maßregeln bleiben” (Humboldt 1904, XII, 235) – ist oft genug als Beleg solcher ‘Reformhaltung’ herangezogen worden. 190 Erheblich später, aber in gleicher Richtung formuliert Humboldt deutlicher: “Jede Verfassung, auch als bloß theoretisches Gewebe betrachtet, muß einen materiellen Keim ihrer Lebenskraft in der Zeit, den Umständen, dem Nationalcharakter vorfinden, der nur der Entwicklung bedarf” (Humboldt 1904, II, 99).
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ihrer Triebfedern in Gang erhalten würde, und nicht unaufhörlich neuer äussrer Einwirkungen bedürfte” (ebd. 71), eher von “Wohlstand” denn “Dürftigkeit” (ebd.) begleitet ist. “Daher muss es immer des Gesezgebers eifrigstes Streben bleiben, die Bildung der Bürger bis dahin zu erhöhen, dass sie alle Triebfedern zur Beförderung des Zweks des Staats allein in der Idee des Nuzens findet, welche ihnen die Staatseinrichtung zu Erreichung ihrer individuellen Absichten gewährt. Zu dieser Einsicht aber ist Aufklärung und hohe Geistesbildung nothwendig, die da nicht emporkommen können, wo der freie Untersuchungsgeist durch Geseze beschränkt wird” (ebd. 72). Jene Geistesfreiheit und Aufklärung aber auch “nur für Wenige des Volcks” (ebd. 75) zu gewähren ist überaus schädlich: “schon an sich”, weil “etwas die Menschheit Herabwürdigendes in dem Gedanken [liegt], irgend einem Menschen das Recht abzusprechen, Mensch zu sein” (ebd. 75); aber auch, weil mancherlei Fähigkeit und Geschäftigkeit “unnütz” bliebe “oder gar nachtheilig werde”, wenn man allein durch “Einschränkung” (ebd. 75) auf sie wirken würde. So überrascht nicht, dass Humboldts bereits früh formulierte Maxime – “dass der Zwek des Menschen im Menschen liegt” (ebd. 76) – auch zum “Princip alles Naturrechts, aller Erziehung und Gesezgebung” (ebd.) erhoben und als Aufgabe bestimmt wird, “die Erhaltung der gränzenlosesten Freiheit zu denken” (ebd.). Humboldts ‘Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen’ (vgl. Humboldt 1903, I, 97-245), sind vielfach rekonstruiert und als – im deutschen Diskurs durchaus frühes – Dokument einer grundsätzlichen Kritik und liberalen Umorientierung bisheriger staatlicher Aufgaben interpretiert und gewürdigt worden191; sein wiederkehrender bildungspolitischer “Grundsaz” – “Der Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger, und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst, und gegen auswärtige Feinde nothwendig ist; zu keinem andren Endzwek beschränke er ihre Freiheit” (ebd. 129) – ist daher nicht nur immer wieder zustimmend zitiert und auch politik- wie rechtstheoretisch aufgegriffen worden, sondern auch als ‘staatspolitisches Korrelat’ der Humboldtschen ‘Idee der Bildung’ angenommen und – bisweilen – als deren ‘Ableitung’ ausgelegt worden. In dieser, allein auf “Bildung” als dem “wahre[n] Zwek des Menschen” (ebd. 106)192 ausgerichteten Perspektive wird aber auch (gern) übersehen, dass Humboldt selbst für ‘Bildung’ nicht bloß prinzipiell-dogmatisch argumentiert, sondern auch ‘utilitär’ plädiert – und damit die nur wenig später etablierte polare Entgegensetzung von ‘Bildung’ und ‘Brauchbarkeit’ bereits hier unterläuft. Was Humboldt daher im einzelnen als Argument jeweilig nennt, kann nicht bloß als ‘obrigkeitliche Werbung’ verstanden (und interpretatorisch dann außer acht gelassen) werden, sondern muss selbst als konstitutiv gelten können. Dreierlei ‘Utilitätserwägungen’ Humboldts seien exemplarisch aufgegriffen, erlauben sie doch, ‘Bildung’ auch machttheoretisch zu lesen: so gilt – weithin geteilt, nur bisweilen unterschiedlich bewertet (vgl. Benner 1995) – ‘Bildung’ erstens als ein “Mittel” (ebd. 101) politischen Handelns, das – angesichts ‘absolutistischer Sackgassen’ und ‘revolutionärer Irrwege’ – als “Reform unsrem Zeitalter so angemessen” (ebd. 101) ist – nicht nur, weil ‘Bildung’ der “aus dem Gefühle des Mangels” resultierenden “Sehnsucht nach Freiheit” (ebd. 100) einen Horizont eröffnet, der nicht von den “immer nachtheilige[n] Folgen” (ebd. 101) einer jeden “Staatsrevolution” (ebd. 100) begleitet ist; sondern auch, weil zu ihrer Durchsetzung nichts anderes vonnöten ist, als die “Gränzen der Wirksamkeit mehr aus[zu]dehnen” – das aber “kann jeder Regent” (ebd. 101).
191 Vgl. dazu – bloß exemplarisch – sowohl die Gesamtinterpretationen bei Borsche 1990 wie Benner 1995 als auch spezifischer die Arbeiten von Battisti 1987, Sauter 1989 wie Menze 1998 und – aus ausdrücklich marxistischer Sicht – Lekschas 1980. 192 Vgl. zum Begriff der Bildung ausführlicher die Überlegungen zu Humboldt in Teil [1] dieser Studie [B].
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Eng damit verknüpft und für Humboldt erheblich bedeutsamer ist zweitens die Überzeugung, dass allein ‘Bildung’ die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Transformation durch individuelle Formation bietet, steht doch “das Menschengeschlecht jetzt auf einer Stufe der Kultur, von welcher es sich nur durch Ausbildung der Individuen höher emporschwingen kann” (I, 142f.), so dass “alle Einrichtungen, welche diese Ausbildung hindern, und die Menschen mehr in Massen zusammendrängen, jetzt schädlicher als ehmals” (I, 143) sind. Was politisch gilt, ist aber auch ökonomisch bedeutsam, führt doch die gegenwärtige ‘policeyliche Praxis’ (vgl. ebd. 105) durch Beschränkung und positive Regulierung individueller Freiheiten zu ‘kleinerer Kraft’ wie ‘grösserer Einseitigkeit’ (vgl. ebd. 194), so dass die “Energie, welche gleichsam die Quelle jeder thätigen Tugend, und die nothwendige Bedingung zu einer höheren und vielseitigeren Ausbildung ist” (ebd.), “unterdrükt” (ebd.) wird. Humboldts Diagnose des vermeintlich aufgeklärten ‘Policey-Staats’ ist vernichtend, zieht doch das “ganze Bemühen des Staats, den positiven Wohlstand der Nation zu erhöhen” – angefangen mit der “Sorgfalt für die Bevölkerung des Landes” über den “Unterhalt der Einwohner” und die “Armenanstalten” bis hin zur “Beförderung des Akkerbaues, der Indüstrie und des Handels” (ebd. 112) – weit mehr “nachtheilige Folgen” (ebd. 113) nach sich, die in jeder Hinsicht die “Kraft der Nation schwächen” (ebd. 114), als dass sie Reichtum und Wohlfahrt ermöglichen: zum einen, weil so “aus Menschen Maschinen” (ebd. 114) gemacht werden, so dass “eine zu ausgedehnte Sorgfalt des Staats die Energie des Handlens überhaupt” (ebd. 115) schmälert und dazu verführt, auch noch “den Ueberrest seiner Selbstthätigkeit gleichsam freiwillig zu opfern” (ebd. 115); Humboldts Erläuterung ist überaus bezeichnend: “Anordnungen des Staats aber führen immer, mehr oder weniger, Zwang mit sich, und selbst, wenn diess der Fall nicht ist, so gewöhnen sie den Menschen zu sehr, mehr fremde Belehrung, fremde Leitung, fremde Hülfe zu erwarten, als selbst auf Auswege zu denken. Die einzige Art beinah, auf welche der Staat die Bürger belehren kann, besteht darin, [...] gleichsam alle möglichen Auflösungen des Problems vorzulegen, um den Menschen nur vorzubereiten, die schikklichste selbst zu wählen, oder noch besser, diese Auflösung selbst nur aus der gehörigen Darstellung aller Hindernisse zu erfinden” (ebd. 114f.). So ist aber allein ‘Selbsttätigkeit’ tauglich, den ‘Staat’ “durch die innere Kraft ihrer Triebfedern in Gang [zu] erhalten” und “nicht unaufhörlich” durch “neue äussre Einwirkungen” (ebd. 71) bewegen zu wollen; dazu aber bedarf es neben der ‘Bildung’ auch des ‘Anreizes’: “Wer oft und viel geleitet wird, [...] glaubt sich der Sorge überhoben, die er in fremden Händen sieht, und genug zu thun, wenn er ihre Leitung erwartet und ihr folgt. Damit verrükken sich seine Vorstellungen von Verdienst und Schuld. Die Idee des erstern feuert ihn nicht an, das quälende Gefühl des leztern ergreift ihn seltener und minder wirksam” (ebd. 115). Zum anderen aber, weil auch im “Betragen der Bürger gegen einander” sich jeder “auf die sorgende Hülfe des Staats verlässt” und so “zu gegenseitiger Hülfsleistung träger” (ebd. 116) wird. Humboldts Einschätzung – “Wo aber der Bürger kälter ist gegen den Bürger, da ist es auch der Gatte gegen den Gatten, der Hausvater gegen die Familie” (ebd.) – zehrt dabei von der Überzeugung, dass da “die gemeinschaftliche Hülfe am thätigsten” ist, “wo das Gefühl am lebendigsten ist, dass auf ihm allein alles beruhe” (ebd.). Die von Humboldt gezogene Schlussfolgerung – “wo der Staat die Selbstthätigkeit durch specielles Einwirken verhindert” (ebd. 116), werden “Mangel der Selbständigkeit”, “falsche Eitelkeit”, “Unthätigkeit sogar und Dürftigkeit” (ebd. 125) befördert und so die “Entwikkelung der Individualität” (ebd. 123) beeinträchtigt, weil “jeder äussre Zustand, wenn man ihn nur ungestört fortwirken lässt, [...] statt sich zu befestigen, an seinem Untergange” (ebd. 239) arbeitet – ist daher nur die Umkehrung seiner bildungstheoretischen Maxime 193: “Was nicht 193 In seinen späteren bildungspolitischen Überlegungen sucht Humboldt, den Gedanken der ‘allgemeinen Menschenbildung’ als überaus ‘nützlich’ zu präsentieren: einerseits als verbesserte Ausbildung, weil das, was getan werden muss, nun nicht bloß ‘mechanisch’, sondern auch aus Einsicht getan und verbessert getan
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von dem Menschen selbst gewählt, worin er auch nur eingeschränkt und geleitet wird, das geht nicht in sein Wesen über, das bleibt ihm ewig fremd, das verrichtet er nicht eigentlich mit menschlicher Kraft, sondern mit mechanischer Fertigkeit” (ebd. 118). Sie ist der Boden seines Plädoyers für den ‘Nutzen der Nutzlosigkeit’ (vgl. ebd. 131). Darin ist schließlich drittens auch eine machttheoretisch bedeutsame Dimension enthalten, die Humboldt ausdrücklich als Stärkung des Staates durch Selbstbegrenzung empfiehlt und vor dem Hintergrund einer kleinen ‘Typologie der Macht’ als weiterführende Perspektive erläutert. So unterscheidet Humboldt zunächst zwischen dreierlei Möglichkeiten des Staates, “seinen Zwek [...] zu erreichen” (ebd. 112): “entweder unmittelbar [...], seis durch Zwang, befehlende und verbietende Geseze und Strafen oder durch Ermunterung und Beispiel; oder mittelbar, indem er entweder der Lage der Bürger eine demselben günstige Gestalt giebt, und sie gleichsam anders zu handeln hindert, oder endlich, indem er sogar ihre Neigung mit demselben übereinstimmend zu machen, auf ihren Kopf oder ihr Herz zu wirken strebt. Im ersten Falle bestimmt er zunächst nur einzelne Handlungen; im zweiten schon mehr die ganze Handlungsweise; im dritten endlich Charakter und Denkungsart” (ebd. 112). Humboldts ‘Typologie der Macht’ erinnert nicht nur an Foucaults Differenzierung verschiedener Machtformationen (vgl. Studie I), sondern teilt mit ihm die Einschätzung einer wachsenden Vertiefung: “Auch ist die Wirkung der Einschränkung im ersten Falle am kleinsten, im zweiten grösser, im dritten am grössesten, theils weil auf Quellen gewirkt wird, aus welchen mehrere Handlungen entspringen, theils weil die Möglichkeit der Wirkung selbst mehrere Veranstaltungen erfordert” (ebd.). Auch sein Eingeständnis, dass kein Staat zugunsten seiner Wirksamkeit nur einer dieser Machtformen entbehren könne, belegt deren Zentralität; entscheidend ist jedoch zweierlei: zum einen muss jeder Versuch, positiv die Verhältnisse der Menschen regulieren zu wollen, letztlich daran scheitern, dass dies nur in Ansehung einiger weniger Regeln und Gesetze möglich ist, so dass “das Meiste [...] immer den freiwilligen einstimmigen Bemühungen der Bürger zu thun übrig” (ebd. 157f.) bleibt; zum anderen aber stößt jede Form der Macht, die nicht die Selbsttätigkeit der Menschen achtet bzw. nutzt, letztlich auf – aktiven oder passiven – Widerstand. Ist aber ‘Selbsttätigkeit’ weder prinzipiell ausschaltbar noch praktisch hintergehbar, so bleibt allein, sie in den Zweck des Staates selbst aufzunehmen und als Prinzip seiner Wirksamkeit anzulegen: “Das wahre Bestreben des Staates muß daher dahin gerichtet sein, die Menschen durch Freiheit dahin zu führen, dass leichter Gemeinheiten entstehen, deren Wirksamkeit in diesen und vielfältigen ähnlichen Fällen an die Stelle des Staats treten können” (ebd. 188). Erst wenn die Ordnung “selbst gewählt” (ebd. 118) und daher Teil des ‘innren Wesens’ ist, ist sie auch stabil und verlässlich. Was aber manchen bloß als überzogene ‘Hermeneutik des Verdachts’ gelten mag (und als ‘interpretatorisches Unrecht’ an Humboldt insofern geahndet werden muss), bezieht seine Plausibilität daher, dass Humboldts Bestimmungen des Staates als einer vermeintlich ausschließlich ‘negativ operierenden’ Institution – Abwehr und “Erhaltung der Sicherheit sowohl gegen auswärtige Feinde als innerliche Zwistigkeiten” (ebd. 134) – ihrerseits (mindestens) ein
werden kann (vgl. Humboldt 1903, X, 206), weil nicht nur “diese oder jenes gelernt, sondern in dem Lernen das Gedächtniss geübt, der Verstand geschärft, das Urteil berichtigt, das sittliche Gefühl verfeinert” (ebd. 205) worden ist, so dass “mit dem Lernen selbst” das “Lernen des Lernens” (ebd. XIII, 261) gelernt werden konnte; andererseits als größere Flexibilität auch hinsichtlich der Versorgung durch den Staat, denn “ladet sich der Staat, wenn er Menschen ausschliessend zu diesem [und jenem] erzieht, die Last auf, diese auch dazu zu gebrauchen und versorgen zu müssen” (ebd. X, 206), so dass er – in der Perspektive der ‘Bildung’ – nun nicht, “wenn er einen Menschen gern von seinem Posten entfernte, immer den leidigen Gedanken haben müsste, ihn um sein Brod zu bringen, sondern sich darauf verlassen könnte, dass ihm bei seinem Abgange ein andrer Erwerbszweig nicht fehlen würde” (ebd. 206). Erst diese Anmerkungen aber lassen Humboldts Diktum, dass “jeder [...] offenbar nur dann ein guter Handwerker, Soldat und Geschäftsmann [ist], wenn er an sich und ohne Hinsicht auf seinen besondern Beruf ein guter, anständiger, seinem Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger ist” (ebd. X, 205), anders als bloß ‘bildungsidealisch’ verstehen.
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positives Moment enthalten194, so dass Humboldts – aus “Ehrfurcht für die Individualität selbstthätiger Wesen” (ebd. 245) resultierendes – Plädoyer für den ‘Menschen schlechthin’ die darin subtil implizierte spezifische ‘Menschenfassung’ (Seitter 1985) verdunkelt wie verbirgt: nicht nur, weil es Humboldt – wie in einer Bezugnahme auf Rousseau verdeutlicht – darum geht, “den Gesichtspunkt von den äussren physischen Erfolgen hinweg auf die innere Bildung des Menschen” (ebd. 162) zurückzuziehen; auch nicht nur, weil Selbsttätigkeit in jeder Hinsicht effektiver ist als Zwang (vgl. ebd. 176)195; sondern vor allem, weil Freiheit gerade nicht bloß “Selbstüberlassung” (ebd. 130) meint, sondern ausschließlich in der Form einer “gesezmässigen Freiheit” (ebd. 179) gedacht wird, die in “dem untrüglichen Princip der Nothwendigkeit” (ebd. 180) gründet – denn nur dann erübrigen sich “fremde Eingriffe”, so dass “Sicherheit” (ebd. 179) folgt. So bestimmt Humboldt die vermeintlich bloß negative staatliche Sicherheitssorge und die damit einhergehende Autorisierung des Staates zum Eingreifen ausdrücklich gemäß der ‘Verallgemeinerungsklausel’, die uns – weil längst in Fleisch und Blut übergegangen – so geläufig geworden ist, dass immer wieder für die ‘Sache selbst’ gehalten wird, was als spezifisch individualtheoretischer Aufriss gelten muss. Humboldt: “Vielleicht liesse sich demnach der folgende Grundsaz aufstellen: um für die Sicherheit der Bürger Sorge zu tragen, muss der Staat diejenigen, sich unmittelbar allein auf den Handlenden beziehenden Handlungen verbieten, oder einschränken, deren Folgen die Rechte andrer kränken, d.i. ohne oder gegen die Einwilligung derselben ihre Freiheit oder ihren Besiz schmälern, oder von denen diess wahrscheinlich zu besorgen ist, bei welcher allemal auf die Grösse des zu besorgenden Schadens, und die Wichtigkeit der durch ein Prohibitivgesez entstehenden Freiheitseinschränkung zugleich Rüksicht genommen werden muss. Jede weitere, oder aus andren Gesichtspunkten gemachte Beschränkung der Privatfreiheit aber liegt ausserhalb der Gränzen der Wirksamkeit des Staats” (ebd. 187). Was jedoch als alleinige Orientierung an ‘Selbsttätigkeit’ und ‘Selbstbestimmung’ sich ausgibt und auch zunächst einzuleuchten vermag, erweist sich bei genauerer Betrachtung gerade nicht als ‘bedingungslos’, sondern als Justierung mit weitergehenden Bedingungen: nicht nur, weil auch die eigene ‘Zustimmung’ zur Unterwerfung unter andere – bis hin zur ‘lustvollen Selbstzerstörung’ (vgl. ebd. 127) – bereits praktisch erhebliche Schwierigkeiten aufwirft und auch für Humboldt nicht einfach geduldet werden kann; auch nicht nur, weil von dieser Freiheit und Selbstüberlassung nicht nur Kinder, ‘Verrükte und Blödsinnige’, sondern alle ‘zu dieser Freiheit noch nicht Reifen’ ausgenommen sind196; sondern vor allem, 194 Nur angemerkt sei, dass Humboldt nicht ‘blind’ für die Notwendigkeit positiver Institutionen gewesen ist, die er allerdings lieber als “Nationalanstalten” denn als “Staatseinrichtungen” (Humboldt 1903, I, 131 wie 236) organisiert wissen wollte; vgl. dazu ausführlicher Sauter 1989 wie auch Menze 1998. 195 Humboldt kommentiert: “Zwang erstikt die Kraft, und führt zu allen eigennüzigen Wünschen” (I, 176). “Der sich selbst überlassene Mensch kommt schwerer auf richtige Grundsäze, allein sie zeigen sich unaustilgbar in seiner Handlungsweise. Der absichtlich geleitete empfängt sie leichter, aber sie weichen, auch sogar seiner, doch geschwächten Energie” (ebd.). 196 Beide Einschränkungen werden von Humboldt ausführlich erörtert: einerseits nimmt Humboldt in der Ausübung solcher Freiheit (und der damit verbundenen Freilassung von positiver Sorgfalt) gerade jene “Personen” aus, die – “wie Verrükte, oder gänzlich Blödsinnige” (ebd. 225) und “Kinder” und “Unmündige” (ebd. 226) – “ihrer Vernunft so gut, als gänzlich beraubt sind” (ebd. 225) und daher zu einer spezifischen ‘Verallgemeinerung’ nicht fähig sind; andererseits aber erfordert die politische Lage, “alle Freiheitsbeschränkungen, die einmal in der Gegenwart gegründet wären, so lange ruhig bestehen [zu] lassen, bis die Menschen durch untrügliche Kennzeichen zu erkennen geben, dass sie dieselben als einengende Fesseln ansehen, dass sie ihren Druk fühlen, und also in diesem Stükke zur Freiheit reif sind; dann aber dieselben ungesäumt entfernen” (ebd. 241). Dabei ist aber die “Reife zur Freiheit” “unstreitig das Wichtigste” und daher “durch jegliches Mittel [zu] fördern” (ebd. 241). Humboldts Perspektive einer nachgängigen ‘Freilassung’ dabei ist bezeichnend: “Man löse also nach und nach gerade in eben der Folge, wie das Gefühl der Freiheit erwacht, und mit jedem neuen Schritt wird man den Fortschritt beschleunigen” (ebd. 241).
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weil die von Humboldt beanspruchte und entfaltete Logik einer gleichzeitigen Individualisierung und Totalisierung insbesondere als Trennung der Menschen voneinander und synthetisierend-homogenisierende Neuzusammensetzung zu einem ‘Allgemeinen’ bestimmt wird. Humboldts Plädoyer – “Das höchste Ideal des Zusammenexistirens menschlicher Wesen wäre mir dasjenige, in dem jedes nur aus sich selbst, und um seiner selbst willen sich entwikkelte” (ebd. 109) – suggeriert, jeder könne bei sich und in ‘seinem eignen Kreis’ (vgl. ebd. 200) sein und bleiben, so dass nur, wer “in den Kreis des andern eingreift” (ebd. 186), sich mit positiven Regelungen und Sanktionen konfrontiert sieht (vgl. ebd. 200ff.). Problematisch ist zweierlei: nicht nur wird unterschlagen, dass genau dies der Modus der menschlichen Existenzweise ist – sich von anderen her allererst selbst zu erlernen – und insofern schwerlich vermieden werden kann, hat doch jedes ‘Selbsthandeln’ unweigerlich Folgen für andere; sondern die Einhaltung der ‘Grenzen des anderen’ werden durch Verallgemeinerung und ‘Selbstgeneralisierung’ bestimmt und praktiziert, so dass ‘individuelle Eigenthümlichkeit’ zunehmend die Form der ‘Allgemeinheit’ annimmt und bildungstheoretisch auch annehmen soll (vgl. Studie II [B], Kap. [1]). ‘Gesezmässige Freiheit’ bedeutet daher zweierlei: “Jeder Bürger muss ungestört handlen können, wie er will, solange er nicht das Gesez überschreitet” (ebd. 218); und: die Form der Gesetze ist aber die der ‘Verallgemeinerung’ – nur das zu tun (und dann freiwillig), was allen zu tun gestattet werden kann. Dies aber eröffnet – so Humboldt – jene bedeutsame Möglichkeit, “der Natur des Menschen gemäss [...] auf den Geist und Charakter den Menschen zu wirken” und “diesem eine Richtung zu geben” (ebd. 239), ohne aber in diesen bloß ‘von aussen’ einzugreifen197.
Nur ‘Bildung’ aber, so ließe sich Humboldts Plädoyer bündeln, eröffnet daher die “Auflösung dieses Problems”, indem sie – aufgrund ihrer doppelten Struktur von ‘Eigenthümlichkeit’ und ‘Allgemeinheit’ – “zugleich die Freiheit des Menschen mit dem Zwang des Staates zu vereinen” (I, 54) erlaubt und sich ebenso als ‘Entfaltungs-‘ wie “Bindungsmittel” (X, 200) empfiehlt; so zielt Humboldts weithin bekannte Umdrehung des ‘Endzweks’ des Staates – “die Staatsvereinigung ist bloss ein untergeordnetes Mittel, welchem der wahre Zwek, der Mensch, nicht aufgeopfert werden darf” (ebd. 180), so dass allein “immer die Entwikkelung der Kräfte der einzelnen Bürger in ihrer Individualität” den “wichtigste[n] Gesichtspunkt des Staats” (ebd. 232) kennzeichnet – darauf, die “vorteilhafteste Lage für den Menschen im Staat aufzusuchen”(ebd. 235) – und führt schließlich dazu, den Staat im Menschen selbst zu praktizieren (vgl. Luhmann 1981, 164). Vor dem Hintergrund neuzeitlich verschobener Sozialitätsverständnisse markiert daher ‘Bildung’ jenen zentralen Mechanismus im deutschen Diskurs, der erlaubt, das ‘Gemeinsame’ zum ‘Allgemeinen’ zu verschieben; die – für Deutschland immer wieder diagnostizierte – Umkehrung der Abfolge ökonomischer, politischer und kultureller ‘Revolutionen’ mag dies belegen helfen (vgl. Bollenbeck 1996 wie auch Jeismann 2000). Humboldts Bestimmung der ‘Bildung’ als der – im Gedanken des ‘Allgemeinen’ ermöglichten – Vereinigung von individueller Freiheit und staatlichem Zwang wäre 197 Aber auch Humboldts oft zitierte ‘Geselligkeit’ der Bildung – pointiert mit der “Innigkeit der Verbindung” und der “Selbständigkeit der Verbundenen” (Humboldt 1903, I 107) gekennzeichnet – belegt die Nachgängigkeit der ‘Gesellung’: nicht nur, weil ihr “bildende[r] Nuzen” (ebd.), das am anderen “Aufgefasste gleichsam in das eigne Wesen zu verwandeln” (ebd.), im Vordergrund steht; sondern vor allem, weil ‘eigentlich’ jeder Mensch “doch [...] nur für sich” selbst ‘existiert’ (vgl. ebd. wie auch 122 und insbes. 128) und erst entwickelte ‘Eigenthümlichkeit’ auch “Bereitwilligkeit, ihr eine, für andre wohlthätige Richtung zu geben” (ebd. 128), ermöglicht.
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aber sicherlich einseitig verstanden und in ihrer auch kritischen Ausrichtung missverstanden, würde sie nur als machttheoretisch bedeutsame Vertiefung und Verinnerlichung von Macht qua ‘Verallgemeinerung’ gelesen werden; doch scheinen angesichts der Vielzahl uneingeschränkt befürwortender Interpretationen (vgl. Battisti 1987 wie schließlich Menze 1998) auch Zweifel angebracht, dass es in der Etablierung der Bildung als einer auch sozial relevanten Formation nur um den ‘Menschen schlechthin’ gegangen wäre. Es ist oft darauf hingewiesen worden: je mehr ‘Bildung’ als ‘Entdeckung’, gar ‘Erfindung’ menschlicher Subjektivität und Selbsttätigkeit verstanden und gefeiert wird, desto undeutlicher wird, worin ihr spezifischer Charakter, ihre bestimmte Form und Formierung menschlicher Subjektivität besteht. Humboldts politische ‘Ideen’ aber erlauben eine zweite Präzisierung der ‘Idee der Bildung’ als einer ‘anthropologischen Matrix’, indem sie sie als Figur gleichzeitiger Individualisierung und Totalisierung aufweisen, die als Trennung der Menschen voneinander und synthetisierende Neuzusammensetzung gelesen werden kann. Das aber heißt auch, die Differenz Humboldts zu liberalistischen Überlegungen deutlicher zu markieren und nicht einfach davon auszugehen, dass Humboldts Beschränkung des Staates auf Sicherheitsfragen mit Smith’s Überlegungen zum ‘Wohlstand der Nationen’ (1776) schlicht vereinbar ist; vielmehr spricht manches dafür, dass die Konstruktion einer “unsichtbaren Hand” (Smith 1978, 371), die die Verfolgung der jeweiligen Einzelinteressen zum Wohl des Ganzen verknüpft und lenkt, nicht der von Humboldt visierten Idee des ‘Allgemeinen’ entspricht: nicht nur, weil auch Smith’s Staat sich positiver Regulierungen nicht enthalten kann, sondern auch, weil ‘Bildung’ gerade nicht als egoistische Verfolgung eigener Gewinninteressen übersetzt werden kann. Auch wenn beiden ein – für die Policeywissenschaften bereits kennzeichnendes und nun bloß verdrehtes – Vertrauen in die Kompatibilität und Harmonie von Einzelnem und Ganzen gemeinsam ist, so gründet sich Humboldts immer wieder formulierte Überzeugung, “dass alles, was auf der Erde geschieht, gut und heilsam genannt werden kann, weil die innere Kraft des Menschen [...] in keiner ihrer Aeusserungen [...] je anders als – nur in verschiedenen Graden – wohlthätig wirken kann” (Humboldt 1903, I 238), gerade nicht auf eine Kraft ‘im Rücken’ der Beteiligten, sondern auf die Form des Inneren selbst198. Auch in seinen überaus bedeutsamen schulpolitischen Schriften und Schulplänen ließe sich daher diese Figur rekonstruieren, zielt doch die mit der Ermöglichung ‘allgemeiner Menschenbildung’ begründete Etablierung eines horizontal gegliederten Schulsystems vornehmlich auf die Stärkung, Läuterung und Regelung der ‘menschlichen Kräfte’ und deren ‘innere Rückwirkung’ auf den Lernenden, so dass erst dann, wenn dieser Prozess abgeschlossen ist, auch das gelernt werden kann und soll, was bloß für mancherlei Einzelfälle nützlich und nötig ist (vgl. Humboldt 1913, XIII, 277). So folgt die von Humboldt unternommene Plausibilisierung seiner Schulreformideen genau jenen argumentativen Linien, die in den ‘Ideen’ zur Begrenzung der ‘Wirksam198 ‘Liberal’ ist dagegen Humboldts – mit Ferguson’s Kritik an Smith sehr vergleichbares (vgl. Rassem 1992, 622) – Plädoyer, durch die Erhöhung von Widerständen und Misslichkeiten die Selbsttätigkeit der Menschen anzureizen; vgl. dazu Humboldt 1903, I, 115, 180 wie 189.
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keit des Staates’ entworfen worden sind, und bestätigt – von der ‘Nützlichkeit allgemeiner Fähigkeiten’ auch für ‘besondere Tätigkeiten’ (vgl. ebd. 278) über den Vorrang ‘allgemeiner Kräfte’ vor ‘besonderen Fertigkeiten’ (vgl. ebd. 276f. wie auch 262) und den daraus resultierenden Vorteil eigener ‘Einsicht durch Gründe’ vor bloß ‘äusserlicher Mechanik’ (vgl. ebd. 264) bis hin zur (oft erst spät genauer erkennbaren (vgl. ebd. 262)) ‘Bestimmung des Menschen’ zum “Menschen überhaupt” (ebd. 277) – die Orientierung am Allgemeinen vor jedem Besonderen, die nicht primär auf soziale Gleichheit zielt, sondern individuell entfaltete ‘Menschheit’ überhaupt verfolgt: “Dieser gesammte Unterricht kennt daher auch nur Ein und dasselbe Fundament. Denn der gemeinste Tagelöhner, und der am feinsten Ausgebildete muss in seinem Gemüth ursprünglich gleich gestimmt werden, wenn jener nicht unter der Menschenwürde roh, und dieser nicht unter der Menschenkraft sentimental, chimärisch, und verschroben werden soll” (ebd. 278)199. So ließe sich nun auch inhaltlich in ‘Bildung’ – hier verstanden als ‘Bildungswissen’ – die Form der Subjektivierung genauer bestimmen, ist doch auch die Struktur des Bildungswissens selbst durch den Vorrang des Allgemeinen vor dem Besonderen ausgezeichnet200. Ein letzter Blick in Fichtes ‘Reden an die deutsche Nation’ (1808; vgl. Fichte 1845, VII 257-502) soll den mit und an Humboldt erarbeiteten Gedanken einer ‘Formation des Sozialen’ qua Bildung abschließen. Es sind gerade Fichtes ‘Bildungsreden’, die – gerade auch wegen ihrer offensichtlichen Distanz zur ansonsten hohen Abstraktionslage seiner anderen philosophischen Texte – im zeitgenössischen ‘Diskurs der Bildung’ eine überaus zentrale Bedeutung erlangt haben und längst als ‘bildungstheoretische Klassiker’ gelten können201: nicht nur, weil sie als Reden “von Deutschen 199 Vgl. zur bildungspolitischen Rezeption Humboldts Menze 1975 und Hübner 1983 wie auch Baumgart 1989, Fingerle 1997 und insbesondere Jeismann 1996a. 200 Auch wenn ‘Bildung’ auf Wissen basiert und immer auch Wissensvermittlung einschließt, so geht es doch in ihr weder um das Wissen als Wissen noch um die bloße Übernahme eines als objektiv anerkannten Wissens; vielmehr zielt Bildung auf ein spezifisches Verhältnis zum Wissen, das sich als ein besonderes Selbst- und Weltverhältnis beschreiben lässt: einerseits sich den (vernünftigen) Geltungsbedingungen des Wissens zu unterwerfen, andererseits aber sich auch zu jedem Wissen distanzieren zu können, indem dieses auf seinen ‘konstruktiven Charakter’ hin befragt wird; weder Objektivismus noch bloßer Subjektivismus kennzeichnen den ‘Gebildeten’. Der Effekt dieser Wissensaneignungsform ist der einer doppelten Subjektivierung: sich als Bezugspunkt des Wissens auch und gerade in der eigenen Individualität verstehen zu lernen, indem die Bedeutung des Wissens betont wird, und sich darin der Logik des Allgemeinen (Geltungsbedingungen des Wissens) zu unterwerfen, so dass Wissen in seiner Aneignung – bildungstheoretisch – sowohl individualisiert als auch totalisiert und gegenüber Welt – als Inbegriff dessen, was gewusst werden kann, sich aber dem Wissen aufgrund dessen Vorläufigkeit immer auch entzieht – überordnet und insofern zu illusionärer Souveränität verführt, – mit der Folge, Wissen nun selbst als steigerbar zu denken. Vgl. dazu eine erste Skizze zu ‘Subjektivierungseffekten des Wissens’ bei Schäfer 1999, 83-89. – Dieser dritte Ansatz zur Interpretation der ‘Bildung’ als einer die Lebensführung führenden Matrix auch durch eine – neben Selbst- und Sozialitätsformation – spezifische Formation des Wissens kann hier nicht weiter entfaltet werden; die leitende These eines solchen Zugriffs wäre die Überlegung, dass auch die – spezifisch strukturierte – ‘Aneignung’ und ‘Produktion’ von Wissen selbst subjektivierende Effekte hat und nicht bloß dieselben als Subjekte bereits voraussetzt. 201 Vgl. dazu auch Jeismanns Einschätzung zur Wirkung Fichtes “gerade auf die gelehrten Schulmänner”: “Weder die konkreten Vorschläge Fichtes zur Reform von Bildungsanstalten noch die spezifischphilosophischen Setzungen, aus denen er sie ableitete, haben einen bedeutenden Einfluß auf die reale Entwicklung des gelehrten Schulwesens gewonnen. Aber die in den ‘Reden’ gefundenen Formulierungen einer neuen Sicht vom Verhältnis zwischen Erziehung und Staat haben in einem hohen Maß die Grundtendenz bestimmt, der
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schlechtweg” “für Deutsche schlechtweg” (ebd. VII, 266) gehalten und mit ihrer Bestimmung von “Naturgemässheit”, “Echtheit”, “Geistigkeit” (ebd. VII, 337) und “Gründlichkeit” (ebd. VII, 403) als “ächt deutsch” (ebd. VII, 365) längst in das ‘nationale Gedächtnis’ (Assmann 1993) eingegangen sind: “Charakter haben und deutsch seyn, ist ohne Zweifel gleichbedeutend” (ebd. VII, 446). Auch nicht nur, weil in Fichtes Plädoyer für eine “deutsche Nationalerziehung” (ebd. VII, 277) gerade ‘Bildung’ als “Rettungsmittel” (ebd. VII, 274) und “Erhaltungsmittel einer deutschen Nation überhaupt” (ebd. VII, 280) entworfen wird, das nicht nur Forschritt und neuen Aufschwung, sondern nationale Einigung zu einer “Gesammtheit” (ebd. VII, 348) allererst verspricht. Sondern vor allem, weil die von Fichte entworfene Vision einer “Umschaffung des ganzen Menschengeschlechtes” (ebd. VII, 400) darauf zielt, die Kritik der Gegenwart als einer an “blossem sinnlichen Eigennutz zum Antriebe aller seiner lebendigen Regungen und Bewegungen” orientierten “Weltzeit” (ebd. VII, 264) gerade pädagogisch ins Werk zu setzen und als Projekt der ‘Bildung’ auch institutionell zu verankern. So ist Fichtes Verständnis der Bildung als Form dieser neuen ‘neuen Erziehung’ (vgl. Fichte 1845, VII 400) durch “Selbstthätigkeit” (ebd. 268) wie “Allgemeinheit” (ebd. 435) bestimmt: ‘Selbstthätigkeit’, weil mit ihr nicht nur das bezeichnet ist, “was eigentlich der bisherigen Erziehung gefehlt” (ebd. 275) hat, sondern auch das Moment in den Vordergrund gerückt wird, was “geistige Entwicklung” (ebd. 296) überhaupt erst ermöglicht. So lernt der Zögling erst dann “gern und mit Lust” (ebd. 286), wenn er selbsttätig und “rein um des Lernens selbst willen, und aus keinem anderen Grunde” (ebd.) lernt; wer nur befähigt wird, “das durch die Erziehung ihm gegebene Bild leidend aufzufassen, es hinlänglich zu verstehen, und es, also wie es ihm gegeben ist, zu wiederholen, als ob es nur um das Vorhandenseyn eines solchen Bildes zu thun wäre” (ebd. 285), der ist nicht nur nicht “schöpferisch” (ebd.), sondern verliert auch noch das “letzte Wohlgefallen” (ebd.) am Lernen und lernt nur noch “ungern, darum langsam und spärlich” (ebd. 289). Und: erst eine Erziehung, die darauf zielt, “keinesweges blosse Nachbilder der Wirklichkeit [...], sondern Vorbilder derselben selbstthätig zu entwerfen” (ebd. 285), eignet sich auch zur politischen Reform. Folgerichtig ist es Aufgabe der Erziehung, “diese eigene Thätigkeit des Zöglings in irgend einem uns bekannten Puncte nur erst anzuregen” (ebd. 286), so dass ‘Aufforderung zur Selbsttätigkeit’ (vgl. Benner 2001) für Fichte der Charakter der Erziehung ist202. Doch ist ‘Selbstthätigkeit’ – so Fichte weiter – für “diese geistige Entwicklung nicht erster und selbstständiger Zweck, sondern nur das bedingende Mittel” (ebd. 296): einerseits, weil es nicht bloß um individuelle Entfaltung und Entwicklung, sondern immer auch um die “Fortentwickelung der Menschheit” (ebd. 278) überhaupt gehen muss; andererseits, weil gerade diese Orientierung am ‘Allgemeinen’ – einem nicht übersinnlich, sondern überaus konkret, d.h. für Fichte ‘national’ zu denkenden Allgemeinen – verlangt, nicht bereits jede Form der ‘Selbstthätigkeit’ anzuerkennen, sondern diese allererst spezifisch hervorzubringen. Fichtes Abgrenzung ‘alter’ und ‘neuer’ Erziehung die Reformprogramme folgten” (Jeismann 1996a, 236). 202 Fichtes Formulierung ist weithin bekannt und belegt den offensichtlich normativen Charakter dieser pädagogischen Praxis: “Die Aufforderung zur freien Selbstthätigkeit ist das, was man Erziehung nennt. Alle Individuen müssen zu Menschen erzogen werden, ausserdem würden sie nicht Menschen” (Fichte 1845, III 39). Vgl. dazu auch die jüngst zwischen Benner und Langewand ausgetragene Debatte um Fichtes Prinzip einer ‘Aufforderung zur Selbsttätigkeit’ als eines angemessenen pädagogischen Prinzips der Erziehung (vgl. Benner 2001, Langewand 2003 wie Benners Replik (Benner 2003b)); sie belegt die sowohl systematische als auch normative Zweideutigkeit wie die daraus resultierende Schwierigkeit einer solchen Formulierung.
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belegt und erläutert dies, indem sie gerade die Anerkennung des ‘freien Willens’ als Differenz ausmacht: denn während die “bisherige Erziehung” immer nur “zu guter Ordnung und Sittlichkeit höchstens ermahnt” (ebd. 280) hat und insofern in all ihrer “Ohnmacht und Nichtigkeit” (ebd.) weitgehend “unfruchtbar für das wirklich Leben” (ebd. 281) geblieben ist, weil sie letztlich den “freien Willen des Zöglings” als insgesamt nicht “selbst zu bilden” (ebd.) angesehen hat, so setzt die ‘neue Erziehung’ genau an diesem “Irrthum der bisherigen Erziehung” (ebd. 281) an, indem sie darauf zielt, “die Freiheit des Willens gänzlich” (ed. 281) zu vernichten – nicht, um ihn despotisch zu unterwerfen und zu negieren, sondern um ihn – so Fichte ausdrücklich – allererst als einen “festen und unfehlbaren guten Willen im Menschen zu bilden” (ebd. 283), der allein auf Prinzipien “strenge[r] Nothwendigkeit” (ebd.) gegründet ist. Fichtes pädagogische Aufgabenbestimmung lautet daher: “Diesen festen und nicht weiter schwankenden Willen muss die neue Erziehung hervorbringen nach einer sicheren und ohne Ausnahme wirksamen Regel” (ebd. 282); denn “willst du etwas über ihn vermögen” und nicht ihn bloß ermahnen – kommt doch immer jede “Ermahnung zu spät” (ebd. 282) –, “so musst du mehr thun, als ihn bloss anreden, du musst ihn machen, ihn also machen, dass er gar nicht anders wollen könne, als du willst, dass er wolle” (ebd. 282). Dies aber sei – so Fichte bündelnd – das “erste Merkmal” der “von mir vorgeschlagene[n] Erziehung” (ebd. 283), so dass Fichtes Bestimmung der Bildung, “den ganzen Menschen durchaus und vollständig zum Menschen zu bilden” (ebd. 301), nicht nur beides – ‘Selbstthätigkeit’ wie ‘Allgemeinheit’ – irgendwie umfasst, sondern als auf Allgemeinheit bezogene wie diese hervorbringende ‘Selbstthätigkeit’ ineinander denkt und praktiziert: “der ganze Mensch wird nach all seinen Theilen vollendet, in sich selbst abgerundet, nach aussen zu allen seinen Zwecken in Zeit und Ewigkeit mit vollkommener Tüchtigkeit ausgestattet” (ebd. 401). Machttheoretisch ist nun zweierlei bedeutsam: einerseits wird Erziehung bei Fichte insofern ‘vertieft’, als dass sie nicht bloß ‘äussere Einwirkung’ (Fichte) und dauernde Begrenzung, sondern ‘innere Hervorbringung’ ist, die das, was gesollt ist, als selbst gewollt vorzustellen erlaubt (vgl. ebd. 281f.)203; andererseits aber wird die Figur der Bildung als einer gleichzeitigen Individualisierung und Totalisierung ausdrücklich als eine Operation der Trennung der Menschen voneinander und derer synthetisierenden Neuzusammensetzung zu einem Ganzen und ‘Allgemeinen’ entfaltet. So erläutert Fichte in einer – auch auf Hegel beziehbaren204 – Erörterung des “Trieb[s] nach Achtung” (ebd. 414) den Zusammenhang beider Perspektiven, indem er ‘Anerkennung’ als bloße Phase wie darauf bezogenes, zweideutiges pädagogisches Mittel qualifiziert: auch wenn in Anerkennung “ganz allein die Möglichkeit aller Belehrung und aller Erziehung der nachwachsenden Jugend zu vollendeten Menschen” (ebd. 416) gründet, so ist diese doch bloßer ‘Vorübergang’ – nicht nur, weil “dieses Vertrauen auf einen fremden und ausser uns befindlichen Maassstab der Selbstachtung [...] auch der eigenthümliche Grundzug der Kindheit und Unmündigkeit” (ebd. 416) ist und sich insofern primär “beim Kinde” (ebd. 415) zeigt, sondern vor allem, weil die pädagogische Ausnutzung dieses “Trieb[s] auch geachtet zu werden von dem, was ihm [dem Kind] die
203 Fichtes Erläuterung des ‘nothwendigen Wollens’ ist überaus bezeichnend: “wer ein solches festes Wollen hat, der will, was er will, für alle Ewigkeit, und er kann in keinem möglichen Falle anders wollen, denn also, wie er eben immer will” (ebd. 282). 204 Auch Hegels – zeitgleich veröffentlichte (1807) – anerkennungstheoretische Entfaltung menschlicher Freiheit belegt trotz des Grundsatzes, dass diese “nur als ein Anerkanntes” (Hegel 1970, 145) ist, die dominante Orientierung an vereinzelter Individualität: einerseits, weil der Hegelsche ‘Kampf um Anerkennung’ erst dann verständlich wird, wenn von der Vorgängigkeit der einzelnen Bewusstseine ausgegangen wird, die dann – in einem zweiten Schritt – auf die anderen stoßen und sich aufgrund ihrer Selbstreferentialität in einen Kampf miteinander verstricken, so dass – andererseits – der Rekurs auf den Anderen fast ausschließlich der Selbstvergewisserung dient. Vgl. dazu die Überlegungen Hegels zum ‘für sich’ (vgl. ebd. 147f.) wie zum Kampf als dem Ausweg aus dem bloßen ‘für sich’ (vgl. ebd. 149ff.).
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höchste Achtung einflösst” (ebd. 414), aufgrund seiner Zweideutigkeit dazu verführt, dass “viele Menschen ihr ganzes Leben hindurch Kinder geblieben” (ebd. 417) sind, die “zu ihrer Zufriedenheit des Beifalls der Umgebung bedurften, und nichts Rechtes geleistet zu haben glaubten, als wenn sie [anderen] gefielen” (ebd. 417). Weil Anerkennung erlaubt, sowohl “selbst schweren Gehorsam und jede Form der Selbstverläugnung leicht” (ebd. 415) zu ermöglichen als auch durch Züchtigung und Beschämung “das Gefühl der Selbstverachtung” (ebd. 415) pädagogisch auszunutzen, ist sie der Fichteschen ‘Bildung’ geradezu entgegengesetzt; vielmehr ist es “Zweck der Erziehung”, “die Mündigkeit, in dem von uns angegebene Sinne, hervorzubringen” (ebd. 416), so dass erst, wenn “dieser Zweck erreicht ist”, “die Erziehung wirklich vollendet und zu ihrem Ende gebracht” (ebd. 417) ist. Mündigkeit aber meint in anerkennungstheoretischer Hinsicht zweierlei: einerseits Unabhängigkeit von anderen, so dass der einzelne fähig wird, “über fremdes Urtheil sich zu erheben und sich selbst zu genügen” (ebd. 416), weil doch allein “der mündige Mensch [...] den Maassstab seiner Selbstschätzung in ihm selber [hat], und [...] von anderen geachtet nur seyn [will], inwiefern sie selbst erst seiner Achtung sich würdig gemacht haben” und etwas “achtungswürdiges ausser sich” (ebd. 416) hervorgebracht haben; andererseits Festigkeit in sich selbst, so dass der einzelne das, “was er will, für alle Ewigkeit [will], und er kann in keinem möglichen Falle anders wollen, denn also, wie er eben immer will” (ebd. 282). Beides aber verlangt, sich im Modus des Allgemeinen auf sich selbst beziehen zu können und durch “Selbstbeherrschung” und “Selbstüberwindung” (ebd. 417) seine “selbstsüchtigen Triebe unter den Begriff des Ganzen” (ebd.) unterzuordnen. Dabei geht es Fichte nicht um eine “Unterwerfung unter das, um der blossen Ordnung des Ganzen willen entworfene, Gesetz der Verfassung” (ebd. 418), sondern um eine “Unterordnung des Einzelnen unter das Ganze, die nicht gefordert, sondern nur freiwillig geleistet werden kann” (ebd.). Auch hier markiert ‘Selbstthätigkeit’ die Differenz: sich nicht um der “Nützlichkeit willen” (ebd. 284) einem gegebenen ‘Gemeinsamen’ unterzuordnen, sondern durch und in sich selbst das ‘Allgemeine’ als das neue Ganze allererst hervorzubringen, so dass das Verhältnis der einzelnen zum Ganzen nicht bloß ‘mechanisch’, sondern “unaustilgbar” eingeschrieben ist “in sein Gemüth” (ed. 425)205. Anderenunabhängigkeit und Selbstfestigkeit durch gleichzeitige Vereinzelung wie Verallgemeinerung aber markieren so die soziale Logik der ‘Bildung’ als jener neuen Matrix der ‘deutschen Nationalerziehung’206.
Auch wenn ‘Bildung’ seit Humboldt und Fichte fast ausnahmslos als “Individualpädagogik” (Mager 1844, 395)207 ausgelegt und tradiert, angegriffen und verteidigt 205 Fichtes Forderung, “dass der Einzelne für das Ganze nicht bloss unterlassen müsse, sondern dass er für dasselbe auch thun und handelnd leisten könne” (ebd. 294), belegt den produktiven Charakter der ‘Bildung’, sich nicht einem Gegebenen zu unterwerfen, sondern das ‘neue Allgemeine’ allererst hervorzubringen. 206 Sogar ganz praktisch legt Fichte die ‘neue Erziehung’ als Praxis von Trennung und Verallgemeinerung aus: weil die Älteren, “in der Regel und nach der grossen Mehrheit genommen” (Fichte 1845, VII 421), “durchaus verkehrt” sind, müsse die Jüngeren “in der Berührung mit uns [...] verderben”, so dass es erforderlich ist, sie “aus unserem verpestenden Dunstkreise” zu entfernen und “einen reineren Aufenthalt für sie [zu] errichten” (ebd. 422). Erstaunlich früh berücksichtigt Fichtes Forderung, “dass die Kinder in gänzlicher Absonderung von den Erwachsenen mit ihren Lehrern und Vorstehern allein zusammenleben sollen” (ebd. 422), bereits “beide Geschlechter”: “Eine Absonderung dieser Geschlechter in besondere Anstalten für Knaben und Mädchen würde zweckwidrig seyn, und mehrere Hauptstücke der Erziehung zum vollkommenen Menschen aufheben” (ed. 422). 207 Magers Kritik der Bildung als einer einseitigen ‘Individualpädagogik’ kann als ein erstaunlich frühes ‘sozialpädagogisches’ Plädoyer für eine ‘Gesellschaftspädagogik’ gelten: “Es ist gewiss, dass die neuere Pädagogik seit Locke, Rousseau, den Philanthropinisten, Pestalozzi, Herbart, Benecke u.a. den Fehler hat, nur Individualpädagogik zu sein, und darum habe ich mehrmals darauf hingewiesen, dass jetzt die
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worden ist, so ist doch in ihr von Anfang an ein spezifisches Sozialitätsverständnis enthalten, das dann als Orientierung am ‘Allgemeinen’ angemessen beschrieben ist, wenn es gerade nicht als Unterwerfung unter ein gegebenes ‘Gemeinsames’ gedacht wird; was für Fichte die noch nicht gewordene (deutsche) ‘Nation’ ist, ist für Humboldt die ‘Menschheit’ selbst, so dass beide Justierungen verdeutlichen, dass dieses ‘Allgemeine’ allererst entwickelt und hervorgebracht werden muss, nicht aber bloß gefunden werden kann. Wie aber jede Kritik der Bildung als einer bloß auf ‘Individualisierung’ und ‘Verinnerlichung’ gerichteten Erziehung unangemessen ist, weil sie darin die bildungstheoretische Allgemeinheitsorientierung weitgehend übersieht, so ist auch jene Form einer ‘Wertschätzung’ der Bildung, die ausdrücklich auf Allgemeinheit abstellt und genau darin den Vorzug ihrer ‘Humanität’ auszumachen glaubt (vgl. exemplarisch 1984), weitgehend unempfindlich gegenüber deren (logisch wie historisch situierten) Verwicklung in Macht, so dass ‘Bildung’ und ‘Herrschaft’ nicht nur als vermeintliche Gegensätze in Anspruch genommen werden konnten (vgl. Heydorn 1979), sondern deren historisch beobachtbares ‘Ineinander’ immer wieder nur als ‘Verfall’ wie ‘Instrumentalisierung’ einer ‘emphatischen Idee’ und ihrer “Verkehrung in der Wirklichkeit” (Jäger / Tenorth 1987, 89) beklagt werden konnte. Es ist dieses Deutungsmuster der Bildung als eines weitgehend ‘uneingelösten Versprechens’ (Peukert), das – durchgängig bis heute – das bildungstheoretische Nachdenken bestimmt und damit auch den ‘klammheimlichen Erfolg’ der Bildung als einer ‘anthropolitischen Matrix’ verdecken hilft – auch, weil ihr jeweiliger Zugriff auf Individualität und Sozialität gerade nicht (mehr) als spezifischer Aufriss verstanden wird, sondern – oft genug – für ‘die Sache selbst’ gehalten wird208. In dieser Erschleichung aber ist die ‘Macht der Bildung’ selbst weitgehend unbestimmt geblieben; sie aber auch und gerade in ihr selbst zu verdeutlichen (und nicht bloß auf äußere Bedingungen wie Inanspruchnahmen zurückzuführen) war auch das Ziel der Überlegungen, ‘Bildung’ als jenen Mechanismus im deutschen Diskurs auszumachen, der ebenso entschieden wie entscheidend die Vorstellung von Sozialität vom ‘Gemeinsamen’ zum ‘Allgemeinen’ mit verschoben hat.
Wissenschaft weiter gefasst, dass sie durch die Staats- oder Collectivpädagogik vervollständigt, auch der Gesichtspunkt des Platon und Aristoteles wieder genommen werden muss – freilich so, dass man sich in dieser Socialpädagogik über die Idee der Alten erhebt, nicht aber, wie unsre Radicale und Absolutisten sie nur wieder aufwärmt” (Mager 1844, 396). Dass diese Problematik in der Rekonstitutionsphase der ‘Bildung’ um 1900 neuerlich aufgenommen wird und insbesondere mit Natorps Entwurf einer ‘Sozialpädagogik’ (1899) zu größerer Geltung gelangt, belegt die anhaltende Auslegung von ‘Bildung’ als einer bloß individualtheoretisch verfassten Pädagogik (vgl. auch Budde 1913, dessen Sortierung der Pädagogik nach Individual- und Sozialpädagogik bereits die Verbreitung und Selbstverständlichkeit dieser Interpretationsschablone belegt); sie aber übersieht dabei die in Bildung implizierte Orientierung am Allgemeinen als einer auch spezifischen Sozialitätsauslegung. Vgl. dazu insbesondere Kronen 1978 und 1980 wie jüngst Henseler 2000. 208 Mit dem bis heute anhaltenden Effekt, dass alle pädagogischen Grundbegriffe wie Erziehung, Bildung, Lernen und Entwicklung wie sogar Sozialisation nahezu ausnahmslos individualtheoretisch strukturiert sind, so dass in ihnen das einzelne Individuum als nicht weiter zerlegbares ‘kleinstes Element’ fungiert, das dadurch ‘sozial’ gemacht (sprich: sozialisiert) werden muss, dass es die Orientierung am ‘verallgemeinerten Anderen’ (Mead) in sich selbst praktiziert. Vgl. dazu auch Meyer-Drawe 1984 wie Schaller 1987, die mit dem Einsatz in ‘Inter-Subjektivität’ eine insgesamt veränderte Perspektive vorgeschlagen haben.
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Was bislang überwiegend abstrakt – und insofern vermeintlich weniger wirksam – als Matrix der Bildung erarbeitet worden ist, ließe sich am Prozess der Institutionalisierung der Schule als einem neuen gesellschaftlichen Funktionssystem konkretisieren: nicht nur, weil deren erstaunlich schnelle und flächendeckende gesellschaftliche Verankerung im frühen 19. Jahrhundert (auch) als eine der elementaren Bedingungen der Entstehung eines (deutschen) Nationalstaats anerkannt ist (vgl. Jeismann 1996b wie auch Hunter 1994); auch nicht nur, weil mit ihr ‘Bildung’ als ‘kulturelles Deutungsmuster’ (Bollenbeck) zunehmend zu einem Moment auch alltagsweltlicher Lebensführung wurde; sondern vor allem auch, weil die soziale Logik von Individualisierung und Generalisierung zum Prinzip schulischen Handelns selbst geworden ist – sei es in der Etablierung des ‘scholastischen Lernens’ (Prange) als eines die faktischen Unterschiede der ‘Zöglinge’ übergehenden Mechanismus, der in der alleinigen Orientierung an der ‘Sache des Lernens’ formale ‘Gleichheit’ unterstellt und zugleich reale ‘Ungleichheit’ praktiziert, sei es schließlich in der verbindlichen Festsetzung allgemeiner Lehrpläne und Curricula.
V. Es mag vielleicht vor diesem Hintergrund weniger befremdlich anmuten, wenn die mit dem pädagogischen System von Anfang an überaus eng verknüpfte Institution der ‘Prüfung’ nicht bloß als ein pädagogisch bisweilen zwar ungeliebtes, aber durchgängig für unverzichtbar gehaltenes Instrument alltäglich schulischer Disziplinierung verstanden, sondern als Inbegriff schulischer Logik markiert und als praktischer und effizienter Mechanismus der Durchsetzung dieser Sozialitätsfassung ausgelegt wird: nicht nur, weil mit der Etablierung des Schulsystems die Institutionalisierung, Differenzierung und Ausweitung des Prüfungswesens Hand in Hand ging, so dass schließlich Schule zu einem ‘Berechtigungswesen’ schlechthin wurde, mit dem zunehmend auch die veränderte Form einer auf Leistung statt Geburt beruhenden Sozialordnung durchgesetzt wurde (vgl. Jeismann 1996a, 330-346); auch nicht nur, weil gerade sie in ihrer überaus disziplinierenden Wirkung – erfahrungsgesättigt bis heute – als strukturelles Kennzeichen schulischen Handelns überhaupt gelten kann; sondern vor allem, weil ihre innere Logik und soziale Funktion sowohl eine paradoxe Formierung des Selbst als auch die mit gleichzeitiger Individualisierung und Totalisierung markierte Sozialitätsauslegung im Kern repräsentiert wie praktiziert. Es ist dieser Grundzug, der es erlaubt, die Prüfung als einen der ebenso zentralen wie bedeutsamen Subjektivierungsmechanismen auszulegen. Auch wenn die Institution der ‘Prüfung’ vielfach diskutiert und hinsichtlich ihrer sozialen Funktion im gesellschaftlichen Verteilungskampf von Arbeit und Einkommen, ihrer pädagogischen Paradoxalität, etwas überprüfen zu wollen, das durch die Praktik derselben zum Verschwinden gebracht werden kann, und vor allem hinsichtlich ihrer kaum einlösbaren Objektivität und den daraus resultierenden Schwierigkeiten ihrer sozialen Gerechtigkeit und juristischen Absicherung heftig umstritten ist, so sind doch die mit ‘Prüfungen’ – ob gewollt oder ungewollt – einhergehenden Subjektivierungseffekte nur selten expliziter Gegenstand leidenschaftlicher Aus-
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einandersetzungen; vielmehr überwiegt auch hier – wie sooft pädagogisch – eine überwiegend normative Perspektive und verstellt im Streit um Formen schulischer Leistungskontrolle die Frage, wie “Menschen” – auch qua Prüfung – “zu Subjekten gemacht werden” und “sich selbst zu Subjekten verwandeln” (Foucault 1994, 243)209. Auch wenn Prüfung und Examen ursprünglich keine schulischen Erfindungen darstellen und sich schon gar nicht pädagogischen Erwägungen verdanken210, so haben diese sich doch erst mit der Etablierung des Schulsystems seit dem Ende des 18. Jahrhunderts als soziale Institution gesellschaftsweit – auch über die Schule hinaus – fest verankern können. So verdankt sich das Vordringen des Prüfungswesens und die damit immer verzögert einhergehende Verschiebung seiner Akzeptanz insbesondere sich wandelnden Auswahlkriterien für die leitenden Schichten der Gesellschaft; mit ihr ist daher nicht nur ein “erster allgemein bedeutsamer Zugriff des Staates auf das Erziehungswesen in gesellschaftspolitischer Absicht” (Jeismann 1996a, 125) bezeichnet, sondern auch ein zunehmend bedeutsamerer Mechanismus der Konstruktion und Reproduktion sozialer Ordnung markiert, der – gegen Geburt, Zugehörigkeit zu führenden Familien wie traditionelle Patronage gerichtet – mindestens programmatisch auf individuelle Leistungen abstellt, diese als veränderte Auswahlkriterien für soziale Ordnung vorschlägt und damit unzweifelhaft einen Beitrag zur “Entfeudalisierung der Gesellschaft” (Jeismann 1996a, 331) geleistet hat211. Blickt man in die lange und dann doch erstaunlich kurze Geschichte der Prüfung als einer gesellschaftlich-schulischen Institution, so zeigt sich zweierlei: auch wenn es seit dem Ende des 16. Jahrhunderts zunehmend üblich wurde, schulisch vermitteltes Wissen auch qua Extemporales zu überprüfen, weil ein anderer Umgang mit Wissen gesellschaftlich notwendig 209 Während in den 60er und 70er Jahren die Institution der Prüfung kritisch und prinzipiell diskutiert worden ist, überwiegt gegenwärtig ein eher juridisch-pragmatischer Zugriff, der entweder Kriterien möglicher Objektivität – von Fristenbindung über Normalverteilungskurven bis hin zur Berechnung von Fehlerquotienten – problematisiert oder mit Erfahrungsratschlägen und Repetitorien ökonomischen Nutzen zu ziehen versucht; vgl. dazu exemplarisch Grünig u.a. 1999 wie auch zusammenfassend Wengert 2000. Angesichts der auch in den letzten Jahren noch immens gestiegenen Bedeutung der qua Prüfung objektivierten Schulleistungen gilt die Institution der Prüfung – wenn denn überhaupt noch – als ‘Schicksal’ ohne Alternative; doch hat sich das frühere autoritär-repressive ‘Ihr müsst, sonst bekommt Ihr die Quittung auf dem Zeugnis’ inzwischen in ein vermeintlich libertäres ‘Ihr könnt, wenn Ihr nicht wollt, ist das Eure Entscheidung’ gewandelt – und signalisiert damit, dass ‘Prüfungen’ gerade nicht bloß als Zwang und Repression interpretiert werden können (und dürfen), sondern auch als Anrecht und Mittel der Selbstbestimmung verstanden werden müssen und damit der Rhetorik ‘verantwortlicher Fürsorge’ offenstehen. 210 Der Bedeutungswandel des Begriffs der Prüfung (mhd. brüeven, lat. probare, probatio) reicht dabei vom antiken Verständnis der Prüfung als “einer Art selbstbildender [...] Übung” (Foucault 2004c, 532) vor und für sich selbst – eine Prüfung zu bestehen hieß, dem Leben sich auszusetzen und vor sich (!) zu bestehen – über die christliche Fassung der Prüfung als einer Fremdprüfung (vor anderen, letztlich vor dem Anderen) und einer nun andauernden “Grundhaltung im Leben” (ebd.) bis hin zur schulischen Prüfung, die seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts in ihrer zunehmenden Bedeutung wohl kaum zu unterschätzen ist. 211 Jeismanns Seitenblick auf die Einführung von Prüfungen im Militärwesen ist überaus aufschlussreich, geht es – nahezu zeitgleich – doch darum, neben und bisweilen auch gegen ‘Geburt und Stand’ vor allem ‘Kenntnisse und Bildung’ als Möglichkeitsbedingungen einer Offizierslaufbahn zu verankern; so wird in einem ‘Reglement über die Besetzung der Stellen der Portepeefähnriche und über die Wahl zum Offizier’ vom 30. Juli 1808 formuliert: “Einen Anspruch auf Offiziersstellen sollen von nun an in Friedenszeiten nur Kenntnisse und Bildung gewähren, in Kriegszeiten ausgezeichnete Tapferkeit und Überblick. Aus der ganzen Nation können daher alle Individuen, die diese Eigenschaften besitzen, auf die höchsten Ehrenstellen im Militär Anspruch machen. Aller bisher stattgehabter Vorzug des Standes hört beim Militär ganz auf, und jeder hat gleiche Pflichten und gleiche Rechte” (zit. Jeismann 1996a, 332 Anm. 56). Praktischer Mechanismus war auch hier die erfolgreiche Prüfung vor einer Examinationskommission, so dass mindestens prinzipiell der Adelsbrief durch das Zeugnis ersetzt wurde.
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wurde, der sich nicht mehr in Nachsprechen, Aufsagen und Abschreiben erschöpfte, so ist letztlich die Institutionalisierung der Prüfung als verpflichtendes (und anerkanntes) Examen Ergebnis der ersten preußischen Bildungsreform und – dezidiert – auch Tat Humboldts. Ihre strukturelle Ausgestaltung kann dabei zugleich als Bruch mit bisherigen Traditionen schulischer Leistungskontrolle interpretiert werden und setzt erst mit dem 19. Jahrhundert ein (vgl. Wolter 1987 wie 1989). So sehen die seit Ende des 16. Jahrhunderts in verschiedenen Schulordnungen aufgenommenen ‘Extemporales’ – als erste Form schriftlicher Leistungsüberprüfung – vor, in größeren Abständen (alle Vierteljahr) und nur wenigen Fächern die mehr oder weniger eigenständige Reproduktion schulischen Wissens zu kontrollieren; dabei wurde die Arbeit zumeist unmittelbar nach Erledigung in der jeweiligen Klasse besprochen und verbessert – entweder am Tisch des Lehrers oder in Gruppenarbeit mit Hilfe besonders guter oder älterer Schüler. Diese Form eines “Übungs-Extemporales” (Grünig 1999a, 131) bestimmte bis weit ins 18. und 19. Jahrhundert die Praxis schulischer Prüfungen; so bestimmte noch 1737 Johann Matthias Gesner deren Ablauf folgendermaßen: “Die Verbesserung dessen, was auf solche Art geschrieben worden, ist folgender massen vorzunehmen. [...] Im übrigen lässet man im Anfang etliche Knaben zugleich um den Tisch, an welchem corrigiret wird, herumstehen, die ihre Schrifft vor sich haben; und wenn etwas zu erinnern vorkommt, fragt man sie um ihre Meinung, ob dies oder jenes recht geschrieben? Ist die Classe derer, denen einerley zu corrigieren, grösser, als daß sie Platz an dem Tisch finden, so nimmt man nur die schwächsten und unachtsamsten dazu, und befiehlet den andern, an ihrem Ort zu bleiben und Acht zu haben: erinnert sodann die Fehler laut, mit dem bedeuten, daß jeder, so dergleichen habe, es vor sich ändern solle, welches der Lehrer bey denen, die um den Tisch sind, desto leichter bewürcken kan, weil die Kinder wissen, daß sie auf der Nachlässigkeit augenblicklich ergriffen werden können. Wenn drey oder vier Schrifften also durchgegangen, und laut gebessert worden, siehet der Lehrer einige andere überhaupt an, um wahrzunehmen, wie seiner Erinnerung gefolget worden [...]. Dieses ist noch zu gedenken, daß die Correctur des Lehrers nur mit Bleystiffte geschehen, und dem Schüler aufgegeben werden muß, solche mit der Feder nachzuschreiben, damit man versichert werde, daß er es nicht bey des Lehrers Bemühung bewenden lasse, sondern selbst mit Hand anlege” (Gesner 1737, zit. Grünig 1999a, 131). Was so auch in der Kontrolle noch überwiegend Übungszwecken diente, änderte sich erst langsam in der Reformpädagogik des 18. Jahrhunderts und führte – über die bereits zeitgenössisch umstrittenen philanthropischen Meritentafeln und öffentlichen Schulprüfungen (erstmalig 1776) – schließlich zur verbindlichen Verabredung und Festlegung allgemeiner Examenspraktiken (vgl. Rauschenberger 1999, 32ff.). Die wenigen Stationen der Einführung von Prüfungsregelungen lassen sich am Beispiel der Abiturexamina exemplarisch nachzeichnen (vgl. Wolter 1987 wie 1989): vorbereitet durch die Einführung von Examina für den Zugang zum Justiz- und Verwaltungsdienst von 1755 und 1770 wurde im Dezember 1788 in Preußen erstmalig im Königlichen Reglement ‘Prüfung an den Gelehrten Schulen’ der Schulabgang selbst qua Prüfung geregelt. Auch wenn diese Neuregelung selbst weitgehend unvollständig bzw. folgenlos blieb, weil der Hochschulzugang noch bis 1834 auch ohne Abschlussexamen möglich blieb und es zudem keine verbindlichen Lehrpläne gab, so war damit doch ein neues soziales Muster etabliert, das dann 1812 wie schließlich 1834 schließlich zur ebenso regelhaften wie verbindlichen Abschluss- und Zugangsregelung im Bildungssystem wurde. Was philanthropisch sowohl pädagogischer Appell an das Ehr- und Konkurrenzgefühl der Zöglinge als auch Form der Selbstdarstellung der Schule war, um die Tauglichkeit der eigenen Lehrer unter Beweis zu stellen212, bestimmte zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch die Ein 212 Vgl. dazu auch die im ‘Grundriß zur Organisation allgemeiner Stadtschulen’ (1804) angestellten Überlegungen Natorps, der die Prüfung durch die ‘Schulpolicey’ nicht als Bewertung der Schüler inszenieren will,
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führung der ersten beiden allgemein verbindlichen Examen unter der Sektionsleitung Humboldts: das auf die Lehrer bezogene ‘Examen pro facultate docendi’ von 1810 (a) und die Abiturientenprüfung der Schüler, die schließlich 1812 in einem Edikt erlassen wurde (b). (a) War es bislang im schulischen Rahmen durchaus üblich, die Tauglichkeit eines angehenden Lehrers für eine bestimmte Stelle mit bestimmten Aufgaben in den ‘Examen pro loco’, ‘pro ascensio’ oder ‘pro rectoratu’ zu überprüfen (vgl. z.B. ALR II.12 § 22ff.), so kann doch erst das durch Humboldts Unterstützung schließlich 1810 erlassene ‘Examen pro facultate docendi’ als erste verbindlich eingeführte ‘generelle Lehrerprüfung’ (in Preußen) überhaupt gelten, die ohne Rücksicht auf eine bestimmte Person oder Stelle die allgemeine Lehrfähigkeit heranwachsender (höherer) Lehrer testieren sollte und damit erstmalig den Gymnasiallehrerstand als eigenen Berufsstand auch institutionell etablierte (vgl. dazu Jeismann 1996a, 340f.): “jeder, der ‘an öffentlichen oder Privatanstalten einen höheren als den ersten Elementarunterricht ertheilen will’, soll in Zukunft ein von der wissenschaftlichen Deputation in Berlin, Königsberg oder Breslau ausgestelltes Zeugnis über eine Prüfung vorweisen können” (Jeismann 1996a, 334). Aufgabe der Prüfung ist es daher, “ohne Rücksicht auf gewisse Lehrerstellen nur die Tauglichkeit der Subjekte für die verschiedenen Arten und Grade des Unterrichts im Allgemeinen auszumitteln” (Edikt vom 12. Juli 1810, zit. nach Baumgart 1989, 69). Wie schwer aber der Gedanke einer von allen konkreten Bezügen losgelösten allgemeinen Qualifikation zu denken war, zeigen die Beratungen in der von Humboldt geleiteten Sektion, die allesamt um die Frage der notwendigen Generalität der Prüfung und ihrer möglichen wie nötigen Ausnahmen kreisten (vgl. exemplarisch Schleiermacher 2000a wie insgesamt Jeismann 1996a, 333-336). (b) Nur wenig später wurde mit dem Abituredikt ‘Wegen Prüfung der zu den Universitäten übergehenden Schüler’ von 1812 ein auf die Schüler bezogenes Prüfungspendant erlassen, so dass nun auch jeder Abiturient sich einer mündlichen und schriftlichen Prüfung in nahezu allen Fächern unterziehen musste; auch wenn das (bestandene) ‘Abitur’ (noch) weder notwendig noch hinreichend war, um zur Universität zugelassen zu werden – die Abschaffung der Universitätsprüfung erfolgte erst 1834 (vgl. Wolter 1989, 22-27) –, so war es doch seitdem für alle erforderlich, ein Schulabschlussexamen – eine Abiturientenprüfung – abzulegen (vgl. auch insgesamt Baumgart 1989, 70f.). Trotz des Abiturcirculars vom 23. Dezember 1788, dessen Bestimmungen für den Übergang der Schüler auf die Universitäten als unzureichend und zu wenig allgemein galten (vgl. Neigebaur 1826, 289 wie auch Lundgreen 1980, 66), kann erst das Edikt über die Abiturienten-Prüfungen vom 25. Juni 1812 als verbindliche Auslegung und Ausdifferenzierung der Vorschreibung in § 64 des Allgemeinen Landrechts gelten, dass “kein Landeseingeborner, welcher eine oeffentliche Schule besucht hat, [...] ohne ein von den Lehrern und Schulaufsehern unterschriebenes Zeugniß ueber die Beschaffenheit der erworbenen Kenntnisse und seines sittlichen Verhaltens, von der Schule entlassen werden soll” (ALR II. 12, § 64; vgl. auch Neigebaur 1826, 288). Unter der Überschreibung, “eine möglichst sorgfältige Bildung der Studierenden in Unsern Staaten zu befoerdern” (Edikt, zit. Neigebaur 1826, 289), zielte die Regelung der Abiturientenprüfungen gerade nicht darauf, den freien Übergang “auf die Universität unbedingt zu verbieten” (ebd.), so dass nur bei bestandener Prüfung ein Studium möglich gewesen wäre, sondern darauf, qua Zeugnis “die Beschaffenheit der jedesmal zur Universität übergehenden Schüler” hinsichtlich ihrer “Anlagen zu wissenschaftlichen Studien” (Neigebaur 1826, 290) zu ermitteln und den Eltern und Vormündern in Form dreier Abstufungen (‘pro I., pro II., pro III.’) bekanntzugeben. Damit aber war die Prüfung, die seitdem für alle zukünftigen Studenten verbindlich vorgeschrieben und “allgemein gemacht” (ebd.) worden war, lediglich eine “Benachrichtigung von dem Bildungszustande” (ebd.) und sondern dahingehend bestimmt, dass “Lehrer und Schüler [...] vor dem Publico gleichsam Rechenschaft ablegen” (Natorp § 77, zit. Grünig 1999a, 121) sollen. Rahmen eines solchen “Actus soll ein eigentliches Schulfest seyn zur Erbauung und zur Erfreuung für Kinder, Eltern und Lehrer” (ebd.).
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wurde als “das wohlmeinende, lediglich auf das Beste des Schülers gerichtete Urtheil der Lehrer über seine Anlagen zu wissenschaftlichen Studien” (ebd.) überwiegend ‘fürsorglich’ begründet. Dabei ging es vorrangig nicht um eine ‘Prüfung des Gedächtnisses’213, sondern um die Feststellung einer umfassenden “Reife” (ebd. 291), die sich gerade nicht nur auf die “Reife des Geistes und Wissens” (ebd.) beschränken durfte, sondern auch die “Reife des Charakters” (ebd.) testierte und die Einstufung der Schüler hinsichtlich ihrer “Auffuehrung gegen Mitschueler” und “Vorgesetzte”, ihres “Fleiß” und ihrer “Kenntnisse” (ebd. 300) vornahm (vgl. insgesamt auch Schleiermacher 2000b). Gerade mit Blick auf die Themenkataloge zeigt sich, dass zwar durchaus ein erhebliches Grundwissen vorausgesetzt war und auch abgefragt werden sollte, dass es aber – daneben und darin – vor allem um die selbsttätige Beschäftigung, Auslegung und Aneignung für bedeutsam gehaltenen kulturellen Wissens ging. Schließlich: die Einführung allgemeiner Prüfungen und Zeugnisse führte auch dazu, dass Prüfungen und Testate zum Instrument schlechthin der Ordnung des schulischen Systems wurden; nicht nur Abgangs- und Aufnahmeprüfungen, auch Versetzungsprüfungen und ständige Leistungskontrollen sind bereits früh im 19. Jahrhundert schulischer Alltag geworden (vgl. Grünig 1999a wie auch Rauschenberger 1999). Nur heute – im Kontext eines emphatischen Bildungsverständnisses (vgl. Spranger 1965, 232) – ist verwunderlich, dass gerade Humboldt als einer der wichtigen Protagonisten des Prüfungswesens gelten kann. Insbesondere seine Einschätzung der 1788 erlassenen, insgesamt aber überaus vagen gesetzlichen Regelung des Übergangs zur Universität belegt diese Orientierung: “Eines der grössten Gebrechen unsres Schulwesens ist die Nachlässigkeit bei den Prüfungen der von den gelehrten Schulen zur Universität abgehenden jungen Leute [...]. Einführung grösserer Strenge bei jenen Prüfungen [...] [ist] daher ein Hauptaugenmerk der Section” (Humboldt 1903, X, 240). Auch die Einführung des Lehrerexamens kommentiert Humboldt mit ‘Strenge’, geht es doch zunächst darum, “das Eindrängen und Vorkommen mittelmässiger und schlechter Schullehrer oder wenigstens solcher, die, bei anderweitigen Verdienst, sich doch für diesen Beruf nicht schicken, zu verhindern und bessere an ihre Stelle zu setzen” (ebd. X, 214). Schließlich – nicht nur Schülerabgangsexamen und Lehrereingangsexamen, auch allerlei Zwischenexamen werden von Humboldt befürwortet und installiert, gilt es doch, “dass Niemand von einer niedrigeren Schule zu einer höhern und in dieser von einer Classe zur andern übergehe, ehe seine Fähigkeit zu diesem Uebergange gehörig geprüft ist und der bisherige Lehrer den Schüler dem folgenden mit der lebendigen Ueberzeugung übergeben kann, dass er die bisherige Stufe erreicht hat und nun zur nächsten reif ist” (ebd. X, 207f.). Was aber als hilfreiche, vielleicht auch bloß nötige Pragmatik erscheint, wird bei Humboldt ausdrücklich geschätzt und dann gar bildungstheoretisch begründet; in einer durch vereinzelten Widerspruch in der Section angeregten Stellungnahme ‘Über Prüfungen für das höhere Schulfach’ (1810; vgl. insgesamt Humboldt 1903, X, 239-242) skizziert Humboldt seine grundsätzliche Haltung: nicht nur sind Prüfungen ein gutes “Sicherungsmittel gegen das Einschleichen mittelmässiger oder schlechter Lehrer” (ebd. 239), erlauben sie doch, “schon im Voraus einen bestimmteren Begriff von dem Subjecte fassen zu können” (ebd.); vielmehr eignen sie sich vorzüglich dazu, eine “pädagogische Schule” als eine “pädagogische Genossenschaft” (ebd. 240) entstehen zu lassen: “wenn es wichtig ist, durch Zwang bewirkte Einheit der Ansichten zu verhüten, so ist es ebenso wichtig, durch eine gewisse Gemeinschaft (die nie ohne eine Absonderung des nicht zu ihr Gehörenden denkbar ist) eine Kraft und einen Enthusiasmus hervorzubringen, welche dem einzelnen und zerstreuten Wirken immer fehlen, 213 So bestimmte Gedicke bereits in einer Prüfungsverordnung von 1793 den Zweck der Prüfung: “Dabei kommt es nicht auf eine Prüfung des Gedächtnisses an, sondern es muss vornehmlich darauf gesehen werden, ob der junge Mensch Anlage zum Denken, Fähigkeit, leicht, schnell und gründlich die seinem Alter angemessenen Begriffe zu fassen, und überhaupt einen hellen und schnell wirksamen Verstand und besonders richtige und gesunde Beurtheilungskraft verräth” (Gedicke, zit. Tenorth 2001b, 12).
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welche den Schlechten von selbst entfernen, den Mittelmässigen heben und leiten, und die Fortschritte auch der Besten noch befestigen und beflügeln” (ebd. 240). Humboldt fährt fort: “Dieser letzte und wichtigste Zweck kann aber nur erreicht werden, wenn es dahin kommt, dass man die Prüfungen mit einer gewissen Freudigkeit ergreift und sie als eine Gelegenheit, seine Kräfte zu üben und zu beweisen ansieht. Um dies zu erreichen, wäre es vielleicht gut, der Verordnung zugleich einen befehlenden und einen bloss auffordernden und einladenden Theil zu geben” (ebd. 240). Humboldts Ein- und Wertschätzung der Prüfung folgt so nicht nur der Logik einer ‘fürsorglichen Disziplinierung’, die ‘zum Wohle’ der Betroffenen selbst praktiziert wird, so dass sie schließlich auch noch gerne übernommen und freiwillig erfüllt werden sollte; sondern in ihr finden sich auch Individualität und Allgemeinheit auf fast untrennbare Weise verknüpft.
Vor diesem Hintergrund nun kann mit der Prüfung eine der zentralen Praktiken des Bildungswesens überhaupt bezeichnet werden, in der sich nicht nur die neue (Reproduktions-)Logik der modernen Gesellschaft qua schulisch ‘produzierter’ und individuell zurechenbarer Leistung niederschlägt (mitsamt dem daran hängenden Berechtigungswesen); vielmehr muss die Prüfung selbst auch als einer der bedeutsamsten Mechanismen der Formation moderner Subjektivität verstanden werden: als Formation des Selbst, in der sowohl Autonomie qua Disziplinierung als auch Individualität qua Totalisierung hergestellt wie reguliert wird214. So hat zunächst Foucault in einer disziplinartheoretischen Mikroanalyse (vgl. Foucault 1976, 238-250) die ‘Prüfung’ als Miniatur der auf Wissen basierenden Disziplinarmacht analysiert – “In dieser winzigen Technik steckt nämlich ein ganzer Wissensraum und ebenso ein ganzer Machttyp” (ebd. 238) – und deren Effektivität als ‘Normalisierung’ (vgl. ebd.) beschrieben215; dabei meint ‘Normalisierung’ weniger die Durchsetzung einer “normierenden Sanktion” (ebd. 238), wie die deutsche Übersetzung fälschlicherweise nahelegt (vgl. Foucault 1975, 217: “la sanction qui normalise”), sondern die Etablierung einer ‘Normalität’, die die einzelnen in ihren Verschiedenheiten sortiert und plaziert. “Es geht immer weniger um jene Wettkämpfe, in denen die Schüler ihre Kräfte maßen, und immer mehr um einen ständigen Vergleich zwischen dem einzelnen und allen anderen, der zugleich Messung und Sanktion ist” (Foucault 1976, 240). So begnügt sich die Prüfung pädagogisch gerade nicht mehr damit, eine Lehrzeit – qua ‘Meisterstück’ – zu beenden, sondern wird zum Dauerzustand schulischen Lernens, indem sie schließlich – vom institutionalisierten Gelegenheitsmittel – zur ständigen Struktur auch dann wird, wenn gar nicht explizit geprüft wird; es ist daher nur konsequent, wenn Foucault den Beginn der Pädagogik
214 Dieser Blick ergänzt und verschiebt – nicht ersetzt – die weithin verbreitete Problematisierung der Prüfung hinsichtlich ihrer zwingend erforderlichen Objektivität; vgl. dazu zusammenfassend Wengert 2000, 240-263 wie immer noch die Beiträge in Ingenkamp 1971, Weinert u.a. 1973 und 1974 (u.a. von Beckmann und Zielinski). 215 Fast scheint es, als ob Foucaults Frage – “Wer jedoch wird die allgemeinere, unschärfere, aber entscheidendere Geschichte der Prüfung schreiben [...]?” (Foucault 1976, 238) – bis heute nicht beantwortet worden ist – auch nach längerer Recherche: ein überaus irritierender Befund. Vgl. dazu die insgesamt doch spärlichen Passagen in Lundgreen 1980 und 1981, Blankertz 1982, 181-186 wie Tenorth 2000, 144f.; aufschlussreicher sind Jeismann 1996a, Wolter 1987 wie 1989, Grünig 1999a wie auch – wenn auch kurz – Rauschenberger 1999.
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“als einer Wissenschaft” gerade mit der Etablierung der “Prüfungsschule” (ebd. 241) verknüpft. Seine drei thesenartigen Kennzeichnungen des Mechanismus der Prüfung erlauben daher, diese als “dauernd wiederholtes Machtritual” (ebd. 240) zu lesen, in dem Autonomisierung und Disziplinierung wie Individualisierung und Totalisierung miteinander verknüpft sind: erstens wird in der Prüfung die ‘Ordnung der Sichtbarkeiten’ umgekehrt, so dass nicht die (souveräne) Macht sich präsentiert und insofern repräsentiert wird, sondern das einzelne Individuum sichtbar gemacht wird; damit geht zweitens einher, dass die solchermaßen sichtbar gemachte Individualität “dokumentierbar” (Foucault 1976, 243) ist und dadurch – schließlich drittens – zu einem “Fall” (ebd. 246) gemacht werden kann216. Alle drei – von Foucault so benannten – Momente aber legen nahe, die Prüfung nicht nur als einen disziplinartheoretisch überaus bedeutsamen Mechanismus zu interpretieren, sondern diesen auch hinsichtlich seiner Subjektivierungseffekte pastoraltheoretisch auszulegen, der – auch und gerade um des Prüflings willen – nicht nur qua Trennung von anderen und Neuzusammensetzung effektiv individualisiert, sondern die solchermaßen hergestellte Individualität auf sich selbst zurückführt und an sich bindet wie zugleich auf eine Allgemeinheit bezieht, die sich in jene selbst einträgt und habituell fortschreibt. So ist es dann kaum abwegig noch, dass Foucault gerade das ‘Ritual der Prüfung’ als “Wahrheitsritual” (ebd. 250) des Wissens gekennzeichnet und mit der ‘Beichte’ als dem ‘Geständnisritual des Fleisches’ parallelisiert hat. Befragt man nun die Institution der Prüfung hinsichtlich ihrer Subjektivierungseffekte, so lassen sich drei Dimensionen – hinsichtlich des Verhältnisses zum Wissen (a), des Verhältnisses zu sich selbst (b) und des Verhältnisses zu anderen (c) – unterscheiden; allen drei gemeinsam ist dabei eine paradoxe Struktur, die sich auch als Strategie der (zunehmenden) Trennung und Immunisierung des Selbst beschreiben ließe: (a) Hinsichtlich des Wissens produziert die Prüfung ein paradoxes Verhältnis: in ihrer Konzentration auf das positiv verfügbare Wissen führt sie – und das durchaus auf beiden Seiten einer Prüfung – zwangsläufig zunächst dazu, das jeweilige und nicht vermeidbare Nichtwissen zu verbergen – mit dem Effekt, dass sich dieses subtil in den Vordergrund drängt und das Prüfungsgeschehen dominiert. Gerade weil der Prüfling (wie aber auch der Prüfer) sich als jemand zeigen will, der weiß, ist er permanent bemüht, sich nicht als jemand zu zeigen, der nicht weiß; in dieser Konzentration auf das Gewußte aber befördert die Prüfung vermeintlich erreichbare Souveränität217 und negiert darin zweierlei Bedingungen des Wissens: zum einen, dass die 216 So gilt die ‘Prüfungsakte’ bis heute als ein “bleibendes Dokument” (Jeismann 1996a, 332), das hoheitlich verwaltet und verwahrt werden muss. 217 Was auch für den Prüfer selbst gilt, so dass die Gefahr, in der Bloßlegung des Prüflings sich selbst als (Besser-)Wissender zu konstituieren, gerade nicht bloß äußerlich und insofern charakterlich schäbig ist, sondern selbst als ein Strukturmerkmal der Prüfung gelten muss. Vgl. dazu auch die Studie von Beckmann 1973, die belegt, dass gerade die Attribuierung schlechter Prüfungsergebnisse fast immer gegen die Prüflin-
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Bedingung allen Wissens das Nichtwissen und Nichtverstehen ist, insofern Wissen streng an offene Fragen und eigene Reflexivität gebunden ist; zum anderen, dass jedes Wissen immer ein soziales Wissen ist, das weder allein gewusst werden kann noch auf ein Individuum allein zurückzurechnen ist. Die Prüfung prämiert aber nicht nur jenen Wissenstyp, der als ‘Halbbildung’ (Adorno) längst traurige Berühmtheit erlangt hat – also jenes vergegenständlichte Wissen, das um seine reflexive und insofern immer relative Konstitution nicht mehr weiß bzw. nicht radikal wissen darf –, sondern befördert auch jenes konventionelle und bornierte Wissen, das sich entlang von wechselseitigen Erwartungen und Erwartungserwartungen etabliert. Beide Momente aber führen schließlich dazu, dass ‘Prüfungswissen’ oft genug schlicht wertlos ist218, so dass die Prüfung letztlich auf das reduziert wird, was sie selbst nicht sein will – und damit zu einer paradoxen Veranstaltung gerät. (b) Auch hinsichtlich des Verhältnisses zu sich selbst kann die Prüfung als eine bedeutsame rituelle Praxis interpretiert werden, die gerade durch ihre zunehmenden Bemühungen um eine Objektivierung des Prüfungsprozesses zu einer paradoxen Subjektivierung beiträgt, die in der Fixierung auf Objektivitäts- und Gerechtigkeitsfragen nur allzu leicht übersehen wird. Dabei läßt sich die Logik der Subjektivierung als Rückseite eben dieser impliziten Objektivitätsorientierung beschreiben219: die Prüfung ist nicht nur immer eine durchaus erstaunliche soziale “Vergegenständlichung des Einzelnen” (Schäfer 1998, 168), insofern sie den Prüfling – wie begründet und erfolgreich auch immer – objektiviert und in einen durch an Standards gewonnenen Unterschieden aufgespannten sozialen Raum (des Allgemeinen) sortiert, der sich an den vergebenen Noten bemessen läßt; vielmehr bringt sie das Subjekt als Instanz der Zurechenbarkeit, als denjenigen, der für das dokumentierte Wissen und Nichtwissen selbst verantwortlich ist, allererst hervor, indem sie die soziale Objektivation dem geprüften Individuum als etwas zurechnet, was in dessen Verfügungsmacht steht. Gerade die vielfältigen Bemühungen um die dringend erforderliche Objektivität der Prüfung – von der “Standardisierung des vermittelten Unterrichtsstoffes” über die “methodische Aufbereitung” und die Sicherung der “individuellen Zugänglichkeit des Stoffes” als Sicherstellung gleicher Lernvoraussetzungen bis schließlich zur Erarbeitung objektiver Leistungsstandards als “Bewertungsrahmen” (ebd. 168) – ge gewandt wird – während umgekehrt gute Prüfungsergebnisse nur allzu oft auf den (eigenen) guten Unterricht zurückgeführt werden. 218 Die allzu bekannten, fast jede Prüfung begleitenden Sätze – vom vorgängigen ‘Der will doch nur dieses und jenes hören!’ über das verteidigende ‘Das hatten wir noch nicht!’ bis hin zum enttäuschten ‘Es ist gar nicht alles drangekommen!’ – mögen dieses veranschaulichen wie belegen helfen. Überhaupt stellen sie ein überaus bedeutsames Arsenal für die Analyse der Logik von Prüfungen dar und lassen sich gerade nicht als bloß defensives Begleitrauschen (der Selbstrechtfertigung etc.) abtun. 219 Alfred Schäfer hat in einer kleinen Studie zu Formen ritueller Subjektivierung (vgl. Schäfer 1998) den Mechanismus der Prüfung analysiert und entlang der leitenden Vermutung, dass das europäische Subjektkonzept – “das das Individuum als seinen Handlungen zugrundeliegendes begreift” (ebd. 166) – selbst “etwas ist, was die Vorstellung seiner realen Bedeutsamkeit selbst rituellen Inszenierungen verdankt” (ebd.), als einen praktisch überaus bedeutsamen, spezifisch westlichen Subjektivierungsmodus interpretiert.
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führen dazu, dass “der Schüler lernt, sich seine Objektivierungen als Leistungen selbst zuzurechnen: Er ist alleine verantwortlich für die Qualität dieser Leistungen und damit für seine soziale Position wie Zukunftschancen” (ebd. 169). Bei allem Wissen um die kaum auszuschaltende Relevanz der beeinträchtigenden Momente einer jeden Prüfung – von den psychischen Prüfungsblockaden bis hin zur unaufhebbaren Ungleichheit der Lernvoraussetzungen und Lernwege –, der Effekt ist dennoch unabweisbar: der Prüfling versteht sich nicht nur als das den gemessenen Leistungen zugrundeliegende und allein für diese verantwortliche Subjekt, sondern erlernt sich zudem als “ausschließlich verantwortliches Subjekt seiner biographischen Karriere” (ebd. 169). Es ist die soziale Bedeutung der eigenen Objektivation, die dem Geprüften als etwas, worüber er zu verfügen vermag bzw. zu verfügen vermögen sollte, zugerechnet wird und der er sich – trotz allen besseren Wissens um die Relativität der Prüfung, d.h. der Bezogenheit auf andere – nicht entziehen kann: sich für das, was andere ‘bemessen’, verantwortlich zu fühlen und sich – auch noch in der Bestreitung der Prüfung – als eigene Leistung zuzurechnen220. Die Form der produzierten Subjektivität ist wiederum paradox: nicht nur, weil Zurechnung und Zuschreibung der faktischen Zurechenbarkeit und Verfügbarkeit bisweilen erheblich widerstreiten, so dass Subjektsein immer auch eine Form der (Selbst-)Überanstrengung impliziert und sich darin einer Selbstverkennung verdankt; sondern auch, weil Affirmation und Negation des Selbst Hand in Hand gehen, so dass jede Selbstgewißheit letztlich von Mangelempfinden durchzogen bleibt und zu kompensatorischen Handlungen drängt. (c) Schließlich läßt sich das in und durch Prüfungen produzierte Verhältnis zu anderen als ein letztes Moment der Subjektivierungseffekte skizzieren: in ihrem praktischen Mechanismus illustriert die Prüfung die Logik gleichzeitiger Individualisierung und Totalisierung, zehrt sie doch in ihrer Konzentration auf das einzelne zu prüfende ‘Subjecte’ zunächst von zweierlei Allgemeinheitsunterstellungen, die bis dahin aufgrund der faktischen Unterschiede und Vielfalt zu denken nicht möglich waren: generelle Prüfungen setzen allgemeine Prüfungsthemen voraus (vgl. Neigebaur 1826, 291ff.), so dass auch die Arbeit an den Lehrplänen zu einem zentralen Aufgabenbereich der Sektion werden konnte und musste (vgl. Humboldt 1903, X, 215 u.ö.); zugleich verlangt dies die Etablierung annähernd gleicher Prüfungsmaßstäbe und allgemeiner Regularien (vgl. auch Neigebaur 1826, 293ff.), so dass spezifische ‘Prüfungscommissionen’ eingesetzt wurden (und – im Fall des ‘examens pro facultate docendi’ – auf bloß drei Prüfungsorte beschränkt wurden). Mit beiden Allgemeinheitsmarkierungen aber geht ein dritter Mechanismus einher, der als Verortung und Plazierung des einzelnen Individuum in einem durch Allgemeinheitsmaßstäbe konstruierten sozialen Raum beschreiben werden kann: was ich kann und 220 Schäfer vermag, diese (bisweilen nur noch absurde) Logik am Beispiel der Probestunde im Referendariat plastisch zu verdeutlichen (vgl. Schäfer 1998, 173-176): der Lehramtskandidat muss sich nicht nur die Organisation und Durchführung des Unterrichts allein zurechnen, als ob die SchülerInnen daran wenig oder keinen Anteil hätten und deren Lernwege wie auch die Bedeutsamkeit des Inhalts stellvertretend von ihm beherrscht werden könnten, sondern muss auch noch die soziale Bedeutung dessen, was er tut, wissen und auf sich selbst nehmen.
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bin, wird nicht nur vor dem Hintergrund normierter Erwartungen ermittelt und als Einzelleistung bewertet, sondern auch – in ein und dem gleichen Mechanismus – auf eine kontinuierliche Allgemeinheit abgebildet, so dass schließlich nicht die Bewertung an sich, sondern allererst der Vergleich mit anderen mir Aufschluss über mich selbst zu geben scheint. Es ist diese komparative Logik, die die Problematik einer jeden Prüfung und Bewertung ausmacht; in ihrer pädagogischen Variante beansprucht sie zugleich, um das ‘Heil’ ihrer Zöglinge willen praktiziert werden zu müssen221. Die ‘Prüfung’ – so ließe sich diese kurze Skizze bündeln – kann und muss als eine mit der ‘Idee der Bildung’ logisch wie institutionell verknüpfte soziale Institution ausgelegt werden: nicht nur, weil kaum ein anderer sozialer Ritus eine solche Verbreitung erfahren hat, und es in modernen Gesellschaften nahezu kein Gesellschaftsmitglied gibt, das nicht seine eigenen Erfahrungen in und mit der Prüfung gemacht hat; sondern vor allem, weil ihr wichtigster Effekt – der einer paradoxen Subjektivierung – als alleiniger Grund der Beibehaltung der Omnipräsenz von Prüfungen gelten kann. Pointiert: das einzelne Individuum wird als letzter Bezugspunkt, als “fiktives Atom” (Foucault 1976, 249) und ‘Grundbaustein’ von Sozialität etabliert, indem es von anderen getrennt und auf sich selbst verwiesen wie reduziert wird; zugleich wird es auf eine durch Normalität kennzeichenbare Allgemeinheit projiziert, so dass Gesellschaft als nachgängige Zusammensetzung aller einzelnen zu einem Ganzen vorstellbar wird. Damit aber setzt die Prüfung erst ins Werk, was als moderne Logik expliziert wurde: so wie die Prüfung jene auf Allgemeinheit bezogene und an ihr orientierte Individualität allererst hervorbringt, indem sie die einzelnen nicht qua Ein- und Beschränkung, sondern durch Aufforderung, Entfaltung und Steigerung zu führen sucht und so als Individuen nicht negiert, sondern allererst produktiv hervorbringt, so ist auch mit ‘Bildung’ einer jener Mechanismen benannt, der die Formation des Sozialen vom ‘Gemeinsamen’, unter das man sich zu unterwerfen hatte, zum ‘Allgemeinen’, das allererst entwickelt werden muss, verschoben hat222.
221 So wird bereits zeitgenössisch darauf hingewiesen, dass es in der Prüfung nicht – wie noch im Extemporale – um Übung und Korrektur geht (vgl. Neigebaur 1826, 294 (§ 11)), sondern um Bewertung und Einstufung, die es nicht erlauben, zum “‘Stande der Unschuld’ zu Gesners Zeiten” (Cauer, zit. Grünig 1999a, 135) zurückzukehren. So erlangt die Frage der Leistungsmessung und ihrer Objektivierung gerade im 19. Jahrhundert eine – bis heute anhaltende – zentrale Bedeutung, die sich zunehmend aus der neuen grundsätzlichen ‘Bildungsstruktur’ der Gesellschaft erklärt. 222 Nur in diesem individualtheoretischen Aufriss ist denkbar, was schließlich mit Durkheims Perspektive der ‘Sozialisation’ üblich geworden ist und bis heute eine der soziologischen Schwierigkeiten ausmacht (so dass von Anfang an mit zu denkende ‘Bezogenheit’ als Moment des Selbst immer noch auch auf Unverständnis stoßen kann; vgl. Elias 1987): dass Individuen ‘sozialisiert’ werden müssen – d.h. nachgängig auf eine Sozialität bezogen und in sie integriert werden müssen.
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Bildung und Subjektivierung – Eine machttheoretische Bilanz in kritischer Absicht “Der einzige, der nach seinem Willen handelt, ist der, der nicht auf die Hilfe eines anderen angewiesen ist.” (Jean-Jacques Rousseau) “Herrschaft beginnt mit dem Versuch, Abhängigkeit zu leugnen. Niemand kann sich der Abhängigkeit von anderen oder dem Wunsch nach Anerkennung entziehen.” (Jessica Benjamin) “Argaz sirgazen, Rabbi imanis.” [“Der Mensch ist Mensch durch die Menschen; nur Gott ist Gott durch sich selbst.”] (Kabylisches Sprichwort)
‘Bildung’ markiert eine der zentralen gesellschaftlichen Praktiken moderner Subjektivierung und muss daher als – explizit anthropologisch operierende – ‘Figuration der Macht’ erläutert werden, die individuelle Selbsttätigkeit nicht negativ als etwas aufgreift, das – aufgrund seiner moralischen Zweideutigkeit und Zweifelhaftigkeit – zurückgedrängt werden müsste, sondern produktiv zu bearbeiten und qua Steigerung zu formieren sucht. Sie insofern als ein spezifisches Verfahren auszulegen, “durch die in unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden” (Foucault 1994, 243), impliziert daher, ‘Bildung’ gerade nicht – wie immer wieder praktiziert – als ‘Entdeckung’ oder gar ‘Erfindung’ menschlicher Subjektivität und Selbstbezüglichkeit überhaupt zu verstehen; auch in ihrer vermeintlich bloß analytischen Focussierung der ‘Formwerdung des Individuums’ (Bokelmann) stellt sie vielmehr einen überaus effektiven Mechanismus dar, der – gerade in seiner Vieldimensionalität und alle ‘Weltzugänge’ erfassenden Betonung der ‘Innerlichkeit’ – ‘Individualität’ in spezifischer Weise allererst hervorbringt und produziert. Ihre Effektivität besteht dabei darin, dass sie – neben und in ihrer flächendeckenden gesellschaftlichen Institutionalisierung im Bildungssystem – eine spezifische Matrix für menschliche Selbstbeschreibungen und Deutungen bereit stellt, “durch die die Individuen dazu angehalten werden, auf sich selber zu achten” (Foucault 1986, 11) und sich – in den jeweiligen Anderen- und Weltbezügen – um sich selbst zu sorgen. Gerade aber weil die spezifische Form der ‘Bildung’ immer wieder als quasi-natürliche und definitive Figur menschlicher Selbstauslegung aufgenommen worden ist und insofern auch gegenwärtig noch als die praktische Anthropologie der Moderne gelten kann, vermag sie, in ihrer Betonung der schlechthinnigen Selbstrückbezüglichkeit aller Erfahrungen und Handlungen die – dadurch praktizierte – spezifische Strukturierung des Selbstverhältnisses zu kaschieren223. 223 Für die Konkretion einer hier nur theoretisch entwickelten ‘Matrix der Bildung’ wären unterschiedliche empirische (überwiegend qualitative) Studien nicht nur wünschenswert und anschlussfähig, sondern auch notwendig, um die Frage, was es heißt, unter dem Anspruch von ‘Bildung’ sein Leben zu leben, zu präzisieren. Vgl. dazu erste Ansätze in Reinhartz 2001, die in ihrer Befragung von Magisterstudierenden einige auch
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Auch wenn ‘Bildung’ hinsichtlich ihrer inhaltlichen Bestimmung und praktischen Konkretion notwendig umstritten ist (und sein muss, um sich als spezifische Form zu verbergen), so ist es ihr spezifischer kategorialer Aufriss, der wirksam ist, indem er sich in die nicht vermeidbare differentielle Struktur menschlichen Lebens – sein Leben qua Reflexion und Selbstdeutung nicht bloß ‘leben’ zu können, sondern (in wie kleiner oder großer Distanz zu sich auch immer) ‘führen’ zu müssen – einlagert und die Selbstführung schließlich ‘von innen’ führt. Dies aber verlangte im argumentativen Durchgang zweierlei: einerseits das Problem der Macht nicht nur als eines der Fremdbestimmung bzw. Durchsetzung letztlich bloß repressionstheoretisch zu fassen, sondern – im Rückgriff auf Foucaults Transformation der Macht – auch als einen produktiven Mechanismus aufzunehmen und mit dem Problem der ‘anthropologischen Differenz’ zu verknüpfen; und andererseits ‘Bildung’ selbst als ein zwar auch theoretisch reflektiertes, aber insbesondere praktisch dimensioniertes ‘anthropologisches Deutungsmuster’ zu rekonstruieren und in seiner spezifischen Matrix zu bestimmen. Es ist daher weniger das ‘Ideal des Gebildeten’ (Spaemann), das ebenso vielfach wie heterogen variiert worden ist und inzwischen bildungstheoretisch weitgehend negiert wird, sondern die in ‘Bildung’ implizierte ‘Form’, die subjektivierend wirkt. Entscheidend aber ist, die Form der Subjektivierung qua ‘Bildung’ nicht vor einer vermeintlich abstrakt und insofern vermeintlich universal gültigen Folie allgemeinen Menschseins hinsichtlich ihrer Angemessenheit oder Unangemessenheit zu diskutieren und sie insofern als ‘wahre’ oder ‘falsche’ Selbstauslegung zu preisen oder zu demaskieren, sondern in der Rekonstruktion der Mechanismen der Subjektivierung nach dem ‘Preis’ der jeweiligen Subjektivierung fragen zu lernen (vgl. Foucault 1983, 26). Der aber – so die hier unterlegte anthropologische Überzeugung – lässt sich erst abschätzen, wenn ‘Menschen’ weder bloß als Substanzbestimmung gedacht werden, so dass diese nur bereits vorgegebenen Bestimmungen auf die Schliche kommen müssen, noch als Unbestimmtheit und offener Konstruktionsraum zur Geltung gebracht werden, in dem sie sich allererst ‘ex nihilo’ selbst erfinden; vielmehr lassen sich die verschiedenen ‘Modi der Subjektivierung’ erst erhellen (und auch miteinander vergleichen), wenn sie vor einer strukturalen Folie sichtbar gemacht werden können, in die die unterschiedlichen Dimensionen möglicher Selbst-, Anderen- und Weltrelationen eingetragen sind und vor dem Problem der ‘anthropologischen Differenz’ – sich selbst zugleich gegeben, aufgegeben und entzogen zu sein – erläutert werden können (vgl. Ricken 2004a). Erst von hier wird dann vielleicht deutlicher, was jeweilig gewonnen, aber auch verloren geht oder gar geopfert wird, wenn Subjektivierung so – oder anders – gedacht und praktiziert wird224.
lebensweltlich relevante Bedeutungsräume dessen, was ‘Bildung’ heißen kann, auszuloten versucht hat. 224 Auch wenn formal betrachtet Subjektivierungsforschung der Sozialisationsforschung zuzurechnen ist, so zwingt ihr kategorial anderer Aufriss doch dazu, diese auch von traditioneller Sozialisationsforschung deutlicher abzugrenzen – mindestens dann, wenn ‘Subjektsein’ in Sozialisationsforschung als weithin unbefragte Kategorie und Norm von Sozialisation selbst gilt, so dass im Zugriff bereits die Perspektive einer Subjektivierungsforschung verfehlt wird; vgl. exemplarisch Hurrelmann 2002.
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I. Die ‘Form der Bildung’ als einer anthropologischen Matrix ließ sich – so seien hier die vorangegangenen Überlegungen erinnert – als eine Figur der Subjektivation bestimmen und in doppelter Hinsicht als eine ‘Formation des Selbst’ (a) wie eine ‘Formation des Sozialen’ (b) erläutern: (a) ‘Bildung’ konstituiert das Individuum als Subjekt seiner selbst: weithin unbestimmt und auf sich gestellt ist es gezwungen, sich im Bezug auf sich selbst qua Selbstentfaltung oder Selbstgestaltung als sich selbst hervorzubringen. Weil von inhaltlichen Festlegungen und Zielvorgaben freigesprochen ist Selbsthervorbringung ein wenn auch nicht unendlicher, so doch faktisch unbeendbarer Prozess, der – insbesondere in seiner Versöhnungsperspektive, darin doch ‘zu sich selbst’ kommen zu können – schließlich in ein paradoxes Selbstverhältnis führt, sich selbst als Eigentümlichkeit zu bejahen und zugleich zugunsten immer größerer Allgemeinheit zu negieren. Unter dem Titel der ‘Freiheit’ als Unabhängigkeit suggeriert Bildung die Möglichkeit einer nur auf (allererst hervorzubringender) Allgemeinheit bezogenen Aus- und Entfaltung aller Kräfte und Fähigkeiten, so dass Selbstsein schließlich als Selbststeigerung praktiziert werden muss. Dabei wird die Illusion einer von (fast) jeder Kontingenz gereinigten Subjektivität auch dadurch genährt, dass Mangel, Versagung und Entzogenheit zwar nicht prinzipiell negiert, doch aber vervorläufigt und als prozessual aufhebbar gedacht werden; es ist diese, weniger teleologische, als identitätstheoretische Fiktion einer ebenso sich – “wie in einem zugleich erhellenden und versammelnden Spiegel” (Humboldt 1903, I 286) – selbst unmittelbar gegebenen und für sich durchsichtigen wie der Welt prinzipiell vorgeordneten allgemeinen Individualität, die die Bewegung der Selbststeigerung provoziert und in Gang hält – und gerade, indem sie nicht erreicht, was vermeintlich bloß ‘idealisch’ vorgedacht ist, den Mangel an und in sich selbst focussiert und ausdrücklich perpetuiert. Gerade indem ‘Bildung’ sich gegen das christliche Motiv der ‘alienatio’ als moderne Versöhnungsverheißung hat etablieren können, hat sie – wenn auch in scharf gegenakzentuierter Form – Teil an der christlich betriebenen Bearbeitung der Gebrochenheit und Fremdheit der Menschen zu Führungszwecken. Auch wenn ‘Bildung’ überwiegend als ‘Selbst-Bildung’ (Wimmer) buchstabiert worden ist, war sie von Anfang an an eine pastorale Figur des ‘Führens der Führungen’ gebunden, die ausdrücklich ‘zum Heil’ der Betroffenen – nun pädagogisch – legitimiert werden konnte und noch heute den ‘Autodidakten’ als – wenn auch nicht Ungebildeten, so doch – nicht wirklich ‘Gebildeten’ einschätzt. Gerade indem ‘Bildung’ zum pädagogischen Prinzip schlechthin avancierte, konnte sich das pädagogische System als nicht nur gesellschaftlich unverzichtbares Funktionssystem, sondern als auch menschlich notwendiges Führungs- und Selbstsorgesystem etablieren und als ‘Humanisierungsversprechen’ stilisieren, dessen praktische Zentralität – trotz anhaltender Geringschätzung – ganz außer Zweifel steht. (b) Mit dieser durch Selbststeigerung und paradoxem Selbstverhältnis bestimmbaren Formation des Selbst ist ein zweiter Mechanismus der Subjektivierung eng verknüpft, der – als gleichzeitige Individualisierung und Totalisierung bestimmbar – auch eine Formation des Sozialen darstellt; befragt man dabei diese Figuration der
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Verschiebung der Sozialitätsvorstellung vom ‘Gemeinsamen’ zum ‘Allgemeinen’ hinsichtlich ihrer Subjektivierungseffekte, so lässt sich diese als Teilung und Trennung der Individuen voneinander und normalisierende Neuzusammensetzung derselben qua Verallgemeinerung lesen. Es ist diese Figur einer ‘Individualisierung’ und ‘Totalisierung’, die die soziale Form der ‘Bildung’ kennzeichnet; in ihr werden die Individuen als analytische ‘Letztelemente’ konzipiert, die erst in ihrer – in sich selbst vollzogenen – Verallgemeinerung und Synthetisierung Sozialität ermöglichen. Die seitdem modern überaus dominante Figur, sich so verhalten zu sollen, wie es die Freiheit anderer nicht beeinträchtigt und sich daher allgemein rechtfertigen lässt, ist nicht nur Strukturprinzip einer rechtlichen und moralischen Logik, sondern auch Kern pädagogischer Argumentationen geworden; gerade in der pädagogischen Konzentration auf Innerlichkeit markiert ‘Bildung’ daher ein unverzichtbares Komplement einer auf der Logik der Individualisierung und Totalisierung basierenden Gesellschaft, indem sie den gesellschaftlich notwendigen ‘Sozialcharakter’ in den Individuen selbst erzeugt und diese sowohl individualisiert (und auf sich bezieht) als auch totalisiert (und qua Allgemeines miteinander verbindet)225, ohne dabei als ‘Dressur’ auftreten zu dürfen und zu müssen. Gerade indem aber beide Mechanismen entweder gar normativ oder bloß analytisch als unverzichtbar bzw. strukturell aufgenommen werden, gelingt es, die Spezifizität des Zugriffs zu verbergen und sie als quasi ‘anthropologisch’ begründete Form auszugeben. Weil Menschsein allein formal – und gerade in ausdrücklicher Distanz zu längst überholten substantialen ‘Was’-Bestimmungen des Menschen – schon als ‘Subjektsein’ gilt, wird der überaus spezielle “Modus der Subjektivierung” (Foucault 1994b, 699) durch ‘Bildung’ als eine Figuration der Macht übersehen bzw. gar verdeckt. ‘Bildung’ ließe sich daher – im Rückgriff auf Foucault – als eine Form moderner “Teilungspraktiken” (Foucault 1994, 243) verstehen, die die Menschen sowohl in “ihrem Innern” als auch “von den anderen” (ebd.) teilen und diese doppelte ‘Teilung’ zur Matrix des jeweiligen Selbstverhältnisses machen, so dass Menschen schließlich “sich selbst in ein Subjekt verwandeln” (ebd.). Verknüpft man beide Mechanismen einer pädagogisch-pastoralen ‘Formation der Subjekte’, so zeigt sich der Zusammenhang beider ‘Teilungspraktiken’ nicht nur in deren beider Orientierung an einem Allgemeinen; vielmehr bedingen sich Anderentrennung und Selbstkonzentration, so dass schließlich – trotz aller reflektierten Relationalität – Zentrik überwiegt und die (bildungstheoretisch ja gerade nicht geleugnete) Erfahrung der Dezentrierung an und in Selbstbezüglichkeit rückbindet und aufhebt. Indem eigentümlich-allgemeines Selbstsein polemisch sozialer Brauchbarkeit gegenübergestellt wird, wird aber Ver- und Angewiesenheit – wie exemplarisch bei Fichte – zwar nicht geleugnet, so doch aber zur bloß kindlichen Phase 225 In dieser spezifisch individual-totalen Justierung von Sozialität mag auch der Grund gesehen werden, warum pädagogisch die immer wieder traktierte Frage der Solidarität als einem ‘Schlüsselproblem’ der Bildung (Klafki) nie anders als bloß nachträgliche ‘Moralisierung’ anmuten können; denn in der Vorrangstellung und Vormacht des Selbst ist die Ermöglichung von Solidarität und Gerechtigkeit nicht anders als durch universale Prinzipien denkbar, die aber die soziale Frage, was ich mit den anderen zu tun habe, immer nur selbstbezogen beantworten lässt – und auch im Ernstfall daher kaum ‘motivkräftig’ werden kann.
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degradiert und als ‘Uneigentlichkeit’ und ‘Verfallenheit’ (Heidegger) disqualifiziert. Gebildet aber ist der, so ließe sich – mit Rousseau – pointieren, “der nicht auf die Hilfe eines anderen angewiesen ist”, sondern “nach seinem Willen handelt” (Rousseau 1971, 61) – einem Willen, der auch bei Rousseau gerade nicht als individuelle Willkür, sondern nur als ‘verallgemeinerter Wille’ gedacht werden durfte. Auch wenn die Proklamation der ‘Unabhängigkeit’ des Subjekts und dessen Souveränität explizit auf die Kritik einer bloß komparativen Existenz zielt, so führt sie schließlich nicht trotz, sondern wegen ihrer idealischen Orientierung an Identität und Präsenz zurück in eine komparative Lebensform, in der schließlich die Individuen über sich selbst etwas zu erfahren glauben, indem sie sich im Horizont des Allgemeinen anderen gegenüber platzieren können. Sicherlich: Selbstaufwertung durch Anderenabwertung – allemal ein alter Mechanismus menschlichen Zusammenlebens – sind nicht erklärte bildungstheoretische Absicht, doch angesichts paradox inszenierter dauernder Selbstabwertung – nicht nur noch nicht zu sein, sondern prinzipiell nicht sein zu können, der und die man sich selbst zu sein wünscht: selbständig und nicht abhängig, bewusst wie reflektiert und nicht von Affekten getrieben, mit sich eins und nicht in sich zerstritten, allgemein welterfahren und nicht provinziell, gesellig und nicht angewiesen oder gar anderen verfallen etc. – nur deren unweigerliche Folge. Wird aber in der Trennung von anderen qua Individualisierung gerade das zum Verschwinden gebracht, was als Anerkennung allererst leben und lieben lässt, so kehrt in der homogenisierenden Neuzusammensetzung qua Totalisierung der normalisierende Vergleich wieder, so dass man – und das nicht nur in der Prüfung – mehr über sich selbst zu erfahren glaubt, wenn man sich im Kontinuum der Normalität verorten und platzieren kann. Vor dem Hintergrund dauernden ‘Selbstmangels’ aber ist dann explizit geforderte Selbstbezüglichkeit und – auch noch im geselligen Verkehr – vorherrschend praktizierte Selbstzentrierung nichts anderes als eine Form, sich gegen andere als irritierende und dezentrierende Andere zu immunisieren; ihr korrespondiert eine Einschließung in sich selbst, die – wenn auch vielleicht nicht zu Humboldts Zeiten – gegenwärtig wohl als “die moderne Form der Versklavung” (Benjamin 1993, 83) bezeichnet werden kann und die gegenwärtig kaum übersehbare “Unfähigkeit, zum anderen vorzudringen” wie “vom anderen erreicht zu werden” (ebd.), bedingt. Diese Unfähigkeit der ‘Bildung’, mit Andersheit und Dezentrik kaum anders als überwiegend zentrisch umgehen zu können, ist dabei Resultat einer grundsätzlichen Weichenstellung und verdankt sich der Abwendung und Abwertung von Entzogenheit und Fremdheit, die gerade dadurch zum spezifisch pädagogisch-praktischen Bearbeitungsfeld erklärt werden. Doch wird damit nichts der Bildung Äußerliches oder gar erst deutlich später Eingesehenes an sie herangetragen und insofern präsentisch unzulässig argumentiert; vielmehr zehrt die ‘Bildung’ explizit selbst davon, in dem sie sich gegen ‘alienatio’ kritisch absetzt und auf Versöhnung und harmonische Identität abzielt: auch wenn Subjektivität relational gedacht und auch als Ausgang von sich selbst bestimmt wird, so überwiegt doch in ihr die ‘Rückkehr zu sich’, so dass Selbstbezüglichkeit sowohl Anderenbezüglichkeit (Alterität) als auch Selbst-
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und Anderenentzogenheit (Alienität) dominiert226. Was aber allzu oft als moraltheoretisch unverzichtbare ‘regulative Idee’ (Kant) wertgeschätzt wird, zeigt sich in einer machttheoretischen Perspektive vielmehr als eine ‘regulierende Idee’. Die ‘Macht der Bildung’ als einer ‘anthropologischen Matrix’ lässt sich daher in dreierlei festmachen: Erstens markiert ‘Bildung’ einen Modus moderner Subjektivierung und lässt sich insofern als eine spezifisch moderne Struktur der ‘Führungsführungen’ verstehen, die nicht nur die Etablierung einer faktischen Führung durch andere fürsorglich zu legitimieren verhilft, sondern auch die Form der ‘Selbstsorge’ interpretativ bestimmt und sich – auch in ihrer Rhetorik freier Individualität – als Vorbahnung und Formation des Selbst kaum zu erkennen gibt. Aber auch in ihrer inhaltlichen Justierung lässt sie sich – zweitens – als eine Figuration der Macht verstehen, die – qua Trennung und paradoxer Selbststeigerung – nicht nur ‘Ohnmacht’ erzeugt, weil sie den Zusammenschluss der Menschen unterminiert (Arendt), sondern schließlich auch in Formen der Herrschaft mündet: einerseits, weil Entzogenheit – zu Entfremdung und Mangel umgedeutet – schließlich als wenn auch nie erfüllte, so doch vielleicht prinzipiell erfüllbare Bedürftigkeit praktiziert werden kann und die Menschen gerade in ihrer paradoxen Selbstkonzentrierung auf sich regierbar macht; andererseits, weil Selbstmangel und Trennung von anderen die Menschen gegeneinander sich wenden lassen und zu Distinktionspraktiken verführen, um durch Abund Ausgrenzung und schließlich Unterwerfung – sei es als Überordnung und Verfügung über andere, um sich selbst aufzuwerten, sei es als gar freiwillige Unterwerfung unter andere, um der eigenen Bedrohtheit und Nichtigkeit wenigstens momenthaft zu entkommen – sich selbst fühlen und in sich stabilisieren zu können; gerade indem Anerkennung als ‘uneigentlich’ abgetan wird und Verletzbarkeit qua Wissen, Können und Unabhängigkeit ausgewichen wird, kann der ‘Kampf des Anerkennens’ (Gamm 2000) umso schärfer praktiziert werden und führt so in der Verfestigung von Machtverhältnissen zu Herrschaftsverhältnissen der Über- und Unterordnung. Auch wenn bildungstheoretisch dies alles als weitgehend ‘unfein’ und ‘ungebildet’ gilt, so ist doch – auch mit Blick auf die ‘Gebildeten’ – kaum bestreitbar, dass ‘Bildung’ selbst damit nur oberflächlich nicht vereinbar ist227. Benjamins
226 Bedeutsam wäre daher, das Verhältnis von ‘Bildung und Negativität’ (Buck) neu aufzunehmen und – diesseits einer identitätstheoretischen Versöhnung in Positivität – Negativität nicht nur als faktisches Defizit (des Nichtkennens und -könnens), sondern auch als konstitutives – konstituierendes wie begleitendes – Moment pädagogischer Prozesse selbst zu entfalten, so dass die ‘Erfahrung der Negativität’ nicht nur pädagogische Bewegungen – insbesondere Lernen – in Gang setzt, sondern selbst unaufhebbar begleitet und strukturiert (vgl. Ricken 2005a). Vgl. dazu neben den Überlegungen Bucks (vgl. Buck 1981), die weitgehend Negativität zwar zugestehen und anerkennen, doch dann als dialektisch ‘positivierbar’ auszugeben versuchen, vor allem die Skizzen bei Schütz (1982) und Benner (vgl. Benner 2003a) wie insbesondere die verschiedenen Beiträge in Benner (vgl. Benner 2005); ein älterer Überblick über ‘Positionen der Negativität’ bei Weinrich 1978. 227 Die immer wieder gemachte Erfahrung, dass ‘Solidarität’ als bloß ‘pädagogische Fassade’ und ‘moralisches Anhängsel’ betrachtet und dann letztlich doch ignoriert wird (die man sich nur in Grundschulen noch erlauben kann), verdankt sich nicht nur der vermeintlichen Konkurrenz zweier Selbstbeschreibungen, so dass es im ‘Ernst des Lebens’ um anderes geht und insofern auch anders zugehen muss, sondern resultiert auch daraus, dass auch im ‘Ernst der Bildung’ dieser – kategorial wie thematisch – nur nachträgliche Bedeutung zukommt.
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Hinweis, dass “Herrschaft [...] mit dem Versuch [beginnt], Abhängigkeit zu leugnen” (Benjamin 1993, 53), mag daher auch als bildungstheoretische Mahnung und Warnung gelesen werden. Schließlich drittens: in ihrer Steigerungs- und Zentrierungslogik kann ‘Bildung’ als ein funktionales Komplement gegenwärtiger Reichtums- und Machtsteigerungslogik gelten, die sie zwar nicht propagiert, nicht aber zu brechen tauglich ist; sie daher gegenwärtig immer wieder machttheoretisch unbefragt und unproblematisiert als mögliches ‘Heilmittel’ der Zukunft zu preisen, ist nicht nur Ausdruck grassierender Rat- und Alternativlosigkeit, sondern auch – ob bewusst oder nicht – weitgehend affirmativ.
II. Trotz kam leugbarer Dringlichkeit kritischer Reflexionen – die Frage danach, was als Kritik verstanden und wie Kritik praktiziert werden kann, führt gegenwärtig in erhebliche Verlegenheit: nicht nur, weil traditionelle Konzepte der Kritik, wie sie insbesondere in der Kritischen Theorie ausgearbeitet worden sind, (auch) aufgrund ihrer metatheoretischen Abstraktion und oft praktizierten rhetorischen Omnipräsenz weitgehend entleert sind und als entweder längst überholt oder schlicht gescheitert abgetan werden; auch nicht nur, weil Kritik entweder als bloße ‘Besserwisserei’ oder als störende Belastung und Hemmung, nicht aber als zentrales Moment auch öffentlichen Streitens betrachtet wird, so dass, wer kritisch zu argumentieren sucht, nur wenig offene Ohren antrifft und schließlich gefragt wird, ob er/sie wirklich die Grundsatzfrage stellen wolle; sondern auch, weil vielfach Alternativen zum Bestehenden als ohnmächtig eingeschätzt oder inzwischen gar nicht mehr vorgestellt werden können, so dass die Frage danach, ‘wie wir denn gemeinsam leben wollen’, als geradezu naiv abgetan und belächelt werden kann. Doch diese gegenwärtige Rat- und Hilflosigkeit in Fragen der Kritik bloß als Folge des Scheiterns von Kritik gegenüber der vermeintlichen Übermacht funktionaler Prozesse zu verstehen, führt in die Irre, ist sie doch vielmehr auch und gerade das paradoxe Ergebnis eines ebenso weitgehenden wie grundsätzlichen Erfolgs der Kritik. Lässt sich zunächst die Entwicklung des Konzepts von Kritik auch als Prozess der Ausweitung und Generalisierung von Kritik lesen – von einem reflexiven Instrument der Unterscheidung zwischen Wahrheit und Falschheit im Kontext einer gegebenen und gemeinsam verbindlichen Ordnung zu einem generellen Prinzip der Vernunft, die Legitimität und Konstruktivität von Überzeugungen, Wertsetzungen, Prinzipien und Praktiken gemäß selbst gegebener Kriterien hinsichtlich ihrer logischen und sozialen Kontexte zu problematisieren und Fortschritt zu ermöglichen (vgl. Bormann 1973) –, so verdankt sich das gegenwärtige ‘Dilemma der Kritik’ dem Verlust der kritischen Kraft dieses Kritikmodells; gerade weil und indem Kritik an Defizienz und noch nicht realisierter Möglichkeit orientiert ist und – allein formal – auf Selbstbestimmung basiert wie abzielt, ist sie längst zu einer Funktion des Systems selbst geworden: “Die Kritik hat genau die Aufgabe, jedes Versagen des Systems [...] aufzuspüren und zu kritisieren. Aber es ist bemerkenswert, daß diese Kritik die Voraussetzung hat, daß Emanzipation heute die Aufgabe des Systems selbst und dass
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Kritiken, ganz gleich welcher Art, nun von ihm herangezogen werden, um diese Aufgabe noch effektiver zu erfüllen” und “das Vorhandene zu optimieren” (Lyotard 1998a, 69) hinsichtlich seiner Funktionalität und Akzeptabilität. Es ist diese ‘Trivialisierung von Kritik’ (Masschelein 2003) – und nicht bloß die Veränderung der geschichtlich-sozialen Verhältnisse und der Verbrauch kritischer Semantik –, die die traditionelle Form der Kritik qua Selbstbestimmung und Emanzipation des Subjekts hat stumpf werden lassen: “das System produziert oder konstituiert die menschlichen Subjekte und konstituiert sie gerade als kritische und freie Subjekte, die notwendig für seine Entwicklung sind” (Masschelein 2003, 131). Die Folgen dessen sind bedeutsam und markieren das ‘Dilemma der Kritik’: nicht nur, weil Freiheit und Kritik nicht mehr bloß oppositional Fremdbestimmung und Macht gegenüber gestellt werden können; sondern auch, weil mit Selbstbestimmung und Möglichkeitssteigerung nicht mehr ‘per se’ zwei kritische Prinzipien der Negation von Fremdbestimmung und Wirklichkeitseinschränkung bezeichnet sind (vgl. Gamm 2000, 226). Die beunruhigende Frage aber, was denn Kritik sein könne und wie sie sich begründen lasse, ist damit neuerlich gestellt228. Die als ‘Unterfaden’ die Argumentation ständig begleitende Perspektive ließe sich nun auch als Versuch erläutern, Kritik kontingenztheoretisch zu reformulieren; mit ihr ist nicht nur die Einsicht in die Relativität und Partikularität auch des Universalen selbst gekennzeichnet, so dass ‘fundamentale’ Grundlegungs- und Letztbegründungsabsichten durchkreuzt und (auch) als homogenisierende, durch Ausschluss von Heterogenität konstruierte Totalitätsentwürfe aufgebrochen werden können, sondern auch die Anstrengung verbunden, gegen längst modisch gewordenen Pluralismus und Relativismus – als Inbegriff wechselseitiger Indifferenz – auf der Endlichkeit der Menschen auch kategorial zu bestehen und diese als ‘Nicht-aus-sichselbst-sein-können’ (Schleiermacher) qua Geburtlichkeit wie Sterblichkeit und als ‘Nicht-in-sich-selbst-bleiben-können’ qua Ver- wie Angewiesenheit auf Andere zur Geltung zu bringen. Nicht Souveränität und Unabhängigkeit, sondern Verletzbarkeit und (Selbst-)Gebrochenheit markieren so eine Perspektive, auch Kritik neu und anders zu denken (vgl. ausführlicher zuletzt Ricken 2004b)229. Auch wenn ein solcher Versuch sich vielfachen Bestreitungen ausgesetzt sieht, die durch die diskursive Vorbahnung schiefer Alternativen ganze Argumentationsketten
228 Es ist daher nur wenig überraschend, dass auch pädagogisch die Frage danach, wie ‘Kritik in der Pädagogik’ theoretisch wie praktisch betrieben werden kann, vermehrt aufgenommen wird; vgl. dazu nur exemplarisch zunächst Sünker / Krüger 1999 wie jüngst Benner u.a. 2003 und Bernhard u.a. 2003. 229 In den Adorno-Vorlesungen von 2002 hat Judith Butler (vgl. Butler 2003a) ihre Überlegungen zu einer ‘Kritik der ethischen Gewalt’ vorgetragen; sie zielen – so scheint mir – in eine ganz ähnliche Richtung und lassen sich als kontingenz- wie anerkennungstheoretische Argumentation lesen, ethische Verantwortung aus der ‘eigenen Ausgesetztheit’ und ‘Undurchsichtigkeit für mich selbst’ zu begründen: nicht qua universaler dritter Werte, sondern “weil wir alle verletzlich sind, sind wir allen verpflichtet” (ebd.101; vgl. ebd. 116). Und folgerichtig formuliert Butler ihre leitende These: “Leugnen wir unsere Beschränktheit, so verleugnen wir, was an uns menschlich ist. Dieser Verlust scheint mir schwerwiegender als der Verlust jenes Souveränitätsgefühls, das für eine kohärente Subjekttheorie benötigt wird. [...] Man muß nicht souverän sein, um moralisch zu handeln; vielmehr muß man seine Souveränität einbüßen, um menschlich zu werden” (ebd. 11).
Ein Blick nach vorn: Kritik der Bildung
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vorzuentscheiden suchen230, so geht es doch nicht darum, in der Kritik bisheriger Kritikkonzeptionen deren Einsichten schlicht zu verwerfen oder gar als gänzlich affirmativ zu diskreditieren; Absicht der hier angestellten Explorationen ist vielmehr, in Unterscheidungs- und Selbstbestimmungsfähigkeit das Moment der Dezentrierung so einzutragen, dass es nicht bloß als aufzuhebender und aufzulösender Mangel verstanden, sondern als das, “was an uns menschlich ist” (Butler 2003a, 11), angenommen werden kann. Kritik von der Seite der Kontingenz her erläutern zu suchen heißt daher zunächst, einen Ausstieg aus Macht nicht erträumen zu können, sondern diesen Traum selbst als Moment der ‘Führungsführung’ zu lesen versuchen. Foucaults Verständnis von Kritik als der “Kunst, nicht dermaßen” – “nicht so und nicht dafür und nicht von denen da”, “nicht auf diese Weise und um diesen Preis” – “regiert zu werden” (Foucault 1992, 12), ist daher gerade kein Plädoyer für positive ‘Subjektwerdung’, sondern – als “Kunst der freiwilligen Unknechtschaft” (ebd. 15) – Kennzeichnung einer praktischen Haltung und Tugend der “Entunterwerfung” (‘désassujetissement’) (ebd. 15), die mit der Bewegung einer ‘Entsubjektivierung’ – “die Art von Individualität, die man uns jahrhundertelang auferlegt hat, zurück[zu]weisen” (Foucault 1994, 250) – eng verknüpft ist. Nur dreierlei Facetten einer solchen kontingenztheoretischen Perspektive der Kritik seien hier abschließend angedeutet und entlang der Dimensionen der ‘Bildung’ skizziert: (1) Angesichts der vielfältigen Tendenzen, subjektive Selbstverhältnisse als bloß nachträgliche, insofern wenig ‘selbstbedeutsame’ wie ‘anderenunerhebliche’ Momente menschlichen Existierens zu handhaben und auf Selbstobjektivierung (als Körper) wie Systemfunktionalität und Effizienz abzustellen, gilt es, mit Nachdruck die Nichtvermeidbarkeit und Nichthintergehbarkeit menschlicher Selbstdeutungen zu erinnern und im Stichwort ‘Menschen leben immer anthropologisch’ festzuhalten: sich zu sich selbst – und darin zu anderen und anderem – zu verhalten, ist gerade nicht eine bloß beiläufige und nebensächliche Notwendigkeit, sondern die Weise, wie wir menschlich sind. Sicherlich: gerade hier vermag ‘Bildung’ gegen Tendenzen der Objektivierung berechtigt Einspruch zu erheben, indem sie die Distanz zu alltäglichen Erfordernissen und Verpflichtungen einklagt und in einem weitgehend reflexiven Selbstverhältnis verankert; doch weil sie aber Selbstbestimmung aus Unbestimmtheit als Bestimmung des Menschen kategorisch auslegt, neigt sie dazu, die aus Gegebenheit wie Entzogenheit resultierende ‘prinzipielle Unbestimmbarkeit’ wenn auch nicht zu leugnen, so doch zu vervorläufigen oder bloß duldend in Kauf zu nehmen. Demgegenüber gilt es, die Unauflösbarkeit dieser Figur festzuhalten und differenztheoretisch, nicht identitätstheoretisch zu reformulieren; nur ein solcher 230 Was Foucault anlässlich der oft vehementen Kritiken seiner Archäologie der Vernunft formuliert hat, gilt auch für Versuche, insbesondere Subjektivität und moralische Autonomie zu dekonstruieren und diesseits universaler Bestimmungen zu denken: “Man hat oft versucht, alle Kritik der Vernunft und jede kritische Prüfung der Geschichte der Rationalität damit zu erpressen, daß man entweder die Vernunft anerkennt oder aber in den Irrationalismus abstürzt” (Foucault 1983, 24). Vgl. dazu swohl Butler 2003a, 28ff. wie auch die sog. ‘Postmodernedebatte’, die geradezu extensiv von Drohungen im Stil eines ‘wenn nicht, dann aber’ zehrte.
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Aufriss vermag, vor einer Hierarchisierung der jeweiligen Pole der Differenz zu schützen231. (2) Verbunden damit ist, in den Relationalitätsdimensionen der ‘Bildung’ – Selbst-, Anderen- und Weltrelationen – das Moment der De- und Exzentrik so einzutragen, dass es neben bildungstheoretisch gepflegter Zentrik gleichberechtigt wie gleichursprünglich aufgenommen wird. Die damit verbundenen Verschiebungen im Problemaufriss von Identität, Anerkennung und Erfahrung aber seien nur angedeutet: identitätstheoretisch ginge es darum, darauf zu bestehen, dass ein ‘Einklang mit uns selbst’ (Butler) nicht nur nicht erreichbar ist, sondern auch noch in seiner regulativen Idealisierung Teil machttheoretischer Identitätsspiele ist; der Versuch jedoch, unaufhebbare Differentialität im Identitätsverständnis auch begrifflich wie kategorial einzutragen, führt schließlich dazu, die Kategorie der Identität – aufgrund ihrer problematischen Bedeutungsdoppelung von Selbigkeit wie Selbstheit (vgl. Ricœur 1996) – zugunsten anderer Begriffe (wie schlicht des ‘Selbst’) aufzugeben (vgl. ausführlich Ricken 2002b). Mit dieser identitätstheoretischen Dezentrierung geht eine anerkennungstheoretische Reflexion einher, die als eine fruchtbare Möglichkeit gelten kann, die sozialitätstheoretische Problematik aufzunehmen und – weil motivkräftig genug – mit individualtheoretischen Denk- und Herzensgewohnheiten zu brechen. Doch auch hier hängt weitgehend alles davon ab, ob es gelingt, die – insbesondere durch Hegel angebahnte – zentrische Fassung des Anerkennungsproblems aufzubrechen und Anerkennung nicht bloß als selbstbezügliche Frage des ‘Anerkanntwerdens’ zu buchstabieren (vgl. Honneth 1992), sondern auch als gerade nicht nachträgliches, sondern ebenso ‘gleichursprüngliches’ “Bedürfnis nach dem Anderen schlechthin” (Benjamin 1993, 35) zu erläutern, andere nicht nur als von mir verschiedene, sondern als auch mir entzogene Wesen selbst anerkennen zu können232, so dass auch anerkennungstheoretisch nicht nur – wie oft suggeriert – zentrische Bedürftigkeit, Selbstbespiegelung und Anderengebrauch in den Blick kommen, sondern ebenso Selbstentäußerung und Selbstverausgabung wie auch Versagung als Struktur menschlichen Existierens angenommen werden können. Dies wäre umso bedeutsamer, als es im Problem der Anerkennung immer auch darum geht, in die Praxis der Anerkennung der Anderen einzuführen und insofern Anerkennung selbst anerkennen zu lernen (vgl. Reichenbach 2001); gebrochen aber würde darin mit jener dominant praktizierten Vorstellung eines fast naturwüchsigen Zusammenhangs von 231 Vgl. zur auch methodologischen Problematik eines relationalen Differenzdenkens die Überlegungen in Ricken 2002a. Inhaltlich habe ich dies in der Figur einer doppelten Relationalität – sich auf sich selbst beziehen zu müssen als einem Verhältnis zu anderen und anderem – zu entwickeln versucht; vgl. dazu Ricken 1999a wie 2000a. 232 Vgl. dazu die überaus anregenden Überlegungen in Benjamin 1993, die in ihrer psychoanalytisch orientierten Neuinterpretation des Hegelschen ‘Paradoxons der Anerkennung’ (ebd. 34ff.) nachweist, dass es in Anerkennung gerade nicht darum geht, von jemandem anerkannt zu werden, der – wie ein Trabant – um das Zentrum des Selbst kreist, sondern darum, für jemanden von Bedeutung zu sein, der sich als von mir auch unabhängig erweist und erweisen soll, indem er sich auch entzieht und versagt. Benjamins pädagogische Schlussfolgerung, in Anerkennung selbst als ‘Anderer’ zu fungieren und um der Anerkennung willen “dem Willen des Kindes Grenzen zu setzen” (ed. 37), markiert dabei nur die eine Seite der Anerkennungsproblematik, ist doch in Anerkennung immer auch die Aufforderung impliziert, sich selbst auszusetzen und sich zu verlassen (vgl. jüngst Butler 2003a).
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(genügendem) Anerkanntwerden und (daraus dann resultierendem) Anerkennen. Über den Zugang qua Anerkennung aber würde Sozialität weder als homogene Gemeinschaft (‘wer nicht ist wie wir, gehört nicht zu uns’) noch als formalisiertnormalisierte Gesellschaft deutlich werden müssen, sondern als ‘Kommunität’ (Esposito) denkbar werden, in der Singularität und Pluralität allererst den Raum des ‘Zwischens’ (Arendt) eröffnen (vgl. Masschelein / Simons 2002). Schließlich: auch erfahrungstheoretisch ginge es nicht nur darum, den immer selbstbezüglichen Charakter allen Wissens – gegen “dingliche Behältervorstellungen” (Gamm 2000, 204) – zu verdeutlichen und in der Frage nach Sinn und Bedeutung zu erinnern, sondern in der prinzipiellen ‘Unschärferelation allen Wissens’ (vgl. Gamm 2000) – gerade angesichts des längst auch im Wissensverständnis breit eingetretenen “Zentrismus der Eigenperspektive” (Ziehe 1996, 937) – auch die Widerständigkeit und Entzogenheit der ‘Welt’ wieder zur Geltung zu bringen. Das aber verlangt, den Erfahrungscharakter allen ‘Weltwissens’ (Elschenbroich) auch praktisch zu respektieren und Erfahrung als etwas verstehen zu lernen, was “das Subjekt von sich selbst losreißt, derart, daß es nicht mehr es selbst ist oder daß es zu seiner Vernichtung oder zu seiner Auflösung getrieben wird” (Foucault 1996, 27). Wenn daher ‘Erfahrung’ immer auch etwas ist, “aus dem man verändert hervorgeht” (ebd. 24), dann geht es darum, den mit Erfahrung unweigerlich verbundenen krisischen und auch schmerzhaften Charakter der “Ent-Subjektivierung” (Foucault 1996, 27) nicht wiederum im Primat der Selbstbezüglichkeit aller Erfahrung erneut stillzustellen (vgl. Buck 1989), sondern zu dem, “um das es geht, in neue Beziehungen treten [zu] können” (ebd. 29). (3) Insgeheim aber hat sich damit der – von Foucault angeregte – Problemaufriss verschoben: zielte anfänglich die Kritik der Macht der ‘Bildung’ darauf, “neue Formen der Subjektivität zustande[zu]bringen” (Foucault 1994, 250), indem die Form der Subjektivierung durch ‘Bildung’ als eine Figuration der Macht genealogisch zu rekonstruieren versucht wurde, so lässt sich nun diese Frage danach, ‘was wir sind und sein könnten’ (vgl. ebd. wie auch Foucault 1993c, 168), nicht beantworten, ohne dabei die praktizierten Formen der Sozialität zu problematisieren; es sind nicht nur die ‘Formen der Individualität’, sondern auch die der ‘Sozialität’, die neu erfunden werden müssen. Zentral in ihnen ist daher die Frage nach dem Anderen, so dass gegenwärtig vielleicht weniger bedeutsam ist, ‘wer ich bin’, sondern auch – und zunehmend mehr – ‘wer Du bist’; entlang der Frage ‘was habe ich mit dem Anderen zu tun’, ließe sich recht eingängig ein kurzer ‘Durchblick’ durch die verschiedenen Antwortpraktiken formulieren. Mit Butler formuliert: die Frage lautet daher nicht einfach, “ob ich dich erkennen kann oder werde, sondern vielmehr, ob ‘du’ für das Schema des Menschlichen, in dem ich mich bewege, in Frage kommst” (Butler 2003a, 144). Ob aber ‘Bildung’ taugt, in ein solchermaßen verschobenes ‘Deutungsmuster’ einzuführen, oder ob nicht doch die semantische Schwerkraft der ‘Bildung’ zwar allerlei Korrekturen, nicht aber grundsätzlich andere Weichenstellungen erlaubt, ob also ‘Bildung’ tatsächlich als Kritik neuerlich zur Geltung gebracht werden kann, – das muss in der Tat in Zweifel gezogen werden. Sicher ist: Kritik wird im ‘Gemurmel der Menschen’ (Foucault) immer ihren Ausdruck finden; vieles aber hängt davon ab,
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ob es – auch pädagogisch – gelingt, sie nicht nur an der Stärkung von Selbstbezüglichkeit auszurichten, sondern auch als Bewegung einer Dezentrierung praktizieren zu lernen, liegt doch allein “in unserer Bereitschaft, anders zu werden, als dieses Subjekt zugrunde zu gehen, unsere Chance [...], menschlich zu werden” (Butler 2003a, 144). Bedingung dafür aber scheint, ‘alienatio’ nicht als ‘Entfremdung’ auszulegen, sondern als eigene wie andere ‘Fremdheit’ und ‘Entzogenheit’ annehmen und miteinander gestalten zu lernen.
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