Ellen Tanner Marsh
War es nur ein kurzer Traum?
Liebe auf den ersten Blick! Als Kenzie Daniels am Strand von Hatteras...
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Ellen Tanner Marsh
War es nur ein kurzer Traum?
Liebe auf den ersten Blick! Als Kenzie Daniels am Strand von Hatteras Island den eleganten Anwalt Ross Calcer kennen lernt, weiß sie sofort, dass er der Mann ihrer Träume ist. Und auch seinen kleinen Sohn Angus schließt Kenzie bald in ihr Herz. Aber schon in wenigen Tagen muss Ross nach New York zurückkehren. Das Ende ihrer zärtlichen Romanze? Kenzies Hoffnung, dass er sie bittet, mit ihnen zu kommen, erfüllt sich tatsächlich. Doch anders als erwartet: Er möchte Kenzie als Kinderfrau für Angus einstellen! Zutiefst enttäuscht, lehnt sie ab und glaubt, für immer den Traum von einer gemeinsamen Zukunft mit Ross vergessen zu müssen…
2004 by Ellen Tanner Marsh Originaltitel: „For His Son’s Sake“ erschienen bei: Silhouette Books, Toronto in der Reihe: SPECIAL EDITION Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V. Amsterdam Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA Band 1445 (25/2) 2004 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: Gina Curtis Fotos: Mauritius – Die Bildagentur GmbH
1. KAPITEL Liebe auf den ersten Blick? Niemals. Das gibts nur im Film. Hätte jemand Kenzie Daniels prophezeit, dass ausgerechnet ihr das passieren würde, wäre sie in schallendes Gelächter ausgebrochen. Und dabei ging es auch noch um einen siebenjährigen Jungen! Dennoch, genau das hatte sich ereignet – an einem Ort, an dem Kenzie es niemals erwartet hätte: Am Strand, in der Nähe ihres Hauses. Bis spät in die Nacht hinein hatte sie über ihrer Zeichnung gesessen – als Künstler arbeitet man schließlich dann, wenn einen die Muse küsst. Am Morgen hatte sie beschlossen, nach dem Frühstück erst mal ein Sonnenbad zu genießen und später zu dem kleinen Supermarkt zu fahren, wo sie ihren wöchentlichen Einkauf erledigen wollte. Ihr Weg über die Dünen führte über den Holzsteg zum Strand, wo sie ihr Handtuch auf dem Sand ausbreitete. Es herrschte Ebbe, und die Wellen plätscherten leise ans Ufer. Kenzie mochte die Strände hier am Kap Hatteras besonders, weil sie selten überfüllt waren. Sie streifte das weite TShirt ab, unter dem sie einen knappen einteiligen Badeanzug trug. Sorgfältig cremte sie sich mit Sonnenöl ein, legte sich auf den Rücken und griff nach ihrer Zeitschrift. Schon bald fühlte sie, wie Nacken und Schultern sich entspannten. Wie lange hatte sie wohl letzte Nacht gearbeitet? Zumindest bis drei, überlegte sie. Gut, dass sie nicht mehr zu Hause wohnte oder sich eine Zimmergenossin gesucht hatte, wie es ihr ihre Mutter geraten hatte. Nun brauchte sie auf niemanden Rücksicht zu nehmen, konnte das Licht brennen lassen und die Musik so laut stellen, wie es ihr gefiel. Allein zu leben, hatte seine Vorteile. Das wurde ihr deutlich klar, nachdem sie und ihr Verlobter Brent nicht – wie geplant – geheiratet hatten. Inzwischen genoss sie es, hier am einsamen Kap ihre Cartoons zu zeichnen, weit entfernt von den Menschen, der Presse, dem Personal und all den Verpflichtungen, die eine Heirat mit einem Mann wie dem künftigen Senator Brent Ellis mit sich gebracht hätte. Brent bewarb sich tatsächlich dieses Jahr um den Sitz im Senat. Das hatte Kenzie von ihrer Mutter erfahren, als sie das letzte Mal miteinander telefonierten. Lächerlich, dachte Kenzie. Ich wäre eine lausige Senatorengattin. Nicht, dass sie sich nicht auf dem politischen Parkett Washingtons zu bewegen wüsste. Sie war ja praktisch auf den Benefizveranstaltungen der Republikaner groß geworden. Aber ihr lag nichts an dem Lebensstil ihrer Eltern, und schon gar nicht an dem Brents, der gleichberechtigter Partner in der renommierten Anwaltskanzlei ihres Vaters geworden war. Sie war nicht dafür geschaffen, loyal an Brents Seite zu stehen, während er die politische Karriereleiter erklomm… auf dem Weg zur Präsidentschaft vielleicht? Bei der Vorstellung, einmal First Lady zu sein, musste Kenzie laut auflachen. Gleichzeitig wurde sie schmerzlich daran erinnert, wie sie vor etwas mehr als einem Jahr allein eine Präsidentschaftskampagne zu Fall gebracht hatte. Ihr Herz verkrampfte sich. Nein. Daran wollte sie jetzt auf keinen Fall denken. Während jener schrecklichen Tage, als sich bereits die ersten Auswirkungen abzeichneten, hatte sie sich fest vorgenommen, nicht über Dinge zu grübeln, die sie nicht ändern konnte. Selbst, wenn sie vorausgesehen hätte, dass sie ihre Familie mit ihrem Tun in dramatische Auseinandersetzungen stürzte, wäre sie standhaft geblieben. Was ihren Vater betraf…
Genug damit. Keinesfalls wollte sie sich ihren freien Vormittag mit Gedanken an
ihren Vater verderben.
„Vorsicht.“
Der Schrei ertönte direkt hinter ihr. Im selben Moment hörte sie über sich ein
bedrohliches Knistern. Gleich darauf stürzte ein größerer flatternder Gegenstand
auf sie herab.
„He!“ Kenzie schlug wild mit den Armen, um sich von den bunten Nylonschnüren
und dem leuchtend grünen Lenkdrachen zu befreien, der nur wenige Zentimeter
neben ihrem Kopf niedergekracht war.
„Oh Mann. Entschuldigung. Ist Ihnen was passiert?“
Der Eigentümer des Drachens kam auf sie zu, ein kleiner Junge von etwa sieben
Jahren. Seine Badehose reichte ihm bis zu den Knien.
Kenzie blickte zu ihm auf und wollte ihn schon anranzen. Aber dann sah sie die
hellen blauen Augen und den schwarzen Lockenkopf, und als ihre Blicke sich
trafen, lächelte er sie zaghaft an. Kenzie fühlte, wie ihr plötzlich warm ums Herz
wurde. Diese Grübchen auf seinen Wangen und diese Sommersprossen auf der
kleinen Stupsnase…
Das Wort ,niedlich’ war sicher extra für diesen Jungen erfunden worden.
„Nichts passiert. Der Drache hat mich ja kaum berührt.“
„Ich fürchtete schon, er würde Ihren Kopf treffen. Bin ich jetzt froh, dass er Sie
verfehlt hat.“
Er war nicht nur niedlich, er hatte auch einen Akzent. War er Engländer?
Kenzie erwiderte sein Lächeln. „Es ist schon okay. Wirklich.“
„Ich heiße Angus.“ Beim Lächeln zeigte sich vorn eine Zahnlücke. „Und wie
heißen Sie?“
Auch sein Name gefiel Kenzie. Sie widerstand dem Wunsch, ihm über die Haare
zu fahren. „Ich heiße Kenzie.“
„He Mann! Was für ein Name ist das denn?“
„Eine Abkürzung für MacKenzie.“
Angus strahlte. „Oh, das ist ja ein echt schottischer Name.“
Kenzie lachte. „Schön, dass du ihn magst.“
„Ich bin auch Schotte. Jedenfalls mein Großvater. Ich bin in Norfolk geboren.“
Sie kannte hier nur ein Norfolk, und das lag in Virginia. „Vermutlich nicht in
Virginia, oder?“
Er nickte. „Wissen Sie, wo mein Norfolk liegt?“
„Im Osten von England. Ich glaube, irgendwo nördlich von London.“
Angus lächelte. „He! Das wissen nicht viele Amerikaner.“
Seine Bewunderung schmeichelte und belustigte Kenzie. „Ich bin früher viel
gereist. Habt ihr ein Haus in Avon gemietet, Angus?“
Der Junge deutete über seine Schulter. „Ja. Wir wohnen in dem Haus dort
hinten.“
Hinter den Dünen waren die Dachspitzen mehrerer Strandhäuser zu sehen, aber
Kenzie wandte sich gar nicht erst um. Sie sahen sich alle ähnlich. Stabile
Holzhäuser, hoch über dem Grund auf Pfählen gebaut, damit sie Hochwasser und
Stürmen widerstanden, die regelmäßig die OuterBankInseln heimsuchten.
Angus entwirrte die Drachenschnüre. Das Gerät war fast so groß wie der Junge.
„Lenkst du zum ersten Mal einen solchen Drachen?“
„Ja. He Mann, er lässt sich schwer steuern.“
„Das Problem ist, ihn erst einmal in die Luft zu bekommen. Dann ist es ganz
leicht.“
„Wissen Sie, wie man das macht?“
„Nun ja. Es ist schon eine Weile her.“
„Oh, bitte könnten Sie mir nicht zeigen, wie es geht?“ Kenzie blickte zu den Häusern. „Hat deine Familie nichts dagegen, wenn du hier die ganze Zeit allein spielst?“ „Mein Dad sagt, ich darf herkommen, solange ich nicht ans Wasser gehe. Bitte, Kenzie.“ Wie konnte sie da ablehnen? „Gib mir die Schnur. Wir versuchen es.“ Ross Calder saß im Wohnzimmer auf der Couch und ließ seinen Laptop zuschnappen. Ärgerlich fuhr er sich durchs Haar. Obwohl ihm das Internet ermöglichte, in den Ferien mit seiner Arbeit auf dem Laufenden zu sein, fand er doch, dass er in seiner Kanzlei effektiver arbeitete, wo er seinen Klienten von Angesicht zu Angesicht gegenübersitzen und mit den Kollegen diskutieren konnte. Wie unpassend, gerade jetzt mehrere Wochen Urlaub zu machen, nachdem der Termin des FitzpatrickProzesses auf Anfang August verlegt worden war. Ross zog die Stirn kraus, stellte den Laptop beiseite und ging zur Tür der rückwärtigen Terrasse. Sollte er nicht doch Delia anrufen und fragen, ob sie… Nein, das kam nicht infrage. Delia hatte ihm vor seiner Abreise am letzten Freitagnachmittag angedroht, bis Dienstag keinen einzigen Anruf von ihm entgegenzunehmen. Ebenso wollte sie sich weigern, seine EMails zu beantworten. Allen Mitarbeitern hatte sie empfohlen, es ihr gleich zu tun. „Das ist nur zu Ihrem Besten“, hatte sie in ihrer liebenswürdigen mütterlichen Art gesagt. „Ich bestehe darauf, dass Sie zumindest fünf Tage vollkommen entspannen. Natürlich wäre mir lieber, Sie würden uns während der ganzen vierzehn Tage Ihrer Reise nicht belästigen. Ich bitte Sie, Ross. Das ist Ihr erster Urlaub seit sechs Jahren.“ Schon seit mehr als fünf Jahren war sie Ross’ Assistentin und achtete dabei ebenso unerbittlich auf seine Gesundheit und sein Wohlergehen wie auf die Führung der Kanzlei. Ross trat auf die Terrasse, stützte die Hände auf das Geländer und blickte aufs Meer. Delia hat Recht, dachte er. Ich muss mich jetzt nur um meinen Sohn kümmern. Sein Sohn. Wie gewöhnlich erfüllte der Gedanke an Angus ihn mit großer Sorge. Sogleich wurden Erinnerungen an die Sprüche seines Bruders Alex wach, die, auch wenn sie nicht böse gemeint waren, ihn dennoch schmerzten: „Wie kannst du nur glauben, du wärst in der Lage, einen siebenjährigen Jungen zu erziehen?“ „Ich werde es herausfinden“, hatte Ross eigensinnig geantwortet. „Und wie willst du das bitte anstellen? Wer ist dein Vorbild? Hoffentlich nicht unser Vater.“ Ross verdrängte die Worte seines Bruders sowie alle Erinnerungen an seinen Vater. Alex war sechs Jahre älter als er. Deshalb hatte er auch mehr Erinnerungen an den Vater, der sie und die Mutter verließ, als Ross erst drei Jahre alt war. Seine Gedanken kehrten zu seinem Sohn zurück. Angus hatte ihn gebeten, ihn doch mit auf diese Reise nach Hatteras zu nehmen, bevor das neue Schuljahr anfing. Eigentlich ging es Angus gar nicht ausdrücklich um Hatteras Island. Jeder Ort am Atlantischen Ozean war ihm recht. Er hatte noch nie das Meer gesehen, obwohl er in England geboren war, das buchstäblich von Wasser umgeben ist. Auch seinen Vater hatte er erst im April dieses Jahres kennen gelernt. Wieder spürte Ross, wie sich sein Herz verkrampfte. Frustration und Sorge – vielleicht sogar Angst schienen ihn zu überwältigen, sobald er an diese neue Verantwortung dachte. Er hatte den Jungen nach dem Tod seiner Exfrau vor
knapp vier Monaten sozusagen geerbt. Penelope war bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Noch immer quälten ihn Schuldgefühle und Wut. Wut auf Penelope, die ihm Angus verheimlicht hatte. Schuldgefühle, weil er bis heute ein Fremder für diesen Jungen geblieben war. Verflixt, nicht für diesen Jungen. Für seinen Sohn. Inzwischen lebten sie schon ein paar Wochen zusammen, warum konnte er sich nicht daran gewöhnen, dass Angus zu ihm gehörte? Verdammt noch mal, man kann doch kein kleines Kind erben! Immerhin hatte er keinen geringen Anteil an Angus’ Entstehen, auch wenn er später im Leben des Jungen keine Rolle gespielt hatte. Von Bedeutung war nur noch, dass Ross jetzt Angus Calders rechtmäßiger Beschützer war. Sein Vater. Hinter den Dünen hörte er die Wellen brechen. Angus war dort irgendwo und ließ seinen Drachen steigen. Vielleicht sollte er ihm dabei helfen und mit ihm spielen, einen Strandspaziergang vorschlagen oder etwas dergleichen. Aber Ross mochte das Meer nicht besonders. Er war im Norden des Bundesstaates New York geboren und aufgewachsen und zog die Flüsse und Süßwasserseen von New England dem salzigen Meer vor. Aber Angus war ganz wild darauf, das Meer kennen zu lernen. Er hatte den Atlas aus Ross’ Bibliothek geholt und seine Finger die Küste entlanggleiten lassen, vorbei an Delaware, Maryland und Virginia, bis er auf Norfolk traf. „Sieh nur. Daher komme ich“, hatte Angus aufgeregt geschrien, als ob Ross das nicht wüsste. Als Nächstes fiel Angus’ Blick auf Nags Head in North Carolina. „Was meinst du wohl, warum die Stadt Nags Head heißt?“ Pferdekopf war in der Tat ein seltsamer Name für eine Stadt. Das war die erste Frage, die er seinem Vater von sich aus stellte. Die Erklärung, die Ross ihm gab, ließ Angus’ Augen leuchten. Ross selbst glaubte keinen Moment an das Märchen von North Carolinas Piraten, die einem Pferd eine Laterne um den Hals hängen und es bei Nacht, über die Dünen schicken, um die Schiffe ans Ufer zu locken, die sie dann ausplünderten. Aber Angus glaubte es. Und selbstverständlich wollte er diesen Ort kennen lernen. Aber wie sich beim Buchen der Reise herausstellte, handelte es sich bei Nags Head um einen Ort, wo es für Ross’ Geschmack zu viel Minigolf, Pizzabuden und Einkaufscenter gab. Delia hatte daraufhin aus dem Internet andere Informationen gezogen, diesmal über Cape Hatteras National Seashore auf Hatteras Island, wo sich meilenweit leere Strände und klares blaues Wasser erstreckten. Ross war mit Angus vor zwei Tagen nach Norfolk in Virginia geflogen und hatte dort einen Wagen gemietet für die Zweistundenfahrt zu ihrem Strandhaus bei Avon auf Hatteras Island. Und seitdem hatte Angus praktisch jede wache Minute am Strand verbracht. Und Ross konnte nicht leugnen: Der Aufenthalt tat dem Jungen – seinem Sohn – unendlich gut. Aber wo blieb er nur? Ross blickte auf seine Armbanduhr. Viertel vor zehn. Er hatte Angus gebeten, nicht länger als zwanzig Minuten fortzubleiben. Um neun hatte er das Haus verlassen. Stirnrunzelnd stieg Ross die Treppe hinunter und eilte zum hölzernen Dünenweg. Erleichtert sah er, dass Angus zumindest das Versprechen gehalten und sich vom Wasser fern gehalten hatte. Der Junge saß im Sand jenseits des Holzstegs und blickte lachend zum Himmel hinauf. Der Drache, den sie am Tag zuvor gekauft hatten, kurvte schwungvoll über ihm.
Aber Angus hielt keine Schnur in den Händen. Wer steuerte?
„Jetzt bist du dran. Hier, mein Kleiner.“
Eine junge Frau übergab die Schnüre seinem Sohn. Sie trug eine Sonnenbrille
und einen dunkelblauen einteiligen Badeanzug. Ihre schulterlangen blonden
Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
Ross blieb abrupt stehen. Seit seine Exfrau und er sich getrennt hatten, mied
Ross prinzipiell jede ernsthafte Beziehung und versuchte Frauen aus dem Weg zu
gehen. Aber diese Frau war nicht der Typ, den ein Mann ignorieren konnte. Ihre
langen sonnengebräunten Beine, die reizvollen Kurven und das umwerfend
attraktive Aussehen ließen jedes Männerherz höher schlagen. Aber sie strahlte
mehr als SexAppeal aus. Etwas an ihr, die Art, wie sie Angus anlächelte, wie sie
den Kopf zurückwarf, wirkte sehr süß, natürlich und unwiderstehlich – selbst auf
ihn.
„Hier, halte sie so.“
Der Drache wurde mit zwei Schnüren gelenkt, an denen je ein Handgriff befestigt
war. Die Frau zeigte Angus, wie er seine beiden Hände einsetzen musste, um die
Bewegungen des Drachens durch langsames Heben und Senken zu verändern.
„Sehen Sie, ich kann es!“
Angus schrie vor Aufregung, als der Drache auf sein Lenken reagierte. Ross hatte
den Jungen noch nie so begeistert gesehen, seit er ihm in London im Haus von
Penelopes Eltern zum ersten Mal begegnet war. Er schämte sich, als er sich
erinnerte, wie er und Angus sich damals förmlich die Hände geschüttelt hatten.
Er hatte sich gefragt, ob er den Jungen umarmen sollte oder nicht. Angus könnte
ja in Tränen ausbrechen vor Verlegenheit oder, was noch schlimmer gewesen
wäre, ihn von sich stoßen.
Angus schien ähnliche Bedenken gehabt zu haben.
Wieder verspürte Ross diesen Schmerz in seiner Brust.
„Angus“, rief er. „Du solltest doch nur zwanzig Minuten bleiben.“
Erschrocken drehten sich Angus und die Frau um. Ross hatte in den Dünen
gestanden, wo sie ihn nicht sehen konnten. Nun ging er mit gerunzelter Stirn zu
den beiden hinunter.
„Ist das dein Dad?“ fragte Kenzie. „Er scheint verärgert zu sein.“
„Er hasst es, wenn ich mich verspäte.“ Eine Spur Panik schwang in Angus’
Stimme mit. „Ich weiß ja gar nicht, wann zwanzig Minuten vorbei sind.“
Wie sollte er auch? Er hatte ja nicht einmal eine Uhr.
Keine Frage, dieser Mann war Angus’ Vater. Sie hatten die gleichen blauen Augen
und lockigen schwarzen Haare. Angus’ süßes Lächeln war jedoch der
unfreundlichen Miene seines Vaters vorzuziehen. Der Mann trug Jeans, teure
Bootsschuhe und ein abgetragenes TShirt, das wohl den Anschein von Lässigkeit
erwecken sollte.
„Wo warst du?“ fragte Ross.
Angus senkte den Kopf. „Entschuldige. Ich wusste nicht, dass es schon so spät
ist.“
Ross kreuzte die Arme vor der Brust. Keine unbedingt versöhnliche Haltung.
„Dann können wir dich auch nicht allein herkommen lassen, finde ich.“
Jetzt wurde es Kenzie aber zu viel! „Entschuldigen Sie“, platzte sie heraus. „Ich
frage mich, wen hier die Schuld trifft. Angus scheint mir ein bisschen zu klein zu
sein, um allein am Strand zu spielen.“
„Tatsächlich?“
Kenzie meinte, eine leichte Unsicherheit in seiner Frage zu hören. Sie wandte
sich dem Jungen zu. „Wie alt bist du, Angus? Sechs? Sieben?“
„Am Mittwoch werde ich acht“, antwortete er stolz.
„Wir haben hier keine Bademeister“, erklärte Kenzie. „In der Nähe des Ufers gibt
es gefährliche Strömungen.“
„Angus kennt die Regeln.“ Kenzie konnte den eindringlichen Blick des Mannes
geradezu fühlen. „Er darf nicht ans Wasser gehen.“
Aber Kenzie konnte auch stur sein. „Ein siebenjähriges Kind sollte nur in
Begleitung eines Erwachsenen an den Strand gehen, Mr….“
„Calder. Ross Calder.“
Vielleicht war er nicht gerade begeistert, dass sie ihm Vorwürfe machte, aber er
blieb zumindest höflich.
Kenzie schüttelte ihm die Hand. „Ich bin MacKenzie Daniels.“
Au! Er hatte ihr die Hand zu fest gedrückt – zweifellos absichtlich, als wollte er
ihr zeigen, dass er hier das Sagen hatte. Sie löste ihre Hand ganz langsam aus
seiner, obwohl sie sie ihm am liebsten entrissen hätte. Weil die Berührung ihr
einen physischen Schock versetzte. Ein heißer Strom schien durch ihren Arm und
Körper zu fahren.
Trotzdem, der Kerl war ihr unsympathisch. Und viel zu streng mit seinem Sohn.
Hoffentlich war Mrs. Calder netter.
Der Drache lag inzwischen unbeachtet hinter ihnen im Sand.
„Übe nur weiter, Angus. Du hast es großartig gemacht.“
„Wirklich?“
Kenzie hätte gern einen Arm um den Kleinen gelegt und seinem Vater die Zunge
herausgestreckt, weil er so ein Spielverderber war. „Du kannst es mir glauben.“
„Helfen Sie mir morgen wieder?“
„Wenn ich wieder hier bin, vielleicht. Aber ich wohne in Buxton.“
„Wo ist das?“
„Das ist die Stadt mit dem Leuchtturm. Ich bin heute nur zufällig hier, weil ich
Lebensmittel einkaufen wollte.“
Avon hatte den einzigen Supermarkt südlich von Nags Head.
„Okay. Vielleicht sehen wir uns wieder.“ Angus sah sie unglücklich an. Was
mochte der Grund dafür sein?
Kenzie blickte Ross Calder streng an. „Es war nett, Sie kennen zu lernen, Mr.
Calder.“
„Ebenfalls, Miss Daniels.“
Mit dem Sonnenbaden war es heute ja wohl nichts mehr. Sie war viel zu
aufgewühlt, um noch zu entspannen. Und nicht nur, dass sie sich über die
Überheblichkeit dieses Mannes ärgerte. Nein, was sie fast noch mehr aufbrachte,
war ihre körperliche Reaktion auf ihn.
Unsinn. Kenzie sammelte ihre Sachen ein und machte sich auf den Weg zu ihrem
Auto. Der Holzsteg zum Parkplatz führte sie an den letzten Häusern vorbei, die
an die Stadt angrenzten. Angus hatte gesagt, er würde in einem von ihnen
wohnen. Kenzie warf verstohlen einen Blick auf die Terrassen, aber dort war
niemand zu sehen. Sie seufzte. Obwohl etwas an diesem Jungen mit den blauen
Augen sie tief berührt hatte, meinte sie doch, ihn nicht unbedingt wiedersehen zu
müssen. Und seinen Vater schon gar nicht.
2. KAPITEL Avon war eine kleine Stadt. Bekannten zu begegnen war keine Ausnahme,
sondern die Regel. Kenzie hatte jedoch nicht erwartet, Ross Calder und seinen
Sohn schon so bald wiederzusehen, nämlich noch am Abend desselben Tages.
Sie hatte den Nachmittag damit verbracht, ihre Cartoons zu kolorieren und zum
Absenden fertig zu stellen. Anschließend ging sie zum Steg hinter ihrem Haus,
um nach den Reusen zu schauen. Sie waren voller Fische, sogar ein paar größere
Schollen und ein Adlerfisch schwammen darin herum. Doch wie gewöhnlich
reichte diese Menge nicht für all die hungrigen Mäuler, die sie zu füttern hatte.
Deshalb fuhr sie nach Avon, um einen Teil ihres knappen Geldes in einem Laden
für Anglerbedarf auszugeben.
Kenzie wollte gerade zu ihrem Pickup zurückgehen, als sie ihren Namen hörte.
Sie stützte ihre Tasche auf eine Hüfte und drehte sich um. „Angus! Was machst
du denn hier?“
„Wir gehen ins Kino.“
Das Kino lag gleich gegenüber dem Parkplatz.
Hinter dem Wagen kam nun auch sein Vater zum Vorschein. Kenzie hatte schon
beinahe vergessen, wie attraktiv dieser Ross Calder war.
„Hallo.“ Kenzie hielt nach Angus’ Mutter Ausschau, aber Ross und Angus waren
allein.
Aufgeregt hüpfte der Junge vor ihr her. „Was ist in deiner Tasche?“
„Angus…“, warnte sein Vater.
„Ist schon in Ordnung“, sagte sie rasch. „Da sind kleine Fische drin.“
„Darf ich sie sehen?“
Bereitwillig öffnete sie den Behälter. Als der Junge sich darüber beugte,
begegneten sich Ross’ und Kenzies Blicke. Sie lächelte. Es gab doch nichts
Liebenswerteres als einen neugierigen kleinen Jungen. Außerdem hatte sie jetzt
Gelegenheit, auch Ross genauer zu mustern. Er war wirklich nett anzusehen.
Aber der Mann erwiderte ihr Lächeln nicht. Mit finsterer Miene blickte er Kenzie
prüfend an, als wolle er herausfinden, was in ihr vorging.
„Wollen Sie damit fischen?“ Angus war offensichtlich von dem Inhalt des
Behälters fasziniert.
„Ich verfüttere sie an meine Vögel.“
„Toll. Welche Vögel fressen denn kleine Fische?“
„Reiher zum Beispiel.“
„Haben Sie einen Reiher, Kenzie?“
Sie lachte. An Ross Calders Miene sah sie jedoch, dass er dem Gespräch
zwischen ihr und seinem Sohn nur ungeduldig gefolgt war. Ein wenig boshaft
sagte sie: „Wenn du Lust hast, und dein Vater es erlaubt, kannst du mich morgen
zu Hause besuchen. Ich glaube, das wird dich sehr interessieren.“
Angus wirbelte herum. „Machen wir das?“
„Wir?“
„Ich kann doch nicht Auto fahren, oder?“
Kenzie konnte sich kaum das Lachen verbeißen.
„Wir werden sehen.“ Ross’ Ton ließ nicht erkennen, was er dachte. Er war aber
offensichtlich unsicher, ob er den Wünschen seines Sohnes sofort nachgeben
sollte.
„Bitte.“
„Angus, lass uns morgen darüber sprechen. Sonst kommen wir noch zu spät ins
Kino.“
„Beeilen Sie sich lieber.“ Kenzie nickte. „Es ist das einzige Kino in dieser Gegend,
die Vorstellungen sind immer schnell ausverkauft. Also, Sie kommen morgen nach zehn. Okay?“ Sie beschrieb ihnen den Weg zu ihrem Haus und verabschiedete sich. Es verschaffte ihr eine gewisse Genugtuung, wie sie Ross Calder überrumpelt hatte. Nun, vielleicht hätte sie das nicht tun sollen. Schließlich war sie nicht dumm, und sie vermutete stark, dass Ross Calder nichts mit ihr zu tun haben wollte. Er war sicherlich daran gewöhnt, Befehle zu geben, die dann auch befolgt wurden. Und die waren klar: Bleib weg von meinem Jungen. Zum Teufel mit Mr. Ross Calder! Für Angus würde es eine große Freude sein, ihre Vögel anzuschauen. Dafür konnte sie getrost die Lustlosigkeit seines Vaters in Kauf nehmen. Bereits einen Monat nach ihrem Umzug nach Buxton war sie der Gesellschaft zum Schutz kranker Wildvögel beigetreten. Hinter ihrer weiß gestrichenen Hütte befand sich eine Voliere, und als ihr Vermieter ihr erzählte, dass die früheren Mieter zu den freiwilligen Vogelschützern gehörten, beschloss sie sofort, sich ebenfalls zu engagieren. Nun lebten bereits mehr als ein Dutzend gefiederte Waisenkinder unter ihrer Obhut, und sie fand, ein Besuch ihrer Voliere sei für jeden jungen Menschen wirklich etwas ganz Besonderes. Als sie ihre Taschen im Wagen verstaute, kehrten ihre Gedanken zu Ross zurück. Warum wirkte der Mann nur so verkrampft? Wenn er nicht Acht gab, verdarb er seinem Sohn das glückliche Lächeln für immer. Ich spreche schließlich aus Erfahrung, sagte sie sich. Aber sie wollte nicht an ihren Vater denken. Sonst lief sie am Ende mit so grimmiger Miene herum wie Angus’ Dad. Ich muss verrückt sein, dachte Ross. Besuche ich doch tatsächlich mit Angus eine fremde Frau, um ihre Vögel anzuschauen. Warum um Himmels willen besteht das Kind auf diesem Wunsch? Dabei verbrachte es heute schon mindestens eine Stunde damit, auf der Terrasse die Möwen zu füttern. Waren das denn nicht genug Vögel für einen Tag? Und dennoch! Hier steuerte er nun seinen Mietwagen auf den Highway gen Süden nach Buxton. „Oh. Sieh mal.“ Angus zeigte auf den schwarzweißen Leuchtturm von Cape Hatteras am Horizont. „Ist das der Leuchtturm, auf den wir gestern geklettert sind?“ „Ja. Aber sicher.“ Sie waren ohne Pause die Stufen bis ganz nach oben gestiegen, und Ross hatte Angus erlaubt, sich so lange er wollte am Anblick des Ozeans, des weiten Strandes und der weit unter ihnen liegenden Dächer zu erfreuen. Ross war glücklich gewesen, seinen Sohn so fröhlich zu sehen. Zugegeben, es war auch das erste Mal gewesen, dass er sich in Gegenwart seines Sohnes einigermaßen locker zu geben vermochte. Er brauchte sich keine Sorgen zu machen, etwas zu tun oder zu sagen, das Angus veranlassen könnte, sich wieder in sich selbst zurückzuziehen, wie damals, als sie sich zum ersten Mal in England nach Penelopes Tod begegneten… Ross verzog das Gesicht. Er erinnerte sich nicht gern an jene Tage und versuchte, nicht zu viel darüber zu grübeln, warum er und Angus sich bisher nur so langsam näher kamen. Aber gestern schien Angus sich mit ihm wirklich wohl gefühlt zu haben, und es gab keinen Grund, warum das heute anders sein sollte. Vielleicht würde der Besuch bei MacKenzie Daniels wieder ein wenig von der spontanen Freude wecken, mit der sie auf den Leuchtturm geklettert waren. Allerdings musste er zugeben, auch er war ziemlich neugierig. Nicht so sehr auf MacKenzie Daniels Vögel, sondern auf die Frau selber.
Selbstverständlich war sein Interesse rein wissenschaftlicher Natur. Es hatte nichts damit zu tun, dass er sich schuldig fühlte, sie am Strand so schroff abgefertigt zu haben. Das hatte er nicht gewollt. Aber als sie ihm klar machte, wie gefährlich es war, Angus allein ans Wasser gehen zu lassen, hatte er Panik in sich aufsteigen fühlen. Was hätte alles passieren können! In Sachen Kindererziehung war er ein absoluter Anfänger. Vielleicht habe ich mich ja deshalb hinter dieser unfreundlichen Fassade versteckt, entschuldigte er sich im Stillen. Okay, vielleicht hatte er sich über Kenzie Daniels geärgert. Dennoch, man musste schon blind sein, wenn man nicht sah, wie entspannt und offen Angus sich in ihrer Anwesenheit gab. „Sollten wir nicht gleich hinter dem Leuchtturm abbiegen?“ riss Angus seinen Vater aus seinen Gedanken. „Gut aufgepasst, Sohn“, lobte Ross. Angus lächelte schüchtern. „Danke.“ Vorbei an einer lichten Baumgruppe und Marschland, holperte der Wagen über einen schmalen gepflasterten Weg, der an einer Auffahrt endete. Dort stand auch der Pickup, den Ross am Tag zuvor vor dem Laden für Anglerbedarf gesehen hatte. Das Haus war ebenerdig gebaut und verriet mit seinem verwitterten weißen Anstrich und der knorrigen Eiche vor der Terrasse ein ansehnliches Alter. Stammte MacKenzie Daniels aus einer alteingesessenen Familie dieser Gegend? „Ich gehe jetzt rein.“ Angus hatte bereits seinen Gurt gelöst und rannte den Weg zum Haus hinauf. Keine Spur von Unsicherheit, wie sonst in neuen Situationen. Was hat diese Frau so Besonderes an sich, fragte sich Ross verzweifelt. Vom Küchenfenster aus sah Kenzie den Wagen auf die Auffahrt einbiegen. Plötzlich geriet sie in Panik. „Himmel, sie sind schon da. Danke für die Warnung, Freunde“, schalt sie ihre beiden Hunde, die auf dem Vorleger lagen und alle viere von sich streckten. Ihr blieb keine Zeit, die Haare zu bürsten und das Makeup zu überprüfen. Sie hatte eigentlich nicht damit gerechnet, dass Angus und sein Vater kamen. Trotzdem war sie vorsichtshalber früh aufgestanden. Sie hatte Staub gesaugt und war zum Gingerbread House in Frisco gefahren, um Doughnuts und Mandelhörnchen zu kaufen. Auf einmal wusste sie gar nicht mehr, wie sie es wagen konnte, diesen Mann in ihr Haus einzuladen. Was hielt er wohl von ihren voll gestopften Zimmern mit den schäbigen Möbeln? Den Fenstern und Wänden, von denen die Farbe abblätterte? Sicher wohnte Ross in einer deutlich eleganteren Umgebung. Nimm endlich Vernunft an, ermahnte sie sich. Es gab keinen Grund, sich der blanken Holzfußböden in ihrem Wohnzimmer, der ausgefransten Decke über der Couch oder der Muschel und Strandgutsammlung zu schämen, die ihre Fensterbretter schmückten. Ihr flatterndes Herz beruhigte sich erst, als sie die Haustür öffnete und Angus ihr entgegeneilte. Sie erwiderte sein Lächeln, unterdrückte jedoch den Wunsch, ihn zu umarmen. „Hallo! Ich war nicht ganz sicher, ob ihr kommen würdet.“ „Ich habe doch gesagt, dass ich deine Vögel anschauen möchte. Das weißt du doch, oder?“ Ross stand noch auf der Treppe unter ihr, so dass sich ihre Blicke auf gleicher Ebene trafen. Herausfordernd schaute sie ihn an. „Und Sie? Sind Sie unter Protest hier, oder waren auch Sie gerne bereit herzukommen?“ Ihre Offenheit überraschte Ross. „Ich fürchte, ich bin schuldig im Sinne der Anklage.“
Kenzie hatte ihn bis gerade eben noch nie lachen sehen. Himmel! Wusste der
Mann eigentlich, wie charmant er war, wenn er so lachte? Ihr Herz schlug
Purzelbäume, und sie fühlte, wie sie rot wurde. Lächerlich, dachte sie. Es ist
schließlich nichts Ungewöhnliches für mich, wenn mich ein Mann anlächelt.
„Zu welchem Punkt bekennen Sie sich denn schuldig?“ fragte sie scharf.
„Zum zweiten. Seien Sie unbesorgt, Miss Daniels. Es gab nichts, was ich heute
lieber getan hätte, als meinen Sohn herzubringen.“
Sie brauchte sich nicht zu fragen, von wem Angus seinen Charme geerbt hatte.
Wenn Ross Calder seinen Charme spielen ließ, war er unwiderstehlich. In diesem
Fall schien er sogar zu meinen, was er sagte. Es sei denn, er war ein
hervorragender Lügner. Wie ihr Vater…
„Bitte, nennen Sie mich Kenzie.“
Schwanzwedelnd kamen die beiden Hunde an die Fliegentür und beschnüffelten
Angus. „He Mann, Kenzie, wer ist das denn?“
„Das sind Zoom und Jazz, Angus. Du darfst dich geehrt fühlen. Normalerweise
erheben sie sich für niemanden.“
„Darf ich sie zu uns auf die Veranda holen?“
„Gern. Nur zu.“
„Sie sehen aus wie Tiger. Zu welcher Rasse gehören sie? Sind sie freundlich?“
„Es sind Greyhounds. Sie mögen jeden.“
„Rennhunde im Ruhestand?“ fragte Ross.
Kenzie nickte. Sie war überrascht, dass Ross Bescheid wusste.
„He Mann, das sind Rennhunde?“ Angus staunte.
„Das waren sie einmal. In manchen Gegenden werden Greyhounds wie Pferde für
den Sport gezüchtet. Zoom und Jazz liefen auf einer Rennstrecke in Florida.
Nachdem ihre Karriere beendet war, erhielt ich sie von einem Freund, der ein
Tierheim für Greyhounds in der Nähe von Disney World hat.“
„Rennen sie noch immer gern schnell?“ fragte Angus fasziniert.
„Darauf kannst du wetten. Deshalb muss ich sie draußen immer an die Leine
nehmen. Sonst sind sie sofort auf und davon. Aber die meiste Zeit schlafen sie.
Sie sind richtige Pantoffelhelden.“
„Pantoffelhelden?“ Angus zog die Nase kraus.
Ross lachte. „Sie liegen wohl gern auf der Couch und sehen fern.“
„Genau wie ich.“ Angus strahlte.
Ross und Kenzie mussten lachen. Und auf einmal wurde es Kenzie warm ums
Herz. Kein Zweifel, sie zog es vor, freundschaftlich mit Ross zu plaudern, als kühl
und aggressiv mit ihm zu reden, wie gestern auf dem Parklatz, als er sich ihr
gegenüber so distanziert verhalten hatte.
Angus drehte sich zu Kenzie um. „Sind die Vögel drinnen?“
„Sie sind hinter dem Haus. Komm mit.“
Die Hunde blieben auf der Veranda. Kenzie führte Angus und Ross durch den
Garten. Schließlich kamen sie an einen Schuppen, und Kenzie öffnete das
Vorhängeschloss. „Das war früher mal eine Garage. Nun ist es eine Art
Krankenhaus für Vögel.“
Der Junge machte große Augen. „Ein Vogelkrankenhaus?“
„Richtig. Du musst also leise sein. Es sind nämlich wilde Vögel, keine Haustiere.
Sie haben Angst vor dir. Du darfst dich nicht schnell bewegen oder ihnen zu nahe
kommen.“
„Okay.“ Sofort senkte Angus die Stimme und flüsterte ehrfürchtig.
Lächelnd suchten Kenzies Augen Ross’ Blick. Wusste der Mann eigentlich, wie
entzückend sein Sohn war?
Offensichtlich nicht. Statt sich über den Jungen zu freuen, schaute er prüfend das
Dach des Schuppens an, als würde er überlegen, ob es überhaupt sicher war, ihn zu betreten. Sie schob das Kinn vor. „Kommen Sie. Es wird nicht über Ihnen zusammenkrachen.“ „Cool“, staunte Angus. „Sieh nur.“ Ross drehte sich um. Angus deutete auf die hintere Wand, an der sich Käfige und kleinere Ställe reihten, die sich zu verschiedenen Außenvolieren öffneten. Wohl ein Dutzend Vögel drehten ihre Köpfe in ihre Richtung, einige nervös, andere ganz ruhig. Ross erkannte einen Pelikan, einen Falken und einen Reiher. Die restlichen kannte er nicht. Angus wollte sogleich wissen, was dem Pelikan zugestoßen war. Als Kenzie ihm erzählte, dass der Vogel sich mit seinem Schnabel in einem Fischernetz verfangen hatte und beinahe verhungert wäre, hörte er vor Aufregung zitternd zu. So begeistert hatte Ross seinen Sohn nur einmal gesehen, als sie einen Spielzeugladen in Manhattan besuchten, wo Angus mit einer Modelleisenbahn spielen durfte. Für gewöhnlich verhielt sich sein Sohn in der Öffentlichkeit extrem zurückhaltend, aber jetzt wirkte er weder schüchtern noch ängstlich. Er strahlte Kenzie glücklich an. „Ich würde den Pelikan behalten, wenn ich du wäre. Er ist der schönste Vogel der Welt.“ Darüber musste sogar Ross lachen. „Gefällt er dir nicht?“ fragte Angus. „Ich finde ihn unglaublich hässlich.“ „Das ist nicht wahr.“ „Oh doch. Er scheint noch aus dem Zeitalter der Dinosaurier zu stammen“, scherzte Ross, aber Angus starrte ihn unter Tränen an. „Dir gefällt aber auch gar nichts.“ Ross wandte sich ab, aber Kenzie hatte den Schmerz in seinen Augen bemerkt. „Du musst doch zugeben, Angus, dass der Pelikan ein wenig seltsam aussieht“, mischte sie sich rasch ein. „Und man kann wirklich nichts Schönes an seinem Schnabel finden, wenn er ihn benutzt.“ „Beißen Pelikane denn?“ „Oh ja, das will ich meinen.“ Angus trat rasch einen Schritt zurück. „Wie sind Sie zu dieser Aufgabe gekommen, Kenzie?“ fragte Ross. „Sind Sie Tierärztin?“ „Nein. Ich mache das ganz freiwillig. Wenn im Tierheim in Menteo kein Platz mehr ist, schicken sie die Tiere her. Ich bin so eine Art Ausweichstelle.“ „Wie lange machen Sie das schon?“ „Ungefähr ein Jahr. Möchtest du sie einmal mit Fischen füttern, Angus?“ „Darf ich?“ „Sicher.“ Sie beugte sich über die Kühltruhe. Unbewusst ermöglichte sie damit Ross einen Blick auf ihre langen, sonnengebräunten Beine. Und als sie noch tiefer in die Truhe hineinlangte, rutschte ihr TShirt ein wenig hoch und ließ noch mehr gebräunte Haut sehen. Ross schien die Verletzung, die er mit seiner Bemerkung über den Pelikan bei Angus ausgelöst hatte, vergessen zu haben. Er gab sich dem schlichten Vergnügen hin, Kenzies attraktive sexy Kurven zu bewundern. Er wollte es nicht zugeben, aber er begann, Kenzie Daniels mit mehr persönlichem Interesse anzuschauen. Ja, er war sich ihrer liebevollen Art, auf die Angus sogleich reagiert hatte, voll bewusst. Aber das Gefühl sexueller Zuneigung überraschte ihn jetzt
völlig und erschien ihm total unpassend. Hatte er nicht genug Sorgen mit seinem
Sohn?
„Igitt.“ Angus riss Ross wieder einmal aus seinen Gedanken.
Kenzie hatte einen Fisch mit glasigen Augen aus der Tiefkühltruhe geangelt und
wedelte damit vor Angus’ Augen. „Na? Hast du deine Meinung geändert?“
„Ach…“
„Ich fasse auch nicht gern solch glitschige Fische an.“ Sie half ihm, ein Paar
übergroße Handschuhe anzuziehen und zeigte ihm, wie man die Vögel fütterte.
Angus zuckte nicht mit der Wimper, als ein Tölpel mit einem langen spitzen
Schnabel blitzschnell vorwärts hüpfte und ihm den Fisch aus der Hand riss.
Begeistert schrie er auf, als er sah, wie ein großer Reiher seine Mahlzeit in einem
Stück hinunterwürgte.
Als alle Vögel ihren Anteil erhalten hatten, schob Kenzie einen Tritt vor das große
Spülbecken und hob Angus hinauf. „Jetzt schrubben wir uns erst mal den Geruch
von den Händen. Nimm ganz viel Seife. So. Bist du jetzt auch hungrig und
durstig?“
„Sehr.“
„Ich habe Gebäck im Haus.“
„Oh. Was denn?“
„Wir können ja mal nachschauen.“
Angus sprang vom Tritt und rannte ins Freie, ohne seinen Vater um Erlaubnis zu
bitten.
Kenzie hing das Handtuch wieder an seinen Platz. „Hoffentlich haben Sie nichts
dagegen, wenn ich ihm etwas Süßes gebe.“
„Wie machen Sie das bloß?“ Ross blickte sie mit ernster Miene an. Seine Stimme
klang schroff, und er wirkte seltsam verletzlich.
„Was meinen Sie?“
„Bei Ihnen sieht es so einfach aus.“
Etwas in ihrem Innern begann zu schmelzen. Nur kein Mitleid, ermahnte sie sich
fest. Aber sie wollte auch nicht vorgeben, sie habe ihn nicht verstanden. „Es ist
einfach. Vor allem bei einem Jungen wie Ihrem…“
„Ich spreche nicht von Angus im Besonderen. Sie haben offensichtlich viel mit
Kindern zu tun. Wie viele haben Sie?“
„Ich… Ich habe… Ich bin nicht verheiratet.“
„Oh.“ Einen Moment schwieg Ross. Dann sah er sie ziemlich hilflos an. „Und
warum tun Sie das dann?“
Kenzie biss sich auf die Unterlippe. Irgendetwas stimmte hier nicht. „Das lässt
sich eigentlich gar nicht richtig erklären.
Es ist etwas Bestimmtes, wissen Sie? Hier drinnen.“ Sie legte eine Hand aufs
Herz.
Als sich seine Miene veränderte, sah sie deutlich, dass er litt.
„Ich weiß nicht, wie ich es anstellen soll.“
Einer seltsamen Regung folgend, legte Kenzie eine Hand auf seine. „Da wäre ich
mir nicht so sicher.“
„Was meinen Sie?“
Ross’ Finger umschlossen ihre Hand. Auf einmal spürte Kenzie, wie sich ihre
Wangen röteten. Ross sah sie an, als hinge unendlich viel von ihrer Antwort ab.
„Ich meine, tief drinnen in Ihrem Herzen wissen Sie genau, wie Sie mit Angus
umgehen müssen. Es ist kinderleicht, wenn Sie… jemanden wirklich lieben.“
Aus irgendeinem Grund hatte sie Probleme, das Wort Liebe auszusprechen.
„Kenzie?“ Angus’ Kopf kam hinter der Tür zum Vorschein. „Beeil dich bitte. He
Mann, ich kann gar nicht erwarten, dass es mit dem Kuchen losgeht.“
Gedankenversunken folgte sie ihm. Irgendetwas stimmte nicht zwischen Ross
Calder und seinem Sohn. Keiner schien sich in der Gegenwart des anderen wohl
zu fühlen. Ihr Magen verkrampfte sich. Sie wusste alles über schlechte
Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern. Seit einem Jahr hatte ihr Vater
kein Wort mehr mit ihr gesprochen. Ja, als Letztes hatte er verkündet, er sähe
sie fortan nicht mehr als seine Tochter an.
Aber Angus war erst sieben. Mit einem so jungen Kind konnte man doch nicht so
distanziert umgehen.
Und welchen Einfluss hat Mrs. Calder auf diese verkrampfte Situation?
Vielleicht waren Ross und seine Frau geschieden. Vielleicht nahm Angus seinem
Vater die Trennung der Eltern übel, und vielleicht war diese Reise nach den
OuterBankInseln Ross’ Versuch, etwas gutzumachen.
Er konnte auch ein Wochenendvater sein. Armer Ross, armer Angus.
Sie öffnete dem Jungen die Küchentür. Wieder widerstand sie dem Wunsch, ihm
über den Wuschelkopf zu fahren. Wenn sie versuchte, sich in das Kind
hineinzuversetzen, tat ihr das Herz weh.
„Die Doughnuts stehen auf dem Tisch. Greif zu. Ich gieße dir auch ein Glas Milch
ein.“
Ross folgte ihr durch die Fliegentür.
„Kaffee?“ fragte sie.
„Wenn es nicht zu viel Mühe macht.“
Ross sah sich in der Küche um. Dieser Raum mit seinem alten Spülbecken, mit
den wenigen schiefen, weiß lackierten Wandschränken und der
Resopalarbeitsfläche war nicht zu vergleichen mit der eleganten Edelstahlküche,
die er in New York besessen hatte, bevor er seine alte Kanzlei verlassen musste.
Das war zu Beginn des Jahres gewesen, als die Auseinandersetzungen mit Angus’
Großeltern in England dramatisch wurden.
Kenzies Beruf schien nicht sehr lukrativ zu sein. Allerdings brauchte man auch
wenig, wenn man so lebte wie sie.
Inzwischen hatte es sich Angus am Küchentisch bequem gemacht und sah sich
interessiert um. „Das Haus erinnert mich an Norfolk“, bemerkte er.
„Wo dein Großvater wohnt?“ fragte Kenzie auf Verdacht.
„Ja. Hier ist auch alles so alt.“
Ross war überrascht. Was wusste Kenzie über Angus’ Familie?
„Wieso spricht Angus mit englischem Akzent und Sie nicht, Ross?“
„Ich bin Amerikaner. Angus nicht.“
„Oh. Dann ist seine Mutter…“
„Meine Frau… meine Exfrau ist… war Engländerin.“
„War?“
„Sie starb Anfang dieses Jahres.“
Die Antwort ließ Kenzie zusammenzucken. Rasch warf sie einen Blick zu Angus
hinüber. „Oh, Angus, das tut mir Leid.“
„Ist schon okay.“ Aber der Junge blickte sie nicht an. Er schluckte schwer.
Kenzie sah Ross an, der seinen Sohn eindringlich zu beobachten schien.
„Vielleicht sollten wir jetzt nach Hause gehen, Angus“, schlug er leise vor.
„Aber ich habe meine Milch noch nicht ausgetrunken.“
„Und Sie haben noch keine Bärentatze probiert“, ermahnte Kenzie Ross.
„Was bitte ist eine Bärentatze?“
„Eine Art Apfeltasche mit Mandeln darin.“
„He Mann, Mandeln! Dann möchte ich lieber noch einen Doughnut.“ Angus
lächelte.
Kenzie reichte ihm den Teller. „Iss nur, so viel du magst, mein Junge.“
Der beklemmende Moment war vorbei. Ross setzte sich an den Tisch. Langsam
entspannte er sich wieder. Dies ist das erste Mal, dass Penelopes Tod in
Gegenwart einer fremden Person erwähnt wurde, überlegte Ross. Angus
reagierte besser, als er befürchtet hatte. Und Kenzie fragte höflicherweise nicht
weiter nach, wie es andere Leute womöglich getan hätten.
„Kenzie, was bedeuten all diese Zeichnungen in dem Zimmer da drüben?“
„Angus, sei nicht so neugierig“, ermahnte Ross seinen Sohn.
„Das ist schon okay. Du darfst sie dir ansehen, wenn du magst.“ Sie schenkte
Ross Kaffee nach. „Noch eine Bärentatze?“
„Da kann man kaum widerstehen.“
„Wem sagen Sie das? Ich werde heute Nachmittag eine extra Meile laufen
müssen.“
Ross hatte sie richtig eingeschätzt. Sie joggte. Das mochte er an ihr, denn er
joggte auch.
Angus’ Kopf erschien in der Tür. „Sind das Cartoons?“
Kenzie blickte auf. „Ja.“
„Aber ich kann sie gar nicht verstehen.“
Kenzie lachte. „Weil sie für Erwachsene gedacht sind. Die Cartoons sollen
Erwachsene dazu bringen, über Dinge nachzudenken, die in unserem Land
passieren. Es sind politische Cartoons.“
„Das ganze Zimmer ist voll davon. Dad, komm, sieh mal. He Mann, sie hat auch
einen coolen Computer.“
Ross staunte ebenfalls nicht wenig. „Haben Sie die Cartoons gezeichnet?“
Kenzie nickte.
„Beruflich oder zum Vergnügen?“
„Ich zeichne politische Cartoons für den Norfolk Messenger.“
„Wow.“ Angus strahlte. „Ich habe noch nie eine Cartoonzeichnerin kennen
gelernt.“
Dasselbe galt für Ross. Er sah sich die Zeichnungen auf den Ständern und an den
Wänden genau an. Sie waren außerordentlich gut, politisch scharfsinnig und
überaus komisch. „Das haben Sie alles gezeichnet?“
„Sie scheinen es mir nicht zuzutrauen. Wirke ich wie eine dumme Blondine aus
dem Süden?“
„Wirklich, Miss Daniels, Sie passen in keine Schablone hinein.“
Kenzie runzelte die Stirn. Sollte sie das als Kompliment ansehen? Einzigartig zu
sein konnte beides bedeuten – gut oder sehr schlecht.
Schon wieder hatte Ross diesen verletzlichen Ausdruck in den Augen. Als habe er
bisher nicht viel Grund zum Lächeln gehabt.
Wieso machte sie sich überhaupt Gedanken darüber?
Glücklicherweise hatte Ross sich inzwischen wieder ihren Zeichnungen
zugewandt. „Sie haben einen guten politischen Durchblick. Aber von Anwälten
haben Sie anscheinend keine hohe Meinung.“
„Die hat doch wohl niemand.“
Ihr plötzlich scharfer Ton überraschte Ross. „Sie mögen Anwälte nicht?“
„Im Allgemeinen nicht. Wenn Washington ein Sündenpfuhl ist – und manchmal
kommt es mir so vor –, dann sind die Anwälte darin die Schlimmsten.“
„Das klingt aber ziemlich hart.“
Sie streckte das Kinn vor. „Trifft aber den Kern.“
„Mein Vater ist Anwalt“, ließ sich Angus an dieser Stelle hilfreich vernehmen.
Kenzies Blick flog zu Ross, dessen Miene undurchschaubar blieb. „Stimmt das?“
„Es stimmt.“
Auf einmal hatte Kenzie das demütigende Gefühl, dass sie auf ihn reingefallen
war. Der Mann war weder verletzlich noch litt er unter irgendeinem inneren Schmerz. Sie hatte ihn einfach falsch eingeschätzt. Ross gab sich zurückhaltend aus einem Gefühl der Überlegenheit. Und diese ausdruckslose Miene, mit der er immer mit ihr sprach, hatte er sich im Gerichtssaal angewöhnt, wo man ein Pokerface brauchte. Kein Wunder, dass Angus sich in Gegenwart dieses Mannes nicht wohl fühlte. Sie wollte zwar nicht verallgemeinern, aber alle Anwälte, die sie kannte – und sie kannte viele –, waren nicht gerade warmherzig und feinfühlig. Außerdem waren sie keine liebevollen Väter. Das wusste sie aus eigener Erfahrung… Oh ja, Kenzie wusste, wie schwer es war, eine gute Beziehung mit einem kaltherzigen Anwalt als Vater zu unterhalten. „Kenzie? Darf ich die Hunde reinlassen? Sie bellen auf der Veranda.“ „Aber sicher, Junge.“ Kenzie erwiderte Angus’ Lächeln. Ross hatte sie beobachtet und konnte sich auf einmal eines Gefühls der Eifersucht nicht erwehren. Warum schenkte ihm Kenzie nicht ein so natürliches Lächeln? Wieso fühlte er sich zwischen den beiden hier wie ein Außenseiter? Vielleicht entwickelte Angus Kenzie gegenüber sogar eine unangebrachte Sehnsucht nach mütterlicher Zuneigung? Gütiger Himmel! Das hätte ihm ja gerade noch gefehlt. „Komm Angus. Wir müssen jetzt gehen. Wir danken Ihnen für Ihre Gastfreundschaft, Miss Daniels. Es ist schon spät.“ Der Junge ließ den Kopf hängen. „Danke, Kenzie“, murmelte er. „Es hat Spaß gemacht.“ Kenzie hätte am liebsten „Einspruch“ geschrien, ließ es aber bleiben. Ein richtiger Anwalt, dachte sie wütend. Der nimmt eben keine Rücksicht auf die Gefühle anderer.
3. KAPITEL „Delia, ich sage Ihnen, Angus ist hier ein vollkommen anderes Kind. Er gibt sich
offen und freundlich und bemüht sich, zu gefallen. Man könnte es eine totale
Veränderung nennen. Alles, was diese Frau sagt und tut, ist für ihn ,He Mann’
und ,super cool’. Ich verstehe gar nichts mehr.“
„Erinnert sie ihn vielleicht an seine Mutter?“
Ross sah Penelope vor sich, groß gewachsen im eleganten kleinen Schwarzen,
daneben Kenzie Daniels in Shorts und TShirt, wie sie den toten Fisch aus der
Tiefkühltruhe angelte. „Unmöglich.“
„Vielleicht hat sie eine natürliche Art, mit Kindern umzugehen.“
„Die mir fehlt, meinen Sie?“
Ross konnte Delia an der anderen Seite des Telefons beinahe zögern hören. Er
fürchtete sich vor ihrer Antwort. Schlimm genug, dass sie angerufen und sich
erkundigt hatte, wie es ihnen ging, aber dann musste Angus ihr auch noch alles
über Kenzie erzählen… Und er war gezwungen, sich unbequeme Kommentare
anzuhören.
„Er vermisst seine Mutter, Ross. Und vielleicht gibt er Ihnen irgendwie die Schuld
an diesem Verlust.“
Ross’ Herz verkrampfte sich. „Einen Moment mal…“
„Es ist reine Spekulation, ich weiß. Aber Angus ist noch klein. Kinder sehen diese
Dinge mit anderen Augen. Sie können noch nicht abschätzen, was fair ist und
was nicht. Sie haben ihn von seinen Großeltern fortgeholt…“
„Die noch kälter und noch weniger liebevoll sind als ich.“
Eigentlich sollte es klingen, als würde er sich über sich selbst lustig machen, aber
seine Stimme hörte sich eher verzweifelt an.
„Geben Sie sich noch ein bisschen Zeit, Ross. Immerhin sind Sie für Angus ein
Fremder. Außerdem wäre ich nicht überrascht, wenn Penelope schlecht über Sie
gesprochen hätte.“
Genau das war vor ihrem Tod geschehen. Wer hätte voraussagen können, dass
Penelope bei einem Flugzeugabsturz umkommen würde, während sie mitten in
einem hässlichen Sorgerechtsstreit wegen Angus steckten?
Ein Kloß bildete sich in seinem Hals. Es war Zeit, das Gespräch zu beenden.
„Hören Sie, Delia, ich habe es eilig. Das Essen ist fertig.“
„Vergessen Sie nicht, was ich gesagt habe, Ross. Und seien Sie bitte locker, ja?“
Er legte auf. Angus lag auf dem Bauch vor dem Fernseher und sah sich einen
Zeichentrickfilm an.
„So“, sagte Ross mit gespielter Fröhlichkeit. „Hast du dir inzwischen überlegt,
was du dir noch zum Geburtstag wünschst?“
Der Junge schaute ihn aus großen Augen an. „Ist heute schon Mittwoch?“
„Übermorgen.“
„Und du… du willst mir noch ein Geschenk machen?“
„Aber natürlich!“ Ross hatte bereits die Modelleisenbahn gekauft, die Angus vor
einem Monat in einem Spielzeugladen gesehen hatte. Er hatte nur die
Zugmaschine hierher gebracht, die Angus dann am Mittwoch, zusammen mit ein
paar anderen Dingen, auspacken sollte. „Also, was hast du noch für einen
Wunsch?“
„Was für eine Art nochWunsch meinst du denn?“
„Was immer dein Herz begehrt. Aber nichts Unvernünftiges.“
„Ganz bestimmt?“
Angus’ Eifer rührte ihn. Wenn es doch immer so einfach wäre!
„Ja. Weißt du, meine Mutter hatte diese Tradition eingeführt, als ich noch ein
wenig jünger war als du jetzt. Sie pflegte zu sagen, dass das besser sei als alles
Kerzenauspusten und Hoffen…“
„… auf etwas, das nie passiert.“
„Richtig.“
„Hat dein Dad geholfen, dass deine Wünsche in Erfüllung gingen?“
Mein Dad war der Wunsch, dachte Ross. Er räusperte sich. „Na klar. Also, dann
mal los: Was wünschst du dir?“
„Können wir an meinem Geburtstag zum Essen ausgehen?“
„Sicher. Ist das alles?“
„Nun….“ Angus senkte den Blick. „Können wir Kenzie mitnehmen?“
„Was?“
„Du sagtest, ich dürfte mir etwas wünschen.“
Ross atmete tief durch. Das Letzte, was er wollte, war eine weitere Begegnung
mit der schönen Frau, die Anwälte hasste, und zu der sich sein Sohn in so
unpassender Weise hingezogen fühlte. „Bist du sicher, dass das dein Wunsch
ist?“
Angus nickte. „Nichts anderes. Ich habe dir gesagt, was ich mir wünsche. Ich
möchte mit dir und Kenzie zum Essen ausgehen.“
„Okay, okay. Wir laden sie zum Abendessen ein.“ Ross bemühte sich um einen
fröhlicheren Ton. „Hast du ein bestimmtes Restaurant im Sinn?“
Angus strahlte. Beim Spazierenfahren war ihm eins in der Nähe des Leuchtturms
aufgefallen. Er hatte sich aber den Namen nicht gemerkt. Ross versprach ihm,
mit ihm zusammen das Lokal ausfindig zu machen.
Noch am selben Abend machten die beiden sich auf den Weg.
Im Auto fragte Ross, warum Angus so sehr darauf brannte, Kenzie einzuladen.
„Weil ich sie gern hab.“
„Ich gebe dir Recht, Kenzie ist nett. Aber man soll sich nicht so schnell mit einem
fremden Menschen anfreunden, Sohn. Wir wissen doch gar nichts über sie.“
„Doch. Sie kann Drachen steigen lassen, sie schützt Vögel, besitzt zwei Hunde
und zeichnet Cartoons.“
Wie konnte er dieser Logik widersprechen? „Du weißt doch auch viel über Marty,
nicht?“ Marty war der Handwerker, der Ross’ Apartmenthaus instand hielt.
„Das ist doch etwas anderes.“
Himmel, war der Junge eigensinnig. „Wieso?“
„Er ist nett zu mir. Aber er ist kein Freund. Ich meine, bei Kenzie ist es etwas
ganz anderes. Sie arbeitet nicht für dich und muss mich nicht mögen… und…
und…“
Angus mühte sich, die richtigen Worte zu finden. Auch Ross zermarterte sich das
Hirn, um das Gespräch in Gang zu halten. Immerhin versuchte Angus zum ersten
Mal, ihm Gefühle mitzuteilen.
„Ich glaube, ich weiß, was du meinst. Marty ist nett, aber er tut eben nur seinen
Job.“
Angus seufzte erleichtert. „Kenzie braucht nicht nett zu sein. Sie ist es. Sie hat
nicht mit mir gescholten, als mein Drache auf sie herabgestürzt ist. Stattdessen
zeigte sie mir, wie man es richtig macht.“
„Dein Drache hat Kenzie getroffen?“
Angus errötete. „Aus Versehen. He Mann, er fiel einfach auf sie. Nicht direkt,
aber ganz in ihrer Nähe. Ich habe sie bestimmt erschreckt. Sie schlief auf ihrem
Handtuch.“
„Oh.“ So war es also passiert. Nichts bindet mehr als ein Unglück. Und dass
Kenzie ihn nicht verpetzt hatte, hatte einen besonderen Eindruck auf das Kind
gemacht. In Angus’ Augen war diese Frau demnach viel bewundernswerter und
interessanter als sein verdrießlicher alter Vater, der Anwalt war von Beruf. Ross’ Laune verfinsterte sich. Als Angus das erste Mal seine Kanzlei in Queens besuchte, wo er Delia und die anderen Mitarbeiter kennen lernte, zeigte er absolut kein Interesse für den Beruf seines Vaters. Allerdings musste Ross ihm zugute halten: Das heruntergekommene ehemalige Lagerhaus war nicht im Mindesten so attraktiv wie das Hochhaus mit der spiegelnden Glasfront in der Madison Avenue in Manhattan, wo Ross acht Jahre als gleichberechtigter, hoch bezahlter und geachteter Partner Gesellschaftsrecht praktiziert hatte. Und nun? Was hatte ihn die dramatische Auseinandersetzung um Angus gekostet, die zuerst von Penelope und dann von der blutrünstigen Boulevardpresse aufgebauscht worden war? Er hatte seine Partnerschaft in der angesehenen Kanzlei in Manhattan verloren und arbeitete stattdessen für einfache Menschen als Strafverteidiger in einer kleinen unbekannten Anwaltskanzlei… „Stopp. Halt an. Hier ist es.“ Angus riss seinen Vater aus trüben Gedanken. Ross bremste scharf. Sie hatten das gesuchte Restaurant gefunden. Im Boatshouse reservierten sie einen Tisch am Fenster für den Mittwochabend. Kenzie war in heller Aufregung. Den ganzen Tag über hatte sie endlos Zeit mit Wartereien verloren, und nun würde sie es nur knapp bis zur verabredeten Zeit schaffen. Den Vormittag hatte sie im Büro des Norfolk Messenger bei einem Meeting verbracht. Beim anschließenden Lunch mit ihrer Verlegerin mussten sie endlos auf ihre Bestellung warten, danach blieb Kenzies Pickup auf der langen Heimfahrt auf der OregonInletBrücke stehen, weil der Motor zu heiß geworden war. Zu guter Letzt steckte sie noch hinter einem langsamen Laster, der sich einfach nicht überholen ließ. Zuhause fütterte sie die Hunde und Vögel in Rekordzeit. Nach der Dusche blieb ihr für die Kleiderwahl kaum Zeit. Sie hatte noch nicht einmal das Makeup fertig aufgelegt, als sie Angus’ Stimme hörte. „Kenzie.“ „Komm herein. Aber pass auf, dass die Hunde nicht weglaufen.“ „Wo bist du, Kenzie?“ Die Fliegentür klappte zu. „Ich bin im Schlafzimmer. Aber ich komme gleich. Nimm dir etwas zu Trinken aus dem Kühlschrank, wenn du durstig bist.“ Sie legte eine goldene Kette um den Hals und sprühte ein wenig Parfüm hinter die Ohren. Ihre Sandalen standen noch vor der Küchentür. „Oh, du meine Güte“, seufzte sie verzweifelt. Als sie die Küche betrat, standen Ross und Angus vor dem Arbeitstresen und drehten sich zu ihr um. „He Mann, du siehst toll aus, Angus“, rief Kenzie. Angus trug neue Shorts und ein buntes Hemd. Die noch feuchten Haare waren ordentlich gekämmt. „Gefalle ich dir, Kenzie?“ „Richtig cool. Ich bin nur froh, dass ich mich auch herausgeputzt habe.“ Sie trug ein knielanges Strandkleid mit Spaghettiträgern. Das leuchtende Grün brachte ihr blondes Haar besonders gut zur Geltung. Ihr Blick wanderte zu Ross. Ob man ihn nun mochte oder nicht: Ross Calder war ein attraktiver Mann. Das feine weiße Hemd wirkte hell und frisch. Mit den lässig aufgerollten Ärmeln und dem offenen Kragen wirkte er umwerfend männlich. Kenzie riss sich zusammen. Immerhin gehörte der Mann zu jener gierigen, herzlosen Klasse von Anwälten, die nur darauf bedacht waren, viel Geld zu machen, auch wenn dabei das Recht auf der Strecke blieb. Wie ihr Vater…
„Kenzie?“
„Ja, Angus?“
„Du siehst wirklich superhübsch aus.“
Sie schenkte dem Jungen ein dankbares Lächeln, ein wenig gequält zwar, aber
erleichtert. Impulsiv schloss sie ihn in die Arme. „Herzlichen Glückwunsch,
Kleiner. Wie fühlt man sich denn mit acht Jahren?“
„Danke. Sehr erwachsen.“
Als sie sich aufrichtete, blickte sie direkt in Ross’ Augen. Ja, jetzt sah er sie
wieder mit diesem Anwaltsblick an, der absolut nicht erkennen ließ, was er
dachte.
„Vielen Dank für die Einladung“, sagte sie.
„Das war Angus’ Idee.“
„Oh.“ Ihr Mut sank.
„Er hat Recht. Sie sehen wirklich superhübsch aus.“
Kenzie errötete. „Vielen Dank.“
„Gern geschehen.“
Ein Schauer lief ihr den Rücken hinauf. Verwirrt und atemlos nahm sie ihre
Handtasche, die Sonnenbrille und einen wattierten Umschlag vom Küchentisch.
Angus Augen leuchteten. „Was ist da drin?“
„Dein Geschenk.“
Kenzie hatte die halbe Nacht an einem Geschenk für Angus gearbeitet. Sie war
sehr gespannt, wie er es aufnehmen würde. Ross fand es sicherlich albern. Die
meisten Anwälte, die sie kannte, hatten keinen Humor.
Draußen hielt Angus ihr galant die Wagentür auf. „Du bist unser Ehrengast.“
Kenzie erwiderte sein Lächeln und setzte sich an Ross’ Seite. So nahe war sie
ihm noch nie gewesen. Offensichtlich hatte er auch geduscht und After Shave
aufgetragen. Ein angenehmer Duft umgab ihn: Sauber und… sexy.
Schmetterlinge begannen in ihrem Bauch zu flattern…
Angus lehnte sich so weit vor, wie es sein Sicherheitsgurt erlaubte. „Hast du den
Pelikan freigelassen, Kenzie?“
„Heute früh.“
„Schade. Ich wäre gern dabei gewesen.“
„Vielleicht beim nächsten Mal.“
„Lässt du vor Samstag noch andere Vögel frei? Dann fahren wir nämlich wieder
nach Hause.“
„Vielleicht ist der blaue Reiher bis dahin so weit.“
„Toll.“ Angus wandte sich an seinen Vater. „Können wir dort sein, wenn Kenzie
ihn freilässt?“
„Wir werden sehen.“ Doch seine Stimme klang positiv.
„Warst du schon einmal im Boatshouse, Kenzie?“ erkundigte sich Angus.
„Ein Mal. Als ich hierher zog.“
„Wie lange ist das her?“
„Etwas über ein Jahr.“
„Wo bist du aufgewachsen?“
„In Washington, D.C.“
„Washington?“ Angus suchte im Rückspiegel den Blick seines Vaters. „Ist das
eine schöne Stadt?“
„Ich sag dir was, Sohn: Du darfst mich vielleicht begleiten, wenn ich im Oktober
auf Geschäftsreise hinfahre.“
Angus sah ihn enttäuscht an. „Dann bin ich doch in der Schule.“
„Zweite oder dritte Stufe, Angus?“ fragte Kenzie.
„Ich weiß nicht. In meiner Schule sagten wir ,Klasse’, nicht ‚Stufe’.“
„In Amerika ist das für dich dann die dritte Stufe, Sohn.“ Hatte Ross das leichte Zittern in der Stimme seines Sohnes bemerkt? Kenzie war es nicht entgangen. Ihr tat das Herz weh, wenn sie sich Angus’ ersten Schultag in der neuen Schule mit neuen Lehrern und neuen Klassenkameraden vorstellte. Was wusste Ross eigentlich über Kindererziehung, um mit solchen Problemen sensibel umzugehen? „Leben Sie und Angus allein?“ fragte sie, einem Impuls folgend. „Im Augenblick, ja.“ Was zum Teufel hieß das nun wieder? Hatte Ross die Absicht, sich neu zu verheiraten? Hoffentlich handelte es sich dann um eine warmherzige Person… Den Rest des Weges legten sie schweigend zurück. Offensichtlich hing jeder der drei seinen eigenen Gedanken nach. Von ihrem Platz am Fenster konnten sie die ganze Bucht überschauen. Angus wünschte sich, dass die Erwachsenen einen Cocktail als Aperitif tranken. Da in dem Restaurant aber außer Bier und Wein nur alkoholfreie Getränke serviert wurden, bestellten sie für alle einen „Shirley Temple.“ „Darf ich jetzt mein Geschenk auspacken, Kenzie?“ „ Selbstverständlich.“ Aber Ross hatte gerade gesehen, dass die Bedienung an ihren Tisch kam. „Lass uns vorher noch das Essen bestellen, ja?“ Zuerst wollte Angus schmollen, aber dann erklärte er sich gerne bereit, die Muscheln zu versuchen. Kenzie bestellte Schwertfisch, während Ross sich für Hochrippe entschied. „Nicht ganz durch, bitte“, wies er die Bedienung an. „Wir Anwälte haben eine Vorliebe für frisches Blut.“ Auch wenn er Kenzie dabei nicht anschaute, wusste sie genau, auf wen dies gemünzt war. Ihr war nicht klar, ob sie lachen oder ihm etwas an den Kopf werfen sollte. Aber dann zwinkerte er ihr mit leuchtenden Augen zu, und da war sie sicher, er hatte sie nur geneckt. Himmel noch mal, war ihm eigentlich bewusst, wie umwerfend er sein konnte, wenn er wollte? Sie senkte rasch den Blick. Ihr Puls raste, und ihre Wangen röteten sich. „Kann ich jetzt endlich mein Päckchen öffnen, Kenzie?“ „Nur zu“, sagte sie, dankbar für die Unterbrechung. Zuerst hatte sie gezweifelt, was sie dem Jungen schenken sollte. In Buxton und Avon waren die Einkaufsmöglichkeiten begrenzt. Deshalb hatte sie für Angus ein Bild gezeichnet, eine Karikatur, koloriert mit Wasserfarben, das ihre erste Begegnung mit Angus wiedergab. Angus trug einen Kilt, um seine schottische Herkunft zu unterstreichen, in der Hand hielt er die Schnüre eines Drachen, der gerade im Sturzflug auf ihren Kopf zielte. Sich selbst hatte Kenzie ein wenig ungraziös in einem blauen Badeanzug dargestellt, umgeben von verschiedenen Vögeln, während die Hunde Zoom und Jazz von den Dünen aus zuschauten. Sie hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Angus war begeistert. „He Mann! Das bin ich. Seht nur, ich trage einen Kilt am Strand! Und da sind deine Hunde, Kenzie, und der Pelikan, die Möwen und der Reiher. Das hänge ich in meinem Zimmer auf.“ „Zuerst müssen wir es rahmen.“ Ross schaute Kenzie bewundernd an. „Ein tolles Bild.“ Zu ihrem Ärger spürte sie leichte Schauer über ihren Rücken laufen. „Danke.“ „Aber warum hast du dich selbst so komisch abgebildet?“ wollte Angus wissen. „Komisch?“ „Ja, so dünn und mit dem riesigen Zinken?“ „Zinken?“
„Deine Nase…“
Kenzie zuckte die Schultern. „Wahrscheinlich sehe ich mich so.“
„Aber du bist schön, Kenzie.“
„Das ist doch albern.“
„Nein. Sie ist doch schön?“ drängte Angus seinen Vater.
Ross’ Blick begegnete ihrem. „Ja, das ist sie.“
Kein Zweifel, etwas an Ross’ Stimme ließ ihre Haut prickeln. „Danke“, sagte sie
erneut und deutete auf den Umschlag. „Da ist noch etwas drin.“ Ein Bilderbuch
kam zum Vorschein. „Es handelt von den Piraten auf den OuterBankInseln“,
erklärte sie. „Die Geschichte erzählt von dem Piraten Blackbeard, der sich auf der
Insel Ocracoke versteckte und dort auch seine Schätze vergrub. Die Insel liegt im
Süden von unserer.“
Angus blätterte eifrig in dem Buch und runzelte die Stirn. „Aber ich kann es nicht
lesen, Kenzie. Ich bin noch nicht so gut.“
„Ich habe es hauptsächlich für deinen Vater gekauft, damit er dir vorliest.“
Ross schaute sie entsetzt an.
Jawohl, lies ihm vor, forderte Kenzie im Stillen. Es gibt nichts Schöneres, als
seinem Kind vorzulesen! Sag nicht, du hättest es noch nie versucht…
Angus wünschte sich sofort, zu der Insel zu fahren und den Schatz zu sehen.
„Warum nicht?“ schloss sich Ross an.
„Kommst du auch mit, Kenzie?“
„Nun…“
„Du hast dein TShirt mit deinem Cocktail bekleckert, Angus“, unterbrach Ross
sie. „Geh und wasch den Fleck bitte aus.“
Sobald sie allein waren, sah Ross Kenzie an. „Miss Daniels.“
Selbst ein Blinder hätte die Veränderung feststellen können. „Mr. Calder?“
„Ich danke Ihnen für alles, was Sie für Angus getan haben. Sie waren freundlich
zu ihm, brachten ihn zum Lachen. Ich bin Ihnen wirklich dankbar.“
„Aber?“
Ross atmete tief durch. „Trotzdem möchte ich nach heute Abend keinen weiteren
Kontakt zwischen Ihnen und meinem Sohn.“ Oder mir, dachte er bei sich.
Selbst wenn Kenzie etwas dieser Art erwartet hätte, überraschte es sie, wie sehr
sie sich von seiner Äußerung verletzt fühlte. „Hoffentlich glauben Sie nicht, ich
hätte ihn ermutigt…“
„Oh, das möchte ich nicht unterstellen. Ich fürchte aber, es könnte nicht gut sein
für ihn, wenn er sich an Sie gewöhnt, auch wenn ich froh bin, dass er den Verlust
seiner Mutter zu überwinden scheint.“
„Ja, das ist richtig“, flüsterte Kenzie.
„Sie verstehen meine Bitte sicher.“
Sie senkte den Kopf und nickte.
„Kenzie?“ Heiß durchfuhr es sie, als er eine Hand auf ihren Arm legte. „Sehen Sie
mich an.“
Sie hob den Blick. Sein schiefes Lächeln raubte ihr fast den Atem.
„Lassen Sie uns diesen Abend genießen. Angus zuliebe, okay?“
Sie hatte Mühe, etwas Passendes zu sagen, das helfen konnte, ihre innere Ruhe
wieder herzustellen. Bevor sie diesem Mann ganz verfiel…
„Gern. Angus zuliebe“, flüsterte sie. „Aber dann sollten auch Sie das nicht
vergessen, Herr Rechtsanwalt.“
Ross lehnte sich zurück, versuchte lässig zu klingen. „Haben Sie etwas an
meinem Verhalten Angus gegenüber zu kritisieren?“
„Angus gegenüber nicht. Mir gegenüber!“
„Ihnen gegenüber?“
„Oh ja. Sie sind freundlich, das muss ich zugeben. Aber ich habe das Gefühl, tief
in Ihrem Innern hätten sie mich gerne ganz weit weg von hier.“
„Oh, Miss Daniels. Sie sind sehr direkt. Eine Schande, dass Sie nicht Anwältin
geworden sind.“
„Ist der rote Fleck jetzt weg?“ Angus stand auf einmal vor Kenzie und streckte ihr
den Arm entgegen.
„Sieht gut aus.“ Sie erhob sich. „Jetzt muss ich mal hinaus.“
In der Toilette stand sie eine Weile vor dem Waschbecken und atmete tief durch.
Glücklicherweise hatte Ross ihre Reaktion auf seine so leichthin gesagten Worte
nicht bemerkt.
Du wählst deine Worte sehr geschickt MacKenzie. Zu schade, dass du nicht Jura studierst. Ihr Vater hatte beinahe dieselben Worte gebraucht. Nur Ross hatte in einem scherzhaften Ton gesprochen. Niemals hatte irgendwer Kenzie gegenüber einen derart scharfen Ton angewandt wie Burton Daniels in jener letzten hässlichen Auseinandersetzung in Washington, D.C. Anschließend hatte er kein Wort mehr mit seiner Tochter geredet. Obgleich er der Spitzenkandidat der republikanischen Partei für die Präsidentenwahl war, kündigte er seinen Rücktritt an. Als Grund dafür gab er den Krankenhausaufenthalt seiner Frau an. Aber dank Kenzie kannte jedermann in Amerika den wahren Grund für Daniel Burtons Rücktritt: Die fragwürdigen Wahlspenden von einem europäischen Geschäftsmann, dessen Bank auf der GrandCaymanInsel zum Ziel internationaler Untersuchungen geworden war. Niemand in den Staaten hatte etwas von der Verbindung zwischen dem belgischen Bankier und dem mächtigen Anwalt aus Washington bemerkt, bis eine bescheidene politische Karikatur in der kleinen MarylandAusgabe des Rastern Shore Weekly das Problem an die Öffentlichkeit brachte. Aber das war noch nicht alles. Eine Vorladung vor dem Kongress folgte, eine Untersuchung durch das Gericht, sowie eine sechsmonatige Gefängnisstrafe für Daniel Burtons Wahlmanager. Was die Öffentlichkeit jedoch am meisten bewegte, war die Tatsache, dass es Burton Daniels Tochter war, die den Cartoon gezeichnet hatte und damit seinen Sturz verursacht hatte. Kenzie hatte ihr Wissen aus zuverlässiger Quelle gehabt: Eine Zimmergenossin, die Verlobte eines Assistenten des Gouverneurs auf den CaymanInseln. Zunächst hatte Kenzie versucht, mit ihrem Bruder und später mit ihrem Vater über ihren Verdacht zu sprechen. Als beide es jedoch strikt ablehnten, ihren Verdacht auszuräumen, fasste sie jenen schrecklichen Entschluss, einen Cartoon zu zeichnen. Ausgerechnet dieser Cartoon war ihre erste Arbeit, die veröffentlicht wurde. Der Skandal blieb nicht ohne Folgen. Glücklicherweise konnte die Gesundheit von Kenzies Mutter mit Hilfe eines Herzschrittmachers einigermaßen wiederhergestellt werden, und Kenzie fand einen festen Arbeitsplatz als Karikaturistin beim Norfolk Messenger auf den OuterBankInseln. Nach ihrer Flucht aus Washington war sie nicht mehr in der Lage gewesen, ihre beinahe fertige Doktorarbeit über die Erziehung benachteiligter schwieriger Kleinkinder fertig zu stellen. Selbstverständlich hatte ihr Verlobter Brent Ellis nach diesem Skandal die Verlobung gelöst. Kenzie wusste, ihr Vater hatte ihm klar gemacht, dass eine Partnerschaft in seiner Anwaltskanzlei im Falle einer Heirat mit seiner Tochter nicht infrage kam. Karriere oder Liebe? Brent hatte nicht gezögert, seine Wahl zu treffen…
All diese Erinnerungen, die Kenzie am liebsten für immer verdrängt hätte, waren
bei der von Ross nicht unfreundlich gemeinten Bemerkung wieder erwacht. „Reiß
dich zusammen, Kenzie“, ermahnte sie ihr Spiegelbild. Sie durfte sich nicht
länger auf der Toilette verstecken. Mit erhobenem Kopf und einem warmen
Lächeln auf den Lippen kehrte sie an den Tisch zurück.
Angus erwiderte ihr Lächeln ebenso herzlich. „Danke für die Geschenke, Kenzie.
Sie gefallen mir sehr gut.“
„Gern geschehen, Angus.“
„Ja, vielen Dank.“ Ross sah sie eindringlich an. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“
Kenzie nickte. „Natürlich.“
Um das zu beweisen, wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder Angus zu und
unterhielt ihn mit allerlei Geschichten über Schiffwracks, die den OuterBank
Inseln auch den Namen „Atlantischer Friedhof“ eingebracht hatten.
Als die Bedienung die Teller abräumte und nach ihren Dessertwünschen fragte,
fiel es Kenzie plötzlich ein, dass sie einen Geburtstagskuchen für Angus gekauft
und im Kühlschrank vergessen hatte.
„Das macht nichts“, tröstete der Junge sie, senkte aber enttäuscht den Kopf.
„Können wir noch ein wenig auf dem Steg herumlaufen?“
Ross zögerte. „Also…“
Aber der Junge war schon auf dem Weg zur Tür.
Ross und Kenzie lächelten sich an.
„Danke für das Abendessen. Es war wundervoll.“ Kenzie meinte es aufrichtig.
„Ehrlich gesagt, ich schulde Ihnen auch etwas. Dank Ihnen hatte Angus viel
Spaß.“
„Heißt das, Sie haben nichts mehr gegen mich?“
„Sagen wir, ich sehe ein, dass Sie eine Menge versöhnlicher Eigenschaften
besitzen.“ Lächelnd hielt er ihren Blick. „Kenzie…?“
„Ja?“
„Wir sollten gehen. Angus wartet.“
„Richtig.“
Mit hochroten Wangen eilte sie hinaus. Glücklicherweise würde sie nach dem
heutigen Abend keinen der beiden CalderMänner wiedersehen. Es passte ihr gar
nicht, dass Ross ihre innere Ruhe störte. Einerseits erinnerte er sie zu sehr an
ihren Vater. Andererseits brachte er sie durch seine umwerfend sexy Art völlig
durcheinander.
Draußen wehte eine leichte Brise. Es war bereits recht dunkel. Angus stand am
Ende des Piers und starrte ins Wasser. „Man kann die Fische springen hören“,
flüsterte er staunend, als Kenzie mit Ross näher kam. „Weshalb tun sie das?“
„Wahrscheinlich fangen sie Insekten für ihr Abendessen.“
„Ich möchte fischen gehen. Geht das morgen?“
„Ich dachte, du wolltest morgen auf Schatzsuche nach Ocracoke fahren“, sagte
Ross.
„Und wenn wir zurück sind?“
„Wir werden sehen.“
„Das heißt nein, nicht wahr?“
„Wir werden sehen, Angus.“
„Okay.“ Doch der Junge klang nicht so enttäuscht wie gewöhnlich, wenn er mit
seinem Vater sprach. Stattdessen lehnte er am Geländer des Piers und
erkundigte sich nach den verschiedenen Fischarten, die in dieser Bucht lebten.
Als er bei vorgehaltener Hand einmal kräftig gähnte, meinte Kenzie, dass jetzt
wohl die Schlafenszeit gekommen sei. Liebevoll überzeugte sie Angus, dass die
Schatzsuche am nächsten Tag viel Energie von ihm forderte und er sich
deswegen gründlich ausschlafen müsste.
„Sie wissen immer das Richtige zu sagen“, sagte Ross bewundernd, als sie
zurückgingen.
„Ich sagte schon, das kommt von hier drinnen.“ Lächelnd legte sie eine Hand auf
ihr Herz.
Ross’ Antwort klang traurig. „Manchmal frage ich mich, ob bei mir genug
vorhanden ist, um es mit einem anderen Menschen zu teilen.“
„Oh, Ross. Selbstverständlich.“ Impulsiv ergriff Kenzie seine Hände. „Sie müssen
sich nur Zeit geben. Ihre Exfrau lebt schließlich erst seit kurzer Zeit nicht mehr.“
„Ich trauere nicht um sie“, sagte er schroff. „Mir geht es um Angus. Vielleicht
kann ich ihm nicht geben, was er braucht.“
„Aber ja, das können Sie, Ross.“
„Danke. Es bedeutet mir viel, wenn Sie das sagen.“
Kenzie war, als hielt sein Blick sie umfangen. Ihr Herzschlag begann zu rasen,
und eine nie gekannte Sehnsucht ergriff sie. Küss mich, Ross.
„Kenzie…“, sagte er leise.
Aber Angus ließ ihn den Satz nicht zu Ende sagen. Er wollte nach Hause und
fasste Kenzie und Ross bei den Händen.
Am Wagen angekommen, kletterte er sofort auf seinen Sitz im Fond. Ross hielt
Kenzie die Tür auf. Als sie einsteigen wollte, bedeutete er ihr, einen Moment zu
warten. Ruhig sah sie ihn an. „Ich hoffe, Sie verstehen mich, Kenzie. Als ich
vorhin sagte, wir sollten uns nicht wiedersehen, ging es mir nicht nur um Angus.
Ich kann einfach nicht… Wir können nicht…“
„Ich weiß.“ Sie stieg rasch ein und zog energisch die Tür zu.
4. KAPITEL „Ich bin nicht deprimiert“, babbelte Kenzie wohl zum hundertsten Mal vor sich hin, während sie die Vogelkäfige säuberte. Kaum zu glauben, nun redete sie schon mit sich selber. Aber das sollte ja nichts Unnormales sein. Immerhin arbeitete sie seit den frühen Morgenstunden, ihr war sehr heiß, und sie war müde. Am Ende des Stegs kniete sie nieder und zog die Reuse zu sich heran. Das Wasser war warm, der Sand am Boden glitzerte in der Sonne. Ob Ross und Angus jetzt auf der Fähre waren, auf dem Weg nach Ocracoke? Platsch. Das Seil flutschte ihr aus der Hand. Okay. Ich bin deprimiert. Sie musste sich eingestehen, dass sie insgeheim gehofft hatte, Angus würde seinen Vater doch dazu überreden können, sie auf den Ausflug mitzunehmen. Oh, wie hätte sie den Tag mit ihnen auf Ocracoke genossen. Sie kannte sich dort gut aus und hätte ihnen viel Interessantes zeigen können. Der Umgang mit Kindern machte ihr schon immer Freude, besonders mit ihren Neffen und Nichten. Mit Angus neue Erfahrungen zu teilen, machte ihr Spaß. Er war so bereit, Neues zu sehen, zu lernen und zu tun. Jedenfalls mit ihr. Was Ross betraf… Sie konnte es nicht verhindern, aber der Gedanke an ihn weckte sehnsüchtiges Verlangen… Er hatte während der Heimfahrt nicht mehr über den Ausflug gesprochen. Als er sie zu Hause absetzte, und Kenzie ihm den versprochenen Geburtstagskuchen für Angus durchs Fenster hinausreichte, fragte Angus unschuldig nach: „Warum bringst du den Kuchen nicht morgen mit, Kenzie? Wenn wir nach Ocracoke fahren?“ Weil Kenzie Ross’ Meinung kannte, lehnte sie ab. „Tut mir Leid, Angus. Aber ich habe zu viel zu tun. Die Vögel müssen versorgt werden, und ich habe einige Einkäufe zu erledigen. Ihr findet den Schatz auch ohne mich.“ Ross hatte ja Recht. Weiterer Kontakt mit ihr würde das Kind nur verunsichern. Kinder verkraften eine Menge, versuchte sie sich zu trösten. Sie dachte an ihre Neffen und Nichten und seufzte. Manchmal vermisste sie die Kinder ihres Bruders so sehr, dass ihr das Herz wehtat. Aber jedes Mal, wenn sie den Telefonhörer in die Hand nahm und wählte, legte sie nach dem ersten Läuten wieder auf. Der verletzende Ton ihres Bruders bei ihrem letzten Gespräch klang ihr noch im Ohr. Von ihrer Mutter hatte sie erfahren, dass ihr Vater bisher nicht einmal bereit war, ihre Existenz anzuerkennen. Weder seine Frau noch seine Söhne, Schwiegertochter oder Enkel durften in seiner Gegenwart ihren Namen erwähnen. Hin und wieder erhielt Kenzie eine EMail von ihrem mittleren Bruder Stuart und ihrem jüngsten Bruder Tad, der sogar manchmal anrief. Bis auf Weiteres vertraute sie einfach darauf, dass ihre Nichten und Neffen sie nicht ganz vergaßen, und diese Zuversicht gab ihr Halt. Wenn sie überhaupt etwas bereute, so waren es die Folgen des Skandals, unter denen ihre Mutter vor und nach den gerichtlichen Untersuchungen gelitten hatte. Dennoch stand Alicia Daniels ihrer Tochter bei. „Du kennst doch die Leute in Washington“, sagte sie nur ausweichend, wenn Kenzie einmal den Mut fasste und sich nach der Familie und den Bekannten zu Hause erkundigte. Im Moment blieb ihr nur ihre Arbeit. Zoom und Jazz warteten schon auf der Terrasse. „Nicht, dass ich jemanden zum Reden brauche“, sagte sie und streichelte den Hunden liebevoll über die Köpfe, während sie sich auf einem
Schaukelstuhl niederließ. Sie musste die Gedanken an Ross verdrängen. Für gewöhnlich war das nicht schwer. Sie dachte an Angus und redete sich ein, sie würde nur das Kind vermissen. Anfangs hatte sie immer zuerst Angus’ süßes Gesicht mit den lustigen Sommersprossen vor Augen gehabt. Jetzt spürte sie ein erregendes Kribbeln, wenn sie sich plötzlich an Ross’ Lächeln erinnerte, das er ihr am Abend zuvor hin und wieder geschenkt hatte. Er war Anwalt, zugegeben. Und er gebrauchte meist den falschen Ton, so weit es sie betraf, aber… Aber was? Er war attraktiv und sexy, und wenn er beschloss charmant zu sein, brachte er sie im Nu aus dem Gleichgewicht. Schluss damit! Kenzie sprang aus ihrem Stuhl auf. Sie wollte ausgehen, irgendwo zu Mittag essen und sich einer Kauforgie hingeben. Ja, jetzt ein bisschen Shopping, und die Welt würde sicher gleich ganz anders aussehen! Die meisten Leute auf Hatteras hielten sie für eine Einzelgängerin. Das passte ihr eigentlich recht gut. Man hatte sie in den Lokalen der Insel herzlich aufgenommen. Hier interessierte sich niemand für ihre Vergangenheit in Washington. Die Menschen verstanden und akzeptierten ihren Wunsch, allein gelassen zu werden. Aber heute brauchte Kenzie Gesellschaft. Und der Wirt im Red Drum Cafe war genau der Richtige. Während sie dort einen Milchshake trank und ihren Hamburger verspeiste, plauderte sie mit ihm und den anderen Gästen über das Wetter und alltägliche Ereignisse. Sie warf alle Bedenken über Bord und bestellte sogar noch ein Stück Kuchen zu ihrem Kaffee. Wen störte es, wenn sie ihr ganzes Geld ausgab? Wen störte es, wenn sie fett wurde? Sicherlich weder Brent Ellis, der sie vor einem Jahr fallen gelassen hatte, noch Ross Calder, der sie kaum ansah wie ein Mann… Halt! Wo kamen diese Gedanken nun wieder her? Seit wann störte es sie, was Ross Calder über ihr Äußeres dachte? Seit wann nahm sie ihn als Mann wahr? Seit gestern Abend vielleicht. Als sie an seiner Seite im Wagen saß, und später beim Abendessen, beim beschaulichen Spaziergang über den Pier. Bis er ihr klar machte, dass ihre Begleitung nach Ocracoke nicht erwünscht war. Hoffentlich sah sie ihn nie wieder, diesen ehrenwerten Herrn Ross Calder. Ein vergeblicher Wunsch angesichts der Tatsache, dass er in diesem Augenblick vor ihr in der Tür stand. Kein Trugbild. Ross und Angus waren soeben eingetreten und sahen sich nach einem Platz um. Rasch stellte Kenzie ihren Kaffeebecher ab und wollte vom Hocker gleiten. „Kenzie.“ Zu spät. Angus hatte sie gesehen. „Hallo! Was macht ihr denn hier?“ „Eis essen.“ Angus kletterte auf einen Barhocker. Ein Gast rutschte zur Seite, damit auch Ross am Tresen Platz nehmen konnte. Ungeachtet der finsteren Miene, die Ross bei ihrem Anblick aufsetzte, bat Kenzie die Bedienung, Angus eine Speisekarte zu bringen. Sie freute sich wirklich, den Jungen zu sehen, und diesmal konnte sie seine Gesellschaft genießen, ohne sich schuldig zu fühlen. Dieses Zusammentreffen hatte sie nicht arrangiert. Auf ihre Frage, ob sie Spaß auf Ocracoke hatten, erklärte Angus zögernd und mit bedauerndem Blick auf seinen Vater, dass es ziemlich langweilig war. Kenzie
konnte es kaum glauben: Die beiden hatten weder den Piratenschatz gefunden
noch die wilden Ponys gesehen. Stattdessen hatten sie sich in der Stadt
aufgehalten, in der es von Touristen nur so wimmelte. Auch die Überfahrt mit der
Fähre hatte Angus ohne Kenzie offenbar keine besondere Freude gemacht.
Sie wagte nicht, Ross anzuschauen. Er schien auch höchst unzufrieden mit
diesem Tag. Aber war es ihre Schuld, wenn Angus ihre Gesellschaft der seinen
vorzog?
Sie richtete sich auf. „Ich glaube, ich sollte jetzt lieber…“
„Da wären wir.“ Carla stellte ein Tablett auf den Tresen. „Eistee und ein Glas
Milch. Noch einen Kaffee für Sie, Kenzie?“ Bevor Kenzie protestieren konnte,
hatte die junge Frau bereits eingeschenkt.
„Ich muss mal“, verkündete Angus in diesem Augenblick.
Kenzie zeigte ihm den Weg. „Und vergiss nicht, die Hände zu waschen.“
„Jawohl, Madam“, sagte Angus in charmantem, lang gezogenen
Südstaatendialekt und eilte grinsend fort.
Kenzie drehte sich zu Ross um, blickte ihn aber nicht an. „Tut mir wirklich Leid,
dieser verpatzte Ausflug. Ich hätte ihn nicht vorschlagen sollen. Aber es gibt
wirklich viel mehr auf Ocracoke zu sehen als Souvenirläden und dergleichen.“
„Das glaube ich gern. Bitte fühlen Sie sich nicht verantwortlich.“
Das hörte sich an, als meinte er, was er sagte. Himmel, er lächelte sie sogar an!
„Und ich freue mich, dass wir Sie hier jetzt zufällig treffen. Angus war nämlich
den ganzen Tag sauer.“ Ross sah sie eindringlich an. Wirklich, er brachte sie
völlig durcheinander, sobald er einmal nett zu ihr war.
„Was ist? Habe ich etwas Falsches gesagt, Kenzie?“
„Ja, verflixt noch mal. Sie verwirren mich. Ich war überzeugt, Sie würden mir
den Kopf abreißen, weil ich Sie auf einen so langweiligen Ausflug geschickt habe.
Nun sagen Sie, es sei nicht meine Schuld. Ich weiß nie, was ich von Ihnen zu
erwarten habe.“
„Ja. wirklich. Dafür muss ich mich auch entschuldigen. Aber eigentlich war unser
Trip gar kein so völliges Desaster. Ich habe etwas Wichtiges gelernt.“
„Ach ja?“
Er schaute Kenzie ernst an. „Ich habe erkannt, dass ich eine andere Taktik
anwenden muss, wenn ich bei Angus punkten will. Es ist offensichtlich falsch,
wenn ich den Kumpel spiele. Ich bin nicht so spontan wie Sie und kann mich
auch nicht so in die Gedankenwelt eines kleinen Jungen hineinversetzen, aber
Ihnen für meine Misserfolge die Schuld zu geben, wäre unfair.“
Wie schlimm musste der Tag auf Ocracoke gewesen sein, wenn Ross Calder zu
solch einem Bekenntnis fähig war?
„Mit Kenzie macht alles Spaß.“ Das hatte Angus den ganzen Tag über mit ruhiger
eigensinniger Überzeugung wiederholt.
Und das stimmte. Gegen seinen Willen musste Ross immer wieder daran denken,
wie fröhlich sie am Abend zuvor mit Kenzie beim Essen gelacht und geplaudert
hatten. Wie locker sie beim Spaziergang über den Pier gewesen waren. Etwas an
dieser Frau rührte sein Herz an und weckte in ihm den Wunsch, in ihrer Nähe zu
sein. Und das nicht nur, weil sie mit ihrem Charme seinen Sohn glücklich machte.
Genau aus diesem Grund hatte er sich überlegt, den Kontakt zu ihr abzubrechen.
Nicht wegen Angus. Nein. Mit ihrem verführerischen leichten Sommerkleid, den
wehenden Haaren, dem feinen goldenen Kettchen, das seinen Blick wieder und
wieder auf ihre runden Brüste gelenkt hatte, hatte sie heiße Gefühle in ihm
geweckt.
Ihm waren auch die bewundernden Blicke der anderen Männer nicht entgangen.
War er eifersüchtig? Versuchte er instinktiv zu verteidigen, was er für sich
begehrte…? Schon während des Abendessens hatte er davon geträumt, ihr die Träger von den nackten sonnengebräunten Schultern zu streifen. Sie zu entkleiden. Mit ihr zu schlafen… Abrupt erwachte er aus seinen Träumen. Ein Gast hatte einige Dollar auf den Tresen geworfen. „Das wars für heute, Carla. Der Rest ist für Sie.“ Im Hinausgehen wandte er sich Kenzie zu. „Keine Sorge, Miss Daniels. Ich werde veranlassen, dass Ned die versprochenen Kleinfische bei Ihnen abliefert.“ Das warmherzige Lächeln, mit dem Kenzie dem Mann dankte, rührte Ross, obgleich es nicht ihm gegolten hatte. Verflixt, ihm war klar, er begehrte diese Frau noch immer. Bevor er den Mut verlor und Angus zurückkehrte, wollte er sich noch einmal bei ihr für sein Verhalten am Abend zuvor entschuldigen. „Es tut mir Leid, Kenzie“, begann er rasch. „Meine Bitte gestern, von meinem Sohn fernzubleiben, klang wirklich unangemessen hart.“ „Kein Problem“, antwortete sie, ohne ihn anzublicken. Er beugte sich näher zu ihr. „Was ist? Sind Sie es nicht gewohnt, Entschuldigungen von einem Anwalt zu akzeptieren?“ Sie lächelte, sah ihn jedoch noch immer nicht an. „Vielleicht sollte ich mich auch
wegen meiner boshaften Spitze gegen Anwälte entschuldigen.“
„Ja. Das war unfair.“
„Ich hätte meinen Mund halten sollen. Ich glaube, ich rede zu viel.“
„Nein, überhaupt nicht. Sie haben eine nette, lockere Art zu plaudern. Angus
reagiert darauf ausgesprochen positiv. Sie hätten Lehrerin werden sollen.“
„Das hatte ich auch einmal vor. Ich habe einen Abschluss in
Erziehungswissenschaften.“
„Und warum arbeiten Sie jetzt für eine Zeitschrift? Was ist passiert, Kenzie?“
„Die Politik kam dazwischen.“
Ross runzelte die Stirn. „Wie meinen Sie das?“
„Ich… Das ist nicht so einfach zu erklären…“
„He Mann, du sitzt auf meinem Platz“, meldete sich in diesem Moment Angus
zurück.
Ross rutschte gehorsam beiseite. Vielleicht bildete er es sich nur ein, aber Kenzie
schien erleichtert, als er von ihr abrückte.
„Hallo, Kenzie, wie gehts?“
Alle drei drehten sich um. Die polternde Stimme gehörte Gordon Harper, einem
wettergegerbten Aufseher aus dem National Park. Er war Kenzies nächster
Nachbar und lud sie hin und wieder zum Abendessen zu seiner Familie ein.
„Tag Gordon. Setzen Sie sich doch zu uns.“
„Tut mir Leid, aber ich bin auf dem Weg nach OregonInlet. Als ich draußen Ihren
Pickup sah, hielt ich an, um Sie zu fragen, ob Sie heute Abend mit uns auf die
Schlüpfwache fahren möchten?“
„Schlüpfwache? Was ist das denn?“ Angus starrte Gordons Uniform bewundernd
an.
Aber Kenzie musste das freundliche Angebot ablehnen. „Ich habe viel zu tun,
Gordon. Warum nehmen Sie nicht Ross und Angus mit? Sie sind aus New York
hier und machen Urlaub.“
Die beiden Männer schüttelten sich die Hände.
„Gordon ist für das Schildkrötenschlüpfprojekt verantwortlich“, erklärte sie. „Vor
dem Schlüpfen müssen die Schildkröteneier rund um die Uhr bewacht werden,
damit die Babys sicher ins Wasser gelangen können.“
„Da ist eines, das wahrscheinlich heute Abend schlüpft“, fügte Gordon hinzu.
„Babyschildkröten?“ Angus’ Augen leuchteten vor Aufregung.
„Ich bin heute dran“, sagte Gordon. „Sie dürfen gern vorbeischauen. Das
Problem ist nur, dass in meinem Jeep nur noch für eine Person Platz ist. Wenn
Sie Vierradantrieb haben, könnten Sie mir mit Ihrem Wagen folgen, Ross.“
„Nein, mein Mietwagen hat nur normalen Antrieb.“
„Ich muss auch passen“, bedauerte Kenzie.
Angus blickte sie traurig an. „Ist schon okay. Ich wollte ohnehin nicht mit.“
Und ob er das wollte! Sie überlegte einen Moment. Dann hatte sie eine Idee.
„Gordon, warum nehmen Sie Angus nicht allein mit? Ich habe dieses Jahr schon
drei Babys schlüpfen sehen, und vielleicht hat Ross am Wochenende noch einmal
die Chance.“
„Gerne“, sagte Gordon.
Als unerfahrener Vater zögerte Ross zuerst, obwohl es ihm wichtig war, dass
Angus Neues kennen lernte. Ein wenig hilflos sah er Kenzie an.
Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. Ihre Blicke hielten sich. „Angus könnte
nicht in besseren Händen sein, Ross.“
Ross sah seinen Sohn an. „Angus?“
„Es wird bestimmt ganz toll“, munterte Kenzie Angus auf. Sie wusste inzwischen,
wie scheu der Junge in fremder Umgebung sein konnte. „Mr. Harper hat zwei
Söhne in deinem Alter. Die borgen dir bestimmt eine Taschenlampe. Die
Taschenlampen haben rote Birnen, weil man in der Nähe der Nester keine
normalen weißen Lichter haben darf. Die Babys verwechseln sonst den weißen
Schein mit dem Mondlicht, das sich auf dem Wasser spiegelt, und dann irren sie
orientierungslos umher.“
Wie sie gehofft hatte, war Angus fasziniert. Und als er hörte, dass sich in den
Dünen in einem großen Nest an die hundert Eier befanden, kämpfte er nicht
länger mit sich.
„Okay. Kannst du wirklich nicht mitkommen, Kenzie?“
„Tut mir Leid, mein Junge. Aber wenn du gehst, schützt du die Babys für mich
und deinen Vater gleich mit und kannst uns viel erzählen, wenn du
zurückkommst.“
Dann schlug Kenzie noch vor, Ross solle Angus gegen halb acht zu ihrem Haus
bringen, damit Gordon den Jungen dort abholen konnte.
Nun durfte Ross nicht mehr Nein sagen. Er bedankte sich und blickte Kenzie an,
als sehe er sie zum ersten Mal. „Wir werden da sein.“
5. KAPITEL Kenzie war auf der Terrasse damit beschäftigt, ein Netz zu entwirren, als Ross
und Angus die Auffahrt zu ihrem Haus heraufkamen.
„Wir haben im Lexikon alles über Wasserschildkröten nachgelesen“, plapperte
Angus begeistert drauflos. „He Mann, auf dem Weg zum Wasser können sie von
Krebsen aufgefressen werden. Sie können auch in Radspuren hängen bleiben.
Deshalb müssen wir sie bewachen.“
Lächelnd folgte Ross seinem Sohn. „So geht es pausenlos, seit wir das Cafe
verlassen haben.“
Gegen ihren Willen errötete Kenzie. „Schön, dass du dich schlau gemacht hast,
Angus. Auf diese Weise weißt du auch, wie wichtig dein Job heute Abend ist. Bist
du hungrig oder durstig?“
„Wir haben unterwegs eine Pizza gegessen.“
„Ich packe dir noch eine Flasche Saft ein, falls du am Strand durstig wirst. Und
ein Handtuch. Und ich mache für euch alle ein paar Sandwichs.“
„Darf ich jetzt schon ein Schokoladenplätzchen haben, Kenzie?“
Wie schön, dass Angus da war! „Lass sie erst ein wenig abkühlen. Inzwischen
kannst du ja Zoom und Jazz füttern.“
Sie reichte Angus eine Packung Hundetrockenfutter und begann, in der Küche
aufzuräumen.
Ross kreuzte die Arme vor der Brust. „Sie wirken sehr häuslich, Kenzie.“
Sie lachte. „Das klingt ja, als sei es etwas Besonderes für Sie, eine Frau in der
Küche zu sehen.“
„So ist es. Penelope kochte nicht. Wir hatten eine Haushälterin.“
„Oh.“ Kenzie hatte schon beinahe vergessen, dass es Leute gab, die so lebten.
Wie ihre Eltern. „Haben Sie jetzt auch eine Haushälterin?“
„Nein. Aber wir brauchen eine, wenn Angus in die Schule geht.“
Durch die Tür sah sie, wie sich bei diesen Worten Angus’ glückliche Miene
veränderte. Die Hand, die soeben noch Zoom gestreichelt hatte, fiel herab.
„Okay, die Plätzchen sind so weit!“ versuchte sie den Jungen auf andere
Gedanken zu bringen.
Wenig später klopfte es an der Fliegentür, und ein Rotschopf von zwölf oder
dreizehn Jahren schaute in die Küche. Seine beiden jüngeren Geschwister waren
ihm gefolgt. „Oh, hier duftet es aber toll nach Plätzchen“, riefen sie.
Kenzie machte die Kinder miteinander bekannt. „Wollt ihr Angus abholen?“
Angus’ Augen leuchteten, als er sah, dass einer der Geschwister einen Fußball in
der Hand hielt.
„Spielst du auch Fußball, Angus?“ fragte der Junge.
Er senkte traurig den Blick. „Das durfte ich zu Hause nicht.“
„Kein Problem. Wir zeigen dir, wie es geht, während wir aufs Schlüpfen warten.“
Angus war begeistert. Er wäre den Jungs auch ohne Plätzchen, Getränke und
Handtuch gefolgt. Kenzie konnte ihm gerade noch den Proviantbeutel in die Hand
drücken.
„Also wirklich, Ross. Warum lassen Sie den Jungen denn nicht Fußball spielen?“
fragte sie, sobald Angus außer Sicht war. „Leichter kann man keine
Freundschaften aufbauen…“
„Angus lebte bei seinen Großeltern.“
„Oh.“ Kenzie wartete.
Ross atmete tief durch. „Angus wuchs in einem Stadthaus in London auf. Seine
Mutter hatte bis zu ihrem Tod das Sorgerecht. Jeder Einfluss auf Angus Leben
war mir verwehrt.“
„Aber wenn Sie ihn besuchten…?“
„Keine Besuche.“
Der raue Ton seiner Stimme und seine Miene erschreckten sie. Nur langsam
wurde ihr die Bedeutung seiner Worte klar. Dennoch, sie wollte ihn nicht
drängen. „Möchten Sie einen Kaffee?“ versuchte sie abzulenken. „Aber wenn die
Plätzchen noch warm sind, schmeckt dazu am Besten ein Glas Milch.“
Über die Vergangenheit zu sprechen, tat Ross weh. Er nahm das Glas und den
Teller mit den Plätzchen und folgte Kenzie ins Wohnzimmer. Dort setzte er sich
auf das weiße Sofa. Kenzie nahm auf einem Sessel ihm gegenüber Platz.
Dankbar akzeptierte er ihr Schweigen. Eine andere Frau hätte ihn gedrängt,
mehr von sich preiszugeben.
Nachdem sie die Plätzchen verspeist hatten, brachten sie die Teller in die Küche.
„Ich sollte doch noch einen Kaffee für uns machen“, schlug Kenzie vor. „Es wird
Mitternacht, bevor Angus zurückkommt.“
Aber Ross lehnte dankend ab.
„Wir haben gar nicht überlegt, wie Angus nach Hause kommt“, sagte sie. „Die
Harpers werden ihn ja bei mir absetzen. Ist es Ihnen Recht, wenn ich ihn dann
nach Avon bringe? Dann brauchen Sie den Weg nicht zwei Mal zu machen.“
„Nicht nötig. Ich hatte vor, ihn abzuholen.“
„Okay.“
Ross wusste, er sollte jetzt gehen. Es gab keinen Grund, hier länger
herumzuhängen. Aber das zuvor begonnene Gespräch war noch nicht beendet.
Er blickte auf seine Hände. Jetzt, da Kenzie in der Küche beschäftigt war, fiel ihm
das Reden leichter. „Penelope und ich waren drei oder vier Jahre verheiratet.
Jedenfalls konnten wir die Beziehung so lange aufrechterhalten. Aber an unserem
dritten Hochzeitstag lebten wir bereits getrennt – meine Frau wohnte bei ihren
Eltern in London, ich in meinem Apartment in New York.“
„Hatten Sie da Angus schon?“
„Nein. Mein Schwiegervater versuchte noch, eine Versöhnung zwischen Penelope
und mir zu erreichen, und schickte uns auf eine Kreuzfahrt, um unserer
Beziehung wieder auf die Beine zu helfen.“
„Das war nett von ihm.“
„Sie kennen Sir Edward Archer nicht.“
„Er hat einen Adelstitel? Das hat doch heute kaum noch eine Bedeutung.“
„Als Mann der alten Schule bedeutet ihm das sehr viel. Er nahm die Ehe seiner
Tochter sehr ernst. Wenn ich es mir heute überlege, finde ich es sehr töricht,
dass ich mich auf diese Kreuzfahrt einließ. Aber ich war jung und nicht darauf
erpicht, meiner Frau Alimente zu bezahlen. Außerdem war ich ein Snob, der sich
nicht eingestehen konnte, einen Fehler begangen zu haben…“
„Vielleicht sind Sie ein Snob, Ross Calder, aber sie haben auch Charakter. Ich bin
sicher, wenn keine Liebe mit im Spiel gewesen wäre, hätten Sie der Kreuzfahrt
nicht zugestimmt.“
„Falsch. Ich empfand eine gewisse Verpflichtung…“
„Oh nein. Sie machen auf mich nicht den Eindruck eines Mannes, dem die
Wünsche seines Schwiegervaters wichtiger sind als die eigenen. Wenn Sie
wirklich fertig gewesen wären mit dieser Ehe, hätten Sie die Tickets
zurückgegeben. Sie wollten ihrer Frau und Ihnen noch eine Chance geben.“
„Wertet mich das in Ihren Augen ein wenig auf?“
„Möglicherweise.“
„Ich gehöre also nicht mehr zu den Schlimmsten?“
„Zu den Vorletzten vielleicht.“
Beide mussten lachen. Mit Kenzie kann man sich wirklich locker unterhalten,
dachte Ross. Das tat so gut nach der ganzen schweren Zeit, die hinter ihm lag. „Was passierte dann?“ „Die Kreuzfahrt war ein Desaster. Nach nur zwei Tagen war mir klar, dass sich zwischen Penelope und mir nichts geändert hatte. Sie war genauso egozentrisch, kalt und fordernd wie zuvor. Dennoch gaben wir uns redliche Mühe. Wir tanzten beim Captain’s Dinner, zeigten uns im Casino und bewunderten gemeinsam den Sternenhimmel. Aber Penelope flog schon vom ersten Hafen, den wir anliefen, zu Mummy und Daddy zurück, und ich trauerte ihr nicht nach.“ Kenzie hatte sich zwar vorgenommen, nie mehr Mitleid mit diesem Mann zu haben, aber der Schmerz in seinen Augen war nicht zu übersehen. Ross wirkte unendlich verletzlich. Hatte sie ihn doch falsch eingeschätzt? „Sie können sich wahrscheinlich denken, wie Angus in diese Geschichte hineinpasst. Ich hatte mir erhofft, wieder etwas von der Leidenschaft zu entfachen, die uns in der Vergangenheit verbunden hatte. Angus wurde auf dieser Kreuzfahrt gezeugt.“ Eigentlich wollte Ross Angus aus dem Spiel lassen. Er wollte nicht riskieren, die Kontrolle über seine Gefühle zu verlieren. Kenzie brauchte nicht zu wissen, wie weh es tat, wann immer er über seine Gefühle für seinen Sohn sprach. „Als Penelope von Madeira nach Hause flog, war sie schwanger. Aber sie sah offenbar keinen Grund mehr, mich davon in Kenntnis zu setzen.“ Kenzie stockte der Atem. „Heißt das, sie verheimlichte Ihnen Angus’ Geburt?“ „Ja. Dennoch gab sie mich als Vater an. Angus erhielt meinen Namen. Penelope wollte, dass ihr Sohn die doppelte Staatsbürgerschaft besaß, falls sie irgendwann wieder in den Staaten leben würde. Sie liebte nämlich New York und Palm Beach.“ „Wie fanden Sie heraus, dass Sie einen Sohn haben?“ „Auf einer Geschäftsreise nach Italien begegnete ich zufällig einer Bekannten von Angus’ Großeltern. Von ihr erfuhr ich so ganz nebenbei, dass Penelope zurzeit mit ihrem kleinen Sohn in London lebte.“ „Sie sagten, Sie haben ihn nie besucht.“ „Oh Gott, ich habe versucht, ihn zu sehen. Das können Sie mir glauben.“ Ross räusperte sich. „Noch am selben Tag, als ich von Angus’ Existenz erfuhr, flog ich nach London. Aber er war nicht dort. Penelope weigerte sich nicht nur, mir Angus’ Aufenthaltsort zu nennen, sie leugnete zuerst sogar, dass er mein Sohn war.“ „Letztendlich hat sie Ihnen aber doch gesagt, wo er war?“ „Oh ja. Aber sie verweigerte mir das Besuchsrecht. Ich musste es mir gerichtlich erkämpfen.“ „Unfassbar.“ „Das Schlimmste kommt noch. Angus lebte meist bei seinen Großeltern in Norfolk auf dem Landsitz der Archers. Und dort auch fast immer unter der Obhut einer Haushälterin, da Penelope viel reiste, und die Großeltern den Jungen nicht ertrugen, weil er vermutlich zu laut und zu wild war. Ich hörte, dass er von der Haushälterin und einem Verwalter unterrichtet wurde, statt mit Kindern seines Alters die Schule zu besuchen. Sie verstehen sicher, warum ich zu dem Entschluss kam, er sei bei mir besser aufgehoben.“ „Selbstverständlich. Aus diesem Grund haben Sie das Sorgerecht beantragt?“ „Ja. Irgendwie bekam die Presse Wind von der Geschichte. Da die Archers zur feinen Gesellschaft gehören, ließen sich die Revolverblätter diese pikanten Neuigkeiten nicht entgehen.“ „Ein Medienzirkus begann“, sagte Kenzie tonlos. Wie vertraut ihr das alles war. „Wann war das?“
„Im letzten Winter.“
„Kam Penelope nicht letzten Winter ums Leben?“
Ross nickte. „Als sich die Verhandlungen zuspitzten, und die Presse einen Eklat
erwartete, flog Penelope nach Neapel. Sie wollte allem aus dem Weg gehen,
besonders mir. Zwei Tage später stürzte ihr Flugzeug beim Start zu einem
Rundflug ab.“
Kenzie konnte Ross nur ungläubig ansehen.
„Ich befand mich zu der Zeit nicht in London“, fuhr Ross fort. „Ich war für ein
paar Tage in New York, wo ich mir nach dem Ausscheiden aus der alten Kanzlei
eine neue in Queens einrichtete.“
„Ausscheiden? Ich verstehe nicht ganz?“
„Ich nehme an, Penelope tischte meinem Seniorpartner ein paar gemeine Lügen
auf, denn urplötzlich hielten meine Kollegen mich für eine Belastung.“
„Sie wurden aufgefordert zu gehen?“ Kenzies Stimme zitterte vor Zorn.
„Bitte, beruhigen Sie sich, Kenzie“, sagte Ross lächelnd.
„Ich schätze Ihr Verständnis, aber es war eine Entscheidung auf Gegenseitigkeit.
Ich hatte diese ganzen Sensationsprozesse und die Art, wie meine Kanzlei die
Verteidigung handhabte, irgendwie satt. Es war also kein zu großes Opfer…“
Ross’ Worte wurden vom aufgeregten Gebell der Hunde unterbrochen. Von der
Voliere kam schrilles Vogelgekreische.
„Oh nein.“ Kenzie war schon auf dem Weg zur Tür. „Jemand muss in die Voliere
eingedrungen sein. Holen Sie die Taschenlampe aus der Schublade neben dem
Herd, und folgen Sie mir.“
Draußen in der Voliere kreischten die Vögel noch immer.
„Du lieber Himmel, Waschbären! Ich weiß, ich hätte dieses Drahtgitter heute
Nachmittag befestigen müssen.“
Das Unglück wäre nicht geschehen, hätte sie nicht im Red Drum Cafe gesessen…
Rasch überprüfte sie die einzelnen Käfige. Die Vögel waren aufgeschreckt,
schienen aber unverletzt zu sein. Nur der Bewohner des letzten Käfigs war nicht
zu sehen. Offensichtlich hatten die Waschbären seinen mit einem Kettenschloss
versperrten Auslauf geöffnet. Danach fraßen sie die Fischreste, vergnügten sie
sich am Futtertrog und warfen ihn um.
Der Auslauf war leer. „Ross“, schrie Kenzie. „Wir haben ein Problem. Die
Waschbären haben Smartys Käfig geöffnet. Er ist fort.“
„Smarty? Wer ist Smarty?“
„Das erklär ich Ihnen später. Gehen Sie vom Futtertrog weg, schnell.“
Aber Ross hörte nicht auf sie. Stattdessen begann er, mit einem Eimer die Körner
vom Boden zu schöpfen. Lächelnd stemmte er die Hände in die Hüften und sah
sie an. „Kein Grund, sich aufzuregen. Die Bären sind fort, und es gibt nichts…“
„Ross, bitte…“
„Au.“ Aus dem Dunkel des Raums stürzte sich plötzlich ein brauner Pelikan mit
einem riesigen Schnabel auf Ross’ Hinterteil. Ross reagierte schnell und sprang
zur Seite. Nicht schnell genug.
„Zum Teufel! Kenzie, befreien Sie mich von diesem Vieh!“
Sie schnappte sich ein Handtuch und wedelte damit drohend vor dem Pelikan.
„Bitte, Kenzie, jagen Sie ihn weg.“
„Ich versuche es ja.“
„Schneller!“
Kenzie benutzte das Handtuch, wie ein Torero das rote Tuch, und trieb den
Pelikan damit den Gang entlang. „Öffnen Sie das Gatter, Ross, und lassen Sie
Smarty nicht an sich rankommen.“
„Wenn es sein muss, mach ich ihn fertig.“
„Passen Sie auf…“
„Au, Kenzie. Er hat mich am Ärmel erwischt.“
Gemeinsam gelang es ihnen schließlich doch, den Pelikan in seinen Käfig
zurückzudrängen. Aber es war nicht leicht. Smarty setzte sich erfolgreich zur
Wehr. Er schnappte nicht nur nach Ross’, sondern auch nach Kenzies Arm und
Hinterteil.
Als das Gitter hinter dem Vogel zuschlug, flatterte er dagegen, zischte und
starrte sie wütend aus seinen gelben Augen an.
„Oh Mann.“ Ross sank an der nächsten Wand zu Boden.
„Himmel.“ Kenzie ließ sich auf eine daneben stehende Kiste fallen.
„Sind Sie in Ordnung?“ fragte Ross.
„Ja. Und Sie?“
„Ich versuche gerade herauszufinden, was mehr schmerzt: Mein Hinterteil oder
mein verletzter Stolz.“
Als Kenzie in schallendes Gelächter ausbrach, sah Ross sie verwirrt an. Sein
dunkles Haar war zerzaust, sein Hemd steckte nur noch halb in der Hose. „Was
gibt es da zu lachen?“
„Sie sehen so komisch aus nach dieser Attacke von Smarty.“
„Ich konnte ja nicht wissen, dass er es auf mein Hinterteil absehen würde.“ Nun
musste auch er herzlich lachen.
„Ich… ich habe versucht, Sie zu warnen.“ Sie konnte vor Lachen kaum sprechen.
„Smarty würde für sein Fressen töten.“
Ross half ihr auf. „Himmel, das habe ich gebraucht.“
Mit tränennassen Augen erwiderte Kenzie sein Lächeln. „Ich auch.“
„Danke für das Lachen.“
„Ich müsste Ihnen danken. Für meinen Spaß hat noch nie ein Mann sein
Hinterteil geopfert.“
„Sie glauben, ich hätte das extra für Sie getan?“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie es für ein anderes Mädchen getan
hätten“, erwiderte sie leichthin.
„Das kann ich mir auch nicht vorstellen.“ .
Sie merkte, dass seine Stimme plötzlich verändert klang. Als sie aufblickte,
setzte ihr Herz einen Schlag aus.
„Was tue ich nur mit so einer Frau?“
„Müssen Sie… denn etwas mit ihr tun?“ flüsterte Kenzie.
„Zum Teufel, ja.“
„Was denn?“
Statt zu antworten, umschmiegte Ross Kenzies Gesicht mit beiden Händen und
senkte seinen Mund auf ihre bebenden Lippen.
Oh Himmel.
Der Kuss erschütterte Kenzie bis ins Mark, entbrannte Funken in ihrem
Innersten. Sie umfasste seine Handgelenke, unsicher, ob sie sich näher an seinen
Körper schmiegen wollte. Als sie das wilde Klopfen seines Pulses unter ihren
Fingerspitzen fühlte, ergriff sie unendliches Verlangen.
„Ross…“
Es klang flehend. Sollte er sie freigeben? Niemals aufhören…?
Glückselig seufzend erwiderte sie seine Küsse, die gar nicht mehr unschuldig
wirkten. Kenzie sehnte sich danach, die Arme um seinen Hals zu legen, sich fest
an ihn zu drücken…
Aber dann gab Ross sie abrupt frei. „Oh Mann“, sagte er rau.
Sie blickte ihn nicht an. Vor einem Moment hatte sie vor Lachen kaum Luft
bekommen, nun war sie atemlos vor Verlangen, Unsicherheit – und Scham. Hatte
Ross ihr nicht von Anfang an klar gemacht, dass ihm nichts an ihrer Gesellschaft
lag? Dass sie eine Bedrohung war für seinen Sohn? Aber kaum küsste er sie,
wurden ihre Knie weich, sie erwiderte seine Küsse – und wollte mehr.
Mit hochroten Wangen löste sie sich von ihm. Noch einmal überprüfte sie die
Käfige und eilte zum Haus zurück.
In der Küche stapelte sie das Geschirr in die Spüle. Ross war ihr gefolgt, aber sie
schenkte ihm keinen Blick. Er kicherte leise und drängte sie gegen den
Arbeitstresen. Mit seinen Armen hielt er sie gefangen. Als sie unter ihnen
durchschlüpfen wollte, lächelte er sie mit seinem unwiderstehlichen Calder
Charme an.
„Was willst du?“ Kenzie starrte ihm auf die Brust.
„Du brauchst doch nicht böse zu sein, Kenzie. Einen Anwalt zu küssen, bringt
dich nicht gleich um.“
Gut. Sollte er doch denken, sie sei böse auf ihn. Das war immer noch besser, als
wenn er die Wahrheit ahnte. „Du könntest zumindest so tun, als sei es nicht
komisch gewesen“, schmollte sie.
„Komisch? Glaubst du, ich fände es komisch, dich zu küssen?“
„Immerhin lächelst du, oder?“
„Nur, weil du so entzückend aussiehst, wenn du dich aufregst.“
Sie hatte sich nicht aufgeregt. Sie war total erschüttert von dem unerwarteten
Kuss. Von ihrer unerwarteten Reaktion.
„Kenzie?“
Sie konnte nicht lügen. Nicht, wenn er sie so ansah. „Du hast mich geküsst. Und
dann hast du gesagt, ich sei entzückend.“
„Das stimmt doch.“
„Aber ich dachte, du könntest mich nicht ausstehen.“
„War ich wirklich so hässlich zu dir?“
„Anfangs, ja.“
„Und nun?“
„Eigentlich hat sich nichts wirklich geändert.“
„Wie kannst du das sagen?“
„Du hast so große Angst, verletzt zu werden, dass du alle Menschen auf Distanz
hältst. Besonders mich.“
„Ach Kenz…“ Schmerz schwang in seiner Stimme mit, als er sie traurig ansah.
„Ich sage dir, was ich noch denke.“ Sie holte tief Luft.
„Was?“
„Ich halte es für falsch, mich auf Distanz zu halten. Ich bin nicht Penelope. Ich
bin keine Bedrohung und nehme dir deinen Sohn nicht weg.“
„Wirklich?“ Auf einmal wirkte er gar nicht mehr abweisend. „Du meinst, ich sollte
dich nicht auf Distanz halten.“ Zärtlich umfasste er ihre Hüften. „Dann sag ich dir
jetzt etwas.“
„Was?“
„Dass du Recht hast. Die Distanz ist viel zu groß.“
„Ross“, flüsterte sie, als er sie fest an sich zog.
„Und weißt du, was ich noch denke?“ Seine Lippen waren nur einen Hauch von
ihren entfernt.
„Was?“
„Dass du sehr wohl eine Bedrohung bist.“
„Bedrohung?“
„Für meinen Seelenfrieden und meine Ruhe. Komm. Ich zeige dir, was ich
meine.“
Und dann küsste er sie leidenschaftlich und fordernd. Er drückte sie so fest an
sich, dass sie sein Verlangen spürte. „Siehst du?“ fragte er atemlos.
Sie schlang die Arme um seinen Hals. „Ich sehe, was du meinst. Dein Leiden
kann geheilt werden.“
„Wirklich?“
„Oh ja.“ Kenzie schmiegte sich fest an ihn. „Ich glaube, du weißt schon, wie.“
„Ich zeige es dir, Liebling“, flüsterte Ross. „Und vieles mehr.“
Er hob sie auf seine Arme und trug sie ins Schlafzimmer, ließ sie sanft auf das
Bett gleiten und küsste sie heiß.
Kenzie seufzte leise, während Ross sie entkleidete. Sie genoss das Spiel seiner
zärtlichen Hände, das nun begann.
Aber auch Kenzie durfte nicht untätig bleiben. Als ihre Hände unter sein TShirt
wanderten, wurde ihr klar, wie sehr sie sich danach gesehnt hatte, seinen Körper
zu berühren und zu erforschen.
„Du bist schön“, flüsterte er. Im Licht des Mondes schien sein Blick ihren Körper
bewundernd zu streicheln. „Schöner, als ich es mir vorgestellt habe.“
„Hast du dir denn meinen Körper nackt vorgestellt?“ scherzte sie, bevor die
Leidenschaft sie übermannte.
Das Kondom erforderte nur einen Moment, während Ross zärtlich ihren Namen
flüsterte. Ein leiser Schrei entfuhr ihren Lippen, als er endlich zu ihr kam.
Zauberhafte Gefühle durchströmten sie, als sie sich dann in einem Rhythmus
bewegten, der ihnen beiden die Erfüllung brachte.
Scheinwerferlicht drang in Kenzies Schlafzimmer.
Beinahe in Panik warf sie die Decke zurück. Ross kleidete sich rasch an und eilte
ins Badezimmer.
„Hallo. Ist jemand zu Hause?“ Gordons Stimme war kaum lauter als ein Flüstern.
„Ich bringe einen schlafenden Jungen. Wo soll ich ihn hinlegen?“
„Auf das Sofa“, flüsterte nun auch Kenzie. „Ich komme sofort.“
Gordon hatte es eilig, nach Hause zu kommen, da er seine Kinder auch zu Bett
bringen musste. Einen Drink lehnte er ab. Kenzie und Ross dankten ihm und
begleiteten ihn zur Tür.
Leise gingen sie ins Wohnzimmer und beugten sich über den schlafenden Jungen.
„Wach auf, Angus. Zeit, nach Hause zu fahren.“
„Hm?“
„Ich sagte, es ist Zeit, dass wir in unser Strandhaus fahren, damit du in dein Bett
kommst.“
„Kann ich nicht hier schlafen?“ Angus klang völlig erschöpft.
„Du musst aufstehen, Liebling.“
„Ich will aber nicht.“
Kenzie setzte sich neben ihn. Sie streichelte ihm über das Haar und blickte zu
Ross auf. „Du wirst ihn ins Auto tragen müssen, Ross. Er kann ja kaum die Augen
offen halten.“
„Kenzie?“ murmelte Angus. „Kannst du eine Weile so bei mir sitzen? Das ist so
schön.“
„Sicher.“
Angus seufzte zufrieden. „Das hat noch niemand getan. Wenn ich im Dunkeln
Angst hatte, sagte Mummy immer, große Jungen dürften keine Angst haben.“
Ross, der sich schon vorgebeugt hatte, um seinen Sohn auf die Arme zu nehmen,
zögerte.
„Schlaf weiter“, sagte Kenzie in sanftem Ton zu Angus. „Es ist alles in Ordnung.“
Sie waren sich einig, dass der Junge bei ihr schlafen sollte. Aber so sehr sie auch
versuchte, Ross zum Bleiben zu überreden, er wollte auf keinen Fall die Nacht bei
ihr verbringen.
6. KAPITEL „Kenzie?“
Gähnend öffnete Kenzie ein Auge. Auf der Schwelle zu ihrem Schlafzimmer stand
Angus. „Hm?“
„Wieso bin ich in deinem Haus, Kenzie?“
Sie öffnete auch das andere Auge und hob den Kopf. „Guten Morgen, Angus. Du
bist gestern Abend auf der Couch eingeschlafen.“
„Wirklich? Ich kann mich nicht daran erinnern.“ Angus schaute erwartungsvoll zu
ihrem Bett. „Wo ist mein Dad?“
Sie errötete, obgleich die Annahme des Achtjährigen, Ross könnte die Nacht hier
verbracht haben, sehr unschuldig war. „Er ist nach Hause gefahren. Du sollst ihn
anrufen, sobald du wach bist.“
Während Kenzie das Frühstück zubereitete, Pfannkuchen buk und Schinken und
Eier briet, erzählte ihr Angus von seinen Erlebnissen mit den kleinen
Schildkröten.
„Sie waren so niedlich. Nicht größer als meine Hand. Mr. Harper erlaubte uns
aber nicht, sie anzufassen. Sie sind wirklich sehr ungeschickt und langsam, wenn
sie versuchen, das Wasser zu erreichen.“ Seine Miene wurde traurig. „Er sagte,
es schaffen nur wenige von den erwachsenen Schildkröten, an den Strand
zurückzukommen und Eier zu legen. Viele werden im Meer aufgefressen.“
„Deswegen sind sie vor dem Aussterben bedroht“, erklärte Kenzie. „Es heißt,
dass nicht einmal eines von tausend Schildkrötenbabys das Erwachsenenalter
erreicht.“
„Aber das Baby aus meinem Nest schafft es bestimmt.“
„Ja, ganz bestimmt“, antwortete Kenzie munter. „Möchtest du noch einen
Pfannkuchen?“
„Ja, bitte. So ein gutes Frühstück hatte ich noch nie. Jedenfalls nicht hier. Mein
Dad kocht nicht so gut.“
„Oh?“
„Du verrätst mich aber nicht, oder?“
Kenzie stützte die Ellenbogen auf den Tisch und lächelte ihn an. Ihr Herz schlug
schneller bei dem Gedanken an Ross. „Selbstverständlich nicht. Was bekommst
du denn von ihm zum Frühstück?“
„Verschiedenes. Aber er lässt alles anbrennen. Gestern gab es Müsli. Das war
gut.“
„Das kann ja auch kaum anbrennen, oder? Was gibt es denn in England zum
Frühstück?“
„Würstchen, Eier, manchmal Porridge. Meine Großeltern haben eine Köchin.“
„Wie meine Eltern. Ist eure nett zu dir?“
Angus zuckte die Schultern.
„Unsere war gemein. Einmal schlug sie meinen Bruder, weil er Kuchenteig
genascht hatte.“
Angus verzog die Mundwinkel.
„Ist dir das auch mal passiert?“ drängte Kenzie.
Erneut zuckte der Junge die Schultern.
„Vermisst du England?“
„Hier gefällt es mir gut.“
„Und vermisst du deine Großeltern und deine Mutter?“
Angus starrte auf seinen Teller. „Kann sein.“
Kenzie erhob sich. Sie wollte ihn nicht bedrängen. Offensichtlich war er noch
nicht bereit, sich zu öffnen. „Ich muss mich jetzt um die Vögel kümmern. Willst
du mir helfen, bevor wir deinen Dad anrufen?“
Der Junge sah sie an, als sei ihm gerade ein wunderbares Geschenk versprochen
worden. „Darf ich wirklich?“
„Angus…“ Sie umarmte ihn fest. „Ich fühle mich geehrt, wenn du mir hilfst.“
„Was tun wir zuerst?“
„Zuerst müssen wir…“
Erschrocken zuckten sie zusammen, als vor dem Haus eine Wagentür zuschlug.
Angus blickte aus dem Fenster. „Das ist mein Dad.“
Gleich darauf stand Ross in der Küchentür. „Ich hatte auf einmal das Gefühl,
früher kommen zu müssen. Angus wacht für gewöhnlich vor Sonnenaufgang auf.“
Na wunderbar, Ross hatte wieder seinen Anwaltsblick. Kenzies Blick wich er aus.
Sie zwang sich zu lächeln. „Wir sind gerade mit dem Frühstück fertig.“
„Und ich helfe Kenzie jetzt, ihre Vögel zu versorgen.“
„Ein andermal, Sohn. Du warst lange genug hier.“
„Aber ich bin doch gerade erst aufgewacht.“
Eine reizvolle Logik, aber Ross lächelte nicht. „Kenzie hat viel zu tun, ebenso wie
wir.“
„Aber…“
„Kein Aber. Zieh dir Schuhe und Strümpfe an und bedank dich bei Kenzie, dass
du hier schlafen durftest.“
Als Angus hinauslief, drehte sich Kenzie zur Spüle um. Sie war entschlossen, sich
nicht einzumischen. Bei Ross’ Anblick hatte ihr Herz zuerst einen freudigen
Purzelbaum geschlagen, aber nun tat es weh. Wenn er es nach gestern Abend für
erforderlich hielt, wieder diese eisige Wand zwischen ihnen zu errichten, wollte
sie nicht protestieren. Aber es fiel ihr schwer…
Schon war Angus wieder da. „Danke, Kenzie“, flüsterte er.
„Gern geschehen, mein Junge.“
Sag etwas, schienen seine Augen zu flehen.
Ich wünschte, mir fiele etwas ein, antwortete ihr Herz. Auch seinem Vater hätte
sie gern geholfen.
„Ich danke dir wirklich, dass Angus die Nacht hier verbringen durfte.“ Ross sah
Kenzie absichtlich nicht an. Wegen Angus – und auch seinetwegen. Kenzie
verstand, dass er fürchtete, sie könnte für Angus noch wichtiger werden. Aber
was bedeutete sie für Ross? Hielt er die letzte Nacht für einen Fehler?
Er nahm seinen Sohn bei der Hand und führte ihn zur Treppe. „Nochmals vielen
Dank, Kenzie.“
„Bis bald dann.“ Sie wünschte, sie hätte den Mut gehabt, ihn zur Rede zu stellen,
ihn zu fragen, was mit dem Mann passiert war, mit dem sie letzte Nacht
geschlafen hatte. Hatte er ihr nicht das Gefühl gegeben, als würde sie ihm
wirklich etwas bedeuten?
War dies ein Abschied für immer? In etwas mehr als einer Woche würden die
beiden nach New York abreisen. Ein verängstigter Junge und ein einsamer Mann,
und sie sah keine Möglichkeit, auch nur einem von beiden zu helfen.
Es geht dich nichts an, MacKenzie Daniels. Erziehungswissenschaft ist nicht mehr dein Beruf. Vergiss nicht: Du bist jetzt Cartoonistin. Zuerst wollte Kenzie ihre Mutter anrufen. Aber dann fiel ihr ein, dass ihr Vater das Haus um diese Tageszeit noch nicht verlassen haben würde. Sie versuchte zu zeichnen, wartete jedoch vergebens auf die Muse, die sie küssen sollte. Überdies regnete es. Großartig, murmelte sie und blickte zum Himmel. Damit fällt auch das Joggen am Strand ins Wasser. Verdarb der Regen auch Ross’ und Angus’ Pläne? Das geht mich überhaupt nichts an.
Kenzie langte nach der Fernbedienung und stellte den Fernseher an. Eine Weile zappte sie durch die verschiedenen Kanäle, bis ein vertrautes Gesicht und eine ebenso vertraute Stimme sie plötzlich aufmerken ließ. „… der Unterausschuss gab zu diesem Thema entsprechende Empfehlungen. Und ich werde darauf bestehen, dass sie auch ausgeführt werden.“ Brent Ellis. Im Interview einer BusinessSendung vom CNN. Fit sah er aus und umwerfend attraktiv, in seinem Hugo BossAnzug mit der gestreiften seidenen Krawatte. Im Vergleich zu Ross’ rauen Gesichtszügen wirkte Brents Gesicht nahezu vergeistigt. Kenzie hatte ihn einmal für den attraktivsten Mann der Welt gehalten. Sie schloss die Augen und ließ seine Stimme auf sich wirken. Sie war einmal sehr verliebt gewesen in Brent. Es hatte sie unendlich verletzt, als er ihre Verlobung löste, weil er es vorzog, sich auf die Seite ihres Vaters zu stellen. Aber während sie jetzt sein Gesicht musterte, fühlte sie nichts als Verachtung. Nein, diesen Mann wollte sie nicht mehr. Und plötzlich war ihr klar, dass sie nie so verliebt in ihn gewesen war wie in Ross Calder. Himmel, Kenzie! Beim Anblick von Brents edlem Gesicht erinnerte sie sich an Ross Calders Umarmungen, seine zärtlichen Küsse, sexy Koseworte, die sie weit mehr erregt hatten, als die ihres Verlobten es jemals vermocht hätten. Du verliebst dich nicht in ihn. Aber es half überhaupt nichts.
Erneut langte sie nach der Fernbedienung und seufzte. Der Interviewer war
gerade im Begriff, die Sendung zu beenden und wünschte Brent alles Gute auch
für seine private Zukunft, er sei ja ein heftig umschwärmter Junggeselle,
woraufhin Brent breit in die Kamera grinste. Nun, wenigstens macht er nicht den
Eindruck, als ob der Schmerz über meinen Verlust ihn niedergerungen hätte,
dachte Kenzie noch sarkastisch, bevor sie den Fernseher wieder ausschaltete.
An diesem Tag änderte sich weder das Wetter noch Kenzies trübe Laune. Auch
am nächsten Morgen regnete es, und Kenzies Stimmung besserte sich nicht.
Während sie die Vögel versorgte, stellte sie sich mehrmals die Frage, ob es ihr
wohl besser gehen würde, wenn Ross sie erst gar nicht geküsst hätte.
Nicht, dass sie sich direkt nach Ross verzehrte. Dennoch musste sie immer
wieder einen Blick ins Schlafzimmer werfen, wenn sie im Haus war. War sie
eigentlich noch ganz bei Sinnen? Erwartete sie denn, Ross liege in ihrem Bett?
Auch auf dem Anrufbeantworter befand sich keine Nachricht. Sie blickte auf die
Uhr. Beinahe Nachmittag. Was unternahmen Ross und Angus an einem Regentag
wie diesem?
Wieso interessierte sie das? Wieso erwartete sie einen Anruf von ihnen?
Sie war gerade auf dem Weg zur Küche, als das Telefon läutete. Sie freute sich
aufrichtig, die Stimme ihres jüngeren Bruders Tad zu hören. Meist beschränkten
sich ihre Gespräche auf belangloses Geplauder, aber heute erkundigte sich
Kenzie nach ihrem Vater. „Ist Dad inzwischen zur Vernunft gekommen?“
Tad seufzte. „Du weißt genau, dass das nicht passieren wird.“
„Was hat er vor? Wie geht es Mom?“
„Sie planen ein Fest am Labor Day auf der Farm.“
Die ,Farm’ war der Familienbesitz in einer östlichen Meeresbucht von Maryland.
Das alljährliche Grillfest der Familie Daniels am Labor Day war in ganz Washington berühmt, unter den Gästen waren sogar einige ehemalige Präsidenten. „Ich bin nicht eingeladen“, sagte Kenzie. Pause.
„Vielleicht sollte ich einfach aufkreuzen.“
„Ach, Kenzie…“
„Ich weiß schon. Moms Herz würde es nicht verkraften.“
Jetzt tat es ihr Leid, dass sie überhaupt nach ihren Eltern gefragt hatte. Sie
sprachen noch ein paar Minuten über Brent Ellis’ Karriere und bevorstehende
Hochzeit, dann legten sie auf. Kenzie blieb noch eine Weile am Telefon stehen
und grübelte, ob sie nicht einfach ihre Mutter anrufen und ihren Besuch für den
Labor Day ankündigen sollte, ganz gleich, was ihr Vater, Burt, Stuart oder David
dazu sagen würden.
Kaum hatte sie aufgelegt, als das Telefon erneut läutete.
Ross’ Stimme: „Kenzie?“
„Ross, Hallo!“
„Könntest du mir vielleicht einen großen Gefallen tun?“
„Sicher.“
„Würde es dir etwas ausmachen, morgen für ein paar Stunden auf Angus
aufzupassen? Ich muss zu einem Gespräch mit einem Klienten nach Virginia
Beach. Wenn ich mir die Karte so anschaue, dürfte die Fahrt etwa zwei Stunden
dauern. Angus wird sich sicher langweilen, wenn ich ihn mitnähme.“
„Nein, das würde er nicht. In Virginia Beach gibt es ein Wachsfigurenkabinett,
Gokarts, ein Aquarium und…“
„Ich habe aber keine Zeit, ihm das alles zu zeigen.“
„Ach so.“
„Aber du könntest es tun.“
„Wie bitte?“
„Warum kommst du nicht mit? Machst dir einen schönen Tag? Und ich führe euch
zum Schluss zum Abendessen aus?“
Nein, nein, nein, meldete sich Kenzies Stimme der Vernunft.
Ja, ja, ja! schrie ihr Herz freudig erregt.
„Oder ist das zu viel verlangt, Kenzie?“
Ross zu sehen, mit ihm im Auto zu fahren, ein gemeinsames Abendessen, dazu
noch den ganzen Tag mit Angus zu verbringen, statt an ihrem Zeichenbrett zu
arbeiten?
„Du willst mich mitnehmen?“
„Angus würde sich darüber riesig freuen.“
Und du? Kenzie hatte nicht den Mut zu fragen.
„Dann fahren wir um sieben Uhr los. Ist das zu früh?“
„Nein. Soll ich zu deinem Haus kommen?“
„Ausgezeichnet.“ Ross gab Kenzie seine Anschrift, dankte ihr und legte auf.
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, nahm ihren Bleistift in die Hand, machte
sich an die Arbeit und begann leise vor sich hin zu summen.
Die Sonne schien, und eine leichte Brise wehte, als Kenzie ihren Wagen vor Ross’
Sommerhaus zum Stehen brachte. Das Haus stand auf Pfählen hinter den Dünen.
Eilig kletterte sie die beiden Treppen zur Terrasse hinauf.
„Kenzie.“ Angus warf sich in ihre Arme. „Gehst du wirklich mit mir in ein
Wachsfigurenmuseum?“
„Wenn dein Dad es erlaubt, selbstverständlich.“ Beim Anblick seines lächelnden
Mundes mit der frechen Zahnlücke, wurde ihr bewusst, wie sehr sie das Kind
vermisst hatte.
Bewundernd schaute sich Kenzie um. „Das ist ja wunderschön hier.“ Die Küche
war beinahe drei Mal so groß wie ihre. „Ein tolles Haus.“
„Findest du?“ Ross schaute um die Ecke. Bei seinem Anblick setzte Kenzies Herz
einen Schlag aus. Zur dunklen Hose trug er ein hellgraues Hemd, dazu eine
sportliche Krawatte.
Leger, aber dennoch unglaublich wirkungsvoll.
In diesem Moment überwältigten sie mit Macht die Gefühle, die sie so mühsam
verdrängt hatte, und weckten bittersüßes Verlangen. „Heute betrete ich zum
ersten Mal eines dieser eleganten Häuser.“ Sie wandte sich ab, damit ihre Augen
sie nicht verrieten.
„Für uns zwei ist reichlich Platz“, stimmte Ross ihr zu. „Ich danke dir, dass du
gekommen bist.“
„Und ich freue mich, dass ich helfen kann.“
Kenzie schlenderte auf die Terrasse. Sie musste einen Moment allein sein, um
sich zu sammeln. Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich. Nach unserer
Liebesnacht scheint Ross viel weniger Probleme mit unserer Beziehung zu haben
als du…
Wenig später saßen sie in Ross’ Mietwagen. Kenzie hatte darauf bestanden, dass
Angus vorn neben seinem Vater saß. Auf diese Weise brauchte sie Ross nicht zu
nahe zu sein. Zudem konnte sie von ihrem Platz die breiten Schultern und das
lockige schwarze Haar bewundern. Und wenn sie ihren Kopf ein wenig vorbeugte,
konnte sie auch seine Hände am Steuer sehen. Große Hände, die ihren Körper
neulich Nacht so zärtlich erregt hatten…
„Wo findet deine Verabredung statt?“ erkundigte sie sich rasch.
Ross reichte ihr eine Straßenkarte von Virginia Beach. „Leider kann ich dir das
Auto nicht überlassen. Deshalb muss ich euch irgendwo absetzen. Auf dem
Rückweg rufe ich euch an, damit wir einen Treffpunkt ausmachen können.“
„Du kannst uns irgendwo am Strand rauslassen. Wir mieten uns Fahrräder und
fahren die Promenade entlang.“
Angus runzelte die Stirn. „Ich kann aber nicht Rad fahren.“
„Das brauchst du auch nicht. Sie haben dort ganz spezielle Räder, auf denen man
zu zweit nebeneinander sitzt. Sie sehen aus wie Golfwagen, du brauchst nur zu
treten.“
Angus richtete sich sogleich auf. „Sind wir bald da?“
„Ich fürchte, es dauert noch eine Weile.“ Kenzie wühlte in ihrem Rucksack. „Aber
damit du dich nicht langweilst, habe ich dir Kopfhörer und eine Hörkassette
mitgebracht.“
„Was ist eine Hörkassette?“
„Das ist ein Buch zum Anhören. Diese hier heißt Der kleine Hobbit. Kennst du das
schon?“
Angus schüttelte den Kopf.
„Ist das schon für ihn geeignet?“ fragte Ross.
„Für Tolkien kann man nicht jung genug sein. Und das ist ein Klassiker.
Außerdem“, fügte sie hinzu, während sie die Kassette einlegte, „dauert die
Geschichte dreieinhalb Stunden.“
Ross beobachtete, wie sich sein Sohn zurücklehnte und die Kopfhörer aufsetzte.
„Daran hätte ich nie gedacht“, sagte er.
„Glaube mir, wenn du einmal ein paar Stunden mit einem unruhigen Kind im
Auto verbracht hast, vergisst du das nie im Leben wieder.“
„Spricht da die erfahrene Erzieherin?“
„Genau.“
„Wie viele Geschwister hast du, Kenzie?“
„Vier Brüder. Ich bin das einzige Mädchen. Und du?“
„Ein älterer Bruder.“
„Ist er auch Anwalt?“
Sein Blick begegnete ihrem im Rückspiegel. „Er ist Polizeichef in einer kleinen
Stadt im Bundesstaat New York. Hast du auch etwas gegen diesen Beruf?“
Als er ihr zuzwinkerte, spürte Kenzie, wie ihre innere Anspannung nachließ.
„Nein. Polizist ist wirklich ein sehr ehrenwerter Beruf.“
„Nicht anders als das Verteidigen der Gesetze und das Verhindern von
Justizirrtümern.“
„Eins zu null für dich.“
Auf einmal war ihr ganz leicht ums Herz. Es war das erste Mal, dass ihre
Unterhaltung nicht durch die Erwähnung von Ross’ Anwaltsberuf getrübt worden
war. In schweigendem Einvernehmen fuhren sie über die Stadtgrenze von
Virginia Beach.
Sie brauchten nicht lange auf eine Auseinandersetzung zu warten. Ross parkte
am Straßenrand der Atlantic Avenue und zog sein Portemonnaie hervor.
„Wie viel Geld wirst du benötigen, Kenzie?“
„Wofür?“
„Für das Aquarium, Fahrzeug, Mittagessen. Was auch immer.“
„Danke. Aber wir kommen zurecht.“
„Du brauchst Bargeld. Das wird ein kostspieliger Tag.“
„Kein Problem. Ich habe genug eingesteckt“, erwiderte sie.
„Aber du beaufsichtigst meinen Sohn. Du brauchst nicht für ihn zu bezahlen.“
„Angus ist heute mein Gast.“
„Aber ich habe dich gebeten mitzukommen.“
Als bezahlter Babysitter? Kam gar nicht infrage. Kenzie schob das Kinn vor. „Das
ist nicht nötig, Ross.“
„Himmel, Kenzie. Lass mich doch bitte bezahlen.“
„Nein.“
„Sei doch nicht so eigensinnig.“
„Du bist eigensinnig.“
„He!“ Angus richtete sich auf. „Hört endlich auf, euch zu streiten.“
„Wir streiten nicht“, widersprach Ross mit gepresster Stimme.
„Doch. Wir streiten.“ Kenzie schaute Ross zornig an.
Als sie jedoch Angus’ ängstliche Augen sah, lenkte sie ein. „In Ordnung, Ross.
Ich zahle für das Mittagessen und das Aquarium. Du übernimmst den Rest.“
„Abgemacht.“
Ross musste lachen und reichte ihr das Geld. „Ein ausgezeichneter Kompromiss,
Miss Daniels.“
Seinem Lächeln konnte Kenzie noch nie widerstehen. Soeben noch hätte sie ihm
am liebsten einen Schlag auf die Nase versetzt, nun fühlte sie, wie tausend
Schmetterlinge in ihrem Bauch flatterten. „Komm schon“, drängte sie Angus.
„Gehen wir.“
Ross blickte ihnen nach. Was sollte er nur mit dieser Frau machen? Wie lange
konnte er noch vortäuschen, dass sie ihm gleichgültig sei? Sie wirkte so
natürlich, schön und unschuldig mit ihrem lachenden Mund, den leuchtenden
Augen…
Ja, sie wirkte unschuldig. Und nur so hatte es geschehen können, dass er sie in
einem schwachen Moment geküsst hatte. Das war nicht gerade klug gewesen,
wie sich herausstellte. Der erste impulsive Kuss führte zum nächsten, weniger
harmlosen. In dem Augenblick, als Kenzie seine Handgelenke umfasste, hatte er
gespürt, dass sie ihn begehrte. Und als ihre Lippen sich seinem Kuss öffneten,
war ihm klar, auch er begehrte sie.
Mit aller Leidenschaft. Mit ihr zu schlafen war zauberhafter und befriedigender als
alles, was er zuvor erlebt hatte. Seitdem konnte er an nichts anderes mehr
denken.
Aber wegen Angus musste er seine Gefühle unter Kontrolle halten. Er konnte sich wahrlich nicht genug auf seine VaterSohnBeziehung konzentrieren, wenn er sich nach einer Frau wie Kenzie verzehrte. Schließlich war es nur rein körperliches Verlangen. Oder etwa nicht? Tagsüber, wenn er sich mit seinem Sohn beschäftigte, und abends, wenn er sich seinen laufenden Projekten widmete, fiel es ihm nicht schwer, die Gedanken an Kenzie zu verdrängen. Erst gestern hatte ihn Delia angerufen und darüber informiert, dass Matt Klausners seine Mutter in Virginia Beach besuchen wollte. Der Fall Klausner war eines der beiden größeren Strafverfahren, an denen Ross momentan beteiligt war, und er wollte trotz seines Urlaubs die Chance nutzen, sich mit Matt Klausner zu treffen. Das Problem der Beaufsichtigung seines Sohnes hatte sein Sohn selbst gelöst. Er hatte vorgeschlagen, bei Kenzie zu bleiben. Ruhige, tüchtige Kenzie. Wenn Ross seinen Sohn irgendjemandem auf den OuterBankInseln anvertrauen konnte, dann ihr. Selbstverständlich akzeptierte er Angus’ Vorschlag nicht, weil er einen Vorwand brauchte, um Kenzie wiederzusehen. Nein, und er saß jetzt auch nicht hier in seinem Wagen und wünschte sich, den Tag mit ihr und seinem Sohn zu verbringen, statt einem Klienten hinterherzufahren. Lächerlich geradezu. Und um das alles sich selbst zu beweisen, legte er rasch den Gang ein und gab Gas, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Inzwischen hatten sich Kenzie und Angus geeinigt, zuerst das Aquarium zu besichtigen. Anschließend wollten sie auf einem dieser Mieträder mit zwei Sitzen und rot gestreiftem Baldachin den Strandweg entlangfahren und zum Essen ein Restaurant aufsuchen. Angus strahlte. „Super.“ Auf dem Weg zum Aquarium läutete Ross’ Handy in Kenzies Rucksack. Er hatte ihr den Apparat gegeben, damit er sie nach dem Termin anrufen und einen Treffpunkt vereinbaren konnte. „Dein Dad scheint etwas vergessen zu haben.“ Kenzie nahm den Apparat und meldete sich: „Hallo?“ „Entschuldigen Sie“, meldete sich eine weibliche Stimme. „Ich habe mich wohl verwählt.“ „Suchen Sie Ross Calder?“ „Ja. Mit wem spreche ich?“ „Mit MacKenzie Daniels. Ich benutze heute sein Handy.“ „Oh, Miss Daniels. Wie nett, Sie zu sprechen.“ Die Stimme der Frau wurde deutlich herzlicher. „Ich bin Delia Armstrong, Mr. Calders Assistentin. Ist er da?“ „Er hat eine Verabredung mit einem Klienten. Angus und ich machen inzwischen eine Spazierfahrt am Strand.“ „Das freut mich. Aber ich wollte Mr. Calder eigentlich noch vor diesem Treffen sprechen.“ „Er gab mir die Telefonnummer…“ „Die habe ich schon. Vielen Dank. Und herzliche Grüße an Angus.“ Nachdenklich steckte Kenzie das Handy wieder in den Rucksack. Woher wusste Delia von ihrer Existenz? Warum hatte Ross mit seiner Assistentin über sie gesprochen?
7. KAPITEL Das Handy klingelte erneut, als Kenzie und Angus nach dem Mittagessen in ihrem
Fahrzeug über den Strandweg radelten.
Diesmal war es Ross.
„Ich bin schon auf dem Rückweg. Wie läufts?“
„Super.“ In Kenzies Stimme schwang ein Lächeln mit. Sie war glücklich, ihn zu
hören.
„Großartig. Wo treffen wir uns, Kenzie?“
„Dort, wo du uns abgesetzt hast. Gegen zwei? Wir müssen noch die Räder
zurückbringen.“
Kenzie stellte das Handy aus. „Das war dein Dad. In einer Dreiviertelstunde ist er
da.“
„Bleibt uns noch Zeit, in den Drachenladen zu gehen, Kenzie?“
„Darauf kannst du dich verlassen.“
Angus hatte die vielen bunten Drachen bewundert, die in exotischen Formen von
Walen, Flugzeugen oder sogar Würfeln über dem Strand schwebten. Kenzie hatte
sich vorgenommen, Angus einen zu schenken, ganz gleich, was er kosten würde.
Immerhin hatten sie sich dank eines solchen Drachen kennen gelernt.
Und mit einem Drachen würde sie sich verabschieden…
Angus machte sich die Wahl nicht leicht. Schließlich entschied er sich für einen
preisgünstigen Drachen mit blaugrünem Körper und gelben und purpurfarbenen
Bändern.
„Wirklich cool“, sagte Ross, als er ihn sah.
Angus wollte diesmal unbedingt im Fond sitzen, um mit dem Drachen zu spielen
und dabei die Kassette zu hören. Also setzte sich Kenzie an Ross’ Seite.
„Deine Nase ist ja ganz verbrannt.“
„Wir waren auch lange am Strand.“
Ross hatte eigentlich sagen wollen, dass er ihre Nase süß fand, ließ es aber sein.
„Wie war es im Aquarium?“
Angus erzählte voller Eifer, was sie gesehen und erlebt hatten. Als er schließlich
die Kopfhörer aufsetzte und verstummte, sahen Kenzie und Ross sich lächelnd
an.
„So ist es immer.“
„Was?“
„Nun, dass er unentwegt plappert, wenn du in der Nähe bist.“
„Ross…“
„Darüber bin ich nicht böse. Ich bin dir dankbar.“
Sie musterte ihn staunend. „Das nenne ich einen Fortschritt. Wenigstens meinst
du jetzt nicht mehr, es wäre nicht gut für Angus, mit mir zusammen zu sein.“
„Inzwischen akzeptiere ich eben, dass ich nicht so… so geschickt bin.“ Er
räusperte sich. „Das liegt sicher daran, dass ich kein richtiges Vorbild hatte.“
„Sprichst du von deinem Vater?“
„Ja. Er verließ meine Familie, als ich drei Jahre alt war, und überließ es meiner
Mutter, meinen Bruder Alex und mich aufzuziehen.“
„Das tut mir Leid.“
„Oh, ich tue mir eigentlich nicht Leid. Ich wünschte mir nur für meine Beziehung
mit Angus mehr Erfahrung.“
Kenzie hätte ihn am liebsten umarmt und ihm versichert, dass er und Angus seit
ihrer ersten Begegnung am Strand von Avon schon große Fortschritte im Umgang
miteinander gemacht hatten. Stattdessen blickte sie ruhig aus dem Fenster.
Ross hatte wegen seines Vaters eher Scham als Trauer empfunden.
Wahrscheinlich war er deshalb so gut auf dem Gebiet des Familienrechts.
Verantwortungslose Väter vor Gericht zu bringen, das milderte seinen Schmerz
ein wenig.
„Ross?“
Er fühlte Kenzies Hand auf seinem Arm. Die Berührung war sanft wie ihre
Stimme.
„Hm?“
„Geht es dir nicht gut?“
„Warum sollte es mir nicht gut gehen?“
„Du wirkst so abwesend. Und du… fährst ein bisschen schnell.“
„Entschuldige.“ Er nahm den Fuß vom Gas.
Er atmete tief durch und versuchte, sich unter Kontrolle zu bringen. Wenn er
nicht sofort eine Wand zwischen diese sensible liebevolle Frau und sich aufbaute,
würde er noch einen richtigen Narren aus sich machen. Er musste sie vergessen.
In wenigen Tagen kehrte er bereits nach New York zurück. Außerdem verachtete
sie Anwälte, misstraute ihm und hielt ihn möglicherweise für einen völlig
unfähigen Vater.
Er biss die Zähne zusammen. „Kenzie, ich habe eigentlich versprochen, euch
heute Abend zum Abendessen auszuführen. Wärst du mir sehr böse, wenn wir
darauf verzichteten? Ich habe noch eine Menge Arbeit wegen dieses Verfahrens.“
„Kein Problem.“
„Danke.“
Sie drang nicht weiter in ihn, obwohl ihr das Herz wehtat. Während der letzten
Tage hatte sie sehr viel über diesen Mann erfahren, vielleicht mehr, als ihr lieb
war. Denn das Problem war, je mehr sie über ihn wusste, umso schwerer fiel es
ihr, sich nicht in ihn zu verlieben.
Später plauderten sie über Ross’ bevorstehende Unternehmungen mit Angus. Er
plante noch eine Kajaktour und Hochseefischen – allerdings ohne Kenzie. Danach
blieben nur noch wenige Tage bis zu ihrer Abreise. Kenzie würde Vater und Sohn
wahrscheinlich nie wiedersehen.
Schon bog Ross in die Auffahrt zu seinem Haus. Angus gab Kenzie die Kopfhörer
und Kassetten zurück. Er bat sie, ihm am nächsten Tag mit seinem neuen
Drachen zu helfen, aber sie lehnte schweren Herzens ab. Sie sagte, sie müsse
arbeiten und ihre Vögel versorgen. „Bis bald, mein kleiner Freund“,
verabschiedete sie sich und gab sich alle Mühe, locker zu klingen.
Der Junge bedankte sich noch einmal. „He Mann, ich hatte echt Spaß, Kenzie.
Vielen Dank für den schönen Tag.“
Während sie ihren Schlüssel suchte, drehte sie sich zu Ross um. „Ich hatte auch
einen schönen Tag. Danke, dass ihr mich mitgenommen habt.“
„Ich habe zu danken“, sagte er. „Und was den Drachen betrifft…“
„Der ist ein Geschenk für Angus.“
Ross folgte ihr zu ihrem Wagen. „Er hatte doch gerade erst Geburtstag… Lass
mich…“
„Kommt nicht in Frage.“ Sie steckte den Schlüssel in den Anlasser. „Das ist ein
Souvenir.“
„Ein Abschiedsgeschenk.“
„Etwas in der Art.“ Ihre Stimme klang rau.
„Nochmals, Danke, Kenzie.“
„Wir sehen uns.“
Sie blickte nicht zurück. Tränen schwammen in ihren Augen. Man brauchte kein
Genie zu sein, um zu wissen, dass dies der Abschied war.
Ross blickte dem Pickup nach. Ein Gefühl innerer Leere und Zweifel übermannte
ihn. Er war kein Narr. Niemand musste ihm sagen, dass dies der Abschied war.
Müde und erschöpft kehrten Ross und Angus vom Hochseefischen nach Hause
zurück.
„Vielleicht solltest du ein Mittagsschläfchen halten“, schlug Ross vor.
Aber Angus fand, er sei zu groß dafür. Er kletterte auf den Barhocker in der
Küche und schaute in die Kühlbox. „Wir haben einen tollen Fisch gefangen,
nicht?“
Ross war anderer Meinung, hütete sich aber, das zuzugeben. „Der Schönste, den
ich je gesehen habe.“
„Und er wird köstlich schmecken.“
„Sicher.“ Eine weitere Lüge.
Angus runzelte die Stirn. „Du weißt doch, wie man ihn zubereitet, oder?“
„Nun… ja.“
Angus’ Miene hellte sich auf. „Ich wette, Kenzie kennt sich aus damit. Können wir
sie nicht fragen, ob sie ihn für uns zubereitet? Ich verspreche dir auch zu baden
und ein bisschen zu schlafen, bevor sie kommt.“
„ Okay, ich rufe sie an.“
Ross hörte schon das Badewasser einlaufen, als er den Wagen leer räumte. Dann
rief er gleich bei Kenzie an.
Er ließ es fünf Mal klingeln. Sechs Mal…
Kenzies Stimme klang atemlos. Ross war erleichtert. „Kenzie? Hier ist Ross. Hast
du heute Abend schon etwas vor?“
„Warum?“
„Wir kommen gerade vom Fischen. Angus war riesig erfolgreich. Er bestand
darauf, einen Fisch mit nach Hause zu nehmen und zu verspeisen.“
„Um was für einen Fisch handelt es sich denn?“
„Es ist ein Red Snapper.“
„In Ordnung. Was wiegt er denn?“
„Ungefähr sechs Pfund.“
„Himmel. Habt ihr ihn filettieren lassen?“
„Glücklicherweise ja.“
„Und nun wollt ihr, dass ich komme und ihn zubereite?“
„Wenn es dir nichts ausmacht?“
Kenzie zögerte. „Bist du sicher, dass es dir nichts ausmacht?“
„Glaube mir, ich bin auf immer und ewig in deiner Schuld.“
Mit einem Korb voller Lebensmittel erschien Kenzie gegen sechs Uhr im
Strandhaus. Angus hatte sie schon erwartet und rannte ihr entgegen.
Erst zwei Tage waren vergangen, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Kaum
zu glauben, wie sehr sie den Jungen vermisst hatte. Und was Ross betraf…
Der nahm ihr lächelnd den Korb ab. „Danke, dass du gekommen bist.“
Sie erwiderte sein Lächeln. „Danke, dass du mich angerufen hast.“
Sie trug Shorts und ein blaues TShirt, das das Blau ihrer Augen besonders
betonte. Die Haare hatte sie mit einer dunkelblauen Klammer zu einem
Pferdeschwanz zusammengenommen. Unglaublich süß und natürlich sieht sie
aus, dachte Ross. Was für eine atemberaubend sexy Kombination!
Stolz führte Angus Kenzie zum Kühlschrank. „Hier ist mein Fisch. Kannst du den
kochen, Kenzie?“
„Sicher. Und zwar auf eine Art, die dir sicher gut schmeckt. Hast du schon einmal
Mexikanisch gegessen?“
Angus schüttelte den Kopf.
„Das meinst du doch nicht im Ernst?“
Kenzie warf Ross einen fragenden Blick zu.
„Ich dachte, mexikanisches Essen sei ungesund. Zu viel Käse, saure Sahne und
Bohnen“, verteidigte sich Ross.
Sie packte die Zutaten aus. „Nicht diese Art.“
Angus deutete auf eine Packung. „Was ist das?“
„Das sind Teigplatten. Heute Abend gibt es Fischtacos.“
Nun runzelte sogar Ross die Stirn. „Fischtacos?“
Kenzie musste über die Mienen von Vater und Sohn lachen, die sich in diesem
Moment sehr ähnlich sahen. „Spottet ihr zwei ruhig. Aber wartet, bis ihr sie
gekostet habt.“ Ihr Herz jubelte. Seit sie auf die OuterBankInseln gezogen war,
hatte sie nicht mehr für andere gekocht. In dieser komfortablen Küche zu
kochen, während die Sonne unterging und das Meer rauschte, war ein Traum. Ein
Traum, der auch den Mann und den Jungen einschloss, die nahe bei ihr am
Tresen lehnten und zusahen.
Die zwei übernahmen kleinere Handreichungen, während Kenzie die Zutaten für
die Marinade mixte.
„Essen Wir auf der Terrasse?“ fragte der Junge. „Das haben wir noch nie
gemacht.“
„Gern. Du kannst schon den Tisch decken.“ Kenzie reichte ihm die Teller und
Bestecke und beobachtete, wie er sie sorgfältig arrangierte.
Ross trat zu ihr und folgte ihrem Blick. „Angus ist so aufgeregt.“
„Es ist auch etwas Besonderes, einen Fisch zu essen, den man selbst gefangen
hat.“ Sie machte den Fehler, sich beim Sprechen umzudrehen und prallte gegen
Ross’ breite Brust. Irritiert hob sie das Kinn, wollte ihm in die Augen sehen. Aber
sie sah nur seinen Mund. Ihr stockte der Atem. Himmel, sie hatte ganz
vergessen, wie erregend es war, ihm so nahe zu sein!
„Was passiert, wenn ich diese Fischtacos nicht mag?“ Ross’ Blick war fest auf ihre
Lippen gerichtet.
„Dann darfst du sie auf die Terrasse werfen“, murmelte Kenzie atemlos. „Die
Waschbären werden begeistert sein.“
„Ich möchte nicht noch einmal mit den Waschbären konfrontiert werden.“
„So wenig wie mit dem Pelikan, vermutlich.“
Er lächelte, aber seine Augen hielten ihren Blick. Und auf einmal wusste Kenzie,
dass er in diesem Moment an dasselbe dachte wie sie, an den Kuss von neulich
Abend und an das, was folgte…
Ich wünschte, du würdest mich wieder küssen, flehte sie insgeheim.
„Kenzie…?“
Nun konnte sie ihrem Verlangen nicht länger widerstehen und streichelte ihm
ganz sacht über eine Wange.
Er führte ihre Hand an seine Lippen. „Kenzie“, flüsterte er.
Da öffnete sich die Fliegentür, und Angus kam herein. „Was kann ich noch
helfen?“
Der Zauber löste sich. Kenzie drehte sich errötend um. Nicht zum ersten Mal war
Ross froh, dass sein Sohn für Ablenkung sorgte…
„Kochen macht Spaß“, sagte Angus. „Was kommt jetzt?“
„Die Soße. Hier. Die Papayas und Mangos habe ich schon zu Hause zerkleinert.
Gib etwas von der Soße darüber.“ Ross beobachtete die beiden und stellte
zufrieden fest, dass er zumindest heute Abend nicht an der VaterSohn
Beziehung arbeiten musste. Auch wegen der Fischtacos brauchte er sich keine
Sorgen zu machen. Vorzüglicheres Essen hatte er selten gekostet. „Ich könnte
mich daran gewöhnen“, scherzte er, als er das dritte Mal zulangte. „Schade, dass
wir nicht früher daran gedacht haben, auf der Terrasse zu essen.“
Kenzie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Sie genoss die kühle Abendbrise. „Es ist
wunderschön hier. Ich liebe es, beim Essen dem Meeresrauschen zu lauschen.“
„Ich auch“, meldete sich Angus und lachte. „Können wir morgen nicht auch hier
draußen frühstücken?“
Ihr Herz schlug schneller. „Oh ja, das macht ihr beide mal!“
„Und du?“
„Ich fahre nach dem Abwasch wieder nach Hause.“
„Warum kannst du nicht über Nacht bleiben? Wir haben einen Whirlpool auf der
Terrasse. Den könnten wir alle zusammen benutzen.“
Ross’ Stuhl schrammte über den Terrassenboden. „Kenzie muss doch
frühmorgens ihre Vögel füttern.“
„Oh, das hatte ich vergessen.“
Kenzie wagte nicht, Ross anzuschauen. Schweigend nahm sie die Teller und
Schüsseln vom Tisch.
„Gibt es jetzt Nachtisch?“ fragte Angus.
„Tut mir Leid, mein Junge. Ich habe keinen mitgebracht.“
„Du wolltest doch einmal Schokoladenplätzchen mit mir zusammen backen. Das
können wir jetzt tun.“
„Dafür fehlen mir die richtigen Zutaten.“
Ross schlug einen Spaziergang zu dem kleinen Supermarkt vor, der nicht weit
entfernt auf der anderen Seite der Hauptstraße lag.
Kenzie willigte ein. Damit konnte sie Ross beweisen – und sich selbst natürlich
auch –, dass sie durchaus fähig war, die sexuelle Anziehungskraft zwischen ihnen
zu ignorieren.
Die ersten Sterne glänzten schon am Himmel. Zu dieser späten Stunde war der
Laden leer. Kenzie schickte Ross und Angus zur Milch und Käsetheke, während
sie an anderer Stelle Kakao, Vanille und Backpulver suchte.
Warum hatte sie sich bloß bereit erklärt zu bleiben? Ich muss ja verrückt sein,
redete sie vor sich hin.
Du weißt, warum. Sie beschloss, nur noch die Plätzchen zu backen, für Ross und Angus das Rezept
aufzuschreiben und anschließend sofort nach Hause zu fahren.
Die beiden warteten schon an der Kasse auf sie. „Wir haben Eis eingepackt, das
können wir dann mit den Schokokeksen essen.“
„Eis? Kommt nicht infrage.“
Angus blickte seinen Vater verschmitzt an. „Dad hat schon gesagt, dass du kein
Eis magst.“
„Es geht nicht darum, was ich mag“, sagte Kenzie. „Aber…“
„Hast du Angst, dick zu werden?“ Ross lachte.
„Wie bitte?“
„Dad sagte, wir könnten es ruhig mitnehmen. Du würdest aber bestimmt sagen,
dass du davon dick wirst.“
Kenzie schaute Ross herausfordernd an. „Was für einen MachoUnsinn bringst du
ihm eigentlich bei?“
„Siehst du, Angus, sie lässt sich schon erweichen.“
„Woran merkst du das denn?“
„Sie kann sich ja kaum das Lachen verbeißen.“
„Das ist nicht wahr. Lass das überhebliche Grinsen, Ross Calder.“
„Heißt das, wir dürfen das Eis kaufen?“
„Bitte, Angus. Bring es zurück. Zufällig ist es auch noch die kalorienreichste
Marke.“
„Weißt du was?“ Ross zwinkerte ihr zu.
„Nein.“
„Du bist einfach süß, wenn du dich aufregst.“
„Aha. Jetzt willst du dich bei mir einschmeicheln, damit ich meine Meinung
ändere.“
„Es ist einen Versuch wert.“
„Darf ich Ihnen vielleicht einen wohlmeinenden Rat geben?“
Gleichzeitig drehten sie sich zu der Frau an der Kasse um.
„Bitte.“ Kenzies Augen lachten.
„Sie sehen alle drei nicht gerade aus, als müssten Sie auf Ihr Gewicht achten. Sie
sind offensichtlich eine gesunde Familie, und Sie machen Ferien. Da dürfen Sie
sich doch ein bisschen verwöhnen, oder?“
Kenzie klappte den Mund zu. Das war nicht gerade die Antwort, die sie erwartet
hatte.
„Wir nehmen das Eis“, sagte Ross. Plötzlich wirkte er auch nicht mehr so
glücklich.
„Sie hält uns für eine Familie“, freute sich Angus beim Verlassen des Ladens.
„Ich weiß“, gab Kenzie mit zusammengebissenen Zähnen zu.
„Da hat sie sich eben getäuscht.“ Ross zuckte die Schultern.
Aber sie wusste, dass ihm die Situation ebenso peinlich war wie ihr. Nicht nur,
weil die Frau unterstellte, dass sie verheiratet waren. Sondern weil Angus so
freudig darauf reagiert hatte.
Nachdem Kenzie die Schokoladenplätzchen in den Ofen gegeben und den Timer
eingestellt hatte, wollte sie endlich nach Hause fahren.
„Willst du denn keine Kekse?“ fragte Angus.
„Es ist schon spät, Kleiner.“
„Aber im Fernsehen kommt gleich Raumschiff Enterprise. Bleib doch hier, und
sieh dir die Sendung mit uns an.“
Diesen großen blauen Augen hatte sie noch nie widerstehen können. Außerdem
wollte sie überhaupt nicht in ihr leeres Haus zurück… „In Ordnung“, gab sie
schließlich nach. „Aber nur, wenn du versprichst, während der Sendung den
Mund zu halten. Raumschiff Enterprise habe ich nämlich besonders gern.“
„Du bist ein Fan von Mister Spock?“ fragte Ross belustigt.
„Von Anfang an.“
„Wie immer, Miss Daniels. Wie immer sind Sie für eine Überraschung gut.“
8. KAPITEL „Weißt du, was mir am Besten an deiner Geschichte gefallen hat, Kenzie?“ fragte
Angus schläfrig.
Nachdem die Plätzchen und das Eis verzehrt waren, hatte Kenzie versprochen,
Angus zu Bett zu bringen und ihm eine GuteNachtGeschichte zu erzählen. Ross
hatte allerdings so seine Bedenken, weil sie von einem Pelikan namens Smarty
handeln sollte…
Aber Kenzie ließ sich nicht davon abbringen.
Sie saß auf Angus’ Bettkante und glättete liebevoll die Bettdecke. „Nun, was hat
dir am Besten gefallen, mein Junge?“
„Dass mein Dad lachte, als Smarty ihn gebissen hat. Ich hatte Angst, mein Dad
würde versuchen, ihm wehzutun.“
„Warum sollte er das?“
„Weil er manchmal sehr wütend sein kann.“
Sie runzelte die Stirn. „Ich habe ihn noch nie wütend gesehen. Er hebt noch nicht
mal die Stimme.“
Angus schwieg. Im Dunkeln war sein Gesichtsausdruck nicht zu sehen.
„Warum glaubst du, dein Dad würde Smarty etwas antun wollen?“
„Weil… Mum sagte immer, sie konnte nach meiner Geburt nicht bei Dad bleiben,
weil er oft wütend wird, und weil er keine Tiere mag.“
„Tatsächlich? Was meinst du, warum sie das gesagt hat?“
„Ich weiß es nicht.“
Aber sie konnte es sich sehr gut erklären. Kein Zweifel, als Angus alt genug war
zu verstehen, dass er keinen Vater hatte, begann er Fragen zu stellen. Und diese
Fragen beantwortete Penelope mit hässlichen Lügen.
„Was hat sie noch über ihn erzählt – über deinen Vater, meine ich?“
„Dass er mich nicht haben wollte. Deshalb hat er uns nie besucht.“
„Verstehe.“ Kenzie konnte die Wut über dieses unfaire Verhalten Ross gegenüber
kaum unterdrücken. Schließlich hatte Penelope Ross von Angus bewusst fern
gehalten. „Hast du denn gern bei deinen Großeltern in London gelebt?“
„Ich glaube.“ Aber Angus’ Ton drückte etwas anderes aus.
Kenzie kaute auf der Unterlippe. „Und in Norfolk? Du sagtest, du bist dort
geboren. Lebtest du dort mit deiner Mutter?“
„Meine Mum kam während der Sommerferien.“
„In den Ferien?“
„Ja. Aber sie blieb nie lange. Granny war überhaupt nicht gern dort. Deshalb
wohnte ich dort meistens allein.“
„Wer hat sich um dich gekümmert?“
Zum ersten Mal klang Angus Stimme fröhlicher. „Mr. Perkins.“
„Wer ist Mr. Perkins?“
„Der Gärtner. Er lebte in einer Hütte etwas weiter unten am Hügel. Er hat auch
eine Tochter. Die heißt Claire. Claire sieht dir ähnlich, Kenzie, und sie war auch
so nett wie du. Sie schalt nie mit mir, wenn ich etwas zerbrach, mich schmutzig
machte, oder meinen Pudding nicht essen mochte.“
So wie seine Mutter und seine Großeltern mit ihm gescholten hatten. Strenge
Großeltern, für die Angus eine Belastung war. Die ihn in das alte Landhaus
schickten, ihm verboten herumzutoben, Fußball zu spielen und nicht zuließen,
dass er all die wundervollen Erfahrungen sammelte, die für kleine Jungen so
wichtig sind.
Kein Wunder, dass Angus an jenem Tag, als er Kenzie zum ersten Mal am Strand
begegnete, gleich Zuneigung zu ihr fasste. Sie gehörte offenbar zu der winzig
kleinen Gruppe Erwachsener, die freundlich zu ihm waren.
Und was Ross betraf… Ihr tat das Herz weh. Wie sollte er sich von dem
schlechten Ruf befreien, den er allein Penelope zu verdanken hatte? Seine Ängste
und Unzulänglichkeiten als Vater hatten zudem dazu beigetragen, dass er in den
Augen seines Sohnes kalt und bedrohlich erscheinen musste.
„Kenzie?“
„Ja?“
„Weinst du?“
„Oh nein, mein Lieber. Mir ist nur etwas ins Auge geflogen.“ Sie beugte sich über
den Jungen und küsste ihn. „Schlaf jetzt schön. Du bist ja schon beinahe im Land
der Träume.“
„Kenzie?“
„Ja?“
„Morgen ist unser letzter Tag hier. Kommst du mich besuchen?“
„Selbstverständlich. Also, gute Nacht.“
Leise schloss sie die Tür und ging nach unten. Sie holte ihre Handtasche und eilte
an der Küche vorbei zur Hintertür. „Es war ein schöner Tag“, rief sie Ross zu.
„Danke, dass ihr mich angerufen habt.“
„Warte einen Moment.“
Aber Kenzie lief weiter.
Ross holte sie auf der Terrasse ein, ergriff ihren Arm und drehte sie zu sich
herum. Im Schein der erleuchteten Küche sah er die Tränen in ihren Augen.
„Kenzie? Was ist los?“
„Nichts“, murmelte sie.
„Unsinn. Geht es um Angus?“
„Nein. Ja. Komm, lass mich einfach gehen.“
„Erst musst du mich anschauen.“
Sie hob das Gesicht. „Du weinst doch.“ Zärtlich wischte er ihr die Tränen von den
Wangen. „Möchtest du mir nicht sagen, worum es geht?“
In diesem Ton hatte er noch nie mit ihr gesprochen. Wie dumm, wie unsäglich
dumm von mir, dachte Kenzie, jetzt muss ich erst richtig weinen. „Es ist wirklich
nichts“, versuchte sie ihn zu beruhigen. „Aber der Abschied fällt mir eben schwer.
Ich bin ein sentimentales Weib, bitte schenk’ mir keine Beachtung.“
„Ach Kenzie…“ Er lachte rau auf, hob ihr Kinn an und sah ihr tief in die Augen.
Die Berührung war sanft und weckte Gefühle, die sie zu ignorieren versuchte.
Unmöglich.
Etwas in ihrem Gesichtsausdruck musste sich verändert haben, denn Ross wurde
plötzlich ernst. Er trat einen Schritt zurück und schob die Hände in die
Hosentaschen. „Es ist besser, du gehst jetzt.“
„Warum?“ flüsterte sie. „Was ist?“
„Nichts… Ach was, zum Teufel mit allem.“ Ohne Vorankündigung zog er sie in
seine Arme. „Ich kann das nicht aushalten, Kenzie“, flüsterte er. „Ich kann nicht
länger gegen dich ankämpfen.“
Erleichtert schluchzte sie auf, als Ross sie leidenschaftlich küsste. Endlich.
Endlich. Sie schlang die Arme um seinen Hals und genoss den Kuss, der kein
Ende nehmen wollte.
„Du schmeckst so wunderbar“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Nach Meer und Sonne.
Oh, wie hatte ich mir diesen Kuss gewünscht.“
Tief in ihrem Innern weckte sein zärtlicher Ton heiße Gefühle. Sie begehrte
diesen Mann, liebte ihn – mehr, als sie geglaubt hatte.
Wie bitte? Sie liebte ihn? Ja, sie konnte sich nicht länger etwas vormachen.
„Schlaf mit mir, Ross.“
Er gab ihren Mund frei. „Bist du sicher?“
Ja, sie war sicher. Sie zitterte vor Erwartung. „Du nicht?“
Seine Augen leuchteten voller Begehren, als er sie auf seine Arme hob und sie
erneut zärtlich küsste. Dann fragte er kaum hörbar: „Angus?“
„Schläft wie ein Baby.“
Diesmal lachte er wirklich, tief und sexy, so dass Kenzie ein heißer Schauer über
den Rücken lief.
Ross’ Schlafzimmer lag ein wenig abseits von der Küche, eine geräumige Suite
mit einem großen weichen Bett. Eng umschlungen sanken sie auf die weißen
Laken. Mit verlangenden Blicken schaute er auf sie herab.
Zärtlich berührten seine Lippen die pulsierende Stelle an ihrem Hals, während
seine Hand unter ihre Bluse glitt. Kenzie hielt einen Moment die Luft an, als seine
Finger sanft über die zarten Spitzen ihrer Brüste streichelten. Dass er die Knöpfe
ihrer Bluse geöffnet hatte, war ihr gar nicht bewusst gewesen. Unter
leidenschaftlichen Küssen streifte er ihr die Shorts und den Slip über die Hüften
und entledigte sich blitzschnell seiner Kleidung.
Er zog sie fest an sich und rollte sie auf den Rücken. Als sie sein heftiges
Begehren spürte, seufzte sie leise. Behutsam schob er mit dem Knie ihre Beine
auseinander. „Ich will dich, Liebes“, murmelte er an ihren Lippen. „Ich habe
versucht, es zu verdrängen, aber es fiel mir so verflixt schwer…“
„Ich weiß“, flüsterte Kenzie. „Ross, bitte…“
Langsam, unendlich langsam kam er zu ihr. Zitternd vor Verlangen bog sie sich
ihm entgegen. Er nahm sich Zeit. Dann bewegte er sich immer schneller in ihr,
bis sie meinte, jeden Augenblick in den Flammen der Leidenschaft zu
verbrennen.
„Ross…“
Sie war nicht sicher, ob sie seinen Namen ausgesprochen hatte, aber er zog sie
fest an sich, und in diesem Moment wurden Lust und Verlangen übermächtig…
„Hm.“ Kenzie beugte den Kopf zurück und schaute hinauf zu den Sternen. Das
Wasser plätscherte leise um ihren erhitzten Körper. „Daran könnte ich mich
gewöhnen.“
„In einem Bad zu sein, oder nackt bei mir?“
Sie schaute ihm in das spitzbübisch grinsende Gesicht. „Natürlich nackt und in
einem Bad ganz nahe bei dir.“
Ross zog sie lachend an sich. Beinahe gewichtslos lag ihr Körper an seinen
geschmiegt. Zärtlich drückte er ihren Kopf an seine breite Brust. Nie zuvor hatte
sich Kenzie so vollkommen zufrieden gefühlt.
Sie legte ihre Wange an sein Herz und streichelte sanft über seine Schulter.
„Angus fragte mich vorhin, ob ich ihn morgen besuchen komme.“
„Wirklich, das überrascht mich nicht im Geringsten.“
„Ich versprach zu kommen.“
„Gut. Das heißt, du fährst jetzt auch nicht nach Hause.“
„Du meinst, ich soll die Nacht hier verbringen?“
„Warum nicht?“
„Weil es unpassend wäre. Angus…“
„… wäre glücklich, wenn er morgen früh aufwacht und dich in meinem Bett
findet.“
Aber Kenzie glaubte, vernünftig sein zu müssen. „Tut mir Leid. Nein.“
„Ehrlich gesagt, ich würde dich auch gern in meinem Bett finden, Liebes.
Überhaupt, warum sollen wir bis morgen früh warten?“
„Ross, was tust du da?“
Lachend hob er sie auf seine Arme und trug sie ins Haus. „Du in meinem Bett –
das Bild gefällt mir. Deshalb bringe ich dich dorthin. Aber nicht zum Schlafen…“
Diesmal ließen sie sich noch mehr Zeit. Erwartungsvoll genossen sie die Küsse
und Umarmungen. Kenzie lernte, wie sanft Ross’ Hände sein konnten, wie lustvoll
seine Lippen, die einen Weg von ihrem Hals über ihre Brüste und weiter abwärts
zeichneten…
Sie glaubte, nicht genug von seinen Liebkosungen bekommen zu können.
Dennoch ließ sie sich später nicht überreden, bis zum Morgen bei ihm zu bleiben.
Nicht nur wegen Angus. Sie hoffte, sich in ihren eigenen vier Wänden wieder
einigermaßen unter Kontrolle bringen zu können. Das wollte sie Ross aber nicht
erklären. Er akzeptierte ohnehin, dass sie die Vögel füttern musste.
Das Telefon läutete, als sich Kenzie gerade auf den Weg zur Voliere machte.
„Guten Morgen, du Schöne.“
„Ross.“ Ihre Wangen röteten sich vor Freude beim Klang seiner Stimme. Alle
Erinnerungen an die zauberhafte Nacht wurden wieder wach. „Ist etwas nicht in
Ordnung?“
„Warum sollte etwas nicht in Ordnung sein?“
„Es ist erst halb acht.“
„Ich habe dich doch nicht aufgeweckt, oder?“
„Nein. Aber…“
„Gut. Ich wollte nur fragen, ob ich kurz zu dir kommen und mit dir reden darf.“
„Wann denn?“
„Jetzt gleich. Nur ein paar Minuten – ohne Angus. Er schläft noch. Die
Wirtschafterin der Mietagentur schaut inzwischen nach ihm.“
Ross wollte mit ihr allein sprechen…
„Um was geht es denn?“
„Warten wir, bis ich bei dir bin.“
Ihr Herz schlug einen Purzelbaum. Sie hatte keine Ahnung, was Ross ihr sagen
wollte. Aber sie wusste, er war nicht der Typ, der Spielchen spielte. Ross Calders
Art war geradeheraus und auf den Punkt genau!
Er klopfte an die Tür, als sie Kaffee kochte. Beinahe hätte sie vergessen, Luft zu
holen, als er ihr durch das Fliegengitter zulächelte. Um ihre plötzlich
aufkommende Schüchternheit zu verbergen, trocknete sie sich die Hände ab. Erst
dann bat sie ihn herein.
„Du siehst toll aus“, sagte er zur Begrüßung.
„Danke. Du auch. Komm herein und setz dich. Möchtest du einen Kaffee?“
„Bitte.“
Sie schenkte ihm Kaffee ein und stellte einen Teller mit kleinen Brötchen vor ihn
hin. „Möchtest du Honig oder Marmelade?“
„Ich möchte, dass du aufhörst herumzuwuseln.“
Sie erwiderte sein Lächeln und gab Sahne in ihren Kaffee. „Also, weshalb wolltest
du mich sehen?“
Bildete sie es sich nur ein, oder wirkte Ross auf einmal nervös?
„Du weißt ja, dass Angus und ich morgen Abend nach New York zurückkehren,
nicht wahr?“
Sie nickte.
„Nun, ich habe viel über meine Zukunft nachgedacht. Über Angus, und wie er da
hineinpasst. Ich bin häufig im Gericht und mindestens zwei Mal im Monat
geschäftlich auf Reisen.“ Er rührte in seiner Tasse und räusperte sich. „Ihr beide
kommt blendend miteinander aus, und nach dem gestrigen Abend habe ich das
Gefühl, dass du mich inzwischen weniger ablehnst als anfangs.“
Beim Anblick seines Lächelns wurden ihre Knie weich. Wenn sie jetzt noch nicht
sicher gewesen wäre, dass sie sich in ihn verliebt hatte, so wüsste sie es jetzt.
Sein schiefes, ein wenig unsicheres Lächeln wärmte ihr Herz. „Für einen Anwalt
bist du ziemlich in Ordnung.“
„Ich möchte dich etwas fragen, Kenzie, und du brauchst mir nicht gleich zu
antworten. Denke zuerst darüber nach. Es wäre eine enorme Verantwortung…“
Kenzies Herz setzte einen Schlag aus.
„… und es würde dein Leben verändern. Nicht zum Schlechteren, hoffe ich.“
Du lieber Himmel, machte Ross ihr einen Heiratsantrag?
„Kenzie…“ Über den Tisch ergriff er ihre Hände. Er klang so aufgeregt wie ein
Schuljunge, der ein Mädchen zum ersten Rendezvous einlädt. Und gerade dafür
liebte sie ihn so sehr.
„Worum geht es, Ross? Was willst du mich fragen?“
Sein Blick hielt ihren. „Würdest du mit uns nach New York gehen und Angus’
Kindermädchen sein?“
Sie zuckte zusammen. Totenstille herrschte im Raum.
„Ich weiß, mein Vorschlag kommt unerwartet“, sagte er rasch. „Deshalb möchte
ich dir auch Zeit lassen zu antworten.“
Er stand auf und begann, hin und her zu gehen. „Vielleicht helfen dir bei deiner
Entscheidung ein paar Fakten. Ich werde mein Apartment in der Stadt aufgeben
und in einen Vorort ziehen, wahrscheinlich irgendwo auf Long Island. Dort gibt es
für Angus eine größere Auswahl an Schulen, ein ländlicheres Leben, sogar mit
Fußballplatz. Dein Gehalt wird nicht gerade überragend sein, aber du erhältst
Wohnung, Verpflegung und deinen eigenen Wagen.“
„Ich habe bereits einen Wagen.“
„Diesen altersschwachen Truck?“
Kenzie schwieg.
„Ich habe Angus nichts von meinem Plan gesagt. Ich wollte nicht, dass er sich zu
große Hoffnungen macht, falls du ablehnst.“
Kenzies Herz verkrampfte sich bei dem Gedanken an Angus. Dennoch schwieg
sie.
„Du würdest ihm so gut tun, Liebes. Du gibst ihm die Ruhe und Stabilität, die er
so dringend benötigt.“
Liebes. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals.
„Dass du gut kochen und hervorragend mit Kindern umzugehen verstehst,
brauche ich nicht extra zu erwähnen.“
„Würde es zu meinen Pflichten gehören, mit meinem Boss zu schlafen?“
Ross begann zu kichern, wurde jedoch sofort ernst, als er ihre Miene sah. „Was
ist los, Kenzie?“
Sie umklammerte fest ihren Kaffeebecher. Ross sollte ihre zitternden Hände nicht
sehen. „Ich brauche keinen Job. Ich mag den, den ich habe.“
„Den kannst du ja behalten. Ich werde darauf achten, dass du in dem neuen
Haus einen extra Raum zur Verfügung hast, wo du ungestört zeichnen kannst.“
Kenzie barg ihr Gesicht in den Händen.
„Kenzie, Himmel, ich dachte, du würdest dich freuen, nach New York zu ziehen.
Sieh doch mal, in was für einem Haus du hier lebst…“
„Ich mag diese Hütte.“
„Aber sie ist… sie ist…“
„Sie ist was, Ross? Klein, schäbig? Sollte ich mich für sie schämen? Und was
mich anbetrifft: Glaubst du, Geld, Wohnung und Auto sind für mich ein Schritt
nach oben? Klingst du deshalb so selbstgerecht, weil du glaubst, du tust der
armen Seele hier etwas Gutes? Du bist ein verdammter Snob!“
„Oh, du liebe Güte, Kenzie.“ Ross fuhr sich verzweifelt durchs Haar. „So habe ich
das doch nicht gemeint. Ich dachte…“
„Nun, dann hast du eben etwas Falsches gedacht.“
„Zum Teufel. Es tut mir Leid. Ich dachte, du würdest dich über die Chance
freuen.“
Kenzie hob das Kinn. „Es ist besser, du gehst jetzt.“
Ross starrte sie nur an. Plötzlich wurde ihr klar, dass er wirklich nicht wusste,
warum sie sein wundervoller Antrag dermaßen verletzte.
Antrag. Was für eine Närrin ich doch bin. „Kenzie…“
„Bitte, Ross.“
Er eilte zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um. „Versprichst du, noch
einmal darüber nachzudenken?“
„Das ist nicht erforderlich.“
9. KAPITEL Kurz entschlossen hatte Kenzie für eine Woche ihre Freundin Julia in Ocean City
in Maryland besucht, wo sie vor einem Jahr, nach dem Bruch mit ihrem Vater,
Zuflucht gefunden hatte. Aber nun war sie bereits seit einer Woche wieder in
Buxton.
Ruhig lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück und betrachtete kritisch ihre Arbeit.
Künstlerisch akzeptierte sie die Karikaturen, nur das Thema erschien ihr ziemlich
deprimierend. Aber seit ihrer Rückkehr strahlten all ihre Zeichnungen etwas
Dunkles aus.
Sie seufzte und stand auf. Mittlerweile war es Ende Juli. Der Labour Day stand
bevor. Julia hatte versucht, sie davon abzubringen, diesen Tag gemeinsam mit
ihrer Familie zu verbringen. „Du kannst im Augenblick nicht noch mehr Kummer
ertragen“, hatte sie gesagt.
Kenzie hatte Julia nichts von ihrem Liebeskummer erzählt, doch das war auch gar
nicht nötig, Julia konnte offenbar zwei und zwei zusammenzählen.
Die Klimaanlage in ihrem Schlafzimmer brummte so laut, dass Kenzie fast das
Telefon überhört hätte. Im dämmrigen Flur stolperte sie beinahe über die
schlafenden Hunde. Rasch nahm sie den Hörer ab.
„Hallo?“
„Mrs. Daniels?“ Kenzie glaubte, die Stimme zu kennen.
„Ja?“
„Hier spricht Delia Armstrong, Ross Calders Assistentin. Wir haben schon einmal
miteinander gesprochen.“
„Ja“, sagte Kenzie und versuchte freundlich und nicht misstrauisch zu klingen.
„Könnten Sie mir wohl einen großen Gefallen tun, Miss Daniels? Mr. Calder ist
verreist, und ich kümmere mich um seinen Sohn.“
Ein Gefühl der Eifersucht durchströmte Kenzie. Sie hatte eigentlich nie eine
Erklärung erhalten, was Delia Armstrong für Ross bedeutete – oder für Angus.
„Was kann ich für Sie tun, Mrs. Armstrong?“ War diese Delia möglicherweise
Ross’ Geliebte?
„Angus fieberte heute den ganzen Tag, und nun ist er übermüdet und fühlt sich
elend. Aber er will einfach nicht ins Bett gehen und schlafen. Ich habe schon alle
Tricks versucht, die ich sonst so erfolgreich bei meinen Enkeln anwende.“
Delia Armstrong war bereits Großmutter? Na ja, dann wäre der Punkt Geliebte ja
wohl abgehakt.
„Ich dachte, ob Sie vielleicht mit Angus reden könnten. Er spricht so viel von
Ihnen, und ich hoffte, Ihre Stimme könnte ihn ein wenig aufmuntern.“
Kenzie schmolz dahin. „Von Herzen gern.“
Einen Moment später hörte sie Angus’ Stimme. „Kenzie?“
„Hallo, mein Kleiner. Du klingst ja furchtbar. Hast du Kopfschmerzen? Ich soll dir
Grüße von Smarty bestellen.“
Angus lachte, aber seine Stimme klang matt. Kenzie wünschte sich so sehr, ihn
in die Arme zu schließen.
„Dein Dad ist verreist, ja? Lässt Mrs. Armstrong dich denn in seinem Bett
schlafen?“
„Meinst du, das lässt sie zu?“ Auf einmal klang seine Stimme viel
hoffnungsfroher.
„Warum nicht? Frag sie. Ich habe das immer gemacht, wenn meine Eltern
verreist waren. Allerdings musste ich dann das Bett mit meinem Bruder und dem
Hund teilen.“
Der Junge lachte erneut. Einen Moment entfernte er sich vom Telefon. Als er
zurückkehrte, klang er schon viel glücklicher. „Sie sagt, ich darf.“
„Großartig. Bitte sie doch, das Licht anzulassen.“
„Das tue ich.“ Kenzie hörte die Erleichterung in seiner Stimme. Nein, sie hatte
nicht vergessen, dass Angus im Dunkeln Angst hatte, es aber nicht zugeben
mochte.
„Kenzie? Wann kommst du uns besuchen?“
Sie schloss die Augen. „Ach, das weiß ich nicht. Vielleicht, wenn es nicht mehr so
heiß ist.“
„Bringst du dann Zoom und Jazz mit?“
„Keine schlechte Idee. Aber jetzt möchte ich, dass du erst mal ins Bett gehst und
schläfst. Das ist der beste Weg, gesund zu werden.“
„Okay.“
„Gute Nacht.“
„Kenzie?“
„Ja?“
„Rufst du morgen wieder an?“
Sie zögerte. „Warum rufst du nicht mich an?“ Sie wollte auf alle Fälle vermeiden,
Ross am Apparat zu haben.
„Okay.“
„Gute Nacht.“ Kenzie legte auf.
Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal so einsam gefühlt
hatte.
Wenig später rief Delia Armstrong erneut an. „Jetzt schläft er. Wie soll ich Ihnen
nur danken? Ich hatte ihn noch nie so traurig gesehen.“
Kenzie tat das Herz weh. „Armer kleiner Kerl. Wann kommt Ross… Mr. Calder
zurück?“
„Morgen Abend. Er ist in Philadelphia.“
„Geschäftlich?“ Es ging sie zwar nichts an, aber sie war unendlich begierig,
Neuigkeiten über ihn zu erfahren.
„Mr. Calder führt dort ein Vorstellungsgespräch mit einem Kindermädchen für
Angus. Die Frau wurde ihm von einem Freund empfohlen, dessen Kinder
inzwischen erwachsen sind.“
„Verstehe.“
„Ist etwas nicht in Ordnung, Miss Daniels?“
„Alles okay.“ Kenzie räusperte sich. „Sagte er Ihnen, dass ich diesen Job
abgelehnt habe?“
„Er hat nicht einmal erwähnt, dass er ihn Ihnen angeboten hat.“ Delia klang
überrascht. „Seit der Rückkehr aus dem Urlaub spricht er überhaupt nur wenig,
im Gegensatz zu Angus, der ständig von Ihnen erzählt.“ Sie lachte. „Woraus ich
schließe, dass Sie für Angus so etwas wie eine Heldin sind.“
„Bitte nennen Sie mich Kenzie.“ Etwas anderes fiel ihr in diesem Moment nicht
ein. Offensichtlich hatte Ross keine Zeit vergeudet, sie aus seinem Gedächtnis zu
streichen.
Tränen schwammen in ihren Augen, und sie beeilte sich, zum Ende zu kommen.
„Ich freue mich, dass ich Ihnen mit Angus helfen konnte. Bitte rufen Sie mich an,
wann immer Sie mögen. Das gilt natürlich auch für Angus.“
„Gern.“ Daniela dankte ihr noch einmal. Ihre Stimme klang besorgt.
„Gute Nacht, Mrs. Armstrong.“
„Für Sie Delia. Und ich hoffe, wir… oh, da läutet es auf der anderen Leitung. Das
wird Mr. Calder sein. Er wird sich nach Angus erkundigen. Darf ich ihm sagen,
dass wir beide miteinander geplaudert haben?“
„Bitte nicht.“ Schweren Herzens beendete Kenzie das Gespräch.
Als der August mit seinen starken Sommergewittern kam, verbrachte Kenzie viel Zeit an ihrem Zeichenbrett. Dabei ließ sie den TVWetterkanal niemals aus den Augen. Die Saison der Wirbelstürme hatte im Frühling begonnen, aber auf den OuterBankInseln waren Stürme auch im Spätsommer und Frühherbst keine Seltenheit. Dennoch, als die Sturmwolken sich zusammenbrauten, war es nicht der dunkle Himmel, der das Unheil ankündigte, sondern ein weiterer Anruf von Delia Armstrong. Kenzies Magen verkrampfte sich, als sie hörte, dass Delia erneut ihre Hilfe benötigte. Die ältere Frau, die das letzte Mal so ruhig und sicher am Telefon gewirkt hatte, schien den Tränen nahe. „Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll“, sagte sie schließlich. „Aber ich muss wohl ganz offen sein. Es sieht so aus, als verlangten Penelopes Eltern Angus zurück.“ „Das verstehe ich nicht.“ „Sie haben das Sorgerecht für Angus beantragt. Mr. Calder war außer sich, als er darüber informiert wurde. Deshalb bringt er Angus jetzt zu seinem Bruder nach Cheltenham. Ich weiß nicht, was noch alles nachkommt. Miss Daniels, Kenzie, sind Sie noch da?“ „Ja. Ja.“ Kenzie hatte Mühe, ihre Fassung wiederzugewinnen. „Hat Ross denn seinerzeit nicht das Sorgerecht zugesprochen bekommen?“ „Doch. Ganz legal, als Penelope starb. Aber offensichtlich fechten ihre Eltern die Entscheidung jetzt an.“ „Seit wann weiß Ross davon?“ „Seit ein paar Stunden. Die beiden sind bereits auf dem Weg zu seinem Bruder. Mr. Calder sagte nicht, wie lange er dort bleiben wird.“ „Aber… aber es darf doch nicht sein, dass Angus wieder zu seinen Großeltern gehen muss. Ross ist Anwalt. Er wird sicher wissen, dass das Gericht für gewöhnlich die Eltern begünstigt.“ „Selbstverständlich.“ Delia schnauzte sich verräterisch. „Aber er ist ein allein erziehender Vater. Er kann sich unmöglich um seinen Sohn kümmern und gleichzeitig eine Kanzlei führen. Das spricht gegen ihn.“ „Hat er denn das Kindermädchen aus Philadelphia nicht engagiert?“ „Angus mochte sie nicht leiden.“ Wenn Kenzie nicht so aufgeregt gewesen wäre, hätte diese Neuigkeit sie erfreut. „Das Kind hat doch ein gewisses Stimmrecht, nicht wahr? Das bedeutet, Angus’ Wünsche zählen auch. Ich weiß genau, dass der Junge nicht wieder zu seinen Großeltern will.“ „Aber das ist ja gerade das Problem. Angus und sein Vater haben sich in letzter Zeit nicht besonders gut verstanden. Mr. Calder gibt sich, weiß der Himmel, viel Mühe, aber ich bin nicht so sicher, ob Angus hier wirklich glücklich ist.“ „Ich verstehe“, flüsterte Kenzie. „Was soll ich tun, Mrs. Armstrong?“ „Bitte sagen Sie Delia zu mir. Wenn ich das nur wüsste. Aber Angus hat Sie offenbar so gern, und Mr. Calder sagte, Sie verstünden es, ihn etwas zugänglicher zu machen.“ „Aber wie soll das Angus jetzt helfen?“ „Das weiß ich nicht. Ich dachte nur, ich rufe Sie einfach mal an. Sie machen einen so tatkräftigen und ausgeglichenen Eindruck, und Angus vertraut Ihnen vollkommen.“ Tief in ihrem Herzen wusste Kenzie, dass Delia Recht hatte. Sie konnte sich gut vorstellen, wie verunsichert der Junge jetzt war. Wie sehr er jemanden brauchte – sie brauchte –, die ihn tröstete und ihm sagte, dass alles gut werden würde. Und was Ross betraf… Tränen traten in ihre Augen. Nachdem er sie nicht gebeten
hatte, seine Frau zu werden, sondern ihr lediglich einen Posten als Kindermädchen angeboten hatte, hatte sie alle Gefühle für ihn verdrängt. Nun erwachten sie wieder. Mit aller Wucht. Sie fühlte den starken Wunsch, diesem Mann zu helfen. Er war so oft verletzt worden und verdiente es nicht, dass es schon wieder geschah. Ich muss ihm beistehen, dachte Kenzie verzweifelt. „Von hier aus kann ich nichts tun“, sagte sie entschlossen zu der älteren Frau. „Ich muss zu ihm fahren. Könnten Sie mir bitte die Adresse seines Bruders in Cheltenham geben?“ „Selbstverständlich.“ Delias Stimme schien zu jubilieren. „Noch etwas?“ „Wenn Sie zufällig mit Ross sprechen, sagen Sie ihm bitte nicht, dass ich komme.“ „Warum nicht?“ „Weil er es mir ausreden würde.“ Bevor sie ihren Entschluss bereuen konnte, legte sie auf und wählte die Telefonnummer ihrer Eltern. Die Chance, ihren Vater zu Hause anzutreffen, war nicht groß. Er spielte jeden Freitag Golf. Vor einem Jahr hatte sich Kenzie geschworen, ihre Eltern niemals um Geld zu bitten. Nun war sie entschlossen, gerade das zu tun: Sie wollte ihre Mutter bitten. Sie brauchte eine Menge Geld. Genug, um jemanden zu bezahlen, der sich um ihre Vögel kümmerte, und genug für ein Ticket für den nächsten Flug nach New York. Und für alle möglichen Folgeausgaben…
10. KAPITEL Kenzie stellte den Motor ab und warf sich den Rucksack über den Arm. Jetzt galt
es, dem Kurs zu folgen, den sie sich gesetzt hatte, als sie Buxton mit Ziel New
York verließ. Jetzt nur keine Angst haben oder Zweifel. Sie war Hunderte von
Meilen gefahren, um Ross und Angus zu helfen. Fortlaufen kam jetzt nicht mehr
infrage.
Sie holte tief Luft und stieg aus ihrem Wagen.
„Kann ich Ihnen helfen?“
Maggie Calder stand auf der Veranda. Sie war ungefähr zehn Jahre älter als
Kenzie, hatte schulterlanges Haar und trug eine rosafarbene Bluse zu hellen
Jeans.
Trotz ihres festen Entschlusses brachte Kenzie zuerst kein Wort heraus. Jetzt, da
sie tatsächlich in Cheltenham war, war sie plötzlich nicht mehr ganz so sicher, ob
sie das Richtige tat. Delia Armstrong war zwar davon überzeugt gewesen, aber
sie wusste ja auch nicht, wie nahe ihr Boss und Kenzie sich gekommen waren.
Kenzie räusperte sich. „Hallo. Ich bin Kenzie Daniels, eine Freundin von Ross,
und ich…“
„Kenzie Daniels?“ Maggies Miene hellte sich auf. „Mir ist, als würde ich Sie schon
lange kennen. Angus hat uns so viel von Ihnen…“
„Kenzie!“ Wie eine Rakete kam Angus angeschossen.
„Angus, mein Süßer!“
Ach, wie gut tat es, den kleinen Lockenschopf zu umarmen!
„He Mann, mir hat niemand gesagt, dass du kommst.“
„Es sollte auch eine Überraschung sein.“
„Wie lange kannst du bleiben?“
Kenzie blickte unsicher zu der Frau auf der Veranda. Zu ihrer Erleichterung
lächelte diese ihr aufmunternd zu. „Ich freue mich, Sie kennen zu lernen, Kenzie.
Ich bin Maggie Calder, Alex’ Frau.“
Ross’ Schwägerin also. Kenzie reichte ihr die Hand. „Tut mir Leid, ich hätte
meinen Besuch ankündigen sollen.“
„Nicht nötig. Was Angus betrifft, scheint Ihnen die Überraschung ja voll geglückt
zu sein.“ Staunend blickte sie den Jungen an, als könne sie nicht glauben, wie
verändert er auf einmal war. „Kommen Sie doch bitte herein. Ross und Alex sind
unten am Feuerwehrhaus. Sie kommen aber bald zurück.“
Maggie fragte nicht nach dem Grund für Kenzies Besuch, oder wie lang sie
bleiben würde. Sie führte sie einfach in die Küche und schenkte ihr eine Tasse
Kaffee ein. „Es macht Ihnen hoffentlich nichts aus, in der Küche zu sitzen. Ich
bereite nämlich gerade einen Braten für das Abendessen vor.“
„Das ist in Ordnung. Kann ich Ihnen was helfen?“
„Nein, danke. Ich nehme an, Sie bleiben zum Abendessen?“
Kenzie nickte. „Wenn ich Ihnen damit keine Umstände bereite?“
„Ich bitte Sie, Sie sind ein willkommener Gast.“
Sie wollte gerade den Grund für ihr Kommen erklären, als Angus mit einem
grauweiß gestreiften Kätzchen im Arm hereinstürzte. „Ich habe sie gefunden. Sie
schlief auf dem Sofa. Ist sie nicht niedlich, Kenzie?“
„Entzückend.“ Sie nahm ihm die Katze ab.
„Darf ich Kenzie die Küken in der Scheune zeigen?“ fragte Angus erwartungsvoll.
Maggie lächelte. „Nur zu.“
Kenzie folgte Angus in den Garten hinter dem Haus. Hinter dem gepflegten
Gemüsegarten stand eine kleine Hütte, rot angemalt wie eine Scheune.
Kenzie lachte, als Angus ihr die Hühner mit Namen vorstellte, und ihr riet, sich
auch welche zuzulegen.
„Das Letzte, was ich gebrauchen kann, sind noch mehr Vögel“, wehrte sie seinen
Vorschlag ab. „Aber hier gefällt es dir, Angus, nicht wahr?“
Der Junge schob seine kleine Hand in ihre. „He Mann, es ist super cool, jetzt, wo
du auch hier bist.“
„Ich freue mich auch, hier zu sein, mein Süßer.“
Jetzt zweifelte sie nicht mehr an der Richtigkeit ihres Besuches. Angus war
glücklich, sie zu sehen, und Maggie Calder schien ihr unerwartetes Auftauchen
wie selbstverständlich zu akzeptieren. Nur was würde Ross davon halten?
Wenig später waren sie wieder in der Küche. Kenzie übernahm die Aufgabe, die
Tomaten zu schneiden. Gut zur Beruhigung der Nerven. Das Wiedersehen mit
Ross stand ihr bevor. Wie würde er bei ihrem Anblick reagieren? Wie würde sie
selbst reagieren?
„Ich denke gerade darüber nach, was ich mit Ihnen anfange“, unterbrach Maggie
Kenzies Gedanken. „Ich meine, wo ich Sie bei uns unterbringe. Macht es Ihnen
etwas aus, auf der Doppelcouch im Arbeitszimmer zu schlafen?“
„Kein Problem.“ Kenzie war ein wenig verlegen, doch tief in ihrem Innern wusste
sie, dass sie nichts falsch machte. Kein Grund, nervös zu werden, Mädel,
ermutigte sie sich noch einmal. Du bist hier, um Ross und Angus zu helfen.
„Wie lange bleiben Sie?“ fragte Maggie. „Sie sind selbstverständlich willkommen,
solange es erforderlich ist, aber…“
Solange es erforderlich ist? In diesem Moment kam Angus wieder mit seinem Kätzchen herein und ließ sich von Maggie Küchengarn geben, weil „Minnie“ damit spielen wollte. Als er zufrieden abzog, lächelte Maggie Kenzie an. „Ross mag keine Katzen.“ „Hunde mag er auch nicht.“ „Vielleicht liegt das daran, dass er und Alex nicht mit Haustieren aufgewachsen sind. Als wir dieses Haus übernahmen, musste er sich damit abfinden, weil ich darauf bestand. Bei Kindern ließ er sich allerdings nicht dreinreden.“ „Er wollte keine?“ Maggie lächelte traurig. „Nein. Er fürchtete, keinen guten Vater abzugeben. Der Grund liegt in seiner Kindheit…“ Kenzie hob den Blick nicht von ihrer Arbeit. „Ich verstehe.“ „Es passte insofern, als wir feststellen mussten, dass ich ohnehin keine Kinder bekommen kann. Aber nun ist ja Angus da.“ Sie warf Kenzie einen raschen Blick zu. „Es ist doch wirklich nicht fair, oder? Angus ist erst seit wenigen Monaten bei Ross, und nun wollen diese… diese Leute ihn zurückhaben.“ „Sie bekommen ihn nicht“, sagte Kenzie bestimmt. „Ich wünschte, ich könnte es glauben. Aber Ross meinte gestern Abend, man könne nicht voraussagen, was Penelopes Vater tut. Es sei viel Geld im Spiel.“ „Geld? Ich verstehe nicht ganz.“ „Hat Ross Ihnen denn nichts gesagt?“ „Nein.“ „Deshalb wollen sie ihn doch zurück. Offensichtlich hat Angus’ Patenonkel nach Penelopes Tod ein größeres Vermögen für das Kind angelegt. Und wer immer der gesetzliche Vormund von Angus ist, kontrolliert dieses Vermögen. Nur deshalb wollen die Archers Angus haben.“ Kenzie legte ihr Messer beiseite. „Weil Angus eines Tages eine größere Geldsumme erbt, will Penelopes Vater das Sorgerecht für ihn? Ist das denn zu fassen?“ „Die Archers verfügen über großen Landbesitz, leben aber seit eh und je weit über ihre Verhältnisse. Sicher kostete Penelopes Lebensstil ihren Vater auch ein
Vermögen, ganz zu schweigen von dem Streit vor Gericht wegen Angus.“
„Damit meinen Sie den Kampf um das Sorgerecht? Davon hat mir Ross erzählt.“
„Sie wissen sicher, dass die ganze Geschichte von den Medien groß aufgebauscht
wurde. Besonders, weil Ross und Penelope so ein beeindruckendes Paar waren,
als sie noch in Manhattan wohnten. Sie gehörten zu denen ganz oben auf der
Liste. Penelope war sehr schön und elegant. Viele Männer in hohen Positionen
genossen es, mit ihr gesehen zu werden. Kein Wunder, wenn die Streitigkeiten
Schlagzeilen machten.“
„Armer Ross“, flüsterte Kenzie. Wer wüsste besser als sie, wie es war,
ohnmächtig dem Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit ausgeliefert zu sein.
„Ja. Ross war damals außer sich. Er fürchtete um das Wohl seines Sohnes. Ich
möchte Ihnen gern etwas zeigen, woraus Sie erkennen, wie schlimm dieser
ganze Sorgerechtsstreit für Ross war.“
Von Maggies Album mit allen Zeitungsartikeln darüber, wusste Ross nichts. „Er
wäre fuchsteufelswild“, gestand Maggie, als Kenzie sich mit dem Buch an den
Küchentisch setzte.
„Und warum haben Sie die Artikel dann aufgehoben?“
„Vielleicht helfen sie Angus eines Tages zu verstehen, was zwischen seinen Eltern
passiert ist.“
Kenzie hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten, während sie das Album
durchblätterte. Einige Fotos schienen von den Reportern heimlich gemacht
worden zu sein. Ross’ Entscheidung, um Angus zu kämpfen, war ihr nur zu gut
verständlich.
„Ross plant, demnächst nach London zu fliegen“, fuhr Maggie fort. „Einen Termin
nannte er nicht. Alex und ich drängen ihn auch nicht. Wir halten es für besser,
wenn er erst ein wenig zur Ruhe kommt. Deshalb sind die Brüder heute auch
zusammen unten im Feuerwehrhaus und bereiten unser jährliches
Wohltätigkeitsfest vor.“
„Wovon wir schon zurück sind“, ließ sich eine Stimme aus dem Flur vernehmen.
Ein groß gewachsener Mann mit dunklem Haar betrat die Küche. Das konnte nur
Ross’ Bruder Alex sein. Er lächelte Kenzie an. „Hallo, ich bin Alex Calder. Ich
habe mich schon gefragt, wem das Auto gehört, das vor unserem Haus parkt.“
Panik ergriff Kenzie. Jetzt war also der Moment gekommen, wo sie Ross erklären
musste, warum sie hier war. Wusste sie überhaupt, was sie sagen wollte?
Ross folgte seinem Bruder in die Küche. Es war nicht zu übersehen, dass er bei
Kenzies Anblick zusammenzuckte. Ihre Blicke trafen sich. „Was zum Teufel
machst du denn hier?“ fragte er.
Maggies Hand flog zu ihrem Mund. „Himmel, du wusstest nicht, dass sie kommt?“
Ross blickte seine Schwägerin an. „Du weißt, wer sie ist?“
„Natürlich. Ich meine, so genau hat sie es nicht erklärt. Ich dachte… wegen
Angus…“
„Richtig. Ich bin hier, weil ich helfen möchte. Irgendwie…“
Doch dann war es Kenzie auf einmal klar: Sie reichte Alex die Hand und stellte
sich vor. „Ich bin Kenzie Daniels, Angus’ Kindermädchen.“
„Würdet ihr uns bitte einen Augenblick entschuldigen“, sagte Ross und ergriff –
nicht unbedingt behutsam – Kenzies Arm. Erst im Garten gab er ihn wieder frei.
„Was tust du hier?“
Sie zwang sich zu lächeln, obgleich Ross nicht gerade glücklich schien, sie zu
sehen. „Ich habe meine Meinung über dein Angebot geändert. Delia sagte, der
Job sei noch frei.“
Ross’ Augen funkelten. „Ich hätte es wissen müssen.“
„Sei nicht böse auf sie. Es war meine Idee.“
„Das hätte ich auch wissen müssen.“
Kenzie lächelte noch immer, obwohl ihr zum Heulen zu Mute war. Es war mehr
als offensichtlich, dass Ross sie längst vergessen hatte. „Du solltest dich über
mein Kommen freuen.“
„Weißt du überhaupt, was hier gerade passiert, Kenzie?“
„Ja, das weiß ich. Deshalb bin ich ja da. Du wirst bei Gericht einen viel besseren
Eindruck hinterlassen, wenn du jemanden vorweisen kannst, der sich rund um
die Uhr um Angus kümmert.“
In Ross’ Kopf drehte sich noch alles. Kenzies unerwarteter Besuch war regelrecht
ein Schock für ihn. Nie hätte er damit gerechnet, sie jemals wiederzusehen. Und
nie hätte er erwartet, dass sie sein Angebot doch noch annahm.
Nein, er hatte keine Minute vergessen, wie schön sie war. Wie sexy ihr Lächeln,
wie warm und leuchtend ihr Blick ist.
Seine Mundwinkel hoben sich zu einem schiefen Lächeln. „Es tut mir Leid. Ich
habe etwas harsch reagiert. Ich bin schlicht… überwältigt, dass du da bist.“
Kenzie wusste nicht, ob ihr Herz so laut klopfte, weil er ihre Gegenwart so rasch
zu akzeptieren schien, oder ob es sein Lächeln war…
Sie senkte den Blick. „Ich hätte dich vielleicht doch informieren sollen.“
„Willst du bleiben? Heißt das wirklich, du akzeptierst mein Angebot und wirst
Angus’ Kindermädchen?“
„Solange es erforderlich ist. Bis für dich und Angus das Sorgerechtsverfahren
beendet ist. Allerdings habe ich ein paar Bedingungen.“
Ross schob die Hände in die Taschen seiner Jeans. „Die wären?“
„Ich wohne nicht bei euch. Ich sorge dafür, dass Angus morgens in die Schule
kommt, koche das Essen und bleibe, bis du abends nach Hause kommst. An den
Wochenenden seid ihr allein, es sei denn, du bist auf Geschäftsreise.“
„Verstehe.“
Kenzie fühlte, dass sie errötete. „Das macht sich besser vor Gericht.“ Damit
signalisierte sie unmissverständlich, dass es kein nächstes Mal geben würde.
„Kenzie!“
Angus kam auf sie zugerannt und schlang die Arme um ihre Taille. „He Mann,
Onkel Alex sagt, du wirst mein Kindermädchen. Bist du deshalb gekommen?“
Über seinem Kopf begegneten sich Kenzies und Ross’ Blicke. „Wenn dein Vater Ja
sagt.“
„Dad?“
Einen Moment schien Ross mit sich zu kämpfen. „Aber natürlich, Sohn.“
Angus jubelte. „Wenn ich das Mrs. Armstrong erzähle!“
Angus ist der Grund für mein Kommen, sagte sich Kenzie, während sie ihm
nachblickte, als er zum Haus zurücklief. Hoffentlich würde ihr das immer bewusst
sein.
„Ich sollte dir noch eine Menge erklären.“ Ross mied Kenzies Blick.
„Ich weiß.“
„Kann das bis heute Abend warten, wenn Angus schläft?“
„Natürlich.“ Sie zögerte. „Es wird alles gut, nicht wahr? Ich meine… sie
bekommen ihn nicht?“
„Nein.“
Kenzie zitterte. Nicht so sehr aus Sorge um Angus, sondern weil Ross’ Anblick sie
zutiefst berührte. Er wirkte so selbstsicher, so unverschämt männlich, darauf
konnte sie einfach nur mit ihren weiblichen Gefühlen reagieren.
Dennoch zwang sie sich, sich auf das Thema Sorgerecht zu konzentrieren. „Was
geschieht nun?“
Ross erklärte ihr die nächsten Schritte. Er wollte Angus bei seinem Bruder lassen,
bis der Sorgerechtsstreit beendet war. Vor allem durfte es keinen Presserummel
geben wie beim letzten Mal.
„Ich bleibe bei Angus, so lange Maggie und Alex uns hier aufnehmen. So kannst
du dich gründlich auf das Verfahren vorbereiten.“
„Ich fahre am Montag zurück.“ Er zögerte. „Kenzie?“
„Hm?“ Sie war selig, als sie ihn lächeln sah.
„Danke.“
„Wofür?“
„Dafür, dass du da bist. Dass du helfen willst.“
„Das mach ich doch gern.“
Sie wünschte sich so sehr, ihn zu umarmen und ihm zu sagen, dass er nun nicht
mehr traurig zu sein brauchte, weil sie ja bei ihm war. Stattdessen folgte sie ihm
in die Küche. Ihr war klar, es würde ihr nicht leicht fallen, ihre Gefühle zu
kontrollieren, während sie für ihn arbeitete. Aber Kenzie wusste, sie war eine erwachsene, disziplinierte Frau, die sich bereitwillig jeder Herausforderung stellen konnte. Nachdem Kenzie Angus zu Bett gebracht hatte, ging sie hinunter ins Wohnzimmer, wo Ross und Alex fernsahen. Maggie las ein Buch. „Angus möchte, dass du ihm noch Gute Nacht sagst, Ross“, sagte Kenzie. „Wirklich?“ Er schien sich zu freuen. „Wie hast du ihn nur so schnell ins Bett bekommen?“ fragte Maggie. „Uns
gegenüber verhält er sich nicht so kooperativ.“
„Gute Kindermädchen verraten ihre Geheimnisse nicht“, scherzte Alex.
„Da steckt kein Geheimnis dahinter“, erklärte Kenzie. „Bedenken Sie nur, wie oft
Angus in den letzten Monaten in fremden Betten schlafen musste.“
Alex runzelte die Stirn. „Armes Kind. Von dieser Seite habe ich es noch gar nicht
betrachtet.“
„Hat jemand etwas dagegen, wenn ich jetzt joggen gehe?“ fragte Kenzie.
„Ein Fitnessfreak.“ Alex schüttelte den Kopf. „Wie Ross. Nur zu, Sie werden sich
hier leicht zurechtfinden. Der Mond scheint hell, und die einzige Gefahr auf den
Straßen von Cheltenham könnte ein streunendes Opossum sein.“
Kenzie lachte. „Ich werde Acht geben.“
Als Kenzie vom Joggen zurückkehrte, befand sich niemand mehr in Küche und
Wohnzimmer. Maggie hatte ein Licht brennen lassen.
Kein Zeichen von Ross…
Sie wollte duschen und eilte nach oben. Nachdem sie die Haare gewaschen und
getrocknet hatte, wickelte sie sich in ein Handtuch und räumte ihre Sachen
zusammen.
Als sie das Badezimmer verließ, stand sie plötzlich Ross gegenüber. Er kam
gerade aus Angus’ Zimmer, das Kätzchen auf dem Arm. Einen Moment blickten
sie sich schweigend an, ehe er sagte: „Ich sperre Minnie unten ein. Sie hat auf
Angus’ Kopfkissen geschlafen. Hat das Joggen Spaß gemacht?“
Kenzie versuchte zu ignorieren, dass sie unter dem Handtuch nackt war. „Ich
habe es sehr genossen“, sagte sie ruhig. „Die Luft ist hier so viel frischer.“
Ross räusperte sich. „Wir müssen noch miteinander reden, Kenzie. Aber das kann
bis morgen warten, oder? Es ist schon spät.“
Sie musste lachen. „Ich bin auch nicht gerade passend dafür angezogen.“
„Ich weiß.“
Nach dem rauen Klang seiner Stimme zu urteilen war es ihr klar, dass Ross sich
ihrer bloßen Füße und Schultern bewusst war. Ebenso wie er ihre sich hebenden
und senkenden Brüste nicht übersah, die nur teilweise von dem Handtuch
bedeckt waren.
„Gute Nacht, Ross.“
„Kenzie…“
Aber sie war nicht bereit zu hören, was er sagen wollte. Sie eilte nach unten und
verschloss die Tür des Arbeitszimmers. Als sie zitternd ins Bett kroch, war sie
den Tränen nahe. Mag ja sein, dass mein Entschluss, zu helfen, gut überlegt war,
dachte sie. Aber hatte sie auch wirklich bedacht, was sie ihrem geschundenen
Herz damit abverlangte?
11. KAPITEL Der Rummelplatz befand sich auf den Sportplätzen hinter dem Feuerwehrhaus von Cheltenham. Auf dem größten Feld waren Fahrgeschäfte mit Riesenrad und einem Karussell aufgebaut. Schieß und Imbissbuden sowie ein Bingozelt schlossen sich daran an. Kühe und Pferde tummelten sich in einer Scheune und auf der Reitbahn jenseits des Rummelplatzes. Angus hüpfte vor Aufregung von einem Bein aufs andere. „Ich wusste gar nicht, dass der Platz so groß ist. Gehen wir zu den Autoscootern?“ Kenzie zog ihn lachend an sich. „Keine Sorge, wir haben genügend Zeit für alles.“ Sie freute sich auch auf die Abwechslung. Sie alle konnten wahrhaftig ein wenig Spaß gebrauchen. Obgleich der Jahrmarkt offiziell erst gegen Mittag eröffnet werden sollte, wimmelte es schon überall von freiwilligen Helfern. Jeder schien hier jeden zu kennen, und eine Reihe einheimischer – sehr attraktiver – Damen begrüßte Ross wie einen guten alten Freund. Es überraschte Kenzie, dass sie eifersüchtig war. Ross verstärkte dieses Gefühl noch, indem er sich äußerst charmant gab, viel offener und freundlicher als ihr gegenüber. Vergeblich bemühte sie sich, sich nicht von solchen Gedanken die Stimmung verderben zu lassen. Allerdings tat es ihrem Ego auch nicht gerade gut, dass die Frauen sich zurückzogen, als Maggie sie als Angus’ neues Kindermädchen vorstellte… Was hatte sie erwartet? Sie war Ross’ Angestellte, nicht seine Freundin. Sie musste eben lernen, mit peinlichen Situationen wie diesen umzugehen. Kein Grund, depressiven Gedanken nachzuhängen, ermahnte sie sich. Seit Jahren hatte sie keinen Jahrmarkt besucht, und sie würde sich amüsieren, komme, was da wolle. Maggie führte sie in die Scheune, wo sie auf Alex und Ross trafen, die gerade aufbrachen, um mit einigen freiwilligen Feuerwehrleuten ein Podest für die Preisrichter aufzubauen. Kenzie lernte Claire Holliday kennen, eine ältere Frau mit Brille und grauem Haar, die dringend Helfer gebrauchen konnte. Gern willigte Kenzie ein, beim Austeilen des Mittagessens mitzuhelfen. „Und wer fährt mit mir Karussell?“ fragte Angus. „Wir wechseln uns ab“, schlug Maggie vor. „Aber zuerst kannst du mir am Kuchenstand helfen.“ Als Angus hörte, dass es sich um ein Glücksrad handelte, bei dem er die Kuchen an die Gewinner ausgeben durfte, strahlte er zufrieden. Sie wanderten weiter zur Landwirtschaftsausstellung und bewunderten Kaninchen und Ferkel. Kenzie gefielen vor allem die Kälber, während Angus sich für eine Show rund um das Melken interessierte. „Du möchtest es versuchen?“ fragte ihn ein stämmiger Mann, der eine Kuh an einem Strick führte. Der Junge schüttelte den Kopf. „Mach du es, Kenzie.“ „Ich? Ich weiß doch gar nicht, wie man eine Kuh melkt.“ „Bitte, Kenzie.“ Zögernd ließ sie sich auf dem Schemel nieder. „Keine Angst“, sagte der Mann, als die Kuh sogleich den Kopf nach Kenzie umdrehte. „Sie will bloß prüfen, mit wem sie es zu tun hat.“ Kenzie hatte keine Angst vor dieser Kreatur mit den freundlichen Augen. Aber Melken war doch nicht so leicht, wie sie es sich vorgestellt hatte. Dass sich eine Reihe Zuschauer um sie versammelte, unter denen sich Ross und Alex befanden,
war auch nicht gerade eine Hilfe. „Nicht fest drücken“, belehrte sie der Mann. „Es ist eher eine Art Streifen.“ Niemand war erstaunter als Kenzie, als sich schließlich doch ein schaumiger weißer Strom in den Eimer ergoss. Angus kreischte begeistert auf, und die anderen applaudierten. Ross half Kenzie vom Melkschemel auf. „Netter Versuch“, meinte Alex. „Wir haben hier Respekt vor Frauen, die eine Kuh melken können.“ Kenzie schenkte ihm ein Lächeln, obwohl sie abgelenkt war, weil Ross ihren Arm noch immer festhielt. „Ich werde daran denken, wenn ich mir einen neuen Ehemann suche.“ „Oh. Waren Sie schon verheiratet?“ Alex zeigte sich auf einmal interessiert. Ross umfasste Kenzies Arm fester, um mit ihr weiterzugehen. „Alex, hör auf, dich wie ein Polizist zu benehmen. Du bist nicht im Dienst.“ „Das ist schon in Ordnung“, sagte Kenzie. „Mein Verlobter verließ mich kurz vor der Hochzeit.“ Alex sah sie beschämt an. „Das tut mir Leid.“ „Mir nicht“, gab sie zurück. „Es ist schon ein Jahr her.“ „Oh, da kommt ja George Richardson.“ Alex schien erleichtert. „Entschuldigt mich bitte.“ „Nach beinahe fünfzehn Jahren bei der Polizei kann Alex noch immer nicht aufhören, seine Mitmenschen auszufragen.“ „Oh, das ist schon in Ordnung“, erwiderte sie leichthin. War es das wirklich? Ross musterte Kenzie nachdenklich, während Angus vor einem Käfig mit flauschiggelben Küken niederkniete. Warum überlegte es sich ein Mann plötzlich anders und trennte sich von einer so wundervollen Frau wie Kenzie? War diese aufgelöste Verlobung schuld, dass sie, die doch vor Leben förmlich sprühte, in eine einsame Strandhütte gezogen war? Dass sie ihre beträchtliche Energie auf verwundete Vögel verwandte, statt sich darauf zu konzentrieren, ihren Doktor in Erziehungswissenschaften zu machen? Denn das hatte sie ihm in jener letzten Nacht erzählt: Dass sie kurz davor gewesen war, ihre Doktorarbeit abzuschließen. Als er damals nachgefragt hatte, warum sie damit aufgehört hatte, hatte sie ausweichend geantwortet. Nun ja, und dann hatten sie sich wieder geliebt. Und wieder und… Kenzie berührte sanft seinen Arm. „Sei nicht mehr böse auf deinen Bruder, Ross.“ „Das bin ich nicht“, versicherte er und war froh, dass sie seine Gedanken nicht lesen konnte. „Es ist wirklich okay. Ja, ich war verletzt, als Brent die Hochzeit absagte, aber ich bin es nicht mehr.“ Brent. Irgendwie muss ich das wieder gutmachen, dachte Ross. Kenzie hat es nicht verdient, so verletzt zu werden. Nicht sie. Aber im Moment hatte er keine Möglichkeit, mit ihr darüber zu reden. Maggie kam und holte Angus zu ihrem Kuchenstand, während Kenzie zur Imbisshütte eilte. Ross selbst hatte sich für die nächsten zwei Stunden als Kartenverkäufer am Eingangstor verpflichtet. Sobald er von dieser Aufgabe befreit war, reihte er sich ein in die Schlange, die zum Mittagessen anstand. Dabei nutzte er die Chance, Kenzie zu beobachten, wie sie geschickt mit den Hamburgern hantierte, während sie mit den anderen Kochfrauen plauderte, als kenne sie die schon ein Leben lang. „Wer ist die Frau, die Sie die ganze Zeit anstarren? Ich habe sie hier noch nie gesehen.“ Tom Peters, ein Kollege seines Bruders, stand hinter ihm. „Das ist Angus’ neues
Kindermädchen“, erklärte Ross betont gelassen. Hatte er Kenzie tatsächlich
angestarrt?
„Wie lange bleibt sie hier?“
Ross furchte die Stirn. Er wusste, worauf Tom hinauswollte. „Wir fahren
Montagmorgen nach Manhattan zurück“, sagte er, wobei er das erste Wort
deutlich betonte.
„Ist sie verheiratet?“
„Verlobt, glaube ich.“
„Oh.“ Toms enttäuschte Miene war die Lüge wert.
Kenzie lächelte, als Ross die Ausgabe erreicht hatte. „Was kann ich für Sie tun,
Sir?“
Hoffentlich merkt Tom, dass Kenzie zu mir gekommen ist, um meine Bestellung
aufzunehmen, dachte Ross.
Sie brachte ihm eine besonders große Portion. „Zwanzig * Dollar, Sir.“
„Für einen Hamburger und einen Milchshake?“
Sie klimperte mit den Wimpern. „Wir feiern hier ein Wohltätigkeitsfest, Sir. Von
einem angesehenen Anwalt aus der Großstadt kann man erwarten, dass er eine
größere Summe spendet, nicht wahr?“
Die anderen Frauen hielten in ihrer Arbeit inne und lachten.
„Da komme ich ja billig davon.“ Ross schob die zwanzig Dollar über den Tresen.
„Sehr großzügig.“
Er konnte ihrem verführerischen Blick nicht widerstehen. „Okay, okay. Haben Sie
wenigstens Lust, mir beim Mittagessen Gesellschaft zu leisten?“
Kenzies Miene verdüsterte sich fast unmerklich. „Ich kann nicht.“
„Ich gebe selbstverständlich auch für Ihre Mahlzeit eine großzügige Spende.“
„Gehen Sie nur, Kenzie“, ermunterte sie eine der Frauen. „Für zwanzig Dollar
verzichten wir gern eine Weile auf Sie.“
Sie setzten sich an einen Picknicktisch und aßen entspannt ihre köstlichen
Hamburger. Während sie über Kenzies Eindrücke von dieser kleinen Stadt
plauderten, kam Angus mit einem Kuchen – so groß wie ein Basketball – an ihren
Tisch. „Seht nur, was ich gewonnen habe: Einen PfefferminzSchokoladen
Kuchen.“ Stolz präsentierte er seinen Gewinn. „Ich habe ihn selbst ausgesucht.
Darf ich gleich ein Stück davon haben?“
Kenzie blickte Ross fragend an.
„Warum hebst du ihn nicht für heute Abend zum Nachtisch auf? Dann können
deine Tante und dein Onkel auch etwas davon genießen. Wobei Alex damit auch
die Löcher in seinem Dach ausbessern könnte…“
„Mit meinem Kuchen?“ fragte der Junge argwöhnisch.
Als Kenzie und Ross Blicke tauschten und in Gelächter ausbrachen, hellte sich
seine Miene auf. „Oh“, rief er. „Seid ihr wieder Freunde?“
Das Gelächter verstummte.
„Was meinst du, Sohn?“
„Ich dachte immer, ihr könnt euch nicht leiden. Aber jetzt mögt ihr euch doch,
nicht?“
„Ja“, sagte Ross. „Wir mögen uns.“
Kenzie erhob sich rasch. Ihre Wangen glühten. „Ich hole dir auch einen
Hamburger, okay?“
Kenzie hatte sich vorgenommen, Ross’ Charme gegenüber immun zu bleiben,
und einfach zu ignorieren, dass sie sich in ihn verliebt hatte.
Aber das erwies sich als schwierig, besonders als Alex Ross am Abend beim
Essen einen Umschlag zuschob.
„Was ist da drin?“
„Das sind Karten für ein Galaessen im Beechwood Manor. Familie Parker lädt für
morgen zu einem Essen für Nathans Chef ein, Senator Richardson. Du weißt
schon, er stellt sich nächstes Jahr wieder zur Wahl.“
„Warum geht ihr nicht hin?“
„Ich habe morgen Abend Dienst. Aber du hast Zeit und könntest die Familie
vertreten.“
„Nein, danke.“
„Ross, du hast seit Jahren keine Einladung mehr von Edie angenommen.“
„Du weißt, warum.“
„Sicher. Und es wird Zeit, dass du wieder zu leben beginnst. Zumindest Angus’
zuliebe.“
„Wenn du Kenzie mitnimmst, passe ich gern auf Angus auf“, erbot sich Maggie.
Kenzie blickte auf. „Nein. Ich kann nicht.“
„Warum nicht? Die Parkers haben einen hervorragenden Koch. Er gehört zu den
Besten seiner Branche. Die Hälfte aller Restaurants in Manhattan hat schon
versucht, ihn zu ködern.“
„Oh weh“, sagte Kenzie. „Sie sind hartnäckig.“
Maggie lachte. „Warum lehnen Sie dann noch ab?“
„Ich habe nur Jeans dabei.“
„Und wenn ich etwas Passendes für Sie finde?“ drängte Maggie.
Kenzie lächelte die klein gewachsene Frau an. „Ein wirklich reizendes Angebot,
Maggie, aber wir haben nicht ganz dieselbe Größe.“
„Würden Sie zusagen, wenn ich bis morgen Abend etwas Passendes finde?“
Eine Wette, die Kenzie kaum verlieren konnte…
Als sie jedoch am nächsten Morgen aus der Dusche kam, fand sie in ihrem
kleinen Zimmer zahllose Kleidertaschen und Schuhkartons vor. Sie wollte es
nicht glauben. „Was… woher…?“ konnte sie nur stammeln.
Maggie erklärte Kenzie strahlend, eine Freundin in Lake George habe ihr gern
einige ihrer Kreationen geborgt. „Wissen Sie, wir sind hier keine Hinterwäldler.
Viele sehr einflussreiche Menschen besitzen in dieser Gegend Sommerhäuser.“
Einflussreich und vermögend. Aus einer Tasche zog Kenzie ein trägerloses Kleid
aus eisblauer Seide hervor. Du liebe Güte, nach dieser langen Zeit, in der sie
nichts als Shorts, Jeans und TShirts getragen hatte, sehnte sie sich geradezu
danach, dieses Kleid anzuprobieren.
Es passte. Wie eine zweite Haut.
Mit aller Macht kämpfte sie gegen die Versuchung. „Ein geschlitzter Rock wie
dieser schreit nach hohen Absätzen. Sie können unmöglich auch…“
„Bitte, wählen Sie. Aus neun Paar! Ich habe mir Ihre Schuhgröße angesehen,
während sie Joggen waren. Ein Paar muss passen.“
Natürlich fand sie ein Paar sexy hochhackige Sandalen, die perfekt saßen.
Zum Schluss legte Maggie Kenzie noch eine Perlenkette um, die sie von ihrer
Großmutter geerbt hatte. Glücklich seufzend trat sie einen Schritt zurück. „Sie
sehen wunderschön aus, Kenzie. Mit einem so zauberhaften Kleid dürfen Sie
einfach nicht Nein sagen.“
Kenzie schluckte schwer, während sie ihr Bild im Spiegel betrachtete. „Ich bin
nicht sicher…“
„Bedenken Sie, wie viel Mühe ich mir gegeben habe.“
„Das ist es ja, was mir Sorgen macht, Maggie. Warum tun Sie das?“
Ihre Miene wurde ernst. „Okay, ich gebe zu, ich habe noch andere Beweggründe.
Alex und ich wollten Ross ein wenig… anstoßen, ihn zwingen, sich wieder den
Menschen zuzuwenden, mit denen er früher zusammen war. Normalerweise
würden wir nicht darauf bestehen, aber hier geht es auch um Angus. Es sind
lauter einflussreiche Leute, und man weiß doch nie, wann man sie einmal
gebrauchen kann.“
„Verstehe.“ Und da sie es wirklich verstand, konnte sie auch nicht Nein sagen.
Ross trug einen elegant geschnittenen schwarzen Smoking, als er sich am Abend
im Wohnzimmer zu Kenzie gesellte. Sein Anblick raubte ihr fast den Atem.
,Umwerfend’ und ,noch verführerischer als James Bond’ waren Worte, die ihr in
diesem Moment einfielen, dennoch brachte sie nur ein entzücktes „Oh“ heraus.
Zu ihrem Kleid gehörte noch eine hübsche kleine Jacke, die Maggie ihr lächelnd
reichte. Moment mal…
Kenzie überlegte. Ging es bei diesem Dinner heute Abend wirklich nur um Angus’
Zukunft? Ging es wirklich nur darum, Kontakte aufzufrischen? Oder versuchten
Maggie und Alex, sie und Ross zu verkuppeln? Sollte das der Fall sein, würde sie
nicht mitspielen…
„Oh, Kenzie.“ Angus blickte von oben durch das Geländer zu ihnen herab. „Du
siehst aus wie eine wunderschöne Prinzessin.“
„Danke, Liebling.“ Zumindest ein Mitglied der Calders war aufrichtig zu ihr.
Ross schwieg, als sie wenig später durch die ruhigen Straßen von Cheltenham
fuhren. Erst als sie an einer Kreuzung hielten, drehte er sich zu ihr um.
„Sieht so aus, als hätten wir die Wette verloren“, stellte er fest.
„Das verdanken wir Maggie. Was sie da auf die Beine gestellt hat… Ehrlich
gesagt, hätte ich ihr das nicht zugetraut.“
„Ich auch nicht. Sie sagte zwar, sie würde etwas Passendes für dich finden, doch
,passend’ wird deinem Anblick nicht einmal annähernd gerecht.“
Kenzie verschlug es die Sprache. „Oh?“
Was sollte er sagen, wenn Worte nicht genügten? Wie konnte er zum Ausdruck
bringen, dass sie die schönste Frau der Welt war, ohne ihr gleichzeitig zu
offenbaren, dass er sie leidenschaftlich begehrte?
„Ich denke, Angus hat dich am Besten beschrieben.“
„Eine Prinzessin?“
Hörte er da eine Spur Enttäuschung aus ihrer Stimme heraus?
Schweigend fuhren sie auf einer schmalen Straße den Hügel hinauf. Nach einer
Weile entdeckten sie den weißen Zaun, der den Anfang des Beechwood
Anwesens anzeigte, und schlossen sich einer langen Reihe Autos an, die sich im
Schritttempo auf der gepflegten Auffahrt vorwärts bewegte. Das Herrenhaus war
hell erleuchtet, und zwei Angestellte wiesen ihnen den Weg zum Parkplatz.
„Hast du Probleme mit dieser Einladung, Kenzie?“
„Meinst du, weil Alex und Maggie uns in diese Situation gedrängt haben?“
„Einmal das, aber außerdem ist so ein Abend ja wohl nicht ganz dein Fall, oder?“
„Du glaubst, ich fühle mich wohler in der Gesellschaft der Fischer von Hatteras?“
Hatte er sie verletzt? Verflixt, dabei wollte er ihr nur versichern, dass er
Verständnis für sie hatte, wenn sie ein wenig schüchtern war.
„Nein, lass es mich noch einmal versuchen“, sagte er. „Du siehst nicht aus wie
eine Prinzessin, Kenzie. Nicht nur wie eine Prinzessin. Man könnte meinen, du
kannst dich im Palast des Sultans von Brunei ebenso frei bewegen wie im Cafe
Red Drum.“
„Wenn ich nicht nur aussehe wie eine Prinzessin, wie sonst?“
„Für einen Achtjährigen bist du eine Prinzessin. Aber für einen Mann wie mich…“
Zu spät. Ross hatte sich auf dünnes Eis begeben. Denn ehrlich gesagt, Kenzie
sah überhaupt nicht wie eine RührmichnichtanPrinzessin aus. Eher wie eine
verführerische, äußerst begehrenswerte Frau, die sein Herz höher schlagen ließ.
Wie sollte er ihr widerstehen, wenn sie erst einmal zuhause bei ihm als Angus’
Kindermädchen arbeitete, und sie mehr Zeit miteinander verbrachten? Schon
hier im Auto, in der Dunkelheit des Gartens, brachte ihn sein Verlangen nach ihr ja beinahe um den Verstand. Ein Bediensteter übernahm Ross’ Wagenschlüssel, ein zweiter half Kenzie aus dem Wagen. Langsam stiegen sie die hohe Freitreppe hinauf. Jemand wies ihnen den Weg zum Empfang. Ross war bereits mehrmals auf Beechwood Manor gewesen und hatte Edie und Nathan Parkers kostbare Kunst und Antiquitätensammlung bewundern können. Aber zu seinem Erstaunen schien die glänzende Pracht Kenzie nicht besonders zu beeindrucken. Sie musterte die Gäste, die am Ende der Halle darauf warteten, von den Parkers begrüßt zu werden. Jetzt machte sie auf Ross doch einen nervösen Eindruck. Er bot ihr seinen Arm, und als er ihre Hand mit seiner bedeckte, spürte er ihr leichtes Zittern. Er fluchte still. Warum hatte er sich nur von seinem Bruder überreden lassen, an seiner Stelle herzukommen? Kenzie fühlte sich hier offensichtlich vollkommen fehl am Platz. Wie hatte er ihr das nur antun können! „Lächle einfach, und gib ihnen die Hand“, flüsterte er Kenzie ins Ohr, als sie sich ihren Gastgebern näherten. „Wenn ich dich Edie Parker vorstelle, brauchst du ihr nur für die Einladung zu danken.“ „Okay“, flüsterte Kenzie. Sie war gerührt, dass er meinte, sie beschützen zu müssen. Sie fühlte sich tatsächlich ein wenig bedrückt, aber nicht, weil die Umgebung sie einschüchterte. Eher aus Sorge, jemandem zu begegnen, einem Freund ihrer Familie oder einem Partner ihres Vaters, der über ihre Vergangenheit Bescheid wusste und in Ross’ Gegenwart nicht den Mund hielt… Nachdem Ross Kenzie mit ihren Gastgebern sowie Senator Richardson und seiner Frau bekannt gemacht hatte, betraten sie den Salon. „War doch gar nicht so schlimm, oder? Was hältst du von einem Glas Weißwein?“ Kenzie verzog den Mund. „Ich könnte jetzt etwas Stärkeres gebrauchen.“ Ross lachte. „Warte hier.“ Als er ihr kurz darauf ihren Drink bringen wollte, wurde er von Bekannten aufgehalten, die er jahrelang nicht mehr gesehen hatte. Zu seiner Erleichterung stand Kenzie jedoch noch in der Nische im Salon, wo er sie verlassen hatte. Doch was war das? Sie war nicht allein. Ross runzelte die Stirn, als er Travis Sutherland erkannte. Der SoftwareEntwickler und Millionär hatte einst ein besitzergreifendes Auge auf Penelope geworfen. Penelope wusste, wie man mit so einem schmierigen Typen fertig wurde. Aber Kenzie? Sie würde ihm ausgeliefert sein… Sein männlicher Beschützerinstinkt ließ ihn seine Schritte beschleunigen, doch noch bevor er Kenzie erreichte, stürmte Travis Sutherland mit hochrotem Kopf an ihm vorbei. „Was war da denn los?“ wollte er sogleich von ihr wissen. „Gar nichts. Wirklich. Der Typ konnte nur offenbar das Wort Nein nicht verstehen.“ „Was hast du zu ihm gesagt?“ „Würde ich dir das erzählen, wäre ich keine Prinzessin mehr.“ Kichernd prostete Ross ihr zu. „Ich kenne niemanden, der imstande ist, Travis Sutherland aus der Fassung zu bringen.“ Aber Kenzie hörte schon gar nicht mehr zu. Sie blickte zu einer kleinen Gruppe, die bei der Terrassentür stand. „Ist das nicht Stumpy Friedman?“ „Wer?“ „Der grauhaarige Mann dort drüben mit dem Stock.“ „Wer ist Stumpy Friedman?“ „Oh, Ross, er hat drei Pulitzerpreise für seine politischen Cartoons erhalten. Er ist der Beste weit und breit. Ich muss ihn einfach kennen lernen.“
„Dann hole ich Edie Parker, damit sie dich vorstellt.“
Wozu brauchte sie bitte diese aufgeblasene Parker? Bevor Ross sich versah, war
Kenzie schon auf dem Weg zu der Gruppe. Ross beobachtete staunend, wie sie
charmant in die Runde grüßte, wie die Männer über ihre Worte lachten und ihr
höflich in der Runde Platz machten. Sie schüttelte Stumpy Friedman die Hand,
und bald plauderten sie angeregt wie alte Freunde.
Ross gesellte sich nicht zu ihnen. Er nippte an seinem Glas und beobachtete sie.
Was für eine Frau! Obwohl er immer gewusst hatte, dass sie Klasse hatte, hätte
er doch nicht gedacht, dass Kenzie sich so selbstverständlich und routiniert auf
dem Parkett der feinen Gesellschaft bewegen konnte. Jetzt war er doch froh,
dass Alex ihn überredet hatte, sie mitzunehmen. Ihm fiel auf, dass es heute
Abend das erste Mal war, dass Kenzie und er ohne Angus unterwegs waren. Und
es machte ihm so viel Freude, dass er beschloss, die Sorgen wegen seines
Sohnes für ein paar Stunden zu vergessen.
Auch als jemand zu ihm trat, um sich mit ihm zu unterhalten, ließ er Kenzie nicht
aus den Augen.
„Hallo, Ross.“
„Hallo, Charlie.“
Aufgepasst, ermahnte sich Ross. Charlie Alden war in seiner früheren Kanzlei in
Manhattan Partner gewesen. Möglicherweise war er es gewesen, der Penelope
ermutigte, ihn zu ruinieren?
„Wie ich hörte, haben Sie jetzt Ihre eigene Kanzlei in Brooklyn?“
„Nein, in Queens.“
„Ach so.“ Charlie folgte Ross’ Blick. „Ist die Lady dort drüben heute Abend Ihre
Begleitung?“
Er wurde noch wachsamer. „Das ist Kenzie Daniels“, antwortete er ausweichend.
„In welcher Branche arbeitet sie?“
„Politische Cartoons.“
Charlie hob die Brauen. „Arbeitet sie etwa beim Norfolk Messenger?“
„Jawohl.“
„Verflixt. Können Sie mich ihr vorstellen?“
„Sicher.“
Kenzie hatte offenbar ihre Fans. Die kleine Gruppe um Stumpy Friedman hatte
sich inzwischen erweitert. Kenzie strahlte, als sie Ross sah.
Er legte ihr eine Hand auf den Arm. „Ich möchte dir Charles Alden vorstellen. Ein
Kollege von früher.“
„Aha.“ Kenzie blickte Ross eindringlich an. Er fragte sich, was sie alles über seine
Vergangenheit wusste. Hatte Delia ihr von den Problemen zwischen ihm und den
Partnern seiner alten Kanzlei erzählt?
Aber zunächst war er erst einmal daran interessiert, was Charlie Kenzie
unbedingt zu sagen hatte. Er hätte nicht gedacht, dass sein ehemaliger Kollege
sich so sehr für Karikaturen interessierte, dass ihm Kenzies Name ein Begriff war.
Zu Ross’ Erstaunen erkundigte Charlie sich nach ihrem Vater. Obwohl er glaubte,
kurz einen Schatten über ihr Gesicht huschen zu sehen, antwortete Kenzie
lächelnd, es ginge ihm gut. Charlie setzte die Unterhaltung mit Komplimenten
über ihre Zeichnungen fort und bat sogar noch um ein Autogramm.
„Verdammt noch mal“, zischte Ross, als Charlie gegangen war.
„Was ist? Findest du, ich hätte ihn niedermachen sollen, weil er Anwalt ist?“
Er grinste. „Irgendwas in der Richtung, ja.“
In diesem Augenblick trat ein Paar auf sie zu, das Ross als Penelopes
Innenarchitekten wieder erkannte. Da er sich nun einmal entschlossen hatte,
Angus zuliebe frühere Kontakte mit Leuten wie ihnen wiederherzustellen,
begrüßte er die beiden freundlich.
Nachdem die erforderlichen Höflichkeiten ausgetauscht waren, stellte Ross fest,
dass Kenzie verschwunden war. Er wanderte von Raum zu Raum, machte sich
bereits Sorgen, ob sie die Gesellschaft womöglich einfach satt hatte und nach
Cheltenham zurückgekehrt war.
Dann sah er sie, als er am Eingang zur Küche vorbeilief. Sie hantierte mit einem
langen Messer und zerkleinerte Pilze. Fröhlich winkte sie ihm aus der Küche zu.
Ross atmete erleichtert auf.
„Entschuldige, dass ich einfach weggelaufen bin. Ich wollte nur mal sehen, was
wir zum Abendessen bekommen. Irgendwie bin ich dann hier gelandet.“
„Dem Himmel sei Dank für Ihre kompetente Hilfe“, freute sich dieser ach so
berühmte Koch, dessen Name Barrieman war. „Wir haben heute Abend viel zu
wenig Personal.“
Kenzie ließ sich von dem Chaos um sie herum nicht stören. Ross sah, wie sie sich
nach den Pilzen auf einen Berg Zucchini stürzte. Er hatte ihr doch so viel zu
sagen, wusste nur nicht, wie er beginnen sollte.
„Du bist mir schon eine“, murmelte er schließlich.
„Was denn für eine?“ Sie lachte.
„Ich dachte, du würdest dich von dieser Umgebung und den Menschen hier
einschüchtern lassen, aber…“
„Bist du überrascht?“ neckte sie ihn.
„Zuerst. Aber das war ein großer Fehler.“
„Aha?“
Jetzt oder nie. Kenzie sah nicht aus, als würde sie Anton Barrieman in dieser
Stunde der Not ihre Hilfe verweigern, um draußen auf dem Rasen mit ihm ein
ernstes Gespräch zu führen. „Damals am Morgen in Hatteras, in deinem Haus…
erinnerst du dich? Du beschuldigtest mich, ich würde mich wie ein Snob
verhalten und dir gegenüber voreingenommen sein. Nun, das habe ich heute
Abend wieder getan. Aber der Himmel weiß, es kommt nicht wieder vor. Du bist
einmalig, Kenzie. Und ich bin ein Narr, weil ich das nicht früher bemerkt habe.“
Sie hielt in ihrer Arbeit inne. „Meinst du das wirklich?“
„Nein. Ja. Wirklich, du glaubst nicht, was für ein Narr ich bin. Ich weiß das alles
schon lange, und trotzdem wollte ich es mir nicht eingestehen.“
„Ross…“
Plötzlich konnte er es nicht mehr ertragen. „Lass uns hinausgehen. Wir müssen
miteinander reden.“
Und Kenzie folgte ihm ohne Widerrede. Ross nahm ihren Arm und eilte mit ihr
durch den ServiceEingang die Treppe hinunter in den Garten. Weit weg von dem
erleuchteten Spazierweg zog er sie in eine Rosenlaube. Der betäubende Duft, die
Dunkelheit machten Worte überflüssig. Noch bevor er seine Arme ausbreitete,
schmiegte sich Kenzie an ihn.
Die Leidenschaft übermannte sie. Sein Mund fand ihren und er küsste sie, als
wolle er sie nie wieder gehen lassen.
Seine Hände glitten über ihre nackten Schultern, Seide knisterte, als Ross den
Reißverschluss an ihrem Rücken öffnete. Kenzie stöhnte leise, als sie seine
Hände auf ihren Brüsten spürte. Schon landete sein Smoking auf dem Boden.
Eng umschlungen ließen sie sich darauf niedersinken. Ihre Körper schmiegten
sich fest aneinander.
„Kenzie“, flüsterte Ross. Mehr nicht.
Schon fühlte sie das heftige Klopfen seines Herzens. Sie hielt ihn fest an sich
gedrückt. Und als sie gemeinsam den Höhepunkt erreichten, formte ihr Herz die
Worte: Ich liebe dich. Ich liebe dich. Ich liebe dich.
12. KAPITEL Kenzie zögerte, bevor sie aus der Rosenlaube trat. Ross fand ihre Vorsicht
bezaubernd. Zehn Minuten zuvor hatte sie hemmungslos ihre Kleidung auf das
Gras fallen lassen, ohne zu bedenken, ob sie jemand sah oder hörte.
Ebenso wie Ross. Himmel, nie zuvor hatte er so vollkommen alles um sich herum
vergessen!
Die Terrasse war leer. Durch die großen Fenster sahen sie, dass die Gäste bereits
an den mit Kerzen geschmückten Tischen Platz genommen hatten. Alle Köpfe
waren zu einem Ende des Raums gerichtet, wo wahrscheinlich Edie Parker oder
Senator Richardson gerade eine Rede hielten.
„Ich glaube, da hinten gibt es noch ein paar leere Plätze“, sagte Ross. „Wir
können uns hineinschleichen, ohne großes Aufsehen zu erregen.“
„Du hast Gras an deiner Jacke.“
„Und du hast Rosenblüten im Haar.“
Kenzie säuberte seine Jacke, und Ross pflückte ihr die Blüten aus dem Haar.
Dann küsste er sie auf die Lippen.
Ihre Augen leuchteten. „Du bist schamlos, Ross Calder.“
„,Verloren’ passt wohl eher.“
„Vorsicht“, warnte sie. „Du stehst unter einem Zauber. Und jeder Zauber endet
um Mitternacht.“
Er lachte und legte ihr eine Hand auf den Arm. „Komm, lass uns hineingehen. Ich
sterbe vor Hunger.“
Senator Richardson hatte seine Rede gerade beendet. Während des Applauses
schlichen sich Ross und Kenzie hinein. Eine platinblonde Frau winkte Kenzie zu,
als sie in ihrer Nähe vorbeigingen und warf ihr eine Kusshand zu. „Schön, Sie zu
sehen, meine Liebe. Wie geht es Ihrer Mutter?“
„Gut“, flüsterte Kenzie, schien sich dabei jedoch entschieden unbehaglich zu
fühlen.
„Das war Nina Bradford“, sagte Ross überrascht. „Woher kennst du sie?“
„Sie war mit meiner Mutter zusammen in Vassar. Sie sind seit Jahren
befreundet.“ Nina Bradford war sogar Kenzies Patentante, aber das wollte sie
Ross nicht sagen.
„Deine Mutter, aha. Du hast mir nie auch nur ein Wort über deine Familie
erzählt.“
Kenzie war froh über die Unterbrechung, als die Kellner begannen, den ersten
Gang aufzutragen. Nein, sie wollte Ross nichts über ihre Familie erzählen.
Besonders nicht über ihren Vater, dessen ungesetzlicher Aktivitäten sie sich noch
heute schämte.
Konnte sie sich ihrer Beziehung zu Ross schon so sicher sein und darauf
vertrauen, dass er ihren Schmerz über das, was ihr Vater getan hatte, verstand?
Nein, sie wollte jetzt nicht über Ross grübeln, selbst wenn es ihr schwer fiel, weil
er mit seiner verführerischen männlichen Ausstrahlung so nahe an ihrer Seite
saß.
Ich muss unbedingt hier raus, dachte sie auf einmal. Wie sollte sie sich all dieser
Gefühle erwehren? Lust, Hingabe, Liebe? Auch wenn Ross sie inzwischen ein
wenig lieb gewonnen hatte, konnte sie nicht sicher sein, wie er sich verhalten
würde, wenn er zufällig erfuhr, dass sie ihren eigenen Vater öffentlich kritisiert
hatte.
Er berührte zart ihren Arm und riss sie damit aus ihren trüben Gedanken.
„Kenzie, ist bei dir alles in Ordnung?“
Der Wunsch fortzulaufen war wie weggeblasen. „Ja, alles okay.“
„Dann solltest du jetzt auch etwas essen. Immerhin hast du bei den Vorbereitungen geholfen.“ Sie lächelte. Was immer auch heute noch geschehen mochte, solange sie nur mit Ross zusammen sein konnte, brauchte der Abend nie zu enden. Ein schwacher rötlicher Sonnenstrahl fiel durch die Jalousie direkt auf Angus’ Bett. Er wachte auf und warf die Decke zurück. Freudig dachte er an das, was er sich für heute vorgenommen hatte. Er hatte Kenzie und seinen Vater genau beobachtet, als sie gestern in den Wagen stiegen – Kenzie hatte so wunderschön ausgesehen und sein Vater so glücklich. Dennoch, obwohl er sehr aufgeregt war, verspürte er ein flaues Gefühl im Magen. Er wünschte, er hätte jemanden, mit dem er über sein Vorhaben sprechen konnte. Es war nicht leicht, ohne Hilfe zwei Menschen zu überzeugen, dass sie heiraten… Auf Cape Hatteras hatte Angus zu viel Angst vor seinem Vater, um ihn geradeheraus zu bitten, ob Kenzie nicht zu ihrer Familie gehören dürfte. Dabei hatte er noch die Antworten seiner Mutter im Ohr. Wann immer er nach seinem Vater gefragt hatte, hatte sie geantwortet, der sei ein ungeduldiger jähzorniger Mensch und überhaupt nicht an seinem Sohn interessiert. Seit einiger Zeit versuchte Angus bereits, Mut zu fassen und mit seinem Vater über Kenzie zu sprechen. Er wollte ihm sagen, wie viel wohler er sich fühlte, wenn Kenzie bei ihnen war. Wie viel wohler sich dann auch sein Vater zu fühlen schien. Hier, bei Onkel Alex und Tante Maggie, redeten sie am Küchentisch ständig über ihn, wenn sie meinten, er sei außer Hörweite. Er hatte eine Ahnung, irgendwie in Gefahr zu sein, traute sich aber nicht, zu fragen. Doch als Kenzie schließlich auftauchte, ihn liebevoll umarmte und küsste und ihn „mein Süßer“ nannte, wusste er, dass alles gut werden würde. Sicherlich hatte sein Vater inzwischen eingesehen, wie sehr sie Kenzie brauchten. Obwohl er versucht hatte, so lange wie möglich wach zu bleiben, um seinen Vater und Kenzie nach dem Galaessen zu begrüßen, war er eingeschlafen. Also musste er jetzt aufstehen und mit seinem Dad reden. Von Mann zu Mann. Musste ihm erklären, was er fühlte, was er wollte, und warum es richtig war, dass Kenzie seine Mum wurde. Kenzie hatte ihn stets ermutigt, über seine Gefühle und Gedanken zu sprechen. Als er in diesem Moment hörte, wie ein Auto in die Auffahrt einbog, schaute er aus dem Fenster. Größere Wagen mit Satellitenantennen und mit Aufschriften der Namen von Fernseh und Rundfunksendern folgten und parkten auf dem Rasen. Menschen mit Kameras und Mikrofonen stiegen aus und deuteten auf das Haus. Die Verandatür schlug zu. Angus sah seinen Onkel die Auffahrt hinuntergehen. Er trug seinen Morgenmantel und Hausschuhe, als sei er gerade erst aufgewacht. Alex sah ganz und gar nicht glücklich aus. Unten klingelte das Telefon. Es dauerte eine Weile, ehe Tante Maggie ranging. Als sie aufgelegt hatte, läutete es erneut. Angus konnte ihre Stimme bis nach oben hören. Sie klang wütend. Irgendetwas ist passiert, dachte er. Irgendetwas Schlimmes. So wie damals, als sie ihm sagten, dass seine Mum sehr krank sei. Als sie ihm sagten, sie sei gestorben. Als sie ihm sagten, er würde jetzt in einem Land leben, das er nicht kannte, bei einem Vater, den er ebenso wenig kannte. Als sein Vater ihn vor ein paar Tagen aufweckte und ihn ohne jede weitere Erklärung hierher brachte.
„Kenzie“, flüsterte er, „wo bist du?“
Kenzie hatte im Wagen ein wenig gedöst, als Ross beim Anblick der
Übertragungswagen vor dem Haus seines Bruders laut aufstöhnte.
„Was ist passiert?“ Sie dachte als Erstes an Angus. „Ein Unfall?“
Ross brachte den Wagen abrupt zum Stehen. „Das sind keine Rettungswagen.“
„Kommen wir an ihnen vorbei?“
„Ich will gar nicht an ihnen vorbei“, sagte Ross finster und lenkte den Wagen
unter einen Baum mit weit herabhängenden Zweigen, so dass man sie vom
Vorgarten aus nicht sehen konnte. „Ich glaube, ich weiß, warum diese verfluchte
Bande hier ist.“
„Oh nein, Ross. Du meinst doch nicht etwa, sie seien Angus’ und deinetwegen
hier.“
„Ich schleiche hinten ums Haus.“
„Ich komme mit.“ Kenzies Herz klopfte schneller. Sie war nicht sicher, ob sie in
dem engen Kleid und den hohen Absätzen schnell genug laufen konnte. Aber
glücklicherweise kam in diesem Moment am oberen Ende der Straße ein Pickup
in Sicht, und alle Kameraleute drehten sich danach um, so dass sie und Ross
unentdeckt über das Feld zum Haus laufen konnten.
Inzwischen raste ihr Puls. Jetzt bereute sie, dass sie und Ross so lange bei den
Parkers getanzt und in der Morgendämmerung den weiten romantischen Umweg
durch den Pinienwald, vorbei an dem stillen See, gemacht hatten.
„Alex“, rief sie, als sie Ross’ Bruder sah. „Ist alles okay?“
Er hatte die Hintertür aufgerissen. „Außer der Tatsache, dass diese Leute bereits
hier kampieren, gehts uns gut.“
„Wo ist Angus?“
„Der schläft noch.“
„Wer sind diese Leute? Was wollen sie?“
Alex’ finsterer Blick traf Kenzie. „Gerade Sie müssen das fragen.“
„Ich? Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz…“
„Nein? Vielleicht sollte ich Sie aufklären. Scheint so, dass jemand bei den Parkers
die Tochter von Burton Daniels wieder erkannt hat.“ Er blickte Ross an. „Du
kennst Burton Daniels, nehme ich an. Der Anwalt, dessen Kandidatur für die
Republikaner wegen irgendwelcher dubioser Wahlspenden scheiterte.“
„Ja, ich erinnere mich“, sagte Ross ungeduldig. „Aber was hat das zu tun mit…?“
Seine Miene verfinsterte sich, als er Kenzie anblickte.
„Genau, Bruder. Sie ist Burton Daniels Tochter, die den Pulitzerpreis erhielt, weil
sie die schmutzigen Wahlspendenaffären ihres Vaters mit einem politischen
Cartoon an die Öffentlichkeit brachte. Was für ein bittersüßer Preis muss das für
Sie gewesen sein, Kenzie! Was haben Sie mit dem Geld getan?“
„Ich… ich spendete es einer gemeinnützigen Institution für ärztliche Versorgung
der Kinder auf den HatterasInseln“, flüsterte sie. „Außerdem brauchte ich einen
Teil für die Voliere. Aber…“
„Die Reporter sind deinetwegen hier?“ unterbrach sie Ross, als verstünde er erst
jetzt. „Nicht meinetwegen? Nicht, weil Penelopes Eltern Angus beanspruchen?“
„Keine Spur“, schalt Alex. „Es geht um Miss Daniels, deren Anwesenheit allein
schon von größtem Interesse für eine kleine Stadt wie der unseren ist.
Verständlich, wenn man bedenkt, dass die Daniels mit Präsidenten und
ausländischen Staatsmännern verkehren.“
„Warum sollte das denn hier draußen eine Rolle spielen?“ fragte Kenzie
verzweifelt.
Alex deutete über seine Schulter. „Weil die da draußen darauf warten, mit Ihnen
zu reden. Sie wollen wissen, wie man sich fühlt, wenn man zurückkehrt in die
obere Gesellschaft. Und sie erwarten einen Kommentar von dir, Ross, was Kenzie
als deine Begleitung bei einem Galadinner der Republikaner zu suchen hat.“ Er
blickte Kenzie verächtlich an. „Und der Vollständigkeit halber: Von mir wollten sie
wissen, wie ich mich fühle mit einer Berühmtheit als Gast in meinem kleinen
Haus. Ich gab natürlich keinen Kommentar.“
Kenzie brachte kein Wort hervor, sah Alex nur an.
„Maggie hat bereits drei aufgebrachte Anrufe von Mitarbeitern von Senator
Richardson entgegennehmen müssen“, fuhr Alex fort. „Die sind nicht gerade
erfreut, dass sie nicht wussten, wer da auf ihrer feinen Party war.“
„Da kann ich mich nur anschließen. Ich hätte auch gern gewusst, wer meine
Begleitung in Wahrheit war.“ Ross’ Augen schienen Kenzie förmlich zu
durchbohren.
Kenzie verschränkte ihre Hände miteinander. „Es tut mir Leid. Wirklich. Ich hätte
es dir sagen müssen, aber…“
„Verdammt richtig, das hättest du.“ Ross schien noch viel zorniger zu sein als
sein Bruder. „Vielleicht hätte ich dann darauf verzichtet, dir einen Job als
Kindermädchen für Angus anzubieten. Dir, der Tochter von Burton Daniels. Ich
bitte dich! Kein Wunder, dass du mir damals einen Korb gabst.“
Kenzie versuchte, die Tränen zurückzuhalten. „Das ist nicht der Grund gewesen,
warum ich damals ablehnte. Und jetzt bin ich doch hier, oder?“
Ross nickte und deutete auf die Straße. „So wie die dort. Im Fokus der Medien.
Das fehlte mir gerade noch! Weißt du nicht mehr, dass es meine Frau und die
Medien waren, die meine Chancen auf eine Beziehung zu Angus verdorben
haben? Wenn du Schuld daran bist, dass ich meinen Sohn verliere, Miss
Daniels…“
Kenzie fuhr erschreckt zurück. „Ross!“ Doch als der sie nur wütend anfunkelte,
wirbelte sie herum und rannte zur Hintertür.
„Warten Sie einen Moment.“ Alex packte ihren Arm. Kenzies Verzweiflung rührte
ihn. „Wohin wollen Sie?“
„Ich gebe denen, was sie wollen. Vielleicht haben Sie dann Ruhe vor ihnen.“
„Mit denen werden Sie nicht fertig.“
„Oh, ich glaube schon.“
Alex bereute sein schroffes Verhalten. „Hören Sie, Kindchen. Ich weiß, Sie sind
hart im Nehmen. Aber gerade jetzt sind Sie es nicht. Sie sind übernächtigt und
sollten sich erst mal ordentlich ausschlafen. Es tut mir Leid, dass ich Sie so
angefahren habe.“
Seine mitleidige Stimme trieb ihr die Tränen in die Augen. Er hatte Recht.
„Gehen Sie zu Bett“, sagte nun auch Maggie und legte einen Arm um sie. „Sie
sehen erschöpft aus.“
„Aber…“
„Alex wird diese Geier schon los. Wenn Sie aufwachen, sind die vielleicht schon
weg.“
Kenzie warf Ross einen hilflosen Blick zu. Aber seine Miene ließ sie nur noch
schneller aus dem Raum eilen.
Ross wollte ihr hinterher, doch Alex drückte ihm den Zeigefinger auf die Brust.
„Du bleibst hier. Lass die Frau in Ruhe, oder ich sperre dich ein, weil du so ein
mieser Kerl bist.“
„Moment mal. Ich habe ebenso viel Grund, böse auf sie zu sein wie du.“
„Hast du nicht.“
„Ach, und warum nicht?“
„Weil sie nicht in mich verliebt ist, du Idiot.“
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Außerdem, was regst du dich so über mich
auf? Ich bin doch für diese Situation nicht verantwortlich.“ „Kenzie bestimmt auch nicht.“ „Auf einmal bist du auf ihrer Seite?“ „Ja. Nachdem ich verstanden habe, dass sie das alles nicht absichtlich gemacht hat. Du hast doch ihr Gesicht gesehen, Ross. Sie war völlig überrascht.“ „Sie wollte eigentlich auch gar nicht mit nach Beechwood Manor“, warf Maggie freundlich ein. „Vielleicht hatte sie geahnt, dass sie irgendwelchen alten Bekannten begegnen würde.“ Ross dachte daran, wie herzlich Kenzie von vielen Gästen begrüßt worden war, die sie zu kennen schienen. Ja, es hatte ihn schon ein wenig stutzig gemacht, aber in seiner Blindheit hatte er nicht weiter darauf geachtet. Blinder Trottel! Kenzie hatte ihn und Angus bewusst im Dunkeln gelassen. Er fühlte sich fürchterlich hintergangen. „Sie hätte etwas sagen können, bevor wir losfuhren, wenigstens einen Hinweis geben auf das, was auf uns zukommt.“ Alex kreuzte die Arme vor der Brust. Sein Zorn war verraucht beim Anblick von Kenzies kummervollem Gesicht. Nun musste sich auch Ross beruhigen. Er hatte seinen Bruder noch nie so zornig erlebt. „Was soll schon auf uns zukommen? Ein paar Fernsehleute, die nichts anderes zu tun haben in einer Stadt, wo niemals etwas passiert. Also, was solls?“ Ross starrte ihn ungläubig an. „Aber denk doch an Angus. Vergiss nicht, wie die Medien sich das letzte Mal einmischten.“ „Aber diesmal ist es anders, Ross“, mischte sich Maggie ein. „Du sagtest doch, in Fällen wie deinem sprechen die Richter bevorzugt einem Elternteil das Sorgerecht zu.“ „Aber wenn sie herausfinden, dass ich eine Affäre mit der Tochter des berüchtigten Burton Daniels hatte? Die noch dazu das Kindermädchen meines Sohnes ist?“ Maggies Wangen glühten, aber Alex schüttelte nur den Kopf. „Überschätze das nicht, Ross. Die Story wird kurz in ein paar bunten Blättern erscheinen. Vielleicht bringt auch irgendein PromiMagazin im Fernsehen eine kurze Nachricht. Was solls? Weißt du, was ich glaube?“ „Was?“ zischte Ross. „Ich glaube nicht, dass du böse auf Kenzie bist, weil sie deine Chancen, Angus zu behalten, in Gefahr bringt. Du bist doch ein zu gewitzter Anwalt, um das zu glauben.“ „Was du nicht sagst.“ „Und auch, dass sie dir ihren ganzen Hintergrund nicht gebeichtet hat, ist nicht der Grund für deinen Zorn. Dahinter steckt etwas ganz anderes.“ „Ach ja?“ Ross blickte seinen Bruder wütend an. „Du bist sauer, weil du es nicht schaffst ihr zu sagen, dass du sie liebst. Das fiel dir von Anfang an schwer. Und nun ist es beinahe unmöglich geworden, nicht wahr?“ Ross’ Augen funkelten Alex an. „Das ist ja lächerlich.“ „Komm schon! Du konntest dich nicht überwinden, es ihr an eurem letzten Urlaubstag zu gestehen. Weder ihr noch dir selbst. Deshalb kamst du auf diesen wunderbar glorreichen Gedanken, ihr den Job als Angus’ Kindermädchen anzubieten. Des Feiglings Ausweg – immerhin eine, gute Möglichkeit, Kenzie in deiner Nähe zu behalten.“ „Du nennst mich einen Feigling?“ Alex zuckte die Schultern. „Wenn du keiner sein solltest, dann geh zu ihr, bitte sie um Verzeihung, weil du ihr unterstellt hast, sie würde deinen Sorgerechtsstreit gefährden. Sag ihr, es sei dir völlig egal, ob sie reich ist und
ihren kriminellen Vater in der Öffentlichkeit angeprangert hat. Das erfordert natürlich enormen Mut. Und dann bitte sie ganz vorsichtig, deine Frau zu werden, etwas, was du schon beim Abschied von Hatteras vorhattest. Und vergiss nicht hinzuzufügen, dass du nicht mehr der vermögende erfolgreiche Anwalt bist wie damals, als du mit Penelope verheiratet warst. Dieser Gedanke quält dich im Moment wohl am meisten, nicht wahr?“ „Du kannst von Glück sagen, dass ich zu müde bin, Alex. Sonst hätte ich dir jetzt eine gelangt.“ Ross lächelte gezwungen. „Okay. Was wäre, wenn du dich täuschst und ich nicht solche romantischen Gefühle für Kenzie hege?“ „Zu wissen, was in den Köpfen anderer vorgeht, zeichnet jeden guten Polizisten aus. Außerdem bist du mein Bruder.“ Maggie legte eine Hand auf Ross’ Arm. „Du siehst genauso erschöpft aus wie Kenzie. Geh nach oben und ruh dich aus. Ihr könnt später weiter diskutieren.“ „Dad!“ Alle blickten erstaunt auf. So nannte Angus seinen Vater selten. Ross hockte sich nieder. „Was ist los, mein Sohn?“ „Kenzie ist weg. Du musst sie zurückholen.“ „Sie ist weg?“ Angus nickte und presste sein Gesicht an Ross’ Schulter. „Sie kam zu mir und verabschiedete sich. Sie sagte, dass sie mich sehr lieb hat, dass sie aber nicht mehr bei uns bleiben kann. Sie sagte, sie hat etwas getan, das dich vielleicht verletzt, wenn es die Reporter vom Fernsehen herausfinden. Dann ging sie zu ihnen und redete mit ihnen. Ich habe gesehen, wie sie einen Mann mit einer großen Kamera umarmte und in sein Auto stieg. Warum hat sie das getan? Warum glaubt sie, dass es uns etwas ausmacht, wenn sie etwas Unrechtes getan hat?“ Ross und Alex blickten sich über Angus’ Kopf hinweg an. Als Maggie aus dem Arbeitszimmer kam und bestätigte, dass Kenzies Sachen fort waren, bat Angus seinen Vater verzweifelt, Kenzie zurückzuholen. „Ich will es versuchen“, versprach er. Aber dem Jungen war Ross’ skeptischer Ton nicht entgangen. Er schlang einen Arm um den Hals seines Vaters und umarmte ihn fest. „Du kannst sie zurückholen, Dad. Ich weiß es. Du kannst alles.“
13. KAPITEL Kenzie bezahlte das Taxi und eilte zu dem imposanten Eingang des historischen RayburneCarterHauses, nicht weit vom Weißen Haus entfernt. Sie versuchte, das flaue Gefühl im Magen zu ignorieren. Sie hatte keine Ahnung, wie ihr Vater oder ihr ältester Bruder sie empfangen würden. Eine Szene in der Kanzlei vor versammelter Mannschaft würden sie wohl vermeiden. Oder? Ach, und wenn. Eine Szene würde ihr nichts ausmachen. Was zählte, war, dass ihr Bruder Burt einer der erfolgreichsten und vornehmsten Familienanwälte im ganzen Land war. Wie groß der Schaden auch sein mochte, den sie Ross in seinem Sorgerechtsstreit zugefügt hatte – Burt würde wissen, wie man die Sache wieder in Ordnung brachte. Er musste ihr einfach helfen! Ihre Knie wurden weich, wenn sie an den letzten schrecklichen Streit dachte, den sie mit ihrem Vater und Bruder in eben diesem Gebäude hatte. Aber ihr Entschluss stand fest. Sie brauchte nur an Ross’ zornige Worte zu denken, als er ihr heute am frühen Morgen in Alex’ und Maggies Haus vorwarf, sie habe möglicherweise zu verantworten, dass er das Sorgerecht für seinen Sohn verlor… Sie hätte nicht mit den Fernsehleuten gesprochen, wenn sie nicht Vince Abrams unter ihnen entdeckt hätte. Als freischaffender Fotograf war er bei unzähligen Fototerminen in ihrem Elternhaus in Washington. D.C. dabei gewesen. Kenzie mochte Vince Abrams, der immer nett und niemals aufdringlich war, und einen unverwüstlichen Humor besaß. Sein Angebot, mit ihr an einem ruhigen Ort zu reden, hatte sie gern angenommen. Und bei einer Tasse Kaffee erklärte sie ihm nicht nur, wie sie zu dieser Einladung für das Wahlessen gekommen war, sie erzählte Vince auch von Angus und ihrer Angst, dem Sorgerechtsstreit seines Vaters geschadet zu haben. Vince Abrams war so freundlich, sie den weiten Weg zum LaGuardia Flughafen zu fahren. Er arrangierte auch die Rückgabe des Wagens, den Kenzie in Cheltenham gemietet hatte. Dann nahm sie den Nachmittagsflug nach Washington, und hier stand sie nun vor der glänzenden Aufzugstür auf dem Weg zur Kanzlei der Daniels. „Himmel“, seufzte sie und atmete tief durch. Burt schien Kenzies Ankunft in der Lobby über die Überwachungskamera verfolgt zu haben. Er vergeudete offensichtlich keine Zeit, dem Feind bereits am Tor entgegenzutreten. „Kenzie. Da bist du ja. Ich wollte gerade gehen. Hat Tad dich noch erreicht?“ fragte er, als er ihr in der Lobby atemlos entgegeneilte. Er nahm ihren Arm und drängte sie zum Ausgang. „Mein Wagen steht vor der Tür.“ „Um Himmels willen, was ist denn los?“ „Für Details ist es zu früh. Dad erwartet noch den Arzt. Man hat sie auf die Intensivstation gebracht.“ „Mom?“ „Hat man dich denn nicht informiert?“ „Nein. Was ist mit Mom?“ „Eine Herzattacke. Ich habe es auch eben erst erfahren. Komm bitte, Dad sagt, sie fragt die ganze Zeit nach dir.“ Auf dem Weg zum Krankenhaus sprach Kenzie kein Wort. Burt musste sich auf den Verkehr konzentrieren. Er fragte nicht einmal, wieso sie dann gekommen war, wenn sie nichts über die Herzattacke ihrer Mutter gewusst zu haben schien. Überhaupt wunderte sich niemand über Kenzies plötzliches Erscheinen. Ihre Brüder David und Tad warteten bereits im Wartezimmer der Intensivstation. Sie
reagierten nicht anders als Burt.
„Bin ich froh, dass David dich erreicht hat“, sagte Tad und umarmte sie.
Kenzie ließ sich auf einen Stuhl sinken. Kein Zweifel, sie stand unter Schock.
Nach allem, was am Vorabend und heute Morgen geschehen war, nach der
langen Fahrt und dem Flug nach Washington, fühlte sie sich total erschöpft. Über
ihre überraschend lockere Aufnahme in den Kreis ihrer Familie dachte sie im
Moment nicht weiter nach. Ihre Mutter…
„Dad.“
Ein weiterer Schock! Waren seine Haare schon immer so grau gewesen? Kenzies
Hals war wie zugeschnürt.
In diesem Moment entdeckte auch Burton Daniels seine Tochter und erstarrte.
Doch dann breitete er die Arme aus. Automatisch und mit einem leisen
Schluchzer ließ sie sich umarmen.
„Kenzie. Ich freue mich, dass du gekommen bist.“
Seine Stimme, der vertraute Duft seines After Shaves umhüllten sie. Tränen
traten in ihre Augen. „Wie geht es Mom?“
Die Miene ihres Vaters entspannte sich ein wenig. „Es geht ihr nicht ganz so
schlecht, wie ich glaubte. Es war wohl doch keine richtige Herzattacke. Dr. Patek
sagte, ihr Herzschrittmacher müsse neu eingestellt werden. Sie soll über Nacht
hier bleiben.“
„Können wir sie sehen?“ fragte Tad.
„Nein. Aber ich gehe jetzt zu ihr und sage ihr, dass unsere kleine Kenzie da ist.“
Sein Blick suchte Kenzies. „Du bleibst doch?“
„Selbstverständlich. So lange ich gebraucht werde.“
Die Wartezimmertür öffnete sich, und Kenzies Bruder Stuart, ihre Schwägerin
und ihre Nichten und Neffen begrüßten sie so freudig und geräuschvoll, dass
schon bald eine Krankenschwester hereinschaute und die Familie ermahnte, nicht
zu vergessen, dass sie sich auf der Intensivstation befänden. Dana, Burts Frau,
schlug daraufhin vor, erst einmal zum Essen in ein nahe gelegenes Restaurant zu
gehen und sich danach noch einmal nach dem Zustand der Mutter zu erkundigen.
Kenzie wehrte ab. „Ich komme später nach. Ich möchte noch auf Dad warten.“
Stuarts Frau blickte sie erstaunt an. „Ist das denn eine gute Idee?“
Tad legte seiner Schwester einen Arm um die Taille. „Offensichtlich haben die
beiden sich versöhnt.“
„Halleluja“, jubelte Dana und freute sich aufrichtig.
„Dad hat sich in letzter Zeit sehr verändert“, erklärte Tad.
„Tja, der Sozialdienst zeigt seine Wirkung“, kommentierte David.
Kenzie staunte. „Sozialdienst? Mom hat mir nichts davon erzählt.“
„Zweihundert Stunden unbezahlte Anwaltsleistungen als Pflichtverteidiger. Mom
wollte wahrscheinlich nicht, dass du dich verantwortlich fühlst, wenn Dad auf
einmal Drogensüchtige und obdachlose Mütter verteidigt.“
Also genau das, was auch Ross mittlerweile tat – freiwillig allerdings. „Ich würde
mich niemals schämen, weil mein Dad sozial Schwache verteidigt. Den
Sozialdienst halte ich für die edelste Arbeit eines Anwalts. Ihr würdet alle gut
daran tun, euch Dad als Vorbild zu nehmen.“
„Sie hat Recht.“ Burton Daniels war gerade rechtzeitig ins Wartezimmer
zurückgekehrt, um Kenzies leidenschaftliche Rede zu hören. „Tatsächlich planen
wir auf diesem Gebiet große Veränderungen. Burt kann dich beim Abendessen
über die Einzelheiten aufklären.“
„Kommst du nicht mit?“ fragte Tad seinen Vater.
„Ich bleibe lieber hier bei eurer Mutter. Aber eines will ich noch sagen.“
Alle Augen richteten sich auf ihn, als er Kenzie eine Hand auf die Schulter legte.
„Es betrifft diese Sozialleistungen, die das Gericht mir als Strafe auferlegte.“ „Es tut mir so Leid.“ Kenzie schlug das Herz bis zum Hals. Was würde ihr Vater jetzt sagen? „Du brauchst dich nicht bei mir zu entschuldigen, Kenzie. Eigentlich schulde ich dir etwas – vor allem meinen aufrichtigen Dank.“ „Äh? Wie bitte?“ „Ja. Dank dir habe ich letztes Jahr mit obdachlosen Familien, missbrauchten Müttern und Kindern gearbeitet. Ich habe dabei gelernt, was für ein Segen eine intakte, liebevolle Familie bedeutet. Dadurch wurde mir klar, wie töricht es von mir war, dieses Glück in unserem Clan nicht zu pflegen. Es gibt keine Entschuldigung für das, was ich dir angetan habe.“ Seine Stimme bebte. „Kannst du mir verzeihen, Kenzie?“ „Dad. Ich habe nichts zu verzeihen.“ Sie war überglücklich, als ihr Vater sie in seine Arme schloss. Gleichzeitig musste sie an eine andere Familie denken, eine, die nur aus einem Vater und einem Sohn bestand. Und die nicht annähernd so glücklich sein durfte. Burton Daniels bestand darauf, mit Kenzie allein im Holloway zu essen. An einem etwas abgelegenen Tisch unterhielten sich die beiden in Ruhe miteinander darüber, was vor einem Jahr geschehen war. Warum Kenzie damals diesen Cartoon gezeichnet hatte. Wie ihr Vater über all das gedacht hatte. Und vor allem, wie er jetzt darüber dachte. Dabei erfuhr sie, dass sie von der ganzen Familie, einschließlich ihres Vaters, unendlich vermisst worden war. „Ich hatte vor, dir das bald zu sagen. Noch bevor deine Mutter krank wurde“, gestand er ihr lächelnd. „Oh, Dad.“ Kenzie ergriff seine Hand. Beim Essen fiel es ihnen schon leichter, zu reden, und als die Teller abgeräumt waren, war rein gar nichts mehr von Verlegenheit zu spüren. Während ihr Vater noch eine Tasse Kaffee trank, ging Kenzie in die Damentoilette, um sich die Hände zu waschen und die Haare in Ordnung zu bringen. Als sie zurückkehrte, steckte ihr Dad gerade sein Handy wieder in die Tasche. „Das war Stuart. Die Familie ist noch im Restaurant. Stuart hat wohl noch einmal auf Moms Station angerufen. Sie schläft jetzt, und es sieht so aus, als könnte sie morgen entlassen werden.“ „Das ist wundervoll, Dad“, freute sich Kenzie. „Wie steht es mit dir? Kann ich dich nach Hause bringen?“ Nach Hause. Nie zuvor hatte dieses Wort schöner geklungen. „Gern, Dad.“ „Doch da wir schon einmal allein sind, möchte ich die Chance nutzen und mit dir über Brent sprechen.“ „Ach?“ „Er fragte mich neulich nach dir. Kenzie… was immer zwischen euch beiden vorgefallen sein mag, es war allein meine Schuld. Ich habe ihm gegenüber ein paar wirklich unfaire Kommentare gemacht.“ Kenzie hielt es jetzt für den richtigen Zeitpunkt, ihrem Vater zu sagen, dass es einen anderen Mann in ihrem Leben gab. Na ja, dass es ihn fast gegeben hätte. „Ich liebe Brent nicht mehr, Daddy.“ Sie senkte die Stimme. „Ich glaube, ich habe ihn nie geliebt. Damals wusste ich noch nicht, was Liebe ist.“ „Weinst du etwa, Kenzie?“ „Nein, Daddy. Aber ich möchte dich um einen großen Gefallen bitten.“ Er nahm ihre Hand. „Alles, was du willst, Liebes.“ „Es geht um eine juristische Angelegenheit. Ich brauche dich und Burt. Ihr müsst euch zusammensetzen und überlegen, wie ihr… einem Freund von mir helfen
könnt.“ Die nächsten Tage waren hektischer, als Kenzie erwartet hatte. Alle ihre Freunde und Bekannten nahmen wie selbstverständlich an, sie sei für immer nach Washington zurückgekehrt, und meinten, sie müsse einfach dort weitermachen, wo sie aufgehört hatte. Als sei das ganze schreckliche letzte Jahr nur ein Traum gewesen. Von allen Seiten bekam sie gute Ratschläge, erst einmal auszuruhen und sich keine Gedanken über die Zukunft zu machen. Nur so könne sie eine glückliche Entscheidung treffen, wie es weitergehen sollte. Glück? Wie sollte sie ohne Ross glücklich sein? Immerhin hatte sich ihr Vater bereit erklärt, bei dem Sorgerechtsstreit um Angus behilflich zu sein. Erst gestern Vormittag hatten er und Burt ihr zu diesem Fall eine Anzahl Fragen gestellt, die sie mühelos beantworten konnte, ohne verraten zu müssen, dass Ross mehr als nur irgendein sehr guter Freund war. Kenzie hatte keine Ahnung, ob einer von beiden inzwischen Kontakt mit Ross aufgenommen hatte. Ihr fehlte der Mut zu fragen, und die beiden äußerten sich nicht dazu. Doch es war schließlich das Wiedersehen mit ihrem ehemaligen Verlobten, das sie in ihrem Entschluss bestätigte, lieber gestern als heute wieder nach Hatteras zurückzukehren. Brent hatte durchblicken lassen, dass er durchaus bereit sei, die Beziehung zu ihr wieder aufzubauen. Der Mann war seiner so vollkommen sicher und zweifelte keinen Moment, dass Kenzie sich wieder in ihn verlieben würde. Brent hatte sich nicht geändert. Sie hingegen war eine andere Frau als vor einem Jahr. Eine, die ihr, ehrlich gesagt, besser gefiel. „Ich bin nicht sicher, ob ich überhaupt wieder zurückkomme.“ Kenzie hatte die Worte leichthin gesagt und merkte erst hinterher, wie viel Wahrheit in ihnen steckte. Ihr war es Ernst: Sie musste zurück zu den Outer BankInseln, und zwar so rasch wie möglich. Dort, im Schein der untergehenden Sonne über der Bucht, hoffte sie, endlich Ruhe zu finden. Die Fürsorge für ihre Vögel würde sie trösten, mit der Leere und der Sehnsucht in ihrem Herzen zu leben. Ja, dann würde sie auch wieder lachen können mit ihren Freunden im Hafen und im Red Drum Cafe…
14. KAPITEL Die Sonne stand noch hoch am Himmel, als Kenzie im Wagen ihres Vaters über die OregonInletBrücke nach Buxton fuhr. Der Anblick der wilden Brandung bestätigte ihren Entschluss. So gern sie auch wieder mit ihrer Familie zusammen gewesen war, jetzt brauchte sie Zeit für sich selbst. Die Ereignisse der vergangenen Woche hatten sie wie ein Sog fortgezogen. Jetzt wünschte sie sich nichts mehr, als eine klare Bestandsaufnahme zu machen. Und über ihre Zukunft nachzudenken. Sie hatte Brent nie geliebt. Das war ihr während der letzten Begegnung klar geworden. Du verbringst dein Leben nicht mit einem Mann, nur weil er attraktiv und lebenslustig ist – und weil dein Vater ihn schätzt. Du verbringst dein Leben mit einem Mann, der dir gibt, was dir fehlt und was dein Herz ersehnt, der dich zu einem ganzen Menschen macht, so wie du ihn. Mit einem Mann, der deine Schwächen in Stärken verwandelt, und deine Einsamkeit in Erfüllung. Sie bekam diese Stimme seit Tagen nicht aus ihrem Kopf. War Ross dieser Mann, von dem ihr Herz sprach? Kenzie mochte nicht glauben, dass er gar nichts für sie empfand. Hatte er ihr nicht sein Herz geöffnet, als sie miteinander schliefen? Sie war überzeugt, dass sein Ärger, seine Enttäuschung und seine scharfen Worte am Morgen nach dem BeechwoodWahlessen nur eine Reaktion auf die Medienleute waren, die plötzlich vor dem Haus kampiert hatten. Dennoch fühlte sie Panik aufsteigen, wenn sie überlegte, Ross könne sie für eine dieser ,Daniels aus Washington’ halten und sie womöglich mit seiner früheren Frau Penelope vergleichen. „Aber ich bin nicht wie Penelope“, sagte Kenzie laut. So weit musste Ross sie inzwischen doch kennen! Wie auch immer, sie beschloss, alles zu tun, um seine Liebe zu gewinnen. Hier in Buxton hatte sie sich ein neues Leben aufgebaut. Ja genau, die neue, unverwüstliche und starke Kenzie würde sicher keine Mühe haben, Ross Calders Liebe zu gewinnen. Gütiger Himmel, sie musste es wenigstens versuchen. Zumindest war es ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass ihr ungeschicktes Auftreten in Cheltenham ihn nicht das Sorgerecht für seinen Sohn kostete. Und wenn alles gut ausging für ihn und Angus, bestand vielleicht eine kleine Chance, dass er ihr verzieh. Dass sie dort weitermachen konnten, wo sie in jener Nacht bei den Parkers aufgehört hatten… Gleich würde sie zu Hause sein! Als Erstes wollte sie auf der Veranda hinter ihrem Haus die Ruhe genießen. Dann ein ausgedehnter Strandspaziergang, ach, herrlich! Bei dem Gedanken an diese kleinen Alltagsfreuden huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Kenzie öffnete die Eingangstür ihres Hauses und trat ein. Ihr Lächeln erstarb. „Was zum…?“ Auf dem Tisch stand eine Vase mit frischen Blumen. Um genauer zu sein: Freesien, ihre Lieblingsblumen. Was sollte das denn? Sie hatte doch nur Gordon Harper informiert, dass sie heute nach Hause kommen würde. „Hallo? Ist da jemand? Äh… Gordon?“ Die Fliegentür schlug zu. Kenzie wirbelte herum. Ross. Er schien die ganze Küche auszufüllen. „Da bist du ja“, sagte er leise. „Das
Essen ist gerade fertig.“
„Ross! Was…?“
„Stell deine Sachen ab. Mach dich frisch. In zwei Minuten wird gegessen.“
„Aber…“
„Nichts Besonderes, nur Hamburger und Mais, Makkaroni und Käse. Sag nichts.
Wenn du fertig bist, ist alles bereit. Oh, warte…“
Ross umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen und küsste sie zärtlich.
„Willkommen zu Hause.“
Als sie wenig später erfrischt und immer noch reichlich perplex aus dem
Badezimmer kam, stand das Abendessen wie angekündigt auf dem Tisch. Ross
erklärte Kenzie, dass er sich von Alida, dem Hausmädchen ihrer Eltern,
telefonisch alle erforderlichen Informationen über ihre Reisepläne hatte geben
lassen. Auch für die ausführlichen Rezepte zur perfekten Zubereitung der Speisen
war Alida verantwortlich.
Kenzie war so überrascht, dass sie nicht wusste, was sie sagen, denken,
geschweige denn fühlen sollte. „Wo ist Angus“, fragte sie schließlich.
„Angus ist in New York bei Delia. Er zeigte großes Verständnis, als ich ihm sagte,
es sei besser, wenn ich allein zu dir komme.“
„Und warum bist du gekommen?“
Plötzlich war es Ross, der erstaunt wirkte. „Nun, das wollte ich mir eigentlich fürs
Dessert aufheben…“
„Du hast auch ein Dessert vorbereitet?“
„Ich habe Mandelhörnchen aus dem Gingerbread House besorgt.“
Die Gleichen, die sie gegessen hatten, als Angus und er das erste Mal Kenzies
Küche betreten hatten. Kenzie hatte Tränen in den Augen, als sie daran dachte.
„Ross, warum bist du hier?“
Das Telefon klingelte. Ross war schneller. „Hallo? Angus! Ich ahnte doch, dass du
es bist. Du konntest wohl nicht mehr warten, was?“
Pause. Ross kicherte. Ein tiefes, angenehmes Geräusch. „Ich weiß. Ich auch.
Nein, ich habe sie noch nicht gefragt. Lass mir ein bisschen Zeit. Ich rufe dich an.
Ich liebe dich auch. Bis bald.“
Er nahm wieder Platz. „Ich soll dich von Angus grüßen.“
„Was geht hier vor, Ross? Was solltest du mich fragen?“
Er blickte sie ernst an. „Was ich dich schon das erste Mal hätte fragen sollen.“
„Ich kann dir nicht folgen.“ Kenzie verflocht ihre Finger ineinander, weil ihre
Hände plötzlich zitterten.
Ross räusperte sich. „Erinnerst du dich, was ich zu dir sagte, als ich das letzte
Mal dein Haus betrat?“
„Ja. Du hast mir einen Job als Angus’ Kindermädchen angeboten.“
„Das war die Vorstellung eines Feiglings, für die ich mich heute noch schäme.“
„Feigling?“
„An jenem Morgen hatte ich in Wahrheit doch nur eines im Sinn: Ich wollte einen
endgültigen Abschied verhindern. Der Gedanke, allein mit Angus nach New York
zurückzukehren, war mir unerträglich. Natürlich wäre es am Besten gewesen,
dich gleich zu fragen, ob du meine Frau werden willst. Aber ich war feige. Wir
kannten uns ja kaum zwei Wochen. Ich war mir deiner Gefühle für mich auch
nicht sicher. Also tat ich das Dümmste, was man nur tun konnte: Ich bot dir
einen Job an. Und nicht mein Herz.“
„Und das willst du mir jetzt schenken?“ flüsterte Kenzie.
Aus seinen Augen sprach die Sehnsucht. „Würdest du es annehmen?“
Überglücklich senkte sie den Kopf. „Nur, wenn du es nie mehr zurückverlangst.
Damals in Alex’ und Maggies Haus, als die Reporter kamen…“
„Himmel, Kenzie, ich habe es nicht so gemeint. Nicht sie waren der Grund,
warum ich so hässlich zu dir wurde, sondern der Gedanke, du könntest einen
Mann wie mich nicht wollen. Ein schlechter Vater und ein um seine Existenz
kämpfender Anwalt ist es doch nicht wert, eine der Daniels aus Washington zu
heiraten.“
Kenzie war wie betäubt. Sollte sie lachen oder weinen?
„Na ja, aber Angus war schon überzeugt, ich sei deiner wert. Deshalb drängte er
mich, hierher zu dir zu fahren. An deinen Gefühlen für Angus brauche ich nicht zu
zweifeln, aber uns CalderMänner kannst du eben nur im Paket haben. Den einen
nicht ohne den anderen.“
„Keine Ausnahme möglich?“
„Nein.“
„Dann muss ich wohl…“
„Was musst du?“
„Deine Frau werden. Ich nehme an, das wolltest du mich diesmal fragen?“
Kenzie musste über Ross’ ratlose Miene lachen, aber dann raubte ihr sein
glückliches Lächeln beinahe den Atem.
„Kenzie, meinst du es ernst?“
„Nie im Leben meinte ich etwas ernster.“
Ohne ein weiteres Wort zog er sie von ihrem Stuhl hoch, und dann lag sie in
seinen Armen. Sein Kuss löschte alle Unsicherheit und Qual aus. Sie schmiegte
sich an ihn und war glücklicher, als sie es sich je erträumt hatte.
Dann trug er sie zum Bett und ließ sie unendlich behutsam darauf niedersinken.
Seine Augen strahlten vor Liebe, als er die Träger ihres Tops über ihre Schultern
schob und sie auf die kleine Vertiefung am Hals küsste.
„Oh, Ross.“ Kenzie schloss die Augen und schlang die Arme um seinen Hals.
„Bitte mich noch einmal.“
„Was meinst du?“
„Deine Frau zu werden.“
Ross verflocht seine Finger mit ihren und legte ihre Hand auf sein Herz. „Kenzie
Daniels, ich liebe dich, ich brauche dich. Du bringst mich zum Lachen, du machst
mich zu einem vollständigen Menschen. Du gibst mir das Gefühl, dass ich alles
erreichen kann, wenn ich es nur will. Und ich will dich. Für mich. Für Angus. Wo
wir wohnen ist mir gleichgültig. Hier, in Washington oder in New York. Selbst auf
dem Mond wäre mir recht. Sag einfach nur, dass du mich heiraten willst. Willst
du?“
„Die letzten beiden Worte hätten schon genügt“, sagte sie lachend und mit
Tränen in den Augen. „Ja, ja, ich will.“
Ross brauchte ihr nicht zu sagen, was er fühlte. Er zeigte es ihr mit seinen
zärtlichen Liebkosungen, die sie in höchster Erregung genoss. Als er schließlich
zu ihr kam, sprach Kenzie leise seinen Namen, seufzte, wie sehr sie ihn liebte
und wie glücklich sie seine Küsse und Zärtlichkeiten machten.
Beide spürten, wie die Wellen der Erregung sich steigerten, bis sie endlich den
Höhepunkt erreichten.
Danach richtete sich Ross halb auf und hielt Kenzie lange fest an sich gedrückt.
Er sagte kein Wort.
Erfüllt schwieg auch sie.
Aber dann sagte sie: „Was um Himmels willen hat dich dazu gebracht, Alida
anzurufen?“
Ross musste lachen. „Dein Vater meinte, es sei eine gute Idee.“
„Mein Vater? Wann hast du mit meinem Vater gesprochen.“
„Lass mich überlegen. Einmal heute Morgen, einmal gestern und mindestens zwei
Mal Anfang letzter Woche.“
„Letzte Woche?“
„Ich habe auch mit deinem Bruder geredet.“
„Worüber?“
„Burt und ich tauschten Informationen über das britische Familienrecht aus. Wir
einigten uns auf die Strategie, das Sorgerechtsverfahren fallen zu lassen. Nach
mehreren Telefonaten mit einigen Rechtsanwälten, die an den höheren Gerichten
in England und den USA tätig sind, gab Burt mir schließlich grünes Licht, die
Großeltern von Angus anzurufen.“
„Hey, warum hat mein Bruder mir nichts davon erzählt?“
„Burt und ich waren der Meinung, dir nichts zu sagen, bevor du und ich nicht eine
Chance hatten, persönlich miteinander zu reden. Dein Vater fand das übrigens
auch.“
„Du hast also mit den Archers in London telefoniert. Was passiert nun mit
Angus?“
Ross knabberte zärtlich an ihrem Ohr. „Es gibt noch ein paar Unklarheiten, aber –
Angus bleibt endgültig bei mir in Amerika. Bei uns.“
„Oh, Ross, ich bin so froh. Aber… einen Moment…“
„Hm?“
„Du hast mehrmals mit meinem Vater geredet? Worüber?“
„Natürlich über dich!“
Offensichtlich ahnte er, dass sie aufspringen wollte. Fest schlang er die Arme um
sie. „Dein Dad ist wirklich ein beeindruckender Charakter. Kein Wunder, dass du
so eigensinnig und hochmütig geworden bist.“
„Ach ja?“
Ross kicherte. „Der Mann redet wirklich nicht um den heißen Brei herum. Er ist
so geradeheraus wie du.“
„Wann habt ihr über mich gesprochen?“
„Gleich, nachdem du ihn um Hilfe für mich und Angus gebeten hast.“
„Ach so, dann stellte er also Fragen zu deinem Fall?“
Ross kicherte erneut. „Nein. Er wollte mich wohl eher über dich ausfragen. Er
sagte, bei eurem Wiedersehen in Washington hättest du genauso elend und
traurig ausgesehen wie vor einem Jahr, als du fortgingst. Er sagte, man brauche
kein Genie sein, um zu erkennen, was los sei. Er hoffte, ich hätte gute Gründe,
eine so besondere Frau, wie du es bist, fallen zu lassen.“
„Wie konntet ihr nur, Ross?“
„Ruhig, Liebes. Komm her.“
„Aber…“
„Bitte!“
Unmöglich, diesen sexy blauen Augen zu widerstehen. Gegen ihren Willen
lächelte Kenzie und schmiegte sich wieder an ihn.
„So ist es schon besser.“ Seine Stimme klang rau. „Daraufhin habe ich gesagt:
‚Entschuldigen Sie, aber ich habe Ihre Tochter nicht fallen lassen.’ Ich erklärte,
ich sei nur zu dumm und zu feige gewesen, nach dem Besten zu greifen, was sich
mir je in meinem Leben angeboten hatte. Und das ist doch schon ein Unterschied
zu ,fallen lassen’, findest du nicht?“
Kenzie hauchte einen zärtlichen Kuss auf seine Wange. „Du gehst zu hart mit dir
ins Gericht, Ross. So, wie ich mich verhielt, musstest du glauben, ich würde dich
nicht ernst nehmen. Aber ich habe mich nur versteckt.“
„Dein Vater versprach, mir mit Angus zu helfen und uns wieder
zusammenzubringen – aber nur, wenn ich dich glücklich mache.“
Einen Moment herrschte Stille, dann räusperte sich Kenzie. „Willst du damit
sagen, ihr beide habt das alles schon bei eurem ersten Telefonat geplant?“
„Mehr oder weniger. Allerdings war es Angus, der vorschlug, ich solle für dich
kochen.“
„Angus ist ein richtiger Herzensbrecher.“ Sie stützte sich auf den Ellenbogen und
streichelte Ross sanft über eine Wange.
„Ganz wie sein Vater.“ Zart zeichnete sie seine Lippen nach. Erst jetzt langsam
wurde ihr klar, dass dieser Mann ihr Ehemann sein würde.
„He Mann, ein älterer, weiser Vater. Dank dir.“
„Was willst du damit sagen, Ross?“
Er ergriff ihre Hand. „Angus war schrecklich aufgeregt, als du von Cheltenham
fortgingst. Er ließ sich erst beruhigen, als ich versprach, dir nachzufahren. Nein,
sieh mich nicht so erschrocken an! Du hast uns mit deiner Flucht einen großen
Gefallen erwiesen.“
„Wie bitte?“
„Ja, denn dadurch hast du Angus und mich schließlich zusammengebracht. Bis
dahin wusste ich nicht, wie ich mit meinem Sohn umgehen sollte. Als du weg
warst, habe ich mich daran erinnert, wie du immer mit ihm gesprochen hast. Und
auf dieselbe Art habe ich dann mit ihm gesprochen.“
„Wie meinst du das?“
„Nun, ich war einfach nur ehrlich zu dem Kleinen. Und nachdem der Anfang
geschafft war, konnte ich plötzlich über alles mit ihm reden. Ich erklärte ihm
sogar, dass ich ein Problem damit habe, ihn zu umarmen und zu küssen und ,ich
liebe dich’ zu sagen, weil ich keinen Vater als Vorbild hatte.“
„Und wie hat er darauf reagiert?“
„Als ich heute Morgen zum Flughafen fuhr, sagte er: ,He Mann, ich liebe dich,
Dad’ – als sei es das Natürlichste der Welt. Ich glaube nicht, dass er das
ausgesprochen hätte, wenn du ihn nicht nach und nach aus seinem Schutzkokon
befreit hättest. Das habe ich ihm auch gesagt, und dass man eine solche Frau
nicht gehen lassen darf.“
Kenzie drängte die Tränen zurück. „Und um mir das zu sagen, bist du
gekommen? Mit Angus’ Zustimmung?“
„Genau. Ich wollte dich schon in Washington aufsuchen, aber dein Vater riet mir,
dir etwas Zeit zu lassen.“
„Ich musste wirklich über Vieles nachdenken.“ Dabei dachte sie an die Krankheit
ihrer Mutter und die Versöhnung mit dem Vater und ihr letztes Gespräch mit
ihrem früheren Verlobten.
„Dein Vater hat mir von deinen Plänen erzählt. Ich wusste daher, wann du nach
Hatteras zurückkommen würdest.“
„Immer will er bestimmen. Warte, bis ich ihn in die Finger bekomme!“
„Ja, dein Dad ist wahrlich ein zäher Bursche. Aber ich bin ihm dankbar. Wenn du
nicht zu den OuterBankInseln gegangen wärst, hätte Angus nie seinen Drachen
auf dich herabstürzen lassen können. Und ich hätte nie diese reizvolle, Anwälte
hassende, Familien liebende Frau kennen gelernt, die jetzt – ich gestehe es – die
Liebe meines Lebens ist. Und bald wird sie die Mutter sein von Angus und vielen
neuen Sprösslingen.“
Kenzie wusste, er neckte sie, aber seine Stimme klang ernst. Dies war seine Art,
aus dem Herzen zu sprechen.
„Oh, Ross.“
Mehr konnte sie nicht sagen. Für das, was sie jetzt fühlte, fehlten ihr einfach die
Worte.
Warum auch? Ross senkte seinen Mund auf ihren, und das Leuchten in seinen
Augen gab ihr die Gewissheit, dass er sie verstand. So wie sie ihn. Auf immer
und ewig. ENDE