Nur ein Jahr, Jessica
Berte Bratt
Jessica hat ihre Prüfung mit "Eins" bestanden. Doch ihre Hochstimmung wird schnell ...
71 downloads
1346 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Nur ein Jahr, Jessica
Berte Bratt
Jessica hat ihre Prüfung mit "Eins" bestanden. Doch ihre Hochstimmung wird schnell getrübt. Sie muß für ein Jahr mit dem Medizinstudium aussetzen, um Geld zu verdienen. Da sie überragende Kochkünste besitzt, hat ihr Verlobter Falko eine großartige Idee...
Medizinstudentin Jessica Berner Mein Name ist Jessica. Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt. Als die ganze Geschichte anfing, die ich erzählen werde, war ich zweiundzwanzig. Zweiundzwanzig- und überglücklich! Ja, wenn ich an den Tag zurückdenke! Die Sonne strahlte, und das Leben erschien mir wunderschön. Ich stand vor der Universität in Kiel neben meiner Freundin Reni. Wir hielten uns die Hände, wir drückten sie ganz fest, damit wir beide wußten, daß dieser Augenblick Wirklichkeit war und kein Traum. Wir hatten beide die ärztliche Vorprüfung, das Physikum, mit Eins bestanden! Die erste große Hürde in unserem Medizinstudium war geschafft, und wie geschafft. Vergessen schienen alle Sorgen, das Büffeln bis tief in die Nacht, mein knapper Monatswechsel, alle Entbehrungen – nein, wie haben wir uns gefreut! „Nichts wie los zum Telegrafenamt!“ sagte Reni. „Und dann nichts wie los, um Falko zu erwischen!“ ergänzte ich.
„Glückspilz“, seufzte Reni. „Du hast deinen Herzallerliebsten fünf Minuten von hier entfernt, und meiner sitzt auf der anderen Erdhalbkugel!“ „Dafür bist du mit deinem verheiratet“, betonte ich. „Wie teuer ist eigentlich ein Telegramm nach Mombasa?“ „Wahnsinnig!“ Reni lachte. „Aber ich brauche nur ein einziges Wort zu telegrafieren, nämlich ,Eins’. Dann weiß er Bescheid. Und in einer Woche bin ich bei ihm!“ „Wer von uns beiden ist dann der Glückspilz?“ fragte ich, als Reni die Autotür aufmachte. Sie hat einen alten VW, genannt Theodor, womit sie durch die Gegend flitzt. Sie wohnt mit ihrer Schwiegermutter zusammen in deren Häuschen außerhalb von Kiel. Gerade jetzt arbeitete ihr Mann, der sich als Tropenarzt ausbilden ließ, für drei Monate an einem Krankenhaus in Mombasa. Und da Reni einen reichen Vater hat, konnte sie es sich leisten, zu ihrem Marin zu fliegen und die Semesterferien bei ihm zu verbringen. Renis geübter Blick erfaßte eine winzige Parklücke vor dem Postamt, und dann standen wir beide eifrig über unsere Telegrammformulare gebeugt. Ich war es gewohnt, jeden Groschen zehnmal umzudrehen, aber diesmal habe ich das Geld mit Freude ausgegeben. Niemals zuvor hatte ich meine Kröten so vernünftig angelegt wie für dieses Telegramm an meine Eltern: „Kaufmann Berner, Birkendorf. Mit Eins bestanden. Jessica.“ Oh, wie würden sie sich freuen! Gleich daraufbrachten Morsezeichen dieselbe, beinahe gleichlautende Nachricht an Direktor Thams in Hirschbüttel. An zwei stolze Elternpaare und außerdem, wie gesagt, ein sündhaft teures Telegramm an Dr. med. Manfred Ingwart in Mombasa. „Fahr bloß auf dem schnellsten Wege nach Hause, Reni“, sagte ich. „Deine liebe Schwiegermutter sitzt schon seit dem frühen Morgen und drückt dir die Daumen, wie ich sie kenne.“ „Ich wollte dich eigentlich…“, fing Reni an. „Brauchst du nicht. Ich habe reichlich Zeit. Falko kommt erst in einer Stunde von seiner Vorlesung.“ „Na gut, dann brause ich los. Muttchens Daumen sind bestimmt schon grün und blau!“ Dann wanderte ich durch sonnige Straßen zur Klinik, wo mein auserkorener Falko sich augenblicklich befand. Ich dachte an ihn und an meine Eltern. Ich wußte sehr gut, daß es Vati ein großes Opfer
kostete, mich studieren zu lassen. Ich wußte, daß ein paar Onkel und Tanten gemeckert hatten: Was sollte das, litt denn das Mädchen an Größenwahn, warum besuchte sie nicht einfach eine Handelsschule, damit sie ihrem Vater im Geschäft helfen konnte? Was sollte das teure Studium, sogar ein so langwieriges wie Medizin? Jetzt könnte Vati ihnen das Telegramm unter die Nasen halten, und er würde es mit Wonne tun! Vati hatte das Geschäft von Opa geerbt. Zu Opas Zeiten war es ein ganz einfacher Dorfladen, wo alle Einwohner Birkendorfs ihren Kaffee, ihre Butter, Haarspangen, Schreibpapier und Nähgarn kauften. Das Geschäft ging gut. Es gab ja auch keine Konkurrenz. Wer etwas kaufen wollte, mußte entweder mit der Bahn in die Stadt fahren oder zum Dorfkrämer Berner gehen. Als ich geboren wurde, wohnten meine Eltern noch auf dem Lande. Aber die Großstadt wuchs und wuchs und kam immer näher. Die kleine Bahn wurde aufgelöst, statt dessen Busverbindungen eingerichtet. Es wurde leichter, in die Stadt zu fahren. Bald warfen die ersten Hochhäuser ihre Schatten über unsere Wiesen und friedlichen Wege. Birkendorf war kein Dorf mehr, sondern zum Vorort geworden. Da entstanden moderne Gasthäuser und neue Geschäfte. Wer jetzt eine Garnrolle oder ein Paar Strümpfe brauchte, ging in das neue Manufakturgeschäft. Und wer eine Tasse kaputtgemacht hatte, kaufte eine neue im Haushaltsgeschäft. Unser Laden wurde nun ein reines Lebensmittelgeschäft. Vati mußte neue Artikel aufnehmen, denn die Stadtnähe machte die Leute anspruchsvoller. Mutti stand ihm tapfer zur Seite. Sie half ihm, das ganze Einkaufsprogramm aufzustellen, sie führte die Bücher, und vor allem, sie bediente im Laden. Sie kannte die Leute, sie wußte, wer gerade eine Blinddarmoperation gehabt hatte, wer ein Kind erwartete, wer neue Schlafzimmermöbel bestellt hatte und wer zum Zahnarzt mußte. Besonders die älteren Leute kamen gern zu uns, sie mochten den persönlichen Kontakt lieber. Aber die älteren Leute verschwinden allmählich. Entweder kommen sie ins Altersheim, oder man liest eines Tages in der Zeitung: „Nach einem schaffensreichen Leben schlief unsere liebe Mutter, Schwiegermutter, Oma, Uroma ein…“, und darunter: „In stiller Trauer…“ Und in einer Woche verläuft das Leben wieder normal, nur mit einem alten Menschen weniger, das ist alles.
Die jüngeren Leute fahren gern in die Stadt und kaufen in den großen Kaufhäusern ein. Ja, ich kannte die Probleme meiner Eltern, und ich hatte oft ein ganz schlechtes Gewissen, weil ich nur studierte und Geld verbrauchte, anstatt welches zu verdienen. Aber meine Eltern wünschten es ja! Sie wollten, daß ich mein Studium beende und Ärztin werde. Dann tröstete mich der Gedanke, daß meine Eltern ihr eigenes Haus hatten, sogar ein urgemütliches, und daß Opa ihnen außer dem Geschäft auch etwas Geld hinterlassen hatte. Außerdem war Mutti auch nicht ganz unvermögend. Es würde schon gehen! Bei der Tüchtigkeit und Beliebtheit meiner Eltern! Sie würden bestimmt nicht ihre Kunden verlieren! Wann würde das Telegramm wohl ankommen? In zwei Stunden vielleicht? Oh, wie sie sich freuen werden! Die Vorlesung war zu Ende. Eine Schar Studenten aus dem achten Semester – herrlich, soweit zu sein! – kam die Treppe herunter. Dann sah ich Falko! Ich rannte ihm entgegen, und er legte den Arm liebevoll und kameradschaftlich um meine Schultern. „Na, mein Mädchen, wie ist es…“ Dann unterbrach er sich selbst und lachte. „Gratuliere, Liebling! Fein gemacht! Gratuliere zu der Eins!“ „Wer hat dir erzählt…?“ „Dein eigenes Gesicht! Es strahlt lauter Einser aus – aus den Augen und aus den Mundwinkeln. Es steht sozusagen eine große Eins auf deiner Stirn!“ Er küßte mich ungeniert, und dann wanderten wir los, eng umschlungen, um zu feiern. Feiern bedeutete, daß wir die Mensa sausen ließen und uns in Falkos Bude selbst ein Mittagessen zusammenbrutzelten. Unterwegs kaufte Falko eine Flasche Rotwein. Mehr konnten wir uns nicht leisten, denn Falkos Monatswechsel war auch nicht sehr hoch. „Was machst du nun in den Semesterferien?“ fragte Falko, als wir den größten Hunger gestillt hatten. „Wenn ich das bloß wüßte. Ich habe noch nicht soweit gedacht.“ In den letzten Wochen stand nur das Wort „Physikum“ in meinem geplagten Kopf, weiter habe ich wirklich nicht gedacht. Falko teilte den Rest des Nachtisches – Bananenquark, von mir
persönlich zubereitet – genau und gerecht, und seine Stirnfalten verrieten, daß er scharf nachdachte. „Wie wäre es, wenn du nach Hause führest und dir endlich mal eine Ruhepause gönnen würdest?“ „Ich überlege es mir“, gestand ich. „Ein bißchen Ruhe würde mir tatsächlich guttun.“ Falko sah mich mit dem Blick des zukünftigen Arztes an. „Du siehst scheußlich aus“, verkündete er dann. „Was?“ Diese Äußerung stimmte durchaus nicht mit dem überein, was er sonst mir zu sagen pflegte. Er hatte immer allerlei Adjektive gebraucht, um mein Ansehen zu beschreiben, aber „scheußlich“ hörte ich zum erstenmal. „Du weißt genau, was ich meine. Du hast zwar dasselbe liebe Stupsnäschen“, dieses wurde geküßt, „dieselben lieben Augen“, die waren an der Reihe, „dieselbe kluge Stirn“, Stirnkuß, „und denselben – nein, mit dem Mund warten wir, bis ich ausgesprochen habe. Scheußlich bezieht sich auf deine Magerheit und die Ringe unter deinen Augen. Du brauchst Urlaub, Jessilein!“ „Urlaub oder eine radikale Veränderung“, meinte ich. „Ich könnte schon einen Ferienjob gebrauchen, aber einen, wo ich nichts mit Papier, Buchstaben, Büchern und so etwas zu tun hätte. Ich brauche Bewegung, ich habe lange genug auf meinen vier Buchstaben gesessen…“ „Vier?“ wiederholte Falko. „Du hast nur noch zwei, du bist so dünn, daß du dich hinter einem Besenstiel verstecken könntest. Du bist eine denkbar schlechte Reklame für deine eigenen Kochkünste!“ „Kochkünste! Wann sollte ich die praktizieren, außer ab und zu hier bei dir?“ „Hier praktizierst du sie jedenfalls phantastisch. Was du mit Hilfe einer Bratpfanne, eines Kochtopfes und einer kleinen Kochplatte zaubern kannst, das ist direkt imponierend!“ Ich mußte lachen. „Ja, verglichen mit dem Mensaessen ist es bestimmt phantastisch. Doch dazu gehört nicht viel. Aber…“ „Was heißt hier aber? Wer ist eingesprungen an dem Donnerstag, als sich Tante Christiane ihre Hand verbrüht hatte? Wer hat das ganze Donnerstagsessen gekocht? – Wer übernahm das Kochen an Ankes Geburtstag? Wer hat…“ „Nun hör doch endlich auf, Falko. Natürlich kann ich ein bißchen kochen, das kann doch jede normale Frau.“ „O sancta simplicitas! Frage Anke, frage Reni! Die kennen nicht
den Unterschied zwischen einem Mandelpudding und einer gegrillten Wurst!“ „Doch, wenn sie es vorgesetzt bekommen! Im Ernst, Falko, natürlich kann ich kochen, das habe ich schon als Schulmädchen machen müssen, wenn Mutti den ganzen Tag im Laden stand. Es machte mir Spaß, den Eltern abends etwas Schönes vorzusetzen, wenn sie müde und hungrig aus dem Geschäft kamen. Außerdem kann meine Mutter unglaublich gut kochen, ich habe mir allerlei von ihr abgeguckt.“ „Na also! Daß du mir bloß nicht das Kochen vor lauter Wissenschaft verlernst! Solltest du beim Staatsexamen durchfallen, kannst du dich jederzeit als Köchin großartig ernähren und einen Ehemann dazu!“ 2 666.311 „Aha!“ sagte ich. „Das ist also der Grund, warum du mich einmal heiraten willst!“ „Vielleicht. Aber es ist nicht der Hauptgrund“, meinte Falko. Er hob sein Rotweinglas und sah mir lächelnd in die Augen. Seine freie Hand lag auf meinem Nacken. „Dann prost und herzlichen Glückwunsch – cand. med. Jessica Berner!“
Ein Brief von Mutti Birkendorf, 20. Februar Mein liebes Jessilein! Du kannst Dir vielleicht vorstellen, welche Gefühle Dein Telegramm bei uns auslöste! Wir sind stolz auf Dich, Kind, und es ist uns klar, daß Du den richtigen Beruf gewählt hast. Kommst Du nun nach Hause, jedenfalls für eine kurze Zeit, damit wir Dich in die Arme nehmen können und Dir mündlich alles sagen, was sonst unzählige Bögen Papier füllen würde? Nun, mein Kind, muß ich etwas schreiben, was mir sehr weh tut. Ich muß Dir etwas erklären, wenn auch mein Herz dabei blutet, und Dir eine große Enttäuschung bereiten. Du bist so tapfer, so fleißig und genügsam gewesen, mein Jessilein! Wie wäre es himmlisch, wenn ich Dir jetzt schreiben könnte: „Ab jetzt werden wir Deinen Monatswechsel verdoppeln“, oder: „Du brauchst nicht mehr diese dämlichen Ferienjobs anzunehmen“ – ach Kind, es wäre zu schön! Was ich Dir zu sagen habe, was ich Dir sagen muß, ist leider, leider etwas ganz anderes. Ich muß also einen Kopfsprung ins kalte Wasser machen, es hilft nichts! Es geht um unsere Finanzen. Du weißt, daß wir wegen der vielen neuen Geschäfte hier in der Nähe schon seit einigen Jahren Schwierigkeiten haben. Unser Umsatz ist beträchtlich zurückgegangen, wir haben sogar unser kleines Sparkapital angreifen müssen, was natürlich nicht sein dürfte. Wir leben äußerst sparsam, haben auch zwei Zimmer vermietet und meinten, wir könnten es so schaffen. Seit zwei Jahren ist der Umsatz jedenfalls stabil, wenn auch klein, und wir haben einen dementsprechenden Haushaltsplan aufgestellt, bei dem selbstverständlich der Monatswechsel an Dich an erster Stelle steht. Nun ist aber die Katastrophe eingetreten: Gegenüber der Apotheke, also kaum hundert Meter von uns entfernt, ist ein ganz moderner Supermarkt eröffnet worden. Du kannst Dir denken, wie sich das auf unseren kleinen Laden auswirkt. Wir müssen jetzt etwas unternehmen, es muß sehr viel geändert werden – aber das wird Geld kosten.
Bevor ich weiter darüber erzähle, muß ich Dir also die Frage stellen, die mir seit zwei Monaten wie eine Last auf der Seele liegt. Ich gäbe alles auf der Welt, um sie nicht stellen zu müssen, aber es gibt keinen Ausweg: Jessilein, unsere tapfere kleine Cand. med. – kannst Du Dir vorstellen, ein Jahr mit Deinem Studium auszusetzen? Nein, um Gottes willen, aufhören sollst Du nicht, Du sollst auf jeden Fall Dein Examen machen! Aber wir haben ein sehr schweres und sehr unsicheres Jahr vor uns. Um Dir weiterhin Deinen Wechsel schicken zu können, müßten wir das Geld von der Bank abheben, und gerade jetzt – na, ich erzähle wohl lieber weiter, damit Du alles verstehst. Vati könnte gleich das Geschäft aufgeben und eine Stellung als Kalkulator im neuen Supermarkt bekommen. Er würde einigermaßen gut verdienen, und es wäre etwas Sicheres. Aber unser Eigentum aufzugeben, Opas solide aufgebautes Geschäft, das täte uns beiden in der Seele weh. Deswegen wollen wir etwas anderes versuchen: Die einzigen kleineren Geschäfte, die neben diesen Riesenkonzernen bestehen können, sind die kleinen, feinen Spezialgeschäfte. Also wollen wir so etwas versuchen. Wir möchten uns selbst für ein Jahr die Chance geben und bis zur Hälfte des Spargeldes in das Unternehmen hineinstecken und dann innig hoffen, daß es uns gelingt. Wir wollen den Laden ganz renovieren, ihn so ansprechend und modern gestalten wie möglich und uns auf lauter Feinkost umstellen. Allerlei Delikatessen, Salate, erlesene Dinge in Dosen, Sachen, die man nicht in jedem Geschäft erhält. Daneben auch alltägliche Dinge, die hoffentlich ebenfalls gekauft werden, und zwar von Kunden, die durch die besonderen Spezialitäten ins Geschäft gelockt werden. Wir haben genaustens kalkuliert. Bis in die Nächte hinein haben Vati und ich dagesessen und alles besprochen. In diesem Jahr müssen wir mehr rechnen denn je. Es ist unsere letzte Chance, unser Geschäft, unser Familienunternehmen zu retten. Verstehst Du uns, Kind? Kannst Du Dir vorstellen, mitzumachen? Ein Jahr aussetzen, vielleicht kannst Du versuchen, etwas Geld zu verdienen und dann im nächsten Frühjahr das Studium wieder aufzunehmen? So, jetzt habe ich es mir von der Seele geschrieben und muß schnell ein paar Tränen wegwischen. Du wirst schon alle Einzelheiten noch erfahren. Aber bevor ich das alles schreibe, möchte ich Dich fragen, ob Du jetzt nicht nach
Hause kommst, so daß wir alles besprechen können. Du verstehst wohl, daß wir Dich während Deiner Vorbereitung auf das Physikum nicht ablenken wollten, Dich nicht stören – jetzt müssen wir es blutenden Herzens tun. Wir sehnen uns sehr nach einem Brief von Dir, Kindchen. Schreibst Du uns bald? Vati grüßt Dich innigst und läßt sagen, daß er ganz furchtbar stolz auf Dich ist. Einen lieben Kuß und eine ganz, ganz herzliche Umarmung von Deiner Mutti! Ich blieb ganz still sitzen mit dem Brief in der Hand. Es war mir, als hätte ich einen Schlag auf den Kopf bekommen. Im Halse wuchs und wuchs ein schrecklicher Kloß. Ich schluckte, und dann liefen mir zwei Tränen übers Gesicht, dann noch zwei und schließlich so viele, daß ich sie nicht mehr zählen konnte. Mit dem Studium aufhören! Irgendeinen blöden Job suchen. Vielleicht sogar in einer anderen Stadt landen. Weit weg von Falko, weg von Reni, von den Donnerstagstanten, von all den Freunden und Freundinnen, die ich in diesen drei Jahren gefunden hatte. Weg von der Arbeit, die mit mein Lebensinhalt bedeutete. Was sollte ich bloß tun? Arbeit suchen! Selbstverständlich, lieber heute als morgen. Mein Zimmer kündigen. Bis jetzt hatte ich es über die Ferien immer behalten können. Zum Teil hatte ich hier in Kiel Ferienjobs angenommen und weiter in meiner lieben Bude gewohnt. Zum Teil hatte ich sie meiner großartigen Zimmervermieterin, Frau Manders, zur Verfügung gestellt. Aber zum Semesteranfang konnte ich immer wieder einziehen. Ich mußte den Eltern schreiben. Sie warteten sehnlichst auf einen Brief. Was sollte ich ihnen bloß sagen? Daß ich furchtbar enttäuscht war, aber selbstverständlich… Nein, nicht so! Sie hatten es schwer genug. Ich mußte… Da klingelte es. Zweimal, also für mich. Ich fuhr mit dem Taschentuch über meine verheulten Augen und glättete meine Haare, während ich durch den Flur ging. „Ach Reni, du bist es!“ „Ja natürlich, ich bin’s. Ich habe etwas ganz Ernstes mit dir zu besprechen.“
„Und ich mit dir ebenfalls.“ Im Licht meines Zimmers konnte ich meinen jämmerlichen Zustand nicht verheimlichen. Reni sah mich entsetzt an. „Jessilein, was ist? Du bist ja ganz verheult! Wohl nichts mit Falko?“ „O nein, nein! Gott sei Dank, das ist es nicht.“ „Schlechte Nachrichten von zu Hause?“ „So kann man es wohl nennen.“ „Spuck aus, Mädchen! Übrigens, ich bringe dir einen Kuchen von Muttchen, hast du Pulverkaffee im Haus?“ „Ich habe Teebeutel.“ „Fein. Du siehst geradeso aus, als brauchtest du Tee und Kuchen!“ Ich setzte Teewasser auf, und Reni schnitt den Kuchen ein. Kurz danach saßen wir – wie so oft – uns gegenüber an meinem kleinen runden Tisch. „Wer fängt an?“ fragte Reni. „Du! Dein Problem ist bestimmt kleiner als meins. Für meins brauche ich Zeit.“ „Gut. Meins ist schnell berichtet. Hast du vor, einen Ferienjob zu suchen?“ „Ja, unbedingt. Je eher, desto besser.“ „Fein! Also, paß mal auf: Ich fliege zu meinem Angetrauten in sechs Tagen. Heute bekamen wir einen Anruf von der Halbnichte, also der Tochter von Muttchens Kusine, die kommen wollte, um sich um Muttchen zu kümmern. Sie hat sich jetzt ausgerechnet den rechten Arm gebrochen. Aber was nun tun? Muttchen behauptet natürlich, daß sie großartig allein zurechtkäme, sie brauche keinen Babysitter und so weiter. Aber ich weiß, daß Manfred sich große Sorgen machen würde und ich selbst auch.“ „Genug geredet, Reni“, unterbrach ich sie. „Wenn du willst, kann ich morgen zu euch kommen, dich entlasten, deine einmalige Schwiegermutter mit sanfter Gewalt in einen Sessel drücken, den Kater versorgen – und so lange bleiben, wie ihr mich haben möchtet!“ „Jessica! Es ist zu schön, um wahr zu sein! Ja, was ich sagen wollte, du kriegst natürlich das Gehalt, das…“ Ich wollte sie unterbrechen und protestieren, aber der Protest erstarb mir auf den Lippen. Statt dessen sagte ich: „Gleich werde ich dir erklären, warum ich eigentlich gegen ein Gehalt nicht protestiere, Reni. Aber vorläufig ist es also abgemacht, ich komme, und du
kannst ruhig zu dem Gegenstand deiner Sehnsucht und deiner Träume fliegen.“ „Mensch, machst du mich glücklich! Ich muß dich einfach umarmen! Aber jetzt bist du an der Reihe. Spuck aus, du ahnst nicht, wie gespannt ich bin!“ Ich holte tief Luft und fing an zu erzählen. Dann nahm ich Muttis Brief und las Reni ein Stück daraus vor. Reni saß ganz still und horchte. Als ich schwieg, legte sie die Hand über die meine. „Du tust mir wahnsinnig leid, Jessica. Wir müssen ganz intensiv nachdenken, was wir machen können! Glaubst du nicht, daß du ein Darlehen oder ein Stipendium bekommen könntest?“ Ich schüttelte den Kopf. „Sicher nicht. Vati besitzt ja schließlich ein Haus und hat etwas Geld auf der Bank.“ „Aber, Jessica – die Donnerstagstanten! Tante Christiane ist vermögend…“ „Nein, Reni, tausendmal nein! Und wenn du nun sagen würdest, du könntest deinen wohlhabenden Vater fragen, würde ich auch nein sagen! Ich will keine Schulden machen und will kein Mitleid! Du findest mich vielleicht komisch oder störrisch, vielleicht sogar beides. Aber ich habe von meinen Eltern die Angst vor Schulden geerbt. Ich werde jede Arbeit annehmen, mit der ich ehrliches Geld verdienen kann. Aber ich will nie und niemals jemand um Hilfe bitten! Und ich bitte dich sehr, Reni, erzähle diese Geschichte nicht den Donnerstagstanten! Zuerst muß ich eine Arbeit finden, vielleicht in einer anderen Stadt. Dann kannst du meinetwegen die Zusammenhänge erzählen, aber jetzt nicht!“ Reni sah mich an, aufmerksam und forschend. „Gut! Ich verspreche es dir.“ Die Donnerstagstanten sind zwei wahnsinnig nette und liebe Damen mittleren Alters, bei denen wir die ganze Studienzeit über jeden Donnerstag gegessen haben, und wie gegessen! Die eine, Christiane von Waldenburg, ist meine Patentante. Sie war die Jugendfreundin meiner Mutter und heiratete einen sehr wohlhabenden Gutsbesitzer. Als reiche Witwe teilte sie ihre urgemütliche Wohnung mit ihrer Kusine, unserer Tante Isa, der Studienrätin Isolde Neuberger. Bei den Donnerstagstanten bekamen wir nicht nur gut und reichlich zu essen, sondern auch gute Ratschläge und vor allem die Nestwärme, die eine Studentin so genießt, wenn sie sechs Tage in der Woche auf eine mehr oder
weniger einsame Bude angewiesen ist. „Weißt du was?“ sagte Reni. „Deine Eltern tun mir wahnsinnig leid. Natürlich ist es traurig für dich, das sehe ich ein. Aber eigentlich ist es tausendmal trauriger für deine Mutter gewesen, diesen Brief an dich schreiben zu müssen. Du mußt zusehen, daß du sie irgendwie trösten kannst. Wenn du heulen mußt, stelle ich mich zur Verfügung mit Mitleid und Taschentuch. Aber versuche, daß du deinen Eltern gegenüber einen munteren Ton finden kannst!“ „Ja, du hast recht, Reni. Ich werde ihnen morgen schreiben. Eigentlich bist du ein guter Mensch!“ „Ja, nicht wahr? Noch besser, als du annimmst. Denn jetzt habe ich vor, dir etwas zu schenken. Nämlich ein Telegramm an deine Eltern. Komm, fahren wir zur Post,- wir schaffen es gerade noch, es ist Viertel vor sechs.“ Reni ergriff entschlossen meine Hand und zog mich mit raus, steckte mich in „Theodor“ und fuhr los. „Was soll ich bloß telegrafieren?“ fragte ich. Ich fühlte mich hilflos, ratlos und zerschlagen. „Überlaß das mir“, erklärte Reni. Am Postamt war sie es, die ein Formular ausfüllte. Ich guckte ihr nur über die Schulter. „Alles nur halb so schlimm. Brief folgt. Kuß Jessi.“
Falko hat eine Idee Als Falko mich an diesem Abend besuchte, fand er mich beim Packen. Kleidungsstücke, Bücher, Tassen und Teller und was sich sonst noch bei einer Studentin ansammelt lagen herum. Nur den kleinen runden Tisch vor dem Fenster hatte ich für unser Abendessen freigelassen. „Nanu!“ sagte Falko erstaunt. „Du hast vollkommen recht“, versuchte ich zu scherzen. „Dies ist ein typischer Fall von ,Nanu’.“ „Nähere Erklärung erbeten“, forderte er, fegte drei Bücher von einem Stuhl, setzte sich und zog mich auf seine Knie. Noch einmal mußte ich tief Luft holen, noch einmal las ich etwas aus Muttis Brief vor, noch einmal tropften ein paar Tränen, und noch einmal tat ich mir selbst furchtbar leid. Falko schwieg ein Weilchen. Dann hob er den Kopf und lächelte. „Weißt du, Jessi, eigentlich ist alles nur halb so schlimm!“ „Sagst du das auch! Genau dasselbe meinte Reni – das heißt, sie telegrafierte es meinen Eltern – in meinem Namen!“ „Gott sei Dank, Reni ist ein kluges Mädchen. Sie hat verstanden, daß es am wichtigsten war, deine Eltern zu trösten. Und nun fährst du nach Hause, um sie weiterzutrösten?“ „Denkste! Ich fahre in den Hasensteg 21, um Renis Schwiegermutter zu pflegen und zu bekochen, während Reni in Afrika ist.“ „Dann kann sie ja gut lachen! Die Schwiegermutter, meine ich. Von dir bekocht zu werden ist ein Vergnügen. Übrigens, wenn wir schon darüber sprechen….“ „Ja gleich, Falko, ich habe von all meinen Resten einen Auflaufgemacht, er steht in Frau Manders’ Backofen!“ „Wenn du so was aus lauter Studentenbudenresten zaubern kannst“, meinte Falko, als er die ersten Bissen intus hatte, „was müßtest du dann erst…Jessi! Jessi! Ich hab’s! Kochen sollst du! Ein Jahr lang kochen! Weißt du, was man als Köchin bei reichen Leuten zum Beispiel im Rheinland verdienen kann? Soviel, daß ein armer Assistenzarzt, geschweige denn ein Medizinalpraktikant grün vor Neid werden könnte. Du erhältst ein schönes Zimmer, hast geregelte Freizeit, ein Zimmer mit Fernseher…“
„…und bekommst einen Mercedes 600 zur Verfügung gestellt“, ergänzte ich. „Komm wieder runter auf die Erde, Herr und Gebieter!“ „Ich stehe ganz fest auf der Erde! Jessilein, hör mal gut zu: Keine Arbeit wird so gut bezahlt wie Hausarbeit, und das Kochen liegt dir phantastisch, das weißt du. Du erhältst ein fürstliches Gehalt und kannst beinahe das ganze Geld in ein Sparschwein stecken! Das Zimmer, die Heizung und das Essen kosten doch nichts. Du kannst glatt das Geld für mindestens ein Jahr Studium verdienen! Und du wolltest doch eine Arbeit annehmen, die nichts mit Lesen, Büchern, Papier und Buchstaben zu tun hat! Also, habe ich nun recht? Die einzigen Bücher, womit du zu tun haben wirst, sind Kochbücher!“ „Und du? Möchtest du statt mit einer ,Cand. med.’ mit einem Hausmädchen verlobt sein?“ „Jessica Berner! Gleich lege ich dich übers Knie! Schämst du dich nicht, so was auszusprechen!“ „Doch! Du hast recht. Aber hör, Falko. Wenn ich das sagenhafte Glück haben sollte, eine so gutbezahlte Arbeit zu bekommen, dann doch nur in einem sehr großartigen Haus, wo man nichts mit den Herrschaften zu tun hat. Also ohne Familienanschluß, nicht als Haustochter oder au pair oder Praktikant – wie immer man es nennen mag, um einem Mädchen die Hausarbeit schmackhafter zu machen. Ich würde kurz und gut Dienstmädchen sein, ist dir das klar?“ „Ja und? Es heißt übrigens Hausgehilfin, wenn ich mich nicht irre.“ „Und das ist deine aufrichtige Meinung?“ „Das kann ich dir flüstern! Nie habe ich etwas so aufrichtig gemeint. Halt – du wirst jetzt ja einige Wochen bei der reizenden alten Frau Ingwart arbeiten. Der erzählst du die Geschichte. Und sie muß dir ein Zeugnis geben, in dem sie dich bis in den Himmel lobt. Du kochst wie ein Engel, bist so ehrlich wie Abraham Lincoln, fleißig wie eine Biene, pünktlich wie ein Chronometer, gutherzig wie… wie…“ „…wie Frau Ingwart selbst und intelligent wie Einstein, jawohl! Aber das mit dem Zeugnis ist eine gute Idee. Frau Ingwart macht alles mit, sie ist kein Spielverderber!“ „Nein, sie ist phantastisch. Ich bin ganz verliebt in sie!“ schmunzelte Falko. „Unterstehe dich!“ „Ja, ich unterstehe mich. Unbedingt. Wie alt ist meine große
Liebe nun?“ „Mal sehen! Sie war zweiundvierzig, als ihr Nesthäkchen geboren wurde – besagtes Nesthäkchen ist jetzt achtundzwanzig. Mensch! Frau Ingwart wird demnächst siebzig! Das muß gefeiert werden!“ „Reni hat sich ja eigentlich eine ziemlich alte Schwiegermutter zugelegt!“ „Macht nichts. Ich kenne keine Schwiegermutter, die einen so jungen Geist hat und soviel Humor.“ „Also verstehst du, daß ich in sie verliebt bin!“ „Und ob! Ich bin es ja selbst!“ „Ich komme mehrmals in der Woche und besuche euch. Glaubst du, daß Reni mir den ‚Theodor’ leiht, während sie weg ist?“ „Bestimmt! Das macht sie doch immer. Aber nun zu dir, Falko. Wir haben gar nicht von dir gesprochen vor lauter Aufregungen. Du sagst, du kommst mich öfter besuchen – du bleibst also in Kiel während der Semesterferien?“ „Tu ich. Als Tankwartgehilfe.“ „Fein. Dann kriegst du Trinkgelder!“ „Eben! Eisenbahnwagenwaschen und Nachtwache, das ist mies. Aber Kellner, Paketträger und Tankwart sind feine Ferienberufe für einen begabten jungen Mediziner.“ „Du! Falls es uns einfallen sollte, demnächst zu heiraten, würde dann der Standesbeamte auf unsere Papiere ,Falko Eichner, Tankwart’ und Jessica Berner, Hausangestellte’ schreiben?“ „Bestimmt. Das ist ja mit ein Grund, warum wir warten. Bis er mit gutem Gewissen für uns beide ,Dr. med.’ schreiben kann!“ Es tat direkt gut, ein bißchen mit Falko herumzualbern. Sein Optimismus, seine gute Laune und vor allem seine Liebe haben mir so unwahrscheinlich gut getan. Ich sah die ganze Situation völlig anders als noch vor wenigen Stunden. „Man knickt doch nicht zusammen bei der ersten Enttäuschung im Leben!“ sagte Falko mir zum Abschied. „Wer weiß, vielleicht wirst du in diesem Jahr Erfahrungen sammeln, die dir später sehr nützlich sein werden.“ „Meinst du, daß ich meine zukünftigen Patienten bekochen soll oder wie?“ „Ich meine, daß du deine zukünftigen Patienten auch seelisch verstehen und behandeln sollst, du Dummerle. Dazu gehört
Menschenkenntnis, und die kannst du dir bestimmt als Hausgehilfin erwerben!“ „Glaubst du? Vielleicht hast du recht. Aber, Falko, du mußt mir oft schreiben, und du darfst mich nicht vergessen, und…“ „Ach, wie gut, daß du das sagst, sonst hätte ich es bestimmt getan! Gute Nacht, mein Mädchen! Ich komme morgen vorbei und helfe dir, noch den Rest zu packen. Und nun setz dich hin, und schreibe deinen Eltern!“ „Genau das habe ich vor. Gute Nacht, Falko! Du, habe ich dir eigentlich jemals gesagt, daß ich dich liebhabe?“ „Ich muß nachdenken. Ach ja, ich glaube du hast irgendwann so was angedeutet. So, im Ernst, Kopf hoch, mein Schatz! Alles nur halb so schlimm!“ Es war schon Mitternacht, als ich den Brief an die Eltern beendete. Dann schlich ich lautlos aus der Wohnung und lief zum Briefkasten. Mutti und Vati sollten keine Minute länger als notwendig auf meine Post warten! Mein Herz wurde groß und warm, wenn ich an meine Eltern dachte. Was hatten sie alles durchgemacht, ohne mir ein Wort zu sagen! Wenn sie so tapfer waren und mit fast fünfzig Jahren ihre Existenz neu aufbauen wollten, dann wäre es ja noch schöner, wenn ich nicht ein bißchen Tapferkeit und Lebensmut beweisen sollte. Ich war jung und hatte das Leben noch vor mir, viele, viele Jahre. Und dann sollte ich nicht ein Jahr davon für meine Eltern opfern können? Gott sei Dank, daß ich Falko hatte, der mir den Kopf zurechtgerückt hatte. So! Und nun freute ich mich ganz einfach auf die Wochen bei der reizenden alten Frau Ingwart! Ich mußte meiner Wirtin die Wahrheit erzählen, daß ich diesmal nach den Semesterferien nicht zurückkommen würde. Wir hatten schon abgemacht, daß sie für die Ferien selbst das Zimmer benutzen wollte. Aber beim Semesteranfang hatte sie ja mit mir gerechnet. Es sah tatsächlich aus, als ob es ihr aufrichtig leid tat. „Aber, Fräulein Berner“, erklärte sie, als sie einen Augenblick überlegt hatte. „Wissen Sie, was ich mache? Ich vermiete das Zimmer nur für ein Jahr! Ich möchte Sie doch so gerne zurückbekommen. Und in einem Jahr studieren Sie doch weiter?“ „Hoffentlich, Frau Manders. Ich bin gern bei Ihnen gewesen!“ „Ich werde Sie sehr vermissen, Fräulein Berner. Wer hilft mir jetzt, wenn die Soße zu gerinnen droht? Wer bäckt mir die Kuchen,
wenn meine Enkelkinder kommen? Was mache ich nur mit dem Gemüse, wenn Sie es nicht für mich dämpfen?“ Es stimmte schon. Ich hatte oft die Kniffe, die mir Mutti beigebracht hatte, Frau Manders verraten. Und da sie meine Kuchen so gern mochte, hatte ich öfter einen für sie gebacken. Das war das wenigste, was ich für sie tun konnte. Sie war immer lieb und nett zu mir – und die Miete so niedrig. Plötzlich kam mir ein Gedanke: „Frau Manders! Sie meinen also, daß ich gut koche?“ „Ja, das meine ich! Das gebe ich Ihnen sogar schriftlich!“ „Gerade darum wollte ich bitten!“ Frau Manders sah aus wie ein Fragezeichen. Ich mußte ihr meine Pläne verraten, doch dann war sie Feuer und Flamme. Sie holte Kugelschreiber und Briefblock aus ihrem vielseitig verwendbaren Küchenbüfett, ließ sich von mir die schwierigsten Worte buchstabieren und schrieb ein Zeugnis aus, das mir wahrscheinlich eine Anstellung im Hotel „Vier Jahreszeiten“ verschafft hätte, und malte zuletzt ihren Namen mit vielen Extraschnörkel darunter. Ich steckte das wertvolle Papier in die feierliche Mappe zu dem Taufschein, den Schulzeugnissen und Impfscheinen. Dann kam Reni mit Theodor, und ungefähr im gleichen Augenblick erschien Falko. Meine Koffer und Kartons wurden im Theodor verstaut, ich nahm einen rührenden Abschied von Frau Manders und versuchte während der Fahrt, cand. med. Jessica Berner zu vergessen und mich auf die zu erwartenden Pflichten der Hausgehilfin Jessica zu konzentrieren.
Renis Schwiegermutter Draußen war es eiskalt. In den Schlafzimmern hatten wir elektrische Öfen an, im Wohnzimmer genügte der offene Kamin nicht, wir mußten in dem alten Koksofen Feuer machen. Der abessinische Kater Kijana, sonst außerordentlich unternehmungslustig, der stundenlange Streifzüge mit unbekanntem Ziel liebte, verkroch sich unter dem Ofen. Wenn ich zum Kaufmann mußte oder den Mülleimer hinuntertrug, zog ich mich an wie zu einer Polarexpedition. Aber in ihrem Schlafzimmer stand Reni pfeifend und trällernd und packte Bikini, ärmellose Sommerkleider, weiße Sandalen und ein paar kleine Fähnchen ein, die sie Nachtkleider nannte. Ich fror bei dem Anblick. Im Wohnzimmer saß ihre Schwiegermutter und nähte Knöpfe und abgerissene Rocksäume an. Zwischendurch holte sie Fleckenwasser und schüttelte den Kopf darüber, was ihre eifrig lernende medizinische Schwiegertochter in der letzten Zeit versäumt hatte. „Muttchen, wäre es dir lieber, ich hätte fleckenfreie Kleider, aber dafür eine Drei im Physikum?“ fragte Reni lächelnd. Sie war ganz aufgeregt vor Vorfreude, was ich verstehen konnte. Ich stand in der Küche, putzte Gemüse, machte Salate zurecht, kochte und briet. Nach drei Tagen vertraute Reni mir an: In einem Punkt hätte sie keine Angst, ihre Schwiegermutter würde nicht verhungern! Frau Ingwart hatte mich gebeten, vorläufig kalorienreich und leichtsinnig zu kochen. Reni mußte sich stärken, sie selbst war auch sehr dünn, und ich – ja, ich sah also so aus, daß ich mich hinter einem Besenstiel verstecken konnte, wie Falko es ausgedrückt hatte. Frau Ingwart nahm mir die Brotscheiben aus der Hand und strich doppelt soviel Butter darauf, sie goß Sahne in mein Milchglas und schnitt mir so dicke Käsescheiben ab, daß ich Käse mit Brotbelag aß, anstatt umgekehrt. Falko kam, um den Wagen zu holen. „Aber du fährst mich doch zur Bahn?“ bat Reni. Sie mußte mit der Bahn nach Hamburg, von dort ging es dann weiter per Flugzeug. „Ich fahre dich herzlich gern nach Hamburg“, meinte Falko. „Fein!“ rief Frau Ingwart. „Dann kommen Jessica und ich mit!
Wenn wir meine lästige Schwiegertochter los sind, machen wir uns einen schönen Tag in Hamburg! Ich lade euch zum Mittagessen ein!“ „Siehst du, Jessi“, sagte Falko. „Nachdem du Frau Ingwart drei Tage bekocht hast, sehnt sie sich schon nach einem anständigen Essen – aua, du kleines Biest!“ Ich ließ seine Haare los, ging in die Küche und machte Kaffee. Dann fuhr Falko zurück mit dem festen Versprechen, morgen punkt acht mit geputztem Wagen und vollem Tank an Ort und Stelle zu sein. „Also heißt es früh ins Bett!“ verkündete Frau Ingwart. „Wenn wir drei erst anfangen, Hamburg unsicher zu machen, brauchen wir Kräfte und müssen ausgeruht sein!“ Sie zog sich gleich nach dem Abendessen zurück. Reni mußte noch ein paar Kleinigkeiten packen. Ich ging mit in ihr Schlafzimmer, und wir plauderten noch ein Stündchen. Ich hatte einen Brief von meinen Eltern bekommen und konnte Reni erzählen, daß sie sich über das bewußte Telegramm: „Alles nur halb so schlimm!“ riesig gefreut hätten. Sie waren dankbar und gerührt über meine Einstellung. Eine große Last war von ihnen genommen, und jetzt hatten sie mehr Mut, ihr neues Unternehmen anzufangen. Sie gaben mir ihren elterlichen Segen zu meinen Hausarbeitsplänen, die sie sehr gut fanden. „Siehst du!“ erklärte Reni strahlend. „Es kommt alles ins Lot, Jessica. Du, ist es nicht unbegreiflich – morgen um diese Zeit bin ich irgendwo über dem Mittelmeer, und übermorgen schon bei Manfred!“ „Und wann bist du bei Sonja und Heiko?“ „Das weiß ich noch nicht, vielleicht erst kurz vor der Heimreise. Aber daß ich Kenia nicht verlasse, ohne sie besucht zu haben, das steht fest! Oh, wie freue ich mich!“ „Grüß sie beide ganz herzlich von mir!“ „Wird gemacht! Und ich werde bestimmt einen Haufen Fotos mitbringen, wenn ich wieder nach Hause komme!“ Heiko ist ein junger Zoologe, der für ein englisches Forschungsinstitut in Kenia arbeitet. Wir lernten ihn und seine Frau bei den Donnerstagstanten kennen, übrigens gleichzeitig Sonjas Zwillingsschwester Senta. Diese beiden Schwestern hatten vor zwei Jahren das unwahrscheinliche Glück, eine Ostafrikareise in der Fernsehlotterie zu gewinnen. Auf dieser Reise lernten Sonja und Heiko sich kennen, jetzt waren sie schon drei Jahre verheiratet und
wohnten mit ihrem Forschungsteam in einer entlegenen Ecke von Kenia. Als Reni und ich sie kennenlernten, befanden sie sich auf einem kurzen Europabesuch. Bei derselben Gelegenheit trafen wir wie gesagt auch Senta, die vor ihrer Heirat bei Tante Christiane Haustochter gewesen war. Ich mochte die beiden Zwillingsschwestern ganz besonders gern. Sie sind übrigens gebürtige Norwegerinnen. Als Reni und Manfred sich auf ihrer Hochzeitsreise befanden, hatten sie auch Sonja und Heiko besucht. Reni erzählte oft von den wunderbaren gemeinsamen Tagen, von den Pirschfahrten, wo sie eine ganze Menge herrlicher Tiere gesehen hatten – und endete immer bei Sonjas zahmer Gepardin namens Kito. „Es ist nicht zu fassen, daß ich bald alles wiedersehen werde!“ sagte Reni fast verträumt. „Ich bin solch ein Glückspilz, daß ich es selbst nicht fassen kann.“ „Dein Glück ist dir vergönnt, Renilein“, versicherte ich. „Und denk bloß nicht, daß ich nicht glücklich bin! Daß man vorübergehend Schwierigkeiten hat, kann ja das eigentliche Lebensglück nicht zerstören. Und das genieße ich!“ „Dank Falko!“ Reni lächelte. „Unter anderem, ja! – Du, ich freue mich auf Hamburg morgen. Es war wahnsinnig nett von deiner Schwiegermutter, uns einzuladen!“ „Meine Schwiegermutter ist immer wahnsinnig nett!“ meinte Reni. „Wo werdet ihr morgen essen? Ach richtig, ich habe eine Idee für euch! Geht doch in ein chinesisches Restaurant. Ich habe einmal in einem Chinakeller in Hamburg gegessen, du ahnst ja nicht, wie gut das Essen ist! Ich werde es Muttchen sagen.“ „Vielleicht bekomme ich neue Anregungen für mein Kochen“, schmunzelte ich. „Hast du nun bestimmt nichts vergessen, Reni? Paß, Impfschein, Reiseschecks, Zahnbürste – alles beieinander?“ „Alles nicht so wichtig!“ beteuerte Reni. „Ja, Paß und Impfschein schon, alles andere ist unwichtig. Die Hauptsache ist, daß ich selbst komme! Frag doch Manfred!“
Brief nach Birkendorf Hasensteg, 21.-25. Februar Meine lieben Eltern! Es ist ziemlich spät am Abend, aber ich kann nicht warten, ich muß Euch gleich schreiben! Ich habe nämlich eine Idee für Euch! Aber zuerst muß ich erzählen, wie mir die Idee gekommen ist. Und das bedeutet, daß ich Euch von dem ganzen heutigen Tag berichten muß. Oh, es war ein wunderbarer Tag, und ich habe so viel erlebt! Also, Reni ist heute nach Afrika geflogen. Wir brachten sie nach Hamburg, „wir“ bedeutet also Frau Ingwart, Falko und ich. Ich durfte vorne neben Falko sitzen, hinten gab Frau Ingwart ihrer Schwiegertochter die letzten Ermahnungen, guten Ratschläge und Grüße mit auf die Reise. Wir waren viel zu früh am Flughafen. Es ist Frau Ingwarts Schuld. Aber sie hat recht, wenn sie sagt: „Kinder, das Flugzeug wartet nicht, und wenn wir eine Reifenpanne bekommen, müssen wir genügend Zeit für einen Reifenwechsel haben!“ Wir hatten aber keine Reifenpanne, also waren wir am Flughafen beinahe zwei Stunden vor Abflug der Maschine. Kaum hatten wir aber die Wartehalle betreten, schrie Reni auf, ließ alles, was sie in den Händen hielt, fallen – auch eine Bonbontüte, Falko und ich mußten sechsundvierzig Bonbons zusammenklauben – und rannte einem Herrn in die Arme. Es war ihr Vater! Die Mutter stand neben ihm. Ich hatte ihre Eltern bei Renis Hochzeit kennengelernt, und auch ich freute mich, sie wiederzusehen! „Wo ist das ,Zentrum’ eurer Welt?“ fragte Reni. Ich mußte schnell Falko erklären, daß das „Zentrum“ Renis zwei Jahre alter Bruder sei – oder genau gesagt ihr Halbbruder. In der Familie treffen die Worte zu: „Mein Kind, dein Kind und unser Kind!“ „Er kompliziert heute Christels Leben“, sagte schmunzelnd Herr Thams. „Die gute Seele hat es freiwillig auf sich genommen, den ganzen Tag auf unseren lebensfrohen Sprößling aufzupassen!“ „Wie gut, daß Christel einen Arzt geheiratet hat“, meinte Reni. „Nachher wird sie bestimmt eine Kreislaufspritze brauchen! Und ihr werdet den ganzen Tag in Hamburg rumbummeln? Ihr seid mir ein
paar Rabeneltern! Ich fange an, mir zu überlegen, ob ich nicht doch hierbleibe. Ihr wollt euch anscheinend einen schönen Tag in Hamburg machen, meine drei Lieben hier wollen dasselbe! – Ach, entschuldigt, ihr kennt Falko ja nicht: cand. med. Falko Eichner, Jessicas Verlobter.“ Frau Thams und Frau Ingwart kennen sich gut, da ja ihre Kinder miteinander verheiratet sind, und mögen sich sehr gern. Frau Ingwart behauptet, es liege wohl daran, daß sie beide mit zweiundvierzig Jahren zum letztenmal Mutter wurden. Sie ziehen immer Vergleiche zwischen dem jetzigen Thams-Wunderkind und dem damaligen Ingwart-Wunderkind! Wir landeten in der Warteraumgaststätte, wo Renis Vater uns alle zu einer Erfrischung einlud. So verging die Zeit sehr schnell und angenehm, und ehe wir uns versahen, wurde Renis Flugzeug schon aufgerufen. Sie verteilte schnell fünf Umarmungen – in der Eile bekam Falko auch eine – und verschwand. Hinter den Glastüren sahen wir sie noch einmal winken. Herrgott, wie glücklich ist sie und wie ich es ihr gönne! Dann fielen meine Augen auf die beiden Mütter – die junge und die alte. Beide wischten mit einem Taschentuchzipfel in den Augenwinkeln. „Ach, ich bin so dumm!“ entschuldigte sich Frau Thams. „Aber immer habe ich etwas Angst, wenn meine Kinder oder auch mein Mann fliegen…“ Frau Ingwart putzte sich die Nase. „Wem sagst du das? Aber du bist doch jung, du bist sozusagen mit Flugzeugen aufgewachsen, ich dachte…“ „Ich habe auch nie Angst, wenn ich selbst fliege!“ versicherte Frau Thams. „Aber wenn meine beiden Töchter oder meine vielbeschäftigten Schwiegersöhne kreuz und quer durch die Lüfte fliegen oder wenn mein Mann am Mittagstisch so zufällig zwischen zwei Löffeln Suppe sagt: ,Ach ja, richtig, am Donnerstag fliege ich für ein paar Tage nach New York!’ – dann kommt mir doch ein kleiner Angstkloß in den Hals!“ „Wie wird es dir dann erst gehen, wenn unser Stammhalter groß ist?“ Herr Thams schmunzelte. „Unsere Reni hat mir ein altes Auto abgebettelt, unser Herr Sohn macht es bestimmt nicht unter einem Hubschrauber!“ Wir mußten lachen. Und dann fragte Herr Thams uns, was für
Pläne wir für den Tag hätten. Und als er erfuhr, daß wir chinesisch essen gehen wollten, war er Feuer und Flamme und lud uns alle ein. Aber er kann es sich schon leisten, fünf Personen chinesisch zu sättigen. Und jetzt, Mutti, paß einmal auf. Was jetzt kommt, geht in erster Linie Dich an, denn jetzt kommt meine Idee! Und sollte sie durchführbar sein, was ich sehr hoffe, wird die Hauptarbeit auf Deinen Schultern liegen! Also, das Essen war ein Gedicht, ein Traum! Frau Ingwart imponierte uns allen dadurch, daß sie mit Stäbchen aß! Sie erklärte, sie hätte es in ihrer Jugend in Indonesien gelernt. Ihr Mann arbeitete ja als Tropenarzt ein Jahr in Indonesien. Wir bestellten fünf verschiedene Gerichte und kosteten fleißig untereinander. Ich kann euch sagen, jedes Gericht war eine Köstlichkeit! Frau Thams erzählte uns, daß es zur Zeit für „schick“ angesehen wird, chinesische Gerichte zu servieren. Besonders bei Partys sind sie sehr beliebt. Aber die Zubereitung verlangt viel Arbeit. Vor allem benötigt man eine große Auswahl an exotischen Gewürzen und Zutaten. Dadurch wird es recht teuer, besonders in kleineren Mengen. Wenn man für eine größere Gesellschaft kocht und die teuren Döschen und Fläschchen und Packungen richtig ausnutzen kann, wird es erschwinglich. Und jetzt, Mutti, ahnst Du meine Idee? Wenn Du nun diese modernen und „schicken“ Partygerichte kochen und in Packungen für zwei, vier oder sechs Personen tiefkühlen würdest? Dann könnten die Kunden schnell ein fertiges Menü kaufen und hätten ein erstklassiges Essen für ihre Gäste – mit einem Minimum an Arbeit! Und wenn Ihr dann auch Reisschälchen und hölzerne Eßstabchen verkaufen würdet, sie sind ganz billig, sagte Frau Thams, dann – ja also? Was sagt Ihr? Ich konnte es nicht lassen, ich legte den beiden erfahrenen Hausfrauen meine Idee vor, und sie fanden sie phantastisch. Frau Ingwart besitzt ein chinesisches Kochbuch, das heißt, sie hatte es schon mir geschenkt, und ich schicke es Dir jetzt. Frau Thams erzählte uns von ihren fabelhaften Kochbeuteln, die sie von der Mutter ihres norwegischen Schwiegersohnes geschickt bekommt. Sie gibt Dir eine Packung davon, damit Du sie ausprobieren kannst. Sie heißen „Frieren und kochen“. Man kann also den ganzen Beutel direkt vom Tiefkühler in heißes Wasser stecken. Wenn Du sie magst, kannst Du der Firma schreiben, Name und Anschrift stehen auf der
Packung. Hier in Deutschland sind sie anscheinend nicht zu haben, jedenfalls waren sie nirgends zu finden, als Frau Thams danach fragte. Also auch etwas, was die Leute nur bei Euch kaufen könnten! Die meisten Gerichte vertragen das Tiefkühlen und Auftauen sehr gut. Mach aber bloß keine Pekingente, die soll knusprig sein, und das Auftauen fördert ja nicht gerade die „Knusprizität“ (den Ausdruck habe ich von Falko, er steht nicht im Wörterbuch!). Das, was wir aßen, hieß „Schweinefleisch mit Ingwer“, „Huhn mit Bambus“, „Chop Suey“, „Löwenkopf“ (da ist kein Löwenfleisch drin! Es ist nur das Gericht, das so wuschelig aussieht wie ein Löwenkopf mit einer dicken Mähne!) und „Ente der acht Kostbarkeiten“. Alles schmeckte ganz phantastisch. Ich habe mir ein paar Rezepte aus dem Kochbuch abgeschrieben, aber das Buch bekommst Du also. Ich bin sehr gespannt darauf, was Ihr zu meiner Idee sagen werdet! Ich habe es wunderbar bei Frau Ingwart. Eigentlich müßte ich für diese gute Pension hier Geld bezahlen. Denn ich erhole mich mit jedem Tag mehr. Das bißchen Arbeit in diesem Puppenhaushalt ist wirklich ein Kinderspiel. Ab morgen wird es ja noch weniger, denn dann sind wir ja nur noch zwei Personen – ja, und der Kater natürlich. Der ist die Hauptperson. Er liegt augenblicklich am Fußende meines Bettes. Ich sehe eine Auseinandersetzung zwischen uns kommen. Ich werde versuchen, Kijana davon zu überzeugen, daß es sich im Katzenkörbchen besser schläft. Aber Kijana wird bestimmt behaupten, daß das Fußende meines Bettes zweckmäßiger sei! Es ist ein Uhr! Gute Nacht, liebe Mutti, lieber Vati! Eure Jessi PS! Die Auseinandersetzung hat stattgefunden. Kijana hat gesiegt.
Kein Knoblauch im Haus Es gibt Augenblicke im Leben, wo man sich nicht zu helfen weiß, Augenblicke, wo einem nichts anderes übrigbleibt, als irgendeinen verständnisvollen Menschen um Rat zu bitten. Glücklich kann der sein, der in einem solchen Augenblick eine gute Patentante hat! Es war an einem Samstagnachmittag, und ich befand mich in solch einer Lage. Also rief ich Tante Christiane an. „Ach, Jessica, du bist es, Kind. Wie geht es dir?“ „Furchtbar, Tante Christiane. Ich bin vollkommen ratlos. Du bist meine letzte Hoffnung. Du bist dir doch deiner Pflichten als Patentante bewußt? Also, ich brauche einen Rat.“ „Ja, Kind, wenn ich dir den geben kann – was ist los?“ „Eine lebenswichtige Frage, Tante Christiane. Womit spickt man einen Hammelbraten, wenn man keinen Knoblauch im Hause hat?“ „Was? Du hast keinen Knoblauch? Und du willst meine Patentochter sein? Hammelbraten ohne Knoblauch ist wie ein Kuß ohne Bart!“ „Vielen Dank! Den Bart kann ich entbehren. Falko hat Gott sei Dank keinen.“ „Ach ja, richtig! Mein Mann hatte einen, deswegen finde ich den Vergleich gut. Im Ernst, Jessilein, das Problem ist ja furchtbar! Hast du Petersilie im Haus?“ „Nur getrocknete. Damit kann man ihn nicht spicken.“ „Nein, das geht nicht. Ja, was machen wir dann? Das nackte Hammelfleisch ohne Knoblauch, ohne Petersilie, Jessikind, das ist ein Kündigungsgrund! Warte mal – mach ein bißchen Speiseöl heiß und rühre etwas Majoran, Zitronensaft, Salz und Thymian hinein und reibe den Braten mit der Mischung ein. Hoffentlich wird er dann genießbar.“ „Tausend Dank, Tante Christiane, du bist die ideale Patentante! Wie geht es euch übrigens?“ „Oh, wir sind klein und häßlich und einsam, wir vermissen unsere Donnerstagsmädchen. Wir freuen uns auf den Semesterbeginn, wenn wir euch wiederhaben!“ „Ihr seid rührend, Tante Christiane. Also, wieviel Öl?“ „Eine halbe Tasse und von den Gewürzen je einen knappen Teelöffel. Kind – das ist ja nicht zu glauben, kein Knoblauch im Haus…“ Ich hatte gerade das Teewasser aufgesetzt und holte die Butter
aus dem Kühlschrank. Abends tranken Frau Ingwart und ich immer Tee bei den Fernsehnachrichten, aßen fertige Brote und hatten es urgemütlich. Ich mußte mich jetzt beeilen, es war schon Viertel vor acht. Dann hörte ich Autogeräusch. Nanu, der Wagen hielt ja hier! Besuch für uns? Das gehörte zu den ganz großen Seltenheiten. Manchmal schaute eine Nachbarin herein, aber Besuch per Auto! Und Falko war doch erst für morgen eingeladen! Ich mußte hinausschauen. Und im nächsten Augenblick hätte ich Käse, Buttermesser und Brot fallen lassen und rannte auf die Straße. „Tante Christiane! Ist das eine Überraschung! Was führt dich hierher?“ „Deine Sorgen, mein Kind. Ich bringe dir Knoblauch!“ Eine kleine Plastiktüte wurde mir in die Hand gedrückt. „Tante Christiane, du bist einmalig! Zwanzig Kilometer zu fahren, um einer vergeßlichen Patentochter Knoblauch zu bringen! Komm doch rein, wo ist Bicky?“ „Zu Hause bei Isa. Ihr habt doch das Katzenvieh hier, und Bickys Verhältnis zu Katzen ist wie das eines leidenschaftlichen Anglers zu einer Bachforelle. Aber ich will euch nicht stören, Kind, ich wollte ja nur…“ „Rede keinen Unsinn, Tante Christiane!“ Ich zog sie mit in den Hausflur. Frau Ingwart hatte uns wohl gehört und kam uns entgegen. „Nein, Frau von Waldenburg, wie reizend! Kommen Sie doch herein! Jessica, machen Sie schnell noch ein paar Brote zurecht!“ Frau Ingwarts Begeisterung war so groß, daß Tante Christiane in der nächsten Minute im Schaukelstuhl saß und Frau Ingwart schon die dritte Teetasse auf den Tisch gestellt hatte. „Weißt du, Jessica“, Tante Christiane schmunzelte, „ich glaube, du hast Glück mit deinem Ferienjob gehabt! Bei einer solchen Hausfrau möchte ich auch Hausgehilfin sein!“ „Du kannst dich ja darum bewerben, Tante Christiane. Beim Semesteranfang kommt Reni zurück, und ich werde entlassen.“ „Und das ist Ihr Glück“, erklärte Frau Ingwart lachend. „Dann können Sie endlich mehr Geld verdienen und brauchen nicht für die paar lächerlichen Kröten zu arbeiten, die Sie hier als Gehalt erhalten!“ Tante Christiane sah mich verwundert an. Ich hatte sie ja noch nicht über meine veränderten Pläne informiert! Ich hatte nur einmal
mit ihr gesprochen und von meiner Eins im Physikum erzählt und gesagt, ich würde in den Semesterferien für Renis Schwiegermutter den Haushalt führen. Aber jetzt mußte wohl die Wahrheit heraus. Also holte ich tief Luft und begann: „Ja, siehst du, Tante Christiane, es hat sich einiges bei mir geändert. Ich werde ein Jahr mit meinem Studium aufhören und dafür Hausarbeit machen, das heißt in erster Linie kochen.“ „Sag mal, du hast wohl einen Vogel!“ rief Tante Christiane. „Jetzt, wo du gerade deine wunderbare Eins unter Dach und Fach hast! Daß du mir bloß nicht so einen Unsinn machst!“ „Frau von Waldenburg“, sagte Frau Ingwart mit ihrer sanften, warmen Stimme. „Ich glaube, es ist besser, daß Jessica Ihnen die ganze Geschichte erzählt!“ „Ja, das ist bestimmt besser!“ erklärte Tante Christiane. Dann erzählte ich – Tante Christianes Augen wurden immer größer und immer runder. Als ich meinen Bericht beendet hatte, war sie an der Reihe, tief Luft zu holen. „Jessica“, sagte sie endlich, „du bist ein Schaf!“ „Meine Eltern sind anderer Meinung.“ „Ich sage, du bist ein Schaf! Liebes Kind, wozu hast du eine Patentante, sogar eine mit etwas Geld? Kind, ich kann dir doch ein bißchen unter die Arme greifen und dich zwei Semester über Wasser halten…“ „Ja, siehst du, Tante Christiane, ein solches Angebot habe ich befürchtet, deswegen habe ich dir bis jetzt auch nichts erzählt. Verstehst du, wenn ich wirklich in größter Not wäre, wenn ich in einer Situation stecken würde, wo ich gezwungen wäre, jemanden um Hilfe zu bitten, dann käme ich zu dir, ganz bestimmt. Aber dies ist nicht die größte Not! Ich kann arbeiten, und ich möchte gern arbeiten. Wenn mein ganzes Studium gefährdet wäre, dann wäre es etwas anderes. Aber es geht ja nur um ein Jahr! Und noch etwas, Tante Christiane. Ich weiß nicht, ob du das verstehen kannst. Meine Eltern haben ein sehr schweres Jahr vor sich, sie werden schuften müssen wie nie zuvor. Wenn ich nun auch arbeite, habe ich das Gefühl, daß ich mitmache, daß ich ihnen helfe, daß ich ein klein wenig zum Wohl der Familie beitrage. Wenn ich jetzt das Geld für zwei Semester ,zusammenkochen’ kann, dann habe ich ja den Eltern geholfen!“ Tante Christiane streichelte mir schnell die Wange. „Ich verstehe dich, Jessica. Aber etwas sollst du mir versprechen, das verlange ich
von dir. Wenn du in die Lage kommen solltest, daß du Hilfe haben mußt, daß du jemanden bitten mußt, dann will ich der Jemand’ sein. Versprichst du mir das?“ „Ja, Tante Christiane. Das verspreche ich.“ „Und nun müssen wir sehen, was zu machen ist. Jedenfalls werde ich die Inserate in meiner dicken Sonntagszeitung mit Adleraugen studieren.“ „Ach, das willst du? Ich ahnte nicht, daß Adler lesen können.“ „Ach, halt doch deinen Mund, du naseweise Göre! Also, wenn ich einen Hilferuf nach einer erstklassigen Köchin sehe, dann rufe ich dich an! Schade, daß ich dir kein Zeugnis ausstellen kann, du hast ja in dem Sinn nicht bei mir gearbeitet, nur damals als – halt! Weißt du, was du machen kannst? Wenn du dich um eine Stellung bewirbst, kannst du dich auf mich berufen. Sage der Gnädigen, daß sie mich anrufen kann, und dann werde ich ein Loblied auf dich singen, daß man es bis in den Himmel hört. Hoffentlich vergißt sie dann zu fragen, wie lange du bei mir gearbeitet hast.“ „Das ist furchtbar lieb von dir, Tante Christiane. Aber eines mußt du mir versprechen: Verrate nicht, daß ich Medizinstudentin, ich meine, ,Cand. med.’ bin! Das würde alles nur komplizierter machen. Ich bin ganz einfach ein Mädchen, das gerne kocht und gerne Hausarbeit verrichtet.“ „Gut! Und wann soll ich anfangen, die Inserate durchzuwühlen?“ „Kommt darauf an, wann Frau Ingwart mich rausschmeißt!“ „So lange, wie Sie das Silber nicht klauen und das Essen nicht anbrennen lassen, können Sie bleiben“, erklärte Frau Ingwart verschmitzt. „Oder sagen wir, bis Reni zurückkommt!“ „Also, Tante Christiane, ab Semesterbeginn muß ich eine neue Stellung haben.“ „Dann bin ich im Bilde. Aber jetzt, glaube ich, muß ich endlich an den Rückweg denken. Isa begreift bestimmt nicht, wo ich so lange geblieben bin, und Bicky erst recht nicht. Dann viel Glück zu deinem Hammelbraten, Jessica!“ „Ach richtig, es gibt ja morgen Hammelbraten!“ rief Frau Ingwart. „Was ich sagen wollte, Jessica, Sie können den Braten bestimmt sehr schön zubereiten, nur eins bitte ich Sie: Kein Knoblauch! Dagegen bin ich nämlich allergisch!“ Es dauerte noch fünf Minuten, bis Tante Christiane sich verabschieden konnte. Soviel Zeit brauchten wir, um Frau Ingwart zu erklären, warum wir beide einen Lachkrampf bekamen.
Abschied vom Hasensteg Im Garten blühten die Schneeglöckchen und die Krokusse. Die Bäume bekamen den ersten zarten Grünschleier, und an dem kleinen Bach säumten die gelben Schlüsselblumen das Ufer. Die Nachmittage wurden länger und sonnig – es war Frühling. Die Zeit raste dahin. Ich hatte mich ganz bei Frau Ingwart eingelebt. Ehrlich gesagt, genoß ich es auch, nicht lesen und lernen zu müssen. Nie hatte ich mich in meinen Semesterferien so vollkommen entspannt, das Lernen so völlig ausgeschaltet. „Das tut dir gut“, erklärte Falko. „Letzten Endes wird dieses Jahr ein richtiges Erholungsjahr für dich!“ Falko kam oft zu uns. Frau Ingwart hatte ihm gesagt, daß er jederzeit willkommen sei. Dafür machte er kleine Reparaturen im Haus, erledigte Besorgungen mit dem Auto und konnte Frau Ingwart in praktischen Dingen helfen, worum sich sonst Manfred kümmerte. Falko schuftete an seiner Tankstelle. Er konnte über viele komische Erlebnisse von seiner Arbeit und über die Kunden berichten. Stolz war er über sein Sparschwein, dessen Bauch täglich dicker und schwerer wurde. Das Sparschwein ist nicht wörtlich aufzufassen. Genauer gesagt, handelte es sich um ein Sparkassenbuch, in dem sich seine mühsam zusammengekratzten Trinkgelder verzinsen sollten. Das Beste von allem waren die Briefe von Mutti und Vati. Das Geschäft war renoviert und in neuer Pracht wiedereröffnet worden. Die Leute kamen zuerst aus Neugier, dann, um die seltenen Delikatessen auszuprobieren. Als Mutti ihre erste chinesische Tiefkühlpackung verkauft hatte, schrieb sie mir extra eine Karte. Später blieb keine Zeit mehr dafür, denn es sprach sich sehr schnell herum, daß man bei Frau Berner so lustige und originelle Partymenüs fix und fertig kaufen konnte. Andere Käufer bevorzugten mehr ein Fleischfondue. Also spezialisierte sich Mutti auf Soßen, „Dips“ und Zutaten, die man dazu braucht. Mutti und Vati gaben sich sehr zuversichtlich. Wenn es so bliebe wie bisher, würden sie die Hürde schaffen. Aber noch hieß es sparen, vorsichtig sein, um alles wieder einzunehmen, was sie in das Geschäft hineingesteckt hatten! Die Zeit für Renis Nachhausekommen rückte immer näher. Ob ich selbst ein paar Zeilen unter „Stellengesuche, weiblich“ aufgeben
sollte? Dann rief aber Tante Christiane an. Es war an einem Sonntagmorgen. Sie las mir aus der Zeitung vor: „Frau oder Mädchen mit guten Kochkenntnissen für modernes Einfamilienhaus gesucht. Sehr gutes Gehalt, Hilfe für Putzarbeiten vorhanden. Haushalt vollautomatisiert. Geregelte Arbeitszeit.“ „Mensch!“ rief ich ins Telefon. „Ich bewerbe mich gleich! Mit Schönschrift! Wie war die Zuschriftennummer?“ „Vergiß meinen Namen und meine Telefonnummer nicht“, sagte Tante Christiane. „Und schreib um Gottes willen ,von’ sehr deutlich. Es gibt komischerweise Menschen, die sich von diesen drei kleinen Buchstaben vor dem Namen imponieren lassen!“ Also setzte ich mich hin und schrieb. Drei Tage später kam die Antwort, mit der Maschine getippt auf einem feinen Briefbogen mit vorgedrucktem Namen und unleserlicher Unterschrift. Aber da die Sekretärin vorsorglich darunter „Direktor J. Frisch-Nielsen“ geschrieben hatte, wurde mir klar, daß es der Herr des Hauses war, der mich anstellte. Wenn ich mit den obenerwähnten Bedingungen einverstanden wäre, könnte ich am 15. Mai anfangen, las ich. Die „obenerwähnten“ Bedingungen erschienen mir annehmbar, das Gehalt war so, daß ich zugesagt hätte, selbst wenn Direktor J. Frisch-Nielsen zehn ungezogene Gören und fünf Klapperschlangen im Haus gehabt hätte. Das hatte er aber nicht. Die Familie bestand nur aus ihm und seiner Holden und wohnte in einem Vorort von Frankfurt. Ich schrieb und versprach, am 15. Mai zu kommen und rief Tante Christiane an. „Ja, das war vorauszusehen“, erklärte Tante Christiane. „Frau Direktor rief mich an und fragte Gott sei Dank nicht, ob du bei mir gearbeitet hättest. Komischerweise auch nicht, ob du kochen könntest. Sie wollte wissen, ob du sauber, ordentlich und ehrlich seist. Und dann erzählte sie mir eine lange Geschichte, die sich über mindestens zehn Gesprächseinheiten hinauszog; über ein Mädchen, das sie einmal gehabt hätte und das mit dem Geschirrtuch Staub wischte, oder vielleicht war es umgekehrt, daß sie mit dem Staubtuch Geschirr abtrocknete. Na ja, wie dem auch sei, sie schien von diesem Thema so besessen zu sein, daß sie gar nicht dazu kam, peinliche Fragen zu stellen.“ „Was ich sonst im Haus Frisch-Nielsen anstellen werde, weiß ich
nicht, aber daß ich nicht das Geschirr mit dem Staublappen trockenreibe, das kannst du als ein heiliges Gelübde betrachten, Tante Christiane“, versprach ich feierlich. Und damit legten wir beide den Hörer auf. Jetzt war ich an der Reihe, meine Garderobe in Ordnung zu bringen und mich für mein Dasein als korrektes Hausmädchen auszurüsten: ein paar praktische Arbeitskittel, drei nette Servierschürzen. Frau Ingwart schenkte mir sogar ein schwarzes Kleid und half mir, daraus ein brauchbares Servierkleid zu machen. Sie mußte mir zu diesem Zweck die Maße nehmen, und ich traute meinen Augen und Ohren nicht. Ich stieg nachher auf die Waage und stellte fest, daß ich vier Pfund zugenommen hatte, seit ich bei Frau Ingwart wohnte! Dann machte mir Tante Christiane einen Abschiedsbesuch. Als wir ein paar Minuten allein waren, reichte sie mir ein Kuvert und erklärte: „Liebe Patentochter, du wirst dich gewundert haben, daß ich dir für deine Eins im Physikum nichts geschenkt habe! Nein, sei ganz ruhig und laß mich ausreden. Ich hatte vor, dir eine goldene Uhr zu schenken. Aber in Anbetracht der veränderten Verhältnisse…“ „Ich habe gar nicht mein Verhältnis geändert, Tante Christiane!“ unterbrach ich sie. „Sprich nicht frivol mit deiner alten Patentante! Also, da ich einsehe, daß du zur Zeit andere Dinge dringender brauchst als eine goldene Uhr, habe ich es so gemacht – bitte sehr, die Bank hat auch in Frankfurt eine Filiale, dorthin kannst du jeden Monat dein Gehalt hinbringen!“ Ich erhielt ein Sparbuch mit einer Eintragung über fünfhundert Mark. „Tante Christiane, ich weiß einfach nicht, wie ich…“, fing ich an. „Schon gut, schon gut Fall mir nun schnell um den Hals, das wirst du sowieso gleich tun. So, mein Mädchen…“, sie streichelte mir den Rücken, als ich sie umarmte, und plötzlich wurde ihre Stimme ganz sanft und weich: „Du bist ein tapferes Mädchen, Jessilein. Ich – ich kann dich so gut leiden!“ Dann mußte ich lächeln, und in dem Augenblick kam Frau Ingwart ins Zimmer. Reni war wieder da. Braungebrannt, strahlend und glänzend erholt! Sie hatte auch zugenommen, und ihre Augen hatten einen
neuen Ausdruck. Sie wirkte irgendwie erwachsener, und das stand ihr gut. Einen Tag verlebten wir noch zusammen, bevor ich losfahren mußte. Reni zeigte mir Bilder, erzählte von Mombasa und Manfred, vom Schwimmen im Indischen Ozean und Manfred, von einem Wochendendflug in die Serengeti und von Manfred. Sie war auch bei Sonja und Heiko gewesen und überreichte uns Andenken – Holzschnitzereien, nette Kleinigkeiten aus afrikanischen Steinen und für mich einen wunderschönen Kleiderstoff aus handgedruckter Baumwolle. Frau Ingwart ging immer früh zu Bett. Wir beide blieben noch eine Weile sitzen, freuten uns, daß wir wieder zusammen waren, und erzählten. „Weißt du“, sagte ich. „Ich habe mich eigentlich jetzt mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß ich ein Jahr nicht studieren werde. Ich bin einfach gespannt auf diese Leute in Frankfurt. Zu komisch, daß der Herr des Hauses ein Mädchen anstellt. Na ja, wir werden sehen. Geld werde ich jedenfalls verdienen, Geld in großen Mengen! Die Sache hat nur einen Haken. Es ärgert mich ein bißchen, daß ich nicht gleichzeitig mit dir mein Staatsexamen machen kann. Ich werde noch büffeln und Examensangst haben, während du hochnäsig durch die Gegend läufst, womöglich schon als ,Dr. med.!’“ Da lächelte Reni. „Laß dir deswegen keine grauen Haare wachsen, Jessica. Ich verspreche dir, daß ich gleichzeitig mit dir ins Examen steige!“ „Jetzt begreife ich gar nichts mehr! Du willst doch bestimmt nicht für ein Jahr als Hausgehilfin arbeiten!“ „Um Himmels willen! Die Hausfrau, die mich bekäme, täte mir leid. Also, paß mal auf: Ich studiere jetzt noch ein Semester, dann höre ich für ein Jahr auf, und so kommen wir letzten Endes in den alten Takt, du und ich.“ „Aber warum, Reni? Warum in aller Welt?“ Es lag ein unergründliches kleines Lächeln um Renis Mund, als sie antwortete: „Weil ich ein Kind kriege, Jessica!“ Ich glaube, es dauerte eine volle Minute, bis ich die Sprache wiederfand. „Du – ein Kind – aber – aber… Wie willst du dann das weitere Studium schaffen? Wer soll sich um das Kind kümmern?“ „Das ist doch wirklich das kleinere Übel“, lachte Reni. „Mit zwei solchen Großmüttern! Sie werden sich um das Kind reißen. Und jede wird neidisch auf die andere sein, das Kleine nicht versorgen zu
dürfen!“ „Und du meinst, daß du genug Zeit und Ruhe für das Studium haben wirst?“ „Ganz sicher! Ich werde Ärztin, ich werde ,Dr. med.’, und ich werde Fachärztin für Kinderheilkunde!“ Renis Stimme klang fest und entschlossen, und die blauen Augen in ihrem lustigen, sommersprossigen Gesicht strahlten eine neue Wärme aus. Ich saß im Zug. Über mir mein guter, alter Koffer, prall gefüllt, und neben mir stand eine blaue Flugtasche, die Reni mir von ihrer Afrikareise mitgebracht hatte. Darin lagen meine Reisebrote, eine Obsttüte, eine Tafel Schokolade – alles milde Gaben – und meine Reiselektüre. Nein, es war kein spannender Roman, keine Illustrierte, nicht einmal ein medizinisches Lehrbuch, wie man es bei mir hätte vermuten können. Ich hatte vier Kochbücher eingepackt! Ein gutes, vernünftiges von Mutti, eins mit exotischen Gerichten von Frau Ingwart, eins mit feinen Menüs für Feierlichkeiten und Gesellschaften von Frau Thams und dann ein ganz dickes Buch mit äußerst appetitanregenden Illustrationen von Spezialitäten aus allen Ländern. Das hatte mir selbstverständlich Tante Christiane, die Meisterköchin meines Bekanntenkreises, geschenkt. Falko hatte recht, wenn er behauptete, daß mir Kochen liege. Es macht mir auch sehr viel Spaß. Aber es war mir plötzlich erschreckend klargeworden, daß man im Hause Frisch-Nielsen bestimmt ganz andere Ansprüche stellen würde als die, die ich bis jetzt erfüllt hatte. Also vertiefte ich mich auf meiner Fahrt in die Zubereitung von Weinbergschnecken mit Kräuterbutter, Hasen in Rotweinbeize, Rehrücken auf ungarische Art. Ich arbeitete mich durch Artischockenböden und Kaviar, Trüffeln und Eisbomben, bis ich von all dem Lesen hungrig wurde und zwei Käseschnitten aß! Gestern hatte die Sekretärin von Direktor Frisch-Nieisen angerufen. Ich möchte vom Bahnhof eine Taxe zu seinem Geschäft nehmen. Von dort könnte ich dann mit ihm nach Hause fahren. Sein Geschäft lag in der Stadtmitte, und seine Wohnung schien ziemlich weit außerhalb der Stadt zu liegen. Gut! Ich kreuzte also im Vorzimmer des Herrn Direktors auf, nebst Koffer und Flugtasche. Da saß ein junges Mädchen an einer Schreibmaschine. Ich teilte
ihr meinen Namen mit und daß ich Bescheid bekommen hätte, mich hier einzufinden. „Ach, Sie sind die neue Hausgehilfin, viel Vergnügen!“ sprach das Mädchen. Ich hätte brennend gern gewußt, worauf sich das „Viel Vergnügen!“ bezog. Aber dann ging die Tür vom Chefzimmer auf, und eine etwas reifere Dame, der man die erfahrene und unentbehrliche Stütze des Chefs schon von weitem ansah, erschien mit einem Stenoblock in der Hand. „Ach, Fräulein Berner? Bitte nehmen Sie Platz, der Herr Direktor telefoniert gerade.“ Sie setzte sich hin und blätterte in einer dicken Korrespondenzmappe. Sie mußte Facettenaugen wie eine Fliege haben, denn obwohl sie anscheinend sehr konzentriert Papiere studierte, sah sie es sofort, als das kleine rote Lämpchen am Telefon erlosch. Dann ergriff sie den Hörer und teilte meine Anwesenheit mit. „Herr Direktor kommt gleich“, orientierte sie mich und versank wieder in ihre Mappe. Die Jüngere fing an, ihre Nägel zu feilen, während sie mich forschend betrachtete. Der Direktor erschien. Ein gutaussehender Mann in den Fünfzigern. Nicht unfreundlich, aber auch nicht ausgesprochen herzlich wirkte er. Er hieß mich mit ein paar Worten willkommen, gab der Sekretärin einen kurzen Bescheid, nahm meinen Koffer und trat mit mir die Heimfahrt in seinem schönen großen Wagen an. Als wir aus dem schlimmsten Stadtverkehr heraus waren, wandte er sich an mich: „Haben Sie vielleicht irgendwelche Fragen, Fräulein Berner?“ „Ich weiß nicht, die Fragen werden sich wohl ergeben, wenn meine Arbeit anfängt, wenn ich mich sozusagen orientieren muß. Ja, doch – habe ich es richtig verstanden, daß das Kochen meine Hauptarbeit sein wird?“ „Ja, das ist richtig. Meine Frau kümmert sich weitgehend um die Wohnungspflege und um den Garten. Sie ist eine große Blumenfreundin.“ „Oh, wie reizend“, erklärte ich – was sollte ich sonst sagen? „Kochen Sie gern?“ fragte der Direktor nach einer kleinen Pause. „Ja, furchtbar gern. Ich glaube, diese Vorliebe ist mir angeboren. Von meiner Mutter geerbt.“ „Kein schlechtes Erbe. Kennen Sie sich auch aus mit – ja, sagen
wir, Gesellschaftskochen? Ich meine, man hat ja öfter Gäste.“ Da haben wir den Salat! dachte ich. Aber laut beteuerte ich: „Ich glaube schon, Herr Direktor. Ich werde mir jedenfalls alle Mühe geben, wie gesagt, es macht mir Spaß! Ich koche wirklich gern.“ Eine Andeutung von einem Lächeln zeigte sich auf seinem ernsten Gesicht. „Und ich esse gern!“ „Wie schön! Das Kochen macht noch einmal soviel Spaß für eßfreudige Menschen. Was ist denn Ihr Lieblingsgericht, Herr Direktor?“ „Mein Lieblings… – ach, du liebe Zeit, danach hat mich seit zwanzig Jahren niemand mehr gefragt. Ich muß es mir direkt überlegen – ach ja, natürlich! Ich weiß schon. Aber ich fürchte, Sie kennen das Gericht nicht! Lamm in Kohl heißt es, ich habe es vor vielen Jahren auf einer Skandinavienreise gegessen.“ „Ich kenne es!“ rief ich glücklich. „Ich habe es im Elternhaus einer guten Freundin gegessen! Ein norwegischer Schwiegersohn hat es dort eingeführt, es schmeckt wunderbar herzhaft!“ „Es wird so lange gekocht, bis es beinahe braun ist!“ „Ja genau! Und mit schwarzen Pfefferkörnern!“ Kein Zweifel! Der Direktor und ich hatten schon ein großes gemeinsames Interesse! Die Zukunft schien mir hell und rosig. Wir hielten vor einem netten Einfamilienhaus mit einem wunderschön gepflegten Vorgarten – ein wahres Blumenmeer in hübschen Rabatten und kleinen Beeten. Ja, wenn das das Werk der Gnädigen war, dann hatte sie jedenfalls Sinn für Schönheit! Dieser Eindruck wurde verstärkt, als sie selbst erschien. Eine sehr hübsche goldblonde Dame in einem todschicken Hosenanzug. Sie sah aus wie eine Fünfundzwanzigjährige. Später erfuhr ich, daß sie zweiunddreißig war. Ein junges, fröhliches Gesicht – allerdings hatte sie ein paar Pfündchen zuviel an den Stellen, wo die Pfündchen sich bei Frauen gewöhnlich festsetzen, aber hübsch war sie doch. „Ach, da haben wir ja die Jessica, herzlich willkommen! Ich zeige Ihnen gleich Ihr Zimmer, Sie möchten sicherlich auspacken und sich frisch machen – das Essen ist fertig, Dicker, geh mal rein, ich komme gleich…“ Sie ging vor mir die Treppe hinauf. Wie wirkte alles gepflegt, sauber und frisch! Ich bekam beim Durchqueren der Halle einen Eindruck von blankpolierten Möbeln, frischen Blumen, farbenfrohen Teppichen und spiegelblankem Parkett – dann waren wir oben, und die Gnädige machte eine Tür auf.
„Hier, Jessica, ist Ihr Zimmer. Nett, nicht wahr?“ „Ganz reizend, gnädige Frau. Bitte, lassen Sie sich nicht aufhalten, ich mache mich eben ein bißchen zurecht, während Sie essen, Ihr Gatte hat bestimmt Hunger, es ist ja schon spät!“ Der Gnädigen war es bestimmt recht, sie verschwand in Richtung Küche, und ich sah mich im Zimmer um. Ja, es sah wirklich reizend aus. Nicht gerade sehr groß, aber gemütlich. Es war ein Giebelzimmer mit einer kleinen Fensternische und schrägen Wänden. Dann entdeckte ich zwei Türen – hinter der einen eine Kleiderkammer, mit genügend Platz für Koffer und andere Dinge, hinter der anderen – o Freude! – ein kleiner Duschraum mit Toilette! „Mensch, Jessica!“ sagte ich zu mir. „Hast du vielleicht Schwein gehabt!“ Ich freute mich schon darauf, Mutti, Falko und Reni von meinem sagenhaften Glück zu erzählen. Ich wusch mir Gesicht und Hände, kämmte die Haare, zog andere Schuhe und einen netten Arbeitskittel an. Dann ging ich nach unten und fand sofort die Küche. Und was für eine! Eine blitzblanke Anbauküche, vorbildlich aufgeräumt. Da ein großer Kühlschrank – dort der Herd, vollautomatisch, mit Backautomatik und Zeitschaltuhr. Mein Herz machte Freudensprünge! Der Direktor und meine Gnädige hatten inzwischen gegessen. Ich räumte ab, und dann war ich an der Reihe, meinen Hunger zu stillen. Als ich die reichlichen Reste von Frau Frisch-Nielsens Selbstgekochtem verzehrt hatte, verstand ich, warum sie eine Köchin brauchten. Ich sah meiner Tätigkeit in diesem Haus mit Ruhe entgegen. Denn jede Änderung des Kochens müßte ohne Zweifel eine Verbesserung bedeuten! Ich räumte die letzten Reste des labberigen Brathuhns in den Kühlschrank. Was hätte wohl Falko zu der fehlenden „Knusprizität“, den wässerigen, zerkochten Kartoffeln und dem Pudding mit der pampigen Soße gesagt? Wenn ich das faserige Fleisch und die traurigen Kartoffeln durch den Wolf drehte, würde ich vielleicht eine Suppe damit andicken können, überlegte ich mir. Dann setzte ich Kaffeewasser auf und wartete auf weitere Anordnungen.
Die Überraschungen fangen an Es war ein wunderschönes Haus. Der erste Eindruck wurde weiter verstärkt, als ich alle Räume gesehen hatte. Kein Stäubchen, keine Andeutung von Unordnung. Kein voller Aschenbecher, keine schnell hingelegte Strick- oder Näharbeit, kein herumliegendes Fernsehprogramm, kein Buch mit einem Lesezeichen zwischen den Seiten! Ja, überhaupt – Bücher! Wo hatten sie bloß ihre Bücher? Da stand ein großer Farbfernseher, eine Stereoanlage, ein Schrank voll Platten, ein Zeitungsständer mit ordentlich gestapelten Illustrierten – aber einen Bücherschrank oder ein Regal konnte ich nicht entdecken. Die persönliche Note fehlte völlig. Die sehr modern möblierten Zimmer sahen aus wie Ausstellungsstücke auf einer Möbelmesse. Alles wirkte neu, ja, beinahe ungebraucht. Das Haus hatte keine Atmosphäre. Man fühlte sich nicht wie bei uns zu Hause oder bei Frau Ingwart oder bei Tante Christiane, wo die Wände sozusagen Wärme und Leben ausstrahlten. Aber ordentlich und praktisch sah alles aus. Als ich mich im Keller umsah, war ich hell begeistert. Ein großer, herrlicher Raum stand zur Wäschepflege zur Verfügung: eine vollautomatische Waschmaschine, ein elektrischer Wäschetrockner, ein Heimbügler und ein sehr praktischer Tisch fürs Handplätten. Auch hier sah alles wie in einer Ausstellung aus. Es fehlte nur noch ein Plakat mit der Aufschrift: „Alles für die Wäsche, 3500 DM.“ Dann entdeckte ich einen Raum mit breiten, praktischen Borden für Eingemachtes und Vorräte. Aber sie waren leer. An der einen Wand stand eine Tiefkühltruhe. Ohne Anschluß stand sie unbenutzt, neu und tot da. Ja, gerade tot! Alles wirkte tot! Na, das sollte anders werden! Wenn das Obst erst im Garten reif wurde, dann konnte ich dafür sorgen, daß Marmeladentöpfe und Einmachgläser aufgereiht wurden und tiefgekühlte Erdbeeren sowie Fertiggerichte die Tiefkühltruhe füllten. „Ach, Sie haben schon abgewaschen!“ staunte Frau FrischNielsen, als sie die Küche betrat. „Ich habe das Geschirr in den Geschirrspüler gestellt, gnädige Frau“, teilte ich ihr mit. „Ach so, Sie wollten den Geschirrspüler benutzen, ja, wenn Sie
meinen – ich mag ihn nicht, da dauert ja das Abwaschen zu lange!“ Ich dachte, ich hörte nicht richtig. „Aber, gnädige Frau, in der Zeit kann man ja alles mögliche erledigen – plätten oder einkochen oder im Garten arbeiten!“ „Nein, es dauert mir zu lange“, wiederholte sie und betrachtete anscheinend das Thema Geschirrspüler als ausdebattiert. Sie konnte denken, was sie wollte – ich würde schon den Geschirrspüler benutzen! Gottlob, es war dasselbe Modell, das Tante Christiane hatte, damit kannte ich mich aus! Der Begriff Logik wurde bei meiner Gnädigen nicht besonders groß geschrieben, soviel war mir klar. Ich fragte, wann das Frühstück fertig sein sollte. „Ach, ich weiß nicht, mein Mann macht sich immer selbst etwas zurecht, ich stehe nicht so früh auf…“ „Aber jetzt haben Sie eine Köchin, die gern früh aufsteht“, erklärte ich. „Wann fährt der Herr Direktor los?“ „So gegen acht, glaube ich.“ Also hatte ich den Frühstückstisch um halb acht am nächsten Tag gedeckt. Ich holte die Morgenzeitung aus dem Postschlitz und legte sie neben den Teller. Dann stellte ich Eierwasser und Kaffeewasser bereit. Und als ich Schritte auf der Treppe hörte, beeilte ich mich, den Kaffee aufzubrühen. Der Direktor erschien mit einem kurzen „Guten Morgen!“ in der Küche. „Hat meine Frau Ihnen denn nichts gesagt über das Frühstück?“ „Nicht viel, Herr Direktor, aber der Tisch ist gedeckt. Wünschen Sie das Ei weich, oder…“ „Ach so“, antwortete er nur, sah mich einen Augenblick an und fügte hinzu: „Vier Minuten bitte!“, und dann verschwand er im Eßzimmer. Ich servierte ihm Kaffee, Ei und Toast. „Ich weiß nicht, ob Sie lieber das Brot selbst am Tisch toasten, ich muß ja Ihre Gewohnheiten kennenlernen…“ „Es ist schon gut so, Fräulein Jessica. Nett von Ihnen, daß Sie auch an die Zeitung gedacht haben. Übrigens, sind die Brötchen nicht da?“ Niemand hatte mir etwas von Brötchen gesagt. Es zeigte sich, daß sie jeden Tag vom Bäcker gebracht wurden. Die Tüte lag vor der Tür. Vier Brötchen, zwei pro Nase, an meine Wenigkeit hatte die Gnädige anscheinend nicht gedacht. „Essen Sie ruhig zwei davon, Fräulein Jessica“, sagte der
Direktor. „Sie haben reichlich Zeit, neue für meine Frau zu holen. Sie möchte gern gegen neun Uhr das Frühstück ins Schlafzimmer gebracht haben. Brötchen, Erdbeermarmelade, ein Joghurt – ja, und Kaffee.“ „Wird gemacht, Herr Direktor!“ Dann vertiefte er sich in seine Zeitung, und die Audienz war beendet. Ich fand ein überaus feines Serviertablett mit vier kurzen Beinen, so ein richtiges Bett-Tablett. Punkt neun klopfte ich an die Schlafzimmertür und brachte die frischen Brötchen, ein Sahnejoghurt aus dem Kühlschrank und die Marmelade, alles so hübsch angerichtet, wie ich es nur konnte. Mit Lockenwicklern, eingefettetem Gesicht und strahlendem Lächeln begrüßte die Gnädige mich mit dem Kaffeetablett. „Ach, das ist ja schön, und das Joghurt haben Sie auch gefunden. Ja, ich esse sehr viel Joghurt, davon wird man schlank, wissen Sie?“ „Nun ja…“ Ich konnte mich nicht so unbedingt einverstanden erklären. „Ja, falls Sie Magerjoghurt essen anstatt des Brötchens und der Butter, dann wird es schon stimmen.“ „Ich esse lieber Sahnejoghurt“, erklang es aus dem nachtcremeglänzenden Gesicht. „Wenn ich mit dem Essen leichtsinnig gewesen bin, esse ich immer ein Joghurt hinterher als Gegengift sozusagen.“ Ich wollte etwas antworten, aber ich gab es auf. Meinetwegen konnte sie Sahne futtern, bis sie platzte. Das war nicht meine Sache! Wenn ich jetzt an meine ersten Tage beim Ehepaar FrischNielsen zurückdenke, kommt mir alles reichlich verwirrend vor. Wenn ich gerade mit einer Arbeit angefangen hatte, kam die goldblonde Dame des Hauses und bat mich, ich möchte etwas ganz anderes tun. Wenn ich gerade Kartoffeln schälte, kam sie mit ein paar angelaufenen Silberlöffeln an, die ich gleich putzen sollte. Wenn ich Fleisch für Gulasch aufschnitt, rief sie durch das ganze Haus, ich möchte dies oder jenes aus dem Keller holen. Hatte ich den Backofen angemacht und wollte meine schönen „Apfel in Schlafrock“ in den Blätterteig einwickeln und mit Mandeln bestreuen, dann mußte ich gleich, aber auch sofort eine Bluse plätten. Und so ging es unaufhörlich. Es gab nicht mehr im Haus zu tun, als daß man es nicht spielend schaffen konnte, wenn man bloß nach Plan vorging. Aber das Wort „Plan“ stand wahrscheinlich nicht in Frau Frisch-Nielsens
Wörterbuch. Nach drei Tagen fühlte ich mich vollkommen zermürbt. Dann war Freitag, und die Putzfrau kam, eine energische und recht muntere Berlinerin, so um die fünfzig. Sie reichte mir ihre feste, harte Arbeitshand, begrüßte mich mit den Worten: „Na, wieda ein neuet Jesichte!“, und schon hatte sie die Schürze umgebunden und holte sich Eimer und Lappen, Bohnerwachs, Besen und Staubsauger. Möbel wurden gerückt, Fenster aufgemacht, kurz, das große Freitagssaubermachen war im Gange. Also konnte ich in meiner Küche bleiben. Ich hatte vor, einen Kuchen zum Kaffee zu backen. Ich brauchte Zeit, denn in diesem „vollautomatischen“ Haushalt hatte ich keinen elektrischen Handmixer entdeckt. Es entwischte mir deswegen ein Stoßseufzer, als Frau Brösen – die Putzfrau – gerade in die Küche kam, um heißes Wasser zu holen. „Mixer? Klar ist hier ein Mixer! Kieken Se mal innen in den Schrank da, nee, janz oben, da wird er schon sein! Na, sehn Se!“ „Komisch, einen Mixer so unzugänglich aufzuheben“, meinte ich. „So ein Ding braucht man doch unaufhörlich!“ „Ja, Sie und ich wohl“, erklärte Frau Brösen und ließ das Wasser mit viel Getöse in den Eimer laufen. „Aber nicht die Jnädige. Sie backt einen Kuchen pro Jahr, das ist zum Geburtstag von Herrn Direktor – o je, nun wees ick, damals jing det Ding ja kaputt!“ Das stimmte. Ich machte ihn an, und die Quirle rührten sich nicht. Dann fiel mir etwas ein, was mein allwissender Falko gesagt hatte, als ein elektrischer Ofen bei Frau Ingwart nicht warm wurde. „Versagt ein Elektrogerät, liegt es in neun von zehn Fällen am Stecker!“ Ich hatte neben ihm gestanden und zugesehen, wie er den Stecker aufmachte und die eine Kabelspitze festschraubte. Mit Frau Brösens Hilfe fand ich einen Schraubenzieher und stellte fest, daß es sich hier um einen der neun Fälle handelte. Nach fünf Minuten lief der Mixer wunderbar und rührte Zucker und Butter schäumig. Dann erschien die Gnädige. „Ach, ist der Mixer wieder in Ordnung? Das wußte ich ja nicht.“ „Es war eine Kleinigkeit, gnädige Frau“, erklärte ich artig. „Nur der Stecker. Das kommt leicht, wenn man beim Ausziehen an das Kabel faßt anstatt an den Stecker.“ „O ja, ich fasse immer an das Kabel“, sprach Frau Frisch-Nielsen
fröhlich. „Machen Sie es doch lieber so, dann vermeiden Sie das Malheur“, sagte ich und zog den Stecker aus der Dose. „Nein, ich fasse an die Schnur“, antwortete meine Gnädige. Es herrschte Ruhe im Haus. Die Gnädige befand sich beim Friseur. Möge er ihre Haare einzeln aufwickeln, dachte ich. Es war zu schön, wenn sie wegging. Mein Kuchen stand im Ofen, ich hatte oben die Betten gemacht und das Badezimmer aufgewischt. Um zehn Uhr erschien Frau Brösen. „So, Frollein Jessica, nun jibts det zweete Frühstück“, erklärte sie mir. „Hier sind die Brötchen, ja, die hole ick imma unterwegs, und nun machen Se einen Kaffee, der eene Hebamme bei eene Drillingsjeburt wachhalten könnte!“ Ich überließ es Frau Brösen, die Menge zu bestimmen. Und die Brühe, die dann herauskam, hätte meiner Ansicht nach für Vierlinge ausgereicht. Als Frau Brösen zwei Tassen von dem Gift hinuntergekippt und drei Brötchen mit Genuß verspeist hatte, stand sie auf und ging zum Kühlschrank. „Brauchen Sie was, Frau Brösen?“ fragte ich dienstbeflissen. „Iwo, von wejen brauchen! Nee, ick kieke nur nach Resten. Die nehm ick immer mit, hier kommen se doch um. Na, heut ist ja Ebbe, ick merke schon, daß eene Köchin im Haus ist. Sie haben wohl bei Muttan jelernt, daß nichts umkommen darf?“ „Ja, das habe ich!“ Ich mußte lächeln. „Aber da ist noch ein Rest vom Brathuhn…“ „Mensch, schon wieder Brathuhn! Der arme Direktor, der kriegt viermal in der Woche Brathuhn, aber fertig gekauftes! Kein böses Wort über die Backhendl, die sind gut, aber wenn so ein gebratenes Viech vier Stunden in der Einkaufstasche liegt, während die Gnädige konditorn geht oder zu de Manikürtante, dann wird es nicht gerade besser! Hören Se auf mir, was Se auch dem Direktor vorsetzen, verschonen Se ihn mit Brathuhn!“ „Ach, ich wollte den Rest ja eigentlich durchdrehen, aber hier ist ja kein Fleischwolf im Haus!“ „Wat? Keen Fleeschwolf?“ In ihrem Eifer vergaß sie ihren löblichen Versuch, Hochdeutsch zu sprechen, und fiel auf ihr köstliches Berlinerisch zurück. Sie wischte die Brötchenkrümel und den braunen Hebammen-Kaffeeschatten vom Mund und stand auf.
„Kommen Se mit, Frollein Jessica, ick kann Ihnen een blauet Wunder vasprechen!“ Sie lief vor mir die Kellertreppe runter und in den leeren Vorratsraum. Da bückte sie sich und zerrte einen großen, schweren Karton aus einer Ecke heraus. „Hier, bedienen Se sich! Küchenmaschine mit Rührwerk und Mixbecher und Jemüseschneider und Zentrifuge und Fleeschwolf! Neu von de Fabrik, nie jebraucht! Sechshundert scheene Deutsche Mark in einem Karton im Keller!“ Ich blieb mit offenem Munde stehen. „Jetzt begreife ich überhaupt nichts mehr!“ hauchte ich zuletzt. „Das wird Ihnen in diesem Haus öfter passieren. Besser, daß Sie sich gleich daran gewöhnen“, sagte Frau Brösen im gepflegtesten Hochdeutsch.
Briefeschreiben Mein lieber, lieber Falko! Es ist Sonntag, und ich habe Ausgang! Was in diesem Falle bedeutet, daß ich seelenruhig in meinem Zimmer bleibe und endlich all die Briefe schreiben kann, worauf mein ganzer Freundeskreis sehnlichst wartet. Bezweifelst Du, daß dieser der erste ist? Also, in meinem kurzen Gekritzel von vorgestern habe ich Dich wohl einigermaßen orientiert über meine merkwürdige Gnädige und diese äußerst seltsame Anstellung. Du sagtest doch einmal, daß Du eigentlich gern Psychiater werden möchtest? Ich rate Dir ab! Wenn Du ein paar solche Fälle wie meine Gnädige bekämst, dann würdest Du selbst in der Klapsmühle landen. Vielleicht werde ich Deine erste Patientin, denn wer weiß, in welcher Verfassung ich sein werde, wenn ich Dich wiedertreffe. Also, der Herr des Hauses ist freundlich, wortkarg, und von seinem Geschäft sehr in Anspruch genommen. Seine Frau ist auch freundlich, aber damit hört die Ähnlichkeit auch auf. Ihr Redefluß strömt wie der Niagara, und sie beherrscht zur Vollkommenheit die Kunst, andauernd etwas zu sagen, ohne einem einzigen Gedanken Ausdruck zu geben. Muß man sie etwas fragen, hat man wie ein Schießhund auf eine Atempause von ihr zu warten, um seine Frage abfeuern zu können. Was durchaus nicht bedeutet, daß man immer eine verständliche Antwort erhält! Ach, wenn ich bloß eine Tonbandaufnahme von so einem Gespräch hätte! Man könnte sich totlachen. Etwa so: „Und dann habe ich gedacht, man müßte auch Zephyrlilien in den Garten pflanzen können, wissen Sie, vor dem Eßzimmerfenster, ach ja, richtig, da müssen die Haken befestigt werden, ich sollte ja den Tischler anrufen, wie heißt er nun gleich, ja, richtig, Wegner heißt er, ich verwechsle immer mit Wagner, aber das war ein anderer, einer den wir im Tessin trafen, kennen Sie das Tessin, Jessica, da sprechen sie Italienisch, das ist nicht zu verstehen, beinahe wie Französisch, einmal hatten wir hier einen französischen Gast, und seine Frau hatte grüne Augenschatten, finden Sie das hübsch, und dann versilberte Nägel, ich ziehe rosa vor. Ob wohl mein rosa Kleid gewaschen werden kann, vielleicht gebe ich es lieber in die Reinigung…“ Atempause! Ich schieße mit meiner Frage los: „Ich wollte heute Frikadellen machen, gnädige Frau, ist das Ihnen recht?“
„Ach Gott, Frikadellen. Mein Mann schwärmt immer für dänische Frikadellen, waren Sie einmal in Dänemark, da ist es aber komisch, sie frühstücken um ein Uhr und essen zu Mittag abends, nun ja, wir machen es ja beinahe auch so, mein Mann kann ja nicht zwischendurch zum Essen kommen, wir wohnen ja so weit weg, wir hätten auch eine Wohnung in Frankfurt haben können, aber da gab es keinen Garten…“ So geht es weiter und weiter. Entweder man muß höflich sein und sich das Geschwätz mit anhören, obwohl man wie auf Kohlen steht, weil man viel zu tun hat, oder man muß es so machen wie unsere herrliche Frau Brösen. Sie geht einfach weg und holt sich ihren Staubsauger. Dann bleibt die Gnädige ihr auf den Fersen und quasselt weiter, nur mit mehr Stimmaufwand, um den Staubsauger zu übertönen! Wie Du siehst, leiste ich auch etwas für mein gutes Gehalt! Die Arbeit ist zu bewältigen, aber der Nervenverschleiß ist unbeschreiblich. Zum Glück hat der Direktor es so angeordnet, daß ich alles, was mit Kochen zu tun hat, selbständig erledige. Ich kaufe ein und schreibe meine Ausgaben genaustens auf. Als ich nach dem Haushaltsbuch fragte, sah die Gnädige mich an, als hätte ich gefragt, wo im Garten sich ihre Raketenabschußrampe befände. Ich bestimme auch die Menüs. Alles, was recht ist: Einen dankbareren Menschen zu bekochen als den Direktor, könnte ich mir wohl kaum vorstellen! Neuerdings muß ich ihm morgens immer zwei Butterbrote zurechtmachen, die ißt er dann vormittags, statt in die Kantine zu gehen. Er will sich den Appetit auf das von mir gekochte, späte Mittagessen nicht verderben. Also hattest du recht, Kochen ist für mich das richtige! Aber nächsten Sonnabend bekommen wir Gäste! Ich zittere schon ein wenig, und all meine Kochbücher öffnen sich von selbst bei den Abschnitten „Partymenüs“. Na, genug davon. Es wird schon gehen. Ich muß eben von Frau Brösen lernen. Aber sie besitzt die Autorität des Alters, sie ist zweiundfünfzig- und ich bin schließlich etliche Jahre jünger als Frau Frisch-Nielsen. Ich sehne mich nach Dir, Liebster. Aber jeden Morgen denke ich: Wieder ein Tag weniger bis zu meinem Studienbeginn und bis ich meinen Falko wiedersehen kann. Schreib oft, Falko. Ich brauche Deine tröstenden Worte! Von Reni habe ich gestern einen langen Brief mit einem Haufen
Bilder aus Afrika erhalten. Auch von dem Besuch bei Sonja und Heiko und dem herrlichen Geparden. Falko, Liebster, glaubst Du, daß wir beide auch einmal so eine Reise machen können? Von Mutti und Vati nur Gutes! Sie arbeiten hart, aber wer tut das nicht? Du auch, denke ich mir, mein lieber, fleißiger Tankwart! Die Sonne scheint, und es ist erst zehn Uhr. Jetzt warte ich mit all den anderen Briefen, ich will hinaus an die Sonne! Weißt Du, was ich mache? Ich fahre in die Stadt und gehe in den Zoo! Da kann man so großartig allein gehen, da ist man nicht unbedingt abhängig von menschlicher Gesellschaft. Und die fehlt mir sonst sehr. Ich bin eben verwöhnt mit guten Freunden, hier habe ich keinen Menschen. Na, es wird schon gehen. Es muß gehen! Zehnmal pro Tag sage ich mir selbst: Denk an das Gehalt! Und halte durch! Es geht ja nur um ein Jahr. Nur ein Jahr – nur ein Jahr… Und da oben in Kiel sitzt (oder steht oder läuft oder liegt unter einem Auto) ein ölverschmierter, schmutziger, schwitzender Tankwart, den ich über alles auf der Welt liebe und der – o unfaßbares Wunder – mich liebt! Siehst Du, Liebster: Ich bin doch ein glücklicher Mensch! Ihre ganze Liebe, ihr ganzes Herz schickt Dir Deine Jessi
Begegnung im Zoo Das war eine gute Idee, dachte ich mir, als ich meine Karte gelöst hatte und vor der Anlage mit den vielen rosa Flamingos stand. Wie sahen sie doch hübsch aus! Und es war schön, allein und unabhängig zu sein. Wenn ich vor einem Gehege lange stehenbleiben wollte, hinderte mich niemand daran. Ich konnte mich still auf eine Bank hinsetzen, wenn ich Lust hatte, und ich konnte zurückgehen, wenn ich ein Tier genauer studieren wollte. Und es gab genug zu sehen! Aber es waren schrecklich viele Menschen da, ich hatte den Eindruck, daß halb Frankfurt plus ein paar tausend Touristen sich in den Kopf gesetzt hatten, ausgerechnet heute in den Zoo zugehen! Gewiß, ich empfand es schön, allein zu sein. Und doch – wenn ich eine Familie mit Kinderwagen und ein paar größeren Kindern sah oder ein junges verliebtes Paar – na, dann überkam mich doch ein Gefühl der Einsamkeit. Es war so seltsam zu wissen, daß ich nicht die geringste Chance hatte, unter diesen unzähligen, sonntagsfrohen Menschen einen einzigen zu treffen, den ich kannte. Ich rief mich selbst zur Ordnung. Ich hatte doch so viele Menschen, die mich liebhatten. Es wäre doch noch schöner, wenn ich hier melancholisch werden sollte! „Jessica“, sagte ich zu mir. „Schön durchhalten! Denk an das Gehalt! Denk an dein Sparbuch! Und es ist ja nur ein Jahr, Jessica!“ Dann dachte ich an Reni, die sich so schrecklich auf ihr Kind freute – was hatte sie noch geschrieben? „Ich gebe ehrlich zu, daß unser Kind nicht eingeplant war. Aber, du lieber Himmel, wie freue ich mich darauf! Ich sitze hier abends und stricke Strampelhöschen, selbst das Stricken macht mir Spaß, wenn ich an die kleinen Beinchen denke, die in den winzigen Kleidungsstückchen strampeln werden – daß es Manfreds und mein Kind ist, das im November auf die Welt kommen soll…“ Ich stand von der Bank auf. Ich wollte zu den Geparden. Ich wollte nun diese Tiere, von denen Reni immer schwärmte, nachdem sie bei Sonja in Kenia war, endlich aus nächster Nähe sehen und gründlich studieren. Ich hatte Glück. Vor dem großen Gehege mit zwei herrlichen Geparden stand kaum jemand. Nur eine Dame mit einem süßen kleinen goldlockigen Mädchen. „Guck, Tante Edda!“ flüsterte das Kind. „Das da ist das
Weibchen, ob das wohl Junge kriegt, das Gesäuge ist so groß geworden!“ Ich mußte schnell einen Blick auf dieses merkwürdige Kind werfen. Soviel Sachlichkeit und solche Ausdrücke hatte ich noch nie aus einem Kindermund gehört. Die Kleine schien höchstens zehn bis elf Jahre alt zu sein. „Ach nein“, kam es nach einer weiteren Minute, nachdem sie sehr aufmerksam das schöne Tier beobachtet hatte. „Nein, das stimmt doch nicht. Sie ist ja so schlank. Kannst du das begreifen, Tante Edda, Löwen und Tiger und Leoparden bekommen Kinder in Gefangenschaft, aber die Geparden beinahe nie! Und dabei gehören sie doch zu derselben Familie!“ Jetzt war ich sprachlos. Was für ein zoologisches Wunderkind! Meine Augen trafen sich mit denen der Dame, die das Kind „Tante Edda“ genannt hatte. Wir lächelten beide. „Ja, wenn Sie etwas über Tiere wissen wollen, dann fragen Sie nur meine kleine Freundin“, sagte sie. „Sie ist ein wanderndes Tierlexikon!“ „Schade“, seufzte die Kleine. „Was ist schade, Lillepus?“ „Du darfst nicht mehr Lillepus sagen, Tante Edda. In der Schule sagen sie Elaine, und das mußt du auch!“ „Entschuldige, Elaine, ich werde daran denken. Du weißt, als wir uns kennenlernten, nannten alle dich Lillepus. Aber was ist schade?“ „Daß ich nie Gepardenkinder zu sehen bekomme! Sie müssen doch wonnig sein!“ „Möchtest du ein Bild von zwei ganz kleinen Geparden sehen, Elaine?“ fragte ich. „O ja! Hast du – ich meine, haben Sie eins?“ Ich nickte und holte Renis Brief aus der Tasche. „Hier, guck mal. Der jungen Dame auf dem Bild gehört die Gepardenmutter. Das Tier ist ganz zahm, und du siehst, daß sogar die Menschen die Kleinen auf den Arm nehmen dürfen!“ Elaine beugte sich eifrig über das Bild. „Oh, sind sie süß! Sieh doch, Tante Edda – und gleich zwei Stück – oh, so eins möchte ich haben!“ Die Dame lächelte und warf einen Blick auf das Bild. Dann griff sie in ihre Handtasche und holte eine Brille heraus. Jetzt sah sie sich das Bild genauer an.
„Aber das ist ja – das muß doch Sonja sein – oder ist es Senta? Nein, Sonja, natürlich, bei dieser Tierliebe – nicht wahr, es ist Sonja Rywig?“ „Ja, das stimmt, das heißt, eigentlich ist es Sonja Brunner!“ „Klar, sie ist ja längst mit ihrem Heiko verheiratet! Wissen Sie, ich habe es miterlebt, als die beiden sich kennenlernten!“ „Oh, dann waren Sie in Ostafrika vor vier Jahren? Als Sonja und Senta ihre Afrikareise gewonnen hatten?“ „Genau! Ach, dies ist aber lustig! Sind Sie eine Freundin von den beiden?“ „Ich kenne sie jedenfalls, wir haben bei meiner Patentante einen reizenden Abend zusammen verbracht. Senta war Haustochter bei ihr…“ „Dann ist Ihre Patentante Frau von Waldenburg in Kiel!“ „Ja das stimmt! Und da waren also Sonja und Heiko und Senta und ihr Mann Rolf…“ „Senta ist auch verheiratet? Darüber müssen Sie mir aber erzählen! Wissen Sie, wir mochten ja die beiden jungen Mädchen so gern! Die Welt ist doch klein, sich denken, daß ich grade hier im Frankfurter Zoo… Übrigens, meine Name ist Dieters.“ „Ich heiße Jessica Berner.“ Wir schüttelten uns die Hände. Dann mischte Elaine sich in das Gespräch. „Du heißt gar nicht Dieters, Tante Edda. Du heißt Edda Callies. Das steht auf all deinen Büchern!“ Ich horchte auf. „Callies? Und Bücher – Sie sind also die Schriftstellerin! Oh, das freut mich besonders, daß ich Sie getroffen habe! Als Teenager habe ich viele von Ihren Büchern gelesen!“ „Haben Sie das wirklich? Aber erzählen Sie doch von Sonja und Senta. Wieso hat Sonja einen zahmen Geparden, ist sie doch in Afrika gelandet?“ „Ja, sie wohnt seit drei Jahren in Nordkenia, Heiko arbeitet für das Mary-Green-Forschungsinstitut.“ „Nein, ist das schön!“ rief Frau Dieters. „Sie ahnen ja gar nicht, wie ich mich darüber freue. Ich habe nie solche Naturfreunde getroffen wie Sonja und Heiko. Ich weiß ja, wie brennend sie sich wünschten, in Afrika arbeiten zu können! Und Senta, was macht sie?“ „Sie ist mit einem Zahnarzt verheiratet. Sie hat sich als Diätköchin in Kiel ausbilden lassen, ihr Mann studierte dort. Jetzt hat
er eine Praxis in Oslo. Seit drei Jahren heißt sie also Senta Skogstad.“ „Aha, das war der Rolf, an den sie damals täglich schrieb!“ „Tante Edda, können wir nicht zu den Kaiserschnurrbarttamarins?“ fragte Elaine. Sie sagte den Namen so fließend und so selbstverständlich, wie ein anderes Kind „Affen“ gesagt hätte. „Gleich, mein Kind! Wir haben doch versprochen, hier auf Onkel Benno, Mutti und Marcus zu warten!“ „Wo sind denn die Kaiser…? Was hast du gesagt, Kaiserbartpinguine?“ fragte ich. Elaine lachte aus vollem Halse. „Kaiser-schnurrbart-ta-ma-ri-ns“, sagte sie langsam und deutlich. „Sie sind so-o-o klein, und sie wohnen im neuen Affenhaus, da drüben am Wunschbrunnen. Sie haben ganz bestimmt jetzt Junge, denn vorigen Sonntag sagte der Wärter – oh, da kommt Onkel Benno!“ Sie rannte einem grauhaarigen Herrn entgegen und sprang ihm an den Hals. Frau Dieters lächelte. „Ja, das ist die wahre große Liebe“, erklärte sie. „Elaine ist meine einzige Rivalin, mein Mann ist vollkommen verrückt nach ihr!“ Nun kamen die beiden zu uns, und Frau Dieters stellte uns vor und fügte hinzu: „Kannst du dir denken, Benno, Fräulein Berner kennt Sonja und Senta!“ „Ach was!“ rief Herr Dieters. „Das ist ja lustig! Wissen Sie, ich habe doch ein Bild von den beiden gemacht. Es gehört mit zu meinen besten Arbeiten. Aber bis ich den kleinen Unterschied zwischen den Zwillingen erkannte, hat es Schweiß gekostet.“ „Ja, denn Onkel Benno ist Maler!“ teilte Elaine mit. „Wo warst du, Onkel Benno? Zeig mir bitte, was du gezeichnet hast!“ Ungeniert holte sie einen Zeichenblock aus Herrn Dieters Tasche und begutachtete ein paar Zeichnungen mit gerunzelter Stirn. „Der Hirscheber ist gut, Onkel Benno, und die Klippspringer sind es auch, aber Ameisenbären sind doch nicht so dick!“ „Doch!“ verteidigte sich der Künstler. „Der eine war so dick!“ „Dann muß es ein trächtiges Weibchen sein“, meinte Elaine. „Jetzt platze ich vor Neugier“, sagte ich. „Wie in aller Welt kommt das Kind zu diesen Kenntnissen?“ Herr Dieters lachte. „Sie sind nicht die erste, die das fragt! Einmal ist sie als Tiermensch geboren…“
„… als wir uns zehn Minuten kannten, mußte ich vier neugeborene Kätzchen aus ihren Schürzentaschen holen!“ lachte Frau Dieters. „Ihr Vater ist Kameramann, seine Spezialität sind Tier- und Naturfilme, er ist der leidenschaftlichste Tierfreund, den ich jemals getroffen habe!“ „Und wir sind jeden Sonntag im Zoo!“ erzählte Elaine. „Aber jetzt ist Vati in Norwegen und macht einen Film.“ „Und du bist allein mit Mutti und Marcus? Marcus ist doch wohl dein Bruder?“ „Mein Brüderchen! Er ist so klein und sitzt noch in der Sportkarre. Im Winter sitzt er auf einem Schlitten, den Barry zieht.“ „Jetzt könnte übrigens deine Mutti bald kommen“, meinte Herr Dieters. „Ich habe Hunger, und wir wollten doch eigentlich zusehen, daß wir einen Tisch im Restaurant bekommen.“ „Und außerdem wird es hier allmählich zu voll“, fügte seine Frau hinzu. „Jetzt ist wohl die Robbenfütterung zu Ende, bis jetzt waren ja alle Menschen da drüben. Aber vielleicht sind die Löwen und Tiger jetzt an der Reihe.“ „Nein, erst Viertel vor fünf!“ teilte Elaine mit. „Und nach den Raubkatzen kommen die Menschenaffen und die Pinguine und…“ „Na, du weißt aber gut Bescheid!“ meinte ich. „Klar!“ erklärte Elaine. „Denn, wenn eine Tierart gefüttert wird, rennen alle Leute dorthin, und dann können wir zu anderen Tieren gehen, ohne gestört zu werden!“ Ich wechselte wieder Blicke mit Frau Dieters. Sie schmunzelte, und ihr Mann lächelte. „Ja, sprechen Sie bloß nicht mit Elaine von Muschis und Piepvögel und Bä-Lämmer! Sie kennt schon die richtigen Ausdrücke, sie hat in dieser Hinsicht eine vorbildliche Ausbildung bei ihrem Vater genossen!“ „Da ist Mutti!“ rief Elaine und rannte los. Mir wurde ganz traurig zumute. Es war so nett mit diesen reizenden Menschen, aber jetzt würden sie essen gehen – diese ganze fröhliche, aufgeschlossene Gesellschaft, und ich konnte mich nachher doppelt einsam fühlen. Elaines Mutti wirkte sehr jung, sie war eine kleine schwarzhaarige Frau mit strahlenden braunen Augen und einer fröhlichen Art. Sie schob eine Sportkarre mit einem Jungen von etwa zwei Jahren. „Endlich, Bernadettchen, wir kommen gleich um vor Hunger, was machst du so lange?“
„Frag lieber, was mein Sohn macht, und zwar in die Hose! Da siehst du, Onkel Benno, wenn du ihn voll Schweizer Schokolade stopfst und ihm nachher eine ganze Flasche Brause einflößt…“ Jetzt entdeckte sie mich. „Ja, denk dir, wir haben eine reizende Bekanntschaft hier gemacht, dies ist Fräulein Berner, Frau Grather – also, wir haben gemeinsame Bekannte, so um ein paar Ecken, und zwar Sonja und Senta Rywig, du weißt…“ „Ob ich das weiß! Die Zwillinge von eurer Afrikareise! Nett, Sie zu treffen, Fräulein Berner. Sind Sie auch auf der Durchreise hier?“ „Nein, ich wohne hier, ich arbeite als Hausangestellte.“ „Dann haben Sie vielleicht nicht viele Bekannte hier?“ „Nein, keine- bis jetzt“, gab ich zu. „Was für ein Glück, daß Sie Tante Edda getroffen haben! Aber sie ist leider nur auf der Durchreise.“ „Wir kommen aus der Schweiz“, erklärte Frau Dieters. „Mein Mann hat dort eine Kirche restauriert, und dann wollten wir noch schnell unsere jungen Freunde hier besuchen.“ „Sprich: Elaine!“ Frau Grather lachte. „Das könnt ihr auffassen, wie ihr wollt! Aber jedenfalls müssen wir morgen früh nach Hause, es wird höchste Zeit. Britta kommt doch mit Kind und Kegel und Ehemann – das ist unsere Tochter“, fügte Frau Dieters erklärend hinzu. „So, jetzt möchte ich aber etwas essen!“ verlangte Herr Dieters. „Nicht, Lille…. entschuldige, nicht wahr, Elaine! Weißt du, ich habe so viel Geld in der Schweiz verdient. Jetzt lade ich euch zu einem ganz feinen Mittagessen ein! Und du erhältst einen riesigen Eisbecher mit einem kleinen Sonnenschirm darauf, Elainchen. Kommen Sie, Fräulein Berner, Sie mögen bestimmt auch Eis mit Sonnenschirm?“ Mein Herz machte einen Freudensprung und landete wieder auf seinem richtigen Platz. „Es ist furchtbar lieb von Ihnen, Herr Dieters, aber Sie sollen doch nicht…“ „Blödsinn, was Sie da sagen, meinen Sie doch nicht. Das ist nur angelernte Höflichkeit. Sie möchten bestimmt gern mit uns essen, und wir möchten mehr über Sonja und Senta hören!“ Er nahm meinen Arm und führte mich zielbewußt in Richtung Restaurant. Als wir einen Tisch bekommen hatten, nahm er die Menükarte und reichte sie mir.
„So, wählen Sie nun, aber nur auf die linke Seite schauen! Die rechte geht Sie nichts an!“ „Ja aber…“ Frau Dieters lachte. „Protestieren Sie bloß nicht, Fräulein Berner. So macht es mein Mann immer, wenn er gut bei Kasse ist!“ Also gehorchte ich und bat um ein Kasseler Kotelett. „Nachtisch brauchen Sie nicht zu wählen“, erklärte Herr Dieters. „Ich habe euch ja Eisbecher mit Sonnenschirm versprochen!“ Für den jungen Marcus wurde etwas aus der Kindermenükarte bestellt. Und dann fragten sie weiter nach Sonja und Senta und erzählten lustige Erlebnisse von ihrer Afrikareise. „Waren Sie auch da unten, Frau Grather?“ fragte ich. „Noch nicht, leider. Mein Mann war ein paarmal in Afrika als Kameramann. Das erstemal wurde er leider Gottes ohne Ehefrau engagiert, das zweitemal hätte ich mitfahren können, aber da meldete gerade mein Sohn seine Ankunft an. Aber ich hoffe, daß es einmal schon klappen wird.“ „Ja!“ rief Elaine begeistert. „Und ich fahre mit! Wir schicken Marcus nach Norwegen oder ins Wallis, und Barry und Anton kommen zu Onkel Benno, dann können wir fahren!“ „Warum sollen Marcus und Anton sich trennen?“ fragte ich. „Anton ist wohl auch dein Bruder?“ Elaine lachte. „Nein, Anton ist mein Kater! Er ist so lieb! Ich habe ihn von Onkel Benno geschenkt bekommen.“ „Aha, so ist es. Und warum soll Marcus ausgerechnet nach Norwegen?“ „Da wohnt doch meine Oma! Sie kann doch auf Marcus aufpassen!“ Das sah ich ein. „Dann bist du also eine halbe Norwegerin, Elaine?“ fragte ich. „Nee! Ganz! Vati und Mutti sind ja beide Norweger! Aber Opa war Italiener, und Grandmere im Wallis ist Französin. Wir besuchen bald Oma und Grandmere und…“ „Elaine, hör endlich auf!“ stöhnte Frau Grather, und dann entschuldigend zu mir: „Meine Tochter glaubt nämlich, daß alle Menschen sich für unsere Familienverhältnisse interessieren, und quasselt allen Menschen die Ohren voll…“ „Ich kann viel vertragen“, lachte ich. „Ihre Tochter ist schweigsam im Vergleich zu meiner Gnädigen! Außerdem ist es ja lustig, was Elaine erzählt. Ich hätte nie gedacht, daß Sie
Skandinavierin wären, Frau Grather!“ „Nein, da staunen alle“, gab Frau Grather zu. „Aber ich bin es ja nur zur Hälfte. Mein Vater war, wie Elaine schon mitgeteilt hat, Italiener.“ „Und weißt du was…“, fing die unermüdliche Elaine wieder an und zupfte mich am Ärmel. „Elaine!“ erklang die mahnende mütterliche Stimme. „Du bist nicht in Norwegen. Also, wie heißt es hier in Deutschland?“ „Ach so, ja, ich meine also, wissen Sie was…“ „In Norwegen heißt es also du?“ fragte ich. Frau Grather lächelte. „Ja, wenn dort ein zehnjähriges Kind das Wort ,Sie’ in den Mund nähme, würde man es für leicht hirngeschädigt halten. Elaine war gerade in Norwegen, und jetzt vergißt sie immer…“ „Elaine“, erklärte ich feierlich. „Dann habe ich einen Vorschlag. Wollen wir beide Brüderschaft trinken? Ich heiße Jessica. Und mir gegenüber brauchst du dann nie mehr an das ,Sie’ zu denken!“ „Au fein!“ strahlte Elaine und nahm ihr Limonadeglas. „Und wenn wir gegessen haben, Jessica, kommst du dann mit zu den Kaiserschnurrbarttamarins?“
Kummer und Aufregung Wenn jemand behauptet, daß man von Kummer und Ärger dünn würde, dann werde ich laut und energisch protestieren. Ich hatte wirklich genug Ärger, aber ich nahm zu! So erreichte ich wieder mein Normalgewicht. Falko wäre sehr zufrieden mit mir gewesen, falls er mich jetzt gesehen hätte. Ich hätte mich nicht mehr „hinter einem Besenstiel“ verstecken können, jetzt brauchte ich eine ganze Tür! Ich hatte mich so langsam daran gewöhnt, daß Frau FrischNielsen nie einen genauen Bescheid gab, daß sie überhaupt nichts organisieren konnte, daß sie mich andauernd bei der Arbeit störte. Wenn es allzu schlimm wurde, dachte ich an den reizenden Sonntag im Zoo, und besonders gern dachte ich an Frau Grathers Abschiedsworte: „Es war nett, Sie kennenzulernen, Fräulein Berner! Ich hoffe, daß wir uns bald wiedertreffen, wir sind jeden Sonntag im Zoo!“ Eines stand fest: Ich wollte mir demnächst eine Monatskarte kaufen! Wenn ich viermal im Monat hinginge, würde es sich lohnen. Und ich konnte viermal hingehen! Ich hatte nämlich mit dem Herrn Direktor eine Neuordnung verabredet: Ich würde jeden Sonntagmorgen das Mittagessen mit Zeitschalter in den Backofen stellen, der Nachtisch sollte fertig im Kühlschrank stehen und der Tisch gedeckt sein. Wenn das alles erledigt war, konnte ich über den Rest des Tages verfügen – jeden Sonntag! Und kein Mensch würde mich daran hindern, diese Sachen in aller Herrgottsfrühe zu machen, so daß ich mich schon gegen neun Uhr aus dem nicht vorhandenen Staub machen und mit dem Bus zum Zoo fahren konnte! Dieser Gedanke half mir durch die vielen Ärgernisse des Alltags. Wie gesagt, an so allerlei Sachen hatte ich mich schon gewöhnt, aber dann kamen auch Dinge vor, die mich auf die Palme brachten. Dann befahl ich mir, alle Gedanken auf das gute Gehalt und das liebe Sparbuch zu konzentrieren – und dann konnte ich wieder von der Palme der Wut heruntersteigen und sehen, was sich aus einer unmöglichen Situation machen ließ! Das Schlimmste passierte an dem Samstag, als ich zum erstenmal Gäste zu bekochen hatte. Als ich unter den vergessenen, ungebrauchten Dingen eine ganze Fondueausrüstung fand, schlug ich vor, ein Fleischfondue zu servieren. Es würden nur vier Gäste kommen, und für sechs Personen reichte gerade der Kocher.
Der Direktor war begeistert, und die Gnädige lammfromm. Was ihr „Dicker“ sagte, schien ihr immer recht zu sein. Zu ihm war sie überhaupt reizend, in einer naiv-kindlichen Art, und er hatte einen gutmütigen, hilfreichen Beschützerton ihr gegenüber. Ob er wohl ahnte, wie schrecklich es sein konnte, den ganzen Tag mit ihr verbringen zu müssen? „Der wees et schon!“ meinte Frau Brösen. „Deshalb zahlt er ja auch solche Gehälter!“ „Aber die Hausgehilfinnen bleiben ja doch nicht lange“, meinte ich. Ich stand in der Küche und fabrizierte Fonduesoßen oder Dips, wie Tante Christiane immer sagte, und der Kühlschrank wurde allmählich mit netten kleinen gefüllten Schälchen vollgestellt. „Die Marie blieb allerdings drei Monate“, erzählte Frau Brösen, die am kleinen Küchentisch gerade das Silber putzte. „Dann kriegten sie sich in die Haare wegen eines Staublappens, und dann war es aus!“ „Ach, war sie es, die mit dem Staublappen das Geschirr abgetrocknet hatte?“ fragte ich. „Von wegen! Die Gnädige hatte eine Packung Allzwecktücher gekauft. Und als die Marie das Wort Allzweck las, nahm sie ein Tuch aus der Packung und rieb die Gläser damit ab, das ging prima. Dann kam aber die Gnädige und machte ein furchtbares Affentheater, dies seien doch Staubtücher, sie habe sie als solche gekauft! Und als Marie etwas von Allzwecktücher erklärte, antwortete sie…“ „Ich nehme sie als Staubtücher!“ unterbrach ich und ahmte die Stimme der Gnädigen nach. „Jenau das hat se jesacht!“ „Aber die Marie müßte doch so was gewohnt gewesen sein.“ „War sie auch! Aber dann hatte die Gnädige Damenkaffee, und da hörte Marie, daß sie all den Gästen von dem furchtbaren Mädchen erzählte, das das Geschirr mit dem Staubtuch abtrocknete! Dann platzte der Marie der Kragen, sie packte ihren Koffer und verschwand! Aber mit der Silke geschah noch Schlimmeres. Sie hielt es auch eine Zeit aus und sparte Geld für die Aussteuer. Eines Tages hatte sie Kopfschmerzen und nahm eine Tablette. Da fragte die Gnädige, was sie nähme. Und Silke zeigte das Tablettenglas und erklärte, es sei ein sehr gutes Mittel, es mache nicht schläfrig, weil ein bißchen Koffein drin sei. Da machte die Gnädige Augen, und Silke konnte nicht begreifen, daß alle Nachbarn sie so komisch
anguckten und hinter ihrem Rücken flüsterten. Bis sie erfuhr, daß Frau Frisch-Nielsen überall erzählte, das Hausmädchen nähme Kokain! Ja, dann gab es ein Donnerwetter, und sie meinte noch, daß Kokain und Koffein ja ungefähr das gleiche sein. Mensch, war das ein Theater! Ich arbeitete gerade hier und hörte es. Als dann Silke endlich ,Sie verdammte alte Klatschbase!’ sagte, flog sie natürlich hinaus. Und dann bekamen sie niemanden. Darauf kaufte der Direktor den Geschirrspüler, den Heimbügler, die Küchenmaschine und Elektrofriteuse und meinte, jetzt könnte sie es ohne Hilfe schaffen, also nur mit mir freitags. Aber Sie wissen ja, wie das ging! Der Geschirrspüler wurde nicht benutzt, die Mangelwäsche wurde weggeschickt, weil die Gnädige nicht begriff, wie sie den Heimbügler behandeln sollte. Die Küchenmaschine wurde auch nicht ausgepackt, und als sie die Friteuse anmachte, hatte sie nichts drin. Das Ding wurde glühend heiß, und es gab einen Kurzschluß. Ja, dann hieß es noch einmal eine Hausgehilfin suchen, und nun sind Sie gekommen!“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich begreife überhaupt nichts, Frau Brösen! Dabei gibt es doch Sachen, welche die Gnädige wirklich kann! So, wie sie ihren Garten pflegt und die Topfpflanzen! Davon versteht sie doch eine Menge!“ „Kunststück! Vatan war doch Gärtner! Und Muttan Schneiderin! Ja, von Blumen und Klädasche versteht sie schon was, aber damit ist es stopp und Feierabend!“ „Wie ist das bloß möglich“, dachte ich laut vor mir hin. „Sie muß doch darüber nachdenken, wenn sie mit einem Hausmädchen nach dem anderen Krach hat. – Sie muß doch verstehen, daß sie selbst schuld hat. – Will das denn gar nicht in ihren Kopf?“ Frau Brösen sah mich mitleidig an. „Ick höre immer Kopp!“ sagte Frau Brösen und ließ den heißen Wasserstrahl auf das neugeputzte Silber los. Es war Samstag. Schon am Vormittag deckte ich den Tisch für das Fondue, denn das Mittagessen konnte ich auf der Terrasse servieren. Es war ein herrlicher heißer Sommertag. Alles wirkte schön und blitzblank, die nie benutzten Fondueservietten hatte ich gewaschen und durch die Heißmangel gedreht. Das Silber strahlte, alles schien bestens in Ordnung zu sein. Wenn nun Frau Frisch-Nielsen das Fleisch aus der Stadt mitbrachte, fehlte nichts mehr. Meine tiefgekühlten Soßen standen zum Auftauen in der Küche, alle Getränke im Kühlschrank,
und im Tiefkühler stand eine Puddingform voll Eis in drei Etagen – Maroneneis, Erdbeer und Vanille. Das Rezept hatte ich von Renis Mutter! Wenn nun die Form gestürzt und das Loch in der Mitte mit frischen Erdbeeren gefüllt und das Ganze mit Schlagsahne verziert wurde, dann gab es einen Nachtisch, der sich sehen lassen konnte! Der Direktor würde schon zufrieden sein und erleichtert, weil alles nur einen Bruchteil von dem kostete, was er sonst ausgegeben hätte. Die allwissende Frau Brösen hatte mir nämlich erzählt, daß sonst alles fix und fertig von einem Feinkostgeschäft geliefert wurde, sogar das Servierpersonal bei vielen Gästen. Es wurden immer verschwenderische kalte Büfetts aufgebaut, Riesenplatten mit ausgesuchten Delikatessen, und es kostete ein Vermögen. Der eßfreudige Direktor freute sich bestimmt darauf, seinen Gästen etwas anderes vorsetzen zu können. Und dann so was Gemütliches wie ein Fondue mit der ganzen Stimmung, mit den Farben, dem bunten Tisch, kurz gesagt – endlich etwas Nettes und Persönliches! Ich hatte den ganzen Vormittag eine herrliche Arbeitsruhe gehabt, die Gnädige war ja in der Stadt. Aber jetzt hörte ich sie kommen, mit der Taxe! Na, dann hatte der Direktor wohl noch im Geschäft zu tun und ich noch Zeit für ein schnelles und einfaches Mittagessen. Dann stand sie in der Küchentür. „Gucken Sie, Jessica, was ich alles gekauft habe! Die Gläser sind echt Kristall – ach ja, und dann habe ich Lachs gekauft, er war ganz frisch. Wir warten mit dem Fondue, das können wir ein andermal essen, heute abend gibt es dann gekochten Lachs!“ Mir wurde schwarz vor den Augen. „Lachs? Und der Fonduetisch? Und all die Soßen, die schon aufgetaut sind? Und das Öl, das ich schon in den Fonduetopf gegossen habe?“ „Ach, machen Sie doch kein Theater, das ist doch keine Kunst, den Tisch anders zu decken. Und ein bißchen Fisch zu kochen, das geht doch schnell…“ Jetzt kochte ich vor Wut. „Dann machen Sie es mir vor! Und was soll es zum Lachs geben? Haben Sie an Salat, Gurken oder Tomaten gedacht? Haben Sie genug Butter da, man braucht sehr viel dazu! Haben Sie Petersilie für die Butter? Haben Sie Zeit, all die Kartoffeln zu schälen? Und wer soll servieren, wenn ich am Herd stehen muß, um auf die zweite Portion Lachs aufzupassen? Haben Sie jemals in
Ihrem Leben Lachs gekocht? Haben Sie jemals alles vorbereitet für eine Party? Wir können heute keinen Lachs essen! Wir brauchen vier Pfund erstklassiges Rinderfilet, und es ist Ihre Sache, es zu beschaffen – die Geschäfte machen in zwanzig Minuten zu!“ „Ach, warum machen Sie denn solche Schwierigkeiten!“ Ich unterbrach sie erbarmungslos. „Wer von uns macht Schwierigkeiten? Ich arbeite seit zwei Tagen intensiv an den Vorbereitungen für einen Fondueabend, und der Herr Direktor freut sich darauf, er wird enttäuscht sein…“ Das traf! Plötzlich hatte das hübsche, dumme Gesicht einen Ausdruck von kindlicher Hilflosigkeit. Und wenn ich ein hilfloses Wesen sehe, schmelze ich. Herrgott, sie war ja so unsagbar ungeschickt, so vollkommen weltfremd – diese Sache mußte ich in meine eigenen Hände nehmen. Ich rannte zum Telefon und rief beim Direktor an. Seine Unentbehrliche, sie hieß übrigens Fräulein Clewe, kam an den Apparat. Der Direktor hatte eine Besprechung, sie dürfe nicht stören – ob sie mir behilflich sein könne? In meiner Verzweiflung öffnete ich die Schleusen meiner Sorgen, und Fräulein Clewe kapierte sehr schnell. „Gut, Fräulein Berner, ich hole es Ihnen, wir haben ein Schlachtergeschäft um die Ecke. Vier Pfund zartes Filet, jawohl. Ich rufe Sie nachher an.“ Ich sank zitternd in einen Sessel, verfluchte in meinem Inneren die Gnädige und segnete die unglaublich tüchtige und energische Sekretärin. Die Gnädige war verschwunden. Aha, da sah ich sie im Garten. Sie holte Blumen für die Zimmer. So etwas konnte sie! Sie hatte bestimmt als junges Mädchen ihrem Vater in der Gärtnerei geholfen. Aber warum sie in ihrem großen Garten keinen Quadratmeter für Petersilie, Schnittlauch und Salat eingerichtet hatte, das war mir ein Rätsel. Na, ihre Sache. Ihr Vater hatte wohl nur Blumen gezüchtet. Ich saß da und wartete und wünschte, daß die Kochkunst einen Schutzheiligen hätte, zu dem ich beten könnte! Aber ich hatte ja etwas Besseres als einen Schutzheiligen, nämlich Fräulein Clewe! Ungefähr nach einer Viertelstunde rief sie an. „In Ordnung, Fräulein Berner. Vier Pfund erstklassiges Filet. Der Herr Direktor bringt Ihnen das Paket mit.“ „Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, Fräulein Clewe.
Ich hätte vor Verzweiflung aus dem Fenster springen können!“ „Tun Sie das lieber nicht, und wenn Sie es nicht lassen können, dann wählen Sie ein Kellerfenster!“ Ich mußte lachen. Daß die Unentbehrliche auch Humor hatte, hätte ich nun doch nicht zu hoffen gewagt. „Und, Fräulein Berner, wenn das nächste Mal etwas nicht in Ordnung sein sollte, dann rufen Sie mich an. Ich bin so etwas gewohnt.“ Ich bedankte mich noch einmal und legte den Hörer auf. Sie war so etwas gewohnt! Aha! Das ließ ja tief blicken! Am Abend stand ich da in meinem schwarzen Servierkleid mit einem spitzenverzierten schürzenähnlichen Miniläppchen vor dem Bauch und einem Spitzenhauch auf dem Kopf. Ich glaube, ich habe ein ganz brauchbares Stubenmädchen abgegeben! Ich brachte das Tablett mit den Aperitifs, und ich machte mir furchtbar viel Mühe, damit alles glatt und reibungslos gehen sollte. Und ich glaube, es gelang. Jetzt konnten keine Schwierigkeiten mehr auftreten. Die Gäste hatten alles auf dem Tisch, ich brauchte nicht zu servieren und konnte mich in aller Ruhe um das Anrichten des Eises kümmern. Und das Eis verschaffte mir das Lob der Gäste! Eine der Damen kam nachher in die Küche und fragte, ob sie das Rezept bekommen könnte! Als der Abend glücklich zu Ende war und ich gerade die Kaffeetassen und die Gläser in den Geschirrspüler stellte, kam der Direktor. Wieviel er von meiner Verzweiflung am Vormittag mitgekriegt hatte, weiß ich nicht. Aber Fräulein Clewe hatte ihn vielleicht eingeweiht. „Es war sehr schön, Fräulein Jessica. Wirklich sehr schön haben Sie es gemacht. Na, es ist spät geworden, Sie haben viele Überstunden gemacht…“ Er drückte mir etwas in die Hand. Ich traute meinen Augen nicht: Es war ein Hundertmarkschein. „Aber, Herr Direktor, das ist doch…“ Er machte eine abwehrende Handbewegung. „Schon gut, schon gut. Ich bin sehr zufrieden. Übrigens, was haben Sie mit dem Lachs gemacht?“ „Tiefgekühlt, Herr Direktor. In vier Packungen. Eine Packung reicht genau für ein Sonntagsessen.“ Er sah mich einen Augenblick an, dann sagte er kurz gute Nacht
und verschwand. Und ich sah meinen Hundertmarkschein an. „Na ja, Jessica“, sagte ich mir selbst. „Es war ein aufregender Tag, aber für hundert Mark läßt man schon etliche Aufregungen über sich ergehen!“
Aber nette Menschen gibt es auch! Es war Sonntag, und es regnete! Ich war furchtbar enttäuscht. Ich hatte mich so sehr auf diesen Tag gefreut. Ich wollte doch in den Zoo und die nette Frau Grather wiedertreffen, geschweige ihre allwissende Tochter und den süßen kleinen Marcus. Ich hatte mir übrigens das Muster von Marcus’ Jäckchen abgeguckt und wollte für Reni etwas Ähnliches stricken. Reni hatte mich gebeten, für ihr Kind Patentante zu sein. Und so war es doch sonnenklar, daß ich Babysachen stricken mußte. Um so mehr, da Reni nach eigener Aussage hoffnungslos unbegabt in Handarbeiten war. Aber es regnete! Tieftraurig stand ich auf und begann meine Arbeit. Ich schälte Kartoffeln, machte einen Gulasch zurecht und stellte alles in den Backofen mit Zeitschalter. Ich hätte es nicht gewagt, wenn ich nicht gewußt hätte, daß der Direktor sich selbst um das Weitere kümmern würde. Denn gerade mit der Zeitschaltuhr hatte ich böse Erfahrungen gemacht. An einem Donnerstag, meinem Einkaufstag, war die Gnädige noch nicht erschienen, als ich los mußte. Also schob ich das Essen – und ausgerechnet das Lieblingsessen des Direktors, Hammel in Kohl – in den Ofen, stellte die Zeitschaltuhr nach Gebrauchsanweisung ein, und legte einen Zettel auf den Herd. Ich hatte mit großen, deutlichen Buchstaben geschrieben: „Bitte den Herd so lassen! Der Ofen springt um zwölf Uhr von selbst an. Zeitschaltuhr ist eingestellt.“ Worauf ich Geld, Einkaufstasche und Handtasche zusammenklaubte und zum Bus lief. Als ich eine halbe Stunde vor der Mittagszeit nach Hause kam, fand ich einen kalten Ofen vor. Der von mir eingedrückte Schalter war wieder herausgesprungen. Das Backofenlicht war aus. „Was in aller Welt…“, begann ich. „Ja, Jessica, Sie hatten den Ofen angelassen und sind davongelaufen, ein Glück, daß ich es entdeckte!“ sagte die Gnädige. Ich stöhnte. „Ich hatte Ihnen doch einen Zettel hingelegt, da habe ich doch erklärt…“, versuchte ich einzuwenden. „Ach so! Ja, da lag wohl ein Zettel, irgendwo, aber den habe ich nicht gelesen.“ „Herrgott, warum denn? Dann hätten wir jetzt ein fertiges Essen gehabt!“ „Wenn Sie so früh den Ofen anmachen? Das Essen wäre doch
angebrannt!“ „Dich möchte ich anbrennen, alte Ziege!“ murmelte ich, aber sehr leise, als ich in den Keller lief, um eine Dose Ravioli zu holen. Am nächsten Tag gab es dann Hammel in Kohl. „Es hat wunderbar geschmeckt, Jessica!“ erklärte der Direktor, als ich die Teller abräumte und den Nachtisch brachte. „Ich habe drei Portionen gegessen!“ „Das höre ich furchtbar gern!“ „Da sehen Sie, Jessica“, strahlte die Gnädige. „Es war doch gut, daß Sie beim Kochen dabei waren. Gestern wäre es ganz bestimmt angebrannt!“ Ich machte den Mund auf, um eine sehr deutliche Antwort zu geben, aber in letzter Sekunde kam ich zur Besinnung. Ich wußte ja, daß ich gerade für solche Fälle wie diesen mein großzügiges Gehalt erhielt! Die Arbeit in diesem modernen Haus für nur zwei Personen war weiß Gott nicht ein so fürstliches Gehalt wert. Aber, daß ich mich für mehrere hundert Mark pro Monat ärgerte und mich beherrschte, das war eine Tatsache. Also schwieg ich und stellte die Orangencreme auf den Tisch. Aber sonntags hatte also der Direktor die Verantwortung für die Zeitschaltuhr, und ich konnte beruhigt sein. Er las auch die Zettel, die ich hin und wieder hinlegte: „Mokkaeis im rosa Behälter rechts im Frostfach“ oder „Kaffeekuchen in Stanniol im Brotfach“ und ähnliches. Dann deckte ich den Frühstückstisch, zog Gummistiefel und Regenmantel an und zog los. Im Bus fiel mir etwas ein. Vielleicht ging Familie Grather gerade an Regentagen in den Zoo! Dann waren nicht so viele Besucher da, dann konnte man die Tiere in Ruhe beobachten! Dieser Gedanke half mir. Ob ich sie treffen würde? Aber wo? Ich blieb am Eingang des Zoos stehen und las die Tafel mit den Geburten der letzten Zeit. Siehe da – am letzten Montag, also am Tage nach meinem vorigen Zoobesuch, war ein Okapikälbchen geboren worden. Also nichts wie hin zum Giraffenhaus. Ich hatte richtig geraten. Denn als erstes sah ich im Giraffenhaus Elaines blonde Löckchen. Sie stand ganz regungslos vor einem Käfig, wo ein wunderschönes Okapiweibchen sein Kälbchen säugte. Außer Elaine sah ich keinen einzigen Besucher. Sie drehte sich einen Augenblick um, als sie meine Schritte hörte, lächelte, nickte,
legte den Finger auf den Mund und zeigte auf die Okapis. Ich verstand, ging leise hin und stellte mich neben sie. Wie schön, diese herrlichen Tiere in Ruhe beobachten zu können! Wir standen lange so nebeneinander. Dann war das Kälbchen satt und trollte sich zu seinem Strohlager in der Ecke. Elaine sah mich strahlend an. „Ist es nicht schön, Jessica? Weißt du, Mutti nahm Marcus mit raus, er begreift ja nicht, daß er still sein soll. Außerdem mußte er mal.“ „Kommen sie dann und holen dich hier ab?“ „Klar! Ich habe versprochen, hierzubleiben!“ „Wollen wir zu den Giraffengazellen hingehen?“ „Ja, fein. Das darf ich, ich muß bloß hier im Giraffenhaus bleiben. Weißt du, Vati sagt immer, daß die Giraffengazellen seine Lieblingstiere sind. Und als er und Mutti verlobt waren, gingen sie hier in den Zoo, und die Giraffengazellen hat er ihr zuallererst gezeigt.“ Ich erzählte, daß ich sie schon aus einem Afrikafilm her kannte. „Vati hat sie auch in Afrika gesehen, viele, viele auf einmal! Und er hat sie auch gefilmt! Ich möchte sie auch so sehen, ohne Gitter. Draußen, dort, wo sie hingehören. Möchtest du das nicht?“ „Und ob ich das möchte!“ „Ich habe ein Sparschwein“, berichtete Elaine. „Und ich spare für eine Afrikareise. Nur einen Groschen behalte ich jede Woche zurück, und den werfe ich hier in den Wunschbrunnen.“ Jetzt kam Frau Grather mit ihrem Jüngsten. Sie reichte mir strahlend die Hand. „Wie nett, daß Sie da sind! Elaine hat die ganze Woche gefragt, ob Sie wiederkommen!“ „Und ich habe mich die ganze Woche darauf gefreut, Sie wiederzusehen. Ich war nur ein bißchen in Zweifel, als es anfing, so furchtbar zu regnen.“ „Oh, dann ist es doch am schönsten hier! Dann haben wir endlich Ruhe! Wie ist es, Elaine, was steht jetzt auf deinem Programm?“ „Die Otter“, erklärte sie. „Aber wir können auch warten, bis es nicht mehr so regnet. Ich glaube, wir gehen zum Rundbau und kratzen Helene ein bißchen, das mag sie so gern.“ Wer Helene war, ahnte ich nicht. Sie entpuppte sich als ein großes, rotbraunes Pinselohrschwein. Sie drückte den mächtigen Körper gegen die Gitterstäbe, so daß Elaine ihren Rücken kraulen konnte.
„Helene ist ganz alt“, erklärte sie. „Viel älter als ich!“ „Stimmt“, die Mutter lächelte. „Helene lebte schon, als Vati und ich das erstemal im Zoo waren, also vor zwölf Jahren!“ Es schien Frau Grather eine Selbstverständlichkeit zu sein, daß wir zusammen gingen. Wir ließen uns von Elaine führen, sie wußte überall Bescheid, kannte viele der Wärter, nannte viele Tiere beim Namen. Es war lehrreich und urgemütlich. Aber der junge Herr Marcus machte dem Zoobesuch ein Ende. Er fing an zu quaken und verlangte lautstark nach Essen. „Ja, es ist kein Wunder“, gab seine Mutter zu. „Und heute haben wir keinen spendierfreudigen Onkel Benno hier. Wir müssen wohl so langsam, das heißt sehr schnell nach Hause rollen. Kommen Sie mit Fräulein Berner? Allerdings weiß ich nicht, ob man einer gelernten Köchin unser bescheidenes Essen vorsetzen kann.“ „Von wegen gelernt! Ich bin ein blutiger Laie, Frau Grather. Es ist wahnsinnig nett von Ihnen, und natürlich komme ich liebend gern mit!“ Frau Grather hatte ihren Wagen auf dem Parkplatz neben dem Zoo. Die Kinder wurden hinten hingesetzt, so daß ich mich ein bißchen mit Frau Grather unterhalten konnte, wenn der Verkehr nicht allzu stark war. „Wissen Sie“, begann ich nach einer Weile, „dies ist die größte Freude die ich gehabt habe, seit ich nach Frankfurt kam!“ „Ach, Sie Ärmste! Dann sind Sie ja nicht mit Freuden verwöhnt. Ist es indiskret zu fragen, warum Sie dann ausgerechnet hierhergekommen sind?“ „Nein, die Frage ist durchaus berechtigt. Ich kam hierher, weil man mir ein fürstliches Gehalt anbot, und ich muß Geld verdienen. Sehr viel Geld sogar.“ „Ich verstehe.“ Nun mischte sich Elaine ins Gespräch: „Wozu brauchst du all das Geld, Jessica?“ „Elaine!“ sagte Frau Grather streng. „Das geht dich nichts an!“ „Aber es ist kein Geheimnis“, erklärte ich. „Ich brauche es, um weiter studieren zu können. Es fehlen mir noch sechs Semester, ich habe genau die Hälfte hinter mir.“ „Sechs – die Hälfte? Dann studieren Sie bestimmt Medizin“, meinte Frau Grather. „Genau! Ich habe gerade noch das Physikum geschafft…“ „Was ist Physikum?“ kam die Frage vom Rücksitz.
„Oh, das ist eine Prüfung, ein sehr wichtiges Examen.“ „Welche Note hast du gekriegt?“ „Ich gebe es auf!“ seufzte Frau Grather. „Antworten Sie bloß nicht, die Göre muß endlich lernen, daß man nicht alles fragen darf!“ „Schade!“ seufzte ich. „Gerade diese Frage hätte ich wirklich gern beantwortet.“ „Na, dann dann packen Sie Ihre Eins aus!“ „Ja, wissen Sie, das stimmt sogar.“ „Und dann mußten Sie aufhören, das ist doch schrecklich. Hoffentlich brauchen Sie keine allzulange Pause zu machen.“ „O nein! Nur ein Jahr. Dann geht’s weiter!“ Wir bogen in eine kleine Straße ein. Hier lagen schöne Villen, vornehm zurückgezogen hinter blühenden Vorgärten. Vor einem dieser Häuser hielten wir. Elaine sprang wie ein Blitz aus dem Wagen, riß das Gartentor auf, und schon kam ihr ein riesiger Hund schwanzwedelnd entgegen, ein kräftiger, schwerer Bernhardiner. „Wo ist Anton, Barry?“ Barry drehte den Kopf, bellte kurz, ging ein paar Schritte zurück in Richtung Hundehütte. Dann erschien der zweite Einwohner der Hütte. Ein gefleckter Kater, der laut gähnte und sich ausgiebig reckte und streckte, bevor er sein kleines Frauchen begrüßte. Dann sprang er ihr auf die Schulter, Frau Grather setzte Marcus auf Barrys Rücken – alles so kommentarlos, so eingespielt, man merkte, daß dies zu den Selbstverständlichkeiten der Familie gehörte. Wir mußten um das Haus gehen, der Eingang befand sich auf der Rückseite. Im Garten saß eine alte, weißhaarige Dame in einem Liegestuhl, eingewickelt in eine Decke. „Hallo, war’s schön, Lillepus?“ Elaine rannte zu ihr. „Oh, prima, Tante Elsbeth! Ein ganz, ganz kleines Okapikälbchen! Und dann hat es geregnet, und wir waren beinahe allein, aber dann kam die Sonne und so viele Menschen. Aber für dich ist es ja schön, daß die Sonne scheint, dann kannst du im Garten sitzen.“ „Lillepus, lauf doch in die Küche, auf dem kleinen Tisch steht ein Teller voll Kotelettknochen für Barry.“ „Das ist aber fein, tausend Dank! Ich komme nachher und erzähle dir alles. Weißt du, ich sah auch ein winzig kleines Nasenäffchen, das hatte ein kleines Stupsnäschen – aber jetzt muß ich schnell essen, dann komme ich!“
Elaine rannte los und holte die Knochen für Barry. Die freundliche alte Dame wechselte ein paar Worte mit Frau Grather, die mich vorstellte, und dann gingen wir nach oben. Die Wohnung lag im ersten Stock. Frau von Krohn – „Tante Elsbeth“ –, die Hauseigentümerin, konnte seit ein paar Jahren schlecht Treppen steigen und hatte sich im Erdgeschoß einquartiert. Die früheren Schlaf-, Kinder- und Gästezimmer waren jetzt zu einer ganz reizenden Dreizimmerwohnung eingerichtet worden. „Ja, wir sind hier glücklich!“ sagte Frau Grather, als ich ein paar Worte über die hübsche Wohnung äußerte. „Wissen Sie, die drei ersten Jahre wohnten wir ganz unten. Eigentlich gehörte die Wohnung zum Kellergeschoß, aber weil das Haus an einem Hang liegt, lagen unsere Zimmer doch über der Erde. Dann bekamen wir diese Wohnung hier, und unten hat mein Mann jetzt sein Arbeitszimmer. Dann gehört noch ein Fremdenzimmer mit eigenem Bad dazu. Ist das nicht vornehm? Sie wissen also, wo Sie hingehen können, wenn Ihre Gnädige Sie eines Tages rauswirft! – So, nun werden wir mal sehen, was sich im Backofen tut. Hoffentlich hat Elaine die Zeitschaltuhr richtig eingestellt – ja fein, die ganze Küche duftet ja nach Hammel mit Kohl!“ „Was?“ rief ich. „Gibt es Hammel in Kohl, richtig auf norwegisch?“ „Ja, genau das – kennen Sie es?“ „Und ob!“ Ich mußte schnell die Geschichte mit meinem Hammel in Kohl und der Zeitschaltuhr erzählen. Frau Grather lachte laut. „Sie Ärmste! Wissen Sie, ich wäre geplatzt vor Wut, glaube ich!“ „Ich war auch kurz davor. In solchen Augenblicken muß ich krampfhaft an das gute Gehalt denken, dann schaffe ich es gerade.“ „Eins ist mir klar“, meinte Frau Grather, als wir um den Tisch in der gemütlichen Eßecke in der Küche saßen. „Sie leisten wirklich etwas für Ihr gutes Gehalt!“ „Nun ja“, gab ich zu. „Ich leiste sehr viel Selbstbeherrschung und muß viel Geduld aufbringen. Aber die Arbeit an sich ist leicht. Du lieber Himmel, ich kann spielend an einem Tag die große Wäsche schaffen, bei all den Maschinen. Das heißt, ich könnte es, wenn die Gnädige mich in Ruhe ließe. Aber daran hapert es eben.“ „Aber wissen Sie, diese Dame müßte doch eigentlich für Sie als Medizinerin ein interessantes Studienobjekt sein! Haben Sie nicht Lust zu ergründen, warum sie so geworden ist? Ja, denn ein Grund
muß ja vorliegen!“ „Dasselbe schreibt mein Verlobter“, erzählte ich. „Er spielt mit dem Gedanken, sich als Psychiater ausbilden zu lassen.“ „Ach, Ihr Verlobter ist auch Mediziner? Und wo sitzt er nun?“ „Er sitzt nicht, er steht oder läuft. Jetzt sind ja wieder Semesterferien, und er hat seinen alten Ferienjob als Tankwart aufgenommen. Er sitzt, steht oder läuft in Kiel.“ „So weit weg!“ „Ja“, sagte ich und mußte plötzlich schlucken. „Ich – ich sehne mich ganz fürchterlich nach ihm. Aber ich sage mir immer: ,Nur ein Jahr, nur ein Jahr’ - und jetzt fehlen tatsächlich nicht mehr als acht Monate.“ „Sie vergessen ja zu essen!“ rief Frau Grather. „Langen Sie bloß zu, ich habe sehr viel, wie Sie sehen! Genug für heute und für übermorgen, wenn mein Mann nach Hause kommt. Er behauptet immer, daß Hammel in Kohl nach dem siebten Aufwärmen am besten schmeckt!“ „Mutti, darf ich schon das Kompott essen? Tante Elsbeth wartet bestimmt auf mich!“ „Na gut, ausnahmsweise. Und bürste deine Haare, bevor du zu Tante Elsbeth gehst!“ Elaine verschlang ihr Kompott in Windeseile, stand auf und sagte ein paar norwegische Worte, küßte ihrer Mutter die Wange und verschwand samt Hund und Katze. „Denken Sie sich, ich verstand das, was Elaine auf norwegisch sagte!“ prahlte ich. „,Takk for maten’ bedeutet doch ,Danke fürs Essen?’ So sagt auch immer der junge Norweger, den ich kenne, der die Schwester meiner besten Freundin geheiratet hat. Das sagt man doch immer in Norwegen nach dem Essen?“ „Immer! Das ist eine selbstverständliche Höflichkeit. Das gehört zu dem nicht allzu großen norwegischen Wortschatz von Elaine. Wissen Sie, sie hat schon als kleines Kind Französisch gelernt, weil wir jeden Sommer im französischsprachigen Wallis sind, und dann wollten wir das kleine Gehirn nicht mit einer dritten Sprache belasten. Aber in den letzten Jahren hat sie auch etwas Norwegisch gelernt, jedenfalls so viel, daß sie sich mit meiner Mutter unterhalten kann. Da läßt sie es auch über sich ergehen, Lillepus genannt zu werden. Ja, das ist norwegisch und bedeutet etwa Muschilein.“ „Frau von Krohn nennt sie ja auch so!“ „Ja, sie darf es auch, denn wie Elaine sagt, Tante Elsbeth ist zu
alt, um sich umzustellen.“ „Ich habe das Gefühl, daß ihr kleines Gehirn, wie Sie sagen, doch außerordentlich gut funktioniert! Sie ist doch ein sehr intelligentes Kind.“ „Nun ja, das ist sie wohl. Das hat sie von meinem Mann.“ „Und die fröhliche Aufgeschlossenheit von Ihnen?“ „Jedenfalls von meiner Familie. Es ist eben ein fröhliches lächelndes Völkchen da unten, sonnige Menschen in einem sonnigen Land. Sie sind immer hilfsbereit, immer zu einem Scherz aufgelegt, sie sind unkompliziert und geradeheraus. So war mein Vater auch, sagt meine Mutter. Ich habe ihn nie gekannt, er starb ein paar Tage nach meiner Geburt.“ „Wie furchtbar für Ihre Mutter! Wie gut habe ich es trotz allem, ich habe sowohl Mutter als auch Vater, und ich verstehe mich bestens mit ihnen!“ Während wir uns unterhielten, hatte Frau Grather ihren Sohn gefüttert. „So!“ erklärte Frau Grather und hob den Kleinen vom Stuhl. „Jetzt geht’s ins Heiabettchen, nicht wahr, Marcus? Sag auf Wiedersehen zu Tante Jessica!“ „Wiedersehn!“ murmelte der Junge und reichte mir sein kleines schläfriges Pfötchen. Wie habe ich diesen Tag genossen! Als ich mich nach dem Kaffee verabschieden wollte, protestierte Frau Grather. Was sei das für ein Unsinn, ich hätte doch niemanden, der auf mich warten würde, sie sei auch ganz allein. „Wir haben es doch so nett und mögen einander so gern!“ gestand sie lächelnd. „Was sind Sie für ein wunderbarer Mensch, daß Sie alles so geradeheraus sagen!“ platzte es aus mir raus. „Hätten Sie es auch gesagt, falls Sie mich nicht hätten ausstehen können?“ „Nein! Ich will doch meine Mitmenschen nicht verletzen. Aber dann hätte ich Sie nicht nach Hause eingeladen. Nun erzählen Sie mir ein bißchen mehr über Ihre merkwürdige Anstellung hier – wenn Sie wollen! Ich will aber nicht indiskret sein!“ „Oh, ich habe keine Schweigepflicht – ich habe ein Problem, und natürlich brauche ich Hilfe, um es zu lösen. Wenn ich etwas über das Leben dieser Frau wüßte, etwas von ihren Geheimnissen, nicht zu reden von einem Skandal oder so, würde ich nie ein Wort darüber erzählen. Aber ich fühle mich berechtigt dazu, einem guten und
klugen Menschen meine persönlichen Probleme vorzulegen, und diese Dame ist wirklich mein Problem!“ „Bin ich der gute und kluge Mensch? Ach, du liebe Zeit, na ja, gut vielleicht. Aber was die Klugheit betrifft, dann suchen Sie sie lieber bei den anderen Familienmitgliedern. Warten Sie bloß, bis Sie am nächsten Sonntag meinen Mann kennenlernen! Ach ja, richtig! Was ist Ihr Lieblingsessen?“ „Mein Lieblingsessen? Vielleicht Hasenbraten – aber warum fragen Sie danach?“ „Damit ich weiß, was ich nächsten Sonntag koche! Kann man auch Hasenbraten mit Zeitschaltuhr machen?“ „Sicher! Aber meinen Sie, daß ich nächsten Sonntag auch…“ „Klar! Ich freue mich schon darauf!“ „Und ich erst! Ich könnte Sie umarmen!“ „Bitte sehr, ich stehe Ihnen zur Verfügung. Aber nun erzählen Sie doch endlich. Sie haben große Schwierigkeiten, und oft hilft es einem, darüber sprechen zu können. Manchmal ist es so, daß man klarer sieht, wenn man ein Problem in Worte kleidet.“ Dann erzählte ich. Von der komischen Sturheit der Frau FrischNielsen, von ihrer Sprunghaftigkeit, von ihrer bodenlosen Naivität, von ihrer vollkommen leeren Redseligkeit – und von ihrer sagenhaften Untüchtigkeit. Frau Grather lauschte aufmerksam. „Wissen Sie was“, meinte sie endlich, als ich alles ausgepackt hatte, „ich muß an etwas denken, was Tante Edda, also Frau Dieters-Callies, einmal sagte. Es war in dem Sommer, als wir uns kennenlernten. Ich machte auf einer Nordseeinsel Urlaub mit Elaine, und das Glück fügte es so, daß wir ausgerechnet im Hause Dieters landeten. Da tauchte ein armes junges Mädchen auf, aus einer sogenannten guten Familie, aber seelisch vollkommen verwahrlost. Es war auf die schiefe Bahn geraten, hatte sogar mit der Polizei zu tun gehabt. Na, es landete durch eine seltsame Fügung des Schicksals bei uns, und wir hatten alle den Wunsch, dem armen Kind zu helfen. Die Schwierigkeit bestand nur darin, wie kommen wir mit ihm in Kontakt? Wie bringen wir das Mädchen zum Sprechen? Dann sagte also Frau Dieters ein paar Worte, die mir später oft in den Sinn gekommen sind, wenn ich jemandem helfen möchte:, Man muß versuchen, ein Gebiet bei dem Mädchen aufzuspüren, für das es sich interessiert, egal was, aber etwas, worüber man sprechen kann oder diskutieren – sei es ein Kleidermodell oder ein Filmstar oder Raumfähre oder Kochen –,
einen Punkt, wo man sich versteht. Wenn man so einen Kontakt gefunden hat, dann erst ist es möglich zu helfen.’“ „Haben Sie dann einen Anknüpfungspunkt gefunden?“ fragte ich. „Ja, und was für einen! Es zeigte sich, daß Marion Tiere über alles liebte, aber sie hatte nie die Gelegenheit gehabt, selbst eins zu halten. Wir unterhielten uns über Barry und über die Katzen der Familie Dieters. Und es gelang uns wirklich, dem Mädchen zu helfen, sie bekam Zutrauen zu uns, sie lernte unsere fröhliche kleine Welt kennen, und sie entwickelte sich zu einer ganz reizenden jungen Frau.“ „Wissen Sie, was aus ihr geworden ist?“ „Und ob ich das weiß. Sie kam zu uns und wohnte drei Jahre hier, während sie im Zoo als Tierpflegerin ausgebildet wurde. Dann wurde sie einundzwanzig, bekam eine Erbschaft ausbezahlt und konnte nachträglich ihr Abitur machen. Jetzt studiert sie Tierheilkunde in München. Ja, sie faßte einen glücklichen Entschluß, und sie ist auch sehr glücklich! Aber was ich sagen wollte: Gibt es nicht einen Punkt, wo Sie sich mit dieser Frau verstehen könnten? Es muß doch etwas geben, was sie kann, was sie interessiert!“ „Ja“, erklärte ich. „Blumen, Kleider und Möbelpolieren. Sie kann auch nähen, wenn es auch zum Weinen ist, mit ansehen zu müssen, wie sie ihre herrliche Nähmaschine benutzt! Sie näht Knopflöcher mit der Hand, obwohl die Maschine es spielend selbst tut. Sie legt Säume und heftet sie in stundenlanger Arbeit, obwohl die Maschine einen Saumleger besitzt. Und wenn sie Nähte saubermacht…“ Frau Grather unterbrach mich lachend. „Glauben Sie, daß sie die einzige Frau ist, die so etwas macht? Ich werde Ihnen sagen, ich war vor meiner Heirat Hausschneiderin. Wenn ich in den verschiedenen Häusern nach den Zusatzteilen der Maschine fragte, sah die Hausfrau gewöhnlich äußerst erstaunt aus und fing an zu suchen. Wenn ich Glück hatte, tauchte das Kästchen mit den Schablonen, dem Saumleger, der Blindstichschiene und anderen Dingen auf. Sie ließen die herrliche Maschine nur gewöhnliche gerade Nähte nähen und sonst nichts!“ „Ja, aber daß meine Gnädige den Geschirrspüler nicht benutzt, den Heimbügler, die Küchenmaschine…“ „Die Ärmste“, sagte Frau Grather. „Ich meine ja, es muß einen Grund geben, auch für diese komische Sturheit, die in den idiotischen Sätzen zum Ausdruck kommt: ,Ich mache es aber so!’ – ohne Begründung, ohne den Versuch, etwas besser zu machen.
Wissen Sie – ich habe eine Theorie. Wollen Sie sie hören?“ „Und ob ich das will!“ „Es könnte sein“, begann Frau Grather langsam, „daß die Entwicklung der Frau plötzlich zum Stillstand gekommen ist. Was sie in ihrer früheren Jugend gelernt hat, ist sitzengeblieben. Alles, was mit Blumen zusammenhängt, hat sie von ihrem Vater gelernt und von ihrer Mutter den Blick für Kleider und Wohnungspflege. Dann ist Schluß. Mehr kann sie nicht. Vielleicht hat sie sehr früh geheiratet?“ „Ja, schon mit achtzehn. Sie war übrigens bildschön, ich habe ein Jugendbild von ihr gesehen. Ihr Mann ist beinahe zwanzig Jahre älter.“ „Ist er nett zu ihr?“ „Aber sehr! Irgendwie so – ja, wie soll ich es sagen, so beschützend, so väterlich, sein Tonfall wirkt so, als streichle er ihr übers Haar…“ „Ungefähr so lieb, wie man gegenüber seinem Hund ist?“ „Genau!“ rief ich. „Ganz genauso! Man kann einen Hund innig lieben, wenn man auch keine gemeinsamen Interessen mit ihm hat! Man freut sich, wenn er einem entgegenläuft, wenn er dasitzt und Herrchen anbetend anguckt. Man freut sich, weil er hübsch aussieht und weil er einem gehört – ja, genauso ist es! Der Direktor nennt seine Frau immer ,Lieschen’ oder ,Püppchen’ oder ,Pusselchen’ – ich habe ihn nie ,Elise’ sagen hören. Und sie liebt ihn und nimmt immer Rücksicht auf seine Wünsche.“ Frau Grather nickte. „Sehen Sie! Wenn er sie nun die ganze Zeit so behandelt hat, wie hätte sie sich dann weiterentwickeln können? Das einzige, was sie lernte, hat sie von ihren Eltern. Sie hat doch bestimmt keinen Beruf gehabt! Dachte ich mir. Sie war also eine hübsche kleine Puppe, und als solche hat ihr Mann sie die ganzen Jahre über behandelt. Ich werde Ihnen was sagen, Jessica: Dem Mann könnte man Vorwürfe machen, der Frau nicht. Sie ist das, was er aus ihr gemacht hat – ein liebes kleines süßes Hündchen! Und wenn Anforderungen an ihr Denkvermögen gestellt werden oder an ihre Logik, dann versagt sie. Sie kann keine Schwierigkeit durchdenken, und sie kann keine Argumente aufbringen. Deshalb kriegt man nur diese hilflos-sturen Antworten. Glauben Sie mir, so wird es sein. Ärgern Sie sich nicht mehr über sie, Jessica. Versuchen Sie doch, ihr zu helfen! Es sind nicht nur kranke, arme oder alte Menschen die Hilfe brauchen! Es sind böswillige, geistig faule,
seelisch vernachlässigte Menschen, die am dringendsten Verständnis und Hilfe nötig haben. Menschenskind, ist das eine Aufgabe für Sie!“ Ihre Augen hatten einen leuchtenden Ausdruck. Aus ihrer Stimme klang Wärme. Was war sie für ein wunderbarer Mensch! „Ich werde es versuchen“, sagte ich kleinlaut. „Ich werde mir überlegen, in welchem Punkt wir uns begegnen und verstehen können. Das verspreche ich Ihnen. Wissen Sie, nach all dem, was Sie gesagt haben, habe ich jetzt das beschämende Gefühl, daß ich vier Monate meines Lebens ganz vergeudet habe. Was hätte ich alles machen können – oder jedenfalls, ich hätte es versuchen können, etwas Gutes zu tun!“ „Dann fangen Sie jetzt an“, sagte Frau Grather mit ihrem hübschen, warmen Lächeln.
Also fing ich an… Als ich am Montagmorgen wie immer um halb sieben in die Küche ging, um mein Tagesprogramm zu beginnen, war ich noch von Bernadette Grathers klugen Worten und von meinen eigenen guten Vorsätzen erfüllt. Es ergab sich auch eine Gelegenheit, den ersten Versuch zu machen. Ich stellte nämlich fest, daß ich wohl oder übel ein neues Kleid kaufen mußte. Alles war mir zu eng geworden! Na, Mutti und Vati würden sich freuen, wenn ich ihnen erzählte, wie ich mich erholt hatte. Und Falko erst recht! Als dann Frau Frisch-Nielsen erschien und mit ihrem gewöhnlichen Geplapper anfing, paßte ich auf, und bei ihrer ersten Atempause ergriff ich das Wort: „Wissen Sie, gnädige Frau, ich wollte Sie so gern um einen Rat bitten?“ „Mich?“ fragte sie und sah aus, als hätte ich sie um einen Vortrag über Elektrotechnik gebeten. „Ja, Sie haben doch einen so guten Geschmack, und ich muß mir unbedingt ein Kleid kaufen, wahrscheinlich auch einen Rock, ich bin aus allem herausgewachsen. Sie können mir bestimmt sagen, wo ich hingehen soll, ich kenne ja die Geschäfte in Frankfurt nicht…“ Und ob sie das konnte! Sie wußte Bescheid über Geschäfte, über Stoffe, über moderne Dessins, über Farben, die mir stehen würden. Es war lustig, die Veränderung zu sehen. Zum erstenmal erlebte ich sie auf einem Gebiet, wo sie sich sicher fühlte. Als ich dann äußerte, daß ich vielleicht selbst einen Rock ändern könnte, bot sie mir gleich ihre Nähmaschine an. Das hatte ich gehofft. Denn eines wurde mir klar, sollte ich ihr die Augen für die modernen technischen Hilfsmittel öffnen, müßte es über die Nähmaschine gehen! Am folgenden Tag saß ich dann mit meinem aufgetrennten Rock vor der Wundermaschine. Frau Frisch-Nielsen ahnte nicht, daß ich gestern abend die Gebrauchsanweisung mit ins Bett genommen hatte und mir haargenau merkte, wie man Blindstiche und Knopflöcher und noch ein paar andere Sachen machen konnte. „Aber Sie müssen doch zuerst heften!“ rief die Gnädige entsetzt, als ich den Stoff unter die Maschine legte. „Das tue ich ja gerade“, erklärte ich. „Diese Kettenstiche kann man nachher eins zwei drei wieder entfernen.“ „Meine Mutter heftete immer mit der Hand“, gab sie zur
Antwort. „Ihre Frau Mutter hatte bestimmt keine so feine Maschine wie diese“, meinte ich. „Dann hätte sie es ganz sicher auch so gemacht.“ Dann schwieg sie und sah erstaunt zu, wie schnell das Heften ging. Nachher staunte sie noch mehr, als ich den ganzen Saum unsichtbar mit der Blindstichschiene machte und nachher das Ende des Heftfadens faßte. Rrrrutsch! – war der Faden herausgezogen. Ich hatte das Sesamwort gefunden: „Das hätte Ihre Mutter bestimmt getan.“ Bernadette Grather hatte recht. Was „Mutti“ und „Vati“ ihr beigebracht hatten, das saß. Was sie bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr gelernt hatte, das konnte sie. Gegen alles weitere wehrte sie sich. Während wir dasaßen, ich beim Nähen, sie beim Auftrennen – sie half mir, auch eine Bluse zu ändern –, fragte ich vorsichtig, und sie erzählte bereitwillig. Ja, sie hatte sehr jung geheiratet, ihr Vater starb früh, und die Mutter war wohl erleichtert, daß die Tochter einen wohlhabenden Mann bekam. Zwei Jahre später starb auch die Mutter, und so hatte sie keinen Menschen mehr auf der Welt, der sich die Mühe machte, der hübschen kleinen Elise etwas beizubringen. Und da ihre Mutter keinen Geschirrspüler, keinen Heimbügler und keine Küchenmaschine besessen hatte, stand sie vollkommen ratlos solchen Dingen gegenüber. Zum erstenmal zeigte sie Interesse für etwas Neues. Ja, wenn Mutti eine solche Maschine gehabt hätte… Mutti hätte auch die Nähte mit Zickzackstichen sauber gemacht… Als ich das Nähen unterbrechen mußte, um in die Küche zu gehen, saß die kleine Gnädige und übte Knopflochnähen auf einem alten Stück Stoff. Irgendwie sah sie so rührend aus wie ein Kind, das eifrig versucht, eine Arbeit zu erlernen. Ihre blonden Locken fielen ihr auf die Stirn, das hübsche Gesicht bedeckte eine leichte Röte. Wie war Bernadette Grather klug, dachte ich, als ich anfing, die Kartoffeln zu schälen. Wie recht hatte sie. Diese kleine, hilflose, vernachlässigte, reiche Frau brauchte Hilfe – und es war schön, festzustellen, daß ich ihr helfen konnte! Jetzt hieß es beinahe jeden Tag: „Jessica, wollen wir ein bißchen nähen?“ Wenn ich mich von meinen anderen Pflichten losreißen konnte, sagte ich ja. Als ich eines Tages einen Berg Wäsche vor mir hatte und unbedingt plätten mußte, kam sie mit ins Plättzimmer und übernahm
das Handplätten, während ich die Heißmangel bediente. So entstand allmählich eine nette Zusammenarbeit, die eigentlich uns beiden Spaß machte. Als ich mein Kleid gekauft hatte, wurde es eifrigst begutachtet und für zufriedenstellend befunden. „Sie haben aber auch zugenommen!“ meinte sie. Was ich lachend zugab. Vielleicht lag es an dem dauernden Kosten, ich mußte ja als gute Köchin immer kontrollieren, ob meine Gerichte nun auch richtig gewürzt und gesalzen und überhaupt genießbar waren! Eines Tages, als der Geschirrspüler auf Hochtouren lief, bat sie mich, ihr die Schablonen für Zierstiche zu zeigen. Natürlich machte ich das – ich benutzte nach wie vor die Gebrauchsanweisung der Nähmaschine als Bettlektüre. „Haben Sie jetzt auch Zeit, Jessica?“ fragte sie. „Aber gewiß, gnädige Frau. Das mache ich, während ich abwasche! Das ganze Geschirr von gestern mittag und gestern abend und heute früh!“ „Ach!“ sagte sie zögernd und sah zum erstenmal aus, als dächte sie gründlich über etwas nach. Am folgenden Tag stand sie neben mir, als ich den Geschirrspüler einschaltete. Als ich glaubte, einen Ausdruck des Zweifels in ihrem ratlosen kleinen Gesicht zu sehen, erklärte ich: „Wie schön wäre es gewesen, wenn Ihre Mutter eine solche Maschine gehabt hätte! Wie hätte sie sich gefreut!“ „Ja, dann hätte sie nähen können während des Abwaschens“, stimmt sie mir zu. Als ich am folgenden Sonntagabend nach Hause kam, empfing mich Frau Frisch-Nielsen im Flur, strahlend und mitteilungsbedürftig. „Jessica, heute habe ich selbst abgewaschen! Mit der Maschine! Es ging prima!“ Ich konnte diese Aufmunterungen gebrauchen. Denn jetzt, eine Woche vor Semesteranfang, war die Sehnsucht in mir schlimmer denn je. Das Gefühl, hier kochen, waschen und plätten zu müssen, während meine Kommilitonen, meine Studienkameraden weiterstudieren durften – oh, was gäbe ich dafür, schnell, schnell nach Kiel fahren zu können und bei der ersten Vorlesung dabeizusein! Außerdem erschien mir Falko beunruhigend schweigsam. Er
arbeitete noch an seiner Tankstelle und hatte anscheinend alle Hände voll zu tun. Ich bekam nur kleine, schnell hingekritzelte Grüße von ihm. Lange hatte ich keinen richtigen, langen, liebevollen Brief erhalten. Dafür kam eines Tages ein anderer Brief, von Frau Ingwart umadressiert. Ein Brief an „cand. med. Jessica Berner“. Au verflixt! Es war Frau Frisch-Nielsen, welche die Post reingeholt hatte und mir den Brief aushändigte. Wenn sie das nun gesehen hatte – ich wollte es doch nicht. Aber der Inhalt des Briefes zwang mich dazu, in Kiel anzurufen. Es ging um meine weiteren Studien, und ich mußte entweder Reni oder Falko bitten, etwas für mich zu erledigen. Natürlich wählte ich dann Falko. Wenn ich sowieso ein Ferngespräch bezahlen mußte, dann wollte ich doch seine Stimme hören! Also rief ich die Tankstelle an. Ich war allein im Haus, es war Freitag – die Gnädige war in der Stadt, und Frau Brösen wurde heute schnell fertig und machte sich aus dem Staube. Eine fröhliche Lehrlingsstimme meldete sich. Ich fragte nach Falko. „Der ist nicht mehr hier“, ertönte die Stimme aus Kiel. „Gestern hat er Schluß gemacht.“ „Ach – wissen Sie vielleicht, wo ich ihn erreichen kann?“ fragte ich hilflos. „Keine blasse Ahnung. Er klebte ein D-Schild auf seinen neuen Sportwagen und sauste los, Richtung Autobahn, mit einer flotten Biene neben sich!“ „Eine was…?“ hauchte ich. „Dufte Biene!“ sagte die übermütige Lehrlingsstimme. „Eine kesse Motte!“ Ich murmelte etwas und legte den Hörer auf. Falko war losgesaust in seinem neuen Sportwagen – seit wann hatte er einen Wagen? Warum hatte er mir kein Wort darüber erzählt? Falko mit einer „flotten Biene“. Großer Gott, bedeutet das – könnte es bedeuten, daß… Nein, das konnte nicht wahr sein! In diesem Augenblick wußte ich, daß ich alles, alles ertragen konnte, alles auf der Welt, nur das eine nicht: Ich durfte Falko nicht verlieren! Warum hatte er in der letzten Zeit so wenig geschrieben? Aber – er liebte mich doch – er liebte mich seit drei Jahren, so
wie ich ihn. Er hatte es doch unzählige Male gesagt… Aber so was kam vor. Ich hatte es oft genug bei meinen Freundinnen gesehen. Manch eine von ihnen hatte einen Herzensfreund gehabt, war über die Ohren verliebt – und dann ging es doch in die Brüche. Ja, es kam vor. Aber bei Falko und mir doch nicht! Ich fühlte, wie ich blaß wurde, mein Herz klopfte wie ein Hammer, und im Hals bildete sich ein Kloß, ein widerlicher Kloß, er wuchs und wuchs. Jetzt liefen mir die Tränen übers Gesicht – nein, es konnte nicht sein, es durfte nicht sein! Das sah doch Falko nicht ähnlich! Wenn so etwas Schreckliches passieren sollte, daß er mich überhatte, dann würde er es mir doch klipp und klar sagen! Er würde mir reinen Wein einschenken, wie bitter er auch schmecken mochte. Aber – vielleicht würde er es noch tun. Er würde nicht ganz einfach aus meinem Leben verschwinden. Er würde ehrlich sein, mir sagen… Ja, aber wie schwer würde es ihm sein, mir so weh zu tun. Er scheute sich bestimmt davor – er schob es auf-, überlegte sich vielleicht, wie er es mir beibringen sollte… Mein Falko. Das Zentrum meines Lebens. Meine erste, große, wunderbare Liebe. Falko, den ich heiraten wollte. Falko, der einzige Mann, mit dem ich Kinder haben wollte. Er befand isch irgendwo unterwegs mit einem anderen Mädchen. In einem Auto, von dem er mir kein Wort erzählt hatte. Wenn ich zu wissen bekommen hätte, daß ich nie mein Studium hätte vollenden können – wenn Mutti mir erzählt hätte, es ginge doch nicht mit dem Geschäft, sie müßten alles verkaufen und das Haus dazu –, es hätte nicht so weh getan wie dies. An diesem Tag erlebte ich die schrecklichsten Stunden meines Lebens. Ich hatte nicht gewußt, daß es möglich war, so zu leiden. Wie ich es überhaupt schaffte, meine Arbeit zu erledigen und ein halbwegs vernünftiges Essen auf den Tisch zu bringen, weiß ich nicht. Als ich servierte, sah mich der Direktor an. „Sie sehen so blaß aus, Jessica, geht es Ihnen nicht gut?“ „O doch. Ich habe nur Kopfschmerzen“, murmelte ich. Essen konnte ich nicht. Ich trank Kaffee, starken schwarzen Kaffee. Und in solchen Mengen, daß mein Magen rebellierte. Ich rannte zur Toilette und mußte mich übergeben. Als ich blaß und elend von der Toilette kam, stand Frau Frisch
Nielsen in der Halle. „Gehen Sie doch ins Bett, Jessica!“ „Ja“, murmelte ich. Mir war es so schwindelig, daß ich mich an die Wand lehnen mußte. „Ich glaube, ich habe mir den Magen verdorben.“ Ich schleppte mich die Treppe hoch zu meiner Tür, schaffte es gerade, sie hinter mir zuzumachen, dann fiel ich aufs Bett. Da blieb ich liegen, ich weiß nicht, wie lange. Endlich stand ich auf, zog mich aus und ging ins Bett. Gleich danach klopfte es an der Tür. Frau Frisch-Nielsen fragte, wie es mir ginge, ob ich etwas essen wollte oder ob ich vielleicht eine Kopfschmerztablette brauchte. Ich nahm die Tablette nur, um die Gnädige wieder loszuwerden. Ich wollte allein sein – ja, wollte ich das eigentlich? Wäre es nicht schön gewesen, wenn die Tür plötzlich aufginge und Reni käme zu mir – oder Bernadette Grather? Eine liebe, gute Freundin, an deren Schulter ich mich ausweinen konnte. Aber niemand wußte, wie dringend ich eine solche Schulter brauchte. Niemand wußte, daß ich allein und unglücklicher als jemals in meinem Leben dalag – so einsam und so hilflos wie ein Menschenskind nur ist, wenn es alles, wirklich auch alles verloren hat. Wenn ihm der Boden unter den Füßen weggerissen wird. Dieses Gefühl überwältigte mich. Unter mir lauerte eine tiefe, schwarze Dunkelheit, und in diese Dunkelheit der Verzweiflung sank ich – sank und sank….
Liebesleid An Schlaf konnte ich nicht denken. Im Haus war es still und auf der Straße. Nur ab und zu, ganz selten huschte ein Auto vorbei. Nacht und Stille um mich! Plötzlich stand ich auf, schloß die Tischschublade auf. Ich holte mir Falkos Briefe. Den ganzen Stoß, den ich hier erhalten hatte. Ich las sie alle, las sie mit neuen Augen. In der ersten Zeit waren die Briefe, wenn auch nicht gerade lang, so doch so unendlich liebevoll. Falko schrieb von seiner Sehnsucht, wie er die Wochen und Tage zählte, bis wir uns wiedersehen konnten. Dann wurden die Briefe seltener, schneller, kürzer. Es waren Semesterferien, Falko hatte sehr viel an der Tankstelle zu tun. Da ein etwas längerer Brief. Er erzählte von einem netten Abend bei seinem Freund Reinhard und dessen Frau. Reinhard war ein junger Automechaniker, mit dem Falko sich sehr befreundet hatte. „Ich gebe ihm Sprachunterricht“, schrieb Falko. „Er hat sich in den Kopf gesetzt, seine Schulkenntnisse zu ergänzen, und ich bringe ihm das bißchen Englisch bei, das bei mir hängengeblieben ist.“ Dafür half Reinhard ihm mit seinen technischen Kenntnissen. Alles nett und gar nicht aufregend. Ein lieber, kameradschaftlicher Brief und mit den üblichen Schlußworten: „Einen ganz lieben Kuß, mein Jessilein, von Deinem Falko.“ Dann wieder ein paar ganz kurze Briefe, wo er nur erzählte, daß er bis tief in die Nacht hinein arbeitete und kaum zum Schreiben kommen konnte. Warum arbeitete er bis tief in die Nacht? Davon sagte er kein Wort. Dann erwähnte er Reni. „Soll Dich vielmals von Reni grüßen, sie tankte gestern bei uns, und ich leistete einen vorbildlichen Kundendienst. Theodors Scheiben wurden gewischt wie nie zuvor – damit wir etwas plaudern konnten. Sie ist wohlauf und freut sich schrecklich auf das Kind. Aber eine Schönheitskur ist die Schwangerschaft nicht, ihr Gesicht ist gedunsen, und die Haare sehen nicht mehr so lockig aus. Na, das wird ja alles anders werden, wenn das Kind da ist! Sie behauptet selbst, sie wird bestimmt Drillinge kriegen: ,Dann schicke ich einen nach Hirschbüttel, einen zu Euch und behalte einen selbst!’ Sie war in die Stadt gefahren, um Babywolle zu kaufen, erzählte sie.
Gleichzeitig bat sie mich, auszurichten, daß sie sich auf die Strickkünste ihrer Freundinnen – auch der Deinen – verläßt, da sie sich nie mit Stricknadeln so richtig befreunden kann. Also, Jessilein, Du siehst, Deine Pflicht ruft.“ Das konnte ich mir denken. So hatte ich ein Jäckchen schon fertig, das dazu passende Strampelhöschen lag halbfertig hier auf dem Tisch. Bei der Arbeit hatte ich mir immer vorgestellt, wie wunderbar es werden würde, wenn ich für mein eigenes Kind stricken sollte - für Falkos Kind… Dann waren nur noch zwei kurze, kleine Briefe da, der letzte schon eine Woche alt. Nur ein paar Worte, daß er wie ein Verrückter arbeitete – aber keine Silbe über die Art der Arbeit. Und jetzt – jetzt fuhr er irgendwo im Ausland herum, warum hätte er sich sonst das „D“ an den Wagen angeklebt – mit einer „dollen Biene“. Eine Sekunde fuhr es mir durch den Kopf: Hat er vielleicht Reni nach Hirschbüttel gefahren? Ach, Unsinn, die liebe gute Reni sah bestimmt nicht wie eine dolle Biene aus, jetzt im achten Monat! War es die Frau von Reinhard? Noch unsinniger. Warum sollte Falko mit der Frau eines Freundes losfahren - mit dem „D“ am Wagen? Und überhaupt der Wagen! Wie kam er dazu? Die Gedanken drehten sich wie ein Rad in meinem Kopf. Fragen fügten sich an Fragen, ich sah keine Antwort, keine Erklärung – außer der einzigen: Ich bedeutete nichts mehr für Falko. Er hatte es nicht für notwendig gehalten, mir zu erzählen, daß er einen Wagen hatte! Was wäre das für ein Ereignis, wenn alles zwischen uns so gewesen wäre wie bis jetzt! Neben ihm in diesem Wagen saß eine andere Frau. Eine andere, mit der er ins Ausland fuhr. Eine andere, die er küßte, die Herzklopfen bekam, wenn seine Stimme warm und leise wurde… Oh, diese Frau! Diese unbekannte Frau! Ich hätte sie erwürgen können! Nein, halt! Jetzt war ich ungerecht. Warum sollte ich diese Frau hassen? Verstehen müßte ich sie, sie, die vielleicht genau dasselbe empfand wie ich diese drei Jahre lang. Verstehen mußte ich sie, unbedingt verstehen, daß sie Falko lieben konnte – und wie ich das verstand! Aber Falko – war das nicht eine Gemeinheit von ihm? Ich stand wieder auf, konnte nicht liegenbleiben. Ich wanderte
auf und ab, auf und ab im Zimmer. Wieso gemein? Man regiert doch nicht sein eigenes Herz. Man setzt sich nicht hin und sagt: „So, nun will ich mich in dieses Mädchen verlieben.“ Die Liebe kommt von alleine, das mußte ich doch wissen! War die Liebe nicht auch in mein Leben getreten, so ganz plötzlich, als ich Falko zum erstenmal traf? So wie seine Liebe in dem Augenblick auch zu mir! Der Augenblick – der Tag, wurde von uns immer gefeiert. Der siebzehnte Oktober. Siebzehnter Oktober – übermorgen. Ein Sonntag, unser Tag! Unser Tag, der nie mehr gefeiert werden sollte. Weil Falko eine andere hatte. Ja – aber er konnte ja nichts dafür! Er hat sich nicht bewußt entschlossen, mich im Stich zu lassen. Was verlangte ich eigentlich von ihm? Daß er mir eine Liebe vormachen sollte, die er gar nicht empfand? Nein, nein, um alles in der Welt, das wollte ich nicht. Sollte er aus Mitleid bei mir bleiben? Nein! Nein! Er sollte das tun, was sein Herz ihm sagte. Man regiert nicht sein eigenes Herz – Jessica, vergiß das nicht, mach es dir klar, Falko hat keine Gemeinheit begangen, er kann nichts dafür, er kann nichts dafür! Er wird mir schreiben, er wird die vorsichtigsten, schonendsten Worte finden – aber er wird mir die Wahrheit sagen. Ich kenne ihn doch! Er wird mich nicht betrügen, er wird mir reinen Wein einschenken. Der siebzehnte Oktober – in der Mensa. Ich saß damals da mit meinem Teller Linsensuppe, das Lokal war voll, überall wurde Linsensuppe gegessen – da kam ein großer, aufgeschossener Junge mit seinem Suppenteller, er suchte einen Platz, ich rückte zur Seite, er nickte und lächelte und bedankte sich – und schon war es geschehen. Als wir die Linsensuppe gegessen hatten, gingen wir zusammen weg. Wir wanderten stundenlang durch das Düsternbrooker Gehölz, wir plauderten und erzählten. Nach einer Stunde gingen wir Hand in Hand, nach einer weiteren Stunde hatten wir uns geküßt. Am nächsten Tag besuchte er mich, wir tranken Kaffee in meiner Bude und waren unsagbar glücklich. Von dem Augenblick an gehörten wir zusammen. Seine Welt war meine Welt, meine Freunde auch seine, meine Zukunft bedeutete
auch seine Zukunft. Wir wollten unser Leben zusammen aufbauen, und unser erster Sohn sollte Richard heißen, nach Falkos Vater… Jetzt saß eine andere Frau neben ihm im Wagen. Aber – vielleicht gab es eine Erklärung. Vielleicht bedeutete es nur – ach, Unsinn! Gut, eine Erklärung dafür, daß er mit einer Frau losgefahren war, gäbe es vielleicht. Aber daß er mir das Auto verschwiegen hatte, das sagte mir doch unbarmherzig deutlich, daß etwas in seinem Leben sich grundlegend geändert hatte. Das Auto ging mich nichts an und alles, was mit dem Auto zusammenhing, sowie seine Begleiterin auf der ersten Fahrt ging mich auch nichts an. Und bis jetzt hatte er sich kaum ein Taschentuch gekauft, ohne daß ich es wußte, hatte keiner Frau „guten Tag“ gesagt, ohne es mir zu erzählen. Ins Ausland gefahren… Ja, aber wie konnte das möglich sein? Am Montag fing doch das Semester wieder an, dann mußte er in Kiel sein. War er vielleicht schnell mit dem Mädchen nach Dänemark gefahren, für ein paar Tage? Oder nach Holland? Am Montag befand er sich ganz bestimmt wieder in Kiel, dann würde er mir schreiben. Lang und ausführlich, schmerzlich ausführlich. Und ich? Was ist mit mir? Ich sollte weiterhin kochen und plätten und mich um meine kleine hilflose Gnädige kümmern, ich sollte Geld sparen und im Frühjahr wieder mit dem Studieren anfangen. Ich sollte in der Mensa essen und Falko sehen, er würde mich kurz grüßen, würde vielleicht sagen: „Hallo, wie geht es dir, Jessi!“ Nein, er würde den Kosenamen nicht mehr gebrauchen. „Jessica“ würde er sagen. Und ich würde durch die bekannten Straßen gehen und vielleicht durch Zufall Falko treffen oder ihn vorbeifahren sehen – mit einem anderen Mädchen neben sich im Wagen. Er würde nicht mehr zu meinem Dasein gehören. Er würde ein Stück Vergangenheit sein. Es war drei Uhr nachts. Ich war wahnsinnig müde, und mein Kopf hämmerte. Richtig, die Tablette von Frau Frisch-Nielsen… Sie lag noch auf dem Tisch. Ich sah sie genauer an, ich kannte die Sorte. Schmerzstillend und beruhigend, kein „Aufputschmittel“. Ich holte mir ein Glas Wasser und schluckte sie. Dann muß ich wohl eingeschlafen sein, denn als der Wecker
brutal läutete, riß er mich aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. Frau Frisch-Nielsen hatte wirklich nicht viel Verstand. Aber sie besaß eine Art Instinkt, und sie merkte wohl, daß etwas mit mir nicht stimmte. Ein paarmal fühlte ich ihren forschenden Blick und nahm mich gewaltig zusammen. Ich wollte keine Fragen riskieren! Die Post brachte mir einen Brief von den Eltern. Sie kämpften weiter um ihre Existenz. Der Sommer war gut gewesen, jetzt merkten sie einen kleinen Rückgang, aber hofften, daß die Vorweihnachtszeit wieder geschäftlichen Aufschwung bringen würde. Wieder fanden sie so liebe Worte, wieder bedankten sie sich dafür, daß ich es damals „so großartig“ aufgenommen hatte. Von wegen großartig! Sie hätten mich sehen sollen, wie ich heulend dasaß, bis Reni kam und mir Mut zusprach, das gesegnete Telegramm verfaßte und abschickte! Sie waren sehr froh, weil ich so eisern Geld sparte, daß ich mindestens zwei Semester allein schaffen konnte – ohne den Monatswechsel von Vati. Ja, das würde ich schaffen. Mein guter, strebsamer Vater sollte mindestens zwei Semester, vielleicht drei oder vier von dieser Verpflichtung frei sein. Ich steckte den Brief in die Tasche und fing mit dem Mittagkochen an. Dann läutete das Telefon, Frau Frisch-Nielsen ging hin und führte ein langes Gespräch. Dann erschien sie in der Küche, um mir mitzuteilen, daß sie heute abend mit ihrem Mann eingeladen sei. Das bedeutete eine große Erleichterung. Ich fühlte mich so elend und freute mich darauf, entspannen zu können, vielleicht auch zu heulen, ohne zu riskieren, dabei erwischt zu werden. Und diese Gelegenheit nahm ich auch wahr. Ich saß abends in meinem Zimmer und weinte mich aus, weinte hemmungslos, weinte, bis ich nicht mehr konnte. Dann ging ich „klauen“. Ich wußte, wo Frau Frisch-Nielsen ihre Medikamente hatte. Ich suchte und fand eine Schlaftablette. Und sie wirkte großartig – wahrscheinlich, weil ich die erste meines Lebens nahm. Ich wußte kaum, wo ich mich befand, als ich Sonntag früh aufwachte. Es war sechs Uhr, ich hatte den Wecker gestern nicht abgestellt, und er klingelte zu gewohnter Stunde. Jetzt kamen wieder die schrecklichen Gedanken, all das Grübeln. Ich hielt es nicht aus, ich mußte etwas tun, mußte mich beschäftigen. Schnell das Frühstück machen, das Sonntagessen mit Zeitschalter in
den Ofen, dann weg, weg von allen forschenden Blicken und eventuellen Fragen. So schnell wie möglich in den geliebten Zoo, Bernadette Grather und ihre Familie treffen, für ein paar Stunden auf andere Gedanken kommen. Am letzten Sonntag war ich gar nicht in den Zoo gegangen. Frau Grather hatte mich angerufen, sie sei mit Mann und Kindern übers Wochenende eingeladen, wir müßten unser nächstes Treffen um eine Woche verschieben. Dann ging ich ins Städelsche Kunstinstitut und nachher ins Goethehaus – hatte also „etwas für die Bildung getan“, wie Vati immer sagt. Ich trank eine Tasse Kaffee, konnte aber nichts essen. Wenn es so weiterging, würde ich recht bald meine Besenstiellinie wieder bekommen. Aber ich brachte es tatsächlich nicht fertig zu essen. Vielleicht später, mit Familie Grather zusammen… Ich stand am Küchentisch und füllte Marmelade in zwei Näpfchen für den Frühstückstisch. Ich war müde, hoffnungslos und verzweifelt. Es schien mir, als könnte ich nie in meinem Leben mehr froh werden. Dann schrak ich zusammen. Es hatte geklingelt. Ein Blick auf die Klingeltafel zeigte mir, daß es weder aus dem Schlafzimmer noch von der Wohnungstür kam. Es war die Klingel der Hintertür. Wer in aller Welt – jetzt, halb sieben an einem Sonntag? Gut, aufmachen durfte ich schon. Einbrecher klingeln ja gewöhnlich nicht. Ich legte den Marmeladenlöffel weg, glättete schnell die Haare und ging zur Tür, nahm die Sicherheitskette weg und öffnete. Da stand ein Mann. Ein großer, schlanker Mann. Er streckte mir beide Arme entgegen, seine Augen strahlten, und über seine Lippen kam ein einziges Wort: „Jessilein!“ Mein Herz machte einen Purzelbaum – ich japste nach Luft-, und in der nächsten Sekunde war ich in Falkos Armen.
Liebesglück Wie wir überhaupt dazu kamen, ein Gespräch zu führen, weiß ich nicht. Die ersten Minuten bildeten solch ein Durcheinander, daß ich sie einfach nicht wiedergeben kann. Mein Gedächtnis funktioniert erst von dem Augenblick an, wo ich mich wieder in der Küche befand, Falko auf einem Küchenstuhl saß – mit mir auf dem Schoß, eifrig damit beschäftigt, meine kullernden Tränen wegzuwischen und wegzuküssen. „Falko – ich kann es nicht glauben – ich kann es einfach nicht glauben – nach diesen schrecklichen Tagen. Falko, mein Einziger – bedeutet dies, daß du mich noch liebhast?“ „Noch liebhabe… Jessilein, hast du Fieber? Hast du einen Sonnenstich?“ „Nein, einen – einen Bienenstich!“ Dann mußte ich doch lachen. „Ich glaube, du mißt am besten Temperatur!“ „Nein, Falko, ich habe kein Fieber – aber… aber… du bist ja mit einer flotten Biene losgefahren, das sagten sie an deiner Tankstelle, und…“ „Ach, du heiliger Strohsack! Die arme Sabine – also nicht Biene, sondern Sabine – Reinhards Frau! Ja, das stimmt schon, mit der bin ich losgefahren, und das ist eine unbeschreiblich traurige Geschichte, die erzähle ich dir noch. Aber zuerst das Wichtigste: Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht!“ „Mir? Aber Liebster, ich habe doch nicht Geburtstag!“ „Von wegen Geburtstag! Es ist der siebzehnte Oktober, mein Schatz. Der Tag ist viel wichtiger als alle Geburtstage. Komm, geh mal zum Fenster, siehst du, was da vor dem Haus steht?“ Ich blinzelte die letzten Tränen weg und guckte hinaus. Da stand ein Auto, ein hübsches kleines sportlich aussehendes Auto in einem leuchtenden Gelb. „Falko – ist das der Sportwagen, in dem du mit der Sabine-Biene unterwegs warst?“ „Genau!“ „Falko – gehört er dir? Ist es dein eigener Wagen?“ „Nein, mein Schatz! Er gehört dir. Ich habe ihn selbst, allerdings mit Reinhards tatkräftiger Hilfe zusammengebastelt – aus lauter Teilen vom Autofriedhof. Die Räder sind von drei verschiedenen Volkswagen, drin ist ein Fiatmotor, Gang und Bremse aus einem
kleinen Opel – und der Aschenbecher ist sogar aus einem Mercedes! Und die Karosserie…“ „Falko, hör auf, ich kapiere es doch nicht! Bedeutet es, daß du Tag und Nacht gearbeitet hast, um mir einen Wagen schenken zu können?“ „Klar! Ich habe geschuftet wie ein Kuli! Dafür kostet mich das Ding nur ein paar hundert Mark, du kannst es also ruhig annehmen.“ „Aber, Falko – ich und Auto fahren! Seit beinahe vier Jahren habe ich kein Steuer mehr angefaßt, und damals fuhr ich nur Vatis Lieferwagen in Birkendorf! Soll ich mich in den Frankfurter Verkehr wagen?“ „Es ist nicht schlimmer für dich als für andere! Freust du dich denn nicht?“ „Und ob ich mich freue! Ich bin ja so überwältigt, daß… daß… Aber, Falko, weißt du was? In einem halben Jahr bin ich wieder in Kiel. Nimm jetzt den Wagen mit, benutze ihn dieses halbe Jahr – aber nicht für andere Bienen, wenn ich bitten darf! Und wenn ich dann zurückkomme, mache ich meine ersten Übungstouren mit dir! Wirklich, Falko, es ist mir viel lieber so. Und dann habe ich noch einen extra Grund, mich auf Kiel und die Studien zu freuen!“ „Nun ja“, gab Falko zögernd nach, „wenn es dir so am liebsten ist – ich wollte ja sonst heute abend mit dem Nachtzug zurück. Aber dann fahre ich eben mit dem Wagen. Sag mir, wann kannst du hier weg? Du hast doch Ausgang?“ „Klar, ich muß nur eben diese beiden Kochtöpfe in den Backofen stellen und noch ein paar Sachen auf den Frühstückstisch. Hier, Falko, mach uns ein paar Brote zurecht, da ist Marmelade, und im Kühlschrank findest du Käse und Wurst, dann mache ich uns eine Tasse Kaffee, bevor wir lossausen.“ „So“, sagte Falko. „Du gehörst also zu den bekannten Minnas, die den Schatz in der Küche hinter dem Rücken der Gnädigen verköstigen?“ „Einmal ist keinmal, und dies ist das erstemal“, beruhigte ich ihn. „Außerdem braucht die Gnädige mich sonntags nie zu verköstigen, dann bin ich immer den ganzen Tag weg. Und wenn es dich beruhigen kann, dann erkläre ich feierlich, daß ich dies der Gnädigen beichten werde.“ „Na, dann ist es ja gut“, meinte Falko und schnitt zwei solide Scheiben von der Salamiwurst ab. Kurz danach gingen wir mit unserem Kaffeetablett in mein
Zimmer. Während wir aßen, bekam ich in kurzen Zügen die traurige Geschichte von der „Sabine-Biene“ zu hören. Falko hatte sich schon im Frühjahr mit dem netten Reinhard befreundet. Reinhard besaß einen großen Wunsch, sein Abitur zu machen. Er hatte die Tochter eines Schweizer Arztes geheiratet und wollte nun gern als Schwiegersohn eines Arztes ein bißchen mehr werden als Automechaniker. Falko hatte ihm geholfen, so daß er in seinem Abendkurs recht gut mitkam. Dann mußte er aber zur Bundeswehr. Daß seine Ausbildung unterbrochen wurde, war natürlich wenig erfreulich. Aber eine andere Sache war viel schlimmer. Aus lauter Verzweiflung hatte er sie Falko erzählt. Seine hübsche, kleine Sabine hatte sich wohl gelangweilt während all der Abendstunden, wenn sie allein war. Reinhard wußte nicht so richtig, was sie trieb. Bis er zu seinem grenzenlosen Entsetzen erfuhr, daß sie in einen „Hasch-Kreis“ hineingeraten war. Er hatte sie angefleht, erklärt, gedroht, gebettelt – sie wollte nicht einsehen, was das bedeutete. Sie könne jederzeit aufhören, sie sei gar nicht süchtig, antwortete sie immer. So ging es eine Zeit. Dann merkte Reinhard eine seltsame Veränderung an seiner Frau. Er kannte sich nicht aus mit Rauschgiften, kannte die Wirkung nicht, es war ihm nicht klar, was dahintersteckte, wenn seine Sabine so komisch müde wurde, ihre Arbeit vernachlässigte und manchmal wie im Traum umherwanderte – mit einem weltfremden kleinen Lächeln um den Mund. Dann kam er eines Tages unverhofft nach Hause – und fand seine Frau im Bett, mit einer leeren Spritze auf dem Nachttisch. „Das geschah vor einer Woche“, erzählte Falko. „Reinhard kam zu mir, erstens weil wir gute Freunde sind, zweitens weil ich Mediziner bin. Er war vollkommen außer sich vor Verzweiflung – und jetzt, gerade jetzt mußte er sie verlassen!“ Dann hatte Falko mit Sabine geredet, als sie zwischen zwei Spritzen so einigermaßen ansprechbar war. Sie hatte jedenfalls verstanden, daß Falko ihr helfen wollte, sie sagte: „Ja, du hast wohl recht“, als er erklärte, daß sie jetzt im Begriff sei, ihr eigenes Leben zu zerstören. Dann fing sie an zu weinen und jammerte: „Und Reinhard fährt weg, und ich bin allein, und Mutti und Vati sind so weit weg.“ Dann hatte Falko kurz und bündig erklärt, er würde sie zu ihren Eltern bringen. Dort war sie gut aufgehoben, und ihr Vater, der selbst Arzt ist, würde ihr helfen können.
„Ich kann es Vati nicht erzählen“, winselte Sabine. „Vati und Mutti dürfen es nicht wissen…“ „Überlaß es mir“, hatte Falko gesagt. „Du brauchst jetzt dringend Hilfe, Sabine, noch kannst du gerettet werden, dies geht um dein Leben, verstehst du das?“ So gelang es ihm und Reinhard, Sabine zu überzeugen. Falko fuhr mit ihr los – hatte sich schnell eine grüne Versicherungskarte besorgt, und am Donnerstag – einen Tag vor meinem Anruf – kam er in aller Herrgottsfrühe an „seiner“ Tankstelle vorbei, um sich ein DSchild zu holen. Das also bedeutete die Auslandsreise! Und das war die flotte Biene! Soviel erzählte Falko, während wir frühstückten. Inzwischen war es acht Uhr geworden. Ich zog mich schnell um, dann wollten wir losgehen. Als wir aus meinem Zimmer kamen, wurde gerade die Tür zum Schlafzimmer aufgemacht, und vor uns stand die Gnädige in einem Hauch von rosa Neglige. „Oh!“ rief sie, als sie Falko erblickte. „Guten Morgen, gnädige Frau!“ sagte ich strahlend und glücklich. „Der Tisch ist gedeckt, und das Mittagessen steht im Backofen mit Zeitschalter. Ich gehe dann, ich habe gerade Besuch von meinem Verlobten bekommen, er muß heute abend zurück, und wir wollen uns einen schönen Tag machen!“ „Oh!“ sagte die Gnädige noch einmal. Dann wanderte sie zur Badezimmertür, aber es dauerte etwas, bevor sie diese öffnete. Ich hatte das Gefühl, daß hinter unserem Rücken eine rosa Gestalt uns nachblickte, als wir die Treppe hinuntergingen. Es war ein sagenhaft schönes Gefühl, neben Falko in seinem eigenen Wagen zu sitzen! In unserem Wagen! Wir fuhren durch den schönen, kühlen Herbstmorgen, kamen über eine Mainbrücke, die Sonnenstrahlen spielten mit den kleinen Wellen im Fluß. Dann befanden wir uns in der Stadt, und ich erklärte Falko, wie er zum Zoo fahren mußte. Erstens hatte ich sehr viel Lust, Falko meine reizende neue Bekanntschaft vorzuführen, zweitens mußte ich ja Frau Grather Bescheid sagen, daß ich heute nicht zum Mittagessen zu ihr kommen würde. Was hatte Elaine gesagt? Die Giraffengazellen seien die
Lieblingstiere ihres Vaters. Also wußte ich genau, wo ich Familie Grather finden würde! Da standen sie vor dem Außengehege. Bei diesem schönen Wetter dürften die herrlichen Tiere draußen sein. Jetzt konnte man noch besser die Schönheit und die Anmut dieser Tiere erkennen. Da stand Frau Grather mit Sohn Marcus in der Sportkarre, daneben Elaine und hielt die Hand eines blonden, kräftigen Mannes. „Und weißt du, Vati, wenn Jessica kommt, dann können wir…“ „Was können wir dann, Elaine?“ fragte ich hinter ihrem Rücken. Sie drehte sich schnell wie ein Kreisel um. „O Jessica, das ist aber fein! Weißt du, ich wollte gerade sagen, daß wir zu den Schwarzpinseläffchen gehen müssen, das Weibchen hat ganz bestimmt jetzt geworfen, du, die Kinder sind noch kleiner als die von den Kaiserschnurrbarttamarins, und…“ „Elaine, mach eine Pause!“ ertönte die energische Stimme ihres Vaters. Er löste seine Hand von der Elaines und reichte sie mir. „Sehr nett, Sie kennenzulernen Fräulein Berner, Elaine hat mir jeden Tag von Ihnen erzählt!“ Ich stellte Falko vor, erzählte, daß er ganz überraschend am Morgen gekommen sei, und dann erbarmten wir uns Elaines. Sie hüpfte vor Ungeduld hin und her, so daß ihr Vater fragte, ob sie mal müßte! Aber sie hatte nur Sehnsucht nach den Schwarzpinseläffchen, also zogen wir alle los. Es gab auch allen Grund dazu. Elaine hatte recht, denn das Weibchen turnte hinter der Glaswand mit zwei daumengroßen, zottigen Kobolden auf dem Rücken herum. Als wir uns dann wieder im Freien befanden und Elaine pausenlos ihren Vater unterhielt, konnte ich Frau Grather erzählen, wie gelungen mein Vorstoß bei Frau Frisch-Nielsen gewesen und wie dankbar ich für ihre – Frau Grathers – guten Ratschläge sei. „Machen Sie nur weiter so!“ Sie nickte strahlend. „Glauben Sie mir, Sie werden noch viele schöne Überraschungen erleben!“ Dann sprachen wir von der heutigen Überraschung, und ich erzählte von Falkos phantastischem Geschenk, dem selbstgebastelten Auto. „Das ich selbst heute abend entführe!“ Falko lächelte. „Morgen früh muß ich in Kiel sein, ich muß die Nacht durchfahren.“ „Was? Nur für einen Tag sind Sie hier? Nachdem Sie so viele Monate Ihre Braut nicht gesehen haben? Aber Kinder, dann dürfen Sie nicht diese kostbaren Stunden mit uns vergeuden, Sie haben bestimmt tausend Dinge zu besprechen…“
Herr Grather, der mit seiner plaudernden Tochter ein paar Schritte vor uns ging, hatte anscheinend die letzten Worte gehört. Er drehte sich zu uns um. „Bernadette, hast du ausnahmsweise den Wohnungsschlüssel bei dir?“ „Ich habe ihn immer bei mir, du unverschämter Tyrann!“ „Dann her damit! Meiner ist viel zu solide verankert am Schlüsselbund. Bitte sehr, Jessi – Verzeihung, ich meine Fräulein Berner. Fahren Sie los, machen Sie es sich gemütlich in unserer Wohnung. Wenn Sie Glück haben, finden Sie irgend etwas Eßbares im Kühlschrank…“ „Frikadellen von gestern, Eier und Speck in rauhen Mengen“, rief Bernadette eifrig. „Wir haben ja sowieso vor, den ganzen Tag hier zu bleiben. Eigentlich hatten wir geplant, Sie hier zu einem Hasenbraten einzuladen. Das holen wir ein andermal nach. Falls Sie weggehen, bevor wir da sind, legen Sie den Schlüssel auf die Konsole im Flur, und ziehen Sie die Tür hinter sich zu. Bei dem Programm, das Elaine heute vorhat, werden wir bestimmt erst den Zoo verlassen, wenn wir rausgeschmissen werden. Es ist erst zehn Uhr, Sie haben also viele Stunden zum Plaudern und Hochzeitplanen und Erzählen und Küssen. Also los – ach was, hören Sie mit dem blöden Danken auf, das können Sie ein andermal erledigen!“ Falko starrte das Ehepaar Grather an, sein Gesicht drückte nur ein einziges großes Wundern aus. „Daß es solche Menschen gibt!“ sagte er endlich. „Wir waren auch einmal jung und verliebt“, schmunzelte Asbjörn Grather. „Verliebt sind wir, nebenbei gesagt, immer noch“, behauptete lächelnd seine hübsche kleine Frau. „So, jetzt gehen wir zu dem großen Gorilla…“ „…und Sie zu unserer Villa“, reimte Asbjörn Grather, winkte uns zu und verschwand mit seiner glücklichen kleinen Familie.
Falko und ich Falko blieb stehen und schaute sich in dem hübschen Wohnzimmer um. Die Herbstsonne strahlte durch die Fenster, auf den Fensterbrettern leuchteten bunte Topfpflanzen. Die Möbel waren schlicht und geschmackvoll. Hier und da sah man kleine Erinnerungsstücke ihrer Geburtsländer: eine schöne Zinnschale, einen handgewebten Läufer mit matten Pflanzenfarben, eine alte Truhe mit Rosenmuster und der Jahreszahl 1802. „Solch ein Zuhause möchte ich auch haben“, meinte Falko. „Dann müssen wir unsere Hochzeitsreise nach Norwegen machen und dort einkaufen“, erklärte ich. Falko zog mich an sich und küßte mich. Dann setzten wir uns auf das Sofa. „Nun erzähle“, sagte Falko. „Warum du so unglücklich warst, als du von der ,flotten Biene’ hörtest? Du dachtest doch nicht etwa, daß ich…“ Ich vergrub mein Gesicht an seiner Brust, wagte nicht, ihm in die Augen zu sehen. „Doch – ich – ich war so dumm, Falko… Du hattest in der letzten Zeit so selten und so kurz geschrieben…“ „Ist das ein Wunder, wenn ich die halben Nächte an dem Auto bastelte?“ „Nein, Liebster, es ist kein Wunder, aber ich wußte es ja nicht. Und als dieser Jüngling mir erzählte, du hättest einen Wagen…“ „Ja, aber kamst du nicht auf den Gedanken, daß es eine Überraschung für dich sein sollte?“ „Nein… denn… du hast mir ja sonst immer alles erzählt. -Ja, und dann diese flotte Biene! Ich weiß nur zu gut, daß ich durchaus nicht ,flott’ bin, und es ist weiß Gott keine Kunst, ein hübscheres Mädchen zu finden. Schließlich kommt es ja vor, daß ein junger Mann eine andere liebgewinnt…“ „Es kommt auch vor, daß ein junger Mann seine mißtrauische Braut übers Knie legt, wenn sie ihn zu tief gekränkt hat“, erwiderte Falko. „Jessilein, wie konntest du bloß? Dein erster Gedanke müßte doch sein: ,Ach, was hat er nun vor, das wird er mir bestimmt in dem nächsten Brief erzählen.’ Der allerletzte Gedanke dürfte erst das sein, daß ich dich vielleicht betrüge!“
„Ja, Falko“, flüsterte ich beschämt. „Du hast recht! Aber das, was ich in den letzten zwei Tagen gelitten habe, ist wirklich Strafe genug.“ „Mein armes, kleines, dummes Mädchen! Siehst du Jessilein, wenn zwei Menschen sich wirklich lieben, dann muß das gegenseitige Vertrauen so bombenfest sein, so unerschütterlich, daß nichts daran rütteln kann! Wenn ich zu wissen bekäme, du hättest mit einem bildschönen Jüngling in einem Hotel übernachtet, dann würde ich mich wundern, aber seelenruhig deine Erklärung abwarten. Vielleicht wäre es dein Vater, der eine Verjüngungskur durchgemacht hat, oder dein zehnjähriger Vetter, der Wachstumshormone bekommen hätte… Nur eins würde ich nie denken: daß du mir untreu wärst!“ „Falko…“, flüsterte ich. „Ich schäme mich so furchtbar. Du glaubst gar nicht, wie ich mich schäme- und trotzdem bin ich so glücklich! Denn jetzt weiß ich, daß ich alles auf der Welt ertragen kann, wenn ich dich bloß habe, wenn ich weiß, daß du mich liebst. Dann kann es gar nichts geben, womit ich nicht fertig werde. Falko, du weißt ja nicht, wie unsagbar lieb ich dich habe!“ „Mein Mädelchen“, flüsterte Falko, die Lippen dicht an meinem Ohr. „Ich habe mich so wahnsinnig nach dir gesehnt, meine Jessilein, mein einziges, geliebtes Mädchen…“ Erst nachdem wir die Gratherschen Frikadellen aufgegessen hatten und beim Kaffee saßen, kam Falko dazu, die näheren Einzelheiten über seine denkwürdige Fahrt mit der „Sabine-Biene“ (sie hatte jetzt ihren Namen weg!) zu erzählen. „Es war ein Alptraum“, gestand er. „Die erste Stunde benahm sie sich manierlich. Sie saß nur da und weinte ein bißchen vor sich hin, und ich versuchte, ihr gut zuzureden. Aber dann wurde sie unruhig und fing an, in ihrer Handtasche zu wühlen. Und das mitten auf der Autobahn! Also hieß es, bei der ersten Gelegenheit anzuhalten und ihr mit Gewalt die Handtasche wegzunehmen. War das vielleicht ein Theater! Zuletzt versprach ich ihr eine sehr schöne Tablette, wenn sie noch zwei Stunden vernünftig sei. Sie bettelte, und sie drohte, einmal versuchte sie sogar, die Bremse zu ziehen. Da wurde mir klar, daß etwas geschehen mußte. Ich gab ihr die Tablette und sagte, sie würde Opium enthalten, was eine glatte Lüge war. Es handelte sich um eine ganz gewöhnliche Schlaftablette! Dann hatte ich vier Stunden Ruhe, ich steckte ihr ein Kissen unter den Nacken, und sie schlief fest. Ich raste los, so schnell, wie der Wagen es nur schaffte
und wie ich es verantworten konnte. Als sie dann aufwachte, behauptete sie, zur Toilette gehen zu müssen. Also hielt ich bei einer Raststätte an. Sie verschwand und kam nicht wieder. Dann ging das Gesuche los. Ich fand sie endlich hinter einem Lieferwagen auf dem Parkplatz, da stand sie im Gespräch mit einem verdächtig aussehenden Mann und kratzte ihr Geld zusammen. Weiß der Himmel, wie sie den Kerl gefunden hat und woher sie wußte, daß er ,Stoff' besaß. Na, ich werde dir die weiteren Einzelheiten ersparen! Nur wir schafften es an einem Tag nicht. Ich steckte sie in ein Zimmer in einem Motel, gab ihr noch eine Schlaftablette in die Hand und ließ sie sicherheitshalber eine mikroskopische Menge von dem Haschzeug, das sie sich erhandelt hatte, behalten. In der Rezeption erklärte ich, die Dame sei sehr müde und überanstrengt nach einer Krankheit – was insofern stimmen durfte! Dann ging ich zurück auf den Parkplatz und schlief im Wagen. Am folgenden Tag mußte ich wieder ein paar Körnchen Hasch rausrücken. Ja, das klingt furchtbar, aber es wäre zu gefährlich gewesen, ein ganz verrücktes Frauenzimmer neben sich im Auto zu haben. Und du weißt ja, ein süchtiger Mensch kann nicht von heut auf morgen geheilt werden, nur schrittweise. Dann kamen wir endlich am Freitag an. Die Eltern hatten uns erwartet, Reinhard hatte ihnen geschrieben, daß Sabine sie besuchen würde, und ein Freund von ihm würde sie hinbringen. Ich log etwas zusammen, daß das arme Töchterlein so furchtbare Kopfschmerzen hätte. Nun, die Mutter brachte Sabine ins Bett, und dann stand mir das Furchtbare bevor, dem armen Vater die Wahrheit zu sagen. Es war schrecklich, Jessi! Zuerst war er vollkommen erschlagen. Dann handelte er. Er rief einen Kollegen an, der bereit war, die Patienten für diesen Nachmittag zu übernehmen. Der Mann ist ja ein vielbeschäftigter Arzt, und wir trafen gerade bei seiner Mittagspause ein. Ja, und dann fragte er mich sehr genau, seit wann und was Sabine genommen und gespritzt hätte. Ich sage dir, Jessi, es war ein furchtbares Zeug, was sie sich direkt in die Vene gejagt hatte! Daß sie nicht eine Blutvergiftung bekommen hat, ist mir schleierhaft. Nun ja, ich habe dann dort übernachtet und schlief vierzehn Stunden ununterbrochen! Gestern bat die Mutter mich um ein Gespräch, dann mußte ich zu Sabine, die noch im Bett lag. Sie wollte allein mit mir sprechen, das heißt, sie bettelte wieder um ,Stoff'. Aber den Rest von dem, was sie unterwegs erstanden hatte, hatte ich
nun ihrem Vater gegeben. Jessi, wenn du wüßtest wie so etwas einen hübschen, netten jungen Menschen zerstören kann! Wenn du das heulende, weinende, häßliche Weibsbild gesehen hättest, die nach Gift schrie – das hübsche Gesicht sah grau und zerfurcht aus, die Augen matt und gerötet, die Haare zerzaust! Sie krallte sich an meinen Arm, sie versprach mir goldene Berge, sie bot sich an, meine Geliebte zu werden. Zuletzt schlug und kratzte sie mich. Jessi, ich glaube, das ist das größte Unglück, das einen Menschen treffen kann. Sabine war vorher hübsch und nett, eine reizende kleine Hausfrau, es war immer so gemütlich bei ihr und Reinhard gewesen. Und was ist sie jetzt? Sie hatte allerdings behauptet, sie sei nicht süchtig, sie könne jederzeit aufhören, aber sie kann es nicht! Sie ist überaus süchtig. Und was die armen Eltern jetzt aufbringen müssen an Geduld, Liebe und medizinischer Kunst, ja, daran wage ich nicht zu denken. Es war unbeschreiblich schön, als ich mich gestern in den Wagen setzen und all das Häßliche hinter mir lassen könnte. Die armen Eltern, sie haben sich so rührend bei mir bedankt – dabei hatte ich ihnen kein Wort über die Fahrt erzählt! Die Mutter sah um etliche Jahre älter aus, der Vater war blaß, aber beherrscht. Aber dann wird man Egoist, man guckt auf die Uhr und weiß, daß man in sechzehn Stunden sein eigenes, gesundes, gutes, liebes Mädchen in den Armen halten wird. Man denkt immer weniger an die Sorgen anderer Menschen und immer mehr an das eigene Glück!“ „Und dann entpuppt sich das gesunde und gute und liebe Mädchen als ein mißtrauisches, eifersüchtiges Frauenzimmer! Daß du es überhaupt mit mir aushältst, Falko!“ „Und sogar vorhabe, mit dir das ganze Leben auszuhalten!“ flüsterte Falko mit seiner warmen, leisen Stimme. Falko hatte nicht viel geschlafen die letzte Nacht, nur ein paar Stunden im Auto. Ich machte mir Sorgen wegen der weiten Fahrt nach Kiel, und endlich willigte er ein, sich eine Stunde auf die Couch im Wohnzimmer hinzulegen. Er schlief sofort ein, und ich schlich in die Küche, wusch ab und räumte auf. Dann verließen wir die Wohnung. Falko fuhr mich nach Hause. Es war nicht leicht, sich von ihm zu verabschieden. Aber er fand wie immer die richtigen Worte. „Du hast immer gesagt: ,Nur ein Jahr, nur ein Jahr!’, Jessi. Jetzt kannst du sagen: ,Nur ein halbes Jahr!’ Denk daran, mein Schatz! In einem halben Jahr bist du wieder in Kiel, in deiner Bude und bei den
Vorlesungen.“ „…und dem Mensaessen“, ergänzte ich. „Weißt du, Falko, ich sehne mich so zurück, daß ich sogar mit Sentimentalität an das Mensaessen denke!“ „Dann bin ich allerdings überzeugt, daß du dich wirklich sehnst“, Falko lächelte. „Also, mein Mädchen, Kopf hoch, die Halbzeit ist geschafft, du hast viel, viel Geld verdient, es geht vorwärts mit deinen Eltern – und du hast die reizende Frau Grather. Der Teufel sollte Mitleid mit dir haben, du bist ja direkt zu beneiden!“ „Und dabei hast du gar nicht das Wichtigste erwähnt“, sagte ich leise. „Ich habe dich. Ich liebe und werde geliebt. Ich bin ein ganz großer Glückspilz, Falko.“ „Und Autobesitzerin! Vergiß das nicht!“ „Erst in einem halben Jahr! Und dann nur zur Hälfte. Denn der Wagen gehört doch uns beiden.“ „Er ist also der Grundstein von unserer ehelichen Gütergemeinschaft“, erklärte Falko und trat auf die Bremse. Denn jetzt befanden wir uns in „meiner“ Straße vor dem Haus meines Brötchengebers. Fünf Minuten später sah ich den gelben Wagen in Richtung Norden verschwinden. Der schönste Tag, den ich nach einem halben Jahr erlebt hatte, war vorbei. Auf der Konsole in Grathers Wohnung lagen der Wohnungsschlüssel und ein Zettel: „Innigen Dank! Jessica und Falko.“
Nanu? „Aber wenn die Serviette schief reinrutscht?“ fragte Frau FrischNielsen. „Dann lassen Sie den Fußhebel einfach los, die Bügelmulde hebt sich, und Sie können das Wäschestück geradelegen“, erklärte ich und machte es ihr vor. Wir waren beim Heimbügler. Frau Frisch-Nielsen hatte von ihrer Mutter das sorgfältige Handplätten gelernt, aber da 9* „Mutti“ keinen Heimbügler besessen hatte, war es nun meine Aufgabe, sie mit diesem Apparat vertraut zu machen. Nachdem ich das Sesamwort gefunden hatte – „das hätte Ihre Mutter bestimmt gern gehabt“ –, ging es eigentlich gut. Sie hatte zu der Altersstufe zurückgefunden, wo sie damals stehengeblieben war. Bis dahin hatte sie immer etwas von ihren Eltern gelernt. Jetzt lernte sie weiter. Ich brachte ihr wahrhaftig keine schwierigen Dinge bei, eigentlich nur die Handhabung von Apparaten, die Tausende von Frauen mühelos bedienen. Dann fing sie auch zaghaft an, sich fürs Kochen zu interessieren. Eines wurde mir klar: Ich durfte keine höflichen Umschreibungen benutzen, ich mußte sie ganz einfach wie ein Schulkind behandeln und alles sehr direkt zu ihr sagen. Beleidigt war sie nie. Sie fand es völlig richtig, wenn ich anordnete: „So, und nun schlagen Sie das Eiweiß mit dem Handmixer, während die Butter in der Küchenmaschine schaumig gerührt wird!“ – „Stellen Sie bloß sofort den Küchenwecker ein, sonst vergessen Sie es!“ – „Sie müssen gleich die richtige Bratofentemperatur einstellen!“ – und so weiter. Dieser ganze Unterricht hielt mich natürlich erheblich auf in meiner täglichen Arbeit, aber eigentlich machte es mir Spaß. Es schien ja äußerst unsicher zu sein, ob sie eine neue Hausangestellte bekommen würde, wenn ich in einem halben Jahr aufhörte. Ich hatte mir im stillen das Ziel gesetzt, ihr so viel beizubringen, daß sie den Haushalt einigermaßen – mit Frau Brösen als Stütze und Ratgeberin – selbst schaffen würde. Eines Tages erzählte sie mir, daß sie für vierzehn Tage mit ihrem Mann verreisen würde. Er machte eine Geschäftsreise nach Frankreich und England. Sie freute sich wie ein Kind, wühlte ihre Garderobe durch, saß öfter an der Nähmaschine, aber zwischendurch kam sie doch in die Küche, während ich kochte.
An einem Vormittag fand sie mich beim Briefelesen, einen langen, ausführlichen Brief von Falko. „Entschuldigen Sie“, sagte ich und steckte den Brief in die Schürzentasche. „Ich konnte nicht warten, er ist von meinem Verlobten aus Kiel!“ „Ach, aus Kiel kam er!“ Dann sah sie mich einen Augenblick an und fragte: „Er war ja neulich hier, ich habe ihn doch kurz gesehen – wann kam er eigentlich? An dem Abend, als wir weg waren?“ „Aber nein, er kam ganz früh am Sonntagmorgen, kurz vor sieben, und mußte am gleichen Abend wieder zurück! Ach ja, das wollte ich ja beichten, ich habe ihm eine Tasse Kaffee gemacht und ein paar Butterbrote gegeben, ich dachte, da ich doch nie hier sonntags zu Mittag esse…“ „Ja natürlich, das durften Sie doch.“ Sie stand da, sah aus, als ob sie sich etwas überlegte, aber sie fand wohl nicht die richtigen Worte. Dann mußte ich sie bitten, ein bißchen zur Seite zu gehen, sie versperrte mir den Kühlschrank, denn ich hatte das Essen vorzubereiten. Ich zeigte ihr, wie man Bechamelkartoffeln macht, alles war friedlich wie immer, und über Falkos Besuch wurde nicht mehr gesprochen. Der Sonntag kam, ich wurde wieder von Grathers eingeladen, und Frau Grather entschuldigte sich vielmals, sie hätte ein Gericht aus Schweinefleisch gemacht, und der Schlachter hätte ihr so furchtbar fettes Fleisch gegeben, so daß das Gericht nicht so gut geworden wäre, wie es hätte sein sollen. Ich war von jeher sehr empfindlich gegen fettes Essen. Dann geschah das, was ich hatte kommen sehen. Schon auf dem Heimweg wurde mir übel, ich schaffte es gerade noch bis nach Hause, dann rannte ich zur Toilette und mußte furchtbar brechen. Mir ging es nachher zwar besser, aber ich sah wohl ziemlich käsig aus. Der Direktor ging gerade durch die Halle und warf mir einen forschenden Blick zu, ich sagte nur: „Guten Abend!“ und begab mich in mein Zimmer. Der Abreisetag nahte. Sie hatten mir Anweisung gegeben, jeden Abend alle Türen abzuschließen, und wenn ich irgendwelche Fragen hätte, Fräulein Clewe anzurufen. Der Direktor würde mir schreiben, wann sie wieder nach Hause kommen würden. Ich freute mich auf diese Tage, so ganz allein zu sein. Ich hatte mir schon Pläne zurechtgelegt: Ich wollte Familie Grather einladen,
etwas sehr Schönes kochen, mich ein klein bißchen für ihre unsagbare Güte und Gastlichkeit revanchieren. Zwei Tage vor der Abreise saß ich in der Küche mit meiner Strickarbeit. Es waren ein paar Gäste gekommen, ich hatte das Abendessen serviert und wollte noch nicht ins Bett gehen. Vielleicht müßte ich noch Kaffee kochen oder Obst anrichten oder so etwas. Ich hatte es schön und friedlich und ging meinen eigenen Gedanken nach. Falko schrieb mir so unsagbar liebevoll, er zählte die Tage und die Wochen bis zu unserem Wiedersehen. Gestern hatte ich einen Brief von Reni erhalten. Ihr Manfred war wieder da, er arbeitete jetzt in der Frauenklinik, besser könnte es ja gar nicht passen! Denn jetzt sei das Kind in ein paar Wochen zu erwarten. Beide freuten sich ganz schrecklich darauf, und „Muttchen“ konnte gar nicht fassen, daß sie doch endlich Großmutter werden sollte. Lauter liebe, nette Briefe, die mich glücklich machten. Doch der allerbeste war heute von meinen Eltern gekommen: Im Geschäft herrschte Hochbetrieb. Das Geld wanderte nun langsam, aber sicher zurück aufs Sparkonto, sie hatten einen festen, ganz treuen Kundenkreis, außerdem ziemlich viel Laufkundschaft. Kein Zweifel, die erste, schwere Zeit hatten sie hinter sich. Nun fragten sie, ob ich Weihnachten für zwei oder drei Tage nach Hause kommen könnte. Sie sehnten sich nach mir! Ja, ob das sich wohl machen ließe? Ich mußte es in einem geeigneten Augenblick zur Sprache bringen. Wenn ich nun eine ganze Reihe Fertiggerichte in die Tiefkühltruhe stellte und die ganze Weihnachtsbäckerei rechtzeitig besorgte – es müßte ja eigentlich gehen. Und dann müßte ich eben meiner kleinen „Schülerin“ noch ein paar Dinge beibringen… Meine Gedanken liefen mit den Stricknadeln um die Wette. Das Strampelhöschen war gleich fertig. Morgen konnte ich den ganzen Anzug waschen, hübsch verpacken und abschicken. Ach, wie gern hätte ich mich selbst mit eingepackt! Die Tür ging auf. Nein, nicht Frau Frisch-Nielsen trat ein, sondern eine von den sie besuchenden Damen. „Hoffentlich störe ich nicht, Fräulein Jessica?“ Ich stand auf und legte die Strickarbeit auf den Tisch. „Durchaus nicht, gnädige Frau! Kann ich etwas für Sie tun?“ „Ja, wissen Sie…“ Sie machte plötzlich eine Pause, ihre Augen hingen an der Strampelhose auf dem Tisch. „Sie sind so fleißig,
Fräulein Jessica, was für ein hübsches Muster!“ „Finden Sie? Ich habe es mir bei einer Freundin abgeguckt. Ich muß schon fleißig sein, es eilt jetzt!“ Ich dachte an Reni, die kleine, liebe, stupsnäsige Reni, die bald ihr Baby bekommen sollte. „Ach ja, was ich sagen wollte – die Zitronencreme hat so herrlich geschmeckt, könnte ich vielleicht das Rezept bekommen, wenn es kein Geheimnis ist?“ „Nein, es ist kein Geheimnis, ich schreibe es Ihnen sofort ab. Es freut mich, daß es Ihnen geschmeckt hat.“ „Ist sie auch nicht zu gefährlich für die schlanke Linie?“ „Bestimmt nicht! Es ist sehr viel Eiweiß drin, das kurbelt ja den Stoffwechsel an, und man kann die Speise auch mit Süßstoff statt mit Zucker süßen. Ich schreibe es Ihnen gleich auf, gnädige Frau.“ Die Dame bedankte sich und ging – aber von der Tür aus warf sie mir einen so komischen Blick zu. Nanu, was sollte das nun bedeuten? Hatte ich etwas Falsches gesagt? Ach, der „Stoffwechsel“ – klang das ein bißchen zu wissenschaftlich? Wenn nun auch die Gnädige plötzlich daraufkäme, daß auf einem Brief an mich „Cand. med.“ gestanden hatte! Ach wie dumm, das wäre mir gar nicht lieb, wenn sie sich vielleicht dazu verpflichtet fühlen würde, mich anders zu behandeln, weil ich eine viel bessere Ausbildung als sie selbst habe. Ich schrieb das Rezept ab und brachte es der Dame. Als ich ins Zimmer trat, verstummte plötzlich das Gespräch, und der Direktor beeilte sich, etwas Belangloses zu sagen, das gerade deswegen äußerst unnatürlich klang. Kein Zweifel! Sie hatten von mir gesprochen. Verflixt noch mal, dachte ich, als ich zu meiner Küche und meiner Strickarbeit zurückkehrte. Als ich am folgenden Morgen dem Direktor seinen Kaffee und das weichgekochte Ei brachte, räusperte er sich. „Sagen Sie, Fräulein Jessica – ich nehme an, daß Sie nicht allzulange in dieser Stellung bleiben werden?“ Da haben wir den Salat! dachte ich. „Nein, das stimmt schon, Herr Direktor. Aber ich werde die Kündigungsfrist einhalten. Sie bekommen rechtzeitig Bescheid, wenn es soweit ist.“ „Sie hätten uns das gleich sagen müssen, Fräulein Jessica.“ „Ja – das hätte ich vielleicht – aber – ich – ich – offengestanden, Herr Direktor, brauchte ich dringend das Geld. Und wenn ich alles
erzählt hätte, wäre die Situation nur komplizierter geworden. Und vielleicht hätten Sie dann gar nicht… Ach, soll ich rangehen?“ Das Telefon hatte geläutet. Es war Fräulein Clewe. Sie müsse den Direktor ganz dringend sprechen. Er trank im Stehen den letzten Schluck Kaffee, ließ seine hingeworfene Serviette liegen und eilte davon. Na ja, er hatte wohl etwas Wichtiges vergessen, das Gespräch deutete darauf hin. Ich brachte der Gnädigen das Frühstückstablett. Auch sie hatte es eilig. Sie mußte zum Friseur, zur Maniküre, zur Gesichtsmassage und der Himmel weiß zu was noch. Nachmittags wurde gepackt und alles ins Auto verstaut, und die Herrschaften gingen früh ins Bett. Sie wollten am folgenden Morgen gegen sechs starten. Bei dem frühen, eiligen Morgenkaffee wurde nichts gesprochen, jedenfalls kein Wort, das mich anging. Ich half, die letzten Sachen ins Auto zu tragen, die beiden sagten „Auf Wiedersehen“, ich wünschte gute Fahrt und viel Vergnügen – und dann brausten sie los. So! Nun schnell die Wohnung in Ordnung bringen und dann die letzten Reihen vom Strampelanzug stricken, das Ganze waschen und dämpfen, dann packen, Reni schreiben – oh, es war schön, allein zu sein und sich nur um die eigenen Sachen kümmern zu brauchen! Ich hatte gerade die Wohnung und die Küche aufgeräumt, die Betten frisch bezogen, und setzte mich hin. Ausnahmsweise in einen bequemen Sessel im Wohnzimmer – mit meiner Strickarbeit. Da klingelte es an der Tür. Ich warf einen Blick durchs Guckloch, dann nahm ich seelenruhig die Sicherheitskette ab. Draußen stand keine verdächtige Person, es war ihre Unentbehrlichkeit, Fräulein Clewe! „Guten Morgen. Fräulein Clewe, das ist aber eine Überraschung! Wollen Sie etwas holen, oder…“ „Nein, nein, ich komme nur, um mit Ihnen zu sprechen.“ „Mit mir? Ja bitte – darf ich Ihnen etwas anbieten?“ „Nein, vielen Dank! Ich habe einen Auftrag vom Herrn Direktor – ich soll Ihnen etwas ausrichten…“ Fräulein Clewe sah aus, als fühle sie sich nicht so ganz wohl in ihrer Haut. Sie hatte im Wohnzimmer Platz genommen, dann holte sie ein Kuvert aus ihrer Handtasche. Dann glitt ihr Blick über das Strampelhöschen auf dem Tisch. „Ja, also, Fräulein Berner, um es kurz zu machen. Ich soll Ihnen dieses Kuvert überreichen, es enthält ein Monatsgehalt. Der Herr Direktor läßt ausrichten, daß er in Anbetracht der Umstände es
besser fände, wenn – hm – das Arbeitsverhältnis sofort gelöst würde.“ „Was?“ rief ich. „Sofort gelöst – das ist also eine höfliche Umschreibung von ,Machen Sie, daß Sie wegkommen!’ Ja natürlich, ich werde sofort meine Sachen packen, aber können Sie mir verraten, warum?“ „Das müssen Sie sich doch selbst erklären können, Fräulein Berner. Sie wollen doch etwa nicht hierbleiben, bis das Kind da ist?“ „Das Kind? Was für ein… Aber du lieber Himmel, glauben Sie denn, daß ich ein Kind kriege?“ Fräulein Clewe sah wohl, daß mein Entsetzen echt war. Ihre Stimme wurde ein bißchen unsicher, als sie antwortete: „Sie haben es doch gestern früh dem Herrn Direktor gesagt – und daß Sie so dringend das Geld brauchen…“ Ich fiel wie ein Sack in einen Sessel. „Fräulein Clewe! Das ist das größte Mißverständnis des Jahrhunderts! Also, hören Sie gut zu: Ich bekomme kein Kind! Und ich habe etwas ganz anderes gestern gemeint. Ich dachte, der Herr Direktor sei dahintergekommen, daß ich Medizinstudentin bin, hier kam nämlich ein Brief für mich an mit ,Cand. med.’ Und daran dachte ich, als ich sagte, es hätte die Sache nur kompliziert, wenn ich alles erzählt hätte. Aber jetzt muß es ja raus! Ich hatte vor, bis zum Frühjahr hierzubleiben, denn dann hätte ich genug Geld gespart, um in mein siebtes Semester steigen zu können. So, das ist die Wahrheit, und das richten Sie bitte dem Herrn Direktor aus!“ Fräulein Clewe saß da mit halboffenem Mund und aufgesperrten Augen. „Aber dann… ich meine… dann besteht doch kein Anlaß für Sie, aufzuhören – ich schreibe dem Herrn Direktor den Zusammenhang, dann bleiben Sie doch hier!“ „Nein, das kommt nicht in Frage. Würden Sie das vielleicht an meiner Stelle tun? Wenn ich rausgeschmissen werde auf einen bloßen Verdacht hin, der aus der Luft gegriffen…“ „Einen Augenblick, Fräulein Berner! Überlegen Sie es sich, so ganz aus der Luft gegriffen ist es nun auch nicht. Erstens haben Sie selbst mehrmals gesagt, sie hätten so sehr zugenommen…“ „Hab ich auch! Ist das ein Wunder bei dem erstklassigen Essen in diesem Hause? Als ich kam, war ich untergewichtig nach sechs sehr anstrengenden Semestern und einem aufregenden Examen, jetzt habe ich mein Normalgewicht!“ „Dann stricken Sie Babysachen…“
„Tu ich! Bitte sehr, hier sehen Sie es. Es wird heute zu meiner besten Freundin geschickt, sie erwartet nämlich ein Kind! Herrgott, man kann doch wohl auch für andere Babys stricken!“ „Dann fingen Sie plötzlich an zu brechen…“ „Zweimal, ich weiß es genau. Einmal weil ich bei Bekannten ein sehr fettes Essen bekommen hatte und einmal aus reiner Nervosität. Selbst ein Hausmädchen kann persönliche Sorgen haben, die einem auf den Magen schlagen!“ „Aber, Fräulein Berner – dann zeigten Sie ja ganz offen, daß Sie – hm – engere Beziehungen zu einem Mann haben, neulich übernachtete doch Ihr Freund bei Ihnen…“ „Moment mal! Mein Freund ist mein Verlobter, dies nebenbei gesagt. Und er kreuzte um sieben Uhr morgens hier auf, nachdem er die Nacht durchgefahren war, um mich kurz zu besuchen. Wir haben in meinem Zimmer gefrühstückt, ich habe der gnädigen Frau gebeichtet, daß ich etwas Kaffee und ein paar Brote zurechtmachte. Dann gingen wir in den Zoo, und abends fuhr er zurück. So, dies ist der Zusammenhang. Haben Sie noch mehr Beweise?“ Fräulein Clewe sah mich an, schwieg einen Augenblick, und dann sprach sie langsam und wohlüberlegt: „Ich verstehe, daß Sie empört sind, Fräulein Berner. Aber versuchen Sie doch, gerecht zu sein. Was würden Sie denken, falls Sie ein junges Mädchen im Haus hätten und dieses Mädchen erstens auffällig zunähme, dann zu brechen anfinge, dann Babysachen strickte – mit der Begründung, es sei jetzt eilig? Ein Mädchen, das am frühen Morgen mit einem Mann aus dem Schlafzimmer kommt und zu guter Letzt zugibt, sie wäre nicht offen zu ihrem Brotgeber gewesen, sie hätte ihm etwas verheimlicht und hätte im voraus gewußt, sie könne nur für eine beschränkte Zeit im Hause bleiben! Natürlich ist alles ein Mißverständnis, das sehe ich jetzt ein, aber es ist ein erklärliches Mißverständnis – Herrgott, haben Sie denn nie in Ihrem Leben eine Lage mißverstanden?“ Die letzten Worte trafen mich wie ein Hieb. „Doch“, sagte ich leise. „Das habe ich. Und ob ich das habe!“ „Dann müssen Sie doch eigentlich verstehen, daß es auch anderen Menschen passieren kann.“ Ich schwieg eine Weile. Was ich damals über Falko und seine „flotte Biene“ gedacht hatte, war viel gemeiner, tausendmal unberechtigter als dies hier. Wenn Falko, der allen Grund gehabt hätte, tief gekränkt zu sein, mir doch sofort verzieh, sollte ich denn
dies nicht auch verzeihen können? Warum war ich eigentlich wütend? Es stimmte ja, die „Indizien“ hatten sich gehäuft! Vielleicht war es gar nicht verwunderlich, daß sie glauben und denken mußten… Ich richtete den Blick auf Fräulein Clewe. „Sie haben recht“, erklärte ich. „Eigentlich kann ich verstehen, daß Sie es glaubten. Und es ist dumm von mir, deswegen empört zu sein. Aber bleiben kann ich nicht. Man hat mich gebeten, das Haus zu verlassen, und das tue ich.“ „Wie schade!“ sagte Fräulein Clewe. „Was machen Sie nun, wenn ich fragen darf? Bleiben Sie noch in Frankfurt?“ „Es ist möglich“, sagte ich. Denn in diesem Augenblick fing ein Plan an, in meinem Kopf feste Formen anzunehmen. „Es ist sogar sehr wahrscheinlich.“ „Ich möchte Sie darum bitten, mir Ihre Adresse zu geben!“ „Mache ich.“ Sie guckte mich an, dann lächelte sie. „Wissen Sie, was Frau Frisch-Nielsen gestern sagte? Sie war bei uns im Büro, und diese Sache wurde dort besprochen. Der Direktor hat das Ganze sehr bedauert, denn er hat Sie doch so gern im Haus gehabt. Und seine Frau saß da mit feuchten Augen und zitterndem Mund wie ein kleines Kind, und dann sagte sie…“ „… und dabei hat Jessica mir die Nähmaschine erklärt, und ich kann jetzt den Geschirrspüler benutzen“, unterbrach ich sie. „Iwo! Sie sagte nur: ,Und sie ist die erste, die mich immer gnädige Frau genannt hat!’“ Ich mußte lachen, und dabei fühlte ich mich gerührt. Und ich dachte an dieses kleine, hilflose, kindliche Wesen, dem ich vielleicht hätte weiterhelfen können. Wir blieben noch eine Weile sitzen. Ich machte uns eine Tasse Tee, und Fräulein Clewe sprach sehr offen mit mir. Sie war es gewohnt, den verschiedenen Hausgehilfinnen beistehen zu müssen – „denken Sie an das Rinderfilet, Fräulein Berner!“ –, und sie wußte nur zu gut, wie schwierig es ist, mit dem kleinen blonden Starrkopf auszukommen. „Wissen Sie“, sagte ich langsam. „Eigentlich ist sie gar kein Starrkopf, nicht von Natur aus. Im Gegenteil! Wenn man die richtigen Worte findet, läßt sie sich gern leiten. Ich habe versucht, an dem Punkt weiterzumachen, an dem sie als Teenager stehengeblieben ist. Ich fing an, von ihren Eltern zu sprechen und
von dem, was sie von ihnen gelernt hatte! Und dann ging es! Ich sprach von den Nähkünsten ihrer Mutter, und dann horchte sie auf. Jetzt hätten Sie sie sehen sollen, wie sie ihre komplizierte Nähmaschine behandelt, mit Zierstichen und Knopflochschablonen, mit Faltenleger und Zickzackstichen und was es noch alles gibt! Sie stapelt das Geschirr richtig in den Geschirrspüler und schließt ihn korrekt an, sie benutzt die Küchenmaschine und kann mit dem Heimbügler umgehen. Jetzt hatte sie gerade angefangen, sich fürs Kochen zu interessieren, und das tat offengestanden not!“ „Wem sagen Sie das!“ seufzte Fräulein Clewe. „Ihr Kochen bestand darin, daß sie ein fertig gebratenes Huhn oder eine Dose Würstchen kaufte. Ich habe einmal hier gegessen, als sie allein wirtschaftete. Nachher begriff ich, warum der Herr Direktor immer in der Stadt ein solides Mittagessen aß. Bis also Sie kamen.“ „Aber wissen Sie – der Herr Direktor tut nun auch gar nichts, um seine Frau anzuspornen! Er ist wahnsinnig lieb zu ihr und großer Kavalier. Aber er verlangt ja nichts, einfach nichts von ihr! Manchmal habe ich das Gefühl, daß er sie so behandelt, wie er einen süßen, kleinen, anhänglichen Hund behandeln würde!“ „Ist sie denn mehr als das?“ fragte Fräulein Clewe. Plötzlich hatte sie einen anderen Ton, es lag eine gewisse Härte darin. „Ein klein bißchen mehr ist sie schon“, meinte ich. „Sehen Sie, ich meine, daß ein Mann, wenn er ein so junges Mädchen heiratet, gewisse Verpflichtungen hat. Er hätte doch mit ihr sprechen müssen, hätte sie ein paar Sachen lehren sollen – man darf nicht aus einem Menschen nur ein süßes Spielzeug machen!“ Ich konnte nicht begreifen, warum eine Röte in Fräulein Clewes Gesicht stieg. Sie nahm einen Schluck Tee und erklärte: „Es gibt eben Menschen, die zu Spielzeug geschaffen sind. Und es gibt Männer, die nicht mehr als ein solches süßes Spielzeug brauchen, weil sie Freunde oder Freundinnen haben, mit denen sie alle Interessen teilen können, zu denen sie volles Vertrauen haben, zu denen sie mit allen Sorgen kommen können.“ Sie brach jäh ab, aber sie hatte genug gesagt. Jetzt wurde mir die Situation plötzlich klar. So eine Form des Ehebetrugs gibt es auch! Die uralten Witze über den Chef und die reizende junge Sekretärin könnten auch umgedreht werden. Es gibt auch kluge, tüchtige, hilfsbereite Sekretärinnen, die sozusagen mit süßen, kleinen, nichtssagenden Ehefrauen „betrogen“ werden. Einer solchen Sekretärin wäre es durchaus nicht recht, daß die
Ehefrau etwas dazulernte, daß sie in Gebiete eindringen würde, welche die Sekretärin für sich vorbehalten sehen möchte. Ich stand auf. Jetzt hatte ich etwas gegen Fräulein Clewe. Ich hatte keine Lust mehr, mich weiter mit ihr zu unterhalten. „Ich packe dann schnell, Fräulein Clewe. Ich nehme an, ich soll Ihnen meinen Schlüssel überlassen?“ „Ja, so hat es der Herr Direktor angeordnet.“ Ich spülte blitzschnell die Teetassen ab, dann lief ich nach oben und packte in Windeseile. Diese ganze unangenehme Geschichte wollte ich so schnell wie möglich hinter mich bringen. Mit gefülltem Koffer und praller Flugtasche, Handtasche, Schirm und zweitem Mantel kam ich nach unten. „Ich habe meinen kleinen Wagen vor der Tür“, sagte Fräulein Clewe. „Sagen Sie bloß, wo ich Sie hinfahren soll.“ „Es ist sehr freundlich von Ihnen“, erklärte ich, lud meine Sachen ein, setzte mich neben Fräulein Clewe und gab ihr die Adresse von Familie Grather. Frau Grather öffnete die Tür. „Ach Jessica, wie nett…“ Sie sah mein ganzes Gepäck und lächelte. „Aha, jetzt ist es also passiert. Kommen Sie, Jessica. Das Fremdenzimmer ist frei, und diesen Sonntag gibt es ganz bestimmt Hasenbraten!“
Ein neues Arbeitsfeld „Klar, daß man Sie zurückholt!“ meinte Bernadette Grather, als ich ihr die ganze Geschichte erzählt hatte. „Das ist vielleicht zum Totlachen! Und wer erst recht lachen kann, bin ich. Denn Sie bleiben doch hier, Jessica, bis Ihr Direktor und sein Hündchen zurück sind? Na klar dürfen Sie mir helfen und wie gern! Allerdings kriegen Sie hier kein so fürstliches Gehalt, aber jedenfalls… Ach, hören Sie doch auf, natürlich bekommen Sie etwas. Sie kommen als rettender Engel, gerade jetzt wollte ich so gern meinem Mann helfen, er macht zur Zeit einen Werbefilm. Da braucht er meine Hilfe. Nein, wie bin ich froh, daß Sie da sind! Ach Jessica, wie war es doch, haben wir uns nicht darüber geeinigt, daß wir uns so gern mögen? Also, dann hören wir gleich mit dem blöden Siezen auf, ich werde nie so deutsch, daß ich mich damit abfinden kann. Wir werden hier ein paar Wochen Seite an Seite arbeiten und dann uns immer siezen! Nicht auszudenken! Bist du einverstanden?“ „Und ob! Du bist ein Goldstück. Ist es wirklich wahr, daß du mich gern hier haben möchtest? Und was sagt dein Mann dazu?“ „Er wird mich vor Freude umarmen, und wenn ich nicht ganz scharf aufpasse, umarmt er dich auch! So, nun schnell auspacken. Und wenn du dann das Mittagessen kochen würdest, wäre es himmlisch. Ich habe einen Haufen Kindersachen zu plätten, und heute nachmittag will ich doch Asbjörn helfen!“ Kurz danach stand ich in der Küche und putzte Gemüse. Am Tisch in der Ecke stand Bernadette und plättete. Es war urgemütlich, und unsere „Quasselwerkzeuge“ (Falkos Ausdruck) liefen mit Plätteisen und Gemüsemesser um die Wette. „Schade um deine kleine Gnädige“, sagte Bernadette, als ich sie über die Entwicklung im Hause Frisch-Nielsen orientiert hatte. „Du könntest bestimmt sehr viel für sie tun – ich meine noch mehr als bis jetzt. Aber wie ich schon sagte, sie werden dich ganz bestimmt zurückholen. Willst du dann wieder hingehen?“ Ich überlegte, während ich langsam eine Steckrübe schälte. „Ich weiß nicht, Bernadette. Doch, ich glaube schon. Es klingt vielleicht sehr eingebildet, aber ich habe das Gefühl, daß ich in dem Haus eine Aufgabe habe!“ „Mehr, als nur der kleinen Brötchengeberin die Bedienung der Haushaltsapparate beizubringen?“
„Ja! Etwas, das viel, viel schwieriger ist. Sie dazu zu bringen, ab und zu ein Buch zu lesen – sich für Dinge zu interessieren, die auch für ihren Mann von Interesse sind – kurz gesagt…“ „Kurz gesagt, die Kameradschaft zwischen den beiden fördern auf Kosten der Beziehungen zu der unentbehrlichen Sekretärin!“ „Nun ja. Etwa in der Richtung. Weißt du, ich stelle mir vor, ich wäre mit Falko verheiratet und er wäre mir unbedingt treu in der üblichen Bedeutung des Wortes. Aber er ginge immer zu einer anderen mit seinen Interessen, seinen Sorgen, seinen Problemen. Ja, dann glaube ich, würde ich eifersüchtig werden! Ich würde mich zu Tode grämen, denn ich käme mir so überflüssig vor!“ „Na, du hast ja auch ein bißchen mehr Köpfchen als deine Gnädige. Man darf wohl voraussetzen, daß sie es nicht so empfindet. Sie meint ganz sicher, daß sie einen vorbildlichen Ehemann hat!“ „Ja, siehst du, und wenn ich versuchen soll, ihr zu helfen, muß ich es so tun, daß sich diese Auffassung nicht ändert! Es wird schwer, verdammt schwer. Aber ich empfinde es beinahe – ja, du wirst jetzt lachen –, ich empfinde es als eine Pflicht, ihr zu helfen!“ „Es ist auch deine Pflicht. Denn, wenn man sieht, daß etwas verkehrt läuft, sieht, daß jemand Hilfe braucht, und man könnte helfen und tut es nicht, dann ist man selbst an dem Unglück schuld!“ „Du sagst es so sicher, Bernadette, so, als ob es deine Lebensauffassung wäre.“ „Ist es auch.“ „Wenn zum Beispiel ein einsames Hausmädchen nicht weiß, wohin an einem Sonntag, und du könntest ihr einen netten Tag verschaffen und tätest es nicht, dann wärest du an ihrer Einsamkeit schuld!“ „Genau! Du hast es kapiert! Dabei möchte ich sagen, daß es in diesem Fall sehr leicht war, danach zu handeln. Ich mochte dich gleich vom ersten Augenblick an.“ „Danke, gleichfalls, Bernadette!“ Barry, der die ganze Zeit unter der Eckbank gelegen hatte, stand auf und ging zur Tür. Dann stellte er sich auf die Hinterbeine und drückte die Türklinke mit einer Vorderpfote herunter. „Na, dann kommt gleich Elaine“, sagte Bernadette. Sie ging in den Flur und machte die Wohnungstür auf. „Patentschlösser schafft er nicht“, lächelte sie. „Aber die Haustür unten macht er schon auf.“ „Weiß er immer, wann Elaine kommt?“ „Immer. Ich kann die Uhr nach ihm stellen. Wo ist denn Anton –
ach richtig, er ist ja im Garten. In ein paar Minuten kannst du durchs Fenster die ganze Empfangszeremonie beobachten, wenn du Lust hast!“ Natürlich hatte ich Lust. Da unten stand Barry auf den Hinterbeinen, die Vorderpfoten auf dem Gartentor, und starrte unentwegt in eine Richtung. Auf dem einen Torpfosten saß Kater Anton, den Kopf in dieselbe Richtung gedreht. Dann drückte Barry plötzlich auf die Klinke, das Tor ging auf, Anton sprang auf Barrys Rücken, und sie verschwanden. Nach ein paar Minuten kamen sie zurück zusammen mit Elaine. Jetzt saß Anton auf ihrer Schulter. „Das ist doch ganz entzückend mit euren Tieren!“ sagte ich. „Ja, und wir freuen uns auch täglich darüber. Nur eins ist schrecklich. Barry ist schon zwölf Jahre alt. Wir wagen nicht an den Tag zu denken, wenn wir ihn nicht mehr haben. Nun ja, vorläufig ist er noch munter und gesund – du ahnst nicht, wie wir an dem Tier hängen!“ „O doch, ich ahne es schon. So, da haben wir die Bande, und dabei ist das Essen nicht fertig!“ „Es ist auch noch nicht soweit. Elaine und Barry holen jetzt Marcus aus dem Kindergarten. Inzwischen setzen wir das Essen in dem Druckkocher auf. Dann ist alles fertig, wenn die beiden zurückkommen. Hoffentlich ist Asbjörn auch pünktlich!“ Das war er. Er hatte den ganzen Vormittag bei seiner Filmgesellschaft verbracht, es ging um seinen Film über Norwegen, der geschnitten und vertont werden sollte. „Ich denke, Sie machen zur Zeit einen Werbefilm?“ sagte ich. „Das mache ich nebenbei, nachmittags und besonders abends, wenn die Kinder schlafen. Denn dazu brauche ich Ruhe. Wissen Sie, die Werbefilme sind eigentlich gar nicht mein Beruf. Aber komischerweise haben wir ein paar Kunden, die meine Art mögen. Und zwischendurch muß ich also einen machen – was ich ohne die Hilfe meiner klugen Frau nicht schaffen würde.“ „Sind es Zeichenfilme, oder…“ „Aber nein, ich kann keinen Strich zeichnen, meine Frau auch nicht, auf dem Gebiet sind wir total unbegabt!“ „Ich schließe mich an“, versicherte ich lachend. „Ich bin überzeugt, daß Marcus besser zeichnet als ich.“ „Wir zeigen es dir nachher, Jessica“, versprach Bernadette. „Es
ist nämlich ganz lustig, was wir da machen. Zuerst muß ich aber – o Himmel, ich muß ja das Geburtstagspaket für Mutti packen! Asbjörn, du mußt so lieb sein, vor achtzehn Uhr zur Post zu fahren! Hast du schon das Kärtchen geschrieben? Und du, Elaine, wie ist es mit…“ „Längst fertig!“ teilte Elaine stolz mit. „Ich hole es gleich.“ Elaine brachte zwei gehäkelte Topflappen und einen Anhängezettel: „Für meine liebe Omi von Lillepus.“ „Aha!“ sagte ich. „Es ist also die Omi, die dich Lillepus nennen darf!“ „Ich habe nur eine Omi“, erklärte Elaine. „Vati hat keine Eltern. Und Grandmere in Wallis ist Muttis Omi.“ „Aha, so ist es.“ „Aber das Geburtstagsverschen schaffe ich nicht“, erklärte Elaine mutlos. „Kannst du mir nicht helfen, Vati?“ „Elaine, du weißt doch, daß dein Vater im Versedichten total unbegabt ist! Und ich bin es auch!“ „Jessica, kannst du mir dann helfen?“ kam es flehentlich von Elaine. „Vielleicht – wenn deine Omi Deutsch versteht.“ „O ja, soviel versteht sie schon. Kannst du wirklich, Jessica? Kannst du dichten?“ Ich mußte lachen. „Dichten ist zuviel gesagt. Aber ich bin immer diejenige gewesen, die Geburtstagsverschen für die ganze Familie machen mußte. Also, was willst du nun Omi sagen?“ „Daß – daß ich sie liebhabe- und daß ich ihr alles Gute wünscheund daß Barry und Anton sie grüßen.“ „Dann werden wir mal sehen. Du mußt mir aber ein Stündchen Zeit geben, Elaine, vielleicht reime ich etwas zusammen.“ Das tat ich auch. Als wir nach einem kleinen Nachmittagsschläfchen am Kaffeetisch saßen, konnte ich Elaine folgendes literarische Meisterwerk vorlegen: „Die besten Wünsche heut gen Norden schweben, die herzlichsten Gedanken zu Dir gehn. Das liebe Omilein soll lange leben, so wünschen Anton, Barry und Elaine.“ Elaine schrie auf vor Freude, Bernadette und Asbjörn lächelten.
Dann wandte Asbjörn sich plötzlich an mich: „Sagen Sie, Jessica, haben Sie jemals Werbeslogans gemacht?“ „Sie meinen, so ein paar Worte, die die Leute dazu bringen sollen, X-Waschpulver oder Y-Unterwäsche zu kaufen? Nein, niemals. Aber ich habe mich oft über die Verschen geärgert, die man uns in den Werbesendungen vorsetzt. Es gibt Waren, die ich nie kaufe, weil ich solche dämlichen Reklamen nicht mitbezahlen will!“ „Das kann ich gut verstehen!“ Asbjörn nickte. Dann erzählte er mir, daß er und sein Chef verzweifelt nach einem guten Texter suchten. Nach jemandem, der einen kurzen, treffenden Satz formen kann oder gegebenenfalls einen kleinen Reim. „Wissen Sie, es gibt Leute, die unbedingt Verschen haben wollen. Die meinen wohl, daß ihre Unterhosen, der Likör oder die Dosenwürstchen poetischer wirken, wenn sie mit einem Gedicht angepriesen werden!“ „Und jetzt glauben Sie, daß ich so etwas machen könnte?“ „Ich glaube gar nicht, ich frage bloß. Ich träume immer davon, daß es mir selbst gelingen könnte, einen guten Texter zu finden, daß ich die Werbefilme hier in meinem eigenen kleinen Atelier vertonen und fix und fertig abliefern könnte. Aber es ist mir auch klar, daß ein Geburtstagsverschen keine Garantie dafür ist, daß man auch Werbetexte basteln kann!“ „Bestimmt nicht! Und die einzige Berührung, die ich mit Werbung hatte, waren die sehr bescheidenen Anzeigen, die ich für meinen Vater verfaßte.“ „Nun ja. Fragen kann man ja immer“, meinte Asbjörn Grather und trank den letzten Schluck Kaffee. „Dann her mit deinem Paket, du mein Sklaventreiber, ich eile zur Post – alles für die Schwiegermutter!“ Ich saß in dem netten Fremdenzimmer, das jetzt für einige Zeit mein Zuhause sein sollte, und schrieb Falko ein paar Worte. Ich mußte ihm die neuesten Ereignisse erzählen. Dann kam ich endlich dazu, den Babyanzug zu waschen. Dabei ertappte ich mich, daß ich an kurze Werbetexte dachte. Es müßte ja eigentlich Spaß machen, es zu versuchen. Aber es käme sehr darauf an, wofür! Ob für Margarine oder Seife, Strumpfhosen oder Motorräder! Als die Kinder im Bett lagen – mit Barry als unbestechlichem Wächter zwischen den Betten –, ging ich mit Asbjörn und Bernadette runter ins „Atelier“, das neben meinem Zimmer lag. Da blieb ich erstaunt stehen. Nicht wegen der großen Filmkamera, der
Scheinwerfer, der unzähligen filmtechnischen Apparate, sondern wegen des großen Tisches am Ende des Zimmers. Da war die reinste Puppenlandschaft aufgebaut: eine Landstraße mit winzigen Bäumen und an der Straße eine klitzekleine Tankstelle. Vor dieser Tankstelle stand ein Spielzeugauto, an der Zapfsäule eine niedliche Puppe in einem eleganten Overall. „Was in aller Welt…“, fing ich an. „Motorenöl“, sagte Asbjörn. „Schlicht und ergreifend, Motorenöl. Zehn Folgen. Jedesmal kommt ein anderes Kraftfahrzeug hier angebraust, jedesmal erscheint der Tankwart dienstbeflissen und wechselt das Öl, jedesmal ist er in Großaufnahme zu sehen und sagt die entscheidenden Worte über dieses einmalig gute, reine und wirtschaftliche Öl. Nun passen Sie auf! Bernadette, heute ist der Motorroller dran, wo hast du ihn?“ Aus einem Schrank holte Bernadette einen kleinen Spielzeugroller mit zwei lustigen Puppen drauf. Ein langhaariger Jüngling in Lederjacke und Sturzhelm, auf dem Beifahrersitz ein Mädchen, das sich mit beiden Armen an ihn klammerte. Es wurden Scheinwerfer angemacht, Asbjörn ging zur Kamera. „Fang an auf Punkt 2“, sagte er. Und jetzt sah ich, daß die ganze Länge des Tisches mit numerierten Punkten ausgezeichnet war. Bernadette stellte den Roller auf Punkt 2, Asbjörn machte drei Einzelaufnahmen, Bernadette ließ den Roller ein kaum merkbares Stück weiterrollen, und ihr Mann knipste wieder. So ging es, Millimeter um Millimeter weiter, bis der Roller vor der Tankstelle stand. „Nun die Arme des Klammeraffen lockern“, befahl Asbjörn. Wieder Millimeterarbeit. Ich weiß nicht, wie viele Einstellungen Bernadette machte, wievielmal Asbjörn seine drei Einzelaufnahmen knipste, bis die Beifahrerin geradesaß und der Jüngling abgestiegen war. „Du aller heiligster Bimbam!“ rief ich. „Solch eine Arbeit!“ „Tja“, sagte Asbjörn. „Was wir bis jetzt fertig haben, wird etwa zwei Sekunden füllen.“ „Was?“ „Ja, sehen Sie, Geduld muß man haben. So, wir machen jetzt fünf Minuten Pause, dann kommt der Tankwart. Wenn ich bloß wüßte, wie wir ihn nennen sollen! Nun ja, mit dem Text habe ich ja nichts zu tun – leider, oder Gott sei Dank, wie man es nimmt.“ Das Wort Tankwart erinnerte mich an eine Sachsengeschichte,
die Falko zu erzählen pflegte. Ein Mann aus Dresden kommt zum Standesamt und teilt die Geburt seines Sohnes mit. Das Kind soll Dankward heißen. „Dankward?“ wiederholt der Beamte. „Das ist doch geen Name, das ist ein Beruf.“ Plötzlich sprang ich auf. „Ich hab’s! Ich hab’s! Nennt ihn Dankward! Und nach jeder Ölfüllung, wenn der Tankwart in Großaufnahme erscheint, sagt eine Stimme: ,Und was sagt heut Dankward, der Tankwart?; Und dann kommen die Goldkörnchen über das saubere Öl, das wirtschaftliche Öl, das überall verwendbare Öl und so weiter!“ „Mensch!“ rief Asbjörn Grather begeistert. „Das ist eine Idee! Ich werde sie sofort dem Kunden vorlegen, das heißt, morgen früh! Das ist doch etwas, was die Leute sich merken werden - Dankward, der Tankwart! Jessica, Sie sind doch ein Genie!“ „So!“ kam Bernadettes Stimme. „Nun habe ich doch nicht scharf genug aufgepaßt. Dies habe ich kommen sehen!“ Was sie kommen gesehen hatte, war die herzhafte Umarmung, die Asbjörn mir jetzt zukommen ließ! Nachdem die Arbeit geschafft war, saßen wir oben im Wohnzimmer bei einem Obstsalat, den wir, das heißt die Grathers, ehrlich verdient hatten. „Welche anderen neun Fahrzeuge sollen nun zu Dankward kommen?“ fragte ich. „Mal sehen – wir haben den schönen großen Pkw, dann den Kleinstwagen, den Fernfahrer und den Roller – dann einen Lieferwagen, einen Trecker, einen Möbelwagen, ein Motorrad und einen Lastwagen. Das wären neun – ja tatsächlich, da fehlt noch einer. Was wollen wir uns da einfallen lassen?“ „Ich hätte eine Idee“, sagte ich. „Wenn Sie nun einen Wagen mit vier maskierten Banditen besetzten, die den armen Dankward mit Maschinenpistolen bedrohen? Und wenn sie abgebraust sind, lacht Dankward sich ins Fäustchen und erklärt: ,Die habe ich aber schön reingelegt! Die haben kein X-Ypsilon-Öl bekommen!’“ „Aufpassen, Jessica!“ rief Bernadette. „Er zerdrückt dich. Du ahnst nicht, wie seine Superumarmungen sind! Lieber Asbjörn, kannst du dir nicht etwas anderes einfallen lassen?“ „Doch“, sagte Asbjörn. Er stand auf und ging zur Küchentür. „Ist noch eine Flasche im Kühlschrank? Ich will nämlich mit meinem neuen Texter Brüderschaft trinken!“
„Und ich“, seufzte Bernadette, „muß vier Banditen machen! Die Puppen werden immer wieder verwendet, es ist meine liebe Pflicht, die Perücken zu basteln und Kleider zu nähen!“
Wir vermissen Sie, Jessica! So glatt, wie Asbjörn es sich dachte, ging es nun auch nicht. Ja, der Kunde war begeistert von „Dankward, dem Tankwart“. Aber die Worte, die ich bei den verschiedenen Gelegenheiten dem Tankwart in den Mund legte, mußten x-mal geändert, umgebaut und frisiert werden. Inzwischen bekam Asbjörn einen neuen Auftrag. Es ging um eine Toilettenseife. Dann hieß es wieder sich die Köpfe zerbrechen. Asbjörn hatte zuletzt eine gute Idee für die Figuren, und ich entwarf die Texte. Ich fühlte mich so wohl wie ein Fisch im Wasser! Diese neue Arbeit machte riesigen Spaß. Ich ahnte nicht, daß ich so etwas konnte! Aber Tatsache ist, daß mir immer neue Ideen einfielen – nun ja, neue Besen kehren gut. Und es war mir völlig klar, daß dieses Sprudeln von Ideen recht bald nachlassen würde. Es sollte ja auch nicht mein Beruf werden, aber es war sehr schön, daß ich Asbjörn ein bißchen behilflich sein konnte. Ich hatte nun immer ein Notizbuch und einen Stift in der Tasche, denn manchmal kam mir eine Idee, während ich in meinem Kochtopf rührte oder einen Teig knetete. Wir hatten uns so die Arbeit geteilt, daß ich das Kochen besorgte, während Bernadette sich um die Kinder, die Wohnungspflege und Wäsche kümmerte. Und dann nähte sie! Nein, wie gut konnte sie schneidern! Ich wurde ganz neidisch, wenn ich sah, was für entzückende Sachen sie zustande brachte. „Du, da ist Räumungsausverkauf in einem meiner besonderen Geschäfte“, sagte Bernadette. „Sieh mal zu, daß du einen Stoff um ein Butterbrot bekommst, dann mache ich dir ein Kleid.“ „O Bernadette, ich kaufe gleichzeitig eine Packung Blattgold, damit ich dich vergolden kann!“ „Ich fürchte, Asbjörn wird etwas dagegen haben“, meinte Bernadette trocken. „Kauf lieber zwei Pfund Paprikaschoten und fülle sie nach deinem besonderen Rezept und steck sie in den Tiefkühler. Dann werden wir im Winter immer an dich denken, wenn wir Paprika essen.“ „Ob wohl mein Direktor und sein Hündchen an mich denken, wenn sie ihre eigenen Paprikaschoten essen?“ überlegte ich. „Oder das ganze Apfelmus, das ich aus dem zum Untergang verurteilten Fallobst machte – oder die vorbildlich gezeichneten und datierten
Einmachgläser im Keller?“ Ich rief übrigens Fräulein Clewe an und teilte ihr meine Adresse mit. Gleichzeitig fragte ich ganz vorsichtig, ob sich wohl jemand um die Topfpflanzen von Frau Frisch-Nielsen kümmerte. „Himmel, wie gut, daß Sie mich erinnern. Sie würde sich zu Tode grämen, wenn sie verwelkt sind! Ich fahre gleich heute hin!“ Ja, meine Liebe! dachte ich. Solange es nur um Topfpflanzen geht, bist du hilfsbereit. Aber wenn das Hündchen auch das leiseste Bellen hören ließe – auf einem Gebiet, wo du meinst, du hast das Alleinrecht –, wie wäre es dann mit deiner Freundlichkeit? Ich hatte plötzlich eine Art Kampfgeist entwickelt und große Lust, dieser Dame in die Quere zu kommen! Die Tage flogen dahin. Wir hatten es urgemütlich zusammen. Sonntags gingen wir in den Zoo, dann nach Hause zu einem späten Essen, und abends bekam ich ein paar von Asbjörns Filmen zu sehen. Übrigens auch die von Bernadette. Sie hatte Asbjörns kleine Kamera übernommen. Besonders lustig fand ich den Film von der Nordseeinsel Seehundrücken, wo sie vor sechs Jahren bei Familie Dieters Urlaub gemacht hatten. Wie war Elaine doch niedlich als Kleinkind – und wie sah Barry jung aus! Dann hatte anscheinend Asbjörn die Kameraführung übernommen, denn jetzt kam eine Aufnahme von Bernadette beim Bodenturnen oder, genauer gesagt, Strandturnen. Mir blieb die Spucke weg! „Menschenskind, du bist ja zirkusreif!“ rief ich. „Wo in aller Welt hast du das alles gelernt?“ „Im Turnverein, ganz einfach. Und von meiner Mutter. Sie ist Turnlehrerin, und mein Vater war Zirkusartist. Er stürzte von einem Trapez ab, als ich vierzehn Tage alt war.“ „Gott, wie schrecklich für deine Mutter!“ „Ja, das kann man wohl sagen. Ich verlor den Vater so früh. Du hast es eigentlich gut, Jessica, mit deinen Eltern.“ „Und ob ich es gut habe“, pflichtete ich ihr bei. „Mit meinen Eltern, mit Falko, mit Reni – und mit euch!“ Eines Tages saß ich mit Marcus auf dem Schoß und versuchte, ihn zu überzeugen, daß Spinat sehr gut schmecke. Unsere Auffassungen gingen in diesem Punkt entschieden auseinander, und ich rechne es mir selbst hoch an, daß ich als Siegerin aus dem Kampf hervorging. „Jetzt warst du aber lieb, Marcus!“ sagte ich. „Wollen wir jetzt Flugzeug spielen?“ Ich fragte ihn aus Überzeugung, daß jede gute
Tat eine Belohnung verdient. Und das Spinatessen war für Marcus die gute Tat des Tages. „Nein, Pony!“ verlangte Marcus. „Gut, spielen wir also Pony.“ Zu diesem Spiel mußte ich mich hinknien, Marcus kletterte auf meinen Rücken und ich krabbelte los. Das galt als Ersatz für Marcus’ sonntägliches Ponyreiten im Zoo. „Schneller!“ kommandierte Marcus. Ich dachte an den Spinat und steigerte das Tempo und merkte gar nicht, daß die Tür zum Flur aufgemacht wurde. „Jessica, ein Herr möchte…“ Bums! Schon geschehen! Mit meinem Reiter war ich mit zwei Männerbeinen zusammengestoßen. Ich sah entsetzt in die Höhe. Dann ließ ich meinen Reiter absteigen und stand auf. Denn das Gesicht des Herrn, der belustigt schmunzelte, gehörte Direktor Frisch-Nielsen. Bernadette nahm Marcus mit, und ich stand meinem Direktor gegenüber. Er reichte mir die Hand. „Sie ahnen wahrscheinlich, warum ich gekommen bin, Fräulein Jessica?“ „Ich glaube schon, Herr Direktor. Wollen Sie, daß ich zurückkomme?“ „Ja. Sind Sie dazu bereit?“ „Ja. Ich möchte gern zurück.“ „Wollen Sie mir verraten, warum? Nur wegen des guten Gehaltes?“ „Deswegen auch“, gab ich zu. „Aber es gibt auch einen anderen Grund. Und den möchte ich Ihnen eigentlich gern sagen, falls Sie mir erlauben, ehrlich zu sprechen.“ „Ich bitte Sie darum!“ Ich bat ihn, Platz zu nehmen, und ich setzte mich ihm gegenüber. „Ich möchte zurück, weil ich weiß, daß ich Ihrer Gattin helfen kann, und weil sie Hilfe benötigt. Sie braucht jemanden, der sie in ihrer Entwicklung weiterleitet, die durch den frühen Tod ihrer Eltern unterbrochen wurde. Jemanden, der ihr Verständnis entgegenbringt, der sich die Mühe macht, herauszufinden, warum es bisher so schwer war, mit ihr zusammenzuarbeiten. Ja, Herr Direktor, Sie haben mich gebeten, offen zu sprechen!“ „Und Sie meinen, Sie haben den Grund gefunden?“
„Ja! Und ich habe noch mehr zu sagen, Herr Direktor. Auch auf die Gefahr hin, daß Sie mir dann böse sind. Der Grund ist der, daß Ihre Gattin vernachlässigt worden ist. Seit ihrem achtzehnten Lebensjahr hat kein Mensch sich darum gekümmert, sie zu leiten, ihr etwas beizubringen! Sie war ein bildhübsches Mädchen, reizend, jung und unerfahren – und auf diesem Stand haben Sie sie belassen! Dabei ist sie so leicht zu leiten! Ich nahm als Ausgangspunkt ihre Eltern. Ich fing da an, wo sie damals stehengeblieben ist. Ich habe bis jetzt nicht viel geschafft, aber immerhin so viel, daß Ihre Gattin jetzt die Haushaltsgeräte bedienen kann, und ein bißchen Kochen hat sie auch gelernt. Und sie ist wißbegierig geworden! Es macht ihr Spaß! Sehen Sie, auf meinem kleinen Gebiet möchte ich alles tun, was ich kann, um – bitte, nehmen Sie es mir nicht übel – einen erwachsenen Menschen aus ihr zu machen. Aber es gibt Gebiete, wo ich nicht helfen kann, da müssen Sie es selbst tun. Sie liest nie ein Buch, besitzt kaum eins. Dann suchen Sie doch etwas heraus aus Ihrem Bücherschrank im Arbeitszimmer, erzählen Sie etwas daraus, schlagen Sie ihr vor, es selbst zu lesen! Sie wird es tun. Erstens, weil sie wie ein wohlerzogenes Kind gehorcht und tut, was man ihr sagt. Zweitens, weil sie Sie liebt und alles tun würde, was Sie ihr vorschlagen!“ Der Direktor sah mich lange an. „Und das alles muß so ein kleines Mädchen, das meine Tochter sein könnte, mir erzählen“, sagte er zuletzt. „Ich glaube tatsächlich, es ist etwas dran. Ich habe vielleicht etwas versäumt – etwas, was eigentlich meine Pflicht gewesen wäre…“ „Dann holen Sie es doch nach!“ rief ich. „Es ist nicht zu spät! Beginnen Sie da, wo Sie damals hätten beginnen müssen – bei der kleinen Achtzehnjährigen. Leiten Sie sie in Ihre Welt, in Ihre Interessen – versuchen Sie es jedenfalls!“ „Ja“, sagte der Direktor. Er stand auf. „Ich werde es versuchen. Und nun, Fräulein Jessica, wie ist es? Kommen Sie gleich mit?“ „Ich muß noch packen, Herr Direktor.“ „Gut! Eigentlich habe ich auch noch etwas zu tun, bevor ich nach Hause fahren kann. Packen Sie also in Ruhe, und wenn ich Ihnen raten darf – essen Sie zu Mittag. Meine Frau weiß ja nicht, daß Sie kommen, und ich fürchte…“ „Was fürchten Sie?“ „Brathuhn“, sagte der Direktor und ging zur Tür.
Ich war froh, daß er nicht mit einer langen Entschuldigung angefangen hatte, daß er die Episode mit dem Mißverständnis und der Kündigung gar nicht erwähnte. Es war ja alles aufgeklärt, man brauchte kein Wort mehr darüber zu verlieren. Dann saß ich wieder neben ihm im Wagen mit meinem ganzen Gepäck im Gepäckraum und sollte zum zweitenmal meine Stellung antreten. Ich hatte ein komisches Gefühl. „Sagen Sie“, sprach er endlich, als wir aus dem Stadtverkehr herauswaren. „Stellen Sie gar keine Bedingungen, wenn Sie nun zurückkommen? Haben Sie gar keine Sonderwünsche?“ „Wenn Sie schon fragen, einen großen Wunsch hätte ich.“ „Und der wäre?“ „Ich möchte Weihnachten so furchtbar gern meine Eltern besuchen. Ich habe sie lange Zeit nicht mehr gesehen. Nur für zwei, drei Tage. Ich werde auch alles vorkochen und tiefkühlen…“ „Das brauchen Sie nicht. Fahren Sie ruhig zu Ihren Eltern, das ist kein Problem. Meine Frau und ich machen sowieso Winterurlaub. Wissen Sie, in meinem Geschäft ist gerade im Sommer Hochbetrieb, dann kann ich nie weg. Dafür machen wir immer Urlaub im Winter.“ „Ja dann“, sagte ich glücklich, „dann habe ich keine Wünsche mehr!“ Der Direktor machte die Haustür auf. Vom Wohnzimmer kamen uns eilige Schritte entgegen. „Bist du schon da, Dicker, ich werde sofort… Nein! Jessica! Jessica!“
Und dann hatte ich die Arme meiner kleinen Gnädigen um den Hals. „O Jessica, wie schön! Wie schön, daß Sie da sind! Wir haben Sie so vermißt!“ Ich war so gerührt, daß ich zweimal schnell schlucken mußte. Der Direktor stand noch da, mit meinem Koffer in der Hand. Auf seinem Gesicht lag ein unergründliches Lächeln. Er murmelte etwas. Ich wollte nicht fragen, aber es war mir, als ob seine Lippen ein einziges Wort formten: „Teufelsmädchen!“ Dann begann wieder der alte Trott. Es gab genug zu tun, die Wäsche hatte sich gehäuft, im Kühlschrank standen Reste, die verwertet werden mußten, und im Keller eine Kiste Apfel, die ich gerade einkochen wollte, als ich jäh rausgeschmissen wurde. Eines Tages erhielt ich einen Einschreibbrief. Ich begriff überhaupt nichts. Er war von einer mir vollkommen
unbekannten Firma, maschinegeschrieben, klar und deutlich an „Cand. med. Jessica Berner“. Dann las ich und traute meinen Augen nicht: „Sehr geehrtes Fräulein Berner! Hiermit erlauben wir uns, Ihnen Ihr Honorar für den Text zu Herrn Grathers Werbefilm zu übersenden. Die Summe setzt sich folgendermaßen zusammen: 10 Texte zu je DM 75, Name für unsere Werbefigur (Dankward)
DM 750,00 DM 250,00 DM 1000,00
Wir legen einen Scheck über diese Summe bei. Wir danken Ihnen für die angenehme Zusammenarbeit und werden uns gegebenenfalls wieder an Sie wenden.“ Ich blieb stehen, den Scheck in der linken Hand, den Brief in der rechten. Dann schritt ich zum Telefon. Bernadette kam an den Apparat. „Wieso?“ sagte sie auf meine erstaunte Frage. „Das ist doch eine klare Sache. Werbearbeit wird gut bezahlt, wußtest du das nicht?“ „Aber, liebe Bernadette, ich habe es ja nur getan, um Asbjörn zu helfen und weil es mir Spaß machte…“ „Und dann sollte die reiche Ölfirma alles umsonst haben, wofür sie bei jedem anderen Texter teuer zahlen muß? Liebe Jessica, du kannst das Geld seelenruhig annehmen, es ist eine ganz korrekte Sache.“ „Aber, Bernadette, es will mir nicht in den Kopf, daß ich in einer so unverschämt leichten Art Geld für zweieinhalb Monate Leben und Studium in Kiel verdient habe!“ „Reichen tausend Mark für zweieinhalb Monate? Dann bist du weiß Gott bescheiden. Übrigens, wir vermissen dich! Kommst du bald?“ „Ja, am Sonntag, wenn ich darf!“ „Fein! Wir sind um neun am Flamingoteich! Hilfe, Marcus hat eine ganze Schale Nüsse auf den Teppich geschüttet – auf Wiedersehen!“ Der Hörer wurde aufgeknallt. Nun, ich hatte auch keine Zeit mehr. Denn jetzt mußte ich in die Küche und der Gnädigen beibringen, wie man Kartoffelklöße macht. Sie war jetzt rührend eifrig. Wenn sie ab und zu ratlos dastand,
fragte ich nur: „Na, was haben Sie denn gemacht, als Sie zu Hause bei Ihren Eltern waren und etwas nicht wußten?“ „Ich habe Mutti gefragt!“ „Dann fragen Sie doch jetzt mich!“ Das konnte ich getrost sagen. Denn ihre Fragen lagen weiß Gott nicht auf einer höheren Ebene. Es ging um die allereinfachsten Dinge in der Küche und am Herd. Eines Tages sah sie aber sehr nachdenklich aus. „Jessica – sagen Sie – woher kommt es, daß so ein großes Flugzeug nicht herunterfällt?“ Da war nämlich gerade eine Düsenmaschine über unsere Köpfe gebraust. „Ja, das kann ich Ihnen auch nicht erklären!“ gab ich zu. „Ich weiß nur, daß es mit der großen Geschwindigkeit zu tun hat. Aber fragen Sie doch Ihren Gatten!“ „Meinen Mann? Soll ich ihn wirklich fragen?“ „Ja, warum nicht? Wenn Ihr Vater gelebt hätte, hätten Sie ihn gefragt, und Ihr Mann weiß doch bestimmt genauso gut Bescheid!“ Sie sah mich mit großen Augen an. Als ich an diesem Tag die Teller vom Tisch abräumte und den Nachtisch brachte, saß der Direktor mit einem Bleistift in der Hand und zeichnete auf ein altes Kuvert. „Siehst du, Pusselchen, deswegen muß das Flugzeug immer eine sehr hohe Geschwindigkeit haben, bevor es sich in die Luft erheben kann…“ Ich stellte den Pudding leise auf den Tisch und verschwand. Ich war so froh! Es sah tatsächlich so aus, als ob meine Theorie Unsinn, Bernadettes Theorie – richtig war! Wenn ich Bernadette nicht getroffen hätte, wäre ich noch immer hier unzufrieden und kribbelig herumgelaufen und hätte mich über die Gnädige halbtot geärgert. Vielleicht wäre ich längst geplatzt und rausgeflogen oder hätte mich freiwillig aus dem Staube gemacht. Und jetzt – oh, wie war ich dankbar, daß sich alles so entwickelt hatte! Frau Frisch-Nielsen hatte mich vermißt. Bernadette und Asbjörn vermißten mich, geschweige denn Mutti und Vati. Und Falko erst recht! Wie war ich doch ein glücklicher Mensch! Ich hatte so viele Menschen, die mich liebten und gern hatten, und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Ich wußte, wenn ich aus der Stadt kam, rief Frau Frisch-Nielsen: „Schön, daß Sie da sind, Jessica!“ Wenn ich Bernadette nebst
Familie sonntags traf, rief Elaine: „Schön, daß du da bist!“ Wenn ich Weihnachten nach Hause käme, würden Vati und Mutti mich umarmen und sagen: „Wie schön, daß du endlich da bist, Jessilein!“ Und was Falko sagen würde… Weihnachten nahte, und ich half Frau Frisch-Nielsen, Geschenke einzupacken und kleine Verschen zu reimen. Ein bißchen habe ich auch gebacken, aber da sie verreisen wollten, wurden keine eigentlichen Weihnachtsvorbereitungen gemacht. Wir beschränkten uns auf einen schönen Adventskranz im Wohnzimmer. Übrigens – an einem der ersten Tage nach meiner Rückkehr bat mich Frau Frisch-Nielsen etwas unsicher: „Jessica – wollen Sie nicht mit uns am Tisch essen? Ich meine – Sie sind ja beinahe eine Ärztin, und…“ „Oh, dazu fehlt mir noch sehr viel!“ entgegnete ich. „Hier bin ich genau dieselbe, wie ich es immer war, Ihre Hausgehilfin. Lassen wir es doch so, gnädige Frau!“
Frühling Der Winter war zu Ende. Im Garten blühten die Krokusse und Schneeglöckchen, dann die ersten Tulpen und frühen Stiefmütterchen. Ich hatte zu Ostern gekündigt. Die Zeit raste dahin. Frau Frisch-Nielsen übernahm die letzten Tage das Kochen, und ich wusch und plättete, damit der ganze Wäscheschrank bei meiner Abreise in vorbildlicher Ordnung sein konnte. Das Essen von ihr war sogar genießbar, ja, zum Teil direkt gut! Ich fühlte mich so froh! Und noch froher wurde ich, wenn ich manchmal Bruchstücke von Gesprächen zwischen den beiden mithörte. Oft saß der Direktor da und erklärte seiner kleinen Frau irgendein Problem. Manchmal unterhielten sie sich über Dinge, die mit dem Geschäft zusammenhingen. Nun, eine auffallend große Intelligenz besaß sie nicht. Aber einen gesunden Menschenverstand, und den hatten wir – der Direktor und ich – so langsam ans Licht befördert. Plappern tat sie nach wie vor, aber jetzt mit mehr Sinn und Zusammenhang. Sie hatten mir anvertraut, daß sie vorerst keine Hausgehilfin einstellen wollten. „Mit all meinen Maschinen und praktischen Einrichtungen muß ich es doch allein schaffen!“ sagte Frau Frisch-Nielsen. „Und dann habe ich auch Frau Brösen! Und wenn ich mit dem Kochen gar nicht zurechtkomme, dann rufe ich Sie an, Jessica!“ Ich mußte ihr die Telefonnummer von meiner Zimmervermieterin, der guten Frau Manders, geben! An einem frühen Morgen hielt ein leuchtendgelbes Auto vor dem Haus. Diesmal sehnlichst erwartet! Und diesmal konnte ich Falko richtig vorstellen, und wir wurden eingeladen, mit dem Direktor und seiner Frau zu frühstücken. Es gab einen rührenden Abschied. Frau Frisch-Nielsen umarmte mich und wischte ein paar Tränen weg. Der Direktor drückte mir etwas in die Hand – einen sehr großzügigen Scheck. „Ich bin Ihnen sehr dankbar, Fräulein Jessica“, sagte er. „Ich hätte Ihnen gern ein schönes Geschenk überreicht, aber ich weiß ja, was für Sie am wichtigsten ist. Vielleicht können Sie für dieses Geld zwei Monate studieren?“
Dann saßen wir im Auto, Falko und ich, und fuhren los – südwärts! Wir fuhren – ja richtig! – zuerst zu Bernadette und Asbjörn, damit ich mich dort verabschieden konnte. Dann ging es weiter. Das gelbe Auto lief tadellos. Der Güterverkehr hatte schon eingesetzt, und Falko mußte scharf aufpassen. Viel gesprochen wurde nicht. Nur ab und zu nahm er schnell die rechte Hand vom Steuer, um meine linke zu drücken, oder ich legte während des Fahrens meine Hand einen Augenblick aufsein Knie. Durch eine solche kleine Bewegung kann man nämlich auch das ausdrücken, wozu man sonst drei Worte braucht… Spätnachmittags kamen wir bei meinen Eltern an. Mutti stand am Fenster und hielt schon Ausschau nach uns. Vati war gerade dabei, die Ladentür zu schließen. Das gab ein freudiges Wiedersehen! Wir hatten allerdings eine wunderbare Woche von Weihnachten bis Anfang Januar zusammen verbracht, aber diesmal wurde es noch viel, viel schöner! Es war Frühling, die Sonne schien, und ich kam im eigenen Wagen angebraust – mit Falko am Steuer! Zwei volle Tage würden wir jetzt mit Mutti und Vati verbringen. Morgen war Karfreitag und das Geschäft geschlossen. Sonnabend nur ein halber Arbeitstag. Dann konnte Mutti dem jungen Mädchen den Verkauf allein überlassen. Sie hatten es vor einigen Monaten angestellt. Am Sonntag wollten wir dann ganz früh abfahren, zurück nach Kiel, zum Studium, zu unseren Freunden und zu der vertrauten Umgebung. Was gab es alles zu fragen und erzählen! Wir saßen nach dem Abendessen – einem chinesischen Gericht aus der Ladentiefkühltruhe – in der gemütlichen Kaminecke, als ich ein Kuvert aus der Tasche nahm. „Liebe Eltern“, sprach ich feierlich. „Ich habe eine Mitteilung zu machen. Eure Tochter wird vom selbstverdienten Geld ihre restlichen sechs Semester bezahlen. Ich danke euch von ganzem Herzen für die ersten sechs Semester, die ihr mir mit großen Opfern ermöglicht habt. Ab jetzt also keinen Monatswechsel mehr, aber Pakete mit Lebensmitteln, die ihr im Geschäft nicht losgeworden seid, sind nach wie vor sehr willkommen!“ „Jessilein, nur immer langsam“, sagte Vati. „Weißt du, was du da sagst? Willst du behaupten, daß du als Hausgehilfin so viel verdient hast, daß es für sechs Semester reicht!“
Ich machte das Kuvert auf und holte mein Sparbuch heraus. „Bitte, Vati: Es fängt mit 500 Mark an, das war mein Geschenk von Tante Christiane. Dann jeden Monat mein Gehalt, minus etwas zurückbehaltenem Taschengeld. Hier, das Honorar für die ÖlWerbetexte und den gesegneten Tankwart Dankward nebst Text für die Toilettenseife. Dann ein Honorar für einen Margarinenamen. Und zuletzt für vier Verschen, in denen ich Kinderschuhzeug angepriesen habe!“ Vati und Mutti sahen erstaunt in mein Sparbuch. Es enthielt wirklich eine Summe, die sich sehen lassen konnte. „Das wird wohl für vier Semester reichen! Und hier…“, ich holte den Scheck von Direktor Frisch-Nielsen hervor, „hier ist genug für die restlichen zwei Semester. Na also!“ „Aber Kind – wir wollten doch nicht…“ „Doch, das sollt ihr. Steckt das Geld ins Geschäft, oder macht endlich einen Urlaub. Oder…“ „Darf ich um das Wort bitten?“ mischte Falko sich ein. „Ich weiß noch etwas, wozu Ihr Geld brauchen werdet. Also, paßt gut auf, du auch Jessi, dies hat in hohem Maße auch mit deiner kleinen frechen Person zu tun. Also, ich habe augenblicklich in Kiel eine Wohnung zur Verfügung, und zwar die von meinem Freund Reinhard. Seine Frau – ja, es geht ihr gut, Jessi – bleibt bei ihren Eltern, bis Reinhard seinen Wehrdienst beendet hat. Da sitze ich also in zwei Zimmern, mit Bad und Küche ganz allein. Ich werde einfach melancholisch von dem vielen Alleinsein, ich denke immer, wenn ich nun eine kleine Frau hätte…“ „Falko! Meinst du etwa, daß wir heiraten sollen?“
„Wie bist du intelligent, Jessi! Du verstehst auch alles!“
„Aber was dann, wenn dein Freund zurückkommt?“ wollte Vati
wissen. „Auch daran ist gedacht! Also, ich habe etwas Interessantes erfahren. Es gibt einen Mann in Kiel, der zwei alte Mietshäuser besitzt, ohne Bad und mit Klo auf halber Treppe. Er hat das eine Haus schon modernisiert und in lauter Studentenbuden aufgeteilt. Das zweite Haus ist jetzt an der Reihe. Es hat eine Menge Vierzimmerwohnungen, aus jeder Wohnung entstehen nun zwei, jede mit einem Zimmer, Wohnküche und Brausebad. Ich kann im Oktober so eine Wohnung bekommen. Aber unter einer ausdrücklichen Bedingung: Ich muß verheiratet sein. Diese Wohnungen vermietet er nur an Studentenehepaare.“
„Und du bist ganz sicher, daß du die Wohnung bekommst?“ „Ja – eh – ich habe – ich meine… Ich habe schon den Vertrag unterschrieben!“ „Du bist mir vielleicht einer! Und dich schriftlich dazu verpflichtet zu heiraten?“ „Ja, sonst bekomme ich ja die Wohnung nicht!“ „Falko, du bist ein ganz Gerissener! Was sagt ihr dazu?“ Ich guckte Mutti und Vati der Reihe nach an. „Was soll ich bloß mit einem solchen Mann anfangen?“ „Ihn heiraten“, meinte Vati. „Es bleibt dir nichts anderes übrig.“ Es war Pfingstsonnabend. Vor dem Haus der Donnerstagstanten rollten die Autos an. Zuerst unsere „gelbe Gefahr“, wie Reni ihn respektlos nannte. Dann Theodor mit Reni, Manfred und – in einer Baby-Tragetasche - das sechs Monate alte Töchterchen Margarete, nach Oma Ingwart benannt. Dieselbe Oma saß auf dem Rücksitz und hielt die Tragetasche fest, obwohl Manfred unendlich vorsichtig fuhr. Dann kamen Falkos Eltern in ihrem alten Opel, zusammen mit meinen Eltern. Meine Eltern waren per Flugzeug hierhergekommen, denn sie konnten ihren Laden nicht tagelang im Stich lassen. „Ich habe doch gleich gesagt, daß ich weiß, wofür sie etwas Geld brauchen würden“, äußerte Falko. „Ich wußte doch, daß sie in Zeitnot sein werden und zu unserer Hochzeit fliegen müssen!“ Jetzt war es soweit. Wir kamen vom Standesamt, und ich hieß jetzt Jessica Eichner – cand. med. Jessica Eichner. Tante Christiane hatte laut und energisch protestiert, als wir ihr sagten, wir würden in aller Stille zum Standesamt gehen und keine Feier veranstalten. „Dann habt ihr nicht mit mir gerechnet!“ erklärte Tante Christiane. „Bin ich deine Patentante, Jessica, oder bin ich es nicht? Hier wird jedenfalls ein Essen gegeben, ich habe Silber und Service für zwölf Personen. Ich will überhaupt keine Proteste hören, daß ihr das wißt!“ Tante Christiane hatte sich durchgesetzt. Wie gesagt, die Autos kamen jetzt angerollt. Die Tür ging auf, und als erste gratulierte uns die Hauptperson des Hauses – der Hund Bicky. Mit einer großen rosa Schleife um den Hals – die daran befestigte Rose verlor er schon auf der Treppe. Es wurde eine unvergeßliche Feier. Ich saß am Tisch und sah sie alle an. All die Menschen, die ich so
lieb hatte und die so innig an meinem Schicksal teilgenommen hatten. Und wie halfen sie uns auch jetzt! Alle durchstöberten ihre Bodenkammern, um uns mit Möbeln auszuhelfen, so daß wir kaum etwas zu kaufen brauchten, wenn wir in fünf Monaten unsere eigene Wohnung beziehen sollten. Alle hatten uns vernünftige und nützliche Sachen zur Hochzeit geschenkt. Das Prachtstück war ein Tiefkühlschrank von Tante Christiane! „Damit du sonntags für die ganze Woche vorkochen kannst, Jessi!“ hatte sie erklärt. In diesem Sinn wurden wir auch von den anderen beschenkt: einen Druckkocher von Tante Isa, einen Handmixer von Reni und Manfred – und von meinen und Falkos Eltern gemeinsam einen feierlichen Gutschein über eine Waschmaschine. Wir erhielten Geschenke, Blumen und Telegramme – von Anke in München, von Bernadette und Asbjörn und von Frisch-Nielsens. Und von vielen mehr. Es wurden Reden gehalten, von Vati, Tante Christiane und Falkos Vater. Was sagte er da? „Unsere tapfere kleine Schwiegertochter!“ Oh, wie unverdient war dieses Lob! Ich war gar nicht tapfer gewesen. Andere Menschen hatten mir geholfen! Reni hatte mir klargemacht, wie ich die traurige Nachricht von meinen Eltern damals aufnehmen mußte. Falko hatte mir vorgeschlagen, daß ich mich dem Kochen widmen sollte. Tante Christiane hatte mir eine phantastische Empfehlung gegeben – ebenso Frau Ingwart. Und Bernadette hatte mir fabelhaft geholfen, als ich in Frankfurt kurz davorstand, den Mut zu verlieren. Tapfer! – Ist es vielleicht eine Kunst, tapfer zu sein, wenn man von überallher Hilfe und vernünftige Ratschläge erhält? „Jessilein“, flüsterte Falko. „Ist dir nun wirklich klar, daß dieses Jahr zu Ende ist? Daß wir nicht mehr Tage und Wochen zählen müssen? Daß wir nun immer zusammen sein werden?“ „Ja, Falko, es wird mir so allmählich klar. Aber noch etwas ist mir klargeworden: Ich bedauere keine Sekunde lang, daß ich jetzt mit einem Jahr Verspätung weiterstudiere. Denn dieses Jahr – das hat mir so unendlich viel gegeben! Ich denke wirklich gern daran zurück – und ich hätte es um keinen Preis entbehren wollen!“