Viel mehr als nur ein zarter Kuss Betty Neels
Julia 1436
4 1/2001
scanned by suzi_kay
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Viel mehr als nur ein zarter Kuss Betty Neels
Julia 1436
4 1/2001
scanned by suzi_kay
1. KAPITEL Der Einkaufskorb war schwer, aber Araminta Pomfrey ließ sich Zeit, während sie den gepflasterten Weg zur Hintertür entlangging. Sie summte sogar leise vor sich hin, denn sie hatte Ferien, und es war ein schöner Morgen. Der herbstliche Frühdunst lichtete sich bereits. Die ersten Septembertage waren lange nicht so heiter gewesen, und sie hatte kaum etwas zu tun, bis sie ihre neue Stellung antrat. Sie blieb an der Tür stehen und kraulte dem alten Kater, der dort saß, den Kopf. Er hieß Cherub - ein eher unpassender Name für ein schon etwas struppiges Tier. Araminta nahm ihn mit in die Küche, füllte etwas Milch in seinen Futternapf und ging, noch immer summend, zum Wohnzimmer hinüber. Sie wusste, dass ihre Eltern nur auf ihre Rückkehr vom Dorfladen warteten, um gemeinsam den Vormittagskaffee zu trinken. Araminta war das einzige, überraschend und spät geborene Kind und hatte früh begreifen müssen, dass sie zwar geliebt wurde, aber eigentlich eine Störung im geregelten Leben der Pomfreys bedeutete. Ihre Eltern hatten sich beide einen wissenschaftlichen Namen gemacht und Bücher über die keltische Frühgeschichte veröffentlicht - Triumphe des Geistes ohne nennenswerten finanziellen Gewinn. Das störte weder Aramintas Vater noch ihre Mutter. Mr. Pomfrey verfügte über ein mäßiges Privateinkommen, das es ihm und seiner Familie ermöglichte, bescheiden, aber sorglos in
dem kleinen, von seinem Vater geerbten Haus zu leben. Araminta hatte ein gutes Internat besucht, die in sie gestellten Erwartungen aber leider nicht erfüllt. Sie entpuppte sich weder als historisches noch als literarisches Genie, und am Ende willigten ihre Eltern erleichtert ein, als sie erklärte, dass sie gern einen Pflegeberuf ergreifen würde. Die Frage, ob sie von zu Hause fortgehen und sich in einem namhaften Krankenhaus ausbilden lassen solle, war nie ernsthaft erörtert worden. Aramintas Eltern schwebten auf keltischen Wolken und hatten keine Zeit für praktische Dinge wie Saubermachen und Kochen. Die ältliche Olivia, die während Aramintas Internatszeit den Haushalt mehr schlecht als recht bewältigt hatte, wurde entlassen, und Araminta übernahm die häusliche Regie. Nebenbei arbeitete sie täglich einige Stunden in dem Kinderheim am anderen Ende des Dorfs - nicht ganz das, was ihr beruflich vorgeschwebt hatte. Jetzt, fünf Jahre später, zeichnete sich eine gnädige Wendung in Aramintas Leben ab. Tante Millicent, eine Cousine väterlicherseits in reiferem Alter, die kürzlich ihren Mann verloren hatte, sollte ins Haus kommen und die Eltern versorgen, damit Araminta endlich etwas lernen konnte. Sie hatte gefürchtet, dass es mit dreiundzwanzig Jahren für eine solide Ausbildung zu spät sei, aber das Schicksal meinte es weiter gut mit ihr. In zwei Wochen sollte sie in einem renommierten Londoner Krankenhaus als Lernschwester anfangen. Die Stimmen im Wohnzimmer verrieten Araminta, dass ihre Eltern Besuch hatten. Sie öffnete die Tür und erkannte Dr. Jenkell, der nicht nur der Arzt, sondern auch ein langjähriger Freund der Familie war. "Guten Morgen, Doktor", begrüßte sie ihn und fügte mit einem für ihre Mutter bestimmten Lächeln hinzu: "Ich bringe gleich den Kaffee."
Sie kehrte in die Küche zurück, stellte eine vierte Tasse und die Dose mit den teureren Keksen auf das Kaffeetablett und ging wieder ins Wohnzimmer. "Dr. Jenkell hat wunderbare Neuigkeiten für dich", sagte Mrs. Pomfrey, während Araminta Kaffee einschenkte. "Nicht so viel Milch, Liebes, du weißt doch." Sie nahm Araminta die Tasse ab und lehnte sich zurück. Ein höchst befriedigter Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. "Ach ja?" Araminta schenkte dem Doktor, ihrem Vater und sich selbst ein. "Ist es etwas Aufregendes?" Dr. Jenkell kostete den Kaffee und betupfte sich anschließend den Schnurrbart. "Ich habe eine Stellung für Sie, mein Kind eine äußerst günstige sogar. Zwei kleine Jungen sollen einige Zeit bei ihrem Onkel in Holland verbringen, während die Eltern im Ausland sind. Sie haben Erfahrung mit Kindern, ich höre im Heim nur Gutes über sie. Daher konnte ich Sie mit bestem Gewissen für den Job vorschlagen." Araminta atmete tief durch. "Ich bin im St. Jules als Lernschwester angenommen worden und soll in zwei Wochen anfangen. Sie haben mir selbst' eine Empfehlung geschrieben, Doktor." Dr. Jenkell wischte den Einwand mit einer Handbewegung beiseite. "Das ist kein Problem, Araminta. Sie müssen dem Personalbüro nur mitteilen, dass Sie noch nicht mit der Ausbildung anfangen können. Ein, zwei Monate ... was spielt das für 'eine Rolle?" "Für mich eine große", erklärte Araminta. "Ich bin dreiundzwanzig. Wenn ich jetzt nicht mit der Ausbildung anfange, bin ich zu alt." Sie schenkte dem Doktor Kaffee nach. "Es ist nett, dass Sie an mich gedacht haben. Ich bin Ihnen wirklich dankbar, aber ich möchte endlich etwas Richtiges lernen." Araminta sah erst ihre Mutter und dann ihren Vater an, und plötzlich hatte der Morgen seinen Glanz verloren. Mr. und Mrs.
Pomfrey unterstützten ganz offensichtlich den Plan ihres alten Hausfreunds. "Natürlich musst du die Aufgabe übernehmen, die der Doktor dir so freundlich zugedacht hat", sagte Mrs. Pomfrey. "Wenn ich ihn richtig verstanden habe, kannst du dich gar nicht weigern, da er bereits für dich zugesagt hat. Und was deine Ausbildung betrifft ... warum sich wegen einiger Monate aufregen? Du hast noch dein ganzes Leben vor dir." "Sie haben ohne mein Wissen zugesagt?" fragte Araminta den Doktor. "Du warst nicht da, als das Angebot gemacht wurde", antwortete ihr Vater an Dr. Jenkells Stelle. "Deine Mutter und ich hielten es für eine günstige Gelegenheit, etwas von der Welt kennen zu lernen, und haben für dich zugesagt. Wir wollten nur dein Bestes." Ich bin eine erwachsene Frau, dachte Araminta gereizt, aber man behandelt mich wie ein Kind - schlimmer noch, wie ein Kind im Viktorianischen Zeitalter, das folgsam alles tut, was die Älteren und Klügeren bestimmen. Damit ist jetzt Schluss. "Lieber Doktor", erklärte sie, "wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich diesen Onkel erst einmal kennen lernen." "Natürlich, mein Kind, das ist nur vernünftig." Dr. Jenkell nickte ihr zu. "Er ist ein angesehener Kollege von mir. Erkundigen Sie sich genau, was man von Ihnen erwartet. Falls Sie bestimmte Vorstellungen haben, wird man Ihnen gewiss entgegenkommen." Das hielt Araminta für unwahrscheinlich, aber sie war rücksichtsvoll genug zu schweigen. Sie liebte ihre Eltern, obwohl sie den Verdacht nicht loswurde, dass beide den späten Familienzuwachs bis heute nicht verkraftet hatten. Umso weniger wollte sie sie jetzt aufregen. Sie würde diesen Onkel aufsuchen, ihm erklären, dass sie die Stellung leider nicht annehmen könne, und ihre Eltern mit einer unverfänglichen
Ausrede beruhigen. Dr. Jenkell würde natürlich gekränkt sein, aber das konnte sie nicht ändern. Als sich der Doktor verabschiedet hatte, trug Araminta das Kaffeegeschirr in die Küche, packte den Einkaufskorb aus und bereitete den Lunch vor. Ihre Eltern blieben im Wohnzimmer sitzen und diskutierten über das Buch, an dem sie gemeinsam arbeiteten und das einen bisher vernachlässigten Aspekt der keltischen Geschichte behandeln sollte. Sie hatten Araminta nicht unbedingt vergessen, aber das Angebot des Doktors verhieß ihr eine so glänzende Zukunft, dass sie sich guten Gewissens ihren eigenen Interessen widmen konnten. Während Araminta den Lunch zubereitete, legte sie sich ihre Pläne zurecht. Dr. Jenkell hatte ihr die Adresse des Onkels gegeben. Er hatte gefragt, ob er ihren Besuch ankündigen solle, aber sie wollte den Onkel lieber überraschen. Das Eisen musste geschmiedet werden, solange es heiß war. Gleich morgen würde sie nach London fahren. Von Hambledon bis Henleyon-Thames waren es nur drei Meilen, und von dort gab es regelmäßigen Zugverkehr in die Stadt. Mrs. Pomfrey hatte gegen die geplante Fahrt nichts einzuwenden, sie begrüßte sie sogar. "Du bereitest uns doch etwas zum Lunch vor?" fragte sie vorsichtshalber. "Du weißt, wie schnell dein Vater ungeduldig wird, wenn sich das Essen verspätet, und ob ich Zeit finde..." Araminta versprach, kalten Braten und Salat bereitzustellen, und wandte sich dem Problem ihrer Garderobe zu. Es war Anfang September, zu kühl für Sommerkleidung, aber für das gute Winterkostüm noch zu wann. Also kam wieder nur das zweiteilige Jerseykleid mit der maisfarbenen Seidenbluse infrage. Ihre Mutter, eine eher altmodische Frau, hielt es für damenhaft. Das war es auch, aber es machte Araminta noch unscheinbarer. Sie fiel darin absolut nicht auf, und da weder ihr Gesicht noch ihre Figur einen zweiten Blick lohnten und ihr langes, feines Haar schnell unordentlich wurde, blieben als
einziger Vorzug die großen braunen Augen mit den dichten Wimpern. Araminta hatte sich immer nach praktischen Gesichtspunkten angezogen. Sie trug gedeckte Farben und strapazierfähige Stoffe, die in der chemischen Reinigung oder in der Waschmaschine nicht litten. Ihr Spiegelbild betrachtete sie selten, denn was sie sah, erfreute sie nicht. Ihr Haar hatte eine unbestimmte mittelbraune Farbe, ihre Nase war zu spitz und ihr Mund zu groß. Dass sie ein reizendes Lächeln hatte, wusste sie nicht, denn sie war noch nie in Versuchung gekommen, sich selber anzulächeln. Doch was schadete das? Dieser Onkel war höchstwahrscheinlich ein verknöcherter Junggeselle und mindestens so alt wie Dr. Jenkell. Er würde sie ohnehin keines Blicks würdigen. Am nächsten Morgen war Araminta früh auf den Beinen. Sie brachte ihren Eltern Tee, fütterte Cherub, räumte die Zimmer auf, stellte den Lunch bereit und schaffte es knapp bis zum Bus nach Henley, wo sie in den Zug nach London umstieg. Zwei Stunden später befand sie sich in einer schmalen Straße nahe dem Cavendish Square. Es war eine ruhige und vornehme Straße. Die Häuser rechts und links hatten hohe RegencyFassaden mit gemalten Verzierungen, und die Messingklopfer an den schweren Holztüren glänzten wie Gold. Der Onkel scheint in angenehmen Verhältnissen zu leben, ging es Araminta durch den Kopf. Das Haus, das sie suchte, lag am Ende der Straße an einer schmalen Seitenallee, die zu den rückwärtigen, zu Villen umgebauten Stallungen führte. Bezaubernd, dachte Araminta und bediente energisch den Türklopfer. Der Mann, der öffnete, war schmächtig und hager, hatte schütteres Haar, kleine dunkle Augen und eine scharfe Nase. Er erinnerte Araminta an eine Ratte. Eine freundliche Ratte, fügte
sie in Gedanken hinzu, denn der Mann lächelte, und dabei funkelte es lustig in seinen Augen. Erst jetzt fiel Araminta ein, dass es klüger gewesen wäre, ihren Besuch anzukündigen. Der Onkel machte wahrscheinlich gerade Hausbesuche - falls so begüterte Ärzte das taten - und würde sie nicht empfangen können. "Ich möchte gern Dr. van der Breugh sprechen", sagte sie. "Ich hätte mich anmelden sollen, aber die Sache ist ziemlich dringend. Es geht um seine beiden Neffen ..." "Ich verstehe, Miss. Wenn Sie sich einen Augenblick gedulden, werde ich nachsehen, ob der Boss Zeit für Sie hat." Er führte sie in ein nach hinten gelegenes Zimmer und bot ihr einen Stuhl an. "Machen Sie es sich bequem. Ich bin gleich wieder da." Sobald Araminta allein war, stand sie auf und begann einen Rundgang durch das Zimmer. Die hohen, schmalen Fenster lagen zum Garten hinaus, der von einer Mauer umgeben war und direkt an die umgebauten Stallungen grenzte. Die Möbel waren alt und geschmackvoll zusammengestellt. Über dem Adam-Kamin, der von zwei Sofas flankiert wurde, hing ein goldgerahmter Prunkspiegel, es gab mehrere Glasschränke, kleine Lampentische und bequeme Sessel. Trotz seiner Größe wirkte der Raum gemütlich und bewohnt - ein Eindruck, zu dem der Hundekorb unter dem einen Fenster und die herumliegenden Zeitungen nicht unwesentlich beitrugen. Araminta betrachtete sich im Spiegel und fand an ihrer Erscheinung wenig Gefallen. Weder der Schnitt noch die braune Farbe des Jerseykleids schmeichelten ihr, und das feine Haar, das sie hochgesteckt hatte, ließ sich wie üblich nicht bändigen. Sie zog erfolglos daran herum und drehte sich schuldbewusst um, als die Tür aufging. "Wenn Sie mir folgen würden, Miss", sagte der Mann mit dem Rattengesicht. "Der Boss kann zehn Minuten erübrigen."
Ob das der Butler ist? überlegte Araminta. Dann lässt er es bedenklich an Respekt fehlen. Vielleicht haben Butler heute mehr Freiheit und dürfen so reden, wie sie wollen. Sie kehrten in den vorderen Flur zurück, wo der Butler eine Tür öffnete. "Miss Pomfrey", meldete er, gab Araminta einen sanften Stoß und schloss die Tür hinter ihr. Auch dieser Raum war überraschend groß. An allen vier Wänden standen Bücherborde, die ihm zusammen mit dem mächtigen Schreibtisch den Charakter einer Bibliothek gaben. Araminta betrachtete den Mann, der um den Schreibtisch herumkam, und dachte: Das kann unmöglich der Onkel sein. Er war ungewöhnlich groß, hatte hellblondes, stellenweise grau schimmerndes Haar und sah sehr gut aus. Sowohl die ausgeprägte Nase wie der schmale Mund und das energische Kinn ließen auf einen starken Willen schließen. "Miss Pomfrey?" Er nahm die Brille ab, die er beim Lesen getragen hatte, und gab ihr lächelnd die Hand. "Dr. Jenkell hat angedeutet, dass Sie wahrscheinlich kommen würden. Sie möchten Einzelheiten über ..." "Einen Augenblick", unterbrach Araminta den Doktor. "Ich bin nur gekommen, um Ihnen persönlich mitzuteilen, dass ich mich leider nicht um Ihre Neffen kümmern kann. Ich beginne in zwei Wochen eine Ausbildung als Krankenschwester. Dr. Jenkell meinte es gut, und meine Eltern wollten sicher nur mein Bestes, aber sie haben zugesagt, ohne mich zu fragen." Dr. van der Breugh zog einen Stuhl heran. "Bitte setzen Sie sich doch", forderte er Araminta auf. "Erzählen Sie mir, worum es geht." Er sprach leise und langsam, fast etwas schleppend, und sein Ton wirkte beruhigend, was ganz in seiner Absicht lag. "Briskett wird uns gleich Kaffee bringen." Araminta vergaß vorübergehend, warum sie gekommen war. Sie fühlte sich in der Gegenwart des Doktors angenehm entspannt, als wären sie seit Jahren befreundet.
"Briskett?" fragte sie. "Ist das der kleine Mann, der mich hereingelassen hat? Für einen Butler drückt er sich sehr ungewöhnlich aus. Er nannte Sie ,Boss' und ..." "Briskett führt mir seit Jahren sehr erfolgreich den Haushalt. Die ungewöhnlichen Ausdrücke sind - so vermute ich jedenfalls - das Ergebnis seiner Vorliebe für amerikanische Gangsterfilme. Trotzdem ist er äußerst zuverlässig und fleißig. Hat er Sie vielleicht geärgert?" "Um Himmels willen, nein. Ich mag ihn, er sieht wie eine freundliche Ratte aus. Die kleinen Augen, die spitze Nase ... Er hat ein nettes Lächeln." Briskett kam herein und stellte das Kaffeetablett auf den kleinen Tisch neben Aramintas Stuhl. "Sie sind die Hausfrau", sagte er dabei und fügte, zu dem Doktor gewandt, hinzu: "Vergessen Sie nicht, dass Sie im Krankenhaus erwartet werden, Sir." "Danke, Briskett. Ich mache mich gleich auf den Weg." Araminta folgte Brisketts Aufforderung und schenkte den Kaffee ein. "Es tut mir Leid, wenn ich ungelegen komme", sagte sie dabei. "Ich habe mich absichtlich nicht angemeldet. Ich wollte nur kurz meine Gründe vortragen und Ihnen keine Gelegenheit geben, mir zu widersprechen." Der Doktor unterdrückte ein Lächeln. "Ich sehe ein, dass hier ein Missverständnis vorliegt", gab er unumwunden zu. "Man hat Ihnen unnötige Umstände gemacht." Mit kaum spürbarem Bedauern fügte er hinzu: "Dabei hätten Sie sich wunderbar für die Aufgabe geeignet. Meine Neffen können einem ganz schön zu schaffen machen. Ich brauche jemanden, der jung ist und die nötige Geduld für sie aufbringt. Ihre Eltern - die Mutter ist meine Schwester - sind Archäologen und reisen für etwa einen Monat in den Vorderen Orient. Es war ein guter Gedanke, die sechsjährigen Zwillinge bei mir zu lassen. Ich fahre in der nächsten Woche nach Holland, aber wenn ich bis dahin niemanden gefunden habe, wird meine Schwester wohl hier
bleiben müssen. Sehr bedauerlich für sie, aber leider nicht zu ändern." "Würden die Jungen in Holland bei Ihnen wohnen? Dann könnte sich doch Ihre Frau um sie kümmern." "Meine liebe Miss Pomfrey! Ich bin ein viel beschäftigter Mann. Ich habe keine Zeit, mich nach einer passenden Frau umzusehen, und ans Heiraten ist schon gar nicht zu denken. Das ältere Ehepaar, das mir den Haushalt führt, kann sich nicht um die Jungen kümmern. Sie werden zwar zur Schule gehen, und ich werde ihnen möglichst viel von meiner Zeit widmen, aber sie brauchen jemanden, der ganz für sie da ist." Der Doktor stellte seine Tasse hin. "Es tut mir Leid, dass Sie extra nach London gekommen sind, aber Ihre Gründe leuchten mir natürlich ein. Wirklich schade ... wir wären alle sehr gut miteinander ausgekommen." Eine formvollendete Verabschiedung, dachte Araminta und stand auf. "Ich habe denselben Eindruck und teile daher Ihr Bedauern. Lassen Sie sich nicht länger aufhalten, sonst kommen Sie zu spät ins Krankenhaus." Der Doktor nahm ihre ausgestreckte Hand, drückte sie warm, und zu ihrer eigenen Überraschung hörte sich Araminta sagen: "Wenn ich im Krankenhaus absagen würde ... Was meinen Sie, würde man mir eine zweite Chance geben? Es ist das St. Jules ..." "Ich praktiziere dort regelmäßig und bin überzeugt, dass man Ihnen entgegenkommen würde. Es fehlt im St. Jules ständig an Lernschwestern." "Wie lange würde ich in Holland bleiben?" "Einen Monat, sechs Wochen ... vielleicht auch etwas länger. Doch Sie sollten Ihre Pläne keinesfalls ändern, nur um mir gefällig zu sein." "Ich bin Ihnen nicht gefällig", erklärte Araminta unverblümt. "Ich würde mich gern um die Jungs kümmern, wenn Sie mich für geeignet halten." Sie betrachtete das Gesicht des Doktors, es
wirkte streng und gleichzeitig freundlich. "Mir ist selber nicht klar, warum ich meine Meinung geändert habe, aber ich warte schon so lange auf die Schwesternausbildung, dass es auf einen oder zwei Monate nicht mehr ankommt." Etwas besorgt fügte sie hinzu: "Ich werde dann doch nicht zu alt sein? Für die Ausbildung, meine ich ..." "Das kann ich mir kaum denken. Wie alt sind Sie?" "Dreiundzwanzig." "Dann sind Sie auf keinen Fall zu alt, aber wenn es Sie beruhigt, werde ich beim nächsten Einstellungstermin ein gutes Wort für Sie einlegen." "Das wäre sehr freundlich von Ihnen. Würden Sie mir mitteilen, wann wir fahren und wie ich nach Holland komme? Ich muss jetzt gehen, sonst kommen Sie zu spät, und ich ziehe mir Brisketts ewige Feindschaft zu." Darüber lachte der Doktor. "Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, Miss Pomfrey. Auf Wiedersehen, Sie hören von mir." Er begleitete Araminta in den Flur, wo Briskett wartete. "Höchste Zeit", bemerkte er streng und öffnete die Tür. "Seien Sie vorsichtig, Miss."
2. KAPITEL Araminta fuhr mit dem Bus zur Oxford Street, setzte sich dort in ein kleines Cafe und überdachte die Situation. Dass sie ihre ursprünglichen Pläne völlig umgestoßen hatte, beschäftigte sie zunächst weniger. Sie hatte mit einigen vorschnellen Worten ihre Zukunft verändert - das war das Entscheidende, und über diese neue Zukunft wusste sie so gut wie nichts. Wo würde sie in Holland wohnen? Wie viel Geld würde sie bekommen? Wie stand es mit der Freizeit und wie mit der Sprache? Über all das hatte Dr. van der Breugh kein Wort verloren. Und was ihr erst jetzt auffiel... er hatte ihre Entscheidung sehr gelassen, ohne die geringste Überraschung hingenommen. Nachträglich ärgerte sie das. Kein Wort des Danks dafür, dass sie ihre Pläne in seinem Interesse änderte. Eine ziemliche Zumutung, wenn sie ehrlich war. Araminta bestellte eine zweite Tasse Kaffee und wandte sich dem Problem ihrer Garderobe zu. Sie hatte sich etwas Geld gespart. Theoretisch durfte sie das kleine Gehalt, das sie für die Arbeit im Kinderheim bekam, behalten und für sich selbst ausgeben, aber meist benutzte sie es, um die Haushaltskasse aufzufüllen. Ihre Eltern waren über alltägliche Dinge wie Gasrechnungen, Klempnerbesuche oder Sonderangebote beim Fleischer erhaben. In der keltischen Welt, in der sie lebten, ging es um wesentlichere Dinge.
Jetzt musste Araminta einen Teil ihrer Ersparnisse für Garderobe ausgeben, obwohl sie kaum viel brauchen würde. Eine neue regendichte Jacke, ein Wollrock mit zwei oder drei Pullovern, elegante Schuhe ... die flachen, die sie im Kinderheim trug, waren zu unansehnlich geworden. Ein Abendkleid war überflüssig. Sie würde kaum Gelegenheit zum Ausgehen haben. Araminta kam zum nächsten Punkt ihrer Überlegungen: ihre Eltern. Tante Millicent wurde erst in zwei Wochen erwartet. Wenn sie nicht früher kommen konnte, musste Mrs. Snow aus dem Dorf für einige Tage einspringen. Sie kochte leidlich und machte einigermaßen gut sauber. Wirklich, Dr. van der Breugh, dachte Araminta giftig. Warum schon nächste Woche? Hätten Sie nicht wenigstens Tante Millicents Ankunft abwarten können? Aramintas Eltern nahmen die Neuigkeit gelassen auf. Ihre Mutter nickte nur und sagte: "Dein Vater und ich wissen eben, was gut für dich ist, mein Kind. Du wirst viel Spaß haben und nebenbei noch etwas über ein fremdes Land lernen ... mag es auch so klein sein wie Holland. Vergiss nicht, alles geordnet für uns zurückzulassen." Nach einer Pause fügte sie lächelnd hinzu: "Es wird dir gefallen, für die Jungs zu sorgen." Araminta bestätigte diese Vermutung, obwohl sie voraussah, dass die Zwillinge so unartig und wild sein würden wie alle Jungen in ihrem Alter. Doch das störte sie nicht. Sie mochte Kinder, und vor der neuen Aufgabe schreckte sie nicht zurück. Wenn sie nur etwas mehr darüber gewusst hätte! Am nächsten Morgen wurde ihr dieser Wunsch erfüllt, denn sie erhielt einen überaus trocken abgefassten Brief von Dr. van der Breugh. Darin hieß es, dass sie am nächsten Sonntag um elf Uhr abgeholt würde, um einige Stunden bei ihren neuen Schützlingen zu verbringen und abends mit der Nachtfähre von Harwich nach Hoek van Holland weiterzureisen. Sie möchte darauf achten, dass ihr Pass gültig sei, und alles Notwendige für
die Nacht bei sich haben. Insgesamt dürfe ihr Gepäck zwei Koffer nicht übersteigen. "Sie erhalten wöchentlich einen freien Tag", hieß es am Schluss über die Arbeitsbedingungen, "und ab acht Uhr abends haben Sie ebenfalls frei. Das Gehalt wird Ihnen wöchentlich in Gulden ausgezahlt." Araminta rechnete die Summe in Pfund um und fand sie nicht nur großzügig, sondern geradezu fürstlich. Das versüßte den herben, beinahe schroffen Ton des Briefs, über den sie sich anfangs geärgert hatte. Aber warum eigentlich? Sie kannte den Doktor kaum und würde ihn auch in Holland wenig zu sehen bekommen. Araminta sagte ihrer Mutter, dass die Bedingungen für ihre neue Stellung mehr als akzeptabel seien, und überredete Mrs. Snow, bis zu Tante Millicents Eintreffen im Haus nach dem Rechten zu sehen. Dann inspizierte sie ihren Kleiderschrank und wählte aus, was sie mitnehmen wollte: das zweiteilige Jerseykleid mit der maisgelben Bluse, einen Rock mit mehreren dazu passenden Oberteilen, eine warme Jacke und ein schlichtes Kleid aus hellblauem Seidenkrepp. Eine angemessene Garderobe, dachte sie und fügte den alten Regenmantel, feste Schuhe und Unterwäsche hinzu. Araminta hatte Freude an schicker Kleidung, aber die tägliche Hausarbeit und die Arbeit im Kinderheim boten wenig Anlass, welche zu tragen. Die Stoffe mussten strapazierfähig und die Farben neutral sein, eine Ausgehgarderobe brauchte sie nicht. Sie wusste natürlich, wie langweilig die getroffene Auswahl war, aber es fehlte an Zeit und Geld, das zu ändern. Später vielleicht, drüben in Holland ... Die Woche verging schnell. Araminta putzte und polierte, wusch und bügelte, füllte den Vorratsschrank und bereitete Tante Millicents Zimmer vor. Zwischendurch fuhr sie einmal nach Henley, um sich elegante Lederschuhe zu kaufen. Sie fand welche, die keine zu hohen Absätze hatten, aber unerwartet
teuer waren. Da sie einem rosa Angorapullover, den sie im Schaufenster entdeckte, nicht widerstehen konnte, verzichtete sie auf eine neue Jacke. Die Grenze, die sie sich gesetzt hatte, war ohnehin schon überschritten. Erst im letzten Moment gab sie der Versuchung nach und kaufte noch eine hübsche Seidenbluse, die den alten Rock etwas auffrischen würde. Sonntagvormittag war Araminta um Punkt elf Uhr fertig. Ihre Eltern hatten die keltischen Studien widerstrebend im Stich gelassen und waren in den Flur gekommen, um sich von ihr zu verabschieden. Cherub war auch da und sah so niedergeschlagen aus, dass Araminta sich hinkniete, um ihn noch einmal an sich zu drücken. Sie würden sich gegenseitig vermissen. Auf die Sekunde genau fuhr draußen ein Wagen vor, aus dem Briskett ausstieg. Er wünschte allen einen guten Morgen, trug Aramintas Koffer zum Wagen und hielt ihr die hintere Tür auf. "Ich würde lieber vorn bei Ihnen sitzen", sagte Araminta. Sie umarmte ihre Eltern, stieg ein und winkte fröhlich zum Abschied. Dann lehnte sie sich aufseufzend zurück. Es war ein bequemes Auto - ein Jaguar, den Briskett fachmännisch fuhr. Man sah es ihm nicht an, aber hinter seinem schmächtigen Äußern verbarg sich der geborene Autofahrer. Bis Henley herrschte nur wenig Verkehr, und dort wählte Briskett die Straße nach Oxford. "Fahren wir nicht nach London?" erkundigte sich Araminta. "Nein, Miss. Dr. van der Breugh hält es für gut, wenn Sie die Jungs in ihrer gewohnten Umgebung kennen lernen. Die Ingrams wohnen in Oxford. Der Boss wird Sie später abholen und nach Harwich bringen." Araminta nickte. "Sicher hat der Doktor Recht. Begleiten Sie uns nach Holland, Mr. Briskett?" "Nein, Miss, ich halte in London die Stellung. Der Boss hat in Holland genug Personal. Er reist ständig hin und her, da muss er überall gut versorgt sein." "Warum bleiben die Jungs dann nicht in London?"
"Weil der Boss einige Zeit in Holland zu tun hat und nur kurzfristig herüberkommt, wenn er gebraucht wird. Er ist ein viel gefragter Mann." "Sollen wir ihn auf diesen Stippvisiten begleiten? Das würde viel Unruhe bringen." "Wo denken Sie hin, Miss? Deshalb sind Sie ja engagiert worden. Der Boss kann kommen und gehen, wann und wie er will, ohne in irgendeiner Weise behindert zu sein." Das Haus, vor dem sie in Oxford hielten, lag in einer ruhigen Gegend und wirkte so vornehm wie die Nachbarhäuser. Normalerweise mangelte es Araminta nicht an Selbstbewusstsein, aber als sie neben Briskett vor der Haustür stand und darauf wartete, dass jemand öffnete, spürte sie doch eine ungewohnte Nervosität. Wenn die Zwillinge nun eine spontane Abneigung gegen sie fassten? So etwas kam durchaus vor. Auch die Eltern konnten sie unsympathisch finden oder irgendetwas an ihr auszusetzen haben. Schließlich wussten sie nichts über sie - so wenig wie der Doktor. Doch sie ließ sich in ihrer Haltung nicht erschüttern, und als ein gehetzt wirkendes Hausmädchen mit Schürze öffnete, folgte sie Briskett in den Flur. "Miss Pomfrey", erklärte Briskett. "Sie wird erwartet." Das Mädchen nickte und führte sie in ein großes Zimmer mit Blick auf den rückwärtigen Garten. Es war geschmackvoll eingerichtet und extrem unordentlich. Vier Menschen hielten sich darin auf. Der Mann und die Frau, die sich aus ihren Sesseln erhoben, hatten - nach den herumliegenden Zeitungen zu urteilen - gerade ihre Sonntagslektüre beendet. Die Frau war jung und hübsch und hatte eine schlanke Figur, die durch die elegante Kleidung noch betont wurde. Sie kam mit ausgestreckter Hand auf Araminta zu und sagte: "Miss Pomfrey? Wie nett, den weiten Weg zu uns zu machen! Wir sind Ihnen wirklich dankbar. Ich
bin Lucy Ingram, Marcus' Schwester, aber das wissen Sie sicher schon. Dies ist Jack, mein Mann." Jack war im Gegensatz zu seiner Frau klein und gedrungen und hatte einen offenen, natürlichen Gesichtsausdruck. Er unterhielt sich mit Araminta, während Lucy kurz mit Briskett sprach. Als Briskett gegangen war - nicht ohne Araminta ein beruhigendes "Bis später, Miss!" zuzurufen -, nahm Lucy ihren Arm. "Kommen Sie, ich mache Sie mit meinen Söhnen bekannt." Die Zwillinge saßen am anderen Ende des Zimmers an einem kleinen Tisch und legten ein Puzzle zusammen. Dabei waren sie verdächtig ruhig. Sie sahen sich zum Verwechseln ähnlich, was Araminta nichts Gutes ahnen ließ, und glichen blonden Engeln. "Peter und Paul", stellte ihre Mutter vor. "Wenn Sie genau hinsehen, können Sie bei Peter eine kleine Narbe über dem rechten Auge erkennen. Er ist vor Jahren von einem Baum gefallen, und seitdem kann man ihn zum Glück von Paul unterscheiden." Sie winkte, woraufhin die beiden folgsam angetrabt kamen. Was mochten ihre Eltern ihnen versprochen haben, um sie so zahm zu machen? "Hallo", sagte Araminta und gab ihnen nacheinander die Hand. "Ihr müsst mir helfen, euch auseinander zu halten, und dürft nicht böse sein, wenn ich mich anfangs irre." "Ich bin Peter, und wie heißen Sie? Miss Pomfrey ist kein richtiger Name." "Araminta." Die Brüder sahen sich zweifelnd an, und Peter meinte: "Das ist ein langer Name." Er dachte kurz nach. "Wir werden dich Minta nennen." "Peter, ihr könnt nicht einfach ..." "Lassen Sie nur, Mrs. Ingram", sagte Araminta schnell. "Ich fühle mich durchaus nicht wie Miss Pomfrey."
Mrs. Ingram seufzte. "Dann geht, und trinkt eure Milch, während ich Miss Pom ... Minta Kaffee anbiete. Später wird sie sich euer Zimmer ansehen." Die Brüder gehorchten, und Araminta wurde gebeten, sich auf das Sofa zu setzen. Während sie Kaffee tranken, plauderte Mrs. Ingram über harmlose Dinge. Ihr Mann verhielt sich schweigsam und stellte nur gelegentlich eine Frage - wie ihr die Arbeit im Kinderheim gefalle und ob sie schon einmal in Holland gewesen sei. "Die Zwillinge können kleine Teufel sein", gab er nach einer Weile freimütig zu, "aber das sind Sie wahrscheinlich gewohnt. In der Regel verhalten sie sich ganz manierlich, und sie schwärmen für ihren Onkel." Es ist sicher nicht schwer, für den Doktor zu schwärmen, dachte Araminta, aber ich würde es niemandem raten. Sie hätte den Doktor gern näher kennen gelernt, aber dazu würde es kaum Gelegenheit geben. Sobald sie aus Holland zurückkam, würde sie das ganze Zwischenspiel vergessen und sich nur noch ihrer Ausbildung widmen. Araminta schob den Gedanken beiseite und lauschte Mrs. Ingrams Anweisungen hinsichtlich der Kleidung und der Mahlzeiten ihrer Söhne. "Ich sage Ihnen das alles, weil Marcus nicht mit solchen Kleinigkeiten behelligt werden möchte", fügte Mrs. Ingram erklärend hinzu. "Sie haben doch keine Bedenken oder fühlen sich überfordert?" Araminta versicherte, dass sie sich der Aufgabe durchaus gewachsen fühle. "Im Heim haben wir manchmal vierzig Kinder, die es einem nicht immer leicht machen. Ich werde wunderbar mit den Zwillingen auskommen. Fahren sie gern nach Holland?" "Sehr gern sogar. In den ersten Tagen werden sie uns vermissen, aber sie waren schon bei ihrem Onkel zu Besuch und kennen das Haus und die Umgebung."
Als Mrs. Ingram vorsichtig einige persönliche Fragen stellte, antwortete Araminta bereitwillig. Sie hätte als Mutter ebenso gehandelt und sich auch nicht auf eine Empfehlung verlassen. Dr. van der Breugh hatte sie auf Dr. Jenkells Rat hin engagiert, was großes Vertrauen voraussetzte. Über ihre persönlichen Verhältnisse hatte er sich bestimmt nicht informiert. Beim Lunch stellte Araminta erfreut fest, dass die Zwillinge gute Tischmanieren hatten und nicht an dem Essen herummäkelten. Wie lange diese vorbildlichen Manieren anhalten würden, war allerdings zweifelhaft. Für normale Jungs verhielten sie sich fast zu brav ... Der Nachmittag verging mit der Besichtigung des Spielzimmers und einem ausführlichen Spaziergang durch den Garten, der einen kleinen Teich mit Goldfischen enthielt. Weder Peter noch Paul fielen ein einziges Mal aus der Rolle, was Araminta immer misstrauischer machte. Wenn sie eine Frage stellte, erhielt sie eine höfliche Antwort, aber sie hütete sich, die beiden auszuhorchen. Sie kannte sie noch nicht und musste erst ihr Vertrauen und ihre Sympathie erwerben. Als sie aus dem Garten zurückkamen, saß Dr. van der Breugh mit den Eltern im Wohnzimmer. Die Zwillinge stürzten jubelnd auf ihn zu, und es war dem Doktor anzumerken, dass er ihre Zuneigung erwiderte. Nachdem er sich aus den Umarmungen befreit hatte, begrüßte er Araminta. "Wir fahren gleich nach dem Tee, Miss Pomfrey", sagte er. "Falls Sie Ihre Eltern noch einmal anrufen wollen ... meine Schwester hat nichts dagegen." "Danke, das würde ich gern tun." "Sie heißt nicht Miss Pomfrey", warf Peter ein. "Sie heißt Minta." "Ein hübscher Name", gab der Doktor zu. "Um Miss Pomfrey zu sein, müsste sie wie eine Hexe aussehen, eine Warze am Kinn haben und uns ständig ermahnen,
uns nicht schmutzig zu machen. Minta ist nett. Sie sieht nicht besonders hübsch aus, aber sie lächelt viel..." Mrs. Ingram bemerkte, dass Araminta errötete, und brachte Peter mit einer Handbewegung zum Schweigen. "Still, Schatz, das gehört sich nicht. Kommen Sie mit, Miss Pomfrey. Ich zeige Ihnen, wo das Telefon steht." Auf dem Flur fügte sie verlegen hinzu: "Ich muss mich für Peter entschuldigen. Er wollte nicht unhöflich sein, sondern Ihnen eher ein Kompliment machen." Araminta lachte. "Ich bin froh, dass sie mich nicht für eine Hexe halten. Wir werden gut miteinander auskommen." Das Mädchen holte die Jungen zum Händewaschen, und die Männer blieben allein im Wohnzimmer zurück. "Es ist nett von dir, die Zwillinge zu nehmen", sagte Mr. Ingram zu seinem Schwager. "Lucy geriet schon ein bisschen in Panik. Eine bessere Entdeckung als diese Miss Pomfrey hättest du nicht machen können, Marcus. Nicht hübsch, wie Peter gesagt hat, aber freundlich und bescheiden. Weißt du Näheres über sie?" "So gut wie nichts. Der alte Jenkell hat mir von ihr erzählt, er kennt sie seit ihrer Geburt. Sie soll vertrauenswürdig, geduldig und freundlich sein - alles Eigenschaften, die sie im Kinderheim beliebt machen. Sie wollte erst nicht annehmen, weil sie im St. Jules als Lernschwester anfangen sollte, aber sie hat sich anders besonnen und die Ausbildung verschoben. Den Grund dafür weiß ich nicht, aber ich habe ihr versprochen, ihre nächste Bewerbung im Krankenhaus zu unterstützen." Der Doktor stand auf und ging zum Fenster. "Ihr werdet den Garten vermissen, Jack. Keine Sorge, die Jungs sind bei mir gut aufgehoben, und Miss Pomfrey ist ein Schatz, wie du selbst gesagt hast. Eine nette, unbedeutende Person, die sich nicht aufdrängen wird, was mir lästig wäre." Die Teemahlzeit fiel üppiger als sonst aus, wurde aber nicht unnötig in die Länge gezogen. Nachdem sich Peter und Paul von ihren Eltern verabschiedet hatten, kletterten sie auf den Rücksitz
des Bentleys, während Araminta vorn einstieg. Sie hatte sich vorher sorgfältig für die Reise zurechtgemacht und sogar ihr Haar vorübergehend gebändigt. Der Doktor fragte höflich, ob sie es bequem habe, und dachte bei sich: Ich kann von Glück sagen. Diese anspruchslose Miss Pomfrey kommt wie gerufen. Araminta ahnte nichts von diesen Gedanken und machte es sich auf dem weichen Sitz bequem. Das Gespräch, das der Doktor mit seinen Neffen führte, ging sie nichts an, aber sie hörte heraus, dass es sich hauptsächlich um Segeln drehte. Erwartete man vielleicht von ihr, dass sie sich an diesem Sport beteiligte? Hoffentlich nicht, aber es war noch zu früh, sich deswegen graue Haare wachsen zu lassen. Welche unerwarteten Abenteuer auch auf sie zukamen - in vier, höchstens sechs Wochen würde alles vorbei sein. Bis dahin verdiente sie gut, und sie hatte endlich einmal ihre Freiheit. Bei diesem Gedanken regte sich ihr Gewissen, obwohl sie sicher war, dass Tante Millicent ihre Eltern gut versorgen würde. Nachdem sie Maidenhead und Slough passiert hatten, bog der Doktor zu Aramintas Überraschung nicht auf den nördlichen Stadtring ein, sondern fuhr zu seinem Haus. Briskett, den Araminta bei den Ingrams nicht mehr gesehen hatte, öffnete ihnen die Tür. "Pünktlich wie immer", begrüßte er den Doktor. "Hoffentlich sind Sie nicht zu schnell gefahren, Sir. Es gab verschiedene Anrufe, ich habe die Namen notiert. Wenn Sie sich frisch machen möchten, Miss Pomfrey... die Zwillinge übernehme ich. Der Kaffee steht im Wohnzimmer." Obwohl sich Araminta taufrisch fühlte, folgte sie Brisketts Aufforderung und suchte den Waschraum auf. Als sie zurückkam, erwartete er sie im Flur, um sie ins Wohnzimmer zu begleiten. Trotz seiner gelegentlichen Freizügigkeiten war er ein Fels in der Brandung und nicht mit Gold aufzuwiegen.
Der Doktor saß mit seinen Neffen auf der Couch und studierte eine Landkarte. Er bat Araminta, Platz zu nehmen und den Kaffee einzuschenken. Für Peter und Paul stand Milch bereit, und sie ließen so wenig davon übrig wie von den Wursthäppchen und den Keksen. Der Abschied von den Eltern war bereits vergessen, und die Nacht auf der Fähre versprach ein aufregendes Abenteuer zu werden. Nach einer Weile entschuldigte sich der Doktor mit dringenden Telefongesprächen und überließ es Araminta, die beiden Jungen ruhig zu halten. Darin hatte sie reichlich Erfahrung. Als der Doktor nach einer halben Stunde zurückkam, saßen sie friedlich neben ihr auf dem Sofa und lauschten der Geschichte, die sie ihnen erzählte. "Vielleicht sollten Sie mit den Jungs hinten sitzen, Miss Pomfrey..." "Minta, Onkel Marcus", mischte sich Peter ein. "Sie heißt Minta." "Meinetwegen. Wenn Miss Pomfrey nichts dagegen hat..." "Nicht das Geringste", versicherte Araminta. Wenig später brachen sie auf. Sie durchquerten London bei wenig Verkehr und erreichten die A12. Über Brentwood und Chelmsford ging es nach Colchester, wo sie in Richtung Harwich abbogen. Die Zwillinge waren inzwischen fest eingeschlafen. Araminta hielt sie rechts und links im Arm, saß zu eng und zu unbequem und beobachtete den Doktor am Steuer. Er war ein guter Fahrer. Einen Mann wie Dr. van der Breugh näher kennen zu lernen würde sich lohnen, dachte sie, aber ich werde wohl keine Gelegenheit dazu finden. Merkwürdig, dass er nicht verheiratet war. Vielleicht hatte er seine Frau verloren, vielleicht hatte ihm auch eine unglückliche Liebe das Herz gebrochen, und er dachte nur noch an seine Arbeit. Ob er verlobt war? Die Möglichkeit bestand, und Araminta verspürte den plötzlichen Wunsch, es herauszufinden.
Sie waren unter den Letzten, die an Bord gingen. Der Doktor trug den schlafenden Peter, ein Gepäckträger den schlafenden Paul. Die Kabine, die Araminta mit den Zwillingen teilen sollte, war geräumig und hatte eine separate Dusche. Sobald das Gepäck in der Kabine war, zog Araminta die beiden Jungen aus und brachte sie ins Bett. Sie wurden vorübergehend wach, schliefen aber gleich wieder ein. Araminta legte ihre eigenen Sachen zurecht und fragte sich, was sie jetzt tun solle. Ob der Doktor es übel nahm, wenn sie nach dem Steward klingelte und um Tee und ein Sandwich bat? Es war beinahe Mitternacht, und sie hatte Hunger. Ein leises Klopfen schreckte sie auf. Sie öffnete die Tür und sah den Doktor vor sich stehen. "Eine Stewardess wird die Zwillinge im Auge behalten, während wir essen", sagte er. "Kommen Sie mit ins Restaurant, da kann ich Ihnen besser erklären, was Sie in den nächsten Wochen erwartet." Araminta war von Herzen einverstanden. Sie folgte dem Doktor ins Restaurant, ließ sich das von ihm ausgesuchte Menü schmecken und folgte dabei seinen Erklärungen. "Ich wohne in Utrecht", begann er. "Mein Haus liegt in der Innenstadt, aber es gibt in der Nähe schöne Parks, und meine Neffen besuchen vormittags die Schule. Nutzen Sie diese freien Stunden, denn den Rest des Tages müssen Sie ganz für sie da sein. Meine Wirtschafterin und mein Butler werden sich nach Kräften bemühen, Ihnen die Situation zu erleichtern, und gelegentlich werde ich selbst Zeit haben, mich den Jungs zu widmen. Eine Warnung im Voraus ... sie sind ungezogen und naseweis wie alle Kinder in ihrem Alter und dazu unzertrennlich." Araminta aß ein Stück von der gegrillten Seezunge. "Ich werde mich bemühen, es Peter und Paul so angenehm wie möglich zu machen", erklärte sie dann, "und wenn es Probleme
gibt, wende ich mich an Sie. Vermutlich sind Sie tagsüber fort. Darf ich erfahren, wo Sie arbeiten?" "Ich werde Ihnen immer eine Telefonnummer geben oder Bas eine Nachricht hinterlassen. Er spricht leidlich Englisch und ist sehr umsichtig." Dr. van der Breugh lächelte. "Ich bin sicher, dass alles reibungslos verlaufen wird, Miss Pomfrey. Jetzt möchten Sie bestimmt schlafen gehen. Morgen früh werden Sie rechtzeitig geweckt. Wenn die Zwillinge zu aufgeregt sind, um etwas zu essen, frühstücken wir unterwegs, aber ich glaube, dass wir an Bord Zeit genug dafür haben. Sie werden doch mit den beiden fertig?" "Selbstverständlich", versicherte Araminta leicht gekränkt. Sie hatte in den letzten Jahren gelernt, mit Kindern umzugehen, und wozu war sie schließlich mitgekommen? Sie dankte dem Doktor für das Abendessen und wünschte ihm eine gute Nacht. Zu ihrer Überraschung begleitete er sie bis zu ihrer Kabine und wartete, bis sie darin verschwunden war.
3. KAPITEL Die Zwillinge wachten auf, als die Stewardess erschien. Sie tranken die Milchkrüge leer, aßen alle Kekse und sprachen pausenlos mit vollem Mund. Sie wuschen sich, putzten sich die Zähne und zogen ihre besten Sachen an, wie ihre Mutter es ihnen eingeschärft hatte. Araminta war noch dabei, ihnen die Schnürsenkel zuzubinden, als der Doktor hereinkam. "Ist jemand hungrig?" erkundigte er sich. "Wir haben Zeit genug, um zu frühstücken." Er sah Araminta an. "Haben alle gut geschlafen?" "Wie betäubt", erwiderte sie. "Alles ist gepackt, und wir sind fertig." "Ausgezeichnet. Dann darf ich vorangehen?" Die heitere Laune des Doktors wirkte etwas aufgesetzt, und Araminta fragte sich, ob er die Unterbrechung seines regelmäßigen Arbeitslebens vielleicht als lästig empfand. Wenn ja, wusste er das meisterhaft zu verbergen. Das Frühstück verlief in bester Laune, wurde aber nicht ausgedehnt, weil die Jungen das Anlegemanöver beobachten wollten. Danach verging einige Zeit, bis sie von Bord waren und die Zollformalitäten erledigt hatten. "Wir fahren direkt nach Hause", sagte der Doktor, als Hoek van Holland endlich hinter ihnen lag. Die Zwillinge saßen neben ihm, und er konnte nur über die Schulter mit Araminta sprechen.
"Die Fahrt dauert etwa eine Stunde." Er griff nach dem Autotelefon. "Ich sage Bescheid, dass wir kommen." Vor Rotterdam nahm der Verkehr stark zu. Sie fuhren durch den Maastunnel, durchquerten die südlichen Vororte der Stadt und erreichten die Autobahn, wo sie wieder schneller vorankamen. Araminta hatte Muße, sich umzusehen. Das Land war flach, wie sie erwartet hatte, aber es besaß überraschend viel Charme. Zu beiden Seiten der Straße lagen einsame Gehöfte, das Laub der Bäume begann sich bereits zu färben, und auf den Wiesen, die durch schmale Kanäle getrennt waren, weideten Kühe und Pferde. Größere Ortschaften wurden nicht berührt. Manchmal sah Araminta in der Ferne ein Dorf vorübergleiten, dann wünschte sie sich, mehr Zeit zu haben, um diese Idylle auszukundschaften. Der Doktor schien ihre Gedanken zu erraten, denn er sagte: "Ich weiß, die Strecke ist langweilig, aber wir kommen so am schnellsten nach Hause. Bevor Sie zurückfahren, müssen Sie unbedingt etwas von dem typischen Holland kennen lernen." Araminta beteuerte, dass sie sich darüber sehr freuen würde, und fügte höflicherweise hinzu: "Die Autobahn ist sehr gut." "Alle holländischen Autobahnen sind gut, aber die Nebenstraßen ..." Der Doktor lächelte. "Nun, Sie werden selbst sehen." Wenig später verließen sie die Autobahn und bogen auf eine schmale Landstraße ein, die zwischen tief liegenden Wiesen hindurchführte. "Wir fahren an der Vecht entlang", erklärte der Doktor. "Das ist ein Umweg, aber er lohnt sich." Sie fuhren in nördlicher Richtung, bis sie den Fluss erreichten, an dem schöne alte Häuser in großen Gärten lagen. "Die Kaufleute der Ostindischen Handelskompanie haben sich hier in früheren Jahrhunderten angesiedelt", erzählte der Doktor. "Rechts werden Sie gleich ein prächtiges Herrenhaus erkennen. In der Provinz Utrecht gibt es mehrere davon. Meist sind sie in
Privatbesitz, aber einige können besichtigt werden. Wir müssen daran denken, ehe Sie nach England zurückkehren." Araminta dankte für den Hinweis und sah sich aufmerksam um. Der Umweg am Fluss entlang lohnte sich wirklich, aber Araminta hatte den Eindruck, dass der Doktor nur einem Pflichtgefühl folgte. Er wollte ihr etwas bieten, als wäre sie eine lästige Touristin, der man nichts vorenthalten durfte, weil sie bezahlt hatte. Sie näherten sich Utrecht und erreichten wenig später das Zentrum. Schöne alte Gebäude, dachte Araminta, und verwirrend viele Kanäle. Sie erspähte einige Geschäftsstraßen, mehrere von schmalen Giebelhäusern eingefasste Plätze und schön gepflegte Grünanlagen. Die Zwillinge redeten jetzt ununterbrochen, mal englisch und mal holländisch. Natürlich, dachte Araminta. Sie haben ja eine holländische Mutter und einen .holländischen Onkel. Der Doktor ließ sie gewähren und warf nur ab und zu ein mahnendes Wort ein. Plötzlich drehte sich Paul um und rief: "Wir sind da, Minta. Sieh nur ... ist es nicht toll?" Araminta beugte sich vor. Sie befanden sich in einer schmalen Gracht, einer typisch holländischen Kanalstraße mit Bäumen und Häusern auf beiden Seiten. Die Häuser waren sehr verschieden, einige breit, andere schmal, einige aufrecht, andere altersgebeugt, aber alle hatten gut erhaltene Giebeldächer. Sie fuhren bis zum Ende der Gracht und hielten vor einem roten Backsteinhaus, zu dessen massiver Holztür zwei Stufen hinaufführten. Araminta verrenkte sich den Hals, um die Höhe des Gebäudes zu erkennen - es waren vier Stockwerke mit jeweils drei Fenstern, die nach oben hin immer kleiner wurden und sich zuletzt in den Giebel zwängten. Der Doktor stieg aus, ließ seine Neffen heraus und öffnete Aramintas Tür. "War die Fahrt auch nicht zu anstrengend?" fragte er.
"Durchaus nicht", versicherte sie und kam sich doppelt so alt vor, wie sie war. Der Doktor schien es sich in den Kopf gesetzt zu haben, sie durch Höflichkeiten zu kränken. Die Zwillinge liefen die Stufen hinauf und redeten lebhaft auf den Mann ein, der an der offenen Tür stand. "Das ist Bas", stellte der Doktor vor. "Er und seine Frau Jette versorgen das Haus. Wie ich schon sagte .... er spricht Englisch und wird Ihnen in allem behilflich sein." Bas hatte graues Haar, sein altes, vom Leben gezeichnetes Gesicht flößte Araminta sofort Vertrauen ein. Er ergriff ihre ausgestreckte Hand und sagte in überraschend akzentfreiem Englisch: "Ich heiße Sie herzlich willkommen, Miss. Wir werden Ihnen den Aufenthalt so angenehm wie möglich machen." Wie nett! dachte Araminta. Könnte der Doktor nicht etwas Ähnliches sagen? Der Doktor sagte etwas, aber es klang eher zerstreut. "Ja, ja, Miss Pomfrey. Fühlen Sie sich wie zu Hause, und wenden Sie sich mit allem an Bas." Immerhin, dachte Araminta. Mehr war wohl nicht zu erwarten. Sie betraten einen schmalen, tief nach hinten führenden Flur mit mehreren Türen auf beiden Seiten. Etwa in der Mitte begann eine Treppe, die steil und gewunden nach oben führte. Ehe sie die Tür zum Wohnzimmer - eine prächtige Doppeltür aus dunklem Mahagoniholz - erreicht hatten, kam ihnen eine kleine, rundliche Frau entgegen. Sie trug ein einfaches schwarzes Kleid mit weißer, frisch gestärkter Schürze. Ihr graues Haar war zu einem Knoten zusammengefasst, die Augen in dem runden, rosigen Gesicht wirkten fast schwarz. "Jette!" Dr. van der Breugh küsste sie auf beide Wangen und sagte etwas auf Holländisch. Jette lächelte, reichte Araminta die Hand und beugte sich zu den Zwillingen hinunter, um sie zu begrüßen.
"Geht mit Jette in die Küche", forderte der Doktor seine Neffen auf. "Miss Pomfrey wird euch holen, wenn sie Kaffee getrunken und sich ausgeruht hat." Wieder zehn Jahre älter, dachte Araminta und folgte Bas in das große, helle Wohnzimmer, von dessen Fenstern man die Gracht überblicken konnte. Eine Glastür führte ins Nebenzimmer, es gab einen wuchtigen Kamin mit Sofas zu beiden Seiten, mehrere bequeme Sessel, einen Klapptisch zwischen den Fenstern und einen niedrigen Tisch aus Rosenholz, auf dem eine Schale mit voll erblühten Bourbonrosen stand. Neben dem Kamin stand ein Glasschrank aus Walnussholz, ihm gegenüber ein schwarz-goldener Lackschrank in chinesischem Stil. Darüber hing eine kostbare Uhr, deren Ticken leise durch den Raum klang. Bei den Vorhängen und Bezügen herrschten dunkle Rot- und Grüntöne vor, auf dem polierten Parkettboden lagen in unregelmäßigen Abständen orientalische Brücken, die mit den Jahren dünn geworden und verblichen waren. Ein prachtvolles Zimmer, dachte Araminta und hätte das auch zu jedem gesagt - nur zu dem Doktor nicht. Er hätte ihr unerwünschtes Lob höchstens mit einem kühlen Blick quittiert, und deshalb schwieg sie. "Setzen Sie sich, Miss Pomfrey", forderte er sie auf. "Wenn Sie Kaffee getrunken haben, wird Jette Sie in Ihr Zimmer bringen. Kümmern Sie sich bitte um die Sachen der Zwillinge und entwerfen Sie einen Tagesplan für sie, den wir später besprechen können." Bas erschien mit dem Kaffee, und Araminta übernahm wieder das Einschenken. Nach dem ersten Schluck entschuldigte sich der Doktor und sah die Briefe durch, die neben seinem Stuhl lagen. An Araminta dachte er nicht mehr. Erst nach einer Weile sah er auf, nahm seine Lesebrille ab und sagte: "Sie möchten jetzt sicher in Ihr Zimmer gehen, Miss Pomfrey.
Nehmen Sie Peter und Paul gleich mit. Ich bin zum Mittagessen nicht da und schlage vor, dass Sie heute Nachmittag zu dritt einen Spaziergang machen. Bis zum nächsten Park ist es nicht weit, und Bas gibt Ihnen jede gewünschte Auskunft." Er stand auf, um die Tür zu Öffnen, und es blieb Araminta nichts übrig, als das Wohnzimmer zu verlassen. Dabei hätte sie gern eine zweite Tasse Kaffee getrunken ... Bas wartete draußen und führte sie in die Küche, die an der Rückseite des Hauses im Souterrain lag. Es tat Araminta wohl, mit Freudenrufen von Seiten der Zwillinge und mit einem Lächeln von Jette begrüßt zu werden. Sie nahm das Angebot einer zweiten Tasse Kaffee dankbar an und setzte sich zu den anderen an den blank gescheuerten Holztisch. "Ich serviere das Mittagessen um zwölf Uhr", erklärte Bas, "und wenn Sie von Ihrem Spaziergang zurückkommen, gibt es Tee ... ganz nach englischer Art." Er nickte lächelnd. "Möchten Sie vielleicht Ihre Familie anrufen? Mijnheer hat ausdrücklich die Erlaubnis gegeben." "Oh, vielen Dank. Wenn ich das gleich tun dürfte, bevor ich in mein Zimmer gehe ..." Mrs. Pomfrey war am Apparat und drückte ihre Erleichterung über Aramintas sichere Ankunft aus. Sie erinnerte sie außerdem daran, dass es in Nordholland bemerkenswerte Grabhügel gebe, deren Besuch sie keineswegs versäumen dürfe. "Viel Spaß", sagte sie noch und beendete damit das Gespräch. Es blieb offen, was Araminta Spaß machen sollte die Besichtigung der Grabhügel oder ihre Tätigkeit bei Dr. van der Breugh. Aramintas Zimmer lag im zweiten Stock, hatte den Blick zur Straße und war geschmackvoll mit einem Himmelbett, einem Frisiertisch, einem Kleiderschrank und einer Sitzecke mit zwei kleinen Sesseln möbliert. Alle Möbel waren aus einem hellen Holz gearbeitet, das Araminta nicht kannte, und bei den Stoffen herrschten Pastelltöne vor. Neben dem Schrank führte eine
schmale Tür in das angrenzende, mit allem modernen Komfort ausgestattete Badezimmer. Das Haus mag alt sein, dachte Araminta, aber hinter der historischen Fassade verbergen sich alle technischen Errungenschaften der Zeit. Das Zimmer der Zwillinge lag gegenüber und war ebenfalls mit einem Badezimmer verbunden. Das dritte Zimmer, am Ende des schmalen Korridors, war das Spielzimmer, wie der niedrige, von mehreren kleinen Stühlen umstandene Tisch und die Spielzeugregale verrieten. Peter und Paul waren begierig, ihr alles zu zeigen. Sie redeten ständig durcheinander, aber Araminta verstand, dass die Spielsachen teilweise noch von ihrem Urgroßvater stammten. "Wir müssen vorsichtig sein", erklärte Paul, "aber wenn wir hier sind, lässt Onkel Marcus uns damit spielen." "Kommt ihr oft her?" fragte Araminta. "Jedes Jahr ... mit Mummy und Daddy." Es blieb nicht viel Zeit, die Spielsachen zu besichtigen, denn Bas rief zum Mittagessen. Die Zwillinge sprangen die Treppe hinunter, und Araminta folgte in gebührendem Abstand. Da das Frühstück an Bord der Fähre lange zurücklag, aßen sie alle mit gutem Appetit. Die Jungen waren immer noch aufgeregt, und es erschien Araminta ratsam, mit ihnen spazieren zu gehen und erst später auszupacken, wenn sie sich müde gelaufen hatten. Der Park war nur fünf Minuten entfernt - eine sorgsam gehütete grüne Oase inmitten des dichten Häusergewirrs. Es gab einen kleinen Teich mit Goldfischen, an dem Stühle standen, aber die Zwillinge dachten nicht daran, sich hinzusetzen. Nachdem sie die Fische genug bewundert hatten, bestanden sie darauf, Araminta die nächsten Straßen zu zeigen. "Später gehen wir auch zum Dom", sagte Peter eifrig. "Der Turm ist über hundert Meter hoch, und vielleicht zeigt Onkel Marcus uns die Universität."
Der Spaziergang erfüllte seinen Sinn, denn sie kehrten erschöpft nach Hause zurück. Bas begrüßte sie und nahm ihnen die Jacken ab. "Der Tee ist im kleinen Salon serviert", meldete er. "Sie erreichen ihn durch die Glastür im Wohnzimmer. Mijnheer wird bald zurück sein und Ihnen die beiden Jungs abnehmen. Sie bekommen ihr Abendessen um halb sieben." Nach dem Tee liefen Peter und Paul in die Küche, um mit der Hauskatze Miep und deren Jungen zu spielen. Araminta war vorübergehend allein und ging zum Fenster, um den rückwärtigen Garten zu betrachten. Er war klein und von einer hohen Backsteinmauer umgeben, schmale gepflasterte Wege führten zwischen den Blumenbeeten hindurch, die durch reiche Bepflanzung größer wirkten, als sie waren. Araminta seufzte, denn sie dachte daran, dass sie noch einen Tagesplan für sich und die Zwillinge entwerfen musste, ehe der Doktor zurückkam. Er wollte mit ihr darüber sprechen ... "Die übernommene Aufgabe wird Ihnen doch nicht zu schwer?" fragte jemand leise hinter ihr. Araminta drehte sich rasch um. Der Doktor war leise hereingekommen und stand jetzt dicht hinter ihr. Auf seinem Gesicht lag ein spöttisches Lächeln. "Ich dachte, ich wäre allein, Dr. van der Breugh", antwortete sie spitz. "Natürlich wird mir die Aufgabe nicht zu schwer, aber es war ein langer Tag." "Allerdings. Ich schlage deshalb vor, dass Sie nach oben gehen und auspacken. Bis halb sieben übernehme ich die Verantwortung für meine Neffen." Beim Auspacken nahm sich Araminta vor, ihre Gefühle in Zukunft besser zu verbergen. Der Doktor schien kein mitfühlender Mensch zu sein, aber seinen Spott wollte sie sich auch nicht zuziehen. Warum hatte sie diesen Job überhaupt angenommen? Gewiss, das Gehalt war gut, aber vor allem hatte
sie Mitleid mit dem Doktor gehabt. Das war - wie sie leider zu spät erkannte - ausgesprochen überflüssig. Der Doktor brauchte kein Mitleid. Er lebte in bequemsten Verhältnissen und war von Menschen umgeben, die ihn verehrten. Natürlich arbeitete er auch, aber als was? Als praktischer Arzt? Dafür lebte er zu hochherrschaftlich. Als Facharzt in einem Krankenhaus oder vielleicht als Spezialist für eine dieser neuen Modekrankheiten? Sie würde es herausfinden. Araminta versorgte das Gepäck der Jungen, legte alles für die Nacht zurecht und setzte sich dann hin, um einen Tagesplan zu entwerfen. Wahrscheinlich würde der Doktor ihn nicht gutheißen, aber dann sollte er seine eigenen Vorschläge machen. Um halb sieben ging sie nach unten und fand den Doktor und die Zwillinge in dem kleinen Salon hinter dem Wohnzimmer. Alle drei saßen auf dem Teppich und spielten lautstark Karten. Als Vierter hatte sich ein schwarzer Neufundländer dazugesellt, der neben seinem Herrn saß und jede Karte verfolgte, die aufgenommen oder hingelegt wurde. Alle sahen auf, als Araminta hereinkam, und der Doktor sagte: "Geben Sie uns noch fünf Minuten, Miss Pomfrey." Er wies auf den Hund, der auf Araminta zukam. "Das ist Humphrey. Mögen Sie Hunde?" "Ja." Araminta ließ Humphrey an ihrer Hand schnuppern und streichelte seinen großen Kopf. "Was für ein schönes Tier!" Sie setzte sich hin und wartete, bis das Spiel beendet war. Peter wurde zum eindeutigen Sieger erklärt. "Und das Abendessen?" fragte Araminta zuckersüß. Der Doktor stand auf und zog die Jungen in die Höhe. "Sagt mir Gute Nacht, ehe ihr ins Bett geht. Und nun seid brav und tut, was Miss Pomfrey sagt." Bas wartete im Flur. "Die Jungs essen im Kinderzimmer im ersten Stock", erklärte er Araminta. "Es liegt genau unter dem Spielzimmer."
Sie gingen alle nach oben, und Araminta wunderte sich über das dritte Kinderzimmer, das so liebevoll wie die beiden anderen eingerichtet war. "Onkel Marcus hat früher hier gegessen", erzählte Peter. "Jetzt ist das Zimmer für uns da, und später sollen es seine Kinder benutzen." Wollte der Doktor heiraten? Er war nicht mehr jung mindestens Mitte dreißig -, und wenn er eine Familie gründen wollte, wurde es höchste Zeit. Es wäre traurig gewesen, das schöne alte Haus mit den vielen Kinderzimmern unbenutzt zu lassen ... Nele, das blonde Hausmädchen, deckte gerade den Tisch, und wenig später kam Bas mit einem Tablett herein. Die Jungen aßen und tranken schweigend und ließen sich dann widerspruchslos in ihr Zimmer bringen. Sie waren müde und hatten plötzlich Heimweh. "Fahren Mummy und Daddy weit weg?" fragte Peter beim Baden. "Zu Fuß wäre es sehr weit", antwortete Araminta, "aber mit einem Flugzeug ist man im Nu dort und wieder zurück. Was meint ihr, wollen wir Mummy und Daddy morgen eine Postkarte schreiben?" Sie plauderte weiter, während sie die Zwillinge abtrocknete und ihnen die Schlafanzüge anzog. Dann ging es wieder hinunter ins Wohnzimmer, wo der Doktor in einem Sessel Zeitung las. Er umarmte seine Neffen, neckte sie ein wenig und versprach, dass sie sich beim Frühstück wieder sehen würden. "Dinner in einer halben Stunde, Miss Pomfrey", sagte er, als Araminta hinausging. Am liebsten hätte sie mit einem "Sehr wohl, Sir!" geantwortet, aber da sie sich nicht wieder verraten wollte, nickte sie nur. Die Zwillinge schliefen sofort ein, und Araminta hatte genug Zeit, um zu duschen und sich umzuziehen. Der Doktor saß noch im Wohnzimmer, als sie wieder herunterkam. Er stand auf, bot
ihr ein Glas Sherry an und sprach über belanglose Dinge, bis Bas zum Essen bat. Araminta hatte Hunger, und Jette war eine ausgezeichnete Köchin. Es gab Champignons in weißer Knoblauchsauce, gebratenes Perlhuhn und Apfeltorte mit Schlagsahne, und alles schmeckte köstlich. Um nicht unhöflich zu erscheinen, bemühte sich Araminta krampfhaft um ein Gespräch, ohne zu merken, dass ihre wenig erfolgreichen Versuche dem Doktor eher lästig waren. Er nahm sich fest vor, ab morgen abends im Krankenhaus oder mit Freunden zu essen. Das Frühstück fürchtete er weniger, denn da waren seine Neffen dabei, und mittags war er fast immer unterwegs. Miss Pomfrey war eine nette junge Frau, aber nichts an ihr erregte sein Interesse. Für die Jungen war sie genau die Richtige, und nur darauf kam es an. Was sie in ihrer Freizeit tat, war ihm mehr als gleichgültig. Als er vorschlug, den Kaffee im Wohnzimmer zu trinken, lehnte Araminta ab. "Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich gleich ins Bett gehen", sagte sie. "Ich habe auf Ihren Wunsch hin einen Tagesplan entworfen. Vielleicht sehen Sie ihn durch und sagen mir morgen, ob Sie damit einverstanden sind. Frühstücken wir allein oder mit Ihnen zusammen?" "Mit mir zusammen, Miss Pomfrey, und zwar pünktlich um halb acht. Kurz nach acht fahre ich ins Krankenhaus." Araminta nickte. "Ich hatte mich schon gefragt, wo Sie arbeiten. Gute Nacht, Doktor." Der Doktor hatte das Gefühl, ungnädig entlassen worden zu sein. Er setzte sich wieder ins Wohnzimmer, trank den Kaffee, den Bas ihm hinstellte, und vertiefte sich in die Patientenunterlagen, die er aus dem Krankenhaus mitgebracht hatte. Sowohl in Utrecht wie in Leiden wartete Arbeit auf ihn. Er war ein anerkannter Spezialist für Endokrinologie und sollte in mehreren komplizierten Fällen Beistand leisten. An Araminta dachte er nicht mehr.
4. KAPITEL Araminta ließ sich beim Zubettgehen Zeit. Sie nahm ein ausgiebiges Bad und suchte vor dem Spiegel die ersten Falten in ihrem Gesicht. Jemand hatte ihr mal gesagt, mit zwanzig beginne die Haut zu altern, aber sie brauchte sich vorerst keine Sorgen zu machen. Um ihre pfirsichzarte Haut hätte sie manche Frau beneidet. Auf ihrem Nachttisch lagen mehrere Zeitschriften und ein englischer Roman. Wahrscheinlich war Jette so umsichtig gewesen, sie hinzulegen, aber Araminta war nicht nach Lesen zu Mute. Sie wollte nur in Ruhe nachdenken - und war in wenigen Minuten eingeschlafen. Eine Stunde später wurde sie durch eine leise, jämmerliche Stimme geweckt. Paul stand an ihrem Bett, und gleich darauf erschien auch Peter. Beiden liefen Tränen über das Gesicht. Araminta sprang aus dem Bett. "Habt ihr schlecht geträumt? Wartet, ich setze mich zu euch, dann könnt ihr mir alles erzählen. Schlechte Träume verschwinden, wenn man über sie spricht." Es ging nicht um schlechte Träume, sondern um Heimweh und die Sehnsucht nach Mummy und Daddy. Araminta setzte sich auf das eine Bett, nahm Peter rechts und Paul links in den Arm und drückte sie tröstend an sich. "Natürlich vermisst ihr eure Eltern, aber in einigen Wochen seid ihr alle wieder zusammen. Denkt nur, wie schön es sein
wird, sie wieder zu sehen und ihnen alles über Holland zu erzählen. Außerdem habt ihr euern Onkel..." "Und dich, Minta." Paul sah sie ängstlich an. "Du bleibst doch bei uns?" "Natürlich, Schatz. Ich bin hier in einem fremden Land ... wo sollte ich hin? Ich brauche euch doch, damit ihr mir Utrecht zeigt und ich später davon erzählen kann." "Deinen Kindern?" fragte Peter. "Nein, Peter, ich habe nur meine Eltern und einige Onkel und Tanten, die ich selten sehe. Dabei hätte ich so gern Brüder gehabt." "Sollen wir deine Brüder sein?" fragte Paul eifrig. "Jedenfalls, solange du bei uns bist?" "O ja, bitte. Was für eine nette Idee ...!" "Ich hörte Stimmen", erklang es von der Tür her. "Hat jemand schlecht geträumt?" Alle sahen überrascht auf, denn keiner hatte den Doktor kommen hören. "Wir sind aufgewacht und wollten nach Hause", erzählte Peter aufgeregt, "aber Minta hat uns alles erklärt. Sie bleibt bei uns, wie du auch, und wir dürfen ihre Brüder sein. Sie hat keinen eigenen Bruder." Der Doktor kam herein und setzte sich auf das andere Bett. "Das ist eine großartige Idee, Peter. Und nun denkt daran, was wir alles unternehmen wollen. Wahrscheinlich werden die wenigen Wochen gar nicht ausreichen." Der Doktor begann mit einem besänftigenden Monolog. Er sprach von den Freunden in Friesland, die sie besuchen wollten, von dem See nördlich von Utrecht, wo er eine Yacht besaß, von den Geschäften, in denen sie Geschenke für die Eltern aussuchen würden ... Die Jungen hörten aufmerksam zu, vergaßen ihr Heimweh und wurden schläfrig. Araminta hörte auch zu und achtete nicht
darauf, dass sie barfuß war, ihr Nachthemd wenig verbarg und ihr das Haar aufgelöst über Schultern und Rücken fiel. Der Doktor hatte sie mit einem kurzen Blick gestreift und dann nicht wieder zu ihr hingesehen. Er war von Natur aus rücksichtsvoll und wusste, dass die spröde Miss Pomfrey es ihm übel nehmen würde, wenn er sie in diesem Zustand sah, der eigentlich ein ganz normaler war. Übrigens hatte sie schönes Haar ... "Nun?" fragte der Doktor. "Könnt ihr weiterschlafen? Ich gehe jetzt nach unten, und wenn ich in zehn Minuten zurückkomme, ist hier niemand mehr wach." Er strich beiden über den Kopf und verließ das Zimmer, ohne Araminta zu beachten. Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie in der Eile vergessen hatte, sich ihren Morgenmantel überzuziehen. Sie deckte die Zwillinge zu, gab ihnen einen Gutenachtkuss und eilte in ihr Zimmer, um das Versäumte nachzuholen und außerdem ihr Haar zurückzubinden. Paul hatte darauf bestanden, dass sie bei ihm bleiben sollte, bis er eingeschlafen war. Sie würde dem Doktor also noch einmal begegnen, aber diesmal vollständig bekleidet! Der Doktor ließ etwas mehr als zehn Minuten verstreichen, ehe er zurückkam. Die Jungen schliefen bereits, und Araminta saß aufrecht auf einem Stuhl am Fenster. "Paul wollte unbedingt, dass ich bleibe", erklärte sie, erntete aber nur ein flüchtiges Nicken. Wahrscheinlich hatte der Doktor sie schon vorhin nicht richtig wahrgenommen ... Araminta seufzte erleichtert. "Gute Nacht, Doktor." "Gute Nacht, Miss Pomfrey." Der Doktor lächelte vor sich hin. Der alte Jenkell hatte ihm erzählt, dass Araminta die spät geborene Tochter weltfremder Eltern sei, die nicht mit der Zeit gingen. Wahrscheinlich hatten sie ihre Tochter genauso weltfremd erzogen. Für die Zwillinge spielte das keine Rolle, und ihm selbst ersparte es unangenehme Verwicklungen. Ein bis zwei Tage,
und er würde kaum noch merken, dass sie da war. Frauen wie sie kamen sehr gut allein zurecht. Das Frühstück am nächsten Morgen gab dem Doktor keine Veranlassung, seine Meinung über Araminta zu ändern. Sie saß zwischen Peter und Paul, und keiner versuchte ihn von der Durchsicht seiner Post abzuhalten. "An Ihrem Tagesplan gibt es nichts auszusetzen, Miss Pomfrey", bemerkte er zwischendurch. "Ich bin heute zum Tee wieder da und mache anschließend mit meinen Neffen einen Spaziergang. Heute ist ihr erster Schultag. Sie werden sie hinbringen und mittags wieder abholen. In der Zwischenzeit können Sie Einkäufe machen oder sich die Stadt ansehen." "Vielen Dank", sagte Araminta. "Warum nennst du Minta immer Miss Pomfrey, Onkel Marcus?" fragte Peter. "Aus Versehen, entschuldige bitte." Der Doktor lächelte, was sein strenges Gesicht wohltuend veränderte. "Ich werde von jetzt an Minta sagen, wenn Miss Pomfrey nichts dagegen hat." Er sah Araminta fragend an. "Miss Pomfrey hat nichts dagegen", antwortete Araminta unwillig, denn der Doktor hatte sie das schon einmal gefragt. Offenbar hatte sie so wenig Eindruck auf ihn gemacht, dass er es für überflüssig hielt, sich ihre Worte zu merken. Die Zwillinge hatten nichts dagegen, in die Schule zu gehen. Sie lag nur fünf Minuten vom Haus des Doktors entfernt in einer ruhigen Straße jenseits des Kanals. Araminta übergab ihre Schützlinge einer Lehrerin, versprach, sie pünktlich abzuholen, und kehrte nach Hause zurück. Dort sagte sie Bas, dass sie einen Spaziergang in die Stadt machen würde. Der Dom war nicht schwer zu finden, aber Araminta verzichtete auf eine Besichtigung, weil die Jungen dabei sein wollten. Stattdessen ging sie in die nahe gelegene St. Pieterskerk, die für ihre Fresken und die gotische Krypta berühmt war. Sie blieb so lange, bis es Zeit wurde, die Zwillinge
von der Schule abzuholen. Morgen würde sie in ein Museum gehen und vielleicht irgendwo Kaffee trinken ... Die Schulstunden hatten den Jungen Spaß gemacht. Sie erzählten auf dem Rückweg jede Einzelheit und wollten dann wissen, was sie am Nachmittag unternehmen würden. "Wir könnten Postkarten und Briefmarken kaufen und an eure Eltern schreiben", schlug Araminta vor. "Kennt ihr den Weg zum Postamt? Wenn ihr mir jeden Tag etwas mehr von Utrecht zeigt, werde ich mich gut zurechtfinden, falls ich wiederkomme." "Du kommst bestimmt wieder", versprach Paul. "Onkel Marcus wird dich einladen." Darauf hätte Araminta nicht gewettet, aber sie sagte nur: "Das wäre nett. Jetzt müssen wir uns beeilen, denn Bas wartet mit dem Mittagessen. Ihr könnt mir bei Tisch alles erzählen, was euch noch einfällt." Der Nachmittag ließ reichlich Zeit für den Gang zur Post und die Erkundung weiterer Straßen. Die Zwillinge waren auf alles stolz, was sie Araminta zeigen konnten. Sie prahlten mit Kenntnissen über Grachten und Giebel und spielten sich als richtige kleine Fremdenführer auf. Zum Tee waren sie rechtzeitig zu Hause. Bas öffnete ihnen die Tür, und sie kamen ziemlich lautstark herein. Araminta hatte versucht, einige holländische Worte nachzusprechen, was viel Gelächter ergab. Eine Tür im hinteren Flur öffnete sich, und der Doktor kam heraus. Er trug seine Lesebrille und hielt ein Buch in der Hand. Sein Blick verriet heftigen Ärger. "Schsch!" Araminta beugte sich zu den Zwillingen hinunter. "Wir müssen leise sein, sonst stören wir euern Onkel." Zu dem Doktor gewandt, fuhr sie fort: "Wenn wir gewusst hätten, dass Sie schon da sind, hätten wir uns wie die Mäuschen verhalten." "Es freut mich, das zu hören, Miss Pomfrey. Ich möchte Ihr Vergnügen nicht stören, aber ich muss Sie bitten, in diesem Haus so leise wie möglich zu sein. Das gilt natürlich nicht für
das Kinderzimmer. Dort können Sie Ihrer Heiterkeit freien Lauf lassen." Araminta blickte den Doktor mitleidig an. Er musste heiraten und selbst Kinder haben, um wieder ein normaler Mensch zu sein. Wie es aussah, war er auf dem besten Weg, ein verknöcherter Junggeselle zu werden! "Es tut uns aufrichtig Leid", sagte sie. "Nicht wahr, Jungs? Von jetzt an schleichen wir durchs Haus und lachen nur noch oben in unserm Zimmer. Kinder sind nun einmal Kinder, Doktor, aber das scheinen Sie im Lauf der Jahre vergessen zu haben." Sie lächelte unschuldig und scheuchte die Zwillinge die Treppe hinauf. "Ist Onkel Marcus böse?" fragte Paul leise. "Nein, nein. Ihr habt gehört, was er gesagt hat. Im Kinderzimmer dürfen wir so laut sein, wie wir wollen. Steht da nicht ein Klavier? Wir werden nach dem Tee ein Konzert geben." Das gefiel den Zwillingen, aber Peter sagte nachdenklich: "Onkel Marcus muss böse gewesen sein, sonst hätte er dich nicht Miss Pomfrey genannt." "Das hat er nur aus Versehen getan. Kommt, wir waschen uns die Hände und gehen dann ins Kinderzimmer. Wenn euer Onkel arbeitet, trinken wir sicher dort Tee." Der Doktor war tatsächlich in sein Arbeitszimmer zurückgekehrt, aber er fuhr nicht gleich in seiner Lektüre fort. Aramintas Worte ärgerten ihn, denn sie besagten, dass er ein alter oder zumindest gealterter Mann war. So ein Unsinn! Mit sechsunddreißig Jahren war man weder alt noch gealtert, und deshalb hatte ihn die Bemerkung getroffen. In einem Punkt musste er ihr Recht geben - er lebte nicht so wie gleichaltrige Männer. Er war eben nicht verheiratet, und deshalb konnte er so viel arbeiten, wie er wollte.
Sein Ansehen als Professor für Endokrinologie war beträchtlich. Er wurde von vielen Kollegen beneidet und war mit seinem Leben durchaus zufrieden. Er hatte Freunde und Bekannte, er hatte seine Schwester, die er liebte, und er hatte seine Neffen. Er ging regelmäßig aus, und natürlich dachte er gelegentlich auch ans Heiraten. Leider war unter den Frauen, die er kannte, keine, mit der er sein restliches Leben verbringen wollte. Früher oder später, da machte er sich nichts vor, würde er einen Kompromiss schließen und die Zweitbeste wählen müssen. Von denen gab es in seiner Bekanntschaft genug, und jede von ihnen würde seinen Antrag bereitwillig annehmen. Der Doktor vertiefte sich wieder in sein Buch, aber die Konzentration war dahin. Also ging er in die Küche und bat Bas, den Tee wie üblich im kleinen Salon zu servieren. "Teilen Sie Miss Pomfrey und den Zwillingen bitte mit, dass ich sie dort in zehn Minuten erwarte." Und nach dem Tee, fügte er in Gedanken hinzu, spielen wir das lauteste Spiel, das es gibt! Bei diesem Gedanken musste er lächeln. Die langweilige Miss Pomfrey hatte es tatsächlich geschafft, ihn zu ärgern. Nicht absichtlich, das war ihm völlig klar. Er kannte sie inzwischen gut genug, um sie charakterlich richtig einzuschätzen. Sie hatte ein gutes Herz und wollte niemanden kränken. Sich allerdings so freimütig zu äußern ... Als Araminta zehn Minuten später mit den Zwillingen nach unten kam, saß der Doktor bereits im kleinen Salon am offenen Fenster - mit Humphrey neben sich. Er stand auf und sagte betont locker: "Ich dachte, wir könnten genauso gut zusammen Tee trinken. Jette hat gebacken, und ihre .Boterkoekjes' schmecken am besten in Gesellschaft." Er rückte Araminta einen Stuhl zurecht. "Setzen Sie sich, Miss Pomfrey." "Minta", verbesserte Peter.
Der Doktor fügte sich. "Meinetwegen auch Minta", sagte er, "aber nur für heute Nachmittag." Araminta schenkte Tee ein und verteilte die "Boterkoekjes", die noch warm waren und köstlich schmeckten. "Nun?" erkundigte sich der Doktor zwischen zwei Bissen. "Was habt ihr heute getrieben?" Die Zwillinge begannen mit einem lebhaften Bericht, zu dem Araminta wenig hinzuzufügen hatte. Es genügte, wenn sie ab und zu nickte oder "Ja, Schatz" sagte. Später, beim Dinner, würde sie dem Doktor wahrscheinlich Rede und Antwort stehen müssen, und das würde sie mit äußerster Höflichkeit tun. Er mochte der liebenswürdigste Mann der Welt sein, aber alles musste nach seinem Willen gehen. Das war sein schwacher Punkt. Araminta beschloss, Rücksicht darauf zu nehmen. Sie war nur eine Angestellte in diesem Haus - noch dazu eine Angestellte auf Zeit. Das durfte sie nicht vergessen. Nachdem Bas das Teegeschirr abgedeckt hatte, spielten sie "Monopoly". Die Zwillinge beherrschten es erstaunlich gut, und mit Hilfe kleiner Winke und Hinweise gewann Peter, dicht gefolgt von Paul. Der Doktor hatte absichtlich Fehler gemacht und sogar gemogelt, aber außer Araminta hatte das niemand bemerkt. Sie selbst wurde Vierte - was der Doktor mit den Worten quittierte: "Ein geborenes Finanzgenie sind Sie nicht, Miss ... Minta." Während sie das Spiel zusammenpackte, sagten die Zwillinge ihrem Onkel Gute Nacht und baten ihn inständig, später an ihr Bett zu kommen. Als der Doktor das versprach, gingen sie "bereitwillig nach oben, um zu baden und ihre warme Schlummermilch zu trinken. Araminta hatte alle Hände voll zu tun und sah entsprechend aus, als der Doktor eine halbe Stunde später erschien. Er selbst hatte sich umgezogen und trug einen Smoking mit schwarzer Schleife - sehr schick, wie Araminta fand. Sie stellte sich vor, wie das Kleid aus blauem Seidenkrepp daneben gewirkt hätte ...
Er sagte den Zwillingen Gute Nacht und wandte sich dann an Araminta. "Ich gehe heute Abend aus, Miss Pomfrey." Sein formeller Ton traf sie wie ein eisiger Hauch. "Bas wird Ihnen zur gewohnten Zeit das Dinner servieren. Ansonsten können Sie tun und lassen, was Sie wollen." Dann würde ich Sie gern begleiten, hätte Araminta beinahe gesagt. Wohin mochte er gehen? Bestimmt zu einer illustren Gesellschaft, wo er von schönen Frauen umschwärmt wurde. Vielleicht führte er die schönste anschließend zum Essen aus, in eins dieser teuren Restaurants mit rosa Lämpchen auf den Tischen und Speisekarten von der Größe eines Stadtplans ... Darin täuschte sie sich nicht, denn Paul fragte schläfrig: "Gehst du mit einer hübschen Frau aus, Onkel Marcus?" Der Doktor nickte lächelnd. "Allerdings, Paul. Morgen erzähle ich euch, was wir gegessen haben." Er ging ohne ein weiteres Wort, und Araminta setzte sich ans Fenster, bis sie sicher sein konnte, dass er das Haus verlassen hatte. Warum hätte er auch bleiben sollen, nur um mit ihr zu essen? Es war töricht gewesen, das zu erwarten. Gestern hatte ihn die Höflichkeit dazu gezwungen, aber sie war nicht interessant genug, als dass er ihre Gesellschaft zwei Mal ertragen hätte. Ihre Mutter hatte sie oft genug freundlich darauf hingewiesen, dass es ihr an Witz und Charme fehle und sie dazu verurteilt sei, an einer interessanten Unterhaltung durch Zuhören teilzunehmen. Araminta hatte sich mehr oder weniger an diesen Rat gehalten und ihrer Mutter nachgesehen, dass sie ihre Gefühle mit Füßen trat. Sie hatte ihr sogar zugute gehalten, dass kluge und brillante Menschen oft über die Gefühle anderer hinweggingen. Aber wie auch immer... sie wusste, dass ihre Mutter Recht hatte, und war in diesem Bewusstsein eine gute Zuhörerin geworden. Bas bediente sie beim Dinner, als wäre sie ein Ehrengast, und servierte den Kaffee im Wohnzimmer. Araminta trank ihn in
Humphreys Gesellschaft und ging anschließend im Zimmer umher, um sich die Porträts und die Kostbarkeiten in der Vitrine anzusehen. Es war noch früh - zu früh, um schon schlafen zu gehen. Da sie wenig Lust zum Lesen hatte, kuschelte sie sich in eine Sofaecke und hing ihren Gedanken nach. Im Großen und Ganzen war der Tag erfolgreich verlaufen. Die Zwillinge mochten sie, das Haus gefiel ihr, und in ihrem Zimmer fehlte es an nichts. Bas und Jette hätten nicht freundlicher sein können, und Utrecht war zweifellos eine interessante Stadt. Nur eins störte sie: Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass der Doktor sie zwar höflich behandelte, aber im Grunde nicht leiden konnte. Dass sie ihm gelegentlich widersprochen hatte, machte die Sache nicht besser. "Du musst lernen, den Mund zu halten", sagte sie so laut, dass Humphrey erwachte. "Du sollst dich um die Zwillinge kümmern und wirst dafür bezahlt. Vergiss das nicht, Araminta." Sie sagte Bas und Jette in der Küche Gute Nacht, überzeugte sich, dass die Zwillinge ruhig schliefen, und ging in ihr Zimmer. Der Gedanke, noch unten zu sein, wenn der Doktor nach Hause kam, war ihr plötzlich unerträglich. Am nächsten Morgen erschien der Doktor nicht zum Frühstück. Er sei, wie Bas berichtete, früh nach Amsterdam gefahren und würde erst zum Dinner zurück sein. Die Zwillinge machten bei dieser Nachricht lange Gesichter, und zu ihrem Erstaunen teilte Araminta ihre Enttäuschung. Der Tag verlief wie der vorangegangene, mit der einen Ausnahme, dass der Doktor nicht zum Gutenachtsagen kam. Zum Trost erzählte Araminta den Zwillingen eine Schlummergeschichte und zog sich anschließend für das Dinner um. Das blaue Seidenkleid gefiel ihr zwar nicht mehr, aber es war das Einzige, das für den Abend geeignet war. Der Doktor war nicht allein, als Araminta zehn Minuten vor der Essenszeit ins Wohnzimmer kam. Eine Frau saß ihm gegenüber - eine atemberaubend schöne Frau. Sie hatte blondes
Haar, eine klassische Nase, volle geschwungene Lippen und blaue Augen. Sie trug einen schwarzseidenen Hosenanzug und kostbaren Goldschmuck, und sie lachte über etwas, was der Doktor gesagt hatte. Araminta wich zurück. "Entschuldigen Sie. Ich wusste nicht, dass Sie Besuch haben ..." Der Doktor stand auf. "Ah, Miss Pomfrey, bitte bleiben "Sie. Darf ich Sie Mevrouw Lutyns vorstellen?" Als Araminta näher trat, fuhr er fort: "Christina, das ist Miss Araminta Pomfrey, die sich um die Zwillinge kümmert, solange Lucy und Jack im Ausland sind." Mevrouw Lutyns lächelte bezaubernd, gab Araminta die Hand und sah sie dabei eiskalt an. "Ach ja, die Kinderfrau. Hoffentlich gefällt Ihnen Utrecht während Ihres kurzen Aufenthalts." Ihr Englisch war fast perfekt, wie sie selbst perfekt war jedenfalls auf den ersten Blick. "Ich denke schon." Araminta sah den Doktor an, nickte kurz und wandte sich zum Gehen. "Bleiben Sie, Miss Pomfrey", wiederholte er. "Trinken Sie ein Glas Sherry mit uns. Ich bin heute Abend nicht da, aber bei Bas sind Sie ja in besten Händen." "Ich bin nur heruntergekommen, um Ihnen zu sagen, dass die Zwillinge im Bett liegen", antwortete Araminta. "Danke für den Sherry, aber ich verzichte lieber. Guten Abend, Mevrouw ... guten Abend, Doktor." Sie ging, aber ehe sie die Tür schloss, hörte sie Mevrouw Lutyns in scharfem Flüsterton fragen: "Du meine Güte, Marcus, wo hast du diese Vogelscheuche her?" Araminta stand im Flur und zitterte vor Wut. Die Antwort des Doktors hätte sie besänftigt, aber leider konnte sie sie nicht hören. "Das war keine nette Bemerkung, Christina", sagte er ruhig. "Miss Pomfrey ist eine liebenswerte Frau, und die Zwillinge
hängen sehr an ihr. Wie sie aussieht, spielt keine Rolle, denn als Mensch ist sie unschätzbar." Mevrouw Lutyns kehrte zum Holländischen zurück und flötete: "Marcus, Lieber ... ich wollte durchaus nicht unfreundlich sein. Sicher ist sie eine Perle." Wenig später verließen sie das Haus, um in einem der feinsten Restaurants von Utrecht zu essen. Es lag nicht in der Absicht des Doktors, aber er musste im Lauf des Abends mehrmals an Araminta denken. Dann sah er sie allein am Tisch sitzen - in ihrem blauen Kleid, das sie wahrscheinlich nur für ihn angezogen hatte. Später fuhr er Mevrouw Lutyns zu ihrer Wohnung, die außerhalb der Stadt in einem modernen Wohnblock lag. Die Einladung, noch auf einen Drink heraufzukommen, lehnte er mit dem Hinweis ab, dass er im Krankenhaus nach einem Patienten sehen müsse. Als Mevrouw vorschlug, sich an einem der nächsten Abende wieder zu treffen, antwortete er, dass seine Zeit sehr bemessen sei, weil er auch außerhalb von Utrecht Verpflichtungen habe. Diese Antwort erfreute Mevrouw keineswegs. Gegen Mitternacht kam der Doktor nach Hause. Es war still in dem matt erleuchteten Flur, aber Humphrey wartete und forderte seinen Abendspaziergang ein. Also machte sich der Doktor noch einmal auf den Weg durch die klare, kühle Nacht. Als er zurückkam, brachte er Humphrey in die Küche, wo der Hundekorb stand, schenkte sich von dem Kaffee ein, der immer heiß auf dem Herd stand, und ging dann schlafen. Ein verlorener Abend, dachte er, während er sich auszog. Er kannte Christina seit Jahren und schätzte sie als intelligente und . unterhaltende Begleiterin, aber Liebe war dabei nie im Spiel gewesen. Keiner Frau seiner Bekanntschaft war es bisher gelungen, mehr als ein oberflächliches Interesse bei ihm zu erregen. Seine Arbeit bedeutete ihm alles. Er war reich und wurde von Menschen betreut, die seine Freunde waren.
Manchmal zweifelte er daran, dass er jemals die Frau treffen wurde, die geeignet war, seinem Leben eine neue Wendung zu geben.
5. KAPITEL Der Doktor saß bereits am Frühstückstisch, als Araminta am nächsten Morgen mit den Zwillingen herunterkam. Beide begrüßten ihn stürmisch und erinnerten ihn daran, dass er ihnen für Sonnabend einen Ausflug versprochen hätte. Er versicherte, dass er das nicht vergessen habe, und wünschte Araminta in Erinnerung an den gestrigen Abend betont freundlich einen guten Morgen. Araminta antwortete nüchtern wie immer und ging zum Thema Wetter über, woraus der Doktor schloss, dass ihr die Begegnung mit Christina wenig ausgemacht hatte. "Ich fahre morgen mit meinen Neffen nach Leiden", sagte er und betrachtete sie über seine Lesebrille hinweg. "Sicher sind Sie froh, einen Tag für sich allein zu haben. Irgendwo muss ein Stadtplan von Utrecht sein ... ich werde ihn für Sie heraussuchen. Es gibt viel zu sehen, und die Stadt hat gute Geschäfte." Als Araminta höflich dankte, fügte er hinzu: "Wenn Sie bis in den Abend fortbleiben möchten, wird Bas Ihnen einen Hausschlüssel geben." Araminta dankte abermals und fragte sich, ob sie das als diskreten Hinweis verstehen sollte, erst zur Schlafenszeit nach Hause zu kommen. "Wer würde in diesem Fall die Zwillinge ins Bett bringen?" fragte sie.
"Oh, das könnte Jette übernehmen. Übrigens werde ich auch am Sonntag kaum hier sein, aber das ist für Sie wohl kein Problem." "Nein", erklärte Araminta kurz. Sonnabendmorgen brach der Doktor kurz nach dem Frühstück mit seinen Neffen auf. Araminta kam mit an die Haustür, wo die Zwillinge sie zärtlich umarmten. "Du bist doch hier, wenn wir zurückkommen?" fragte Peter, und Paul fügte hinzu: "Warum kommst du nicht mit?" Er drehte sich zu seinem Onkel um, der geduldig am Auto wartete. "Nicht wahr, Onkel Marcus? Du möchtest doch, dass sie mitkommt?" "Miss Pom ... Minta ist nur kurze Zeit hier und möchte so viel wie möglich von Utrecht sehen. Sie möchte sicher auch durch die Geschäfte bummeln. Das tun Frauen besonders gern." "Euer Onkel hat Recht", sagte Araminta. "Nur keine Sorge, für unsere Spaziergänge bleibt noch genug Zeit." Sie küsste die Zwillinge zum Abschied und wartete, bis sie eingestiegen waren. Humphrey saß zwischen ihnen und nahm fast den ganzen Rücksitz ein. Um den Doktor kümmerte sie sich nicht mehr. Eine Viertelstunde später verließ auch Araminta das Haus versehen mit einem Stadtplan, einem Hausschlüssel und den guten Wünschen von Bas und Jette. Den Dom hatte sie bereits mit den Zwillingen besichtigt, also konzentrierte sie sich diesmal auf den Turm und ging dann durch den eleganten Renaissance-Kreuzgang zur Universität hinüber, wo früher das Ordenskapitel getagt hatte. Das Centraalmuseum stand als Nächstes auf ihrer Liste. Außer den Gemälden bewunderte sie vor allem Möbel, Schmuck und Textilien und wurde erst müde, als Mittag längst vorüber war. Sie suchte sich ein kleines Cafe und bestellte ein "Kaasbroodje". Sie hätte gern mehr gegessen, aber da sie noch
kein Gehalt bekommen hatte, musste sie mit ihrem Geld sparsam sein. Der Himmel, der vormittags klar gewesen war, hatte sich inzwischen bezogen, und der Wind nahm ständig zu. Araminta war froh, dass sie das Jerseykleid unter der warmen Jacke trug, und machte sich auf den Weg ins Einkaufszentrum. Die Qualität der Geschäfte überraschte sie. Kleidung, Schuhe, Schmuck, Glas- und Silberwaren ... Araminta bedauerte mehr als einmal, dass sie nicht wenigstens ihr erstes Wochengehalt bei sich hatte. Während sie sich mit Tee und einem Stück "Zandtaart" stärkte, überlegte sie, wie sie den Abend verbringen sollte. Wenn sie gegen neun Uhr nach Hause kam, würden die Zwillinge bereits schlafen, und der Doktor aß auswärts, das hatte Bas ihr noch gesagt. Sie würde also unbehelligt in ihr Zimmer kommen. Ein Kinobesuch erschien ihr als Lösung des Problems. Für ein richtiges Abendessen hatte sie dann zwar kein Geld mehr, aber für eine Tasse Kaffee und ein Sandwich würde es noch reichen. Sie wählte eins der großen Kinos am Marktplatz und sah sich einen alten amerikanischen Film an, bei dem sie aus Übermüdung einschlief. Als sie aufwachte, lief bereits wieder Werbung, und sie verließ mit den anderen den Saal. Draußen war es inzwischen dunkel geworden, obwohl es kaum acht Uhr war. Araminta ging in ein gut besetztes Cafe und bestellte sich eine Tasse Kaffee - mehr konnte sie sich nicht leisten. Auf ihrem Nachttisch stand eine kleine Dose mit Keksen". Die Kekse konnte sie essen, falls sie zu hungrig wurde. Auf dem Nachhauseweg kam sie an einem Stand vorbei, der mit großen Buchstaben seine "Pommes frites" anpries. Hm, dachte sie, das würde mir jetzt schmecken. Sie legte zwei Gulden hin und bekam dafür eine ziemlich kleine Tüte mit goldgelben Kartoffelchips. Sie biss in einen hinein ... er war heiß, kross und lecker.
Dr. van der Breugh, der auf dem Weg zu Freunden war, die ihn zum Essen eingeladen hatten, musste an der Ampel halten. Er sah sich um, denn Samstagabend war ein buntes Publikum unterwegs. Die Besitzer der Restaurants und Cafés machten gute Geschäfte, und auch die der Straßenstände brauchten sich nicht über fehlende Kundschaft zu beklagen. Gerade, als die Ampel auf Grün schaltete, erkannte der Doktor Araminta. Er musste weiterfahren, aber bei der ersten günstigen Gelegenheit wendete er, fuhr zurück und hielt wenige Schritte vor ihr an. Sie aß die Chips mit der Begeisterung eines Kindes, bis sie sich verschluckte, weil sie ihn gesehen hatte. Der Doktor wunderte sich, aber er war wütend. Wütend über sich selbst. Er hätte Araminta heute Morgen mitnehmen oder ihr zumindest helfen sollen, ihren freien Tag besser zu planen. Stattdessen hatte er nur an sich und die Zwillinge gedacht. Das verdiente eine Entschuldigung. Araminta wäre am liebsten im Erdboden versunken, als der Doktor auf sie zukam. Da diese Möglichkeit nicht bestand, machte sie das Beste aus der Situation und sagte: "Guten Abend, Doktor. Was für leckere Kartoffelchips es in Holland gibt!" Der Doktor war nicht in der Stimmung, über Kartoffelchips zu diskutieren. "Was machen Sie hier, Miss Pomfrey?" fragte er. "Warum sind Sie nicht zu Hause beim Dinner ..." Er sprach nicht weiter. Als er mit den Zwillingen nach Hause gekommen war, hatte er nicht einmal an Araminta gedacht und Bas auch nicht gefragt, ob sie wieder da sei. Er hatte sie ganz einfach vergessen. Araminta bemerkte sein Zögern und sagte schnell: "Es gibt eine ganz einfache Erklärung. Bas wusste, dass ich zum Dinner nicht zurück sein würde. Er gab mir einen Hausschlüssel, aber vielleicht war alles ein Missverständnis. Ich hatte den Eindruck, dass mein Abend auswärts zu Ihrem Programm gehörte. Sie sagten, Jette könne die Zwillinge bequem ins Bett bringen, und niemand würde mich zurückerwarten." Sie machte eine Pause.
"Habe ich mich verständlich ausgedrückt?" Als der Doktor schwieg, fügte sie hinzu: "Ich habe einen sehr interessanten Tag verbracht. Zuletzt war ich im Kino, und jetzt bin ich auf dem Weg nach Hause. Darum muss ich leider Gute Nacht sagen." "Nein, Miss Pomfrey, Sie werden nicht Gute Nacht sagen, sondern mit mir zu Abend essen. Ich bin sicher, dass Sie den Tag über gefastet haben, was meine Schuld ist, denn ich hatte Sie nicht mit genügend Geld versorgt. Würden Sie mir diese Gedankenlosigkeit verzeihen?" Araminta sah ihn überrascht an. "Natürlich verzeihe ich Ihnen, Doktor. Ich bin nicht Ihr Gast und kann gut für mich selbst sorgen. Fühlen Sie sich bitte nicht verpflichtet, mich zum Essen einzuladen. Ich habe gerade diese Kartoffelchips gegessen." . "Das ändert nichts an meinem Entschluss." Der Doktor nahm Aramintas Arm, und es blieb ihr nichts anderes übrig, als in den Bentley einzusteigen. Sie hielt noch immer die Tüte mit den restlichen Chips in der Hand und bat leise: "Würden Sie mich bitte nach Hause fahren? Ich bin nicht hungrig." Sie hätte sich die Worte sparen können, denn der Doktor antwortete nur mit einem undefinierbaren Laut und lenkte das Auto wieder auf die Straße. "Ich bin nicht richtig angezogen", versuchte Araminta es von neuem, aber der Doktor schien sie nicht zu hören. Er bog in eine Seitenstraße, an der elegante, noch immer hell erleuchtete Geschäfte lagen, und hielt am Ende vor einem kleinen Restaurant. Araminta hatte keine Wahl. Sie musste aussteigen und dem Doktor folgen. Das Restaurant reichte bis an einen Kanal. Die meisten Tische waren überwiegend besetzt. Zu Aramintas Erleichterung waren die weiblichen Gäste zwar gut, aber unauffällig angezogen, so dass sie mit dem Jerseykleid und der Jacke nicht weiter auffiel.
Der Doktor schien in dem Restaurant bekannt zu sein, denn er wurde zuvorkommend begrüßt und an einen Ecktisch mit Blick auf den Kanal geführt. Der Geschäftsführer nahm Araminta die Jacke ab, während ein Ober ihr gleichzeitig den Stuhl zurechtrückte. "Was möchten Sie trinken?" fragte der Doktor, als sie sich gegenübersaßen. "Trockenen Sherry?" Araminta war einverstanden, und der Doktor bestellte. Dann wurden ihnen die Karten gereicht, die eine erlesene Auswahl boten - allerdings zu Höchstpreisen. Araminta studierte die einzelnen Gerichte. Es geschah dem Doktor ganz recht, wenn sie jetzt Kaviar oder Kiebitzeier mit Trüffeln wählte. Beides kostete so viel, wie sie zu Hause in einer ganzen Woche ausgab. Andererseits hatte sie keinen Sinn für ausgefallene Delikatessen, und da sie dem Doktor den Abend verdorben hatte, verdiente er es, dass sie seine Brieftasche schonte. Der Doktor klappte die Karte zu. "Haben Sie einen besonderen Wunsch, oder darf ich für uns beide bestellen?" "O ja, bitte." Araminta legte ihre Karte erleichtert zur Seite. "Die Auswahl ist verwirrend groß." "Allerdings. Was halten Sie von marinierten Auberginen als Vorspeise? Danach könnte ich den Seebarsch empfehlen ..." Araminta war mit allem einverstanden. Sie war von Natur aus nicht schüchtern und zu sehr die Tochter ihrer Eltern, um sich durch die gehobene Umgebung einschüchtern zu lassen. Sie aß mit Appetit und versuchte höflich Konversation zu machen. Zunächst amüsierte das den Doktor, aber dann änderte sich seine Einstellung. Miss Pomfrey mochte nicht gerade aufregend sein, aber sie besaß Haltung, und ihre Art, ihn direkt anzusehen, wirkte irritierend. Er war zwar kein eingebildeter Mann, aber bisher hatte noch niemand gewagt, ihn so ungeniert zu mustern. Fast bedauerte er, sich den Abend durch die Einladung verdorben zu haben, aber als der Nachtisch kam Karamellpudding für Araminta und Käse für ihn -, hatte er seine
Verstimmung überwunden und empfand sogar wachsende Sympathie für Araminta. Das Gespräch bewegte sich in ungefährlichen Bahnen. Das Wetter, die Zwillinge, die Sehenswürdigkeiten von Utrecht ... alles neutrale, unverfängliche Themen. Erst als sie sich zu Hause am Fuß der Treppe trennten, sagte der Doktor: "Bitte lassen Sie uns Ihren missglückten freien Tag vergessen, Miss Pomfrey. Ich werde dafür sorgen, dass Sie in Zukunft mehr von Ihrer Freizeit haben." "Das ist sehr freundlich", antwortete Araminta, "aber ich kann gut für mich selbst sorgen." Der Doktor lächelte schwach. "Überlassen Sie das Urteil darüber mir, Miss Pomfrey. Gute Nacht." "Gute Nacht, Doktor." Araminta ging die ersten Stufen hinauf und drehte sich noch einmal um. "Ich habe die Kartoffelchips gekauft, weil ich hungrig war. Vermutlich hätten sie dasselbe getan." Der Doktor sah ihr nach und ging dann in sein Arbeitszimmer. Dort begann er zu lachen. Am nächsten Morgen wachte Araminta früh auf. Es war Sonntag, und der Doktor hatte ihr gesagt, dass er das Haus nach dem Frühstück verlassen würde. Er hatte hinzugefügt, dass sie und die Zwillinge sicher einen angenehmen Tag verleben würden, aber was sollten sie unternehmen? Araminta grübelte darüber nach, bis Jette mit dem Morgentee hereinkam. Der Doktor frühstückte kürzer als sonst und sagte, ehe er ging: "Vormittags möchten Sie sicher mit meinen Neffen spazieren gehen, Miss Pomfrey. Nach dem Lunch wird Bas Sie zu ,Steijners Spielwarenparadies' fahren, dort findet heute ein Tag der offenen Tür statt. Ganz in der Nähe gibt es ein Cafe, wo Sie nachmittags Tee trinken können. Bas wird Sie gegen fünf Uhr abholen. Wenn er früher kommen soll, brauchen Sie nur anzurufen."
Die Zwillinge waren begeistert, und auch Araminta freute sich, obwohl sie es nicht zeigte. Der Doktor hatte für einen angenehmen Tagesablauf gesorgt, und Peter und Paul würden sich gut unterhalten. Sie brauchte sich keine Sorgen zu machen. Der Doktor wünschte den Zwillingen viel Spaß und küsste sie zum Abschied. Dann nickte er Araminta zu. "Amüsieren Sie sich ebenfalls, Miss Pomfrey. Ich überlasse meine Neffen Ihren bewährten Händen." Erst als der Doktor fort war, fiel Araminta ein, dass sie kaum Geld hatte - wahrscheinlich nicht mal genug, um den Nachmittagstee zu bezahlen. Ihre Sorge war überflüssig. Die Zwillinge zeigten ihr stolz das Taschengeld, das sie von ihrem Onkel erhalten hatten, und als Bas den Tisch abdeckte, gab er Araminta diskret zu verstehen, dass der Doktor auf seinem Schreibtisch ein Kuvert zurückgelassen habe. Es enthielt in ihren Augen ein kleines Vermögen, und sie beschloss, genau darüber abzurechnen. Als Ziel ihres Spaziergangs wählten sie heute keinen Park, sondern die Oude Gracht mit dem alten Gebäude, in dem 1579 die "Utrechter Union" - eine Vereinigung der nördlichen holländischen Provinzen - unterzeichnet worden war. Sie bewunderten das würdige Patrizierhaus, bis Araminta fragte: "Wisst ihr schon, wie wir zurückgehen?" "Über den Neude-Platz oder den Vredenburg-Platz", erklärten die Zwillinge gleichzeitig. "Dann ist es nur noch ein kurzes Stück." "Wenn wir so weitermachen, kenne ich bald die ganze Stadt", sagte Araminta. "Jetzt wollen wir uns beeilen und Jette nicht mit dem Essen warten lassen." "Steijners Spielwarenparadies" war ein schmales Gebäude mit vier Stockwerken, die jeweils durch eine Wendeltreppe verbunden waren. Im Erdgeschoss befanden sich die Verkaufsräume, die vom Fußboden bis zur Decke mit Spielsachen aller Art voll gepackt waren. Überall tummelten
sich Kinder mit ihren Eltern, und es dauerte lange, bis Araminta und die Zwillinge in den ersten Stock hinaufsteigen konnten. Da hier überwiegend Puppen und Puppenhäuser ausgestellt waren, drängten die Zwillinge bald weiter zum nächsten Stock. Hier fanden sie Dinge, die mehr nach ihrem Herzen waren: Autos und Fahrräder, Rollschuhe und Schlittschuhe, Drachen, Trommeln und Trompeten, Marionetten, Kasperlefiguren und Stofftiere. Araminta, die allmählich Kopfschmerzen bekam, schlug vor, eine Teepause einzulegen und draußen auf Bas zu warten, aber davon wollten die Zwillinge nichts wissen. "Im dritten Stock sind Campingsachen ausgestellt", sagte Peter und zog Araminta zur Treppe. "Nur einen Blick, Minta ... einen ganz kurzen." Da Paul sich Peters Bitten anschloss, gab Araminta wohl oder übel nach. "Also gut, aber nur noch für einige Minuten. Wer weiß, wie lange wir brauchen, um wieder hinunterzukommen." Die letzte Treppe war am steilsten und führte in einen niedrigen Raum, der nur noch ein schmales Giebelfenster hatte. Lange Lichtröhren sorgten für ausreichende Beleuchtung, und das Angebot an Campingartikeln war beeindruckend. Nur wenige Besucher hatten sich so weit nach oben durchgekämpft, und sie gingen auch bald wieder, so dass sich die Zwillinge nach Herzenslust umsehen konnten. "Wir brauchen unbedingt ein Zelt", erklärten sie Araminta. "Vielleicht kauft Onkel Marcus uns eins, dann können wir draußen im Garten wohnen. Dich würden wir natürlich einladen, Minta." Sie wanderten von einem Zelt zum nächsten, ohne sich für eins entscheiden zu können. Als sie immer noch unschlüssig herumstanden, sah Araminta auf die Uhr und sagte: "Schluss, ihr Lieben. Es ist Zeit für den Tee, und wir dürfen Bas nicht warten lassen."
Es dauerte noch einmal fünf Minuten, bis die Zwillinge sich losreißen konnten. Langsam gingen sie die Treppe hinunter zuerst Peter, dann Paul und zum Schluss Araminta. Auf der letzten Stufe blieb Peter stehen. "Die Tür ist zu." "Du musst auf die Klinke drücken, Schatz", sagte Araminta, aber es gab keine Klinke - nur ein altmodisches Schloss ohne Schlüssel. Sie schob Peter zur Seite und drückte gegen die Tür. Nichts rührte sich, als wäre es eine Felswand. Sie forderte die Zwillinge auf, sich hinzusetzen, und klopfte laut gegen die Tür. Als keine Antwort kam, begann sie zu rufen - mit demselben negativen Ergebnis. Das Haus war plötzlich menschenleer. Araminta sah auf die Uhr. Es war fünfzehn Minuten vor fünf, und die Ausstellung sollte erst um fünf Uhr geschlossen werden. Also musste noch jemand kommen und sich davon überzeugen, dass alle Besucher gegangen waren. "Was für ein Abenteuer!" erklärte sie optimistisch. "Kommt, wir rufen alle zusammen." Sie bemühten sich nach Kräften, aber niemand reagierte. "Wir gehen besser wieder nach oben", schlug Araminta vor. "Irgend jemand muss kommen, es ist noch nicht fünf Uhr." Sie sprach so unbekümmert wie möglich, um den Zwillingen keine Angst zu machen. Oben ging sie zu dem Giebelfenster. Es bestand aus dickem Glas und war seit langem nicht mehr geöffnet worden. "Wir müssen die Scheibe einschlagen", sagte sie und sah sich nach einem geeigneten Gegenstand um. "Hier." Peter und Paul, die alles von der spannenden Seite nahmen, gaben ihr einen Zeltpflock. "Damit musste es gehen." Die Scheibe war so dick, dass Araminta nur ein kleines Loch hineinschlagen konnte. Die Splitter fielen auf die Straße, aber niemand bemerkte es. Auch Aramintas neuerliche Rufe verhallten ungehört. Bas, der eine Weile gewartet hatte, war in das Cafe gegangen, um Araminta und die Zwillinge abzuholen.
Als er sie nicht fand, fragte er bei "Steijners" nach, wo man ihm sagte, dass bereits alle Besucher gegangen seien. "Ein Fehler in der Stromleitung zwang uns, eine Viertelstunde früher zu schließen", lautete die Auskunft des Inhabers. "Wir haben überall nachgesehen. Es ist niemand mehr da." Mijnheer Steijner ahnte nicht, dass sein Mitarbeiter zu bequem gewesen war, auch im obersten Raum nachzusehen, und die Tür zur letzten Treppe einfach abgeschlossen hatte. Wahrscheinlich sind sie nach Hause gegangen, überlegte Bas. Miss Pomfrey ist eine vernünftige Frau, die lieber handelt als abwartet. Sie wird früher aufgebrochen sein. Er fuhr zurück und traf den Doktor in seinem Arbeitszimmer an. "Sie kommen allein, Bas?" fragte der Doktor. "Wo sind Miss Pomfrey und meine Neffen?" Bas machte ein sorgenvolles Gesicht. "Die Ausstellung musste wegen Stromschadens früher geschlossen werden, Mijnheer. Ich hatte erwartet, Miss Pomfrey und die Zwillinge hier vorzufinden." Der Doktor sprang auf. "Ein Stromschaden bei , Steijners'? Sind Sie ganz sicher? Und sie waren nicht in dem Cafe?" "Niemand hat sie gesehen, Mijnheer. Ich habe mit dem Inhaber gesprochen. Er beteuerte, es sei niemand mehr im Haus gewesen." Der Doktor war schon an der Tür. "Sie können nicht weit weg sein. Miss Pomfrey verliert nicht so schnell den Kopf. Kommen Sie mit, Bas. Wir finden sie." Sie fuhren zu "Steijners Spielwarenparadies". Mijnheer Steijner war inzwischen gegangen, aber zwei Elektriker luden gerade ihr Handwerkszeug ab. "Haben Sie die Schlüssel?" fragte der Doktor. "Ich glaube, zwei Kinder und eine junge Frau sind noch in dem Haus. Es ist nur eine Vermutung, aber ich muss unbedingt nachsehen."
Ein Glassplitter fiel auf den Gehweg, und der Doktor blickte nach oben. Etwas hing aus dem kleinen Giebelfenster - soweit er erkennen konnte, war es ein Strumpf. Die Handwerker blickten ebenfalls nach oben. "Sie haben Recht, Mijnheer", sagte der eine. "Da ist jemand. Ich schließe Ihnen auf. Falls Sie Hilfe brauchen ..." "Nein, nein." Der Doktor wartete ungeduldig, bis der Mann die schwere Holztür geöffnet hatte. In seine Erleichterung mischte sich wachsender Zorn. Wie hatte das passieren können? Bestimmt waren alle Besucher rechtzeitig gewarnt worden, und die Zwillinge verstanden Holländisch. Er eilte die Treppen hinauf, schloss die letzte Tür auf und stand nach wenigen Schritten im Dachraum. Die Zwillinge stürzten ihm entgegen und redeten aufgeregt auf ihn, ein. Sie waren stolz auf ihr Abenteuer, aber auch erleichtert, dass er da war. Der Doktor nahm sie rechts und links in den Arm und sagte leise: "Ich hoffe, Sie können mir diese absurde Situation erklären, Miss Pomfrey." Araminta brachte kein Wort heraus. Hätte der Doktor geschrien oder sie beschimpft, hätte sie zurückschreien können, aber seine Ruhe, die eisige Kälte, die er ausströmte, lahmten sie. Der Doktor wandte sich wieder an die Zwillinge. "Bas wartet unten im Auto. Wenn ihr noch keinen Tee getrunken habt, holen wir das gemeinsam nach." "Sollen wir dir alles erzählen, Onkel Marcus?" fragte Peter. "Später, Peter, nach dem Tee." Der Doktor ging zum Fenster und nahm Aramintas Strumpf ab, den die scharfen Glaskanten .völlig zerfetzt hatten. Er überreichte ihn ihr übertrieben höflich, und sie antwortete ebenso übertrieben: "Vielen Dank." Dabei hielt sie den Blick gesenkt. Sie kam sich mit nur einem Strumpf lächerlich vor, und außerdem hatte der Doktor erreicht, dass sie sich schuldig fühlte, obwohl sie keine Schuld traf. Er hatte sie verurteilt, ohne eine einzige Frage zu stellen.
Sie folgte ihm und den Zwillingen nach unten und stieg schweigend ins Auto. Zu Hause lehnte sie den Tee ab und zog sich wegen angeblicher Kopfschmerzen in ihr Zimmer zurück. Das Lächeln, mit dem der Doktor diesen Rückzug begleitete, ließ wenig Gutes ahnen. "Kommt Miss Pomfrey nicht herunter?" fragte Bas, als er den Tee brachte. Er hatte ihr blasses Gesicht gesehen und zu seiner Frau gesagt: "Du hättest die Spannung im Auto erleben sollen. Wie vor einer Explosion." "Miss Pomfrey hat Kopfschmerzen", antwortete der Doktor. "Vielleicht bringen Sie ihr den Tee hinauf." "Minta hat niemals Kopfschmerzen", widersprach Peter. "Sie ist überhaupt niemals krank, das hat sie selbst gesagt." "Dann wird sie sicher bald unten sein. Wie ich sehe, hat Jette ,Krentebolletjes' gebacken ..." "Korinthentörtchen", übersetzte Paul. "Sollen wir Minta eins aufheben?" "Warum nicht? Aber nun erzählt mir von der Ausstellung. Hat sie euch gefallen? Habt ihr etwas entdeckt, was ihr gern hättet?" "Ein Zelt, Onkel Marcus ... deshalb waren wir ja ganz oben. Wir sagten Minta, wir würden gern im Garten wohnen, und sie versprach, uns dort zu besuchen. Als wir die Tür öffnen wollten, brachte sie uns zum Lachen ..." "Weil sich die Tür nicht öffnen ließ?" "Sie hatte keine Klinke, und Minta sagte, die Leute vor uns hätten sie einfach zugeschlagen." Paul kam jetzt richtig in Fluss. "Es hätte dir Spaß gemacht, Onkel Marcus. Wir schlugen gegen die Tür und schrien um die Wette, aber niemand kam. Dann zerbrach Minta die Scheibe und hängte ihren Strumpf hinaus. Sie sagte, die Kinder in dem Buch von Enid Blyton hätten es genauso gemacht. Es war ein Abenteuer, nicht wahr, Peter? Ein ganz tolles Abenteuer." "Es klingt tatsächlich so", bestätigte der Doktor trocken.
"Vielleicht hat Minta deswegen Kopfschmerzen?" "Das kann gut sein, Peter. Habt ihr Lust, nach dem Tee mit Humphrey im Garten zu spielen? Ich muss etwas erledigen, das keinen Aufschub duldet." Die Zwillinge stoben davon, und Bas kam, um das Geschirr abzuräumen. "Würden Sie Miss Pomfrey bitten, in mein Arbeitszimmer zu kommen, sobald sie sich besser fühlt?" fragte der Doktor. "Sehr wohl, Mijnheer." Bas wartete, bis der Doktor gegangen war, und trug das Geschirr in die Küche. "Ich würde mich nicht wundern, wenn Miss Pomfrey noch in dieser Stunde entlassen wird", sagte er zu seiner Frau. Jette schüttelte den Kopf. "Das glaube ich nicht. Der Doktor hat sich nur ein falsches Bild gemacht und will wissen, was wirklich passiert ist." "Schon möglich, und falls er sich Sorgen wegen der Zwillinge macht... Für sie war es ein spannendes Sonntagserlebnis." Araminta weinte sich tüchtig aus, wusch sich das Gesicht, ordnete ihr Haar und setzte sich zum Nachdenken hin. Sie hatte nicht die Absicht, dem Doktor Rede und Antwort zu stehen. Er war anmaßend, überheblich und schlecht gelaunt, und sie wollte ihn nie wieder sehen. Jeder andere hätte gefragt, was passiert sei, und ihr die Möglichkeit gegeben, alles zu erklären. Der Doktor hielt sie von vornherein für leichtsinnig und unzuverlässig. "Ich hasse ihn", sagte sie laut. Das stimmte nicht, aber es verschaffte ihr Erleichterung. Als Bas das Teetablett abholte und die Nachricht des Doktors überbrachte, dankte sie ihm und erklärte, sie würde gleich nach unten gehen. Ein Blick in den dreiteiligen Frisierspiegel überzeugte sie davon, dass sie beinahe normal aussah. Die leicht geschwollenen Lider konnten von den Kopfschmerzen herrühren, und wenn sie noch einen Hauch Puder auf ihre
gerötete Nasenspitze tupfte ... Nachdem sie ihrem Gesicht einen würdigen Ausdruck gegeben und sich einige Antworten auf die zu erwartenden Fragen zurechtgelegt hatte, machte sie sich auf den Weg nach unten. Der Doktor saß an seinem Schreibtisch und stand auf, als sie hereinkam. "Bitte setzen Sie sich, Miss Pomfrey", sagte er. "Ich muss mich schon wieder bei Ihnen entschuldigen. Es war unverzeihlich von mir, so mit Ihnen zu sprechen und sie von vornherein zu beschuldigen, ohne eine Erklärung abzuwarten ..." "Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen", unterbrach Araminta ihn. "Ich weiß, Sie haben sich große Sorgen gemacht." "Sie etwa nicht, Minta?" Der Doktor nannte sie so selten so, dass sie ihn verblüfft ansah. Sein Gesicht verriet nichts, wie immer. Er hatte die Augenbrauen hochgezogen und blickte sie über den Rand seiner Brille hinweg an. "Natürlich habe ich mir Sorgen gemacht. Wenn die Zwillinge begriffen hätten, dass wir möglicherweise für Stunden, vielleicht für die ganze Nacht eingeschlossen gewesen wären, wäre ihnen die Abenteuerlust schnell vergangen." Araminta schwieg und fügte dann hinzu: "Natürlich wusste ich, dass Sie über kurz oder lang kommen würden." "Was machte Sie in dieser Hinsicht so sicher?" Araminta dachte nach. "Ich weiß nicht recht, aber ... Vielleicht dachte ich ... Nein, ich kann Ihnen keinen Grund nennen." "Ich hoffe, dass Sie meine Entschuldigung annehmen, und wenn es irgendetwas gibt..." "Natürlich nehme ich Ihre Entschuldigung an", unterbrach Araminta ihn von neuem, "und es gibt nichts. Vielen Dank." "Fühlen Sie sich hier wohl? Langweilen Sie sich nicht zu sehr?"
Araminta lächelte. "Ich wüsste nicht, wie man sich mit Peter und Paul langweilen sollte." "Sie haben geweint, Miss Pomfrey." Aus Minta war wieder Miss Pomfrey geworden. "Worüber sollte ich geweint haben?" "Ich kann mir mehrere Gründe denken. Sie sind eine gute Kinderfrau, Miss Pomfrey, aber eine schlechte Lügnerin." Araminta errötete. "Wie können Sie so etwas sagen, Doktor?" fragte sie schärfer, als es die Höflichkeit eigentlich erlaubte. "Ich lüge niemals - schon gar nicht, wenn es anderen schadet. Außerdem habe ich von meinem Vater gelernt, dass die Tränen einer Frau einen Mann nur ärgern." Der Doktor blieb ernst. "Eine vernünftige Ansicht, Miss Pomfrey. Trotzdem würde es mir Leid tun, wenn ich an Ihren Tränen schuld wäre. Es liegt nicht in meiner Absicht, Sie zu ärgern oder unglücklich zu machen." Da Araminta hierzu nichts einfiel, schwieg sie einfach und blieb die Antwort schuldig.
6. KAPITEL Gegen Ende der Woche wachte Paul misslaunig auf und lehnte es ab, etwas zu essen. Eine Erkältung, dachte Araminta und beschloss, genau auf ihn zu achten. Als sie die Zwillinge von der Schule abholte, wirkte Paul noch wie immer, aber gegen Abend bekam er Fieber. Er wurde weinerlich, fand alles langweilig, was Araminta vorschlug, und erschien wie verwandelt. Bedauerlicherweise war der Doktor nach Den Haag gefahren und wurde erst am späten Abend zurückerwartet. Araminta blieb nichts anderes übrig, als Paul ins Bett zu bringen. Sie hätte Peter gern in einem anderen Zimmer untergebracht, aber die Zwillinge weigerten sich, getrennt zu werden. Als Araminta das Abendessen hinaufbrachte, verweigerte Paul jeden Bissen. Er klagte über Halsschmerzen, und das Fieber war bedenklich gestiegen. Araminta nahm ihn auf den Schoß und brachte ihn dazu, etwas von der kühlen Limonade zu trinken, die Jette aus frischen Zitronen zubereitet hatte. Dann begann sie eine Geschichte zu erzählen. Sie handelte von nichts Besonderem, aber die Zwillinge hörten zu, und am Ende schlief Paul ein, das fieberheiße Gesicht an Aramintas Schulter gedrückt. Peter hatte sich auf ihre andere Seite gesetzt, und sie unterhielt sich flüsternd mit ihm, bis auch er müde wurde und
ebenfalls einschlief. Bas wollte sie bewegen, zum Dinner herunterzukommen, aber sie schüttelte den Kopf. "Ich kann nicht, Bas", sagte sie. "Die Zwillinge schlafen fest, und Paul geht es gar nicht gut. Sobald sie von selbst aufwachen, bringe ich sie ins Bett. Sagen Sie Jette, dass es mir Leid tut, aber ich bin nicht hungrig. Vielleicht esse ich später einen Teller Suppe." Bas ging nur widerwillig, und Araminta versuchte zu vergessen, wie hungrig sie war. Typisch der Doktor, dachte sie giftig. Braucht man ihn mal, ist er ausgerechnet in einer anderen Stadt. Doch sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Sie hatte im Heim genug kranke Kinder gepflegt und wusste, wie rasch sie sich bei der richtigen Behandlung erholten. Trotzdem sah sie der Rückkehr des Doktors sehnsüchtig entgegen. Die Minuten schlichen dahin, und nach etwa einer Stunde kam Bas zum zweiten Mal nach oben. "Sie wachen bestimmt bald auf", flüsterte Araminta und lächelte krampfhaft. Doch sie schliefen weiter - Peter seinen gesunden Jungenschlaf und Paul den nervösen, unruhigen Schlaf des Fieberkranken. Araminta hätte gern eine andere Stellung eingenommen. Noch lieber hätte sie etwas gegessen oder zumindest eine Tasse Tee getrunken, aber sie brachte es nicht fertig, den Schlaf der Zwillinge zu stören. Stattdessen dachte sie an den Doktor. Sie fragte sich, mit wem er jetzt zusammen war, und hoffte inständig, dass er zu einer menschlichen Zeit zurückkommen würde. Sie konnte nicht wissen, dass er das Krankenhaus in Den Haag bereits verlassen hatte und noch einmal zurückgerufen worden war... Er kam gegen zehn Uhr nach Hause und wurde von Bas mit sorgenvoller Miene begrüßt. "Was gibt es, Bas?" fragte er. "Dem kleinen Paul geht es nicht gut, Mijnheer. Er schläft, aber Miss Pomfrey hält ihn seit Stunden auf dem Schoß, damit er nicht aufwacht. Peter schläft auf ihrer anderen Seite - es muss
sehr unbequem für sie sein. Ich habe versucht, Sie zu erreichen, aber ..." Der Doktor legte Bas eine Hand auf die Schulter. "Ich gehe hinauf. Machen Sie sich keine Sorgen." Araminta hatte die Stimmen im Flur gehört und atmete auf. Sie wartete, bis der Doktor hereinkam, und fragte ohne weitere Erklärung: "Haben Sie Mumps gehabt, Doktor?" Er blieb wie angewurzelt stehen. "Du liebe Güte, ja ... schon vor Jahrzehnten." Er nahm Paul von Aramintas Schoß und betrachtete sein gerötetes und geschwollenes Gesicht. "Wie lange sitzen Sie schon hier?" "Seit sechs Uhr. Paul hat hohes Fieber und starke Halsschmerzen. Peter geht es so weit gut." Der Doktor brachte Paul ins Bett und untersuchte ihn behutsam. "Wir lassen ihn am besten schlafen", meinte er. Nachdem er auch Peter hingelegt hatte, kehrte er zu Araminta zurück, die noch genauso dasaß wie vorher. Ihre Glieder waren so steif geworden, dass sie Angst hatte, sich zu bewegen. Der Doktor zog sie vorsichtig in die Höhe, legte den Arm um sie und ging langsam mit ihr auf und ab. Als ihre Schritte wieder sicherer wurden, sagte er: "Gehen Sie nach unten, und bitten Sie Jette, uns etwas zu essen zu machen. Nele soll heraufkommen und sich eine Weile zu den Zwillingen setzen." Als Araminta zögerte, drängte er: "Nun los, Miss Pomfrey. Ich warte auf mein Abendessen." "Ich auch", platzte sie heraus. "Was fehlt Paul? Ist es nur Mumps?" "Ja, Miss Pomfrey. Das wollen wir jedenfalls hoffen." Araminta überbrachte Jette die Nachricht des Doktors und setzte sich dann in den kleinen Salon. Sie war erschöpft, fühlte sich nicht frisch und dachte an die unerfreulichen Tage, die vor ihr lagen. Wenn Paul wirklich Mumps hatte, war es fast unvermeidlich, dass Peter ihn auch bekam.
"Zwölf Tage Inkubationszeit", sagte sie halblaut vor sich hin. "Vielleicht müssen wir sogar länger warten, bis wir wissen, ob Peter sich angesteckt hat." "Sehr richtig, Miss Pomfrey. Reden Sie öfter mit sich selbst?" Der Doktor war leise hereingekommen. Er schenkte zwei Gläser Sherry ein, reichte das eine Araminta und fuhr fort: "Paul muss einige Tage im Bett bleiben, und Peter darf natürlich nicht in die Schule. Werden Sie die veränderte Situation bewältigen? Wenn Sie mit Peter spazieren gehen, kann Nele den Krankendienst übernehmen." Er sah, dass Araminta ihr Glas mit wenigen Schlucken leerte, und füllte es noch einmal. Ob er nicht doch zu viel von ihr verlangte? "Ich könnte zusätzliche Hilfe bekommen ..." "Wenn Peter sich rechtzeitig ansteckt, sehe ich keine Probleme" , erklärte Araminta praktisch. "Wir wollen hoffen, dass beide es schnell hinter sich bringen." Bas bat zum Essen, und Araminta musste ihr zweites Glas Sherry noch schneller austrinken. Leicht benommen folgte sie dem Doktor ins Esszimmer, wo ein leichtes Abendmenü wartete: Pilzsuppe, Käsesouffle' mit Salat und Zitronencreme. Sie aß alles, was ihr vorgesetzt wurde, was den Doktor ebenso belustigte wie ihre etwas wirren Beiträge zur Unterhaltung. "Gehen Sie jetzt ins Bett, Miss Pomfrey", sagte er, als von der Zitronencreme nichts mehr übrig war. "Sie werden morgen zur üblichen Zeit geweckt." "Das kommt überhaupt nicht infrage", widersprach Araminta, die der Sherry mutig gemacht hatte. "Ich werde ein heißes Bad nehmen und mich dann noch eine Weile zu den Zwillingen setzen. Wenn ich merke, dass sie nichts mehr brauchen, gehe ich ins Bett. Ich lasse meine Tür angelehnt, falls sie nachts aufwachen."
"Sie werden tun, was ich gesagt habe", beharrte der Doktor. "Ich muss noch einen Berg Lektüre erledigen. Das kann ich in ihrem Zimmer tun." "Fahren Sie morgen nicht ins Krankenhaus?" "Doch, natürlich." "Dann müssen Sie jetzt schlafen, sonst sind Sie morgen zu nichts zu gebrauchen." "Ich weiß am besten, wie lange ich schlafen muss, Miss Pomfrey. Bitte tun Sie jetzt, worum ich Sie gebeten habe. Gute Nacht." Araminta hätte am liebsten geweint, obwohl sie keinen Grund dafür wusste. Sie wünschte dem Doktor frostig eine gute Nacht und ging langsam nach oben. Wie sie erwartet hatte, fühlte sie sich nach dem Bad bedeutend wohler. In ihren Morgenmantel gehüllt, schlich sie noch einmal in das Zimmer der Zwillinge. Nele war nicht mehr da, und der Doktor schien es sich anders überlegt zu haben. Araminta nahm sich fest vor, während der Nacht aufzustehen und sich zu überzeugen, dass es den Zwillingen an nichts fehlte. Sie schlief fest, als sie durch einen Klagelaut von Paul geweckt wurde. Schlaftrunken taumelte sie über den Flur und erkannte durch die halb offene Tür, dass der Doktor auf Pauls Bett saß und ihm zu trinken gab. Der ganze Fußboden war mit Papieren bedeckt, und der Sessel stand nicht wie sonst in der Ecke, sondern neben dem Tisch am Fenster. Araminta kroch wieder ins Bett. Es war zwei Uhr morgens, und wie es aussah, wollte der Doktor immer noch nicht schlafen gehen. Sie begann sich seinetwegen Sorgen zu machen, aber die Müdigkeit überwältigte sie, und sie schlief wieder ein. Der nächste Tag war genauso schlimm, wie Araminta gefürchtet hatte. Paul wachte quengelig auf, und es kostete viel Überredungskunst, bis er sich waschen und einen frischen Schlafanzug anziehen ließ. Er jammerte über das Fiebermessen, wollte nichts Kühles trinken und gab erst nach, als Bas mit
bunten Strohhalmen erschien, die das Trinken leichter und lustiger machten. Araminta kam nicht einen Augenblick zur Ruhe. Sie las Paul vor, bis sie heiser war, und ging mit Peter spazieren, während Nele an Pauls Bett saß. Beladen mit Zeichenbüchern, Buntstiften, Puzzlespielen und Comicheften kehrten sie zurück, tranken im kleinen Salon Tee und verbrachten den Rest des Nachmittags bei Paul, der immer noch fieberte und beim Schlucken starke Schmerzen hatte. "Morgen geht es dir bestimmt besser", tröstete Araminta ihn. "Du wirst noch nicht gesund sein, aber auch nicht mehr so krank, und dein Onkel wird wissen, was man gegen die Halsschmerzen tun kann." Kurz nach sechs Uhr erschien der Doktor im Krankenzimmer. Sein leiser, Araminta zugedachter Gruß ging in Peters Jubel und Pauls Krächzen unter. Humphrey, der am Fußende von Pauls Bett gelegen hatte, kam ebenfalls angetrabt und bekam seinen Teil von der Begrüßung. Ehe der Doktor seine Vorbehalte gegen Hunde auf Krankenbetten formulieren konnte, erklärte Araminta: "Ich habe Humphrey erlaubt, sich auf das Bett zu legen, denn Paul fühlt sich dann nicht so allein. Wenn Sie mit jemandem schimpfen wollen, müssen Sie es mit mir tun." Der Doktor sah sie mit hochgezogenen Brauen und einem eher kühlen Lächeln an. "Ich kann mich nicht erinnern, etwas zu der Angelegenheit geäußert zu haben, Miss Pomfrey. Ich habe keineswegs die Absicht zu schimpfen - weder mit Ihnen noch mit Humphrey." Während er sich den Tagesverlauf schildern ließ, fühlte er Paul den Puls, horchte seine Brust ab, sah in seinen Hals und betrachtete sein geschwollenes Gesicht. "Du machst Fortschritte", sagte er dann erleichtert. "Du wirst dich noch einige Tage scheußlich fühlen und musst auch noch
im Bett bleiben, aber Miss Pomfrey wird dich zweifellos gut unterhalten." "Unterhält Miss Pomfrey - du meinst natürlich Minta - dich auch, Onkel Marcus?" fragte Peter. Der Doktor drehte sich lächelnd zu Araminta um. "Oh, selbstverständlich." Diesmal war sein Lächeln warm, beinahe herzlich, als wollte er sie auffordern, den Spaß mitzumachen. Diesem Lächeln konnte auch Araminta nicht widerstehen. Sie stimmte gutmütig allem zu und ließ Peter weiter seine harmlosen Vermutungen anstellen, bei denen Paul ihn mit heiserem Lachen unterstützte. Nach einer Weile stand der Doktor auf. "Eiscreme und Joghurt zum Abendessen", ordnete er an. "Miss Pomfrey, wenn Sie mich bitte in mein Arbeitszimmer begleiten würden? Ich habe etwas, das Pauls Halsschmerzen lindern wird. Peter, du passt auf, bis Miss Pomfrey zurückkommt." Im Arbeitszimmer fuhr er fort: "Sie haben einen langen Tag hinter sich, und die nächsten Tage werden kaum weniger anstrengend sein. Paul macht gute Fortschritte, in vier bis fünf Tagen müsste die Schwellung abgeklungen sein. Ab übermorgen darf er wieder aufstehen, aber er muss im Zimmer bleiben und warm gehalten werden. Peter scheint noch gesund zu sein ..." "Ja, und er kümmert sich wunderbar um seinen Bruder." "Da ich heute Abend zu Hause bin, kann ich nach dem Dinner selbst die Krankenwache übernehmen. Sie sollten sich früh hinlegen ..." "Sehe ich so schlimm aus?" platzte Araminta heraus. Der Doktor betrachtete sie nüchtern. "Sagen wir, sie können besser aussehen, Miss Pomfrey." Er ignorierte ihren wütenden Blick und öffnete seine Tasche. "Zerkleinern Sie eine von diesen Tabletten, und mischen Sie sie in Pauls Eiscreme. Achten Sie darauf, dass er möglichst viel trinkt. Ich nehme an, Sie sind in der Behandlung von Kinderkrankheiten nicht unerfahren?"
"Allerdings nicht." So eine Unverschämtheit! Was erwartete dieser grässliche Mensch, nachdem sie sich den ganzen Tag um seine Neffen gekümmert hatte? Sagen wir, Sie können besser aussehen, Miss Pomfrey. Also wirklich! Er begleitete sie zur Tür und machte alles noch schlimmer, indem er sagte: "Kopf hoch, Miss Pomfrey. Sobald der Mumps überwunden ist, haben Sie Zeit genug für Schönheitspflege und Einkäufe." Araminta blieb stehen und sah in sein ausdrucksloses Gesicht. "Warum das Interesse, Doktor? Und wie kommen Sie dazu, sich über mich lustig zu machen? Sie sind ein unhöflicher und wenig umgänglicher Mann, aber bisher hat wohl keiner gewagt, Ihnen das zu sagen." Der Doktor schwieg und verzog keine Miene. "Das hätte ich natürlich nicht sagen dürfen. Es tut mir Leid, wenn ich Ihre Gefühle verletzt habe, obwohl Sie auf meine nicht die geringste Rücksicht nehmen. Wie auch immer ... wir leben in einer freien Welt, wo jeder sagen kann, was er will." "Allerdings, Miss Pomfrey. Tun Sie sich keinen Zwang an. Machen Sie Ihrem Herzen Luft, wann immer Sie wollen." Der Doktor öffnete die Tür, und Araminta eilte hinaus. Wahrscheinlich werde ich entlassen, dachte sie, während sie die Treppe hinaufging. Der Doktor hätte allen Grund dazu, denn ich war mehr als offenherzig. Andererseits muss er erst mal jemanden finden, der sich Zwillingen und dem Mumps gewachsen fühlt... Araminta machte Paul für die Nacht fertig und sorgte dafür, dass er und Peter nichts von ihrem Abendessen übrig ließen. Als die Zwillinge im Bett lagen, erschien Nele und richtete aus, der Doktor erwarte sie unten zum Dinner. Trotz ihres Ärgers und der heimlichen Angst, ihr Verhalten könne Konsequenzen haben, ließ sich Araminta das Essen schmecken. Es gab Holländische Eier, Fischfilet nach Delfter Art mit gedünstetem Sellerie und Weinschaumcreme. Der
Doktor schien den kurzen Wortwechsel vergessen zu haben, denn er bemühte sich um einen freundlichen Ton und schlug am Ende vor, noch einmal zu Paul und Peter hinaufzugehen und den Tag mit einer Partie "Mensch-ärgere-dich-nicht" zu beenden. "Die beiden sollten schon schlafen", warf Araminta ein. "Die Ausnahme wird ihnen nicht schaden, Miss Pomfrey. Regeln sind dazu da, gelegentlich außer Acht gelassen zu werden." Alle setzten sich an Pauls Bett, und Peter gewann die Partie. "Jetzt wird geschlafen", sagte der Doktor und stand auf. "Wenn ich in zehn Minuten wiederkomme, liegt ihr beide im Bett." Araminta deckte die Zwillinge zu und wartete, bis der Doktor zurückkam. "Danke, Miss Pomfrey", sagte er und nickte ihr zu. "Gute Nacht." Araminta erwiderte den Gutenachtgruß und ging in ihr Zimmer. Um Mitternacht wurde sie durch leises Wimmern geweckt. Peter war aufgewacht, mit Kopfschmerzen und einem kratzigen Hals ... Am nächsten Morgen erschien Araminta ziemlich mitgenommen zum Frühstück. Der Doktor sah kurz von seiner Post auf, wünschte ihr einen guten Morgen und las weiter. Araminta schenkte sich Kaffee ein, wartete, ob der Doktor noch etwas sagen würde, und bemerkte dann: "Peter hat Mumps." Der Doktor nahm seine Lesebrille ab, um Araminta besser betrachten zu können. "Das war zu erwarten. Ich werde nachsehen, wie es ihm geht. Hatte er eine unruhige Nacht?" "Ja", antwortete Araminta und hätte beinahe sarkastisch hinzugefügt: Ich auch. "So wie Sie", erklärte der Doktor, dem es nicht schwer fiel, in ihrem Gesicht zu lesen. Er schob ihr den Brötchenkorb zu und reichte ihr die Butter. "Sie werden sich besser fühlen, wenn Sie gefrühstückt haben." Araminta nahm ein Brötchen und bestrich es heftig mit Butter. Wie hatte sie auch nur eine Sekunde mit Mitgefühl
rechnen können? Verschiedene giftige Antworten fielen ihr ein, aber sie fühlte sich beobachtet und war lieber vorsichtig. Sie biss in das Brötchen, verschluckte sich an einer Krume und musste auf den Rücken geklopft werden, um wieder zu Atem zu kommen. "Ihre Nerven scheinen Sie im Stich zu lassen, Miss Pomfrey", meinte der Doktor freundlich. "Brauchen Sie vielleicht doch Hilfe, solange die Zwillinge krank sind?" "Das ist völlig überflüssig", erklärte Araminta. "Wenn beide im Bett liegen, habe ich kaum etwas zu tun." Das war natürlich zu optimistisch gedacht. Heute Abend würde sie vermutlich ein Wrack sein. Sie würde schielen und husten, weil sie zu viel vorgelesen hatte, sie würde Kopfschmerzen haben, weil immer das entscheidende Stück vom Puzzle fehlte, und ihr würde kein neuer Trick einfallen, um zwei kranke, widerspenstige Zwillinge zum Essen und Trinken zu bewegen. "Ganz, wie Sie wünschen, Miss Pomfrey." Der Doktor schob seine Briefe zusammen und stand auf. "Ich sehe jetzt nach Peter. Hat Paul ruhig geschlafen?" "Die meiste Zeit." Er nickte und ließ sie allein. Als er wiederkam, erklärte er, dass Pauls Zustand zufriedenstellend sei, während Peter zunächst Schwierigkeiten machen würde. "Ich lasse Ihnen die Tabletten da, Miss Pomfrey. Eine mit jeder Mahlzeit, das lindert die Halsschmerzen. Gegen sechs Uhr bin ich wieder da. Sollten Sie mich vorher brauchen, weiß Bas, wo ich zu erreichen bin." Der Tag schleppte sich endlos dahin, aber ohne die Kontrolle durch den Doktor war Araminta so gutmütig, praktisch und hilfsbereit wie immer. Sie verstand die schlechte Laune der Zwillinge, tröstete sie bei Tränenausbrüchen und tat alles, damit sie viel tranken und das Eis mit der schmerzlindernden Tablette aßen.
Sie verließ das Zimmer nur, um selbst zu essen. Nele bot ihr wiederholt an, bei den Zwillinge zu bleiben, falls sie einen Spaziergang machen wolle, aber das lehnte sie ab und erklärte, sie würde genug freie Zeit haben, wenn der Doktor nach Hause käme. Sie las gerade eins von Peters Lieblingsmärchen vor, als der Doktor leise ins Zimmer trat. Er setzte sich auf Pauls Bett, untersuchte ihn kurz und sagte: "Paul ist über den Berg. Wie geht es Peter?" Kein Wort der Begrüßung, dachte Araminta. Kein "Guten Abend", nicht mal ein "Hallo". "Er fühlt sich schwach, aber er war sehr brav. Beide waren sehr brav und haben alles getrunken. Dafür gibt es zum Abendessen rote Götterspeise mit Vanillesauce." "Ausgezeichnet, Miss Pomfrey. Machen Sie noch einen Rundgang durch den Garten, bevor wir essen." "Ich kann genauso gut..." "Ja, natürlich können Sie das. Tun Sie trotzdem, was ich sage." Der Doktor flüsterte seinen Neffen etwas auf Holländisch zu, was sie trotz ihrer Beschwerden zum Lachen brachte. Araminta ging in ihr Zimmer, um sich einen Pullover zu holen, dann warf sie einen missmutigen Blick in den Spiegel. Es lohnte sich kaum, ihr Haar zu kämmen und sich die Nase zu pudern. Für den Doktor würde sie ohnehin nicht besser aussehen. Im Garten war es kühl, aber still und friedlich. Araminta setzte sich auf die Bank an der hinteren Mauer, die halb von späten Kletterrosen verdeckt war und zum Träumen einlud. Sie dachte an den großen Garten in Hambledon, an Cherub und an ihre Eltern, die vielleicht nicht einmal bemerkt hatten, dass ihre Tochter inzwischen von Tante Millicent vertreten wurde. Als es ihr zu kühl zum Sitzen wurde, spazierte sie zwischen den Büschen auf und ab, bis Bas sie zum Dinner bat. Es schmeckte so gut, wie es bei Jettes Kochkünsten zu erwarten
war, und danach bestand der Doktor darauf, dass sie den Kaffee im Wohnzimmer trank. Er selbst entschuldigte sich und ging in sein Arbeitszimmer. Araminta schenkte sich gerade die zweite Tasse ein, als sie hörte, dass Bas jemandem die Haustür öffnete. Sekunden später kam Christina Lutyns ins Wohnzimmer gestürmt. Araminta stellte die Kaffeekanne hin und sagte höflich: "Guten Abend, Mevrouw." "Warum sitzen Sie hier im Wohnzimmer?" lautete die Antwort. "Wo ist Dr. van der Breugh? Warum kümmern Sie sich nicht um die Kinder?" Araminta wollte antworten, aber der Doktor kam herein. "O Christina", sagte er ruhig und fast ein wenig belustigt. "Miss Pomfrey ruht sich vorübergehend von ihren anstrengenden Pflichten aus. Sie ist nicht bei den Kindern, weil sie seit den frühen Morgenstunden fast ununterbrochen bei ihnen war. Sie haben beide Mumps." Mevrouw Lutyns schrie leise auf. "Komm ja nicht näher, sonst stecke ich mich womöglich an. Und diese Miss ... Sowieso sollte nicht hier, sondern oben bei deinen kranken Neffen sein. Adieu, Marcus ... ich bleibe nicht eine Minute länger." Es klang, als kämpfte sie mit den Tränen. "Dabei hatte ich mich so auf unseren gemeinsamen Abend gefreut. Wie lange werden die Kinder krank sein?" "Oh, noch eine ganze Weile. Aber Miss Pomfrey und ich haben schon Mumps gehabt. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass wir ihn noch einmal bekommen." "Ich gehe trotzdem. Wenn die Ansteckungsgefahr vorüber ist, kannst du dich bei mir melden. Wir holen dann nach, was wir jetzt versäumen." Mevrouw Lutyns ging, ohne sich von Araminta zu verabschieden. Zu dem Doktor, der sie bis in den Flur begleitete, hielt sie ängstlich Abstand.
Als er zurückkam, stand Araminta auf. "Danke für das Dinner und den Kaffee. Ich gehe jetzt wieder nach oben." "Ja, ja." Der Doktor nickte geistesabwesend. "Ich komme später nach." "Das ist nicht nötig ...", begann Araminta, fing einen vernichtenden Blick auf und lenkte rasch ein. "Sehr wohl, Doktor." Die Zwillinge lagen fertig im Bett, als der Doktor nach oben kam. Er wartete, bis Araminta ihnen Gute Nacht gesagt hatte, und brachte sie dann zur Tür. "Ich werde morgen und übermorgen nicht zu Hause sein", sagte er. "Das ist leider unvermeidlich, aber ich habe einen Kollegen gebeten, täglich nach den Patienten zu sehen. Sie kennen ihn und mögen ihn beide. Scheuen Sie sich nicht, ihn zu rufen, wenn Sie einen Rat brauchen." Ich sollte mich freuen, dass der Doktor zwei Tage fort ist, dachte Araminta beim Zubettgehen. Wir vertragen uns nicht, und obwohl er mich rücksichtsvoll behandelt, bin ich ihm völlig gleichgültig. "Nicht, dass mir das etwas ausmacht", sagte sie halblaut vor sich hin, während sie schläfrig in der Badewanne lag. "Das wäre ja noch schöner."
7. KAPITEL Paul ging es am nächsten Morgen bedeutend besser, und Peter war zwar weinerlich, aber bereit, sein Frühstück zu essen. Der Doktor hatte das Haus in aller Frühe verlassen, doch Dr. van Vleet, so versicherte Bas, würde gegen zehn Uhr vorbeikommen. Araminta räumte gerade das Krankenzimmer auf, als der Doktor erschien. Er war jung, mittelgroß und kräftig, sah nicht wirklich gut aus, hatte dafür aber leuchtend blaue Augen und ein offenes Lächeln. Er gab ihr die Hand, sagte etwas auf Holländisch, worüber die Zwillinge lachten, und fuhr auf Englisch fort: "Van Vleet. Ich nehme an, Marcus hat meinen Besuch angekündigt." "Ja", bestätigte Araminta. "Es geht beiden Patienten inzwischen besser, nur Peter hat noch leichte Temperatur. Die Schwellungen scheinen abzuklingen ..." "Ich werde sie mir mal ansehen." Während der Doktor die Zwillinge untersuchte, unterhielt er sich mit ihnen und brachte sie wiederholt zum Lachen. "Sehr erfreulich", erklärte er dann. "Sie dürfen morgen beide aufstehen, müssen aber im warmen Zimmer bleiben. Und natürlich keine Anstrengung ..." Er lächelte Araminta an. "Marcus hat mir erzählt, dass Sie Erfahrung mit Kindern haben. Ich brauche Ihnen also nicht viel zu sagen."
Er schloss seine Tasche, gerade als Bas hereinkam. "Miss Pomfrey, Doktor ... der Kaffee steht im Wohnzimmer. Nele wird heraufkommen, während Sie ihn trinken." Als Araminta zögerte, fügte er hinzu: "Mijnheer hat es ausdrücklich angeordnet." Natürlich, dachte Araminta. Das hätte ich voraussagen können! Sie begleitete den Doktor nach unten und trank mit ihm Kaffee, bis er sich verabschieden musste. Zu früh, entschied sie, als sie ihn zur Tür brachte, denn er gefiel ihr, und sie schien ihm auch zu gefallen. Es war erfrischend gewesen, sich mit jemandem zu unterhalten, der sie ernst nahm und eines Gesprächs für würdig hielt. Sie freute sich, dass er morgen wieder kommen wollte. Am nächsten Tag ging es den Zwillingen so viel besser, dass ein Besuch eigentlich überflüssig war, aber Dr. van Vleet erschien trotzdem, untersuchte sie und erklärte seine Zufriedenheit. "Marcus wird heute Abend zurückkommen", sagte er zu Araminta. "Ich werde ihn morgen anrufen, aber es wäre nett, wenn Sie ihm den guten Befund schon heute mitteilen würden." . Das versprach Araminta. Sie tranken wieder zusammen Kaffee, und bevor der Doktor ging, fragte er: "Haben Sie manchmal frei? Ich würde Ihnen gern etwas von Holland zeigen." Araminta strahlte. "Das ist eine nette Idee. Ich habe manchmal frei, aber es muss in Dr. van der Breughs Zeitplan passen." Dr. van Vleet zog sein Notizbuch aus der Tasche, schrieb eine Nummer auf und riss das Blatt heraus. "Unter dieser Telefonnummer bin ich jederzeit erreichbar. Vielleicht können wir etwas verabreden." "Vielen Dank. Ich melde mich bei Ihnen." Das Bewusstsein, jemandem begegnet zu sein, der sie mochte - genug mochte, um einen ganzen Tag mit ihr zu verbringen -,
tauchte die Welt plötzlich in ein anderes Licht. Die häuslichen Aufgaben machten Araminta keine Mühe mehr, die Zwillinge waren kleine Engel, und Utrecht wurde zur schönsten Stadt der Welt. Die innere Freude spiegelte sich noch auf Aramintas Gesicht, als der Doktor nach Hause kam. Er ging leise, wie so oft, und wurde nur von Humphrey bemerkt. Dann eilte Bas von hinten herbei, nahm dem Doktor Mantel und Reisetasche ab und fragte, ob er Tee oder Kaffee bringen solle. "Kaffee, Bas", antwortete der Doktor, stellte die Arzttasche in sein Arbeitszimmer und eilte nach oben, immer zwei Stufen zugleich. In der Tür zum Kinderzimmer blieb er stehen. Araminta und die Zwillinge saßen vor dem Kamin auf dem Teppich und spielten Karten. Sie drehten sich um, und die Zwillinge liefen auf ihren Onkel zu, um ihn zu begrüßen. Araminta stand ebenfalls auf, und der Doktor betrachtete sie lange. Er hatte unterwegs an sie gedacht, gegen seinen Willen, aber in dem Bewusstsein, dass sie ihn irgendwie irritierte. Erst vorhin war er zu der Erkenntnis gelangt, dass er ihr zu viel Platz in seinem Leben einräumte. Das musste sich ändern. Sie gehörte in den Hintergrund, wo die Menschen zu Schatten wurden, und dorthin sollte sie zurückkehren. Das Gesicht, das sie ihm jetzt zuwandte, der glückliche Ausdruck, der darauf lag, ließ sich freilich nicht so leicht übersehen. Er kannte sie nur in ihrer ruhigen, zurückhaltenden Art. Galt dieser Glanz in ihren Augen, dieser völlig veränderte Gesichtsausdruck vielleicht ihm? Er verwarf den Gedanken und hatte Recht damit, denn der Glanz erlosch, und ihr Gesicht nahm wieder den gewohnten Ausdruck an. Er wünschte ihr einen guten Abend, hörte sich ihren Bericht über die Fortschritte der Patienten an und drückte seine Befriedigung aus. Als Bas meldete, dass er den Kaffee ins Wohnzimmer gebracht habe, nahm er seine Neffen rechts und
links unter den Arm und trug sie nach unten. Seine letzte Anweisung für Araminta lautete: "Holen Sie die beiden in einer Stunde ab, Miss Pomfrey." Araminta räumte das Zimmer auf, bereitete alles für die Nacht vor und setzte sich dann an den Kamin. Warum wirkte Kaminfeuer so besänftigend? Das Haus hatte Zentralheizung, aber in den meisten Zimmern gab es zusätzlich einen Kamin, in dem jederzeit Feuer gemacht werden konnte. Der angenehme Lebensstil, der im Haus des Doktors gepflegt wurde, begann ihr zu gefallen. In einigen Wochen würden sie nach England zurückkehren. Das bedauerte Araminta, zumindest, seit sie Dr. van Vleet kennen gelernt hatte. Sollte sie um einen freien Tag bitten, um sich mit ihm treffen zu können? Sie war dazu berechtigt, aber der Doktor hatte eben nicht sehr entgegenkommend gewirkt. Genau genommen war ihr der Blick, den er ihr im Hinausgehen zugeworfen hatte, beinahe unheimlich gewesen. Sie holte die Zwillinge zu der angegebenen Zeit ab, brachte sie ins Bett und ging dann in ihr Zimmer, um sich umzuziehen. Rock und Bluse, entschied sie, denn sie hatte es aufgegeben, sich abends hübsch zu machen. Der Doktor war ohnehin selten da, und sie zog sich nur um, weil sie Bas und Jette nicht kränken wollte. Die beiden gaben sich so große Mühe, es ihr behaglich zu machen, und dafür wollte sie sich erkenntlich zeigen. Der Doktor saß im Wohnzimmer, als Araminta herunterkam. Er bot ihr einen Stuhl an, schenkte Sherry ein und bemerkte dabei: "Ich glaube, wir können Peter und Paul als fast gesund betrachten. Natürlich dürfen sie noch nicht in die Schule gehen, aber gegen einen Spaziergang bei gutem Wetter ist nichts einzuwenden. Kinder erholen sich erstaunlich schnell." Araminta stimmte zu und trank ihren Sherry. Sie war hungrig und hoffte, dass Bas sie nicht zu lange warten lassen würde. "Sie brauchen endlich wieder Zeit für sich selbst", fuhr der Doktor fort. "Morgen und übermorgen habe ich viel zu tun, aber
danach kann ich zu Hause bleiben, wenn Sie unternehmungslustig sind. Diesmal würde ich besser für Sie sorgen. Den Bentley brauche ich selber, aber Sie könnten den Jaguar mit Chauffeur bekommen. Welcher Teil von Holland interessiert Sie am meisten? Sagen Sie es mir, dann stelle ich eine geeignete Tour zusammen. " Araminta trank einen Schluck Sherry. Also sollte sie zur Abwechslung verwöhnt werden, wie eine arme Verwandte, der man aus Mitleid etwas Gutes antat. Sie trank ihr Glas aus und antwortete in einem Ton, der ihr sonst nicht eigen war: "Wie nett, Doktor! Sie meinen es gut, aber ich habe meine eigenen Pläne." "Und welche?" fragte er. Als sie ihn nur kalt ansah, fügte er hinzu: "Ich vertrete schließlich Ihre Eltern." "Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt, Doktor." Das klang noch abweisender und hätte jeden zum Schweigen gebracht - nur Dr. van der Breugh nicht. "Das sieht man Ihnen nicht an", erklärte er seelenruhig. "Ohne vorherige Information hätte ich Sie auf neunzehn, höchstens zwanzig geschätzt." Er lächelte aufmunternd, und Araminta fühlte sich verpflichtet, ihm die Wahrheit zu sagen. "Dr. van Vleet hat mich gebeten, meinen nächsten freien Tag mit ihm zu verbringen." Sie errötete bei diesen Worten, was der Doktor nicht zu bemerken schien. "Eine zufrieden stellende Lösung, Miss Pomfrey", gab er zu. "Sie entbindet mich von der Verpflichtung, mir etwas für Sie auszudenken. Rufen Sie Piet an, und verabreden Sie etwas mit ihm. Sie werden sich bestimmt gut verstehen." Der Doktor stellte sein Glas hin. "Wollen wir essen?" "Oh, Sie bleiben hier?" Araminta errötete von neuem. Ungeschickter hätte sie sich wirklich nicht ausdrücken können. "Ich wollte sagen ... Sie essen heute zu Hause?"
"Das ist meine Absicht, Miss Pomfrey." Der Doktor lächelte wieder, aber das entging Araminta. Sie hielt den Kopf gesenkt und überlegte, ob sie sich entschuldigen müsste. Während des Dinners sorgte der Doktor für ein lockeres Gespräch, so dass Araminta ihre Befangenheit rasch verlor. Wenn er will, dachte sie später beim Zubettgehen, kann er ein recht angenehmer Gesellschafter sein. Die nächsten Tage waren unterhaltend und abwechslungsreich. Die Zwillinge wollten die letzten schulfreien Tage gründlich ausnutzen und hatten immer etwas vor. Sie fütterten die Enten im Park, zeigten Araminta neue Winkel der Stadt, luden sie von ihrem Taschengeld zu Eiscreme und Pommesfrites ein und wurden nicht müde, "Monopoly", "Mikado" und "Mensch-ärgere-dich-nicht" zu spielen. Zwischendurch stöberten sie im Garten herum und überlegten, wo sie am besten ein Zelt aufstellen könnten. Von ihrem Onkel sah Araminta wenig. Er frühstückte zwar regelmäßig mit ihnen, ließ sich aber tagsüber und auch abends kaum blicken. Nur zum Gute Nacht sagen erschien er pünktlich im Kinderzimmer. Dann gab er Araminta höflich zu verstehen, dass sie für eine Weile überflüssig sei und einer beliebigen anderen Beschäftigung nachgehen könne. Zum Dinner blieb er nicht mehr, was Araminta nur recht war. Sie hatte inzwischen Dr. van Vleet angerufen und sich für den nächsten Sonnabend mit ihm verabredet - nicht ohne vorher die gelangweilte Zustimmung des Doktors eingeholt zu haben. Sie schwankte lange, was sie anziehen sollte. Für das Jerseykleid allein war es zu kühl, und mit der Jacke sah es nicht gut aus. Also Rock und Bluse und darüber die Jacke ... eine bessere Möglichkeit gab es nicht. Zu spät bedauerte sie, dass sie sich nicht ein einziges Mal die Zeit zum Einkaufen genommen hatte. Geld genug besaß sie inzwischen. Der Doktor bezahlte sie pünktlich, und sie wusste längst, wo die guten Geschäfte lagen.
Sie nahm sich vor, bei der erstbesten Gelegenheit das Versäumte nachzuholen. Dr. van Vleet holte sie bei schönstem Herbstwetter ab. Der Doktor war nach dem Frühstück mit den Zwillingen in den Garten gegangen, aber sie kamen alle drei nach vorn, um ihr nachzuwinken. "Du kommst doch wieder?" fragte Paul ängstlich, und Peter bat: "Sei bitte wieder da, wenn wir morgen früh aufwachen." Das versprach Araminta und stieg zu Dr. van Vleet in den Wagen. Er fuhr einen Fiat und liebte die Geschwindigkeit, wie sie bald herausfand. "Wohin fahren wir?" erkundigte sie sich. "Zuerst nach Arnhem. Die Straße dorthin führt durch die Veluwe, eine hübsche Wald- und Heidelandschaft. Haben Sie schon etwas von Holland gesehen?" Araminta schüttelte den Kopf. "Die Zwillinge haben mir Utrecht gezeigt, das ist alles." "Zwei reizende Fremdenführer." Dr. van Vleet lächelte sie von der Seite an. "Übrigens heiße ich Piet. Wie war doch der Name, den Ihnen die Zwillinge gegeben haben?" "Minta ... als Abkürzung für Araminta, das ihnen zu lang war." "Dann werde ich auch Minta sagen." Piet hatte Recht, die Fahrt durch die Veluwe war wunderschön. Büsche und Bäume leuchteten in bunten Herbstfarben, weite Heidestrecken standen in Blüte, und überall lugten kleine Dörfer, Einzelgehöfte und Villen durch das Laub. In Arnhem besichtigten sie das Openluchtmuseum - ein Freilichtmuseum mit typisch holländischen Häusern, Mühlen, Brücken und Trachten - und aßen anschließend zu Mittag. Danach ging es nach Nijmegen und Culemborg und über Amersfoort weiter nach Soestdijk, wo Araminta das Königliche Schloss bewunderte.
Von Soest, wo sie Tee tranken, fuhren sie in nördlicher Richtung bis Apeldoorn, wo sie ebenfalls das Schloss besichtigten, und dann ging es zurück nach Utrecht. "Es war ein wunderschöner Tag", sagte Araminta. "Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll. Ich habe so viel gesehen ..." "Der Tag ist noch nicht vorbei", meinte Piet. "Ich hoffe, dass Sie noch mit mir zu Abend essen. Kurz vor Utrecht gibt es ein hübsches kleines Restaurant ... ,Auberge de Hoefslag'. Es liegt mitten im Wald und hat eine ausgezeichnete Küche." "Das klingt verlockend", meinte Araminta zögernd, "aber ich bin nicht richtig angezogen." "Für mich schon." Araminta hätte sich nicht zu sorgen brauchen. Das Restaurant bestand aus zwei Räumen, von denen der eine modern und der andere historisch eingerichtet war. Die Gäste waren überwiegend Touristen, und niemand hatte sich besonders schick gemacht. Das Essen schmeckte köstlich, und Piet sorgte dafür, dass sie sich Zeit ließen. Als sie die letzten zehn Kilometer bis Utrecht zurückgelegt hatten, war es beinahe elf Uhr. Piet brachte Araminta an die Haustür und wartete, bis Bas öffnete und sie hereinließ. Dann verabschiedete er sich, setzte sich wieder in sein Auto und fuhr davon. Araminta blieb im Flur stehen und lächelte versonnen vor sich hin. Es war ein schöner Tag gewesen, und Piet hatte sie gebeten, wieder mit ihm auszugehen. "War es ein schöner Tag, Miss?" fragte Bas. "Wie wäre es mit Kaffee oder Tee?" "Ein wunderschöner Tag, Bas, aber bitte bemühen Sie sich nicht mehr. Wir haben im Restaurant Kaffee getrunken. Haben Sie extra auf mich gewartet?" "Nein, Miss. Gute Nacht." Araminta ging langsam zur Treppe. Die Tür zum Arbeitszimmer stand halb offen, und sie sah den Doktor am
Schreibtisch sitzen. Er musste sie gehört haben, aber es fiel ihm nicht ein, sie zu beachten. Ein Wermutstropfen, dachte Araminta, während sie die Treppe hinaufstieg. Es trübte den sonst so heiteren, sonnigen Tag. Beim Frühstück fragte der Doktor, ob Araminta einen angenehmen Tag verbracht habe. Ihre Erinnerung war noch so frisch, dass sie sich hinreißen ließ, eine eingehende Schilderung ihrer Erlebnisse zu geben, ohne zu merken, auf wie wenig Interesse sie stieß. Als ihr das bewusst wurde, verstummte sie schlagartig und kümmerte sich nur noch um die Zwillinge. Als der Doktor aufstand und sich entschuldigte, reagierte sie nicht. Er blieb deshalb noch einmal stehen und sagte: "Ich glaube, die Zwillinge sind gesund genug, um in die Kirche zu gehen. Sorgen Sie dafür, dass sie rechtzeitig fertig sind, Miss Pomfrey. Sie begleiten uns natürlich." Also gingen sie alle zusammen in die Kirche. Peter und Paul freuten sich über die gemeinsame Unternehmung mit ihrem Onkel, und nur Araminta blieb zurückhaltend. Die Predigt, von der sie kein Wort verstand, erschien ihr endlos lang, aber das störte sie nicht, denn sie dachte über neue Garderobe nach. Piet wollte ihr Amsterdam zeigen, und dafür lohnte sich eine Neuanschaffung. Der Doktor saß so, dass er Araminta im Auge hatte, und fragte sich während des Gottesdienstes mehrmals, warum er sie eigentlich für reizlos gehalten hatte. Irgendetwas ... irgend jemand hatte eine Wandlung bei ihr bewirkt. Er durfte nicht vergessen, sie auf gewisse Dinge aufmerksam zu machen ... Als sie nach dem Lunch zusammensaßen und Pläne für den Nachmittag schmiedeten, tauchte überraschend Christina Lutyns auf. Sie küsste den Doktor auf beide Wangen, nickte seinen Neffen zu und ignorierte Araminta. Sie sprach nur Holländisch, brachte den Doktor wiederholt zum Lachen und erreichte offenbar, was sie wollte, denn er
wandte sich mit den Worten an Araminta: "Erwarten Sie mich heute nicht mehr zurück." Als Peter und Paul wie aus einem Mund protestierten und ihren Gutenachtkuss einforderten, sagte er lächelnd: "Sobald ich zurück bin, komme ich zu euch herauf, aber ihr werdet wahrscheinlich schon schlafen." Am nächsten Morgen fragte er Araminta, wann sie ihren nächsten freien Tag nehmen wolle. Piet hatte Donnerstag vorgeschlagen, aber sie zögerte, weil sie fürchtete, die Pläne des Doktors zu stören. Wie sich herausstellte, war das nicht der Fall. "Donnerstag passt mir gut", erklärte er und setzte beiläufig hinzu: "Treffen Sie sich wieder mit Piet?" Araminta nickte. "Er will mir Amsterdam zeigen. Ich freue mich sehr darauf, diese berühmte Stadt endlich kennen zu lernen." "Miss Pomfrey, Sie sollten wissen, dass ..." "Bitte nicht jetzt, Doktor", unterbrach sie ihn hastig. "Die Zwillinge kommen zu spät in die Schule, wenn wir uns nicht beeilen." "Wie Sie meinen, Miss Pomfrey." Es gelang Araminta, dem Doktor bis zum Abend aus dem Weg zu gehen. Sie fürchtete, er würde sie vorzeitig nach England zurückschicken, und davon wollte sie jetzt nichts wissen. Nicht, seit sie Piet van Vleet kannte. Während die Zwillinge in der Schule waren, machte sie einen ausgedehnten Einkaufsbummel. Gute Kleidung, das erkannte sie sehr schnell, war auch in Holland teuer. Trotzdem konnte sie einem leichten Wollkleid mit passender Jacke nicht widerstehen. Die Farbe - ein blasses Bernsteingelb - war unpraktisch, aber sie verlieh ihrem ausdruckslosen Haar einen warmen Schimmer und brachte ihren Teint zum Leuchten. Verführt durch die Verkäuferin, ergänzte sie das Komplet durch halbhohe, dazu passende Pumps, eine Handtasche und ein gelbes Seidentuch mit dunkelrotem Päonienmuster.
Der Donnerstag kam. Begleitet von den Bewunderungsrufen der Zwillinge, ging Araminta die Treppe hinunter, um Piet zu begrüßen. Er stand im Flur und unterhielt sich mit dem Doktor. Als er sie kommen sah, unterbrach er das Gespräch und sagte: "Wie reizend Sie aussehen, Minta f Eine hübsche Farbe - sie steht Ihnen." "Wir haben Minta schon gesagt, dass sie hübsch aussieht", bemerkte Peter, und sein Bruder fragte ungeduldig: "Das tut sie doch, nicht wahr, Onkel Marcus?" Von zwei Seiten in die Enge getrieben, gab der Doktor zu, dass Miss Pomfrey allerdings bezaubernd aussähe. Er lächelte dabei, aber sein Blick war kalt. Amsterdam enttäuschte Araminta keinen Augenblick. Piet schleppte sie von einem Museum zum anderen, zeigte ihr das Schloss, die Westerkerk mit dem Rembrandtgrab und den berühmten Begijnhof. Zwischendurch stärkten sie sich in hübschen kleinen Cafés, und als es dunkel wurde und überall die Lichter angingen, machten sie eine Grachtenfahrt und bewunderten die angestrahlten Giebelhäuser. Beim Dinner in einem der eleganten Hotels erzählte Piet, dass er im nächsten Jahr heiraten würde. "Anna besucht zur Zeit ihre Großeltern in Kanada", fuhr er fort. "Ich vermisse sie sehr. Sie würden sich gut mit ihr verstehen, Minta. Sie ist Ihnen ähnlich, genauso still und unauffällig ... ein Heimchen am Herd, sagt man bei Ihnen nicht so? Sie kocht ausgezeichnet und mag Kinder. Wir werden sehr glücklich sein." Piet lächelte, und während Araminta das Lächeln krampfhaft erwiderte, lösten sich ihre kaum eingestandenen Hoffnungen wie Seifenblasen auf. Wie dumm sie gewesen war! Wenn Piet nun etwas gemerkt hätte ... "Erzählen Sie mir von ihr." Piet kam dieser Aufforderung so gründlich nach, dass sie erst gegen Mitternacht vor dem Haus des Doktors hielten.
"Wir müssen uns unbedingt wieder sehen", sagte Piet beim Abschied. "Nun, ich weiß nicht..." Araminta zögerte. "Wir werden bald nach England zurückkehren. Ich melde mich bei Ihnen, einverstanden?" Sie gab Piet die Hand. "Vielen Dank für den schönen Tag und das erlesene Dinner. Falls wir uns nicht wieder sehen, wünsche ich Ihnen, dass Sie und Anna sehr glücklich werden." "Das werden wir bestimmt", versicherte er. Araminta öffnete die Autotür. "Bleiben Sie sitzen, Piet. Bas steht schon an der Tür." Es war still und schummrig im Flur. Bas wünschte Araminta eine gute Nacht und ließ sie niedergeschlagen zurück. Was sie heute erlebte hatte, durfte sie nur sich selbst zuschreiben. Hatte sie wirklich geglaubt, mit ihrer faden, langweiligen Art einen Mann fesseln zu können? Piet war aus reiner Freundlichkeit mit ihr ausgegangen, vielleicht sogar aus Mitleid ... Sie bemerkte, dass die Tür zum Arbeitszimmer offen stand und dass der Doktor sie beobachtete. Mit einem halblauten "Gute Nacht" wandte sie sich zur Treppe, aber er vertrat ihr den Weg. "Sie sehen aus, als würden Sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Erzählen Sie ... das wird Sie erleichtern." "Es gibt nichts zu erzählen." Der Doktor legte ihr den Arm um die Schultern. "O doch, Minta. Ich wollte Sie warnen, aber Sie ließen mich nicht zu Wort kommen." Er sprach anders als sonst - sanft und verständnisvoll. "Ich war so dumm ... so dumm ..." Weiter kam Araminta nicht. Sie lehnte ihren Kopf an die Schulter des Doktors und brach in heftiges Schluchzen aus. Während der Doktor Aramintas Tränenausbruch geduldig über sich ergehen ließ, wurden ihm mehrere Dinge klar: Ihr
Haar hatte einen feinen, frischen Duft, sie war überraschend zart gebaut, und er machte sich ernsthaft Gedanken um sie. Nach einer Weile reichte er ihr ein großes weißes Taschentuch. "Besser?" fragte er. "Putzen Sie sich tüchtig die Nase, und dann erzählen Sie." Araminta befolgte den ersten Ratschlag und lehnte den zweiten ab. "Ich möchte nicht darüber sprechen", sagte sie kleinlaut. "Es tut mir Leid..." "Kommen Sie." Der Doktor führte sie in sein Arbeitszimmer, in dem nur die Schreibtischlampe brannte. "Sie müssen nichts erzählen, wenn Sie nicht wollen." Er öffnete ein Schränkchen, nahm ein Glas heraus und füllte es mit Cognac. "Trinken Sie das. Danach wird es Ihnen besser, gehen." Araminta roch an dem Glas. "Cognac? Ich habe noch nie welchen getrunken." "Es gibt immer ein erstes Mal. Vermutlich hat Piet Ihnen erzählt, dass er demnächst heiraten wird. Sie haben geglaubt, dass er sich für Sie interessiert, nicht wahr? Er hätte Ihnen früher reinen Wein einschenken sollen, aber er hat vermutlich nicht daran gedacht." Der Doktor seufzte. "Piet ist an sich ein anständiger Kerl." Araminta trank vorsichtig den ersten und dann den zweiten Schluck. Der Cognac war stark, aber er wärmte sie angenehm von innen und nahm ihr die Hemmung zu sprechen. "Ich war sehr dumm", bekannte sie ehrlich. "Ich müsste inzwischen wissen, dass ich nichts an mir habe, was einen Mann fesseln kann. Ich bin langweilig und unbeholfen, ich habe weder Charme noch Witz, und ich trage nur praktische Kleidung." Der Doktor unterdrückte ein Lächeln. "Dem Mann, der Sie einmal liebt, wird das alles gleichgültig sein." "Aber ich treffe keine Männer", wandte Araminta in ihrer nüchternen Art ein. "Junge schon gar nicht. Meine Eltern haben Freunde, aber die sind entweder alt oder verheiratet." Sie trank den restlichen Weinbrand mit einem Schluck aus. Ihr war
inzwischen etwas schwindlig, und sie ahnte, dass sie dieses Gespräch morgen bitter bereuen würde. Sie stellte das Glas hin und stand auf. "Zum Glück habe ich eine erfolgreiche Karriere als Krankenschwester vor mir. Ich werde jetzt ins Bett gehen. Mir ist etwas schwindlig." Der Doktor brachte sie bis zur Treppe und sah sie langsam nach oben gehen. Sie wirkte verloren, und er unterdrückte den Wunsch, sie zu trösten. Ihr Stolz war verletzt worden. Er würde sie nicht noch mehr kränken.
8. KAPITEL Die Woche verging, ohne dass Aramintas nächster freier Tag erwähnt wurde. Erst am Freitagabend, als sie die Zwillinge ins Bett bringen wollte, bat der Doktor sie, noch einen Moment zu bleiben. "Ich weiß nicht, ob Sie eigene Pläne haben, Miss Pomfrey", sagte er, "aber am Sonntag fahre ich mit Peter und Paul nach Friesland, um Verwandte zu besuchen ... Jan und Beatrice NosWieringa. Beatrice ist die Schwester meiner Mutter, also die Großtante der Zwillinge. Die Nos-Wieringas wohnen bei Lee uwarden im Seengebiet. Falls Sie mitkommen möchten, würde ich sicher Gelegenheit finden, Ihnen die friesische Hauptstadt zu zeigen, und Tante Beatrice und Onkel Jan würden sie herzlich willkommen heißen." Der Doktor lächelte. "Ich könnte natürlich verstehen, wenn Sie lieber hier bleiben, um uns einmal loszusein." So viel Aufmerksamkeit hatte Araminta nicht erwartet. "Würde ich auch nicht stören?" fragte sie vorsichtig. "Im Gegenteil, Miss Pomfrey, wir würden uns freuen. Es wäre eine gute Gelegenheit, mehr von Holland kennen zu lernen, ehe wir nach England zurückfahren." "Dann würde ich sehr gern mitkommen. Danke, dass Sie gefragt haben, Doktor. Ist es eine lange Fahrt?"
"Die Entfernung beträgt etwas über hundert Meilen. Wenn wir früh aufbrechen, erreichen wir ,Huis Wieringa' schon im Lauf des Vormittags." Selbst wenn Araminta lieber nicht mitgefahren wäre - den erwartungsvollen Gesichtern der Zwillinge hätte sie nicht widerstehen können. Sie erklärte sich mit allem einverstanden und scheuchte die beiden nach oben. Als sie später wieder herunterkam, hatte der Doktor das Haus verlassen. Sie hatte nichts anderes erwartet, war aber doch etwas enttäuscht. Sonntag früh herrschte freundliches Herbstwetter, was für Araminta bedeutete, dass sie das neue Kleid anziehen konnte und nur den leichten Mantel mitzunehmen brauchte. Sie trieb die Zwillinge zur Eile an, um den Doktor nicht warten zu lassen, aber er saß schon beim Frühstück, als sie herunterkamen. "Ein wunderschöner Tag", erklärte er. "Ich war eben mit Humphrey draußen. Der Wind ist etwas frisch. Sie sollten daher einen Mantel mitnehmen, Miss Pomfrey." "Das hatte ich ohnehin vor. Die Zwillinge haben warme Pullover an, aber ich lege ihre Jacken ins Auto. Kommt Humphrey auch mit?" "Ja. Er kann hinten bei den Zwillinge sitzen." Zum ersten Mal brauchten Peter und Paul nicht zum Essen überredet zu werden. Sie waren ungewohnt schnell mit ihrem Frühstück fertig, und kurz nach acht Uhr saßen alle im Auto und winkten Bas zum Abschied zu. Bis Amsterdam benutzte der Doktor die Autobahn, und von da ging es nordwärts über Edam und Hoorn zum Abschlussdeich. "Schade, dass wir nicht genug Zeit haben, um unterwegs anzuhalten" , sagte er zu Araminta. "Vielleicht beim nächsten Mal..." Es wird kein nächstes Mal geben, dachte sie, aber heute ist heute. Sie wollte den Tag genießen und an nichts denken, das sie traurig stimmen würde. Das betraf auch Piet van Vleet. Sie war
nicht verliebt gewesen, aber sein Verhalten hatte sie verletzt. Sie würde Zeit brauchen, um darüber hinwegzukommen. Hinter dem Deich ging es in Richtung Leeuwarden weiter, und kurz hinter Franeker bogen sie auf eine Nebenstraße ab, die durch fruchtbares Weideland mit reichen Höfen und kleinen Dörfern führte. "Das Land ist hier ganz anders als bei Utrecht", bemerkte Araminta. Der Doktor nickte. "Hier ist alles weit und offens was für ein kleines Land wie Holland fast wie ein Widerspruch klingt. Gefällt es Ihnen?" "O ja, sehr." Die Straße wand sich durch ein lichtes Gehölz, hinter dem ein See sichtbar wurde. Sein Ufer war mit Büschen und Bäumen bewachsen, und ein Kanal verband ihn mit einem anderen See. Einige Segelboote trieben dahin, ab und zu saßen Angler am Ufer, so ruhig und unbeweglich, als wären sie aus Stein gehauen. Die Zwillinge waren lebhafter geworden, und jeder wollte Araminta etwas anderes zeigen. "Ist es nicht schön hier?" fragten sie immer wieder. "Und es wird noch schöner. Freust du dich, dass du mitgekommen bist, Minta?" Araminta konnte die Frage bejahen, ohne übertreiben zu müssen. Der Doktor lenkte den Wagen auf einen schmalen, mit Ziegelsteinen gepflasterten Weg, der durch ein offenes Tor führte und vor einem weißen Haus mit Giebeldach endete. Links stand ein kleiner eckiger Turm, zwei hohe Schornsteine überragten das Dach, und die kleinen Fenster konnten mit grün gestrichenen Holzläden verschlossen werden. Es war ein altes, liebevoll gepflegtes Haus, und Araminta war neugierig, wie es innen aussehen würde. Der Eingang befand sich im Turm. Durch einen kleinen Vorraum gelangten sie in den eigentlichen Flur, wo ihnen Jan
und Beatrice Nos-Wieringa entgegenkamen. Onkel Jan war groß und hager, hatte weißes Haar und sah immer noch gut aus. Tante Beatrice war klein und rundlich, hatte ebenfalls weißes Haar und große blaue Augen mit fein geschwungenen Brauen. Zu ihrem Tweedrock trug sie einen Twinset aus blauem Kaschmir, genau in der Farbe ihrer Augen. "Marcus, da seid ihr. Ich habe Berta gesagt, dass wir selbst aufmachen. Die arme Seele wird immer schwerhöriger." Sie reckte sich, um Marcus' Kuss entgegenzunehmen, und umarmte dann die Zwillinge. "Und dies ist Miss Araminta Pomfrey", stellte der Doktor vor. "Die Zwillinge nennen sie Minta." Tante Beatrice ergriff Aramintas Hand. "Willkommen, meine Liebe," Sie drehte sich zu ihrem Mann um. "Jan, komm und begrüße Miss Pomfrey." Onkel Jan drückte ihr ebenfalls die Hand. "Ich freue mich, Miss Pomfrey. Wie ich von Marcus hörte, haben Sie sich in seinem Haus unentbehrlich gemacht." Araminta errötete. "Nur vorübergehend", antwortete sie, woraufhin der alte Herr sie nachdenklich ansah und dann nickte. Was er wohl gedacht hat, überlegte Araminta und folgte den anderen ins Wohnzimmer, wo der Kaffee bereitstand. Tante Beatrice bat sie neben sich auf das Sofa und sagte: "Überlassen wir die Männer sich selbst, Miss Pomfrey. Hat Marcus Ihnen erzählt, dass ich die Schwester seiner Mutter bin? Der arme Junge hat ja vor einigen Jahren beide Eltern verloren. Dieses schöne alte Haus war lange im Besitz der Familie meines Mannes. Der Kern stammt aus dem dreizehnten, der Rest aus dem siebzehnten Jahrhundert. Ein Vorfahre hatte damals durch die Ostindische Handelskompanie viel Geld gemacht. Jan wurde hier geboren und erzogen. Nos-Wieringa - ein alter Name, der in Friesland einen guten Klang hat. Van der Breugh natürlich auch. Marcus' Großvater lebt noch auf dem alten Familiensitz. Sind Sie dort gewesen?"
Araminta verneinte. Es sei ihr bisher leider nicht möglich gewesen, den alten Mijnheer van der Breugh kennen zu lernen. "Nun, das wird Marcus bestimmt bald nachholen. Und die Zwillinge? Kommen Sie gut mit ihnen aus?" "Wir sind die besten Freunde." "Kennen Sie ihre Mutter?" "Mrs. Ingram? Wir haben uns in Oxford kennen gelernt." Tante Beatrice nickte. "Lucy ist Marcus' einzige Schwester, aber er hat noch zwei jüngere Brüder. Sie sind auch Ärzte, der eine in Kanada, der andere in Neuseeland. Das ist so ein Austauschprogramm, wie man sie heute für notwendig hält. Beide werden bald nach Holland zurückkommen. Ich freue mich darauf, sie wieder zu sehen. Familie ist so wichtig und so beruhigend, vor allem, wenn man alt wird und kaum noch aus dem Haus kommt." Tante Beatrice machte eine Pause, um Atem zu schöpfen, und Araminta stellte fest, dass sie in diesen wenigen Minuten mehr über die Familie des Doktors erfahren hatte als in den ganzen letzten Wochen. Beim Lunch saßen sie auf altehrwürdigen, ziemlich unbequemen Stühlen an einem großen ovalen Eichentisch. Die Zwillinge durften an der Mahlzeit teilnehmen und erzählten von den neugeborenen Kälbchen und dem wenige Wochen alten Fohlen, die ihr Großonkel ihnen nach dem Essen auf dem etwas entfernt gelegenen Familienhof zeigen wollte. Das nahm Tante Beatrice zum Anlass, Marcus an seine Verpflichtungen zu erinnern. "Und du, mein lieber Junge, fährst mit Minta - ich darf Sie doch so nennen? - nach Leeuwarden. Sie darf nicht in Friesland gewesen sein, ohne die Hauptstadt gesehen zu haben. Lasst euch ruhig Zeit, aber bis sechs Uhr müsst ihr zum Abendessen zurück sein."
Der Doktor fuhr auf Nebenstraßen, damit Araminta auf dem Weg nach Leeuwarden möglichst viel von der schönen, herbstlich klaren Wiesenlandschaft sehen konnte. "Ihre Tante meinte es gut", sagte sie nach längerem Schweigen, "aber wären Sie nicht lieber in ,Huis Wieringa' geblieben?" "Durchaus nicht, Miss Pomfrey", antwortete er. "Es macht mir Spaß, Ihnen Leeuwarden zu zeigen. Ich kann immer wieder hierher kommen, aber Sie werden Friesland, vielleicht Holland, nicht wieder sehen. Die wenige Freizeit, die Ihnen der Krankenhausdienst lässt, wollen Sie natürlich bei Ihren Eltern verbringen." Araminta bestätigte das und merkte gleichzeitig, dass ihr der Schwesternberuf nicht mehr so verlockend erschien wie noch vor wenigen Wochen. Daran war natürlich die abwechslungsreiche Tätigkeit schuld, die sie zur Zeit ausübte. Sie hätte die Stellung bei dem Doktor niemals annehmen dürfen. Sie war dadurch aus ihrer Ruhe gerissen worden. Das fremde Land, der luxuriöse Lebensstil und der Doktor selbst... Er reizte sie oft, aber sie musste gerechterweise zugeben, dass es bei ihm nie langweilig war. Ohne zu überlegen, fragte sie: "Werden Sie Mevrouw Lutyns heiraten?" Ehe er antworten konnte, setzte sie hinzu: "Entschuldigen Sie, ich weiß nicht, wie ich das fragen konnte. Es war nur so ein Gedanke ..." Der Doktor war nicht gekränkt. "Sollte ich Christina Ihrer Meinung nach heiraten?" fragte er freundlich. "Sprechen Sie sich offen aus. Ich schätze Ihre Ansicht." "Wirklich? Das muss daran liegen, dass ich eine Fremde bin sozusagen eine neutrale Beobachterin. Allerdings würden Sie wohl kaum auf mich hören." "Nein, wahrscheinlich nicht." "Trotzdem, Doktor, da Sie mich einmal gefragt haben ... Mevrouw Lutyns ist sehr schön und kleidet sich geschmackvoll.
Was sie trägt, ist teuer, aber man sieht es nicht, und es sitzt wie angegossen. Was von der Stange kommt, muss meist geändert werden. Kürzen oder verlängern, einnehmen oder auslassen ... das Ergebnis ist nie ganz befriedigend." Sie näherten sich Leeuwarden, und Araminta betrachtete die Villengrundstücke, die rechts und links an der Straße lagen. "Leeuwarden scheint eine reiche Stadt zu sein." "Das stimmt. Beantworten Sie trotzdem meine Frage, Miss Pomfrey." "Nun ..." Warum fing sie ihre Sätze eigentlich so oft mit ,nun' an? Ihre Mutter hätte gesagt, weil sie nicht redegewandt genug sei. "Ich glaube nicht, dass Sie zusammen glücklich würden. Mevrouw Lutyns hat sicher viele Freunde, mit denen sie gern ausgeht, während Sie mit Büchern leben, wenn Sie nicht im Krankenhaus zu tun haben." Araminta machte eine Pause. "Ich begreife nicht, warum Sie mich überhaupt gefragt haben, denn Ihre Heiratspläne gehen mich nichts an. Eins muss ich allerdings zugeben - Sie würden ein attraktives Paar sein." Der Doktor musste lachen und tat, als hätte er sich verschluckt. "Ihre Ansichten sind herrlich erfrischend, Miss Pomfrey." "Aber wenig überzeugend?" Der Doktor antwortete nicht, denn sie hatten inzwischen das Zentrum von Leeuwarden erreicht und hielten neben der "Waage". "Ich hätte Ihnen gern das Friesische Museum gezeigt", sagte der Doktor", aber dann würden Sie nichts von der Stadt sehen. Wir werden erst zur Grote Kerk und zum Oldehove-Turm gehen und anschließend herumspazieren, damit Sie die alten Patrizierhäuser bewundern können. Sie haben teilweise eindrucksvolle Fassaden." Unterwegs machte der Doktor Araminta wiederholt auf Einzelheiten aufmerksam - eine Brücke, einen Giebel oder eine besonders stimmungsvolle Gracht. Als sie anfing, müde zu werden, suchte er ein Cafe auf. "Es ist das Lieblingscafe meiner
Neffen", erklärte er, "weil es hier so viele verschiedene Kuchensorten gibt. Wir müssen mehrere probieren, sonst würden sie sehr enttäuscht sein." Das Cafe lag in einer kleinen Parkanlage, deren Beete trotz der vorgerückten Jahreszeit noch reichen Blumenschmuck trugen. Der Tee war blass und schwach und wurde ohne Milch serviert, aber der gemischte Kuchenteller, den der Doktor bestellt hatte, konnte sich sehen lassen. Was Araminta auch probierte - an Sahne, Buttercreme, Schokolade und kandierten Früchten war nicht gespart worden. Dem Doktor machte es Spaß, sie zu beobachten. Er dachte an Christina, die aus Sorge um ihre Figur kein einziges Stück gegessen hätte. Wie erfrischend wirkten dagegen Aramintas natürlicher Appetit und ihre weibliche Figur, deren sie sich nicht zu schämen brauchte. "Das war köstlich", sagte sie, als sie zum Auto zurückgingen. "Vielen Dank, Doktor. Überhaupt war es ein wunderschöner Nachmittag für mich. Sie sind alle sehr freundlich zu mir." Der Doktor schwieg und blieb auch während der Rückfahrt stumm. Araminta hütete sich, ihn zu stören. Er war vermutlich der Ansicht, genug für ihre Unterhaltung getan zu haben und sich wieder wie sonst benehmen zu können. Zu Hause hatte das unnatürliche Schweigen ein Ende, denn Peter und Paul bestürmten sie mit Fragen. Sie wollten wissen, wie ihr Leeuwarden gefallen habe, ob Onkel Marcus nett zu ihr gewesen sei und ob sie das Cafe - ihr Cafe - besucht hätten. Sie gaben erst Ruhe, nachdem Araminta ihnen alle Kuchensorten genau beschrieben hatte. Ihr Nachmittag war ebenfalls ereignisreich verlaufen. Sie hatten die Kälbchen und das Fohlen bewundert, im See geangelt und die Schwäne gefüttert. "Es war sogar ein Reiher dabei", erzählte Paul stolz. "Onkel Jan hat ihn wenigstens so genannt."
Während Onkel Jan den Doktor vorübergehend in sein Arbeitszimmer bat, unterhielt sich Tante Beatrice mit Araminta, und dann wurde gegessen. Es gab überwiegend die Lieblingsspeisen der Zwillinge, darunter "Poffertjes" - kleine in Puderzucker gewälzte Teigbällchen, die auch bei Araminta großen Anklang fanden. Kurz nach dem Essen brach man auf. Die Zwillinge baten, mit ihren Eltern bald wieder kommen zu dürfen, der Doktor versprach, mit seinem nächsten Besuch nicht zu lange zu warten, und Araminta bedankte sich so formvollendet, wie es zu ihrer Rolle passte. Onkel Jan und Tante Beatrice winkten vom Turmeingang, Araminta und die Zwillinge winkten zurück, und "Huis Wieringa" verschwand hinter den Bäumen. Die Zwillinge stritten sich eine Weile aus Übermüdung und schliefen dann, an Humphrey gelehnt, ein. Der Doktor wählte für den Rückweg die Landstrecke über Meppel und Zwolle, die Araminta noch nicht kannte, und machte ab und zu eine leise Bemerkung über die Umgebung. Sonst schwieg er, und Araminta hatte Muße, hinauszusehen und ihren Gedanken nachzuhängen. Es waren keine besonders fröhlichen Gedanken. Als sie Utrecht erreichten, war es bereits dunkel. Die Zwillinge wurden sofort ins Bett gebracht, was Zeit kostete, weil sie überreizt und quengelig waren. Als sie endlich im Bett lagen, kam der Doktor zum Gute Nacht sagen herauf. Er bedachte auch Araminta mit einem kurzen Gruß, woraus sie schloss, dass sie unten nicht mehr erwünscht war. Also bedankte sie sich höflich für den schönen Tag und ging in ihr Zimmer. Es war noch nicht besonders spät. Araminta hätte gern etwas Heißes getrunken, aber sie traute sich nicht, in die Küche hinunterzugehen, aus Angst, dem Doktor zu begegnen. Sie zog sich langsam aus, nahm ein ausgiebiges Bad und ging ins Bett. Es war ein schöner Tag gewesen - jedenfalls hätte er schön sein können, wenn der Doktor etwas freundlicher gewesen wäre.
Die Zwillinge erwachten in übermütiger Stimmung, und beim Frühstück ging es entsprechend lebhaft zu. Der Doktor beteiligte sich gutmütig an dem harmlosen Gespräch, nur für Araminta hatte er nur einen kurzen Morgengruß übrig. Als ob ich Luft wäre, dachte sie, während die Zwillinge ihrem Onkel erzählten, welche Geschenke sie nach Hause mitnehmen wollten. "Du musst auch Geschenke kaufen, Minta", sagte Peter zwischendurch zu ihr. "Wir gehen immer mit Onkel Marcus, denn er bezahlt das, was wir ausgesucht haben." "Miss Pomfrey wird bestimmt lieber allein einkaufen", bemerkte der Doktor. "Ich glaube, ich kann mir in dieser Woche einen Nachmittag freinehmen." Die Zwillinge blickten enttäuscht drein. "Stimmt das, Minta?" . "Euer Onkel hat Recht, ich gehe tatsächlich lieber allein. Aber ich werde euch alles zeigen, was ich gekauft habe, und wir werden es gemeinsam einpacken." Araminta konnte sich plötzlich nicht mehr beherrschen. Sie schickte die Zwillinge nach draußen, um ihre Schulbücher zu holen, und wandte sich in ungewöhnlich scharfem Ton an den Doktor. "Also wir fahren nach England zurück? Wie nett, dass ich das auch erfahre ... und so ganz zufällig. Es wäre höflicher gewesen, wenn Sie mich persönlich informiert hätten." Der Doktor legte den Brief hin, den er gerade las. "Meine liebe Miss Pomfrey, Sie müssten inzwischen eigentlich wissen, dass ich sehr oft unhöflich bin. Es tut mir Leid, wenn ich Sie gekränkt habe." Er sah nicht so aus, als würde es ihm Leid tun. Im Gegenteil, ihr Ausbruch schien ihn zu amüsieren. "Wir reisen in genau fünf Tagen. Ich muss in London dringende Verpflichtungen wahrnehmen, aber meine Neffen bleiben bei mir, bis ihre Eltern zurückkommen. Ich hoffe natürlich sehr, dass Sie ebenfalls so lange bleiben." "Sie wollten mir behilflich sein, im Krankenhaus einen neuen Termin für die Ausbildung ..."
"Ich weiß, Miss Pomfrey, und das werde ich auch tun. Möchten Sie gleich anfangen, wenn die Zwillinge wieder in Oxford sind? Meist scheidet die eine oder andere Lernschwester nach den ersten Wochen aus. Es dürfte nicht schwierig sein, Ihnen einen solchen Platz zu verschaffen. Sie bleiben demnach bei Ihrem Entschluss, Krankenschwester zu werden?" "Ja. Warum fragen Sie?" "Weil ich meine Zweifel habe, ob der Beruf für Sie geeignet ist." "Ich bin es gewohnt, hart zu arbeiten, Doktor. Dieser Lebensstil" - Araminta machte eine umfassende Armbewegung "war mir bisher fremd." "Dann schätzen Sie ihn nicht?" "Natürlich schätze ich ihn, aber ich weiß auch, dass er nicht zu mir passt. Würden Sie mich jetzt entschuldigen? Ich muss Peter und Paul zur Schule bringen." Von der Schule ging Araminta weiter in die Stadt, um einzukaufen. Für ihre Mutter wählte sie ein Seidentuch, für ihren Vater ein Buch über die holländische Geschichte und für Tante Millicent eine Bluse, die sie wahrscheinlich frivol finden würde. Für Bas kaufte sie Zigarren, für Jette ebenfalls ein Tuch und für Nele und die Putzfrau, die jeden Tag kam, Konfekt. Zum Schluss dachte sie auch noch an Schmuckpapier und buntes Band. Das Einpacken der Geschenke würde die Zwillinge eine gute Weile beschäftigen. Am späteren Nachmittag, als sie gerade die letzten Geschenkpäckchen fertig machten, erschienen der Doktor und Mevrouw Lutyns überraschend im Kinderzimmer. Christina war wieder erlesen angezogen und makellos zurechtgemacht. Araminta fiel das Gespräch ein, das sie in Leeuwarden mit dem Doktor geführt hatte. Wie musste er insgeheim über sie gelacht haben! Christina übersah Araminta, begrüßte flüchtig die Zwillinge und wandte sich dann mit scharfer Stimme an den Doktor. Er
hatte sich hingekniet, um für Paul eine schwierige Schleife zu binden, und antwortete in einem Ton, der Christina ärgerte. Außerdem sprach er englisch, was sie offensichtlich noch mehr reizte. "Mevrouw Lutyns plant einen Englandbesuch", sagte er zu Araminta. "Sie kennen England sicher gut?" fragte Araminta höflich. "London, selbstverständlich ... das Land interessiert mich nicht. Wo soll man da einkaufen?" Christina verzog spöttisch die Lippen. "Sie machen sich wohl nichts aus Mode?" Alle Antworten, die Araminta einfielen, waren zu grob, und deshalb schwieg sie. Der Doktor ging zur Tür. "Komm herunter ins Wohnzimmer, Christina. Ich mache uns etwas zu trinken." Als sie fort waren, flüsterte Peter: "Wir mögen sie nicht, denn sie spricht nie mit uns. Was findet Onkel Marcus an ihr, Minta?" "Sie ist schön, Peter, und wahrscheinlich auch lustig. Sie trägt hübsche Kleider und bringt euern Onkel zum Lachen." Paul legte beide Arme um sie. "Du bist viel schöner, Minta. Du bringst uns zum Lachen, und deine Kleider mögen wir auch." Araminta drückte ihn gerührt an sich. "Wirklich, Paul? Wie nett von dir, das zu sagen! Frauen hören gern Komplimente. Was haltet ihr von einem Spiel ,Mensch-ärgere-dich-nicht' vor dem Essen?" Während der letzten Tage in Utrecht bekam Araminta den Doktor kaum zu sehen. Die Zwillinge freuten sich auf zu Hause und hielten sie pausenlos in Atem. Am letzten Nachmittag machten sie noch einen langen Abschiedsspaziergang. Sie gingen durch die Straßen, die Araminta inzwischen so gut kannte, standen auf den alten Brücken, sahen die reich beladenen Blumenboote vorbeiziehen und aßen zum Abschluss eine extra große Portion Eiscreme.
Am nächsten Morgen ging es früh los, und in der Unruhe der Abreise fand Araminta kaum Zeit, traurig zu sein. Sie sagte Bas und Jette Lebewohl, drückte Nele die Hand und umarmte den treuen Humphrey. Dann half sie den Zwillingen beim Einsteigen und setzte sich zu dem Doktor nach vorn. Erst als Utrecht hinter ihnen lag, wurde ihr klar, dass sie nicht wieder hierher kommen würde. In nur wenigen Wochen hatte sie Utrecht und das Haus des Doktors lieb gewonnen, und sie würde den Charme der Stadt, die oft noch mittelalterliche Stimmung nicht vergessen. All das wird mir fehlen, dachte sie, und wenn die Ingrams erst zurück sind, werde ich auch die Zwillinge und den Doktor nicht wieder sehen. Unser Leben verläuft in zu verschiedenen Bahnen, als dass wir uns noch einmal begegnen könnten. Das Zwischenspiel ist vorbei. An den Doktor würde sie am häufigsten denken. Ganz plötzlich, in Erwartung der baldigen Trennung, wurde ihr bewusst, dass sie ihn liebte. Konnte man einen Mann lieben, dem man selbst so völlig gleichgültig war? Offenbar ja, denn ihr erging es so. Je eher ich ihn verlasse, umso besser für mich, dachte sie, und dabei stiegen ihr Tränen in die Augen. Der Doktor, der sie von der Seite ansah, bemerkte es und fragte freundlich: "Sie sind traurig, dass wir Holland verlassen, nicht wahr, Miss Pomfrey? Zum Glück ist es nur durch den Kanal von England getrennt. Sie werden sicher Gelegenheit finden, den Besuch zu wiederholen." Bestimmt nicht, dachte Araminta niedergeschlagen und nickte, ohne etwas zu sagen.
9. KAPITEL Die Reise verlief ereignislos. Sie kamen wohlbehalten in London an und wurden von Briskett mit Tee empfangen. "Hatten Sie einen schönen Aufenthalt, Miss?" fragte er Araminta, während er sie und die Zwillinge in ihre Zimmer brachte. "Hoffentlich hat der Boss Zeit gefunden, Ihnen das Land zu zeigen." "O ja, Mr. Briskett. Wir waren sogar in Friesland." "Das freut mich, aber es ist schön, den Boss wieder hier zu haben." Briskett lächelte. "Ihr Zimmer, Miss. Fühlen Sie sich wie zu Hause." Es wäre Araminta schwer gefallen, sich in einem so hübschen Zimmer nicht wie zu Hause zu fühlen. Bett, Schrank und Frisiertisch bestanden aus Satinholz, auf das die weißgelben Chintzvorhänge genau abgestimmt waren. Auf dem Nachttisch stand eine Vase mit gelben Freesien, und vom Fenster konnte man in den rückwärtigen Garten hinuntersehen. Araminta hätte sich gern etwas ausgeruht, aber die Zwillinge brauchten ihre Hilfe. Sie waren während der Reise sehr brav gewesen, und jetzt hatten sich ihre Kräfte erschöpft. Erst den Tee und dann früh ins Bett, dachte Araminta, es sei denn, der Doktor hat andere Pläne. Die Tür zum Arbeitszimmer stand offen, als Araminta mit den Zwillingen herunterkam. Der Doktor telefonierte - und zwar auf Holländisch, wie sie erkannte. Er unterbrach sich kurz und
sagte: "Gehen Sie schon ins Wohnzimmer, Miss Pomfrey. Ich komme gleich nach." Die Zwillinge führten Araminta in ein kleines, gemütliches Zimmer, wo Briskett den Teetisch gedeckt hatte. "Ich halte nichts davon, wenn Kinder mit Tellern und Tassen auf den Knien herumbalancieren, Miss", erklärte er. "Darum habe ich richtig gedeckt. Setzen Sie sich, der Boss wird nicht lange auf sich warten lassen." Der Doktor kam, beteiligte sich großzügig an der Mahlzeit und entschuldigte sich dann mit dringender Arbeit. "Sie können jederzeit Ihre Eltern anrufen, Miss Pomfrey", sagte er im Gehen. "Sie möchten ihnen sicher mitteilen, dass Sie wieder in England sind." Während Araminta die Zwillinge ins Bett brachte, hörte sie den Doktor das Haus verlassen. Da das Kinderzimmer zur Straße lag, konnte sie beobachten, wie er in den Bentley stieg und wegfuhr. Er trug seinen Smoking, in dem er überwältigend gut aussah. Araminta seufzte. Sie hatte versucht, tagsüber möglichst wenig an den Doktor zu denken, und sein kühles, distanziertes Verhalten hatte ihr das verhältnismäßig leicht gemacht. Trotzdem liebte sie ihn, daran ließ sich nun mal nichts ändern. Sie würde nicht an gebrochenem Herzen sterben, denn daran starb man nicht. Sie würde ein erfolgreiches Berufsleben führen und den Doktor vergessen, aber bis es so weit war ... Das Leben in London unterschied sich wesentlich von dem in Utrecht. Die Zwillinge gingen nicht mehr zur Schule, denn ihre Eltern wurden bald zurückerwartet, und ihre Aufregung stieg mit jedem Tag. Araminta füllte die Vormittage mit improvisierten Lernstunden und die Nachmittage, je nach dem Wetter, mit kürzeren oder längeren Spaziergängen aus. Zum Tee kamen sie pünktlich nach Hause, und dann wurde bis zum Abendessen gespielt.
Der Doktor war selten zu Hause. "Früh davon und spät zurück", lautete Brisketts knappe Formel für diesen Tagesablauf. "Typisch der Boss ... nur Zeit für die Arbeit. Zum Glück geht er manchmal abends aus. Sie wissen ja, wie man sagt, Miss. Nur Arbeit und kein Vergnügen hat noch jedem geschadet." Trotzdem gelang es dem Doktor, täglich mindestens eine halbe Stunde für seine Neffen da zu sein, wenn auch nicht für Araminta. Ein kurzer Gruß am Morgen, ein kurzer am Abend das waren ihre Gespräche. Doch was konnte sie anderes erwarten? Am dritten Tag nach ihrer Rückkehr teilte der Doktor Araminta mit, dass die Ingrams übermorgen zurückkommen würden. "Vielleicht haben Sie die Freundlichkeit, noch einen Tag länger zu bleiben", fügte er hinzu. "Meine Schwester möchte bestimmt ausführlich mit Ihnen sprechen und wird außerdem dankbar sein, wenn Sie ihr beim Packen helfen." Also noch drei Tage, ging es Araminta durch den Kopf, und nur als fünftes Rad am Wagen. Danach werde ich ihn nicht wieder sehen. "Natürlich bleibe ich, wenn Mrs. Ingram es wünscht", antwortete sie steif. "Werden Sie anschließend nach Hause fahren, Miss Pomfrey? Werden Sie von Ihren Eltern erwartet?" "Ja." Araminta verschwieg, dass wahrscheinlich nur Tante Millicent da sein würde, weil ihre Eltern auf einer Vortragsreise waren. "Sie haben zu mir gesagt, es bestünde vielleicht die Möglichkeit ...", begann sie vorsichtig. "Ach ja, das hätte ich beinahe vergessen. Im St. Jules ist tatsächlich eine Lehrstelle frei geworden. Die Anwärterin musste krankheitshalber ausscheiden. Wenn Sie in einigen Tagen anfangen können und sich zutrauen, das Versäumte nachzuholen, will man Sie übernehmen." Araminta hätte jubeln müssen. Der Doktor machte ihr alles so leicht, und die angestrebte Karriere wurde endlich Wirklichkeit.
Nur eins wunderte sie: Warum hatte er vergessen, ihr davon zu erzählen? Das passte nicht zu ihm. "Sie haben doch noch den Wunsch, Krankenschwester zu werden?" fragte er, als sie weiter schwieg. , "O ja, selbstverständlich", versicherte sie schnell, denn seine Stimme klang gereizt. "Ich bin Ihnen sehr dankbar, Doktor. MUSS ich persönlich noch etwas unternehmen?" "Nein, das ist nicht nötig. Sie werden in den nächsten Tagen einen Brief bekommen, und bedanken Sie sich bitte nicht. Sie waren in den letzten Wochen eine große Hilfe. Meine Neffen werden Sie vermissen." Der Doktor sprach betont höflich, beinahe verletzend kalt, denn ihm war klar geworden, dass nicht nur die Zwillinge Araminta vermissen würden. Ihm selber würde sie ebenso fehlen. Das Haus würde ohne sie leerer sein. Er würde ihre leise, ruhige Stimme, die so unnatürlich scharf werden konnte, nicht mehr hören. Sie würde sich nicht mehr an seiner Schulter ausweinen und ihm das Gefühl geben, sie trösten zu müssen ... Sentimentaler Esel, schalt er sich selbst. Miss Pomfrey hatte ihm in den vergangenen Wochen einen notwendigen Dienst erwiesen, und dafür war er ihr dankbar. Alle weiter reichenden Empfindungen waren überflüssig. Sobald sie nicht mehr in seinem Haus wohnte, würde er sie vergessen. Die Ingrams trafen planmäßig am späten Nachmittag ein. Es war ein kalter, regnerischer Oktobertag, und Araminta hatte große Mühe gehabt, die Zwillinge drinnen zu beschäftigen. Zum Schluss hingen sie nur noch am Fenster des Kinderzimmers, bis sie den Bentley endlich vorfahren sahen. "Da kommt Onkel Marcus!" riefen sie. "Mit Mummy und Daddy." "Dann lauft nach unten", sagte Araminta. "Aber seid vorsichtig." Sie trat selbst ans Fenster und sah Mr. und Mrs. Ingram gerade noch im Haus verschwinden, gefolgt von dem Doktor.
Jetzt werden sie unten alle zusammen Tee trinken, dachte Araminta. Sie hatte Briskett am Morgen gebeten, ihr den Tee herauf zubringen, da sie die Familienrunde nicht stören wolle. Briskett hatte ihr Recht gegeben und kam jetzt mit einem Tablett nach oben. "Alle reden durcheinander, Miss, und keiner hat nach Ihnen gefragt", erzählte er. "Warten Sie ruhig ab, bis sich die erste Aufregung gelegt hat. Der Boss wird sie bestimmt rufen, damit Sie einen Bericht geben. Er hält große Stücke auf Sie." Araminta trank zwei Tassen Tee und ließ den Kuchen fast unberührt. Ihr sonst so zuverlässiger Appetit hatte sie verlassen. Sie überlegte gerade, wann sie am besten mit dem Packen anfangen sollte, als der Doktor hereinkam. "Ich habe Sie nicht anklopfen hören", bemerkte sie spitz. "Das tut mir Leid. Warum sind Sie nicht zum Tee gekommen?" "Ich hätte im Familienkreis nur gestört." Der Doktor nahm eins von Brisketts hauchzarten Baisers und aß es mit der Unbekümmertheit eines kleinen Jungen. Araminta ging das Herz über, und sie fragte sich, wie sie je ohne ihn leben sollte. "Können wir endlich gehen?" fragte er, nachdem er das Baiser verzehrt hatte. Araminta blitzte ihn an, aber er zeigte keine Reaktion. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm nach unten zu folgen, wo sie von den Ingrams herzlich begrüßt wurde. Wenig später nahm Lucy sie beiseite. "Waren die Zwillinge brav?" fragte sie ängstlich. "Wenn sie wollen, können sie unerträglich sein." "Sie waren wunderbar", beteuerte Araminta. "Folgsam, hilfsbereit und niemals nörglerisch." "Das erleichtert mich sehr. Sicher möchten Sie so schnell wie möglich abreisen, aber wenn Sie morgen noch bleiben und mir beim Packen helfen würden ..."
"Gern, Mrs. Ingram. Sie müssen froh sein, wieder nach Hause zu kommen. Jedenfalls weiß ich, dass die Zwillinge sich freuen, obwohl sie gern in Utrecht sind. Es scheint ihre zweite Heimat zusein." "Sie verehren Marcus, und da sie zweisprachig erzogen wurden, fühlen sie sich weder hier noch dort fremd. Hat Ihnen Holland gefallen?" "O ja, sehr gut." "Marcus hat mir erzählt, dass Sie Krankenschwester werden wollen. Ist das wirklich Ihr Wunsch?" Lucy lächelte. "Gibt es keinen Freund?" "Ich bin zur Karrierefrau bestimmt, Mrs. Ingram." Darauf blieb Lucy die Antwort schuldig, und wenig später ging Araminta mit den Zwillingen nach oben, um sie zum Schlafengehen fertig zu machen. Nach dem Dinner entschuldigte sie sich, sobald die Höflichkeit es erlaubte. Man sagte ihr freundlich Gute Nacht, und der Doktor hielt ihr sogar die Tür auf. Sie ging ohne einen Blick an ihm vorbei und begann oben zu packen. Es war einsam in ihrem Zimmer. Humphrey wäre jetzt der richtige Tröster gewesen, aber da sie ihn nicht aus Utrecht herbeizaubern konnte, rnusste es auch so gehen. "Ich bin sehr glücklich", sagte sie laut zu sich selbst. "Ich habe Geld, und meine Zukunft ist geregelt. Ich werde im Krankenhaus Freundinnen finden, und in ein bis zwei Jahren kann ich mir aussuchen, wo ich arbeiten will. Natürlich nicht in London. Die Gefahr, dem Doktor zu begegnen, ist zwar gering, aber ich will nichts riskieren." Das Esszimmer war leer, als Araminta und die Zwillinge am nächsten Morgen herunterkamen. Der Doktor hatte das Haus schon verlassen, und die Ingrams schliefen noch. Sie erschienen, als die anderen ihr Frühstück fast beendet hatten. "Marcus fährt uns heute Abend nach Oxford", berichtete Lucy, "aber vorher wollen Peter und Paul unbedingt in die Stadt
und einkaufen. Würden Sie hier bleiben und schon mit dem Packen beginnen, Araminta?" Natürlich war sie einverstanden. Sie aß den Lunch, den Briskett ihr servierte, ohne Appetit und machte sich anschließend daran, das Spielzeug der Zwillinge zusammenzusuchen und in verschiedene Kartons zu packen. Briskett half ihr, indem er durch das Haus ging und alles aufsammelte, was während der letzten Tage in den ungewöhnlichsten Ecken und Winkeln liegen geblieben war. "Es wird ohne die Zwillinge sehr still sein", bemerkte er. "Und Sie verlassen uns auch, Miss ... Sie werden uns fehlen." "Ich glaube eher, dass der Doktor froh ist, das Haus wieder für sich allein zu haben", antwortete Araminta. "Mit Verlaub, Miss ... in diesem Punkt bin ich entschieden anderer Meinung. Der Boss hängt an seinen Neffen, und Sie haben sich erstaunlich gut eingefügt." Araminta bedankte sich für dieses Kompliment. Briskett hatte ein gutes Herz, obwohl er wie eine Ratte aussah, und er hing hingebungsvoll an dem Doktor. "Vielleicht kommen Sie eines Tages wieder", sagte er zu Aramintas Überraschung. "Ich? O nein, Mr. Briskett. Höchstens als Kinderfrau, wenn der Doktor selbst Kinder hat, aber bis dahin bin ich Oberschwester und arbeite vielleicht in Australien." Es dauerte eine Weile, bis der Doktor seine kleine Gesellschaft in den Bentley verfrachtet hatte, und der Abschied dauerte fast noch länger. Die Zwillinge umarmten und küssten Araminta und übergaben ihr wortlos ein Päckchen, das in wunderschönes Papier eingewickelt war. Dabei machten sie so gespannte Gesichter, dass Araminta bat, das Päckchen gleich öffnen zu dürfen. "Sie haben alles selbst ausgesucht", sagte Lucy etwas verlegen.
Araminta band die Schleife auf und öffnete das Päckchen. Es enthielt ein Kosmetikset - bestehend aus Gesichtscreme, Puder, Lippenstift und Eau de Toilette. "Wir wissen, dass du nicht hübsch bist, Minta", sagte Peter, während sie die einzelnen Teile bewunderte, "aber dies wird dich sogar schön machen. Die Verkäuferin bei ,Harrods' hat es versprochen." "So etwas habe ich mir schon immer gewünscht", erklärte Araminta. "Ich danke euch, dass ihr an ein so nettes Geschenk gedacht habt. Ich werde es jeden Tag benutzen und im Handumdrehen eine gefeierte Schönheit sein." Sie umarmte die Zwillinge, ermahnte sie, so brav wie bisher zu bleiben, und winkte dem davonfahrenden Auto nach. Alle winkten zurück, nur der Doktor nicht. Das Abendessen verlief so still wie das Mittagessen, und da Araminta fertig gepackt hatte, beschloss sie, früh schlafen zu gehen. Sie war schon auf der Treppe, als der Doktor nach Hause kam. Briskett fragte, ob er noch etwas essen wolle, aber er winkte ab. "Nein, Briskett, wir haben unterwegs gegessen, aber fahren Sie den Bentley in die Garage. Ich bin in meinem Arbeitszimmer." Er bemerkte Araminta, die stehen geblieben war, und fuhr fort: "Ah, Miss Pomfrey! Wenn Sie noch eine Minute für mich hätten..." Araminta folgte ihm ins Arbeitszimmer und nahm zögernd Platz. "Haben Sie inzwischen vom Krankenhaus gehört?" "Der Brief kam gestern." "Ausgezeichnet. Briskett wird Sie morgen früh nach Hause fahren. Möchten Sie noch irgendetwas über Ihre neue Tätigkeit wissen? Ich nehme an, man hat Ihnen alles Notwendige mitgeteilt." "Ja, Doktor. Und Briskett braucht mich wirklich nicht..."
"Wenn Sie die Güte hätten, ihm zu sagen, wann Sie fahren möchten, Miss Pomfrey?" unterbrach der Doktor sie. "Wir sehen uns morgen beim Frühstück. Jetzt will ich Sie nicht länger aufhalten. Sie werden müde sein." Araminta stand rasch auf. "Ja, ja, natürlich. Gute Nacht, Doktor." "Gute Nacht", antwortete er so leise, dass sie es kaum hörte. Araminta schlief schlecht, und als sie am nächsten Morgen herunterkam, war der Doktor fort. "Er wurde sehr früh ins Krankenhaus gerufen", berichtete Briskett, "und wusste nicht, wann er zurück sein würde. Sie sollen nicht auf ihn warten, Miss. Sobald Sie aufbrechen wollen ... der Wagen steht vor der Tür." Gegen Mittag erreichten sie Hambledon. Briskett nahm Aramintas Koffer und folgte ihr durch den Vordergarten zur Haustür. "Es wirkt leer", meinte er. "Werden Sie nicht erwartet?" "Meine Eltern machen eine Vortragsreise durch Wales", antwortete Araminta. "Tante Millicent müsste hier sein. Sie führt den Eltern während meiner Abwesenheit den Haushalt." Briskett nahm ihr den Schlüssel ab und öffnete die Tür. Auf der Matte lagen mehrere Briefe, und am Garderobenspiegel lehnte ein Zettel: "Bin für einige Tage mit Maud verreist. Mrs. Thomas sorgt für Cherub. Viel Glück beim Neuanfang in London. Millicent." Briskett las den Zettel zuerst, sagte aber nichts. "Soll ich Ihren Koffer nach oben tragen, Miss?" fragte er. "Vielen Dank, Mr. Briskett. Die erste Tür links ... das ist mein Zimmer. Darf ich Sie noch zu einer Tasse Tee einladen? Ich würde Ihnen Lunch anbieten, aber ich fürchte ..." "Tee wäre nett, Miss." Briskett nahm den Koffer und trug ihn die Treppe hinauf. Ein hübsches Haus, dachte er, mit schönen alten Möbeln und einigen wertvollen Dingen. Kein moderner Plunder. Trotzdem wirkt
alles etwas angestaubt, als würde sich niemand richtig darum kümmern. Es gefällt mir nicht, Miss Pomfrey hier allein zu lassen, aber wenn sie nichts sagt... Er ging in die Küche, die altmodisch, aber praktisch eingerichtet war. "Ich habe eine Dose mit Keksen entdeckt", sagte Araminta, die gerade kochendes Wasser in die Teekanne goss. "Werden Sie rechtzeitig zurück sein, um sich Mittagessen zu machen?" "Ganz bestimmt." Briskett betrachtete Cherub, der durch das geöffnete Fenster hereingesprungen war und Araminta wie närrisch begrüßte. "Ein prächtiger Kater, Miss. Gehört er Ihnen?" "Ja, ich habe ihn vor Jahren gefunden. Noch einen Keks, Mr. Briskett? Ich werde Humphrey vermissen." "Er Sie auch, Miss, darauf möchte ich wetten." Briskett unterdrückte seine Rührung. "Schade, dass der Boss so früh fort musste. Manchmal könnte ich direkt wütend werden. Er ist inzwischen ganz oben, und was hat er davon? Arbeit... immer nur Arbeit." Nachdem Briskett abgefahren war, packte Araminta aus, obwohl sich das für eine Nacht kaum lohnte. Allerdings würde sie im St. Jules andere Sachen brauchen als in Utrecht, und einiges musste gewaschen werden. Abends rief Aramintas Mutter aus Wales an. "Ich habe mir gedacht, dass du inzwischen zu Hause bist, Liebes", sagte sie. "Du freust dich doch auf die Arbeit im Krankenhaus? Nur gut, dass du damals auf uns gehört hast und mit nach Holland gefahren bist. Die kleine Verzögerung ... du siehst ja, wie schnell sie dich wieder genommen haben, und den versäumten Lernstoff holst du spielend nach. Dein Vater und ich werden bald nach Hause kommen - wann genau, kann ich allerdings noch nicht sagen. Unsere Vorträge sind ein großer Erfolg, und es könnte sein, dass wir die Tour verlängern. Wie geht es Millicent?"
Araminta wollte antworten, dass Tante Millicent mit ihrer Freundin Maud verreist sei, aber ihre Mutter erzählte bereits von bemerkenswerten keltischen Dokumenten, die man ihrem Vater und ihr zur Prüfung vorgelegt habe. Es war etwas kompliziert, den Wert dieser Dokumente zu erklären, und als Mrs. Pomfrey damit fertig war, reichte die Zeit nur noch für ein kurzes Abschiedswort. "Ich muss an so vieles denken", sagte sie zum Schluss. "Du hörst von mir, wann wir kommen."
10. KAPITEL Das St. Jules Hospital war ein Altbau, den man im Lauf der Jahre mehrfach erweitert hatte. Es wirkte düster und bedrohlich und lagerte wie ein Riese im Gewirr der engen Straßen, die es umgaben. Nur die Eingangshalle mit den Porträts ehemaliger medizinischer Größen und der geschwungenen Seitentreppe machte einen freundlicheren Eindruck. Allerdings durfte nur das höhere Krankenhauspersonal diese Treppe benutzen. Araminta wurde gebeten, sich mit ihrem Gepäck in das Schwesternhaus zu begeben, das durch einen dunklen Gang zu erreichen war. Von dort führte eine Tür in ein modernes Treppenhaus, wo unten das Büro lag. Araminta klopfte an und wurde hereingebeten. Die Frau, die am Schreibtisch saß, war Mitte vierzig. Ihr Gesicht war blass, ihr Haar farblos, und die dunkelbraune Tracht stand ihr nicht. "Araminta Pomfrey?" fragte sie. "Kommen Sie herein, und schließen Sie die Tür. Ich zeige Ihnen gleich Ihr Zimmer, damit Sie Ihr Gepäck abstellen können, bevor Sie mit der Ausbildungsleiterin sprechen. Hier ist eine Liste der Hausregeln - es wird erwartet, dass Sie diese Regeln während der Dauer Ihres Aufenthalts beachten. Nach dem ersten Jahr ist es gestattet, außerhalb des Krankenhauses zu wohnen, falls der Wunsch besteht. Alkohol und Zigaretten sind selbstverständlich verboten, und es gibt keine männlichen Besucher ohne stichhaltigen Grund."
Die Frau griff nach einem Formular. "Jetzt zu Ihren Personalangaben. Sie sind dreiundzwanzig? Ziemlich alt, muss ich sagen. Nicht verheiratet? Britische Staatsbürgerin? Die Eltern leben noch?" Ein Punkt nach dem anderen wurde abgehakt, dann stand die Frau auf. "Nehmen Sie Ihren Koffer. Ich zeige Ihnen jetzt Ihr Zimmer." Sie gingen zwei Treppen hinauf und einen langen Flur entlang, an dessen Ende die Frau eine Tür öffnete. "Sie bekommen Ihren eigenen Schlüssel, werden selbst Ihr Bett machen und natürlich für Ordnung und Sauberkeit sorgen." Das Zimmer war klein und ziemlich dunkel, aber die Möbel und die bunten Vorhänge gefielen Araminta. In der Ecke befand sich ein Waschbecken, und es gab einen großen eingebauten Schrank. Araminta erhielt den Zimmerschlüssel und fragte: "Wie soll ich Sie nennen? Sind Sie eine Schwester?" "Ich bin Miss Jeff, die Hausmutter. Kommen Sie in zehn Minuten in mein Büro, dann bringe ich Sie zur Ausbildungsleiterin." Araminta blieb allein zurück. Da der Ausblick auf einen Seitenflügel des Krankenhauses nicht verlockend war, packte sie rasch aus, ordnete ihr Haar und ging wieder hinunter zu Miss Jeff. Das Büro der Ausbildungsleiterin war bedeutend größer als das von Miss Jeff. Vor den Fenstern hingen Samtgardinen, auf dem Fußboden lag ein weicher Teppich, und der Schreibtisch hätte in jedes Chefbüro gepasst. Die Leiterin selbst, eine große, gut aussehende Frau, trug ein elegantes Kostüm. Sie gab Araminta die Hand und beglückwünschte sie zu dem unerwarteten Freiplatz. "Ich hätte ein Dutzend andere Bewerberinnen nehmen können", erklärte sie, "aber Dr. van der Breugh ist ein alter Freund und ein überaus angesehener Kollege. Er erzählte uns, Sie hätten Ihre Bewerbung zurückgezogen, um in einer
familiären Notlage zu helfen." Die Leiterin lächelte. "Sie können von Glück sagen, einen so bedeutenden Fürsprecher zu haben. Hoffentlich fühlen Sie sich bei uns wohl. Sie sind älter als die anderen Schwesternschülerinnen, aber das wird kaum einen Unterschied machen." Araminta wurde mit einem Nicken entlassen und kehrte in ihr Zimmer zurück, wo sie ihre zukünftige Tracht auf dem Bett vorfand. Sie war aus blau-weiß gestreiftem Baumwollstoff gearbeitet und wurde mit breitem Gürtel und Namensschild getragen. Miss Jeff hatte ihr geraten, um vier Uhr zum Tee in die Kantine zu gehen. Also machte sich Araminta abermals auf den Weg - hinunter ins Erdgeschoss, durch den Gang in die Halle und weiter hinunter ins Kellergeschoss, wo die Kantine lag. Die meisten Tische waren besetzt. Araminta ging an die Theke, versorgte sich mit einem Butterbrot, Marmelade und Tee und sah sich unschlüssig um. Sie entdeckte verschiedene Trachten, aber eine blau-weiß gestreifte war nicht dabei. Jemand gab ihr von hinten einen leichten Stoß. "Bist du neu?" Die Sprecherin war groß und trug zu Aramintas Erleichterung blau-weiße Streifen. "Komm mit, man erwartet von uns, dass wir zusammensitzen. Die Dunkelblauen sind Oberschwestern, die Hellblauen Stationsschwestern. Bei denen hast du nichts verloren." Sie führte Araminta ans äußerste Ende der Kantine, wo mehrere Mädchen um einen Tisch herumsaßen. "Ich bringe euch eine neue Kollegin", sagte sie. "Wie heißt du?" "Araminta Pomfrey." "Ein üppiger Name, er wird der Schwester Tutorin nicht gefallen." "Die meisten nennen mich Minta." "Das klingt schon besser. Komm, setz dich zu uns, und trink deinen Tee. Weißt du schon, in welcher Station du morgen eingesetzt wirst?"
Araminta schüttelte den Kopf. "Wen kann ich danach fragen?" "Niemanden. Es steht am Schwarzen Brett vor der Kantine, du kannst gleich nachsehen. Hast du ausgepackt? Um acht Uhr gibt es Abendessen - vorausgesetzt, du bist nicht im Dienst. Welche Zimmernummer hast du? Ich hole dich ab." "Vielen Dank." "Übrigens heiße ich Molly Beckett. Das ist Jean, in der Ecke sitzt Sue ..." Sie stellte eine nach der anderen vor. "Wir arbeiten alle in verschiedenen Stationen, abgesehen von den Vorlesungen und Übungen. Du wirst ganz schön herumgescheucht werden, und gnade dir Gott, wenn die Oberschwester dich nicht mag." Molly stand auf. "Wir sind alle noch im Dienst, aber ab sechs Uhr habe ich frei. Dann melde ich mich bei dir. Komm jetzt mit... ich zeige dir das Schwarze Brett." Die anderen schlössen sich an und murmelten mitleidig etwas, als sie Aramintas Namen fanden. "Station ,Baxter'", las Molly laut vor. "Das bedeutet Oberschwester Spicer. Ich will dir keine Angst machen, Minta, aber sieh dich vor. Sie hat eine scharfe Zunge, und wen sie nicht mag, der kann gleich wieder gehen." Araminta kehrte in ihr Zimmer zurück, stellte ihre Familienfotos auf, verteilte ihre wenigen Bücher auf dem Wandbord und setze sich hin, um nachzudenken. Sie konnte sich den Krankenhausbetrieb nur vage vorstellen, und was sie über Oberschwester Spicer gehört hatte, klang wenig ermutigend. Doch sie war es gewohnt, nüchtern zu denken und sich nicht durch unnötiges Grübeln das Herz schwer zu machen. Sie würde sich einleben, und dann würde alles freundlicher aussehen. Sie musste nur etwas Geduld haben. Als Araminta am ersten Abend in ihrem Bett lag, überdachte sie noch einmal alles, was sie falsch gemacht hatte. Das St. Jules war ein Labyrinth und stammte überwiegend aus einer Zeit, in der lange Korridore und verwinkelte Treppen
die Regel waren. Damals hatte es den Schwestern offenbar nichts ausgemacht, sich die Hacken abzulaufen, aber Araminta war an den Entfernungen gescheitert. Sie hatte den falschen Korridor und die falsche Treppe benutzt, war nicht in Station "Baxter", sondern in Station "Stewart" zum Dienst erschienen und hatte eine Ewigkeit gebraucht, um das entgegengesetzte Ende des Krankenhauses zu erreichen. Oberschwester Spicer empfing sie mit eisigem Blick. "Sie kommen zu spät, Schwester Pomfrey. Warum?" "Ich habe mich verlaufen", antwortete Araminta. "Eine alberne Entschuldigung. In meiner Station achte ich streng auf Pünktlichkeit. Haben Sie schon einmal pflegerisch gearbeitet?" Araminta erzählte vom Kinderheim, behielt die Tätigkeit bei Dr. van der Breugh aber für sich. Die Oberschwester seufzte ungeduldig. "Sie müssen den Vorsprung der anderen Schwesternschülerinnen möglichst schnell aufholen. Schwester Tutorin wird Ihnen nach Möglichkeit dabei helfen. Bei mir wird man nicht verwöhnt. Tun Sie also Ihr Bestes." Araminta nickte. "Wenn Sie es nicht schaffen, können Sie gleich wieder gehen." Wahrscheinlich ist Oberschwester Spicer früher einmal freundlicher gewesen, dachte Araminta. Vielleicht hat sie Pech in der Liebe gehabt, obwohl ich mir keinen Mann denken kann, der sich in ein so kaltes, abweisendes Gesicht verliebt. Arme Oberschwester! "Gehen Sie jetzt, und melden Sie sich bei der Stationsschwester." Der Krankensaal lag im ältesten Teil des Gebäudes und hatte nur auf einer Seite Fenster. Die Betten standen sich in zwei langen Reihen gegenüber und waren mit Patientinnen ganz
verschiedenen Alters belegt. Zwei Schwestern machten gerade die Betten und beachteten Araminta nicht. Die Stationsschwester, kenntlich an ihrer hellblauen Tracht, war ganz hinten im Saal und füllte Medikamente ab. Sie begrüßte Araminta kurz, befahl ihr, beim Bettenmachen zu helfen, und überließ sie dann ihrem Schicksal. Der restliche Vormittag glich einem Albtraum. Araminta machte Betten, trug Bettpfannen hin und her, teilte Essentabletts aus, half den Patientinnen beim Aufstehen und Hinlegen und war bei all dem niemals schnell genug. "Sie sind neu, Schätzchen, was?" fragte eine alte Frau, die schwer atmete und dunkelrot anlief, wenn sie hustete. "Machen Sie sich nichts draus. Hier rennt alles um die Wette, und niemand hat Zeit für niemanden." Der einzige Lichtblick war die Mittagspause. Araminta saß wieder bei Molly und den anderen und erntete viel Verständnis. "Du bist neu", hieß es, "und niemand hat sich die Zeit genommen, dich richtig einzuweisen. Um sechs Uhr hast du Dienstschluss, nicht wahr? Und vergiss nicht, dass wir um zwei Uhr Vorlesung haben. Davon kann dich auch die Oberschwester nicht abhalten." Die Vorlesung hatte Araminta am besten gefallen, obwohl sie viel nachholen musste. "Leihen Sie sich das Buch einer Kollegin aus, und schreiben Sie die Kapitel ab, die wir schon durchgenommen haben", hatte Schwester Tutorin ihr als Rat mit auf den Weg gegeben, was bedeutete, dass Araminta in den nächsten Tagen kaum Freizeit haben würde. "Na, wenn schon", sagte sie im Einschlafen halblaut vor sich hin. "Ich habe es ja so gewollt." Am Ende der ersten Woche musste sie einsehen, dass alles nicht so lief, wie sie es sich vorgestellt hatte. Laut Oberschwester Spicer war sie faul, zu langsam und zu redselig bei den Patientinnen. Es gebe genug Arbeit, wurde ihr
vorgehalten, aber Lockenwickler zu suchen, Zeitschriften hin und her zu tragen, Wasserkrüge nachzufüllen und Familienfotos zu bewundern, gehöre nicht dazu. Das klang wenig aufmunternd, und wenn Aramintas Informationen stimmten, sollte sie drei Monate in Station "Baxter" bleiben! Sie sehnte sich täglich mehr nach ihrem ersten freien Wochenende, und als es Sonnabend früh so weit war, verließ sie das Krankenhaus, als wäre der Teufel hinter ihr her. Sie rannte fast über den Vorplatz, um den ersten Zug nach Henley zu erreichen, ohne zu wissen, dass sie beobachtet wurde. Dr. van der Breugh war früh zu einem Notfall gerufen worden und erholte sich gerade bei einer Tasse Kaffee. Er hatte während der Woche kaum an Araminta gedacht, aber sie über den Vorplatz hasten zu sehen genügte, um ihr Bild neu zu beleben. Sie war vermutlich auf dem Weg nach Hause, und für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, nach Hambledon zu fahren und zu fragen, ob sie sich im St. Jules gut eingelebt habe. Doch er verwarf den Gedanken wieder und fragte nur einen jungen Kollegen, den er beim Hinausgehen traf, wie sich die neuen Schwesternschülerinnen machten. "Ich habe mir eine von ihnen ausgeborgt", fügte er erklärend hinzu, "und sie wurde erst später zugelassen." "Richtig, ich habe davon gehört. Sie muss natürlich einiges nachholen, und Oberschwester Spicer ist nicht gerade für ihre Geduld bekannt. Im Ganzen haben wir wenig mit den Neuen zu tun. Die, von der wir reden, wurde einmal in meinem Beisein von der Oberschwester abgekanzelt, weil sie die falsche Patientin aus dem Bett geholt hatte. Ein stilles, harmloses Ding, wenn Sie mich fragen, aber die Spicer kann jedem Angst machen ... sogar mir." Beide Männer lachten und trennten sich am Eingang. Araminta war schon am frühen Vormittag zu Hause und traf nicht nur Cherub, sondern auch Tante Millicent an. Bei einer
Tasse Kaffee berichtete sie vom Krankenhaus, wobei sie bemüht war, alles in rosigem Licht erscheinen zu lassen. "Hast du etwas von deiner Mutter gehört?" fragte Tante Millicent. "Sie hat vor zwei Tagen angerufen, aber diese überraschenden Funde aus keltischer Zeit..." "Ob sie noch im Oktober zurückkommen?" "Das ist schwer zu sagen. Bekommst du denn schon Ferien?" Araminta schüttelte den Kopf. "Ganz bestimmt nicht. Ich bin noch am Anfang und muss mich vorerst mit meinen freien Tagen begnügen." "Aber die Arbeit macht dir Spaß?" Araminta bejahte das ohne Einschränkung, denn Tante Millicent hätte für nichts anderes Verständnis gehabt. Auch die Bluse aus Utrecht, die Araminta ihr erst jetzt übergeben konnte, fand nur bedingte Anerkennung. "Die Farbe, Kind", meinte Tante Millicent. "In meinem Alter und hier auf dem Land ... Aber du hast es gut gemeint." Das Wochenende tat Araminta wohl. Sie reiste gestärkt ab und beschloss, in der nächsten Woche erfolgreicher zu sein. Leider machte Oberschwester Spicer ihr das fast unmöglich. Sie schikanierte sie, wo sie nur konnte - genau, wie Molly befürchtet hatte. Araminta war ihr zu langsam, zu ungeschickt oder zu unachtsam, egal, wie sehr sie sich bemühte. Nur die Patientinnen waren nett zu ihr, und die Stationsschwester ließ sie wenigstens in Ruhe. Der letzte Nachmittag zog sich besonders lange hin. Die Patientinnen äußerten immer neue Wünsche, und Araminta war froh, als es sechs Uhr war und sie sich vom Dienst abmelden konnte. Oberschwester Spicer sah kaum von dem Bericht auf, den sie schrieb. "Haben Sie das Einzelzimmer vorbereitet?" fragte sie. "Das hätte längst geschehen müssen ... immerhin könnte es gebraucht werden. Ich habe Schwester Jones extra darauf
aufmerksam gemacht. Nun, es ist Ihre Schuld, wenn Sie nicht richtig zuhören. Dann müssen Sie eben länger arbeiten." "Schwester Jones hat mir nichts gesagt", verteidigte sich Araminta. "Außerdem habe ich um sechs Uhr Dienstschluss." Die Oberschwester fühlte sich veranlasst, Ihren Bericht zu unterbrechen. "Sie tun, was ich sage, Schwester Pomfrey, und ich verbitte mir diesen Ton! Wenn ich morgen früh mit der Ausbildungsleiterin spreche, werde ich ihr mitteilen, dass Sie für unsere Arbeit völlig ungeeignet sind. Wenn ich Ihnen nichts beibringen kann, schafft es niemand." Eine Stunde später war das Einzelzimmer fertig, und Araminta durfte sich vom Dienst abmelden. Sie verabschiedete sich von den Patientinnen, ging erhobenen Hauptes an Oberschwester Spicers Büro vorbei und stieg dann die Treppe zum Erdgeschoss hinunter, weil es keinen anderen Zugang zum Schwesternhaus gab. Sollte sie noch heute Abend oder erst morgen früh nach Hause fahren? Wie auch immer, sie kochte insgeheim vor Wut, und diese Wut grenzte an Verzweiflung. Nichts entwickelte sich so, wie sie gehofft hatte. Die Arbeit im Krankenhaus lag ihr nicht, und Dr. van der Breugh würde sie auch nicht wieder sehen. Der Schmerz über ihre aussichtslose Liebe überwältigte sie plötzlich so, dass sie die letzten Stufen hinunterstolperte. "Sie werden mich ohnehin hinauswerfen", sagte sie laut und lief direkt in die Arme des Doktors. Ohne zu wissen, was sie tat, umfasste sie ihn mit beiden Armen und begann zu weinen. Der Doktor wartete geduldig, bis der Tränenstrom versiegt war, und fragte dann: "Gibt es Probleme?" "Und was für welche ... Sie haben ja keine Ahnung!" Araminta achtete kaum auf das, was sie sagte. Die Freude darüber, dem Doktor in diesem entscheidenden Augenblick zu begegnen, ließ sie alle guten Vorsätze vergessen. "Kommen Sie mit", sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, und führte sie in das Chefarztzimmer.
"Ich darf hier nicht hinein", erklärte Araminta ängstlich. "Ich bin Chefarzt und erlaube es Ihnen", lautete die knappe Antwort. "Setzen Sie sich, Minta, und erzählen Sie, was passiert ist." Araminta trocknete sich die Augen und begann zu erzählen alles von Anfang an. Einiges brachte sie durcheinander, aber sie beschönigte nichts und schloss mit den Worten: "Jetzt werde ich bestimmt entlassen. Ich war so frech zu Oberschwester Spicer, und außerdem ..." Sie schniefte und putzte sich energisch die Nase. "Außerdem ist sie der Meinung, dass ich nie eine gute Krankenschwester werde. Wahrscheinlich hat sie Recht. Ich bin nicht dafür geschaffen, und es gibt genug andere Berufe für Frauen." Dazu äußerte sich der Doktor nicht. Er forderte Araminta auf, sich zu beruhigen und auf ihn zu warten - er würde bald zurück sein. "Und wenn jemand kommt und fragt, was ich hier zu suchen habe?" "Dann berufen Sie sich auf mich." Der Doktor suchte die Ausbildungsleiterin auf und führte ein kurzes Gespräch mit ihr. Er setzte seinen ganzen Charme ein, brachte sie dazu, eiserne Regeln zu missachten und seinen Vorschlägen am Ende rundum zuzustimmen. Als er ins Chefarztzimmer zurückkam, stand Araminta am Fenster und sah hinaus. "Haben Sie inzwischen einen Entschluss gefasst?" fragte er. "Ja." Sie drehte sich um und sah ihn fest an. "Ich werde schon morgen früh um meine Entlassung bitten ... am liebsten fristlos, wenn das möglich ist." "Und was wollen Sie stattdessen tun?" "Es ist nett, dass Sie danach fragen, Doktor." Aramintas Stimme schwankte doch ein wenig. "Ich werde nach Hause fahren und mich nach einer Beschäftigung umsehen, für die ich geeigneter bin. Vielleicht steht mir das Kinderheim noch offen."
Sie wusste, dass man ihren Platz inzwischen neu besetzt hatte, aber das brauchte niemand zu wissen. "Ich fühle mich in gewissem Sinn für Ihre Situation verantwortlich", sagte der Doktor. "Ich habe Sie überredet, uns nach Holland zu begleiten, und Sie verspätet hier untergebracht. Es ist schwierig, das Versäumte nachzuholen, und Oberschwester Spicer..." "Es ist nicht nur die Oberschwester ..." "Setzen Sie sich, Minta." Der Doktor begann auf und ab zu gehen. "Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen - allerdings mit gewissen Bedenken, denn Sie haben vielleicht kein Vertrauen mehr zu mir. Ich habe eine Patientin, deren Sohn in Eastbourne eine Vorschule für Jungen leitet und händeringend eine zweite Hausmutter sucht. Die letzte musste kurzfristig Urlaub nehmen, um ihre kranke Mutter zu pflegen, und weiß nicht, wann sie zurückkommt. Ich hatte die Sache schon vergessen, bis wir uns heute Abend begegneten. Wäre diese Aufgabe - wenn auch nur vorübergehend - nicht etwas für Sie? Sie müssten sich natürlich vorstellen, aber mit Ihren Erfahrungen erscheinen Sie mir durchaus geeignet." "Jungen im Alter von fünf bis sechs Jahren?" fragte Araminta hoffnungsvoll. "Aber was ist mit meiner Kündigung? Und was das andere betrifft... natürlich habe ich Vertrauen zu Ihnen. Es war sehr freundlich, an mich zu denken." "Angenommen, man entlässt Sie fristlos, und Ihre Vorstellung fällt befriedigend aus ... Würden Sie dann in Eastbourne einspringen?" "Ja, Doktor, sehr gern. Mit Kindern umzugehen habe ich nun einmal gelernt. Kranke zu pflegen ist etwas ganz anderes." "Das ist mir klar. Wir sind uns also einig? Dann gehen Sie jetzt zur Ausbildungsleiterin und bitten Sie um Ihre Entlassung. Ich habe die Genehmigung schon erwirkt, aber wir müssen den Amtsweg einhalten. Ich werde mit meiner Patientin sprechen und sie bitten, alles mit ihrem Sohn zu klären. Sie werden dann
bald von ihm hören." Der Doktor ging zur Tür. "Ich fahre Sie morgen früh nach Hause. Seien Sie pünktlich um zehn Uhr auf dem Vorplatz." "Das ist nicht nötig", begann Araminta. "Ich kann sehr gut..." "Ja, ja, Minta, ich weiß. Ersparen Sie mir bitte jede Diskussion, und tun Sie einfach, was ich sage." Hätte er sie Miss Pomfrey genannt, hätte sie weiter widersprochen, aber er hatte Minta gesagt, noch dazu in halbwegs freundlichem Ton. Außerdem liebte sie ihn und hatte bereits gelernt, dass man dem Geliebten gern jeden Gefallen tat. "Wie Sie wünschen, Doktor", sagte sie und fügte höflich hinzu: "Guten Abend." Unbeschwert machte sie sich auf den Weg zur Ausbildungsleiterin, denn wenn der Doktor sagte, dass alles geklärt sei, dann stimmte das. Sie klopfte und wurde umgehend hereingebeten. Die Leiterin, wieder in einem schicken Kostüm, forderte sie auf, Platz zu nehmen. Sie hielte ein kurze, nicht unfreundliche Ansprache, riet Araminta, sich eine passendere Arbeit zu suchen, und entließ sie. "Vergessen Sie nicht, Ihre Tracht abzugeben und Miss Jeff zu benachrichtigen", sagte sie zum Schluss. "Oberschwester Spicer brauchen Sie nicht mehr aufzusuchen." Sie reichte Araminta die Hand. "Auf Wiedersehen, Schwester Pomfrey, und viel Glück."
11. KAPITEL Araminta wachte früh auf und dachte gleich an den Doktor. Es war wunderbar, dass das Schicksal sie noch einmal zusammengeführt hatte, wenn auch nur vorübergehend. Da er sich so große Mühe für sie gegeben hatte, würde sie die Stellung in Eastbourne in jedem Fall annehmen und so lange bleiben, wie es möglich war. Mit Kindern konnte sie umgehen. Sie würde Geld verdienen, in den Ferien nach Hause fahren und den Doktor wie bisher meiden. Das würde kaum schwierig sein, denn er half ihr zwar, aber weiter reichendes Interesse hatte er nicht an ihr. Sie hatte bereits gestern Abend gepackt und brauchte sich nur noch von ihren Kolleginnen und Miss Jeff zu verabschieden. Pünktlich um zehn Uhr stand sie vor dem Eingang des Krankenhauses. Sie hatte es lustlos betreten, aber der plötzliche Abschied hinterließ doch ein leeres Gefühl in ihr. Der Doktor kam kurz nach ihr, verstaute ihren Koffer und bat sie einzusteigen. Ein Blick in ihr Gesicht zeigte ihm, dass es besser war, vorerst zu schweigen. Araminta neigte an sich nicht zum Weinen, aber in letzter Zeit saßen ihr die Tränen locker, und es bedurfte nur eines falschen Worts, um sie fließen zu lassen. "Wir werden erst bei mir Kaffee trinken", sagte der Doktor, nachdem er sich in den dichten Vormittagsverkehr eingereiht hatte. "Briskett möchte sich von Ihnen verabschieden. Heute
Nachmittag um drei Uhr erwartet Mr. Gardiner Sie in Henley im ,Red Lion'. Fragen Sie am Empfang nach ihm." Briskett öffnete die Tür, sobald sie vor dem Haus hielten. "Der Kaffee steht im Wohnzimmer", meldete er. "Ihren Mantel, bitte, Miss Pomfrey." Während sie Kaffee tranken und Brisketts köstliche Vanilleplätzchen dazu knabberten, erzählte der Doktor von seinen Neffen. "Es geht ihnen gut, aber sie fragen viel nach Ihnen, und wenn ich sie sehe, tragen sie mir jedes Mal Grüße auf. Sie fehlen Ihnen, Minta." Der Doktor verschwieg, dass sie ihm genauso fehlte. Er musste langsam vorgehen, ihr Zeit lassen, sich zurechtzufinden und zu beweisen, dass sie auf eigenen Füßen stehen konnte. Er verhehlte sich längst nicht mehr, dass sie das einzig Wichtige in seinem Leben war, weil er sie liebte. Er hatte lange nach einer Frau gesucht, die er lieben konnte. Jetzt hatte er sie gefunden und war bereit zu warten. Der Doktor fuhr Araminta nach Hambledon und fand das Haus, abgesehen von Cherub, leer vor. Am Flurspiegel lehnte wieder ein Zettel, und da er sich Brisketts Rücksicht schenken konnte, nahm er ihn und las ihn laut vor. "Bin nach Kingston zum Einkaufen gefahren. Komme nach dem Tee zurück. Millicent." Er legte den Zettel wieder hin, ignorierte Aramintas empörten Blick und sah sich um. Briskett hatte ihm das Haus ausführlich beschrieben: hübsch, altmodisch, aber geschmackvoll eingerichtet und ohne menschliche Wärme. "Es passt mir gut, dass Tante Millicent in Kingston ist", bemerkte Araminta. "Ich habe viel zu tun ... besonders, wenn ich gleich in Eastbourne anfangen soll." Der Doktor fasste das als Wink auf, dass er unerwünscht war. Er hätte Araminta gern irgendwo zum Essen eingeladen, aber das hätte sie abgelehnt. Als sie ihm für die Fahrt und seine Hilfe bei der neuen Stellung dankte, gab er eine unverbindliche
Antwort und verabschiedete. sich. Es wäre falsch gewesen, den Wunsch nach einem Wiedersehen auszudrücken. In ein, zwei Monaten vielleicht.:. Araminta brach beim Abschied fast das Herz, aber sie hatte keine Zeit, sich ihrem Schmerz hinzugeben. In drei Stunden musste sie in Henley sein und sich im "Red Lion" Mr. Gardiner präsentieren. Bis dahin gab es noch viel zu tun. Mr. Gardiner war ein Mann von raschen Entschlüssen. Er war etwa Ende vierzig und zurückhaltend, fast verschlossen. Auf die wenigen sinnvollen Fragen, die er stellte, erwartete er sinnvolle Antworten. "Ich sorge für fünfzig Jungen", erläuterte er. "Da können Sie sich vorstellen, was es bedeutet, wenn die zweite Hausmutter plötzlich ausfällt. Wir kennen uns nicht, Miss Pomfrey, aber Dr. van der Breugh empfielt Sie - ein Mann, auf den meine Mutter große Stücke hält. Wir brauchen also nur noch über das Gehalt und die Arbeitsbedingungen zu reden." Auch dazu hatte Mr. Gardiner nur wenig zu sagen, und dann kam die entscheidende Frage: "Können Sie gleich anfangen? Vielleicht schon morgen?" Araminta war einverstanden. Wenn sie wieder etwas zu tun hatte, würde sie weniger an den Doktor denken. "Wäre Ihnen morgen Nachmittag recht?" fragte sie. "Einige Dinge müsste ich noch erledigen ..." "Natürlich, Miss Pomfrey, wir erwarten Sie dann zum Tee. Nehmen Sie am Bahnhof ein Taxi, und lassen Sie sich eine Quittung geben. Sie besitzen wohl keine Tracht? Ich werde die Hausmutter bitten, etwas herauszusuchen." Mr. Gardiner hatte Araminta zum Tee eingeladen, und als sie nach Hause kam, war Tante Millicent aus Kingston zurückgekehrt. Sie erbot sich, für das Abendessen zu sorgen, damit Araminta in Ruhe packen konnte. Nach dem Essen rief Mrs. Pomfrey an, und Araminta konnte ihr von der veränderten Lage erzählen.
"Als zweite Hausmutter in einer Vorschule?" fragte Mrs. Pomfrey. "Was für eine gute Idee, mein Kind! Ich weiß noch, wie gern du im Kinderheim gearbeitet hast. Schade, dass du nicht bei Dr. van der Breughs Neffen bleiben konntest. Du bist nun mal für den häuslichen Rahmen geschaffen, aber in Eastbourne wird es dir auch gefallen. Dein Vater und ich kommen bald nach Hause, denn der Verleger drängt auf Fertigstellung des Buchs. Vielleicht machen wir noch einen kurzen Abstecher nach Cornwall. Bei Bodmin sollen höchst interessante Funde gemacht worden sein." Es fiel Araminta schwer, Cherub schon wieder zu verlassen. Vielleicht kann ich ihn beim nächsten Mal mitnehmen, dachte sie, während sie im Zug nach Eastbourne saß. Sie sollte ein großes Zimmer bekommen, in dem er sich bestimmt wohl fühlen würde. Alles kam auf die erste Hausmutter an. Wenn sie nichts dagegen hatte... "Schlimmer als Oberschwester Spicer kann sie nicht sein", sagte Araminta halblaut vor sich hin. Die Schule lag dicht am Meer. Das Gebäude, in dem sie untergebracht war, hatte bessere Tage gesehen, aber das umliegende Gelände war offen und weitläufig. Es gab mehrere Tennisplätze, einen Kricketrasen und einen überdachten Swimmingpool. Ein freundliches Hausmädchen führte sie direkt in Mr. Gardiners Büro. Er begrüßte sie herzlich und schlug vor, sich in allen weiteren Fragen an die Hausmutter zu wenden. "Ich bringe Sie zu ihr hinauf, damit Sie sich bekannt machen können", sagte er. "Die Jungen kommen bald zum Abendessen, anschließend dürfen sie noch eine halbe Stunde aufbleiben. Vielleicht gehen Sie der Hausmutter heute Abend ein bisschen zur Hand, dann bekommen Sie schnell einen Eindruck von der Arbeit, die Sie erwartet." Die Hausmutter bewohnte ein Wohn- und ein Schlafzimmer im ersten Stock, dicht bei der Krankenstation. Sie war noch
jung, hatte ein rundes, lustiges Gesicht und hieß Araminta warmherzig willkommen. "Die Arbeit ist angenehm", vertraute sie ihr bei einer Tasse Tee an. "Die Gardiners sind nette, verantwortungsbewusste Leute, aber eine Hausmutter allein kann es nicht schaffen. Sie mögen Kinder? Mr. Gardiner hat mir erzählt, dass Sie im Kinderheim gearbeitet haben." Aramintas Zimmer lag auch im ersten Stock, aber auf der anderen Seite des Hauses. Es war groß und hübsch möbliert, hatte eine eigene Dusche und Zentralheizung. Zum Teekochen stand ein kleiner Gasherd zur Verfügung. "Etwas Besseres konnte ich nicht finden", sagte die Hausmutter und zeigte auf zwei blau-weiß gestreifte Kleider, die auf dem Bett lagen. "Probieren Sie beide an, vielleicht passt eins. Das andere wird dann entsprechend geändert." Sie zögerte. "Mr. Gardiner nennt mich immer Hausmutter, aber ich heiße Norma Pagett. Als zweite Hausmutter gebührt Ihnen dieselbe Anrede, zumindest vor den Schülern, aber ..." "Würden Sie mich Minta nennen? Eigentlich heiße ich Araminta, aber Minta ist kürzer und praktischer. Soll ich Miss Pagett sagen?" . "Um Himmels willen, nein! Ich bin Norma und sonst nichts. Wir werden uns bestimmt gut verstehen." Norma ließ Araminta allein, damit sie die Kleider anprobieren konnte. Eins saß erträglich, deshalb behielt sie es gleich an, packte aus und kehrte in Normas Wohnung zurück. Vor dem Abendessen war gerade noch genug Zeit, sich einen Einblick in die Arbeit geben zu lassen. Als Araminta wenig später am Kopfende eines langen Tisches saß und eine Schar kleiner Jungen beim Essen beaufsichtigte, überkam sie ein Gefühl der Zufriedenheit. Sie war nicht glücklich, aber es schien ihr, als hätte sie endlich die richtige Aufgabe gefunden. Sie würde nie eine Karrierefrau sein.
An einem angenehmen und geschützten Ort etwas Vernünftiges tun - mehr wollte sie nicht. Erst als sie im Bett lag, revidierte sie diese Einstellung ein wenig. Es gab etwas, das ihr noch mehr bedeutet hätte: den Doktor wieder zu sehen und ab und zu mit ihm zusammen zu sein. Araminta brauchte nur wenige Tage, um sich einzuarbeiten. Norma hatte alles gut organisiert, so dass sie sich mit ihren Aufgaben ergänzten und nicht in die Quere kamen. Die Arbeit war anstrengend, aber befriedigend, und nur eins fiel Araminta schwer ... nicht an den Doktor zu denken. Am Wochenende sollten die Schüler drei Tage Urlaub bekommen, und Norma schlug Araminta vor, sich die freien Tage zu teilen. "Ich nehme die Zeit von Freitagabend bis Sonntagmittag", erläuterte sie, "dann bleiben Ihnen der halbe Sonntag und der ganze Montag. Achten Sie nur darauf, dass Sie bis zum Abend zurück sind. Mr. Gardiner ist es egal, wie wir uns die Zeit aufteilen. Es muss nur eine von uns im Haus sein, weil einige Jungen hier bleiben. Nicht viele ... höchsten sechs oder sieben, deren Eltern verreist sind und die sonst niemanden besuchen können." Freitagmorgen bekam Araminta einen Brief. Da sie die Schrift nicht kannte, konnte er weder von ihren Eltern noch von Tante Millicent sein. Sie öffnete ihn mit klopfendem Herzen, aber die heimliche Hoffnung, er könnte vom Doktor sein, erfüllte sich nicht. Die Schrift war zu gleichmäßig und klar, während man die des Doktors kaum lesen konnte. Der Brief kam von Lucy Ingram. "Marcus hat mir Ihre neue Adresse gegeben", schrieb sie, "denn ich habe eine Bitte an Sie. Würden Sie Ihre nächsten freien Tage bei uns in Oxford verbringen? Peter und Paul haben große Sehnsucht nach Ihnen. Wenn ich nicht falsch unterrichtet bin, schließen die Schulen an diesem Wochenende. Trifft das auch bei Ihnen zu? Ich würde
mit dem Auto kommen und Sie abholen. Bitte machen Sie es möglich, wir würden ganz unter uns sein." Araminta sagte noch am selben Abend telefonisch zu. Sie freute sich darauf, die Zwillinge wieder zu sehen, und vielleicht erfuhr sie bei den Ingrams etwas über den Doktor. Als sie einwandte, dass es für anderthalb Tage eine ziemlich weite Fahrt sei, meinte Lucy nur: "Die M4, die M25 und dann geradeaus bis Eastbourne. Es ist nur ein Katzensprung, Minta. Ich bin Sonntagmittag da. Wir freuen uns schon sehr." Lucy war pünktlich und hielt um zwölf Uhr vor der Schule. "Habe ich Sie auch nicht warten lassen?" fragte Araminta ängstlich. "Wir waren in der Kirche, und die Schüler wollten auf dem Rückweg unbedingt noch zum Strand." "Ich warte höchstens fünf Minuten, Minta. Ist es Ihnen recht, wenn wir unterwegs etwas essen? Die Zwillinge erwarten uns gegen drei Uhr zum Tee." "Was für eine nette Idee, mich einzuladen, Lucy! Ehrlich gesagt hatte ich nicht damit gerechnet, Sie oder die Zwillinge wieder zu sehen." Lucy fuhr schnell, denn Sonntagmittag herrschte kaum Verkehr. "Gefällt es Ihnen in der Schule? "Sehr. Ich bin erst eine Woche hier, aber die Stellung ist genau das, was ich mir gewünscht habe. Als Krankenschwester war ich ein hoffnungsloser Fall. Dr. van der Breugh begegnete mir zufällig im Krankenhaus, regelte meine Kündigung und nannte mir diese Schule. Ich bin ihm sehr dankbar." "Hilfsbereitschaft ist eine von Marcus' guten Eigenschaften, aber er arbeitet zu viel. Wir bekommen ihn fast nie zu sehen. Zum Glück gibt es das Telefon, sonst würden wir uns bald nicht mehr kennen." Die Fahrt verlief schneller, als Araminta gedacht hatte. In einer Raststätte an der Autobahn aßen sie einen leichten Lunch und brauchten danach noch eine knappe Stunde. Kurz vor drei
Uhr hielten sie vor dem Haus in Oxford, genau wie Lucy versprochen hatte. Die Zwillinge begrüßten Araminta stürmisch. Sie beteuerten, wie sehr sie sie vermisst hätten, und fragten, warum sie so weit weg wohnen müsse. "Wie lange bleibst du?" wollte Peter wissen. "Wir haben so viel zu erzählen, aber zuerst musst du mit uns in den Garten kommen und dir die Goldfische ansehen." Es gab eine üppige Teemahlzeit, und danach wurde bis zum Abendessen gespielt. Araminta durfte die Zwillinge ins Bett bringen und revanchierte sich mit einer Gutenachtgeschichte. "Ganz wie bei Onkel Marcus", sagte Peter, dem schon die Augen zufielen. Araminta half Lucy bei der Vorbereitung des Dinners, und danach ließen sie den Tag am Kamin ausklingen. Die Ingrams waren anregende Gesprächspartner. Sie redeten über Gott und die Welt, und nur ein Thema blieb ausgespart: Marcus. Es war noch dunkel, als die Zwillinge in Aramintas Zimmer kamen und auf ihr Bett krabbelten. "Wir wollten dich eigentlich nicht wecken", gestand Peter, "aber heute Nachmittag fährst du schon wieder ab, und jetzt ist die beste Zeit zum Erzählen." Der Tag verging viel zu schnell. Sie konnten bei dem kalten, regnerischen Novemberwetter keinen Spaziergang machen, aber es gab auch drinnen genug Abwechslung. Am frühen Nachmittag, als die Zwillinge mit ihrem Vater die Goldfische fütterten und Araminta mit Lucy gemütlich im Wohnzimmer saß, kam der Doktor herein. Er nickte seiner Schwester zu und sagte: "Hallo, Minta." Araminta war zu überrascht, um ihre Freude zu verbergen. Sie strahlte den Doktor an, was er mit Genugtuung bemerkte, und errötete gleichzeitig. "Guten Tag, Doktor", sagte sie und versuchte eine würdigere Miene aufzusetzen.
"Was für eine nette Überraschung, Marcus!" Lucy stand auf und küsste ihren Bruder auf die Wange. "Du kommst gerade richtig zum Tee. Danach muss Minta leider wieder fort." Der Doktor sah auf die Uhr. "Sie müssen sicher da sein, um die Schüler zu empfangen. Wenn wir um vier Uhr abfahren, sind Sie rechtzeitig zurück." Araminta wollte etwas sagen, aber Lucy kam ihr zuvor. "Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn Marcus Sie zurückfährt?" fragte sie. "Schließlich kennt ihr euch gut, und es wird euch nicht an Gesprächsstoff fehlen." Die Aussicht, mehrere Stunden mit dem Doktor zusammen zu sein, entzückte Araminta, aber die Höflichkeit erforderte es zu widersprechen. "Sie würden einen großen Umweg machen, Doktor." "Es interessiert mich, zu hören, wie es Ihnen in der Schule geht", antwortete er gelassen. "Wenn die Zwillinge aus dem Garten kommen, wird man kaum noch sein eigenes Wort verstehen." Die Voraussage erfüllte sich. Peter und Paul stürzten sich auf ihren Onkel und beanspruchten ihn bis zum Tee, für den Lucy diesmal im Esszimmer deckte. Es gab hauchdünn geschnittenes Schwarzbrot mit Butter, Rosinentörtchen, warme Hefetaschen, Schokoladenkuchen und eine Obsttorte. "Die Zwillinge haben die Auswahl getroffen", erklärte Lucy. "Sie haben sich angeblich nach Ihrem Geschmack gerichtet, Minta, aber wohl eher an sich selbst gedacht. Der Nachmittagstee ist bei uns immer eine echte Mahlzeit. Eine dünne Tasse Tee mit einem trockenen Haferkeks ist nicht unsere Sache." Sie sah den Doktor an. "Hattest du Zeit zum Lunch, Marcus?" "O ja. Briskett hat heute seinen freien Tag, aber er bereitet immer etwas vor." Das klang ziemlich vage, und wenig später mahnte der Doktor zum Aufbruch.
Araminta holte ihre Tasche und verabschiedete sich. Das nahm geraume Zeit in Anspruch, denn Peter und Paul wollten sie nicht gehen lassen, "Araminta wird bald wieder kommen", versuchte ihr Vater sie zu trösten. "Sie hat regelmäßig Ferien - genau wie ihr." Die Aussicht erleichterte den Zwillingen den Abschied. Sie umarmten Araminta, begleiteten sie zum Auto und winkten ihr nach, solange sie sie sehen konnten. Der Doktor fragte Araminta, ob sie es bequem habe, und schwieg dann. Erst als es dämmerte und sie sich London näherten, begann er ein lockeres Gespräch. Er wollte Araminta helfen, sich zu entspannen, denn sie saß stocksteif neben ihm und erweckte den Eindruck, als würde sie am liebsten aus dem Auto springen. Sie hatte bei den Ingrams kaum mit ihm gesprochen, und jetzt behandelte sie ihn fast wie einen Fremden. Er war mit dem Vorsatz nach Oxford gekommen, ihr einen Heiratsantrag zu machen, aber ihre ablehnende Haltung machte das unmöglich. Sie hielt ihn bewusst auf Abstand und das, nachdem sie ihn noch vor einer Woche mit allen Anzeichen der Freude und Erleichterung umarmt hatte! Vielleicht wollte sie ihm klarmachen, dass sie ihn jetzt, da sie eine passende Stellung gefunden hatte, nicht mehr brauchte. "Fühlen Sie sich in der Schule wohl?" fragte er, als sie die Autobahn verlassen hatten. "Würden Sie bleiben, wenn Sie die Möglichkeit hätten, oder lieber etwas anderes suchen? Sie könnten sich in einem anderen Krankenhaus bewerben." "Nein, das wäre ein Fehler. Außerdem hoffe ich, in der Schule bleiben zu können. Die erste Hausmutter will im nächsten Jahr aufhören. Mit etwas Glück nimmt man mich vielleicht als Nachfolgerin. Ich würde dort für den Rest meines Lebens sehr glücklich sein." Das klang trotzig, als erwartete sie Widerspruch. Doch der Doktor widersprach nicht. Er gab nur einen zustimmenden Laut
von sich, was sie hätte freuen müssen, aber seltsamerweise enttäuschte. "Dann haben Sie jetzt Ihren Platz gefunden", bemerkte er nach einer längeren Pause. "Möchten Sie denn nicht heiraten? Ein eigenes Heim, einen Mann und Kinder haben?" Araminta hätte fast gesagt, dass sie sich nichts sehnlicher wünschte, aber welchen Sinn hätte das gehabt? Wo sollte das Heim, wo der Mann herkommen? Sie wünschte sich nur einen Mann - den, der neben ihr saß und doch so weit weg war, als lebte er auf dem Mond. "Und Sie, Doktor?" fragte sie, um das Gespräch von sich abzulenken. "Wünschen Sie sich keine Frau und Kinder?" "O doch, und ich hoffe, in absehbarer Zeit beides zu bekommen." Christina Lutyns, dachte Araminta, aber sie wird ihn unglücklich machen. "Das freut mich." Eine alberne Antwort, aber was hätte sie sagen sollen? Sie überlegte, wie sie mehr aus dem Doktor herausbekommen könnte, aber ihr fiel nichts ein. "Ist sie schön?" fragte sie aufs Geratewohl und errötete gleich darauf. Zum Glück war es so dunkel, dass der Doktor ihr Gesicht nicht erkennen konnte. "Für mich ist sie das bezauberndste Geschöpf auf der Welt", antwortete er so ruhig, als hätte sie eine ganz normale Frage gestellt. "Dann werden Sie hoffentlich sehr glücklich." "Davon bin ich überzeugt. Wie gefielen Ihnen die Zwillinge?" Ein so schroffer Themenwechsel konnte nicht überhört werden. Araminta hatte das Gefühl, kurz abgefertigt zu werden, und beschränkte sich im weiteren Verlauf des Gesprächs auf kurze, höfliche Antworten. Sie ist wieder vorsichtig geworden, dachte der Doktor, und sie will mich mit ihren Zukunftsplänen beeindrucken. Doch sie
ist nicht glücklich, das erkenne ich an ihrer Haltung und den verkrampften Händen. Er hätte ihr gern seine Liebe gestanden, aber das machte sie ihm unmöglich. Nun, er konnte warten. In einer Woche vielleicht ... Sie erreichten Eastbourne, und der Doktor sah auf die erleuchtete Uhr am Armaturenbrett. "Zehn Minuten vor sechs. Müssen Sie gleich mit dem Dienst anfangen?" "Das nehme ich an. Es wird viel auszupacken sein, und dann gibt es Abendessen." Der Doktor hielt vor dem Schuleingang, und Araminta löste ihren Sicherheitsgurt. "Danke, dass Sie mich hergebracht haben", sagte sie. "Es war ein wunderschönes Wochenende. Nein, steigen Sie bitte nicht aus. Sie wollen sicher möglichst schnell nach Hause." Der Doktor ignorierte das. Er stieg aus, öffnete Araminta die Tür und holte ihre Tasche aus dem Kofferraum. Araminta streckte die Hand aus. "Auf Wiedersehen, Dr. van der Breugh." Der Doktor übersah die ausgestreckte Hand und begleitete Araminta bis in die Eingangshalle. Dort küsste er sie so hingebungsvoll, dass sie ihn fast wieder umarmt und sich fest an ihn gedrückt hätte. "Auf Wiedersehen, Minta", sagte er, stieg wieder in sein Auto und fuhr davon. Araminta sah ihm nach und versuchte ihren inneren Aufruhr in den Griff zu bekommen. Was hatte der Kuss bedeuten sollen? War es ein Abschiedskuss gewesen? Der Doktor wollte heiraten, und sie würde in seinem Leben keine Rolle mehr spielen. Richtiges Interesse hatte er nie an ihr gehabt. Er hatte sich um sie gekümmert, aber eigentlich nur, weil die Umstände es ergeben hatten. Araminta war jetzt doppelt froh, dass sie eine berufliche Zukunft hatte. Es gab viele Frauen wie sie, die aufs Heiraten
verzichteten und für ihren Beruf lebten. Warum sollte sie nicht eine dieser Frauen sein? Niemand würde sich daran stören. Ihre Eltern wollten zwar, dass sie glücklich wurde, aber ob sie heiraten oder ledig bleiben würde, lag jenseits ihrer Interessen. An diesem Abend konnte Araminta lange nicht einschlafen. Sie wälzte sich unruhig hin und her und sah alle halbe Stunde auf die Uhr. Erst gegen Morgen fiel sie in unruhigen Schlaf und träumte von Marcus.
12. KAPITEL An ihrem nächsten freien Tag blieb Araminta in der Schule. Ihre Eltern wollten erst in der nächsten Woche zurückkommen, und dann begannen auch schon die Winterferien. Warm angezogen machte sie einen langen Spaziergang am Strand. Es war windig und regnerisch, aber sie merkte wenig davon, denn ihre Gedanken waren bei Marcus. Sie würde ihn nicht wieder sehen, so viel war jetzt sicher. Ihre Begegnung bei den Ingrams war reiner Zufall gewesen, und nach Lucys Aufforderung hatte er es kaum ablehnen können, sie nach Eastbourne zurückzubringen. "Ich muss ihn vergessen!" rief sie laut in die Brandung. Nachdem sie sich müde gelaufen hatte, kehrte sie um und ließ sich vom Wind zurücktreiben. Sie aß in einem hübschen kleinen Restaurant zu Mittag und machte anschließend Einkäufe. Zahnpasta, Handcreme, einen neuen Kamm, Ingwernüsse für Norma und etwas zu lesen ... alles keine aufregenden Dinge, aber sie halfen, die Zeit herumzubringen. Nachdem sie noch Tee getrunken und ein großes Stück Torte dazu gegessen hatte, war ihr Programm erschöpft. Es blieb nichts mehr übrig, als in die Schule zurückzukehren. Sie kaufte sich noch einige belegte Brote für den Abend und beschloss, es sich in ihrem Zimmer gemütlich zu machen und zu lesen. Es war ein schöner freier Tag gewesen. Einer, von denen jetzt viele kommen würden ...
Am nächsten Wochenende fuhr sie für einen Tag nach Hause. Die Bahnfahrt nach London und weiter nach Henley war langweilig, und sie freute sich, als sie ihren Vater am Bahnhof entdeckte. Er drückte seine Befriedigung über ihr gutes Aussehen aus und begann dann mit einem ausführlichen Bericht über die Vortragsreise. Sie war ein Erfolg gewesen, ein ganz großer, und sollte wahrscheinlich schon im nächsten Jahr fortgesetzt werden. Ihre Mutter erwartete sie zu Hause. "Du siehst wohl aus, mein Kind", begrüßte sie Araminta. "Diese nette Aufgabe scheint dir zu bekommen. Hat dein Vater dir von unserem Erfolg erzählt? Sicher hat er sehr viel ausgelassen ..." Selbst wenn Araminta gewollt hätte, ein Gespräch mit ihren Eltern war nicht möglich. Sie liebten ihre Tochter, aber wer konnte schon mit den Kelten konkurrieren? Sie hatten schon lange vor Aramintas Geburt zu ihrem Leben dazugehört, und die verspätete Ankunft einer Tochter war nur eine Störung gewesen. Eine vorübergehende Störung, denn es gab schließlich Kinderfrauen und später die Schule. Araminta hatte früh gelernt, unabhängig zu sein, und das kam ihr jetzt zugute. Sie lauschte dem Bericht ihrer Eltern, machte ab und zu eine passende Bemerkung und kümmerte sich dann um das Mittagessen, denn Tante Millicent war in Henley beim Zahnarzt. Erst viel später, beim Nachmittagstee, fragte Mrs. Pomfrey: "Hat es dir in Holland bei den Zwillingen gefallen? Dr. Jenkell hat uns erzählt, was für ein netter Mann ihr Onkel sei. Hat man dich gut behandelt?" "O ja, und die Zwillinge waren die reine Freude. Wir sind prächtig miteinander ausgekommen, und Holland ist ein hübsches Land. Utrecht erinnert in vielem noch ans Mittelalter ..." "Das kann ich mir denken. Schade, dass du keine Zeit gefunden hast, die .Hunebedden' in Drenthe und die ,Terps' in
Friesland zu besuchen. Wie schlau von diesen frühen, ungebildeten Menschen, ihre Dörfer auf Erdhügeln zu errichten! Ich hoffe, dein Vater und ich finden irgendwann Gelegenheit, selbst hinzufahren. Es dürfte nicht schwierig sein, etwas zu arrangieren. Dein Vater hat gute Kontakte zur Universität in Groningen." Araminta schenkte Tee nach und reichte den Kuchen herum. "Bleibt ihr vorläufig zu Hause?" "Nur bis nächste Woche, Schatz. Dein Vater ist aufgefordert worden, in Südirland mehrere Vorträge zu halten, und ich begleite ihn natürlich. Ich kann bei der Gelegenheit noch einiges überprüfen, was für unser Buch wichtig ist. Es kommt hoffentlich im Frühjahr heraus." "Ich bekomme drei Wochen Winterferien." "Wie nett, mein Kind! Du verbringst sie doch bei uns?" "Natürlich, Mom." Araminta wandte sich an Tante Millicent. "Ich könnte dich ablösen, wenn du einige Tage verreisen möchtest." Tante Millicent zögerte nicht, den Vorschlag anzunehmen. In der Schule ging es, wie immer vor den Winterferien, besonders lebhaft zu. Das jährliche Theaterstück sollte aufgeführt werden, und bei einem Konzert, dessen Programm noch nicht feststand, sollte Araminta Klavier spielen. Sie begrüßte den Trubel, denn er ließ ihr wenig Zeit zum Grübeln. Jeden Abend beim Schlafengehen redete sie sich ein, dass sie Marcus schnell vergessen würde, aber sobald sie die Augen schloss, war sein Bild da. Alle vertrauten Einzelheiten tauchten vor ihr auf: die Fältchen in den Augenwinkeln, die kleine Einkerbung auf der Nase, wo er die Lesebrille trug, der schmale, feste Mund, die Linien, wenn er erschöpft war ... Es würde doch länger dauern, ihn zu vergessen. Vor dem Beginn der Ferien luden die Gardiners das Schulpersonal zu sich ein. Araminta kannte alle Lehrer, obwohl sie kaum mit ihnen zusammenkam. Sie zog das Jackenkleid aus
Utrecht an und holte Norma ab, um nicht allein gehen zu müssen. Es gab trockenen Sherry und verschiedenes Gebäck, und es wurde ausschließlich über den Unterricht gesprochen, so dass sich Araminta und Norma etwas isoliert vorkamen. Nur die Musik- und die Französischlehrerin zogen die beiden Hausmütter ab und zu ins Gespräch. Der letzte Tag kam, und die Schüler fuhren in die Ferien. Araminta hatte alle Hände voll zu tun, Betten abzuziehen, Schubladen und Schränke zu kontrollieren, Wolldecken zu zählen und die Wäschevorräte zu sichten. Als sie endlich reisefertig war, ging sie zu Mr. Gardiner, um sich zu verabschieden. "Ah, Miss Pomfrey, Sie wollen Auf Wiedersehen sagen. Sie haben sich großartig eingearbeitet, und ich bin sehr zufrieden mit Ihnen. Sie haben uns aus einer echten Notlage geholfen." Mr. Gardiner lehnte sich auf seinem Schreibtischstuhl zurück und lächelte. "Leider kann ich Ihnen keine feste Position in unserm Haus anbieten. Die zweite Hausmutter hat mir geschrieben. Ihre Mutter ist gestorben, und sie bittet deshalb, ihr den alten Posten wiederzugeben. Da sie seit Jahren bei uns arbeitet, fühle ich mich natürlich dazu verpflichtet. Es wird Ihnen nicht schwer fallen, anderswo unterzukommen. Ich würde Sie überall empfehlen, wenn Sie es wünschen. An Hausmüttern fehlt es eigentlich immer." Araminta schwieg. Sie war zu enttäuscht und zu schockiert, um ein Wort zu sagen. Die Zukunft, die sie sich so fein zurechtgelegt hatte, lag jetzt als Scherbenhaufen vor ihr. Wie hatte sie sich auch einreden können, ihre Vorgängerin würde nicht zurückkommen? Mr. Gardiner hustete. "Wir bedauern den Verlust natürlich sehr, Miss Pomfrey, aber Sie werden verstehen ..." "Natürlich, Mr. Gardiner." Der Direktor atmete auf. "Die Post ist eben gebracht worden. Es ist auch ein Brief für Sie dabei." Er gab ihn ihr und stand auf.
"Wissen Sie schon, wann Ihr Zug fährt? Bleiben Sie so lange, wie Sie möchten." "Vielen Dank, Mr. Gardiner. Ich habe mir schon ein Taxi bestellt." Sie gab dem Direktor die Hand und lächelte, was ihr nur mit Mühe gelang. Dann verließ sie schnell das Zimmer. In der Halle setzte sie sich hin und öffnete den Brief. Er war von ihrer Mutter und enthielt die Nachricht, dass sie und Aramintas Vater eine überraschende Einladung nach Italien erhalten hätten, um einige äußerst interessante Funde zu besichtigen. "Ideales Material für unser Buch", hieß es weiter. "Wann wir zurückkommen, weiß ich noch nicht, aber du hast ja Tante Millicent und sehnst dich nach dem Trubel in der Schule sicher nach Ruhe." Araminta las den Brief zwei Mal, denn der Inhalt wollte ihr einfach nicht in den Kopf. Doch ein Irrtum war ausgeschlossen. Da stand alles schwarz auf weiß, in der glatten, flüssigen Handschrift ihrer Mutter. Sie faltete den Brief wieder zusammen und ging zum Telefon, das in der Halle angebracht war. Tante Millicent war am Apparat. "Ich habe gerade einen Brief von meiner Mutter bekommen", erzählte Araminta. "Eine ziemliche Überraschung, muss ich sagen. Ich nehme hier den Fünfuhrzug und bin rechtzeitig zum Abendessen da." Eine Weile herrschte Schweigen, dann sagte Tante Millicent: "Ich werde nicht hier sein, Araminta. Hat deine Mutter das denn nicht geschrieben? Nein, sie hat es wohl vergessen. Ich bin im Begriff, das Haus zu verlassen. Großtante Kate ist krank, und ich fahre nach Bristol, um sie zu pflegen. Der Kühlschrank ist voll, und Cherub hat sein Futter bekommen. Es tut mir Leid, Kind. Deine Eltern sind überstürzt abgereist und hatten ihre Gedanken wohl schon woanders." Araminta fand endlich ihre Stimme wieder. Sie klang nicht wie sonst, sondern unangebracht heiter. "Mach dir keine Sorgen, Tante Millicent. Ich bin gern allein, vor allem nach all der
Betriebsamkeit hier. Ich kann immer alte Freunde im Dorf besuchen. Oh, da kommt mein Taxi, ich muss aufhören. Schreib mir aus Bristol, wie es euch geht. Ich bleibe drei Wochen zu Hause, vielleicht kommst du dann schon zurück." Das Taxi war tatsächlich vorgefahren. Es war noch zu früh für den Zug, aber Araminta hatte die Absicht gehabt, ihr Gepäck am Bahnhof zu lassen und spazieren zu gehen. Jetzt wollte sie nur noch weit weg, irgendwohin, wo keine Menschen waren. Nachdenken konnte sie später, wenn sie mit ihrer Enttäuschung fertig geworden war. "Würden Sie über die Strandpromenade fahren?" bat sie den Chauffeur. "Ich sage Ihnen, wo ich aussteigen will." Es dämmerte bereits, und der Wind war kalt. Kein Mensch war auf der Promenade, nur die Brandung rauschte, und die Möwen schrien. Araminta bat den Fahrer zu halten, stieg aus, nahm ihr Gepäck und ließ ihn weiterfahren. In der Nähe stand ein offener Pavillon mit verglasten Seitenwänden, der Schutz gegen den Wind bot. Dorthin setzte sie sich und sah aufs Meer hinaus. Es war kalt, aber das merkte sie nicht. Alles, was sie tun konnte, war, nicht den Mut zu verlieren. Für einen Moment drohte die Verzweiflung sie zu überwältigen. Die Stellung, in der sie sich so wohl gefühlt hatte, gab es nicht mehr, und zu Hause erwartete sie kein Mensch. "Selbstmitleid führt zu nichts", ermahnte sie sich laut. "Versuch das Positive zu sehen." Sie begann an den Fingern abzuzählen. "Ich habe Geld, ich habe ein Zuhause, ich kann mir eine neue Stellung suchen, meine Eltern leben noch, und Cherub erwartet mich." Das waren die positiven Aspekte, und an die negativen wollte sie jetzt nicht denken. Sie musste nur irgendwann aufstehen und zum Bahnhof gehen, sonst würde sie die ganze Nacht in dem Pavillon sitzen. Ein Schritt nach dem anderen, sagte sie sich. Du wirst in ein leeres Haus kommen, aber warte, bis es so weit ist.
Denk an die Freunde, die du im Dorf hast. Es waren Freunde, zu denen sie längst den Kontakt verloren hatte. Denk daran, dass deine Eltern überall geachtet und geschätzt sind. Das machte die Einsamkeit nicht erträglicher. Denk an ... Plötzlich konnte Araminta nicht mehr. Die Tränen, die sie so tapfer zurückgehalten hatte, liefen ihr unaufhörlich über die Wangen. Der Doktor wusste, dass die Winterferien begonnen hatten. Er wusste auch, an welchem Tag Araminta nach Hause fahren würde. Die alte Mrs. Gardiner war nur zu bereit gewesen, bei ihrem letzten Besuch in der Praxis mit ihm zu plaudern. "Kollegium und Hauspersonal bleiben noch einen Tag länger in der Schule", vertraute sie ihm an. "Schließlich gibt es viel zu ordnen und aufzuräumen. Meine Schwiegertochter Miriam hat mir erzählt, dass die Hausmütter erst am späteren Nachmittag abreisen. Danach herrscht dann endlich die ersehnte Ruhe." Der Doktor entwarf einen genauen Plan, arbeitete von früh bis spät in die Nacht und erreichte sein Ziel. Mittags um zwei Uhr verließ er das St. Jules Hospital in Richtung Eastbourne. Araminta war seit zehn Minuten fort, als er vor der Schule hielt. "Sie wollte den Fünfuhrzug nehmen", erklärte das Hausmädchen, das ihm die Tür geöffnet hatte. "Ich sagte ihr, es sei noch zu früh, aber sie wollte irgendwo Tee trinken." Der Doktor bedankte sich, fuhr wieder in die Stadt und begann mit der Suche nach Araminta. Erst im Bahnhof, dann in den Teestuben, Cafés und Snackbars ... Araminta blieb verschwunden. Sie hatte sich offenbar in Luft aufgelöst. Der Doktor kehrte zum Bahnhof zurück. Er war müde, zornig und besorgt, aber das sah man ihm nicht an. Er fragte am Fahrkartenschalter, sprach mit den Gepäckträgern und ging schließlich zum Taxistand, wo mehrere Wagen auf den nächsten Zug aus London warteten. Bei dem dritten Fahrer, der lässig an seinem Auto lehnte und rauchte, hatte er Glück. "Eine junge Dame? Mit einem Koffer?
Sie wollte von der Schule zum Bahnhof, überlegte es sich unterwegs aber anders. Suchen Sie sie?" Der Doktor nickte. "Würden Sie mir sagen, wohin Sie sie gefahren haben?" Der Taxifahrer zögerte. "Das könnte ich tun, aber vorher wusste ich gern, wer Sie sind." "Ihre Vorsicht ist berechtigt. Ich heiße van der Breugh und bin Arzt in London. Die junge Dame heißt Miss Araminta Pomfrey und ist meine zukünftige Frau. Wenn Sie mich zu ihr bringen, können Sie warten, bis ich mit ihr gesprochen habe, und uns wieder hierher zurückfahren." Der Doktor lächelte. "Sie dürfen natürlich auch bei dem Gespräch dabei sein." Der Mann sah ihn misstrauisch an. "Ich bringe Sie hin", sagte er nach reiflicher Überlegung. "Und ich warte." Araminta war so in ihre traurigen Gedanken vertieft, dass sie das Taxi nicht kommen hörte. Sie nahm auch die Schritte des Doktors nicht wahr und hob erst den Kopf, als er leise sagte: "Hallo, Minta." "Oh", war alles, was sie antworten konnte. Dem Doktor genügte das. Er nahm ihren Koffer und forderte sie kurzerhand auf: "Kommen Sie, wir gehen woanders hin. Hier ist es zu kalt." "Nein", erklärte Araminta schroff. "Ich fahre nach Hause." "Ja, gewiss, aber nun kommen Sie schon. Das Taxi wartet." Das plötzliche Auftauchen des Doktors hatte Araminta völlig durcheinander gebracht. Sie folgte ihm über die Promenade zum Taxi und lächelte schwach, als der Fahrer fragte, ob alles in Ordnung sei. Sie fror, ihr Kopf fühlte sich leer an, und sie konnte nicht klar denken. Sie widersprach nicht mehr und ließ sich willig zu einer Teestube bringen, deren erleuchtete Fenster sie in der Dunkelheit willkommen hießen. Sie wartete geduldig, bis der Doktor das Taxi bezahlt hatte, folgte ihm in die Teestube und setzte sich an den Tisch, den er ihr bezeichnete.
Die Stube war gut besucht, denn es war bereits nach sechs Uhr. Der Doktor gab seine Bestellung auf, zog seinen Mantel aus und half Araminta aus ihrer warmen Jacke. Die wenigen Minuten genügten, und Araminta hatte ihre Fassung wiedergewonnen. "Warum haben Sie mich hierher gebracht?" fragte sie frostig. "Um eine Auskunft von Ihnen zu bekommen. Die Schule ist geschlossen. Alle sind nach Hause gefahren, nur Sie sitzen mit Ihrem Koffer auf der Promenade. Warum, Minta?" Seine Stimme hätte Marmor zum Schmelzen gebracht, und Araminta war nur aus Fleisch und Blut. "Ich bin entlassen worden", antwortete sie. "Meine Vorgängerin kommt zurück. Darum wollte ich noch eine Weile hier bleiben." "Aber aus welchem Grund?" Der Doktor sprach wie zu einem verängstigten Kind. "Nun", begann Araminta, "es ist nicht sehr verlockend für mich, nach Hause zu fahren. Meine Eltern sind in Italien - die Kelten haben mal wieder gerufen -, und Tante Millicent ist nach Bristol gefahren, um Großtante Kate zu pflegen. Außer Cherub ist niemand da ..." Der Doktor begriff, dass nur ein alter Kater sie noch mit ihrem Zuhause verband. Er sagte nichts, aber sein Schweigen war so tröstlich, dass Araminta nach einer Pause fortfuhr: "Es wird leicht sein, eine neue Stellung zu finden. Ich bringe gute Voraussetzungen mit." In einer Welt der Diplome und Abschlusszeugnisse war das mehr als übertrieben, aber das hätte Araminta niemals zugegeben - weder sich selbst noch einem anderen. Der Doktor beobachtete sie schweigend, bis sie sagte: "Ich muss gehen." Sie war noch nie in ihrem Leben so unglücklich gewesen, aber sie wollte nicht auch noch in Tränen ausbrechen. "Ich frage mich wirklich, warum ich hier meine Zeit verschwendet habe. Waren Sie vielleicht neugierig?"
"Allerdings." Der Doktor hatte den halben Nachmittag nach Araminta gesucht, aber jetzt musste er lächeln. "Willst du mich heiraten, Minta?" fragte er leise und sah, wie ihr langsam das Blut in die Wangen stieg. "Ich liebe dich schon lange, aber es ist mir nicht gleich bewusst geworden. Jetzt empfinde ich so tief für dich, dass mein Leben ohne dich sinnlos wäre." Es dauerte eine Weile, bis Araminta ihn verstanden hatte. "Mich?" fragte sie. "Du liebst mich, Marcus? Ich dachte, ich wäre dir immer unsympathisch gewesen. Du warst zwar da, wenn ich in Schwierigkeiten geriet, aber gleichzeitig ignoriertest du mich." "Was hätte ich sonst tun sollen? Ich bin viel älter als du, und du hättest einem jüngeren Mann begegnen können." Marcus lächelte, und Araminta spürte, wie die Liebe zu ihm ihr Herz schneller schlagen ließ. "Außerdem hast du immer die Miss Pomfrey herausgekehrt, um mich auf Abstand zu halten. Also musste ich abwarten und hoffen, dass du mich eines Tages auch lieben würdest. Doch jetzt kann ich nicht länger warten." Nach einer Pause fügte er hinzu: "Sei ehrlich, Minta, willst du, dass ich gehe?" "O Marcus, wie kannst du so etwas Schreckliches sagen?" Aramintas Stimme überschlug sich fast. "Geh nicht... bitte, geh nicht, ich könnte es nicht ertragen. Ich will dich ja heiraten. Es ist schon lange mein sehnlichster Wunsch." Marcus blickte sich um, denn die Gäste an den Nachbartischen horchten bereits auf. Er legte Geld auf den Tisch, zog seinen Mantel an, half Araminta in ihre Jacke und sagte: "Komm, lass uns gehen." "Warum?" Araminta konnte ihr Glück noch nicht ganz fassen. "Weil ich dich küssen will."
-ENDE