Die Wirklichkeit von morgen?
Weltraumschiffe, Roboter, Invasoren und freundliche Besucher von fremden Planeten, Kolon...
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Die Wirklichkeit von morgen?
Weltraumschiffe, Roboter, Invasoren und freundliche Besucher von fremden Planeten, Kolonisatoren ferner Milchstraßensysteme, künstliche Menschen: den an gelsächsischen Lesern sind dies bereits vertraute Be griffe einer weitläufigen Literaturgattung, die das Unwahrscheinliche mit dem Mittel wissenschaftlicher Formeln zu bedrängender und erregender künftiger Wirklichkeit zu erwecken versteht. Was Wunder, daß die Science Fiction-Stories heute schon den Kriminal roman in der Publikumsgunst zu verdrängen begin nen.
Ihre anerkannten Meister – John Wyndham, Ray Bradbury, Katherine MacLean u.a. – werden hier zum ersten Male in deutscher Sprache mit ihren besten Geschichten zu einem Sammelband vereinigt.
Weitere Science Fiction-Stories
In der Reihe der
ULLSTEIN-BÜCHER
Ray Bradbury, Fahrenheit 451 (114)
Philip Wylie, Das große Verschwinden (189)
Nur ein Marsweib
und andere Science Fiction-Stories
ULLSTEIN BÜCHER
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
ULLSTEIN BUCH NR. 248
IM ULLSTEIN TASCHENBÜCHER-VERLAG GmbH, FRANKFURT/M.
Aus dem Englischen übersetzt von Leopold Voelker
Die Erzählungen wurden den im Verlag Faber and Faber, London, erschie nenen
und von Edmund Crispin herausgegebenen Sammlungen »Best SF« und
»Best SF Two« entnommen
DEUTSCHE ORIGINALAUSGABE
© 1959 Ullstein Taschenbücher-Verlag GmbH, Frankfurt/M.
Umschlagentwurf: Herbert Neumann
Alle Rechte, auch das der photomechanischen Wiedergabe, vorbehalten
Printed in Germany, West Berlin 1959 · Gedruckt im Ullsteinhaus Berlin
Inhaltsverzeichnis
John Wyndham Nur ein Marsweib .....................................................
7
Arthur C. Clarke Die neun Milliarden Namen Gottes ......................
61
J. T. McIntosh First Lady ...................................................................
75
John Wyndham Una .............................................................................. 130
Ray Bradbury Stunde Null ................................................................ 180
Katherine MacLean Bilder lügen nicht ..................................................... 202
C. L. Moore Keine Frau ward je geboren ..................................... 241
Margaret St. Clair Das Prott ..................................................................... 345
Arthur Porges Der Ruum ................................................................... 374
John Wyndham
Nur ein Marsweib Bevor Duncan Weaver Lellie kaufte ... nein, es könnte Verdruß bringen, es so zu formulieren ... bevor Dun can Weaver Lellies Eltern 1000 Pfund als Entschädi gung für den Verlust ihrer Arbeitskraft zahlen mußte, hatte er mit einem Betrag von 600 oder höchstens 700 gerechnet. Jedermann in Port Clarke, den er darüber befragte, versicherte ihm, daß dies ein angemessener Preis sei. Doch es hatte sich bald herausgestellt, daß es nicht ganz so einfach war, wie die Leute von Port Clarke zu glauben schienen. Die ersten drei Marsfamilien, mit denen er verhandelte, hatten keinerlei Neigung ge zeigt, ihre Töchter überhaupt zu verkaufen. Die näch ste verlangte 1500 Pfund und wollte nicht herunter gehen. Lellies Eltern hatten mit 1500 angefangen, und sie hatten sich auf 1000 geeinigt. Er nahm das Mäd chen gleich mit, und als er während der Rückfahrt nach Port Clarke den Handel noch einmal überdach te, fand er, daß er dabei letzten Endes gar nicht so schlecht abschneiden würde. Umgerechnet auf die fünf Jahre seiner Versetzung würde sie ihn schlimm stenfalls 200 Pfund pro Jahr kosten, d.h., wenn es ihm
nicht gelingen sollte, sie nach seiner Rückkehr für 400 oder gar für 500 Pfund weiterzuverkaufen. So be trachtet, hatte er sogar mit ihrem Kauf ein gutes Ge schäft gemacht. In der Stadt angekommen, begab er sich sofort zu dem Agenten der Gesellschaft, um mit ihm die Dinge zu regeln, die sich aus der neuen Situation ergaben. »Sie wissen doch«, sagte er zu ihm, »ich habe einen Fünfjahrekontrakt als Verwalter der Zwischenlande station auf Jupiter IV/II. Nun, das Schiff, das mich hinbringt, fliegt leer, um dort Fracht aufzunehmen, und ich wollte fragen, ob ich auf ihm eine zweite Pas sage für meine Begleiterin haben kann.« Er hatte be reits vorsorglich in Erfahrung gebracht, daß die Ge sellschaft in solchen Fällen großzügigerweise Freipas sage zu gewähren pflegte. Der Agent war nicht überrascht. Nachdem er in seinen Listen nachgesehen hatte, meinte er, dem stünde nichts im Wege, und fügte hinzu, für solche Zwecke würde die Gesellschaft auch die zusätzliche Verpflegungsration liefern, und zwar zum Selbstko stenpreis, 200 Pfund pro Jahr, zahlbar durch Abzug vom Gehalt. »Wie? Tausend Pfund?« rief Duncan aus. »Das ist billig«, erwiderte der Agent. »Wie gesagt, Selbstkostenpreis. Die Gesellschaft verzichtet gern auf den Verdienst, wenn sie einen Angestellten davor
bewahren kann, daß er überschnappt. Das könnte leicht passieren, wenn einer allein auf einer Zwi schenlandestation Dienst macht, meinen sie, und ich glaube es ihnen gern. Ein Tausender ist nicht viel, wenn es gilt, den Verstand nicht zu verlieren.« Aus Prinzip versuchte Duncan zu feilschen, doch der Agent blieb eisern. Es würde bedeuten, daß Lellies Preis auf 2000 Pfund stieg, also 400 pro Jahr. Doch bei seinem Jahresgehalt von 5000 Pfund, von denen er während seines Dienstes auf Jupiter IV/II nichts aus geben konnte und die nicht nur steuerfrei waren, sondern sich sogar mit sechs Prozent verzinsten, war der Schaden immer noch zu ertragen. Er gab sich zu frieden. »Gut«, sagte der Agent. »Ich werde das Nötige ver anlassen. Aber vorher müssen Sie noch das Ausreise visum für Ihre Begleiterin besorgen. Sie kriegen es au tomatisch, wenn Sie die Heiratsurkunde vorlegen.« Duncan machte große Augen. »Heiratsurkunde? Ich soll ein Marsweib heiraten?« Der Agent schüttelte bedauernd den Kopf. »Ohne Trauschein gibt es kein Ausreisevisum für Marsmädchen. Anti-Sklaverei-Vorschriften. Bei den Behörden würde man glauben, Sie wollten sie ver kaufen, vielleicht sogar, daß Sie sie gekauft haben.« »Ich?« rief Duncan entrüstet aus. »Gesetz ist Gesetz«, erwiderte der Beamte trocken.
»Im übrigen kostet Sie die Heiratsurkunde nur zehn Pfund, es sei denn, Sie haben schon eine Frau auf der Erde. In diesem Fall wird es ein bißchen teurer wer den, hinterher.« Duncan schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht verheiratet«, versicherte er. »Um so besser«, sagte der Agent. »Dann wäre ja al les in Ordnung.« Am nächsten Tag kam Duncan wieder und brachte die Heiratsurkunde und das Ausreisevisum für Lel lie. Der Agent sah sich die Papiere an. »Na also«, sag te er. »Jetzt kann ich die Passage buchen. Meine Ge bühr beträgt 100 Pfund.« »Ihre Gebühr? Für was?« »Nehmen Sie an, für die Wahrung Ihrer irdischen Interessen«, erwiderte der Agent grinsend. »Es ist so üblich.« Dasselbe hatte auch der Beamte gesagt, der 100 Pfund für die Ausstellung des Visums verlangt hatte. Duncan erwähnte es nicht. Er sagte nur mit Bitterkeit: »Dieses blöde Marsweib kostet mich eine Stange Geld.« »Blöd?« Der Agent sah ihn fragend an. »Und stumm dazu. Diese Martianer sind doch alle halbe Tiere.« »Meinen Sie?« sagte der Agent. »Sie haben nie hier gelebt?«
»Nein«, gab Duncan zu. »Ich bin nur ein paar Mal hier zwischengelandet.« Der Agent nickte. »Ja, jetzt vegetieren sie nur noch dahin wie die stumme Kreatur, und mit ihren komischen Gesich tern sehen sie für uns wirklich alle aus wie Kretins«, sagte er, »doch sie waren früher einmal ein hochintel ligentes Volk.« »Früher? Das muß lange her sein.« »Schon lange, bevor wir hierherkamen, hatten sie das Denken aufgegeben. Ihr Planet war im Sterben, und sie hatten sich damit abgefunden, mit ihm zu sterben.« »So blöd können auch nur Martianer sein«, sagte Duncan. »Schließlich sind alle Planeten am Sterben. Das ist doch kein Grund, das Denken aufzugeben, so lange man noch lebt.« Der Agent lächelte. »Haben Sie jemals gesehen, wie ein alter Mann in der Sonne sitzt und döst?« fragte er. »Das muß nicht heißen, daß er verblödet ist. Es mag so aussehen, aber so ein alter Bursche kann ganz hübsch munter wer den, wenn er plötzlich sieht, daß es sich lohnt. Doch meistens findet er es nicht der Mühe wert. Es ist we niger anstrengend, die Dinge einfach treiben zu las sen.« »Schön, mag sein«, erwiderte Duncan, »aber das
Mädel ist erst zwanzig, nach euren Marsjahren also zehneinhalb, doch es läßt jetzt schon die Dinge, wie Sie sagen, treiben, und zwar gründlich. Und ich be haupte, es gibt keinen besseren Beweis dafür, daß ei ner blöd ist, als wenn er nicht weiß, was mit ihm bei seiner eigenen Trauung geschieht.« Duncans Laune wurde nicht besser, als er noch weitere 100 Pfund ausgeben mußte, um Kleider und andere unerläßliche Bedarfsgegenstände für Lellie zu kaufen, was die Gesamtkosten für seine Begleiterin auf 2310 Pfund erhöhte. Dies war eine Summe, die vielleicht gerechtfertigt gewesen wäre für ein wirklich flottes Mädel, aber für Lellie ... Nun, es war nicht mehr zu ändern. Er hatte die Geschichte angefangen, und wenn er das bereits investierte Geld nicht verlie ren wollte, mußte er sie durchstehen. Und schließlich auf einer einsamen Zwischenlandestation war Lellie, außer daß sie sich nützlich machte, in ihrer An spruchslosigkeit vielleicht gerade die richtige Gesell schaft. Der Erste Offizier rief Duncan in den Navigations raum, um ihm seinen künftigen Wohnraum zu zei gen. »Hier ist er«, sagte er und zeigte auf einen Radar schirm. Duncan sah einen Halbmond mit zerklüfteten
Rändern. Das Bild sagte nichts aus über seine Maße. Das Ding konnte so groß sein wie Luna, der Erd mond, oder so klein wie ein Basketball; in jedem Falle war es ein kahler Felsbrocken, der langsam im Leeren rotierte. »Wie groß?« fragte er. »Ungefähr 40 Meilen Durchmesser im Mittel.« »Wie ist die Schwerkraft?« »Hab' ich noch nicht ausprobiert. Nehme an, sie ist sehr gering. Rechnen Sie damit, daß es überhaupt keine gibt, dann kann nichts schiefgehen.« »Danke«, brummte Duncan. Auf dem Rückweg zur Messe steckte er den Kopf in seine Kabine. Lellie lag in ihrer Koje, zugedeckt mit der eingehakten elastischen Decke, um das Gefühl von Eigengewicht zu haben. Als sie ihn erblickte, richtete sie sich halb auf, stützte sich auf den Ellenbo gen. Sie war klein, nicht viel größer als 1 Meter 50. Ihr Gesicht und ihre Hände waren sehr zart; sie war von einer Zartheit, die nichts zu tun hatte mit schwachem Knochenbau. Für einen Erdmenschen waren ihre Au gen unnatürlich rund und gaben ihrem Gesicht einen ständigen Ausdruck überraschter Unschuld. Ihre Ohrläppchen sahen ungewöhnlich lang unter der Masse des braunen Haares hervor, dessen Wellen ei nen roten Schimmer hatten. Die Blässe ihrer Haut
wurde noch betont durch den Puder auf ihren Wan gen und das lebhafte Rot auf ihren Lippen. »Heh«, sagte Duncan, »du kannst anfangen zu packen.« »Packen?« wiederholte sie unsicher mit einer selt sam singenden Stimme. »Ja, packen«, erwiderte Dun can ungeduldig, trat ein, öffnete einen Koffer, legte einige Kleidungsstücke hinein und erklärte ihr mit einer Geste, daß sie so weitermachen solle. Ihr Ge sichtsausdruck veränderte sich nicht, doch sie schien begriffen zu haben. »Wir sein gekommen?« fragte sie. »Ja, wir sind gleich da. Also ein bißchen rasch mit dem Packen«, erwiderte er. »Da ... gut«, sagte sie und begann die Decke loszu haken. Duncan schloß die Tür hinter sich und gab sich ei nen Schwung, der ihn schwebend den Gang zum Messeraum hinuntertrug. In der Kabine schob Lellie die Decke beiseite. Vor sichtig griff sie nach einem Paar Metallsohlen und be festigte sie mit den Clips an ihren Pantoffeln. Sich an dem Kojengestell festhaltend, schwang sie die Füße über den Rand und ließ sie langsam hinunter, bis die magnetischen Sohlen klickend mit dem Fußboden Kontakt bekamen. Jetzt schon zuversichtlicher, richte te sie sich auf. Der anliegende, braune Overall verriet
Proportionen, die bei Martianern Bewunderung erre gen mochten, für Erdmaßstäbe jedoch als abnorm gel ten mußten. Es hieß, diese Deformierung sei eine Fol ge der dünneren Luft auf dem Mars und der hier durch mit der Zeit bewirkten größeren Lungenkapa zität. Immer noch sehr unsicher in ihrem Zustand der Schwerelosigkeit, ließ sie, um Kontakt zu behalten, die Füße über den Boden schleifen, als sie sich auf den Kleiderschrank zubewegte. Vor dem Wandspie gel blieb sie einen Moment stehen, betrachtete sich mit ausdruckslosem Gesicht. Dann wandte sie sich um und begann zu packen. »... eine Schweinerei, eine Frau dorthin mitzuneh men«, hörte Duncan Wishart, den Schiffskoch, sagen, als er die Messe betrat. Duncan gab zwar nicht viel auf das, was Wishart sagte, seit dieser 50 Pfund von ihm erpreßt hatte für den Unterricht in schwerelosem Kochen, den Lellie, wie sich herausgestellt hatte, dringend brauchte, doch es war nicht seine Art, sich taub zu stellen. »Eine Schweinerei, einen Mann dorthin zu schik ken«, bemerkte er grimmig. Niemand widersprach ihm. Sie wußten alle, wie ein Mann zu einem solchen Posten kam. Die Altersgrenze von 40 Jahren für fliegendes Per sonal müsse nicht notwendigerweise für ihre Ange stellten eine Härte bedeuten, pflegte die Gesellschaft
immer wieder zu betonen; die Gehälter waren gut, und es gab viele pensionierte Piloten, die sich mit den Ersparnissen aus ihrer Raumfahrtdienstzeit eine glänzende Existenz gegründet hatten. Doch diese Chance winkte nur einem Mann, der sparen konnte und nicht hartnäckig an der Tatsache interessiert war, daß ein vierbeiniges Tier schneller laufen konnte als ein anderes. Daß einer sein Geld auf diese Weise ver tan hatte, war keine Empfehlung, und als Duncan den Raumfahrtdienst quittieren mußte, hatte ihm die Gesellschaft nur das in solchen Fällen übliche Ange bot gemacht. Er war nie auf dem Jupiter IV/II gewesen, er wußte nur, daß er der zweite Mond der Callisto und in der Reihenfolge der Entdeckungen der vierte Mond des Jupiter war, wahrscheinlich ein gottverlassenes Ex emplar kosmischen Kiesels. Sie ließen ihm keine Wahl, und so unterschrieb er den Vertrag, der ihm für die fünf Jahre der eigentlichen Dienstzeit ein Jah resgehalt von 5000 Pfund und freie Unterkunft und Verpflegung garantierte, ein halbes Gehalt für die fünf Monate, die er bis zum Abflug des nächsten Raumschiffes nach Jupiter IV/II warten mußte, und das gleiche für die sechs Monate, die er brauchen würde, um sich wieder an die Schwerkraftverhältnis se der Erde zu gewöhnen. Das bedeutete eine gesicherte Existenz für die
nächsten sechs Jahre, davon fünf ohne die Möglich keit, Geld auszugeben, und am Ende ein nettes Sümmchen auf der Bank. Das Haar in der Suppe aber war die Frage, ob er fünf Jahre vollständiger Einsamkeit aushalten könne, ohne verrückt zu werden. Auch wenn die Psycholo gen einen als tauglich getestet hatten, konnte man nie sicher sein. Manche hielten aus, andere drehten nach fünf Monaten durch und mußten als Nervenwracks zurückgeholt werden. Man sagte, wenn einer zwei Jahre durchgehalten habe, dann schaffe er auch den Rest. Der einzige Weg, festzustellen, ob das stimmte, war, es zu versuchen ... »Könnte ich nicht die Wartezeit auf dem Mars verbringen?« hatte er gefragt. »Das Leben ist dort bil liger.« Die Beamten hatten in ihren Fahrplänen und Pas sagierlisten nachgesehen und herausgefunden, daß es auch für die Gesellschaft billiger wäre. Sie hatten sich zwar geweigert, ihren Profit mit ihm zu teilen, ihm aber eine Flugkarte für das nächste Raumschiff nach dem Mars und einen Kreditbrief für den dortigen Agenten der Gesellschaft ausgestellt. Unter den Marskolonisten in und um Port Clarke waren viele Ex-Raumpiloten, die es vorzogen, den Rest ihres Lebens unter den hier herrschenden Ver hältnissen geringerer Schwerkraft, leichterer Moral
und niedrigerer Preise zu verbringen. Sie waren alle groß im Erteilen von Ratschlägen. Duncan hörte ih nen geduldig zu, doch das meiste von dem, was sie ihm empfahlen, imponierte ihm nicht. Selbstbeschäf tigungsmethoden zur Erhaltung der geistigen Ge sundheit, wie das Auswendiglernen der Bibel oder der Dramen Shakespeares, das tägliche Abschreiben von drei Seiten des Konversationslexikons oder das Einbauen von Raumschiffmodellen in Whiskyfla schen, hielt er für langweilig und außerdem für wahrscheinlich wenig wirksam. Der einzige Vor schlag, der das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden schien, hatte ihn dann zu dem Entschluß geführt, Lellie mitzunehmen als Arbeitshilfe und Zeitvertreib, und diese Lösung dünkte ihn auch jetzt noch die vernünftigste, obwohl sie ihn 2360 Pfund kostete. Er wußte zu gut, wie die anderen über die Angele genheit dachten, um Wishart übers Maul zu fahren. Statt dessen sagte er nur: »Eine richtige Frau würde ich vielleicht auch nicht mitnehmen; aber ein Marsweib, das ist ja schließlich was anderes ...« »Auch ein Marsweib ...«, begann Wishart, doch er sprach nicht weiter, als er merkte, daß er langsam durch den Raum segelte. Die Bremsraketen waren in Aktion getreten.
Die Unterhaltung verstummte, da jedermann sich daranmachte, alle losen Gegenstände zu sichern. Jupiter IV/II war ein Submond und wahrscheinlich ein eingefangener Asteroid. Seine Oberfläche war keine Kraterlandschaft wie die Lunas, sie war nur ein Meer wildzerklüfteter Felsen. Im großen gesehen hat te der Satellit die Form eines deformierten Eies; er war ein öder, kahler Felsbrocken, abgesplittert von einem längst verschwundenen Planeten, von ihm nicht mehr verratend als seine Position. Zwischenlandestationen auf den Außenmonden waren unerläßlich im Weltraumverkehr. Es wäre hoff nungslos unwirtschaftlich gewesen, große Schiffe zu bauen, die auf den Hauptplaneten landen konnten. Ei ne Reihe älterer und kleinerer Schiffe waren seinerzeit noch auf der Erde hergestellt worden und mußten von ihr abgeschossen werden, doch das erste große, auf dem Mond montierte Schiff eröffnete eine neue Praxis. Die Schiffe wurden zu ausschließlichen Raumschiffen und brauchten nicht mehr so gebaut zu werden, daß sie den Anforderungen starker Gravitation gewachsen waren. Sie unternahmen nur Fahrten zwischen den Sa telliten, bei denen sie Treibstoffe, Lebensmittel, Frach ten und Personen beförderten. Neuere Typen landeten nicht einmal mehr auf Luna, sondern benutzten den künstlichen Satelliten Pseudos als ihre Erdendstation.
Den Frachtverkehr zwischen den Außenstationen und den Hauptplaneten besorgten unbemannte Gü terraketen; Personen wurden auf sogenannten klei nen Raumfähren hin- und herbefördert. Zwischensta tionen wie Pseudos oder Deimos, die Hauptaußensta tion des Mars, erforderten zu ihrem Betrieb eine grö ßere Besatzung, doch für kleinere Umschlagposten genügte ein Mann, der gleichzeitig als Verwalter und Wächter fungierte. Die großen Schiffe landeten nur selten auf ihnen, auf Jupiter IV/II, wie man Duncan gesagt hatte, durchschnittlich alle acht bis neun Mo nate, nach Erdzeit gerechnet. Das Schiff verlangsamte seine Fahrt immer mehr, um seine Geschwindigkeit der des Satelliten anzu passen, während es sich ihm in einer Spirale näherte. Die Stabilisierungskreisel begannen zu summen. Die kleine zackig geränderte Welt wurde immer größer, bis sie den Bildschirm ausfüllte. Das Schiff wurde in eine enge Kreisbahn gesteuert. Meilen nackter, riesi ger Felsenriffe glitten eintönig unter ihm hinweg. Die Stationsanlage schob sich von links in den Bild schirm, eine roh planierte Fläche von wenigen Mor gen, das erste und einzige Anzeichen von Ordnung in dem steinernen Chaos. An dem hinteren Rand stan den zwei halbkugelförmige Hütten, eine größer als die andere, an dem vorderen lag eine Reihe von Frachtraketen neben einer aus dem Felsen gehauenen
Abschußrampe. Entlang den beiden Seiten reihten sich Segeltuchbehälter, einige vollgefüllt und von ko nischer Form, die anderen leer oder halb leer und schlaff oder ganz flach. Hinter der Station war ein rie siger Parabolspiegel auf eine Felsenspitze montiert; er wirkte wie eine riesige, unwirkliche Blume in dieser Steinwüste. In dem gespenstischen Bild war nur ein einziges Zeichen von Bewegung zu erkennen, eine kleine Gestalt, bekleidet mit einem Raumanzug, die auf dem mit Metallplatten ausgelegten Vorplatz der größeren der beiden Kuppelbauten einen wilden Tanz vollführte, die Arme wie verrückt zum Will kommen schwenkend. Duncan verließ den Navigationsraum, wo er den Bildschirm beobachtet hatte, und begab sich in seine Kabine. Dort fand er Lellie im Kampf mit einem gro ßen Koffer, der unter dem Einfluß der sich vermin dernden Geschwindigkeit entschlossen schien, sie an der Wand plattzudrücken. Er schob die Kiste beiseite und half ihr auf die Beine. »Wir sind da«, sagte er zu ihr. »Lege deinen Raumanzug an.« Ihre runden Augen wandten sich ab von dem Kof fer und richteten sich auf ihn. Es war in ihnen nicht zu lesen, was sie empfand, was sie dachte. Sie sagte nur: »Raumanzug. Da ... gut.« Als sie in der Luftschleuse der Wohnkuppel stan
den, schenkte der Mann, den Duncan ablösen sollte, Lellie mehr Beachtung als dem Druckanzeiger. Er wußte aus Erfahrung genau, wie lange der Ausgleich dauerte, und öffnete sein Helmfenster, ohne auf den Zeiger des Manometers zu sehen. »Ich wollte, ich wäre auch so schlau gewesen, mir ei ne mitzubringen«, bemerkte er. »Hätte sie verdammt gut gebrauchen können, auch für den Haushalt.« Er öffnete die innere Tür. »Das wär's also. Und herzlich willkommen«, sagte er. Das Wohnzimmer hatte auf Grund der Architektur der Hütte eine seltsame Form, doch war es sehr ge räumig, wenn auch ebenso schmutzig. »Immer wollte ich mal saubermachen, kam aber irgendwie nie da zu«, brummte er, sich entschuldigend. Er sah Lellie prüfend an. In ihrem Gesicht hinter dem Helmfenster war nicht zu erkennen, was sie über ihr neues Heim dachte. »Bei diesen Martianern weiß man nie, wo man dran ist«, sagte er mit einem Achselzucken zu Duncan. »Sie machen immer das gleiche Gesicht.« Duncan erwiderte: »Ich denke mir, diese da ist seit ihrer Geburt nicht mehr aus dem Staunen herausge kommen. Man gewöhnt sich daran.« Der andere hatte kein Auge von Lellie gelassen. Dann wanderte sein Blick von ihr zu einer Galerie irdischer Pin-up-girls, die an der Wand prangten, und wieder zurück.
»Ulkige Figuren haben diese Marsweiber«, meinte er grinsend. »Immerhin, wo sie herkommt, galt sie als eine Schönheit«, bemerkte Duncan kurz. »Glaub' ich dir, Kamerad. Nichts für ungut. Ich fürchte, mir werden sie alle etwas ulkig vorkommen, nach diesen fünf Jahren Kloster.« Er wechselte das Thema. »Ich denke, ich erkläre dir jetzt mal den gan zen Rummel hier.« Duncan machte Lellie ein Zeichen, ihr Helmfenster zu öffnen, damit sie ihn hören konnte, und dann sag te er zu ihr, sie solle ihren Raumanzug ablegen. Die Hütte war vom üblichen Typ: doppelter Fuß boden und doppelte Wände mit isolierten und luft leeren Zwischenräumen, die Außenwand aus einem Stück gefertigt und festgehalten durch Metallpfosten, die in den Felsen eingelassen waren. Der Wohnteil enthielt noch drei weitere Räume, die für den Fall vorgesehen waren, daß die Besatzung wegen wach senden Verkehrs verstärkt werden mußte. »Das andere sind Lagerräume«, erklärte Duncans Vorgänger, »meistens Proviant, Luftzylinder, Ersatz teile aller Art und vor allem Wasser. Beim Wasser wirst du ein bißchen auf sie aufpassen müssen. Die meisten Frauen scheinen zu glauben, daß es von selbst in den Röhren nachwächst.« Duncan schüttelte den Kopf.
»Marsweiber nicht. Das Leben in ihren Wüsten hat sie daran gewöhnt, sparsam damit umzugehen.« Der andere griff nach einem Bündel Lagerlisten. »Wir werden sie später kontrollieren und abzeich nen. Es ist ein gemütlicher Posten hier. Die einzige Fracht sind zur Zeit seltene metallhaltige Erze. Calli sto ist erst wenig erschlossen. Der Verkehr ist leicht zu handhaben. Sie geben dir Bescheid, wenn eine Ra kete unterwegs ist, und du brauchst nur den Richt strahl einzuschalten, um sie hereinzuholen. Beim Zu rückschicken kannst du keinen Fehler machen, wenn du dich an die Zeittafel hältst.« Er sah sich im Raum um. »An Komfort ist alles vorhanden. Liest du gern? Bücher sind genug da.« Er zeigte auf das volle Regal, das die Hälfte der inneren Trennwand einnahm. Duncan sagte, er sei nie ein großer Leser gewesen. »Nun, es hilft manchmal«, sagte der andere. »Ich hab' sie ziemlich alle gelesen. Hier sind Schallplatten. Machst du dir etwas aus Musik?« Duncan meinte, einen guten Schlager höre er ganz gern. »Hm. Versuche es lieber mit dem anderen Zeug. Schlager machen einen leicht heimwehkrank. Spielst du Schach?« Er deutete auf ein Schachbrett, in das Fi guren eingepflockt waren. Duncan verneinte. »Schade. Drüben auf der Callisto ist ein Kamerad,
mit dem ich viel gespielt habe, übers Radio. Er wird enttäuscht sein, daß wir diese Partie nicht beenden können. Immerhin, wenn ich so ausgestattet gewesen wäre wie du, hätte ich mich vielleicht nicht so sehr für Schach interessiert.« Er warf einen Blick auf Lellie. »Was denkst du, was sie hier tun soll, außer für dich kochen und dir ein bißchen die Zeit vertreiben?« frag te er. Dies war eine Frage, die sich Duncan noch nicht gestellt hatte; er zuckte die Achseln. »Oh, ich denke, in dieser Beziehung ist sie in Ord nung. Martianer sind von Natur etwas dumpf und blöde; sie können stundenlang herumsitzen, ohne et was zu tun. Scheint eine Gabe zu sein, die sie alle in der Wiege mitkriegen.« »Nun, das wird ihr hier zustatten kommen«, mein te der andere. Die mit dem Besuch des Raumschiffes verbunde nen Arbeiten waren in vollem Gange. Kisten wurden ausgeladen, die Erze aus den Lagerbehältern in die Frachträume des Schiffes gesaugt. Eine kleine Rake tenfähre kam von der Callisto und brachte zwei Pro spektoren, deren Dienstzeit abgelaufen war, und star tete wieder mit ihren Ablösungen. Die Ingenieure des Schiffes überprüften die Maschinen und Apparate der Station, bauten Ersatzteile ein, füllten die Wasser tanks und die Luftzylinder auf, kontrollierten, regu
lierten und kontrollierten wieder, bis sie alles in Ord nung fanden. Duncan stand draußen auf dem metallenen Vor platz, auf dem vor kurzem sein Vorgänger seinen grotesken Willkommensgruß getanzt hatte, und sah zu, wie das Schiff startete. Es löste sich langsam, von den Startdüsen angeschoben, vom Boden. Die Kontur seines Rumpfes zeichnete sich wie ein schimmernder Halbmond von dem schwarzen Himmel ab. Jetzt be gannen seine großen Antriebsraketen weiße, rosa ge ränderte Flammen auszustoßen, und es gewann schnell an Geschwindigkeit. Bald war es nur noch ein flimmernder Punkt, der schließlich hinter der gezack ten Himmelslinie versank. Und plötzlich hatte Duncan das Gefühl, selbst zu einem Punkt zusammengeschrumpft zu sein, zu ei nem winzigen Punkt auf einer toten Felsmasse, die selbst nur ein Punkt war in der Unendlichkeit des Raumes. Der teilnahmslose Himmel über ihm war ohne Tiefe, eine schwarze Leere, in der seine Muttersonne und Myriaden anderer Sonnen in ewiger Gleichmäßigkeit flackerten, scheinbar ohne Sinn und Zweck. Auch das Bild der schroff in den Himmel ragenden Felsenklippen war ohne jede Perspektive. Er konnte nicht sagen, welche nahe oder welche fern waren, er konnte in dem Gewirr von grell beleuchteten Flächen
und schwarzen Schatten nicht einmal ihre Form aus machen. Urlandschaften dieser Wildheit gab es weder auf der Erde noch auf dem Mars. Die Grate und Kan ten der unverwitterten Felsen waren scharf wie Mes ser; so waren sie seit Jahrmillionen und würden es bleiben, solange der Satellit existierte. Diese zeitlose Unveränderlichkeit vor ihm und hin ter ihm schien sich zur Unendlichkeit auszudehnen. Nicht nur er selbst, sondern alles Leben war nur ein Punkt, eine winzige, zufällige Blase auf dem Strom der Zeit, ein Nichts im Universum, Sekundentanz ei ner armen kleinen Motte im Licht der ewigen Sonnen. Wirklich waren nur die riesigen Feuerbälle und Steinkugeln, die gefühllos durch die Leere rollten durch unausdenkbare Zeiten und Räume, für immer und immer ... Duncan erschauerte in seinem geheizten Rauman zug. Nie zuvor hatte er sich so allein gefühlt, war er sich der leeren, kalten Öde des Weltraumes so be wußt gewesen. Er starrte hinauf in die gähnende Schwärze und dachte daran, daß die Lichtstrahlen der Sterne, die seine Augen jetzt trafen, vor Jahrmil lionen ausgesandt worden waren. »Warum?« fragte er sich laut. »Wozu überhaupt das alles?« Der Klang seiner eigenen, unbeantworteten Frage weckte ihn aus seiner melancholischen Stimmung
auf. Er schüttelte den Kopf, um ihn freizumachen von den müßigen und sinnlosen Grübeleien. Er drehte dem Universum den Rücken, machte es wieder zu dem, was es zu sein hatte, ein fraglos hingenomme ner Hintergrund für das Leben, und das menschliche insbesondere, und betrat die Luftschleuse. Was die Arbeit betraf, so war der Posten wirklich, wie sein Vorgänger bereits gesagt hatte, sehr gemüt lich. Duncan nahm zu festgelegten Zeiten seine Sprechfunkverbindungen mit Callisto auf. Gewöhn lich waren sie nicht viel mehr als gegenseitige Bestä tigungen, daß man noch existiere, gelegentlich auch ergänzt durch einen Meinungsaustausch über Radio nachrichten von der Erde. Nur selten meldeten sie ihm die Absendung einer Frachtrakete und forderten ihn auf, seinen Leitstrahl einzuschalten. Pünktlich er schien dann der große Metallzylinder und schwebte langsam in die Station ein. Es war eine einfache An gelegenheit, ihn an einen der Segeltuchbehälter anzu kuppeln und die Ladung umzufüllen. Der Tag des Satelliten war zu kurz, um sich nach ihm zu richten, und seine Nächte, erleuchtet von Cal listo und manchmal auch von Jupiter, waren ebenso hell; daher kümmerte er sich nicht um sie und lebte nach der Kalenderuhr, die auf die Erdzeit des Meri dians von Greenwich eingestellt war. Im Anfang war er vollauf beschäftigt, die Fracht zu versorgen, die
das Schiff zurückgelassen hatte. Einiges davon brach te er in die Haupthütte, Dinge, die sie selbst benötig ten, und andere, die in Luft und Wärme gelagert werden mußten. Einen Teil verstaute er in der kleine ren, nicht geheizten und nicht mit Luft gefüllten Kuppelhütte, das meiste jedoch verpackte er sorgfäl tig in die Frachtraketen, die er von der Abschußram pe aus nach ihrem Bestimmungsort, der Hauptbasis auf Callisto, weiterschickte. Doch nachdem er diese Arbeit einmal hinter sich hatte, war nur noch wenig zu tun, zuwenig. Um die überflüssige Zeit hinzubringen, stellte sich Duncan ein Beschäftigungsprogramm auf. In regel mäßigen Abständen wollte er dieses und jenes kon trollieren; er würde selbst die Felsspitze hinter der Station erklettern und den Sonnenmotor überprüfen, der dort montiert war, und so weiter. Doch es ist schwer, immer wieder Dinge zu tun, die sich als nicht notwendig oder als sinnlos erweisen. Ein Sonnenmo tor z.B. war so gebaut, daß er lange Zeit lief, ohne ei ne Wartung zu benötigen. Das einzige, was er tun konnte, wenn der Motor aussetzte, war, von Callisto eine Raumfähre anzufordern, die sie nach dort mit zurücknehmen würde, bis das nächste Schiff landete, um die Reparatur vorzunehmen. Im übrigen war, wie die Gesellschaft betont hatte, das Versagen des Son nenmotors der einzige Grund, der ihn berechtigte,
nach der Callisto zu fliegen und seine Station und die kostbaren Erze unbewacht zu lassen, und man hatte ihm auch deutlich zu verstehen gegeben, daß es zwecklos wäre, eine solche Panne vorzutäuschen, um sich eine Abwechslung zu verschaffen. Es dauerte nicht lange, bis er sein Programm aufgab. Immer öfter fragte sich Duncan, ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war, Lellie mitzunehmen. Ge wiß, er hätte nicht so gut gekocht, wie sie es tat, und sein Haushalt wäre wahrscheinlich bald ebenso ver wahrlost gewesen wie der seines Vorgängers, aber der Zwang, für sich selbst sorgen zu müssen, hätte ihm die Zeit weniger lang werden lassen. Und was die Unterhaltung betraf, die er sich von ihr verspro chen hatte, nun, damit war es auch nicht weit her. Sie benahm sich wie ein Roboter, apathisch wie eine see lenlose Kreatur. Von Spaß konnte keine Rede sein. Es gab Augenblicke, und sie wurden immer häufiger, in denen allein schon ihr Anblick und ihre Existenz ihn in Wut versetzten. Da war ihre träge Art, sich zu be wegen, wenn sie nicht stumpf herumsaß, das alberne Babygestammel, das sie von sich gab, wenn sie ein mal den Mund auftat, ihre sture Teilnahmslosigkeit, überhaupt ihre so gänzliche Andersartigkeit und schließlich die Tatsache, daß er um 2360 Pfund rei cher wäre ohne sie. Sie unternahm auch keinen ernst haften Versuch, sich zu ändern oder ihre Mängel ab
zustellen, selbst da nicht, wo sie die Mittel dazu hatte. Ihr Gesicht zum Beispiel. Man hätte meinen sollen, daß sie wie jede Frau versuchen würde, sich nett her zurichten, aber sie dachte nicht daran. Im Gegenteil. Schon wieder einmal saß ihre linke Augenbraue so schief, daß sie aussah wie ein Clown; sie aber merkte es nicht! »Zum Teufel noch mal«, sagte er zu ihr, »setz doch endlich deine Augenbrauen gerade. Weißt du denn immer noch nicht, wie sie aufgeklebt werden? Und ge schminkt bist du auch wieder vollkommen verkehrt. Hier, schau dir das Bild an ... und jetzt schau in den Spiegel! Angeschmiert hast du dich, aber an der fal schen Stelle. Und dein Haar! Es hängt herunter wie Seegras. Du hast das Zeug da, um es in Wellen zu legen, also tu es in drei Teufelsnamen und lauf nicht herum wie eine schlampige Meerjungfrau. Du kannst nichts dafür, daß du nur ein Marsweib bist, aber versuche we nigstens so auszusehen wie eine normale Frau.« Lellie betrachtete das Farbfoto des Pin-up-girls und dann ihr Spiegelbild, ohne daß sich ihr Gesichtsaus druck änderte. »Da ... gut«, sagte sie wie geistesabwesend. Duncan schnaubte. »Da ist noch etwas. Deine blöde Babysprache! Es heißt nicht ›Da‹, es heißt ›Ja‹! Jott ... a! Also los, sag mal ›Ja‹!«
»Da«, sagte Lellie gehorsam. »Oh, zum ... Hörst du denn nicht den Unterschied? Ja, nicht da! Jiia!« »Da«, sagte Lellie. »Nein! Nimm die Zunge vom Gaumen weg! Leg sie unten hin, hinter die Zähne! So ...« Der Sprechunterricht ging eine Weile so weiter. Duncan wurde wütend. »Ich glaube, du machst dich lustig über mich, was? Nimm dich in acht, Mädel! Al so nochmal, sag ›Ja‹!« Sie zögerte, blickte ihm unsicher in die zornig blit zenden Augen. »Los! Sag es!« »Dja«, brachte sie mühsam hervor. Seine Hand traf ihr Gesicht härter, als er beabsichtigt hatte. Der Stoß löste ihren magnetischen Kontakt mit dem Fußboden, und sie segelte, mit Armen und Beinen um sich schlagend, durch den Raum. Sie prallte an der gegenüberliegenden Wand ab, um wieder hilflos mit dem Kopf nach unten in der Luft zu schweben. Er lief zu ihr hin und stellte sie wieder auf die Füße. Mit der lin ken Hand packte er sie bei ihrem Overall, unmittelbar am Hals, und hob die Rechte zu neuem Schlag. »Noch mal!« Ihre Augen flackerten hilflos. Er schüttelte sie. Sie setzte mehrere Male zu einem Versuch an. Beim sech sten Male brachte sie ein »Dji ... dja!« heraus.
Er gab sich damit zufrieden. »Du kannst es, siehst du ... wenn du nur willst. Was du brauchst, ist eine starke Hand.« Er ließ sie los. Sie stolperte aus dem Zimmer, beide Hände vor dem geschwollenen Gesicht. Während der nächsten Wochen, die sich immer länger hinzogen, fragte sich Duncan mehrere Male, ob er durchhalten würde. Er streckte jede Arbeit, die zu tun war, so sehr er konnte, doch es blieb ihm im mer noch zuviel Zeit übrig, mit der er nichts anzu fangen wußte. Ein Mann in mittleren Jahren, der in seinem Leben nie mehr gelesen hat als gelegentlich einen Magazin artikel, gewöhnt sich nicht mehr an Bücher. Auch die Schlager waren ihm, wie sein Vorgänger ihm prophe zeit hatte, bald über, und ernste Musik sagte ihm überhaupt nichts. Aus einem Buch lernte er die Züge beim Schach und brachte sie auch Lellie bei, in der Absicht, nach einiger Übung den Mann auf der Calli sto herauszufordern. Lellie jedoch brachte es fertig, mit solcher Beharrlichkeit zu gewinnen, daß er zu dem Schluß kam, er habe wohl nicht die richtige Be gabung für dieses Spiel. Statt dessen lehrte er sie eine Art von Doppel-Solitaire, doch auch das dauerte nicht lange; die Karten schienen mit Lellie im Bunde zu sein. Manchmal konnte er Nachrichten und Unterhal
tungssendungen im Radio hören, doch da die Erde jetzt gerade irgendwo auf der anderen Seite der Son ne kreiste, der Mars die Hälfte der Zeit durch die Cal listo verdeckt wurde und der Satellit selbst sehr schnell rotierte, war der Empfang immer sehr schlecht und wurde ständig unterbrochen. Meistens saß er sinnlos herum, haßte den Satelliten, ärgerte sich über sich selbst und fühlte sich durch Lel lie gereizt. Besonders ihr unerschütterliches Phlegma, das sie bei allem zur Schau trug, brachte ihn oft zur Weißglut. Es erschien ihm als eine Ungerechtigkeit, daß sie bessere Nerven haben sollte, nur weil sie ein stumpfsinniges Marsweib war. Wenn sich seine schlechte Laune akustisch äußerte, brachte das Ge sicht, mit dem sie ihm zuhörte, ihn vollends zur Ver zweiflung. »Zum Teufel noch mal«, brüllte er sie bei einer sol chen Gelegenheit einmal an, »kannst du denn über haupt kein anderes Gesicht machen? Kannst du nicht lachen oder weinen oder Grimassen schneiden? Da muß einer ja verrückt werden, wenn du ewig mit ei nem Gesicht herumläufst, als hättest du eben den er sten schmutzigen Witz gehört. Ich weiß, du kannst nichts dafür, daß du blöd bist, aber das ist doch kein Grund, dauernd mit dieser gefrorenen Visage 'rum zurennen. Versuch doch, wenigstens ab und zu mal zu lächeln.«
Sie fuhr fort, ihn anzuschauen, ohne auch nur den Schatten einer Veränderung in ihrem Gesicht zu zei gen. »Hast du mich nicht verstanden? Du sollst lächeln! Los, du störrisches Luder ... lächle!« Ihr Mund verzog sich kaum merklich. »Das nennst du lächeln? ... Hier, so lächelt man!« Er zeigte auf den Kopf eines Pin-up-girls, das lachend ein überdimensionales Reklamegebiß zeigte. »Ja, so! ... Oder so!« Er bleckte die Zähne. »Nein«, sagte sie. »Mein Gesicht nicht kann wak keln wie Erdgesicht.« »Wackeln«, brüllte er wütend, »wackeln nennst du das?« Er löste die elastische Haltedecke seines Sessels und ging auf sie zu. Sie wich vor ihm zurück bis zur Wand. »Ich werde dir dein Gesicht zum Wackeln bringen, mein Mädchen, paß mal auf! ... Los! Lächle! Lächle!« Er hob die Hand. Lellie schlug beide Hände vor das Gesicht. »Nein!« jammerte sie. »Nein! Nein! Nein!« Am gleichen Tage, da Duncan den letzten Tag des achten Monats seines Aufenthaltes auf Jupiter IV/II abstrich, ging von der Callisto eine Meldung ein, daß ein Raumschiff im Anflug sei. Zwei Tage später konn te er selbst Radio-Kontakt mit ihm aufnehmen und erfuhr, daß es in einer Woche eintreffen würde. Ihm
war zumute, als hätte er mehrere steife Whiskys ge trunken. Jetzt gab es eine Menge zu tun. Er kontrol lierte die Lager, die Listen, die Vorräte, vervollstän digte die Eintragungen in sein Logbuch, notierte die Bestellungen, die er aufgeben wollte. Er wurde immer aufgeregter, summte und sang bei der Arbeit und hörte auf, sich über Lellie zu ärgern. An ihr war keine Reaktion auf die Neuigkeit wahrzunehmen ... aber was konnte man von ihr schon erwarten ... Genau zur geschätzten Stunde erschien das Schiff über ihnen, wurde langsam größer, während die Ver tikaldüsen es nach unten drückten. Im gleichen Au genblick, da es festgemacht hatte, ging Duncan an Bord, mit dem Gefühl, daß alle, die er zu Gesicht be kam, alte Freunde waren. Der Kapitän begrüßte ihn herzlich und brachte einen fast feierlichen Toast aus. Es war das übliche Zeremoniell für solche Fälle, und zu ihm gehörten auch Duncans Freudengestammel und sein leicht überschwengliches Benehmen. Die einzige Abweichung vom Schema ergab sich, als der Kapitän auf den Mann wies, der neben ihm stand, und sagte: »Wir haben eine Überraschung für Sie mitgebracht, Mr. Weaver. Dies ist Doktor Whint. Er wird für eine Weile Ihr Exil mit Ihnen teilen.« Duncan schüttelte dem Fremden die Hand. »Doktor ...?« bemerkte er er staunt.
»Ich bin kein Arzt«, erklärte ihm Alan Whint, »ich bin Geologe. Die Gesellschaft hat mich hierherge schickt, um eine geologische Untersuchung vorzu nehmen, wenn das Wort Geo hier am Platze ist. Die Sache wird etwa ein Jahr in Anspruch nehmen. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.« Duncan erwiderte höflich, er sei glücklich, Gesell schaft zu bekommen, doch mehr sagte er nicht. Später nahm er den Neuankömmling mit hinüber in die Wohnkuppel. Alan Whint war überrascht, als er Lel lie erblickte. Offensichtlich hatte ihm niemand etwas von ihrer Anwesenheit gesagt. Er unterbrach Duncan, der ihm die Räume erklärte, und sagte: »Wollen Sie mich nicht Ihrer Frau vorstellen?« Duncan tat es, sichtlich widerwillig. Der tadelnde Unterton in dieser Aufforderung paßte ihm nicht, und noch weniger, daß Whint Lellie begrüßte, als sei sie eine Erdfrau. Er bemerkte auch mit Mißvergnü gen, daß er die blutunterlaufene Stelle auf ihrer Backe entdeckt hatte, die selbst von der dicken Schmink schicht nicht verdeckt wurde. In Gedanken ordnete er Alan Whint der Klasse jener überheblichen Moral prediger zu, die er nicht riechen konnte, und hoffte, daß es nicht zu einem Zusammenstoß mit ihm kom men würde. Es ist schwer zu sagen, wer schuld daran war, als es drei Monate später tatsächlich zu diesem Zusam
menstoß kam. Schon vorher hatte es einige sehr kriti sche Momente gegeben, und die Spannung hätte sich wahrscheinlich schon früher entladen, wenn Whints Arbeit ihn nicht so häufig von der Wohnhütte fern gehalten hätte. Den unfreiwilligen Anlaß zum offenen Streit gab Lellie, als sie von dem Buch aufschaute, das sie gerade las, und fragte: »Was bedeutet ›Frauenemanzipation‹?« Alan begann, ihr den Begriff zu erklären. Er hatte den ersten Satz noch nicht beendet, als Duncan ihn unterbrach: »Hören Sie mal, wer hat Ihnen gesagt, daß Sie ihr solche Ideen in den Kopf setzen sollen?« Alan zuckte die Achseln und sah ihn erstaunt an. »Ich verstehe Sie nicht«, sagte er. »Warum sollte sie nichts dazulernen, wenn es sie danach verlangt.« »Sie wissen genau, was ich meine.« »Tut mir leid. Da müssen Sie sich schon etwas deutlicher ausdrücken.« »Das können Sie haben. Es paßt mir nicht, daß Sie sich um Dinge kümmern, die Sie nichts angehen. Und wenn Sie es ganz genau wissen wollen, es hat mir von Anfang an nicht gepaßt, daß Sie so geschwollen da herreden mit ihr und versuchen, eine Dame aus ihr zu machen.« »Ich verstehe Sie immer noch nicht. Das könnte Ih nen doch nur recht sein.«
»Sie wollen mich nicht verstehen. Glauben Sie, ich wüßte nicht, warum Sie das machen?« »Was Sie denken, ist nicht, mein Lieber. Es sind nicht alle Leute so primitiv wie Sie. Sie bilden sich ein, ich lege es darauf an, Ihnen Ihr Mädel auszu spannen, und das wurmt Sie besonders wegen der 2360 Pfund, die Sie dafür ausgegeben haben. Aber Sie irren sich, nichts liegt mir ferner als das.« Duncan war für einen Augenblick aus dem Kon zept gebracht. Dann besann er sich und sagte: »Sie ist nicht mein Mädel. Sie mag nur ein Mars weib sein, aber sie ist meine Frau, und wenn sie dumm ist, dann ist das meine Sache.« »Ich habe zwar andere Vorstellungen darüber, wie man seine Frau behandelt, auch wenn sie nur ein Marsweib ist, wie Sie sich auszudrücken belieben, aber wenn Sie glauben, daß Lellie dumm ist, dann ir ren Sie sich ganz gewaltig. Ich halte sie sogar für sehr intelligent. Überlegen Sie nur einmal, wie schnell sie lesen gelernt hat, nachdem sich jemand die Mühe gemacht hatte, ihr die Anfangsgründe beizubringen. Ich glaube nicht, daß Sie so schnell vorwärtsgekom men wären in einer Sprache, von der Sie nur ein paar Worte kannten.« »Ich habe Sie nicht gebeten, bei ihr den Schulmei ster zu spielen. Sie braucht nicht lesen zu können.« »Huh, die Stimme des Sklavenhalters aus grauer
Vorzeit. Nun, dann war es ja Zeit, daß ich gekommen bin, um die Ehre der Erdmenschheit zu retten.« »Dummes Geschwätz! Das verzapfen Sie nur, um ihr zu imponieren und mich bei ihr madig zu ma chen. Sie soll wohl glauben, daß Sie ein besserer Erdmensch sind als ich?« »Ich rede mit ihr nicht anders, als ich mit jeder Frau rede, eher noch etwas einfacher, weil Sie ihr bis jetzt keine Chance gegeben haben, sich weiterzubilden. Und es sollte mich freuen, wenn sie merkt, daß nicht alle Männer der Erde solche Barbaren sind wie Sie.« »Ich werde Ihnen zeigen, wer hier ein Barbar ist ...« brauste Duncan auf. »Das brauchen Sie nicht«, unterbrach ihn Whint. »Daß Sie eine verkrachte Erdexistenz sein mußten, das konnte ich mir schon ausrechnen, bevor ich hier herkam, sonst wären Sie nämlich nicht auf diesem Posten. Und ich habe nicht lange gebraucht, um fest zustellen, was für ein übler Vertreter des Menschen geschlechts Sie sind. Glauben Sie, ich hätte die blut unterlaufenen Stellen in Lellies Gesicht nicht gese hen? Glauben Sie, es hätte mir Freude gemacht, zuhö ren zu müssen, wie Sie eine Frau anbrüllen, die Sie absichtlich in Unwissenheit gehalten haben, obwohl sie zehnmal mehr Verstand hat als Sie? Mitansehen zu müssen, wie ein brutaler Dummkopf sich als Des pot aufspielt gegenüber einem wehrlosen Geschöpf?
So, jetzt wissen Sie, warum ich Sie für einen Barbaren halte.« Duncan kochte vor Wut, und anderswo hätte er den Mann nicht ausreden lassen. Doch er hatte 20 Jahre Raumfahrt hinter sich und wußte, wie sinnlos es war, sich im Zustand der Schwerelosigkeit, dem sie beide unterworfen waren, in ein Handgemenge ein zulassen, bei dem jede heftige Bewegung einen selbst umwarf und hilflos in der Luft schweben ließ. Sie wußten es beide, und sie beherrschten sich. Der Zwischenfall schien bald vergessen zu sein, doch Alan änderte sein Verhalten Lellie gegenüber nicht. Er setzte seine Expeditionen in dem kleinen Raumschiff, das er mitgebracht hatte, fort, erkundete weitere Teile des Satelliten, kam zurück mit Ge steinsproben, die er untersuchte und sorgfältig etiket tiert in seine Sammlung einordnete. In seinen freien Stunden jedoch beschäftigte er sich weiter damit, Lel lie zu unterrichten. Daß er es in der Hauptsache tat, um sich die Zeit zu vertreiben, und auch weil er sich einbildete, es tun zu müssen, verkannte Duncan nicht, aber er glaubte ebenso sicher zu sein, daß bei dem ständigen Zu sammenhocken der beiden früher oder später sich etwas anderes entwickeln würde. Bis jetzt hatte er noch nichts entdeckt, was zu einem direkten Ver dacht berechtigte, aber Alans Aufenthalt dauerte
noch etwa neun Monate. Lellie schien ihren Lehrer zu vergöttern, soweit sie ihre Gefühle überhaupt verriet. Und Whint verdarb sie jeden Tag mehr durch seine verrückte Art, sie wie eine Erdfrau zu behandeln. Ei nes Tages mußte das Unvermeidliche doch passieren, und dann würden sie in ihm ein Hindernis sehen und versuchen, ihn zu beseitigen. Da nach seiner Meinung Vorbeugen besser war als Nachsehen, kam Duncan zu dem Schluß, daß es nur Notwehr wäre, wenn er dafür sorgen würde, daß diese Situation nie eintrat. Das konnte ohne viel Aufhebens geschehen. Und so geschah es auch. Eines Tages startete Whint zu einem Erkundungs flug zur anderen Seite des Satelliten. Er kam einfach nicht zurück. Das war alles. Es war unmöglich, zu erkennen, wie Lellie über das Ausbleiben ihres Gönners dachte; doch irgend etwas schien in ihr vorzugehen. Während der nächsten Tage stand sie in ihren frei en Stunden fast immer vor dem großen Fenster des Wohnraumes und starrte hinauf in den von flackern den Pünktchen übersäten dunklen Himmel. Mit Alans Rückkehr rechnete sie bestimmt nicht mehr, denn sie wußte so gut wie Duncan selbst, daß hierfür nach Ablauf von 36 Stunden keine Hoffnung mehr bestand. Sie sagte nichts. Ihr Gesicht behielt unverän dert den aufreizenden, leicht überraschten Ausdruck.
Nur in ihren Augen zeigte sich eine kaum merkbare Veränderung; ihr Blick wurde leerer, als habe sie sich in sich selbst zurückgezogen. Duncan konnte nicht sagen, ob sie wußte oder ahn te, was geschehen war. Und er sah keine Möglichkeit, es herauszufinden, ohne ihren Argwohn zu wecken, falls sie die Wahrheit noch nicht erkannt hatte. Er wagte es auch nicht, ihr Vorwürfe zu machen, weil sie stundenlang untätig am Fenster stand. Sehr unbe haglich war ihm die Vorstellung, wie viele Möglich keiten es selbst für ein »dummes Marsweib« gab, ei nen Unfall auf der einsamen Station vorzutäuschen. Als Vorsichtsmaßnahme gewöhnte er sich daran, neue Luftflaschen an seinem Raumanzug zu befesti gen, wenn er hinausging, und zu kontrollieren, ob sie richtig gefüllt waren. Er klemmte auch jedes Mal ei nen Stein so unter die äußere Tür der Luftschleuse, daß sie sich nicht hinter ihm schließen konnte. Ferner achtete er unauffällig darauf, daß sein Essen und das ihre immer aus dem gleichen Topf kamen, und beo bachtete sie scharf beim Kochen. Er wußte immer noch nicht, ob sie Verdacht geschöpft hatte oder nicht. Nachdem es klargeworden war, daß Alan nicht zurückkommen würde, erwähnte sie nie wieder sei nen Namen. Dieses rätselhafte Benehmen behielt sie etwa eine Woche bei, um dann ihre Haltung mit einem Schlag
zu ändern. Der Dunkelheit vor dem Fenster, in der Alan verschwunden war, schenkte sie keine Beach tung mehr. Statt dessen begann sie zu lesen, ver schlang gierig und unterschiedslos Buch auf Buch. Duncan fiel es schwer, ihre Lesewut zu begreifen, und er war auch nicht sehr erbaut davon, aber er be schloß, fürs erste nicht einzuschreiten. Es hatte den Vorteil, daß sie nicht auf dumme Gedanken kam. Allmählich begann er, sich sicherer zu fühlen. Die Krisis war überstanden. Entweder hatte sie nichts bemerkt, oder sie hatte beschlossen, nichts zu unter nehmen. Ihr Leseeifer aber ließ nicht nach. Obwohl Duncan ihr mehrere Male vorhielt, daß er die nicht unbeträchtliche Summe von 2360 Pfund in sie inve stiert hatte, damit er Gesellschaft habe, las sie weiter, als ob sie entschlossen sei, sich durch die ganze Bi bliothek der Station durchzuarbeiten. Als das nächste Schiff eintraf, bewachte er sie ängstlich für den Fall, daß sie im stillen diese Gele genheit abgewartet hatte, der Besatzung ihren Ver dacht mitzuteilen. Doch seine Befürchtungen erwie sen sich als grundlos. Sie zeigte keinerlei Neigung, mit irgend jemandem über die Sache zu sprechen, und als das Schiff wieder abflog und die Gefahr vor über war, konnte er sich mit großer Befriedigung sa gen, daß er doch mit seiner Meinung über sie recht gehabt hatte; sie war eben nur ein stumpfes Mars
weib, sie hatte das Verschwinden Alan Whints ein fach vergessen wie ein Kind eine verlorene Puppe. Doch während Monat um Monat seiner Dienstzeit verging, sah er sich immer mehr genötigt, sein Urteil über ihre Intelligenz zu revidieren. Aus den Büchern lernte sie Dinge, die er nicht wußte. Das hatte gewisse Vorteile, doch weniger angenehm war es ihm, wenn sie ihn, was öfters geschah, nach der Bedeutung von Fremdwörtern fragte und er zugeben mußte, daß er sie nicht kannte. Aus der Abneigung des Ungebilde ten allem Buchwissen gegenüber bemühte er sich, ihr klarzumachen, daß vieles von dem, was in den Bü chern stand, Unsinn sei und daß diese Federfuchser mit den wirklichen Problemen nie so gut fertig wür den wie ein Mann der Praxis, wie zum Beispiel er selbst. Und er erzählte ihr aus seinem Leben, von sei nen Abenteuern und Erfahrungen; ohne daß er es ahnte, wurde er so ihr Lehrmeister in den kleinen, schmutzigen Tricks, die er für wahre Lebensweisheit hielt. Er brachte ihr auch technische und praktische Dinge bei; sie lernte sie ebenso schnell wie »den Unsinn in den Büchern«. Und wieder mußte er seine Ansicht über die Marsmenschen ändern; sie waren nicht so dumm, wie er geglaubt hatte, sie waren nur zu dumm, den Verstand, den sie hatten, praktisch zu verwerten. Lellie
war ein richtiger Schwamm für Wissen jeder Art; bald wußte sie fast genausoviel über den Betrieb der Station und die Handhabung der Maschinen wie er selbst. Es war gewiß nicht seine Absicht gewesen, das fortzuset zen, was Alan Whint begonnen hatte, doch jetzt schmeichelte es seiner männlichen Eitelkeit, Lellies Lehrer zu sein, und außerdem war eine solche Beschäf tigung immer noch der gefährlichen Langeweile der er sten Zeit vorzuziehen. Und dann war ihm eingefallen, daß sich die aufgewandte Mühe vielleicht sogar einmal bezahlt machen konnte. Er beschäftigte sich immer mehr mit diesem Ge danken. Früher hatte er Bildung für Zeitverschwen dung gehalten, doch jetzt begann er sich auszurech nen, daß er, wenn sie zum Mars zurückgekehrt wa ren, von den 2360 Pfund, die er in Lellie investiert hatte, wesentlich mehr wiederhereinholen konnte, als er erwartet hatte. Vielleicht konnte eine gebildete Lel lie eine brauchbare Sekretärin für einen der MarsKolonisten abgeben. Und er begann, ihr die Grund begriffe kaufmännischer Buchführung beizubringen, soweit er sie selbst kannte. Die Tage, Wochen und Monate vergingen jetzt im mer schneller. Nachdem er einmal die Gewißheit hat te, daß er durchhalten würde, war es ein wunderba res Gefühl, hier oben in dem Bewußtsein zu sitzen, daß zu Hause sein Bankkonto ständig wuchs.
Auf der Callisto wurde ein neues Erzlager ent deckt, und die Anlieferungen auf Jupiter IV/II wur den etwas häufiger; doch sonst blieb der Betrieb un verändert. In unregelmäßigen Abständen kamen die Raumschiffe, luden auf und ab und starteten wieder zum Rückflug. Und dann, überraschend bald, war Duncan in der Lage, zu sich selbst zu sagen: Noch ein Schiff, und ich hab's überstanden! Und noch schneller und überraschender kam der Tag, an dem er auf der Metallscheibe vor der Wohnkuppel stand, zusah, wie ein Schiff sich vom Boden löste und fauchend im schwarzen Himmel verschwand, und sagen konnte: Dies ist das letzte Mal, daß ich das sehe! Wenn das nächste Schiff von diesem gottverlassenen Felsklum pen startet, dann werde ich an Bord sein, und dann ... Junge, Junge ...! Er beobachtete das Schiff, das bald nur noch ein flackernder Punkt unter vielen anderen war, bis der Horizont des rotierenden Satelliten es seinen Blicken entzog. Dann wandte er sich um, ging zur Luft schleuse hinüber und fand die Tür geschlossen ... Nachdem er einmal zu dem Schluß gekommen war, daß die Sache mit Alan Whint keine Folgen ha ben würde, hatte er seine Gewohnheit, die Tür mit einem Stück Fels festzuklemmen, aufgegeben. Immer, wenn er hinaus mußte, ließ er sie angelehnt, und so blieb sie, bis er zurückkam. Es gab keinen Wind auf
dem Satelliten und kein Lebewesen, das die Tür be wegen konnte. Verwirrt legte er die Hand auf die Klinke und drückte. Sie bewegte sich nicht. Duncan schwor darauf, daß die Tür sich festge klemmt habe. Er ging an der runden Außenwand der Kuppelhütte entlang bis zu dem großen Fenster des Wohnraumes, um hineinzusehen. Lellie saß in einem Sessel, die Haltedecke über den Knien, und schien in Gedanken versunken zu sein. Die Innentür der Luft schleuse stand offen, die äußere konnte also nicht bewegt werden. Sowohl die SicherheitsSchnappvorrichtung als auch der Luftdruck in der Hütte hielten sie geschlossen. Ohne daran zu denken, daß es zwecklos sei, klopfte Duncan gegen das dicke Glas des Doppelfensters, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie konnte das Geräusch nicht gehört haben; es mußte sein be wegter Schatten gewesen sein, der sie veranlaßte, aufzublicken. Sie wandte den Kopf und sah zu ihm herüber, ohne sich sonst zu bewegen. Duncan starrte sie an. Ihr Haar war noch gewellt, aber Augenbrauen, Schminke, Puder und Lippenrot, alles, worauf er be standen hatte, damit sie einer Erdfrau möglichst ähn lich sähe, war verschwunden. Ihre Augen, die un verwandt auf ihn gerichtet blieben, saßen wie zwei kalte Steine in der Maske eingefrorenen Überrascht seins.
Die plötzliche Erkenntnis der Wahrheit traf Duncan wie ein körperlicher Schlag. Für mehrere Sekunden war sein Bewußtsein wie ausgelöscht. Dann versuchte er, sich und ihr weiszumachen, daß er die Situation nicht verstanden habe. Durch Ge sten forderte er sie auf, die Innentür der Luftschleuse zu schließen. Sie aber starrte ihn weiter mit ihrem lee ren Blick an und rührte kein Glied. Dann sah er das Buch, das sie in der Hand hielt, und erkannte es. Es war kein Buch aus der Bibliothek der Station. Es war ein Gedichtband, blau gebunden. Er hatte einmal Alan Whint gehört ... Panische Angst überfiel Duncan. Er sah hinunter auf die Reihe kleiner Luftdruckmesser vor seiner Brust und seufzte erleichtert, auf. Sie hatte nicht versucht, seine Luftzufuhr zu stören; es war genug Druck vorhanden für etwa 30 Stunden. Der Schweiß, der ihm auf die Stirn getreten war, erkaltete, und er gewann wieder die Kon trolle über seine Nerven. Ein Druck auf den Knopf sei ner Rückendüse brachte ihn schwebend zurück zur Luftschleuse, wo er seine magnetischen Schuhe wieder anlegte und versuchte, in Ruhe nachzudenken. So ein Luder! Ließ ihn die ganze Zeit in dem Glau ben, sie habe alles vergessen. Ließ ihn seine Zeit ab arbeiten, während sie ihre Pläne schmiedete. Wartete bis zum letzten Augenblick, um sie auszuführen. Mehrere Minuten vergingen, bis seine Wut und
seine Angst sich so weit gelegt hatten, daß er einen klaren Gedanken fassen konnte. 30 Stunden! Eine Menge Zeit, um etwas zu unter nehmen. Und selbst wenn es ihm innerhalb 20 Stun den nicht gelingen sollte, in die Hütte zurückzuge langen, dann blieb ihm immer noch die letzte, ver zweifelte Möglichkeit, sich in einer der Frachtraketen zur Callisto hinaufzuschießen. Und wenn Lellie später die Geschichte mit Whint wieder aufrühren wollte, war auch nichts zu befürch ten. Er war sicher, daß sie nicht wußte, wie er es ge macht hatte. Es würde das Wort eines dummen Marsweibes gegen das seine stehen. Bestimmt würde man sie für raumverrückt erklären. ... Und trotzdem, etwas könnte hängenbleiben. Es war klüger, hier und jetzt mit ihr ins reine zu kom men. Außerdem war die Sache mit den Frachtraketen ziemlich riskant und nur im äußersten Notfall in Be tracht zu ziehen. Zunächst mußte er andere Möglich keiten ausprobieren. Duncan überlegte weiter und schoß sich dann zu dem kleineren Kuppelbau hinüber. Dort schaltete er die Leitungen ab, die den Strom der von dem Son nenmotor gespeisten Hauptbatterie heranführten. Jetzt brauchte er nur abzuwarten. Es würde lange dauern, bis die isolierte Kuppel ihre ganze Wärme verlor, doch in ihrem Inneren mußte sehr bald ein
merkbarer Temperatursturz erfolgen, wenn der Heiz strom einmal abgeschaltet war. Die kleinen schwa chen Batterien, die sich in der Hütte befanden, wür den ihr nicht viel helfen, selbst wenn sie auf die Idee kam, sie hintereinanderzuschalten. Er wartete eine Stunde, während die ferne Sonne unterging und der leuchtende Rand der Callisto über dem Horizont auftauchte. Dann ging er zurück zur Wohnhütte und näherte sich dem Fenster, gespannt, welche Wirkung sein Gegenzug gehabt habe. Er kam gerade zurecht, um zu sehen, wie Lellie im Lichte ei niger Notlampen ihren Raumanzug anlegte. Er fluchte. Mit dem Ausfrieren war es also nichts. Nicht nur würde der geheizte Anzug sie schützen, auch ihr Luftvorrat würde länger vorhalten als der seine; wenn die freie Luft in der Kuppel zu kalt wur de, stand das ganze Lager an Ersatzluftflaschen zu ih rer Verfügung. Er wartete, bis sie ihren Helm aufgesetzt hatte, und schaltete dann das Radio in seinem eigenen ein. Er sah, wie sie beim Klang seiner Stimme in ihren Bewe gungen stockte, doch sie antwortete nicht. Jetzt schal tete sie sogar ihren eigenen Empfänger ab. Er selbst tat es nicht; er ließ ihn eingeschaltet, um bereit zu sein für den Augenblick, da sie wieder zur Vernunft kommen würde.
Duncan ging zurück zu dem magnetischen Metall vorplatz und überlegte von neuem. Es war seine Ab sicht gewesen, in die Hütte einzudringen, ohne sie zu beschädigen. Wenn er Lellie nicht durch Erfrieren er ledigen konnte, dann war dies kaum möglich. Was die Luft anging, so war sie ihm gegenüber im Vorteil, und wenn sie in ihrem Raumanzug weder essen noch trinken konnte, so traf dies auch für ihn zu. Der ein zige Weg in die Hütte schien durch die Wand zu füh ren. Nur sehr widerstrebend ging er zu der kleineren Hütte zurück und stöpselte den elektrischen Schneidbrenner ein. Das Kabel schnellte hinter ihm her, als er wieder zur Wohnhütte zurückschoß. Er stand vor der metallenen doppelwandigen Halbkugel und überlegte, wie er vorgehen müßte, um sich nicht selbst in Gefahr zu bringen. Wenn er einmal durch die äußere Wand hindurch war, würde er auf das Iso lationsmaterial stoßen; dieses würde wegschmelzen wie Butter und auch nicht Feuer fangen in der sauer stofffreien Raumatmosphäre. Schwieriger wurde es schon mit der inneren Metallhülle. Es würde klug sein, zunächst einige Löcher in sie zu bohren, um die Luft entweichen zu lassen. Während dies geschah, mußte er genügend weit zur Seite treten, um in sei nem schwerelosen Zustand nicht von dem Luftstrom weggeblasen zu werden. Und wie würde sie reagie
ren? Nun, wahrscheinlich würde sie versuchen, die Löcher sofort abzudecken, und besonders unange nehm wäre es, wenn sie dazu Asbestplatten verwen den würde; dann bliebe ihm nichts anderes übrig, als den Luftstrom auszuhalten, um schneller zu sein als sie. Die beiden Hüllen konnte er später wieder dicht schweißen, bevor er die Kuppel von neuem aus den Reserveflaschen mit Luft füllte. Der geringe Verlust an Isolierung würde nichts schaden. Also, ans Werk! Er verschaffte sich genügend Halt, um dem Ge gendruck des Schneidbrenners standhalten zu können. Dann setzte er ihn an und drückte auf den Schalthebel. Er drückte wieder, und dann fluchte er, als er sich erin nerte, daß er den Strom abgeschaltet hatte. An dem Kabel treidelte er zurück zur anderen Hüt te und schaltete den Strom wieder ein. Aus den Fen stern der Wohnhütte fiel plötzlich heller Lichtschein auf die nahen Felsen. Er fragte sich, ob der wieder eingeschaltete Strom Lellie verraten würde, was er vorhatte. Und wenn, was würde sie dann tun? Nun, sie würde es ohnehin bald merken. Er ließ sich wieder vor der Hüttenwand auf die Knie nieder, setzte den Schneidbrenner an. Dieses Mal funktionierte er. In wenigen Minuten hatte er ein rundes Stück von etwa einem halben Meter Durch messer herausgeschnitten. Er bog es zur Seite und un tersuchte die Öffnung. Als er den Apparat wieder an
setzen wollte, hörte er in seinem Empfänger ein Klik ken, und an seinem Ohr sprach Lellies Stimme: »Versuche nicht, einzubrechen. Ich bin darauf vor bereitet.« Er zögerte und überlegte, welchen Gegenzug sie sich ausgedacht haben konnte. Der drohende Ton in ihrer Stimme bereitete ihm Unbehagen. Er beschloß, zu dem Fenster zu gehen und festzustellen, ob sie nicht vielleicht nur geblufft hatte. Sie stand am Tisch, immer noch im Raumanzug, und fingerte an einer Vorrichtung herum, die sie sich selbst zusammengebastelt haben mußte. Zunächst konnte er nicht ausmachen, was sie damit bezweckte. Es war eine halbaufgeblasene Plastiktüte, die sie ir gendwie am Tisch befestigt hatte. Sie war eben dabei, eine Metallplatte in einem kleinen Abstand über der Tüte aufzuhängen. Auf der Oberseite der Tüte war ein Draht angeklebt. Duncans Blick folgte diesem Draht; er führte zu einer Batterie und dann weiter zu einer Zündkapsel, die in einem Bündel von etwa ei nem Dutzend Sprengstoffstäben steckte ... Und jetzt verstand er. Es war sehr einfach, was sie sich da ausgedacht hatte, und es konnte seine Wir kung nicht verfehlen. Wenn der Luftdruck in der Kuppel nachließ, würde sich die Tüte ausdehnen, der Draht würde den Kontakt mit der Metallplatte her stellen, und der ganze Bau würde in die Luft gehen ...
Lellie befestigte nun auch den zweiten Draht, der von der Metallplatte ausging, an der Batterie. Dann wandte sie sich um und sah ihn vor dem Fenster ste hen. Auf ihrem Gesicht lag immer noch der aufrei zende Ausdruck kindlicher Überraschung, und es war schwer, zu glauben, daß sie wirklich begriff, was sie tat. Duncan versuchte, zu ihr zu sprechen; doch sie hat te ihr Radio abgeschaltet und machte keine Anstalten, es wiedereinzuschalten. Sie stand nur da und sah ihn mit leeren Blicken an, während er wütete und tobte. Nach einer Weile ging sie langsam quer durch den Raum zu einem Sessel, setzte sich, befestigte die ela stische Haltedecke über ihrem Schoß und beachtete ihn nicht mehr. »Gut! Wie du willst, du verdammtes Luder!« brüll te Duncan innerhalb seines Helmes. »Dann gehst du eben mit hoch!« Es war natürlich nur eine leere Dro hung blinder Wut, denn er hatte weder die Absicht, die Wohnhütte noch sich selbst in die Luft zu spren gen. Er hatte nie gelernt, genau zu erkennen, was hinter ihrem »blöde staunenden« Gesicht vorging; sie konn te kalt entschlossen sein, das geschehen zu lassen, was sie eingefädelt hatte, vielleicht ging es aber doch über ihre Kräfte. Wenn sie einen Hebel hätte betäti gen müssen, um die Kuppel und sie beide zu vernich
ten, hätte er es vielleicht darauf ankommen lassen, daß sie im letzten Augenblick davor zurückschreckte. Doch jetzt würde er es sein, der im gleichen Augen blick die Explosion auslösen mußte, wenn er ein Loch in die innere Wand bohrte und die Luft ausströmte. Wieder zog er sich zurück auf die Metallplatte, um sich durch seine Magnetschuhe einen besseren Halt zu verschaffen und in Ruhe zu überlegen. Er mußte einen Weg finden, in die Hütte zu gelangen, ohne die Luft herauszulassen. Er dachte lange nach; doch wenn es einen solchen Weg gab – er fiel ihm nicht ein. Außerdem, wer garantierte ihm, daß sie ihre Höllen maschine nicht selbst einschaltete, wenn sie befürch tete, daß er sie überlisten könnte? Nein, es blieb ihm keine andere Wahl; er mußte es mit der Frachtrakete versuchen. Er blickte hinauf zur Callisto, die jetzt riesig am Himmel hing, und über ihr, kleiner, doch heller, Jupi ter. Es war nicht der Flug selbst, der ihm Kopf schmerzen bereitete, es war die Landung. Vielleicht konnte er den Aufprall gut überstehen, wenn er ge nügend Material fand, um die Rakete innen auszu polstern. Später würden ihn die Männer der Callisto in ihrer Fähre hierher zurückbringen. Mit ihrer Hilfe würde er schon einen sicheren Weg in die Wohnhütte ausfindig machen, und dann hätte Lellie endlich ei nen guten Grund, ein erstauntes Gesicht zu machen.
Am hinteren Rand der Landefläche lagen drei Frachtraketen, mit Treibstoff versehen und fertig zum Gebrauch. Er machte keinen Hehl daraus, daß er vor der Landung Angst hatte, aber wenn sie nicht einmal ihr Radio einschaltete, um ihn anzuhören, dann blieb ihm keine andere Wahl. Und noch länger abzuwar ten, war nicht ratsam. Er legte seine Magnetschuhe ab, trat von der Me tallscheibe und schoß sich über den Platz zu den Frachtraketen hinüber. Bald hatte er die zunächst lie gende auf die Abschußrampe geschafft. Ein Blick auf die Callisto zeigte ihm, daß sie in einer günstigen Po sition war und er sie sicher erreichen würde. Wenn sie drüben auch ihren Richtstrahl nicht eingeschaltet hatten, konnte er doch die Radioverbindung mit ih nen aufnehmen, wenn er näher herangekommen war, und sich zur Landung einweisen lassen. Es war nicht sehr viel Polstermaterial in der Rakete. Er trug einiges aus den anderen Raketen heran und füllte den leeren Laderaum damit aus; so konnte auch ein sehr starker Aufprall ihn nicht ernstlich gefähr den. Während er überlegte, wie er die Rakete ab schießen könnte, nachdem er eingestiegen war, spür te er, daß ihm kalt wurde. Er griff nach dem Schalt knopf, um die Heizung seines Raumanzuges stärker zu stellen, und als er gleichzeitig einen Blick auf das Voltmeter an seinem Gürtel warf, wußte er, daß er
verloren war. Sie hatte damit gerechnet, daß er nur seine Luftflaschen kontrollieren würde, und war auf den teuflischen Gedanken verfallen, seine Heizbatte rie auf irgendeine Weise zu entladen oder stillzule gen. Die Spannung war so schwach, daß die Nadel kaum noch ausschlug. Der Anzug mußte schon seit geraumer Zeit Wärme verlieren. Er wußte, daß er nicht mehr lange durchhalten konnte, vielleicht nicht mehr als ein paar Minuten. Die Todesangst, die ihn befiel, wich bald einer ohn mächtigen Wut. Sie hatte ihn überlistet, hatte ihm die letzte Chance zum Überleben genommen – nun, dar an war nichts mehr zu ändern, aber, beim Himmel, er konnte verhindern, daß sie ungestraft davonkam. Er würde dran glauben müssen, aber nur ein kleines Loch in der Innenwand der Kuppel, und sie ging mit ihm ... Er erschauerte. Die Kälte schien wie mit Eisfingern durch den Anzug hindurch nach ihm zu greifen. Er drückte auf den Knopf seiner Rückendüse, die ihn taumelnd zur Wohnhütte zurückbeförderte. Die Kälte fraß sich in ihn hinein. Seine Füße und seine Hände begannen zu erstarren. Nur mit äußerster Anstren gung konnte er die Bremsdüse betätigen, kurz bevor er gegen die Wohnhütte prallte. Doch er war nicht nahe genug herangekommen. Er hing etwa einen Me ter über dem Boden. Der Schneidbrenner lag noch an
der Stelle, wo er die Außenwand aufgeschnitten hat te, nur wenige Zentimeter außerhalb seiner Reichwei te. Verzweifelt versuchte er, die Düse noch einmal in Betrieb zu setzen, die ihn nach unten drücken sollte, doch seine Finger wollten sich nicht mehr bewegen. Stöhnend, fluchend, weinend vor Wut bemühte er sich vergeblich, die Hand an den Knopf zu bringen. Die Kälte hatte auch seine Arme gelähmt. Und plötz lich verspürte er einen brennenden Stich in der Brust, der ihn aufschreien ließ. Er glaubte, ersticken zu müs sen, atmete tief ein ... und die eisige Luft strömte in seine Lungen, ließ sie im gleichen Augenblick erfrie ren ... Im Wohnraum der Kuppelhütte stand Lellie reglos und wartete. Sie hatte die Gestalt im Raumanzug mit anomaler Geschwindigkeit über den Platz heran schießen sehen. Sie begriff sofort, was dies zu bedeu ten hatte. Ihre Höllenmaschine hatte sie bereits un schädlich gemacht. Sie stand in der Nähe der Au ßenwand, in den Händen eine dicke Gummimatte, bereit, sie über jedes Loch zu decken, das sich zeigen würde. Sie wartete eine Minute, zwei Minuten ... Als fünf Minuten vergangen waren, trat sie zum Fenster. Das Gesicht gegen die Scheibe drückend und nach der Seite schauend, sah sie hinter der Rundung der Metallkuppel zwei Beine in einem Raumanzug her vorragen. Sie schwebten horizontal etwa einen Meter
über dem Boden. Sie beobachtete sie. Ihre langsame Abwärtsbewegung war kaum zu erkennen. Sie trat vom Fenster zurück, ließ die Gummimatte los und schob sie zur Seite, so daß sie wie ein fliegen der Teppich durch den Raum segelte. Mit hängenden Armen stand sie eine Weile da und starrte vor sich hin. Dann ging sie zu dem Bücherregal und zog den letzten Band des Lexikons heraus, setzte sich an den Tisch, schlug den Buchstaben »W« auf, suchte das Wort »Witwe« und las sorgfältig mehrere Male, was dort an Rechten und Erbansprüchen aufgeführt war. Lange saß sie, einen Bleistift in der Hand, vor ei nem Schreibblock und rief sich ins Gedächtnis zu rück, was sie an Buchführung gelernt hatte. Dann be gann sie, Zahlen niederzuschreiben. Als sie ihre Rechnung beendet hatte und den Kopf hob, war kei ne Veränderung in ihren Zügen vor sich gegangen, obwohl fünfmal 5000 Pfund, zuzüglich sechs Prozent aufgelaufener Zinsen und Zinseszinsen einen Betrag ergaben, der für einen Marsmenschen ein Vermögen darstellte. Auch als sie dann in einem plötzlichen Einfall von der Endsumme die Zahl 2360 abzog, änderte sich der Ausdruck leichter Überraschung in ihrem Gesicht nicht.
Arthur C. Clarke
Die neun Milliarden Namen Gottes »Dies ist ein etwas ungewöhnliches Anliegen«, sagte Dr. Wagner mit der ihm als geboten erscheinenden Zu rückhaltung. »Soweit ich informiert bin, ist dies das er ste Mal, daß jemand aus unserer Branche den Auftrag erhalten hat, einen automatischen Reihen-Kalkulator an ein tibetanisches Lama-Kloster zu liefern. Ich möch te nicht indiskret sein, doch ich kann mir schlecht vor stellen, daß Ihre ... äh ... Institution viel Verwendung für eine solche Maschine hat. Könnten Sie mir erklären, was Sie damit zu tun gedenken?« »Mit großem Vergnügen«, erwiderte der Lama, legte behutsam den Rechenschieber nieder, den er zur Um rechnung des Währungskurses benutzt hatte, und strich die weiten Ärmel seines seidenen Gewandes glatt. »Ihr Mark-V-Varianten-Kalkulator ist in der La ge, jede mögliche Kombination mit Zahlen bis zu zehn Stellen durchzuführen. Für unser Vorhaben kommen jedoch Buchstaben in Frage, keine Ziffern. Da wir Sie gebeten haben, die Typen der Schreibmaschine, die die Resultate wiedergibt, entsprechend zu ändern, wird sie uns Worte liefern und nicht Zahlenkolonnen.« »Ich verstehe nicht ganz ...«
»Es handelt sich um eine Aufgabe, an deren Lö sung wir seit drei Jahrhunderten, seit der Gründung unseres Klosters arbeiten. Die Sache mag für Ihre Oh ren etwas fremd klingen, und deshalb möchte ich Sie bitten, aufmerksam und unvoreingenommen zuzuhö ren, während ich sie Ihnen zu erklären versuche.« »Äh ... selbstverständlich!« »Im Grunde ist das Ganze sehr einfach. Wir stellen eine Liste zusammen, die alle möglichen Namen Got tes enthalten soll.« »Wie bitte?« »Wir haben Gründe, anzunehmen«, fuhr der Lama unerschüttert fort, »daß alle diese Namen mit den neun Buchstaben eines Alphabets geschrieben wer den können, das wir entworfen haben.« »Und das haben Sie drei Jahrhunderte lang getan?« »Ja. Inzwischen haben wir ausgerechnet, daß wir 15 000 Jahre brauchen würden, um unsere Aufgabe zu vollenden.« »Oh!« Dr. Wagner konnte seine Verblüffung nicht verbergen. »Jetzt verstehe ich, warum Sie eine unse rer Maschinen mieten wollen. Doch was ist der Zweck dieses Unternehmens?« Der Lama zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, und Dr. Wagner befürchtete, daß er ihn verletzt habe. Wenn dem so war, dann ließ der Lama in seiner Antwort nichts davon merken.
»Sie mögen es für ritualistisch, für äußerlich halten, doch es ist ein fundamentaler Bestandteil unseres Glaubens. Alle die vielen Namen des höchsten We sens, wie Jehovah, Gott, Allah usw., sind nur von Menschen erfundene Bezeichnungen. Hier liegt ein philosophisches Problem von letzter Bedeutung vor, das ich hier nicht erörtern möchte; doch unter sämtli chen möglichen Kombinationen unserer neun Buch staben müssen auch jene Worte vorkommen, die den wahren Namen Gottes darstellen. Durch die systema tische Permutation der Buchstaben haben wir ver sucht, sie alle zu erfassen.« »Ich verstehe. Sie haben mit AAAAAAAAA be gonnen und wollen dies fortsetzen bis zum ZZZZZZZZZ ...« »Ja, so ungefähr, obwohl wir natürlich unser eigenes Alphabet benützen. Die elektromatischen Schreibma schinen auf dieses Alphabet umzustellen, dürfte leicht sein. Ein schwierigeres Problem stellt es schon dar, den Umlauf des Rechenautomaten so zu regulieren, daß keine überflüssigen, ich möchte sagen, lächerlichen Kombinationen entstehen. So soll z.B. ein Buchstabe nie mehr als dreimal hintereinander erscheinen.« »Dreimal? Sie meinen sicher zweimal.« »Nein, ich meine dreimal. Ich fürchte, es würde zu lange dauern, Ihnen zu erklären, warum, selbst wenn Sie unsere Sprache verstehen würden.«
»Das befürchte ich auch«, sagte Dr. Wagner beflis sen. »Fahren Sie nur fort.« »Glücklicherweise wird es einfach sein, Ihren Au tomaten-Reihen-Kalkulator für diese Arbeit einzu spannen, denn wenn er einmal richtig programmiert ist, wird er alle Buchstaben nacheinander permutie ren und die Resultate selbst aufschreiben. Wozu wir 15 000 Jahre gebraucht hätten, das werden wir mit ihm in 100 Tagen erledigen können.« Dr. Wagner war sich kaum der schwachen Geräu sche bewußt, die aus Manhattans Straßenschluchten heraufklangen. Er fühlte sich in eine andere Welt ver setzt, in eine Welt natürlicher, nicht von Menschen ge schaffener Berge. Hoch oben in ihren Bergklöstern hat ten diese Mönche geduldig, Generation auf Generati on, daran gearbeitet, Listen von sinnlosen Worten zu sammenzustellen. Gab es eine Grenze für die Torheit der Menschen? Doch er mußte seine geheimen Gedan ken für sich behalten. Der Kunde hat immer recht ... »Sicher ist es möglich«, erwiderte Dr. Wagner, »die Mark V so einzustellen, daß sie solche Listen liefert. Mehr Kopfzerbrechen macht mir die Frage des Transports und der Überwachung und Instandhal tung. Nach Tibet hinaufzukommen, ist auch heute noch keine leichte Sache.« »Daran haben wir gedacht. Die Einzelteile der Ma schine sind klein genug, um per Luft befördert zu
werden; dies ist auch der Grund, weshalb wir Ihr Fa brikat gewählt haben. Wenn Sie die Teile bis Indien bringen, werden wir für den Weitertransport sorgen.« »Und Sie möchten zwei unserer Ingenieure enga gieren?« »Ja, für die drei Monate, die das Vorhaben in An spruch nehmen wird.« »Ich bin sicher, daß unser Personalbüro das arran gieren kann.« Dr. Wagner kritzelte eine Notiz auf sei nen Block. »Da wären noch zwei andere Punkte ...« Bevor er seinen Satz beenden konnte, hatte der Lama ein kleines Stück Papier zum Vorschein ge bracht. »Dies ist mein beglaubigter Kreditbrief der Asiati schen Bank.« »Oh, danke sehr! Das ... äh ... genügt. Der zweite Punkt ist so banal, daß ich zögere, ihn zu erwähnen; doch es ist erstaunlich, wie oft man die selbstver ständlichsten Dinge übersieht. Was haben Sie an elek trischer Energie zur Verfügung?« »Ein Diesel-Aggregat, das 50 Kilowatt von 110 Volt Spannung liefert. Es ist vor fünf Jahren installiert worden und arbeitet sehr zuverlässig. Wir erzeugen auch Licht damit; das macht das Leben im Kloster angenehmer. Doch angeschafft haben wir es natür lich, um den Strom für die Motoren zu erzeugen, die unsere Gebetsmühlen treiben.«
»Natürlich«, antwortete Dr. Wagner, »darauf hätte ich selber kommen müssen.« Die Aussicht über die Brüstung, die das Felsplateau abschloß, war schwindelerregend, doch mit der Zeit gewöhnt sich der Mensch an alles. Jetzt, nach drei Monaten, war George Hanley unempfindlich gewor den gegen den Blick in den 500 Meter tiefen Ab grund, in den der Felsen steil abfiel, oder auf das Schachbrett der Felder, das die Ebene zu seinen Fü ßen scheinbar endlos bedeckte. Lässig gegen den vom Wind geglätteten Stein gelehnt, starrte er verdrossen über das Tal hinweg auf die fernen Berge, deren Na men zu erfahren er sich bis jetzt nicht die Mühe ge macht hatte. Dieser Job, dachte George, war das Verrückteste, das er je erlebt hatte. »Unternehmen Kauderwelsch« hatte ein Witzbold zu Hause diesen Auftrag getauft. Seit Wo chen spie die Mark V nun Meilen von Papierstreifen aus, die mit sinnlosen Buchstabenzusammenstellun gen bedeckt waren. Geduldig und unerbittlich ordnete die Maschine die neun tibetanischen Lettern in sämtli chen möglichen Kombinationen, immer wieder von vorn beginnend, wenn eine Variationsreihe beendet war. Und unermüdlich nahmen die Mönche die aus dem elektromatischen Schreiber hervorquellenden Bänder in Empfang, schnitten sie sorgfältig in gleich
lange Stücke und klebten sie in große Folianten ein. In einer Woche, dem Himmel sei Dank, würde der Appa rat die ihm gestellte Aufgabe bewältigt haben. Welche dunklen Überlegungen die Mönche davon abhielten, diese Operation auf zehn, 20 oder 100 Buchstaben aus zudehnen, das wußte George nicht. Er lebte unter dem ständigen Alpdruck, daß der Plan doch noch in letzter Minute geändert würde und daß der höchste Lama, den sie »Old Sam« nannten, ihnen plötzlich eröffnete, das Projekt sei erweitert worden und würde ungefähr bis zum Jahre 2060 dauern. Es war ihnen zuzutrauen. George hörte das schwere Holztor hinter sich zu schlagen, und Chuck trat neben ihn an die Brüstung. Chuck rauchte wie üblich eine seiner Zigarren, die ihn im Kloster so beliebt machten. Denn die Mönche schienen den kleinen und auch den meisten der grö ßeren Annehmlichkeiten nicht abhold zu sein. Dies war etwas, das zu ihren Gunsten sprach; sie mochten verrückt sein – Kostverächter waren sie nicht. Dafür zeugten z.B. auch ihre häufigen, nächtlich-heimlichen Ausflüge in das Dorf, das am Fuße des Felsens lag. »Hör zu, George«, sagte Chuck aufgeregt, »ich ha be etwas erfahren, das Ärger bedeutet.« »Was ist los? Panne in der Maschine?« Dies war die schlimmste aller Möglichkeiten, die George sich vor stellen konnte. Es würde ihre Heimkehr verzögern, und nichts konnte für ihn gräßlicher sein. In der Ge
mütsverfassung, in der er sich befand, hätte er jetzt selbst eine Fernseh-Werbesendung wie Manna vom Himmel genossen; sie wäre wenigstens ein Stück Hei mat gewesen. »Nein, nichts dergleichen.« Chuck setzte sich auf die Mauer, was sehr ungewöhnlich war, denn bisher hatte er immer Angst gehabt, hinunterzufallen. »Ich habe he rausgefunden, was der ganze Rummel hier bedeutet.« »Wie meinst du das? Ich denke, das wüßten wir.« »Sicher, wir wissen, was die Mönche wollen. Aber wir wußten nicht, warum. Es ist die verrückteste Ge schichte ...« »Wem sagst du das?« brummte George. »Old Sam hat mir soeben reinen Wein einge schenkt. Du weißt doch, daß er jeden Nachmittag he reinkommt, um eine Weile stumm zu beobachten, wie die Streifen aus der Maschine herausflattern. Nun, heute erschien er mir ein bißchen aufgekratzt, soweit das bei ihm überhaupt möglich ist. Als ich ihm sagte, daß wir bei der letzten Variantenreihe seien, fragte er mich in seinem ulkigen Englisch, ob ich mich niemals gewundert hätte, warum sie das eigentlich machten. Ich erwiderte: ›Sicher‹, und er sagte es mir.« »Schieß los! Ich bin auf alles gefaßt.« »Nun, sie glauben, wenn sie alle Namen Gottes in ihren Büchern hätten – und sie rechnen, daß es unge fähr 9 Milliarden sind –, dann wäre der Wille des
Schöpfers erfüllt. Die menschliche Rasse hätte damit vollendet, wozu sie geschaffen war, und es bestünde kein Grund mehr für sie, weiterzuexistieren.« »Und was erwarten sie von uns, das wir dann tun sollen? Uns umbringen?« »Das wird nicht nötig sein. Wenn die Listen voll ständig sind, dann tritt Gott in Aktion und räumt auf ... Tableau!« »Aha, ich verstehe. Wenn wir mit unserer Arbeit fertig sind, geht die Welt unter.« Chuck kicherte nervös. »Genau das habe ich zu Old Sam gesagt. Und weißt du, wie der reagiert hat? Er hat mich angeschaut wie einen Schuljungen, der eine dumme Frage gestellt hat, und sagte: ›Nichts ist natürlicher als dies.‹« George dachte eine Weile nach. »Das nenne ich, die Dinge von höchster Warte se hen«, sagte er dann. »Doch was glaubst du, was wir jetzt tun sollen? Ich sehe keinen Grund zur Aufre gung. Daß sie verrückt sind, haben wir schon immer gewußt.« »Ja, aber siehst du denn nicht, was uns passieren kann? Wenn die Listen fertig sind und dann die Po saunen des Letzen Gerichts nicht ertönen – oder was sie sonst erwarten –, dann werden sie uns die Schuld geben. Es ist unsere Maschine, die sie benutzen. Mir gefällt die Sache ganz und gar nicht.«
»Ich verstehe«, sagte George langsam. »Da ist et was dran. Aber so etwas ist schon oft passiert, mußt du wissen. Ich erinnere mich, als ich ein Kind war, hatten wir in Louisiana einen Dummkopf, der predig te, daß am nächsten Sonntag die Welt untergehen würde. Hunderte Menschen glaubten ihm, verkauf ten sogar ihre Häuser. Als dann nichts geschah, wur den sie keineswegs auf ihren falschen Propheten bö se. Sie kamen zu dem Schluß, daß er sich nur im Da tum geirrt hatte, und glaubten weiter an ihn. Ich schätze, einige von ihnen tun es heute noch.« »Ja, aber hier ist nicht Louisiana, wenn du es noch nicht gemerkt haben solltest. Wir beide sind hier al lein unter Hunderten von diesen Mönchen. Ich mag sie gern, und Old Sam wird mir leid tun, wenn sein Lebenswerk platzt. Trotzdem wünschte ich, ich wäre anderswo.« »Das wünsche ich mir schon seit Wochen. Doch wir können nichts unternehmen, bevor unser Kontrakt abgelaufen ist und das Flugzeug kommt, um uns ab zuholen.« »Vielleicht«, meinte Chuck nachdenklich, »können wir versuchen, mit ein bißchen Sabotage nachzuhel fen.« »Den Teufel werden wir! Das würde die Sache nur noch schlimmer machen.« »Nicht, wenn wir tun, was ich mir ausgedacht ha
be. Paß mal auf! Die Maschine wird in vier Tagen mit dem letzten Zyklus zu Ende sein, wenn sie wie bis jetzt 24 Stunden am Tage läuft. Das Flugzeug kommt in einer Woche. Wir müssen also nur bei der nächsten Überholpause etwas finden, das eine Reparatur nötig macht, etwas, das die Arbeit um ein paar Tage verzö gert. Wir werden die Maschine natürlich wieder in Ordnung bringen, aber nicht zu schnell. Wenn wir die Zeit genau berechnen, können wir unten auf dem Flugplatz sein, wenn der letzte Namen aus dem Ka sten springt. So werden sie das Nachsehen haben, falls es ihnen einfällt, sich an uns rächen zu wollen.« »Der Gedanke gefällt mir nicht«, erwiderte George. »Es wäre das erste Mal, daß ich eine Arbeit im Stich lasse. Außerdem würde sie das erst recht argwöh nisch machen. Nein, ich bleibe und warte ab, was kommt.« »Die Sache gefällt mir immer noch nicht«, sagte er sieben Tage später, als sie auf den zähen Bergponys den steilen, gewundenen Pfad hinunterritten. »Und glaube ja nicht, daß ich weglaufe, weil ich Angst ha be. Mir tun nur die armen Burschen dort oben leid, und ich möchte nicht dabei sein, wenn sie entdecken, was für Narren sie gewesen sind. Wissen möchte ich nur, wie Old Sam es hinnehmen wird.« »Es ist ulkig«, erwiderte Chuck, »doch als ich mich
von ihm verabschiedete, hatte ich den Eindruck, er verstünde, daß wir ihn sitzen ließen, machte sich aber nichts daraus, weil er wußte, daß die Maschine ord nungsgemäß lief und ihre Arbeit bald vollendet ha ben würde. Hinterher ..., nun, für ihn gibt es eben kein Hinterher ...« George drehte sich im Sattel halb um und schaute zurück, den Pfad hinauf. Hier war die letzte Stelle, von der aus man einen freien Blick auf das LamaKloster hatte. Die niederen, eckigen Gebäude zeichne ten sich scharf gegen die Abendröte ab. In ihren Mau ern glühten vereinzelte Lichtpunkte wie die Bullau gen eines Ozeandampfers. Es waren die elektrischen Birnen, die ihren Strom mit der Mark V teilten. Wie lange noch, fragte sich George. Würden die Mönche die Rechenmaschine in ihrer Wut und Enttäuschung zertrümmern? Oder würden sie sich ruhig hinsetzen und ihre Riesenarbeit von vorn beginnen? Er wußte genau, was in diesem Augenblick auf dem Berge geschah. Der höchste Lama und seine As sistenten saßen in ihren seidenen Gewändern am Bo den und sahen zu, wie die jüngeren Mönche die be schriebenen Papierstreifen der Maschine entnahmen, sie zerschnitten und Blatt für Blatt in die großen Bän de einklebten. Keiner sprach ein Wort. Das einzige Geräusch war das ununterbrochene Klappern der Ta sten des automatischen Schreibers, die wie ein nicht
endenwollender Regenschauer auf das Papier nie derprasselten. Denn die Mark V selbst blieb voll kommen stumm, während sie Tausende von Opera tionen in der Sekunde durchführte. Und das drei Monate lang, dachte George, genug, um den stärksten Menschen die Wände hochgehen zu lassen. »Da ist sie!« rief Chuck und zeigte hinunter ins Tal. »Ist sie nicht wunderbar?« Sicher war sie das, dachte George. Die alte verwit terte DC 3 lag wie ein winziges, silbernes Kreuz am Ende der Startbahn. In zwei Stunden würden sie von ihr davongetragen werden, zurück in Bezirke der Freiheit und des gesunden Menschenverstandes. Es war ein Gedanke, wert, genossen zu werden wie ein guter Tropfen. George schlürfte ihn, während das Pony geduldig den Berg hinuntertrottete. Die Nacht kommt schnell im hohen Himalaja, und bald war es dunkel. Glücklicherweise war der Weg gut, was man so »gut« nennt in dieser Gegend, und sie trugen beide eine Fackel. Sie fühlten sich außer je der Gefahr; nur die Kälte wurde immer schärfer. Der Himmel war vollkommen klar, und über ihnen fun kelten die vertrauten Sternbilder. Bei diesem Wetter würde der Pilot keine Schwierigkeiten mit dem Start haben, dachte George. Das war nämlich seine einzige Sorge gewesen. Er begann zu singen, gab es aber bald wieder auf.
Das urweltliche Panorama der Berge, die wie weiß bemützte Geister von beiden Seiten auf sie herunter starrten, ließ keine übermütige Stimmung aufkom men. George warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »In einer Stunde dürften wir unten sein«, rief er über die Schulter Chuck zu. Dann fügte er nachdenk lich hinzu: »Ob die Mark V schon Schluß gemacht hat? Um diese Zeit ist der letzte Ausstoß fällig.« Chuck antwortete nicht, und George drehte den Kopf nach hinten. Er sah gerade noch Chucks Ge sicht, ein weißes Oval, gegen den Himmel gerichtet. »Sieh!« flüsterte Chuck, und George hob die Augen zum Firmament. Alles tut der Mensch irgendwann zum letzten Mal. Über ihren Köpfen verlöschten lautlos die Sterne.
J. T. McIntosh
First Lady Wir waren nur noch wenige Stunden vom Lotrin ent fernt, und während ich Shirley und Ellen ansah, frag te ich mich, ob es uns gelingen würde, die Angele genheit rechtzeitig ins reine zu bringen. Es war keine Sache, bei der es um Leben und Tod ging; wahr scheinlich würde keiner von uns sterben müssen, wie die Geschichte auch ausgehen mochte. Es gab natür lich den Ausweg, daß wir alle drei Selbstmord begin gen. Doch das traute ich keinem von uns zu, selbst Shirley nicht, auch wenn sie gewußt hätte, was wir wußten. Selbstmord ist nie eine Lösung, er ist besten falls ein Kompromiß. Wir saßen nicht nur da und sahen einander an. Wir redeten miteinander. Große Worte wurden gespro chen, begleitet von dramatischen Gesten. Ellen war es, die das meiste sagte, jetzt, da sie gezwungen war, sich wieder dafür zu interessieren, was vorging. Shir ley war nie sehr gesprächig, und ich verstand mich besser aufs Zuhören. Nebenbei gesagt, das Problem ging weniger Ellen als Shirley und mich an, aber oft reden die Leute am meisten, die am wenigsten betrof fen sind.
Ich bin eine jener gelassenen Naturen, die, wenn sie einmal in einer Patsche sitzen, zunächst versuchen, zu verstehen, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Ich ließ mir also, während Ellen redete, die ganze Geschichte unseres Abenteuers mit Shirley noch einmal durch den Kopf gehen, beginnend mit unserer ersten Begegnung auf der Erde. Sie wußte, daß wir kamen, und erwartete uns, so daß wir keine Chance hatten, sie unbemerkt beobach ten zu können. Schon als wir abfuhren, war Ellen, wie übrigens meistens, in gereizter Stimmung, und da sie Ellen war, ließ sie es sich angelegen sein, mich unter wegs über die Verschlechterung ihrer Laune durch Kommentare über die Fragwürdigkeit unserer Missi on auf dem laufenden zu halten. Sie saß am Steuer, die Augen auf die Fahrbahn gerichtet, und sprach ih re gelegentlichen kurzen Bemerkungen gegen die Windschutzscheibe. »Schließlich sind wir ja keine Kindermädchen«, stellte sie sarkastisch fest. »Jeder andere hätte das erledigen können«, mur melte sie später. »Nie haben wir etwas zu tun gehabt, das mir mehr zuwider gewesen wäre«, bekannte sie schließlich mit herabgezogenen Mundwinkeln. Hierin stimmte ich ihr zu, wenn auch nur im stillen. Wir waren Agenten des Welt-Kontroll-Dienstes
und hatten einen Auftrag zu erledigen, den irgend jemand erledigen mußte; daß man ihn uns gegeben hatte, war unser Pech. An sich war es ein einfacher Auftrag, eher langweilig, eine Tatsache, auf die sich Ellens Beschwerde bezog, daß wir keine Kindermäd chen seien. Doch war es nicht die vor uns liegende leichte und uninteressante Arbeit, die uns verdroß, sondern daß wir genau wußten, worin sie bestehen würde. Wir waren vom WKD oft zu Missionen aus geschickt worden, bei denen wir nicht wußten, was uns erwartete, und wir hatten das nicht sehr ge schätzt. Dieses Mal wußten wir im voraus, was wir zu tun hätten, und das schätzten wir noch weniger. »Es gibt wichtigere Dinge für uns zu erledigen, als ein ausgewachsenes Schulmädchen zum Lotrin zu bringen«, murrte Ellen. In ironischem Ton zitierte ich einige Passagen aus den Radiokommentaren. »Doch was für ein Mäd chen!« rief ich pathetisch aus. »Welch ein Leben liegt vor ihr! Welche Memoiren wird sie eines Tages schreiben können!« »Spare dir deine Sprüche auf für das große galakti sche Publikum«, unterbrach sie mich schnippisch. »Sie ist ein ganz alltägliches Mädel, und man hat sie genommen, eben weil sie alltäglich, normal, durch schnittlich und typisch ist.« Wir fuhren am Gartentor des Kleinstadthäuschens
vor, in dem die zukünftige First Lady des Lotrin wohnte. Ellen hielt in ihrer üblichen Art, mit dem Knirschen vier blockierter Räder. Sie wartete nicht auf mich, sprang heraus und stapfte schon durch den Kies des Gartenweges auf das Haus zu, während ich noch aus dem nachzitternden Wagen kletterte. Zunächst dachten wir, es sei niemand zu Hause, und Ellen sagte schon naserümpfend etwas von kal ten Füßen. Doch als wir um das Haus herumgingen, erblickten wir sie. Sie aber tat so, als sähe sie uns nicht. Sie lag malerisch in einem Gartensessel, beklei det mit einem Spielanzug, in ein Buch vertieft. »Nur um zu zeigen, wie wenig sie durch unser Kommen beeindruckt ist«, sagte Ellen. Dieses Mal hatte Ellen unbestreitbar recht. Shirley Wynsome – wir hatten Bilder von ihr gesehen, und sie war es – war ein gutaussehendes Mädchen. Sie war hübsch, nicht schön, und in einigem wichen ihre Maße beträchtlich ab von den geltenden Normen weiblicher Vollkommenheit, doch es war nichts an ihr, was eine Million Männer davon hätte abhalten können, sich in sie zu verlieben. Und Ellen flüsterte prompt: »Wegen ihrer Schön heit hat man sie bestimmt nicht ausgesucht.« Ich warf ihr einen mitleidigen Blick zu. Warum können Frauen es nicht unterlassen, überflüssige Werturteile über das Aussehen ihrer Geschlechtsgenossinnen ab
zugeben? Es sollte sich ja schließlich nicht eine Milli on Frauen in Shirley verlieben. Wir traten näher und stellten uns vor. Shirley schob den Augenblick, da sie zugeben mußte, uns gesehen zu haben, unhöflich lange hinaus, und die Unterhal tung, in die sie sich dann gnädig mit uns einließ, war betont beiläufig und betraf auch zunächst nicht den Grund unseres Besuches. Auch wir sahen keinen An laß, uns zu verbeugen und unser Vergnügen auszu drücken, die First Lady des Lotrin kennenzulernen. Im Gegenteil, wir taten alles, um sie gleich von vornher ein auf den richtigen Platz zu verweisen. Vor allem Ellen ließ sich dies angelegen sein. Ellen sieht immer aus wie dem Modealbum ent stiegen, und ich kann von mir in aller Bescheidenheit sagen, daß ich schlechter aussehende Männer von fünfunddreißig gesehen habe. Shirley war eine sehr jung wirkende Einundzwanzigerin, und deshalb war ihr kurzhosiger Spielanzug, wie Ellen ihr bald, ohne ein Wort zu sagen, mehr als deutlich zu verstehen gab, ein doppelter Fehler. In ihrem Alter einen Spiel anzug zu tragen, war schon schlimm; das Ding aber, das sie trug, war eine Katastrophe. Innerlich zitterte sie natürlich vor Erregung; das sah man ihr trotz ihrer vorgetäuschten Gleichgültigkeit an. Ihre Nasenflügel waren weiß, sie atmete schnell und geräuschvoll, und es war nicht zu überhören, daß sie
um zwei Töne höher sprach als sonst. Doch das hätte man ihr verzeihen können, nicht aber den Spielanzug. Sie hatte ihn angezogen, um zu zeigen, daß sie voll kommen Herrin der Situation sei und nicht im minde sten beeindruckt durch die Feierlichkeit der Stunde und daß sie nicht die geringste Angst vor uns habe. Sie erreichte damit so ziemlich das Gegenteil. Wir übersahen die Nervosität ihrer Hände und ih res Gesichtes: unsere Blicke wurden gefangen von dem schreienden Gegensatz zwischen ihrem Körper und seiner Bekleidung; die weißen, gekräuselten Hö schen, mit denen sie ihre Unbefangenheit und Reife demonstrieren wollte, zeugten nur für ihre kindliche Naivität. Und wenn wir hätten gemein sein wollen, wozu Ellen in solchen Fällen immer bereit war, brauchten wir nur einen Blick auf Shirleys Beine oder Busen zu werfen und dann mit einem mokanten Lä cheln wegsehen, um zu zeigen, daß wir diese Zur schaustellung geschmacklos fanden, ohne dem Mäd chen Gelegenheit zur Verteidigung zu geben. Nun, ich will nicht auf Einzelheiten eingehen, aber man kann sich ungefähr vorstellen, wie peinlich die Situation war. Und Ellen tat ihr möglichstes, sie für Shirley noch peinlicher zu machen. Ich versuchte, sie zu bremsen, aber Ellen zu bremsen, wenn sie einmal in Fahrt ist, hat noch niemand fertig gebracht. Beson ders nicht, wenn es sich darum handelte, einem ande
ren Menschen den letzten Rest von Selbstbewußtsein zu nehmen. Und als sie das arme Mädchen so weit hatte, daß es jeden Augenblick in Tränen ausbrechen konnte, sagte Ellen mit unerwartet heiterer Stimme zu mir: »So, Joe! Jetzt kannst du ein wenig Spazierengehen«, und deu tete mit einer unmißverständlichen Kopfbewegung auf den hinteren Teil des Gartens. Gehorsam trollte ich mich davon. Ich machte halt hinter einem Strauch, wo ich die beiden zwar noch sehen, aber nicht mehr hören konn te. Es ist eine merkwürdige Sache mit Ellen, daß die Menschen sie nicht hassen, obwohl man annehmen sollte, daß sie es müßten. Andere bemühen sich eifrig um Zuneigung und erlangen sie nicht: Ellen scheint alles zu tun, um gehaßt zu werden, doch sie erreicht damit das Gegenteil. Sie ging sehr behutsam mit Shirley um, wie ich beo bachten konnte, berührte sie zunächst nicht einmal. Dann aber lagen sie einander in den Armen mit jener Plötzlichkeit, wie sie nur bei Frauen möglich ist. Jetzt weinte Shirley natürlich. Ihre weißen Schultern und ihr haselnußbraunes Haar vermischten sich mit dem Blau von Ellens Kleid, und nackte Arme verschlangen sich mit ellbogenlangen Stulpenhandschuhen. Mit einem Kloß im Hals wandte ich mich ab.
Bei der nächsten Phase unseres Auftrages hatte ich so gut wie nichts zu tun. Shirley sah ich überhaupt nicht, denn sie verbrachte den größten Teil der folgenden zwei Monate in Büstenhalter und Höschen oder ohne beides und wurde befühlt und betastet von Ärzten, geknetet und gerieben von Masseuren, gedrillt und trainiert von Anstands- und Gymnastiklehrern, und immer wieder untersucht und getestet; und zwi schendurch schlüpfte sie zur Anprobe in unzählige neue Kleider, Blusen, Röcke, Hosen und was es sonst noch an weiblicher Ober- und Unterkleidung gibt. Man sollte glauben, daß Kleider für die First Lady des Lotrin keine große Bedeutung hätten, die buchstäb lich als erste Frau ihren Fuß auf den Planeten setzte und dort sicher für lange und möglicherweise für immer die letzte Frau bleiben würde. Doch Shirleys Aufgabe war es, ihr ganzes Geschlecht auf dem Lo trin zu vertreten. Dazu konnte sie nicht weiblich ge nug sein, und einige Garderobenkoffer mehr wurden von dem WKD nicht als Luxus betrachtet, auch wenn sie mit phantastischen Unkosten Hunderte von Licht jahren weit befördert werden mußten. Es geschah nicht für Shirley persönlich, es geschah zum Wohle Lotrins. Wie gesagt, ich war nicht dabei, wohl aber Ellen, und so erfuhr ich alles. Ich mußte mir die Geschichte jeder einzelnen Untersuchung, jedes Testes, aller Ku
ren und Prozeduren anhören. In alle Einzelheiten von Shirleys Ausstattung wurde ich wider Willen einge weiht, bis zum letzten Knopf und zur letzten Spitzen rüsche. Ellen ging das ganze Theater auf die Nerven, und sie sah nicht ein, warum mein Geschlecht mich vor dem gleichen Schicksal bewahren sollte. Wenn also jemand wissen will, was mit einer First Lady alles geschieht, bevor sie die Zentrale des WKD in New York verläßt, dann mag er mich fragen. Nichts ist zu nebensächlich, zu intim, ich kann ihm al les verraten. Doch glauben Sie mir, es ist nicht sehr interessant. Ich habe noch nicht viel gesagt über den WeltKontroll-Dienst. Da wäre zunächst einmal der Name; er bedeutet die Kontrolle der Erde über alles, was im Weltall geschieht. Manche sagen, es sei ein absurdes und gefährliches System, letztlich zum Scheitern ver urteilt. Mag sein, doch in dieser Generation wird es nicht zusammenbrechen, und auch nicht in der näch sten. Inzwischen gilt, was der WKD bestimmt. Und was Shirley betraf, so waren Ellen und ich der WKD. Ich sage immer so wenig wie möglich für oder ge gen den WKD. Nicht, weil meine Stellung davon ab hängt. Der WKD ist autokratisch, jedoch nicht in die sem Sinne. Wenn man einen großen Auftrag erhält, sagen wir
die Kolonisierung eines neuen Sonnensystems, dann gibt es nur eine Möglichkeit, ihn durchzuführen. Be vor man anfängt, mag es viele Möglichkeiten geben, und wenn der erste Versuch scheitert, kann man auch eine andere Möglichkeit ausprobieren. Doch wenn er gelingt, dann bleibt es dabei, gleichgültig, ob ein an derer Weg besser gewesen wäre. Ich maße mir nicht an, darüber zu rechten; ich sage nur, wie es ist. Einer der Hauptgrundsätze des WKD ist: die menschliche Rasse muß menschlich bleiben. Der Krieg gegen Mars hat gezeigt, was geschieht, wenn Menschen nicht-menschlich werden und anderswo Menschen menschlich bleiben. Die Menschen gewan nen den Krieg, und es blieben keine Martianer übrig. Es wird nie wieder Martianer geben, solange der WKD herrscht. Menschen können nicht auf dem Mars leben und dabei menschlich bleiben. Mars ist ein Seu chenherd im All, und die Ruinen menschlicher Be hausungen auf dem roten Planeten zerfallen zu Staub. Anders ist es mit Venus. Ebenso die Planeten des Aldebaran-Systems und die anderen verstreuten Wel ten, die jetzt ihre eigenen Namen haben und nicht mehr nach ihren Sonnen benannt werden wie Jenta, Smith, Babylon, Eyrie, Nostral, Hover, Gluckstein, Fortan, Jissel und Maple. Andere sind ausgestrichen, wie eben Mars – Robinson, Dahlia, Mantor, Arka:
längst vergessene Namen, gemieden wie Pestbeulen der Schöpfung, die meisten von ihnen schon tot, eini ge noch im Sterben. Wieder andere, wie Civnet, Lo trin, Martin, Beckland, Everest, Red Dawn, sind noch mit einem Fragezeichen versehen. Es dauert lange, bis ein solches Fragezeichen gelöscht werden kann. Dazu bedarf es einer besonderen Prüfung. Falls der Planet die Prüfung nicht besteht, werden die Menschen an derswo angesiedelt. Ihre weitere Entwicklung wird überwacht, sie werden vielleicht sterilisiert, aber sie werden immer noch als Menschen betrachtet. Der letzte Test einer solchen Prüfung ist die Geburt eines Kindes, das auf der betreffenden Welt empfan gen worden sein muß. Wissenschaftler und Ärzte nehmen das arme Kind geradezu auseinander. Dann geben sie ihr Urteil ab. Sie sagen entweder: weiterma chen, oder vorsichtig weitermachen, oder vorläufig abwarten, oder ganz aufhören, oder ... Niemand denkt gern an die letzte Möglichkeit. Und dies ist der Grund, warum die First Lady so wichtig ist. Sie ist zur Mutter dieses ersten Kindes auserwählt. Auch der Vater wird nach bestimmten Gesichtspunkten ausgesucht. Der WKD ist Ehestifter und Taufpate zugleich. Shirley und irgendein Siedler auf dem Lotrin, des sen Namen ich damals noch nicht kannte, waren die Zukunft des Lotrin. Shirleys weiteres Leben und das
Schicksal einer ganzen Welt hingen von einem Kind ab, das sie von einem Mann bekommen würde, den sie heiraten mußte, ohne ihn vorher gesehen zu ha ben. Es war eine seltsame Situation, doch durchaus nichts Neues mehr. Die First Lady der Jenta war längst gestorben; auch die des Smith. Die First Lady von Ba bylon war über hundert Jahre alt und ging, wie man sich erzählte, immer noch jeden Morgen in einem Ge birgsstrom schwimmen. Die First Lady der Eyrie war dreiundneunzig, die des Nostral war zugleich Präsi dentin ihres Planeten. Und so weiter bis zu der First Lady des Maple, die immer noch einen Spielanzug tragen konnte, und mit größerem Erfolg als Shirley, wie ich mir habe sagen lassen. Über das Schicksal der First Ladies von Robinson, Dahlia, Mantor oder Arka möchte ich mich nicht äu ßern. Es muß weibliche Intuition gewesen sein, die Ellen veranlaßt hatte, Shirley ein ausgewachsenes Schul mädchen zu nennen, bevor sie von ihr nicht mehr ge sehen hatte als ein paar Fotos. Denn das war Shirley wirklich, ein Zwischending zwischen Kind und Frau. Ich weiß nicht, ob der WKD für die Wahl einer First Lady Normen festgelegt hat, die auch den Grad der Gemütsreife berücksichtigen; ich habe nicht viele First Ladies kennengelernt. Doch wenn es solche Normen
gab, und Shirley entsprach ihnen, dann mußte eine First Lady scheu, zurückhaltend, unerfahren und vor allem jungfräulich sein, ein Mädchen also, schon er wachsen aber noch ein Kind. Man sollte meinen, eine First Lady müßte eine dy namische, selbstbewußte und betörende Frau sein. Der WKD dachte offenbar nicht so. Ich will damit nicht sagen, daß Shirley schüchtern, farblos und ohne Sex-Appeal war, sie war eher bieder. Man konnte sie sich vorstellen als jemandes Schwester, Freundin oder Frau, aber nicht als öffentliche Person, als WKDAgentin, wie Ellen und ich es waren, als Chorgirl oder Sportsmädel, nicht als jemand, der Verantwor tung übernehmen und sich rücksichtslos durchsetzen muß. Es ist schwer, Shirley zu beschreiben, denn was man über sie aussagt, muß man sofort wieder ein schränken. Wenn man sagen würde, sie war scheu, müßte man hinzufügen, daß sie nicht sehr scheu war. Und wenn sie auch nicht sehr intelligent war, so durf te man sie keineswegs als dumm bezeichnen. So bestand sie zum Beispiel darauf, inkognito zu reisen, um der Zeremonie eines feierlichen Abflugs in New York zu entgehen. Wir taten ihr den Gefallen, aber ich glaube, als es soweit war, wünschte sie, wir hätten nicht so leicht nachgegeben. Sie würde nie das Rampenlicht gesucht haben, aber einmal von ihm an
gestrahlt, wäre sie wohl fähig gewesen, es zu genie ßen. Es waren keine jubelnden Menschenmassen und keine Reporter und Fotografen anwesend, als wir vom New Yorker Raumhafen starteten. Shirley reiste als Ellens Schwester. Es schien ihr Spaß zu machen. Sie war Ellen mit Haut und Haaren verfallen. Der WKD pflegte in solchen Fällen die Presse irre zuführen. Man sollte meinen, einige schlaue Journali sten hätten sich ausrechnen können, daß die First La dy des Lotrin mit unserem Schiff fliegen müßte; denn ihre Abreise stand bevor, unser Schiff berührte auf seiner Reise den Lotrin, und Shirley wies alle Kenn zeichen einer First Lady auf. Doch der WKD hatte of fiziell bekanntgegeben, daß die First Lady noch nicht endgültig bestimmt sei, und gleichzeitig das Gerücht ausgestreut, sie sei schon gewählt und würde mit dem nächsten Schiff abfliegen. Die Presse ignorierte die amtliche Meldung und glaubte dem Gerücht. Und wenn jemand die Passagierlisten der Sardonia über prüft hätte, so hätte er gelesen, daß wir ausgeschickt wurden, um uns in der Kolonie des Aldebaran anzu siedeln. Shirley sah sich interessiert um. »Ein wundervolles Schiff«, sagte sie mit einem Blick auf den glatten Rumpf. »Ach nein?« bemerkte Ellen in einem Ton, als fände
sie es überraschend, daß jemand so etwas überhaupt für wunderbar halten konnte. »Warte, bist du drin bist. Dann wirst du feststellen, daß jeder Meter nur 75 Zentimeter hat. Daran wirst du dich gewöhnen, aber wenn du zum Mond kommst, wirst du entdecken, daß der Meter auf 50 Zentimeter zusammenge schrumpft ist. Auf dem nächsten Leichter werden es noch 40 und auf dem Schiff selbst nur noch 25 sein.« Shirley starrte sie an. »Ist dies denn nicht die Sardo nia?« »Manchmal«, seufzte Ellen, »frage ich mich, Shir ley, wo du in den letzten 21 Jahren gelebt hast. Erklä re es ihr, Joe.« Der Humpelrock war wieder in Mode gekommen. Ellen trippelte auf den Leichter zu. Sie konnte es sich leisten, Shirley so zu behandeln. Wenn ich es versucht hätte, wären Tränen geflossen. Ich fragte mich, wieviel Liter Shirley wohl schon geweint hatte, seit der WKD sie entdeckte. Die meisten hatten, laut Ellen, ihrer Mut ter gegolten und sich auf Ellens Kleider ergossen. »Dies ist nur ein sogenannter Leichter oder Tender, der uns zum Mond bringt, liebe Shirley«, sagte ich. »Sein Kraft-Schwere-Verhältnis ist natürlich höher als das des Raumschiffes, das uns durch die Lichtjahre zu unserem Ziel tragen wird. Auf dem Mond werden wir in einen anderen Leichter umsteigen, der uns zur Sardonia weiterbefördert, die selbst nicht auf dem
Mond landen kann, sondern ihn umkreist, während sie auf uns wartet.« Ich faßte Shirley beim Arm, um sie hinter Ellen herzusteuern. »Die großen Raumschiffe landen überhaupt nie«, fuhr ich fort. »Sie werden im Raum montiert, und wenn sie trotz aller Vorsichtsmaßnahmen zu stark radioaktiv werden, dann zerstört man sie im Raum.« »Ich werde aus dir und Ellen nicht klug«, sagte Shirley unvermittelt und zeigte mir, wie interessant sie meinen Vortrag über Raumfahrt fand. »Liebst du sie, Joe?« Ich weiß nicht, wieweit es mir gelang, gönnerhaft zu lächeln, jedenfalls erwiderte ich: »Shirley, manch mal bist du zu schüchtern, um einfache Dinge offen auszusprechen, und manchmal bist du zu offen. Au ßer in Romanen fragen die Leute nie andere Leute, ob sie jemanden lieben.« »Nun, ich habe dich gefragt. Also sage es mir: Liebst du sie?« Ich seufzte. »Dann mußt du mir zuerst sagen, was du unter Liebe verstehst. Wenn du das getan hast, und zwar zu meiner Zufriedenheit, kannst du mich noch einmal fragen. Und solltest du eine Antwort er halten, sagen wir am Morgen, dann vergewissere dich, ob sie am Nachmittag noch stimmt, und ebenso am nächsten Tag und in der folgenden Woche.«
»Ihr seid doch miteinander verheiratet?« »Warum nimmst du das an?« Sie schien verwirrt. »Ihr lebt doch zusammen?« fragte sie verlegen. »Oder nicht?« »Wir arbeiten zusammen, gewiß, aber das bedeutet nicht, daß wir miteinander verheiratet sind.« Sie schwieg, während wir in die Luftschleusen klet terten und begannen, uns seitlich durch den schma len Gang zu schieben. »Ich glaube, ich weiß, was ihr seid«, sagte sie dann. »Ihr seid Geheimagenten. Die Art, wie du Fragen be antwortest, zeigt, daß du daran gewöhnt bist, Dinge zu verheimlichen.« »Ein Kompliment für deinen Scharfsinn«, erwiderte ich lächelnd. Einige Minuten später – es war eine langwierige Angelegenheit, bis man das Ende des Ganges erreicht hatte – murmelte Shirley hinter mir: »Du heißt Joe Dell. Und sie heißt Ellen Dell.« »Nach deiner Logik kann das nur eins bedeuten, nämlich, daß wir verheiratet sein müssen«, antworte te ich grinsend. »Kannst du dich nie klar ausdrücken, Joe?« Ich wandte mich halb um und blickte sie vorwurfs voll an. »Hast du nicht zugehört, als ich dir die Sache mit den Leichtern und der Sardonia erklärte?« »Das hätte mir der Steward ebenso gut erklären
können. Er kann mir aber nicht sagen, ob du Ellen liebst.« »Nun, dann geht es ihm wie mir«, bemerkte ich trocken. »Ich kann es auch nicht.« »Du willst es nicht.« Wir hatten Ellen fast erreicht, und sie drehte sich jetzt um und wartete auf uns. »Was will er nicht?« fragte sie. Ich stand zwischen den beiden Frauen, so daß sie einander nicht sehen konnten. Gänge auf Raumschif fen muß man gesehen haben, um glauben zu können, daß sie so eng sind. Ellen und Shirley wären vielleicht aneinander vorbeigekommen, doch nur unter Verlust von Knöpfen und Schmerzenstränen. Wenn ich je manden hätte überholen wollen, wäre mir nichts an deres übriggeblieben, als über ihn hinwegzuklettern oder unter ihm hindurchzukriechen. Shirley schwieg. Ihre Frage hatte mir gegolten, nicht Ellen. Ellen hätte sie nie eine solche Frage zu stellen gewagt. »Es ist unwichtig«, sagte ich, »da es ja feststeht, daß ich es nicht tun werde.« Ellen gab sich für den Augenblick mit dieser Ant wort zufrieden. Sie hatte unsere Kabine entdeckt. »Deine ist um die Ecke, Shirley«, sagte sie. »Komm, ich will dir zeigen, wie man sich beim Start verhält.« Ich trat in unsere Kabine und gab ihnen den Weg
frei. Sie gingen an mir vorbei. Shirley warf mir einen letzten, fragenden Blick zu. Die Anpassung an die Beschränkungen der Raum fahrt vollzieht sich bei uns immer auf die gleiche Weise. Ellen machte die gleichen sarkastischen Be merkungen, formulierte sie nur etwas anders. Dieses Mal fragte sie, warum man uns nicht mit Kondens milch und Zwieback ernährte, das wäre doch ein gu tes Geschäft. Sie stellte fest, daß sie sich den Kopf schon rieb, bevor sie sich ihn beim Aufstehen anstieß. Meinte, jetzt begreife sie auch, warum RaumSchönheiten auf den Umschlagbildern der Magazine immer enge Hosen trugen; sie könnten sich wohl kaum durch Raumschifftüren zwängen, wenn sie mehr anhätten. Schlug vor, wir sollten, um die frische Luft gerechter zu verteilen, umschichtig ein- und ausatmen. Shirley, für die alles neu war, nahm es als selbst verständlich hin. Sie bemerkte nur überrascht, wie wenig Raum vorhanden sei, paßte sich aber schnell den engen Verhältnissen an und vergaß, wie es früher war. Als wir auf dem zweiten Leichterschiff waren, das uns zur Sardonia brachte, fragte ich Ellen: »Wieviel weiß Shirley?« Sie schien ausnahmsweise nicht in sarkastischer Stimmung zu sein, denn sie beantwortete meine Fra
ge nur mit dem, was ich wissen wollte. »Nicht viel«, sagte sie. »Sie weiß z.B. nicht, daß sie diesen Bur schen, nennen wir ihn Bill, heiraten muß. Man hat es ihr gesagt, aber sie hat noch nicht begriffen, wie abso lut unausweichlich es ist, daß sie gerade ihn heiraten muß und keinen anderen. Sie weiß nicht, daß sie zu einer Million anderer Männer liebenswürdig sein muß, aber nicht zu liebenswürdig. Gewiß hat sie sich ihre Gedanken darüber gemacht, was sie erwartet, aber was sie nicht erfaßt hat, ist, daß sie die voll kommene, ideale Vertreterin ihres Geschlechtes dar stellen muß, das Traumbild aller Männer und das Vorbild aller Frauen, gleichzeitig vestalische Jungfrau und treue Gattin, jedermanns Schwester und jeder manns Mutter.« »Ich verstehe«, erwiderte ich. »Nicht jede könnte es.« »Eins scheint sie zu wissen«, fuhr Ellen fort, »die Sache mit dem Kind.« Ich trat ihr heftig auf den Fuß. »Ich nehme an, sie weiß«, sprach Ellen unbeirrt weiter, »daß sowohl ihr eigenes Schicksal als auch das ihres Bill und des ganzen Lotrin besiegelt ist, wenn das Kind nicht den Anforderungen der Prü fung entspricht. Vermutlich weiß sie auch, worin die ses Schicksal besteht. Aber ich glaube nicht, daß sie es in all seinen Folgen zu Ende gedacht hat. Wer könnte das? Ich bestimmt nicht. Ich werde beim WKD blei
ben, und man wird weiterhin die unmöglichsten Dinge von mir verlangen, wie Raumpiraten zu jagen, mich mit Rebellen herumzuschießen oder mich halb tot prügeln zu lassen, wenn es gilt, den Mund zu hal ten. Doch ich bin froh, daß ich ein paar Jahre zu alt bin, als daß man von mir verlangen könnte, eine First Lady zu werden.« Shirley trat in die Kabine. Es war ein geschicktes Manöver von Ellen gewesen, Andeutungen über un sere sonstige Beschäftigung zu machen. Da niemand von uns beiden in ihrer Gegenwart je darüber gespro chen hatte, mußte Shirley glauben, Ellen hätte nicht bemerkt, daß sie in der Tür stand, während sie das Ungeheuerliche aussprach. Shirley war leichenblaß, behielt sich aber in der Gewalt. »Du bringst mich also auf den Lotrin«, sagte sie mit beherrschter Stimme, »um etwas zu tun, was du nicht tun könntest.« Ellen wandte den Kopf und sah Shirley offen an. Sie schien nicht überrascht zu sein, daß Shirley alles gehört hatte; das hätte nicht zu ihr gepaßt. »Ja, so ist es, Shirley«, sagte sie ruhig. Ich war sicher, daß es jetzt zu einer Szene kommen würde, zwischen Ellen und Shirley natürlich; denn es war Ellen gewesen, der sich Shirley anvertraut hatte. Doch nichts dergleichen geschah. Ich beobachtete, wie in Shirley die Erkenntnis aufdämmerte, daß Ellen
falsch zu ihr gewesen war, daß alle sie belogen und betrogen hatten. Ich sah, daß sie sich schämte, in den Armen Ellens geweint zu haben, die sie die ganze Zeit für eine arme Närrin gehalten hatte, weil sie tat, was sie von ihr verlangte, obwohl sie es selbst für Wahnsinn hielt. Langsam drehte sich Shirley um und ging hinaus. »Meinst du nicht, daß es besser wäre, wenn du ihr nachgingest?« sagte ich. »Ich bin ihr oft genug nachgelaufen.« »Sie könnte aber ...« »Was könnte sie?« »Irgend etwas anstellen. Selbstmord begehen.« »Wenn sie das vorhat, dann soll sie es gleich tun und nicht warten, bis wir auf dem Lotrin sind.« Ich schwieg und überlegte. Shirley würde sich nicht umbringen; Ellen hatte recht mit ihrer Kalt schnäuzigkeit. Mädchen, die zu so etwas fähig waren, wurden nicht zu First Ladies ausgewählt. Shirley würde Schlimmeres zu verkraften haben als ihre Ent täuschung über Ellen. Ich verstand jetzt auch, warum Ellen so brutal offen gesprochen hatte. Ellen würde keine Rolle mehr zu spielen haben in Shirleys Leben auf dem Lotrin. Je eher sich Shirley von ihr löste, um so besser war es für die zukünftige First Lady. Und da hatte Ellen eben kurzen Prozeß gemacht.
Ich glaube, sie tat es in der Hauptsache deshalb, weil sie es satt hatte, Kindermädchen zu spielen. Wir sahen Shirley kaum, als wir in die Sardonia um stiegen. Ellen hatte mir klargemacht, daß sie ihren ak tiven Anteil an unserer Mission geleistet habe und daß ich jetzt an der Reihe sei. Sie würde vielleicht später noch einmal, kurz bevor wir den Lotrin er reichten, in Aktion treten, um den Schaden wieder gutzumachen, den ich bis dahin angerichtet hätte, doch in der Zwischenzeit würde sie sich von Shirley Wynsome erholen. So also sprach Ellen. Das bedeutete, daß ich für den Rest des Fluges mich um Shirley kümmern mußte und verantwortlich war für das, was sie tat oder un terließ. Ich wartete, bis das Schiff sich klar vom Mond abgesetzt hatte, und machte mich dann auf die Suche nach meinem Schützling, den wir bis dahin nur bei den Mahlzeiten zu Gesicht bekommen hatten. Die Sardonia flog jetzt einen unsteten Manövrier kurs, stoppte, wendete, schoß davon wie ein suchen der Fisch. Die Passagiere sollten in diesem Stadium der Fahrt nicht umhergehen; es war ihnen geraten worden, sich hinzulegen oder wenigstens zu sitzen. Denn bei den Bewegungen des Schiffes konnte es ei nem passieren, daß man gezwungen wurde, abwech selnd auf der Decke oder auf den Wänden zu laufen.
Die Schwerkraft war allerdings nur gering, so daß man sich dabei nicht verletzen konnte. Wer die Schwerkraft nicht herausfordern wollte, blieb auf sei nem Bett liegen oder sitzen, das in GleichgewichtsScharnieren aufgehängt war und alle Bewegungen des Schiffes ausglich. Shirley schien es auf ein paar Purzelbäume an kommen lassen zu wollen, denn sie war nicht in ihrer Kabine. Es war kein Platz für gesellschaftliches Leben auf der Sardonia. Der einzige Raum, der eine größere An zahl von Personen faßte, war der Speisesaal, und da das Schiff einschließlich Besatzung etwa 400 Men schen beförderte, wurde schichtweise gegessen und während der ganzen 24 Stunden des Tages serviert. Wir hatten schon gegessen, auch Shirley. Wenn sie al so nicht in ihrer Kabine war, mußte sie in einer ande ren sein, da sie nicht im Speisesaal sein konnte. Ich überdachte die Situation noch einmal gründ lich. Shirley hatte einen schweren Schock erlebt. Aus einem Leben herausgerissen, das sie 21 Jahre lang ge führt hatte, war ihr Ellen ein Halt, ein Idol geworden. Ellen hatte dies geduldet, bis wir unwiderruflich un terwegs waren, um dann abzudanken. Sie hätte Shir leys Vertrauen jederzeit wiedergewinnen können, aber sie legte keinen Wert darauf. Was also würde Shirley tun? Niemand kümmerte
sich um sie. Sie war frei. Sie konnte sich amüsieren, wenn sie wollte, konnte Ellen zeigen, daß auch sie sich nichts mehr aus ihr machte. Auf dem begrenzten Raum, den die Sardonia für solche Zwecke bot, gab es nur eine Möglichkeit. Ich zog meine Schlüsse. Wenn Shirley sich einem Mann an den Hals werfen wollte, dann würde es aller Wahrscheinlichkeit jemand von unserer Tischgesell schaft sein, jemand, den sie zumindest gesehen oder gesprochen hatte. Ich tippte auf Glen Mavor. Mavor war ein schüchterner Jüngling, der als Kolonist nach der Civnet geschickt wurde. Die Civnet, ein noch nicht sehr lange besiedelter Planet, war noch ohne First Lady, also frauenlos. Ich suchte Mavors Kabine. Ich klopfte an, trat aber sofort ein. Ich hatte mich nicht geirrt. Shirley war hier. Sie stand, oder vielmehr lag halb, gegen die schiefe Wand gelehnt. Mavor saß auf seinem Bett. Für eine vierte Person wäre kein Platz mehr gewesen in dem kleinen Raum. »Hallo, Shirley«, sagte ich. »Ich dachte mir, daß du hier bist.« Das Schiff machte einen seiner plötzlichen Sprünge, und Shirley und ich landeten nach einem Purzelbaum auf der Decke, Shirley mit wirbelnden Beinen und fliegenden Röcken, ein Anblick, der Mavors Augen aus den Höhlen treten ließ. Sie lachte. Mavor brauch
te sich nicht zu bewegen. Das Bett hielt sein Gleich gewicht. Ich erfaßte die Situation. Shirley war unbefangen glücklich, auf eine gefährliche Weise. Mavor war fas ziniert von ihr, doch seiner selbst sehr unsicher. Er war von Natur sehr schüchtern, aber er wußte, daß er unterwegs war zu einer Welt, in der es lange keine Frauen geben würde, und daß Shirley bereit und wil lens war, ihm im voraus etwas Trost zu spenden. Dies war nicht die Shirley Wynsome, die wir im Garten ihres Elternhauses angetroffen hatten. Diese Shirley war kein schlaksiges Schulmädchen mehr, sie war ein verführerisches junges Weib. Und sie war verführerisch, weil sie es sein wollte. Unschuld ist eine Geisteshaltung, nicht nur ein Man gel an Erfahrung. Shirley, wie sie sich jetzt, die Arme hinter dem Kopf, gegen die Wand lehnte, war weit da von entfernt, unschuldig auszusehen. An Erfahrung war sie nicht reicher geworden, doch ihr Geist hatte sich gemausert. Ihre dünne kanariengelbe Bluse hatte sie aus zwei sehr augenfälligen Gründen gewählt, und ihr oben enger und unten weiter scharlachroter Rock tat sein Bestes, um anzudeuten, was er nicht sehen lassen sollte. So konnte Shirley nicht lange herumlaufen, ohne Unheil anzurichten. Es mußte etwas geschehen. »Mavor«, sagte ich ruhig, »ich werde Ihnen ein Ge heimnis anvertrauen.«
Mavor, ein hübscher junger Bursche, sah zu Shirley hinüber, doch sie lächelte nur und betrachtete dann ihre Fesseln. Er wandte sich wieder mir zu. »Ich weiß nicht, ob ich Ihr Geheimnis zu erfahren wünsche«, sagte er. »Sie werden es erfahren, ob Sie wollen oder nicht. Und Sie werden es für sich behal ten. Es ist an sich unwichtig, ob Sie es ausplaudern oder nicht, aber es wäre unangenehm, wenn jemand auf dem Schiff es jetzt schon erfahren würde. Shirley ist die First Lady des Lotrin.« Ich erkannte sofort, daß ich richtig gehandelt hatte, es ihm zu sagen, als ich sein Gesicht sah. »Ich erwäh ne es nur zu Ihrem Besten«, fuhr ich gelassen fort, »denn wenn Leute mit Dynamit spielen, dann sollen sie wenigstens wissen, daß es Dynamit ist. Kommst du, Shirley?« Das Schiff machte wieder einen Satz. Dieses Mal landete Shirley genau auf Mavor, die Arme um sei nen Hals. Es mochte nur ein Zufall gewesen sein, aber es war kein Zufall, als sie sein Gesicht an das ihre zog und ihn küßte. Sie tat es nicht Mavor zuliebe, sondern mir zum Trotz. Sie löste sich lässig aus der Umklam merung und folgte mir. Ich führte sie zu ihrer Kabine. »Warum hast du ihm das gesagt?« fragte sie. Es be rührte sie nicht. Sie war nur neugierig. »Um ihn dir vom Leibe zu halten«, erwiderte ich grimmig. »Er wird es jetzt nicht mehr wagen, dich
auch nur mit einem Bootshaken zu berühren. Er ist zu Tode erschrocken.« »Warum?« »Du scheinst nicht sehr gut Bescheid zu wissen über den WKD. Er hat lange Arme und läßt sich von niemandem ungestraft in den Schwanz kneifen.« »Du meinst, der Welt-Kontroll-Dienst würde Glen liquidieren?« »Wofür?« fragte ich. Es war eine gute Frage. Sie brachte sogar die neue selbstsichere Shirley außer Fassung. »Ich meine, wenn ...« murmelte sie. »Wenn was?« »Warum soll ich mich nicht amüsieren, solange ich noch kann? Bevor ich in mein Gefängnis komme?« »Niemand hat etwas dagegen, daß du dich amü sierst, solange es keine Form annimmt, die sich ab träglich auswirkt für die Zukunft.« »Ich pfeife auf die Zukunft. Vielleicht gibt es keine Zukunft für mich.« Wir kamen zu ihrer Kabine. Ich öffnete, schob sie hinein und folgte ihr. Wir setzten uns auf das Bett und beobachteten schweigend den Tanz der Wände um uns. »Was macht das Schiff?« fragte sie plötzlich nach ei ner Weile. »Es sucht das Gleis«, erwiderte ich. Ich kann sehr
langmütig sein. Ich wollte nicht über das Schiff und seine Kapriolen mit ihr sprechen, aber ich war bereit, auf ihr Spiel einzugehen, bis zu einer gewissen Gren ze. »Das Gleis?« rief sie aus. »Ja, das Gleis. Du weißt doch, daß Raumfahrt sich immer in zwei verschiedenen Phasen vollzieht. Die erste besteht in der langsamen Loslösung aus dem Gravitationsfeld eines Planeten und seiner Satelliten und endet mit diesem schwerfälligen Suchmanöver. Die zweite vollzieht sich dann glatt und in einem Zug und mit einer unvergleichlich größeren Geschwin digkeit. Bei unserem augenblicklichen Tempo wür den wir 20 000 Jahre bis zu den Aldebarans brauchen, nicht zu reden vom Lotrin.« »Aber wir brauchen doch nur ein paar Wochen?« »Ja, weil wir auf dem Gleis fliegen werden«, erwi derte ich geduldig. »Es ist natürlich kein richtiges Gleis, aber so etwas Ähnliches. Es ist ein Gravitati onsfeld, das sich von hier bis zu den Aldebarans er streckt. Es ist bei seiner Länge eher ein Strahl. Sie nennen es das Catterick-Feld. Wir haben es schon mehrere Male durchquert, und wenn wir weiter so herumsuchen, so geschieht dies deshalb, weil wir haargenau in seine Mitte zu liegen kommen müssen, und es ist ziemlich schmal, nur ein paar Meilen breit.« »Das Schiff ist doch keine Meile breit?« »Nein, aber der kleinste Irrtum würde sich erst
nach Millionen von Meilen bemerkbar machen. Hast du schon einmal etwas vom Beharrungsvermögen gehört?« »Das ist doch Trägheit?« »Ja, man nennt es auch die Trägheit der Materie. Wenn die Materie in Ruhe ist, kann sie sich nie aus eigener Kraft bewegen, und es erfordert große An strengung, sie in Bewegung zu setzen. Und wenn sie einmal in Bewegung ist, kann sie sich selbst nicht ab bremsen; es gehört der gleiche Kraftaufwand dazu, sie wieder in Ruhe zu versetzen. Nun könnten die Maschinen der Sardonia genug Kraft erzeugen, um uns auch ohne das Catterick-Feld in wenigen Wochen zum Lotrin zu bringen. Doch das Schiff würde diese Beschleunigung nicht aushalten. Es würde zerfallen. Und bei einem Bruchteil dieser Geschwindigkeit würden wir zu Brei zerdrückt werden. Im Augen blick beträgt die Beschleunigung nicht mehr als drei Meter in der Sekunde.« Zur Veranschaulichung faßte ich sie beim Gürtel, hob sie mit etwa einem Drittel der Erdschwerkraft hoch und stieß sie in die Mitte des Raumes, im glei chen Augenblick, da das Schiff wieder zwei kurze Wendungen hintereinander vollführte. »Du siehst, schon bei dieser Beschleunigung kann das eine sehr turbulente Angelegenheit werden«, be merkte ich, als Shirley an die gegenüberliegende
Wand prallte und einen Kobolz schoß. Sie schien sich für solche Eventualitäten angezogen zu haben, jeden falls erzielte sie mit ihrer kanariengelben Wäsche ei nen frappanten Effekt, als ihre Beine in der Luft strampelten. Ich packte sie um die Hüfte, stülpte sie um und setzte sie wieder neben mich aufs Bett. »Nun stelle dir vor, was geschehen würde, wenn die Beschleunigung zehn Kilometer pro Sekunde betragen würde«, fuhr ich so sachlich wie möglich fort. »Oder 1000 Kilometer. Oder 10 000.« »Das kannst du dir auch nicht vorstellen«, erwider te sie wahrheitsgemäß. »Also, wenn man Hunderte von Lichtjahren weit reisen will, muß man etwas gegen die Trägheit der Materie unternehmen. Nimm einmal an, es gäbe kei ne Trägheit der Materie auf der Erde. Das ist in Wirk lichkeit natürlich unmöglich, denn solche Felder gibt es nur im Weltraum. Aber wenn es so wäre und Schwerkraft und Luftwiderstand blieben bestehen, dann könntest du aus dem Stand heraus sofort deine größte Schnelligkeit erreichen. Wenn du kehrtmachen und zurücklaufen wolltest, könntest du es tun, ohne jeden Aufenthalt.« »Das glaube ich nicht«, sagte Shirley. »Ich würde mir bestimmt eine Sehne oder irgend etwas anderes verzerren oder zerreißen.« »Nein, das würde geschehen, wenn die Trägheit
der Materie nicht aufgehoben wäre; aber wir nehmen doch an, sie wäre es. Dann würdest du dir nichts zer reißen. Schwerkraft und Luftwiderstand spielen da bei nur eine geringe Rolle. Das Beharrungsvermögen ist es, was wir überwinden müssen, und das tun wir, indem wir das Catterick-Feld benutzen.« Shirley war des Themas offensichtlich müde. Doch ich fuhr eisern fort: »Wenn wir genau in der Mitte des Feldes liegen, das nebenbei vom Mond ausgeht, dann erst fliegen wir mit voller Geschwindigkeit los, unbe hindert durch Schwerkraft oder Trägheit der Materie; nur ein kleiner Bruchteil davon wird innerhalb des Schiffes aufrechterhalten, damit wir uns bewegen kön nen, nicht einmal der millionste Teil der normalen Stär ke. Wir werden in der Lage sein, im Bruchteil einer Se kunde zu starten und zu halten. Im Anfang werden wir nicht mehr als ein paar hundert Meilen in der Stunde machen, weil wir vielleicht immer noch nicht genau auf dem Gleis sind. Wenn der Kapitän sicher ist, daß wir es sind, dann fliegen wir mit mehrfacher Lichtgeschwin digkeit weiter, bis wir die Aldebarans erreichen. Dort halten wir mit einem Ruck, ohne ...« »Ich werde jetzt brausen«, unterbrach mich Shirley. »Du willst also, daß ich gehe?« »Bleibe, wenn du willst, vorausgesetzt, daß du mit diesem Cata-sowieso-Feld aufhörst.« Die Brauseeinrichtung war ein winziges Gelaß in
der gegenüberliegenden Wand. Es gab keine Wasch becken. Wenn man sich waschen wollte, mußte man die Brause benutzen. Ich hätte Shirley erzählen können, daß ich eine ganze Menge mehr gelesen und erlebt hatte als sie und daß sie, um mich zu schockieren oder außer Fas sung zu bringen, schon etwas mehr tun müßte als das, was sie zu tun im Begriffe war, etwa im Schiff herumspazieren und auf die Passagiere schießen, oder die Maschinen anhalten, oder versuchen, in den Weltraum hinauszuklettern. Doch das hätte sie vielleicht wirklich auf dumme Gedanken gebracht, denn sie wollte ja nur eins, näm lich, daß ich protestieren sollte. Ich glitt vom Bett und ging zur Tür, obwohl ich wußte, daß sie in Wirklich keit nicht allein gelassen werden wollte, zumal Glen Mavor von nun an ausfallen würde. »Auf später«, sagte ich. Shirleys Trotzperiode war bald abgeklungen. Glen Mavor zog sich zurück, und es schien ihr nicht nahe zugehen. Sie hatte sich wieder vollkommen gefangen und sprach auch wieder mit Ellen, anstatt sie beim Essen zu schneiden, wie sie es eine Weile getan hatte. Ellen nahm ihre Wiederannäherungsversuche genau so auf, wie sie ihren Groll ertragen hatte, gelassen, großmütig und ohne Ressentiment. Doch die frühere Intimität zwischen den beiden Frauen war ver
schwunden. Shirleys Aufmerksamkeit galt jetzt in der Hauptsache mir und nicht mehr Ellen. Die Zeit vergeht schnell, wenn die Tage sich alle gleich sind, und noch schneller, wenn es keinen wirk lichen Tag gibt. Wir schliefen alle ungefähr zwölf Stunden von jeweils vierundzwanzig. Ausreichende körperliche Betätigung war unmöglich. Ellen machte sich die üblichen Sorgen um ihr Gewicht und tat das übliche dagegen; sie schloß mich aus unserer Kabine aus und turnte, verbissen, systematisch, stundenlang. Sie hätte nie erlaubt, daß jemand zuschaute, wenn sie die Arme schwang oder, auf dem Rücken liegend, mit den Beinen strampelte. Auch Shirley wurde ein oder zwei Mal höflich hinausgewiesen. »Sie hat doch oft genug zugesehen, wenn ich so was machte«, bemerkte sie einmal. »Ist sie anders ge baut als andere Frauen, oder warum tut sie das?« Es war eine Rückerinnerung an die Zeit, da sie El len noch vergötterte, und ich empfand dies als ein gu tes Zeichen. »O nein«, erwiderte ich. »Hat sie vielleicht X-Beine oder einen Spitzbauch?« »Nichts von alledem«, protestierte ich. »Sie würde sich überall und jederzeit im Badeanzug zeigen, doch nur, wenn sie weiß, daß sie einen vollkommenen Eindruck macht.« »Hältst du sie denn immer für vollkommen?«
»Oh, was ich denke, zählt nicht. Ich will damit nur folgendes sagen: Ellen würde niemals zulassen, daß ihr jemand zuschaut, während sie mit den Fingerspit zen ihre Zehen greift und sich dann nach hinten beugt, um zu versuchen, ihre Fersen zu berühren, wenn sie nicht ganz sicher ist, daß es ihr gelingt.« »Das wird ihr nie gelingen«, beschloß Shirley das Thema. So kam es, daß Shirley und ich einander oft Gesell schaft leisten mußten. Doch wir entdeckten eine ge wisse Ähnlichkeit in unserer Veranlagung, die Zeit totzuschlagen. Wir konnten stundenlang in Shirleys Kabine sitzen, lesend, plaudernd, vor uns hindösend. Wir langweilten uns nicht, auch wenn wir schwiegen. Und dann machte Shirley auch diesem Stadium ein Ende. Ich war in einen Roman vertieft, als sie ihren Kopf zwischen mein Gesicht und das Buch schob und mich küßte. Ich stehe nicht an, zu bekennen, daß mich dies im ersten Moment wirklich aufs höchste überraschte. Doch sofort wurde mir dann mit einem Schlag eine ganze Menge Dinge bewußt, die mich darauf hätten vorbereiten müssen. Sie hatte, kaum waren wir unterwegs, wissen wol len, ob ich Ellen liebte, ob wir verheiratet seien. Sie hatte sich mit Ellen zerstritten. Sie hatte zugelassen, daß ich die Affäre mit Glen unterband, und ihm nicht
nachgetrauert. Sie hatte versucht, mich zu verwirren, mich zu provozieren. Sie hatte bissige Bemerkungen gemacht über Ellen. Sie hatte fast alle ihre wachen Stunden in meiner Gesellschaft verbracht. Und jetzt küßte sie mich. Es war zu plötzlich ge kommen für mich, obwohl es im Grunde logisch war. Da mein Verstand ausgesetzt hatte, legten sich meine Arme um ihre Taille und preßten ihren jungen Leib an mich, hielten ihn umklammert, bis uns beiden die Luft ausging. Im gleichen Augenblick, da mein Kopf sich an schickte, wieder Herr der Situation zu werden, er kannte ich, daß Shirley von den Ereignissen ebenso überrumpelt worden war wie ich. Ich begriff jetzt, was die Leute meinen, wenn sie sagen, die Liebe sei eine stets zu spät erkannte Krankheit. Ich hatte alle Gründe, mich nicht in Shir ley zu verlieben, hatte nie daran gedacht, es zu tun, hätte es nie für möglich gehalten, daß ich es tun könnte. Und jetzt war es passiert. Shirley lag in mei nen Armen, und ich wagte nicht, zu denken oder mich zu bewegen, denn wenn dieser Zustand beendet war, mußte ich Problemen ins Auge sehen, vor denen mir graute. Shirley empfand wahrscheinlich das glei che. So hielten wir uns umschlungen und versuchten, die Zeit anzuhalten. Es gelang uns nicht besser als je zuvor einem ande
ren Paar. Ich fühlte, daß ich Shirley weh tat und lok kerte meinen Griff. Sie nahm ihren einen Arm von meinem Hals und ließ ihn neben mir niederfallen. So lösten wir uns langsam aus unserer Umarmung. Wir taten so, als sei uns eines jener Dinge widerfah ren, die nur geschehen, weil man nichts getan hat, sie zu verhindern, die im Grunde aber wenig oder nichts bedeuteten. Wir sprachen überhaupt nicht darüber, benahmen uns genauso wie vorher. Eins hatte sich allerdings für mich geändert; ich fand, daß Shirley unvergleichlich hübscher geworden war. Ich hatte mich zunächst im Verdacht, daß nur meine Augen sie so sahen, aber eines Tages bemerkte auch Ellen, sie verstehe jetzt nicht mehr, warum sie einmal gesagt habe, Shirley sei bestimmt nicht wegen ihrer Schönheit ausgesucht worden. Shirley und ich sprachen immer noch nicht über ih re zukünftige Rolle als First Lady. Dies geschah erst am letzten Tage, als es zum Kurzschluß kam. Wir waren theoretisch noch ungezählte Lichtjahre vom Lotrin entfernt, praktisch jedoch nur noch wenige Stunden. Wir waren unterwegs nirgends gelandet, hat ten nur mehrere Male gestoppt, und Leichter hatten an der Sardonia angelegt; doch das hatte uns nicht berührt, außer daß bei Tisch neue Gesichter auftauchten. Es hat jemand einmal gesagt, die Armen hätten
deshalb so große Familien, weil ein Mann und eine Frau, die in einem engen Raum zusammengepfercht sind, nichts anderes zu tun fänden, als Kinder zu zeugen. Doch Shirley und ich waren unserer, trotz der einen gefährlichen Panne, so sicher, daß wir fast unsere gesamte freie Zeit gemeinsam in einem Raum verbrachten, der nicht viel größer war als ein Schrank. Unsere Gespräche waren frei von jeder ero tischen Anspielung, und obwohl wir nicht umhin konnten, uns ständig zu berühren, geschah es ohne jede Spur von Sinnlichkeit. An diesem Tage saß Shirley auf dem Bett und las, ich saß am Boden und dachte darüber nach, was für einen Auftrag Ellen und ich wohl als nächsten be kommen würden, in der festen Überzeugung, daß unser jetziger Auftrag bald erledigt und vergessen sein würde. Ich fragte mich wieder, warum der WKD ausgerechnet uns beide mit der Aufgabe betraut hat te, Shirley nach dem Lotrin zu bringen. Doch dies war ein Gedankengang, bei dem mir unbehaglich zumute wurde, und ich schüttelte den Kopf, so wie man es tut, wenn man nach einer Ablenkung sucht. Mein Blick begegnete Shirleys rotem Pantöffelchen und glitt weiter hinauf an ihren Beinen. Shirley hatte gute Beine, doch ihr Rock war so züchtig herunterge zogen, daß ich nicht einmal ihre Knie sehen konnte. Wider alle Logik nahm ich Anstoß daran, fühlte mich
gereizt. Wie kam sie dazu, sich so prüde in ihren Rock einzuwickeln? Es war, wie wenn jemand einen Brief vor einem verdeckt, als wollte man versuchen, mitzule sen. Ich saß nicht am Boden, um mir ihre Beine betrach ten zu können. Ich hatte überhaupt nicht an ihre Beine gedacht, bevor ich bemerkte, daß sie sie versteckte wie eine zimperliche, alte Jungfer. Ich streckte die Hand aus und berührte Shirleys Fessel, doch diese Berührung bewirkte etwas, das ich keineswegs beabsichtigt hatte. Sie warf ihr Buch weg, und ließ sich vom Bett herunter in meine Arme gleiten. Wir küßten, liebkosten uns wie zwei Teenager, er regt, aber unschuldig. Plötzlich warf Shirley sich zu rück, schloß die Augen, blieb liegen, abwartend. Und die Wirkung auf mich war das Gegenteil von dem, was sie erwartet hatte. »Shirley«, sagte ich schroff, »das ist unmöglich.« Sie setzte sich wortlos auf, lehnte sich mit dem Rücken gegen das Bett, sah mich lauernd an. »Hast du denn noch immer nicht begriffen, was ei ne First Lady ist?« fuhr ich beschwörend fort. »Sie ist ein Symbol. Eine Göttin. Eine ganz neue Welt hängt von ihr ab, liebt sie und würde für sie sterben. Sie ist mehr als eine Königin in der Geschichte der Erde.« »Sie sollen sich eine andere First Lady für den Lo trin suchen«, unterbrach mich Shirley heftig. »Ich danke ab.«
»Das kannst du nicht. Schon vor Wochen ist auf der Erde bekanntgegeben worden, daß die First Lady des Lotrin Shirley Wynsome heißt, daß sie schon unter wegs ist. Für die Erde hat es nicht die gleiche Bedeu tung wie für den Lotrin, aber es ist jetzt offiziell be kannt, es ist amtlich. Es kann nicht rückgängig ge macht werden. Nimm an, du gehst zurück. Die Män ner auf dem Lotrin werden es erfahren. Man wird ih nen eine andere First Lady schicken, einen Ersatz für die erste, die versagt hat, bevor sie ankam. Sie wird keine Chance haben. Oder nimm an, der WKD ent schließt sich, zu sagen, du wärst unterwegs gestor ben. Die zweite First Lady wird ihrem Planeten kein Glück, sondern nur Unglück bringen. Wenn die Ernte schlecht ausfällt, dann wird es heißen, der Lotrin ist verflucht, weil seine erste First Lady ihn nie erreichte. Der WKD kann auch die ganze Geschichte vertu schen und später ein anderes Mädel als Shirley Wyn some hinaufschicken, mit irgendeiner Ausrede für die Verzögerung. Doch sie wird es wissen. Sie wird wis sen, daß die richtige Shirley Wynsome ...« »Warum hast du nicht vorher an all das gedacht?« »Ich habe daran gedacht. Eben deshalb ...« »Niemand kann mich zwingen, eine gute First Lady zu werden. Ich kann die Zukunft des Lotrin ruinie ren, wenn ich will. Und ich würde es tun, wenn ...« »Eine Welt zum Tode verurteilen, weil du deinen
Willen nicht durchsetzen konntest? Weil du dein gege benes Wort nicht halten willst? Wegen einer Laune?« Wir waren beide ungerecht gegeneinander. Und wir wußten es. Wir stritten noch eine Weile herum, redeten aneinander vorbei, beschuldigten uns gegen seitig, doch ohne uns wirklich böse zu sein, eher in ohnmächtiger Wut, daß alles, was ich gesagt hatte, nur allzu wahr war. Das Kolonisationssystem des WKD gleicht in seiner Struktur einer Pyramide. Das Fundament bilden die eigentlichen Pioniere, Männer, die nicht wissen, ob sie Tod oder Ruhm, Armut oder Reichtum erwartet. Sie ziehen aus in eine unbekannte Welt und versuchen, sie zu einem Ort zu machen, wo Menschen leben können. Wenn sie Fuß gefaßt haben, folgen ihnen immer mehr, Hunderte, Tausende, Hunderttausende. Doch keine Frauen. Jeder von ih nen weiß es, akzeptiert es. Jede neue Welt kann ein neuer Lebensquell oder ein Krebsgeschwür sein. Wenn das Krebsgeschwür ausgeschnitten werden soll, muß es geschehen kön nen, bevor die Gefahr einer Vererbung akut gewor den ist. Deshalb keine Frauen. Die neue Welt wird besiedelt, erforscht, geprüft und immer wieder ge prüft vor jedem neuen Schritt. Die Männer werden immun gemacht gegen alle bodenständigen Krank heiten, Allergien und ungewohnten Umwelteinflüsse. Ihre Zahl wächst, fünfhunderttausend, eine Million.
Und immer noch keine Frauen. Der WKD über wacht den gesamten Weltraumverkehr. Keine Frau kann ohne sein Wissen und gegen seinen Willen eine jungfräuliche Welt betreten. Die erste Frau darf nur die First Lady sein. Mit ihr beginnt das wahre Leben des neuen Planeten. Sie ist Anerkennung, Belohnung, Versprechen, Hoffnung. Dies ist die eine Möglichkeit. Die andere, wenn sich herausstellt, daß der neue Planet ungeeignet ist zur Züchtung eines neuen Geschlechts. Dann wird die First Lady sterilisiert, und das unglückliche Kind mit ihr, wenn es weiblichen Geschlechts ist. Dies bedeutet das Todesurteil für die Bevölkerung der neuen Welt. Sie muß aussterben; denn es gibt keine Frauen mehr. Jeder weiß dies, anerkennt es als unumstößliches Gesetz. Es ist ein verrücktes, grausames System, ein Spiel mit dem Glück, ein Leben zwischen Furcht und wil der Hoffnung, doch es ist ein sicheres und gesundes System. Ich konnte ebensowenig dagegen angehen wie Shirley. Sie war die First Lady des Lotrin, und vor diesem Schicksal gab es kein Entrinnen mehr. Doch Shirley und ich wagten nicht, die Konse quenzen unserer Situation zu Ende zu denken, wir spielten nur mit ihnen. Als mir dies bewußt wurde, sagte ich: »Wir wollen hören, was Ellen zu der Sache zu sagen hat.«
Shirley sprang auf. »Bist du verrückt?« Wenn wir vor uns selbst und voreinander so getan hatten, als hätten wir uns nur in der Hitze des Au genblicks einmal gehen lassen, so hatten wir uns El len gegenüber immer so benommen, als sei nicht einmal dies geschehen. »Sie muß eingeweiht werden«, sagte ich, »es sei denn, wir beide können hier und jetzt entscheiden, daß wir fertig miteinander sind.« Ich hoffte, Shirley würde sagen, es wäre so, und befürchtete es gleich zeitig. Sie sagte nichts. Und so sagte ich: »Bleibe hier«, und ging, um Ellen zu holen. Ich klopfte nicht einmal an. Ellens Arme waren nach oben gestreckt. Sie bewegte den Oberkörper im Kreise. Sie ließ die Arme fallen, sah mich wütend an. »Etwas sehr Wichtiges«, sagte ich. »Shirley und ich benötigen deine Hilfe. Du brauchst dich nicht zu rechtzumachen. Komm bitte sofort mit.« Ich klärte sie nicht auf, bis wir uns in Shirleys Ka bine gezwängt hatten. Dann sagte ich zu ihr, Shirley und ich, wir liebten uns. Ellens Zornfalten waren wie durch einen Zauber weggewischt. Jetzt wurde es in teressant. Dies war ein Bruch mit der Routine, ein echtes Problem, eine Herausforderung. Doch sie konnte sich es nicht verkneifen, zu seuf zen und zu sagen: »Ich wußte, daß irgend etwas pas sieren würde, als ich die Zügel abgab. Ich wußte al
lerdings nicht, daß es so etwas sein könnte. Ich kann nicht alles wissen.« »Wirklich nicht?« höhnte Shirley. Ellen maß sie mit einem kalten Blick. »Glaubst du, daß dieser Ton uns weiterhilft? Ist das Ganze nicht nur Theater von dir, um mir zu zeigen, daß du deine alberne Verliebtheit in mich überwunden hast?« Das war gesagt worden, um Shirley klein zu ma chen. Es verfehlte seine Wirkung, denn Shirley wußte jetzt, daß sie jemand war. Nur eine First Lady zu sein, das war nichts, doch jetzt hatte sie jemanden, der sie liebte. Sie fand sich großartig in ihrem Erfolg, und das machte sie beinahe wirklich groß. »Ich schäme mich nicht, daß ich dich einmal be wundert habe«, erwiderte sie. »Du bist eine große Schauspielerin. Du kannst sogar die Rolle eines an ständigen Menschen spielen.« Ellen lächelte. Dieses Lächeln bewies Ellens wahres Talent. Shirley hatte recht. Ellen war vor allem, was sie sonst an Vorzügen besitzen mochte, eine Schau spielerin. »Das ist nicht schwer«, sagte sie ruhig. »Ehrlich, Shirley, hast du jemals einen Menschen gekannt, der nicht anständig war?« Shirley hatte es nicht; es war ihr Glück. Und es war ganz Ellen, darauf zu bauen. »Laßt uns der Situation ins Auge sehen«, sagte Ellen.
»Wenn es ausgemacht ist, daß Shirley nicht Lotrins First Lady sein wird, müssen wir uns über die Folgen dieses Entschlusses klarwerden. Habt ihr daran gedacht?« Niemand antwortete ihr. »Nun«, fuhr sie in freund lichem Ton fort, »dann wollen wir gemeinsam über legen. Shirley, hast du dabei an deine Mutter ge dacht?« »Das sieht dir ähnlich«, zischte Shirley. »Dir ist keine Waffe zu schmutzig! Kein Gefühl ist dir heilig, wenn du ...« »Gut, wie du willst«, unterbrach Ellen sie. »Lassen wir deine Mutter aus dem Spiel. Du hattest dich ja schon damit abgefunden, daß du sie nie wiedersehen würdest, und wirst sie auch jetzt wahrscheinlich nicht wiedersehen.« Beklommenes Schweigen. Dann sagte Shirley zag haft: »Nehmen wir an, ich denke noch an meine Mut ter. Was ändert das?« »Ich will dir in die Erinnerung zurückrufen, wie al les gekommen ist, dann verstehst du mich vielleicht von selbst. Du warst ein junges Mädchen wie alle an deren, glücklich, auf der Erde zu sein, zufrieden, dort bleiben zu können. Dann kamen die Leute vom WKD und redeten mit dir, überredeten dich, dich einigen Prüfungen zu unterziehen, und dann ließen sie die Katze aus dem Sack. Sie sagten dir, du könntest etwas werden, etwas Bedeutendes. Nur müßtest du dann
die Erde verlassen und deine Mutter, und deine Antwort müßte ja oder nein sein und nicht vielleicht.« »Sie haben mich überrumpelt!« rief Shirley aus. »Zugegeben, sie haben ihre besonderen Methoden. First Ladies wachsen nicht auf den Bäumen. Aber hast du wirklich geglaubt, du könntest nicht nein sagen?« Shirley schwieg. »Nun, du konntest etwas Großes werden«, fuhr Ellen nachdenklich fort, »oder du konntest die Chance ausschlagen. Du liebst deine Mutter. Du wolltest sie nicht verlassen. Du dachtest daran, nein zu sagen. Du hast nicht, wie die Zeitun gen schreiben, an die Weltraumeroberung, an Fort schritt, an die Erhaltung der reinen Menschheit ge dacht. Niemand tut das, es liest sich nur gut. Die wirkliche Frage für dich war, ob du die unerhörte persönliche Chance, die dir geboten wurde, ausschla gen konntest.« Für den Fall, daß ich es noch nicht gesagt habe: Ellen versteht es meisterhaft, die simpelsten Dinge spannend zu erzählen. Wir hingen beide an ihren Lippen. Ich viel leicht etwas weniger als Shirley, aber immerhin. »Du konntest es nicht«, sagte Ellen, »obwohl du vieles aufgeben mußtest, Dinge, von denen ich nichts weiß.« Ich sah, was jetzt kam. Ich hätte es längst sehen müssen, doch ich war auf mehr als einem Auge blind gewesen in der letzten Zeit.
»Im Grunde ist es heute gleichgültig, ob du damals nein sagen konntest oder nicht. Aber die gleiche Fra ge stellt sich dir heute wieder.« Ellens Stimme klang jetzt sanft, fast teilnahmsvoll. »Bist du bereit, all die Dinge aufzugeben, die du aufgeben wolltest, um First Lady werden zu können? Das wirst du tun müssen, auch wenn du darauf verzichtest, First Lady auf dem Lotrin zu werden.« »Joe werde ich nicht aufgeben«, stieß Shirley trot zig hervor. Ellen nickte, als sei dies vollkommen vernünftig. »In Ordnung«, fuhr sie gelassen fort. »Die Sache ist nur die: um etwas aufgeben zu können, muß man es haben. Hast du Joe?« Sie sah mich an. Ich wich ihrem Blick aus. »Du wirst es nicht verste hen«, sagte ich. »Ich liebe Shirley wirklich.« »Oh, ich verstehe das sehr gut. Aber siehst du ir gendeine Zukunft für eure Liebe?« »Nein. Und ich habe es Shirley auch gesagt.« »Ich habe mich bemüht, fair zu sein gegenüber Shirley, und sie geschont«, sagte Ellen, »weil sie nicht alles weiß. Dich aber kann ich etwas härter anfassen, ohne unfair zu werden; denn du weißt mehr als sie.« Ja, ich hatte recht gehabt. Das war Ellen. Ich hätte wissen müssen, daß sie ein Problem, das ich ihr zu schob, auf meinem Rücken lösen würde.
Der wirkliche Unterschied zwischen Shirley und mir lag nicht in unserem Alter oder Geschlecht, sondern in der Tatsache, daß ich den WKD kannte. Ich liebte Shirley und hätte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, sie zu bekommen. Doch ich wußte, daß ich, um im Bilde zu bleiben, den WKD nicht bewegen konnte. Ich machte einen letzten geheuchelten Versuch. »Du sprichst davon, daß Shirley eine Chance auf gibt«, sagte ich. »Die Chance, eine tragische Königin zu sein? Nimm an, der Lotrin ist ungeeignet für menschliches Leben, läßt es nicht menschlich bleiben? Wäre sie dann nicht besser ...« »Erspare dir den Rest«, unterbrach mich Ellen. Dann wandte sie sich an Shirley. »Höre, Shirley. Joe benimmt sich so, weil er ein ausgemachter Narr ist. Ihm ist nicht zu helfen; dazu ist es zu spät. Du aber hast dich nur in ihn verliebt, weil du Angst hast. Im letzten Augenblick, wenige Stunden vor der Ankunft auf dem Lotrin, glaubst du erkannt zu haben, daß du nicht ertragen könntest, was dich dort eventuell er wartet.« »Du hast zugegeben, daß du es auch nicht könn test«, warf Shirley ein. »Ich habe aber auch nicht ge sagt, daß ich es könnte; wohl aber du. Doch lasse mich aus dem Spiel. Als du gemerkt hast, daß du al lein bist, hast du dich Joe an den Hals geworfen, und
Joe, der ein Narr ist, hat es sich gefallen lassen. Ich bin eine Frau, vergiß das nicht. Ich weiß, wie man so et was macht. Du brauchtest jemanden, der dir hilft, ei nen Ausweg zu finden. Der einzige, der in der Nähe war, war der letzte, in den du dich verlieben durftest, aber er war auch ein Narr und ließ es zu. Dir kann ich deswegen keinen Vorwurf machen, wohl aber ihm, denn er hätte dir sagen können ...« »... dieser Narr«, warf ich ein. Ellen machte eine ungeduldige Handbewegung. »Er hätte dir etwas sagen können, was deine Angst überflüssig gemacht hätte. Auch der WKD hätte dir es sagen können. Doch jetzt muß ich es dir sagen. Shirley, der WKD hat die besten Hirne der Erde zu seiner Verfügung, die besten Wissenschaftler. Höre gut zu, Shirley, dies ist sehr wichtig für dich und dei ne Situation. Die ganze Geschichte mit den First Ladies ist nur Theater! Ja, gewissermaßen ein Betrug, ein frommer Betrug allerdings. Gewiß, du wirst auf den Lotrin geschickt, um ein Kind zu bekommen, und du wirst es auch bekommen, und die Ärzte und Wissen schaftler und Psychologen werden dieses Kind auf Herz und Nieren prüfen, und zwar ehrlich prüfen, ob es von den Normen der menschlichen Rasse abweicht oder nicht. Aber glaubst du denn wirklich, der WKD hat einen solchen Test noch nötig?« Ellen ging aufs Ganze. Ich wußte, als ich sie holen
ging, daß sie Shirley wenigstens teilweise die Wahr heit würde sagen müssen; aber ich hatte gehofft, daß sie einen weniger grausamen Ausweg finden würde. Jetzt brauchte sie ihre schauspielerischen Künste nicht mehr spielen zu lassen. Shirley hielt den Atem an vor Spannung. Ellen bewegte ihren Kopf langsam hin und her, als sie fortfuhr: »Nein, Shirley, die Männer, die eine Welt un tersuchen, bevor sie kolonisiert wird, mögen in diesem Stadium nicht sicher sein, wie Menschen auf ihr gedei hen werden, aber nachdem einige Tausend ein Jahr lang und Hunderttausende mehrere Jahre dort gelebt haben, und wenn schließlich eine Million dort angesie delt worden ist, wissen die Fachleute mehr über den Planeten und seine Einwirkung auf die menschliche Natur, als ein einzelnes Experiment ihnen sagen kann. Du weißt, daß die First Lady ein Symbol ist. Nun, der Test der ersten Geburt ist es auch. Der WKD kennt das Resultat im voraus. Doch solange die Menschen unver nünftig und abergläubisch und ungebildet und seelisch unreif sind, wird dieser symbolische Test nötig sein, der Test, der angeblich beweist, ob eine Welt lebensfähig ist oder nicht. Doch für den WKD ist er kein Beweis, er ist nur die Bestätigung einer neunzigprozentigen Wahr scheinlichkeit, die nach vernünftigem Ermessen so viel bedeutet wie Sicherheit. Sagt dir das etwas? Verstehst du, was das für dich bedeutet?«
»Ja«, hauchte Shirley. »Und nun möchtest du gerne hören, wie es mit Lo trin steht. Bis jetzt durftest du es nicht wissen. Doch nun muß und werde ich es dir sagen, und noch etwas mehr. Höre gut zu und behalte es für dich: Das ganze Kolonisationssystem ist auf den First Ladies aufge baut. Sage es auch nicht deinem Bill, oder wie er sonst heißen mag. Er weiß es nicht. Niemand weiß es außer dem WKD. Du warst niemals in Gefahr, Shirley. Lo trin ist gesund, ist sicher. Dein Kind wird normal sein wie das Kind jeder anderen Frau in einer menschli chen Welt. Ich wiederhole, der WKD weiß das. Und jetzt frage ich dich, willst du immer noch Joe nicht aufgeben?« So kam es, daß ich kurz darauf mit Shirley auf dem Lotrin landete. Ohne Ellen. Die Gesetze des WKD lie ßen es nicht zu. Keine Frau, außer der First Lady, durfte, nicht einmal für fünf Minuten, den Boden ei nes Planeten in der Situation des Lotrin betreten. Ich sah, was Shirleys Ankunft für die neue Welt be deutete. Alextown war die Hauptstadt des Lotrin, und buchstäblich ihr letzter Einwohner war auf dem Flug platz, um sie zu bewillkommnen. Was sich dabei abge spielt hat, kann ich nicht beschreiben. Sie würden den ken, ich sei verrückt. Haben Sie je gesehen oder gehört, was eine Fahne oder ein Kreuz oder irgendein anderes
Zeichen für ein Volk bedeuten kann, das buchstäblich auf der Scheide zwischen Sein oder Nichtsein lebt? Nun, dann stellen Sie sich vor, dieses Symbol ist nicht eine Fahne oder ein Kreuz oder sonst ein Zeichen, son dern eine lebendige, atmende, schöne Frau, und versu chen Sie sich dann weiter vorzustellen, daß diese Frau in ein Land kommt, das noch kein weiblicher Fuß je be treten hat. Ihre Phantasie wird Millionen von Meilen hinter der Wirklichkeit zurückbleiben. Als ich mich von Shirley verabschiedete, mußte sie sich sichtlich anstrengen, meiner Existenz wieder Be achtung zu schenken. Nicht, daß ihr Gefühl, in mich verliebt zu sein, so oberflächlich, beiläufig oder gar unecht gewesen wäre. Es war die Tatsache, daß sie inzwischen etwas erlebt hatte, das, wenn das Bild er laubt ist, jeden Heiden zum Christen gemacht hätte. Ich war für sie schon nichts anderes mehr als eine Episode in einer vollkommen bedeutungslos gewor denen Vergangenheit, und es spielte keine Rolle, wie wichtig im Grunde diese Episode für ihre Zukunft gewesen war. Ellen schien mich mit Ungeduld erwartet zu haben, als ich zur Sardonia zurückkam. Sie stellte mir keine Frage, sie sah mir nur in die Augen. Und auch dann sagte sie nichts, sie seufzte nur. »Ich weiß nicht, wie ich es durchgestanden habe«, murmelte ich.
»Ich weiß es von mir auch nicht«, erwiderte Ellen mit jener bestrickenden Liebenswürdigkeit, die Shir ley zweimal entwaffnet hatte. »Laß es mich als erste sagen, Joe. Dies war das letzte Mal, daß wir so etwas getan haben.« »Es ist immer das letzte Mal für jeden, der es tun muß«, sagte ich. »Das ist der Grund, weshalb wir die sen Auftrag bekommen haben. Keiner kann es zwei mal tun. Und in jeder Generation kann es immer nur wenige geben, die den traurigen Mut haben, es auch nur einmal zu tun.« Sie gab mir keine Antwort hierauf, und ich hatte auch keine erwartet. Alles, was Ellen zu Shirley ge sagt, entsprach der Wahrheit, bis auf den Schluß. Na türlich wußte der WKD, was geschehen würde, bevor er die First Lady in eine neue Welt schickte. Nicht lan ge vorher, nicht eher, als bis diese Welt so weit kolo nisiert war, daß genügend Unterlagen vorhanden wa ren, um Schlüsse daraus ziehen zu können, doch be stimmt vor der Wahl der First Lady. Wir wußten es, bevor wir Shirley aufsuchten. Der Auftrag war uns im tiefsten zuwider, doch wir sahen ein, daß er aus geführt werden mußte. Der Lotrin mußte seine First Lady haben. Pioniere, die gearbeitet, geschuftet und ihr Leben eingesetzt hatten, um eine neue Welt zu bauen, würden einem Reagenzglas keinen Glauben schenken. Sie würden es nicht fassen können, wenn
man ihnen ohne den vorausgegangenen letzten ge wohnten Test der First Lady verkünden würde, daß die Kolonisation nicht fortgesetzt würde, daß ihre Welt zum Aussterben verurteilt sei auf Grund von Laboratoriumsversuchen. Aber sie werden ihren eigenen Augen glauben, wenn sie Shirleys Kind sehen. Und darüber, wie die ses Kind aussehen würde, hatte Ellen das Gegenteil von dem gesagt, was sie wußte. Shirley hatte geglaubt, ich hätte mich in sie verliebt, weil eine Frau immer bereit ist, das von jedem Mann zu glauben. Sie konnte nicht vermuten, daß es mir unmöglich war, ständig mit ihr zusammen zu sein und sie so ahnungslos zu sehen, ohne daß sie mir leid tat ... Nein, Ellen war nicht schlechter als ich. Sie hatte Shirley mit Worten betrogen, ich durch die Tat. »Es ist nicht neunzigprozentig sicher«, sagte sie lei se. »Nur ungefähr 75 Prozent Wahrscheinlichkeit. Es bleibt immer noch eine Chance ...« Ich wollte sie fragen: Würdest du sie eingehen? Aber ich tat es nicht. Ja, Ellen wäre eine 1 : 4-Chance eingegangen, für eine ganze Welt. Und es war ihre zweite Lüge gegenüber Shirley gewesen, als sie sagte, sie würde es nicht tun, eine Lüge, um Shirleys Zunei gung zu ernüchtern, bevor Ellen sie erwidern mußte. Nein, es war kein absolut auswegloses Schicksal,
dem wir Shirley überantwortet hatten, versuchte ich mir einzureden. Ellen hätte es auf sich genommen, El len, die meine Frau war. Ich versuchte auch, mich mit dem Gedanken zu trösten, daß Ellen eine der wunderbarsten Frauen war, die je geboren wurden. Dies war auch der Grund, weshalb alle Menschen sie wider alle Ver nunft lieben mußten, sagte ich zu mir. Ich gab es nicht oft zu, aber Ellen war ... Ich sah sie an. Sie erwiderte meinen Blick. Doch al les, was ich sah, war Shirleys Gesicht.
John Wyndham
Una Zum erstenmal hörte ich von der Dixon-Affäre, als eine Abordnung der Bewohner von Membury zu uns kam und uns um eine Untersuchung der seltsamen Dinge bat, die angeblich in ihrem Dorf vor sich gingen. Doch vielleicht ist es besser, wenn ich zuvor einige erklärende Worte zu dem »uns« sage. Ich bekleide zur Zeit den Posten eines Inspektors der G. B. T. (Gesellschaft zur Bekämpfung der Tier quälerei) in dem Bezirk, zu dem Membury gehört. Ziehen Sie nun bitte aus dieser Tatsache nicht den voreiligen Schluß, daß ich besonders weichherzig bin, was Tiere betrifft. Ich brauchte einen Job, und ein gu ter Freund, der einigen Einfluß bei der G. B. T. hat, besorgte ihn mir. Meine Arbeit gefällt mir, und ich habe den Eindruck, daß meine Vorgesetzten mit mir zufrieden sind. Um auf die Tiere zurückzukommen, nun, da geht es mir wie mit den Menschen, einige von ihnen mag ich, andere weniger. Hierin unter scheide ich mich von meinem Inspektorkollegen Al fred Weston; er liebt bzw. liebte sie alle, aus Prinzip, bedingungslos und ohne Unterschied. Ob die G. B. T. nun angesichts der Gehälter, die sie
ihnen zahlte, Zweifel an den Fähigkeiten ihrer Ange stellten hegte oder ob es geschah, weil im Falle gesetzli cher Aktionen zwei Zeugen wünschenswert waren – jedenfalls pflegte die Gesellschaft ihre Bezirke jeweils durch ein Zwiegespann von Inspektoren verwalten zu lassen, und eine der Konsequenzen dieser Praxis war meine tägliche und enge Berührung mit Alfred. Alfred könnte man als den Tierliebhaber par excel lence bezeichnen. Zwischen ihm und allen Tieren be stand, wenn man so sagen darf, eine Art Wahlver wandtschaft, wenigstens von seiner Seite aus. Es war nicht seine Schuld, wenn sie ihn nicht immer ver standen; jedenfalls gab er sich alle Mühe. Schon der Gedanke an vier Füße oder an Federn schien ihn zu rühren. Er liebte sie alle zärtlich und war fähig, von ihnen und zu ihnen zu sprechen, als seien sie seine Freunde, arme Freunde, die vorübergehend an einer Intelligenzminderung litten. Alfred selbst war ein kräftig gebauter, wenn auch nicht sehr großer Mann. Durch seine dickberandete Hornbrille betrachtete er das Leben mit einem Ernst, der sich nur selten erhellte. Der Unterschied zwischen uns war der, daß ich einem Broterwerb nachging, während er einer Berufung folgte, sich ihr hingab mit ganzem Herzen und mit einer Einbildungskraft, die oft mit ihm durchging. Das machte ihn nicht gerade zu einem bequemen
Mitarbeiter. In Alfreds Phantasie wurde das Banale zur Sensation. Bei jeder normalen Anzeige wegen Schiagens eines Pferdes glaubte er, einem »wüsten Unhold«, einem »Barbaren«, einem »Teufel in Men schengestalt« auf der Spur zu sein, und war bitter enttäuscht, als wir, wie es immer der Fall war, fest stellen mußten, daß erstens die Angelegenheit über trieben dargestellt worden war und daß zweitens der Beschuldigte ein Glas zuviel getrunken hatte oder bei einem besonders störrischen Tier ausnahmsweise einmal die Beherrschung verloren hatte. Soviel über meinen Kollegen Alfred, mit dem ich also im Büro der G. B. T. saß, als die Abordnung aus Membury eintraf. Es waren mehr Personen, als wir sonst normalerweise auf einmal empfingen, und als sie einer hinter dem anderen eintraten, weiteten sich Alfreds Augen in der Vorahnung eines wirklich gu ten bzw. schrecklichen Falles, je nachdem, von wel cher Seite man ihn betrachtet. Selbst ich hatte das Ge fühl, daß es sich mindestens um eine Katze handeln mußte, der man eine Konservendose an den Schwanz gebunden hatte. Unsere Erwartungen wurden weit übertroffen. Der Bericht der guten Leute war zunächst etwas konfus, doch als wir ein wenig Ordnung in ihre Aussagen gebracht hatten, kam ungefähr folgendes an Tatsa chen heraus:
Am frühen Morgen des vorangegangenen Tages hatte ein gewisser Tim Darrel, als er wie jeden Tag die Milch zum Bahnhof fuhr, plötzlich vor sich auf der Dorfstraße ein ungewöhnliches »Phänomen« ge sehen. Der Anblick hatte ihn so überrascht, daß er so fort die Bremse trat und einen Schrei ausstieß, der den ganzen Ort an die Fenster oder die Türen brach te. Die Männer hatten entsetzt den Mund aufgerissen, und die meisten Frauen hatten angefangen zu krei schen, als auch sie die beiden Geschöpfe sahen, die mitten auf ihrer Hauptstraße standen. Die zuverlässigste Beschreibung dieser Geschöpfe, die wir aus unseren Besuchern herausholen konnten, ließ vermuten, daß ihr Aussehen dem von Schildkrö ten am nächsten kam, wenn auch von einer sehr un wahrscheinlichen Art von Schildkröten, die sich auf recht auf den Hinterbeinen fortbewegten. Die Gesamthöhe der seltsamen Erscheinung dürfte etwa 1 Meter 70 betragen haben. Ihre Leiber waren mit ovalen Schildkrötenpanzern bedeckt, doch nicht nur auf dem Rücken, sondern auch auf der Vorderseite. Die Köpfe waren etwa von der Größe eines normalen Men schenkopfes, doch ohne Haare, und hatten eine hornar tig aussehende Oberfläche. Ihre großen, schwarzen, glänzenden Augen saßen über einem harten, schim mernden Vorsprung, bei dem es strittig war, ob es sich um einen Schnabel oder um eine Nase handelte.
Doch diese an sich schon höchst unwahrscheinliche Beschreibung wurde gekrönt durch eine Beobach tung, in der sie alle trotz Abweichungen in anderen Details unerschütterlich übereinstimmten. Sie wollten alle gesehen haben, daß auf beiden Seiten aus den Kanten, wo der Rücken- und der Vorderpanzer zu sammenstießen, etwa in Zwei-Drittel-Höhe, je zwei menschliche Arme und Hände hervorragten. Nun, nachdem sie uns dies erzählt hatten, tat ich, was jeder an meiner Stelle getan haben würde: ich sagte ihnen auf den Kopf zu, daß es sich um einen Spaß handelte, daß ein paar Burschen sich verkleidet hätten, um ihnen einen Schreck einzujagen. Die Männer von Membury waren entrüstet über meinen Verdacht, daß sie einem Jux aufgesessen sei en, und fragten mich fast höhnisch, ob ich mir vor stellen könnte, daß jemand einen solchen Spaß auch dann noch weitertreibt, wenn man das Feuer auf ihn eröffnet. Das hatte nämlich der alte Halliday, der Feldschütz des Dorfes, getan. Ein halbes Dutzend scharfe Schüsse aus seiner Zwölf-MillimeterSchrotflinte hatte er auf die Dinger abgegeben; doch das hatte sie nicht im geringsten gestört. Die Schrot kügelchen waren abgeprallt, ohne jede Wirkung. Als aber die Leute sich dann aus ihren Häusern wagten und sich den rätselhaften Geschöpfen näher ten, um sie genauer zu betrachten, schienen sie es mit
der Angst bekommen zu haben. Sie gaben schrille Töne von sich, machten kehrt und liefen in einem watschelnden Gang die Straße hinunter. Das halbe Dorf, jetzt mutiger geworden, folgte ihnen. Die bei den Geschöpfe schienen kein bestimmtes Ziel zu ha ben, sondern liefen immer geradeaus und gerieten so bald in das bei dem Dorf gelegene Sumpfgelände, wo sie an einer tiefen Stelle des Moores zappelnd und quietschend versanken. Nach einer Besprechung hatte dann die Gemeinde beschlossen, die Angelegenheit nicht bei der Polizei zu melden, sondern zunächst einmal uns zu unter breiten. Dies war zweifellos sehr ehrenvoll für uns, doch ich sagte zu ihnen: »Ich sehe nicht, was wir in der Sache tun können, nachdem die Erscheinungen ohne jede Spur wieder verschwunden sind.« »Es sei denn«, fügte Alfred in einem weniger ver bindlichen Ton hinzu, »wir nehmen Veranlassung, Anzeige zu erstatten gegen die Bewohner von Mem bury, weil sie diese unglücklichen Geschöpfe, was sie auch immer gewesen sein mögen, einfach in den Tod gehetzt haben, ohne den Versuch zu machen, sie zu retten.« Zunächst schienen unsere Besucher über diese Er öffnung beleidigt zu sein, doch dann stellte sich her aus, daß sie mit ihrem Bericht noch nicht zu Ende wa
ren. Sie hatten die Spuren der monströsen Geschöpfe so weit wie möglich zurückverfolgt und waren zu dem Schluß gelangt, daß sie ihren Ursprung nir gendswo anders haben konnten als in Membury Grange, einem in der Nähe des Dorfes gelegenen Gutshof. »Wer wohnt dort?« fragte ich. Ein gewisser Doktor Dixon, erklärten sie mir. Er habe das Anwesen vor drei oder vier Jahren gekauft. Und so bekamen wir schließlich zu hören, was Bill Parson beobachtet hatte. Es bedurfte allerdings eini ger Überredung, ihn zum Sprechen zu bringen. »'s bleibt doch unter uns, was ich Ihnen sagen wer de?« fragte er ängstlich. Jedermann im Umkreis von Meilen wußte, daß Bill ein starkes Interesse für anderer Leute Kaninchen hegte. Ich beruhigte ihn, indem ich ihm strengste Diskretion zusicherte. »Das war also so«, begann er. »Vor etwa drei Mo naten muß es gewesen sein, da ...« Aller überflüssigen Details entkleidet, ergab Bills Erzählung etwa folgenden Tatbestand: Als er eines Nachts, aus einem Grunde, dessen er sich nicht mehr erinnerte, an dem Gutshof vorbeiging, war ihm plötz lich der Gedanke gekommen, einmal festzustellen, was es für eine Bewandtnis mit dem neuen Flügel habe, den Doktor Dixon hatte anbauen lassen, kurz
nachdem er eingezogen war, und über dessen Zweck die wildesten Vermutungen im Dorf umliefen. Und als er einen Lichtspalt zwischen den Vorhängen ent deckte, hatte er die Gelegenheit wahrgenommen. »Glauben Sie mir«, sagte er, »in dem Haus geht es nicht mit rechten Dingen zu. Das erste, was ich sah, ganz hinten an der Wand, das war eine Reihe von Kä figen, mit dicken Gitterstangen davor. Weil mich das Licht blendete, konnte ich nicht sehen, was drin war. Aber ich frage Sie, wozu braucht ein Mensch Käfige in seinem Haus? Und dann, als ich mich ein bißchen höher gezogen hab', um besser hineinschauen zu können, da hab' ich etwas Furchtbares gesehen, etwas ganz Furchtbares!« Er machte eine Pause, um sich vor Grausen zu schütteln. »Und was war das?« fragte ich geduldig. »Es war ..., es ist schwer zu sagen, was es war. Aber es lag auf einem Tisch. Und ausgesehen hat es beina he wie ein weißes Kissen, aber nicht ganz, weil es sich nämlich ein bißchen bewegt hat. Nur ganz wenig, so gleichmäßig an denselben Stellen, wie kleine Wellen, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Ich verstand nichts. Ich fragte: »Und das war alles?« »O nein, jetzt kommt erst die Hauptsache«, erwi derte Bill, die Spannung vor dem Höhepunkt seines Berichtes genießend. »Das Ding selbst hatte eigentlich
keine richtige Gestalt, es war rund. Aber an ihm dran, an den Seiten, da waren Hände dran, richtige Men schenhände ...« Schließlich gelang es mir, die guten Leute loszu werden, indem ich ihnen versprach, daß wir die An gelegenheit untersuchen würden. Als ich die Tür hin ter dem letzten geschlossen hatte und mich umdreh te, sah ich, daß es nicht gut stand um Alfred. Seine Augen glühten fiebrig hinter den Brillengläsern, und er zitterte an allen Gliedern. »Um Himmels willen, Alfred, setz dich hin«, sagte ich zu ihm, »bevor du auseinanderfällst.« Ich wappnete mich innerlich gegen einen leiden schaftlichen Gefühlsausbruch meines Kollegen. Doch wider alles Erwarten wünschte Alfred dieses Mal zu nächst meine Meinung über den Fall zu hören, wäh rend er sich mannhaft bemühte, mit seiner eigenen noch etwas zurückzuhalten. Ich tat ihm den Gefallen. »Ich bin sicher, die Sache ist viel harmloser, als sie klingt«, sagte ich. »Entweder hat wirklich jemand dem ganzen Dorf einen Streich gespielt, oder es han delt sich um entlaufene, seltene, grotesk aussehende Tiere aus einem Zoologischen Garten, die sie in ihrer Phantasie noch mehr entstellen, weil sie zuviel dar über geredet haben.« »Sie waren sich aber alle einig über die Schildkrö tenpanzer und die Arme, zwei Dinge, die vollkom
men unvereinbar miteinander sind«, wandte Alfred ein. Ich mußte ihm recht geben. Und Arme, oder zu mindest Hände, waren das einzige, einwandfrei er kennbare Merkmal, das Bill an dem kissenähnlichen Wesen in dem Gutshof beobachtet hatte. Alfred nannte mir noch mehrere andere Gründe, die gegen meine Theorie sprachen. Dann machte er eine bedeutungsvolle Pause und fuhr fort: »Auch mir sind gewisse Gerüchte über Membury Grange zu Ohren gekommen.« »Zum Beispiel?« fragte ich. »Nichts Bestimmtes«, gab er zu. »Doch wenn man alles zusammennimmt ... Wo Rauch ist, da ist auch ...« »Allright«, seufzte ich, »dann schieß mal los!« »Ich glaube«, begann er mit feierlichem Ernst, »ich glaube, wir sind hier einer ganz großen Sache auf der Spur. Einer Sache, die ganz dazu angetan scheint, endlich das Gewissen der Menschen wachzurütteln und sie auf die Ungeheuerlichkeiten aufmerksam zu machen, die unter dem Deckmantel wissenschaftli cher Forschung begangen werden. Weißt du, was nach meiner Überzeugung da in unserer allernäch sten Nähe geschieht?« »Ich bin bereit, es zu hören«, antwortete ich erge ben.
»Ich glaube, wir haben es hier mit einem Fall von Super-Vivisektion zu tun!« rief er mit gegen mich ge richtetem Zeigefinger aus. Ich zuckte zurück. »Das ist zu hoch für mich«, sag te ich. »Vivisektion heißt, etwas Lebendes sezieren. Wie einer etwas Super-Lebendes, also ÜberLebendiges sezieren oder etwas Lebendiges über sezieren soll, das verstehe ich nicht.« »Tja!« erwiderte Alfred triumphierend. »Das ist ja das Ungeheuerliche, Nie-Dagewesene an diesem Fall. Ich fürchte, wir haben es mit einem Mann zu tun, der die Natur herausfordert und Gottes Kreatur verun staltet, indem er Tiere frevelhafterweise in ihrer Form so verändert, daß sie nicht mehr, oder nur an einzel nen Teilen, erkennbar sind als das, was sie waren, be vor er sie entstellt hat!« Alfreds Augen flammten vor Empörung, nachdem er diesen Satz hervorgesprudelt hatte. Doch nichtdestoweniger begann ich zu ahnen, worauf Alfred mit seiner konfus vorgetragenen Theo rie hinauswollte. Seine Phantasie war dieses Mal noch weiter mit ihm durchgegangen als je zuvor, und ob wohl die späteren Ereignisse zeigen sollten, daß er damit noch weit hinter der Wirklichkeit zurückge blieben war, erwiderte ich lachend: »Nichts zu machen bei mir, Alfred! Auch ich habe Die Insel des Doktor Moreau gelesen. Du erwartest wohl,
wenn du jetzt nach Membury Grange hinausgehst, von einem Pferd begrüßt zu werden, das auf den Hinter beinen läuft und sich mit dir übers Wetter unterhalten will? Oder vielleicht hoffst du, daß ein Super-Hund dir die Tür öffnet und dich nach deinem Namen fragt? Eine wunderbare Idee für einen Gruselfilm, mein Lieber, aber nicht für unser Geschäft! Da jemand eine Anzeige erstattet hat, müssen wir ihr nachgehen, doch ich fürch te, du wirst gräßlich enttäuscht werden, mein Bester, wenn du dir einbildest, in ein Haus zu kommen, das angefüllt ist mit stickigen Ätherdämpfen und den Schreien gefolterter Tiere. Komm zu dir, Alfred. Komm wieder herunter auf die Erde.« Doch Alfred war nicht so leicht zu ernüchtern. Sei ne Phantastereien bildeten einen wichtigen Bestand teil seines Innenlebens, und obwohl er etwas verär gert war, weil ich die Quelle seiner Inspiration ent deckt hatte, fühlte er sich durchaus nicht in die Enge getrieben. Er spann seinen Verdacht immer weiter, erfand immer wieder neue Variationen. »Warum Schildkröten?« hörte ich ihn murmeln. »Das macht die Sache nur noch komplizierter und unbegreiflicher.« Er dachte eine Weile darüber nach und fuhr dann fort: »Arme! Arme und Hände! Wo in aller Welt hat er die Arme her?«
Seine Augen weiteten sich immer mehr und funkel ten immer fanatischer, während er über diesen Punkt nachgrübelte. »He, Alfred! Mach dich nicht verrückt!« warnte ich ihn. Und trotzdem, es war eine unbehagliche, unheimli che Frage, die er da aufgeworfen hatte. Am Nachmittag des folgenden Tages gingen Alfred und ich nach Membury Grange hinaus und nannten dem mißtrauisch dreinblickenden Mann, der in ei nem Pförtnerhaus am Parkeingang wohnte, unsere Namen. Er schüttelte den Kopf, als wollte er uns be deuten, daß wir wenig Aussicht hätten, eingelassen zu werden, dennoch griff er nach dem Telefon. Ich gab mich der unziemlichen Hoffnung hin, er möge mit seiner entmutigenden Prognose recht be halten. Der Sache mußte nachgegangen werden, wenn auch nur, um die Gemüter von Membury zu beruhigen, doch wünschte ich, Alfred fände noch et was mehr Zeit, sich abzuregen. Inzwischen hatten sich seine Befürchtungen bzw. Erwartungen nur noch gesteigert. Die dichterischen Visionen eines Poe oder Zola waren zahm im Vergleich zu dem, was Alfreds Phantasie gebar, wenn sie einmal ins Kreißen ge kommen war. Während der ganzen Nacht schienen ihn die schauerlichsten Traumgesichte geplagt zu ha
ben, und er befand sich jetzt in jenem von mir so ge fürchteten Zustand heiliger Entrüstung, in dem ihm Formulierungen wie »mutwillige Quälereien unserer wehrlosen Freunde« durch »die teuflischen Fanatiker des Seziermessers« und »die anklagend zum Himmel aufsteigenden Schreie von Millionen zuckender Op fer« nur allzu leicht über die Lippen kamen. Für mich selbst war die Situation im höchsten Maße peinlich. Wenn ich mich geweigert oder mich davor gedrückt hätte, ihn zu begleiten, wäre er sicher allein gegan gen, und in diesem Falle wäre er höchstwahrschein lich in üble Schwierigkeiten geraten durch die Be schuldigungen der Verkrüppelung, Verstümmelung und des Sadismus, mit denen er zweifellos die Kon versation eröffnet hätte. Es war mir schließlich gelungen, ihn zu überzeu gen, daß es für unser Vorgehen am vorteilhaftesten wäre, wenn er sich darauf beschränkte, die Augen of fenzuhalten, um Beweismittel zu entdecken, während ich die Befragung durchführte. Später, wenn er von der Unterhaltung nicht befriedigt sein sollte, könnte er ja immer noch sein Teil sagen. Mir blieb nur die Hoffnung, daß er fähig sein würde, dem Verlangen nach Rache, das ihn verzehrte, zu widerstehen. Der Pförtner hängte den Telefonhörer ein, und als er sich uns wieder zuwandte, zeigte sein Gesicht ei nen überraschten Ausdruck.
»Er sagt, er will Sie empfangen«, sprach er, als sei er nicht ganz sicher, richtig gehört zu haben. »Sie fin den ihn im neuen Flügel, in dem neuen Backsteinbau dort.« Der neue Flügel, in den Bill, der Liebhaber fremder Kaninchen, hineingespäht hatte, war viel größer, als ich erwartet hatte. Er bedeckte eine Grundfläche, die ebenso groß war wie die des Hauptgebäudes, doch hatte er nur ein Stockwerk. Die Tür an seiner Stirnsei te öffnete sich, als wir den Hof überquerten, und ein großer, hagerer Mann in einem zu weiten Anzug und mit einem ungepflegten Bart trat heraus, blieb stehen und sah uns abwartend entgegen. »Ist es denn die Möglichkeit?« rief ich aus, als wir näher kamen. »Deshalb sind wir also so schnell vor gelassen worden! Ich hatte keine Ahnung, daß Sie dieser Dixon sind. Wer hätte das gedacht?« »Und Sie«, erwiderte er, »Sie scheinen mir für einen Mann von Intelligenz einen seltsamen Beruf gewählt zu haben.« Ich wandte mich an meinen Begleiter. »Alfred«, sagte ich, »darf ich dich mit Doktor Di xon bekannt machen, früher ein armer Hilfslehrer, der mir in der Schule vergeblich etwas über Biologie beizubringen versuchte, später aber, wie die Sage geht, Erbe von Millionen.« Alfred blickte mich argwöhnisch an. Diese Wieder
sehensszene gleich bei der ersten Berührung mit dem Feind ging ihm sichtlich gegen den Strich. Er nickte ungnädig und übersah die zur Begrüßung dargebo tene Hand. »Treten Sie näher!« lud uns Dixon ein. Er führte uns in ein großes Arbeitszimmer, dessen Einrichtung ganz dazu angetan war, die Gerüchte über seine Erbschaft zu bestätigen. Ich nahm Platz in einem prächtigen Lehnsessel. »Sie werden sicher von Ihrem Pförtner gehört ha ben, daß wir in amtlicher Mission hergekommen sind«, begann ich die Unterhaltung. »Deshalb ist es vielleicht besser, wenn wir zunächst den offiziellen Teil unseres Besuches erledigen, bevor wir unser Wiedersehen feiern. Dies würde vor allem für meinen Freund Alfred eine große Erleichterung sein.« Dr. Dixon nickte und warf einen forschenden Blick auf Alfred, der seine Kompromißlosigkeit dadurch bekundete, daß er sich nicht setzte. »Ich werde Ihnen den Bericht genauso wiederge ben, wie er uns vorgetragen wurde«, sagte ich zu Di xon und begann. Als ich mit der Schilderung des Schicksals der schildkrötenähnlichen Geschöpfe zu Ende war, schien er erleichtert zu sein. »So ist es ihnen also ergangen«, sagte er. »Aha!« rief Alfred mit vor Erregung sich über schlagender Stimme. »Sie geben es also zu! Sie geben
zu, daß Sie verantwortlich sind für diese beiden un glücklichen Geschöpfe!« Dixon sah ihn verwundert an. »Ich war verantwortlich für sie. Doch ich wußte nicht, daß sie unglücklich waren. Woher wußten Sie es?« »Da haben wir, was wir brauchen«, wandte er sich triumphierend an mich. »Ein Geständnis! Er hat ge standen, daß er ...« »Alfred!« unterbrach ich ihn scharf. »Sei doch still und höre auf, herumzutanzen. Laß mich weitererzäh len.« Ich kam nicht viel weiter, denn Alfred konnte sich nicht mehr beherrschen und platzte plötzlich und unvermittelt heraus: »Wo ... wo haben Sie die Arme her? Sagen Sie mir, wo haben Sie sie her?« »Ihr Freund scheint einen kleinen Hang zum ... Dramatisieren zu haben«, bemerkte Dr. Dixon trok ken. »Hör zu, Alfred«, sagte ich streng, »laß mich jetzt erst einmal zu Ende reden. Hast du verstanden? Fra gen kannst du hinterher stellen.« Ich beschloß meinen Bericht mit einer Entschuldi gung, die zugleich auch eine Warnung an Alfred sein sollte. Ich sagte zu Dixon: »Es tut mir leid, daß ich Sie mit dieser Angelegenheit belästigen muß, aber Sie se
hen ja, wie die Dinge liegen. Wenn uns jemand eine Meldung erstattet, ist es unsere Pflicht, eine Untersu chung anzustellen. Offensichtlich handelt es sich hier um eine Sache, die außerhalb des Alltäglichen liegt, doch bin ich sicher, daß Sie in der Lage sind, uns eine befriedigende Erklärung dafür zu geben. Und nun, Alfred«, fuhr ich fort, indem ich mich an meinen Kol legen wandte, »kannst du, wenn du es noch für nötig hältst, eine oder zwei Fragen an den Doktor richten, doch versuche, nicht zu vergessen, daß der Name un seres Gastgebers Dixon ist und nicht Moreau.« Alfred zuckte wie unter einem Peitschenhieb zu sammen. Dann aber stieß er mit gepreßter Stimme hervor: »Was ich wissen möchte, ist der Sinn, der Zweck und der Grund für diese Vergewaltigungen der Na tur. Ich verlange eine Erklärung darüber, mit wel chem Recht sich jemand für befugt hält, normale Ge schöpfe in unnatürliche Spottbilder natürlicher Le bewesen zu verwandeln.« Dr. Dixon lächelte verbindlich. »Eine verständliche Frage, wenn auch nicht sehr verständlich ausgedrückt«, sagte er. »Ich beklage den leider zur Gewohnheit gewordenen, leichtfertigen Gebrauch des Wortes ›Natur‹ und möchte betonen, daß das Wort ›unnatürlich‹ eine sprachliche Unmög lichkeit darstellt. Wenn etwas wirklich getan worden
ist, dann lag es offenbar in der Natur eines Subjekts, es zu tun, und in der Natur des Objekts, anzuerken nen, was mit ihm gemacht wurde. Man kann nur in nerhalb der Grenzen seiner Natur handeln. Das ist ein unumstößlicher, logischer Grundsatz, ein Axiom.« »Das sind Haarspaltereien, und ich ...« brauste Al fred auf, doch Dixon fuhr gelassen fort: »Nichtsdestoweniger glaube ich Sie dahin verstan den zu haben, daß Sie der Ansicht sind, meine Natur habe mich dazu veranlaßt, gewisse Objekte in einer Weise zu behandeln, die Ihre Vorurteile nicht billi gen. Habe ich mich richtig ausgedrückt?« »Es mag viele Umwege geben, es auszudrücken, doch ich nenne es geradeheraus, was es ist, nämlich Vivisektion, ja: Vivisektion!« Alfred hatte das Wort ausgesprochen wie ein Verdammungsurteil und fuhr dann drohend fort: »Sie mögen im Besitz einer Lizenz sein, doch hier gehen Dinge vor, für die Sie uns eine hinreichend überzeugende Erklärung geben müssen, um uns davon abzuhalten, die Sache der Polizei zu übergeben.« Dr. Dixon nickte bedauernd. »Ich konnte es mir denken, daß Sie auf diese Idee kommen würden, doch wäre es mir lieber, Sie wür den es nicht tun. Binnen kurzem werde ich die ganze Sache selbst der Öffentlichkeit zur Kenntnis bringen. Doch ich brauche noch zwei, vielleicht drei Monate,
um meine Entdeckungen publikationsreif zu machen. Ich hoffe, Sie werden mehr Verständnis haben für meine Situation, wenn ich Ihnen einige Erklärungen gegeben habe.« Er machte eine Pause und sah Alfred nachdenklich an, der jedoch nicht so aussah, als ob er bereit sei, Verständnis für irgend etwas aufzubringen. Dixon fuhr fort: »Ihr Kardinalirrtum ist der, daß Sie annehmen, ich hätte lebende Gebilde verändert, verstümmelt oder sonstwie durch Experimente umgestaltet. Das habe ich nicht getan. Ich habe neue Lebensformen geschaffen.« Keiner von uns begriff sofort die wahre Bedeutung dieser Worte, obwohl Alfred glaubte, sie verstanden zu haben. »Ha! Sie machen Ausflüchte!« höhnte er. »Auf alle Fälle müssen Sie einen Ausgangspunkt gehabt haben, irgendein lebendiges Tier, das Sie dann auf frevelhaf te Weise so lange verstümmelt und verändert haben, bis diese Ungeheuerlichkeiten herauskamen.« Doch Dixon schüttelte den Kopf. »Nein. Ich meine, was ich sage. Ich habe zuerst die Formen geschaffen und ihnen dann Leben gegeben.« Wir starrten ihn mit offenem Mund an. Dann fragte ich unsicher: »Wollen Sie wirklich behaupten, daß Sie ein lebendes Geschöpf schaffen ... erschaffen kön nen?«
»Pah!« rief er lachend aus. »Sicher kann ich das. Und Sie auch. Sogar Ihr Freund Alfred kann es ... mit Unterstützung eines weiblichen Exemplars seiner Spezies. Was ich jedoch sagen will, ist, daß ich leblose Materie lebendig machen kann, da ich das Mittel ge funden habe, sie mit der ... oder besser ... mit einer Lebensenergie zu erfüllen.« Das betroffene Schweigen, das hierauf folgte, wur de schließlich von Alfred unterbrochen. »Das glaube ich Ihnen nicht«, protestierte er ener gisch. »Es ist nicht möglich, daß Sie hier, in diesem gottverlassenen Nest, das Geheimnis des Lebens ent deckt haben sollen. Sie versuchen nur, uns einen Bä ren aufzubinden, weil Sie Angst vor dem haben, was wir tun werden.« Dixon lächelte nachsichtig. »Ich habe nur gesagt, daß ich eine Lebensenergie ge funden habe. Es gibt Dutzende anderer Arten, soviel ich weiß. Ich kann verstehen, daß es schwer für Sie ist, mir zu glauben; doch schließlich, warum nicht? Irgend jemand mußte eine von ihnen ja einmal früher oder spä ter finden. Was mich mehr wundert, ist, daß diese eine nicht schon längst entdeckt wurde.« Doch Alfred war nicht zu besänftigen. »Ich glaube es nicht«, wiederholte er. »Und nie mand wird Ihnen glauben, solange Sie nicht den Be weis dafür erbringen, ... wenn Sie können.«
»Natürlich kann ich das«, erwiderte Dixon. »Wer sollte so etwas auch unbesehen glauben? Doch ich fürchte, Sie werden bei der Betrachtung meiner der zeitigen Resultate zunächst finden, daß ihre Kon struktion ein wenig primitiv ist. Ihre Freundin, die Natur, geht oft Umwege, die man sich ersparen kann. Und nun zu der Angelegenheit der Arme, die Sie be sonders zu beunruhigen scheint. Wenn es mir mög lich gewesen wäre, richtige Arme unmittelbar nach dem Tode des Besitzers zu bekommen, hätte ich sie vielleicht verwenden können; doch bin ich nicht si cher, ob sich hierbei nicht noch mehr Schwierigkeiten ergeben hätten. Außerdem sind solche Dinge nicht immer zur Hand, und die Herstellung vereinfachter Glieder ist im Grunde gar nicht so schwer; es gehört dazu nur eine Kombination von ein wenig Technik, Chemie und gesundem Menschenverstand. In der Tat ist diese Methode seit einiger Zeit bekannt, doch ohne die Möglichkeit einer Belebung lohnt es sich kaum, sie anzuwenden. Eines Tages wird es vielleicht gelin gen, auf diese Weise ein verlorenes Glied zu ersetzen, doch bevor dies möglich ist, muß eine besondere, sehr komplizierte Technik entwickelt werden. Und was Ihren Verdacht betrifft, Mr. Weston, daß meine bisherigen Probestücke leiden oder gelitten haben, so kann ich Ihnen nur versichern, daß sie verwöhnt und verhätschelt werden; sie haben mich viel Geld und
Mühe gekostet. In jedem Falle dürfte es schwierig für Sie sein, mich gerichtlich wegen Grausamkeit an ei nem bisher unbekannten Tier mit unbekannten Ei genschaften und Lebensgewohnheiten zu belangen.« »Das sind alles Ausflüchte, die mich nicht über zeugen können«, erwiderte Alfred unerschüttert. Ich glaube, der arme Kerl war zu bestürzt über die Gefahr, die seiner vorgefaßten Meinung drohte, um die wirkliche Tragweite dessen, was Dixon da be hauptet hatte, ermessen zu können. »Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als Ih nen praktische Beweise für die Wahrheit meiner An gaben vorzuführen«, sagte Doktor Dixon und erhob sich. »Würden Sie mir bitte folgen ...« Bills Bericht über seine nächtliche Erkundung hatte uns auf den Anblick der vergitterten Käfige in dem Laboratorium vorbereitet, doch nicht auf die vielen anderen Dinge, die wir dort vorfanden, und vor al lem nicht auf den Gestank, der uns entgegenschlug. Dr. Dixon entschuldigte sich, als wir anfingen, zu keuchen und zu würgen: »Oh, Verzeihung! Ich vergaß, Sie vor dem etwas unangenehmen, aber leider unvermeidlichen Geruch der Konservierungsmittel zu warnen, die ich benut ze.« »Oh, bitte, bitte«, erwiderte ich hustend. »Es ist be
ruhigend, zu wissen, daß es sich nur um solche han delt.« Der Raum war mindestens 30 Meter lang und etwa fünf Meter hoch. Bill hatte nur wenig von der Einrich tung durch seinen Vorhangspalt sehen können, und ich starrte verwundert auf die Unzahl von Appara ten, die sich unserem Blick boten. Sie waren offen sichtlich in einer gewissen Ordnung aufgestellt. In ei ner Ecke standen eine Werkbank und eine Drehbank zur Bearbeitung von Metall, in einer anderen Chemi kertische mit einem Gewirr von Kolben, Röhren und Tiegeln, in einer dritten elektrische Apparate usw. In einer von mehreren abgeteilten Nischen stand ein Operationstisch, umgeben von griffbereiten Instru mentenschalen. Alfreds Augen weiteten sich bei die sem Anblick, und ein Ausdruck des Triumphes be gann seine Züge zu beleben. Eine andere Nische machte den Eindruck eines Bildhauerateliers oder ei ner Töpferwerkstatt; Gießformen und Abgüsse lagen auf Gestellen und Tischen. Am anderen Ende des Raumes sah ich große Pressen und elektrische Öfen. Bis auf die einfachsten Utensilien sagte mir das Sam melsurium von Geräten nicht viel. »Kein Zyklotron, kein Elektronen-Mikroskop? Nur normales Werkzeug ...«, bemerkte ich. »Sie irren sich. Dort steht das Elektro... Nanu, wo ist Ihr Freund?«
Alfred hatte sich über den Operationstisch herge macht. Scharf äugend ging er um ihn herum, schaute unter ihn, offenbar in der Hoffnung, Blutspuren zu finden. Wir traten zu ihm. »Hier ist eines der Dinge, die Ihre blutrünstige Phantasie aufgewühlt haben«, sagte Dixon, öffnete eine Schublade, nahm einen Arm heraus und legte ihn auf den Operationstisch. »Sehen Sie sich's genau an.« Das Ding war wachsgelb, ohne jeden Glanz. Seine Form hatte große Ähnlichkeit mit einem menschli chen Arm, doch als ich die Hand näher betrachtete, sah ich, daß sie glatt war, ohne Rillen oder Linien. Auch hatte sie keine Fingernägel. »Ein frühes Stadium«, sagte Dixon, mich beobach tend. »Noch völlig harmlos.« Es war auch kein ganzer Arm. Er endete etwa in der Mitte zwischen Ellbogen und Schulter mit einer glatten Schnittfläche. »Was ist das?« fragte Alfred und zeigte auf einen aus dieser Schnittfläche herausragenden Metallstab. »Nichtrostender Stahl«, erklärte Dixon. »Weniger zeitraubend und billiger als die Nachbildung von Knochenformen, wenigstens vorläufig. Später, wenn ich weiter bin, werde ich Kunststoffe verwenden. Da durch werde ich auch in der Lage sein, Gewicht ein zusparen.«
Alfred sah enttäuscht, bekümmert drein. Dieser Arm hatte einwandfrei nichts mit Vivisektion zu tun. »Aber warum ein Arm? Warum überhaupt all das?« fragte er mit einer Handbewegung, die den ganzen Raum einschloß. »Um ihre Fragen der Reihe nach zu beantworten, ... ein Arm, oder besser eine Hand, ... weil dies das beste Werkzeug ist, das je entwickelt wurde, und ich konn te mir auch kein besseres ausdenken. Und ›dies alles‹ ..., nun, nachdem ich auf ein Grundgeheimnis der Na tur gestoßen war, beschloß ich, als Beweis für meine Entdeckung das vollkommene Geschöpf zu bauen, vollkommen, soweit es dem menschlichen Verstand möglich ist. Die schildkrötenähnlichen Exemplare waren ein erster Schritt. Sie hatten genug Gehirn, um zu leben und Reflexe zu produzieren, doch nicht ge nug, um konstruktiv zu denken. Dies war auch da mals nicht nötig.« »Wollen Sie damit sagen, daß Ihr ›vollkommenes Geschöpf‹ konstruktives Denkvermögen besitzt?« fragte ich. »Es hat ein Gehirn, das ebenso gut ist wie das unse re und sogar noch etwas größer«, erwiderte er. »Na türlich braucht es noch Erfahrung, Erziehung. Doch da das Gehirn schon voll entwickelt ist, lernt es be deutend schneller als das eines Kindes.« »Können wir es ... sie ... sehen?«
Er seufzte bekümmert. »Jedermann will natürlich sofort das Endprodukt kennenlernen. Meinetwegen. Doch vorher will ich Ihnen ein kleines Experiment vorführen. Ich fürchte, Ihr Freund ist immer noch nicht überzeugt.« Er ging hinüber zu einem Kühlschrank, öffnete ihn. Aus einem Fach entnahm er eine formlose, weiße Masse, die er auf den Operationstisch legte. Dann rollte er den Tisch zu einem elektrischen Apparat in einem anderen Teil des Raumes. Unter dem farblo sen, schlaffen Etwas sah ich eine Hand hervorragen. »Mein Gott!« rief ich aus. »Bills ›Kissen mit Hän den‹!« »Ja, ganz unrecht hatte er nicht, obwohl er, Ihrem Bericht nach zu urteilen, etwas übertrieben hat. Die ses unscheinbare Ding ist mein Hauptassistent. Er be sitzt alle wesentlichen Organe der Ernährung und Verdauung, des Blutkreislaufs, des Nervensystems und der Atmung. Er kann tatsächlich leben. Doch für ihn ist es keine sehr aufregende Existenz. Er ist nur eine Art von Testmodell, um neuentwickelte Zube hörteile auszuprobieren.« Während er an elektrischen Leitungen herumfin gerte, fuhr er fort: »Wenn Sie, Mr. Weston, den Wunsch haben, das Experimentier-Objekt zu überprüfen, ohne es zu be schädigen, dann, bitte, tun Sie es.«
Alfred näherte sich der weißen Masse. Er betrachte te sie durch seine Brille von allen Seiten aus nächster Nähe mit deutlichen Anzeichen des Ekels. Zögernd betupfte er sie mit dem Zeigefinger. »Demnach handelt es sich um einen elektrischen Vorgang«, sagte ich zu Dixon. Er nahm eine Flasche mit einer grauen Flüssigkeit, schüttelte sie und goß einige Tropfen in ein Becher glas. »Einerseits ja. Andererseits aber auch chemisch. Sie erwarten doch wohl nicht von mir, daß ich Sie in meine allerletzten Geheimnisse einweihe?« Als er seine Vorbereitungen beendet hatte, sagte er: »Zufrieden, Mr. Weston? Ich möchte nicht hinter her beschuldigt werden, Ihnen einen Taschenspieler trick vorgeführt zu haben.« »Es scheint nicht belebt zu sein«, gab Alfred vor sichtig zu. Wir beobachteten, wie Dr. Dixon mehrere Elektro den an die Masse anschloß. Dann wählte er sorgfältig drei bestimmte Stellen auf der Oberfläche aus und machte an jeder mit einer Spritze eine Injektion mit einer hellblauen Flüssigkeit. Als nächstes übersprühte er das Ganze zweimal aus verschiedenen Zerstäu bern. Zuletzt betätigte er schnell hintereinander vier oder fünf Schalthebel. »Jetzt«, sagte er lächelnd, »haben wir fünf Minuten
Zeit. Sie können Sie dazu benutzen, um zu überlegen, welche meiner Manipulationen gesetzlich anfechtbar waren.« Nach drei Minuten begann die welke Masse schwach zu pulsieren. Allmählich wurde das Pulsie ren immer stärker, bis eine ständige sanfte, rhythmi sche und gleichmäßige Wellenbewegung das Ganze durchlief. Dabei hob es sich, rollte etwas zur Seite und entblößte die Hand, die unter ihm verborgen gewesen war. Ich sah die Finger der Hand sich krümmen und Greifbewegungen ausführen. Ich glaube, ich stieß in diesem Augenblick einen Schrei aus. Bevor es geschehen war, hatte ich es für unmöglich gehalten. Und jetzt kam mir auf einmal die volle Bedeutung dessen zum Bewußtsein, was ich gesehen hatte. Ich packte Dixon beim Arm. »Doktor!« stammelte ich. »Wenn Sie das mit einem toten Körper machen würden ...!« Doch er schüttelte den Kopf. »Nein. Es geht nicht. Ich habe es versucht. Ich glaube schon, daß man berechtigt ist, dies Leben zu nennen, doch in gewissem Sinne ist es eine andere Art von Leben. Ich verstehe es im Grunde selbst nicht, warum ...« Eine andere Art von Leben oder nicht ..., ich wußte, daß ich Zeuge des Beginns einer Revolution war, die ungeahnte Möglichkeiten eröffnete.
Während der ganzen Zeit war Alfred, dieser Narr, um das Ding herumgeschlichen, als inspiziere er ein verdächtiges Zauberkunststück, und suchte nach den Spiegeln und Schnüren, mit deren Hilfe es zustande gekommen war. Es geschah ihm recht, als seine mißtrauischen Fin ger einen Schlag von mehreren hundert Volt erhielten ... »Und jetzt«, sagte Alfred, nachdem er festgestellt hat te, daß gröbere Täuschungsmanöver nicht vorlagen, »jetzt möchten wir das ›vollkommene Geschöpf‹ se hen, von dem Sie gesprochen haben.« Er schien das Wunder immer noch nicht begriffen zu haben, dessen Zeuge er geworden war. Er war über zeugt, daß es sich um eine Gesetzwidrigkeit handelte und entschlossen, den Beweis dafür zu finden. »Einverstanden«, erwiderte Dixon. »Übrigens, ich nenne sie Una, die Eine. Keiner der Namen, die mir einfielen, paßte richtig zu ihr; doch ist sie auf alle Fäl le die erste und einzige ihrer Art, also heißt sie Una.« Er führte uns zu dem letzten und größten der Käfi ge, die sich entlang der einen Wand aneinanderreih ten. Einige Schritte vor den Gitterstäben blieb er ste hen und rief die Gestalt, die im dunklen Hintergrund kaum sichtbar war, nach vorn. Ich weiß nicht, was ich noch was Alfred zu sehen
erwarte hatte; doch keiner von uns beiden brachte ein Wort über die Lippen, als wir sahen, was sich da schwerfällig auf uns zu bewegte. Dixons »vollkommenes Geschöpf« war ein Wesen, phantastischer und schauerlicher, als ich es mir je, wachend oder träumend, hätte vorstellen können. Ich starrte auf ein konisches, zuckerhutförmiges Gebilde aus dunklem, matt schimmerndem Material, fast zwei Meter hoch. An der Basis maß es etwa einen Meter im Durchmesser, und das Ganze ruhte auf drei kurzen, zylindrischen Beinen. Es hatte vier Arme, Parodien von Menschenarmen, die in halber Höhe an den Seiten herausragten. Etwa 20 Zentimeter unter halb der abgerundeten Spitze saßen zwei Augen, die uns unter hornartigen Lidern unverwandt anstierten. Einen Augenblick lang fühlte ich mich einem hysteri schen Ausbruch nahe. Dixon betrachtete das Ding mit Stolz und Wohlge fallen. »Hier sind Besucher für dich, Una«, sagte er. Die Augen richteten sich auf mich, dann auf Al fred. Und eins der Augen zwinkerte, wobei das Lid ein klickendes Geräusch von sich gab. Eine tiefe, wi derhallende Stimme ertönte aus einer nicht erkennba ren Quelle. »Endlich! Ich habe lange genug danach verlangt«, sagte sie.
»Großer Gott!« stöhnte Alfred. »Das fürchterliche Ding kann sprechen?« Das fürchterliche Ding sah nur noch Alfred an. »Dieser da ist recht. Seine Glasaugen gefallen mir«, dröhnte die Stimme. »Sei still, Una. Es handelt sich nicht um das, was du glaubst«, sagte Dixon und fuhr, zu uns gewandt, doch Alfred anschauend, fort: »Ich muß Sie bitten, mit Ihren Äußerungen vorsichtig zu sein. Una fehlen natürlich die Grundlagen normaler Erfahrung, doch ist sie sich ihrer Andersartigkeit bewußt und auch ih rer in mehrfacher Hinsicht tatsächlich vorhandenen physischen Überlegenheit. Sie hat ein etwas reizbares Temperament, und es ist nichts damit gewonnen, sie unnötig zu kränken. Es ist verständlich, daß ihr Aus sehen Sie zunächst etwas überrascht, doch will ich Ihnen hierzu die erforderlichen Erklärungen geben.« Seine Stimme nahm einen dozierenden Ton an. »Nachdem ich meine Methode der Belebung ent deckt hatte, war mein erster Gedanke, als überzeu gendes Demonstrationsobjekt ein annähernd mensch liches Gebilde zu formen. Doch später entschied ich mich gegen eine bloße Nachahmung. Ich beschloß, funktional und logisch vorzugehen und bestimmte Organe zu verbessern, die mir am Menschen und an deren Lebewesen unvollkommen entworfen oder zu schwach entwickelt erschienen. Später erwies es sich
auch als notwendig, aus technischen und konstrukti ven Gründen einige Modifikationen vorzunehmen. Das Endergebnis dieser meiner Überlegungen und Versuche ist Una.« Er schwieg und betrachtete sein ungeheuerliches Werk mit einem fast zärtlichen Blick. »Entschuldigen Sie, Doktor. Sagten Sie soeben, Sie seien ›logisch‹ vorgegangen?« fragte ich. Alfred zögerte eine Weile, bevor er sprach. Er fuhr fort, das »fürchterliche Ding« anzustarren, das auch ihn nicht aus den Augen ließ. Man sah ihm an, daß er sich bemühte, das, was er für seine bessere Natur hielt, aufzubieten gegen bloßes Vorurteil, und Worte zu finden, die seine erste impulsive, herzlose Bemer kung wiedergutmachen könnten. Und dann sagte er mit fast feierlicher Stimme: »Ich erachte es für untunlich, ein so großes Tier in einer so engen Behausung zu halten.« Klickend zwinkerte eines der hornigen Augenlider. »Er gefällt mir. Er meint es gut mit mir. Er ist der Richtige«, hallte es aus dem Käfig. Alfred zuckte zusammen. Nach seiner langen Pra xis als Schutzherr der stummen Kreatur schien es ihn zu verwirren, sich mit einem Tier konfrontiert zu se hen, das nicht nur sprechen konnte, sondern auch seine freundschaftlichen Gefühle hörbar erwiderte. Verlegen wandte er seinen Blick von Una ab. Dixon, ohne den Vorgang zu beachten, fuhr fort:
»Das erste, was Ihnen wahrscheinlich auffällt, ist die Tatsache, daß Una keinen unterscheidbaren Kopf hat. Dies war eine meiner ersten Verbesserungen. Der normale Kopf ist zu sehr exponiert und verwundbar. Die Augen müssen natürlich oben sein, jedoch liegt kein Grund vor, den Kopf vom übrigen Körper durch einen Hals zu trennen. Mit dem Wegfall des Halses ergab sich allerdings eine neue Situation für die An bringung der Sehorgane. Ich gab ihr deshalb drei Au gen. Zwei davon sehen sie. Das dritte befindet sich hinten, auf dem Rücken, obwohl sie im eigentlichen Sinne keinen Rücken besitzt. So ist es ihr leicht mög lich, ohne die komplizierte Vorrichtung eines drehba ren Kopfes in alle Richtungen zu schauen. Ihre glatte, konische Form gewährleistet, daß jeder fallende oder geschleuderte Gegenstand von dem verstärkten Kunststoffpanzer abgleitet; doch es erschien ange bracht, das Gehirn dadurch soweit wie möglich ge gen Erschütterungen zu schützen, daß ich es dorthin verlegte, wo Sie den Magen erwarten mögen. So war ich in der Lage, den Magen höher zu setzen und eine bessere Anordnung der Eingeweide zu erreichen.« »Wie ißt es ... sie?« warf ich ein. »Ihr Mund befindet sich auf der anderen Seite«, antwortete er. »Doch nun zu den Armen. Ich gebe zu, daß die Zahl von vier Armen auf den ersten Blick den Eindruck der Frivolität hervorrufen kann. Aber, wie
ich bereits sagte, die Hand ist das vollkommenste Werkzeug, ... wenn sie die richtige Größe besitzt. Aus diesem Grunde sehen Sie, daß Unas obere Hände feingliedrig und zart, während die unteren stark muskulös sind. Auch ihre Atmung dürfte Sie interes sieren. Ich habe ein fließendes System gewählt. Sie atmet hier ein und dort aus. Eine Verbesserung, wie Sie zugeben müssen, gegenüber unserem nicht sehr appetitlichen Atmungsvorgang. Was den allgemeinen Entwurf betrifft, so ist sie leider erheblich schwerer geworden, als ich erwartet hatte. Sie wiegt über zwei Tonnen, und dieser Tatsache mußte ich meine ur sprünglichen Pläne etwas anpassen. Ich mußte die Füße und Beine umgestalten und gab ihnen die Form von Elefantenbeinen, um das Gewicht zu verteilen; doch fürchte ich, diese Lösung ist noch nicht befrie digend. Bei späteren Modellen muß ich eine Mög lichkeit finden, das Gesamtgewicht zu reduzieren. Das Dreifüßler-Prinzip habe ich gewählt, weil der Zweifüßler offensichtlich eine erhebliche Menge an Muskelkraft verschwendet, nur um sein Gleichge wicht zu halten, und drei Füße sich auch leichter an eine unebene Fläche anpassen können als vier. Was nun die Fortpflanzung betrifft ...« »Entschuldigen Sie«, unterbrach ich ihn, »bei einem Kunststoffpanzer und Stahlknochen kann ich mir nicht vorstellen ...«
»Dies ist eine Frage der Polarisierung der Drüsen tätigkeit unter gleichzeitiger Harmonisierung der Persönlichkeit. Ich mußte es auf diese Weise versu chen, obwohl ich nicht ganz sicher bin, ob dies die be ste Lösung ist. Ich nehme an, daß eine Anpassung an das Prinzip der Parthenogese, der Jungfernzeugung, bessere Resultate zeitigen wird. Doch vorläufig muß ich es bei der dualistischen Konzeption belassen, und ich habe ihr einen Partner versprochen. Ich muß sa gen, ich finde es eine faszinierende Spekulation ...« »Er ist richtig«, unterbrach ihn die rollende Stim me, während das Wesen Alfred durch die Gitterstäbe fixierte. »Selbstverständlich«, fuhr Dixon, mit nervösen Sei tenblicken auf den Käfig, fort, »hat Una sich nie selbst gesehen, so daß sie nicht weiß, wie sie aussieht. Sie denkt wahrscheinlich ...« »Ich weiß, was ich will«, sagte die tiefe Stimme, laut und bestimmt. »Ich will ...« »Ja, ja«, unterbrach Dixon sie energisch. »Ich werde es dir später erklären.« »Aber ich will ...« wiederholte die Stimme hartnäk kig. »Willst du wohl still sein!« rief Dixon jetzt streng. Una gab einen brummenden Protestlaut von sich, schwieg dann aber. Alfred reckte sich wie einer, der sich nach gründlicher Prüfung aller Gründe und Ge
gengründe zu einer Meinung durchgerungen hat. »Ich kann dies nicht billigen«, begann er. »Ich will zugeben, daß dieses Wesen Ihre Schöpfung ist. Doch einmal geschaffen, gleichgültig wie und von wem, hat es Anspruch auf den gleichen Schutz wie jede an dere stumme ... äh, jede andere Kreatur. Ich will kein Wort verlieren über Ihre Anwendung Ihrer Entdek kung, wenn ich auch sagen muß, daß Sie sich wie ein unvernünftiges Kind benommen haben, dem man Ton zum Modellieren gegeben hat, und daß Sie etwas Unheiliges, ich gebrauche dieses Wort mit Absicht, etwas Unheiliges vollbracht haben, etwas Monströses, Perverses! Doch, wie gesagt, davon will ich nicht sprechen. Was ich aber sagen will, ist, daß dieses Ge schöpf nach dem Gesetz als ein Exemplar einer un gewöhnlichen Tiergattung betrachtet werden kann. Und ich beabsichtige, Meldung zu erstatten, daß die ses Tier nach meiner beruflichen Auffassung in einen viel zu kleinen Käfig eingesperrt ist, und zwar offen sichtlich ohne ausreichende Möglichkeit zur Befriedi gung seiner Bedürfnisse. Ich bin nicht in der Lage, zu beurteilen, ob es zureichend und angemessen ernährt wird, doch es ist leicht zu erkennen, daß es Wünsche hat, die nicht erfüllt werden. Schon zweimal hat es versucht, ihnen uns gegenüber Ausdruck zu geben, und Sie haben es durch Einschüchterung daran ge hindert.«
»Alfred«, sagte ich zu meinem Freund, »glaubst du nicht, daß vielleicht ...« Doch ich wurde durch Unas dröhnenden Kontra baß unterbrochen. »Oh, er ist wundervoll! Wie seine Glasaugen blit zen! Ich will ihn!« Und ein tiefer Seufzer rollte durch den Raum. Der Ton klang äußerst traurig, und Al freds einfältiger Geist faßte ihn als neuen Beweis für seine Anklage auf. »Wenn das nicht die Klage eines unglücklichen Ge schöpfes ist«, rief er aus, indem er näher an den Käfig herantrat, »dann habe ich nie ...« »Vorsicht!« rief Dixon aus und sprang vor. Eine der Hände des Geschöpfes schnellte zwischen den Gitterstäben hervor. Im gleichen Augenblick packte Dixon Alfred bei den Schultern und riß ihn zurück. Das Geräusch von zerreißendem Stoff war zu hören, und drei Knöpfe rollten über den Linoleum fußboden. »Huih!« stieß Dixon hervor. Alfred wandte sich verstört um. »Was ...?« stammelte er. Ein tiefer, drohender Ton vom Käfig her verschlang den Rest seiner Frage. »Gib ihn mir! Ich will ihn!« röhrte die Stimme. Alle vier Hände hatten die Stäbe gepackt. Zwei von ihnen rüttelten heftig an dem Gitter. Die beiden
sichtbaren Augen waren unverwandt auf Alfred ge richtet. Dieser begann anscheinend, die Situation zu erfassen. Seine Augen hinter den Brillengläsern wur den größer. »Es ... sie ... meint doch ... nicht«, stotterte er un gläubig. Dixon betrachtete sein Werk mit Sorge. »Ich weiß nicht ... ich weiß nicht«, murmelte er nachdenklich. »Sollte ich die Hormone überdosiert haben?« Jetzt hatte auch Alfred begriffen. Er wich noch wei ter von dem Käfig zurück. Diese Bewegung verfehlte nicht ihre Wirkung auf Una. »Gib mir Alfred!« brüllte sie in einem halb drohen den, halb jammernden Ton. »Gib mir Alfred! Gib mir Alfred!« Es klang grausig. »Wäre es nicht besser, wenn wir ...«, schlug ich vor. »Vielleicht ... unter diesen Umständen ...«, meinte Dixon. »Ja!« entschied Alfred. Unas Stimmlage machte es schwierig, feinere Nu ancen ihrer geäußerten Gefühle zu unterscheiden; die Laute, die hinter uns ertönten und die Fenster erklir ren ließen, als wir uns vom Käfig entfernten, konnten sowohl Wut als auch Schmerz ausdrücken oder bei des. Wir beschleunigten unsere Schritte.
»Alfred!« heulte eine Stimme wie ein klagendes Nebelhorn. »Ich will Alfred haben!« Alfred warf einen Blick hinter sich und begann zu laufen. Ich hörte einen dumpfen Stoß gegen die Gitterstä be, der das Gebäude erschütterte. Ich wandte mich um und sah, daß Una sich eben in den Hintergrund ihres Käfigs zurückzog, offenbar zu einem neuen Ansturm. Wir rannten auf die Tür zu. Alfred schlüpfte als erster durch. Ein donnernder Krach kam vom anderen Ende des Raumes. Während Dixon die Tür hinter uns schloß, konnte ich eben noch Una sehen, die Gitterstäbe und Balken vor sich herschob wie ein durchbrechender Tank. »Ich denke, wir werden Unterstützung von außen brauchen«, sagte Dixon. Auf Alfreds Stirn perlten Schweißtropfen. »Meinen Sie nicht, daß es besser wäre, wenn wir ...«, keuchte er. »Nein«, erwiderte Dixon. »Sie würde Sie sehen, durch die Fenster.« »Oh!« stöhnte Alfred. Dixon führte uns in einen großen Salon und steuer te sofort auf den Telefonapparat zu. Er rief die Feu erwehrwache und die Polizeistation an und bat drin gend um Hilfe.
»Ich glaube nicht, daß wir irgend etwas tun kön nen, bevor sie hier sind«, sagte er, als er den Hörer auflegte. »Die Mauern des Laboratoriums werden standhalten, wenn sie nicht von neuem gereizt wird.« »Gereizt? Ich habe sie nicht ...!« begann Alfred zu protestieren, doch Dixon fuhr fort: »Gott sei Dank konnte sie von ihrem Käfig aus die Tür nicht sehen. Somit besteht eine Chance, daß sie keine Vorstellung von dem Sinn und Zweck einer Tür hat. Was mir Sorgen macht, ist der Schaden, den sie anrichten wird. Hören Sie nur!« Wir lauschten und hörten hinter den Mauern dumpfes Krachen, Splittern und Klirren. Dazwischen ertönte immer wieder ein klagender, zweisilbiger Ruf, von dem nicht mit Sicherheit zu sagen war, ob er »Alfred« bedeutete oder nicht. Dixons Gesicht wurde immer finsterer, als die Ge räusche unvermindert anhielten. »Meine sämtlichen Aufzeichnungen sind hin! Eine Arbeit von Jahren steckt in ihnen«, sagte er bitter. »Ihre Gesellschaft wird mir den Materialschaden er setzen müssen, doch ach, das gibt mir meine Auf zeichnungen nicht wieder. Sie war immer folgsam und brav, bis Ihr Freund sie reizte. Nie hatte ich auch nur die geringste Schwierigkeit mit ihr.« Alfred schickte sich wieder an, zu protestieren, doch wurde er durch das Poltern eines umstürzen
den, schweren Gegenstandes unterbrochen, dem eine Kaskade von klirrendem Glas folgte. »Gib mir Alfred! Ich will Alfred!« forderte die un heimliche Stimme. Alfred sprang hoch, ließ sich dann aber wieder zit ternd auf den Rand seines Stuhles nieder. Seine Au gen flackerten. Er begann, an seinen Fingernägeln zu kauen. »Ja!« rief Dixon plötzlich aus. »Ja, das muß es ge wesen sein! Ich hätte die Hormondosis auf Grund des Gesamtgewichtes berechnen müssen, einschließlich Panzer. Natürlich! Wie konnte ich nur diesen lächer lichen Fehler begehen? Ach, hätte ich es doch lieber gleich mit der Parthenogenese versucht! ... Um Gottes willen!« Der donnernde Krach, der diesen Aufschrei ausge löst hatte, ließ uns alle drei aufspringen und zur Tür rennen. Una hatte wohl instinktiv den Zweck der Tür er kannt und sie auf ihre Weise benutzt. Wie ein Bulldo zer hatte sie Tür, Rahmen und einen Teil des Mauer werks auf ihrem Weg aus dem Laboratorium mitge nommen und stampfte über die Trümmer näher. Dixon rief uns zu: »Schnell! Die Treppe hinauf! Das kann sie nicht!« Im gleichen Augenblick hatte uns Una erspäht und gab ein Triumphgeheul von sich. Wir rannten durch
den Flur zum Treppenhaus. Die größere Startge schwindigkeit war unser Vorteil; eine Masse vom Gewicht Unas braucht eine gewisse Zeit, um in Be wegung zu kommen. Ich flog die Treppe hinauf, Di xon unmittelbar vor mir und, wie ich glaubte, Alfred dicht hinter mir. Ganz sicher war ich jedoch nicht. Ich weiß nicht, ob Alfred beim Anblick Unas für einige Sekunden quasi zur Salzsäule erstarrt oder ob er vor Schreck gestolpert war, doch als ich oben ankam und mich umwandte, sah ich, daß Alfred eben erst die un terste Stufe betreten hatte. Una war schon dicht hinter ihm. Als Alfred etwa die zehnte Stufe erreicht hatte, war auch Una am Fuß der Treppe angelangt, und obwohl sie mit Treppen nicht vertraut noch, wie Dixons Äu ßerung angedeutet hatte, für ihre Benutzung konstru iert war, begann sie hinaufzusteigen. Sie war bis zur fünften oder sechsten Stufe gekommen, als die Trep pe unter ihr zusammenbrach. Alfred, schon auf der oberen Hälfte, schwankte, stieß einen Schrei aus, ver lor das Gleichgewicht und fiel, jäh in die Luft grei fend, nach hinten. Una fing ihn auf und umschlang ihn mit ihren vier Armen wie ein geübter Ringer. »Welche Geistesgegenwart!« hörte ich Dixon hinter mir bewundernd murmeln. »Hilfe!« jammerte Alfred. »Hilfe! Hilfe!«
»Aah!« röhrte Una in einem Ton tiefster Befriedi gung. Sie ging einige Schritte rückwärts. Unter ihren Stempelbeinen knirschten die Balken. »Verhalten Sie sich ruhig!« rief Dixon Alfred zu. »Tun Sie nichts, was sie erschrecken könnte.« Alfred, von drei Armen gehalten und von der vier ten Hand zärtlich betätschelt, gab keine Antwort. Ich schätzte die Situation ab. »Doktor«, sagte ich, »wir sollten etwas tun. Können wir sie nicht irgendwie ablenken.« »Es dürfte schwer sein, etwas zu finden, das ein siegreiches Weibchen im Augenblick ihres Erfolges ablenken könnte«, meinte Dixon. Una ließ ein stöhnendes Geräusch hören, das mir Dixons Befürchtung bestätigte. »Hilfe!« wimmerte jetzt Alfred. »Sie ... oooh!« »Ruhig! Ruhig!« mahnte Dixon. »Es besteht wahr scheinlich keine Gefahr. Schließlich ist sie ja ein ... Säugetier. Ja, wenn sie eine weibliche Spinne wäre, dann ...« »Ich denke, wir lassen sie in diesem Augenblick besser nichts über die Gewohnheiten von weiblichen Spinnen hören«, unterbrach ich ihn. »Gibt's denn nicht ein Lieblingsfutter oder etwas Ähnliches, mit dem wir sie ablenken könnten.« Una schaukelte Alfred auf ihren drei Armen und
betastete ihn neugierig mit dem Zeigefinger der vier ten Hand. Alfred wand sich. »Verdammt! Können Sie denn nicht irgend etwas tun?« fluchte er jetzt. »Aber Alfred! Alfred!« brummte Una mit besch wichtigender Stimme. »Nun«, sagte Dixon, nicht sehr überzeugt, »vielleicht, wenn wir etwas Eiskreme hät ten ...« Vor dem Haus kreischten Bremsen, hielten Wagen. Dixon lief den Gang entlang zu einem Fenster, und ich hörte, wie er versuchte, den Männern draußen die Situation zu erklären. Dann kam er zurück, begleitet von einem Feuerwehrmann und dessen Offizier. Als sie in die Halle hinunterschauten quollen ihnen die Augen fast aus dem Kopf. »Wir müssen versuchen, sie zu fesseln, ohne sie zu erschrecken«, sagte Dixon zu dem Offizier. »Das fesseln?« rief der Offizier aus. »Was zum Teu fel ist denn das überhaupt?« »Das spielt jetzt keine Rolle«, erwiderte Dixon un geduldig. »Wenn wir von verschiedenen Seiten Schlingen über sie werfen ...« »Hilfe!« schrie Alfred. Er zappelte verzweifelt. Una drückte ihn fester an ihren Panzer und kicherte. Es klang albern und zugleich schaurig. Ich sah, daß es auch die Feuerwehrleute schüttelte. »Allmächtiger Himmel!« stöhnte einer von ihnen.
»Schnell!« sagte Dixon zu dem Offizier. »Den ersten Strick können wir von hier oben über sie werfen.« Sie gingen zurück zu dem Fenster. Der Offizier rief Befehle nach unten. Er schien Schwierigkeiten zu ha ben, sich verständlich zu machen. Nach einer Weile kamen sie zurück in Begleitung eines zweiten Feuer wehrmannes, der ein aufgerolltes Seil mitbrachte. Dieser Mann war ein Meister im Lassowerfen. Er schwang seine Schlinge mehrere Male über dem Kopf, ließ sie los, und sie landete genau auf Una, und zwar unter den Armen, so daß sie nicht nach oben abrutschen konnte. Er zog die Schlinge zusammen und befestigte das Ende des Seils an dem dicken Eck pfosten des Treppengeländers. Una war immer noch so sehr mit Alfred beschäf tigt, daß sie nicht merkte, was geschehen war. Als ob ein Flußpferd versuchte, gefühlvoll zu schnurren, so klang das Geräusch, das sie von sich gab. Jetzt öffnete sich langsam die Tür, die nach drau ßen führte, und die Gesichter mehrerer Feuerwehr leute und Polizisten erschienen, alle mit glotzenden Augen und hängenden Unterkiefern. Kurz darauf tauchte eine andere Gruppe in der Tür des Salons auf und blieb erstarrt stehen. Ein Feuerwehrmann trat ängstlich vor und begann, sein Lasso zu schwingen. Unglücklicherweise berührte es im Flug eine Hänge lampe, und die Schlinge verfehlte ihr Ziel.
In diesem Augenblick begriff Una die Bedeutung dessen, was um sie herum vor sich ging. »Nein!« brüllte sie. »Er ist mein! Ich will ihn!« Der entsetzte Lassowerfer sprang zurück zur Tür hinaus, die sich sofort hinter ihm schloß. Ohne sich umzudrehen, setzte sich Una, ihr rückwärtiges Auge benutzend, in der Richtung auf diese Tür in Bewe gung. Unser Seil spannte sich, und wir sprangen zur Seite. Der Geländerpfosten zerbrach wie ein dünner Stecken, und Una zog das Seil hinter sich her. Ein ver lorener Schrei entrang sich dem Munde Alfreds, den Una noch immer fest umschlungen hielt, doch zu sei nem Glück, da sie jetzt rückwärts ging, gewisserma ßen hinter sich; denn jetzt rammte sie die schwere Haustür wie ein Super-Tank. Ein fürchterliches Krachen! Ein Regen von Holz und Gips! Und dann eine Staubwolke, durch die von draußen wilde Entsetzensschreie drangen, übertönt von einer donnernden Stimme: »Er ist mein! Ihr könnt ihn nicht haben! Er gehört mir!« Als wir das Frontfenster erreichten, hatte sich Una bereits aus den Trümmern der Tür befreit und ihren Weg ins Freie fortgesetzt. Wir sahen sie mit einer Ge schwindigkeit von etwa zehn Stundenkilometern den Zufahrtsweg hinunterstampfen, hinter sich, ohne sichtliche Anstrengung, ein halbes Dutzend oder
mehr Feuerwehrmänner und Polizisten, die sich an dem Seil festgeklammert hatten, herziehend. Der Pförtner am Parkeingang hatte die Geistesge genwart besessen, das Gittertor zu schließen und sich hinter einen nahen Busch zu verkriechen. Doch Gitter waren für Una keine Hindernisse. Sie setzte ihren Weg unbeirrt fort. Gewiß, sie taumelte leicht nach dem An prall, doch das Tor gab nach und stürzte vor ihr zu sammen. Sie stampfte darüber hinweg. Alfred sahen wir auf ihrer uns zugekehrten Seite wild mit den Ar men um sich schlagen und mit den Beinen strampeln; ein schwacher Ruf nach Hilfe drang an unser Ohr. Die Traube der Polizisten und Feuerwehrmänner wurde in das Gewirr der Gitterstäbe hineingezogen und blieb hängen. Als Una hinter der Wegbiegung aus unserem Blickfeld entschwand, torkelten nur noch zwei dunkle Gestalten, heroisch an das Seil geklammert, hinterher. Von unten aus dem Hof kam das Geräusch star tender Motoren. Dixon rief den Männern zu, sie soll ten warten. Wir eilten die Hintertreppe hinunter und konnten eben noch auf den anfahrenden Spritzenwa gen springen. An der Ausfahrt gab es einen kurzen Aufenthalt, weil die Trümmer des Gittertores beiseite geräumt werden mußten. Dann fuhren wir die Landstraße hinunter, dabei auf Unas Fußstapfen achtend, die sich tief abzeichneten.
Nach einer Viertelmeile bog die Spur in einen schmalen Seitenpfad ab, der steil in ein Tal hinabführ te. Wir mußten absteigen und unsere Verfolgung zu Fuß fortsetzen. In der Senke des Tals spannte sich eine alte Holz brücke über den Fluß. Jahrhunderte hatte sie dem Verkehr genügt, doch bei ihrer Konstruktion war be stimmt nicht das Gewicht einer über sie hinweg stampfenden Una miteinkalkuliert worden. Als wir die Brücke erreichten, fehlte der mittlere Bogen, und ein Feuerwehrmann half einem triefenden Polizisten, die schlaffe Gestalt Alfreds die Böschung hinauftra gen. »Wo ist sie?« fragte Dixon ängstlich. Der Feuerwehrmann sah ihn stumm an und deute te dann auf die Mitte des Flusses. »Einen Kran! Schicken Sie sofort nach einem Kran!« rief Dixon jammernd aus. Doch alle waren mehr dar an interessiert, das Wasser aus Alfred zu pumpen und ihn ins Leben zurückzurufen. Das Erlebnis hat, fürchte ich, für immer das Verhält nis Alfreds zur stummen Kreatur verändert. In der bevorstehenden Flut von Klagen, Gegenklagen und Widerklagen und dem Rattenschwanz von Zivil- und Strafprozessen werde ich nur als Zeuge figurieren. Doch Alfred, der dabei natürlich in verschiedenen
Funktionen auftreten wird, sagt, er beabsichtige, den Beruf zu wechseln, wenn seine Klagen wegen Über fall, Entführung, versuchter ... nun, es stehen noch ei nige andere Vergehen auf seiner Liste ... erledigt sind. Er meint, es falle ihm schwer, einer Kuh oder irgend einem anderen weiblichen Tier in die Augen zu schauen.
Ray Bradbury
Stunde Null Oh, es war wunderbar, das neue Spiel! Seit Jahren hatte es nichts Schöneres, nichts Aufregenderes gege ben! Die Kinder schossen hin und her auf dem grü nen Rasen, versteckten und jagten sich, schrien durcheinander, faßten sich bei den Händen, tanzten im Kreise, kletterten auf die Bäume, strahlten, lach ten, jauchzten. Hoch über ihnen rauschten die Rake tenschiffe, auf den Straßen summten die AtomSkooter vorbei, doch die Kinder beachteten sie nicht, spielten weiter, begeistert, fanatisch. Mink kam ins Haus gerannt, zerzaust, schwitzend, schmutzig. Für ihre sieben Jahre war sie ein ge räuschvolles, energisches, entschiedenes Persönchen. Ihre Mutter, Mrs. Morris, sah sie in der Küche ver schwinden, folgte ihr und stellte entsetzt fest, daß ihr Töchterchen dabei war, Schubladen und Schränke aufzureißen und Pfannen, Töpfe und anderes Kü chengerät in einen großen Sack zu füllen. »Um Himmelswillen, Mink, was machst du da?« »'s ist für unser Spiel!« japste Mink. »Was ist das für ein Spiel?« »Das dollste, was wir je gespielt haben!« verkünde
te Mink mit glühenden Bäckchen und glänzenden Augen. »Du bist ja vollkommen außer dir, Kind. Ruh dich erst einmal aus, bevor du weiterspielst.« »Ich bin nicht müde«, keuchte Mink. »Darf ich die Sachen haben, Mammi?« »Gut. Aber verbeule sie nicht.« Mrs. Morris mußte lächeln. »Nein, Mammi! Danke, Mammi!« Und Mink flitzte aus der Küche. Mrs. Morris rief ihr nach: »Wie heißt denn euer aufregendes Spiel?« »Invasion!« krähte Mink. Knallend schlug die Tür zu. Aus allen Häusern der Straße trugen die Kinder Messer, Gabeln, Schürhaken, alte Ofenrohre, Büch senöffner und andere Haushaltsgeräte und Werkzeu ge auf den Spielplätzen zusammen. Es war auffallend, daß diese seltsame Geschäftig keit sich nur der kleineren Kinder bemächtigt hatte. Die älteren, etwa vom zehnten Lebensjahr ab, fanden das neue Spiel zu »kindisch«, wandten sich verächt lich ab von dem albernen Getue und spielten ihre ei genen, ihres Alters würdigeren Spiele. Die Erwachsenen, die vorbeikamen, freuten sich an dem Anblick der tobenden Kleinen, wunderten sich vielleicht etwas über den wilden Eifer, mit dem sie sich ihrem unbekannten Spiel hingaben, lächelten
dann aber großmütig über den kindlichen Unsinn und wünschten sich wohl insgeheim, mitmachen zu dürfen. »Du machst so, und du so, und du so!« komman dierte Mink die anderen Kinder, die Löffel und Schraubenschlüssel in den Händen hielten. »So, und jetzt macht es mir nach und lauft dann hierher! Los! ... Nein! Hierher, du Dummkopf! ... So ist's richtig. Und jetzt geht zurück, damit ich meins mache. Paßt auf!« Die Zunge zwischen den Zähnen, die kleine Stirn in grimmigen Falten, vollführte sie rätselhafte Bewe gungen mit zwei Bratpfannen. »So ... und so ... und so! Habt ihr jetzt verstanden?« »Jaaaa!« schrien die Kinder. Der zwölf Jahre alte Joseph Connors näherte sich, blieb neugierig stehen. »Geh weg!« fuhr Mink ihn an. »Ich möchte mitspielen«, sagte Joseph. »Nein!« erwiderte Mink finster. »Warum nicht?« »Du willst uns nur verspotten.« »Ehrenwort, bestimmt nicht.« »Doch. Wir kennen euch. Geh weg, oder ich tret' dir ans Schienbein!« Ein anderer zwölfjähriger Junge sauste herbei auf kleinen Motorrollschuhen. »He, Joe! Komm! Laß doch die dummen Gören!« Joseph runzelte die Stirn. »Ich will aber mitspielen!«
»Nein. Du bist zu alt«, sagte Mink energisch. »Aber doch nicht so alt«, schmollte Joe. »Doch. Du würdest nur über uns lachen und die Invasion verderben.« Der Junge auf den Motorroll schuhen lachte höhnisch. »Komm, Joe! So ein blöder Quatsch!« Joseph entfernte sich zögernd und warf immer wieder sehnsüchtige Blicke zurück auf die Kinder, die ihr Spiel sofort wieder aufgenommen hatten. Unter Minks Anleitung bauten sie jetzt mit den zu sammengetragenen Gegenständen einen geheimnis vollen Apparat. Dann gab Mink einem anderen klei nen Mädchen einen Notizblock und einen Bleistift und begann, der unbeholfenen Schreiberin, die mit ihrem mühsamen Gekritzel nur langsam folgen konn te, sonderbare Worte zu diktieren. Die hellen Stimm chen stiegen schrill in die warme Sommerluft. Und rings um sie herum summte die große Stadt. Die Straßen waren gesäumt von blühenden Beeten und schattenspendenden Bäumen. In den Blättern spielte ein sanfter Wind, der vom Meer zu seiner Reise über das Land aufgestiegen war, über den Kontinent, über tausend andere Städte, in denen wie hier die Erwachse nen ohne Hast ihrer Arbeit nachgingen und die Kinder auf grünem Rasen spielten. In dem blauen Himmel schossen die silbernen Passagier- und Frachtraketen wie Weberschiffchen von Horizont zu Horizont. Über
allem lag die unbekümmerte Ruhe einer Menschheit, für die der Frieden eine Selbstverständlichkeit gewor den war, weil sie wußte, daß nie wieder ein Krieg kommen würde. Alle Länder und Völker der Erde wa ren vereint in einem einzigen Bündnis. Die vollkom menen Waffen waren im Besitz aller Nationen, das harmonische Gleichgewicht der Kräfte hatte ein nie er lebtes Vertrauen geboren. Die gemeinsame, friedliche Ausnutzung der gebändigten Atomkraft hatte zum Wohlstand aller geführt. Es gab keine Verräter auf der Erde, denn es gab keine Unzufriedenen mehr. Wäh rend jetzt die eine Hälfte der Menschheit sich des Le bens und der Sonne freute, schlief die andere ohne Angst einem sorglosen Tag entgegen. Minks Mutter stand an einem Fenster der ersten Etage und schaute auf den Spielplatz hinunter. Diese Kinder! Halb belustigt, halb besorgt schüttel te sie den Kopf. Nun, je schlimmer sie tobten, um so besser würden sie essen und schlafen. Am Montag begann ohnehin wieder die Schule. Gott segne ihre zarte Gesundheit. Mrs. Morris horchte auf. Mink stand etwas abseits von den anderen bei dem Rosenstrauch und sprach mit ernstem Gesicht zu je mandem, der nicht da war. Einfälle haben diese Kinder! Das kleine Mädchen, das da am Boden hockte, ... wie hieß es noch? ... rich
tig, Anna! ... Anna hatte einen Schreibblock auf den Knien und machte Notizen. Zuerst stellte Mink dem Rosenstrauch eine Frage und rief dann Klein-Anna die Antwort zu. »Triangel«, diktierte Mink jetzt. »Was ist ein ... ein Triang?« stotterte Anna. »Das ist doch gleich. Schreib's nur auf!« Mink wur de ungeduldig. »Wie schreibt man das denn?« fragte Anna ängst lich. »T – r – i –« buchstabierte Mink stockend, unter brach sich ärgerlich: »Oh, schreib's doch, wie du willst!« Dann lauschte sie in den Rosenbusch und rief Anna ein neues Wort zu: »Strahl!« »Ich bin noch nicht fertig mit dem Tri«, jammerte Anna. »Los! Los! Mach doch schnell!« schrie Mink wü tend. Minks Mutter lehnte sich aus dem Fenster und rief Anna zu: »A – n – g – e – l!« »Oh, danke schön, Mrs. Morris«, antwortete Anna aufatmend. »Oh, bitte!« sagte Minks Mutter, zog schnell den Kopf zurück, weil sie laut auflachen mußte, und ging die Treppe hinunter. Die Stimmen der Kinder folgten ihr. »Strahl«, wie derholte Anna.
»Vier – neun – sieben – A und B und X«, diktierte Mink weiter. Ihre Stimme klang erregt. »Und eine Gabel und eine Schnur und ein ... Hex – Hex – agony ... Hexagonal!« Zum Mittagessen stürmte Mink herein, trank ihre Milch in einem Zuge aus und war schon wieder an der Tür. Energisch schlug ihre Mutter auf den Tisch. »Hier bleibst du sitzen!« befahl Mrs. Morris. »Zu erst ißt du deine Suppe.« Sie drückte auf einen roten Knopf des Küchenautomaten, und zehn Sekunden später plumpste aus der Rohrpostleitung für fertige Gerichte ein Kunststoffbehälter in den KautschukEmpfänger. Mrs. Morris nahm ihn heraus, entfernte mit einem Ruck den Vakuumverschluß und goß hei ße Suppe in eine Schüssel. Unterdessen rutschte Mink auf ihrem Stuhl unru hig hin und her. »Schnell, Mammi! Es geht um Leben und Tod! Ich ...« »Als ich so alt war wie du, ging es auch immer um Leben und Tod. Ich kenne das.« Mink schlang ihre Suppe hinunter. »Langsam! Langsam!« mahnte die Mutter. »Hab keine Zeit«, schluckte Mink. »Drill wartet auf mich.« »Wer ist Drill? Ein komischer Name!« »Du kennst ihn nicht«, antwortete Mink, ohne auf zuschauen.
»Ist er neu hier in der Nachbarschaft?« fragte die Mutter. »Ganz neu«, sagte Mink und machte sich über ih ren zweiten Teller Suppe her. »Welcher von den Jungen war Drill?« »Du hast ihn nicht gesehen«, wich Mink aus. »Er ist ... ich kann's dir nicht sagen. Du lachst mich aus. Alle Erwachsenen lachen uns aus.« »Ist Drill schüchtern?« »Ja ... nein ... doch. O weh, Mammi, ich muß ren nen, wenn die Invasion klappen soll!« »Wer will eine Invasion machen? Und wohin?« »Die vom Mars ... bei uns. Das heißt, eigentlich sind sie nicht vom Mars. Sie sind ... ich weiß nicht. Von oben.« Sie deutete mit dem Löffel zur Decke. »Ich glaube, sie sind von hier drinnen«, sagte Mrs. Morris und legte ihre Hand auf Minks glühende Stirn. Das Kind wich zurück. »Siehst du! Jetzt lachst du mich aus. Du wirst damit Drill und die anderen alle töten.« »Oh, das wollte ich nicht ... Ist Drill ein Mars mensch?« »Nein. Er ist ... Ich weiß nicht. Vielleicht kommen sie vom Jupiter oder vom Saturn oder von der Venus. Drill sagt, sie haben es schwer gehabt, bis sie soweit waren mit der Invasion.«
»Das kann ich mir denken.« Mrs. Morris hielt die Hand vor den Mund, um ihr Lächeln zu verbergen. »Sie wußten zuerst nicht, wie sie auf der Erde lan den könnten.« »Und wissen sie es jetzt?« »Drill sagt, sie mußten einen Weg finden, uns zu überraschen, und dazu brauchten sie jemand auf der Erde, der ihnen hilft.« »Sieh mal an! Eine fünfte Kolonne also!« »Ja, Mammi, so hat Drill es genannt!« »Und die haben sie jetzt gefunden?« Mrs. Morris wandte sich schmunzelnd ab und begann, den Tisch abzuräumen. »Ja.« Mink blieb sitzen und starrte vor sich hin, als sähe sie, wovon sie sprach. »Aber nicht gleich. Doch ei nes Tages ist ihnen das mit den Kindern eingefallen.« »Und was war das?« »Drill hat gesagt, es hätte etwas damit zu tun, daß Kinder mehr Phantasie haben als die Großen und daß die Großen keine Zeit haben, auf dem Rasen zu spie len und unter die Rosenhecken zu schauen.« »O doch, wenn sie Pilze suchen!« »Nein, nicht so! Drill sagt, es hat etwas zu tun mit ... mit Mater... Materation ... Matersisation.« »Materialisation?« »Ja, so hat er gesagt. Und mit ... Dim... Dimenso nen.«
»Dimensionen?« »Ja, Mammi, du weißt ja schon alles. Aber Drill hat gesagt, es gibt vier davon, und nur Kinder unter neun Jahren können die vierte begreifen. Ja, so hat er ge sagt. Weil wir noch an Märchen glauben. Oh, es ist schön, zuzuhören, wenn Drill Märchen erzählt.« »So? Und meine Märchen gefallen dir nicht mehr?« sagte Mrs. Morris mit gespieltem Schmollen. »Nein, Mammi. Drill sagt, eure Märchen können nicht wahr werden, weil ihr nicht daran glaubt.« Mrs. Morris wurde nachdenklich. Dann sagte sie: »Nun, mein Kind, das wirst du verstehen, wenn du größer geworden bist. Und jetzt laß deinen Drill nicht länger warten. Ihr müßt euch beeilen, wenn eure In vasion noch vor dem Abendessen stattfinden soll. Und vorher mußt du noch in die Badewanne.« »Warum muß ich immer baden?« maulte Mink. »Weil du immer schmutzig bist wie ein kleines Ferkel. Mein Gott, wie kommt es, daß Kinder sich so ungern waschen? Na, zu meiner Zeit war es ja auch schon so, und das wird wohl immer so bleiben.« »Drill sagt, nach der Invasion brauche ich nicht mehr zu baden.« »Meint er?« »Er hat's zu allen Kindern gesagt. Wir brauchen uns nur noch zu waschen, wenn wir wollen. Und abends dürfen wir aufbleiben bis zehn Uhr, und
samstags können wir zweimal ins Kino gehen anstatt nur einmal.« »Und das bestimmt Mr. Drill! Ich glaube, dieser junge Herr sollte sich mal lieber um seine Schulauf gaben kümmern. Wenn er euch noch mehr solche Flöhe ins Ohr setzt, werde ich mal seine Mutter anru fen.« Mink ging zur Tür, wandte sich noch einmal um und sagte ernst: »Ich hätte dir nichts sagen sollen. Mit Pete Britz und Dale Jerrick war es auch so. Sie sind zu erwachsen für unser Spiel, haben sie gesagt. Sie glau ben nicht an Drill. Sie sind schlimmer als Eltern. Sie lachen uns aus. Ich hasse sie. Wir werden sie zuerst töten.« »Und Vater und mich zuletzt.« »Drill sagt, ihr seid gefährlich. Weißt du, warum? Weil ihr nicht an die vierte Dimen... Dimension glaubt! Er sagt, sie würden uns die Welt regieren las sen. Natürlich nicht nur uns von unserem Viertel, auch die vom nächsten und alle anderen, die mitspie len. Ich werde vielleicht Königin.« Ihre Augen leuch teten. »Mammi?« »Ja, was ist denn noch?« »Was ist lo... logisch, Mammi?« »Logisch? ... Nun, mein Kind, logisch ist, wenn man weiß, was wahr ist und was nicht wahr ist.«
»Davon hat er auch gesprochen«, sagte Mink. »Und was ist naiv?« Die Mutter sah ihr Kind zärtlich lä chelnd an. »Naiv, das bedeutet, ein Kind zu sein, mein Kleines.« »Danke fürs Essen, Mammi!« Mink schlüpfte hin aus, steckte aber sofort wieder den Kopf durch die Tür. »Mammi, ich versprech dir, daß es nicht weh tun wird, bestimmt!« »Oh, danke, mein Kind!« Knallend schlug die Tür zu. Um vier Uhr summte das Fernsehtelefon. Mrs. Morris setzte sich vor das Gerät und drückte auf eine Taste. »Hallo, Helen«, begrüßte sie lächelnd die junge Frau, die auf dem Bildschirm erschien. »Hallo, Mary. Wie geht es bei euch in New York?« »Gut. Und bei euch in Scranton? Du siehst müde aus.« »Du auch. Ja, die Kinder. Sie machen einen fertig«, erwiderte Helen. Mrs. Morris seufzte. »Mink ist außer Rand und Band. Sie erwartet die große Invasion.« Helen lachte. »Spielen die Kinder bei euch dieses Spiel auch?« »Ja, seit einigen Tagen. Aber morgen kommen dann wieder Motorrollschuhe oder etwas anderes dran. Sag, waren wir auch so schlimm, als wir so alt waren?« »Schlimmer. Das war 1948. Wir haben Japs und
Nazis gespielt. Unsere armen Eltern tun mir heut noch leid. Wir müssen ihnen böse zugesetzt haben.« »Eltern lernen es, nicht hinzuhören.« Die beiden Mütter schwiegen. »Was ist mit dir, Mary?« fragte Helen. Mrs. Morris hatte die Augen halb geschlossen. Ihre Zunge glitt langsam über die Oberlippe. »Wie?« Sie fuhr zusammen. »Oh, nichts. Ich dachte darüber nach, über das Nichthinhören und Nichthörenwollen. Entschuldige. Wovon sprachen wir?« »Ich wollte dir noch sagen, Tim, mein Junge, hat einen Narren gefressen an einem neuen Freund, der unsichtbar ist. Ich glaube, Drill heißt er.« »Oh, das ist das neue Spiel. Mink schwört auch auf ihren Drill.« »Ich hatte nicht gewußt, daß er auch schon New York erobert hat. Das geht ja schnell wie ein Lauffeu er. Ich habe mit Josephine in Boston gesprochen, und sie erzählte mir, daß auch ihre Kinder ganz verrückt sind auf das neue Spiel. Das scheint eine richtige Landplage zu sein.« Die Haustür wurde aufgerissen. Mink sauste in die Küche, um ein Glas Wasser hinun terzustürzen. Mrs. Morris wandte sich um. »Nun, wie steht's mit eurer Invasion?« »Bald ist's soweit.« »Wunderbar!« Mrs. Morris lächelte und stutzte. »Was ist denn das?«
»Ein Jo-Jo«, erwiderte Mink stolz. »Paß mal auf!« Sie ließ das Jo-Jo an der Schnur herunterlaufen. Als es das Ende der Schnur erreicht hatte ... ver schwand es. »Hast du gesehen?« fragte Mink triumphierend. »Und jetzt ... wuppdich!« Sie schnipste mit den Fin gern. Das Jo-Jo erschien wieder und lief an der Schnur hinauf. »Mach das noch einmal«, sagte Mrs. Morris ver blüfft. »Keine Zeit. Um fünf Uhr ist Stunde Null. Ich muß ...« Ihr Jo-Jo tanzen lassend rannte Mink hinaus. Mrs. Morris hörte vom Bildschirm her ein Lachen, und Helen sagte: »So ein Jo-Jo hat auch Tim heute morgen nach Hause gebracht. Als ich neugierig wur de, sagte er, er dürfte es mir nicht zeigen. Ich hab's ihm schließlich weggenommen und den Trick ver sucht. Bei mir hat es aber nicht geklappt.« »Kein Wunder! Du bist nicht naiv genug«, sagte Mrs. Morris rätselhaft lächelnd. »Was willst du damit sagen?« »Ach, nichts. Ich dachte an den Unsinn, den Mink erzählt, von ihrem Drill. Reden wir nicht mehr davon. Weshalb hast du angerufen, Helen?« »Weißt du, ich bin dieses fertige Zeug aus der Zen tralküche leid. Ich möchte mal wieder einen richtigen, altmodischen Kuchen backen. Hast du noch das Re
zept für den wunderbaren Marmorkuchen, den wir das letzte Mal bei euch ...?« Träge verrann Stunde um Stunde. Der Tag ging zur Neige. Im friedlichen Blau des Himmels sank die Sonne dem Horizont entgegen. Die Schatten auf dem grünen Rasen wurden länger. Das Spiel der Kinder ging weiter, wurde immer erregter, lauter. Weinend entfernte sich ein kleines Mädchen von dem Spiel platz. Mrs. Morris trat vor die Haustür. »Mink, war das Peggy Ann, die da eben weinend weglief?« Mink stand vornübergebeugt in der Nähe des Ro senstrauchs. »Jaaa. Sie ist 'ne Heultrine. Sie darf nicht mehr mitspielen. Sie ist zu alt. Ich glaube, sie ist auf einmal erwachsen geworden.« »Und deshalb fängt sie an zu weinen? Das ist doch Unsinn. Gib mir eine anständige Antwort, mein Fräu lein, oder du kommst sofort herein!« Mink richtete sich auf, störrisch, gereizt. »Ich kann jetzt nicht hier weg. Es ist gleich soweit. Ich will brav sein. Ich muß jetzt ...« »Hast du Peggy Ann geschlagen?« »Nein. Ehrenwort. Du kannst sie fragen. Sie hat Angst vor Drill, die dumme Gans.« Der Ring der Kinder schloß sich wieder um Mink, die aufgeregt mit einem Löffel an dem Aufbau her umzuhantieren begann, den sie aus Töpfen und Röh
ren und allen möglichen und unmöglichen Gegen ständen errichtet hatten. »Los! So zieht doch! Los! Fester!« hörte Mrs. Morris ihre Tochter schimpfen. »Ist etwas nicht in Ordnung?« rief sie hinüber. »Drill ist steckengeblieben. Auf halbem Weg. Wenn wir ihn ganz heraus haben, wird's leichter. Dann können die anderen auch durch.« »Kann ich helfen?« »Nein, danke, Mammi! Ich schaff's schon.« »Gut. In einer halben Stunde rufe ich dich zum Ba den. Und sei artig. Ich habe keine Lust, dauernd auf dich aufzupassen.« Sie ging ins Haus zurück und setze sich in den elektrischen Schaukelstuhl, trank einen Schluck aus dem halbleeren Bierglas und schaltete den Schaukel mechanismus ein. Die Lehne massierte wohltuend ih ren Rücken. Sie schloß die Augen. War sie auch so, als sie noch ein Kind war? Wie sieht es in so einem Kinderherzen aus? Gibt es das, Haß und Liebe ne beneinander? Müssen denn Kinder ihre Eltern nicht manchmal zugleich lieben und hassen? Können sie denn die oft unverstandenen Schläge und Scheltwor te, die unerfüllten Wünsche und strengen Verbote vergessen und verzeihen? Haben nicht früher auch die Erwachsenen ihre grausamen Diktatoren gleich zeitig angebetet und gehaßt?
Die Zeit kroch schläfrig dahin. Eine seltsame Stille senkte sich auf die Straße, auf die Stadt, wurde immer tiefer. Irgendwo im Haus begann eine Uhr zu schlagen, begleitet von einer singenden Stimme: »Fünf Uhr! Fünf Uhr! Eile mit Weile! Zeit ist Illusion! Fünf Uhr!« Und wieder herrschte Schweigen, als stünde das Le ben still. Stunde Null. Mrs. Morris lächelte ... Stunde Null! Ein Atom-Skooter summte in die Einfahrt. Es war Mr. Morris. Mrs. Morris lächelte. Mr. Morris stieg aus und rief Mink, die in ihr Spiel vertieft war, ein Grußwort hinüber. Mink beachtete ihn nicht. Er lachte und sah den Kindern, die dicht gedrängt in einem Haufen stumm um den Rosen strauch standen, eine Weile zu. Dann schüttelte er lä chelnd den Kopf und ging die Stufen hinauf. »Hallo, Liebling.« »Hallo, Henry.« Sie beugte sich in ihrem Sessel nach vorn, lauschte. Die Kinder waren still. Zu still. Er klopfte seine Pfeife aus, stopfte sie wieder. »Ein wunderbarer Tag heute. Da lernt man es so richtig schätzen, daß man lebt.« Sssssss!
Das Summen kam von draußen. »Was ist das?« fragte Henry. »Ich weiß nicht.« Mrs. Morris erhob sich jäh, ihre Augen weiteten sich. Sie wollte etwas sagen. Sie sagte es nicht. Lächerlich ... ihre Nerven gingen mit ihr durch. »Die Kinder haben doch nichts Gefährliches da draußen zum Spielen?« fragte sie. »Nur Rohre, Töpfe und harmloses Werkzeug. Warum?« »Nichts Elektrisches?« »I wo, nein«, antwortete Henry. »Ich habe nichts gesehen.« Mrs. Morris wandte sich zur Küche. »Geh doch lie ber hinaus und sage ihnen, sie sollen aufhören. Es ist fünf Uhr vorbei. Sage ihnen ...« Ihre Augenlider flat terten. »Sage ihnen, sie sollen ihre Invasion auf mor gen verschieben.« Sie lachte nervös. Das Summen wurde lauter. »Was machen sie denn da draußen? Ich will doch lieber nachschauen.« Wumm! Eine dumpfe Explosion erschütterte das Haus. Die Eltern erstarrten. Weitere Explosionen klangen herüber von den be nachbarten Straßen, aus anderen Teilen der Stadt. Mrs. Morris kreischte auf. »Schnell nach oben!«
schrie sie dann, ohne zu wissen, warum, und lief zur Treppe. Es war keine Zeit mehr, Henry zu überzeu gen. Sollte er glauben, sie sei irrsinnig geworden. Ja, es war Irrsinn! Schreiend rannte sie die Stufen hinauf. Er lief ihr nach, wollte sie zur Vernunft bringen. »In der Dachkammer!« schrie sie. »Dort ist es!« Es war nur eine schwache Ausrede, um ihn rechtzeitig in die Dachkammer zu bekommen. Oh, mein Gott ... rechtzeitig! Draußen knallte es wieder. Dieses Mal heller. Und es knatterte weiter. Die Kinder brachen in Jubelge schrei aus, als ob ein großes Feuerwerk eingesetzt hätte. »Es ist nicht in der Dachkammer!« rief Henry. »Es ist draußen! Bei den Kindern!« »Nein, nein!« Wimmernd, keuchend mühte sie sich ab, die Tür der Dachkammer aufzuschließen. »Ich zeig dir's! Schnell, komm! Ich zeig dir's!« Die Tür flog auf. Sie stolperte hinein, riß ihren Mann mit sich, schlug die Tür wieder zu, steckte den Schlüssel ins Schloß, drehte ihn um, zog ihn heraus und warf ihn in eine Ecke hinter Gerümpel. Sie stammelte sinnloses Zeug. Es brach aus ihr her aus, alle Ahnungen und Ängste, die ihr im Laufe des Nachmittags gekommen und von ihrer Vernunft un terdrückt worden waren, alle die kleinen Enthüllungen und Erkenntnisse, die sie als Unsinn verworfen hatte;
sie hatten in ihrem Unterbewußtsein weitergewirkt, ih re Erwachsenen-Logik hatte sich dagegen gewehrt, und nun waren sie wahr geworden. Doch wie sollte Henry es verstehen, das Entsetzliche, Unfaßbare? Ein wildes Schluchzen schüttelte sie. Sie starrte auf die Tür und stammelte: »Hier sind wir sicher bis zur Nacht! Vielleicht können wir in der Dunkelheit das Haus verlassen! Vielleicht können wir uns retten!« Henry verlor die Geduld, wurde böse. »Bist du ver rückt geworden? Warum wirfst du den Schlüssel weg? Was soll das?« »Ja, ja, ich bin verrückt, wenn du willst, aber bleibe hier bei mir!« »Wie soll ich denn hier heraus, verflixt noch ein mal, ohne Schlüssel.« »Still! Sonst hören sie uns. O Gott, wenn sie uns finden ...« Die Eltern sahen sich an. Sie hörten unter sich die Stimme Minks. Und dann klang ein Summen und Zi schen herauf, ein Plappern und Kichern von Kindern. Dazwischen schrillte jetzt auch das Läutewerk des Fernsehtelefons, laut, eindringlich, drohend. Ist das Helen? dachte Mrs. Morris. Ruft sie an, weil ... Schritte kamen ins Haus. Schwere Schritte. »Wer dringt da ins Haus ein?« fragte Henry ärger lich. »Wer trampelt dort unten herum?«
Immer mehr schwere Füße betraten das Haus. 20, 40, 50 Personen mußten es sein. Das Summen wurde stärker. Die Stimmen der Kinder kamen näher. »Hier hinauf!« rief Mink. »Wer ist unten«, brüllte Henry. »Wer erlaubt sich ...« »Still! Nicht, nicht!« jammerte seine Frau schwach. »Um Himmels willen, sei still! Vielleicht gehen sie wieder.« »Mammi?« rief Mink. »Pappi?« Eine Pause. »Wo seid ihr?« Schwere Schritte stampften die Treppe herauf, langsam, immer näher. Voran trippelten Minks Füß chen. »Mammi?« Ein Zögern. »Pappi?« Und wieder fürchterliches Schweigen. Ein Summen. Minks Schrit te kamen auf die Dachkammer zu. Die schweren Fü ße schlurften hinterher. Zitternd standen Mr. und Mrs. Morris hinter der Tür. Das elektrische Summen, das plötzlich unter der Tür erscheinende kalte, seltsame Licht, der fremde Geruch, der hereindrang, und der so unheimliche Ton von Eifer und Tücke in Minks Stimme ließen jetzt auch in Henry die Erkenntnis dessen aufdämmern, was geschehen war. Erschauernd umschlang er seine Frau, die sich an ihn klammerte. »Mammi! Pappi!«
Zwei hastige Schritte. Ein Zischen. Das Türschloß zerschmolz. Die Tür flog auf. Mink blinzelte in den halbdunklen Raum. Hinter ihr standen große, blaue Schattengestalten. »Kuckuck«, sagte Mink.
Katherine MacLean
Bilder lügen nicht Der Reporter der News fragte: »Was halten Sie von den Fremdlingen, Mr. Nathen? Sind sie friedlich? Se hen sie menschlich aus?« »Sehr menschlich«, erwiderte der schmächtige jun ge Mann. Draußen schlug mit stetigem, gedämpftem Trom meln der Regen gegen die großen Scheiben, trübte und verzerrte den Blick auf den Flugplatz, wo sie landen würden. Die Pfützen auf dem betonierten Rollfeld wurden von den Regentropfen wie mit Pok kennarben gezeichnet, und das Gras, das zwischen den Startbahnen des unbenutzten Flughafens wu cherte, neigte sich glitzernd unter den Windstößen. In respektvoller Distanz von der Stelle, wo das rie sige Raumschiff landen sollte, standen die FernsehÜbertragungswagen, in denen Kameramänner, vor dem Regen Schutz suchend, auf das große Ereignis warteten. Unsichtbar hinter den sandigen Hügeln der wüstenähnlichen Landschaft waren in einem weiten Ring schußfertige Flakgeschütze postiert, und auf Flugfeldern jenseits des Horizonts standen startberei te Bomber, um die Menschheit gegen einen mögli
chen Verrat des fremden Schiffes zu schützen, das als erstes aus dem Weltraum auf die Erde kam. »Wissen Sie etwas über ihren Heimatplaneten?« fragte der Vertreter des Herald. Der Korrespondent der Times, der mitten unter seinen Kollegen stand, hörte nur mit halbem Ohr zu, was sie sagten, und dachte an die Fragen, die er selbst stellen wollte, wenn es an der Zeit war. Joseph R. Nathen, der schmächtige junge Mann mit dem glatten, schwarzen Haar und dem blassen Gesicht wurde von seinen Inter viewern mit auffallender Schonung behandelt. Er stand sichtlich unter einer großen Nervenanspannung, und sie hüteten sich, ihn durch zu viele Fragen auf einmal zu verärgern. Sie legten Wert darauf, sich bei ihm be liebt zu machen. Morgen würde er eine der größten Schlagzeilen-Berühmtheiten sein. »Nein, nichts Direktes.« »Keine Vermutungen oder Rückschlüsse?« bohrte der Mann vom Herald weiter. »Ihre Welt muß ihnen erdenähnlich erscheinen«, antwortete der müde aussehende junge Mann unsi cher. »Die Umgebung formt das Lebewesen. Doch nur in relativen Maßstäben gesehen natürlich.« Er wich den fragenden Blicken aus. Auf seiner Stirn perlten Schweißtropfen. »Das will aber nichts hei ßen.«
»Erdenähnlich«, murmelte einer der Reporter und schrieb es auf, als sei ihm nichts anderes aufgefallen in der Antwort. Der Mann von der Times warf einen forschenden Blick auf seinen Kollegen vom Herald, um festzustel len, ob ihm nichts aufgefallen war, und begegnete in seinen Augen der gleichen Frage. Der hartnäckige Herald-Reporter wandte sich wie der an Nathen: »Sie halten es also für möglich, daß sie gefährlich sind?« Es war eine jener präsumptiven Fragen, die zum Widerspruch herausforderten und zur Preisgabe von Fakten verleiteten, vorausgesetzt, daß sie ins Schwar ze trafen. Sie wußten alle von den militärischen Vor sichtsmaßnahmen, obwohl diese geheim bleiben soll ten. Die Frage hatte nicht die gewünschte Wirkung. Nathen blickte verloren zum Fenster hinaus. »Nein, das möchte ich nicht sagen.« »Sie glauben also, sie sind uns friedlich gesinnt?« fragte der Mann vom Herald, das Ziel von der Kehr seite angehend. Ein flüchtiges Lächeln umspielte die Lippen Nathens. »Die ich kenne, sind es.« Ein weiterer Vorstoß in dieser Richtung war zweck los, und sie mußten Material für ihre Artikel haben, bevor das Schiff eintraf. Der Vertreter der Times frag
te: »Wodurch kamen Sie mit ihnen in Kontakt?« Nach kurzem Zögern antwortete Nathen: »Durch Störun gen. Radiostörungen. Die Armee hat Ihnen doch ge sagt, welche Funktion ich habe?« Die Armee hatte ihnen nichts gesagt. Der Offizier, der sie zu dem Interview hergeführt hatte und wie ein Wachhund neben Nathen stand, machte ein fin steres Gesicht, als wollte er zu verstehen geben, daß es gegen seine Natur sei, überhaupt irgend jemandem irgend etwas zu sagen. Nathen sah ihn unschlüssig an, fuhr dann aber fort: »Ich bin Dechiffreur in der Fernmeldeabteilung des Militärischen Nachrichtendienstes. Mit Hilfe eines Peilgerätes suche ich alle Wellenbereiche ab, nehme alle chiffrierten Sendungen, die ich höre, auf Tonband auf und baue automatische Dechiffrierapparate für alle gefundenen Codeschlüssel.« Der Offizier räusperte sich, sagte aber nichts. Die Reporter grinsten verstohlen und machten sich Notizen. Militärische Geheimniskrämerei hatte ihren Sinn verloren, seit die Rüstungskontrolle durch die UN auf internationaler Basis durchgeführt wurde. Da die Verpflichtung zur vollkommenen Offenheit eine Ga rantie gegen geheime Wiederaufrüstung darstellte, waren Spionage und Verrat zum Dienst an der allge meinen Sicherheit geworden. Sie hatten ihren anrü
chigen Charakter ins Gegenteil verkehrt. Es war eh renvoll, neugierig zu sein, wo man früher den Kopf riskiert hatte. Noch nicht alle Militärs hatten sich dar an gewöhnt. Nathen fuhr fort: »In meiner Freizeit beschäftigte ich mich damit, das Peilgerät auf die Sterne zu rich ten. Daß Sendegeräusche aus dem Weltraum zu uns kommen, das wissen Sie. Doch es sind nur Töne, die wie ein Rauschen klingen, unterbrochen von gele gentlichem Pfeifen. Man kennt diese Erscheinungen seit langem und hat viel Mühe darauf verwandt, he rauszufinden, warum von Sternen ausgestrahlte Ra diowellen in diesem verzerrten Rhythmus bei uns ankommen. Doch die kosmischen Botschaften schie nen für immer unverständlich zu bleiben.« Er machte eine Pause und lächelte in sich hinein. Seine nächsten Worte würden ihn berühmt machen. Der Gedanke, der ihm gekommen war, während er in den Kosmos lauschte, war so einfach und genial ge wesen wie jener, den Newton hatte, als er den Apfel fallen sah. »Ich kam zu der Überzeugung, daß es sich um ver schlüsselte Nachrichten handeln mußte, und versuch te, sie zu dechiffrieren.« Die Reporter sahen ihn erstaunt an. Er lächelte wieder und fuhr fort: »Es ist ein alter Trick der Ge heimdienste, eine Nachricht auf Band zu sprechen
und sie dann so schnell abzuspielen, daß sie wie ein Störgeräusch klingt, etwa wie ein kurzes Schnarren oder Pfeifen, und sie in dieser Form zu senden. Die Untergrundbewegungen haben diese Methode viel benutzt. Daran erinnerte ich mich und zog daraus meine Schlüsse.« »Wollen Sie damit sagen, daß sie einen Code für ih re Radiosendungen an uns benutzen? Das wäre doch ...« fragte der Mann von den News. »Nein«, beeilte Nathen sich zu erklären, »es ist kein richtiger Code. Um solche Botschaften zu verstehen, braucht man sie nur auf Tonband aufzunehmen und dann langsam abzuspielen. Und außerdem senden sie nicht für uns. Wir können annehmen, daß sie in ei nem System von bewohnten Planeten leben, die un tereinander in Radioverbindung stehen; und zwar benutzen sie für diesen interstellaren Verkehr Richt strahlen, wahrscheinlich schon allein, um Energie zu sparen. Theoretisch kann ein solcher Richtstrahl sei nen Weg ins Unendliche fortsetzen, ohne an Kraft zu verlieren. Doch es dürfte schwierig sein, mit ihm ge nau zu zielen. Auf solche Entfernungen von Planet zu Planet könnte man, selbst wenn man trifft, angesichts der unvermeidlichen Streuung nicht damit rechnen, daß ein Strahl länger als wenige Sekunden wirklich im Ziel bleibt. Aus diesem Grunde verdichten sie ihre Botschaften in Sendungen von einer oder einer hal
ben Sekunde und schicken sie in einem langen Stoß mehrere hundert Male aus, um sicher zu gehen, daß sie empfangen werden. Hierzu genügt es, daß der Richtstrahl das Ziel für wenige Sekunden berührt.« Er sprach langsam und sorgfältig, weil er wußte, daß seine Worte durch die gesamte Weltpresse gehen würden. »Wenn ein solcher verirrter Strahl durch un seren Teil des Weltraumes schwingt, dann hören wir ihn als ein kurzes, scharfes Geräusch aus jener Rich tung. Diese Strahlen müssen nämlich schwingen, um der Bewegung der Planeten zu folgen, denen sie gel ten. Da nun die Entfernung zwischen uns und dem Ausgangspunkt des Strahles ungeheuer groß ist, stei gert sich auch die Schwingung des Strahles, der uns berührt, entsprechend, und wir vernehmen ihn nur als ein kurzes Piep.« »Wie erklären Sie sich die große Anzahl der uns er reichenden Ausstrahlungen?« fragte der Vertreter der Times. »Rotiert ihr Planetensystem in der gleichen Ebene wie die Milchstraße?« Es war eine Frage, die Fachkenntnis verriet. Der Radiodechiffreur lächelte, und für einige Se kunden schwand die Müdigkeit aus seinem blassen Gesicht. »Vielleicht fangen wir die Radiotelefonge spräche von Hinz und Kunz auf, und die ganze Milchstraße ist bevölkert von Lebewesen, die den Tag damit verbringen, sich gegenseitig anzurufen. Viel
leicht geht es im ganzen Weltraum genauso mensch lich zu wie auf der Erde.« »Es macht ganz den Eindruck«, stimmte der Vertre ter der Times ihm zu. Sie lächelten einander an. Der Mann von den News fragte: »Wie kamen Sie auf den Gedanken, daß es sich um Bildfunk und nicht um Tonfunk handelte?« »Nicht durch Zufall«, erwiderte Nathen. »Ich er kannte in den Sendungen die typischen rhythmischen Merkmale von Fernsehwellen und machte es mir zur Aufgabe, die gesendeten Bilder sichtbar zu machen. Bilder sind unabhängig von der Sprache.« In der Nähe der Journalisten ging ein Senator auf und ab und murmelte seine auswendig gelernte Be grüßungsansprache vor sich hin, von Zeit zu Zeit ei nen nervösen Blick durch die großen Scheiben in den grauen Regen hinauswerfend. Gegenüber den Fenstern des langgestreckten Rau mes stand ein kleines Podium. Es war umgeben von Fernsehkameras, Mikrofongalgen und Scheinwerfer lampen. Von hier aus würde der Senator seine Be grüßungsansprache an die Fremdlinge richten. Daneben stand auf einem Tisch ein primitiv ausse hender Fernsehempfänger und -sender, der ohne Ge häuse auf ein Brett montiert war. Man sah zwei Fern seh-Kathodenröhren hinter dem Bildschirm flimmern und hörte den Lautsprecher summen. Neben dem
Apparat ragte eine vertikale Schalttafel mit zahlrei chen Knöpfen und Meßskalen heraus, und vor ihm war ein kleines Handmikrofon auf den Tisch mon tiert. Es war verbunden mit einem geschlossenen Ka sten, der die Inschrift »Radio-Labor US.-Eigentum« trug. »Ich nahm eine Reihe solcher verdichteten Sendun gen, die aus der Richtung des Sagittarius kamen, auf Tonband auf und begann, sie zu analysieren. Ich brauchte mehrere Monate, um die Synchronisations zeichen zu finden und die Punktzeilen zeitlich so ab zustimmen, daß ein konstantes Schema, also ein Bildmuster, herauskam. Als ich ein annähernd be friedigendes Resultat erzielt hatte, zeigte ich es mei nen Vorgesetzen, und sie gaben mir freie Hand und einen Assistenten, die Versuche fortzusetzen. Es dau erte acht Monate, bis wir die Farbimpulse gefunden und sie solchen Farben zugeordnet hatten, die ein halbwegs natürliches Bild ergaben.« Der primitiv aussehende Empfänger war das Ori ginalgerät, das sie während zehn Monaten immer wieder umgebaut hatten, um die flimmernden Strei fen unsynchronisierter Farbimpulse auszumerzen und ein ruhiges Bild zu erzielen. »Wir machten Tausende von Versuchen«, sagte Nathen, »doch schließlich hatten wir Glück. Daß es sich um farbige Bilder handelte, hatten wir von An
fang an auf Grund der charakteristischen Wellenbrei te der empfangenen Töne angenommen.« Er ging zu dem Gerät hinüber und drehte an einem Knopf. Aus dem Lautsprecher kam ein leises Piepsen, und auf dem Schirm begannen farbige Streifen zu flimmern. Der Empfänger war bereit, Sendungen des großen interstellaren Raumschiffes zu empfangen, das sich jetzt der Erdatmosphäre näherte. »Wir wunderten uns über die Häufigkeit der Sen dungen, doch als wir unsere Bandaufnahmen lang sam abspielten, entdeckten wir, daß wir das Pro gramm einer Station empfingen, die laufend dramati sche Literatur, also Fernsehspiele ausstrahlte.« Als Nathens Stimme jetzt schwieg, ertappte sich der Vertreter der Times dabei, daß er nach draußen lauschte, ob nicht schon das Fauchen von Raketendü sen näher käme. Der Reporter der Post fragte: »Wie sind Sie mit dem Raumschiff in Kontakt gekommen?« »Ich nahm den Film Le sacre du printemps, die be kannte Gemeinschaftsproduktion von Disney und Strawinsky, mit einer Fernsehkamera auf, übertrug ihn auf ein Fernsehband, verdichtete ihn zu einem kurzen Impuls und sendete diesen in die gleiche Richtung, aus der wir die Fernsehspiele aus dem Weltraum empfangen hatten. Es war lediglich ein Versuch. Ich wußte, daß es Jahre dauern würde, bis
unser Strahl bei ihnen eintraf, wenn er sein Ziel über haupt erreichte. Ich dachte mir, es würde ihnen auf alle Fälle Spaß machen, ihr Programm um eine neue Nummer zu bereichern. Doch zwei Wochen später, als wir eine neue Serie von empfangenen Kurzimpul sen langsam abspielten, fanden wir etwas, das offen sichtlich eine Antwort auf unsere Sendung sein sollte. Wir sahen ein großes Publikum, das sich unseren Film ansah und nach der Vorführung wartend vor der leeren Leinwand sitzen blieb. Der Empfang war außerordentlich stark und klar. Wir waren mit einem Raumschiff in Verbindung getreten. Sie gaben uns zu verstehen, daß unser Film ihnen gefallen hatte und daß sie weitere Sendungen von uns erwarteten.« Er unterbrach sich, lächelte und fuhr dann fort: »Sie können sie selbst sehen. Drüben am Ende der Halle, wo die Sprachexperten an den automatischen Über setzungsmaschinen arbeiten.« Der Offizier runzelte die Stirn und räusperte sich. Der schlanke junge Mann wandte sich ihm zu: »Es bestehen doch keine Sicherheitsbedenken, daß die Herren die Sendungen sehen? Vielleicht können Sie sie ihnen zeigen.« Dann sagte er lächelnd zu den Re portern: »Es ist dort hinten am Ende der Halle. Man wird Ihnen Bescheid sagen, sobald das Raumschiff sich nähert.« Das Interview war zu Ende. Der schwarzhaarige,
nervöse junge Mann drehte sich um und ging zu sei nem Gerät hinüber, während der Offizier seine Ein wände herunterschluckte und die Journalisten mit finsterem Gesicht zu einer Tür am anderen Ende der Halle führte. Er öffnete die Tür, und sie tasteten sich zwischen leeren Klappsesseln hindurch in einen verdunkelten Raum, an dessen Stirnwand ein großer Bildschirm flimmerte. Die Tür schloß sich hinter ihnen, und sie befanden sich in völliger Finsternis. Während die anderen Reporter um ihn herum scharrend und stolpernd Platz nahmen, blieb der Ver treter der Times wie gebannt stehen beim Anblick dessen, was er auf dem Bildschirm sah. Ihm war, als habe er geschlafen und sei in einer anderen Welt wiedererwacht. Die leuchtenden Farben des doppelten Bildes schienen ihm die einzige Wirklichkeit in dem ver dunkelten Raum zu sein. Obwohl die Gestalten leicht verzerrt waren, konnte er sofort erkennen, daß ihre Formen und ihre Bewegungen nicht irdisch, nicht menschlich waren. Was er sah, waren die Fremdlinge. Sein erster Eindruck war der von je zwei verkleide ten Menschen, die sich auf den beiden Bildhälften im gleichen Rhythmus wie tanzende Krüppel bewegten. Schnell, als fürchtete er, die Bilder könnten ver
schwinden, griff er in seine Brusttasche, nahm seine Polarisationsbrille heraus, stellte die beiden Linsen in den richtigen Winkel zueinander und setzte sie auf. Sofort schoben sich die Doppelschemen zu einer einzigen scharf umrissenen Gestalt zusammen, und der Bildschirm wurde zu einem großen Fenster, hin ter dem sich ihm ein nahes, täuschend wirklichkeits ähnliches Bild von so natürlicher plastischer Tiefe und Farbe bot, als schaute er durch eine Scheibe in einen Raum hinein. Es war ein Zimmer mit grauen Wänden. Die beiden Gestalten unterhielten sich in verhaltener Erregung. Der größere der beiden Männer, der eine grüne Tuni ka trug, schloß jetzt kurz seine purpurfarbenen Au gen, als der andere etwas zu ihm sagte, lächelte dann grimmig und machte mit den Händen eine Bewe gung, als schöbe er etwas weit von sich. Es sah sehr melodramatisch aus. Der zweite, kleinere Mann, der gelbgrüne Augen hatte, trat näher an ihn heran und sprach mit leiser Stimme noch schneller auf ihn ein. Er hörte ihn un bewegt an, ohne ihn zu unterbrechen. Offensichtlich schlug der andere ihm irgendeinen verräterischen Handel vor, und er schien geneigt zu sein, sich überreden zu lassen. Der Vertreter der Ti mes griff hinter sich nach einem Stuhl und setzte sich. Nach dem, was er da sah, schienen Mimik und Gestik
im ganzen Weltraum gleich zu sein. Dieses Vorbeu gen mußte Spannung und Verlangen ausdrücken, dieses Zurückweichen Ablehnung und Zweifel. Diese beiden Schauspieler hätten auf einer irdischen Bühne auftreten können. Die Szene wechselte mehrere Male hintereinander, zeigte einen langen Flur, der durch das Raumschiff führte, dann einen Leseraum, in dem mehrere Personen um den Mann mit der grünen Tu nika herumsaßen und mit ihm diskutierten, und kei nen Augenblick war es unklar, was geschah und wie sie fühlten. Sie sprachen eine Sprache mit vielen kurzen Voka len und starken Tonverschiebungen, fast singend. Ih re Gesten waren sichtlich erregt, wenn sie sprachen, doch nicht schnell und heftig, sondern seltsam schleppend, aber sehr eindringlich. Er verstand die Sprache nicht und konzentrierte sich deshalb auf ihre Bewegungen, die ihm immer sonderbarer erschienen, besonders ihre Art zu gehen. Er verzichtete darauf, der Handlung zu folgen, und widmete seine ganze Aufmerksamkeit der physi schen Erscheinung der Fremdlinge. Sie hatten alle braunes, kurzgeschnittenes Haar. Die Augenfarbe va riierte, war aber sehr deutlich zu erkennen, weil die Iris sehr groß war. Die Augen selbst waren kreisrund und saßen sehr weit auseinander in den länglichen, am Kinn spitz zulaufenden, hellbraunen Gesichtern.
Nacken und Schultern waren sehr muskulös und ver rieten eine für Menschen sehr ungewöhnliche Kraft, doch die Handgelenke waren schmal und die Finger sehr lang und dünn und sehr zart. Sie schienen mehr als fünf Finger zu haben. Seit er hereingekommen war, summte in seiner Nähe eine Maschine, und von Zeit zu Zeit hörte er ei ne Stimme murmeln. Er brach seinen Versuch, die Finger zu zählen, ab und sah sich um. Hinter ihm saß ein junger Mann mit einem Kopfhörer über den Oh ren und lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit, den Blick auf das Bild gerichtet. Neben ihm stand ein großer, stromlinienförmiger Kasten. Von dem Schirm kamen Laute der fremden Sprache. Der Mann warf blitzschnell einen Hebel an dem Kasten herum, mur melte ein Wort in ein kleines Handmikrofon und schaltete den Hebel wieder zurück. Er erinnerte den Vertreter der Times an die Simul tan-Dolmetscher in den Sitzungen der Vereinten Na tionen. Der Apparat, der in dem Kasten summte, war gewiß die automatische Sprechübersetzungsmaschi ne, von der Mr. Nathen gesprochen hatte, und der junge Mann mit dem Kopfhörer ein Sprachforscher, der sein Vokabularium ergänzte. In der Nähe des Bildschirmes saßen noch zwei weitere Linguisten, die eifrig Notizen machten. Der Reporter dachte an den Senator, der draußen
in der Halle auf und ab ging und seine Begrüßungsrede memorierte. Diese Rede würde nicht nur eine leere, pompöse Geste für die Gäste aus dem Welt raum sein, sondern elektromatisch übersetzt und von ihnen verstanden werden. Auf der Stereo-Bildscheibe unterhielt sich jetzt der große Mann in der grünen Tunika, anscheinend der Held des Dramas, mit einem grau uniformierten Pilo ten. Sie standen beide im hell erleuchteten, kanarien gelben Kontrollraum eines Raumschiffes. Der Times-Vertreter versuchte, den Faden der Handlung wiederaufzunehmen. Er fühlte, daß er an dem Schicksal des Helden Anteil nahm. Dies war zweifellos eine Wirkung großer Darstellungskunst, die ja immer danach strebt, die Sympathie des Publi kums zu gewinnen. Dieser Schauspieler war gewiß ein berühmter Star auf seinem Heimatplaneten. Seine beherrschte innere Erregung verriet er durch kleine unwillkürliche Bewegungen der Hände, durch zu schnelles Antworten auf die Fragen seines unifor mierten Gesprächspartners, der sich schließlich um drehte, sich über eine von roten leuchtenden Punkten übersäte Karte beugte und auf einige Knöpfe drückte. Seine Bewegungen hatten die gleiche fließende, schleppende Langsamkeit wie die der anderen Ak teure. Es war, als bewegten sie sich im Wasser oder im Zeitlupentempo. Der Mann in der grünen Tunika
hielt jetzt seinen Blick auf einen Schalter gerichtet, der in eine rote Tafel eingelassen war. Er näherte sich die sem Schalter immer mehr, sprach jetzt einige an scheinend beiläufige Worte zu dem Uniformierten, während eine Begleitmusik, offenbar ausgeführt von Saiteninstrumenten, aufklang und zu hellen, span nungsgeladenen Akkorden anschwoll. Jetzt zeigte das Bild eine Großaufnahme von dem Gesicht des Mannes, der auf den Schalter starrte, und der Journalist sah, daß seine Ohren aus glatten, halb kreisförmigen Muscheln bestanden, in denen keine Ohrlöcher sichtbar waren. Die Stimme des Unifor mierten, der ihm immer noch den Rücken zukehrte, antwortete kurz und sachlich. Beiläufige Worte spre chend ging der Mann in der grünen Tunika immer näher an den Schalter heran, der immer größer wurde und fast das ganze Bild ausfüllte. Jetzt kam auch sei ne Hand ins Bild, schoß plötzlich vor und umklam merte den Schalthebel ... Im gleichen Augenblick ertönte ein scharfer Knall, die Hand öffnete sich langsam und löste sich zuckend von dem Schalthebel. Die Kamera fuhr zurück. Man sah den Mann in der grünen Tunika sich umdrehen. Mit seiner Wendung schwenkte auch die Kamera und nahm den Uniformierten mit ins Bild, der, eine Pisto le in der Hand, höhnisch lächelnd zusah, wie der an dere schwankte und zusammenbrach.
Dieses Bild des triumphierend auf sein Opfer hin unterschauenden Uniformierten blieb stehen, und die Musik setzte zu einem apotheosenhaften Finale an. Und für einen kurzen Augenblick verwandelten sich sämtliche Farben des Bildes in ihre Konträrfarben. Es war eine jener technischen Pannen, die beim Farb fernsehen nicht selten vorkamen, doch immer wieder eine bestürzende, gespenstische Wirkung auf den Be schauer ausübten. Ein grüner Mann stand jetzt in ei nem violetten Kontrollraum und sah hinunter auf ei nen grünen Mann in einer roten Tunika. Es dauerte kaum eine Sekunde, doch der Journalist erschauerte und zitterte noch, als die Farben wieder normal ge worden waren. Ein anderer Uniformierter kam in den Raum, nahm dem Mörder die Pistole aus der Hand, und dieser sagte mit gepreßter Stimme einige ver ächtliche Worte, während die Musik immer lauter wurde und seine Stimme überdeckte. Dann wurde das Bild allmählich blasser, als ob ein grauer Nebel es verhüllte, und gleichzeitig verebbte und verklang die Musik. Im Dunkel klatschte jemand Beifall. Der junge Mann neben dem Vertreter der Times schob seinen Kopfhörer von den Ohren und sagte: »Ich kann nichts mehr herausholen. Wünscht einer von euch eine Wiederholung?« Einer der Linguisten, die in der Nähe des Bild
schirms saßen, antwortete: »Ich denke, diesen Streifen haben wir vollkommen ausgewertet. Spielen wir noch einmal das Band, auf dem Nathen und der Raumschiff-Funker versuchen, ihre CQ-Rufe zu identifizie ren und ihre Strahlrichtung genauer zu regulieren. Ich habe das Gefühl, der Bursche kann uns noch eine Menge Fachausdrücke liefern.« Der junge Mann hantierte eine Weile an seinem Kasten, und dann erschien wieder ein Bild auf dem Schirm. Es zeigte ein größeres Publikum, das vor einem Bildschirm saß. Dazu ertönten die Klänge einer Sym phonie, die dem Vertreter der Times bekannt vorka men. »Sie sind ganz verrückt nach Strawinsky und Mo zart«, bemerkte der Linguist, der neben ihm saß, während er seinen Kopfhörer wieder über die Ohren schob. »Gershwin können sie anscheinend nicht aus stehen. Begreifen sie das?« Dann wandte er sich wie der dem Bildschirm zu. Der Post-Reporter, der vor dem Times-Vertreter saß, drehte sich um und sagte: »Ulkig, wie ähnlich sie uns sind.« Er machte sich Notizen für seinen Bericht, den er telefonisch an seine Redaktion durchgeben würde. »Was für eine Haarfarbe hatte noch der Bursche mit dem grünen Nachthemd?« »Ich habe nicht darauf geachtet.« Er überlegte, ob
er den Reporter nicht daran erinnern sollte, daß Nathen gesagt hatte, er habe die Farben mehr oder weniger willkürlich ausgewählt und nur darauf ge achtet, daß sie ein möglichst plausibles Bild ergaben. Wenn die Gäste ankamen, würde es sich vielleicht herausstellen, daß sie von hellgrüner Hautfarbe wa ren und blaue Haare hatten. Nur die Helligkeitsun terschiede der Farben auf dem Bild waren sicher, nur ihre Ähnlichkeiten und Kontraste. Von dem Bildschirm kamen jetzt wieder die Laute der fremden Sprache. Die Stimmen dieser Rasse klangen im Durchschnitt tiefer als die von Menschen. Er liebte tiefe Stimmen. Konnte er das schreiben? Nein, auch hiermit stimmte etwas nicht. Wie hatte Nathen die Tonhöhe festgelegt? Hatte er den Ton ge nommen, wie er ankam, oder hatte er ihn moduliert? Wahrscheinlich das letztere. Es war sicherer, anzu nehmen, daß Nathen, wie er selbst, eine Vorliebe für tiefe Stimmen hatte. Während er hier im Dunkeln saß und sich diese Fragen stellte, spürte er, daß er nun das gleiche Un behagen empfand, das er bei Nathen beobachtet hat te, und erinnerte sich, wie sehr dieses Unbehagen, das nur aus Unsicherheit und Zweifel entsprungen sein konnte, geheimer Furcht geglichen hatte. »Ich verstehe nicht, warum er sich die Umstände gemacht hat, diese ganzen Fernsehspiele aufzuneh
men, anstatt einfach in Funkverkehr mit ihnen zu tre ten«, bemerkte der Kollege von den News. »Die Sa chen sind gut, aber was soll das?« »Vielleicht machen sie es nur, um die Sprache zu erlernen«, meinte der Mann vom Herald. Auf dem Schirm war jetzt ein zweifellos ungestelltes, natürliches Bild zu sehen, das einen jungen Fremdling hinter einem Tisch mit vielen Apparaten zeigte. Er wandte sich dem Beschauer zu, winkte wie zum Will kommen und formte den Mund zu einem komischen Rund, das der Times-Vertreter jetzt als ihr Äquivalent für Lächeln zu erkennen glaubte. Dann begann er, an den Apparaten zu manipulieren und dabei mit über deutlichen, fast linkischen Gesten und sorgfältig ge sprochenen Worten Erklärungen zu geben. Der Mann von der Times erhob sich leise, trat aus dem verdunkelten Raum hinaus auf den hellerleuch teten Korridor, klappte nachdenklich seine Stereobril le zusammen, steckte sie ein und ging den gleichen Weg zurück, den er gekommen war. Niemand hielt ihn an. Die Sicherheitsvorschriften waren nicht sehr streng. Die Schweigsamkeit der Ar mee schien mehr eine Sache der Gewohnheit, eine Auswirkung der Tatsache zu sein, daß die Angele genheit ihren Ursprung beim Geheimdienst gehabt hatte, als eine konsequente Politik, die Landung ge heim halten zu wollen.
Die Haupthalle war jetzt belebter, als er sie verlas sen hatte. Die Bedienungsmannschaften der Fernseh kameras und der Radiomikrofone standen bei ihren Geräten. Der Senator hatte sich in einen Sessel gesetzt und las. In der äußersten Ecke des Raumes saßen acht Männer im Halbkreis auf Stühlen und unterhielten sich mit leidenschaftslosem Ernst. Der Times-Vertreter entdeckte unter ihnen einige, die ihm persönlich be kannt waren, berühmte Wissenschaftler, Spezialisten der Feldtheorie. Ein Satzfetzen erreichte sein Ohr: »... im Verhältnis zu den universalen Konstanten wie zum Beispiel ...« Sie sprachen wahrscheinlich über die Wege zur Über tragung von Formeln aus einer Mathematik in eine andere zum Zwecke eines raschen Austauschs von Informationen. Sie taten gut daran, sich mit diesem Problem zu be schäftigen angesichts der Flut von neuen Einsichten, die ihnen das Weltbild der Fremdlinge, falls sie es be griffen, bringen konnte. Er wäre gern zu ihnen hinü bergegangen, um zuzuhören, doch blieb nur noch wenig Zeit bis zur Ankunft des Raumschiffes, und vorher wollte er noch eine Frage stellen. Der zusam mengebastelte Empfänger, der auf das Sendeband des kreisenden Schiffes eingestellt war, summte im mer noch, und der junge Mann, der diese ganze Ge schichte ins Rollen gebracht hatte, saß auf der Kante
des Rednerpodiums, das Kinn in eine Hand gestützt. Er blickte nicht auf, als der Vertreter der Times sich ihm näherte, doch war es nicht Unhöflichkeit, son dern Nachdenklichkeit. Der Journalist setzte sich ebenfalls auf die Kante des Podiums, dicht neben ihn, und zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche. Da fiel ihm ein, daß wegen der bald beginnenden Fernsehaufnahme das Rauchen verboten war, und er steckte die Zigaretten wieder ein, warf einen Blick auf die großen Scheiben, an de nen der nachlassende Regen nur noch träge herunter lief, und sagte: »Etwas nicht in Ordnung?« Nathen hob den Kopf und lächelte freundlich. »Wie meinen Sie das?« fragte er. »Ich habe so ein komisches Gefühl«, antwortete der Mann von der Times. »Alles geht mir zu glatt. Wir nehmen zu viele Dinge als selbstverständlich hin.« Nathen zeigte Interesse. »Zum Beispiel?« »Nun ... die Art, wie sie sich bewegen ...« Nathen sah ihn erstaunt an. »Darüber habe ich mir auch schon den Kopf zer brochen.« »Sind Sie sicher, daß Sie die Geschwindigkeit rich tig eingestellt haben?« Nathen spreizte die Finger und betrachtete sie nachdenklich. »Ich weiß nicht. Wenn ich das Band schneller laufen lasse, dann rennen sie, und man muß sich fragen, warum ihre Kleider nicht
hinter ihnen herflattern, warum die Türen so heftig zuschlagen, ohne daß man sie knallen hört, und war um die Dinge so schnell fallen. Wenn ich die Ge schwindigkeit verringere, dann scheinen sie alle zu schwimmen.« Er sah den Vertreter der Times von der Seite an und sagte: »Entschuldigen Sie, ich habe Ihren Namen nicht richtig verstanden bei der Vorstellung.« Ein Junge vom Lande, dachte der Journalist. Er streckte die Hand aus und sagte: »Jakob Luke, von der Times.« Nathen nahm überrascht die dargebotene Hand, drückte sie kräftig und sagte: »Oh, Sie sind der Re dakteur der Wissenschaftlichen Beilage. Ich lese sie regelmäßig. Sehr erfreut, Sie kennenzulernen.« »Ganz meinerseits!« Jakob Luke lächelte und fuhr ernst fort: »Haben Sie dieses Problem einmal wissen schaftlich überprüft, ich meine an Hand der physika lischen Gesetze und mathematischen Formeln?« Er zog einen Bleistift aus der Tasche. »Offensichtlich stimmt irgend etwas nicht in unserer Beurteilung des Verhältnisses zwischen ihrem Gewicht, ihrer Ge schwindigkeit und ihrer Bewegung. Vielleicht ist die Erklärung ganz einfach, wie z.B. eine geringere Schwerkraft an Bord des Raumschiffes, die sie zwingt, magnetische Schuhe zu tragen. Vielleicht schweben sie wirklich.« »Wozu sich darüber den Kopf zerbrechen«, unter
brach ihn Nathen. »Ich sehe keinen Grund, das jetzt herausfinden zu wollen.« Er lachte und strich nervös sein schwarzes Haar glatt. »In zwanzig Minuten wer den wir sie sehen.« »Werden wir?« fragte Luke gedehnt. Nathen antwortete nicht sofort. Man hörte das Ra scheln von Papier, als der Senator sein Magazin um blätterte, und die Stimmen der Wissenschaftler vom anderen Ende des Raumes. Wieder strich der junge Mann über seine glatten Haare, als fielen sie ihm in die Augen und behinder ten ihn beim Sehen, lachte dann plötzlich und rief aus: »Sicher werden wir sie sehen!« Und hastig sprach er weiter: »Warum nicht? Wo doch die Regierung wartet, um sie willkommen zu heißen, wo die ganze Armee ausgerückt ist und hinter den Bergen lauert und es von Journalisten wimmelt und alles bereit ist, ihre Landung über Fernsehen und Radio in die Welt hinauszufunken. Der Präsident selbst wartet in Wa shington und wird mir die Hand schütteln ...« Ohne von neuem Luft zu holen, kam er mit der Wahrheit heraus. Er sagte: »Verdammt, nein! Sie werden nicht lan den. Irgendwo steckt ein Fehler. Irgend etwas stimmt nicht. Ich hätte es den hohen Tieren gestern sagen müssen, als ich es entdeckte. Ich weiß nicht, warum
ich nichts gesagt habe. Wahrscheinlich hatte ich Angst. Und jetzt hab ich erst recht nicht mehr den Mut.« Er packte Luke beim Ärmel. »Sehen Sie, ich weiß nicht, was ...« Ein grünes Licht leuchtete an dem Sende- und Empfangsgerät auf. Nathen sah nicht hin, doch hörte er auf zu reden. Aus dem Lautsprecher ertönten Worte der Sprache, die Luke soeben in dem Vorführraum gehört hatte. Der Senator blickte auf, zupfte nervös an seiner Kra watte. Die Stimme verstummte. Nathen wandte seinen Blick zu dem Lautsprecher. Seine Sorgen schienen mit einem Schlag verflogen. »Was war das?« fragte ihn Luke. »Er sagt, sie hätten ihre Geschwindigkeit so weit verringert, daß sie in die Erdatmosphäre eindringen könnten. Ich denke, in fünf bis zehn Minuten werden sie hier sein. Das war Bud. Er ist ganz aus dem Häu schen. Er fluchte und meinte, wir lebten auf einem verdammt finsteren Planeten.« Nathen lächelte. »Er macht Witze.« Jakob Luke sah ihn verdutzt an. »Finster? Was kann er damit meinen? Es kann im Augenblick nicht über einem so großen Bereich der Erdoberfläche reg nen.« Draußen hatte der Regen fast aufgehört, und ein hellblauer Himmel leuchtete zwischen den aufge
rissenen Wolkenbänken. Krampfhaft suchte er nach einer Erklärung. »Vielleicht versuchen sie, auf der Venus zu landen.« Der Gedanke war absurd. Das Raumschiff folgte Nathens Sendestrahl. Es konnte die Erde nicht verfehlen. Dieser »Bud« mußte einen Witz gemacht haben. Das grüne Licht des Empfängers leuchtete wieder auf. Sie schwiegen und warteten, daß die Sendung auf Band aufgenommen und verlangsamt wiederge geben würde. Plötzlich erschien auf dem Kathodenschirm ein Bild. Es zeigte den jungen Mann im Raum schiff, an seinem Apparatetisch sitzend und dem Be schauer den Rücken zukehrend. Er beobachtete einen Bildschirm, der neben ihm stand und auf dem eine große, dunkle Ebene mit rasender Geschwindigkeit näher kam. Während das Schiff auf diese Ebene zu stürzte, verwandelte sich der Eindruck der Festigkeit in einen kochenden Strudel dunkler Wolken, die sich immer mehr verdichteten und schließlich den Bild schirm wie eine schwarze Wand verdunkelten. Der junge Raumschiff-Funker drehte sich um, wandte sein Gesicht dem Besucher zu, sprach einige Worte, formte mit seinen Lippen das O eines Lächelns, legte einen Hebel um, und der Bildschirm wurde grau. Nathens Stimme war plötzlich tonlos und gezwun gen. »Er sagte so etwas wie ... wir sollten die Becher füllen, sie wären gleich hier.«
»Die Atmosphäre sah nicht danach aus«, sagte Lu ke aufs Geratewohl, wissend, daß er etwas sagte, das zu offensichtlich war, um erwähnt zu werden. »Das war keine Erdatmosphäre.« Leute traten heran. »Was haben sie gesagt?« »Sie sind in die Erdatmosphäre eingedrungen. Werden in fünf oder zehn Minuten landen«, erklärte ihnen Nathen. Eine Welle höchster Erregung lief durch die Halle. Die Kameramänner begannen, ihre Apparate noch mals zu überprüfen, und schalteten die Flutlichter ein. Die Wissenschaftler erhoben sich, traten zu dem Fenster, ohne jedoch ihre Unterhaltung zu unterbre chen. Die Reporter strömten aus dem Vorführraum zurück in die Halle, drängten sich ebenfalls an das Fenster, um das große Ereignis verfolgen zu können. Hinter ihnen rollten die drei Linguisten ihre elektro matische Übersetzungsmaschine herein und schlossen sie an das Tonübertragungssystem an. »Landen? Wo denn?« fragte Luke den jungen Mann brutal. »Warum unternehmen Sie nichts?« »Sagen Sie mir was, und ich werde es tun«, antwor tete Nathen ruhig. Es war kein Sarkasmus. Jakob Lu ke warf einen Seitenblick in das bleiche, angespannte Gesicht des jungen Mannes und mäßigte seinen Ton. »Können Sie nicht mit ihnen in Verbindung treten?« »Nicht, während sie landen.«
»Was nun?« fragte Luke, während er sein Zigaret tenpäckchen aus der Tasche zog. Sofort erinnerte er sich aber des Rauchverbots und steckte es wieder ein. »Wir können nur warten«, erwiderte Nathen, setzte sich auf den Rand des Podiums, stützte einen Ellbo gen auf ein Knie und das Kinn in die Hand. Sie warteten. Und wie sie warteten alle in der Halle Anwesen den. Keiner sprach mehr. Ein Kahlkopf in der Gruppe der Wissenschaftler kaute an seinen Fingernägeln. Ein anderer polierte geistesabwesend seine Brillen gläser, hielt sie gegen das Licht, setzte sie auf, um sie im nächsten Moment wieder abzunehmen und von neuem zu polieren. Die Fernseh- und Rundfunktech niker überprüften immer wieder ihre Apparate, die längst eingestellt und überprüft waren. Es näherte sich einer der größten Augenblicke der Menschheitsgeschichte, und sie versuchten alle, diese Tatsache zu vergessen und sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren, wie es der Job eines guten Spezialisten verlangte. Nach einer Weile, die ihm wie eine Ewigkeit er schienen war, sah Luke auf seine Uhr. Drei Minuten waren vergangen. Er versuchte, den Atem anzuhal ten, lauschte hinaus nach einem fernen Donnern sich nähernder Raketen. Kein Laut war zu hören. Die Sonne trat hinter den Wolken hervor und be
leuchtete das Flugfeld wie ein großer Scheinwerfer eine leere Bühne. Plötzlich flammte wieder das grüne Licht des Emp fängers auf und zeigte an, daß ein neuer Impuls ein gegangen war. Er wurde auf das Tonband aufge nommen, langsam abgespielt und auf den Lautspre cher übertragen. Ein Klicken war zu hören, und dann tönte eine laute Stimme in die Spannung des Raumes. Der Bildschirm blieb grau, nur Buds Stimme sagte einige Worte in seiner Sprache. Dann klickte wieder der Lautsprecher, und das grüne Licht ging aus. Als anzunehmen war, daß nichts mehr folgen und auch nichts über das soeben Gesagte bekanntgegeben würde, wandten sich die Menschen in der Halle wie der den Fenstern zu, und ein Murmeln setzte ein. Jemand machte einen Scherz und lachte, als einzi ger. Einer der Linguisten, die vor dem Lautsprecher standen, warf jetzt einen verwirrten Blick durch das Fenster auf die immer größer werdenden Flecken blauen Himmels. Er hatte verstanden. »Es ist dunkel«, sagte der schmächtige Dechiffreur des Geheimdienstes mit leiser Stimme zu dem wis senschaftlichen Redakteur der Times. »Eure Atmosphäre ist dick. So hat Bud wörtlich ge sagt.« Weitere drei Minuten vergingen. Luke erwischte
sich, daß er dabei war, sich eine Zigarette anzuzün den, fluchte innerlich, blies das Streichholz aus und schob die Zigarette zurück in das Päckchen. Und wieder lauschte er auf das Geräusch von Raketen. Der Zeitpunkt der Landung war da, doch er hörte nichts. Das grüne Licht leuchtete auf. Eine Botschaft ging ein. Er sprang auf. Und da stand auch schon Nathen neben ihm. Die Stimme Buds sprach nur einige weni ge Worte und schwieg. Luke hatte die Worte nicht verstanden, aber er wußte, was sie bedeuteten. »Wir sind gelandet«, flüsterte Nathen vor sich hin. Der Wind blies über die hellen Betonstreifen und den dampfenden Boden des leeren Flugplatzes, hielt das naßschimmernde Gras in wallender Bewegung. Die Menschen starrten angestrengt hinaus, warteten darauf, das Brausen der Raketen zu hören und den silbernen Rumpf eines Raumschiffes am Himmel auf tauchen zu sehen. Nathen setzte sich an den Sender, schaltete ihn ein, um ihn aufzuwärmen, legte Hebel um, drehte an Knöpfen. Jakob Luke trat unauffällig näher und stell te sich hinter ihn, hoffend, ihm behilflich sein zu kön nen. Nathen wandte sich halb um, sah zu ihm mit ei nem leeren Blick auf, griff dann nach den beiden Kopfhörern, die an der Seitenwand der elektromati
schen Übersetzungsmaschine hingen, stöpselte sie beide ein und reichte einen von ihnen über die Schul ter dem Redakteur der Times. Jetzt ertönte wieder die Stimme im Lautsprecher. Schnell stülpte Luke den Kopfhörer über die Oh ren. Er glaubte zu spüren, daß Buds Stimme zitterte. Für einen Moment sprach nur Bud in seiner Sprache, und dann hörte er in den Muscheln des Hörers, sehr fern aber klar, die Stimme eines der Linguisten ein Wort auf Englisch sagen. Es folgte ein mechanisches Klicken und wieder ein englisches Wort, gesprochen von einem andern der Linguisten, und jetzt kam aus dem Lautsprecher noch eine andere Stimme als die Buds, sprach einzelne, kaum hörbare Worte, die wie ein ins Englische übersetztes Echo dessen klangen, was Bud sagte, unwahrscheinliche, aber unmißver ständliche Worte. »Radarschirm zeigt keine Gebäude und keine Spu ren von Zivilisation in unserer Nähe. Die Atmosphäre um uns herum ist dick wie Leim. Ungeheurer Gas druck, geringe Schwerkraft, überhaupt kein Licht. So haben Sie es uns nicht beschrieben. Wo sind Sie, Joe? Dies ist doch keine Falle?« Bud zögerte, wurde aber von einer tiefen Befehlsstimme angespornt und stieß hervor: »Wenn es eine Falle ist, schlagen wir sofort zu rück.«
Der Linguist erstarrte, wurde blaß, winkte seine Kollegen zu sich und flüsterte ihnen etwas zu. Mit ebenso unverhohlener wie ungerechtfertigter Feindseligkeit blickte Joseph Nathen zu ihnen hin über, während er nach dem Handmikrofon griff und es an die Übersetzungsmaschine anschloß. »Hier spricht Joe«, sagte er mit ruhiger Stimme in klarem Englisch, den Mund ganz nahe an der Sprechmu schel. »Es ist keine Falle. Wir wissen nicht, wo Sie sind. Ich versuche jetzt, die Richtung festzustellen auf Grund Ihrer Impulsbahn. Beschreiben Sie uns, wenn möglich, Ihre Umgebung.« Unmittelbar neben ihnen überstrahlten die Flutlich ter grell und stetig den Raum um das Rednerpodium, von dem aus die Besucher aus dem Weltraum auf der Erde begrüßt werden sollten. Die Fernsehgesellschaf ten der ganzen Erde waren aufgefordert worden, ihre Programme zu unterbrechen und ihre Kanäle freizu machen für eine epochemachende Sondersendung. In der großen Halle standen die Menschen in stummer Erwartung des Rauschens der Raumschiffraketen. Was nach dem nächsten Aufleuchten des grünen Lichtes aus dem Lautsprecher kam, war kaum hör bar. Es war nur ein Kratzen, unterbrochen von ein zelnen Worten einer gedämpften Stimme, die bald wieder verstummte. In den Kopfhörern begann die Übersetzung.
»Haben versucht ... es scheint ... reparieren.« Und plötzlich war die Stimme laut und klar. »Wir können nicht feststellen, ob der Hilfsempfän ger auch gestört ist. Werden es ausprobieren. Viel leicht können wir Sie das nächste Mal klar empfan gen. Wo ist der Landeplatz? Ich wiederhole: Wo ist der Landeplatz? Geben Sie es noch einmal genau durch! Wo sind Sie?« Nathen legte das Handmikro fon weg, drehte an einer Scheibe des Tonbandgerätes, legte einen Schalter um und sagte dabei über die Schulter zu Luke: »Ich gebe jetzt vom Band aus durch, was ich das letzte Mal über den Landeplatz gesagt habe.« Dann saß er da in unnatürlicher Starr heit, den Kopf noch halb nach hinten gewandt, als sei ihm plötzlich ein Gedanke gekommen, den er nicht zu Ende zu denken wagte. Wieder leuchtete das grüne Licht auf, das Ton bandgerät schaltete sich mit einem Klicken automa tisch aus, und auf dem Schirm erschien im verlang samten Rückspiel Buds Gesicht, und im Kopfhörer er tönten seine übersetzten Worte. »Wir haben einige wenige Worte gehört, Joe, und dann setzte der Empfänger wieder aus. Wir stellen einen Sehschirm auf lange Wellen um, die die dicke Atmosphäre durchdringen und die wir in sichtbares Licht umwandeln können. Wir werden bald in der Lage sein, nach draußen zu sehen. Der Ingenieur sagt,
es sei etwas nicht in Ordnung mit den Heckraketen, und der Kapitän hat mich beauftragt, einen Hilferuf an unsere nächste Weltraumstation zu schicken.« Er rundete die Lippen zu einem lächelnden O. »Die Bot schaft wird sie erst in einigen Jahren erreichen. Ich vertraue auf Sie, Joe, holen Sie uns hier heraus! Sie melden eben, daß der Sehschirm fertig ist. Halten Sie sich bereit!« Der Bildschirm wurde grau, und das grüne Licht erlosch. Jakob Luke dachte an den Weg, den der Hilferuf zurücklegen mußte, an die Schnelligkeit, mit der die soeben eingegangene Meldung aufgenommen und verlangsamt worden sein mußte, an die Zeit, die für die Umstellung eines Bildempfangsgerätes auf lange Wellen erforderlich war. »Sie arbeiten schnell.« Er überlegte kurz und fügte hinzu: »Etwas ist verkehrt mit dem Zeitfaktor. Voll kommen verkehrt. Sie arbeiten zu schnell.« Das grüne Licht kam wieder. Während die einge hende Botschaft aufgenommen und verlangsamt wurde, sagte Nathen, halb umgewandt, zu ihm: »Sie sind so nahe bei uns, daß unsere Sendestärke ihren Empfänger stört.« Wenn sich das Schiff bereits auf der Erde und in der Nähe befand, warum war es von totaler Finster nis umgeben? »Vielleicht sehen sie vermittels ultra
violetter Strahlen. In diesem Wellenbereich ist die Atmosphäre undurchsichtig«, sagte der Journalist ha stig, als im Lautsprecher wieder die Stimme des jun gen außerirdischen Funkers zu reden begann. Und jetzt zitterte diese Stimme wirklich. »Achtung! Achtung für die erbetene Beschreibung unserer Um gebung.« Gespannt beugten sie sich vor. Luke stellte sich im Geiste die Landkarte des Staates vor. »Ein Halbkreis von Felsenriffen am Horizont. Ein großer verschlammter See, in dem es von schwim menden Dingen wimmelt. Riesiges, fremdartiges, weißes Blätterwerk rund um das Schiff und unglaub lich große, breiige Ungeheuer, die übereinander her fallen und sich auffressen. Wir sind fast im See gelan det, genau auf der weichen Böschung. Der Schlamm kann das Gewicht des Schiffes nicht halten, und wir sinken. Der Ingenieur meint, wir könnten uns viel leicht freiblasen, aber die Strahlrohre sind mit Schlamm verstopft, und der Druck kann nach innen gehen und das Schiff zerreißen. Wann könnt ihr bei uns sein?« Der Times-Redakteur dachte an die Steinkohlenzeit. Nathen hatte offenbar etwas bemerkt, was ihm ent gangen war. »Wo sind sie?« fragte er ihn. Nathen deutete auf die Richtungsanzeiger der An
tenne. Luke folgte mit den Augen den gedachten zu einanderstrebenden Brennpunkten durch das Fenster hinaus auf das sonnenbeschienene Flugfeld, das leere Flugfeld mit seinen trocknenden Startbahnen und dem grünen, wogenden Gras, wo sich die beiden Li nien trafen. Doch wo sich die Linien trafen, war kein Schiff, war überhaupt nichts zu sehen! Die Furcht vor etwas Unbekanntem erfaßte ihn plötzlich. Das Raumschiff funkte wieder. »Wo sind Sie? Antworten Sie, wenn möglich! Wir sinken! Wo sind Sie?« Er sah, daß Nathen die Wahrheit erkannt hatte. »Was ist es?« fragte er ihn heiser. »Sind sie in einer anderen Dimension oder in der Vergangenheit oder in einer anderen Welt oder wo sonst!« Nathen lächelte bitter, und Jakob Luke dachte daran, daß der junge Mann einen Freund in dem Raumschiff hatte. »Ich vermute, daß sie von einem Planeten mit großer Schwerkraft und dünner Atmosphäre kommen, der in der Nähe eines blau-weißen Sterns rotiert. Dann müssen sie im Bereich der ultravioletten Strahlen se hen. Unsere Sonne ist abnorm klein und matt und gelb. Unsere Atmosphäre ist so dick, daß sie unsere ultravio letten Sehstrahlen absorbiert.« Er lachte grimmig. »Ja, wir leben auf einem heruntergekommenen Stern!«
»Wo sind Sie?« rief das fremde Raumschiff. »Schnell! Bitte! Wir sinken!« Der Dechiffreur erschrak über seine heftigen Worte und sah dem Journalisten mit einem entschuldigen den Blick in die Augen. »Wir werden sie retten«, sag te er mit ruhiger Stimme. »Sie hatten recht mit dem Zeitfaktor und damit, daß sie sich mit einer anderen Geschwindigkeit bewegen. Ich habe mich getäuscht. Die Sache mit den gerafften Impulsen und der Ver kürzung der Sendezeit zur Vermeidung von Strahl schwankungen war ein Irrtum.« »Wie meinen Sie das?« »Sie senden ohne Beschleunigung.« »Sie senden ohne ...?« Und plötzlich sah Jakob Luke im Geiste wieder den Fernsehfilm, den man ihnen soeben gezeigt hatte, doch die Darsteller bewegten sich im Tempo eines zeitraffenden Trickfilms, ihr Sprechen klang wie klei ne schrille Schreie, ihre Gesichter zuckten irrsinnig in der raschen Folge ihrer Worte und Gedanken, und die Türen schlugen knallend zu, wenn die Darsteller herein- oder hinaushuschten. Nein ... schneller, schneller ... er konnte es sich nicht so schnell vorstellen, wie es in Wirklichkeit sein mußte ... eine Stunde Gespräch und Handlung ver dichtet in einen einzigen kurzen Sendeimpuls, der in einem irdischen Empfänger nur als ein störendes Piep
gehört wurde. Nein, noch schneller! Noch schneller? ... Nein, das war nicht möglich. Die Materie konnte eine solche Beanspruchung des durch die abrupte Be schleunigung ins Ungeheure vermehrten Gewichts nicht aushalten. Es war Irrsinn. »Warum?« fragte er. »Wie?« Nathen lachte höhnisch auf und griff nach dem Mikrofon, »'rausholen sollen wir sie? Wo 'raus? Es gibt keinen See oder Fluß im Umkreis von hundert Meilen!« Ein Schauer der Unwirklichkeit überlief den wis senschaftlichen Redakteur der Times. Geistesabwe send griff er in seine Tasche nach den Zigaretten, während er versuchte zu begreifen, was geschehen war. »Wo sind sie denn? Warum können wir ihr Schiff nicht sehen?« Nathen schaltete das Mikrofon mit einer Geste ein, aus der die ganze Bitternis seiner Enttäuschung sprach. »Dazu werden wir ein Vergrößerungsglas brau chen.«
C. L. Moore
Keine Frau ward je geboren Sie war das lieblichste Geschöpf gewesen, dessen Bild je ein Sender ausgestrahlt hatte. Verbissen, aber ver geblich versuchte John Harris, einst ihr Manager, sich vorzustellen, wie schön sie gewesen war, als er in dem lautlosen Expreßlift zu dem Zimmer hinauf schoß, wo Deirdre auf ihn wartete. Seit der Theaterbrand diese Schönheit vor einem Jahr zerstört hatte, war es ihm unerträglich und nie möglich gewesen, sich ihrer bewußt zu erinnern, aus genommen, wenn er ihr Gesicht auf einem alten, halbzerfetzten Plakat wiedererkannte oder wenn während eines sentimentalen Erinnerungsprogramms ihr Bild plötzlich unerwartet auf dem Fernsehschirm erschien. Doch jetzt mußte er sich daran erinnern. Der Lift hielt, und die Tür glitt zur Seite. John Harris zö gerte. Er wußte, daß er nicht mehr zurück konnte, doch seine Muskeln schienen den Dienst zu verwei gern. Hilflos bemühte er sich, das vor sein geistiges Auge zurückzurufen, was er bis zu diesem Augen blick aus seinem Gedächtnis verbannt hatte: die mär chenhafte Grazie ihres wundervollen Tänzerinnen körpers, ihre etwas rauhe, aber doch so weiche Stim
me, die das Publikum der ganzen Welt fasziniert hat te. Nie hatte es eine schönere Frau gegeben. In früheren Zeiten hatte es auch beliebte und gefeier te Künstlerinnen gegeben, doch nie war es vor Deirdres Tagen möglich gewesen, daß die gesamte Menschheit einer schönen Frau ihr Herz zu Füßen legte. Nur weni ge, die nicht in den Hauptstädten wohnten, hatten die Sarah Bernhardt oder die sagenhafte Jersey Lily gese hen. Und die Bewunderung der Filmstars hatte ihr En de dort gefunden, wo es keine Kinotheater gab. Doch Deirdres Bild war auf Fernsehwellen in jedes Heim der zivilisierten Welt getragen worden und weit über die Grenzen der Zivilisation hinaus. Ihre kleinen herben Lieder waren in den Tiefen des Dschungels erklungen, und ihr rassiger Körper hatte seine betörenden Tänze in Wüstenzelten und Polarhütten getanzt. Die ganze Erde kannte jede geschmeidige Bewegung ihrer Glieder, je den Tonfall ihrer Stimme und den Glanz, den ihre Züge ausstrahlten, wenn sie lächelte. Und die ganze Erde hatte getrauert, als sie ein Op fer jenes Theaterbrandes wurde. Harris konnte an sie nur als eine Tote denken, ob wohl er wußte, was dort, in nächster Nähe, in einem Zimmer saß und auf ihn wartete. Ihm fielen die Wor te ein, die James Stephen vor langer Zeit geschrieben hatte über eine andere Deirdre, ebenso geliebt und unvergessen nach zweitausend Jahren.
In aller Iren Herz erwacht der gleiche Schmerz, wenn wir an Deirdre denken, unserer Sagen schönstes Kind, und an ihre Lippen, die zu Staub geworden sind. Keine Frau ward je geboren, die so schön wie Deirdre war, keiner Mutter Schoß, nachdem wir sie verloren, je ein schön'res Kind gebar. Dies stimmte nicht ganz, denn es hatte eine zweite Deirdre gegeben. Doch vielleicht war diese Deirdre, die vor einem Jahr starb, nicht schön gewesen im Sin ne der Vollkommenheit, und vielleicht auch jene an dere nicht; denn zu allen Zeiten haben Frauen mit vollkommenen Zügen auf dieser Erde gelebt, doch sie sind es nicht, deren die Legende sich erinnert. Deir dres Gesicht war weder klassisch ebenmäßig noch modisch hübsch gewesen, es hatte seinen Zauber, der es so unvergeßlich machte, einem inneren Licht ver dankt, das er nie auf eines andern Menschen Antlitz hatte leuchten sehen. Klagt nicht, Männer Irlands, jeder trage seinen Jam mer stumm in seines Herzens tiefster Kammer. Keinen wird sie jemals wieder lieben können,
keiner sie, die Schönste, seine Liebste nennen. Nie wird Deirdre wiederkehren, sie ging von uns auf immerdar, keinen Zauber gibt es, wiederzubeschwören, was einst Deirdre war. Nein, es war unmöglich. Es war Vermessenheit, es zu versuchen. Harris erkannte es in überwältigender Klarheit im gleichen Augenblick, da sein Finger den Klingelknopf berührte. Doch schon öffnete sich die Tür, und jetzt war es für ein Zurück zu spät. Vor ihm stand Maltzer. Seine Augen glänzten fieb rig hinter den scharfen Brillengläsern. Es war das Fie ber der Erwartung. Harris erschrak, als er sah, daß der Mann an allen Gliedern zitterte. Es war schwer für ihn, zu glauben, daß dies der selbstsichere und unerschütterliche Maltzer war, den er vor einem Jahr kennengelernt hatte. Und Furcht befiel ihn, daß Deir dre selbst, das Werk dieses Mannes, in einem ähnli chen Zustand sein könnte. Er zögerte, weiterzugehen. »So kommen Sie doch herein«, forderte Maltzer ihn auf mit einer Stimme, die heiser klang vor beherrsch ter Reizbarkeit, und ging voraus. Harris verzieh ihm die Unhöflichkeit. Er wußte, dieser Mann hatte gute Gründe, überreizt zu sein. Die Arbeit eines langen Jahres, davon den größten Teil in geheimer Abgeschlossenheit und Einsamkeit voll
bracht, mußte ihn physisch und psychisch dem Zu sammenbruch nahegebracht haben. Sie betraten einen kleinen Salon. »Wie geht es ihr?« fragte Harris mit scheuer Stim me. »Oh, ihr? ... Ihr geht es wunderbar«, erwiderte Maltzer mit einem Seitenblick auf eine Tür, hinter der, Harris wußte es jetzt, sie auf ihn wartete. »Nein, noch nicht«, sagte Maltzer schnell, als er hi neingehen wollte. »Es ist besser, wenn wir uns vorher unterhalten. Kommen Sie! Setzen wir uns! Drink ge fällig?« Harris nickte. Sie setzten sich. Maltzer schenkte ein, und Harris sah, daß seine Hand zitterte, als er die Ka raffe neigte. Dieser Mann war wirklich am Rande ei nes Zusammenbruchs, sagte sich Harris, und wieder befiel ihn die geheime Furcht, die jener ihm durch seine zuversichtlichen Worte schon genommen hatte. »Wie fühlt sie sich?« fragte er, während er nach seinem Glas griff. »Oh, sie fühlt sich wundervoll. Sie ist ihrer selbst so sicher, daß es mich erschreckt.« Maltzer stürzte sei nen Drink hinunter und schenkte sich einen zweiten ein. »Ist also doch etwas nicht in Ordnung mit ihr?« »Nein, nein! Das ist es nicht ... oder doch. Nun, ich weiß es selbst nicht. Ich bin nicht mehr sicher. Fast ein
Jahr habe ich auf diese Stunde hingearbeitet, doch jetzt, um die Wahrheit zu sagen, weiß ich nicht, ob es nicht zu früh ist. Ich bin einfach nicht mehr sicher.« Er sah Harris mit einem starren Blick an, der leer und ausdruckslos hinter den dicken Linsen erschien. Er war eine drahtige Erscheinung gewesen, als Harris ihn vor einem Jahr zum letztenmal gesehen hatte, doch inzwischen war er erschreckend mager gewor den, und Knochen und Muskeln zeichneten sich deutlich unter der krankhaft dunklen Gesichtshaut ab. »Ich war ihr die ganze Zeit zu nahe. Ich habe kei nen Abstand mehr. Ich kann in ihr nur noch mein Werk sehen. Und ich weiß nicht, ob dieses Werk reif ist, um von Ihnen oder jemandem anders angesehen zu werden.« »Denkt sie auch so?« »Ich habe nie eine Frau mit mehr Selbstvertrauen gesehen.« Maltzer trank, und das Glas klapperte ge gen seine Zähne. Dann warf er einen hastigen Blick auf die Tür des Nebenraumes und sagte: »Doch eine Panne in diesem Augenblick würde nichts anderes bedeuten als endgültiges Scheitern.« Harris nickte langsam. Er dachte an das Jahr mü hevollster Präzisionsarbeit, die diesen Augenblick vorbereitet hatte, an das ungeheure Wissen und die unendliche Geduld, die aufgewendet worden waren,
an die geheime Zusammenarbeit von Malern, Bild hauern, Technikern und Wissenschaftlern und an den Genius Maltzers, der sie alle beherrscht hatte wie ein Dirigent seine Musiker. Er dachte auch, mit einem Gefühl der Eifersucht, deren Torheit er sich bewußt war, an die seltsame, kalte, leidenschaftslose Vertraulichkeit, die zwischen Maltzer und Deirdre während dieses Jahres bestan den haben mußte, eine Vertraulichkeit, intimer, als sie je zwei Menschen zuvor verbunden hatte. In gewis sem Sinne würde die Deirdre, die er in wenigen Mi nuten sehen sollte, ein Stück von Maltzer sein und umgekehrt. Und schon glaubte er bei Maltzer kleine Eigenheiten des Tonfalls und der Bewegung zu ent decken, die ihn an Deirdre erinnerten. Waren die bei den nicht eine Art von Ehe eingegangen, seltsam und bisher unvorstellbar für ein Menschenhirn? »Viele Schwierigkeiten waren zu überwinden«, sagte Maltzer nachdenklich, und wieder glaubte Har ris in der Art, wie er die Silben betonte, ein fernes Echo von Deirdres Stimme zu hören. Würde diese Stimme noch den gleichen, herben Schmelz besitzen? »Da war natürlich zunächst der Schock des Bran des«, fuhr Maltzer fort. »Er hatte eine panische Angst vor jedem Feuer ausgelöst. Diese mußten wir über winden, bevor wir weitere Schritte unternahmen. Ich darf sagen, es ist uns gelungen. Wenn Sie nachher zu
ihr gehen, werden Sie sie wahrscheinlich vor dem Kaminfeuer sitzend vorfinden.« Er sah die bestür zende Frage in Harris' Augen und lächelte. »Nein, sie spürt die Wärme natürlich nicht. Doch sie liebt es, in die Flammen zu schauen, sie hat jede anomale Angst vor ihnen gemeistert.« »Kann sie ...«, Harris zögerte. »Ist ihr Augenlicht normal?« »Vollkommen«, erwiderte Maltzer. »Dies zu errei chen, war verhältnismäßig einfach. Es ist ein Verfah ren, das in anderer Verbindung bereits erprobt wor den war. Ich möchte sogar sagen, daß ihr Sehvermö gen besser ist als normal.« Er schüttelte den Kopf. »Es sind nicht die technischen Dinge, die mich beunruhi gen. Glücklicherweise hat man sie geborgen, bevor das Gehirn beschädigt worden war. In dem erlebten Schock lag die größte Gefahr für ihre sensorischen Nervenzentren, und wir gingen mit äußerster Sorgfalt vor, nachdem einmal die Verbindung mit der Au ßenwelt wiederhergestellt war. Und trotzdem bedurf te es eines ungewöhnlichen Mutes von ihrer Seite, ei nes schier übermenschlichen Mutes.« Er schwieg eine Weile, starrte in sein leeres Glas. »Harris«, sagte er plötzlich, ohne aufzublicken, »habe ich einen Irrtum begangen? Hätten wir sie sterben lassen sollen?« Hilflos schüttelte Harris den Kopf. Es war eine un
beantwortbare Frage, die seit einem Jahr die ganze Welt beschäftigte. Hunderte von widerstreitenden Meinungen waren über dieses Problem geäußert und viele Tausende von Aufsätzen geschrieben worden. Hatte einer das Recht, ein Gehirn am Leben zu erhal ten? Auch wenn ihm ein neuer Körper gegeben wer den konnte, der notwendigerweise dem alten in ho hem Maße unähnlich sein mußte? »Nicht, daß sie häßlich wäre ..., jetzt«, fuhr Maltzer hastig fort, als fürchte er eine Antwort auf seine Fra ge. »Metall ist nicht häßlich. Und Deirdre ..., nun Sie werden sehen und urteilen. Ich selbst kann es nicht. Ich bin befangen. Ich kenne den inneren Mechanis mus zu gut. Für mich ist sie nur ein perfekt funktio nierender Apparat. Vielleicht sieht sie grotesk aus. Ich weiß es nicht. Oft habe ich gewünscht, ich wäre nicht zur Stelle gewesen mit meinen Ideen, als das Feuer ausbrach, oder daß es jemand anders gewesen wäre als Deirdre. Sie war so unbeschreiblich schön. Und dennoch, ich glaube, wenn es jemand anderes gewe sen wäre, hätte das Wagnis nicht gelingen können. Es ist dazu mehr nötig als nur ein unbeschädigtes Ge hirn. Überdurchschnittliche Anlagen mußten vor handen sein, gepaart mit außergewöhnlicher Charak terstärke, und noch etwas, der Stempel der Einmalig keit und Unauslöschlichkeit. Deirdre besaß ihn, und sie ist geblieben, was sie war. Und ich finde sie ge
nauso schön wie zuvor. Doch ich weiß nicht, ob ein anderer sie so sehen kann, wie ich sie sehe. Und wis sen Sie, was sie vorhat?« »Nein! Was?« »Sie plant ihre Rückkehr auf den Bildschirm.« Harris starrte ihn ungläubig an. »Sie ist noch immer schön. Darüber besteht kein Zweifel«, fuhr Maltzer erregt fort. »Und sie hat Mut und ist von einer heiteren Gelassenheit, die mich gleichzeitig begeistert und bestürzt. Sie empfindet keine Reue über das, was sie mit sich geschehen ließ, noch Groll gegenüber denen, die es getan haben. Und sie hat keine Angst vor dem Urteil des Publikums. Doch ich habe Angst, Harris. Entsetzliche Angst.« Sie sahen einander wortlos in die Augen. Dann zuckte Maltzer die Schultern und erhob sich. »Jetzt können Sie zu ihr gehen«, sagte er und deu tete mit seinem Glas in die Richtung des Nebenzim mers. Immer noch schweigend, als befürchte er eine neue Verzögerung, stand Harris auf, ging mit schnellen Schritten auf die Tür zu und öffnete sie. Der Raum war erfüllt von dem weichen Licht eines Feuers, das in einem weißgekachelten Kamin knisterte. Die hellen Vorhänge vor den Fenstern waren zugezogen. Harris blieb auf der Schwelle stehen. Er spürte im Hals den schweren Schlag seines Herzens. Sein Blick glitt über
die zierlichen lichten Möbel. Er sah Deirdres Lieb lingsblumen, roch ihren Duft. Deirdre selbst sah er nicht. Dann knarrte der Sessel, der vor dem Kamin stand. In diesem Sessel mußte sie sitzen. Die hohen Rücken lehne verbarg sie, doch jetzt begann sie zu sprechen. »Hallo«, sagte sie. Harris glaubte vor Entsetzen erstarren zu müssen, als er die Stimme hörte, die tonlos, metallisch wie die eines Automaten und ohne Echo im Raum verklang. Doch dann lachte sie und sagte wieder: »Hallo!« Und dieses Mal war es die alte, vertraute, etwas heisere und doch so süße Stimme, die je wieder zu hören er nicht zu hoffen gewagt hatte. »Deirdre!« rief er unwillkürlich aus, und ihr Bild stieg vor ihm auf, als hätte sie sich selbst aus dem Sessel erhoben, un verändert, groß, licht und blond, fast schwerelos in der einmaligen, unnachahmlichen Bewegung ihrer tänzerischen Grazie, schön wie je durch das Leuch ten, das ihre unvollkommenen Züge von innen her veredelte. Er wußte sofort, es war nur ein grausames Trugbild, geboren aus Wunsch, Erinnerung und Phantasie. Und doch war es, bis auf den ersten Miß ton, die gleiche unvergleichliche Stimme von ehedem gewesen. »Komm näher, John, und sieh mich an«, sagte sie jetzt.
Langsam, seine Muskeln schmerzhaft zur Bewe gung zwingend, ging er auf den Sessel zu. Die Sin nestäuschung, deren Opfer er für einen Augenblick geworden war, hatte sein mühsam aufrechterhaltenes Gleichgewicht zutiefst erschüttert. Er nahm seine letz te Kraft zusammen, um für den Anblick dessen ge wappnet zu sein, was bis jetzt keiner außer Maltzer gesehen hatte. Niemand wußte, welche Form geschaf fen worden war, um das aufzunehmen, was das grausame Feuer von der schönsten Frau auf Erden übriggelassen hatte. Im Geiste hatte er sich viele Möglichkeiten ausge malt. Große, zylindrische Robotergestalten, mit Bei nen und Armen, die sich in Scharniergelenken bewe gen. Ein gläsernes Gehäuse, in dem das Hirn schwamm, umgeben von künstlichen Organen. Schauerliche Visionen alle, Wirklichkeit gewordene Nachtmahre, eine grotesker als die andere, hatten sich ihm aufgedrängt. Er hatte sie verscheucht. Er wußte, daß die größten Künstler am Werk gewesen waren. Und dennoch, konnte Menschenhand aus Me tall ein Gebilde schaffen, das würdig gewesen wäre, von einem Gehirn belebt zu werden, dessen Geist und Charme eine ganze Welt entzückt hatten? Er war neben dem Sessel angekommen. Sein Schritt stockte. Er schloß einen Herzschlag lang die Augen, ging weiter, wandte sich um und sah sie.
Das menschliche Gehirn erweist sich oft als ein zu komplizierter Mechanismus, um eine ihm gestellte Aufgabe in einem Zug zu meistern. Und John Harris' Gehirn war nun aufgerufen, die Eindrücke, die sich seinen Augen boten, in einem subtilen Vorgang ein anderfolgender Schaltungen aufzunehmen und zu einer letzten Erkenntnis zu verarbeiten. Als erstes blitzte in ihm, unvermittelt und scheinbar zusam menhanglos, die Erinnerung an eine seltsam unwirk liche, menschliche Gestalt auf, die er einmal, über den Zaun einer Farm kletternd, vor dem Haus erblickt hatte. Eine Sekunde lang war für ihn das, was in sei ner Form und Plumpheit allem Menschlichen wider sprach, ein Mensch gewesen, bis seine schärfer hinse henden Augen es als einige in einer Ecke zusammen gestellte Besen und Eimer erkannten. Was dem Auge nur in rohen Umrissen als menschenähnlich erschie nen war, hatte das für den Anblick eines Menschen empfangsbereite Gehirn täuschend ergänzt. Und so erging es ihm jetzt mit Deirdre. Der erste Eindruck, den seine Augen und sein Verstand von ihrem Anblick empfingen, war der un gläubiger Verwunderung, denn sein Gehirn rief ihm zu: »Das ist Deirdre! Sie hat sich überhaupt nicht ver ändert!« Dann vollzog sich die zweite Schaltung, das Auge korrigierte das Gehirn, und dieses widerrief das
Wunder, das es ihn hatte glauben lassen: »Nein, nicht Deirdre ist es! Nicht ein Mensch! Nur Metall! Nur Maschine! Keine Deirdre!« Und es folgte die schlimmste Phase dieses Wiedersehens. Es war wie das Erwachen aus einem Traum, in dem man einem geliebten, verstorbenen Wesen begegnet war, und die damit wiederkehrende grausame Erkenntnis, daß nichts das einmal Verlorene wieder zum Leben er wecken kann. Deirdre war nicht mehr, und was da vor ihm in dem Sessel saß, war nur ein Automat. Doch jetzt bewegte sich dieser Automat, und er bewegte sich mit der gleichen geschmeidigen Grazie, die er nur an einer Frau, an Deirdre, je erlebt hatte. Es war auch Deirdres unverkennbare Stimme, die nun sagte: »Ich bin's, lieber John. Ich bin es wirklich. Glaub es mir.« Und sie war es. Dies war die dritte und letzte endgültige Umschal tung in seinem Bewußtsein. Die Illusion blieb, festigte sich, wurde Wirklichkeit für ihn. Dies war Deirdre. Langsam ließ er sich ihr gegenüber auf einem Ses sel nieder. Er hatte das Gefühl für seinen eigenen Körper verloren, war unfähig, zu denken oder zu sprechen, nahm mit allen Fasern seines Wesens ihren Anblick in sich auf, ohne mit dem Verstand begreifen zu wollen, was er sah. Der erste allgemeine Eindruck war der mattleuch
tenden Goldes, von der gleichen Wärme und Farbe, wie sie dem Glanz ihrer blonden Haare und dem Schmelz ihrer Pfirsichhaut eigen gewesen waren. Doch diese Wirkung war nicht das Resultat naturge treuer Nachahmung. Diejenigen, die sie geschaffen hatten, waren klug genug gewesen, keinen Panopti kumsersatz aus Wachs von der verlorenen Deirdre herzustellen. (Keine Frau ward je geboren, die so schön wie Deirdre war ...) Sie hatten ihr kein Gesicht gegeben. Als Kopf hatte sie nur ein glattes, zart modelliertes, auf die ovale Grundform eines Menschenschädels zurückstilisier tes Gebilde, das an der Stirnseite, da, wo sich norma lerweise die Augen befinden, eine mondsichelförmige Maske trug, deren spitze Enden nach oben gerichtet waren. Diese schmale Mondmaske bestand aus einem matt durchsichtigen, kristallähnlichen Material von der gleichen aquamarinblauen Tönung, die Deirdres Augen gehabt hatten. Hierdurch also sah sie die Welt, sah hindurch ohne Augen, und dahinter lag, wie hin ter den Augen eines Menschen, das, was von ihr üb riggeblieben war. Der übrige Teil des Gesichtes war glatt, ohne Nase, ohne Mund. Und er erkannte und anerkannte die Weisheit der Künstler, die darauf verzichtet hatten, menschliche Züge nachzubilden, die sich im Mienen spiel verzerrt hätten wie die Fratze einer Marionette.
Etwas Ähnliches hatte er befürchtet. Er war froh, daß sie ihr nicht zwei tote Glasaugen eingesetzt hatten. Die Maske war die bessere Lösung und gab ihr zu gleich etwas Geheimnisvolles. Sie hatte keine Haare. Auch die Hinterseite des Kopfes war glatt, glattes Gold, und wirkte wie ein Helm. Sie wandte den Kopf ein wenig zur Seite, und er sah, daß der Künstler, der ihn modellierte, ihm ei ne leichte Andeutung von Backenknochen gegeben hatte, nur so viel, daß bei einer Bewegung das Licht nicht gleichmäßig darüber hinwegglitt wie über eine glatte Fläche, sondern durch ein feines Schattenspiel die vage Illusion eine menschlichen Gesichtes erzeug te. Brancusi hatte nie etwas Einfacheres und zugleich Vollendeteres geschaffen als Deirdres Kopf. Deirdres individuellen Gesichtsausdruck zu erhal ten, war natürlich unmöglich gewesen. Ihre Züge wa ren durch den Theaterbrand für immer zerstört wor den, zusammen mit dem lieblichsten Mienenspiel, das je das Antlitz einer Frau von innen her belebt hat te. Die Formen ihres Körpers waren nicht unter scheidbar. Ein langes Gewand verhüllte sie. Man hat te nicht den unangemessenen Versuch unternommen, sie so zu kleiden, wie die Welt sie in Erinnerung ha ben mochte. Kein noch so weicher Stoff würde dar über hinweggetäuscht haben, daß es kein menschli
cher Körper war, was er unter seinen Falten verbarg, wenn ihre Gestalt auch menschliche Formen hatte. Man hatte das Problem gelöst, indem man als Ma terial ein feines Metallgewebe und für seine Verarbei tung einen zeitlosen Stil von klassischer Einfachheit wählte. Sie trug ein Gewand, das einem verlängerten griechischen Chlamys glich und von der sanften Nei gung ihrer Schultern in geraden Falten bis auf die Füße herabhing, nicht starr, sondern leicht nachge bend, jedoch von genügend großem Eigengewicht, um sich nicht anzuschmiegen. Arme, Füße und Fesseln waren unbedeckt und sichtbar, und mit ihnen hatte Maltzer ein Meister werk vollbracht, das an ein Wunder grenzte. Es war natürlich in erster Linie eine technisch wissenschaftliche Leistung, doch durchgeführt mit höchstem künstlerischem Verständnis. Die Arme waren aus dem gleichen mattschim mernden Gold gefertigt wie der Kopf. Sie waren glatt und gelenklos, jedoch in ihrer ganzen Länge biegsam, denn sie bestanden aus immer kleiner werdenden, wie Schuppen untereinandergeschobenen Ringen. Die Hände waren das Menschenähnlichste an ihr, obwohl auch sie aus ineinandergefügten, kleinen und sehr schmalen Ringen bestanden, die ihnen die subti le Geschmeidigkeit von Fleisch verliehen. Die Fin gerwurzeln waren stärker als die einer Menschen
hand und die Finger selbst ungewöhnlich lang und spitz. Auch die Füße waren dem menschlichen Modell nachgebildet. Die metallischen beweglichen Schup pen, die in komplizierter und sinnvoller Anordnung Ferse, Spann, Ballen und Zehen formten, gaben ihnen das Aussehen von Panzerschuhen mittelalterlicher Rüstungen. Sie glich in der Tat in hohem Maße einem gepan zerten Ritter mit ihren metallenen Gliedern, ihrem gesichtslosen, helmähnlichen, mit einem gläsernen Visier versehenen Kopf und ihrem Kettengewand. Doch kein gepanzerter Ritter bewegte sich je mit sol cher Grazie wie Deirdre, und kein Panzer hatte je ei nen Körper von so unirdisch zarten Proportionen be deckt. Sie glich in ihrer Unwirklichkeit einem Wesen aus einer anderen Welt, einer Sagengestalt von Obe rons Hof. Im ersten Augenblick hatten ihn die Klein heit und Zartheit ihrer Proportionen überrascht. Die Roboter, die er gesehen hatte, waren riesige, massige Gestalten. Doch dann begriff er, daß für diese vollau tomatischen Apparate viel Raum benötigt wurde, um das mechanische Gehirn unterzubringen, das sie bei ihren Verrichtungen leitete. Deirdres Gehirn war er halten und arbeitete weiter, selbständig und unab hängig von irgendwelchen äußeren Einflüssen oder Energien. Nur der Körper war aus Metall und künst
lich, doch er machte keineswegs den Eindruck des Unnatürlichen, so harmonisch und vollkommen ge horchte er den Impulsen, die ihm Deirdres Wille übermittelte, auf eine Art, die Harris noch nicht kann te. Er wußte nicht, wie lange er dagesessen hatte, stumm und bewegungslos, ohne seinen Blick von der Gestalt zu wenden, die vor ihm in dem mit einem ge blümten Stoff bezogenen Sessel saß. Je länger er sie anschaute, um so stärker wurde in ihm die Gewiß heit, daß sie ebenso lieblich war wie früher, daß sie die gleiche Deirdre war, die er für immer verloren geglaubt hatte. Und die angespannte Beherrschtheit seiner Züge löste sich. Es bestand kein Grund mehr, seine Gedanken vor ihr zu verheimlichen. Sie hob die Hände, die bis jetzt in ihrem Schoß ge ruht hatten, und legte sie auf die Seitenlehnen des Sessels. Die Bewegung, die sie dabei mit den Armen vollführte, war von einer Geschmeidigkeit, die mehr Schlangenhaftes als Menschliches an sich hatte und ihn mehr verwirrte als der erste Anblick ihres be fremdenden Körpers. Unwillkürlich runzelte er die Brauen, gleichzeitig glaubte er zu spüren, daß sie ihn hinter ihrer Halbmondmaske scharf beobachtete. Langsam erhob sie sich. Die Bewegungen ihres unsichtbaren Körpers waren so weich und fließend, als ob Rumpf und Beine aus
ähnlichen, ineinandergreifenden kleinsten Einzeltei len bestünde wie ihre Arme. Er hatte metallische Starrheit und mechanische Eckigkeit erwartet und be fürchtet und war verblüfft, fast bestürzt über die mehr als menschliche Schwerelosigkeit und Gelen kigkeit. Mit einem feinen Klingeln, wie von fernen kleinen Glöckchen, glitt das schwere Kettengewebe ihres Gewandes von ihren Knien, während sie sich aufrich tete, und legte sich dann in lange, mattgolden schimmernde Falten. Auch er war aufgestanden und starrte nun bewundernd auf das, was er sah. Er hatte sie nie vollkommen stillstehen gesehen, und so war es auch jetzt. Sie wiegte sich leicht in den Hüften, be wegt von der gleichen, vibrierenden Vitalität ihres Gehirnes, die einst auch ihren lebendigen Leib nie hatte zur Ruhe kommen lassen. Und während sie sich bewegte, flimmerten auf ihrem goldenen Kleid die Reflexe des Kaminfeuers. Jetzt neigte sie den gesichtslosen, behelmten Kopf ein wenig zur Seite und lachte. Und es war das glei che, vertraute, leicht kehlige Lachen, das er aus dem Munde der lebenden gehört hatte. Und ihre ganze Haltung und alle ihre Gesten, die zu ununterbroche ner Bewegtheit zusammenflossen, waren so sehr Deirdre, erinnerte ihn so stark an ihre kapriziöse Ru helosigkeit, daß er wiederum glaubte, sie leibhaftig
vor sich zu sehen wie einen aus der Asche wiederer standenen Phönix. Er wußte, daß es eine Illusion war, doch er gab sich ihr hin. »Nun, John«, sagte sie mit dem leicht koketten Ton fall, den er an ihr so geliebt hatte, »sprich! Bin ich es?« Sie wußte, daß sie es war. Aus ihrer Stimme klang vollkommene Sicherheit. »Der erste Schock wird bald vergehen. Es wird auch für dich leichter und leichter werden mit der Zeit. Ich habe mich schon ganz an mich gewöhnt. Schau!« Sie wandte sich um und ging mit dem alten, wie genden Tänzerinnenschritt quer durch das Zimmer zu dem Spiegel, der, bis zum Boden reichend, in die Wand eingelassen war. Und er sah sie, wie er es frü her so oft gesehen hatte, sich im Spiegel selbst be wundern. Mit fließenden Bewegungen ihrer metalle nen Hände und Arme strich sie die Falten ihres schimmernden Gewandes glatt, drehte sich in glei tenden Wendungen nach beiden Seiten, betrachtete sich wohlgefällig über ihre goldene Schulter und ließ die Maschen ihres Gewandes flimmern und klingeln, als sie einige, verhaltene Tanzschritte markierte. Seine Knie versagten ihm den Dienst, und er rettete sich in den Sessel, den sie freigemacht hatte. Er über ließ sich der Schwäche, die ihn jetzt überfiel, nach dem sich die von tausend Befürchtungen erfüllte Spannung des vergangenen Jahres und der letzten
Minuten gelöst und einem ungläubigen Staunen Platz gemacht hatte. »Es ist ein Wunder«, sagte er mit tonloser Stimme. »Du bist es. Doch ich begreife nicht, wie es möglich ist ...« Er wollte sagen: »... ohne Gesicht und Körper ...«, doch er konnte diesen Satz nicht beenden. Sie hatte verstanden, was er nicht auszusprechen wagte, und antwortete ohne jede Befangenheit, weiter ihre eigene Geschmeidigkeit im Spiegel bewundernd: »Die Bewegung ist es. Sieh!« Und auf ihren federnden, metallenen Füßen vollführte sie in rascher Folge einige brillante Tanzfiguren, um sich dann in einer Pirouette ihm zuzuwenden. »Diese Lösung haben wir uns hart erarbeitet, Maltzer und ich, nachdem ich begonnen hat te, mich selbst wieder unter Kontrolle zu bekommen.« Bei den letzten Worten hatte ihre Stimme düster ge klungen, wie verschleiert von der Erinnerung an eine dunkle Zeit. Dann fuhr sie fort: »Es war nicht leicht, gewiß, doch es war faszinierend. Du kannst dir nicht vorstellen, wie faszinierend es war, John! Wir wußten, daß wir keine optisch-getreue Nachbildung dessen schaffen konnten, was ich einmal gewesen war, und so mußten wir ein anderes Prinzip finden, nach dem wir vorgehen konnten. Nun ist aber im Prozeß des Wieder erkennens, neben dem physischen Aussehen, der wich tigste Faktor die Bewegung. Und auf dieser Erkenntnis haben wir aufgebaut.«
Wiegend, fast schwebend, bewegte sie sich lautlos über den weichen Teppich auf das Fenster zu, schob die Vorhänge auseinander und blickte hinunter, den gesichtslosen Kopf leicht von ihm abwendend, und das einfallende Licht ließ die zart angedeutete Kurve der Backenknochen matt aufglänzen. »Glücklicherweise«, sagte sie in einem Ton belu stigter Unbefangenheit, »war ich nie wirklich schön. Nein, es war nicht angeborene Schönheit, es war nur, ich nehme an, Belebtheit und harmonische Beherr schung der Muskeln, erworben in langen Jahren des Trainings und aufgespeichert hier ...« sie schlug mit goldenen Handknöcheln leicht gegen ihren goldenen Helm ... »in den Ganglien meines Gehirns, gewisser maßen eingeprägt als Gewohnheitsschema. Und die ser Körper ... habe ich es dir schon gesagt? ... wird ausschließlich beherrscht durch das Gehirn. Von ihm aus fließen elektromagnetische Wellen von Ring zu Ring durch alle Organe und Glieder ... so!« Sie hob einen ihrer knochenlosen Arme mit einer von der Schulter ausgehenden Bewegung, die an fließendes Wasser erinnerte. »Nichts hält mich zusammen ... nichts! ... außer den unsichtbaren Muskeln der ma gnetischen Anziehungskraft. Und wenn ich jemand anders wäre, jemand, der sich anders bewegt, nun, dann würden sich auch die Ringe anders bewegen, so bewegen, wie sie von dem andern Gehirn gesteuert
würden. Ich bin mir keinen Augenblick bewußt, et was zu tun, was ich nicht schon immer getan hatte. Die gleichen Impulse, die mein Gehirn früher in mei ne Muskelbahnen aussandte, schickt es jetzt in das System meiner beweglichen Ringe.« Sie hob beide Arme, ließ sie in ihrer ganzen Länge bis zu den Fin gerspitzen flattern und sich schlängeln wie eine sia mesische Tempeltänzerin, und dann begann sie zu la chen. Es war ein Lachen unbeschwerter Lebensbeja hung, das den Raum wie übermütiges Glockengeläu te erfüllte, das gleiche herzliche Lachen, das einst Mil lionen von Menschen glücklich gemacht hatte, und wieder glaubte er, das vertraute Gesicht mit den Fält chen ansteckender Freude und den weißschimmern den Zähnen vor sich zu sehen. Und dann hörte er sie sagen: »Heute vollzieht sich das alles unbewußt. Es bedurfte natürlich eines harten Trainings, bis es so weit war. Aber jetzt ist sogar meine Unterschrift nicht mehr von meiner früheren zu unterscheiden, so voll kommen ist die Anpassung bis in die feinsten Einzel heiten gelungen. Bis in die Fingerspitzen bin ich wie der die alte Deirdre.« Und wieder ließ sie ihre Arme und Finger spielen und lachte, als amüsierte sie sich über das verblüffte Gesicht ihres Managers. »Aber die Stimme, Deirdre?« rief Harris ungläubig aus. »Es ist deine Stimme.« »Die Stimme ist nur eine Frage der Konstruktion
des Kehlkopfes und der Kontrolle des Atems, lieber Johnnie! So versicherte mir wenigstens Professor Maltzer vor einem Jahr, und heute habe ich gewiß keinen Grund mehr, daran zu zweifeln.« Sie lachte wieder. Sie lachte ein wenig zuviel und mit dem schrillen Beiklang nervöser Überreizung, den er an ihr kannte. Doch wenn eine Frau je Grund gehabt hat te zur Exaltiertheit, dann jetzt Deirdre. Das Lachen verklang, und sie fuhr fort, Ernst und Eifer in der Stimme: »Er sagte, die Kontrolle der Stimme beruht ausschließlich auf dem Hören dessen, was man an Lauten produziert, vorausgesetzt natür lich, daß man einen entsprechenden Mechanismus zur Erzeugung von Tönen besitzt. Deshalb verändern sich auch die Stimmen von Menschen, die taub ge worden sind, mit der Zeit vollkommen und verlieren jeden persönlichen Klang und Tonfall, obwohl ihre Stimmbänder die gleichen geblieben sind. Und taub bin ich Gott sei Dank nicht, obwohl ich keine Ohren habe.« Mit einem Schwung, der die Falten ihres Gewandes flimmern und klirren ließ, machte sie einige Schritte nach vorn und sang eine perlende, glasklare Kolora turpassage, aufsteigend bis zu einem unwahrschein lich hohen Triller und wie eine Kaskade wieder hin abgleitend in eine Folge tiefer Glockentöne. Er war hingerissen, doch sie ließ ihm keine Zeit, zu applau
dieren. »Eine höchst einfache Sache, wie du siehst, al lerdings nur möglich dank des genialen Einfalls, den der Professor hatte! Er begann mit einer Variation der Vodor-Sprechmaschine, an die du dich vielleicht noch erinnerst. Sie machte vor einigen Jahren von sich re den. Ursprünglich war sie ein plumper Apparat von der Größe eines Klaviers. Ihr Prinzip bestand darin, daß die Sprache auf einige wenige Grundlaute zu rückgeführt wurde, mit denen man dann durch Kombinationen auf einer Tastatur die gewünschten Worte produzierte. Diese Laute bestanden aus tonlo sen und krächzenden Geräuschen, doch Maltzer ge lang es, ein Membranensystem zu konstruieren, das auf kleinstem Raum unterzubringen war und mit dem man trotzdem Töne und Laute von der Echtheit und dem Umfang der menschlichen Stimme erzeugen konnte. Ich brauche nichts anderes zu tun, als im Geist auf der Klaviatur meiner Toneinheiten ... ich glaube, so nennt man das ... zu spielen wie ein Pia nist. Es ist natürlich viel komplizierter, als es klingt, doch ich habe gelernt, es unbewußt zu tun. Ich regu liere Tonhöhe, Lautstärke und Klangfarbe nur durch das Gehör, und zwar ebenfalls vollkommen instink tiv, allerdings auch erst nach langer Übung. Wenn du ... hier drin wärst anstatt meiner und hättest die glei che Übung, dann könntest du durch die Klaviatur und die Membrane deine eigene Stimme erklingen
lassen, so wie ich jetzt die meine. Das Ganze ist eine Sache der Funktion der Gehirnzentren, die früher die einzelnen Organe meines Körpers betätigten und jetzt die Apparate meines künstlichen Organismus bele ben.« Ihre Hände glitten vage über das metallene Gewand, das ihren metallenen Körper umhüllte. Sie trat zum Fenster, blickte eine Weile schweigend hinaus. Dann kam sie langsam zurück zu dem Ka min, um sich wieder in den Sessel mit der hohen Rückenlehne zu setzen, in dem er sie zum erstenmal erblickt hatte. Die vom Widerschein des Feuers beleb te Maske ihres goldenen Kopfes war ihm zugewandt, und er glaubte zu fühlen, daß sie ihn forschend hinter der aquamarinblauen Sichel ihres Sehorgans ansah. »Es ist seltsam«, sprach sie jetzt, »hier ... hier drin nen zu sein anstatt in einem lebendigen Körper. Doch nicht so seltsam oder verwirrend, wie du vielleicht denken magst. Ich habe viel darüber nachgedacht ... ich hatte genug Zeit zum Nachdenken ... und ich be gann, zu begreifen, welch gewaltige Macht das menschliche Ich darstellt. Ich will damit nicht be haupten, daß es eine mystische Gewalt über unbeleb te Dinge hat, doch es besitzt irgendeine geheimnis volle Kraft, die es auf sie überträgt. Es teilt toten Ge genständen etwas von seiner eigenen Persönlichkeit mit. So hinterläßt jeder Mensch ein persönliches Flui dum in den vielen Räumen, in denen er gelebt hat.
Das habe ich oft gespürt, auch in leeren Zimmern. So geht es auch mit anderen Dingen, besonders mit sol chen, glaube ich, von denen in hohem Maße das Le ben der betreffenden Person abhängt. Schiffe, z.B., haben immer eine von ihrer Besatzung geprägte be sondere Persönlichkeit, wenn man so sagen kann. Auch Flugzeuge. Während eines Krieges hört man oft von Maschinen, die, technisch gesehen, so zerschos sen sind, daß sie praktisch nicht mehr fliegen können, aber trotzdem, wie durch ein Wunder, mit ihrer Be satzung den rettenden Flugplatz erreichen. Auch Schußwaffen verwachsen irgendwie mit ihrem Besit zer. Schiffe, Pistolen und Flugzeuge sind mehr als nur tote Dinge für die, die sie benutzen, besonders, wenn ihr Leben von ihnen abhängt. Es ist, als ob bewegliche Maschinen mit komplizierten, beweglichen Einzeltei len ein eigenes Leben besitzen und von den Men schen, die sie benutzen oder bedienen, eine Art Cha rakter oder Persönlichkeit erwerben. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Vielleicht werden sie beein flußt von den elektrischen Impulsen, die das mensch liche Gehirn ausstrahlt, besonders in Zeiten seelischer Anspannung und physischer Gefahr. Nun, mit der Zeit gewöhnte ich mich an den Ge danken, daß dieser mein neuer Körper sich genauso verhalten würde wie ein Schiff oder ein Flugzeug. Ganz abgesehen von der Tatsache, daß mein Gehirn
seine ›Muskeln‹ kontrolliert, glaube ich, daß zwi schen den Menschen und den Maschinen, die sie bauen, eine Art Verwandtschaft besteht. Sie schaffen sie aus ihrem Gehirn, sie konzipieren und gebären sie gewissermaßen geistig, und ihre Geschöpfe gehor chen dem Geist dessen, der sie konstruiert hat, und dem Verstand aller, die sie verstehen und richtig be handeln.« Sie beugte sich leicht vor und strich mit der Hand über Schenkel und Knie ihres unsichtbaren Körpers. »Und deshalb ist dieses mein Ich«, sagte sie dann, »Metall ... und dennoch ich. Und es wird mehr und mehr ich selbst, je länger ich darin lebe. Es ist mein Haus und die Maschine, von der mein Leben ab hängt, doch beides in einem Maße, wie es nie je zuvor bei einem Menschen der Fall war. Ich glaube, mit der Zeit werde ich vergessen, wie sich Fleisch anfühlte ... mein eigenes Fleisch, wenn ich es mit meinen Fingern berührte ... und der Kontakt von Metall zu Metall wird für mich so sehr der gleiche sein, daß ich keinen Unterschied mehr spüre. Ich weiß nicht, ob du dir das vorstellen kannst.« Harris wagte nicht, ihr zu antworten. Er saß nur da und bemühte sich, seine eigenen Gedanken in seinem Gesicht nicht sichtbar werden zu lassen, während er die ausdruckslose Maske beobachtete. Nach einer kurzen Pause sprach sie weiter.
»Und jetzt will ich dir sagen, was für mich das Tröstlichste ist an meinem Schicksal.« Ihre Stimme hatte so sehr den warmen Ton früherer Zeiten ange nommen, daß er durch das aquamarinblaue Visier den altvertrauten warmen Blick wahrzunehmen glaubte, der zu dieser Stimme gehört hatte. »Ich wer de nicht ewig leben. Dies klingt vielleicht nicht wie ein Trost, doch für mich ist es eine große Erleichte rung, John. Nachdem ich aufgewacht war und wußte, was ich war, glaubte ich, daß ich für immer weiterle ben müßte in einem Körper, der nicht der meine war, und zusehen, wie alle, die ich kenne, alt werden und sterben, ohne selbst in der Lage zu sein, ein Ende zu machen. Doch Maltzer klärte mich bald auf, daß mein Gehirn sich vollkommen normal abnutzen und eines Tages aufhören wird, zu funktionieren. Dann wird auch mein Körper, der allerdings bis zum letzten Au genblick unverändert bleiben wird, aufhören zu exi stieren. Ich brauche mir also keine Sorgen zu machen, daß ich je alt aussehen werde, bevor ich ... bevor mein Körper zu einem Haufen von Ringen auseinander fällt. Denn dies wird geschehen, wenn die magneti schen Ströme meines Gehirns, die ihn zusammenhal ten und bewegen, aussetzen. Wenn man die Einzeltei le je wieder zusammensetzt und durch ein anderes Gehirn neu belebt, werde nicht mehr ich es sein, der darin wohnt.« Sie stockte und fuhr dann zögernd fort:
»Verstehst du, John, daß ich froh bin, nicht unsterb lich zu sein, obwohl es sich doch eigentlich alle Men schen wünschen?« Er spürte ihren forschenden Blick hinter der Maske. Er glaubte, sie zu verstehen, diese seltsame, düstere Genugtuung; doch er konnte sein Mitempfinden nicht in Worte fassen und wußte, daß sie es nicht von ihm erwartete. Er hatte verstanden, was ihr das Be wußtsein ihrer Sterblichkeit bedeutete, obwohl sie ei nen unsterblichen Leib besaß. Sie fühlte, sie war nicht ausgeschlossen vom Schicksal der übrigen Menschen, und obwohl sie als einzige einen künstlichen Körper aus dauerhaftem Metall besaß und alle anderen nur Leiber aus vergänglichem Fleisch, mußte auch sie sterben, und so teilte sie mit ihren Artgenossen auch die gleichen menschlichen Hoffnungen und Ängste. Zwar würde auch ihr Tod selbst etwas Einmaliges sein ... ein plötzlicher Schauer blitzend und klirrend auseinanderfallender Ringe und Drähte, dachte er und beneidete sie fast um diese seltsame Art, aus dem Leben zu gehen ... doch nachher würde ihr irdi sches Ausnahmelos wieder einmünden in jenes, das alle, was es auch immer sein mochte, erwartete. So wußte sie, daß ihre Verbannung in einen toten Körper aus Metall nur vorübergehend war. Doch weder Harris noch Deirdre selbst dachten an die Gefahr, die in einem solchen Schicksal lauerte.
War es nicht möglich, daß ihr Verstand, der gezwun gen war, in einem Metallgehäuse zu leben, im Laufe der Jahre seine Menschlichkeit verlor? Ein Mensch kann den Mauern, in denen er lebt, den Stempel sei ner Persönlichkeit aufdrücken, doch auch ein Haus beeinflußt das Wesen seiner Bewohner, kann es ge gen ihren Willen umformen. Harris wußte nicht, wie lange sie beide geschwie gen hatten, wahrscheinlich den gleichen Gedanken hingegeben, als sie sich plötzlich erhob und mehrere Male herumwirbelte, so daß der Saum ihres Gewan des klingelnd gegen ihre Fesseln schlug. Dann ertönte wieder ihre Stimme und glitt die Tonleiter hinauf und hinab mit dem gleichen Klang leichter Heiserkeit und warmer Innigkeit, der sie berühmt gemacht hatte. Als der letzte Ton verklungen war, sagte sie zu ihm mit heiterer Bestimmtheit: »John, damit du es weißt, ich gehe zurück zur Bühne, und zwar sofort. Ich kann noch singen. Ich kann noch tanzen. Ich bin noch im mer die gleiche, in allem, worauf es ankommt, und ich kann mir nicht vorstellen, daß ich etwas anderes tun könnte für den Rest meines Lebens.« Er vermochte ihr nicht zu antworten, ohne zu stot tern. »Glaubst du, daß es für die Leute auch das glei che sein wird ... jetzt ... so ...? Glaubst du, daß sie dich wiedererkennen ... anerkennen ...?« »Sie werden mich wiedererkennen«, erwiderte sie
in unerschüttertem Selbstvertrauen. »Gewiß, im An fang werden sie kommen, um ein Weltwunder zu be staunen, aber dann werden sie bleiben, um Deirdre zu bewundern. Und sie werden wiederkommen und wiederkommen, wie sie es immer getan haben. Du wirst sehen, John.« Doch Harris erschrak über ihre Selbstsicherheit und fühlte, daß er sie nicht teilen konnte. Auch Malt zer hatte es nicht gekonnt. Jetzt verstand er ihn. Sie war so voller Selbstvertrauen, daß eine Enttäuschung ein tödlicher Schlag für das sein mußte, was von ihr übrig war. Trotz ihrer technischen Vollkommenheit war sie doch nur ein höchst zerbrechliches Wesen, nur ein in Metall gefaßter Verstand, der sein Gehäuse mit elek trischen Strömen durchpulste und ihm durch seine Impulse die Illusion ihrer verlorenen Schönheit auf zwang. Doch ihr Gehirn mußte unter einer ständigen ungeheuren Anspannung stehen, der geringste Rück schlag würde es aus dem Gleichgewicht bringen. Sie hatte schon so viel an übermenschlichen Prüfungen durchgestanden, größere Tiefen und Schauer der Verzweiflung und der Selbsterkenntnis erlebt als je ein Mensch vor ihr. Doch wenn die Welt ihre künstliche Schönheit nicht anerkannte, was dann? Wenn die Menschen sie auslachten, oder bemitleideten, oder sich empört da
gegen verwahrten, daß eine mechanische Puppe ver suchte, die liebliche Deirdre nachzuahmen, die sie einst entzückt hatte, was dann? Und er war nicht si cher, daß sie es nicht tun würden. Er hatte sie zu gut als Wesen von Fleisch und Blut gekannt, um sie jetzt als Gebilde aus Metall objektiv beurteilen zu können. Jeder Tonfall ihrer Stimme rief in ihm die Erinnerung an ihr Gesicht zurück und ließ ihre Schönheit wieder lebendig werden, wo für die anderen nur leere Maske war. Für ihn war sie die alte Deirdre, an die er sich in der engen Vertrautheit so vieler Jahre gewöhnt hatte. Doch was würde sie für Menschen sein, die sie nur wenig gekannt hatten oder sie zum erstenmal sahen? Eine Marionette? Oder würden sie ihre frühere Schönheit durch das Metall durchleuchten sehen? Er war der letzte, der es voraussagen konnte. Er sah sie zu sehr als das, was sie gewesen war, so sehr verbunden mit der Vergangenheit, daß er ihre metal lene Hülle vergaß. Und er wußte, was Maltzer be fürchtete; denn Maltzers psychische Blindheit ihr ge genüber entsprang dem gegenteiligen Grund. Er kannte Deirdre nur als Maschine, und er konnte sie ebensowenig objektiv sehen wie Harris. Für Maltzer war sie nur Metall, ein Roboter, zwar von seinem Ge hirn entworfen und durch Deirdres Verstand ge heimnisvoll belebt, doch nach außen nur ein höchst kunstvolles, aber künstliches Produkt moderner Wis
senschaft. Er hatte so lange an jedem der komplizier ten Einzelteile ihres Körpers gearbeitet, er wußte so genau, wie die einzelnen Gelenke zusammengesetzt waren und funktionierten, daß er nicht mehr in der Lage war, sie als Ganzes zu sehen. Er hatte viele Filmaufnahmen von ihr studiert, um in seiner Nach bildung eine möglichst große Ähnlichkeit mit dem Original zu erreichen, doch was er geschaffen hatte, war nur eine Kopie. Er war der jetzigen Deirdre zu nahe, um die frühere in ihr sehen zu können. Und Harris war, da er sie aus der Vergangenheit sah, zu weit von ihr entfernt. Für ihn leuchtete die echte, un vergängliche Deirdre so stark durch das Metall hin durch, daß die Bilder der Erinnerung die Wirklichkeit überdeckten. Wie würde das Publikum auf sie reagieren? Wo zwischen diesen beiden Extremen würde das Urteil der großen Masse liegen? Für Deirdre gab es nur eine einzige Antwort. »Ich bin meiner ganz sicher«, sagte sie, streckte ihre goldenen Hände gegen das Feuer aus und betrachtete die tanzenden Lichtreflexe auf ihrer schimmernden Oberfläche. »Ich bin immer noch ich selbst. Ich habe immer Gewalt gehabt über mein Publikum. Und je der gute Darsteller weiß, ob er diese Macht über die Menschen noch besitzt. Die meine ist nicht verloren gegangen. Ich kann ihnen das gleiche geben, was ich
ihnen immer gab, jetzt sogar in reicherer Vielfalt und tieferer Eindringlichkeit als zuvor. Ja, John, so sicher bin ich meines Erfolges. Ich will dir auch erklären, warum. Sieh!« Und wieder ließ sie die schlängelnde, der menschlichen Anatomie widersprechende Bewe gung durch ihre gegen das Feuer ausgestreckten Ar me laufen. »Du kennst doch das Prinzip des maurischen Tan zes, den ganzen Körper von den Fingerspitzen bis zu den Zehen in durchgehender, fließender Bewegung zu halten? Nun, dieses Prinzip kann ich in ungeahn ter Weise durchführen, denn ich bin unabhängig von Knochen und Gelenken. Ich kann jede Bewegung zu einer Welle machen, wenn ich will. Mein Körper ist so andersartig, daß ich einen ganz neuen Tanzstil entwickeln kann. Gewiß, es gibt Dinge, die ich einmal konnte, jetzt aber wohl nicht mehr kann, zum Beispiel auf den Spitzen tanzen; doch das Neue wird das Ver lorene bei weitem wettmachen. Ich habe bereits wie der trainiert. Weißt du, daß ich hundert fehlerlose Pi rouetten schlagen kann, ohne müde zu werden? Und ich glaube, ich könnte jetzt sofort tausend schlagen, wenn ich wollte.« Sie hob die Hände seitwärts, schüttelte die Schul tern, so daß die Maschen ihres Gewandes klirrten, und ließ den Widerschein des Feuers auf ihren gol denen Armen tanzen. »Ich habe mir schon einen neu
en Tanz ausgearbeitet. Ich bin, weiß Gott, kein Cho reograph, doch den ersten Versuch wollte ich allein machen. Später werden vielleicht wirkliche schöpferi sche Künstler wie Massanchine oder Fokhileff etwas ganz Neues für mich schaffen, eine neue Folge von Bewegungen, die auf einer neuen Technik aufgebaut sind. Und auch was die Musik betrifft, erschließen sich mir viele neue Möglichkeiten. Meine Stimme hat jetzt einen größeren Umfang und eine größere Laut stärke. Glücklicherweise bin ich keine Schauspielerin; es wäre töricht, wenn ich versuchen wollte, die Julia oder eine andere Sprechrolle in einem Ensemble normaler Darsteller zu spielen. Nicht, daß ich fürchte, ich könnte es nicht.« Ihr Kopf wandte sich ihm zu, als wollte sie in seinem Gesicht lesen, ob er ihr glaube. »Ich bin der festen Überzeugung, daß ich es könnte. Doch es ist nicht nötig. Ich habe genug andere Mög lichkeiten. Oh, ich mache mir keine Sorgen!« »Aber Maltzer«, sagte Harris leise. Sie drehte sich in ihrem Sessel vom Feuer weg, und in ihre Stimme kam jener alte Ton der Trauer, der bei ihr immer begleitet war von einem Stirnrunzeln und einer seitlichen Neigung des Kopfes. Und auch jetzt neigte sie den Kopf zur Seite, wie sie es früher getan hatte, und er glaubte zu sehen, wie ihre Brauen sich zusammenzogen, als sei sie noch Fleisch und Blut. »Ich weiß es. Und ich mache mir Sorgen um ihn. Er
hat sein Letztes hergegeben bei der Arbeit ... an mir. Dies ist die Reaktion, die Erschöpfung. Ich weiß, was in ihm vorgeht. Er befürchtet, die Welt wird mich ge nauso sehen, wie er selbst mich sieht ... als bewegtes Metall. Er ist in einer Lage, in der sich nie ein Mensch vor ihm befunden hat. Ihm muß zumute sein wie ei nem Gott.« Ihre Stimme klang leicht belustigt. »Ich glaube, für Gott sehen wir alle nur aus wie eine An sammlung von Zellen und Kräften, die sie zusam menhalten. Doch Maltzer fehlt der Abstand des wirk lichen Schöpfers.« »Er kann dich auch nicht so sehen, wie ich dich se he.« Harris wählte seine Worte mit Bedacht. »Ich fra ge mich, ob es ihm vielleicht helfen könnte, wenn du dein Debut etwas verschieben würdest. Du warst so lange und so ausschließlich mit ihm allein zusammen. Du kannst nicht ermessen, wie nahe er einem Zu sammenbruch ist. Ich war erschüttert, als ich ihn eben wiedersah.« Der goldene Kopf schüttelte sich verneinend. »Nein. Mag sein, daß er sich auf dem Höhepunkt ei ner Krise befindet, doch wenn dem so ist, dann kann ihm nur eines helfen, nämlich eine Entscheidung. Er will, daß ich mich zurückziehe, John, mich verberge. Für immer. Er hat Angst, mich jemandem zu zeigen, außer einigen alten Freunden, die sich meiner erin nern, wie ich früher war, Menschen, von denen er
annehmen kann, daß sie freundlich zu mir sind, weil sie Mitleid mit mir haben.« Sie lachte. Es war seltsam, fast grausig, sich vorzustellen, daß dieses Lachen aus dem kahlen, glatten, gesichtslosen Kopf kam. Harris wurde plötzlich von panischer Angst gepackt bei dem Gedanken, welche Reaktion dieser Kontrast in einer Gesellschaft von Fremden auslösen würde. Als ob er sie laut ausgesprochen hätte, verneinte ihre Stimme diese Befürchtung. »Ich brauche kein freund liches Mitleid. Und es ist auch kein Mitleid, daß Malt zer mich vor der Welt verbergen will. Er hat zu hart gearbeitet, ich weiß es. Er hat sich verausgabt. Doch es wäre eine glatte Desavouierung dessen, was er an mir getan hat, wenn ich mich jetzt verbergen würde. Du weißt nicht, welches Kapital an künstlerischem Genius, wissenschaftlicher Erkenntnis und hand werklicher Fertigkeit in mich investiert worden ist und zu welchem Ende. Von Anfang war es unsere Idee gewesen, das wiederzuschaffen, was ich verlo ren hatte, um zu beweisen, daß Schönheit und Talent nicht ausgelöscht zu sein brauchen, wenn der Körper ganz oder teilweise zerstört worden ist. Es ging uns nicht darum, dies für mich allein zu beweisen. Ande re werden Verletzungen erleiden, die früher ihr Le ben sinnlos gemacht hätten. Diese Gefahr für immer zu bannen, war unser Ziel. Es war Maltzers Geschenk sowohl an mich als auch an die gesamte Menschheit.
Er ist ein echter Menschheitsfreund, John, wie alle großen Männer. Er hätte nie ein Jahr seines Lebens für dieses Werk geopfert, wenn es nur einem einzigen Individuum gegolten hätte. Im Geiste sah er tausend andere arme Opfer, als er an mir arbeitete. Und ich werde nicht zulassen, daß er alles zunichte macht, was er erreicht hat, nur weil er Angst hat, seinen Er folg unter Beweis zu stellen. Seine ganze wunderbare Leistung wird wertlos bleiben, wenn ich nicht den letzten Schritt tue. Ich glaube, sein Zusammenbruch wird schlimmer und endgültiger sein, wenn ich es nie versuche, als wenn ich es versuche und dabei scheite re.« Harris schwieg. Er konnte ihr hierauf keine Ant wort geben. Er hoffte, daß sie ihm die verschämte Ei fersucht nicht ansah, die ihn jetzt wieder ankam, als er an die Vertraulichkeit dachte, die diese beiden Menschen enger als eine Ehe aneinandergebunden hatte. Und er wußte, daß er der neuen Deirdre ge genüber ebenso befangen war wie Maltzer, nur aus anderen Gründen. Er fühlte sich überrumpelt von dem Problem, vor das ihn Deirdre durch ihren Ent schluß gestellt hatte, während Maltzer gehandikapt war durch geistige und körperliche Erschöpfung. »Was wirst du tun?« fragte er schließlich. Sie hatte sich erhoben, war näher zu dem Kamin feuer getreten, vor dem sie sich jetzt leicht in den
Hüften wiegte, so daß ihr ganzer Körper im Wider schein der Flammen funkelte und glitzerte. Mit schlangenhafter Behendigkeit und Geschmeidigkeit glitt sie nun zurück in ihren Sessel. Und plötzlich war er sich bewußt, daß ihre Schönheit mehr war als menschlich, um so viel mehr, als er gefürchtet hatte, daß sie es weniger sein würde. »Ich habe alles für mein Auftreten vorbereitet«, sagte sie, und ihre Stimme zitterte in der ihm vertrau ten Mischung von freudiger Erregung und Trotz. Harris fuhr hoch. »Wie? Wo? Es ist doch keinerlei Reklame gemacht worden? Ich verstehe nicht ...« »Aber, aber, Johnnie«, beschwichtigte ihn ihre la chende Stimme. »Du wirst selbstverständlich alles für mich erledigen, wenn ich den Start hinter mir habe, d.h., wenn du es noch willst. Doch die erste Vorstel lung habe ich selbst arrangiert. Es wird eine Überra schung sein. Ich hatte das Gefühl, daß es eine Überra schung sein müßte. Sei mir bitte nicht böse deswegen. Publikumspsychologie war für mich immer mehr ei ne Sache des Gefühls als des Verstandes, und ich füh le, dies ist der einzig mögliche Weg. Mein Fall ist oh ne Beispiel. Nie hat es etwas Ähnliches gegeben ... wie mich. Ich muß mich auf meine Intuition verlas sen.« »Willst du damit sagen, daß es eine vollkommene Überraschung sein wird?«
»Ich bin der Ansicht, daß es so sein muß. Ich will nicht, daß die Menschen mich mit vorgefaßten Mei nungen wiedersehen. Ich will, daß sie mich so sehen, wie ich jetzt bin, bevor sie erfahren, wen oder was sie sehen. Sie müssen eingesehen haben, daß ich so gut bin wie früher, bevor sie sich meiner erinnern und meine Leistung mit meinen früheren vergleichen können. Ich will nicht, daß sie kommen, bereit, meine Handikaps zu bemitleiden ... ich habe keine! ... oder getrieben von morbider Neugierde. Und deshalb werde ich im regulären Achtuhrabendprogramm der Teleo-City-Station auftreten. Ich werde nur eine der üblichen Varieténummern dieses Programms sein. Alles ist vorbereitet. Sie haben es natürlich so einge richtet, daß ich der Höhepunkt des Abends sein wer de, doch ich habe ihnen verboten, zu sagen, wer ich bin, bevor mein Auftritt zu Ende ist ... wenn mich die Zuschauer nicht vorher erkannt haben.« »Die Zuschauer?« »Ja. Hast du vergessen, daß sie immer noch vor ei nem richtigen Theaterpublikum spielen bei den Sen dungen von Teleo-City? Dies ist der Grund, weshalb ich mein neues Debüt dort machen will. Ich habe immer besser gespielt, wenn Zuschauer im Studio anwesend waren; denn so konnte ich meine Wirkung kontrollieren. Ich glaube, es geht den meisten Künst lern so. Alles ist besprochen und festgelegt.«
»Weiß Maltzer etwas davon?« Sie erhob sich. »Noch nicht.« »Doch er wird seine Einwilligung dazu geben müs sen, meinst du nicht? Ich denke ...« »Höre mich an, John! Das ist ein Gedanke, den ihr beide, du und Maltzer, euch aus dem Kopf schlagen müßt. Ich gehöre nicht ihm. In gewissem Sinn war er mein Arzt während einer langen Krankheit, doch es steht mir frei, ihn zu entlassen, wann immer ich will. Wenn es je zu gerichtlichen Auseinandersetzungen käme, mag ihm eine Menge Geld zugesprochen wer den für die Arbeit, die er an meinem neuen Körper ge leistet hat ... doch nur an meinem Körper, nicht an mei ner Person. Er mag meinen Körper als seine Maschine betrachten, doch ich, Deirdre, gehöre ihm nicht, son dern nur mir allein, wie vorher. So denke ich wenig stens. Ich weiß nicht, wie die Gerichte darüber ent scheiden würden. Wir haben es hier wieder mit einem nie dagewesenen Problem zu tun. Der Körper mag sein Werk sein, doch das Gehirn, das ihn zu mehr macht als zu einer Zusammenstellung von Metallringen, das bin ich, und er kann mich gegen meinen Willen von nichts abhalten, selbst wenn er es wollte. Nicht rechtlich, und auch nicht ...« Sie unterbrach sich und senkte den Kopf. Zum erstenmal spürte Harris hinter ihrer Maske etwas, das ihm fremd war. »Nun«, fuhr sie fort, »dieses Pro blem wird sich nie stellen. Maltzer und ich, wir sind uns
in diesem Jahr zu nahe gekommen, als daß wir uns über etwas so Wesentliches streiten könnten. In seinem Her zen weiß er, daß ich recht habe, und er wird nicht ver suchen, mich zurückzuhalten. Sein Werk wird nicht vollendet sein, solange ich nicht das tue, wozu ich ge schaffen bin. Und ich werde es tun.« Das seltsame Gefühl von etwas, das nicht Deirdre war, das wie etwas Neues, Fremdes von ihr ausging, blieb in Harris' Gedächtnis haften, und er beschloß, sich später Gedanken darüber zu machen. Jetzt sagte er nur: »Ich glaube, Deirdre, ich kann dir nur zu stimmen. Wann wirst du es tun?« Sie wandte den Kopf von ihm weg, so daß er sie nur im Profil sah, und der goldene Schädel mit der gläsernen Mondsichel und keinem anderen menschli chen Zug außer der angedeuteten Linie des Backen knochens erschien ihm jetzt als etwas unergründlich Geheimnisvolles. »Heute abend«, sagte sie. Maltzers abgemagerte Hand zitterte so sehr, daß er den Fernsehapparat nicht einschalten konnte. Er ver suchte zweimal, lachte nervös und wandte sich dann um zu Harris. »Stellen Sie das Ding ein«, sagte er. Harris sah auf seine Uhr. »Es ist noch nicht soweit. Sie tritt erst in einer halben Stunde auf.«
Maltzer machte eine ungeduldige Bewegung. »Stel len Sie schon ein!« Harris zuckte die Achseln und drehte den Knopf. Der Bildschirm begann zu flim mern und zeigte dann eine große, düstere, mittelalter liche Halle, in deren Halbdunkel Menschen in bunten Kostümen wie Insekten durcheinanderwimmelten. Da die Handlung des Stückes etwas mit der Königin Maria Stuart von Schottland zu tun hatte, waren die Schauspieler nach der elisabethanischen Tracht ge kleidet, doch da jede Zeit dazu neigt, historische Ko stüme ihrem eigenen Geschmack anzugleichen, wa ren die Frauen in einem Stil frisiert, der Elisabeth verblüfft hätte, und ihre Fußbekleidung war voll kommen anachronistisch. Die Halle löste sich auf, und ein Gesicht kam ins Bild. Es war die Darstellerin der Maria Stuart, eine dunkelglühende Schönheit in schwarzem Samtkleid mit Spitzenkragen und schimmernder Perlenkrone. Maltzer stöhnte. »Mit so etwas will sie konkurrieren«, sagte er dumpf. »Glauben Sie, sie könnte es nicht?« Maltzer schlug mit beiden Handflächen auf die Armlehnen seines Sessels und rief gereizt aus: »Na türlich kann sie es nicht. Sie hat keinen Sex-Appeal. Sie ist keine Frau mehr. Sie weiß es noch nicht, aber sie wird es schon merken.« Harris sah ihn verblüfft an. Dieser Gedanke war
ihm noch nicht gekommen, so sehr hatte seine Erin nerung an die frühere Deirdre die Wirklichkeit der neuen überdeckt. »Sie ist nur noch eine Abstraktion«, fuhr Maltzer fort, mit zitternden Fingern in schnellem, nervösem Rhythmus auf den Armlehnen trommelnd. »Ich weiß nicht, was geschehen wird, doch es wird eine Kata strophe werden. Sie hat alles verloren, was das Publi kum früher bezauberte, und sie wird es schon zu spüren bekommen. Und dann ...« Er lächelte bitter und schwieg. »Sie hat nicht alles verloren«, widersprach ihm Harris. »Sie kann tanzen und singen so gut wie je, vielleicht sogar noch besser. Sie hat immer noch Charme und Anmut ...« »Ja, aber woher kamen Charme und Anmut? Nicht aus den Ganglien ihres Gehirns. Nein, sie waren ein Produkt ihres Kontaktes mit anderen Menschen, mit all den Dingen, die auf dem Umweg über die Sinne den Geist befruchten und anregen. Und sie hat drei von ihren fünf Sinnen eingebüßt. Alles, was sie nicht sehen oder hören kann, existiert nicht mehr für sie. Eine der stärksten Waffen für eine Frau von ihrer Art ist das Wissen um ihre erotische Wirkung. Sie wissen, wie sie sprühte, wenn ein Mann ins Zimmer trat. Die ses elektrisierende Fluidum hat sie verloren, und es war wesentlich für ihren Erfolg. Sie wissen auch, wel
chen Auftrieb der Alkohol ihr geben konnte. Auch damit ist es vorbei. Sie könnte weder Getränke noch Speisen schmecken, selbst wenn sie ihrer bedürfte. Parfüm, Blumen und alle Gerüche, die uns anregen, sagen ihr nichts mehr. Sie kann auch nichts mehr er fühlen durch ihren Tastsinn. Sie pflegte sich mit Lu xus zu umgeben, um sich an ihm zu berauschen. Al les das entfällt für sie. Sie ist jeder unmittelbaren phy sischen Empfindung für immer beraubt.« Er starrte auf den Bildschirm, ohne ihn zu sehen. Die hohlen Augen und Wangen gaben seinem Kopf das Aussehen eines Skelettschädels. Alles Fleisch über den Knochen schien sich in der verzehrenden Arbeit des vergangenen Jahres aufgelöst zu haben, und in einer Anwandlung von Eifersucht, die ihn selbst erschreckte, dachte Harris, daß er auf diese Weise Deirdre immer ähnlicher wurde. »Das Gesicht«, sagte Maltzer, »ist der am höchsten zivilisierte aller Sinne. Er kam als letzter. Die anderen Sinne wurzeln tiefer; mit ihnen nehmen wir schärfer wahr und mehr, als wir wissen. Die Dinge, die wir durch Tasten, Riechen und Schmecken wahrnehmen, beeinflussen uns direkt, ohne den Umweg über die Gehirnzentren des bewußten Gedankens. Sie wissen, wie oft ein Geschmack oder ein Geruch eine Erinne rung in uns wachrufen, ohne daß wir uns der Zu sammenhänge bewußt werden. Wir brauchen diese
primitiven, instinktähnlichen Sinne, um die unbe wußte Verbindung mit der Natur und unseren Art genossen herzustellen. Durch diese unterschwelligen Kanäle bezog Deirdre ihre Vitalität, ohne es zu wis sen. Das Sehen ist eine kalte, intellektuelle Funktion im Vergleich zu den anderen Sinnesempfindungen, und es ist die einzige, deren Deirdre sich noch bedie nen kann. Sie ist kein menschliches Wesen mehr, und ich glaube, was noch an Menschlichem an ihr übrig geblieben ist, wird allmählich dahinschwinden und kann nie mehr ersetzt werden.« »Gewiß, in diesem Sinn ist sie kein Mensch mehr«, sagte Harris zögernd. »Doch sie ist auch kein reiner Roboter. Sie ist etwas zwischen den beiden, etwas Einmaliges, Niedagewesenes, und deshalb halte ich es für müßig, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie sie sich entwickeln wird.« »Darüber brauche ich mir den Kopf nicht mehr zu zerbrechen«, erwiderte Maltzer grimmig lächelnd. »Das weiß ich. Ich wünschte, ich hätte sie sterben las sen. Was ich ihr angetan habe, ist tausendmal schlimmer als das, was das Feuer ihr je hätte antun können. Ich hätte sie ihm überlassen sollen.« »Warten Sie es ab«, sagte Harris teilnahmsvoll, »bald werden wir Gewißheit haben. Und ich glaube, Sie werden nicht recht behalten.« Auf dem Fernsehschirm stieg jetzt Maria Stuart, die
Königin von Schottland, die Stufen des Schafotts hin an. Das traditionelle, scharlachrote Kleid schmiegte sich eng und warm um ihre jugendlich geschmeidi gen Formen, die ebenso unhistorisch waren wie die Slippers, die sie unter dem Saum ihres Kleides sehen ließ; denn, wie jedermann außer den Stückeschrei bern weiß, war Maria weit über die mittleren Jahre hinaus, als sie starb. Graziös beugte die unzeitgemäße Maria ihren Kopf, strich die langen Haare aus dem Nacken und kniete nieder. Mit verlorenem Blick beobachtete Maltzer die Vor gänge auf dem Schirm. Er sah dort eine andere Frau. »Ich hätte es nicht erlauben dürfen«, murmelte er. »Ich hätte sie es nicht tun lassen sollen.« »Glauben Sie wirklich, Sie hätten sie davon abhal ten können, wenn Sie es versucht hätten?« fragte Har ris ihn leise. Maltzer sah ihn an mit leerem Blick und schüttelte dann den Kopf. »Nein, ich glaube nicht. Ich überlege mir, ob ich es ihr nicht hätte leichter machen können, wenn ich langsamer und länger an ihr gearbeitet hätte ... Nein, ich glaube es nicht. Früher oder später hätte sie es doch getan und tun müssen, um sich selbst durch die Öffentlichkeit bestätigt zu sehen.« Er sprang auf, stieß seinen Stuhl zurück. »Wenn sie nur nicht so ... so zer brechlich wäre. Sie weiß selbst nicht, wie labil ihr in neres Gleichgewicht ist. Wir haben ihr alles gegeben,
was wir konnten ... die Künstler, die Wissenschaftler, die Techniker und ich selbst ... doch sie ist trotz allem im Vergleich zu einem normalen Menschen so bemit leidenswert benachteiligt. Sie wird immer nur eine Abstraktion bleiben, ein künstliches Gebilde, abge schnitten von der Welt durch Handikaps, schlimmer in ihrer Art, als sie je ein Mensch vor ihr zu erleiden hatte. Früher oder später wird sie es entdecken. Und dann ...« Er begann hin und her zu laufen, mit kur zen, ungleichen Schritten, hilflos die Hände mit ge spreizten Fingern zusammenschlagend. Sein Gesicht zuckte in unregelmäßigen Abständen, sein rechtes Auge zu einem Schielen verzerrend. Harris sah mit Entsetzen, wie nahe dieser Mann einem Nervenzu sammenbruch war. »Können Sie sich vorstellen, was das bedeutet?« fragte Maltzer ihn, sich in immer größere Erregung steigernd. »Eingesperrt zu sein in einen toten Ma schinenleib, nichts von der Außenwelt wahrnehmen zu können als das, was Gehör und Gesicht einlassen? Zu wissen, daß Sie kein Mensch mehr sind? ... Sie hat ohnedies schon genug durchgemacht! Wenn sie nun auch dieser Schock noch trifft ...« »Schweigen Sie!« unterbrach ihn Harris schroff. »Wenn Sie selbst zusammenbrechen, ist ihr auch nicht geholfen. Sehen Sie! ... Eben beginnt ihre Num mer.«
Große, goldene Vorhänge hatten sich über dem unglückseligen Ende der Maria von Schottland ge schlossen und gingen jetzt wieder auseinander, alle Trauer über ihr Schicksal noch einmal gründlicher wegwischend, als es die vergangenen Jahrhunderte bereits getan hatten. Und man sah unter dem gewal tigen Bogen der Bühne eine schnurgerade Reihe von winzigen Tänzerinnen ins Bild marschieren, Arme und Beine mit der Präzision mechanischer Puppen schwingend, die aus der großen Entfernung zu klein und vollkommen wirkten, um menschlich zu erschei nen. Jetzt stürzte die Kamera auf sie herunter, fuhr die Reihe entlang, und die gefroren lächelnden Ge sichter huschten vorbei wie die Pfahlspitzen eines Zaunes. Dann stieg die Kamera senkrecht nach oben und zeigte die Tänzerinnen aus großer Höhe, und in der grotesken Verkürzung der Vogelperspektive wirkte die exakte Gleichförmigkeit ihrer Bewegungen noch unmenschlicher, als sie wieder abmarschierten, begleitet vom Beifall eines unsichtbaren Publikums. Die zweite Nummer bestritt ein dunkelhäutiger Mensch mit nacktem Oberkörper, der einen wilden Tanz mit brennenden Fackeln vorführte. Die langen Flammen züngelten hinauf bis in die Wolken, die aussahen wie Watte, aber wahrscheinlich aus As bestwolle bestanden. Nach ihm trat eine Gruppe in pseudoklassischen Kostümen auf und produzierte
sich als singendes Ballett. Was sie zeigten und hören ließen, hatte herzlich wenig zu tun mit dem Titel ih rer Nummer, die als »Kampf der Sylphiden« ange zeigt worden war. Dann kamen die tanzenden Pup pen wieder, warfen die Beine noch höher, aber eben so gleichmäßig wie zuvor. Maltzer begann Symptome gefährlich wachsender Spannung zu zeigen, während ein Bild dem anderen folgte. Deirdre würde als letzte auftreten. Endlose Stunden schienen auch Harris vergangen zu sein, als ein feierliches Gesicht in Großaufnahme auf dem Bildschirm aufblendete. Es war der oberste Zeremo nienmeister der Show. Er kündigte als Schlußnum mer eine besondere Überraschung an. Seine Stimme zitterte vor Erregung. Vielleicht hatte auch er erst in letzter Minute erfahren, was dem Publikum bevor stand. Die beiden Männer vor dem Bildschirm konnten die Wirkung seiner Worte auf die Zuschauer im Theater nicht sehen, doch sie hörten aus dem Laut sprecher das verhaltene Murmeln wachsender Erre gung, als ob die Menschen vorweg spürten, was sie erwartete. Jetzt zeigte das Bild wieder den geschlossenen gol denen Vorhang. Er teilte sich, wurde in langge schwungenen Falten seitlich nach oben gezogen und gab den Blick auf die Bühne frei, die von einem gold
schimmernden Nebel erfüllt war. Harris erkannte so fort, daß diese Wirkung von einer Reihe hintereinan derhängender Gazevorhänge hervorgerufen wurde, doch er konnte sich ihr nicht entziehen. Man glaubte zu ahnen, daß sich hinter diesem Nebel etwas Einma liges, Kostbares verbarg. So mag die Welt am Morgen des ersten Schöpfungstages ausgesehen haben, dach te Harris, bevor Himmel und Erde im Geist Gottes Gestalt angenommen hatten. In seiner Symbolwir kung war es ein überaus glücklich gewähltes Büh nenbild angesichts der besonderen Erfordernisse, für die es erstellt werden mußte. Die Geräusche aus dem Publikum waren ver stummt. Eine ungewöhnliche Spannung lag in der Luft. Dies war nicht die übliche Stille vor einer neuen Nummer. Niemand wußte, was jetzt kam, doch alle schienen das Außergewöhnliche zu ahnen. Der goldschimmernde Nebel begann zu wallen und dünner zu werden, als jetzt ein Schleier nach dem anderen kaum merkbar nach oben gezogen wurde. Der Hintergrund blieb dunkel, doch vor ihm begannen sich die goldenen Säulen einer Balustrade abzuzeichnen, die sich von rechts und links in langen Kurven, eine Treppe einrahmend, nach oben schwang. Boden und Treppe waren mit schwarzen Samtteppichen belegt, und schwarze Samtvorhänge schlossen den Horizont ab, nur über dem Ende der
Treppe einen Spalt freilassend, durch den ein dunk ler, mattbestirnter Himmel schimmerte. Der letzte der goldenen Gazeschleier wurde hoch gezogen. Die Bühne war leer. Oder sie schien leer zu sein. Trotz der Entfernung zwischen dem Bildschirm und dem Raum, den er zeigte, glaubte Harris zu spü ren, daß das Publikum nicht darauf wartete, die an gekündigte geheimnisvolle Attraktion von der Seite auftreten zu sehen. Kein Rascheln, kein Husten, kein Geräusch der Ungeduld war zu hören, seit der erste Vorhang sich gehoben hatte, als wüßten die Men schen, daß jemand auf der Bühne war, obwohl sie ihn nicht sahen. Für mehrere Sekunden blieb das feierliche Bild vollkommen reglos. Dann aber begann sich am Kopf der Treppe, wo die beiden Bogen der Balustrade zu sammentrafen, eine Gestalt zu bewegen. Bis zu diesem Augenblick schien sie eine der gol denen Säulen gewesen zu sein. Sie verließ ihren Platz nicht, bewegte sich auf der Stelle, nur so viel, daß die über das Gold ihres Kopfes, ihrer Arme und ihres Gewandes laufenden Lichtreflexe ihre Anwesenheit verrieten. Dann, nachdem sie die Blicke aller gefan gen hatte, stand sie wieder unbeweglich wie vorher, doch jetzt schien sie belebt vom Widerschein der un zähligen Augenpaare, die fragend auf sie gerichtet waren. Die Kamera fuhr dicht näher an sie heran zur
Großaufnahme. Ihr Geheimnis blieb noch unenthüllt, denn die Menschen vor den Fernsehschirmen sahen sie nicht deutlicher als das Publikum im Theater. Viele mußten sie zweifellos für eine auf wunderba re Weise belebte Roboterfigur halten, die, an unsicht baren Drähten hängend, vor dem schwarzen Samt vorhang schwebte; denn eine in Metall gekleidete Frau konnte sie nicht sein, dazu waren ihre Propor tionen zu klein und zu zart. War es vielleicht ihre Ab sicht, zunächst diesen Eindruck des Roboterhaften zu erwecken? Ihre säulenhafte Starrheit war jetzt einer verhaltenen Ruhe gewichen; sie stand da in ihrer rät selhaften, goldenen Schönheit, eine maskierte, ge heimnisvolle Gestalt, seltsam gesichtslos, unwahr scheinlich schlank in ihrem Gewand, das sie in lan gen, klassischen Falten umhüllte wie ein griechisches Chlamys, ohne ihr jedoch das Aussehen einer Grie chin des Altertums zu geben. Ihr goldener Visierhelm und das Kettengewebe ihres Gewandes drängten Harris auch dieses Mal sofort wieder zu einem Ver gleich mit einem gepanzerten Ritter des Mittelalters. Doch die Zierlichkeit ihrer Erscheinung und die Zart heit ihrer Glieder widersprachen der Vorstellung, daß ein irdischer Mensch in diesem Panzer stecken sollte. Sie mußte allen als ein Wesen aus einer anderen Welt erscheinen, als eine lebendig gewordene Sagengestalt. Eine Welle raunender Überraschung war durch die
Zuschauer gegangen, als sie sich bewegte. Jetzt war die Luft des Theaters wieder erfüllt von dem kni sternden Schweigen gespannter Erwartung. Und die se Spannung war stärker, als nur das bisher Gesehene sie normalerweise hätte hervorrufen können. Selbst diejenigen, die sie nur für eine zwerghafte Glieder puppe hielten, schienen das Ungewöhnliche der zu erwartenden Enthüllung zu fühlen. Jetzt trat sie aus der Reihe der Säulen und begann, langsam die Stufen herabzusteigen, mit wiegenden Schritten und gleitenden Bewegungen, die in ihrer fließenden Geschmeidigkeit dem Auge nicht mehr menschlich, aber auch nicht tierhaft oder maschi nenmäßig erschienen. Von Stufe zu Stufe wurden diese Bewegungen ausgreifender, und als sie die Ebene der Bühne erreicht hatte, waren sie zum Tanz geworden. Doch es war kein Tanz, den ein menschli ches Wesen hätte tanzen können. Kein Körper, der durch Knochen zusammengehalten wurde und sich in Gelenken bewegte wie der eines Menschen, wäre, ohne sich grotesk zu verrenken, fähig gewesen, seine Glieder so spielen zu lassen, wie sie es jetzt tat. In langen, langsamen Schritten bewegte sie sich vor wärts, fast schleichend und doch wie schwebend, Rumpf und Arme in ständiger, rhythmischer Wellen bewegung. Harris erinnerte sich, daß er gefürchtet hatte, sie würde sich eckig und knarrend wie eine
Marionette bewegen. Im Vergleich zu dem, was er jetzt sah, erschien ihm menschliche Gelenkigkeit nur als hölzerne Unbeholfenheit. Die Figuren, die sie tanzte, wirkten mühelos gekonnt, fast improvisiert, wie es bei jedem guten Tänzer sein soll, doch Harris wußte, wie viele Stunden harten Trainings ihre Zu sammenstellung und Einstudierung erfordert hatten, zumal sie erst lernen mußte, ihren neuen, so ganz an dersartigen metallenen Körper zu beherrschen. Vor dem schwarzsamtenen Hintergrund der Vor hänge webte sie, auf dem schwarzsamtenen Teppich hin- und hergleitend, das verschlungene Muster ihres Tanzes, in scheinbar absichtsloser Leichtigkeit, doch mit solch nachhaltiger Suggestivität, daß die Figuren sich in der Luft nachzubilden schienen, als ob ihr sich windender Leib Schleifen aus Rauch zeichnete, die sich nur langsam verflüchtigten, während sie sich entfernte. Harris glaubte zu spüren, wie der ganze Bühnenraum sich mit den Bildern ihres seltsamen Tanzes füllte, so daß die Zuschauer sie überall gleich zeitig sehen mußten. Jetzt klang Musik auf, ein einzelner Ton, schwach vibrierend und gleitend, und sein Echo schien ihr zu folgen wie die schimmernden Spuren, die ihr golde ner Tanz hinterließ. Doch es war kein Instrument. Es war ihre Stimme. Sie summte, tief und weich, unarti kuliert und wortlos, während sie weiter, schimmernd
und sich windend, über den schwarzen Teppich glitt. Der Umfang ihrer Stimme war verblüffend. Sie schien das ganze Theater zu füllen, obwohl sie nicht durch verborgene Mikrophone und Lautsprecher verstärkt war. Dies konnte man untrüglich hören. Sie war frei von den feinen Unebenheiten, die jede elektrische Verstärkung mit sich bringt. Sie klang so rein und so unmittelbar echt, wie wohl niemals ein Ohr eine Stimme zugleich so laut und so mühelos hatte singen hören. Und während sie tanzte und sang, schien das Pu blikum den Atem anzuhalten. Vielleicht begannen die Menschen schon zu ahnen, wer und was sich da vor ihnen bewegte ohne die vorherige Ankündigung durch Reklamefanfaren, deren Überfall sie seit Wo chen halb erwarteten. Und doch war es ohne volle Gewißheit nicht leicht für sie, die Tänzerin, die sie sa hen, nicht für eine kunstvoll bewegte Gliederpuppe zu halten, die an unsichtbaren Schnüren auf die Büh ne herabhing. Nichts von dem, was sie bis jetzt getan hatte, war menschlich gewesen. Der Tanz war etwas, das auch der unnatürlichste Schlangenmensch nicht hätte voll bringen können. Die Töne, die sie summte, kamen aus einem Kehlkopf ohne Stimmbänder. Doch jetzt ging der Tanz seinem Ende zu. Die Schleifen der Fi guren verengten sich zur Mitte der Bühne. Und sie
bewahrte bis zum Schluß den gleichen nichtmensch lichen Charakter in ihrem Verhalten, den sie ihrem Auftreten von Anfang an gegeben hatte. Sie wollte ih rem Publikum ihren Willen aufzwingen, wie sie es immer getan hatte; sie wollte verhindern, daß es ap plaudierte. Es war ihre Absicht, den Eindruck auf rechtzuerhalten, als ob eine Maschine den Tanz vor geführt haben könnte, und eine Maschine erwartet keinen Applaus. Wenn die Zuschauer glaubten, daß die Hände unsichtbarer Operateure sie geführt hat ten, dann würden sie darauf warten, daß die Puppen spieler erschienen, um sich zu verbeugen. Doch sie hatte auch dieses Mal ihr Publikum in der Gewalt, hatte es da, wo sie wollte. Die Menschen saßen un bewegt, als erwarteten sie jetzt erst den Höhepunkt dieser Nummer. Ihr Schweigen war erfüllt von atem loser Spannung. Der Tanz endete, wie er begonnen hatte. Langsam, zugleich schreitend und schwebend, stieg sie die Stu fen wieder hinauf. Doch dieses Mal begleitete sie die unwirklichen Bewegungen ihres Körpers mit der ebenso unwirklichen Musik ihrer Stimme. Als sie die Höhe der Treppe erreicht hatte, drehte sie sich um, wandte ihr Maskengesicht dem Publikum zu und blieb für einen Augenblick stumm und bewegungslos stehen wie eine leblose Metallmarionette, deren Dräh te der unsichtbare Operateur locker gelassen hatte.
Dann, bestürzend unvermittelt, begann sie zu la chen. Es war ein liebliches Lachen, tief, weich, süß und vollkehlig. Sie warf den Kopf zurück, schüttelte die Schultern und ließ eine Wellenbewegung durch ihren Körper laufen, und das Lachen füllte das Theater, wie ihr Gesang es getan hatte, stieg hinauf bis unters Dach, vervielfältigte sich in seinem Echo und klang im Ohr eines jeden, der es hörte, nicht grell und schal lend, sondern so intim und vertraulich, als sei er al lein mit der Frau, die dort oben lachte. Denn jetzt war sie eine Frau, ein Mensch. Die Menschlichkeit hat sich über sie gesenkt wie ein neu es Gewand. Jeder, der dieses Lachen schon einmal gehört hatte, würde es wiedererkennen. Doch bevor die Erkenntnis, wer sie war, in den Zuhörern voll aufdämmern konnte, ließ sie das Lachen in ein Singen übergehen, dessen keine menschliche Stimme fähig war. Sie summte, und wieder hörte jeder, als gelte sie nur ihm, die zarte Melodie eines vertrauten Refrains. Dann wurden aus dem Summen Worte, und sie sang in ihrer herben und doch so lieblichen Stimme: »Die gelbe Rose von Eden blüht in meinem Herzen ...« Es war Deirdres Lied. Sie hatte es zum erstenmal ei nen Monat vor dem Theaterbrand gesungen. Die Me lodie war schlicht und einfach, einfach genug, um schnell beliebt zu werden bei einer Nation, die eine
Schwäche für das Naive in der Kunst zeigte; doch sie hatte auch einen gewissen Ernst und war frei von dem vulgären Beiklang, der so viele Schlager in Vergessen heit geraten läßt, nachdem ihre Neuheit verbraucht ist. Niemand war je fähig gewesen, dieses Lied so zu singen, wie Deirdre es sang. Es war in solchem Maße mit ihrer Person identifiziert worden, daß nach ihrem Unglücksfall mehrere Sänger und Sängerinnen ver sucht hatten, aus ihm eine Art klingenden Denkmals für sie zu schaffen, doch sie scheiterten alle an ihrem Unvermögen, ihm den Schmelz zu geben, den Deir dres Stimme ihm verliehen hatte. Doch wer immer die kleine Melodie vor sich hinsummte, tat es nicht, ohne an sie zu denken und erfüllt zu werden von me lancholischer Trauer über den Verlust, den ihr Ver stummen für Millionen von Menschen bedeutete. Doch jetzt weckte das Lied keine Gefühle der Trau er. Wenn einer noch Zweifel gehabt hatte, wessen Gehirn und Charme diese golden-schimmernde Ge schmeidigkeit belebte, wußte es jetzt; denn dies konn te nur Deirdres Stimme sein. Und in der Rückerinne rung erkannten sie sie auch wieder an der unver gleichlichen Anmut der Bewegungen ihres neuen Körpers, so sicher, als sähen sie ihr vertrautes Gesicht vor sich. Sie hatte noch nicht die erste Strophe des Liedes beendet, als auch der letzte sie erkannt hatte. Und sie ließen sie nicht zu Ende singen. Die Impul
sivität, mit der sie sie unterbrachen, war ein beredte res Zeugnis des Triumphes, als höfliches Abwarten es je hätte sein können. Zuerst ertönten unterdrückte Ausrufe ungläubigen Staunens in den Reihen des Pu blikums. Dann ging ein tiefes Aufstöhnen durch das Theater; es erinnerte Harris unwillkürlich an die Wir kung, die der sagenhafte, vor vielen Generationen be rühmt gewesene Rudolph Valentino auf die Zu schauer ausübte, wenn sein Bild bei der gelegentli chen Wiederaufführung eines seiner Filme zum er stenmal auf der Leinwand erschien. Doch die atem verschlagende Beklemmung, die Deirdre in ihrem Publikum ausgelöst hatte, erstickte nicht in sich selbst, sie war erfüllt von einer explosiven Spannung, die sich zunächst in vereinzelt aufknatternden Klatschsalven, anschwellenden Bravorufen und Ju belschreien entlud; und diese vereinten sich dann, wild aufbrandend, zu einem ungeheuren Beifalls sturm, der das Theatergebäude in seinen Fundamen ten zu erschüttern schien. Der Fernsehschirm zitterte, und das Bild verzerrte sich leicht unter der Wirkung des orkanartigen Applauses, der über den Äther kam. Deirdre, so selbst zum Verstummen gebracht, stand oben auf der Treppe, verbeugte sich immer wieder inmitten der zu ihr heraufrollenden Wogen der Begeisterung, sichtlich schwankend unter ihrem Anprall oder vor innerer Bewegung.
Harris war, als lächelte sie, als liefen ihr Tränen über die Wangen. Während Maltzer sich vorbeugte, um das Fernsehgerät abzuschalten, sah er noch, daß sie die goldschimmernden Arme zu dem mundlosen Gesicht hob, um ihrem Publikum in altgewohnter Weise Handküsse zuzuwerfen. »Nun?« sagte Harris, nicht ohne Triumph. Maltzer schüttelte heftig den Kopf, so daß seine Brillengläser aufblitzten. »Natürlich haben sie applaudiert, Sie Narr«, rief er wütend aus. »Kein Wunder bei dieser raffinierten Aufmachung. Doch das beweist gar nichts. Sie hat ihr Publikum wunderbar überrumpelt, das muß ich zugeben. Aber diese Herdenmenschen haben ebenso sehr sich selbst applaudiert wie ihr. Das war doch nur befriedigte Sensationsgier, gemischt mit Dankbarkeit für die Gnade, einem historischen Ereignis beiwoh nen zu dürfen, ein Ausbruch selbstgefälliger Massen hysterie! Die wahre Prüfung aber beginnt erst jetzt, und dieser erste Scheinerfolg hat es für sie nicht leich ter gemacht, im Gegenteil. Die Begeisterung wird bald verfliegen, wenn die erste Neugier gestillt ist. Man wird sie bemitleiden oder über sie lachen, wenn man ihr Geheimnis bis in die letzten Details ausge schnüffelt hat. Und sie selbst wird immer unsicherer werden, wenn sie spürt, daß die Wirkung ihres ersten
Überraschungserfolges dahinschwindet. Was noch an Menschlichkeit in ihr vorhanden ist, wird allmählich absterben, weil ihr jeder echte Kontakt mit anderen Menschen fehlt, um Mensch unter Menschen bleiben zu können. Sie wird in der Einsamkeit ihres isolierten Gehirns, im Gefängnis ihres fleisch- und nervenlosen Maschinenkörpers verzweifeln oder ...« Er sprach nicht weiter. Seine Augen starrten ins Leere. Harris erinnerte sich plötzlich an den Gedanken, der ihm am Nachmittag in Deirdres Gegenwart ge kommen war und den er beiseite geschoben hatte, um ihn später zu Ende zu denken. Er hatte geglaubt, et was Fremdes, Beängstigendes hinter Deirdres Worten mitschwingen zu hören. Hatte Maltzer recht? War dieser Vorgang der vollkommenen Entmenschli chung, von dem er gesprochen hatte, schon im Gan ge? Oder hatte diese Entfremdung andere, tiefere Gründe? Gründe, die gewöhnliche Sterbliche viel leicht nie begreifen würden? War ihr Schicksal nicht einmalig? Hatte sie mit ihrem neuen metallenen Kör per eine neue Natur angenommen, die dem normalen menschlichen Verstand nicht zugänglich war? Für einige Minuten schwiegen die beiden Männer, ohne einander anzusehen, jeder in seine eigenen Ge danken versunken. Dann erhob sich Maltzer plötz lich, blickte wie geistesabwesend auf Harris herunter und sagte unvermittelt:
»Ich möchte, daß Sie jetzt gehen.« Harris sah bestürzt zu ihm auf. Maltzer wich sei nem Blick aus und begann wieder, mit kurzen, nervö sen Schritten auf- und abzugehen. Harris fahrige Sei tenblicke zuwerfend, stieß er mit heiserer Stimme hervor: »Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe. Ich muß diesem Wahnsinn ein Ende machen. Mein Entschluß steht fest.« Harris sprang auf. »Hören Sie, Professor«, rief er aus, Maltzer den Weg versperrend, »das dürfen Sie nicht. Wer sagt Ihnen, daß Sie recht haben mit Ihren Befürchtungen? Sie können sich irren. Und was dann? Ich habe mit Deirdre gesprochen. Ich habe nichts an ihr beobachtet, was Ihnen das Recht gibt, Ihrer Sache so sicher zu sein. Oder haben Sie Gründe für Ihre Meinung, die ich nicht kenne?« Maltzer nahm seine Brille ab und begann, schwei gend seine Nase zu reiben, als widerstrebe es ihm, zu antworten. Doch als er dann schließlich sprach, klang aus seiner Stimme eine ruhige Sicherheit, die Harris nicht erwartet hatte. »Ich habe einen Grund«, sagte er langsam. »Doch Sie werden ihn nicht verstehen. Niemand kann es.« »Versuchen Sie es! Vielleicht kann gerade ich Sie verstehen.« Maltzer schüttelte den Kopf. »Nein, auch Sie nicht! Nie hat zwischen zwei Menschen ein auch nur annä
hernd ähnliches Verhältnis bestanden wie zwischen Deirdre und mir. Ich habe ihr geholfen, zurückzukeh ren aus völliger ... oder nahezu völliger Vergessenheit. Ich habe den ersten Kontakt mit ihr aufgenommen, be vor sie wieder hören, sehen oder sprechen konnte. Da mals war sie nur ein hilfloses Gehirn, erfüllt von irrsin nigem Schrecken über das, was ihr geschehen war, und von panischer Angst vor dem, was aus ihr werden soll te. Aus diesem Zustand mußte ich sie Schritt für Schritt, mit äußerster Vorsicht, herausführen, sie eine geistige Wiedergeburt erleben lassen. Ich kannte ihre Gedan ken, bevor sie selbst sie dachte, lenkte sie, gab ihnen die Möglichkeit, sich zu äußern. Wer jemals so tief in das Wesen eines anderen Menschen eindringen mußte, ist gewissermaßen ein Teil von ihm geworden.« Er setze seine Brille wieder auf und sah Harris durch die dicken Gläser fast traurig an. »Deirdre ist nicht glücklich«, sag te er mit schwerer Stimme. »Ich weiß es. Sie mögen es ihr nicht ansehen, doch ich ... ich fühle es. Ich war ihr zu nahe. Vielleicht weiß sie selbst es noch nicht. Doch ir gend etwas quält sie tief innerlich. Wenn ich mit ihr zu sammen bin, spüre ich es ständig. Ich weiß nicht, was es ist, doch ich weiß, daß es sie vernichten wird, sobald es ihr voll zum Bewußtsein kommt. Und dies wird ge schehen, wenn sie das fortsetzt, was sie heute begonnen hat. Ich werde sie daran hindern, um sie vor sich selbst zu retten, bevor es zu spät ist.«
Harris wußte hierauf nichts zu erwidern. Was Maltzer da gesagt hatte, lag völlig außerhalb seiner Vorstellungswelt. Er versuchte auch nicht, es zu ver stehen. Er fragte nur: »Wie wollen Sie das machen?« »Ich weiß es noch nicht genau. Ich muß mir dar über klarwerden, bevor sie hierher zurückkommt. Und dann möchte ich mit ihr allein sein.« »Ich glaube nicht, daß Sie recht haben«, sagte Har ris mit ruhiger Stimme. »Sie sind überreizt, überarbei tet. Sie bilden sich Dinge ein, die nicht existieren. Ich glaube auch nicht, daß sie Deirdre jetzt noch zurück halten können.« Maltzer sah ihm in die Augen. »Ich kann sie zu rückhalten«, sagte er mit einem merkwürdigen Un terton und fuhr schnell fort. »Sie ist vollkommen ge nug. Sie ist fast menschlich. Sie kann ein normales Leben führen wie andere Menschen; sie braucht nicht zurückzugehen zur Bühne. Vielleicht genügt ihr auch dieser eine Erfolg. Ich muß sie davon überzeugen, daß es besser für sie ist, nicht weiterzumachen. Wenn sie jetzt aufhört, wird sie nie erfahren, daß es nur ein Scheinerfolg war, und nie die grausame Enttäu schung erleben, die sie erwartet, wenn sie das tut, was sie vorhat. Vielleicht verschwindet auch dann diese innere Unruhe, die sie jetzt quält und die sie auf die Dauer nicht ertragen kann. Sie ist zu zerbrechlich, um neue Erschütterungen überstehen zu können.« Er
straffte sich. »Ich muß sie davon abhalten. Ich muß es tun um ihrer selbst willen!« Er sah Harris durchdrin gend an. »Würden Sie jetzt bitte gehen?« In Harris verlangte alles danach, zu bleiben. Einen kurzen Augenblick dachte er daran zu sagen: »Nein!« Doch er mußte sich eingestehen, daß Maltzer, wenig stens teilweise, recht hatte. Dies war eine Angelegen heit zwischen Deirdre und ihrem Schöpfer, der Hö hepunkt einer Entwicklung, die sich im Laufe des vergangenen Jahres angebahnt hatte und jetzt zur Entscheidung drängte, der Endkampf um die geistige Oberherrschaft, ähnlich wie in einer Ehe. Ein Dritter hatte in diesem Augenblick nicht das Recht, sich zwi schen die beiden zu drängen. Er wußte, daß er, auch wenn er es versuchen wür de, diese Auseinandersetzung nicht verhindern konn te. Einer von den beiden würde als Sieger aus ihr hervorgehen. Oder würden sie beide, nach der unge heuren seelischen Belastung der letzten Zeit, daran zerbrechen? Und wenn Deirdre sich als die Stärkere erwies, war es dann zu ihrem Besten? Wollte Maltzer überhaupt ihr Bestes, oder trieb ihn eine seltsame Ei fersucht? Er stand schon auf der Straße und wollte eben einem Taxi winken, als ihm plötzlich einfiel, was Maltzer ge meint haben konnte, als er mit einem seltsamen Klang in der Stimme zu ihm sagte: »Ich kann sie zurückhalten.«
Ein kalter Schauer lief Harris über den Rücken. Maltzer hatte sie geschaffen, also wußte er auch, wie der mechanische Teil ihres Organismus funktionierte, und er konnte ihn beeinflussen, wenn er wollte. Gab es in ihr einen Schlüssel, einen Schalter oder einen Knopf, mit dem ihr Konstrukteur sie abstellen konnte wie einen Automaten? War er in der Lage, sie im Kä fig ihres eigenen Körpers gefangenzusetzen? Nie war ein künstlicher Leib entworfen worden, der besser dazu geeignet gewesen wäre, zum Gefängnis für Deirdres Gehirn, Verstand und Willen zu werden, wenn es Maltzer gefiel. Es mußte viele Wege geben, dies zu erreichen. Er brauchte vielleicht nur die Nah rungszufuhr, die das Gehirn notwendigerweise am Leben erhalten mußte, abzuschneiden. Doch Harris glaubte nicht, daß Maltzer dazu fähig war. Der Professor war nicht wahnsinnig. Er würde nicht sein eigenes Werk zerstören. Sein Entschluß entsprang gewiß nur echter Anteilnahme am Schick sal seines Geschöpfes; doch wenn Deirdre sich wei gerte, seinem gutgemeinten Rat zu folgen, war er dann nicht aus letzter Verantwortlichkeit als ihr Schöpfer gezwungen, sie gegen ihren Willen daran zu hindern, sich vollends unglücklich zu machen, indem er sie in ihrem eigenen Körper zur Bewegungslosig keit verurteilte? Harris blieb stehen, bereit, zurückzugehen. Doch
was konnte er tun? Selbst wenn Maltzer, aus welchen Gründen immer, zum letzten Mittel greifen würde, wer könnte es verhindern? Niemand auf der Welt außer ihm kannte das volle Geheimnis von Deirdres Wiedergeburt und Weiterleben ... Nein, Maltzer wür de es nicht tun. Harris wußte, daß er es nicht tun könnte. Er stieg in das Taxi. Morgen würde er sie bei de wiedersehen. Er sah sie nicht am nächsten Tag. Schon am frühen Morgen wurde er von aufgeregten Anrufen über schwemmt, die dem sensationellen Wiederauftreten Deirdres galten, doch weder Maltzer noch Deirdre selbst meldeten sich. Qualvoll langsam verging der Tag. Gegen Abend konnte er die Ungewißheit nicht länger ertragen und ließ sich über das Fernsehtelefon mit Maltzers Wohnung verbinden. Auf dem Bildschirm erschien Deirdres goldener Kopf, und dieses Mal war er nicht belebt durch die Erinnerung an ihre vertrauten Züge. Maskenhaft und gesichtlos starrte ihn die glatte, schimmernde Fläche an. »Ist alles in Ordnung?« fragte er in leichtem Unbe hagen. »Gewiß, warum nicht«, erwiderte sie, und ihre Stimme klang zum erstenmal metallisch leer, als dächte sie so intensiv an etwas anderes, daß sie kei nen Wert darauf legte, den richtigen Ton zu treffen.
»Ich hatte gestern nacht eine lange Unterredung mit Maltzer, wenn es das ist, was du meinst. Du weißt, was er von mir verlangt. Doch es ist noch nichts ent schieden.« Harris fühlte sich seltsam ernüchtert durch ihre unerwartete metallene Unnahbarkeit. Es war unmög lich, in ihrem Gesicht zu lesen oder aus ihrer Stimme zu hören, was sie wirklich dachte. Sie war nur noch Maske und Automat. »Was wirst du tun?« fragte er beklommen. »Genau das, was ich geplant hatte«, antwortete sie. Es klang fast blechern in seiner Sachlichkeit. Harris erschauerte. Mit Mühe zwang er sich zu ei nem geschäftlichen Ton und sagte: »Soll ich mich also gleich um deine Verträge kümmern?« Sie schüttelte den gespenstisch ausdruckslosen Kopf. »Noch nicht. Du hast doch sicher die Zeitungen gelesen. Ich glaube, ich habe gefallen.« Es war be wußte Bescheidenheit, und zum erstenmal klang wieder etwas von der alten Wärme in ihrer Stimme mit, doch die befremdende Leere blieb. »Ich hatte schon vorher beschlossen, eine kleine Pause einzule gen nach meinem ersten Wiederauftreten«, fuhr sie fort. »Aus verschiedenen Gründen. Du kennst doch meine kleine Farm in Jersey. Dorthin werde ich mich für einige Wochen zurückziehen. Und während die ser Zeit will ich niemanden sehen, außer den Dienst
boten, die ich brauche. Auch Maltzer nicht. Und dich auch nicht, John. Ich hoffe, du verstehst das. Ich muß über vieles nachdenken. Maltzer ist damit einver standen, daß wir nichts unternehmen, bevor wir uns alles noch einmal gründlich überlegt haben. Auch Maltzer wird in Ferien gehen. Wir sehen uns wieder, sobald ich zurück bin. Ich fliege heute noch. Also, auf bald!« Ihr Bild verblaßte, bevor er die Zeit fand, ja oder nein zu sagen oder ihr die Frage zu stellen, die sich ihm auf die Lippen drängte. Wie betäubt saß er vor dem blinden Bildschirm. Die zwei Wochen, die vergingen, bevor ihn Maltzer wieder anrief, waren die längsten, die Harris je erlebt hatte. Er verbrachte sie in grübelnder Unruhe. Er glaubte, in seinem letzten Gespräch etwas von der inneren Spannung gespürt zu haben, über die Malt zer gesprochen hatte. Irgendein Gedanke mußte sie beschäftigen, ein Kummer oder eine Erwartung, die sie auch nicht mit ihren engsten Vertrauten teilen konnte. Und wenn ihr inneres Gleichgewicht so emp findlich war, wie Maltzer befürchtete, wie konnte dann jemand erkennen, ob es nicht schon gestört war? Kein Blick, keine Geste, kein Mienenspiel würde es verraten. Die starre Unveränderlichkeit ihres me tallenen Körpers verwehrte jeden Einblick in ihr Inne res, jeden zwischenmenschlichen Kontakt.
Was ihn am meisten beunruhigte, war die Frage, wie sich der zweiwöchige Aufenthalt in einer neuen Umgebung auf sie auswirken würde. Wenn Maltzer recht hatte, mußte sich das, was er den Schwund ih rer Menschlichkeit nannte, deutlich bemerkbar ma chen, wenn sie sich wiedertrafen. Er versuchte, nicht daran zu denken. Maltzer rief ihn über das Videofon am gleichen Morgen an, für den sie ihre Rückkehr angekündigt hatte. Er sah noch schlechter aus als bei ihrer letzten Begegnung. Die Ferien schienen ihm keine Erholung gebracht zu haben, im Gegenteil. Sein Gesicht be stand fast nur noch aus Haut und Knochen, seine Augen glühten hinter den dicken Gläsern. Doch zeig te er eine seltsame Ruhe, trotz dieses fiebrigen Aus sehens. Er schien zu einem Entschluß gekommen zu sein, aber dies verhinderte nicht, daß seine Hände zit terten und sein Gesicht sich in einem nervösen Tick immer wieder grotesk verzerrte. »Kommen Sie zu mir«, sagte er kurz, ohne Einlei tung. »Sie wird in einer halben Stunde hier sein.« Und er schaltete ab, ohne auf eine Antwort zu war ten. Als Harris eintraf, stand er am Fenster und sah in die tiefe Straßenschlucht hinunter, die Hände auf das Sims gestützt, um ihr Zittern zu verbergen. »Ich kann sie nicht zurückhalten«, sagte er mit ton
loser Stimme, wieder ohne jede Einleitung. »Ich habe es auch mit Drohungen versucht, doch sie weiß, daß ich sie nicht wahrmachen werde. Ich könnte es auch nicht. Es gibt nur einen Ausweg, Harris.« Er sah ihn kurz an aus seinen hohlen Augen. »Wir sprechen spä ter darüber.« »Haben Sie ihr gesagt, was Sie mir gegenüber an gedeutet hatten?« »Ja. Ich habe ihr auf den Kopf zugesagt, daß irgend etwas sie beunruhigt. Sie hat es geleugnet. Es war ei ne Lüge. Wir wußten es beide. Sie verheimlicht mir etwas. Nach der Vorstellung habe ich es deutlicher gespürt als je zuvor. Als ich sie an jenem Abend sah, wußte ich, daß sich eine tiefgreifende Veränderung in ihr vollzogen hatte, daß ihre Gedanken sich von mir entfernt hatten; doch sie wollte es nicht zugeben.« Er zuckte die Achseln. »Ich ...« Sie hörten das Summen des Fahrstuhls, der von dem Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach herun terkam. Ihre Blicke wandten sich zur Tür. Sie hatte sich nicht verändert, stellte Harris über rascht fest, doch im gleichen Augenblick dachte er daran, daß sich ihr Äußeres nie verändern würde ... bis sie starb. Er selbst mochte grau und alt werden, sie würde die gleiche bleiben wie jetzt, geschmeidig, goldschimmernd, geheimnisvoll. Und dennoch glaubte er zu spüren, daß sie den
Atem anhielt, als sie Maltzer erblickte, dessen rascher Zerfall ihr nicht entgangen sein konnte. Er wußte, daß auch dies eine Täuschung war, doch jetzt hörte er deutlich, daß ihre Stimme zitterte. »Ich bin froh, euch beide wiederzusehen«, sagte sie, den Kopf von einem zum andern wendend. »Es ist ein herrlicher Tag heute. Es war wundervoll in Jersey. Ich hatte vergessen, wie schön es dort im Sommer sein kann. Wie war es im Sanatorium, Maltzer?« Er machte eine unwillige Bewegung mit dem Kopf, antwortete aber nicht. Sie fuhr fort zu reden, mit un beschwerter Stimme, an der Oberfläche plätschernd, ohne im Grunde etwas zu sagen. Jetzt sah Harris sie so, wie Maltzer befürchtet hatte, daß ihre Bewunderer sie sehen würden, wenn die Überraschung ihre Wirkung verlor und die Erinne rung an die alte Deirdre verblaßte. Sie war nur Me tall, und dennoch war sie nicht weniger schön und auch nicht weniger menschlich. Ihre Erscheinung war ein Wunder an schimmernder Geschmeidigkeit und Grazie, bis in die kleinste Bewegung ihrer Glieder. Doch Harris wußte, daß es nur ihr Körper war, der sprach, ihr Gesicht war stumm und würde es bleiben. Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf ihre Stimme, und jetzt spürte er deutlich den Bruch. Hin ter ihrem Tonfall, hinter der ausweichenden Art, in der sie mit den Worten jonglierte, lag das, was Malt
zer zu fühlen glaubte, das, was er selbst gefühlt hatte, kurz bevor sie nach Jersey abreiste. Doch jetzt war dieses Gefühl stärker, war Gewißheit. Zwischen ih nen und der alten Deirdre, deren Stimme immer noch zu ihnen sprach, hing jetzt ein Schleier der Entfrem dung. Und dahinter lag etwas, das wie Trauer, wie Verlorenheit klang. Sie mußte irgendeine Entdeckung gemacht haben, die sie aufs tiefste berührte. Und Harris erkannte mit Entsetzen, welcher Art diese Entdeckung gewesen sein mußte. Maltzer hatte recht. Er stand immer noch am Fenster, starrte hinaus auf das riesige Panorama New Yorks, auf das Gewebe der sich über die Häuser hinwegschwingenden Ver kehrsbrücken, auf die in der Sonne glitzernden Glas fronten der Wolkenkratzer, hinunter in die blauen Schatten der tiefen Straßenschluchten. Jetzt drehte er sich um, und sie mitten in ihrem flüchtigen Geplau der unterbrechend, fragte er Deirdre: »Ist alles in Ordnung mit dir, Deirdre?« Sie lachte. Es war ein herzliches Lachen. Leichtfü ßig schritt sie quer durch den Raum auf einen Tisch zu. Die Sonne glitt wie klingelnde Wellen über ihr Metallgewand. Mit geschickten, sicheren Fingern griff sie nach einer Zigarettendose. »Willst du rauchen?« fragte sie Maltzer und näher te sich ihm mit der Dose. Er ließ sich von ihr die Ziga rette zwischen die Lippen schieben und anzünden,
doch er schien nicht zu merken, daß er rauchte. Sie stellte die Dose zurück auf den Tisch, ging dann hin über zu dem anderen Ende des Raumes, trat vor den Wandspiegel und begann, einige schlängelnde Rumpf- und Armbewegungen auszuprobieren. Und jetzt erst beantwortete sie Maltzers Frage. »Gewiß, was sollte nicht in Ordnung sein?« sagte sie beiläufig. »Du verheimlichst uns etwas.« Sie drehte sich nicht um. Sie beobachtete ihn im Spiegel, ohne ihre Übungen zu unterbrechen. »Nein, warum sollte ich?« sagte sie. Die Verwunde rung in ihrer Stimme klang nicht echt. Maltzer machte einen tiefen Zug aus seiner Zigaret te. Dann schob er mit einem heftigen Ruck das Fen ster hoch, warf den qualmenden Stummel weit hin aus in die gähnende Tiefe, drehte sich um und sagte: »Du kannst mich nicht täuschen, Deirdre.« Seine Stimme war jetzt vollkommen ruhig. »Ich habe dich geschaffen. Ich weiß es. Seit geraumer Zeit spüre ich diese Unruhe, dieses Unbehagen in dir wachsen. Heute ist es stärker, als es vor zwei Wochen war. Ir gend etwas ist mit dir geschehen in Jersey. Ich weiß nicht, was es ist, doch du hast dich verändert. Warum willst du es uns nicht sagen, Deirdre? Hast du einge sehen, daß du nicht wieder zurückgehen darfst zur Bühne, zum Fernsehen?«
»Aber nein«, sagte Deirdre, ihn immer noch nur im Spiegel beobachtend. Ihre Bewegungen waren jetzt aber langsamer geworden. »Nein, ich habe meine Meinung nicht geändert.« Es klang hart wie das Metall, hinter dem sie sich verbarg. Sie hatte sich tief zurückgezogen hinter die Maske ihrer Stimme und ihrer Gesichtslosigkeit. Selbst ihren Körper, der durch unwillkürliche Gesten hätte verraten können, was sie fühlte, hielt sie durch die tänzerischen Übungen, die sie immer noch voll führte, in ständiger tarnender Bewegung. Niemand hätte an ihnen erkennen können, was in dem unter ihrem Metallhelm verborgenen Gehirn vorging. Plötzlich wurde sich Harris zum erstenmal der Tie fe ihrer Entfremdung bewußt. Als er sie das letztemal in diesem Raum gesehen hatte, war sie noch ganz die frühere Deirdre gewesen, ohne jede Maske, trotz ih res metallenen Körpers, belebt von dem Glanz und der Wärme der Frau, die er so gut kannte. Seither, seit ihrem Auftreten auf der Fernsehbühne, hatte er diese Deirdre nicht wiedergesehen. Verzweifelt fragte er sich nach dem Grund für diesen Wechsel. War ihr, gerade im Augenblick ihres Triumphes, der Verdacht gekommen, wie wankelmütig das Publikum sein kann? Hatte sie vielleicht in der Menge der Applau dierenden die ersten spöttischen Gesichter gesehen, ihr verschwörerisches Flüstern gehört?
Oder hatte Maltzer doch recht? Vielleicht war ihre erste Begegnung mit Harris das letzte Aufflackern der verlorenen Deirdre gewesen, bewirkt durch die Vor freude auf ein Wiedersehen nach so langer Zeit, ver stärkt durch den Wunsch, ihn von dem Gelingen ih rer Rettung zu überzeugen. Jetzt war diese Deirdre verschwunden, doch er wußte nicht, ob sie sich aus Furcht vor der zu erwartenden Grausamkeit der Menschen in ihr metallenes Gehäuse zurückgezogen hatte oder ob dieses Gehäuse Besitz ergriffen hatte von dem Gehirn, das es beherbergte. Maltzer legte seine zitternde Hand auf den Sims des geöffneten Fensters und blickte hinaus. Er sprach mit einer tiefen, ruhigen Stimme, in der jetzt auch der streitbare Unterton fehlte: »Ich habe einen fürchterli chen Irrtum begangen, Deirdre. Ich habe dir nicht wiedergutzumachendes Leid angetan.« Er schwieg einige Sekunden, doch Deirdre sagte nichts. Harris wagte nicht zu sprechen. Dann fuhr Maltzer fort: »Ich habe dich verwundbar gelassen und dir keine Waffen gegeben, dich gegen deine Feinde zu wehren. Denn die Menschen sind deine Feinde, ob du es jetzt er kennst oder später. Ich glaube, du weißt es schon. Ich nehme an, dies ist auch der Grund für dein Schwei gen. Du mußt es schon vor zwei Wochen, auf der Bühne gespürt haben, und es hat sich dir bestätigt, während du in Jersey warst. Es wird nicht lange dau
ern, dann werden sie anfangen, dich zu hassen, weil du immer noch schön bist, und sie werden dich ver folgen, weil du anders bist ... und wehrlos.« Er sah sie nicht an, während er sprach. Er hatte sich leicht aus dem Fenster gelehnt, schaute jetzt hinunter in den schwindelnden Abgrund der Straße. Sein Haar flatterte in dem Wind, der in dieser Höhe sehr stark war und singend ins Zimmer wehte. »Was ich an dir und für dich getan habe«, fuhr er fort, »geschah, um allen zu helfen, die, ähnlich wie du, je wieder durch einen Unglücksfall so verstüm melt werden, daß ein Weiterleben unmöglich oder menschenunwürdig ist. Ich hätte wissen sollen, daß meine Hilfe, mein Versuch, verlorenes Leben wieder zuschaffen, zu etwas führen mußte, was schlimmer ist als Tod oder grausigste Entstellung. Ich weiß jetzt, daß es vor Gott für den Menschen nur einen Weg gibt, Leben zu zeugen. Wenn er es auf einem anderen Wege versucht, muß er dafür bezahlen. Erinnerst du dich an die Geschichte des unglückseligen Franken stein? Auch er mußte zahlen. Und doch war er glück lich, so zahlen zu dürfen, wie er gezahlt hat. Er brauchte nicht zu erleben, was hinterher geschah. Vielleicht hätte er auch nicht den Mut gehabt, es ge schehen zu lassen. Ich aber weiß, ich habe ihn nicht.« Harris entdeckte, daß er stand, ohne sich erinnern zu können, daß er sich erhoben hatte. Er wußte plötz
lich, was Maltzers Entschlossenheit, seine unnatürli che Ruhe bedeutete, was er vorhatte. Er verstand jetzt auch, warum er ihn aufgefordert hatte, herzukom men ..., damit Deirdre »hinterher« nicht allein war. Harris kannte die Geschichte Frankensteins, wußte, daß er mit seinem Leben dafür bezahlen mußte, ein künstliches Ungeheuer geschaffen zu haben. Maltzer hatte sich noch weiter aus dem Fenster ge lehnt, starrte wie hypnotisiert in die Tiefe. Seine Stimme, durch den Wind überdeckt, drang nur noch gedämpft ins Zimmer, als stünde schon eine Tren nungswand zwischen ihnen. Deirdre hatte sich nicht bewegt. Ihre ausdruckslose Maske, immer noch gegen den Spiegel gewandt, beo bachtete ihn ruhig. Sie mußte verstanden haben. Und dennoch ließ sie es sich nicht anmerken. Nur das Schlängeln ihrer Arme war jetzt langsamer gewor den, glich einer trägen Bewegung unter Wasser. Harris aber spürte, daß sie sich mit aller Kraft da von zurückhielt, ihre innere Erregung zu zeigen. Sie wußte wie er, daß ein einziger Schritt, eine falsche Bewegung Maltzer veranlassen würde, zu springen. Sie schwiegen beide, warteten darauf, daß Maltzer weiterspräche. Und Maltzer fuhr fort, jetzt noch ruhiger: »Wir, die wir auf naturwidrige Weise Leben in die Welt ge bracht haben, müssen Platz schaffen für unser Werk,
indem wir uns aus ihr zurückziehen. Dies scheint ein unwandelbares Gesetz zu sein. Das, was wir schaffen, macht für uns selbst das Leben unerträglich. Nein, liebe Deirdre, auch du kannst daran nichts ändern. Ich habe dich gebeten, etwas zu tun, das du nicht tun kannst. Ich habe von dir verlangt, das nicht zu tun, wozu ich dich geschaffen habe, nämlich zum Singen und Tanzen. Aber ich weiß, daß es dich zerstören wird, wenn du es tust, doch das ist meine Schuld und nicht die deine. Ich bitte dich auch nicht mehr, nicht zurückzukehren auf den Bildschirm. Ich weiß zu gut, daß du es nicht kannst, wenn du weiterleben willst. Aber ich kann nicht weiterleben und zusehen, wie du dabei zugrunde gehst. Ich habe all mein Können und meine Menschenliebe aufgewendet, um dich, mein letztes Meisterwerk, zu schaffen, und kann es nicht ertragen, zusehen zu müssen, wie es durch meine Schuld vernichtet wird. Ich kann nicht weiterleben und mit ansehen, wie du das tust, wozu ich dich ge schaffen habe, und dich selbst zerstörst, weil du es tun mußt. Doch bevor ich gehe, möchte ich sicher sein, daß du mich verstanden hast.« Er lehnte sich noch weiter hinaus, und seine Stim me klang noch entfernter. Es waren furchtbare Dinge, die er jetzt aussprach, doch der Wind und das he raufdringende Summen der großen Stadt nahmen seinen Worten alle Leidenschaft und Schwere. »Ich
mag ein Feigling sein«, sagte er, »weil ich die Flucht ergreife vor den Konsequenzen dessen, was ich getan habe, aber ich kann nicht gehen und dich zurücklas sen, ohne daß ich dir alles gesagt habe, obwohl ich weiß, daß du es schon weißt, schon spürst, ohne es dir oder mir einzugestehen. Wir waren einander zu eng verbunden, um uns gegenseitig belügen zu kön nen, Deirdre. Ich weiß es, wenn du mir nicht die Wahrheit sagst. Ich kenne die Unruhe, das Unbeha gen, die Niedergeschlagenheit, die sich deiner immer mehr bemächtigen. Du bist nicht ganz menschlich, Deirdre, und ich glaube, du weißt es. Trotz allem, was ich für dich tun konnte, wirst du in vielem im mer weniger bleiben als ein Mensch. Du hast jene Sinne der Wahrnehmung verloren, die den unmittel baren, instinktiven Kontakt zwischen den Menschen vermitteln. Nur das Gesicht und das Gehör sind dir geblieben, und das Gesicht ist, wie ich dir bereits ge sagt habe, der letzte und der kälteste Sinn, der sich im Menschen entfaltete. Und dein inneres Gleichgewicht ist in höchstem Maße empfindlich. Die geringste Er schütterung kann es stören und dich hilflos machen. Du bist nur ein schwaches Licht, eingeschlossen in dem metallenen Leib, den du belebst, eine Kerzenflamme im Wind.« Er schwieg, starrte hinunter in die Tiefe. »Versuche zu verhindern, daß sie dich ganz zerstören«, sagte er
nach einer Weile. »Denn sie werden sich gegen dich wenden, wenn sie herausfinden, daß du ihnen ge genüber hilflos bist. Oh, ich wünsche, ich hätte dich stärker gemacht, Deirdre. Doch ich konnte nicht. Ich habe alles für dich getan, was ich vermochte, doch ich sehe ein, es war nicht genug.« Und wieder schwieg er. Er hing jetzt in gefährlicher Balance über dem Fenstersims, nur auf eine Hand ge stützt. Harris überlegte fieberhaft, ob es möglich wä re, ihn zurückzuhalten. Doch er war nicht sicher, ob er ihn mit einem plötzlichen Sprung erreichen konn te, ehe er sich fallen ließ. Deirdre stand noch immer, sich leise wiegend und schlängelnd, vor dem Spiegel, in dem sie Maltzer mit undurchdringlicher Masken haftigkeit beobachtete. »Um eines möchte ich dich noch bitten«, sagte Maltzer mit seiner wie aus der Ferne klingenden Stimme. »Ich möchte, bevor ich gehe, daß du mir die Wahrheit sagst, Deirdre. Ich wäre glücklicher, wenn ich sicher sein könnte, daß du mich verstanden hast. Glaubst du mir, was ich dir gesagt habe? Denn, wenn du es nicht glaubst, dann bist du hoffnungslos verlo ren. Wenn du dir deine eigenen Zweifel eingestehst, und ich weiß, daß du zweifelst, dann sehe ich eine Möglichkeit für deine Rettung, trotz allem. Verheim lichst du mir etwas, Deirdre? Weißt du, wie ... wie falsch ... wie verkehrt ich dich gemacht habe?«
Jetzt antwortete Deirdre. Ihre Stimme klang weich, schien mitten im Raum zu hängen. Harris erinnerte sich, daß sie keine Lippen hatte, die Laute zu formen und ihnen Richtung zu geben. »Willst du mich anhören?« fragte sie. »Ich warte auf deine Antwort«, sagte er. »Ja oder nein?« Langsam ließ sie ihre Arme sinken, drehte sich, oh ne sich von der Stelle zu bewegen, um. »Ich werde dir antworten«, sagte sie, »doch nicht auf die Frage, die du mir gestellt hast, nicht mit nein oder ja. Doch ich möchte auf und ab gehen dabei, Maltzer. Ich kann nicht stillstehen, wenn ich spreche. Erlaubst du es mir?« Er nickte. »Gut, doch bleibe aus der Nähe des Fen sters. Was hast du mir zu sagen?« Sie begann auf einer kurzen Strecke vor der dem Fenster gegenüberliegenden Wand des Raumes hin und her zu gehen, mit kleinen, wiegenden Schritten. Der kleine Tisch, auf dem die Zigarettendose lag, stand ihr im Wege, und sie schob ihn zur Seite, dabei Maltzer beobachtend und jede schnelle Bewegung vermeidend, die ihn hätte mißtrauisch machen kön nen. »Zunächst einmal hast du nicht recht, wenn du an nimmst, ich sei schwach und hilflos«, sagte sie, und in ihrer Stimme war ein leiser Unterton von Ironie. »Ich
werde es dir später beweisen, doch vorher möchte ich dir noch etwas anderes sagen. Versprich mir, zu war ten und mich anzuhören, ich habe ein Recht darauf. Deinen Argumenten liegt ein Trugschluß zugrunde, den ich nicht unwidersprochen lassen kann, auch um deinetwillen nicht. Ich bin kein FrankensteinUngeheuer, geschaffen aus totem Fleisch. Ich bin ich selbst, lebend und lebendig, wie ich vorher war. Du hast mein Leben nicht neu geschaffen, du hast es nur erhalten. Ich bin kein Roboter mit einem künstlichen Gehirn, dem ich zu gehorchen habe. Ich habe einen freien Willen und eine eigene unabhängige Persön lichkeit. Ich bin ein Mensch, Maltzer.« Harris atmete auf. Er spürte, daß Deirdre Zeit ge winnen wollte. Er wußte nicht, was sie plante, doch er war bereit, abzuwarten, bevor er selbst etwas un ternahm. Sie war nicht der gefühllose Automat, für den er sie gehalten hatte. Jetzt kam sie wieder zu dem kleinen Tisch. Er sah, daß sie sich, ohne ihre fließen den Schritte zu unterbrechen, fast unmerklich über ihn beugte, ihre augenlose Maske Maltzer zuge wandt, als wollte sie sich vergewissern, daß ihre Be wegung ihn nicht erschreckte. »Ich bin ein Mensch«, wiederholte sie, und ihre Stimme klang rauh und weich zugleich wie früher, als sie fortfuhr: »Ich bin eine Frau, Maltzer.« Und dann blieb sie stehen, reckte sich, schien größer zu
werden und sagte, zu den beiden Männern gewandt: »Oder glaubt ihr mir es nicht?« Und plötzlich, als sei der Kegel eines Scheinwerfers auf sie gefallen oder ein Licht in ihrem Innern aufgeflammt, war wieder der Glanz und die Wärme um sie, die sie in alten Zei ten ausgestrahlt hatte. Sie war nicht länger ein Robo ter, kein metallenes Rätsel mehr. Harris sah sie vor sich, wie er sie bei der ersten Wiederbegegnung gese hen hatte, als ihre Stimme in ihm das Bild ihrer frühe ren lebendigen Schönheit wiederbeschwor. Strahlend, sich leicht in den Hüften wiegend, stand sie da, den Kopf zur Seite geneigt, sah sie beide an und lachte. Es war das vertraute, übermütige, schelmische Lachen der selbstsicheren Deirdre von einst. »Ja, ich bin es. Glaubt mir, ich bin eure Deirdre«, sagte sie dann, und sie glaubten es. In ihrer Stimme lag ein unwiderstehlicher hypnotischer Zwang. Als sie jetzt wieder begann, auf und ab zu gehen, spürten die beiden Männer die Kraft ihrer wiedergewonne nen menschlichen Persönlichkeit fast physisch, als ob ihr Körper ein glühender Ofen sei, der die Luft mit seiner Wärme erfüllte. »Ich weiß, daß ich anders bin als die anderen, daß ich scheinbare Mängel habe«, sagte sie. »Doch mein Publikum wird es nie erfahren. Ich werde zu verhüten wissen, daß sie es merken. Ich behaupte sogar, daß ich so, wie ich bin, die Julia spie len könnte, inmitten eines normalen Ensembles, und
sie würden es nicht merken. Glaubt ihr mir das, ihr beiden? Glaubst du, daß ich es könnte, John? Und du, Maltzer, glaubst du es auch?« Sie hatte in der äußersten Ecke des Raumes kehrt gemacht, blieb, sich den beiden, die sie sprachlos an starrten, zuwendend, stehen. Für Harris war sie die Deirdre, wie er sie immer gekannt hatte, golden schimmernd, lieblich wie je; doch es war nicht der Glanz des Metalls, was er sah, es war das innere Leuchten, das ihr lebendiges Fleisch ausgestrahlt hat te, und jetzt sah er wieder jeden einzelnen ihrer ver trauten Züge, sah ihre Augen, ihren Mund, ihr Haar. Er wagte es nicht, sich zu fragen, ob er träume. Er nahm es hin als ein Wunder. Er wollte sie so sehen, wie sie ihm jetzt erschien. Und er glaubte ihr, daß sie die Julia spielen konnte, wenn sie wollte. Sie konnte ein ganzes Theater verzaubern, so wie sie jetzt ihn selbst verzauberte. Er hielt den Atem an. Jetzt tat sie etwas, das er nicht begriff, obwohl er es sah, etwas so unglaublich Menschliches, daß sein Gehirn sich wei gerte, bewußt werden zu lassen, was die Augen ihm zumuteten. Sie schaute zu Maltzer hinüber. Harris folgte ihrem Blick. Auch Maltzer schien verzaubert wie er selbst, starrte sie ungläubig an. Und jetzt warf sie den Kopf zurück, und aus ihr heraus brach in die Stille, wie eine Welle, die einen
Damm überflutet, ein mächtiges, rollendes Lachen des Triumphes, das ihren ganzen Körper erschütterte. Harris sah ihren offenen Mund, ihre pulsierende Keh le, aus der die tiefen Glockentöne dieses Lachens em porstiegen, schallend in großmütiger Heiterkeit, doch nicht ganz frei von dem Beiklang eines leisen Spottes. Doch nun hob sie einen Arm und warf ihre Zigaret te in den leeren Kamin. Harris würgte und faßte sich an die Stirn. Er hatte doch nicht hier gestanden und zugesehen, wie ein mundloser Roboter rauchte, und es als etwas Selbst verständliches hingenommen? Nein, das war nicht möglich! Und dennoch hatte er es getan. Und jetzt wußte er, dies war der versprochene Beweis gewesen, der Maltzer und ihn zwingen sollte, ihre vollwertige Menschlichkeit anzuerkennen, der sie überzeugen sollte, daß sie nicht schwach und hilflos war. Sie hatte noch mehr getan als dies. Sie hatte gezeigt, daß sie über Kräfte verfügte, die mehr waren als menschlich. War es nur Hypnose? Nein, es mußte mehr sein. Er suchte Maltzers Blick. Doch die Augen des Mannes, der noch immer über dem Fenstersims hing, waren unverwandt, in glotzender Ungläubigkeit, auf Deirdre gerichtet, und Harris wußte, daß auch ihm das gleiche widerfahren war. Deirdres Lachen verebbte. Sie beugte sich leicht vor, sah von einem der Männer zum anderen und
fragte, gutmütige Überlegenheit in der Stimme: »Nun? Wollt ihr immer noch behaupten, daß ich nicht viel mehr als nur ein Roboter bin?« Harris öffnete den Mund, um ihr zu antworten, doch er schwieg. Dies war eine Auseinandersetzung, die nur Deirdre und Maltzer anging, ein Kampf, in dem er nicht Partei ergreifen durfte. Er wandte den Kopf von Deirdre weg zum Fenster hin. Für einen Augenblick sah es so aus, als ob Maltzer in seiner Anschauung über Deirdre erschüttert wor den sei. »Nein, das war mehr. Du bist auch eine große Schauspielerin«, gab er unsicher zu. »Doch ich bin noch nicht davon überzeugt, daß ich unrecht habe. Ich glaube ...« Er zögerte. Der zweifelnde Ton war wieder in seine Stimme gekommen, und die alten Be fürchtungen schienen ihn wieder zu überfallen. Dann sah Harris, wie er sich innerlich versteifte. Der Aus druck finsterer Entschlossenheit trat wieder in sein hohläugiges Gesicht, und Harris wußte, was in ihm vorging. Maltzer konnte nicht mehr zurück. Sein Ent schluß war die Folge eines furchtbaren inneren Rin gens gewesen; er konnte ihn nicht widerrufen. Er war zu müde, zu erschöpft, um weiterzukämpfen. Der Weg, den er gewählt hatte, versprach ihm Ruhe, Si cherheit, Frieden. Harris sah, daß er eine Rechtferti gung, eine Ausflucht suchte, um sich nicht von neu
em stellen zu müssen, und jetzt schien er einen Aus weg aus seinem entsetzlichen Dilemma gefunden zu haben. »Was du da getan hast, war ein hypnotischer Bluff, ein Taschenspielerkunststück«, sagte er bitter lä chelnd. »Vielleicht kannst du damit auch ein größeres Publikum täuschen. Vielleicht beherrschst du auch noch mehr solcher Tricks. Doch das ist jetzt nicht wichtig, Deirdre.« Seine Stimme wurde ernst und dringlich. »Du hast mir die Frage noch nicht beant wortet, die ich dir gestellt habe. Vielleicht kannst du es nicht. Deshalb will ich es für dich tun. Deirdre, du bist unglücklich in deinem tiefsten Inneren. Du hast deine menschliche Unzulänglichkeit erkannt. Ich weiß es, so gut du es auch, selbst vor uns, zu ver heimlichen vermagst. Willst du es noch länger leug nen, Deirdre?« Sie antwortete nicht sofort. Sie ließ die Arme sin ken, und ihr goldener, schimmernder Körper schien sich zu entspannen, als ob die Energiewellen, die das Gehirn aussandte, um ihn zusammenzuhalten, nach ließen und ihre unsichtbaren Muskeln erschlafften. Auch der strahlende Glanz ihrer früheren Mensch lichkeit, den sie wiedergewonnen hatte, verblaßte, zog sich in das Metall zurück und verschwand all mählich, als ob der glühende Ofen in ihrem Inneren erlöschen und erkalten wollte.
»Maltzer«, sprach sie mit flackernder Stimme, »die se Frage kann ich dir noch nicht beantworten. Ich werde ...« Und während die beiden Männer in höchster Spannung darauf warteten, daß sie ihren Satz vollen dete, geschah es. Nein, es geschah nichts. Sie war ein fach nicht mehr da, wo sie vorher gestanden hatte. Sie stand neben Maltzer. Maltzer war die ganze Zimmerbreite von ihr entfernt gewesen, er hatte sich sicher gefühlt, glaubend, daß kein normales menschliches Wesen ihn erreichen konnte, bevor er ... Doch Deirdre war weder normal noch menschlich. Sie mußte sich bewegt haben, doch nicht durch Zeit und Raum. Harris erinnerte sich blitzartig daran, einmal etwas gelesen zu haben von einer Bewegung in der vierten Dimension. Und jetzt erst, nachdem sie ihren Platz gewechselt hatte, sah er nachträglich ei nen goldenen Schimmer durch das Zimmer huschen, ähnlich dem Glutstreifen, der entsteht, wenn ein Rau cher in der Dunkelheit mit seiner glühenden Zigarette schnelle Kreise beschreibt. Was seine Augen unbe wußt gesehen hatten, mußte sein träger, menschlicher Verstand erst langsam nacherleben. Ja, sie stand ne ben Maltzer. Ihre langen Finger umschlossen sanft, aber sicher seinen Arm. Sie bewegte sich nicht. Jetzt erst spürte Harris die Hitzewelle, die gegen sein Gesicht geschlagen war, und dann hörte er Deir
dres Stimme in einem Ton echten Mitleids sagen: »Verzeih, Maltzer. Ich mußte es tun. Du konntest nicht wissen ...« Harris sah Maltzer zusammenzucken, als habe er Deirdre erst jetzt erblickt, obwohl er sie die ganze Zeit angestarrt hatte. Er wand sich unter dem Griff ihrer Hand in einem kläglichen Versuch, zu verhin dern, was schon geschehen war. Und plötzlich warf er sich mit einem wilden Schwung nach außen. Der Schwung war stark genug, um die Umklammerung einer menschlichen Hand zu zerreißen und ihn hinunterzuschleudern in die gäh nende Schlucht der Straße. Diesen logischen Schluß vollzog auch Harris' menschlicher Verstand, und er sah den sich taumelnd überschlagenden Körper des Ge lehrten mit wachsender Geschwindigkeit hinabsausen, immer kleiner werden und als dunklen Punkt in die blauen Schatten des Häusermeeres eintauchen. Sein Verstand hörte sogar den langen, schrillen Schrei, der sich mit dem fallenden Körper entfernte und nachhal lend wie eine Rauchfahne in der Luft hängenblieb. Doch sein Verstand hatte in menschlichen Begriffen gedacht. Sanft und mühelos hob Deirdre Maltzer von dem Fenstersims und trug ihn ohne jedes Anzeichen einer Anstrengung zurück in die Sicherheit des Raumes. Vor einem Sofa ließ sie ihn nieder auf die Füße, und
ihre goldenen Finger lösten sich langsam von seinen Armen, damit er selbst wieder die Kontrolle über sei nen eigenen Körper gewinnen konnte, bevor sie ihn freigab. Er sank wortlos auf das Sofa, saß unbeweglich. Für lange Zeit sprach keiner von ihnen. Harris konnte noch nicht denken, geschweige denn sprechen. Deir dre wartete geduldig. Es war Maltzers Stimme, die das Schweigen brach, und schon ihr düsterer Ton ließ erkennen, daß sein Geist noch nicht von der Ver zweiflung geheilt war, die ihn befallen hatte. »Dieses Mal hast du mich noch daran hindern kön nen«, murmelte er tonlos. »Doch jetzt weiß ich, was ich wissen wollte. Ich weiß es! Du kannst deine Ge fühle nicht vor mir verbergen, Deirdre. Ich weiß, was dich unglücklich macht. Ich habe es immer gewußt. Das nächste Mal ... das nächste Mal werde ich nicht warten, bis ...« Deirdre gab einen Laut von sich, der wie ein Seuf zer klang. Sie hatte keine Lunge, diesen Ton zu er zeugen, doch es war schwer, daran zu denken. Es war schwer, zu verstehen, warum sie nicht außer Atem war nach der ungeheuren Anstrengung der letzten Minuten. Der Verstand wußte es, doch es war ihm unmöglich, sein Wissen mit dem zu vereinbaren, was die Augen sahen. Denn Deirdre war wieder ein Mensch aus Fleisch und Blut geworden.
»Du hast mich immer noch nicht verstanden«, sag te sie mit einer Stimme, die fast zärtlich-flehend klang. »Denke nach, Maltzer, denke nach!« Vor dem Sofa lag ein Sitzkissen. Sie ließ sich auf ihm nieder, verschränkte die Hände über den Knien. Den Kopf neigte sie weit nach hinten, so daß sie Maltzer ins Gesicht schauen konnte. Sie sah nur dumpfe Fassungslosigkeit in ihm. Er war zu erschüt tert, um noch denken zu können. »Höre, Maltzer«, sagte sie, »ich gebe es zu. Du hast recht. Ich bin unglücklich. Was du gesagt hast, ist wahr, doch auf eine andere Weise, als du glaubst. Was du Menschlichkeit nennst, und das, was ich wirklich bin, diese beiden Dinge sind weit voneinan der entfernt und entfernen sich immer weiter vonein ander. Die Kluft, die sich zwischen uns auftut, wird immer schwerer zu überbrücken. Hörst du, was ich sage, Maltzer?« Maltzer hatte es gehört. Harris erkannte die unge heure Anstrengung, die sein Verstand machen mußte, um es zu begreifen. Er sah seine Augen sich weiten. »Du ... gibst es also zu?« fragte er mit heiserer Stimme. Deirdre schüttelte den Kopf. »Nicht so, Maltzer, wie du glaubst. Hältst du mich denn noch immer für schwach und wehrlos? Weißt du denn nicht, daß ich dich mit ausgestreckten Ar
men vom Fenster bis hierher getragen habe? Begreifst du, was das bedeutet? ... Ich bin stark, Maltzer, stär ker, als du ahnst. Ich könnte ...« sie blickte um sich und hob die geballten Fäuste in einer Geste verhalte ner Kraft, »dieses Gebäude mit meinen Händen nie derreißen. Ich könnte diese Mauern mit ihnen einsto ßen. Ich habe das Gefühl, daß meiner Kraft keine Grenzen gesetzt sind.« Sie öffnete die Hände und be trachtete sie. »Sie würden vielleicht zerbrechen«, sag te sie nachdenklich, »doch ich würde es nicht fühlen ...« Maltzer stöhnte: »Deirdre ...« Sie blickte zu ihm auf, und Harris glaubte sie lä cheln zu sehen. Ihre Stimme klang beschwichtigend und lauernd zugleich. »Oh, keine Angst, Maltzer, ich tue es nicht. Ich brauchte es auch nicht mit meinen Händen zu tun, wenn ich es tun wollte. Sieh ... oder besser, höre!« Sie legte den Kopf wieder zurück, und ein tiefes, vibrierendes Summen setzte ein und schwoll an. Es kam von dorther, wo das sein mußte, was ihre Kehle war. Es wurde schnell immer tiefer und lauter, und Harris dröhnten die Ohren. Die Mö bel zitterten. Die Mauern begannen unmerklich zu schwanken. Der Raum war erfüllt von einer Span nung, die jeden Augenblick zu explodieren drohte. Der summende Ton wurde wieder heller, leiser und verklang. Deirdre lachte auf, und ein anderer, ein
scharfer, schriller Ton ging von ihr aus, nicht nach al len Seiten, sondern nur nach einer Richtung wie ein Strahl. Ihr Kopf war dem Fenster zugewandt, und der hochgeschobene Rahmen begann zu zittern. Deirdre verstärkte den Ton, der Klemmriegel glitt zurück, und das Fenster schloß sich, schloß sich von selbst. »Nun«, fragte Deirdre gelassen, »was sagst du jetzt?« Doch Maltzer konnte sie nur anstarren. Auch Har ris brachte kein Wort hervor. Sein Blick ging hin und her zwischen Deirdre und dem Fenster, und sein Verstand bemühte sich vergeblich, die ungeheuerli che Bedeutung dessen zu erfassen, was vor seinen Augen geschehen war. Die beiden Männer waren zu bestürzt, um denken zu können. Deirdre sprang ungeduldig auf und begann wieder hin- und herzugehen, doch dieses Mal mit langen, gleitenden Schritten, die ihrer Geschmeidigkeit etwas Pantherhaftes gaben. Jetzt sahen sie die ungeheure Kraft, die in jeder ihrer Bewegungen lag. Sie hielten sie nicht länger für hilflos, doch sie waren noch weit davon entfernt, die ganze Wahrheit zu begreifen. »Siehst du jetzt, Maltzer, daß du unrecht hattest?« sagte sie, und man hörte, daß sie sich bemühte, ihrer Stimme die Schärfe des Vorwurfs zu nehmen. »In ei nem hattest du allerdings auch recht, doch nicht so, wie du dachtest. Ich habe keine Angst vor den Men
schen. Ich habe nichts von ihnen zu befürchten. Hast du schon bemerkt« – ihre Stimme nahm einen ver ächtlichen Ton an –, »daß ich, ohne es zu wollen, eine neue Frauenmode kreiert habe? Nächste Woche wirst du keine Frau mehr auf der Straße sehen ohne eine Deirdre-Maske, und jedes Kleid, das nicht geschnitten ist wie ein Chlamys, wird außer jeder Mode sein. Ich habe nicht die geringste Angst vor den Menschen. Ich werde den Kontakt mit ihnen nicht verlieren, wie du mir prophezeit hast, es sei denn, mich selbst verlangt danach. Ich habe die Menschen kennengelernt ... seit her; und ich habe mich selbst kennengelernt.« Sie schwieg für eine Weile, und in einer kurzen, er schreckenden Vision sah Harris sie in der Einsamkeit ihrer Farm mit sich selbst experimentieren, die Kraft ihrer Stimme ausprobieren, die Stärke ihres Gesichts prüfen. Konnte sie mikroskopisch und teleskopisch sehen? Hatte ihr Gehör die gleiche Reichweite wie ih re Stimme? »Du hast mich bedauert, daß ich Tastgefühl, Ge ruch und Geschmack verloren habe«, fuhr sie fort, weiter die Länge des Zimmers wie ein gefangenes Raubtier messend. »Hören und Sehen genügten nicht, denkst du. Doch warum glaubst du, daß das Gesicht der letzte der Sinne ist? Es mag der jüngste sein, Maltzer ... Harris, doch wer sagt euch, daß es der letz te ist?«
Sie mochte es nicht geflüstert haben. Vielleicht hat te es nur so fern geklungen, weil das Gehirn sich sträubte, den phantastischen Gedanken einzulassen. »Nein«, sagte Deirdre, »ich habe den Kontakt mit der menschlichen Rasse nicht verloren und werde ihn nie verlieren, wenn ich es nicht will. Doch er ist ein anderer geworden. Er ist subtiler, tiefer, unmittelba rer, als ihr ahnen könnt.« Sie sah hinunter auf ihre goldenen Füße, während sie auf- und abschritt, und hielt ihr Maskengesicht weggewandt von den beiden Männern. Ihre Stimme war weich geworden und klang fast traurig, als sie jetzt fortfuhr: »Ich wollte es euch nicht wissen lassen. Ich hätte es euch nie gesagt, wenn dies nicht geschehen wäre. Doch ich konnte dich nicht ge hen lassen, Maltzer, in dem Glauben, du habest ver sagt. Du hast etwas Vollkommenes geschaffen mit meinem neuen Körper. Du hast mehr geschaffen als nur eine Maschine, mehr, als du weißt.« »Aber Deirdre«, ächzte Maltzer, sie immer noch ungläubig anstarrend, »aber Deirdre ..., wenn du vollkommen bist, wie du sagst ..., was ist das andere in dir? Ich fühle es immer noch. Ich habe es immer gefühlt. Du bist nicht glücklich, Deirdre, in deiner Vollkommenheit. Warum bist du unglücklich, Deir dre, warum?« Sie hob den Kopf, und obwohl sie keine Augen hat
te, spürte man den forschenden Blick, mit dem sie Maltzer ansah. »Warum glaubst du dessen so sicher zu sein?« frag te sie ihn. »Ich kenne dich zu gut, um mich täuschen zu kön nen. Aber ich bin kein größenwahnsinniger Franken stein. Ich wollte nicht die Natur herausfordern, als ich dich schuf. Ich wollte dir nur zurückgeben, was du verloren hattest. Ich wollte dich nicht unglücklich machen. Warum aber ...« »Könntest du einen zweiten solchen Körper ma chen?« unterbrach sie ihn. Maltzer sah hinunter auf seine zitternden Hände. »Ich weiß nicht. Ich glaube nicht ... ich ...« »Könnte es ein anderer?« Er schwieg. Deirdre antwortete für ihn. »Ich glaube nicht, daß es noch einmal möglich ist. Es muß ein Zu fall gewesen sein. Eine Art bisher unbekannter Muta tion in der Begegnung von Fleisch und Metall, ein Seitensprung der Natur, selbst unnatürlich, gegen alle Gesetze normaler Evolution oder ... ein Sprung in die Zukunft. Ein anderes Gehirn in einem solchen Körper würde vielleicht sterben oder irrsinnig werden, wie du es für mich befürchtet hast. Das energetische Gleichgewicht eines solchen Organismus hängt von zu vielen Faktoren ab. Du hast, wenn du es so nennen willst, Glück gehabt mit mir. Ich, die ich mich kenne,
glaube nicht, daß es je wieder so etwas geben wird wie mich.« Sie blieb stehen, ließ den Kopf sinken, als lauschte sie in sich hinein. Dann sagte sie, sich Malt zer zuwendend, mit einer Stimme, die fern und verlo ren klang: »Ich weiß jetzt, wie es war. Du hast das Feuer für den Phönix angezündet. Und er stieg voll kommen und neugeboren aus seiner eigenen Asche. Weißt du, warum er sich auf diese Weise selbst er neuern mußte?« Maltzer schüttelte betroffen den Kopf. »Ich will es dir sagen«, fuhr sie fort. »Weil es nur einen Phönix gab. Nur einen einzigen in der ganzen Welt.« Die beiden Männer sahen einander an. Deirdre un terbrach ihr verblüfftes Schweigen mit einer Stimme, die jetzt fast feierlich klang. »Und wie immer, so ging er auch dieses Mal in un veränderter Vollkommenheit aus dem Feuer hervor. Ich bin nicht schwach und hilflos. Diese Furcht braucht dich nicht mehr zu bedrücken. Ich bin kein wehrloser Krüppel unter normalen Menschen. Ich bin keine Miß geburt, Maltzer. Ich bin von keiner Frau geboren. Dein Genie, der Zufall und das Feuer haben mich gezeugt. Ich bin kein Mensch. Wenn ich Menschliches an mir ha be, dann bin ich ... ein Übermensch.« »Vielleicht«, sagte Maltzer, langsam mit dem Kopf nickend, »aber ein unglücklicher.«
»Ja, du hast recht, Maltzer. Doch nicht nach mensch lichen Begriffen unglücklich. Ich bin glücklich und stolz, zu sein, was ich bin, und gleichzeitig unglücklich, kein Mensch mehr zu sein wie andere Menschen. Ich fürchte mich davor, mich immer weiter von ihnen zu entfernen, sie immer tiefer unter mir zu lassen. Ich wünschte, es müßte nicht so sein. Dies ist auch der Grund, der mich drängt, zurückzugehen zur Bühne, um unter ihnen zu sein ... solange ich kann. Und wenn es möglich wäre, würde ich mir wünschen, daß es an dere gäbe wie mich. Ich bin einsam, Maltzer ... sehr ein sam. Das ist mein Unglück.« Die letzten Worte hatte sie sehr leise gesprochen. Sie hatten traurig geklungen wie eines ihrer schwermütigen Lieder. Schweigend, jeder auf seine Weise ergriffen von dem tragischen Schauer des Wunders, dessen Opfer, Urheber und Zeuge sie waren, standen die drei Men schen in dem sonnendurchfluteten Raum hoch über der großen Stadt, deren Lärm wie eine ferne Bran dung zu ihnen heraufdrang. Und als würde seine Stimme auf dieser Brandung von weither, über Abgründe der Verzweiflung, he rangetragen wie ein hoffnungsloser Hilferuf, sprach Maltzer: »Dann bin ich also doch kein Frankenstein.« »Vielleicht«, erwiderte Deirdre verloren. »Ich weiß es nicht. Vielleicht bist du wirklich so etwas Ähnli ches.«
Langsam bewegte sie sich auf das Fenster zu. Jetzt, da er um ihr Geheimnis wußte, glaubte Harris, als sie an ihm vorbeischritt, die glühende Aura überirdi scher Kräfte, die sie umgeben mußte, zu sehen und zu spüren. Sie lehnte ihre goldene Stirn gegen die Scheibe und blickte hinunter in die Tiefe, in der Malt zer, ihr Schöpfer, Vergessen suchen wollte, weil er sein Werk für mißlungen hielt. Fast unhörbar klang ihre Stimme jetzt herüber: »Es gibt nur eine Grenze, die meiner Macht gesetzt ist, die Grenze der Zeit. In vierzig, vielleicht fünfzig Jahren wird mein Gehirn, das einzige, das an mir noch dem Gesetz menschlichen Zerfalls unterworfen ist, ver braucht sein. Doch ehe es soweit ist, werde ich eine andere sein. Ich werde vieles erkannt haben, mehr, als ich heute ahnen kann. Ich werde mich immer wei ter von mir selbst entfernen, und das ist es, was mich unglücklich macht, wenn ich daran denke ..., was ich vergessen möchte, solange ich kann, in der Nähe de rer, die so sind, wie ich war.« Sie legte ihre schlanken goldenen Finger um den Griff des Fensters und schob es nach oben. Der Wind wehte rauschend ins Zim mer. »Ich könnte dieser Angst ein Ende machen, wenn ich wollte«, flüsterte sie. »Ich habe oft daran gedacht, doch ich kann es nicht. Zuviel erwartet mich noch, was nie zuvor ein Mensch erlebt hat. Mein Ge hirn ist menschlich, und ich glaube, keines Menschen
Gehirn könnte der Versuchung widerstehen, ins Un bekannte, ins Unbegrenzte vorzustoßen. Ich frage mich, ob ich nicht vielleicht, da ich die einzige bin ...« Es war nicht die Stimme Deirdres, die Harris jetzt hörte, nicht die lieblich herbe Stimme, die einst die Welt bezaubert hatte. Sie sprach zu sich selbst, und ihre Worte hallten in ihrem metallenen Körper wider wie das Echo aus einer anderen Welt. »Ja, ich frage mich, ob ich nicht« ... wiederholte sie leise, und den Rest ihrer Worte trug der singende Wind davon.
Margaret St. Clair
Das Prott »Lesen Sie das einmal«, sagte der Raumfahrer. »Es wirft ein neues Licht auf gewisse Dinge. Eine Ber gungspatrouille hat es gefunden, außerhalb des Aste riodengürtels. Es war an einer Signalrakete befestigt, muß eine ganze Weile draußen gekreist haben. Ich dachte zuerst daran, es zur Universität zu bringen und es einem Historiker oder irgendeinem anderen Wissenschaftler zu geben; doch ich glaube kaum, daß die sich mit so etwas noch beschäftigen. Die haben heutzutage noch weniger Zeit als andere Sterbliche.« Er reichte Fox einen Metallzylinder über den Tisch und bestellte Drinks. Fox nippte an seinem Glas, be vor er die Röhre öffnete. »Wollen Sie wirklich, daß ich das jetzt lese?« fragte er. »Auch nicht gerade die richtige Art, unsere Frei zeit zu verbringen!« »Lesen Sie es nur! Es ist nicht lang. Außerdem ist es ja gleichgültig, was wir tun.« »Im Weltraum ein Tagebuch schreiben zu wollen, bringt besondere Probleme mit sich; ich meine das Einsetzen eines Datums. Die Frage ›Welche Zeit ist jetzt?‹ bereitet einem während einer Reise innerhalb
des Sonnensystems oder auch nur beim Aufenthalt auf einem anderen Planeten schon genug Kopfzer brechen; wenn man sich aber im tiefen Weltraum be wegt, wie ich in diesem Augenblick, dann bleibt jede Datumsangabe infolge der Relativität des interstella ren Zeitmaßes illusorisch, solange unsere Philoso phen noch nicht eine Art von absoluter Überzeit ge funden haben, die immer und überall gültig ist. Eine Tagebucheintragung muß jedoch schon aus Gründen der Schicklichkeit mit einem Datum beginnen, und so will ich den heutigen Tag Donnerstag nennen und als Datum den 21. April annehmen, was ungefähr dem Erdkalender entspricht. Also: Donnerstag, den 21. April. – Ich bin guter Dinge und fühle mich über alle Maßen wohl in der Ellis. Die Ellis ist trotz ihrer Kleinheit ein Wunder an Bequem lichkeit und Gemütlichkeit; wer sich in ihr nicht wohl fühlt, tut es nirgends. Wo ich bin, das könnte ich mir von meinem automatischen Raumsextanten genau ausrechnen lassen, doch ich glaube, für den Zweck dieses Tagebuchs genügt es, wenn ich sage, daß ich mich am Rande des Bezirks bewege, innerhalb dessen es angeblich von Protten wimmelt, und meine Ge schwindigkeit entspricht genau derjenigen, bei der sie in Erscheinung treten sollen. Etwas später. – Ich sagte, ich sei guter Dinge und fühlte mich vollkommen wohl. Das stimmt nicht
ganz. Unter meiner fast rauschhaften Hochstimmung, gewissermaßen am Rande meines Bewußtseins, ver spüre ich ein lauerndes Gefühl von Ureinsamkeit. Ich meine, das ist eine normale Auswirkung meines Auf enthalts im Weltraum. Doch das erhebende Gefühl, an der Schwelle einzigartiger wissenschaftlicher Ent deckungen zu stehen, überwiegt. Dienstag, den 26. April. (Meine Tage sind länger als 24 Stunden.) – Heute bin ich mir meiner Einsamkeit intensiv bewußt. Auch bin ich beunruhigt durch die Angst, daß die Protte sich nicht zeigen werden oder nicht zeigen wollen. Und schließlich ist ihre Existenz keineswegs hundertprozentig sicher. Wenn es sie nicht gibt, was wird dann aus meinen großen Plänen, was aus meiner kühnen Hoffnung auf einen Ehren platz in der Ruhmeshalle berühmter Forscher? Solange ich noch auf der Erde war, erschien mir das ganze als eine geniale Idee. Ich weiß, auch der Schatzmeister dachte so, als ich die Mittel für das Un ternehmen beantragte. Ich hatte es so formuliert: Un tersuchung der Lebensgewohnheiten einer nicht protoplasmischen Form von Leben unter besonderer Berücksichtigung ihrer Fortpflanzung. Damals klang das großartig. Doch jetzt? Samstag, den 30. April. – Immer noch kein Prott. Doch ich bin zuversichtlich. Ich bin noch einmal mei ne Aufzeichnungen über die Protte durchgegangen,
und wieder erscheint es mir sicher, daß es nur eine mögliche Schlußfolgerung gibt: Sie existieren! Während vieler Jahre sind sie innerhalb eines riesi gen Sektors der Raumtiefe gesichtet worden. Zu mei ner eigenen Beruhigung will ich noch einmal alle be kannten Tatsachen über die Protte aufzählen: Erstens: Sie sind eine nicht-protoplasmische Form von Leben. (Wie könnten sie anders, in dieser lichtlo sen, wärmelosen Raumwüste?) Zweitens: Ihre körperliche Struktur ist wahrschein lich elektrisch. Simons, ein Elektroingenieur auf der Thor, hat festgestellt, daß seine Batterien Entladungen aufwiesen, wenn Protte in der Nähe waren. Drittens: Sie erscheinen nur Schiffen, die sich zwi schen bestimmten Geschwindigkeitsgrenzen fortbe wegen. (Ob bestimmte Bewegungsgeschwindigkeiten sie anziehen oder ob sie nur bei bestimmten Frequen zen sichtbar werden, wissen wir nicht.) Viertens: Ob sie vernunftbegabt sind oder nicht, ist nicht bekannt; doch den Berichten zufolge sind sie bis zu einem gewissen Grade telepathisch veranlagt. Auf diese Angabe gründet sich meine Hoffnung, mit ih nen in Verbindung treten zu können. Und fünftens: Nach ihrer bisherigen, wenn auch nicht sehr wissenschaftlichen, so doch sehr anschauli chen Beschreibung sehen die Protte aus wie große ›verlorene Eier‹.
Gestützt auf diese bekannten Tatsachen habe ich mir vorgenommen, der Kolumbus, oder genauer ge sagt, der Dr. Kinsey, also der Sexualforscher der Prot te zu werden. Nun, es ist tröstlich, zu wissen, daß ich, so einsam und verloren ich mich auch fühle, noch über meine eigenen Scherze lachen kann. 3. Mai. – Ich habe mein erstes Prott gesehen. Ich kann nicht mehr sagen als: Ich habe mein erstes Prott gesehen! 4. Mai. – Die Ellis ist rundherum mit Beobachtungs fenstern versehen. Ich hatte eine automatische Signal anlage eingebaut, und gestern läutete sie. Mit wild klopfendem Herzen stürzte ich zu der Scheibe. Da war es, etwa fünf Meter lang, ein wolkiges, weißliches Etwas. Da war auch der Schatten eines großen, gelben Kerns, eines ›Dotters‹, und ich will ein Narr sein, wenn das Ding nicht wie ein großes ›verlo renes Ei‹ aussah! Ich erkannte auch sofort, warum alle angenommen hatten, daß die Protte Lebewesen sind und nicht z.B. Miniaturraumschiffe, Roboter oder irgendwelche an deren Apparate. Das Ding hatte die harmonische Asymmetrie alles Lebendigen. Wie gebannt stand ich da und starrte es an. Es sah nicht bedrohlich aus, trotz seiner riesigen, gespenstischen Form. Nach einer Wei le entfernte es sich langsam vom Schiff mit der wal lenden Bewegung eines schwimmenden Fisches.
Ich wartete lange, nachdem es verschwunden war. Doch es kam nicht zurück. 4. Mai. – Kein Prott. Frage: Wie war es möglich, daß ich es sehen konnte, obwohl es in dieser Tiefe des Raumes so gut wie kein Licht gibt? Es war auch nicht selbstleuchtend. Ich wünsche, ich hätte eine bessere Ausbildung in Radartechnik und ähnlichen Dingen gehabt. Doch der Schatzmeister hielt es für wichtiger, einen Mann auszuschicken, der mit der optischen Be obachtungstechnik vertraut ist. 5. Mai. – Kein Prott. 6. Mai. – Kein Prott. Doch mir sind sehr seltsame, gewissermaßen fremde Gedanken durch den Kopf gegangen. 8. Mai. – Wie ich bei meiner letzten Eintragung an gedeutet habe, waren die seltsamen Gedanken, die mich bedrängten, ein Anzeichen für die Nähe der Protte. Sie wurden mir bewußt als ein Gefühl, daß ir gendwelche, wenig benutzte Empfangsmembranen meiner Persönlichkeit jetzt überanstrengt würden. Als ich heute gerade mit dem Mittagessen fertig war, läutete die automatische Signalanlage. Ich eilte zu der Aussichtsscheibe. Ich sah, klar abgezeichnet gegen den pechschwarzen Hintergrund, drei Protte. Zwei waren einander fast gleich. Das dritte war etwas kleiner. Ich hatte mir zur Kontrolle den Anblick mei nes ersten Prott immer wieder ins Gedächtnis zu
rückgerufen, doch jetzt, da drei von ihnen hinter der Scheibe sichtbar waren, konnte ich sie nur wieder fas sungslos anstarren. Sie hatten nichts Gefährliches an sich, doch sie übten eine sonderbare Wirkung auf mich aus. Nach einigen Sekunden der Verwirrung kam ich wieder zu klarer Besinnung. Ich drückte auf den Knopf, der die automatische Bildkamera in Betrieb setzte. Ich hatte genug Platten verschiedener Art ein gelegt, um das gesamte Spektrum der Strahlungs energien aufzunehmen und an Hand der entwickel ten Bilder feststellen zu können, bei welchen Fre quenzen die Protte am besten sichtbar zu machen sind. Ich begann auch – und das war schon schwieri ger für mich – das einleitende ›Wer? Wer? Wer?‹ zu senden, das jeder Schüler der telepathischen Kom munikation als erstes lernen muß. Ich habe es durch eifriges Training in der Gedan kenübertragung zu einer beachtlichen Fertigkeit ge bracht, doch ich besitze kein angeborenes Talent da für. Ich erinnere mich noch, wie McIlwrath, kurz be vor ich New York verließ, scherzhaft zu mir sagte, bei mir bestünde keine Gefahr, daß ich, wie es bei Men schen mit starker telepathischer Veranlagung oft pas siert, einer Person mit einer Frage gleich die von mir gewünschte Antwort übermittele. Nun, jeder Mangel hat auch seinen Vorteil.
Ich begann also, mein ›Wer?‹ zu senden. Es mag nur Zufall gewesen sein, doch kaum hatte der vierte oder fünfte Impuls mein Gehirn verlassen, als alle drei Protte verschwanden. Sie kamen nicht wieder zurück. Es könnte so aussehen, als ob meine Kontaktversuche sie verscheucht haben. Ich hoffe jedoch, dem ist nicht so. Nachdem ich zu der Überzeugung gelangt war, daß sie so bald nicht wiederkommen würden, begann ich, meine Platten zu entwickeln. Diejenigen, deren Empfindlichkeit im Bereich des sichtbaren Lichts lie gen, zeigen die Protte ziemlich genauso, wie sie dem Auge erscheinen. Die infraroten Platten weisen über haupt keine Reaktion auf; doch die ultravioletten sind höchst interessant. Zwei der Protte erscheinen als ein Netzwerk von eng verschlungenen und verknoteten, leuchtenden Linien. Ihr Bild erinnerte mich aus irgendeinem Grunde an das ›Geisterlicht‹ von Coleridges Wasser schlangen, die ›in weiß schimmernden Windungen durcheinanderwimmeln‹. Das dritte Prott, von dem ich annehme, daß es das kleinere war, ergab ein un durchsichtiges, abgeflachtes, eiförmiges Gebilde, das kleiner war als die beiden anderen und in der Mitte einen runden, dunklen Schatten aufwies. Dieser Schatten dürfte der große, gelbe Kern, der ›Dotter‹, sein.
Frage: Entsprechen diese fotografischen Unter schiede strukturellen Verschiedenheiten der Protte? Wahrscheinlich, obwohl es sich auch um verschiede ne Entwicklungsstadien handeln kann. Weitere Frage: Wenn die Verschiedenheit wirklich struktureller Natur ist, haben wir es dann mit jenen Differenzierungen zu tun, die bei protoplasmischen Lebewesen die Geschlechtsmerkmale darstellen? Das könnte möglich sein. Eine solche Annahme ist natür lich nur eine theoretische Spekulation. 9. Mai. (Ich sehe, daß ich schon seit einiger Zeit den Wochentag nicht angebe.) – Kein Prott. Ich meine, es könnte von Interesse sein, inzwischen zu versuchen, meinen Eindruck von jenen ›seltsamen Gedanken‹ wiederzugeben, zu denen die Protte mich – so glaube ich wenigstens – inspirierten. Da ist zuerst das Bewußtsein eines Widerstrebens. Ich wünschte nicht zu denken, was ich dachte. Nicht, weil diese Gedanken an sich abstoßend oder unange nehm, sondern weil sie meinem Verstand wesens fremd waren. Ich meine damit nicht, daß sie meiner Persönlichkeit oder meinen Anschauungen, also der Summe der Sympathien und Aversionen, die mein ›Ich‹ ausmachen, geistig widersprachen, sondern meinem Denken als biologischer Funktion vollkom men inkongruent waren. Die Unterschiede zwischen protoplasmischem und nicht-protoplasmischem Le
ben müssen fundamental und gewaltig sein. Zwei tens wurde ich mir eines Gefühls der Vergeblichkeit und Hoffnungslosigkeit bewußt. Ich habe gesagt: ›Ich wünschte nicht zu denken, was ich dachte‹, doch es wäre ebenso richtig, zu sagen, daß ich es nicht den ken konnte. Ich nehme an, daher rührte die Empfin dung der Fruchtlosigkeit. Und drittens überkam mich so etwas wie eine quä lende, kosmische Langeweile. Ich nehme an, dies war die Folge meiner ständigen mentalen Enttäuschun gen. Ich konnte, so sehr ich mich auch anstrengte, meine eigenen Gedanken nicht verstehen. Und wenn es mir schließlich einmal gelang, fand ich sie nichts sagend und langweilig. Sie waren mir so fremd, so unbegreiflich, daß ich sofort wieder jedes Interesse an ihnen verlor. Was waren es für Gedanken? Was hatten sie zum Inhalt? Ich kann es nicht sagen. Dies alles verwirrt mich sehr und entmutigt mich. Nun, ich tröste mich damit, daß nichts deprimieren der ist als der Versuch, das Unbeschreibliche zu be schreiben. Vielleicht ist es wirklich so, daß nur ein anderes Prott die Gedanken eines Protts verstehen kann. 10. Mai. – Waren meine ›fremden Gedanken‹ das Resultat von Versuchen der Protte, mit mir in Ver bindung zu treten? Ich glaube es kaum. Ich glaube
eher, sie waren in der Nähe des Schiffes, aber gewis sermaßen außerhalb meiner menschlichen Sichtweite, und ich fing nur zufällig und unbewußt einige ihrer Mitteilungen auf, die sie untereinander austauschten. Ich habe lange darüber nachgedacht, wie ich mit ihnen in Kontakt kommen kann. Es ist schade, daß ich kein optisches Bild von mir auf die Außenwand des Schiffes projizieren kann. Ich habe einen Matheson-Raumsender, und das nächste Mal – wenn es ein nächstes Mal gibt – werde ich es mit ihm versuchen. Doch ich habe in diesem Falle überhaupt kein Zu trauen zu irgendwelchen Apparaten. Ich fühle intui tiv, daß sie nur durch Telepathie, durch direkte Ge dankenübertragung zu erreichen sind. Doch wenn sie auf mein einfaches ›Wer?‹ schon mit Flucht reagie ren? ... Nun, dann muß ich eben etwas anderes den ken. Wie wäre es, wenn ich einen Kontaktversuch machte mit einer ›Differential-Frage‹? DifferentialImpulse sind schon für einen Telepathen mit angebo rener Anlage schwierig, für mich, fürchte ich, sind sie kaum möglich. Aber vielleicht liegt wiederum gerade in dieser Schwierigkeit meine Erfolgschance. Ich bin jetzt nämlich ziemlich sicher, daß die Protte sich bei meinem direkten ›Wer?‹ nur deshalb vom Schiff ent fernten, weil ein einfacher mentaler Kontakt mit mir für sie schmerzhaft ist. Später. – Vier von ihnen sind jetzt da. Ich habe ei
nen Differential-Impuls versucht, und sie entfernten sich, kamen aber zurück. Ich werde jetzt etwas ande res ausprobieren. 11. Mai. – Es hat geklappt. Mein 4-D-Impuls hat ei nen verblüffenden Effekt gehabt. Von dem vier dimensionalen Impuls hatte ich eigentlich nur in Bü chern gelesen und hätte nie geglaubt, daß er mir ge lingen würde. Im Anfang schien es auch so. Bei meinem ersten Versuch schossen die Protte davon. Ich war verzwei felt. Dann aber kamen sie zurück, langsam, fast menschlich zögernd, wie schwankend zwischen Wi derwillen und Zuneigung. Sie umdrängten das Beob achtungsfenster. Wieder sandte ich meinen 4-DImpuls aus. Und sie blieben. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn sie nicht geblieben wären. Schon ein einfacher 3-D Differential-Impuls ist anstrengend; er erfordert eine ungeheure geistige und emotionale Konzentration, die bis zur völligen Ausschaltung des IchBewußtseins geht. Jeder Telepath weiß, was ich mei ne. Aber ein 4-D-Impuls bedeutet ungefähr das, was man früher mit ›Sich-selbst-am-Kopf-hochheben‹ be zeichnete, sich also nicht aus dem Raum wegdenken, sondern sich auch aus der Zeit emanzipieren. Es gibt Experten, die behaupten, diese Leistung sei für einen normalen Menschen überhaupt unmöglich. Ich habe
immer noch Mühe, zu glauben, daß ich sie vollbracht habe. Und dennoch, es war so. Plötzlich setzte ein über mächtiger Kontaktstrom ein und überflutete mich. Ich würde gern meine Empfindungen bei diesem Erleb nis genau beschreiben, solange die Eindrücke noch frisch sind, doch ich bin zu erschöpft. Selbst der Ver such, das Tonbandgerät zu benutzen, geht über mei ne Kräfte. Ich muß zunächst ausruhen. Später. – Ich habe vier Stunden geschlafen. Ich glaube, ich habe nie in meinem Leben so tief geschla fen. Jetzt bin ich fast wieder ganz ich selbst. Nur mei ne Hände zittern. Ich sagte, ich wollte das Ergebnis meiner Verbindung mit den Protten niederschreiben, solange es frisch war. Doch die Erinnerung daran scheint schon etwas verblaßt zu sein. Ich nehme an, das hängt damit zusammen, daß der Inhalt ihrer Mit teilung mir vollkommen wesensfremd war. Geblie ben ist jedoch der erste gefühlsmäßige Eindruck ihrer schwallartigen Plötzlichkeit. Es war, als ob eine Fla sche warmen Champagners, die vorher heftig ge schüttelt worden war, plötzlich entkorkt würde. Im weiteren Verlauf des Phänomens hatte ich alle Mühe, mein geistiges Gleichgewicht gegen den An sturm zu behaupten. Es war übermenschlich schwer. Kein Wunder, daß ich hinterher so erschöpft war. Doch ich habe einige Grundfakten festgestellt.
Erstens: Die Protte sind Individuen und haben ein individuelles Einzelbewußtsein; dessen bin ich sicher, obwohl ich nicht weiß, auf Grund welcher Symptome ich dies erkannt habe. Dies ist eine sehr bedeutsame Entdeckung; haben doch sogar einige protoplasmi sche Lebensformen nur ein Gruppenbewußtsein. Von den vier Protten vor meinem Beobachtungsfenster war sich jedes seiner selbst als einmalig und ver schieden von den anderen bewußt. Zweitens: Unterscheidungen. Die Protte waren sich nicht nur ihrer Identität, sondern auch der Artunterschiede zwischen ihnen selbst bewußt. Und ich bin der Ansicht, daß diese Unterschiede jenen entspre chen, die ich auf meinen fotografischen Platten fest gehalten habe. Drittens: Die Protte haben ein klares Bewußtsein davon, daß sie hier sind und nicht anderswo. Dies mag trivial klingen oder so selbstverständlich, daß es nicht lohnt, darüber zu sprechen. Doch ich gebe zu bedenken, daß es auf der Venus ganze Gruppen von protoplasmischen Lebewesen gibt, deren einziges Ortsempfinden in der Unterscheidung zwischen ›Ich‹ und ›Nicht-ich‹ besteht. Viertens: Für die Protte ist die Zeit wie für uns ein nichtumkehrbarer Fluß in einer einzigen Richtung. Außerdem habe ich in ihrem Denken einen Hinweis gefunden auf eine Unterscheidung zwischen biologi
scher Zeit und einem anderen Zeitbegriff, den ich nicht definieren kann. Dies wäre erstaunlich für eine solche Lebensform! Und doch scheint es so zu sein. Über diese vier Grunderkenntnisse hinaus bin ich noch vollkommen im Unklaren über das Wesen der Protte. Doch ich habe das Gefühl, obwohl ich viel leicht zu optimistisch bin, daß eine noch intimere Verständigung möglich ist, die mir weiteres enthüllen kann. Ich glaube, daß es mir gelingen wird, Näheres über ihre Lebensbedingungen zu erfahren, und ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, zu ent decken, wie sie sich fortpflanzen. Ich habe die unbestimmte, aber starke Empfin dung, daß es irgend etwas gibt, das sie mir dringend mitzuteilen wünschen. 13. Mai. – Heute sechs Protte. Nach meinen Ultra violett-Fotos gehörte nur eines von ihnen zu der un durchsichtigen Art mit dem dunklen Kern. Die ande ren zeigten alle das Lichtfadennetz. Die Verständigung war schwierig. Sie ist physisch sehr anstrengend für mich. Wieder verspürte ich ei nen psychischen Druck, eine starke Dringlichkeit in ihrem Senden. Wenn ich wüßte, über was sie mit mir zu sprechen wünschen, dann wäre alles viel einfacher für mich. Wenn ich meinen Eindruck menschlich definieren soll, dann möchte ich sagen, daß sie von einem psy
chischen Jucken gequält werden und wünschen, daß ich ihnen beim Kratzen helfe. Ich weiß, das klingt verrückt, aber das war genau der Eindruck, den ihr ungeduldiges Senden auf mich macht. Nachdem sie wieder verschwunden waren, habe ich meine Fotos sorgfältig analysiert. Die Muster der Lichtnetze sind bei den verschiedenen Exemplaren nicht identisch. Wenn die Muster bei den einzelnen Individuen konstant sind, dann scheint es, daß zwei von diesem Typ früher schon einmal hier waren. 14. Mai. – Heute waren sieben Protte da, und ich habe versucht, etwas über ihre Umweltbedingungen zu erfahren. Ich bin ziemlich sicher, daß sie meine Fragen verstanden haben, doch mit meiner Aussage über ihre Antworten will ich sehr vorsichtig sein. Es scheint, daß ihre Existenz nicht unbedingt auf den lichtlosen und wärmelosen Weltraum beschränkt ist. Doch wie gesagt, es scheint so; denn ich bin nicht si cher, ob ich sie richtig verstanden habe. Jedenfalls ha be ich deutlich gespürt, daß ihr Denken einen ganz bestimmten Inhalt ausstrahlte, der für mich bestimmt war. Eine neue Frage stellt sich: Woher beziehen sie ihre Energie? Eine wilde Vermutung: Von den Sternen? Wieder habe ich in ihrem Senden das dringende Ver langen gespürt, mir noch mehr mitzuteilen über et was, das sie zugleich anzieht und abstößt, erschreckt
und verlegen macht. Plötzlich komme ich mir wie schon einige Male in meiner Situation ziemlich ko misch vor. Ein verlegenes Prott! Doch sehe ich keinen Grund, warum dies nicht möglich sein sollte, da sie doch selbstbewußte Individuen sind. Alle meine Be sucher von gestern gehörten zur Klasse der LichtnetzProtte. 16. Mai. – Gestern und heute kein Prott. 18. Mai. – Endlich! Drei Protte! Ein sofort vorge nommener Vergleich mit meinen früheren Aufnahmen ergab, daß sie alle schon einmal hier waren. Ich begann, sie über ihre räumlichen Existenzbedingungen zu be fragen, über ihren Stoffwechsel und ihre Fortpflan zung, doch sie schienen an diesen Problemen kein In teresse zu haben und verließen mich bald wieder. Wenn sie das nächste Mal erscheinen, will ich mich bemühen, in meinem Verhalten mehr passiv zu sein. Ich muß versuchen, ihre Aufmerksamkeit nicht auf ein bestimmtes Thema hinzulenken. Dies ist nicht nur eine gute Methode, einen Menschen zum Sprechen zu bringen, es mag in diesem Fall besonders wichtig sein, da es sich ja um den Kontakt mit einem artfrem den Wesen handelt. 20. Mai. – Nachdem ich gestern vergeblich gewartet habe, erschien heute ein einzelnes Prott. Getreu mei nem Entschluß nahm ich eine betont passive Haltung ihm gegenüber ein. Ich sendete lediglich Impulse der
Bereitwilligkeit und der Empfänglichkeit und warte te, dabei das Prott scharf beobachtend. Fünf oder zehn Minuten war ›Schweigen‹. Das Prott bewegte sich in meiner Sichtweite hin und her, irgendwie zögernd, ich möchte beinahe sagen: schüchtern, doch sein Benehmen konnte natürlich auch irgendeinem anderen, mir unbekannten und unverständlichen Motiv entspringen. Und plötzlich begann es, mit großer Hast und Heftigkeit zu senden. Und wieder hatte ich die Sensation einer entkorkten Flasche warmen Champagners. Es war für mich äu ßerst schwierig, seinen Impulsen zu folgen. Nach et wa drei Minuten war ich in Schweiß gebadet. Seine Mitteilungen waren von großer Dringlichkeit, enthiel ten viele Wiederholungen und hatten, so glaubte ich zu spüren, eine angenehme, lustvolle emotionelle Färbung. Doch ich fand keine sprachlichen Ausdrük ke, sie nach menschlichen Begriffen zu deuten. Sie schienen in der Hauptsache aus Verben zu bestehen. Ich verhielt mich vollkommen passiv, beschränkte mich aufs ›Zuhören‹ und bemühte mich, mein menta les Gleichgewicht zu bewahren. Meine Verwirrung wurde immer größer, je länger das Prott sendete. Schließlich mußte ich erkennen, daß ich dem Punkt nahe war, wo meine fruchtlosen Bemühungen, das Empfangene zu verstehen, den telepathischen Kon takt stören würden. Ich wagte es, eine Frage zu stel
len, sendete einen kurzen Impuls, der etwa einer Bitte um Erläuterung gleichkam. Die Impulse des Protts wurden schwächer und brachen dann plötzlich ab, und es verschwand. Was habe ich aus diesem Versuch gelernt? Passive Annäherung ist der richtige Weg, mit ei nem Prott in Kommunikation zu kommen, und ein Prott sendet mit größter Bereitwilligkeit – wenn auch vorläufig für mich noch völlig unverständlich –, so lange es nicht durch Fragen gestört oder auf ein be stimmtes Thema angesprochen wird. Was immer auch dieses Prott mir zu sagen hatte, für es selbst schien es etwas im höchsten Grade An genehmes gewesen zu sein. Später. – Ich habe die Aufzeichnungen, die ich über meine Experimente mit den Protten gemacht habe, noch einmal durchgelesen. Wie konnte ich nur so blind gewesen sein? Jetzt ist mir alles klar: Der Ge genstand, über den das Prott sendete, alles, was es mir in ständigen Wiederholungen, zugleich ergötzt und verlegen, unter Verwendung vieler Verben mit teilen, worüber es nur selbst sprechen, aber nicht be fragt werden wollte, das konnte nichts anderes betref fen als sein Geschlechtsleben. Ich weiß, es klingt lächerlich, wenn ich das so rundheraus sage. Deshalb will ich mich beeilen, es näher zu erklären. Wir wissen bis jetzt – welch eine
Chance für mich, sagen zu können: ›bis jetzt‹ – noch nichts über die Art, wie die Protte sich fortpflanzen. Sie können sich z.B. vermehren durch Zellenteilung. Sie können auch zweigeschlechtlich sein wie viele hochorganisierte Lebewesen. Oder ihr Wiedererzeu gungszyklus erfordert die Kooperation von zwei, drei oder mehreren verschiedenen Prottarten. Bis jetzt habe ich nur zwei Arten beobachtet, die mit dem festen Kern und die mit dem dichten Licht fadenmuster. Dies bedeutet aber nicht, daß es nicht doch noch andere Arten gibt. Worauf ich hinaus will, ist folgendes: Die Sache, über die das Prott sich heute mit mir verständigen wollte, hat für das Prott den gleichen emotionalen und psychischen Wert wie der Geschlechtstrieb für protoplasmische Lebewesen. Eben fällt mir meine Großmutter ein. Sie pflegte zu sagen, im Leben eines Hundes gebe es, entsprechend der Zahl seiner Pfoten, vier Dinge, die man nie außer acht lassen dürfte: fressen, fressen, Fortpflanzung und nochmals fressen. Sie züchtete Dachshunde, und sie mußte es wissen. Frage: Habe ich mich in diesem Augenblick an diesen Ausspruch deshalb erinnert, weil ich vermute, daß der Begattungsakt der Protte im Zusammenhang steht mit ihrer Nahrungsaufnah me, analog der Art, wie Amöben sich paaren? Bei ih nen hat jedenfalls der Kernaustausch eine fördernde, wohltuende Wirkung auf ihren Stoffwechsel.
Sei dem, wie ihm sei! Ich habe jetzt wenigstens eine These, die ich bei meinem Verkehr mit den Protten überprüfen kann. 21. Mai. – Sieben Protte tummelten sich in meinem Gesichtsfeld, als heute die Alarmglocke läutete. Wäh rend ich sie beobachtete, tauchten immer mehr auf. Es war unmöglich, sie genau zu zählen, doch ich glaube, es müssen mindestens 15 gewesen sein. Sie begannen alle sofort zu senden. Da ich sie durch eigene Impulse nicht stören wollte, versuchte ich zunächst, nur passiv ›zu hören‹, mit dem Erfolg, daß ich mir vorkam wie jemand, der von einer Grup pe Menschen umringt ist, die alle gleichzeitig auf ihn einreden. Nach wenigen Minuten war ich gezwun gen, ihnen verstehen zu geben, daß immer nur eines von ihnen senden sollte. Und siehe da: Von diesem Augenblick an ging ihr Senden vollkommen geordnet vor sich. Geordnet ja, aber unverständlich wie zuvor! So un verständlich war es, so anstrengend und verwirrend, daß ich nach zwei Stunden gezwungen war, das Ex periment abzubrechen. Es ist das erstemal, daß ich dies getan habe. Warum habe ich es getan? Meine Motive sind nicht einmal mir selbst ganz klar. Ich hatte versucht, passiv zu empfangen und das Empfangene in die Theorie einzuordnen, die ich mir von dem mutmaßlichen
Sinn des Anliegens der Protte gebildet hatte. Ich habe nichts gefunden, was dieser Theorie auch nur im ge ringsten widersprechen würde, aber mit wachsender, schmerzlicher Bestürzung mußte ich, je länger meine Bemühungen dauerten, feststellen, daß ich nicht in der Lage war, in dem Chaos der ständig wiederholten Mitteilungen der Protte auch nur einen einzigen kla ren, menschlich begreifbaren oder sprachlich formu lierbaren Gedanken zu unterscheiden oder auch nur zu ahnen. Ich hätte nicht geglaubt, daß die Erkenntnis der Vergeblichkeit geistiger Anstrengungen einen Men schen körperlich so stark mitnehmen könnte. Dabei war der ›technische‹ Kontakt an sich flüssiger als ge stern. Und dennoch beginne ich, an Gewicht zu ver lieren. 12. Juni. – Ich habe seit längerem keine Eintragun gen mehr gemacht. In der Zwischenzeit hatte ich 36 ›Sitzungen‹ mit den Protten. Was kann ich aus diesen für mich so schmerzhaft einseitigen und für die Protte sichtlich so genußrei chen ›Gesprächen‹ folgern? Erstens: Der Kontakt mit ihnen ist viel leichter ge worden, ja, zu leicht. Ihre Gedanken dringen ständig in mich ein, auch zu Zeiten, da sie mir nicht will kommen sind: während ich esse, während ich meine Notizen mache und sogar, wenn ich versuche, zu
schlafen. Doch im ganzen ist der Verkehr mit den Protten weniger anstrengend geworden, und ich glaube, dies bedeutet einen großen Fortschritt für meine Experimente. Zweitens: Aus dem ganzen Wirrwar des empfan genen Materials glaube ich, einen wenn auch nicht verständlichen, so doch dem menschlichen Denken entsprechenden Begriff, beziehungsweise das Frag ment eines Begriffes extrahieren zu können. Das Haupt- und Kernthema der Mitteilungen der Protte ist eine Tätigkeit, die sprachlich mit ›ins ... en‹ formu liert werden kann. Ich beeile mich, zu sagen, daß die Blankosilben nicht notwendigerweise eine Obszönität bedeuten müssen. Doch was sie wirklich bedeuten, das weiß ich nicht. Die ersten Sätze, die als Assoziation mit ›ins ... en‹ instinktiv in meinem Hirn auftauchten, waren ›ins Gras beißen‹, ›ins Leben treten‹ und ›ins Bockshorn jagen‹. Es mag nicht ohne Bedeutung sein, daß zwei dieser Redensarten mit Tod und Geburt und die drit te mit Angst und Bedrohung zu tun haben. Inhaltlich ist die Verständigung mit den Protten so unbefriedi gend, daß ich es mir nicht leisten kann, die gewagte ste Spekulation außer acht zu lassen, die Licht in das Dunkel bringen könnte. Es ist möglich, daß ›ins ... en‹ etwas ist, das für die Protte Gefahr bedeutet; doch dies ist nur eine Vermutung. Vielleicht bin ich auf ei
nem vollkommen falschen Weg. Ja, ich glaube, es ist so. Jedenfalls, von jetzt an sehe ich einen klaren Weg vor mir. Ich werde mit allen mir zur Verfügung ste henden Mitteln und Kräften versuchen, die Protte da zu zu veranlassen, mir zu spezifizieren, was ›ins ... en‹ bedeutet. Es besteht keine Gefahr mehr, daß ich den Kontakt mit ihnen verliere. Selbst während ich jetzt diese Worte auf das Tonband diktiere, senden sie mir weiteres Material über ›ins ... en‹. 30. Juni. – Die Zeit ist sehr schnell vergangen, und dennoch schleppte sich jeder Augenblick endlos hin. Die Protte erscheinen jetzt in Schwärmen von 15 bis 40 Stück. Ich hatte 52 registrierte ›Interviews‹ mit ih nen, abgesehen von ihren ununterbrochenen, uner wünschten Sendungen. Meine fotografische Kontrolle zeigt an, daß 90 Prozent von denen, die sichtbar wur den, der Lichtnetzart angehörten. Was habe ich in diesem nahezu ständigen Kontakt Neues erfahren? Mit Bitterkeit muß ich feststellen: Nichts, überhaupt nichts! Ich bin zu niedergeschlagen, um weiterzuschrei ben. 1. Juli. – Ich glaube nicht, daß es noch irgendeine Möglichkeit der Interpretation gibt, die ich nicht zu Ende gedacht habe. So erschien es mir z.B. einmal, als ob ›ins ... en‹ etwas mit den Knoten im Netzwerk der leuchtenden Protte zu tun hätte. Als ich diesen Ge
danken weiterverfolgte, erhielt ich als Reaktion von ihnen einen negativen Impuls, der sowohl amüsiert als auch indigniert zu sein schien. Dann deuteten sie mir an, daß ›ins ... en‹ sich auf ihre weißliche, schimmernde Körperoberfläche bezö ge; doch als ich auf das Thema einging, gaben sie mir wiederum einen verneinenden Bescheid. Und so ging es weiter. Ich habe das Problem unter mehr als 50 Gesichts winkeln angepackt, doch ich mußte alle Versuche als fruchtlos aufgeben. ›ins ... en‹ schien einmal elektrisch zu sein, dann wieder nichtelektrisch, dann eindimen sional, dann zweigeschlechtlich, dann vielphasig, dann flüssig, dann konstant und einmal sogar nicht existent. Zuletzt kam ich auf die Idee, daß es eine Tä tigkeit sein könnte, die den Protten eine lustvolle Be friedigung verschafft, doch sie protestierten heftig. Ich brach daraufhin die Sitzung wütend ab. Außer ihren widerspruchsvollen Mitteilungen über ›ins ... en‹ habe ich von Protten nichts Erwähnenswer tes mehr erfahren. Ich bin krank von ihrem leeren, sinnlosen Geschwätz. Ihre Impulse klingen noch stundenlang in meinem Gehirn nach. Sie quälen mich wie ein haftender Geruch oder ein hartnäckiger Nachgeschmack. Während einer ›Sitzung‹ ließ mich ein Prott – ich glaube, es war einer mit ›Dotter‹ – wissen, daß sie au
ßer im Weltraum auch unter zahlreichen anderen Be dingungen leben könnten, vorausgesetzt, daß ihnen eine nicht zu weit entfernte Quelle von Strahlungs energie zur Verfügung stünde. Dies war die einzige positive Information, die ich von ihnen erhalten habe. Daneben hat sich in mir jedoch der Eindruck ver stärkt, daß sie mir sehr dankbar sind für meine Be reitwilligkeit, sie ›anzuhören‹. Ihre Empfindungen können, glaube ich, sprachlich als ›verstehend und mitfühlend‹ bezeichnet werden. Ich mußte wieder ein neues Loch in den schlaffen Riemen meiner Armbanduhr bohren, um ihn enger zu machen. Dies ist nun schon das dritte. 3. Juli. – Nur mit Schwierigkeit kann ich das Ton bandgerät benutzen, so stürmisch senden die Protte. Ich habe kaum noch einen Augenblick Ruhe vor ihren Mitteilungen, die alle das eine verdammte Thema be treffen. Doch ich habe mich zu einem Entschluß durchgerungen: ich kehre nach Hause zurück. Ja, nach Hause! Vielleicht ist es innere Schwäche, die mich veranlaßt, mein eigenes Projekt aufzugeben, vielleicht ist es so, daß kein Mensch hätte mehr errei chen können; ich weiß es nicht. Ich frage auch nicht danach. Ich will nur weg von hier, weg von ihrem endlosen, sinnlosen Geplapper. Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, sie zum Schweigen zu bringen oder wenigstens vorübergehend meine mentalen Anten
nen gegen ihre Sendungen abzuschirmen, dann könn te ich vielleicht durchhalten. Doch es ist unmöglich. Ich kehre nach Hause zurück, auf die Erde. Ich ha be schon angefangen, die Programmzahlen für die elektromatische Steuerung zu berechnen. 4. Juli. – Sie haben mir mitgeteilt, daß sie mitkommen werden auf die Erde. Es scheint, sie haben sich so an mich ge wöhnt, daß sie nicht mehr ohne mich sein wollen. Ich muß eine Entscheidung treffen. 12. Juli. – Es ist grauenvoll schwer für mich, über haupt zu denken, so verrückt senden sie. Ich bin nicht so altruistisch oder idealistisch, mich dazu zu verdammen, lebenslänglich den Protten zu lauschen, wenn es irgendeine Möglichkeit gibt, die sem Schicksal zu entgehen. Doch gesetzt den Fall, ich ignoriere die Warnungen meines Instinktes, überhöre die Stimme meines Gewissens und kehre zurück auf die Erde ... was wird die Folge sein? Die Protte wer den mit mir kommen, ich werde sie nicht los sein, und ich werde eine Invasion der Protte auf die Erde ausgelöst haben. Sie verlangen wie wild, über ›ins ... en‹ zu senden. Sie haben entdeckt, daß Erdmenschen gute Empfänger sind. Daran bin ich selbst schuld. Wenn ich ihnen den Weg zur Erde zeige, was dann? Mein Dilemma ist nicht ohne Komik, aber nichtsde stoweniger grausam real. Oh, gewiß, vielleicht gibt es ein Mittel, Protte zu vernichten, und die zuständigen
Fachleute auf der Erde werden es entdecken; oder wenn nicht, dann finden wir vielleicht einen Modus, mit ihnen zusammenzuleben. Doch nein, die Gefahr ist zu groß. Ich werde hierbleiben. Die Ellis ist ein zuver lässiges, bequemes Raumschiff. Nach meiner Berech nung habe ich genug Luft, Wasser und Proviant an Bord für den mutmaßlichen Rest meines Lebens. Ener gie habe ich, da ich nicht zurückkehre, im Überfluß. Ich könnte mich mit meinem Schicksal leicht abfinden, wenn die Protte nicht wären. Wenn ich an sie denke, zieht sich mir das Herz zusammen vor Mutlosigkeit, und mein Magen dreht sich um vor Widerwillen. Und dennoch, ein Wissenschaftler darf niemals aufgeben. Außerdem tun sie mir im Grunde leid, und ich fühle mich auch ein wenig geschmeichelt, weil sie mich so dringend brauchen. Und selbst jetzt bin ich trotz allem nicht ganz ohne jede Hoffnung. Eines Tages vielleicht ... irgendwann ... werde ich die Protte doch noch verste hen und erfahren, was ihr ›ins ... en‹ bedeutet. Ich werde dieses Tagebuch in einen PermaloyZylinder stecken und ihn mit einer Signalrakete vom Schiff wegschießen. Die Rakete kann ich zusätzlich aus meiner Antriebsenergiereserve aufladen; ich habe dieses Verfahren schon bei meiner Rechenmaschine mit Erfolg ausprobiert, und ich hoffe, die Rakete wird die Entfernung bis zum Rand des Gravitationsfeldes unseres Sonnensystems leicht schaffen.
Leb wohl, Erde! Ich tue es für euch. Gedenket mein!« Fox ließ die letzte Seite des Manuskriptes sinken. »Der arme Narr«, sagte er. »Weiß Gott, ein armer Narr! Sitzt dort draußen im Weltraum, hört sich Jahr um Jahr das blöde Ge schwätz an und bildet sich ein, ein Retter der Menschheit zu sein.« »Ich kann kein Mitleid für ihn aufbringen. Ich wet te, einige von ihnen folgten seiner Signalrakete hier her.« »Ja. Und dann vermehrten sie sich. Oh, das hat er wunderbar gemacht!« Schweigend starrten die beiden ins Leere. Dann sagte Fox: »Ich muß gehen. Ich spüre es schon wieder.« »Ich auch.« Sie verabschiedeten sich vor der Tür. Fox blieb noch einen Augenblick abwartend stehen, leise Hoffnung im Herzen. Doch da meldete sich in seinem Kopf die verhaßte Stimme: »Ich möchte dir noch etwas mehr sagen über ›ins ... en‹.«
Arthur Porges
Der Ruum Der Raumkreuzer Ilkor hatte eben das Gravitations feld des Pluto verlassen und auf interstellaren An trieb umgeschaltet, als ein Offizier eilig die Kabine des Kapitäns betrat. »Exzellenz«, meldete er aufge regt, »ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, daß in folge der Unachtsamkeit eines Technikers auf Planet III ein Ruum vom Typ H-9 zurückgeblieben ist mit al lem, was er inzwischen gesammelt haben mag.« Der Blick des Kapitäns wurde hart, doch seine Stimme klang gleichgültig, als er fragte: »Wie war der Ruum eingestellt?« »Auf einen Aktionsradius von maximal 30 Meilen und eine Gewichtskapazität von 160 Pfund, mit ei nem Spielraum von 15 plus oder minus.« Der Kapitän überlegte einige Sekunden und sagte dann: »Wir können jetzt nicht umkehren. In wenigen Wochen kommen wir dort wieder vorbei und werden dann den Ruum mitnehmen. Ich habe keine Lust, mein Schiffsbudget mit einem dieser teuren, auto energetischen Modelle belasten zu lassen. Sorgen Sie dafür«, schloß er kalt, »daß der Verantwortliche streng bestraft wird.«
Doch vor dem Ende seiner Reise stieß der Kreuzer in der Nähe von Rigel auf einen der feindlichen, scheibenförmigen Jäger, und als das kurze Feuerge fecht zu Ende war, traten beide Schiffe, halb zer schmolzen und radioaktiv verseucht als Särge ihrer Mannschaften einen milliardenjährigen Rundlauf um den Planeten an. Auf der Erde aber hatte vor einigen Jahrmillionen das Zeitalter der Saurier begonnen. Als die beiden Männer die letzte Proviantkiste ausge laden hatten, sah Jim Irwin seinem Partner zu, wie er in den Pilotensitz des kleinen Wasserflugzeuges zu rückkletterte. Er hob die Hand und winkte Walt zu. »Vergiß nicht, den Brief an meine Frau einzuwer fen«, rief Jim. »Sofort nach der Landung«, brüllte Walt Leonard zurück, während er den Motor auf Touren brachte. »Und du vergiß nicht, ein bißchen Uran zu finden! Wenn's nur ein paar Milliönchen sind! Denk daran, daß ihr bald zu dritt seid, du und Cele!« Grinsend entblößte er seine großen, weißen Zähne. »Und laß die Grislys nicht zu nahe an dich herankommen. Sie sind hier nicht so zahm wie die Bären im Yellowsto ne-Park. Gleich schießen und nicht erst Hände schüt teln!« Jim rieb sich die Nase, als die Maschine davon
brauste, eine schäumende Welle hinter sich zu rücklasssend. Ein seltsamer Schauer überlief ihn, als der silberne Vogel sich vom Wasser löste. Für drei Wochen würde er jetzt allein sein in diesem entlege nen Tal der Kanadischen Rocky Mountains. Wenn das Flugzeug aus irgendeinem Grunde nicht zurück finden würde zu dem eisigen, blauen See, so wäre das sein sicherer Tod. Selbst mit genügend Proviant könnte kein Mensch die vereisten Gipfel übersteigen und sich zu Fuß durch die mehr als hundert Meilen der fast jungfräulichen Wildnis schlagen, die ihn von der Zivilisation trennte. Aber Walt Leonard würde natürlich pünktlich zurückkommen, und an ihm, Jim, lag es nun, ob sie ihren Einsatz verlieren würden oder nicht. Also, an die Arbeit, alter Schatzgräber, und fort mit allen Wenns und Abers! Ohne Hast, mit den sicheren Handgriffen eines er fahrenen Waldläufers, baute er sich, angelehnt an ei nen Felsüberhang, ein primitives Schutzdach. Eine dauerhaftere Behausung war nicht erforderlich für diese drei Sommerwochen. Schwitzend unter den ste chenden Strahlen der Morgensonne, stapelte er seine Vorräte in der offenen Hütte gegen den Fels, bedeckte sie mit einer wasserdichten Zeltplane, die er mit Stei nen beschwerte, zum Schutz gegen die Plünderungen größerer Tiere; mit Ausnahme des Dynamits, das er etwa hundert Meter von der Hütte entfernt, ebenfalls
wasserdicht verpackt, deponierte. Nur ein Narr schläft neben einer Kiste mit hochexplosivem Inhalt. Die ersten zwei Wochen vergingen nur allzu schnell; sie brachten ihm keine nennenswerten Fun de. Es blieb ihm noch eine Möglichkeit und gerade noch genug Zeit, sie zu erkunden. So brach Jim Irwin gegen Ende der dritten Woche am frühen Morgen zu einem Streifzug in den nordöstlichen Teil des Tales auf, einen Bezirk, den er noch nicht betreten hatte. Er hängte sich den Geigerzähler um, setzte den Kopfhörer auf, drehte die Hörmuschel nach außen, um von dem stundenlangen, normalen Geknatter nicht wieder einen Brummschädel zu bekommen, griff nach seinem Gewehr und machte sich auf den Weg, im vollen Bewußtsein, daß diese Expedition seine letzte Chance war. Die schwerkalibrige Büchse war eine starke Behinderung beim Marsch, und ihr Gewicht machte sich in der Hitze unangenehm be merkbar; doch die riesigen Grislys Kanadas ließen sich in ihrem einsamen Reich nicht ungestraft stören, und es brauchte eine Menge Blei, sie unschädlich zu machen. Zwei von ihnen hatte er schon töten müssen. Er hatte es nicht gern getan; denn er wußte, daß die großen, prächtigen Tiere am Aussterben waren. Und in mehreren brenzlichen Situationen hatte sich das Gewehr, obwohl er am Ende doch nicht zu schießen brauchte, als sehr beruhigend für die Nerven erwie
sen. Seine 22er-Pistole hatte er in ihrem Lederhalfter in der Hütte gelassen. Er pfiff sich ein fröhliches Lied, während er kräftig ausschritt; denn die klare, kühle Morgenluft, das gleißende Sonnenlicht auf den blauweißen Gletschern und der berauschende Duft des Sommers ließen sein Herz höher schlagen, trotz seines bisherigen Pechs als Prospektor. Er hatte sich ausgerechnet, daß er eine Tagesreise brauchen würde, um zu dem neuen Bezirk zu gelangen; sechsunddreißig Stunden würden ihm dann verbleiben, um ihn systematisch abzusuchen, und so könnte er am Nachmittag des dritten Tages zurück sein, wenn das Flugzeug landen würde. Au ßer seiner eisernen Ration hatte er weder Proviant noch Wasser mitgenommen. Es wimmelte von wilden Kaninchen in diesem Tal, und die Bäche waren voll von großen, fleischigen Regenbogenforellen, wie man sie in den Staaten nur selten zu sehen bekam. Den ganzen Vormittag wanderte Jim durch die un berührte Wildnis. Mehrere Male wurde das ständige Geräusch seines Geigerzählers lebhafter, und er fühl te eine Hoffnung in sich aufsteigen; doch das Geknat ter ebbte jedesmal bald wieder ab. Dieses verwun schene Tal barg nicht den erhofften Urangehalt, nur schwache Spuren von Radioaktivität waren vorhan den, nicht wert, verfolgt zu werden. Offenbar hatten sie mit diesem Claim eine Niete gezogen. Seine Zu
versicht schwand dahin. Sie hätten einen Treffer ver dammt nötig gehabt, besonders Walt. Und vor allem Cele, seine eigene Frau, die ein Kind erwartete. Doch es bestand immer noch eine Chance. Die letzten sechsunddreißig Stunden – er würde sich die Nacht um die Ohren schlagen – brachten vielleicht den gro ßen Schlag. Mit Bitterkeit dachte er daran, daß es ihm auch schon helfen würde, wenn einer der ProspektorKollegen, die er finanziert hatte, Glück hätte und ihm sein Geld zurückzahlen könnte. Er hatte fast achttau send Dollars ausstehen. Er verzog den Mund zu einem sauren Lächeln und gab die müßigen Spekulationen auf, um an sein Mit tagessen zu denken. Sowohl die Sonne als auch sein Magen zeigten an, daß es Zeit dafür war. Er hatte eben beschlossen, seine Angel fertig zu machen, um sie in einem nahen, schäumenden Bach auszuwerfen, und ging um einen grasbewachsenen Hügel herum, als er erstarrt, mit hängendem Unterkiefer stehen blieb bei dem Anblick, der sich ihm bot. Was er sah, glich der Auslage eines MammutSchlächterladens oder der Strecke einer Jagdgesell schaft von Riesen. Es war eine unermeßliche An sammlung von Tierkadavern, alle peinlich genau ausgerichtet, in drei Reihen, die sich fast so weit er streckten, wie das Auge reichte. Und was für Tiere! Gewiß, die in seiner nächsten Nähe lagen, waren ge
wöhnliche Hirsche, Rehe, Bären, Pumas und Bergzie gen, doch dann kamen seltsame, ungeschlachte, be haarte Tiere unbekannter Gattung und nach ihnen ei ne schauerliche Galerie von Reptilien verschiedenster Arten. Eines von ihnen, am äußersten Ende der gro tesken Kolonne, erkannte er sofort wieder. Von dieser Spezies stand ein allerdings viel größeres Exemplar, um ein unvollständiges Skelett modelliert, im Muse um seiner Heimatstadt. Kein Zweifel, es war ein kleiner Stegosaurier, nicht größer als ein Pony! Fasziniert ging Jim die Reihen entlang, nahm das ungeheuerliche Bild in sich auf. Als er eine schuppi ge, schmutzig-gelbe Eidechse näher betrachtete, sah er, daß eines ihrer Augenlider zitterte. Und langsam dämmerte ihm eine gräßliche Erkenntnis. Die Tiere waren nicht tot, waren nur gelähmt und auf rätselhaf te Weise konserviert. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Wie lange war es her, daß Stegosaurier in die sem Tal gehaust hatten? Und plötzlich machte er eine andere erstaunliche Entdeckung: die bewegungslosen Opfer waren alle von fast gleicher Größe. Nirgendwo sah er einen wirklich großen Saurier, keinen Tyrannosaurier und natürlich auch kein Mammut. Jedes der Tiere hatte ungefähr die Größe eines ausgewachsenen Schafes. Während er sich noch über diesen seltsamen Zufall
den Kopf zerbrach, hörte er hinter sich im Unterholz ein Geräusch. Jim Irwin hatte früher einmal mit Quecksilber zu tun gehabt, und eine Sekunde lang schien es ihm, als ob ein mit diesem flüssigen Metall halbgefüllter Le dersack auf die Lichtung rollte. Das kugelförmige Ding bewegte sich mit schwabbelig-fließender Schwerfälligkeit. Doch es war kein Leder, was es um hüllte, und was zuerst wie widerliche Warzen ausge sehen hatte, erwies sich bei schärferem Hinsehen als zugehörig zu einem Organ oder Mechanismus im In neren des Wesens. Er hatte keine Zeit, zu ergründen, mit was er es da zu tun hatte, denn nachdem das phantastische Gebilde aus den »Warzen« mehrere Metallstäbe hervorgeschnellt und wieder zurückge zogen hatte, die an der Spitze mit runden, linsenför migen Wölbungen versehen waren, rollte es mit einer Geschwindigkeit von etwa acht Stundenkilometern auf ihn zu. Und die sture Entschlossenheit, mit der es sich ihm näherte, ließ in dem Manne keinen Zweifel übrig, daß es die Absicht hatte, ihn seiner schauerli chen Sammlung lebendig-toter Trophäen einzuver leiben. Zusammenhanglose Worte stammelnd, wich Jim einige Schritte zurück und griff nach seinem Gewehr, das ihm über der Schulter hing. Der nicht abgeholte Ruum, jetzt etwa dreißig Meter von ihm entfernt,
folgte ihm mit der mäßigen, aber unveränderlichen Geschwindigkeit, die in ihrer automatischen Stetig keit furchterregender war als der wütende Ansprung eines wilden Tieres. Jims Hand flog an den Ladehebel, und mit geübter Schnelligkeit warf er ihn herum und stieß eine Patro ne in den Lauf. Er preßte den verwitterten Kolben ge gen die Backe und nahm den ledernen Balg, der in der grellen Nachmittagssonne ein ideales Ziel bot, durch den Richtdiopter aufs Korn. Ein grimmiges Lä cheln umspielte seine Lippen, als er den Drücker langsam durchzog. Er wußte, welche Wirkung eines dieser über 100 Gramm schweren StahlmantelGeschosse, die mit einer Geschwindigkeit von fast 1000 Metern pro Sekunde das Rohr verließen, haben konnte. Auf diese kurze Entfernung würde es das wabbelige Ding, was es auch immer war, in Fetzen reißen und in Brei verwandeln. Wumm! Er spürte den vertrauten Rückstoß gegen die Schulter, doch im gleichen Augenblick hörte er das pfeifende Ji-ji-ji-ji eines Querschlägers. Er hielt den Atem an. Kein Zweifel, auf kaum zwanzig Meter war eine Kugel aus seiner schweren Büchse von der Oberfläche des Ruums abgeprallt. Wild warf Jim den Ladehebel herum. Er feuerte noch zwei weitere Schüsse ab. Dann erkannte er die Sinnlosigkeit seines Unterfangens. Als der Ruum auf
zwei Meter herangekommen war, sah er aus den warzenartigen Beulen glänzende, fingerähnliche Ha ken hervortreten, und zwischen ihnen schoß ein Sta chel heraus, aus dessen hohler Spitze eine grünliche Flüssigkeit tropfte. Der Mann wandte sich um und ergriff die Flucht. Jim Irwin wog genau 149 Pfund. Es war leicht für ihn, einen Vorsprung zu gewin nen. Der Ruum schien nicht fähig zu sein, seine Ge schwindigkeit zu vergrößern. Doch Jim gab sich in diesem Punkt keiner Illusion hin. Kein Lebewesen konnte dieses Tempo, das ungefähr der doppelten normalen Marschgeschwindigkeit eines Mannes ent sprach, auf die Dauer durchhalten. Ein gejagtes Tier würde sich bald aus Verzweiflung seinem unerbittli chen Verfolger zum Kampf stellen, oder wenn es sich ihm unterlegen fühlte, in panischer Angst weiterren nen, bis es vor Erschöpfung zusammenbrach. Nur die geflügelte Kreatur war hier sicher, und für jedes Ge schöpf, das dem Boden verhaftet war, gab es nur das eine unvermeidliche Ende: es wurde ein neues Stück in der grausigen Schaustellung. Doch für wen war diese Sammlung bestimmt? Was hatte das alles zu bedeuten? Jim wagte nicht, daran zu denken. Er konzentrierte seine Geisteskräfte auf seine Rettung. Während er weiterlief, begann er, alles überflüssige Gewicht ab
zuwerfen. Er sah, daß die Sonne sich rötete, und überlegte, wie er sich verhalten sollte, wenn die Nacht kam. Er konnte sich nicht entschließen, sich seines Gewehres zu entledigen. Es hatte sich zwar als nutzlos erwiesen gegen das Ruum, doch sein soldati scher Instinkt riet ihm, die Waffe bis zuletzt zu behal ten. Gewiß, jedes Pfund verringerte seine Chancen in dem grausamen Wettlauf, den er klar vor sich sah, und sein gesunder Menschenverstand sagte ihm, daß militärische Überlegungen in einem Kampf wie die sem sinnlos waren; es würde keine Schande bedeu ten, ein wertloses Gewehr wegzuwerfen. Er beschloß, es aber erst zu tun, wenn das Gewicht ihn entschei dend behindern sollte. Er hängte es so bequem wie möglich über die Schulter. Den Geigerzähler legte er auf einen flachen Felsblock, ohne seinen Lauf zu un terbrechen. Eines hatte er sich geschworen. Dies würde keine Hasenhatz werden, keine blinde, panische Flucht, die ihn am Ende doch seinem Verfolger ausgepumpt und wehrlos ausliefern würde. Es sollte ein kämpfender Rückzug werden, und er würde jede List und jeden Trick, den er in seinem abenteuerreichen Leben ge lernt hatte, anwenden, um zu überleben. Lang und tief atmend, seine Kräfte sparsam eintei lend, ging und lief er abwechselnd, dabei mit wach samen Augen Ausschau haltend nach etwas, das ihm
in diesem unheimlichen Kampf zum Vorteil werden könnte. Gott sei Dank war das Tal nur spärlich mit Bäumen bestanden; in dichtem Wald oder Unterholz hätte er seine Geschwindigkeit nicht durchhalten können. Plötzlich tauchte etwas vor ihm auf, was ihn stut zen ließ. Es war ein großer Felsbblock, der weit über dem Hohlweg hing, in dem er sich befand, und in ihm sah er eine Chance. Jim erinnerte sich grinsend an die malaiische Menschenfalle, die ihm einmal das Leben gerettet hatte. Er erkletterte einen kleinen Hü gel, von dem aus er einen Überblick über die grasbe wachsene Ebene hatte. Die Nachmittagssonne warf schon lange Schatten, doch entdeckte er sofort seinen Verfolger, der, jetzt noch ein Punkt, sich im gleichen, maschinenmäßigen Tempo auf ihn zu bewegte. Ban gen Herzens kontrollierte er den Weg des rollenden Ungeheuers. Alles hing von dem Ergebnis dieser kur zen Beobachtung ab. Er hatte recht! Ja, obwohl seine eigene Fährte, die an dem niedergetretenen Gras deutlich zu erkennen war, nicht immer der direkte oder beste Weg war, blieb der Ruum beharrlich in den Fußstapfen seiner Beute. Diese Tatsache war von entscheidender Bedeu tung für Jims Plan; doch hatte er nicht mehr als zwölf Minuten, ihn auszuführen. Absichtlich die Füße schleifen lassend, trat Irwin
eine deutliche Fährte in das Gras, bis unter den Fels block. Nachdem er etwa noch zehn Meter weiterge gangen war, ging er rückwärts in seinen eigenen Fuß spuren wieder zu dem Felsen zurück und sprang dann in einem mächtigen Satz von seiner Fährte hin ter den überhängenden Stein. Und sofort zog er sein schweres Jagdmesser aus dem Gürtel und begann, in wilder Hast, doch syste matisch vorgehend, die Erde unter dem Felsen zu lockern und zur Seite zu scharren. Von Zeit zu Zeit stemmte er sich, schwitzend vor Spannung und An strengung, mit der Schulter gegen den Stein, der schließlich zu schwanken begann. Er hatte kaum sein Messer in die Scheide zurückgestoßen und sich schwer atmend niedergekauert, als der Ruum, genau seiner Fährte folgend, über eine kleine Lichtung in sein Blickfeld rollte. Gespannt starrte er dem großen Kugelwesen ent gegen, bemüht, seinen jagenden Atem zu beruhigen. Es hatte keinen Zweck, zu überlegen, über welche Sinne der Verfolger verfügte. Eines stand fest: vorläu fig folgte er nur seinen Fußspuren, obwohl er eine ganze Menge rätselhafter Organe oder Instrumente zur Verfügung zu haben schien. Jim duckte sich so tief wie möglich in sein Versteck. Er hörte sein Blut in den Ohren rauschen. Er hielt den Atem an. Seine Nerven spannten sich zum Zerreißen.
Der Ruum schien in die Falle zu gehen. Er klebte an den Fußspuren seiner Beute. Er rollte auf den Felsen zu, er änderte seine Richtung nicht. Er rollte weiter, verschwand in dem Hohlweg, war jetzt unter dem Felsen. In diesem Augenblick stieß Irwin einen wil den Kampfruf aus, stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht und der ganzen Kraft seiner Muskeln gegen den Felsblock, der sofort aus dem Gleichgewicht kippte und genau auf den Ruum fiel. Mehr als fünf Tonnen Felsmasse waren von einer Höhe von vier Metern herabgestürtzt. Jim sprang in den Hohlweg hinunter. Und da stand er, starrte auf den riesigen Felsblock und schüttelte den Kopf, wie aus einer Betäubung erwachend. »Dich hab' ich fertiggemacht!« stieß er mit rauher Stimme hervor. Er gab dem Fels einen Fußtritt. »Hah! Für Walt und mich werden bestimmt ein paar Dollars he rausspringen, wenn wir deinen Schlachthof plündern. Vielleicht ist diese Expedition doch kein Totalverlust. Und du selbst, du widerliches Biest, fahr zur Hölle, wo du sicher hergekommen bist!« Entsetzt riß er die Augen auf, sprang zurück. Der rie sige Felsbrocken bewegte sich! Langsam schoben sich die fünf Tonnen Stein zur Seite, begannen sich zu he ben, und unter einer Kante kroch ein graues Etwas her vor. Jim Irwin taumelte zurück, gab einen heiseren Schrei von sich und stürzte in panischer Flucht davon.
Er rannte eine volle Meile in wilden Sprüngen den Hang hinunter, ohne zurückzuschauen. Dann blieb er stehen, wandte sich um. Er konnte in der Dämme rung eben noch den dunklen Punkt ausmachen, der sich von dem Felsen wegbewegte, genau so langsam und stetig und unerbittlich wie zuvor, und genau auf ihn zu. Schwer ließ Jim sich fallen und barg sein Ge sicht achtlos in seinen blutig zerkratzten und mit Er de verschmierten Händen. Während er wieder zu Atem kam, schwand auch seine verzweifelte Stimmung. Er hatte schließlich wieder einen Vorsprung von 20 Minuten gewonnen. Er setzte sich auf, nahm das flache Päckchen mit der eisernen Ration aus der Rocktasche und aß schnell, doch ohne zu schlingen, etwas von dem Fleischku chen, von den Biskuits und von der Schokolade. Nachdem er noch einige Schlucke von dem eiskalten Wasser des Baches getrunken hatte, der sich auf der Sohle des Tales dahinschlängelte, fühlte er sich wie der frisch genug, seinen gespenstischen Wettlauf fortzusetzen. Doch zuvor schluckte er noch eine der drei Benzedrin-Pillen, die er für alle Fälle immer bei sich trug. Als der Ruum noch etwa zehn Minuten ent fernt war, brach Jim Irwin, jetzt ein verhaltenes Tem po anschlagend, auf. Er fühlte sich wieder im Vollbe sitz seiner drahtigen Kräfte und seines seelischen Gleichgewichts.
Nach fünfzehn Minuten stieß er auf einen breiten, steilen Felsen von etwa zehn Meter Höhe, der mitten in dem jetzt sehr eng gewordenen Tal lag. Zu beiden Seiten war das Gelände fast unbegehbar; es war be deckt mit scharfkantigem Steingeröll, zwischen dem dichtes, stacheliges Unterholz wucherte. Wenn es ihm gelang, den Felsen zu überklettern, den der Ruum si cher umgehen mußte, konnte er wieder einen be trächtlichen Vorsprung herausholen. Er sah sich nach der Sonne um. Riesig und rot schwebte sie über dem Horizont. Er mußte sich beei len. Irwin war kein trainierter Bergsteiger, doch kann te er die Grundbegriffe des Kletterns. Jede Spalte, jede rauhe Stelle und den kleinsten Vorsprung ausnut zend, arbeitete er sich an der Steilwand empor. Er hatte eben den Rand der Klippe erreicht, als der Ruum auf den Felsen zurollte. Jim war sich wohl bewußt, daß er jetzt sofort hätte weiterlaufen sollen, um die wenigen noch verbleiben den Minuten des Tageslichtes wahrzunehmen – jede Sekunde, die er gewann, war von größter Bedeutung. Doch Neugier und Hoffnung ließen ihn verweilen. Er versprach sich, seine Flucht um so schneller fortzuset zen, sobald er beobachtet hätte, daß sein Verfolger sich zu dem Umweg um den Felsen anschickte. Und viel leicht gab das Ding überhaupt auf, und er konnte sich hier auf der Stelle niederlegen zum Schlafen.
Schlaf! Mit allen Fibern verlangte ihn danach. Doch der Ruum dachte nicht daran, den Umweg einzuschlagen. Nur wenige Sekunden zögerte er am Fuße des Hindernisses. Dann öffneten sich einige sei ner Beulen, und metallene Stäbe glitten heraus, die in augenähnlichen Glaslinsen endeten und sich suchend in der Luft hin- und herbewegten. Jim kroch zu spät zurück. Eines der unheimlichen Sehwerkzeuge hatte ihn erspäht, während er, auf dem Bauch liegend, über den Rand der Klippe hinunterschaute. Er verwünsch te seinen Entschluß, abzuwarten. Sofort wurden die Röhren wieder eingezogen, und aus einem anderen Knoten schnellte ein langer, dün ner Stab, der, in der untergehenden Sonne blutrot aufglänzend senkrecht nach oben direkt auf ihn zu schoß. Gelähmt vor Entsetzen, starrte er auf das un heimliche neue Instrument seines Verfolgers, das an der Spitze umgebogen war und sich unmittelbar vor seinen Augen an der scharfen Kante des Felsens fest hakte. Er sprang auf die Füße. Und schon wurde der Stab kürzer. Der Ruum zog ihn wieder ein und sich selbst damit in die Höhe. Jim sah die Spitze des Hakens sich in den Stein bohren. Fluchend setzte er einen Fuß vor, holte mit dem anderen aus zu einem mächtigen Tritt. Doch er führte ihn nicht aus. Sein Instinkt warnte ihn. Zu oft hatte er erlebt, daß ein Freistilringkampf
durch einen hinterhältigen Angriff auf die Beine ver lorenging. Er mußte es überhaupt vermeiden, mit ir gend einem Teil seines Körpers in die Reichweite der teuflischen Waffen seines Gegners zu kommen. Sein Blick fiel auf einen abgebrochenen, armdicken Ast, der neben ihm lag. Er packte ihn an einem Ende, schob das andere unter den Haken und begann, ihn hochzustemmen. Da blitzte es vor seinen Augen zi schend auf, und durch das trockene Holz spürte er in seinen Händen den Energieschlag, der das andere Ende des Hebels zersplitterte. Vor Schmerz aufschrei end, ließ er den rauchenden Ast fallen, wich einige Schritte zurück und rieb ohnmächtig fluchend seine gefühllosen Finger gegeneinander. Er hatte sich schon halb umgewandt, um weiterzurennen, als er in plötz licher Eingebung nach seinem Gewehr griff und es von der Schulter riß. Oh, jetzt wußte er, daß er gut daran getan hatte, das schwere Ding den ganzen Weg mitzuschleppen, obwohl es ihm bei jedem Schritt immer schmerzhafter gegen die Rippen trommelte! Jetzt konnte er es gebrauchen! Er ließ sich auf ein Knie nieder, um in dem dämme rigen Licht sicherer zielen zu können, visierte den Haken an und schoß. Ein dumpfes Klatschen klang vom Fuße des Felsens herauf. Jim stieß einen Tri umphschrei aus. Das schwere Projektil hatte nicht nur die metallene Klaue weggerissen, sondern auch ein
breites Stück von der Kante des Steins abgeschlagen. Es würde für den Ruum kaum möglich sein, sich an dieser Stelle wieder festzuhaken. Er spähte über den Rand. Unten lag der Ruum, bewegte sich aber noch. Jim Irwin grinste. Sollte das Biest es ruhig noch einmal versuchen. Selbst wenn es ihm gelang, wieder einen Halt zu finden mit seinem Haken – er würde ihn wieder wegschießen. Er hatte genügend Munition in seinen Taschen, und bis der Mond aufging, der wieder besseres Schußlicht brach te, würde er mit der Gewehrmündung auf wenige Zentimeter an sein Ziel herangehen. Außerdem war das Wesen da unten, was es auch immer sein mochte, offensichtlich zu intelligent, einen so aussichtslosen Kampf fortzusetzen. Früher oder später mußte es sich zu dem Umweg um den Felsen entschließen. Und dann würde die bald hereinbrechende Dunkelheit es ihm vielleicht unmöglich machen, seine Spur auf der anderen Seite des Hindernisses wiederzufinden. Doch dann schluckte er vor Schreck, würgte, und Tränen traten ihm in die Augen bei dem Anblick, der sich ihm jetzt bot. Unten, im Schatten der Wand, schossen aus dem plumpen Ledersack drei der En terhaken gleichzeitig, sich wie ein Fächer spreizend, in die Höhe. Mit maschinenhafter Gleichmäßigkeit krallten sie sich in Abständen von etwa einem Meter an der Felskante fest.
Jim riß das Gewehr an die Backe. Nun, dies sollte ein Schnellfeuer-Scheibenschießen werden, wie er es als Soldat gelernt hatte! Allerdings, damals hatten sie nicht im Dunkeln geschossen. Doch der erste Schuß war ein Volltreffer, der den äußeren, linken Haken von der Kante fegte. Der zwei te traf zwar nicht direkt, riß aber ein Stück aus dem Gestein, so daß auch der mittlere Haken abrutschte. Doch bevor er herumwirbelte, um auf Nummer drei zu zielen, sah er, daß es zwecklos war. Der erste Haken war wieder an seinem Platz. Wie gut und schnell er auch schießen mochte, mindestens eine der Enterstangen würde eingehakt sein und den Ruum weiter nach oben ziehen. Jim hängte das wertlose Gewehr mit der Mündung nach unten an einen Baum und rannte weiter in die sinkende Nacht. Er begann erst wieder zu denken, als er merkte, daß seine Knie anfingen, einzuknicken. Er gönnte sich eine kurze Verschnaufpause. Wie lange konnte er diesen mörderischen Wettlauf noch durchhalten? Wohin? Gab es denn nichts, was dieses verfluchte Ding hinter ihm aufhalten konnte? Das Dynamit fiel ihm ein. Jetzt hatte seine Flucht ein Ziel. Er orientierte sich an den Sternen, die jetzt hell leuchteten, und schlug die Richtung zu seinem Lager am See ein.
Er lief und lief, bis er jedes Gefühl für die Zeit ver loren hatte und Hunger verspürte. Er mußte gegessen haben, während er durch die Nacht stolperte, denn seine Taschen waren leer. Vielleicht konnte er essen, wenn er zu seiner Hütte kam? Doch nein, dazu wür de er keine Zeit haben. Er wollte eine Benzedrinpille nehmen. Sie waren alle. Er wußte nicht, wann er sie geschluckt hatte. Immer wieder mußte er sein Tempo beschleunigen, wenn er seinen Verfolger allzu dicht hinter sich hörte. Oft sah er phosphoreszierende Augen im Unter holz aufglühen, und einmal hörte er einen Grisly, den er im Vorbeilaufen aus dem Schlaf geschreckt hatte, mißvergnügt hinter sich herbrummen. Als der Mond aufging und gespenstische Schatten auf seinen Weg warf, glaubte er Cele, seine Frau, mit ausgestreckten Armen auf sich zukommen zu sehen. Er rief ihr entgegen: Komme nicht näher! Fliehe! Er kann nicht uns beide gleichzeitig jagen! Du mußt dich retten! Sie aber wartete auf ihn und lief neben ihm her. Als er dann eine kleine Lichtung durchquerte, lö ste sich ihre Gestalt im Mondlicht auf, und er begriff, daß er das Opfer einer Halluzination gewesen war. Kurz nach Sonnenaufgang erreichte Jim den See. Der Ruum war so nahe hinter ihm, daß er die dump fen Laute seiner rollenden Vorwärtsbewegung hörte. Mit geschlossenen Augen taumelte er auf seinen La
gerplatz zu. Er schlug sich selbst ins Gesicht, um nicht vor Müdigkeit umzusinken. Dann sah er die Dynamitkiste und war hellwach. Er zwang sich zur Ruhe und überlegte sorgfältig, wie er vorgehen sollte. Zündschnur? Nein. Es war unmöglich, die Länge der Zündschnur so zu berech nen, daß sie das Dynamit im gleichen Augenblick zur Explosion brachte, in dem der Ruum, seiner Spur fol gend, darüber hinwegrollte. Er mußte eine andere Lösung finden. Schweiß rann an seinem Körper her unter, durchnäßte seine Kleider. Er konnte nicht mehr denken. Er sackte zusammen. Sein Kinn sank auf die keuchende Brust. Er warf den Kopf zurück, raffte sich hoch, und sein Blick fiel auf die 22er Pistole, die er in seiner Hütte zurückgelassen hatte. In seinen tief eingesunkenen Augen blitzte es auf. Mit fiebernder Hast öffnete er die noch halbgefüllte Dynamitkiste und verteilte die verbliebenen Zünd kapseln zwischen die losen Stäbe zu einer höllischen Mischung. Dann ging er auf seiner Spur zurück und setzte die Kiste etwa 20 Meter von einem Felsvor sprung vorsichtig nieder. Es war tollkühn, was er da mit zitternden Gliedern vollführte. Das Teufelszeug konnte jeden Augenblick losgehen. Doch er fragte nicht danach. Lieber in Fetzen zerrissen werden, als paralysiert in der schauerlichen Sammlung seines Gegners enden.
Kaum hatte er sich hinter den schmalen Felsvor sprung geschleppt, als sein unerbittlicher Verfolger auf einer kleinen, etwa 500 Meter entfernten Erhe bung auftauchte. Jim kroch tiefer in sein Versteck und entdeckte einen schmalen, senkrechten Riß in dem Gestein. Das war es, was er brauchte. Durch den Spalt konnte er auf das Dynamit schießen und war den noch gegen die Explosion geschützt. Ob der Fels auf diese kurze Entfernung der gewaltigen Druckwelle standhielt? Er mußte es riskieren. Er legte sich auf den Bauch, beobachtete den näher rollenden Ruum. Die Müdigkeit schlug mit Hämmern gegen seine Schläfen. Mein Gott, wann hatte er zum letztenmal geschlafen? Dies war des erstemal seit Stunden, daß er sich niederlegte. Seit Stunden? Wa ren es nicht Tage? Seine Muskeln krampften sich zu sammen zu zuckenden, brennenden Knoten. Dann spürte er die wohltuende Wärme der Morgensonne auf seinem Rücken. Seine Lider wurden schwer wie Blei. Nein! Wenn er sich jetzt gehenließ, wenn er ein schlief, dann war sein Schicksal besiegelt. Er preßte seine steifen Finger um den Kolben der Pistole. Er mußte wach bleiben! Wenn er diese letzte Runde ver lor, wenn der Ruum die Sprengung überlebte, dann war immer noch Zeit genug, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen. Er blickte hinunter auf die glänzende Pistole und
dann hinaus auf die unschuldig in der Sonne liegende Todesfalle. Wenn er den richtigen Moment abpaßte, dann mußte er seinen Verfolger dieses Mal endgültig erledigen. Er bemühte sich, seine Muskeln zu ent spannen, um sicher zielen zu können. Irgendwo über ihm zwitscherte friedlich ein Vogel, und im See plät scherte ein Fisch. Entsetzt riß er die Augen auf. Ein Bär, ein riesiger Grisly trottete auf die Kiste zu. Verdammt! Ausge rechnet in diesem kritischen Moment! Und warum plünderte der verrückte Bursche nicht seine Hütte, wo er genug zu fressen finden würde? Nein, das zot tige Ungeheuer näherte sich dem Dynamit, schnüffel te vorsichtig an der Kiste, ging um sie herum, stieß tiefe, mißvergnügte Grunzlaute aus über die unge wohnte Menschenwitterung. Irwin hielt den Atem an. Die geringste Erschütterung würde eine der Zünd kapseln zur Explosion bringen. Und dann ... Der Grisly hob den Kopf von der Kiste, gab ein hei seres Gebrüll von sich. Die Kiste und der fremde Menschengeruch waren vergessen. Der funkelnde Blick seiner kleinen Augen war auf die heranrollende Kugel gerichtet, die jetzt noch etwa 30 Meter von ihm entfernt war. Jim Irwin kicherte. Bevor er dem Ruum begegnet war, hatte es auf der Welt nur ein Wesen gegeben, das er wirklich fürchtete, den Grislybär des nordamerikanischen Kontinents. Und jetzt standen
seine beiden gefürchtetsten Gegner einander gegen über, und er war der lachende Dritte. Doch hatte er wirklich Grund zum Lachen? Er schüttelte den Kopf so heftig, daß ihn die Nackenmuskeln schmerzten. Er mußte bereit sein, wenn dieser Kampf vorüber war. Wer würde übrigbleiben? Wem sollte er den Sieg wünschen? Er hatte als Waffe nur seine Pistole und das Dynamit. Durfte er hoffen, daß beide einander unschädlich machten? Ungefähr zwei Meter vor dem Bären machte der Ruum halt. Und wieder, wohl zum tausendsten Male, fragte sich Jim Irwin, was dieses unheimliche Etwas sei, ob Lebewesen oder Maschine, ob überhaupt von dieser Welt. Der Grisly richtete sich auf den Hinterbeinen hoch, reckte sich zu seiner vollen Größe, ein Bild drohender Wildheit. Weiß glänzte das fürchterliche Gebiß in dem aufgerissenen roten Rachen. Wie ein seelenloser Automat begann der Ruum rückwärts zu rollen. Der Bär rückte nach, wild aufbrüllend. Dann schlug er zu. Er schlug zu mit seiner mächtigen Pranke, deren Krallen aufblitzten wie krumme Messer aus blauem Stahl. Dieser Schlag hätte ein Rhinozeros aufge schlitzt. Jim zuckte jäh zusammen, als er sah, daß die Tatze des Bären an der ledernen Hülle des Ruums abprallte, der nur wenige Zentimeter zurückge schleudert wurde. Auch der Bär schien verblüfft zu
sein. Und schon setzte sich der Ruum mit der glei chen, entsetzlichen Gelassenheit wieder in Bewegung, rollte schräg zur Seite, um das Hindernis in einem Bogen zu umgehen. Doch der Herr der Wälder dachte nicht daran, die sen Kampf unentschieden ausgehen zu lassen. Mit der unglaublichen Behendigkeit, die Indianer, Spa nier, Franzosen und Anglo-Amerikaner in Schrecken versetzt hatte, als sie diesem Tier zum erstenmal be gegneten, wirbelte der Grisly herum, tänzelte elegant wie ein Boxer an den Ruum heran und hob beide Pranken. Irwin richtete sich halb auf. Heiser vor Erre gung krächzte er: »Pack ihn!« Die dunklen, haarigen Vorderarme umschlangen die Kugel, und die gei fernden Kiefer schnappten nach der faltigen, grauen Oberfläche. Und aus dem Grau blitzte ein silberner Strahl her vor. Das Gebrüll des Grisly schlug plötzlich in Gur geln um, und der Schrecken der Rocky Mountains sank mit durchschnittener Kehle in sich zusammen und wand sich röchelnd in Todeszuckungen am Bo den. Jim sah noch die blutige Klinge in die graue Masse zurückgleiten, ein leuchtend rotes Rinnsal auf der staubigen Hülle hinterlassend. Und weiter rollte der Ruum, an dem riesigen Leichnam vorbei, unerschüttert und unerbittlich sei nen Fußstapfen folgend. Jim unterdrückte den Schrei,
der sich ihm in die Kehle drängte, dachte an seine Frau, an seinen ungeborenen Sohn, an seinen Freund Walt und hob die Pistole. Der Ruum war noch einen Meter von der Kiste entfernt. Eiskalt und ruhig zielte Jim auf das Dynamit, zog vorsichtig durch bis zum Druckpunkt und feuerte. Im gleichen Augenblick, da die erste Schallwelle wie eine Faust gegen sein Ohr schlug, fühlte er sich von Riesenhänden emporgehoben und wieder losge lassen. Er schlug hart auf. Er lag mit dem Gesicht in einem Nesselstrauch. Doch er spürte es nicht. Er wunderte sich nur, daß die Vögel schwiegen. Dann hörte er wenige Meter neben sich im Gras ein dump fes Aufklatschen. Und wieder war alles still. Irwin hob den Kopf. Jeder Mensch tut dies in einer solchen Situation. Sein Körper schmerzte überall. Ächzend stützte er sich auf die Hände, stemmte sich hoch und sah einen riesigen, rauchenden Krater. Und er sah auch, ein Dutzend Schritte entfernt, hellgrau, fast weiß von dem Staub der Explosion, den Ruum. Er lag unter einer großen Kiefer. Jim starrte hin über, ohne einen Gedanken fassen zu können. Er lauschte nur dem Klingen in seinen Ohren und be gann eben sich verwundert zu fragen, ob es wohl je mals wieder aufhören würde, als er sah, daß der Ruum auf ihn zurollte. Wie gelähmt blieb er liegen, tastete nur um sich
nach seiner Pistole. Sie war nicht da. Er mußte sie fal len gelassen haben, während er durch die Luft flog. Er versuchte zu beten, fand aber keinen Anfang. Statt dessen verbissen sich seine Gedanken sinnlos in den Kindervers »Meine Schwester Ethel kann nicht Ne bukadnezar sagen« und wiederholten ihn in rasender Eile. »Meine Schwester ...« Jetzt war der Ruum über ihm, und er schloß die Augen. Kalte, metallene Finger berührten ihn. Er fühlte sich gepackt und angehoben. Sein widerstands loser Körper schwebte, seltsam sanft geschaukelt, über dem Erdboden. Erschauernd wartete er auf den Stich der grausigen Hohlnadel mit ihrer grünen Flüs sigkeit, sah das gelbe, faltige Gesicht der Eidechse mit dem zuckenden Augenlid vor sich. Dann aber legte ihn der Ruum ebenso leiden schaftslos und sachlich, wie er ihn aufgenommen hat te, wieder auf den Boden zurück. Als Jim wenige Se kunden später die Augen öffnete, sah er das wabbeli ge Gebilde schlurfend von ihm wegrollen. Während er ihm nachschaute, überwältigte ihn ein trockenes Schluchzen. Er wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte, als er den Motor des Flugzeuges hörte und kurz darauf Walt Leonhard auf sich zukommen sah. Als sie eine Stunde später in 1000 Meter Höhe über das Tal hinwegflogen, grinste Walt plötzlich, schlug
Jim auf die Schulter und rief aus: »Jim, ich besorge uns einen Hubschrauber, einen Viersitzer! Wenn es uns gelingt, auch nur einige von diesen Sauriern und prähistorischen Biestern zu entführen, während der Museumswächter abwesend ist, können wir ein net tes Sümmchen von den Wissenschaftlern kassieren.« In Jims hohlen Augen leuchtete es kurz auf. »So ist es«, erwiderte er und fuhr dann bitter lächelnd fort: »Ich hätte es mir leichter machen können. Offensicht lich wollte das verrückte Ding mich überhaupt nicht. Vielleicht wollte es nur wissen, wieviel ich für meine Hosen bezahlt habe! Es hat mich kaum angerührt und gleich wieder fallen gelassen! Und wie bin ich ge rannt!« »Weiß Gott«, sagte Walt, »eine reichlich verrückte Geschichte! Und dann dein Marathonlauf! Alle Ach tung vor deiner Ausdauer, mein Junge!« Er warf ei nen Seitenblick auf Jims abgemagertes Gesicht. »Doch ich fürchte, dieser überflüssige Rekordlauf hat dich einiges an Gewicht gekostet. Ich schätze, du hast über zehn Pfund dabei verloren.«