Barbara Rinken Spielräume in der Konstruktion von Geschlecht und Familie?
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Barbara Rinken
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Barbara Rinken Spielräume in der Konstruktion von Geschlecht und Familie?
VS RESEARCH
Barbara Rinken
Spielräume in der Konstruktion von Geschlecht und Familie? Alleinerziehende Mütter und Väter mit ost- und westdeutscher Herkunft
Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Karin Gottschall
VS RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Es handelt sich bei diesem Buch um die leicht gekürzte Fassung der 2008 an der Universität Bremen eingereichten Dissertation.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Verena Metzger / Dr. Tatjana Rollnik-Manke VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-16417-5
Geleitwort
Dieses Buch liefert einen wichtigen und innovativen Beitrag zur sozialwissenschaftlichen Forschung über Alleinerziehende, die im Zuge der Pluralisierung von Lebensformen eine wachsende und gesellschaftlich bedeutsame Gruppe darstellen. Die vorliegende Arbeit füllt in mehrfacher Hinsicht eine Forschungslücke. Zum einen werden Lebenswirklichkeiten und Haltungen von Alleinerziehenden zu Geschlechter- und Familienleitbildern zu den strukturellen Lebensbedingungen der Gruppe in Beziehung gesetzt, so dass Zusammenhänge und Widersprüche zwischen ‚Sein und Bewusstsein’ deutlich werden. Zum anderen berücksichtigt die Studie systematisch Unterschiede zwischen Ost und West und kann so der vereinheitlichenden öffentlichen Wahrnehmung der Gruppe ein differenzierteres Bild der Lebenswirklichkeit dieser Gruppe entgegen setzen. Die Studie ist durch eine breit gefächerte, gleichwohl stringente Gesamtargumentation gekennzeichnet, die in den theoretischen und sekundäranalytischen Teilen kompetent auf den aktuellen Stand der Forschung rekurriert und im qualitativen empirischen Teil handwerklich solide, sorgfältig und engagiert angelegt ist. Ein durchgängiger Rückbezug der empirischen Ergebnisse auf die theoretischen Ausführungen trägt zur Geschlossenheit der Arbeit wesentlich bei. Die zentrale Frage dieses Buches, die sich auf das Fortwirken von traditionellen Geschlechter- und Familienbildern in der heutigen Gesellschaft richtet, wird von der Autorin letztendlich nicht bejahend oder verneinend beantwortet. Vielmehr zeigen die Ergebnisse „Vor- und Zurück- Bewegungen zwischen postmodernen und traditionellen Einstellungen und Handlungen“ (S.:315), die, so die Verfasserin, einerseits Ausdruck subjektiver Ambivalenzen der Alleinerziehenden sind, und andererseits „die derzeitige institutionelle und diskursive gesellschaftliche Situation“ widerspiegeln (ebd.). Zu Recht stellt die Autorin als besondere Problematik heraus, dass „gesellschaftliche Figurationen, welche die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erschweren“ (S.:316) nicht nur zu erheblichen zeitlichen und materiellen Belastungen für Alleinerziehende führen, sondern auch dazu tendieren, traditionelle Geschlechter- und Familienleitbilder zu stärken. Im Ergebnis ist es für Alleinerziehende schwer, ihre Lebensform nicht als belastend und defizitär wahrzunehmen.
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Barbara Rinken hat mit diesem Buch nicht nur einen Beitrag zu den soziologischen Teildisziplinen der Geschlechter- und Familienforschung geleistet, sie hat auch die lange vernachlässigte Väterforschung vorangetrieben.
Prof. Dr. Karin Gottschall
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Vorwort
An der Fertigstellung dieses Buches hatten einige Menschen Anteil, denen ich an dieser Stelle danken will: Mein ausdrücklicher Dank gilt meinen Doktormüttern Prof. Dr. Helga Krüger († 2008), Prof. Dr. Karin Gottschall und Prof. Dr. Claudia Born. Die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit ihnen und die nachhaltigen Ermutigungen durch sie waren mir eine große Hilfe beim Verfassen dieser Arbeit. Ich danke auch den allein erziehenden Müttern und Vätern, die in den Interviews vertrauensvoll mit mir über ihr Leben gesprochen haben und die so den empirischen Teil dieser Arbeit ermöglichten. Die fortwährende Bestärkung und Solidarität meiner Freunde und Freundinnen waren ebenfalls sehr wichtig für den Schreibprozess. Herzlichen Dank an Euch! Zuletzt und besonders danke ich meinen Eltern und meinem Sohn. Meinen Eltern für ihre liebevolle und beständige Unterstützung und meinem Sohn für die viele gute gemeinsam verbrachte Zeit.
Barbara Rinken
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Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung...................................................................................................... 13 2 Theoretischer Bezugsrahmen...................................................................... 25 2.1 Konstruktionsprozesse von Geschlecht und Familie ............................ 25 2.2 Definitionen: Diskurse und Leitbilder .................................................. 36 2.3 Lebenslaufforschung und Statuskonfiguration ..................................... 37 2.4 Sozialisation, Doing Gender und Doing Family................................... 43 2.5 Zusammenfassung ................................................................................ 56 3 Geschlechter- und Familienleitbilder ......................................................... 59 3.1 Familienpolitik und Familienrealitäten................................................. 60 3.2 Geschlechter- und Familienleitbilder vor 1949 .................................... 64 3.3 DDR 1949 – 1989................................................................................. 69 3.3.1 Der Diskurs zu Geschlechtergerechtigkeit .............................. 70 3.3.2 Mütterlichkeit und Väterlichkeit ............................................. 78 3.3.3 Diskurse zum Kindeswohl ...................................................... 80 3.4 BRD 1949 –1989.................................................................................. 84 3.4.1 Retraditionalisierung und sozialer Wandel ............................. 84 3.4.2 Mütterlichkeit und Väterlichkeit ............................................. 95 3.4.3 Diskurse zum Kindeswohl .................................................... 103 3.5 Nach der Vereinigung: 1989 ff. .......................................................... 105 3.5.1 Transformation und Modernisierung..................................... 106 3.5.2 Mütterlichkeit und Väterlichkeit ........................................... 121 3.5.3 Diskurse zum Kindeswohl .................................................... 135 3.6 Zusammenfassung .............................................................................. 137 4 Der Forschungsstand zu Alleinerziehenden............................................. 143 4.1 Anzahl Alleinerziehender ................................................................... 144 4.2 Entstehung des Alleinerziehens, Kinder............................................. 145 4.3 Strukturelle Bedingungen und ökonomische Situation....................... 151 4.4 Unterstützende Strukturen .................................................................. 157 4.5 Die Ressource Zeit.............................................................................. 162 4.6 Fazit .................................................................................................... 164 5 Anlage der Untersuchung.......................................................................... 169 5.1 Entwicklung der Forschungsfragen .................................................... 169
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5.2 Forschungsdesign ............................................................................... 172 5.3 Samplekonstruktion ............................................................................ 174 5.4 Erhebungsinstrumente ........................................................................ 178 5.5 Auswertungsverfahren........................................................................ 182 Lebensbedingungen des Samples.............................................................. 189 6.1 Entstehung des Alleinerziehens, Kinder............................................. 190 6.2 Überblick über sozialstrukturelle Bedingungen.................................. 193 6.3 Quantität und Qualität der Kinderbetreuung ...................................... 202 6.4 Privat organisierte und private Unterstützung .................................... 204 6.5 Erwerbsstatus...................................................................................... 208 6.6 Ökonomische Situation....................................................................... 211 6.7 Bildung und Erwerbsstatus ................................................................. 213 6.8 Alltagsbewältigung............................................................................. 219 6.9 Zusammenfassung .............................................................................. 222 Bilder von Geschlecht und Familie........................................................... 231 7.1 Selbstverständnis Körper/Geschlecht ................................................. 234 7.1.1 Verhältnis zu Geschlechtlichkeit........................................... 235 7.1.2 Distanz zur Geschlechterrolle ............................................... 238 7.1.3 Zwischenfazit ........................................................................ 243 7.2 Geschlechterverhalten der Kinder ...................................................... 249 7.2.1 Geschlechtertypisches Verhalten als Erwartung ................... 251 7.2.2 Geschlechtertypisches Verhalten als Problem....................... 260 7.2.3 Ambivalenzen ....................................................................... 261 7.2.4 Geschlechteroffene Einstellungen......................................... 264 7.2.5 Zwischenfazit ........................................................................ 265 7.3 Vorstellungen von Mütterlichkeit/Väterlichkeit ................................. 273 7.3.1 Dichotome Bilder von Mütterlichkeit/Väterlichkeit.............. 274 7.3.2 Ambivalenzen ....................................................................... 279 7.3.3 Vielfalt statt Dichotomie ....................................................... 287 7.3.4 Zwischenfazit ........................................................................ 294 7.4 Einstellungen zu unterschiedlichen Familienformen.......................... 299 7.4.1 Präferenzen für die Zwei-Eltern-Familie............................... 300 7.4.2 Ambivalenzen ....................................................................... 304 7.4.3 Präferenzen für die Ein-Elter-Familie ................................... 306 7.4.4 Zwischenfazit ........................................................................ 312 7.5 Zusammenführung der Ergebnisse ..................................................... 316 Resümee ...................................................................................................... 323 Literaturverzeichnis................................................................................... 335
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Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Tabelle 5: Tabelle 6: Tabelle 7: Tabelle 8: Tabelle 9: Tabelle 10: Tabelle 11: Tabelle 12: Tabelle 13: Tabelle 14: Tabelle 15: Tabelle 16: Tabelle 17: Tabelle 18: Tabelle 19: Tabelle 20: Tabelle 21: Tabelle 22: Tabelle 23: Tabelle 24: Tabelle 25: Tabelle 26: Tabelle 27: Tabelle 28:
Eltern-Kind-Gemeinschaften in West- und Ostdeutschland 2004 (in%)................................................................................... 108 Müttererwerbstätigkeit ................................................................ 112 Zustandekommen des Alleinerziehens ........................................ 190 Verschiedene Formen der Trennung ........................................... 191 Kinder in Mutterfamilien............................................................. 192 Kinder in Vaterfamilien............................................................... 193 Sozialstrukturelle Bedingungen Westfrauen ............................... 195 Sozialstrukturelle Bedingungen Westmänner.............................. 196 Sozialstrukturelle Bedingungen Ostfrauen.................................. 198 Sozialstrukturelle Bedingungen Ostmänner ................................ 200 Inanspruchnahme institutioneller Kinderbetreuung .................... 202 Inanspruchnahme privater Kinderbetreuung ............................... 205 Umfang privater Unterstützung................................................... 206 Private UnterstützungsleisterInnen.............................................. 207 Überblick Erwerbsstatus.............................................................. 208 Ökonomische Situation ............................................................... 211 Ökonomische Situation und Erwerbsstatus ................................. 213 Bildungslagen.............................................................................. 213 Erwerbsstatus und Bildungslagen................................................ 214 Zufriedenheit und Unzufriedenheit mit sozialstruktureller Situation ...................................................................................... 224 Selbstverständnis Körper/Geschlecht .......................................... 244 Selbstverständnis Körper/Geschlecht und sozialstrukturelle Situation ...................................................................................... 248 Einstellungen zum Geschlechterverhalten der Kinder................. 266 Erwartete Probleme für die kindliche Entwicklung bei gleichgeschlechtlichem Elternteil I ............................................. 268 Einstellungen zum Geschlechterverhalten der Kinder und sozialstrukturelle Situation .......................................................... 270 Einstellungen zum Geschlechterverhalten der Kinder und das Selbstverständnis Körper/Geschlecht.................................... 271 Mütterlichkeit und Väterlichkeit ................................................. 295 Erwartete Probleme für die kindliche Entwicklung bei gleichgeschlechtlichem Elternteil II ............................................ 297 11
Tabelle 29: Mütterlichkeit/Väterlichkeit und sozialstrukturelle Situation ...................................................................................... 298 Tabelle 30: Einstellungen zu unterschiedlichen Familienformen................... 312 Tabelle 31: Einstellungen zu unterschiedlichen Familienformen und sozialstrukturelle Situation .......................................................... 314 Tabelle 32: Einstellungen zu unterschiedlichen Familienformen und Mütterlichkeit/Väterlichkeit ........................................................ 315 Abbildung 1: Die Institutionalisierung von Handlungen... ............... ..................27 Abbildung 2: Gesellschaftliche Aspekte, die subjektive Konstruktionsprozesse beeinflussen .....................................................................57 Abbildung 3: Die Beziehungen zwischen Geschlechter- und Familienleitbildern, Diskursen, Institutionen und Familienrealitäten ........................................................................................ 60 Abbildung 4: Zuordnung der Themenfelder des Interviewleitfadens zu gesellschaftlichen Ebenen ........................................................... 181 Abbildung 5:Aspekte im Zusammenhang mit subjektiven Konstruktionen von Geschlecht und Familie .............................. 233
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1 Einleitung
Dieses Buch beschäftigt sich auf verschiedenen Ebenen mit Alleinerziehenden. Sowohl ihre sozialstrukturelle Situation als auch ihre Stellung in der Gesellschaft, insbesondere in Bezug auf normative Bilder von Geschlecht und Familie, wird in den Blick genommen. In den letzten Jahrzehnten lässt sich in Deutschland ein Wandel von Geschlechterrollen und Familienformen konstatieren. Dies gilt für die Zeit der beiden getrennten deutschen Staaten DDR und BRD sowie für die deutsche Gesellschaft nach der Vereinigung im Jahre 1989. Dieser Wandel äußert sich in starkem Maße in den sozialen Praktiken, also darin, wie Menschen mit ihren Partnern und Partnerinnen und ihren Kindern leben. So ist z. B. eine Zunahme von Alleinerziehenden sowie von erwerbstätigen Frauen - auch Müttern - zu verzeichnen. In geringerem Ausmaß lässt sich der Wandel von Geschlechterrollen und Familienbildern auch an der Entwicklung institutioneller Rahmenbedingungen ablesen. Dies gilt insbesondere für sozialpolitische und familienrechtliche Institutionen. Ursprünglich sind die familienrelevanten Institutionen jedoch auf traditionellen Leitbildern gegründet, welche bis heute nachhaltige Wirkung zeitigen. Im traditionellen, dichotomen Verständnis von Geschlecht schließen sich nicht nur Weiblichkeit und Männlichkeit sondern auch Mütterlichkeit und Väterlichkeit gegenseitig aus. Werden gleichzeitig beide Aspekte als Voraussetzung für ein gesundes Aufwachsen von Kindern angesehen, so folgt daraus die Normativität der heterosexuellen Zwei-Eltern-Familie. Die zentrale Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist, inwieweit diese traditionellen Geschlechterund Familienleitbilder bis heute in der Gesellschaft fortwirken und was diese Bilder für Alleinerziehende bedeuten. Die Gleichzeitigkeit von sozialem Wandel und dem Fortbestand traditioneller Sichtweisen auf Geschlecht und Familie kann nicht ohne Folgen für individuelle Lebenswirklichkeiten sein. Es stellt sich die Frage, welche Bedeutung dieser gesellschaftliche Rahmen für subjektive Konstruktionen von Geschlecht und Familie hat: Wie erleben und beschreiben die Subjekte ihre Bilder und Vorstellungen von Geschlecht und Familie? Reproduzieren sie eher traditionelle Sichtweisen auf Geschlecht oder finden sie Möglichkeiten, den in 13
diesen Sichtweisen enthaltenen Festlegungen zu entrinnen und eigensinnige, neue Bilder von Geschlecht und Familie zu entwickeln? Für die Untersuchung dieser Fragestellungen sind Alleinerziehende eine in besonderem Maße geeignete Gruppe, da ihre Lebensform von dem bis heute trotz allen Wandels als gesellschaftliche Normalität angesehenen Modell der heterosexuellen Zwei-Eltern-Familie abweicht. Für Alleinerziehende hat die hier aufgeworfene Frage nach Entwicklungsmöglichkeiten von Spielräumen in der Konstruktion von Geschlecht und Familie eine besondere Bedeutung: Verbleiben sie im dichotomen Verständnis von Geschlecht, so lässt sich vermuten, dass dies eine Sichtweise sowohl auf ihr subjektives Selbstverständnis in Bezug auf ihren Körper und ihre Geschlechtlichkeit als auch auf die von ihnen gelebte Mütterlichkeit bzw. Väterlichkeit und damit einhergehend auch der Ein-ElterFamilie als defizitär beinhaltet. Spiegeln sich Bilder von der Ein-Elter-Familie1 als defizitäre Lebensform in Interaktionen, institutionellen Rahmenbedingungen oder auch Diskursen, so kann angenommen werden, dass sich dies negativ auf das subjektive Wohlbefinden der in Ein-Elter-Familien lebenden Eltern und Kinder auswirkt. Eigene Deutungen und Umformungen dieser Bilder könnten hingegen ein Moment der Widerständigkeit gegen das normative Bild der heterosexuellen Zwei-Eltern-Familie darstellen und so zu einer Normalisierung dieser Familienform im sozialen Umfeld und in der Gesellschaft beitragen. Für die Untersuchung der umrissenen Fragestellung bietet sich ein sozialkonstruktivistischer Zugang an. Hier werden die als natürlich geltenden Kategorien Geschlecht und Familie in den Kontext kultureller Entstehung gesetzt. Dies impliziert die Veränderbarkeit dieser Kategorien. Aufbauend auf den sozialwissenschaftlichen Theorietraditionen von Ethnomethodologie und Sozialkonstruktivismus wurde in den letzten Jahrzehnten v. a. in Frauenforschung und gender studies herausgearbeitet, dass es sich bei der Kategorie Geschlecht nicht einfach um eine natürliche Bedingung und/oder funktionale Rolle handelt, sondern Geschlecht als komplexe soziale Konstruktion begriffen werden kann. Die Unterscheidung zwischen sex und gender sowie die Analyse von gender als Kategorie sozialer Ungleichheit waren zentrale Elemente dieser Entwicklung. 1
Es wird in dieser Arbeit die begriffliche Unterscheidung zwischen ‚Alleinerziehenden’ für die Beschreibung der Situation der Erwachsenen und ‚Ein-Elter-Familien’ für die Darstellung der Belange von Eltern und Kindern getroffen. Da das inzwischen häufig gebrauchte ‚Ein-ElternFamilie’ den grammatischen Fehler des Plurals in sich birgt, wird hier mit dem Begriff ‚Ein-ElterFamilie’ die zwar noch ungewohnte aber logische Form des Singulars gewählt. Die Begriffe ‚MutterFamilie’ bzw. ‚Vater-Familie’ werden an den Stellen verwendet, an denen das Geschlecht des Elternteils relevant wird. Um den Status als eigenständige Lebensform hervorzuheben, wird substantiviert von ‚Alleinerziehenden’ die Rede sein.
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Bezogen auf die hier formulierten Fragestellungen beschäftigt sich die vorliegende Arbeit mit Geschlechter- und Familienleitbildern2 sowie mit deren Reproduktion bzw. Modifikation durch Alleinerziehende. Die Aufgaben Alleinerziehender lassen sich auf unterschiedliche Art und Weise beschreiben. Eine Möglichkeit ist: Alleinerziehende müssen sowohl die Mutter- als auch die Vaterrolle erfüllen. Und eine andere: Alleinerziehende sind für die Erziehung und für die materielle Versorgung eines oder mehrerer Kinder allein verantwortlich. Diese unterschiedlichen Formulierungen derselben Lebenssituation haben nur auf den ersten Blick keine differierenden Bedeutungen. Erstere bezieht sich auf die Integration zweier mit Geschlecht und Körper diskursiv verbundener Rollen in einer Person. Spontan dürfte bei vielen LeserInnen das Gefühl entstehen: Sowohl Vater als auch Mutter zu sein ist für eine Person nicht leistbar. Die zweite Formulierung beschreibt die zu leistenden Aufgaben präziser, ist aber auch emotionsloser, denn es fehlen die für jede/n Leser/in mit unzähligen Assoziationen befrachteten Begriffe ‚Mutter’ und ‚Vater’. Hier ist folgende Reaktion denkbar: Eine anstrengende Lebenssituation, aber – abhängig von den sozialstrukturellen Bedingungen - im Bereich des Machbaren. In der unterschiedlichen Wirkung der beiden Kurzbeschreibungen des Alleinerziehens zeichnet sich ein Aspekt ab, der für Alleinerziehende nicht ohne Bedeutung sein kann: Je nach Sichtweise auf ihre Familienform stellt sich diese als zu bewältigen oder als Überforderung dar. Dabei entspringt die Sichtweise auf Ein-Elter-Familien als defizitär dichotomen Vorstellungen von Zweigeschlechtlichkeit, mit denen die Begriffe ‚Mutter’ und ‚Vater’ untrennbar verbunden sind. Verhaltensweisen werden an körperliche Merkmale gekoppelt und als sich gegenseitig ausschließend dargestellt: Wer das eine ist, kann nicht das andere sein. Mütterlichkeit und Väterlichkeit werden als verschieden bis gegensätzlich begriffen. Aber in wieweit verändern sich diese Zuschreibungen im Zuge des sozialen Wandels in der postmodernen Gesellschaft und dem damit einhergehenden Anspruch auf Geschlechtergleichheit und Geschlechtergerechtigkeit? Wenn Mütterlichkeit und Väterlichkeit sich qualitativ angleichen, wenn ein Verständnis vorherrscht, demzufolge beide Geschlechter für alle Aufgaben, die zur Versorgung von Kindern und zur Existenzsicherung einer Familie notwendig sind, in gleichem Maße fähig sind, dann löst sich der auf dichotomen Geschlechterbildern basierende Blick auf Ein-Elter-Familien als defizitäre Konstellation weitgehend auf. Die Sicht verändert sich in Richtung der zweiten 2 Unter Geschlechter- und Familienleitbildern werden hier richtungweisende, kollektive Einstellungen und Denkmuster gefasst, die durch zentrale Diskurse Verbreitung finden. Durch Geschlechter- und Familienleitbilder richten sich gesellschaftliche Erwartungen an die Subjekte, bestimmte Rollen und Aufgaben bezüglich Geschlecht und Familie zu erfüllen.
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oben gegebenen Beschreibung der zu leistenden Aufgaben und richtet sich damit gleichzeitig auf die Bedingungen, die zu deren Erfüllung notwendig sind bzw. wären. In welchem Maße sich ein derartiger sozialer Wandel im Selbstverständnis Alleinerziehender niedergeschlagen hat, wird in dieser Arbeit sowohl theoretisch als auch empirisch - letzteres in Form von qualitativen Interviews mit zwanzig Alleinerziehenden - untersucht. Dabei werden Herkunft und Geschlecht als unterschiedliche Ausgangsvoraussetzungen für subjektive Konstruktionen spezifisch berücksichtigt. Besonderes Augenmerk wird in dieser Arbeit auf die differierenden historischen Voraussetzungen in Ost und West gelegt. Auch die Frage, ob sich zwischen allein erziehenden Müttern und allein erziehenden Vätern Unterschiede in den Konstruktionen von Geschlecht und Familie feststellen lassen, findet besondere Beachtung. Alleinerziehende müssen heutzutage als gesellschaftlich relevante Gruppe gesehen werden. Im Jahr 2007 lebten in Deutschland 1,57 Millionen Alleinerziehende mit Kindern unter 18 Jahren. Diese Zahl entspricht 18% aller Familien mit Kindern. In Ostdeutschland liegt der Anteil Alleinerziehender (26%) höher als in Westdeutschland (17%), die Gesamttendenz ist steigend (BMFSFJ 2008: 5). Bei der Lebensform des Alleinerziehens handelt es sich um eine im Lebenslauf zeitlich begrenzte, vorübergehende Situation. Hieraus folgt, dass die Zahl derjenigen, die einmal allein erziehend waren oder sein werden, noch über den oben genannten Zahlen liegt. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die starke Verbreitung dieser Lebensform bereits zu ihrer vollständigen Akzeptanz in Familienleitbildern, sozialen Interaktionen sowie Selbstbildern der Betreffenden geführt hat. Der Forschung zu Alleinerziehenden in Deutschland3 kommt innerhalb der letzten Jahrzehnte der Verdienst zu, Ein-Elter-Familien zumindest im Bereich der Familienforschung aus der Unsichtbarkeit gehoben zu haben. Die Lebensleistungen Alleinerziehender vor dem Hintergrund oft schwieriger ökonomischer Voraussetzungen wurden herausgearbeitet (BMFSFJ 2008; Braches-Chyrek 2002; Enders-Dragässer und Sellach 2002; Hammer 2002a; Hammer und Lutz 2002; Schewe 2002; Wiechmann 2008) und die Unterschiede im Lebensverlauf allein erziehender Väter und Mütter sowie nach Ost- und Westherkunft aufgezeigt (Bloom und Böhmer 1991; Drauschke 2002; Nestmann und Stiehler 1998; Neubauer 1989; Schewe 2002; Stegmann 1997; Stiehler 2000). In den letzten zehn Jahren ist eine Zunahme sozialwissenschaftlicher Forschung zum Thema Alleinerziehen festzustellen. Das Bundesfamilienministerium nimmt sich des Themas Alleinerziehen zunehmend an (BMFSFJ 3 Diese Arbeit bezieht sich in erster Linie auf die Alleinerziehenden- sowie Familienforschung im deutschsprachigen Raum.
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2008). Aspekte wie z. B. die „Einbindung in soziale Unterstützungsnetzwerke und die ökonomische Situation“ können inzwischen „als relativ gut erforscht gelten“ (Schneider et al. 2001: 14). Der Zusammenhang zwischen Konstruktionsprozessen von Geschlecht und Familie und Selbstbildern Alleinerziehender wurde jedoch bisher kaum in den Blick genommen. Noch in den 1960er und -70er Jahren wurden Alleinerziehende in der deutschen Familienforschung häufig als ‚unvollständige Familien’4 oder ‚Restfamilien’ bezeichnet (kritisch: Nave-Herz 1997a: 91). Diese „Differenzierung von Familie in ‚vollständige’ und ‚unvollständige’ Familie“ lässt nur die ZweiEltern-Familie, „als das ‚Normalitätsmuster’ erscheinen“ (Nave-Herz 1997a: 91). Die in den folgenden Jahrzehnten durch die Alleinerziehendenforschung erfolgte Analyse und Sichtbarmachung der Lebensform der Ein-Elter-Familie erzielte auf die allgemeine Familiensoziologie eine positive Wirkung. Dies ist u. a. daran zu erkennen, dass die oben genannten abwertenden Formulierungen auch dort inzwischen weitgehend durch die neutraleren Begriffe ‚Alleinerziehende’ bzw. ‚Ein-Elter(n)-Familie’ ersetzt wurden. Offen bleibt, wie weit diese Veränderungen in die Gesellschaft vorgedrungen sind und ob sich mit den neuen Begriffen auch die Einstellungen gewandelt haben. Es stellt sich die Frage, ob Familien mit einem Elternteil heutzutage in Ost- wie Westdeutschland als ‚ganz normale’, bzw. ‚komplette Familien’ verstanden werden oder ob die alten Bilder von ‚Unvollständigkeit’ hinter den neuen Bezeichnungen weiterleben. Gehen Sichtweisen, die von der heterosexuellen Zwei-Eltern-Familie ausgehen und andere Familienformen unberücksichtigt lassen in institutionelle Regelungen, z. B. in Steuer- und Rentenregelungen, oder auch in Adoptionsrechte5 ein, so kann vom traditionellen normativen Familienleitbild der heterosexuellen Zwei-Eltern-Familie gesprochen werden. Werden hingegen verschiedene Lebensformen intersubjektiv anerkannt und institutionell mit den gleichen Chancen ausgestattet, kann dies als Tendenz zur Detraditionalisierung im Sinne des Abbaus sozialer Ungleichheiten bezeichnet werden. Da die traditionellen Zuschreibungen zu Väterlichkeit und Mütterlichkeit auf Denkmustern basieren, auf deren Grundlage Zweigeschlechtlichkeit kulturell definiert wird, ist die Darstellung von Geschlechterbildern und die Analyse ihrer 4
Die Bezeichnung ‚unvollständige Familien’ für Ein-Elter-Familien wird z. B. im ersten Familienbericht 1965 verwendet (kritisch: Behning 1996). Ebenfalls in den 70er Jahren gebräuchliche Termini waren ‚Scheidungsfamilie’, ‚Halbfamilie’, und ‚broken home’ (vgl. kritisch: Swientek 1984: 14) 5 Wie weit der öffentliche Diskurs in dieser Gesellschaft von einer tief greifenden Veränderung dieser Einstellungen entfernt ist, zeigt u. a. die Heftigkeit der Argumentationen gegen Adoptionsrechte für Homosexuelle in den sich wiederholenden Debatten über dieses Thema und die bis heute bestehende rechtliche Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Paare.
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Entwicklung ein wesentlicher Teil dieser Arbeit. Das zweigeschlechtliche Denken, welches von der Notwendigkeit der Ergänzung durch das andere Geschlecht ausgeht, kann nicht ohne Folgen für das Verhältnis Alleinerziehender zu ihrer eigenen Geschlechtlichkeit bleiben. Ein traditionelles Geschlechter- und Familienverständnis würde folglich bedeuten, sich als ohne gegengeschlechtliche Partnerschaft lebendes geschlechtliches Wesen unvollständig zu fühlen. Die Emanzipation von diesem Denken jedoch könnte zu neuen Freiheiten der Selbstdefinition und des Selbstverständnisses führen. Alleinerziehende sind in Bezug auf die Konstruktionen von Geschlecht und Familie eine besonders interessante Gruppe, denn sie haben – innerhalb des traditionellen Denkens über die familiale Rollenverteilung – sämtliche sonst Mutter und Vater zugeschriebenen Aufgaben zu erfüllen. Durch diese Rollenkumulation kann ein Spannungsverhältnis zu Sichtweisen auf die heterosexuelle Zwei-Eltern-Familie als ‚normales’ oder auch ‚ideales’ Familienmodell entstehen. Es stellt sich die Frage, ob die Erfahrung der Abweichung zur dominanten Familienform der Entwicklung einer eigen(sinnig)en Haltung in besonderem Maße förderlich ist. Inwieweit dies eher zu Defizitperspektiven oder zu Gegenkonstruktionen in Hinblick auf die herrschenden Normalitätsdefinition führt, in welchem Umfang also Spielräume in der subjektiven Konstruktion von Geschlechter- und Familienbildern gegeben sind bzw. entwickelt werden, ist die übergreifende zentrale Forschungsfrage, der in dieser Arbeit nachgegangen wird. Der hier beschriebene Forschungsgegenstand tangiert verschiedene Forschungsfelder, so dass diese Studie nicht nur (allgemein gefasst) einen Beitrag zur Geschlechter- und Familienforschung sondern auch (spezieller) zur Alleinerziehendenforschung, Mütterund Väterforschung sowie Kindheitsforschung leistet. Da die Begriffe „Familie“ und „Alleinerziehen“ im Zentrum dieser Arbeit stehen, befasst sich das nun folgende Unterkapitel mit deren Definitionen:
Definition Familie Der Begriff ‚Familie’ wird für eine Lebensgemeinschaft von mindestens zwei Personen, die mehrere Generationen umfasst, verwendet. Unter diesen Familienbegriff fallen sowohl Alleinerziehende, Familien mit homosexuellen Eltern als auch Pflegefamilien. Ausgrenzungen über Blutsverwandtschaft oder Geschlecht werden nicht impliziert (vgl.: Nave-Herz 2001: 291). Eine allgemeingültige Definition von Familie kann es nicht geben.
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Der Begriff ‚Familie’ entstand zeitgleich mit der Entwicklung der bürgerlichen Kleinfamilie. Die historisch nachgewiesen sich wandelnden Familienformen können nicht als ‚natürlich’, sondern müssen als gesellschaftlich-kulturell bedingt betrachtet werden. Der Familienbegriff ist über die Pluralität hinaus nicht definierbar, ohne dass Ein- und Ausgrenzungsmechanismen in Gang gesetzt werden. Unter die Definition von Familien als Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaften (vgl. ebd.) fallen sowohl Paare mit und ohne Trauschein als auch Wohngemeinschaften, in denen sich die einzelnen Mitglieder emotional und/oder wirtschaftlich-organisatorisch unterstützen. Gleichwohl wird im Alltagsverständnis in der Regel bis heute unter Familie die heterosexuelle Zwei-Eltern-Familie mit einem oder mehreren Kindern verstanden. Im Diskurs um Familie steht die Romantisierung eines engen Familienbegriffs nach wie vor hoch im Kurs, ein Beispiel dafür ist das folgende Zitat eines bekannten Soziologen: „Ehe, Elternschaft, Liebe, Zusammenleben, Haushalt fallen auseinander; was so entsteht, wird jedoch mit der ungenierten Leichtigkeit des geschichtsblinden Blickes mit dem anheimelnden Nischenwort ‚Familie’ gefasst“ (Beck 1996: 22). Formulierungen wie diese wirken an der mythologisierenden Vorstellung eines abgrenzbaren Familienbegriffs mit (vgl. kritisch Nave-Herz 1997a: 37). Der gesellschaftlichen Einheit Familie kommen etliche individuelle und kollektive Funktionen zu, wie die Befriedigung von Liebesbedürfnissen, die Regulierung sexuellen Verhaltens, die Reproduktion, die Fürsorge für Kinder und die Sorge für Ältere und Kranke. Familien übernehmen insofern wesentliche staatstragende Aufgaben, als sie ihre Mitglieder in deren jeweilige gesellschaftliche Funktionen hineinsozialisieren. Dies betrifft sowohl das Verständnis von Demokratie als auch schicht- und geschlechtsspezifische Rollen. Die Familie bildet sowohl den Ausgangspunkt, als auch die Ergänzung und Weiterführung institutioneller Sozialisationsinstanzen, wie z. B. Kinderbetreuung, Schulen und Berufsbildung.
Definition Alleinerziehend Der Begriff des Alleinerziehens bezieht sich auf die Familiensituation. Er bezeichnet die Alleinverantwortlichkeit eines Erwachsenen für den familialen Teil der Erziehung eines oder mehrerer Kinder und die ökonomische Versorgung der Familie.
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Durch die Verwendung der Bezeichnung ‚allein erziehend’ werden außerfamiliäre Sozialisationsfaktoren nicht ausgeblendet.6 Es ist jedoch nicht einfach, diese Bezeichnung abzugrenzen. Die meisten Alleinerziehenden erhalten Unterstützung aus ihrem sozialen Netzwerk, teilweise einschließlich des getrennt lebenden anderen Elternteils. Die Frage, wie viel Unterstützung Alleinerziehende erhalten dürfen, so dass gleichzeitig die Bezeichnung ‚allein erziehend’ gerechtfertigt bleibt, ist nur Kontext- abhängig und ebenso wenig allgemeingültig zu beantworten wie die Definition von Familie. Aus der Heterogenität der Gruppe Alleinerziehender ergibt sich die Schwierigkeit, Ein-Elter-Familien zu definieren, ohne zu vage zu bleiben oder ungerechtfertigte Ausschlüsse vorzunehmen. Zunächst muss festgestellt werden, dass es ‚die Alleinerziehenden’ als gesellschaftlich homogene Gruppe nicht gibt, sondern dass es sich hier um eine sehr dynamische Lebensform handelt (Brand und Hammer 2002: 14; Schneider et al. 2001). Demzufolge weichen die Definitionen Alleinerziehender in der Alleinerziehendenforschung stark voneinander ab. Sie unterscheiden sich nach dem Alter der im Haushalt lebenden Kinder (bis 18 oder bis 27 Jahre), der Relevanz von Sorgerecht, Betreuungsbedürftigkeit der Kinder, Versorgungsleistungen anderer Erwachsener (anderer Elternteil, Verwandte), Familienstand der/s Alleinerziehenden, Haushaltsform und der verwandtschaftlichen Beziehung zum Kind bzw. zu den Kindern. Aufgrund der nach wie vor weit verbreiteten männlichen Vollerwerbstätigkeit sind auch viele Zwei-Eltern-Familien durch ein hohes Maß an Vaterabwesenheit gekennzeichnet. In diesem Zusammenhang wird manchmal argumentiert, dass auch jene Mütter in Zwei-Eltern-Familien, welche nahezu allein für Erziehungs- und Hausarbeit zuständig sind, allein erziehend seien. Diese Argumentation vernachlässigt allerdings, dass sich eine solche Lebenssituation wesentlich von derjenigen der Ein-Elter-Familie unterscheidet, da Alleinerziehende neben der alltäglichen Familienarbeit eben auch allein zuständig für die ökonomische Situation der Familie sind. Entsprechend dieser Überlegungen werden im vorliegenden Text Alleinerziehende als Erwachsene definiert, die in einem Haushalt mit betreuungsbedürftigen Kindern leben, für die sie alleine die Verantwortung tragen. Gleichzeitig sind sie allein verantwortlich für die Beschaffung der 6
Letztendlich erzieht niemand sein Kind vollständig allein. Institutionelle Einflüsse auf die kindliche Sozialisation durch Kinderbetreuungseinsrichtungen und Schule sowie die starken Einflüsse der peergroup der Kinder müssen, genau wie Effekte von Medienkonsum, als wichtige Einflüsse auf den Sozialisationsprozess angesehen werden (vgl. z. B.: Geulen 1994). Mit ‚peer-group’ wird die Gruppe der Gleichaltrigen bezeichnet, deren große Bedeutung für die kindliche Sozialisation im pädagogischen Diskurs der letzten zehn Jahre – insbesondere in Bezug auf das Geschlechterverhalten - zunehmend herausgearbeitet wurde.
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lebensnotwendigen materiellen Ressourcen über Berufstätigkeit und/oder staatliche Unterstützung.
Aufbau des Buches Dieses Buch besteht aus einem theoretisch-methodischen (Kap.2-5) und einem empirischen Teil (Kap.6-7), welcher durch das Resümee (Kap.8) abgeschlossen wird. Zunächst wird der dem Text zugrunde liegende theoretische Bezugsrahmen, u. a. das Verständnis von dem, was unter ‚sozialen Konstruktionen’ zu verstehen ist, dargelegt (2.1). Daran anschließend werden die Begriffe Diskurs und Leitbild definiert (2.2). Unter 2.3 erfolgt die theoretische Verortung von Institutionen und unter 2.4 wird die Bedeutung von Interaktionen in Bezug auf Geschlecht und Familie erläutert. Die Definitionen von Interaktionen, Institutionen und Diskursen (Kap.2) bilden die Basis für deren Analyse in der historischen Entwicklung (Kap.3), ihren konkreten Auswirkungen auf die Gesamtgruppe der Alleinerziehenden (Kap.4) sowie für Struktur, Darstellung und Interpretation der empirischen Erhebung (zweiter Teil der Arbeit). Im dritten Kapitel wird in der historischen Perspektive das Zusammenspiel von institutionellen Konfigurationen und kulturellen Bildern aufgezeigt. Die Beschreibung der Geschlechter- und Familienleitbilder in Ost und West verdeutlicht kulturelle Hintergründe der für den empirischen Teil befragten Alleinerziehenden. Die sich wechselseitig beeinflussenden Effekte von institutionellen Figurationen7 und kulturellen Bildern von Familie und Geschlecht in der Geschichte von DDR (3.3 und BRD (3.4) zwischen 1949 – 1989 werden – mit einer kurzen Einleitung zu den geschichtlichen Vorläufern in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (3.2) - im dritten Kapitel sondierend beleuchtet. Dabei wird den durch gesellschaftliche Veränderungen hindurch konstanten traditionellen Bildern besondere Aufmerksamkeit zuteil. Die enge Verknüpfung der Konstruktionen von Geschlecht und Familie wird an Diskursen um Kindeswohl, Väterlichkeit und Mütterlichkeit aufgezeigt. Darstellung und Analyse von Ähnlichkeiten und Unterschieden in DDR und BRDGeschichte stellen die Basis für die Beantwortung der Frage dar, ob - und wenn ja wie - sich Ost/West – Unterschiede bis heute im Leben Alleinerziehender abbilden. Der Konstruktionscharakter der Kategorien Geschlecht und Familie wird 7 Mit institutioneller Figuration wird hier ein Institutionengefüge bezeichnet, in dem die einzelnen Institutionen aufeinander wirken und unter wechselseitigem Einfluss mit der Subjektebene stehen.
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für die Zeit des bis heute andauernden Transformations- und Modernisierungsprozesses nach 1989 schwerpunktmäßig anhand der diskursiven Entwicklung dargelegt (3.5). Um den Überblick über die Lebensbedingungen der Gesamtgruppe der Alleinerziehenden zu gewinnen wird im vierten Kapitel der Forschungsstand zu Alleinerziehenden zusammenfassend dargestellt. Die Beschreibung der sozialstrukturellen Lebensumstände der Gruppe Alleinerziehender bildet den notwendigen Hintergrund für das Verständnis der im empirischen Teil untersuchten individuellen Lebensbedingungen. Während die Darstellung der figurativen Hintergründe von Geschlechter- und Familienleitbildern verdeutlicht, dass sich Anzeichen sowohl für das Beharrungsvermögen einer normativen Sicht auf die Zwei-Eltern-Familie als auch für eine zunehmende Akzeptanz der EinElter-Familie ausmachen lassen (Kap.3), zeigt der Forschungsstand zu Alleinerziehenden die andauernde sozialstrukturelle Benachteiligung dieser Gruppe (Kap.4). Der methodische Teil beginnt mit der Spezifizierung der Forschungsfragen aus dem Forschungsstand heraus (5.1) und setzt sich in differenzierten Informationen über die Anlage der qualitativen, empirischen Untersuchung fort (5.2). Die zwanzig im Rahmen dieser Arbeit erhobenen Interviews mit Alleinerziehenden verteilen sich auf zehn Ost- und zehn Westbiographien, davon jeweils fünf Männer und fünf Frauen. Innerhalb dieser Gruppierungen bildet sich die Heterogenität der Gruppe Alleinerziehender in der Wahl von InterviewpartnerInnen mit unterschiedlichen Bildungsabschlüssen und differierenden beruflichen Feldern ab. Die Interviews sind problemzentriert angelegt (Witzel 1995; Witzel 2000) und ermöglichen so ein sich gegenseitig ergänzendes Zusammenspiel von Fragen aus dem theoriegeleitet konzipierten Leitfaden und die Integration von inhaltlichen Schwerpunktsetzungen der Interviewten. Der empirische Teil dieser Arbeit konzentriert sich auf die Beschreibung und Analyse der Ergebnisse (Kap. 6 und 7) und ein zusammenfassendes Resümee (Kap.8). Dabei werden im sechsten Kapitel die strukturellen Lebensbedingungen der interviewten Alleinerziehenden auf die für die Gesamtgruppe im Forschungsstand dargestellten Lebensumstände bezogen. Übereinstimmungen wie Unterschiede zwischen Sample und Gesamtgruppe werden herausgearbeitet. Im siebten Kapitel finden die Geschlechter- und Familienbilder der befragten Alleinerziehenden Raum. Dabei werden Geschlechterbilder sowohl in Bezug auf das Verhältnis der Alleinerziehenden zur eigenen Weiblichkeit und Männlichkeit (7.1) als auch hinsichtlich der Wahrnehmungen und Einstellungen der Alleinerziehenden zum Geschlechterverhalten ihrer Kinder (7.2) untersucht. Familienbilder erscheinen in den Erzählungen Alleinerziehender in ihrer Sicht auf Mütterlichkeit und Väterlichkeit (7.3) sowie in ihren Einstellungen zu 22
unterschiedlichen Familienformen (7.4). Die Zusammenhänge zwischen den dargestellten subjektiven Geschlechter- und Familienbildern werden unter 7.5 in den Blick genommen und in Relation zu den jeweiligen sozialstrukturellen Bedingungen gesetzt. Während die in 5.1 entwickelten, ins Detail gehenden Forschungsfragen in Kapitel sechs und sieben bearbeitet werden, wird in Kapitel acht in einer Zusammenführung empirischer Ergebnisse und theoretischer Überlegungen auf die Hauptforschungsfrage nach den Spielräumen in der Konstruktion von Geschlecht und Familie in den Biographien Alleinerziehender erneut Bezug genommen. Gleichzeitig werden hier weiterführende Forschungsfragen formuliert und aus den Forschungsergebnissen resultierende Konsequenzen angedacht.
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2 Theoretischer Bezugsrahmen
Subjektive Konstruktionen von Geschlecht und Familie stehen unter dem Einfluss von Interaktionen, Institutionen und Diskursen und beeinflussen ihrerseits diese Ebenen gesellschaftlicher Wirklichkeit. Inwieweit subjektive Spielräume in den Konstruktionen von Geschlecht und Familie entwickelt werden können, ist folglich abhängig von der Beschaffenheit figurativer Effekte und von der Haltung der Subjekte gegenüber diesen Bedingungen. Im folgenden Kapitel wird geklärt, was in dieser Arbeit unter Diskursen, Institutionen und Interaktionen verstanden wird und in welchem Verhältnis diese zu Konstruktionen von Geschlecht und Familie zu begreifen sind. Diese theoretischen Erläuterungen bilden eine wesentliche Grundlage für das Verständnis subjektiver Konstruktionsprozesse. Dabei wird zunächst die übergreifende Perspektive der sozialen Konstruktion von Geschlecht und Familie verdeutlicht (2.1). Daran anschließend wird auf Diskurse und Leitbilder (2.2), Institutionen in der Lebenslaufforschung (2.3) und die Bedeutung von Interaktionen im Sozialisationsprozess (2.4) eingegangen.
2.1 Konstruktionsprozesse von Geschlecht und Familie Der Begriff der Konstruktion bezieht sich auf die Unterscheidung gesellschaftlicher Entstehungsprozesse von Kategorien, die als unveränderlich gegeben und daher tendenziell als ‚natürlich’ verstanden werden. Das Natürliche lässt sich in erster Linie durch seine statische bzw. schicksalhafte Verwendung im Diskurs (so ist es eben) vom prozessualen (etwas ist durch bestimmte Bedingungen entstanden und somit veränderbar) Charakter des Gesellschaftlichen differenzieren. Festzustellen ist, dass die Darstellung sozialer Erscheinungen als unveränderlich häufig mit der Verwendung von Begriffen aus Natur und Biologie einhergeht. Beim Begriff der Konstruktion wird davon ausgegangen, dass die „Gesellschaftsordnung ein Produkt des Menschen ist, oder genauer: eine ständige menschliche Produktion. Der Mensch produziert sie im Verlauf seiner unaufhörlichen Externalisierung. Gesellschaftsordnung ist weder biologisch gegeben
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noch von irgendwelchen biologischen Gegebenheiten ableitbar.“ (Berger und 8 Luckmann 1999 [1969]: 55)
Konstruktion und Reproduktion von Alltagswirklichkeit entwickeln sich Berger/Luckmann zu Folge in Prozessen der Gewohnheitsbildung in der zwischenmenschlichen Kommunikation. Im Laufe der Habitualisierung von Wirklichkeit entwickeln sich Dominanzen bestimmter Sichtweisen auf Wirklichkeit über andere. Dieser Vorgang wird durch Machtverhältnisse bestimmt. Die ‚Verhärtung’ und Typisierung habitualisierter Handlungsmuster bezeichnen Berger/ Luckmann als Institutionalisierung (Berger und Luckmann 1999 [1969]: 58ff.). Gewohnheiten werden durch ihre Institutionalisierung zu allgemein-gültigen Verhaltensregeln und Ansichten. Die Weitergabe institutionalisierter Wirklichkeit – z. B. an eine nachfolgende Generation – erfordert die Legitimierung in Form einer Begründung. Weitergabe und Legitimierung institutionalisierter Handlungen geschehen im Wesentlichen über Sprache und erlangen in der primären Sozialisation besondere Bedeutung, da Sprache „dem Kind als zur ‚Natur der Dinge’ gehörig“ (ebd.: 63) erscheint. Die Nachkommen erleben die vorgefundene und durch Erklärungen ‚verhärtete’ Wirklichkeit als die einzig mögliche, als objektive Wirklichkeit. Die Legitimierung von Wirklichkeit bei ihrer Weitergabe bewirkt neben der Produktion von ‚objektiver Wirklichkeit’ nach außen gleichzeitig eine Stabilisierung dieser Wirklichkeit nach innen. Zur theoretischen Begründung dieser aus Habitualisierung entstandenen Wirklichkeit werden Konstruktionen symbolischer Sinnwelten hergestellt. Symbolische Sinnwelten dienen der Regelung und Rechtfertigung von Alltagspraktiken und –rollen (ebd.: 106). Sie werden zur „wirkungs- und machtvollsten Legitimation für die institutionale Ordnung als ganze und auch für ihre verschiedenen Teilbereiche“ (ebd.). Symbolische Sinnwelten haben nach Berger/ Luckmann also die Funktion, Wirklichkeit zu systematisieren und einen gemeinsamen Bezugsrahmen für bestimmte Gruppen herzustellen. Folglich dienen Konstruktionen der Naturalisierungen von gesellschaftlicher Wirklichkeit im Alltagsleben. Berger/Luckmann betonen den aktiven Anteil der Subjekte: „Wir müssen uns immer wieder vor Augen führen, daß die Gegenständlichkeit der institutionalen Welt, so dicht sie sich auch dem einzelnen darstellen mag, von Menschen gemachte, konstruierte Realität ist.“ (ebd.: 64)
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Ich beziehe mich hier auf den sozialkonstruktivistischen Konstruktionsbegriff, bei dem die aus Konstruktionsprozessen hervorgehende Realität als solche anerkannt wird und nicht, wie im radikalen Konstruktivismus, auf Wahrnehmung reduziert ist.
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Die folgende Abbildung zeigt den Prozess der Habitualisierung und Institutionalisierung von Handlungen nach Berger/Luckmann:
Abbildung 1:
Die Institutionalisierung von Handlungen
Handelndes Subjekt
Habitualisierung von Handlungen
Institutionalisierung von Handlungen durch soziale Kontrolle und strukturelle Organisation
Legitimierung institutionalisierter Handlungen durch theoretische Konstruktionen / symbolische Sinnwelten
Weitergabe institutionalisierter und legitimierter Wirklichkeit an die nächste Generation Diese und die folgenden Abbildungen: Eigene Darstellung
Konstruktionen sind gleichzeitig Bestandteile des Alltagswissens – die Ordnung subjektiver Wirklichkeit – und Elemente des öffentlichen Diskurses. Geschlechterdifferenz und Geschlechterhierarchie basieren auf der Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit. Beide sind als wesentliche Teile der heutigen deutschen Gesellschaftsordnung zu betrachten. Wird der Naturaspekt zur Rechtfertigung 27
der Sinnwelten der Geschlechterordnung und dominanter Familienbilder herangezogen, so lässt sich dies als Legitimierung von Machtverhältnissen interpretieren. Zur Verdeutlichung des kulturellen Ursprungs und der historischen Verwurzelung dichotomer Bilder von Zweigeschlechtlichkeit und mit diesen verknüpften Bildern von Familie soll nun einführend ein kurzer Blick auf die historische Entstehung der Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit geworfen werden. Die in westlichen Kulturen übliche Unterscheidung in ein weibliches und ein männliches Geschlecht und die hiermit verbundenen dichotomen Zuschreibungen zu charakterlichen Eigenschaften und Fähigkeiten erlangten in den letzten Jahrhunderten, gestützt durch diverse wissenschaftliche Diskurse9, zunehmende Bedeutung. Seit dem 18. Jahrhundert ist es in weiten Teilen der Wissenschaft üblich, den Menschen zugeschriebene Merkmale wie Hautfarbe, Geschlecht und Klassenzugehörigkeit binär und hierarchisch geordnet (schwarz/weiß, weiblich/männlich, unten/oben) und in Bezug zu charakterlichen Aspekten bzw. Fähigkeiten zu setzten. In diesem dichotomen Denken wurde dabei jeweils einer Seite Normalität zugeschrieben und die andere als dieser Normalität entgegengesetzt konzipiert. Mit den dichotomen Zuschreibungen charakterlicher Eigenschaften zu körperlichen Merkmalen wurden stets hierarchische Ordnungen etabliert bzw. gefestigt – die Geschichte der Entstehung von Weiblichkeit und Männlichkeit ist nur ein Beispiel für die Funktion sozialer Konstruktionen bei der Legitimation von Machtverhältnissen. Dabei ging die systematische Abwertung des als ‚anders’ Konstruierten Hand in Hand mit dessen teilweiser idealisierender Überhöhung.10 Die Gleichsetzung von Weiblichkeit mit einem idealisierten Naturbegriff als „Wahrheit jenseits der gesellschaftlichen Tatbestände“ (Schirilla 1996: 182) wurde maßgeblich bereits in der Aufklärung konstituiert, u. a. durch Rousseau, der Vernunft und Aktivität dem Mann zuordnete und aus der Fähigkeit des Gebärens die Zuständigkeit der Frauen für die Familie und ganz grundsätzlich für den Bereich der Emotionen ableitete (vgl. kritisch: Schirilla 1996: 184). Im hier vorliegenden dichotomen Denken bedeutete die den Frauen zugedachte Nähe zur Natur gleichzeitig die Aufwertung von Mütterlichkeit und den Ausschluss aus gesellschaftlichen Räumen. Die in Spätmittelalter und Vormoderne legitime väterliche Gewalt wurde in der Aufklärung zwar einerseits durch die Etablierung eines harmonischen Familienideals abgemildert, andererseits erhielt sie jedoch neue 9
Zur näheren Erläuterung des in dieser Arbeit verwendeten Diskursbegriffs siehe Kap. 2.2. Dies gilt sowohl für die Zuschreibung beängstigender Fähigkeiten (wie z. B. die Fähigkeit der Magie, auf welche die Hexenverbrennung folgte) als auch in dem Sinne, dass den abgewerteten Gruppen besondere Fähigkeiten zugesprochen wurden und werden, die ihnen zugedachten (in der gesellschaftlichen Hierarchie abgewerteten) Tätigkeiten auszuführen. 10
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Inhalte mit der Rolle des Vaters als innerfamilialem Vertreter der Gesellschaft und somit Fachkraft für Erziehung (Fues 2000; Opitz 1998; Opitz 2000; Schmid 2000). Ab dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts gewinnen Anthropologie, Medizin und Psychologie zunehmend an Bedeutung. Sie meinen, die geschlechtsspezifische Aufgabenverteilung als Ausdruck natürlicher „Geschlechtscharaktere“ wissenschaftlich belegen zu können. „Die Vorstellungen von dem eigentlichen Wesen der Geschlechter werden zugleich offenbar so erfolgreich popularisiert, dass immer größere Kreise der Bevölkerung sie bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als Maßstab für das jeweils Männlich-Angemessene und für das jeweils Weiblich-Angemessene akzeptieren.“ (Hausen 1976: 369)
Die Ausprägung von dichotomen Geschlechterrollenzuschreibungen und deren Legitimation als natürlich ging einher mit der Herausbildung geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung und der Entstehung der Kleinfamilie. In Folge der Industrialisierung veränderten sich die Organisationsformen von Arbeit für einen Großteil der Bevölkerung. Das Zusammenleben mehrerer Generationen mit zugehörigen Arbeitskräften unter einem Dach (das ‚ganze Haus’) wurde abgelöst durch die Kleinfamilie. Sie entwickelte sich erst im Zuge der Industrialisierung, als es die Menschen in die Städte zog und außerhäusliche Arbeit sprunghaft anstieg.11 Während in den Familien der Arbeiterschaft das Geld in der Regel nur dann zum Überleben reichte, wenn beide Eltern arbeiten gingen (die Kinder waren zu Hause auf sich allein gestellt, mussten aber häufig auch schon in jungen Jahren zum Familienunterhalt beitragen), bildete sich im Bürgertum die geschlechtsspezifische innerfamiliale Arbeitsteilung heraus, nach der Frauen für die häusliche Reproduktionsarbeit und Männer für die gesellschaftliche Produktion zuständig waren (vgl.: Hausen 1976). Die Herausbildung der Kleinfamilie zog die Diskriminierung lediger Mütter nach sich. Vor allem in den bürgerlichen Schichten haben solche Diskriminierungen eine lang zurück reichende Geschichte mit Sanktionsmechanismen bis zur körperlichen Züchtigung. In den nicht besitzenden Schichten waren ledige Mütter eher akzeptiert. Mütter blieben aus unterschiedlichen Gründen häufig alleine mit ihren Kindern zurück. Vater-Familien entstanden damals ausschließlich durch Verwitwung (NaveHerz und Krüger 1992: 62). Bis zu den Reformen des Scheidungsrechts in Ost 11 Es zeigen sich hier unterschiedliche Verläufe und Ungleichzeitigkeiten in verschiedenen Berufen: So hielt sich bei den Bauern die Organisationsform des ‚ganzen Hauses’ am längsten und auch in den Heimarbeiterfamilien fanden sich von sonstiger Arbeiterschaft und Bürgertum abweichende Organisationsformen (vgl.: Hausen 1976).
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und West in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Scheidung in den bürgerlichen Schichten so gut wie unbekannt und wurde möglichst durch die ‚Trennung von Bett und Tisch’ innerhalb eines Haushalts vermieden12 (ebd.). Selbst wenn jedoch getrennte Haushalte zu Stande kamen, führte dies in den besitzenden Schichten durch die Anwesenheit von Hausangestellten kaum zum Zustand des ‚Alleinerziehens’. In den nicht besitzenden Schichten dagegen war die Konsequenz aus dem Scheitern einer Ehe in der Regel die vollständige räumliche Trennung. Finanzielle Unterstützung durch den anderen Elternteil stand normalerweise nicht zur Verfügung. Die schichtunabhängig und durch Scheidung entstehende Ein-Elter-Familie ist also ein historisch neuartiges Phänomen, welches erst im 20. Jahrhundert zunehmend in Erscheinung tritt und zwar mit einem deutlichen quantitativen Vorsprung der Mutter-Kind vor der VaterKind-Familie (ebd.). Im Laufe der Zeit veränderten Diskurse über Männer und Frauen ihr Bezugssystem von Standesdefinitionen hin zu Charakterdefinitionen (ebd.: 370). Männern war der Zugang zu weiten Teilen des öffentlichen Raumes und damit zu einer gewissen Unabhängigkeit gesichert. Gleichzeitig waren jedoch mit der Zuständigkeit der Männer für Erwerbsarbeit – schichtabhängig in unterschiedlichem Maße – aber immer auch die mit Erwerbsarbeit einhergehenden Zwänge verbunden. Haus- und Familienarbeiten als ‚weibliche Tätigkeiten’ dagegen ziehen bis zur heutigen Zeit materielle Abhängigkeitsverhältnisse von Verwandtschaft bzw. Staat nach sich.13 Trotz gesellschaftlichen Wandels von Vater- und Mutterbildern sowie ansteigender Frauenerwerbstätigkeit bzw. Müttererwerbstätigkeit (Nave-Herz 2001) lassen sich starke Beharrungstendenzen traditioneller Strukturen im Geschlechterverhältnis feststellen. Dies trifft in besonderem Maße auf die Aufteilung der in einer Familie anfallenden Haus- und ErziehungsArbeiten zu (Reichart und Pfister 2002; Rohmann, Schmohr und Bierhoff 2002). Die Verteilung von Familien- und Erwerbsarbeit zwischen den Geschlechtern ist ein Thema, welches die Frauen- und Geschlechterforschung seit ihren Anfängen beschäftigt.
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Unter ‚Trennung von Bett und Tisch’ ist die räumliche Trennung innerhalb eines Haushaltes zu verstehen. In den beengten Wohnverhältnissen der nicht besitzenden Schichten war dies i. d. R. nicht möglich. 13 Die Auswirkungen materieller Abhängigkeitsverhältnisse für die Gruppe der Alleinerziehenden werden ausführlich in den Kapiteln 4 und 6 dargelegt.
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Von der Frauenforschung zur Geschlechterforschung Seit den späten 60er Jahren hat die Frauenforschung14 in Westdeutschland die Geschlechterzugehörigkeit als wesentliches Unterscheidungskriterium für den Zugang zu Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Macht herausgearbeitet.15 Dabei konnte auf die Arbeiten von Garfinkel (Garfinkel 1967) und Goffman (Goffman 2001 [1977]) (vgl. Kap.2.4) zurückgegriffen werden. Es gab enge Beziehungen zwischen der Frauenbewegung und der Frauenforschung. Die Frauenbewegung setzte das Recht auf Abtreibung durch und machte Vergewaltigung in der Ehe zum öffentlichen Thema. In den 70er und 80er Jahren entwickelten sich innerhalb der westdeutschen Frauenbewegung unterschiedliche Richtungen. Die einen traten für gleiche Rechte ein, die sie damit begründeten, dass Frauen die gleichen Fähigkeiten wie Männer hätten. Sie suchten beruflich neue Wege und strebten auch für Frauen gesellschaftliche Machtpositionen an. Elementar gefordert und teilweise durchgesetzt wurden gleiche Bildungs- und Berufschancen für Frauen wie für Männer (Gleichheitsansatz). Die Verfechterinnen der so genannten Differenzposition hielten dem entgegen, dass sich dahinter die „Angleichung an die männliche Welt“ (zusammenfassend Heintz 1993: 21) verberge, die „mit dem Verzicht auf Anderssein erkauft“ (ebd.) werde. Sie werteten das spezifisch Weibliche auf. Diese Kontroverse spiegelt sich bis heute in unterschiedlichen theoretischen Positionen in der Frauen- und Geschlechterforschung. In der Frauenforschung der 70er und 80er Jahre wurden die subjektive wie gesellschaftliche Bedeutung von Hausarbeit, die Geschlechtssegmentierungen des Arbeitsmarktes sowie das Verhältnis zwischen Haus - und Erwerbsarbeit analysiert. (vgl. kritisch zusammenfassend: Gottschall 2000). In der viel diskutierten Theorie vom ‚weiblichen Arbeitsvermögen’ (Beck-Gernsheim 1976; Ostner 1978) wurde z. B. die Bewältigung von Haus- und Familienarbeit als spezifisch weibliche Qualität herausgearbeitet. Geschlechtsspezifische Fähigkeiten wurden in ihrer Vermittlung durch den Sozialisationsprozess untersucht und als „Folge wie auch Voraussetzung der geschlechtsspezifischen 14
Mit dem Begriff ‚Frauenforschung’ wird hier die Forschung der 60er und 70er Jahre zu Benachteiligungen der weiblichen Bevölkerung bezeichnet, welche auch damals so genannt wurde. Seit den 80er Jahren hat sich mit der Öffnung der Fragestellungen hin zum Verhältnis der Geschlechter die Bezeichnung ‚Geschlechterforschung’ mehr und mehr durchgesetzt. Daher wird dieser Begriff für die Beschreibung der Theorien ab diesem Zeitraum verwendet. 15 Die westdeutsche Frauenbewegung bestand im Wesentlichen aus weißen Mittelschichtsfrauen. Die Bedeutung von Herkunft in kultureller und schichtspezifischer Hinsicht wurde in den 70er Jahren kaum in Theorie und Praxis integriert. Diese elitäre Sichtweise wurde in den 70er Jahren von Arbeiterinnen und in den 80er Jahren vor Allem von Seiten schwarzer Frauen scharf kritisiert und führte zu Erweiterungen der theoretischen Konzeptionen.
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Arbeitsteilung“ verstanden (Beck-Gernsheim 1976: 48). Gleichzeitig besteht im Konzept des ‚weiblichen Arbeitsvermögens’ die Tendenz zur Festschreibung der Frau als eines Charakters, der „weniger als der Mann die ‚Fähigkeit’ zu beruflichem Konkurrenzverhalten, Aggressivität und Härte besitzt“ (ebd.: 172). Die ‚Reproduktionsbezogenheit’ des ‚weiblichen Arbeitsvermögens’ wird nicht als vollständig sozialisatorisch erworben, sondern als immer auch naturgemäß gegeben verstanden (Ostner 1978: 192). Das Konzept des weiblichen Arbeitsvermögens ist ein Beispiel für jene Teile der Frauenforschung, in welchen die Existenz eines ‚weiblichen Lebenszusammenhanges’ hervorgehoben wird. Dies wird als Fortschreibung der binären Geschlechterordnung auf der symbolischen Ebene kritisiert (kritisch: Knapp 1990). Jene Ansätze, die an der Rekonstruktion eines ‚weiblichen Sozialcharakters’ beteiligt sind, haben Folgendes gemeinsam: „Ihre zentralen Kategorien, in denen Eigenschaften und Verhaltensweisen von Frauen als „spezifisch weibliche“ gebündelt sind, bleiben in dem polarisierenden Schema des Geschlechterdualismus befangen, dessen gesellschaftliche Realität sie kritisieren. Aus dem Blick geraten damit sowohl jene Potentiale oder Eigenschaften von Frauen, die auf der bipolaren Skala der Geschlechterklischees als genuin „männliche“ gelten (z. B. Sachlichkeit und Durchsetzungsvermögen) als auch solche, die nicht im engeren Einzugsbereich von „Geschlechtseigenschaften“ liegen.“ (Knapp 1990: 20/21)
Das Konzept der ‚doppelten Vergesellschaftung’ hingegen analysiert die gleichzeitige Einbindung von Frauen in Produktions- und Reproduktionsbereichen und stellt dies der männlichen Konzentration auf Erwerbsarbeit gegenüber (Becker-Schmidt 1987a; Knapp 1990). Vor diesem Hintergrund werden die differierenden Chancen auf Anerkennung und die geringeren Aussichten auf angemessene Entlohnung der Frauen analysiert. Dabei werden gesellschaftstheoretische wie subjekttheoretische Ansätze herangezogen. Der subjekttheoretische Zugang deckt die widerständigen Potentiale auf, die sich aus den Ambivalenzen von Wirklichkeit entwickeln können. Deren Vielfalt werde im Konzept des ‚weiblichen Arbeitsvermögens’ vernachlässigt: „Die Betonung der weiblichen Reproduktionsfähigkeit lenkt ab von der Vielfältigkeit weiblicher Potentialität und Handlungsfähigkeit.“ (Becker-Schmidt 1987a: 16) „Der Versuch den Subjektbegriff frauenspezifisch zu substantiieren“ (ebd.), wird als ahistorisch abgelehnt. Herausgearbeitet wird im Konzept der ‚doppelten Vergesellschaftung’ auch die Gleichzeitigkeit von Unterdrückung und Emanzipation, die sich sowohl durch Generationen als auch durch die einzelnen Lebensläufe ziehe:
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„Frauen machen in unterschiedlichen Praxisfeldern durchaus gegenläufige Erfahrungen von Ermutigung und Niederlagen, von Fortschritten und Stagnationen. Von daher können auch Befreiungsversuche nicht gradlinig, gleichmäßig und in allen Lebenslagen synchron ablaufen.“ (Becker-Schmidt 1987a: 20/21)
Dieses Konzept wirkt sich auf das Verständnis von ‚geschlechtsspezifischer Sozialisation’ aus. Demnach kann Sozialisation nicht mehr als sozialisatorische Hinführung zu mit Geschlecht verknüpften Eigenschaften verstanden werden. Vielmehr müssen Sozialisationseinflüsse, welche aus habitualisierten geschlechtsspezifischen Berufswahlen sowie gesellschaftlich Erwerbsarbeitszeiten und –normen entspringen, in den Blick genommen werden. Dabei geht die Theorie von der „doppelten Vergesellschaftung“ der Frauen davon aus, „daß der Bezug auf außerfamiliale Tätigkeit und Praxisfelder in ihrer Bedürfnisstruktur verankert, zum eigenständigen Motiv wird. Die Zerreißproben, denen Frauen ausgesetzt sind bei dem Versuch, beides unter gegebenen Bedingungen zu leben und die Kosten, die sie dabei tragen, deuten auf die objektive Unvereinbarkeit dieser Bedürfnisse mit den historisch entwickelten Strukturen von Arbeit und Arbeitsteilung in der Erwerbsphäre und im Privaten. Daß sie es immer wieder – und zwar nicht allein aus ökonomischen Gründen – versuchen, verweist auf die starke Verankerung von nicht-familiaristischen Motiven in den Subjekten.“ (Knapp 1990: 28)
Subjektivität wird hier als paralleler Vorgang von Vergesellschaftung und Individuation verstanden. Der Ursprung des Doppelcharakters subjektiver Konstitutionsprozesse wird von Becker-Schmidt folgendermaßen beschrieben: „In der Differenzierung seines Inneren, in der Strukturierung seiner psychischen Regulative und Systeme ist das Subjekt Ausdruck seiner Trieb- und Erkenntnisschicksale. In dieser intrapsychischen Dynamik ist es aktiv und passiv, Opfer und Täter. Es ist abhängig von den Triebobjekten und den Erkenntnischancen, die die Umwelt bereithält. Es nimmt aber ebenso Objektwahlen und Besetzungen nach den eigenen Bedürfnissen vor. Die Phantasietätigkeit, die Fähigkeit zur Imagination, unterläuft die Grenzsetzung von Erlaubtem und Verbotenem und bringt – gegenüber der objektiven Realität – eine psychische ins Spiel. So erhalten sich Wünsche und Erfahrungen am Leben, die in Wirklichkeit sanktioniert sein würden. Das macht das Subjekt schwer erziehbar, gegen Zähmung widerspenstig.“ (BeckerSchmidt 1987a: 17)
Wünsche und Phantasien können der Ausgangspunkt sein, von dem aus die Haltung gegenüber der gesellschaftlichen Wirklichkeit verändert und subjektive Spielräume in der Konstruktion von Geschlecht und Familie entwickelt werden. Die interaktive Subjektkonstitution muss in einem gegenständlichen Rahmen 33
gedacht werden, soziale Kontexte haben wesentlichen Einfluss auf diesen Prozess. Die oben gegebene Definition der Subjektentwicklung umfasst sowohl das Moment der Bestimmtheit durch äußere – personelle wie strukturelle – Gegebenheiten, als auch den Aspekt der Autonomie, der Bedürfnisse, die zu eigener Suche und Entscheidung, zu Um- und Abwegen, zu Widerspenstigkeit und damit zu einer Entwicklung außerhalb der Norm führen können. Die ‚doppelte Vergesellschaftung’ trifft auf Alleinerziehende – und hier auf Frauen wie Männer - in zugespitztem Maße zu, da diese die Erziehungs- und Hausarbeit vollständig allein tragen und gleichzeitig die Existenz der Familie sichern müssen. Gleichzeitig zeigt sich dieses Konzept als anschlussfähig für die Fragestellung dieser Arbeit, da hier „die Reproduktion des Geschlechterverhältnisses nicht nur als soziostrukturell und subjektiv, sondern wesentlich auch als soziosymbolisch vermittelt begriffen wird. Symbolischen Ordnungen (insbesondere Sprache) und kulturellen Repräsentationen des Geschlechterverhältnisses und der Geschlechterdifferenz im weitesten Sinn werden ein besonderer Stellenwert und eine gewisse Eigenlogik zuerkannt.“ (Gottschall 2000: 180)
Das Konzept der ‚doppelten Vergesellschaftung’ verändert die Untersuchungsperspektive: „weg von der Suche nach individuellen Ausprägungen von ‚Männlichkeit’ und ‚Weiblichkeit’ und korrespondierenden Eigenschaften hin zur Konzeptualisierung von Geschlecht als sozio-symbolischen Deutungs- und Strukturzusammenhang, innerhalb dessen Individuen sich und andere als Männer und Frauen wahrnehmen und nach dessen Maßgaben sie interagieren, sowie zur Untersuchung der Prozesse und Mechanismen seiner Tradierung und Veränderung.“ (Knapp 1995: 165)
Die theoretische Diskussion erweiterte sich um ethnomethodologische und sozialkonstruktivistische Perspektiven, welche die Sicht auf die eigene Kultur mit grundsätzlicher Infragestellung bisher unbezweifelter Kategorien ermöglichen. Die ständige, alltägliche Konstruktion von Geschlecht in der Interaktion rückte nun ins Zentrum des Interesses. Im Englischen führte dies zu der begrifflichen Unterscheidung in Sex und Gender. Dabei meint „’Sex’ (…) die natürliche Geschlechtszugehörigkeit, das sichtbare biologische Geschlecht, die Ebene der Physiologie und Anatomie. Mit ‚gender’ dagegen ist das kulturell variable soziale Geschlecht gemeint – die geschlechtsspezifischen Rollenerwartungen, Verhaltensweisen und sozialen Positionierungen.“ (Heintz 1993: 19)
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In der deutschen Sprache ist eine solche begriffliche Unterscheidung nicht verfügbar. Mit dem Begriff ‚Geschlecht’ werden hier sowohl körperliche Merkmale, als auch kulturelle Zuordnungen von Attributen zu diesen Merkmalen bezeichnet. Daher wurden die Begriffe Sex und Gender von der deutschen Geschlechterforschung übernommen. Der Begriff Gender hat inzwischen sowohl in den Sozialwissenschaften als auch in der Sozialpolitik allgemeine Gültigkeit erlangt, wie z. B. die weite Verbreitung von Maßnahmen zum Gender Mainstreaming16 zeigt. Durch postmoderne TheoretikerInnen wie z. B. Butler (Butler 1991 [1990]) werden Konstruktionsprozesse von Zweigeschlechtlichkeit in erster Linie auf sprachlich-diskursive Prozesse zurückgeführt. Butler betrachtet nicht nur Gender sondern auch Sex als kulturelles Produkt und verwirft die Annahme einer biologischen Zweigeschlechtlichkeit.17 Allerdings ist trotz der inzwischen erreichten weiten Verbreitung des Gender – Begriffes nicht unbedingt davon auszugehen, dass das Verständnis von Geschlecht als kulturell konstruierte Kategorie Eingang in das Bewusstsein der Mehrheit der Subjekte gefunden hat. Vielmehr scheint im Laufe der Jahrhunderte die Natürlichkeit der Kategorien Frau und Mann bzw. Weiblichkeit und Männlichkeit in einem hohen Maße in das Alltagswissen dieser Gesellschaft eingegangen zu sein. Dabei ist die Bestimmung des Geschlechts über medizinische Diagnosen weit weniger eindeutig als gemeinhin angenommen: „Gerade die Biologie mit der exakten, naturwissenschaftlichen Methodik zeigt uns, wie vielfältig die Erscheinungsformen weiblicher und männlicher Individuen und wie fließend die Übergänge von Frau zu Mann sind.“ (Christiansen 1995: 13)
Die fortschreitend weiter differenzierten Untersuchungsmöglichkeiten chromosomaler, gonadaler18, hormonaler und morphologischer Aspekte stellen die Existenz von nur zwei Geschlechtern in Frage: „Je genauer die naturwissenschaftlichen Bestimmungsmethoden werden, um so schwerer fällt die 16
Mit Gender Mainstreaming wird das Bestreben, Geschlechtergerechtigkeit auf allen gesellschaftlichen Ebenen durchzusetzen, bezeichnet. Der Begriff setzte sich nach der 4. Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 durch. Gender Mainstreaming ist seit 1997 in Folge des Amsterdamer Vertrages ein offizielles Ziel der EU-Politik. 17 Judith Butlers Buch: ‚Das Unbehagen der Geschlechter’ (Butler 1991 [1990]) wurde vielfach als Negierung der Bedeutung von Körperlichkeit interpretiert und kritisiert. In ‚Körper von Gewicht’ (Butler 1995 [1993]) korrigiert sie dieses Missverständnis. 18 „Das gonadale Geschlecht bezieht sich auf die Ausbildung der Keimdrüsen oder Gonaden beim Menschen. In beiden Geschlechtern wird in der frühesten Entwicklungsphase nach Verschmelzung der beiden Keimzellen die gleiche embryonale Anlage für die Geschlechtsorgane gebildet. Erst im Laufe der embryonalen Entwicklung erfolgt dann die Festlegung in die männliche oder die weibliche Richtung.“ (Christiansen 1995: 18)
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Bestimmung der Geschlechter.“ (Knoblauch 2002: 117)19 Auch die Kenntnis von Kulturen, in welchen die Existenz von mehr als zwei Geschlechtern sowie der Wechsel des Geschlechts im Lebensverlauf zur Normalität gesellschaftlichen Lebens gehört, bringen Zweifel in die gemeinhin als natürlich angenommene Unterscheidung zwischen Frauen und Männern (Christiansen 1995: 16-17; Hagemann-White 1988; Heintz 1993: 19). In Ausblendung dieser Uneindeutigkeiten stellt die in vielen Gesellschaften verbreitete binäre Zuordnung der Menschen über den ‚kleinen Unterschied’ jedoch nach wie vor ein wesentliches Merkmal für deren soziales und kulturelles System dar.
2.2 Definitionen: Diskurse und Leitbilder Unter einem Leitbild wird hier ein Konstrukt verstanden, in dem einzelne Elemente zu einem Vorstellungsinhalt verbunden werden. Dieses Konstrukt wird durch normative Überhöhung positiv bewertet und herausgestellt, findet weite gesellschaftliche Verbreitung und prägt sich durch Wiederholung ein. Die Abgrenzung vom Begriff der Norm liegt in einer geringeren Präzision, dem eher ideal- bzw. vorbildhaften Charakter und den größeren Handlungsoptionen der Subjekte. Die wissenschaftliche Verwendung des Diskursbegriffs20 in dieser Arbeit geht auf die Prägung dieses Begriffes durch den Philosophen Foucault21 zurück. Foucault definiert Diskurse als „die Produktion von Wissen durch Sprache“ (Hall 1994: 150). Weiterhin bezeichnet der Diskursbegriff „eine Menge von Aussagen (…), insoweit sie zur selben diskursiven Formation gehören“ (Foucault 1981 [1973]: 170). Dabei werden unter diskursiven Formationen „im strengen Sinne Aussagegruppen“ (ebd.: 168) verstanden. Im Foucaultschen Verständnis sind Diskurse weder neutral oder zufällig noch geschlossene Systeme. Vielmehr sind sie in Überschneidungsbereichen von Macht und Wissen angesiedelt und bestimmten Regeln unterworfen: „Ich setze voraus, dass in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird.“ (Foucault 1993 [1972]: 10/11) Kontrolle und Selektion funktionieren über Ausschließungspraxen in Form von 19 Vgl. auch, den damaligen Forschungsstand zusammenfassend Hagemann White: (HagemannWhite 1984: 34ff.). 20 Die Bezeichnung ‚Diskurs’ ist inzwischen in die Alltagssprache eingegangen und wird fälschlicherweise oftmals mit Text oder Rede gleichgesetzt. 21 Die Philosophie Foucaults wird dem Poststrukturalismus zugeordnet und basiert auf der Sprachtheorie von Ferdinand de Saussure sowie deren Bezug auf Geistes- und Sozialwissenschaften durch den Ethnologen Claude Lévi-Strauss (vgl. zusammenfassend.: Keller 2004: 14ff.).
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Verboten, Grenzziehungen und Verwerfungen (ebd.). Auch die „Verknappung der sprechenden Subjekte“ (ebd.: 26), womit die Begrenzung der Anzahl von Individuen gemeint ist, welche die Möglichkeit haben, sich in bestimmte Diskurse einzumischen, wird von Foucault als Ausschließungssystem bezeichnet. Diskursive Regeln bestimmen „die Gegenstände, die in einem Diskurs zur Sprache kommen können, die Subjektpositionen, die in ihm eingenommen werden können, die Begriffe, die in ihm verwendet werden können und die Theorien, die ihn prägen.“ (Raab 1998: 27)
Der Diskursbegriff beschreibt „nicht nur die Organisation des Wissens, also eine Form, sondern auch seine Produktion, also eine Praxis“ (Konersmann 1993: 77). Da sich Foucaults Gesellschaftsanalyse jedoch keineswegs auf die Untersuchung sprachlich-diskursiver Räume beschränkte, entwickelte er den Begriff des Dispositivs, worunter die Verflechtung der diskursiven Ebene mit Institutionen zu verstehen ist: „Als Dispositiv versteht Foucault dementsprechend das Zusammenspiel diskursiver und nicht-diskursiver Machtpraktiken, sowie deren involviert sein in die Produktion von Wissen.“ (Raab 1998: 28/29)
Kommt es zu einer derartigen Konzentration von diskursivem Einfluss, dass die Essenz eines Diskurses zu einem moralischen und praktischen Orientierungsmuster für eine Gesellschaft wird, so kann von einem Leitbild gesprochen werden, welches zur „Überführung beobachteter Normalität in gesetzte Normativität“ (Bohrhardt 1999: 24) führt. Familienleitbilder sind sowohl mit Konstruktionen von Geschlecht, als auch mit Vorstellungen von Sexualität verknüpft. Gegenwärtig ist in Deutschland nach wie vor die heterosexuelle Kleinfamilie als das Leitbild zu betrachten, dem gegenüber andere Familienformen wie homosexuelle Eltern und Alleinerziehende unter Rechtfertigungsdruck stehen.
2.3 Lebenslaufforschung und Statuskonfiguration Zwischen Diskursen und Institutionen bestehen Wechselwirkungen. Individuelle Lebensläufe werden durch die so entstehenden Konfigurationen geprägt, können in mehr oder weniger großem Ausmaß jedoch auch Einfluss auf sie nehmen:22 22 Es besteht nicht der Anspruch, an dieser Stelle eine umfassende Einführung in die Lebenslaufforschung zu geben. Vielmehr sollen die für diese Arbeit relevanten Anschlüsse herausgearbeitet
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„Die soziale Strukturiertheit einer Gesellschaft erschließt sich über den Blick auf die individuelles Leben gestaltenden und durch sie gestalteten Institutionen.“ (Born, Krüger und Lorenz-Meyer 1996: 18)
Dabei wird unter einem Lebenslauf die Abfolge von Sequenzen und Übergängen im chronologischen Verlauf subjektiven Älterwerdens verstanden, wie insbesondere Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter. Doch zunächst zur Klärung des Institutionenbegriffs: Unter ‚Institutionen’ bzw. ‚Institutionalisierung’ werden – je nach Sinnzusammenhang - drei voneinander unterscheidbare Elemente gefasst. Dies sind erstens strukturelle Institutionen, zweitens soziale Institutionen und drittens Prozesse der Institutionalisierung von Handlungsmustern. Der relativ eng gefasste strukturelle Institutionenbegriff bezeichnet jene Ämter, Behörden und andere staatlich organisierte Stellen, in denen z. B. Bildungs- und Gesundheitsprogramme sowie sozialstaatliche Maßnahmen organisiert und durchgesetzt werden. Hier sind im Leben Alleinerziehender vor allem Institutionen der Kinderbetreuung und Bildung, Arbeitsmarkt, Bildungsmöglichkeiten im Erwachsenenalter sowie Jugend- Sozial- und Arbeitsamt relevant. Der Begriff der sozialen Institutionen bezieht sich auf Formen des Zusammenlebens von Menschen, welche über die Zeit hinweg eine Norm setzende Wirkung entfaltet haben, wie z. B. Ehe und Familie. Auch wenn in Zeiten des sozialen Wandels in Deutschland kaum jemand mehr unter dem Zwang steht, zu heiraten oder eine Familie zu gründen und insofern ein Prozess der Deinstitutionalisierung der Ehe zu konstatieren ist, besteht der normierende Charakter dieser sozialen Institutionen weiterhin. Sie erfordern eine Auseinandersetzung der Subjekte im individuellen Lebenslauf (also einen Entscheidungsprozess für oder gegen Heirat bzw. Familie). Gleichzeitig wird die Ehe gegenüber anderen Lebensformen durch rechtliche und steuerliche Ordnungen bevorzugt.23
werden. Zur Lebenslaufforschung vergleiche einführend: (Heinz 1994), sowie im Detail: (Born und Krüger 2001; Leisering, Müller und Schumann 2001; Mortimer 2003; Sackmann und Wingens 2001a) Unter dem Begriff Lebenslauf werden objektiv nachvollziehbare Sequenzen gefasst. Biographie-forschung dagegen beschäftigt sich mit subjektiven Sichtweisen auf das eigene Leben. Da in der hier vorliegenden Arbeit beide Ebenen erfasst werden, werden Erkenntnisse aus Lebenslauf- und Biographieforschung herangezogen. 23 Zur Diskussion von Institutionalisierungs- und Deinstitutionalisierungs- Prozessen siehe Tyrell (Tyrell 1990), zur steuerlichen Benachteiligung Alleinerziehender vergleiche Schwan (Schwan 1997).
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Der Begriff der Institutionalisierung bezieht sich auf die Handlungsebene. Die Habitualisierung von Handlungen führt zu deren Verhärtung und Etablierung in klar umrissener Form. „Institutionalisierung findet statt, sobald habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden. Jede Typisierung, die auf diese Weise vorgenommen wird, ist eine Institution. (…) Wenn habitualisierte Handlungen Institutionen begründen, so sind die entsprechenden Typisierungen Allgemeingut. Sie sind für alle Mitglieder der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppe erreichbar.“ (Berger und Luckmann 1999 [1969]: 58)
Diese Institutionalisierungen werden durch Maßnahmen der sozialen Kontrolle abgesichert und durch theoretische Konstruktionen und strukturelle Organisationen legitimiert (ebd.: 98ff.). Es wird hier deutlich, dass sowohl sozialen als auch strukturellen Institutionen Prozesse der Institutionalisierung vorausgehen. Institutionalisierungsprozesse und ihre Verhärtungen in sozialen wie strukturellen Institutionen stehen in ständigem wechselseitigen Prozess der Einflussnahme. In den Lebensverläufen Alleinerziehender beanspruchen soziale und strukturelle Institutionen wie Familie und Arbeitsmarkt die Subjekte in besonderem Maße gleichzeitig. Ob die hier entstehenden Anforderungen an die Subjekte subjektiv leistbar sind, hängt wesentlich von der Ausgestaltung sozialstaatlicher Rahmungen wie Kinderbetreuung und materiellen Zuschüssen ab. Ist die Lebensform „Alleinerziehend“ jedoch nicht in einem Maße institutionalisiert, dass ihre Anerkennung und Unterstützung als allgemeines gesellschaftliches Interesse gilt, so ist zu vermuten, dass sich dies in ungenügenden strukturellen Rahmenbedingungen niederschlagen wird. Krüger untersucht das Gendering von Institutionen, die für die Berufs- und Familienbiographien von Frauen und Männern relevant sind. Sie stellt heraus, wie diese Institutionen als Strukturgeber der fortwährenden Benachteiligung der weiblichen Genus-Gruppe gegenüber der männlichen funktionieren (vgl.: Krüger 1995). Auch Familie wird hier nicht nur unter dem Aspekt der Produktion und Reproduktion kultureller Leitbilder, sondern als historisch gewachsene spezifische Organisationsform betrachtet, durch die Rahmungen, Begrenzungen und Zwänge subjektiver Handlungsmöglichkeiten vorgegeben werden. Die Aufgabenteilung von Familienarbeit unter den Geschlechtern bewirkt, dass Väter ihrem Berufsleben in der Regel ungeachtet ihres derzeitigen Familienstatus nachkommen können, während Mütter sich in einer ständigen Balance von zwei gegenläufigen Planungsperspektiven befinden. Die familiale Aufgabenteilung wird von den Struktur- gebenden spezifischen Verknüpfungslogiken der für Familie und Erwerbstätigkeit relevanten Institutionen (Arbeitsmarkt,
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Kinderbetreuung etc.) beeinflusst. Sie bilden die Rahmungen für subjektive Aushandlungsprozesse.
Der Lebenslauf als Institution Theorien über die Institutionalisierung des Lebenslaufs gehen davon aus, dass Lebensläufe mehr oder weniger klar etablierten Mustern folgen. Passagen und Stadien von Partizipation, Position und Rollen-Konfiguration korrespondieren in gewissem Maße mit Modellen, die ‚Normalbiographie’ bzw. ‚Standard-Lebenslauf’ genannt werden. Eine weit reichende Veränderung in den industrialisierten Gesellschaften seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts ist die Annäherung von weiblicher und männlicher Normalbiographie, deren größter Unterschied darin lag, dass für Männer eine berufliche Karriere mit Familie vereinbar war, für Frauen jedoch in der Regel nicht. Das zu Anfang der Lebenslaufforschung entworfene Drei–Phasen-Modell des Lebenslaufs, womit der durch InstitutionenAbhängigkeit in die chronologisch aufeinander folgenden Abschnitte Bildung, Arbeit und Verrentung gegliederte Lebenslauf gemeint war (Kohli 1985; Kohli 1991), bezog sich auf die männliche Normalbiographie. Die Institution Familie wurde – Mustern männlicher Lebensführung folgend - nur als nebenher laufender Zusatz zur Erwerbsarbeit erfasst24. Für alle diejenigen jedoch, die Verantwortung für die Versorgung von Kindern übernehmen25, stellt die Familie einen Arbeitsbereich mit hohen zeitlichen, emotionalen und organisatorischen Anforderungen dar (siehe z. B. Hochschild 1997). Diese Anforderungen können zu zeitweiligem Ausstieg aus dem Erwerbsleben zwingen bzw. reduzierte Arbeitszeiten erforderlich machen. Die „Bindung der Lebensereignisse an das chronologische Alter“ (Kohli 1985: 19) wird neben natürlichen auch und zentral durch institutionelle Rahmungen bestimmt. Sowohl das erodierende Normalarbeitsverhältnis und die zunehmende Frauenerwerbstätigkeit als auch die wachsende Anzahl und Akzeptanz vielfältiger familialer Lebensformen wie 24
Obwohl Kohli hier bereits eine Studie erwähnt, in der sieben verschiedene Typen der Lebensläufe von Frauen untersucht werden (Kohli 1985: 7), bezieht sich seine weitere Theoriebildung zu diesem Zeitpunkt ausschließlich auf Menschen, die keine Familienarbeit leisten: „Das Bildungs- und das Rentensystem sind die organisatorischen Träger der Ausdifferenzierung der wichtigsten Lebensphasen; auf ihrer Grundlage konstituiert sich die Dreiteilung des Lebenslaufs.“ (Kohli 1985: 9) Auch in Kohlis Formulierung von 1991 werden Lebensläufe von erwerbstätigen Männern zur Norm erhoben: „Für die Männer gilt immer noch fast ausschließlich das Modell des dauerhaften Vollzeiterwerbs; die steigende Erwerbsbeteiligung der Frauen – wenn auch mit höherem Anteil an Teilzeitbeschäftigung – hat zur Folge, dass sie sich ebenfalls zunehmend in diese arbeitsgesellschaftliche Normalbiographie integrieren.“ (Kohli 1991: 313) 25 Folgende Aussagen gelten auch für Personen, die sich um pflegebedürftige Angehörige kümmern.
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Alleinerziehen, ‚Patchwork- Familie’ etc. sprechen dafür, perspektivisch die Rede vom männlichen und weiblichen Lebensverlauf aufzugeben. Hilfreich wäre stattdessen die analytische Integration unterschiedlicher Formen von Arbeit, bzw. Sequenzen von Arbeitslosigkeit mit oder ohne Chancen zum Wiedereinstieg. In diesem Zusammenhang wird in der Lebenslaufforschung die These von der De- Standarisierung bzw. De- Institutionalisierung des Lebenslaufs (Kohli 1991) diskutiert, die im Extrem mit dem Verschwinden jeglicher Normalbiographie gleichzusetzen ist.
Statuskonfigurationen in der Lebenslaufforschung Hilfreich für die Analyse vielfältiger Verläufe von Arbeit ist die Untersuchung von Lebensläufen als Status-Biographien nach Levy (Levy 1996). Mit StatusBiographie bezeichnet Levy die subjektive Bewegung durch eine sich wandelnde Konfiguration von Rollen, Positionen und Partizipationen im Verlauf des Lebens. Diese wird sowohl von strukturellen als auch von kulturellen Aspekten beeinflusst. Der Status der Subjekte wird Levy zu Folge vor allem von drei Aspekten beeinflusst: Erstens von der sozialen Umgebung (social location), zweitens von der spezifischen Position in den Strukturen der sozialen Umgebung (structural aspect) und drittens durch kulturelle Rollen und Normen, die mit der jeweiligen Partizipation und Position verbunden sind. Die soziale Verortung der Subjekte ergibt sich nach Levy im Wesentlichen durch die Partizipation an Konfigurationen in diesen drei Feldern. Levys Analyse von Lebensläufen als Statusbiographien bietet die Möglichkeit zur Erforschung der gegenseitigen Einflussnahme dieser verschiedenen Aspekte. Levy selbst untersucht schwerpunktmäßig die Effekte struktureller Bedingungen auf individuelle Status-Biographien und Handlungsstrategien. Die Einbeziehung der hierarchischen Grundstruktur der Gesellschaft ist für seine Theorie von großer Bedeutung: „Ähnlich wie die klassenartig geschichtete Gesamtgesellschaft (interindividuelles Schichtungssystem) sind auch die institutionellen Ordnungen der Gesellschaft in sich hierarchisch geschichtet, so dass sie hinsichtlich des interindividuellen Schichtungssystems als Statuslinien bezeichnet werden können. Die Stellung eines Mitglieds in der Struktur seiner Gesellschaft kann durch die Gesamtheit seiner Positionen in den Sektoren, an denen es partizipiert, beschrieben werden, mit anderen Worten durch seine Statuskonfiguration.“ (Levy 1977: 28)
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Levy unterscheidet „drei voneinander analytisch, aber nicht empirisch unabhängige Dimensionen, die zur Stellung eines Individuums in der gesamtgesellschaftlichen Struktur gehören: 1. die generelle Position im interindividuellen Schichtungssystem; 2. die Verhältnisse zwischen den einzelnen Komponenten der Statuskonfiguration; 3. der Umfang der Statuskonfiguration.“ (ebd.)
Er geht davon aus, dass subjektive Tendenzen bestehen, eine möglichst hohe Stellung im interindividuellen Schichtungssystem zu erreichen (Levy 1977: 31). Unzufriedenheiten (Spannungen) im subjektiven Wohlbefinden können aus einer als ungenügend empfundenen Position in der gesellschaftlichen Hierarchie (Rangspannung) entstehen, aus divergierenden Positionen in verschiedenen Handlungsfeldern (Ungleichgewichtsspannung) sowie aus einer, gemessen an kulturellen Bildern und Normen, unvollständigen Statuskonfiguration (Unvollständigkeitsspannung). Für die Lebenssituationen Alleinerziehender können Bildung, Beruf, Einkommen, Wohnsituation und Familie als wesentliche statusrelevante Aspekte betrachtet werden. Dabei birgt der Statusaspekt der Familie verschiedene Unteraspekte in sich, wie z. B. Haushalt, Verhalten der Kinder und Existenz einer Partnerschaft des allein erziehenden Elternteils. Es stellt sich die Frage, ob von den befragten Alleinerziehenden eine Vollständigkeitsnorm der Familie wahrgenommen bzw. konstruiert wird26, welche sie unter Unvollständigkeitsspannung setzt und in welchem Verhältnis diese Unvollständigkeitsspannung zu den anderen Elementen der Statuskonfiguration steht. Dieser Frage wird im empirischen Teil dieser Arbeit nachgegangen. Im Konzept der Statuskonfigurationen finden die Subjekte Handlungsmöglichkeiten wie Begrenzungen u. a. in der Struktur der vorgefundenen Institutionen. Für die Lebenssituationen Alleinerziehender sind von den ‚strukturellen Institutionen’ in besonderem Maße die drei folgenden Aspekte von Bedeutung: Erstens die trotz sozialen Wandels weiterhin nach Geschlecht segregierenden Berufsbildungssysteme und Arbeitsmarktstrukturen (Krüger 2001b), zweitens (nicht genügendes) Vorhandensein und Ausgestaltung von Kinderbetreuungs- Einrichtungen (DJI 2002; Thiersch und Thiersch 2001) sowie drittens wohlfahrtsstaatliche Unterstützungsleistungen bei Erwerbslosigkeit bzw. geringem Einkommen (Heinemann 1998; Scheffler 2002; Schewe 2002). Nach wie vor sind Frauen in schlecht bezahlten Dienstleistungsberufen mit geringen Aufstiegschancen überrepräsentiert (Krüger 1999). Sind diese Frauen allein 26 Levy betont, dass immer dann besondere Probleme entstehen, „wenn über die geltende Vollständigkeitsnorm Unsicherheit besteht“ (Levy 1977: 35).
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verantwortlich für Kinder, so ist das Einkommen in der Regel nicht weit entfernt vom Existenzminimum.27 Auch Altersgrenzen haben hier eine Bedeutung: Bei längerem oder mehrfachem Ausstieg aus Bildung bzw. Erwerbstätigkeit aufgrund von Kindererziehungszeiten wird ein Wiedereinstieg schwieriger oder unmöglich. Öffnungszeiten von Kinderbetreuungseinsrichtungen setzen den beruflichen Möglichkeiten Alleinerziehender (und anderer für Kindererziehung verantwortlicher Eltern) zusätzliche Grenzen. Die Auswertung der Interviews mit Alleinerziehenden wird zeigen, in welchem Maße deren Lebensläufe durch äußere Zwänge bestimmt sind und wo Entscheidungsfreiheiten anzutreffen sind. Welche Bewältigungsstrategien finden Alleinerziehende im Umgang mit den strukturellen Bedingungen ihres Lebens? In welchen Zusammenhängen werden die von Levy beschriebenen StatusSpannungen subjektiv als blockierend empfunden und wann werden kreative Problemlösungsstrategien möglich? Im Anschluss an die bisher behandelten Ebenen der Diskurse, der Leitbilder und der Institutionen richtet sich der Blick nun auf eine weitere maßgebliche Ebene für die Untersuchung subjektiver Konstruktionen von Geschlecht und Familie: die sozialen Interaktionen.
2.4 Sozialisation, Doing Gender und Doing Family Zur Skizzierung der Theorieentwicklung wird zunächst einführend die Entwicklung von eher deterministisch konzipierten Sozialisationskonzepten hin zum Doing Gender- Konzept, welches die Herstellung von Geschlecht in der Interaktion betont, vorgestellt. Das die Interaktionsordnung hervorhebende Gedankenwerk Goffmans dient als Basis für eine Erweiterung des Doing Gender- Konzeptes.
Sozialisation Der Sozialisationsbegriff bezog sich zunächst in erster Linie auf Kindheit und Jugend. Bis in die 60er Jahre wurde unter Sozialisation in der Regel die Prägung des Einzelnen durch die Gesellschaft verstanden. Dabei beherrschte ein eher passives Subjektverständnis gekoppelt mit einem deterministischen Verständnis des Sozialisationsbegriffs die Diskussion. Dieses wandelte sich im Laufe der Zeit zu Gunsten einer Sichtweise, welche dem Subjekt einen aktiveren Part in der 27
Details zu diesem Aspekt finden sich in Kap. 4.3.
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Aneignung von Gesellschaft zusprach und diesen Prozess über den ganzen Lebensverlauf hinweg verortete (Hurrelmann und Ulich 1991). Der Begriff des ‚Doing Biography’ wurde geprägt (vgl.: Heinz 2002). Heute wird mit Sozialisation im Allgemeinen die „Gesamtheit aller Umweltbedingungen, die auf die Subjektentwicklung Einfluss nehmen“ (Tillmann 2003: 10) sowie der „Prozess der aktiven Aneignung“ (ebd.: 12) eben dieser Umweltbedingungen durch die Einzelnen über den ganzen Lebenslauf hinweg bezeichnet.28 Der Begriff der Aneignung wird hier im Sinne von „Selbst-Bildung in sozialen Praktiken“ (Bilden 1991: 280) verstanden, wobei mit sozialen Praktiken „symbolische Interaktionen und gegenständliche Tätigkeiten in ihrer Verschränkung“ (ebd.) gemeint sind.29 Heute wird in den Erziehungswissenschaften im Allgemeinen unter einer gelingenden Sozialisation nicht die erfolgreiche Verinnerlichung gesellschaftlicher Strukturen verstanden, sondern die „erfolgreiche Behauptung der Subjektivität und Identität, nachdem eine Auseinandersetzung mit den sozialen Strukturen stattgefunden hat und auf dieser Basis eine Beteiligung an gesellschaftlichen Aktivitäten erfolgt.“ (Hurrelmann 2002: 21)
Unter differierenden Schwerpunktsetzungen beschäftigen sich u. a. Pädagogik, Psychologie und Soziologie mit Fragen der Sozialisation. In den 70er Jahren erlebte die Sozialisationsforschung im Zuge der Infragestellung der gesellschaftlichen Ordnung durch die erstarkende Linke eine plötzliche Verbreitung. Es stellte sich die Frage, inwieweit soziale Ungleichheit durch Sozialisation und Erziehung entsteht (vgl.: Hurrelmann 2002: 15ff.). In der Analyse von Sozialisationsprozessen, anfangs in erster Linie auf familiale Erziehung und Bildung bezogen30, wurden zunächst vor allem schichtspezifische Aspekte untersucht. Feministische Theoretikerinnen brachten das Thema der Geschlechtersozialisation in die Diskussion.31 Vorstellungen von Sozialisation als biologisch determiniertem Prozess wurden kritisiert. Dabei setzten sich die Auseinandersetzungen zwischen den Differenz- und Gleichheits- orientierten Ansätzen fort. 28
Dieser Sozialisationsbegriff wird im Folgenden verwendet. Im Mittelpunkt des interdisziplinären Interesses der Sozialisationsforschung stehen nicht Fragen nach den Hintergründen der Funktionsweisen der Gesellschaft, sondern deren Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung der einzelnen Subjekte, also für das spezifische Konglomerat aus Einstellungen, Eigenschaften und Handlungskompetenzen, welches diese voneinander unterscheidet. 30 In den 80er Jahren erweiterte sich die Sozialisationsforschung auf die Aspekte Beruf, Gesundheit, Medien etc. (vgl. zusammenfassend: Dausien 1999). 31 Durch feministische Theoretikerinnen wurde in den siebziger Jahren die Verortung des Geschlechteraspektes als Nebenwiderspruch, der sich nach Beseitigung der ‚wesentlichen’, schichtspezifischen Ungleichheiten quasi von selbst lösen werde, kritisiert. 29
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Bis heute werden Fragen um geschlechtsspezifisches Verhalten von Kindern und die Vor- und Nachteile schulischer Koedukation kontrovers diskutiert (z. B.: Faulstich-Wieland 1991; Hurrelmann 1986; Kaiser 2005; Kreienbaum und Urbaniak 2006). Positivistische Designs der Forschung zur Geschlechtersozialisation in Soziologie und Psychologie, unter ‚wenn - dann Prämissen’ angelegt und dazu neigend, die in den Hypothesen vermuteten weiblichen und männlichen Sozialcharaktere im Forschungsprozess zu konstruieren bzw. zu reifizieren, fanden in Carol Hagemann-White eine frühe und radikale Kritikerin. Sie arbeitete, den englisch- und deutschsprachigen Forschungsstand zu ‚geschlechtsspezifischem Verhalten’ bei Kindern und Jugendlichen bis Anfang der 80er Jahre zusammenfassend, die Widersprüchlichkeiten bisheriger Forschungsergebnisse heraus. Dabei kam sie zu dem Schluss, es seien letztendlich keine durchgängigen Unterschiede festzustellen, welche eine Unterscheidung in weiblichen und männlichen ‚Sozialcharakter’ bei Kindern und Jugendlichen ermöglichen. Vielmehr seien die festgestellten Differenzen innerhalb der Geschlechterkategorien größer als diejenigen zwischen ihnen (vgl. Hagemann-White 1984). Diese Reflexionen führten sie zur Aufstellung der ‚Null-Hypothese’ der zufolge es „keine notwendige, naturhaft vorgeschriebene Zweigeschlechtlichkeit gibt, sondern nur verschiedene kulturelle Konstruktionen von Geschlecht“ (Hagemann-White 1988: 230). Somit wird der Körper als kulturelles Zeichen verstanden, und ‚Männlichkeit’ und ‚Weiblichkeit’ sind nicht länger als Ausdruck biologischer Merkmale interpretierbar. Mit diesem Ansatz ist bereits eine Weiterentwicklung der Sex/Gender- Unterscheidung erreicht. Wie bereits erwähnt, finden subjektive Konstruktionsprozesse von Geschlecht und Familie in wechselseitigen Beeinflussungen mit institutionellen Rahmungen statt. Von Goffman wurde die Schnittstelle zwischen der Ebene der Interaktion und den Institutionen in besonderem Maße berücksichtigt.
Exkurs: Interaktion und Geschlechtercodes bei Goffman Goffmans zentrales, analytisches Augenmerk ist auf die unmittelbare Interaktion gerichtet. Ihm zufolge teilen sich Individuen in Interaktionen Informationen über Status, Beziehungen sowie Absichten und Zwecke mit. Interaktionen geben durch eine „soziale Ritualisierung, d.h. die Standardisierung des körperlichen und sprachlichen Verhaltens, die im Prozess der Sozialisation erworben wird“ (Goffman 2001 [1980]: 59) Auskunft über das Gegenüber. Diese Sozialisation findet in Institutionen wie Familie, Schule und Arbeitsmarkt statt, sie durchzieht die Organisation des öffentlichen Raumes und erstreckt sich über den gesamten 45
Lebensverlauf. Interaktionen stehen nach Goffman in einer sozialen Wechselwirkung mit einer Interaktionsordnung, die sich auf den Bereich der unmittelbaren Begegnung von Individuen bezieht. Während Berger/Luckmann (s. o.) die gesprochene Sprache ins Zentrum der Beobachtungen über die interaktive Entstehung und Reproduktion von Wirklichkeit richten, stehen bei Goffman also zusätzlich Körpersprache und die gesamte Interaktionssituation im Fokus des Interesses. In der Interaktion ordnen sich Individuen auf zweierlei Weise: Erstens durch die kategoriale Charakterisierung, welche die Verortung in sozialen Kategorien bezeichnet und zweitens durch die individuelle Charakterisierung, welche die Unterscheidung zwischen mehreren Individuen aufgrund körperlicher Merkmale und äußerer Erscheinung ermöglicht. Die kategoriale Charakterisierung bezieht sich auf Kategorien wie z. B. Klasse, Geschlecht und ethnische Zugehörigkeit und produziert Hierarchien. Durch das Aufeinandertreffen von Individuen kommen soziale Situationen zu Stande, welche sowohl positiv erlebte Begegnungen als auch „unvorhersehbare persönliche Gebietsansprüche“ (ebd.: 60) ermöglichen. Diese Gebietsansprüche unterliegen den Regeln der Interaktionsordnung. Unter Interaktionsordnung versteht Goffman eine Sphäre des Handelns, die „in weit größerem Ausmaß als alle anderen Bereiche geordnet ist und daß diese Geordnetheit auf einer breiten Schicht gemeinsamer kognitiver, wenn nicht sogar normativer Annahmen und Beschränkungen beruht, die der Stabilisierung der Ordnung dienen. (…) Die Funktionsweise der Interaktionsordnung kann einfach als die Folge eines Systems von regelnden Konventionen angesehen werden, ähnlich etwa den Grundregeln eines Spiels (…).“ (Goffman 2001 [1980]: 63)
Jedoch lässt sich Goffman zufolge weder aus der regeltreuen Teilnahme am ‚Spiel der Interaktion’ auf Zustimmung zu gesellschaftlichen Normen oder Konventionen schließen, noch bietet diese immer einen Vorteil für das einzelne Individuum, denn: „Was aus dem Blickwinkel der einen als wünschenswerte Ordnung erscheinen mag, kann von anderen als Ausschließung und Unterdrückung wahrgenommen werden.“ (ebd.: 66)
Goffman sieht die Interaktionsordnung nicht als neutral an, da es „in unserer Gesellschaft sehr breite Kategorien von Personen gibt, deren Mitglieder einen beträchtlichen Preis für ihre bloße Präsenz in der Interaktionsordnung bezahlen.“ (ebd.)
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Dass benachteiligte Gruppen durch ihr ‚eingeordnetes Verhalten’ an der Aufrechterhaltung der Interaktionsordnung mitwirken, erklärt sich für Goffman aus der Angst vor Ausgrenzungen, die Folgen offener Abweichungen sein könnten. Die Interaktionsordnung wird nach Goffman durch die Subjekte und durch Institutionen reguliert. Ein besonderes Verdienst Goffmans liegt darin begründet, dass er die Interaktionsordnung in Zusammenhang mit sozialen Strukturen bringt. Dabei betont er zunächst Effekte der Interaktionsordnung auf soziale Strukturen, denn Interaktionen können seiner Ansicht nach Einfluss auf größere strukturelle Zusammenhänge haben. Dies bedeutet jedoch nicht im Umkehrschluss, dass die Gesellschaftsstruktur in ihrer Gesamtheit von der Beschaffenheit von Interaktionen abhängt. Ähnlich wie Berger/Luckmann mit ihrem Begriff der Habitualisierung beschreibt auch Goffman die ‚Macht der Gewohnheit’ in der Interaktion. Er sagt einerseits, „daß sich durch die beständige Wiederholung Formen des unmittelbaren Zusammenlebens einspielen, denn obwohl die daran Beteiligten heterogen zusammengesetzt sind, müssen sie doch auf schnellstem Wege zu einer vernünftigen, funktionierenden Verständigung finden.“ (ebd.: 77)
betont aber andererseits, dass Interaktionsordnungen sich mit der kulturellen Entwicklung von Gesellschaften verändern. Der Frage nach dem Einfluss der Sozialstruktur auf die Interaktionsordnung begegnet Goffman zunächst mit einer Kritik am Determinismus: „Ein kleines soziales Ritual ist in keinem schlichten Sinne ‚ein Ausdruck von’ strukturellen Anordnungen; es ist bestenfalls ein Ausdruck in dem Sinne, als es mit Blick auf diese Anordnungen erzeugt wird. Soziale Strukturen ‚determinieren’ nicht kulturell standardisierte Darstellungsformen, sie helfen lediglich, aus einem verfügbaren Repertoire von Darstellungen auszuwählen.“ (ebd.: 83)
Sozialstrukturelle Einflüsse auf Interaktion beschreibt er weiterhin als ‚lose Koppelung’: „In Interaktionen beobachten wir ein Auseinanderfallen von sozialen Schichten und Strukturen in breitere Kategorien, wobei diese Kategorien selbst nicht in einem einszu-eins Verhältnis zu etwas in der Sozialstruktur stehen müssen, sondern vielmehr an eine Verzahnung erinnern, die verschiedene soziale Strukturen auf die Zahnräder der Interaktion überträgt.“ (ebd.: 85)
Die ‚lose Koppelung’ der Interaktionsordnung an die Sozialstruktur bedeutet jedoch keineswegs ein Schweben im freien Raum, vielmehr werden von 47
Goffman noch verschiedene andere Aspekte, welche die Interaktionsordnung bestimmen, ausgemacht. Entscheidend sind hier die kognitiven Beziehungen der InteraktionsteilnehmerInnen (das Wissen übereinander), die sozialen Beziehungen unter ihnen (unterschiedlicher Qualität und Intensität) und der jeweilige soziale Status, der sich im Wesentlichen aus Klasse, Geschlecht, Alter und ethnischer Zugehörigkeit zusammensetzt. Letztere bilden erstens „ein Raster sich überschneidender Linien, in dem jedes Individuum durch den Bezug auf jede der vier Statuskategorien verortet werden kann“ und zweitens „verdankt sich die Verortung hinsichtlich aller vier Attribute offenkundig den Anzeichen, die wir mittels unseres Körpers in soziale Situationen einbringen, ohne daß vorherige Informationen über uns erforderlich wären.“ (ebd.: 93)
So werden Goffman zu Folge alle alltäglichen Interaktionen, auch jene, welche den Eindruck der Gleichbehandlung erwecken, durch Annahmen über den sozialen Status bestimmt. In seinem Aufsatz: ‚Das Arrangement der Geschlechter’ (Goffman 2001 [1977]) analysiert Goffman die Bedeutung der Kategorie Geschlecht. Die biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern an sich erklären für Goffman nicht die gesellschaftliche Geschlechterordnung. Diese geht in ihren Regelungen weit über das hinaus, was sich durch den biologischen Unterschied allein – also der Fähigkeit der meisten Frauen, Kinder zu gebären und zu stillen – erklären ließe. Um die „ geringen biologischen Unterschiede als Ursachen derjenigen Konsequenzen ansehen zu können, die scheinbar selbstverständlich aus ihnen folgen, bedarf es eines umfassenden, geschlossenen Bündels sozialer Glaubensvorstellungen und Praktiken, das zusammenhängend und komplex genug ist, um die Wiederauferstehung altmodischer funktionalistischer Ansätze zu seiner Analyse zu rechtfertigen. (…) Nicht die sozialen Konsequenzen der angeborenen Geschlechtsunterschiede bedürfen einer Erklärung, sondern vielmehr wie diese Unterschiede als Garanten für unsere sozialen Arrangements geltend gemacht wurden (und werden) und, mehr noch, wie die institutionellen Mechanismen der Gesellschaft sicherstellen konnten, daß uns diese Erklärungen stichhaltig erscheinen.“ (Goffman 2001 [1977]: 106/107)
Von den gebündelten sozialen Glaubensvorstellungen und Praktiken (Goffman) lässt sich wiederum ein Bezug zu den oben definierten ‚symbolischen Sinnwelten’ (Berger/Luckmann) herstellen, welche zur Übernahme dominanter und zur Verdrängung unerwünschter Glaubensvorstellungen führen. Die soziale Klassifikation in zwei Geschlechtsklassen direkt nach der Geburt ist für Goffman der Beginn eines „Sortierungsvorgang(s), der die Angehörigen beider Klassen einer unterschiedlichen Sozialisation unterwirft“ 48
(ebd.: 109). Sie werden verschieden behandelt und an ihr Verhalten werden geschlechtsspezifisch differierende Erwartungen gestellt, die auf den Konzepten von Weiblichkeit und Männlichkeit basieren. „Diese Konzepte stellen einen Fundus an Erklärungen zur Verfügung, der auf tausenderlei Art zur Entschuldigung, Rechtfertigung, Erläuterung oder Missbilligung von individuellen Handlungsweisen oder Lebensumständen genutzt werden kann.“ (ebd.: 110)
Sie bilden die Grundlage für gesellschaftlichen Druck auf die Subjekte, sich mit den gängigen Konzepten von Weiblichkeit und Männlichkeit zu identifizieren: „Insoweit nun das Individuum ein Gefühl dafür, was und wie es ist, durch die Bezugnahme auf seine Geschlechtsklasse entwickelt und sich selbst hinsichtlich der Idealvorstellungen von Männlichkeit (und Weiblichkeit) beurteilt, kann von einer Geschlechtsidentität (‚Gender Identity’) gesprochen werden. Anscheinend ist diese Quelle zur Selbstidentifikation eine der wichtigsten, die unsere Gesellschaft zur Verfügung stellt, vielleicht noch wichtiger als Altersstufen. Droht eine Trübung oder Veränderung dieser Idealbilder, so wird dies niemals auf die leichte Schulter genommen.“ (ebd.: 110)
Geschlechtsidentität wird hier als Folge der Konstruktion von Geschlechterklassifikation und Konzeptualisierung beschrieben. Goffman zeigt den Zusammenhang zwischen normativen Vorstellungen und Verhalten sowie der Rolle populärwissenschaftlicher Diskurse auf: „Anscheinend stehen die Glaubensvorstellungen von sozialem Geschlecht, Männlichkeit, Weiblichkeit und Sexualität in einem engen Wechselspiel mit dem tatsächlichen Verhalten der Geschlechter, und hier spielt vermutlich auch popularisiertes sozialwissenschaftliches Wissen eine wichtige Rolle. Forschungserkenntnisse über das soziale Geschlecht und die Sexualität, seien sie nun gut oder schlecht begründet, werden den normativen Vorstellungen von Männlichkeit bzw. Weiblichkeit selektiv – und manchmal erstaunlich schnell – einverleibt. Durch eine solche Quelle gestärkt, können sich diese Idealbilder dann als selbsterfüllende Prophezeiungen auf das tatsächliche Verhalten der Geschlechter auswirken.“ (ebd.: 111/112)
Der Sicht auf biologische Geschlechtsunterschiede als Ursache für geschlechtsspezifisch differierenden Verhaltensweisen wird der Begriff der ‚institutionellen Reflexivität’32 entgegen gestellt. Goffman fragt, wie eine 32 „Goffman vertritt hier ein Verständnis von Institutionen und Institutionalisierung, der demjenigen des Sozialkonstruktivismus entspricht. Institutionalisierung ist Habitualisierung und Typisierung von Verhalten, womit entscheidungsunabhängige Vorgänge gemeint sind.“ (Kotthoff 2001)
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Gesellschaft organisiert sein muss, damit bestimmte biologische Merkmale eine derart hohe Bedeutung bekommen können. Mit institutioneller Reflexivität meint er, dass „tief verankerte institutionelle Praktiken so auf soziale Situationen wirken, daß diese sich in Kulissen der Darstellung von Genderismen beider Geschlechter [Sexes] verwandeln. Viele dieser Aufführungen nehmen dabei eine rituelle Form an, welche die Glaubensvorstellungen über die unterschiedlichen ‚Naturen’ der beiden Geschlechter bekräftigt (…). (ebd.: 150)
Die Familie ist für Goffman ein zentraler Vermittlungspunkt gesellschaftlicher Bilder von Weiblichkeit und Männlichkeit. Zur Verdeutlichung von Prozessen der institutionellen Reflexivität in der Familie führt Goffman die Tätigkeit des Stillens als Beispiel an. Diese den Frauen vorbehaltene Fähigkeit, die i. d. R. nur einen sehr begrenzten zeitlichen Lebensabschnitt betrifft, wird kulturell zu Konzepten von Geschlechtsidentitäten und der ‚Natur der Geschlechter’ ausgebaut (ebd.: 128). Ein weiteres Beispiel der ‚institutionellen Reflexivität’ in der Familie sieht er in der geschlechtsspezifisch differierenden Behandlung von Mädchen und Jungen durch ihre Eltern. In den mit gesellschaftlichen Territorienzuweisungen verbundenen unterschiedlichen Eigenschaften und Erwartungen entwickeln die Geschlechter durch Abgrenzung voneinander das, was sie als ihre unterschiedliche ‚Geschlechtsidentitäten’ in ihr Erwachsenenleben tragen. „Jedes Geschlecht wird zum Übungspartner des anderen, ein mitten ins Haus gestelltes ‚Anschauungsmittel’. Das, was dem gesamten sozialen Leben eine Struktur verleiht, wird also in einem sehr kleinen und trauten Kreis eingeübt.“ (Goffman 2001 [1977]: 131)
Goffman betrachtet das Arrangement der Geschlechter als ein rein kulturelles Phänomen, das in der alltäglichen familialen Interaktion seinen Anfang hat. Die alltägliche Kategorisierung in Geschlechtsklassen erfolgt in Identifikationssystemen der Verortung und Benennung. Jede Interaktion ist nach Goffman von Beginn an von der Tendenz durchdrungen, in geschlechtsbezogenen Begriffen formuliert zu werden. Darüber hinaus wird in der Interaktion das Bild von Frauen als „reine, zarte und wertvolle Objekte, als Spenderinnen und Empfängerinnen von Liebe und Zuwendung“ (ebd.: 150) produziert und wechselseitig bestätigt. Diese positiv besetzten Bilder sind die interaktive Beschwichtigung für die strukturelle Benachteiligung von Frauen hinsichtlich des Zugriffs auf Ressourcen gesellschaftlicher Macht und ihres Ausschlusses aus Teilen des öffentlichen Raumes.
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Idealisierungen von Frauen als Mütter sind folglich eng mit der Herstellung und Aufrechterhaltung der Geschlechterhierarchie verknüpft. Goffman zufolge sind gesellschaftliche wie individuelle Bilder von der Natur des Geschlechterunterschiedes eindeutig kulturell geprägt – keineswegs bestimmt die Natur die kulturellen Bilder. Hier wird das postmoderne Potential der Goffmanschen Theorie deutlich, denn er formuliert bereits recht früh, was feministische TheoretikerInnen später weitergedacht haben. Sex und Gender stehen in seiner Theorie nicht in einer zwangsläufigen Verbindung in dem Sinne, dass z. B. weiblichem Sex ausschließlich weibliches Gender zugeordnet werden kann. Gleichzeitig gehen bei Goffman natürliche Phänomene wie z. B. die körperliche Fähigkeit des Stillens in die Analyse der kulturellen Konstruktionen ein und auch gesellschaftlich territoriale Verankerungen derselben werden im Begriff der ‚institutionellen Reflexivität’ mitgedacht (vgl.: Kotthoff 2001).
Doing Gender Auch das ebenfalls die Interaktion betonende Konzept des Doing Gender (West und Zimmermann 1987) bietet für die in dieser Arbeit gestellte Frage nach den Konstruktionen von Geschlecht und Familie eigene Anschlussmöglichkeiten. Der auf ethnomethodologischen Zugängen (z. B.: Garfinkel 1967)33, der Verbindung von symbolischem Interaktionismus und Ethnomethodologie (Goffman 2001 [1977]; Goffman 2001 [1980]) sowie sozialkonstruktivistischen Theorien basierende Ansatz des Doing Gender fokussiert die interaktive Herstellung von Geschlecht in alltäglichen Praktiken über den gesamten Lebenslauf hinweg. Anknüpfend an Goffman und Hagemann-White (s. o.) wird im Doing Gender – Konzept eine weitere Differenzierung der Sex / Gender Unterscheidung um die Sex Category vorgenommen. So wird die soziale Prozesshaftigkeit in Konstruktionen von Geschlecht hervorgehoben. Dabei wird unter Sex nicht mehr das biologische Geschlecht als gegebene natürliche Voraussetzung verstanden, sondern die Klassifizierung ins zweigeschlechtliche System nach körperlichen Merkmalen. Unter Sex Category wird die Mitgliedschaft in der Gruppe der Frauen oder Männer gefasst: „sex category is achieved through application of the sex criteria, but in everyday life“ (West und Zimmermann 1987: 127), während sich Gender 33 In der berühmten ‚Agnes-Studie’ beschrieb Garfinkel die Einübung ‚weiblichen’ Verhaltens durch die Transsexuelle Agnes. Diese Studie verdeutlichte Aspekte menschlichen Verhaltens als kulturell geprägt, welche bis dahin als natürlich galten und ermöglichte so neue Sichtweisen auf Produktion und Reproduktion sozialer Ordnungen.
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nun auf die Vielzahl von Handlungsbausteinen bezieht, welche diese Mitgliedschaft herbeiführen und aufrechterhalten sollen: „… the activity of managing situated conduct in light of normative conceptions of attitudes and activities appropriate for one’s sex category. Gender activities emerge from and bolster claims to membership in a sex category.” (ebd.)
Somit wird in diesem Konzept der prozessuale Charakter der Geschlechterzuordnung noch stärker als in der bisherigen Unterscheidung zwischen Sex und Gender hervorgehoben. Den Subjekten kommt - in Weiterentwicklung oben beschriebener Sozialisationskonzepte - eine neue Verantwortung für den Verlauf ihres Lebens im Sinne von Selbstsozialisation zu (vgl.: Heinz 2002).34 Ein weiterer wesentlicher Gedanke der Doing Gender- Konzeption ist, dass Gender und Sex Category aneinander, nicht aber an Sex gebunden sind. Die Herstellung von Geschlecht in der Interaktion muss also nicht zwangsläufig mit dem biologisch klassifizierten Geschlecht übereinstimmen: „… sex and sex category can vary independently; that is, it is possible to claim membership in a sex category even when the sex criteria are lacking“ (West und Zimmermann 1987: 127).35 Diese Entkoppelung bedeutet jedoch keineswegs, dass die Subjekte sich je nach Situation mal dem einen und mal dem anderen Geschlecht zuordnen können, da die Geschlechtskategorien mit Zugängen zu Macht und Ressourcen verbunden sind. Dies führt zu Sanktionierungen uneindeutiger Geschlechtsidentitäten im gesellschaftlichen Leben. West und Zimmermann sprechen hier von der Unvermeidbarkeit von Doing Gender: „…doing gender is unavoidable. It is unavoidable because of the social consequences of sex-category membership: the allocation of power and resources not only in the domestic, economic, and political domains but also in the broad arena of interpersonal relations.” (ebd.: 145)
Die Zuordnung zu einer der beiden Geschlechterkategorien und die sich daraus ergebende Entwicklung von Geschlechtsidentität sind also 34 Sozialisationskonzepte, die sich nur auf Teilbereiche des Lebenslaufs beziehen und in denen die Einzelnen mehr oder weniger extrem als Opfer der gesellschaftlichen Umstände gesehen werden, werden im Konzept der Selbstsozialisation kritisiert. Diese Kritik zielt auf die Vernachlässigung der Gestaltungsmöglichkeiten der Subjekte über den Lebenslauf hinweg. Das Konzept der „self socialization“ hingegen verbindet den Einfluss sozialer Struktur mit der subjektiv-aktiven Konstruktion individueller Lebensläufe, die mit dem Begriff „doing biography“ gefasst wird (Heinz 2002: 60). 35 In der Loslösung einer zwangsläufigen Verbindung zwischen Sex auf der einen und Sex Category und Gender auf der anderen Seite ist bereits die Entkoppelung von ‚biologischem’ und ‚kulturellem’ Geschlecht enthalten, die i. d. R. Judith Butler (Butler 1991 [1990]) zugeschrieben wird, von ihr aber nur aufgenommen und weiter ausgearbeitet wurde.
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„als fortlaufender Herstellungsprozess aufzufassen (…), der zusammen mit faktisch jeder menschlichen Aktivität vollzogen wird und in den unterschiedliche institutionelle Ressourcen eingehen.“ (Gildemeister 2004: 132)
Diese Omnirelevanzannahme weist auf eine Problematik empirischer Forschungen zu Herstellungsprozessen von Geschlecht hin, da ihr zu Folge die Interaktionen zwischen ForscherInnen und den von ihnen befragten oder beobachteten Subjekten notwendig durch die jeweiligen Zuordnungen in Geschlechterkategorien beeinflusst sind. „Damit besteht für Analysen des ‚doing gender’ immer das Problem und die Herausforderung, die eigenen, oft nicht bewussten alltagsweltlichen Annahmen über ‚Unterschiede’ der Geschlechter zu kontrollieren und zu reflektieren.“ (Gildemeister 2004: 136)
Das Doing Gender Konzept wurde in den späten 80er und 90er Jahren in der Geschlechterforschung breit rezipiert und diskutiert. Es wurde auch unter der Bezeichnung des ‚Doing Work’ auf arbeitssoziologische Fragen angewendet. Williams z. B. untersuchte subjektive Konstruktionen von Geschlecht bei Frauen in Männer- und Männern in Frauenberufen (Williams 1989). Stärken und Schwächen dieses mikro-soziologischen Blickes auf die Subjekte und ihre Verhältnisse zur Gesellschaft wurden von Gottschall analysiert. Gottschall kritisiert die Verkürzung, die in der Überbetonung des Interaktionsaspektes gegenüber strukturellen Gegebenheiten wie z. B. dem geschlechtsspezifisch strukturierten Arbeitsmarkt liegt (Gottschall 1998). Diese Kritik ist sicherlich grundsätzlich für den gesamten Doing Gender Ansatz als zutreffend anzusehen und bei dessen empirischer Anwendung insofern zu berücksichtigen, als – mit Goffman - die institutionelle Interaktionsordung, innerhalb derer Interaktionen stattfinden, mit in den Blick genommen werden muss. Der Doing Gender Ansatz wurde wegen seiner Vernachlässigung der Kategorien Herkunft, Schicht und Ethnie kritisiert. In einer teilweisen Rezeption dieser Kritik entwickelten West und Fenstermaker in dem 1995 erschienenen Aufsatz ‚Doing Difference’ (West und Fenstermaker 1995) das Doing Gender Konzept weiter. Sie hoben hervor, dass das Zusammenspiel der Kategorien Gender, Klasse und ethnische Zugehörigkeit über die bloße Addierung von Dominanzen und Benachteiligungen hinausgeht und dass sich die genannten Kategorien – je nach sozialem Kontext – auf unterschiedliche Art und Weise gegenseitig beeinflussen. Die Integration anderer relevanterer Kategorien bedeutete gleichzeitig eine Relativierung der oben erwähnten Omnirelevanzannahme von Geschlechterkonstruktionen. Nicht in dem Sinne, dass es eine Situation geben kann, in der Geschlecht keine Bedeutung hat, jedoch dahin53
gehend, dass diese Bedeutung hinter anderen kategorialen Zuordnungen an Bedeutung verlieren kann. Hirschauer brachte (Hirschauer 1994) die Möglichkeit des Undoing Gender in die Debatte ein. Mit Undoing Gender bezeichnete er Einstellungen und Handlungen, die den Bezug zur Kategorie Geschlecht verlassen. Er nahm dabei Gedanken von Goffman zu unterschiedlichen Inszenierungsgraden von Geschlecht und zur Bedeutung anderer wesentlicher Status- bestimmender Kategorien wie Alter, Klasse und ethnische Zugehörigkeit auf, welche dieser bereits 1980 in seiner Rede über die Interaktionsordnung (s. o.) dargelegt hatte.
Doing Gender – Doing Family Soweit zu interaktiven Herstellungsprozessen von Geschlecht. Aber in welchem Verhältnis stehen diese zu Konstruktionen von Familie? Die Tatsache, dass Mädchen wie Jungen in der Regel hauptsächlich von Müttern und nicht von Müttern und Vätern zu gleichen Teilen versorgt und erzogen werden, führt zu Theorien geschlechtsspezifisch unterschiedlicher Problematiken beim Erwerb der Geschlechtsidentität von Mädchen und Jungen. Eine kritische Aufarbeitung der klassischen wie feministischen psychoanalytischen Theorieentwicklung durch Becker-Schmidt (Becker-Schmidt 1995) lenkt den Blick vor allem auf die Prozesse der geschlechtsspezifischen Identifikation in der primären Sozialisation und soll hier kurz zusammenfassend dargestellt werden: Es wird davon ausgegangen, dass für einen Jungen im Unterschied zu einem Mädchen frühe Kränkungen in der Realisierung der Tatsache entstehen, dass er nie wie die Mutter sein kann, er wird keine Brüste haben, nicht gebären und seine Kinder nicht stillen können (Becker-Schmidt 1995: 231ff.). Zur Verarbeitung dieser Kränkung wendet sich der Junge von der Mutter ab und sucht sich den Vater zum Vorbild: Wenn er wird wie dieser, so hat er keine Brüste mehr nötig, kann aber seinerseits Weiblichkeit begehren und die gesellschaftlich höher gestellte Geschlechterrolle übernehmen. Becker-Schmidt zu Folge stehen dem Mädchen zwei Identifikationswege offen, die zur Mutter und die zum Vater. Von der Mutter muss es sich im Laufe der Subjektwerdung zwar abgrenzen, deren mit der Mutterschaft verbundene Potentiale können jedoch auch eigene Realisierungen werden. Gleichzeitig stehen sowohl die Erwerbstätigkeit der Mutter (wenn auch in der Regel in Teilzeittätigkeit), wie der lebensgeschichtlich auf ‚Außenwelt’ (im Unterschied zu Familienwelt) konzentrierte Vater als Identifikationsobjekte in Abgrenzung zur Familientätigkeit zur Verfügung.
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Die hier beschriebenen Prozesse der Herausbildung von Geschlechtsidentität führen zu tendenziell starrem Festhalten der Jungen und späteren Männer an dem, was kulturell als ‚männliches Geschlechterverhalten’ verstanden wird, im Vergleich zu Mädchen und Frauen, die mit einer größeren Flexibilität gegenüber geschlechtertypischem Verhalten ausgestattet sind. Jungen, die ohne Vater aufwachsen, müssten demnach große Schwierigkeiten bei der Ausprägung einer ‚männlichen Geschlechtsidentität’ haben. Dem Verhältnis von Geschlecht und Familie kommt in Theorien zur primären und sekundären Ausprägung von Geschlechtsidentität große Bedeutung zu, auch wenn dies innerhalb der einzelnen Theorien nicht immer expliziert wird. Dies hängt in starkem Maße damit zusammen, dass Theorieentwicklung wie Alltagsdiskurse zum Erwerb von Geschlechtsidentität wesentlich durch die psychoanalytische Theorie geprägt sind, wobei in populärwissenschaftlichen Abhandlungen dieser Bezug häufig eher ‚hinter dem Rücken des Textes’ besteht, dass heißt weder benannt noch detailliert ausgeführt wird.36 Theorien zur Geschlechtsidentität müssen also als ein Baustein, der das Doing Family beeinflusst, berücksichtigt werden. Diesen Theorien liegen Normalitätsunterstellungen über Rollen, die Mütter und Väter in der Familie und in der Gesellschaft einnehmen, zu Grunde. Sie gehen von einer bestimmten Familienkonstruktion als Normalität aus, der Vater-Mutter-Kind Familie. Die enge Verknüpfung der Konstruktionen von Geschlecht und Familie wurde auch schon von sozialkonstruktivistischen ‚Klassikern’ wie Berger/ Luckmann und Goffman betont: So beschreiben Berger/Luckmann, wie sich Ordnungssysteme von Wirklichkeit bei ihrer Weitergabe an die nächste Generation verhärten und verdichten und zwar „nicht nur für die Kinder, sondern – mittels eines Spiegeleffekts - auch für die Eltern. (…) Für die Kinder in der Frühphase ihrer Sozialisation wird sie [die Objektivität der institutionalen Welt, B. R.] ‚die Welt’, Für die Eltern verliert sie ihren spielerischen Charakter und wird ‚ernst’.“ (Berger und Luckmann 1999 [1969]: 63)
Den Kindern steht die Welt, in die sie hineinsozialisiert werden „als gegebene Wirklichkeit gegenüber – wie die Natur und wie diese vielerorts undurchschaubar“ (ebd.). Die kategorialen Zuordnungen zu Weiblichkeit und Männlichkeit erfahren durch ihre Weitergabe an die nächste Generation eine Stabilisierung. Goffman sieht die Familie als einen der Hauptaktionsrahmen, in dem durch inner- wie außerfamiliale geschlechtsspezifische Arbeitsteilung „die sozialen 36 Näheres zu psychoanalytischen Diskursen über die Entwicklung von Geschlechtsidentität findet sich unter 3.5.2.
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Rollen von Männern und Frauen deutlich ausdifferenziert“ werden (Goffman 2001 [1977]: 115). Dabei wandelt sich Familie von einer als selbstverständlich betrachteten Lebensform zunehmend in etwas, das als subjektive Herstellungsleistung betrieben werden muss, um zustande zu kommen. „Familie als Herstellungsleistung fokussiert zum einen auf die Prozesse, in denen im alltäglichen und biographischen Handeln Familie als gemeinschaftliches Ganzes permanent neu hergestellt wird („Doing Family“), zum anderen auf die konkreten Praktiken und Gestaltungsleistungen der Familienmitglieder, um Familie im Alltag lebbar zu machen.“ (Schier und Jurczyk 2007: 10)
Die Familie steht in der neoliberalen Gesellschaft aufgrund von Vereinbarungsund Zeitproblemen, aber auch durch den Blick auf Kindheit als einer Zeitspanne, in der keine Gelegenheit zur Förderung verpasst werden darf, unter einem zunehmenden Druck des Funktionalen aller Tätigkeiten. Genau wie Doing Gender ist auch Doing Family als Handlung in institutionellen und normativen Rahmungen zu verstehen, die sowohl Wandlungen als auch Beharrungsvermögen aufweisen. Auf welche Art und Weise die Subjekte Familie alltäglich lebbar machen (Doing Family) hängt folglich eng mit den von ihnen praktizierten Geschlechterbildern (Doing Gender) und der spezifischen Einbindung in und subjektiven Haltung zu Erwerbsarbeit (Doing Work) zusammen.
2.5 Zusammenfassung Mit den Konzepten der Interaktionsordnung (Goffman), der Statuskonfiguration (Levy) und des Dispositivs (Foucault) wurden theoretische Zugänge gewählt, die kulturelle und strukturelle Aspekte integrieren. Es mehren sich die Stimmen, welche sich für eine solche integrative Bearbeitung aussprechen (siehe z. B.: Gottschall 1998; Knapp 1995; Knoblauch 2002). Die „Mehrdimensionalität der Geschlechterverhältnisse“ (Krüger 2001b: 63) erfordert die gleichzeitige Analyse von Interaktionen (Doing Gender, Doing Work, Doing Family), Institutionen (Geschlechter- und Familienordnung) sowie Diskursen und Leitbildern (Geschlechter- bzw. Familienkultur). Dabei wird das Subjekt weder als deterministisch von der Gesellschaft geprägt noch als allein verantwortlich für seine Handlungen betrachtet. Vielmehr eignet es sich die Bedingungen mehr oder weniger aktiv an. Es ist davon auszugehen, dass jeder einzelne Lebenslauf je nach Zeitpunkt und Umständen mal größeren und mal weniger großen subjektiven Handlungsspielräumen, interaktiven Einflüssen, gesellschaftlichen Zwängen und diskursiven Effekten 56
unterliegt. Abbildung Nr. 2 verdeutlicht den Zusammenhang der in diesem Kapitel beschriebenen gesellschaftlichen Ebenen. Dabei symbolisieren hier wie in den folgenden Abbildungen die breiten Pfeile stärkere und die dünnen Pfeile schwächere Effekte.
Abbildung 2:
Gesellschaftliche Aspekte, die subjektive Konstruktionsprozesse beeinflussen
Diskurse und Leitbilder zu Geschlecht und Familie
Subjekt
Interaktionen (Doing Gender, Doing Work, Doing Family)
Institutionen (Geschlechter- und Familienordnung)
Die Konstruktion von Geschlecht und Familie ist ein fortwährender Herstellungsprozess auf den Ebenen von Diskursen/Leitbildern, Institutionen und Interaktionen. Dabei ist die postmoderne Frage danach, ob es letztendlich Frauen und Männer gibt, für die hier gewählte Fragestellung ohne größere Relevanz, denn hier muss von der Alltagsrealität der Subjekte ausgegangen werden, welche durch die Unterscheidung in Weiblichkeit und Männlichkeit geprägt ist. Im Zentrum des Interesses steht die Art und Weise dieser Prägung und die Frage 57
nach dem Spielraum, der den Subjekten bei der von ihnen vorgenommenen Bestimmung dessen, was sie unter Geschlecht und Familie verstehen, bleibt. Eine Herangehensweise wie die hier gewählte muss sich den Vorwurf der teilweisen Reifizierung der Geschlechterkategorien gefallen lassen, nimmt diesen jedoch für die Nähe zur empirischen Wirklichkeit in Kauf. Zum Zeitpunkt der empirischen Erhebung (2004) lag die Vereinigung beider deutscher Staaten 15 Jahre zurück. In den 40 Jahren deutscher Zweistaatlichkeit entstanden maßgebliche Differenzen in den Alltagspraxen von Frauen, Männern und Familien sowie in Geschlechter- und Familienleitbildern. Zu untersuchen ist, inwieweit diese Unterschiede zwischen BRD und DDR bis heute nachwirken. Um dieser Frage im späteren Verlauf der Arbeit nachgehen zu können, müssen die unterschiedlichen Verläufe der mit Geschlechter- und Familienkonstruktionen verbundenen gesellschaftlichen Entwicklungen in DDR und BRD jedoch zunächst nachgezeichnet werden. Dieser Aufgabe wendet sich das nächste Kapitel zu.
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3 Geschlechter- und Familienleitbilder
Die im vorangegangenen Kapitel benannte ‚Mehrdimensionalität der Geschlechterverhältnisse’ lässt sich auf eine ‚Mehrdimensionalität von Geschlechter- und Familienverhältnissen’ erweitern. In diesem Kapitel werden unterschiedliche Dimensionen von Geschlechter- und Familienleitbildern in einer chronologisch geordneten Spurensuche herausgearbeitet. Dabei werden im Sinne des foucaultschen Begriffs des Dispositivs fragmentarisch so unterschiedliche Felder wie familienpolitische Direktiven und Maßnahmen, Elemente von Verfassungen und Rechtsprechungen, wissenschaftliche - und hier speziell psychologische Diskurse sowie Frauenzeitschriften rezipiert.37 Besondere Aufmerksamkeit wird auf Tendenzen der ideologischen Überhöhung der heterosexuellen Kleinfamilie und auf diesbezügliche Unterschiede zwischen DDR und BRD gerichtet. Es wird der Frage nachgegangen, wie Geschlechter- und Familienleitbilder institutionell verankert werden und welche Veränderungen die institutionellen Verfestigungen der Leitbilder im Zuge des sozialen Wandels durchlaufen. Dieser Aspekt ist von besonderer Bedeutung, da die Geschlechter- und Familienleitbilder nicht nur über Diskurse, sondern insbesondere auch über ihre Umsetzung in ökonomischen Verteilungen, Kinderbetreuungs- und Arbeitsmarktstrukturen direkte und intensive Effekte auf die Lebenswirklichkeit der Subjekte – hier der Alleinerziehenden – haben. Die Frage nach diskursiven Logiken und institutionellen Entwicklungen, welche Sichtweisen auf die Lebensform der Ein-Elter-Familie als normal oder abweichend prägen, steht im Zentrum des folgenden Kapitels. Abbildung Nr. 3 zeigt in schematischer Vereinfachung die Beziehungen zwischen den Ebenen, die in diesem Kapitel bearbeitet werden.
37 Die Diskurs- und Institutionengeschichten von DDR und BRD sind zu umfangreich, um sie hier lückenlos darstellen zu können. Ich verweise daher zusammenfassend auf Schäfgen, Obertreis und Gerlach (Schäfgen 2002), (Obertreis 1986), (Gerlach 1996).
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Abbildung 3:
Die Beziehungen zwischen Geschlechter- und Familienleitbildern, Diskursen, Institutionen und Familienrealitäten
Geschlechter- und Familienleitbilder Geschlechter- und Familienpolitik
Familienrealitäten
Wissenschaftliche und politische Diskurse in Bezug auf Geschlecht und Familie
BildungsArbeitsmarkts-, Kinderbetreuungsund sozialpolitische Institutionen
3.1 Familienpolitik und Familienrealitäten Die Untersuchung der Entwicklung von Geschlechter- und Familienleitbildern in den letzten 45 Jahren in DDR, BRD und im vereinigten Deutschland nach 1989 stellt eine ‚Hintergrundfolie’ für das Verständnis sowohl der heutigen sozialen und sozialstrukturellen Lebensbedingungen Alleinerziehender in Ost und West (Kap.4 und 6) als auch für subjektive Konstruktionen von Geschlecht und
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Familie durch Alleinerziehende (Kap.7) dar.38 Es ist davon auszugehen, dass die Leitbilder der Elterngeneration der heutigen Alleinerziehenden deren subjektive Konstruktionen mit geprägt haben. Die Definition der Institution Familie, sowie ihre Struktur und Gestaltung steht in einem sich gegenseitig beeinflussenden Verhältnis mit der jeweiligen Gesellschaftsform. Die konkrete Gestaltung dessen, was als Familie gilt und gelebt wird, wird somit von verschiedenen Ebenen einer Gesellschaft beeinflusst. Von Seiten des Staates wird Familie über Familienpolitik gestaltet. „Familienpolitik i. S. einer gezielten Einflussnahme des Staates auf die Lebensverhältnisse von Familien (…) formuliert immer normative Maßstäbe im Hinblick auf das bzw. die ihr zugrunde liegende(n) Ideal(e) von Familie. Sie zeichnet ‚Bilder’ vom Normverhalten und von optimaler Funktionalität des sozialen Systems Familie, die nicht nur die Eckwerte der ihr entsprechenden Ordnungspolitik festlegen, sondern auch die Bewertung von Verhalten in der sozialen Interaktion sowie in unseren Köpfen. Sie gibt implizite oder explizite Maßstäbe zur Beurteilung von Rollenverhalten, insbesondere natürlich Geschlechterrollenverhalten, an die Hand und greift in Lebensbereiche ein, die uns so privat erscheinen und doch gesellschaftlich erzeugt sind.“ (Gerlach 1996: 15)
Familienpolitik greift über unterschiedliche Instrumente in Familienrealitäten ein. Zu nennen sind hier nach Gerlach v. a. ökonomische Bedingungen, die rechtlich– institutionelle Gestaltung von Lebensformen, die Ausformung der Umwelt von Familien, die Prägung von Leitbildern und die Kommunikation über Familie (vgl.: Gerlach 1996: 158ff.). Leitbilder von Geschlecht und Familie werden in wissenschaftlichen (v. a. in Pädagogik und Psychologie) und politischen Diskursen formuliert, teilweise liegen sie diesen auch als nicht explizierte Orientierungsmuster zu Grunde. Neben dieser als Makroebene der Gesellschaft zu bezeichnenden ist auch die Mikroebene, die Ebene der Familienrealität, das konkret gelebte Alltagsleben, das familienpolitischen Programmen entsprechen oder zuwiderlaufen kann, von Bedeutung. Zu bedenken ist, dass sich etliche Aspekte von Familienrealität der Erfassung durch wissenschaftliche Instrumente entziehen. Benannte Aspekte können nur Teilbereiche darstellen. Ähnliches gilt für die in der BRD durch eine Vielzahl von Institutionen und Trägern verwirklichte Familienpolitik. Die vorhandene Heterogenität kann nicht vollständig dargestellt werden. Der Fokus liegt daher auf der Erfassung zentraler familienpolitischer Vorgaben auf Bundesebene.
38 In diesem Kapitel werden die Entwicklungen bis zum Jahr 2004 beschrieben Zu diesem Zeitpunkt wurden die ersten Interviews für den empirischen Teil dieser Arbeit durchgeführt.
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Ebenfalls ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit sollen auch mit Familienpolitik untrennbar verbundene und von ihr beeinflusste Prozesse auf der Institutionenebene (Arbeitsmarkt, Sozialpolitik) in die Darstellung einfließen. Durch Zitate aus familienpolitischen Dokumenten wird eine Vorstellung vom ‚Geschmack’ unterschiedlicher diskursiver Entwicklungen gegeben. Aufgezeigt werden die Wechselwirkungen zwischen Konstruktionen von Familie und Konstruktionen von Geschlecht. Wesentliche Schnittpunkte von Geschlechterund Familienkonstruktionen liegen in den Diskursen zu Mütterlichkeit und Väterlichkeit, welche daher in gesonderten Unterkapiteln Beachtung finden. Auch dem Kindeswohl kommt zentrale Bedeutung in Diskursen um Geschlecht und Familie zu. Bestimmte Formen von Familie werden bevorzugt, toleriert oder an den Rand gedrängt, je nachdem, welche Bedingungen für ein stabiles Kindeswohl angenommen werden. Dem Thema der geschlechterspezifischen Erziehung kommt hier besondere Bedeutung zu. Diskursen zur Entwicklung männlicher und weiblicher Identität liegen Annahmen über begünstigende und erschwerende Familienkonstellationen entweder implizit zu Grunde oder werden explizit ausgeführt. Die Diskussion um unterschiedliche Formen der Kinderbetreuung ist ebenfalls mit Diskursen um Kindeswohl, Familie und Geschlecht verknüpft: Je nach Gesellschaftsmodell, Arbeitsmarktsituation und bevölkerungspolitischen Motivationen werden familiale Erziehung oder institutionelle Betreuung bevorzugt. Die Kategorie Geschlecht findet nun Eingang über die differierenden Diskurse zu Mütterlichkeit und Väterlichkeit sowie zu männlicher und weiblicher Erwerbstätigkeit. Geschlechter- und Familienleitbilder haben sich historisch entwickelt. Sie prägen gegenwärtige subjektive Bilder von Geschlecht und Familie. Im nun folgenden Unterkapitel (3.2) wird ein Überblick zu Familien- und Geschlechterbildern im 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegeben. Es wird aufgezeigt, dass die unterschiedlichen Geschlechter- und Familienpolitiken von DDR und BRD zunächst als - stark differierende - Reaktionsweisen auf die Familienpolitik im Nationalsozialismus begriffen werden können. Der Blick auf die kulturelle Entstehungsgeschichte der Zuschreibungen zu Mütterlichkeit und Väterlichkeit bietet die Grundlage zum Verständnis ihrer Beharrungstendenzen bis in die heutige Zeit. Gleichzeitig werden die Anstrengungen erahnbar, die im Zuge sozialen Wandels vollbracht werden, um sich – auf gesellschaftlicher wie auf subjektiver Ebene – von diesen kulturell verfestigten Bildern zu lösen und Spielräume zu entwickeln. Im Unterkapitel 3.2 wird ausschließlich Sekundärliteratur über diskursive Entwicklungen verwendet, was dessen prägnant zusammenfassendem Charakter geschuldet ist. Auf die Struktur von Institutionen wird unter 3.2 aus Platzgründen 62
nur am Rande eingegangen. Der starke Einfluss von Arbeitsmarktpolitik auf Familienpolitik soll an dieser Stelle betont werden und wird hier wie in den kommenden Unterkapiteln am Rande in die Darstellung mit einbezogen. Im Anschluss an den kurzen historischen Rückblick (3.2) wird ein Überblick über die Beschaffenheit von Geschlechter- und Familienleitbildern, insbesondere hinsichtlich zentraler familienpolitischer Zielvorgaben sowie ihrer institutionellen Umsetzung in DDR (3.3) und BRD (3.4) für den Zeitraum von 1949 bis 1989 gegeben. Besondere Berücksichtigung finden hier die Diskursbestimmenden Aspekte der gesellschaftlichen Haltungen zu Müttererwerbstätigkeit und institutioneller Ganztagskinderbetreuung. Diese Aspekte sind für Alleinerziehende von zentraler Wichtigkeit: Sie sind in besonderem Maße darauf angewiesen, Familie und Erwerbstätigkeit miteinander zu verbinden, wenn sie nicht von staatlichen Hilfen abhängig sein wollen. Für die 90% Frauen unter Alleinerziehenden ist von entscheidender Bedeutung, ob die Gesellschaftsform, in der sie leben, Müttererwerbstätigkeit kulturell akzeptiert und institutionell unterstützt oder nicht. Das Verständnis heutiger gesellschaftlicher wie subjektiver Positionen zur Müttererwerbstätigkeit in Ost- und Westdeutschland basiert auf den in DDR- und BRD- Geschichte entstandenen Geschlechter- und Familienleitbildern. Sowohl die Vereinigung überdauernde sozialstrukturelle Differenzen, als auch nach Ost- und Westherkunft differierende Einstellungen zur Müttererwerbstätigkeit werden nur vor diesem Hintergrund nachvollziehbar. In den beiden Unterkapiteln 3.3 und 3.4 werden die Leitbilder an Hand unterschiedlicher Quellen, die als Hinweise auf dominante Diskurse dienen, herausgearbeitet: Es werden Gesetzestexte, Äußerungen von Politikern, wissenschaftliche Texte und Analysen von Zeitschriften verwendet. Wissenschaftliche Texte und Äußerungen von Politikern zeigen Facetten des Diskurses, von denen Teile in juristischen Regelungen institutionalisiert werden. Rechtliche Regelungen haben für die Konstruktionen von Geschlecht und Familie besondere Bedeutung, da in ihnen die jeweiligen Bilder nachhaltig festgeschrieben werden. Wird dort von der ‚Natürlichkeit der Zwei-Eltern-Familie’ ausgegangen, so werden Ein-Elter-Familien per Definition an den Rand gedrängt. Unter 3.5 wird die Entwicklung in Ost- und Westdeutschland seit 1989 bis zum Jahr 2004 behandelt. Der Fokus liegt hier auf der Frage nach nachhaltigen Effekten von durch DDR- und BRD- Geschichte geprägten Geschlechter- und Familienbildern. Besonders interessant ist, wie Individualisierungsprozesse und neoliberale Entwicklungen diese Bilder beeinflussen. Forschungsarbeiten, die sich bezüglich dieses Zeitraums mit der Frage befassen, ob Alleinerziehende heute im Diskurs als ‚normale Familien’ gelten, werden unter 3.5.1 in einem Exkurs zusammengefasst. Insofern ist in dieses Unterkapitel bereits jener Teil
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des Forschungsstandes über Alleinerziehende integriert, der sich mit Bildern von Familie beschäftigt. Der Zusammenhang zwischen verschiedenen Positionen in der psychoanalytischen Theorie mit Geschlechterkonstruktionen und Bildern von Mütterlichkeit und Väterlichkeit wird in einem weiteren Exkurs im Anschluss an 3.5.2 zusammenfassend dargestellt.
3.2 Geschlechter- und Familienleitbilder vor 1949 Die Geschichte der Familie im 18. und 19. Jahrhundert mit der Entwicklung vom ‚ganzen Haus’ zur bürgerlichen Kleinfamilie wurde im 2. Kapitel bereits kurz beschrieben. Hier soll nun auf die Konsequenzen dieser Entwicklung für die Konstruktionen von Väterlichkeit und Mütterlichkeit eingegangen werden. Obwohl Väter bei außerhäusiger Beschäftigung in den Familien kaum mehr anwesend waren, hielt sich ihre innerfamilial autoritäre Rolle diskursiv nahezu unhinterfragt. Die in der Zeit des Absolutismus gottesähnliche Stellung des Vaters wandelte sich in Folge der Säkularisierung hin zum innerfamilialen Vertreter der Gesellschaft. Diese Position wurde durch wissenschaftliche Diskurse nachhaltig untermauert. „Das Weib ist auf einen kleinen Kreis beschränkt, den es aber klarer überschaut; es hat mehr Geduld und Ausdauer in kleinen Arbeiten. Der Mann muß erwerben, das Weib sucht zu erhalten; der Mann mit Gewalt, das Weib mit Güte oder List. Jener gehört dem geräuschvollen öffentlichen Leben, dieses dem stillen häuslichen Cirkel. Der Mann arbeitet im Schweiße seines Angesichts und bedarf erschöpft der tiefen Ruhe; das Weib ist geschäftig immerdar, in nimmer ruhender Betriebsamkeit.“ (Aus einem Conversations-Lexikon von 1815, zitiert nach: Hausen 1976: 366)
Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts werden also Männlichkeit und Weiblichkeit in Verbindung mit verschiedenen Formen von Arbeit definiert und damit gleichzeitig geschlechtsspezifisch differierende innerfamiliale Rollen konstruiert. Männer werden auf die öffentliche Sphäre festgelegt und Frauen auf den privaten Raum. Die Position des Vaters erschöpft sich in der Ernährerrolle, ergänzt durch ordnende Eingriffe in das Familienleben. Der Diskurs zu Mütterlichkeit unterliegt im späten 18. sowie im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert tief greifenden Veränderungen, die von Schütze (Schütze 1986) anhand der Analyse von Ratgeberliteratur zu Erziehungsfragen untersucht worden sind. Dabei zeigt sich ‚Mutterliebe’ als ein neues kulturelles Deutungsmuster der Mutter-Kind Beziehung (Schütze 1986: 7). Dies ist gleichzeitig ein Prozess der Verwissenschaftlichung: 64
„Unter dem Einfluss der Wissenschaft wird traditionales Handeln durch zweckrationales ersetzt. (…) Die Verwissenschaftlichung der Mutter-Kind-Beziehung liegt im späten 18. und 19. Jahrhundert in den Händen der Ärzte, denen im 20. Jahrhundert die Psychologen nachfolgen.“ (Schütze 1986: 11)
Im Zuge dieser Verwissenschaftlichung geht die Medikalisierung der MutterKind-Beziehung bruchlos in deren Pädagogisierung und Psychologisierung über. Die Medikalisierung der Mutter-Kind-Beziehung wendet sich gegen die hohe Säuglingssterblichkeit. Der Arzt wird zum Ratgeber der Mutter. Die Präsenz von Ammen, Kinderfrauen und Hebammen wird problematisiert. Sie werden teilweise aus dem Familienalltag verdrängt. Anfang des 19. Jahrhunderts tauchen in den Ratschlägen der Ärzte, die sich bisher weitgehend auf den Umgang mit dem Körper beschränkten, Definitionen von Mutterliebe auf, welche diese mit Aufopferung und Pflichterfüllung in Verbindung bringen (Schütze 1986: 30/31), eine Verknüpfung mit weitreichenden Folgen bis in die heutige Zeit. Gleichzeitig mit der Erfindung der Mütterlichkeit wandelte sich die Haltung zur weiblichen Sexualität: Aus den triebhaften Weibern des Mittelalters wurden enthaltsame und sexlose moralische Wesen (ebd.: 38). Aus der Mutterliebe als Pflichterfüllung ergeben sich erste Androhungen von Schuldgefühlen bei Nichterfüllung der Pflicht: Das Bild der ‚schlechten Mutter’ hält Einzug in den Diskurs. Väter tauchen in den von Schütze untersuchten Ratgebern als relevante Erziehungspersonen kaum auf und bleiben damit auch von Vorwürfen der ungenügenden Erziehung ihrer Kinder verschont. Auch diese paradoxe Logik erscheint noch heute vertraut. Die Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts einsetzende Pädagogisierung des Eltern-Kind-Verhältnisses begann zunächst mit der durch die Medizin inspirierten „Überwachung und Pflege es kindlichen Körpers“ (ebd.: 44), z. B. in Form von Essensrationierungen und Kaltwasserkuren. Diese diskursiv propagierten Maßnahmen breiteten sich in der Realität des Familienlebens schichtspezifisch unterschiedlich aus: Von Adel und Bürgertum wurden sie zur neuen Wahrheit erklärt, von Arbeiterschaft und Bauern eher mit Misstrauen betrachtet. Die in der Aufklärung geprägte Idee der bewussten Erziehung, die sich an der Natur des Kindes zu orientieren habe, fand Eingang in pädagogische Konzepte des 19. und 20. Jahrhunderts. Beeindruckend ist, dass sich diese Definition von Mütterlichkeit als ‚natürlich’ bis in die Gegenwart gehalten hat. „Im Begriff der Mutterliebe erhält sich wie in keinem anderen die Sehnsucht nach unverfälschter Natur. Keine menschliche Beziehung wird so häufig in Analogie zum Tierverhalten interpretiert.“ (Schütze 1986: 6)
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Von der ersten Frauenbewegung Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts wurde weibliche Erwerbstätigkeit in der Regel als Alternative zur Mutterschaft thematisiert. Erwerbsarbeit und Mutterschaft wurden als unvereinbar angesehen, eine Einstellung, welche schon damals Schwierigkeiten für allein erziehende Mütter sowie für Arbeitermütter und Bäuerinnen bedeutet haben dürfte. Obgleich die Forderung nach dem Zugang zum öffentlichen Raum für Frauen einen Schritt nach vorne bedeutete, blieb der Weg zur Erwerbstätigkeit de facto für viele Frauen dadurch versperrt, dass eine Entscheidung zwischen Erwerbsarbeit und Mutterschaft getroffen werden musste. Auch von den meisten der damaligen feministischen Autorinnen wurde Mütterlichkeit idealisiert und mit besonderen weiblichen Fähigkeiten in Verbindung gebracht. Gleichzeitig wurden Anfang des 20. Jahrhunderts schon Ganztags- Kinderbetreuungseinrichtungen gefordert. Die damalige sozialdemokratische Frauenbewegung distanzierte sich von der bürgerlichen, welche auf Bildung der Arbeiterschaft zu Emanzipationszwecken setzte. Für die Arbeiterinnen jedoch stand angesichts verheerender Arbeits- und Lebensbedingungen der Klassenkampf im Vordergrund. Die Erziehungsziele betreffend waren sich Sozialdemokratinnen und Arbeiterinnen jedoch einig: Ordnung, Sauberkeit und Gehorsam bestimmten in beiden Gruppen den Diskurs zu Erziehung (Schütze 1986: 64ff.). Die Ausbreitung und Ideologisierung dieser erzieherischen Leitmotive durch Medizin und Pädagogik Anfang des 20. Jahrhunderts forderte von den Müttern enorme Disziplinierungen im Umgang mit ihren Kindern: Zum Wohle der Kinder sollten Zärtlichkeiten unterbleiben und die Nahrungsaufnahme innerhalb vorgegebener Zeitstrukturen und nicht an den Bedürfnissen der Kinder orientiert erfolgen. Das Befolgen dieser Grundsätze wurde zur Mutterpflicht und mit der Gefährdung des Wohlbefindens und sogar des Überlebens der Kinder begründet. Die Konstruktion des weiblichen Charakters als gefühlsbetont und weich blieb jedoch bestehen, so dass die Mütter zwangsläufig in den Konflikt gerieten, entweder gegen die ihnen zugeschriebene ‚Natur’ oder gegen die Erziehungsleitsätze ihrer Zeit zu handeln (ebd.: 68ff.). Kontrolle und Durchsetzung der beschriebenen Leitsätze wurde in den Erziehungsratgebern der damaligen Zeit den Vätern zugedacht (Opitz 1998). Somit führten Pädagogisierung und Psychologisierung der Elternrollen zur Verfestigung der Aufspaltung in das Gefühlsbetonte und Weiche als mütterliche Qualität und die Aneignung und Weitergabe gesellschaftlichen Wissens als väterliche Aufgabe. Diese diskursive Aufspaltung von Charaktereigenschaften, Fähigkeiten und Aufgaben zwischen den Geschlechtern bedeutete für allein erziehende Mütter die Unterstellung eines Mangels an rationaler Kontrolle in der Interaktion mit ihren Kindern. Für die wenigen allein erziehenden Väter dieser Zeit (im Falle des Todes der Mutter kümmerten sich in der Regel weibliche Verwandte um die 66
Kinder) ergab sich aus den beschriebenen dichotomen Geschlechterbildern die Annahme eines Defizits fürsorglicher Erziehungsqualitäten. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts beginnt die diskursive Verflechtung der Konstruktionen von Geschlecht und Familie mit der faschistischen Geschlechterideologie, abzulesen an dem inflationären Gebrauch des Wortes ‚Rassenhygiene’ (auch durch SozialdemokratInnen und FrauenrechtlerInnen) im Zusammenhang mit Fortpflanzung und Mütterlichkeit (vgl.: Schütze 1986: 59). Im deutschen Nationalsozialismus wird dieser Begriff dann zugespitzt und mit dem Begriff der Nation verknüpft. Für die ‚deutsche Mutter’ wird eine möglichst große Kinderzahl zur Pflicht. Die „Mütterlichkeitsideologie wurde während des Nationalsozialismus nicht einzelnen Kinderärzten u. Ä. überlassen, sondern gehörte zum Repertoire staatlicher Propaganda, der es um das ‚Volksganze’ ging.“ (Schütze 1986: 74)
Familienpolitik war also „im Nationalsozialismus zur staatlichen Eugenik und Rassenpolitik pervertiert“ (Langer 1985a: 110). Vinken zufolge wirkte sich die nationalsozialistische Geschlechter- und Rassenpolitik auf vier Ebenen aus: „Erstens trat sie im Namen einer klaren Geschlechtsidentitätspolitik an, in der die dekadente Geschlechterverwirrung an ihr Ende gebracht werden sollte. Damit sollte auch eine natürliche oder gesunde Sexualität begründet werden. Zweitens setzte sie eine rein männliche staatliche Sphäre durch; auch die traditionelle Berufswelt wurde männlich definiert. Der natürliche Beruf der deutschen Frau war der Mutterberuf. Drittens unterminierte sie die bürgerliche Familienideologie. Und sie begründete viertens eine staatliche Biopolitik, die als ‚Deutschreligion’ die arische Mutter religiös überhöhte.“ (Vinken 2001: 266)
Die Politik der Nationalsozialisten in Sachen Frauenerwerbstätigkeit nahm eine Entwicklung vom Ausschluss der Frauen aus dem Berufsleben (1934) über die Förderung von Frauenerwerbstätigkeit über spezielle Kredite (1937) bis zur Arbeitspflicht (1943). Sie orientierte sich dabei an den jeweiligen ökonomischen Notwendigkeiten und störte sich nicht an dem Widerspruch der andauernden Betonung der Geschlechterdifferenz bei gleichzeitiger Verpflichtung der Frauen zur Fabrikarbeit. Die nationalsozialistischen Mütter- und Väterbilder zogen sich ungeachtet der Familienrealitäten, in denen allzu häufig die Väter abwesend und die Mütter erwerbstätig und alleine für die Erziehung und Versorgung ihrer Kinder verantwortlich waren, stringent von 1933 bis 1945 durch (vgl.: Opielka 2002). Hier ist ein Auseinanderklaffen von Diskursen und Leitbildern einerseits und Familienrealitäten andererseits zu konstatieren. Merkel zufolge diente dabei dem faschistischen Staat die Konstruktion einer männlichen und einer
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weiblichen Welt gekoppelt an die ideologische Aufwertung von Mutterschaft dazu, sich der aktiven Mitarbeit der Frauen zu versichern. Hierfür wurde „der familiale Bereich (…) in seiner Bedeutung für den Fortbestand des ‚Volksstaates’ dem männlichen Bereich der Arbeit gleichgestellt.“ (Merkel 1990: 18) „Die traditionellen Wertvorstellungen wurden nicht nur bedeutungsvoll erhöht, sie wurden auch nationalistisch umgewertet. Mütterlichkeit war nicht mehr einfach der behutsame Umgang mit dem eigenen Kind, sondern eine ‚seelische Haltung zum Volksstaat’, sie war ‚heldisch’ oder ‚völkisch’ und nicht mehr die Privatangelegenheit einer Frau. Wer Mutter werden wollte – und darin sollte schließlich die Erfüllung jeder Frau liegen – der musste sich genetisch und seelisch als würdig erweisen.“ (ebd.)
Dabei war die gleichzeitige Heroisierung von Heldenmüttern und die Vernichtung von zu ‚unwertem Leben’ erklärten Müttern und Kindern ein ebenso allgemein gewusster wie verdrängter Zusammenhang (vgl.: ebd.). Die Begrenzung des Frauenideals auf Mutterschaft fand ihre Entsprechung in der weitgehenden Reduktion der Rolle des Vaters auf die biologische Fortpflanzungsfunktion. Gleichzeitig stand der Mann im Zentrum faschistischer Ideologiebildung. Dabei konnte an bereits bestehende Männerbilder angeknüpft werden: „Die von der faschistischen Ideologie getragenen Zuschreibungen an die Männlichkeit – wie: bestimmt, behauptend, stark, eindringlich, mutig, mächtig, ungestüm, hart, zäh usw. – unterschieden sich ja zunächst in keiner Weise von den seit je gängigen Geschlechterstereotypen.“ (Merkel 1990 :49)
Sie erfuhren allerdings Zuspitzung in ihrer extremen Ausrichtung auf Selbstzucht und Selbstbeherrschung mit dem alleinigen Ziel, Männer auf das Leben als Soldat, auf den Krieg hin zu konditionieren. Die Konstruktionen bzw. Idealisierungen nationalsozialistischer Geschlechter- und Familienbilder bezogen sich also auf Mütter und Männer: Männer in ihrer Rolle als Väter und Frauen, die nicht Mütter wurden, wurden weitgehend ausgeblendet bzw. abgewertet. Dabei erklärt sich die Faszination des nationalsozialistischen Mutterbildes auf die weiblichen Massen aus der Anerkennung von Familienarbeit als solche und dem gleichzeitigen Versprechen - sozusagen als Gegenleistung - starke Männer zu produzieren: „Hitler versprach den unverdorbenen, natürlichen deutschen Frauen in unüberhörbarem sexuellem Innuendo Männer, die ihren Mann stehen, ‚stramme und tadellose junge Spatenmänner’.“ (Vinken 2001: 267) Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass im deutschen Nationalsozialismus extreme diskursive Aufwertungen in den Zuschreibungen zu
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Männlichkeit und Mütterlichkeit produziert wurden. Die durch Arbeitsteilung, Pädagogisierung und Psychologisierung bereits historisch angelegte dichotome Konzeption der Geschlechter erfuhr durch den erhöhten propagandistischen Druck nationalsozialistischer Geschlechter- und Familienpolitik eine neue Zuspitzung. In den ersten Jahren nach 1945 war in Ost wie West die Familienrealität vielfach durch die vorherige lange Abwesenheit der Männer in Krieg und Gefangenschaft und die damit verbundene gewachsene Selbstständigkeit der Frauen in allen Lebensbereichen geprägt. Eine Situation, die bei der Rückkehr der Männer vielfach Ursache für Konflikte im Verhältnis zwischen den Geschlechtern war. Auch die Beziehung zwischen den heimgekehrten Vätern und ihren Kindern war oft über viele Jahre von Entfremdung gekennzeichnet. Ein Großteil der Frauen war über mehrere Jahre hinweg allein erziehend gewesen, durch die vier Millionen im Krieg gestorbenen Männer war die Zahl verwitwerter Frauen hoch, so dass die Ein-Elter-Familie in den Nachkriegsjahren einen Normalitätsstatus besaß. 1945 entstanden in vielen großen Städten Frauenausschüsse, die in dem Versuch, die Stunde der Neugestaltung der Verhältnisse zu nutzen, auf die Aufhebung der horizontalen und vertikalen Segregation der Geschlechter hinwirkten. Das Ziel war die Anerkennung der Arbeit von Frauen (Langer 1985b). In den folgenden Abschnitten wird sich zeigen, inwiefern sich die hier beschriebenen Konstruktionen von Geschlecht und Familie in den Leitbildern von DDR und BRD widerspiegeln bzw. verändern.
3.3
DDR 1949 – 1989
In diesem Unterkapitel wird sowohl Primärliteratur in Form von Zitaten aus Politikerreden und Gesetzestexten als auch Sekundärliteratur verwendet, in der die Geschlechter- und Familienpolitik der DDR analysiert wird. Die in der Sekundärliteratur angeführten AutorInnen stammen aus dem Westen (z. B. Opielka, Helwig, Kreckel/Schenk) wie aus dem Osten Deutschlands (z. B. Döllling, Nickel, Drauschke). Im Unterschied zum Westen konnten die nicht den offiziellen staatlichen Leitbildern entsprechenden Diskurse zu Geschlecht und Familie in der DDR erst nach 1989 veröffentlicht werden. Diese Diskurse waren zunächst stark von der westlichen Sicht auf die DDR beeinflusst.
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3.3.1 Der Diskurs zu Geschlechtergerechtigkeit Bereits mit Gründung der DDR im Jahr 1949 wurde die Gleichstellung der Frau in allen Lebensbereichen in die Verfassung aufgenommen. Das Frauenbild der DDR basierte auf marxistischen Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung, wonach die ökonomische Unabhängigkeit der Frau und ihre uneingeschränkte Teilnahme am Produktionsprozess als die wesentlichen Elemente der Gleichberechtigung angesehen wurde (vgl.: Opielka 2002). Die Frauenpolitik der DDR muss als eine bewusste Abgrenzung zur nationalsozialistischen Frauen- und Familienpolitik verstanden werden. In den fünfziger Jahren wurde die Gleichstellung der Frauen in der DDR sowohl von ‚oben’, also vom Staatsapparat, als auch von ‚unten’, z. B. von sozialen Bewegungen wie antifaschistischen Frauenorganisationen, initiiert und propagiert.39 Der Zugang von Frauen zur Vollzeiterwerbstätigkeit als ökonomische Basis der Unabhängigkeit vom Mann stand auch im Zentrum der Familienpolitik der DDR. Hier gab es neben der ideologischen Dimension auch eine starke ökonomische Motivation: Frauen als Arbeitskräfte wurden dringend gebraucht. Der Aufbau des Sozialismus war an erster Stelle Aufgabe der Männer. Hier wurden Frauen eher als ‚Mithelfende’ betrachtet (siehe Dölling 1993). Der Aufstieg in die Schaltstellen gesellschaftlicher Macht gelang ihnen nur in Ausnahmefällen.40 Für Frauenerwerbstätigkeit waren auf institutioneller Ebene Kinderbetreuungseinsrichtungen eine unverzichtbare Vorbedingung. Durch das 1950 verabschiedete „Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau“ wurde die juristische Basis für die wirtschaftliche Selbstständigkeit der Frauen gelegt (vgl.: Gerlach 1996: 109). Der Aufbau eines Bedarfs- deckenden Systems von Krippen-, Kindergarten- und Hortplätzen führte bereits in den 50er Jahren zu einer 45 - prozentigen Vollzeiterwerbstätigkeit bei Frauen im Alter zwischen 16 und 60 Jahren (Kreckel und Schenk 2001). Gleichzeitig löste das politische Programm der Emanzipation in den fünfziger und sechziger Jahren „öffentliche Debatten über eine Vergesellschaftung der Hausarbeit und eine ’gerechte’ Aufteilung der Arbeiten im Haushalt zwischen Mann und Frau“ (Dölling 1991: 198) aus, welche in den siebziger und achtziger Jahren wieder verebbten und in der Realität der Familien 39
In den Anfangsjahren der DDR riefen antifaschistische Frauenorganisationen Frauen dazu auf, beruflich tätig zu werden und ihre Bildungsmöglichkeiten voll zu nutzen. Kinderbetreuung wurde oftmals direkt durch die Frauenausschüsse am Arbeitsplatz organisiert. 40 „Gut drei Viertel aller Arbeitnehmer, die 600 bis 700 Mark im Monat verdienten, waren Frauen, während ihr Anteil an den Gehaltsstufen über 1500 Mark nur knapp 16 Prozent ausmachte. In Führungspositionen waren Männer erheblich überrepräsentiert. Das galt für die Wirtschaft wie für die Politik.“ (Helwig, 1993: 9) Zu den im Verhältnis zu Männern schlechteren Aufstiegschancen von Frauen in der DDR am Beispiel von Ärztinnen siehe (Lützenkirchen 1999).
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nur zu sporadischer Mithilfe der Männer führten. Die zentrale Verantwortung für Kinder und Haushalt verblieb auf Seiten der Mütter: Trotz der staatlichen Proklamation des Leitbildes der berufstätigen Mutter und einer weit verbreiteten gesellschaftlichen Akzeptanz mütterlicher Vollerwerbstätigkeit standen Merkel zu Folge erwerbstätige Mütter und insbesondere Alleinerziehende im Alltagsleben unter dem Verdacht, den Kindern nicht genügend Behütung und Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. Die Kinder Alleinerziehender waren in besonderem Maße sozialer Kontrolle ausgesetzt (Merkel 1990: 151). Wurde ein Verdacht der Verwahrlosung an die Jugendhilfe weitergeleitet, so bestand die Möglichkeit, dass die Kinder aus den Familien herausgenommen und staatlichen Institutionen übergeben wurden. Von derlei Maßnahmen waren Alleinerziehende in besonderem Maße betroffen. Die Erziehungsziele der Ordnung, Sauberkeit und Disziplin setzten sich auch in den Erziehungsleitsätzen der DDR durch. Die Aufgabe der Kontrolle der Erziehung wurde von ‚Vater Staat’ übernommen. Wenngleich die Kleinfamilie nicht abgeschafft werden sollte, so spricht aus dem Verhalten des SED – Staates doch ein Misstrauen gegenüber dieser schwer zu kontrollierenden Sozialisationsinstitution (Gerlach 1996: 112). Aus dem Leitbild der Emanzipation der Frau folgten weder die Infragestellung der binären Zuordnung von Männlichkeit und Weiblichkeit, noch von Mütterlichkeit und Väterlichkeit. Vielmehr wurde ein Teil des väterlichen Aspektes vom Staat übernommen und der Mütterlichkeit die Erwerbstätigkeit hinzugefügt. Die Proklamation von Frauenerwerbstätigkeit als Bestandteil der sozialistischen Lebensweise brachte neben finanzieller Unabhängigkeit auch neue Qualifizierungschancen für Frauen mit sich: Bereits in den fünfziger Jahren sind in der DDR erste Tendenzen zu einer „gewissen Umordnung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung“ und der Veränderung des „Charakters der Frauenarbeit“ (Merkel 1990: 28) weg von ungelernter und hin zu qualifizierter Berufsarbeit zu verzeichnen. Die doppelte Vergesellschaftung41 der Frauen führte jedoch weder auf der Ebene der Familienrealitäten, noch im politischen Diskurs zu Geschlechtergleichheit. Ursachen hierfür sind der weiterhin geschlechter- segregierte Arbeitsmarkt und der Mangel an doppelter Vergesellschaftung der Männer. Beiden Aspekten lagen Familienleitbilder zu Grunde, welche die erste Aufgabe der Frauen weiterhin in der Mutterschaft sahen. Ein Gefühl für den Ton der frühen DDR-Politik lässt sich durch die folgende Passage einer Rede Otto Grotewohls, 41 Mit doppelter Vergesellschaftung ist die gleichzeitige Verortung in Familien- und Erwerbsarbeit gemeint (Becker-Schmidt 1987b) (siehe auch Kapitel 2).
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dem damaligen Ministerpräsident der DDR, zum „Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau“ vor der Provisorischen Volkskammer der DDR am 27. September 1950 vermitteln: „So muss der Staat alles tun, damit die Frau ihre Aufgabe als Bürgerin und Schaffende mit ihren Pflichten als Frau und Mutter vereinbaren kann. Er hat aber auch die Verpflichtung, alles zu tun, um jene Grundlagen zu sichern, die notwendig sind, dass die Kinder zu geistig und körperlich tüchtigen Menschen heranwachsen können. Es ist daher von grundsätzlicher Bedeutung, was der Staat an besonderer Hilfe für Mütter und Kinder leistet, wobei der Förderung des Kinderreichtums besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden muss (…).“ (in: Müller 1975: 179)
In diesem Zitat sind einige zentrale Aspekte der Geschlechterpolitik in der DDR enthalten: Mutterschaft, und zwar am Besten vielfache, erscheint als eine natürliche Pflicht, die nun durch Erwerbstätigkeit ergänzt werden soll. Der Staat ergreift Maßnahmen, nicht nur um die so konzipierte maximale Ausbeutung der weiblichen Arbeitskraft sicherzustellen, sondern auch um das Heranwachsen von arbeitsamem Nachwuchs zu ermöglichen42. Die Pflicht der Väter zur Pflege und Förderung ihrer Kinder bleibt vollständig ausgeblendet – in diese Lücke springt ’Vater Staat’ ein. In einer weiteren Rede sieben Jahre später erwähnt Otto Grotewohl zwar, dass sich Männer der Gleichberechtigung der Frauen nicht in den Weg stellen sollen, aber von der Ausformulierung einer bedeutsamen ’individuellen’ Vaterrolle ist man nach wie vor weit entfernt: „Unsere Mütter tragen die Sorge um die Kinder nicht mehr allein. Sie teilen sie gemeinsam mit der Regierung und mit der gesamten Gesellschaft“ (in: Müller 1975 :219)43 – aber nicht mit den Vätern – so lässt sich hinzufügen. Die gesellschaftliche Abwertung intellektueller Berufe in der DDR (ihre Anerkennung reduzierte sich oftmals darauf, dass sie im Dienst der Arbeiterklasse standen) ging im Laufe der fünfziger und sechziger Jahre mit der Feminisierung ganzer Berufsgruppen (Lehrer, Kinder-. Allgemein- und Zahnärzte, Architekten, Grafiker, Designer) einher. Die starke Abwanderung aus der DDR und der damit einhergehende Mangel an Arbeitskräften führte Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre zu einem erhöhten Druck auf die verbliebene Bevölkerung: Nach dem Mauerbau 1961 und der Proklamation der wissenschaftlich-technischen Revolution wandelte sich die Förderung von Frauenerwerbstätigkeit in die Verpflichtung 42
Wie wenig durchgängig die Reflexion des deutschen Faschismus auch in der DDR – Politik war, zeigt die Formulierung der „geistig und körperlich tüchtigen“ Kinder, in der die Abwertung und Ausgrenzung der diesem Maßstab nicht entsprechenden Menschen enthalten ist. 43 Otto Grotewohl auf dem VI. Bundeskongress des Demokratischen Frauenbundes in Weimar, 10. Dezember 1957.
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beider Geschlechter zur Erwerbstätigkeit. Während die politischen Organe der DDR die Frage, ob Mütter zum Zwecke der Kindererziehung befristet oder dauerhaft zu Hause bleiben können, in den 50er Jahren noch recht vorsichtig behandelt hatten und die Konzentration auf Familienarbeit sogar als ein „moralisches Recht“ (siehe Helwig 1993:12) bezeichneten, so wurde nun ein Verzicht auf Erwerbsarbeit aus familialen Gründen als „Bewusstseinsrückstand“ (ebd.) diffamiert. Gleichzeitig wurde das Programm zur Emanzipation der Frau systematisch den in der Nachkriegszeit entstandenen sozialen Bewegungen aus der Hand genommen: In den ersten 15 Jahren DDR-Geschichte büßten sowohl die Betriebsfrauenausschüsse, als auch der DFD (Demokratische Frauenbund Deutschlands) ihre gesellschaftspolitischen Handlungsmöglichkeiten weitgehend ein, da sie der direkten Kontrolle der SED unterstellt wurden. Diese Einverleibung war Ausdruck und Resultat des in seinen Grundzügen bereits in der Gründung der DDR verankerten „zentralistisch-administrativen Konzepts der SED für den Aufbau des Sozialismus“ (Clemens 1990: 22). Mit dieser Entwicklung wurden wesentliche Machtaspekte, u. a. die Definitionsmacht über Frauenund Männerbilder sowie Familie, von den im Zentralkomitee der SED quantitativ stark dominierenden Männern übernommen. In den 60er Jahren wurde eine frauenpolitische Verschiebung hin zur Förderung von Weiterbildung und Qualifikation vorgenommen. Der Gleichberechtigungs- Propaganda zufolge wird Frauen der Zugang auch zu traditionell von Männern besetzten Bereichen ermöglicht. Dieses Leitbild wird jedoch in der gesellschaftlichen Realität keinesfalls durchgängig umgesetzt. Nicht alle beruflichen Wege stehen Frauen in gleichem Maße offen, sie sind weiterhin stärker im Reproduktions- und Dienstleistungsbereich anzutreffen (Nickel 1990: 11, vgl. auch Dölling 1991) Die in der DDR stark ausgeprägte geschlechtstypische Berufswahl, die sowohl FacharbeiterInnen – Ausbildungen, als auch akademische Berufe betraf, war keineswegs Ausdruck individueller Vorlieben und Entscheidungen, sondern das Resultat struktureller, planwirtschaftlicher Vorgaben bei der Vergabe von Lehrstellen, Studien- und Arbeitsplätzen (Nickel 1990), so wie insgesamt die Lebensläufe in der DDR in starkem Maße als Institutionen- gesteuert betrachtet werden müssen.44 Parallel zu der ständig zunehmenden Frauenerwerbstätigkeit blieb die gesellschaftliche Forderung an Frauen, Mütter zu werden, bestehen, allerdings bei gleichzeitiger Ignoranz der hierdurch entstehenden Anforderungen an die individuellen Ressourcen der Frauen. 44 Dies betrifft sowohl die Steuerung und Eingrenzung von Familienzeiten, als auch die staatliche Beeinflussung von Ausbildungs- und Berufswahl.
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Bereits Mitte der 60er Jahre jedoch ließ sich die bis dahin vollständige Ausblendung von Familienarbeit als einem gesellschaftlich relevanten Faktor nicht mehr aufrechterhalten. Zunehmende Zahlen von Ehescheidungen und ein starker Geburtenrückgang führten zu familienpolitischen Wendungen: 1965 wurde ein neues Familiengesetzbuch vorgestellt, in dessen Präambel die Familie über Ehe definiert und beide als staatstragende Institution etabliert wurden45. Dies liest sich folgendermaßen: „Die Familie ist die kleinste Zelle der Gesellschaft. Sie beruht auf der für das Leben geschlossenen Ehe und auf den besonders engen Bindungen, die sich aus den Gefühlsbeziehungen zwischen Mann und Frau und den Beziehungen gegenseitiger Liebe, Achtung und gegenseitigen Vertrauens zwischen allen Familienmitgliedern ergeben.“ (DDR 1965 [1975]: 5)
Aus dem hinter dieser Familiendefinition stehenden Leitbild waren Alleinerziehende und Homosexuelle ausgegrenzt, die heterosexuelle Ehe wurde idealisiert. Während sich die Ausgrenzung Homosexueller durch alle gesellschaftlichen Ebenen und durch die gesamte Geschichte der DDR zog (vgl.: Starke 1994), zeigt sich in der Haltung des SED-Staates zu der relativ hohen Zahl Alleinerziehender (siehe Kap.4) eine Ambivalenz: Alleinerziehende fanden zwar in dem bereits erwähnten 1965 eingeführten Familiengesetzbuch der DDR keinerlei Erwähnung, es wurden jedoch in den folgenden Jahren sozialpolitische Erleichterungen für Alleinerziehende eingeführt.46 1967, auf dem VII. Parteitag der SED, wurde die Zuständigkeit beider Ehepartner für Haus- und Erziehungsarbeit betont. Auf dem VIII. SED – Parteitag 1972 reagierte die Familienpolitik der DDR auf die stetig sinkenden Geburtenzahlen mit der Ausformulierung bevölkerungspolitischer Ziele (vgl.: Opielka 2002). In den nun eingeführten sozialpolitischen Maßnahmen kommt zwar der Mutterrolle eine gewisse Anerkennung zu, die familiale Arbeitsteilung jedoch wird erneut festgeschrieben. So konnte die von acht auf zwölf Wochen verlängerte Freistellung von der Erwerbsarbeit nach der Geburt eines Kindes, die
45 „Das Familiengesetzbuch lenkt die Aufmerksamkeit der Bürger, der sozialistischen Kollektive und der gesellschaftlichen Organisationen auf die große persönliche und gesellschaftliche Bedeutung von Ehe und Familie und auf die Aufgaben jedes Einzelnen und der gesamten Gesellschaft, zum Schutz und zur Entwicklung jeder Familie beizutragen.“ (DDR 1965 [1975]: 7) 46 Z. B.: „Alleinstehende Werktätige erhalten bei Freistellung von der Arbeit zur Pflege erkrankter Kinder ab dem dritten Tag bis längstens 13 Wochen im Kalenderjahr als Unterstützung das gesetzliche Krankengeld.“ (Müller 1975 :290) Aus dem gemeinsamen Beschluss des Zentralkomitees der SED, des Bundesvorstandes des FDGB und des Ministerrates der DDR über sozialpolitische Maßnahmen in Durchführung der auf dem VIII. Parteitag beschlossenen Hauptaufgabe des Fünfjahresplanes, Berlin, 27. April 1972.
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später zum Babyjahr47 ausgedehnt wurde, nur von Frauen in Anspruch genommen werden. Die Nichtzuständigkeit von Männern für die Säuglingspflege wurde somit institutionell gefestigt. Alleinerziehende wurden gegenüber verheirateten Paaren durch die Einführung eines zinslosen Ehekredits und die Bevorzugung von frisch Verheirateten bei der Wohnraumvergabe benachteiligt (Drauschke und Stolzenburg 1995: 100/101). Erst Ende der 70er Jahre bekamen allein erziehende Väter (nicht: alle Väter!) die gleichen Rechte wie Mütter. Im 1978 veröffentlichten Arbeitsgesetzbuch heißt es unter § 251: „Vergünstigungen für allein stehende Väter: Die für vollbeschäftigte werktätige Mütter geltenden Bestimmungen über die Dauer der Arbeitszeit und des Erholungsurlaubs finden auch für vollbeschäftigte allein stehende Väter Anwendung, wenn es die Betreuung des Kindes bzw. der Kinder erfordert.“ (DDR 1978: 62)
Durch den Umstand, dass die Neuerung im Gesetzestext sich ausdrücklich nur auf allein erziehende Väter und nicht auf alle Väter erstreckt, kommt das staatliche Interesse an traditioneller Rollenaufteilung in Zwei-Eltern-Familien besonders deutlich zum Ausdruck. Das Identifikations– Angebot an Frauen für die Mühen der doppelten Vergesellschaftung, bestand in der DDR in der Konstruktion der ‚sozialistischen Mütter’ als Teil des ’sozialistischen Kollektivs’. Die Frauen, die diesem Leitbild folgten, wurden großzügig mit Lobpreisungen durch das Zentralkomitee der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) und ihrer Organe eingedeckt (vgl.: Müller 1975). In der DDR waren gegen Ende der 80er Jahre rund 91 Prozent der Frauen berufstätig, ein Viertel von Ihnen arbeitete in Teilzeit48 (Nickel 1990). Der Wunsch nach flexibleren Arbeitszeitregelungen und Teilzeit - Möglichkeiten wurde jedoch von erheblich mehr Frauen geäußert, ein Bedürfnis, dem von Seiten des Staates nicht entsprochen wurde. Für die Ausgestaltung des Ideals der vollerwerbstätigen Frau und Mutter wurden männliche Zeitverhältnisse als Maßstab herangezogen (Nickel 1990). Trotz der weit verbreiteten Vollerwerbstätigkeit von Frauen, dem ’doppelten’ Arbeitsbeitrag der meisten Mütter und ungeachtet der Lobeshymnen auf DFD49 - Veranstaltungen wurde Frauen häufig weiterhin der Status von Hilfsarbeiterinnen zugeschrieben. So hieß es auf
47 Das so genannte Babyjahr bestand in zwölf Monaten Freistellung von Erwerbstätigkeit ohne Einkommensverlust (Dornseiff und Sackmann 2003 :323). 48 Wobei angemerkt werden muss, dass eine Teilzeitstelle in der DDR in der Regel ca. 30 Wochenarbeitsstunden bedeutete, während der Begriff Teilzeitarbeit in Westdeutschland häufig eine erheblich geringere Stundenzahl beschrieb und beschreibt. 49 Demokratischer Frauenbund Deutschlands.
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einem Plakat zum XI. SED – Parteitag noch 1986: Frauen „schaffen den Wohlstand mit“ (zitiert nach: Dölling 1991: 174).50 Im Vergleich zur BRD war die Situation allein erziehender Frauen in der DDR jedoch gegen Ende der 80er Jahre Drauschke zufolge durch „soziale Sicherheit, Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Familie, Einkommenssicherheit, ein Netz öffentlicher Kinderbetreuung“ sowie „eine weitgehende öffentliche Akzeptanz dieser Familienform (…)“ (Drauschke 2002: 123)
geprägt. Dies führte u. a. dazu, dass in der DDR weniger Alleinerziehende als arm einzustufen waren als in der BRD. „Bei Festlegung der Armutsschwelle auf 40% des Pro-Kopfnettoeinkommens aller Haushalte waren 5,7% aller Alleinerziehenden in der DDR, aber 39,4% der Alleinerziehenden in der BRD arm.“ (Niepel 1994a: 63)
Auch die rechtliche Situation war für Alleinerziehende in der DDR verhältnismäßig vorteilhaft: Im Vergleich zur BRD waren eheliche und uneheliche Kinder erheblich früher, nämlich bereits 1949 verfassungsrechtlich gleich gestellt. Wie Drauschke betont, gingen die für Alleinerziehende relativ günstigen sozialstrukturellen und rechtlichen Bedingungen in der DDR jedoch nicht mit einer kulturellen Gleichwertigkeit dieser Familienform gegenüber Zwei-ElternFamilien einher: „In der DDR verstanden sich unverheiratete Frauen mit Kindern als allein stehend oder auch als unvollständige Familie. Dahinter hat sich bewusst oder unbewusst eine traditionelle Sicht auf diese Familienform versteckt. Frauen fehlte sozusagen der Mann an der Seite. Als vollständig galt eine Familie dann, wenn zwei Elternteile vorhanden waren. Dass sich Frauen über Männer definierten, wurde trotz Fortschritten in der Gleichbehandlung von Frauen in der DDR nie überwunden. Demzufolge war die Qualität der ‚Ein-Eltern-Familie’ und auch deren Ressourcen ausgeblendet, vielmehr galt diese Familienform als defizitär.“ (Drauschke 2002: 125)
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Leitbild der berufstätigen Frau und Mutter sich auf dem Weg massiver staatlicher Propagierung und deren Materialisierung auf der organisatorisch-institutionellen Ebene durchsetzte 50 Die Aussage dieses Plakates ist als typisch für den staatlichen Diskurs zur Rolle der Frau anzusehen. Auch in einer von der SED herausgegebenen Broschüre aus dem Jahre 1986 wird getitelt: „Die Frauen – aktive Mitgestalter der sozialistischen Gesellschaft.“ (DDR 1986: 116)
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(Schaeper und Falk 2001 :187). Es kann davon ausgegangen werden, dass sich „aufgrund des gestiegenen Qualifikationsniveaus bei Frauen fast aller Altersgruppen ein allgemeines Bedürfnis nach Berufstätigkeit entwickelt hatte“ (Hempel 1995: 52). Selbstverwirklichung im weiblichen Lebensverlauf wurde subjektiv in hohem Maße mit Berufstätigkeit verknüpft. Nichts desto trotz blieben Frauen bis in die achtziger Jahre in der DDR in der Regel vom Aufstieg in die einflussreichsten Felder beruflicher Hierarchien ausgeschlossen. In den achtziger Jahren ist eine vorsichtige Annäherung der Männer an Familienarbeit zu verzeichnen. Ab 1986 konnten auch Männer das Babyjahr in Anspruch nehmen. Das Zentrum männlichen Lebens bleibt jedoch die Vollerwerbstätigkeit. Durch die Normalisierung weiblicher Erwerbstätigkeit verlieren die Männer allerdings die Rolle des Haupternährers. Die lang andauernde diskursive und institutionelle Etablierung der traditionellen familialen Arbeitsteilung durch staatliche Maßnahmen erweist sich letztendlich für den DDR Staat als nicht tragfähig: Die Zahl der Scheidungen steigt an. Zwei Drittel der Scheidungen in der DDR werden in den 80er Jahren von Frauen eingereicht - häufig genannte Gründe sind die Hausarbeitslosigkeit des Mannes (vgl.: Nickel 1990), sowie dessen ungenügendes Engagement in der Kindererziehung. Auch die sinkenden Geburtenraten können als Zeichen der Unzufriedenheit der Frauen mit den gesellschaftlich üblichen Aufteilungen von Familienarbeit verstanden werden. Trotz des im Vergleich zur BRD erheblich besser ausgebauten Systems der öffentlichen Kinderbetreuung und der hohen Frauenerwerbstätigkeit in der DDR muss also festgestellt werden, dass auch in der DDR eine strukturelle Geschlechtergerechtigkeit nicht erreicht wurde. Sowohl vertikale, als auch horizontale Segregationsmechanismen prägen das Alltagsleben und die Verteilung gesellschaftlicher Macht bis zum Ende der DDR (Dölling 1991: 163 ff.). DDR-Frauen nahmen also als ‚biografisches Gepäck’ „eine ‚Gemengelage’ zwischen Selbstständigkeit, ökonomischer Unabhängigkeit und Selbstbewusstsein (…) einerseits, ihres fraglosen Akzeptierens der Verantwortung für die familiären Belange andererseits“ (Dölling 2005: 27)
in die Zeit nach dem Zusammenbruch der DDR mit. Das Männerleben konzentrierte sich weitgehend auf Erwerbstätigkeit, diese wurde als ‚Aufbau und Erhalt des Sozialismus’ idealisiert. Das oben dargestellte Familienleitbild der DDR ist vom Verständnis differierender Fähigkeiten von Frauen und Männern geprägt, welches sich einerseits in strukturellen Ungleichheiten der Geschlechter ausdrückt und gleichzeitig von diesen immer neu produziert wird. Interessant ist allerdings, dass trotz fortbestehender Ungleichheiten viele Männer und Frauen
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aus der DDR der Überzeugung sind, die Gleichberechtigung der Geschlechter sei in der DDR erreicht gewesen.
3.3.2 Mütterlichkeit und Väterlichkeit Wie Mütterlichkeit in der DDR ‚offiziell’ besetzt war, untersuchte Dölling anhand der Analyse von Frauenzeitschriften: Noch Ende der achtziger Jahre war das Stereotyp der Mütterlichkeit im Sinne von Naturnähe und besonderen Fähigkeiten beim Pflegen hilfsbedürftiger Wesen das Leitmotiv vielfältiger Abbildungen von in der DDR herausgegebenen Zeitschriften (Dölling 1991: 200).51 In beständiger Wiederholung von Mütterlichkeits- Stereotypen wurde den Leserinnen einprägsam vermittelt, sie seien für andere Tätigkeiten als Männer ‚bestimmt’ (ebd.: 201). Zugleich ist bemerkenswert, dass ein Großteil der abgebildeten Frauen die dem Weiblichen zugeschriebene Fürsorglichkeit nicht den eigenen Kindern zukommen ließ, sondern sich im Rahmen ihres Berufes als Erzieherin, Krankenschwester etc. um die Kinder Anderer kümmert. In dem gleichzeitigen Verharren in Geschlechterstereotypen und ihrer Verlagerung aus dem privaten in den öffentlichen Bereich lassen sich sowohl Effekte des ’Doing Gender’ (siehe Kap.2.4) im Sinne einer Reproduktion traditioneller Zuschreibungen zu Geschlechterkategorien als auch Detraditionalisierungseffekte erkennen. Bemerkenswert ist, dass fürsorgliche Tätigkeiten auf den Abbildungen fast ausnahmslos idealisiert wurden, womit die Banalisierung der mit Kindererziehung und Pflegetätigkeit verbundenen Arbeitsbelastungen und Verantwortlichkeiten einherging. Alltägliche Probleme von Frauen spiegelten sich nicht in den Bildern der wichtigsten Frauenzeitschriften der DDR in den siebziger und achtziger Jahren. Die Betonung der ‚mütterlichen, natürlichen Fähigkeiten’ von Frauen trug stets das Potential der Ausgrenzung aus den männlich besetzten, der Kultur zugeschriebenen Bereichen wie der Ausbildung von Sachkompetenz, Leistungsfähigkeit und beruflichen Höchstleistungen in sich (Dölling 1991 :203). In den von Dölling untersuchten Frauenzeitschriften wurde Weiblichkeit mit Häuslichkeit verbunden. Die Aufgabe, ein gemütliches Zuhause für die Familie herzurichten, war untrennbar mit Vorstellungen von Mütterlichkeit verknüpft. Diese Aufgabe wurde in Bild und Text jedoch grundsätzlich mit dem Leitbild der berufstätigen Mutter verbunden. Die bürgerliche Hausfrau war ein Antibild im Selbstverständnis der DDR – Gesellschaft. Die Mühseligkeit von Hausarbeit und 51
Irene Dölling untersuchte in einer Forscherinnengruppe Fotos aus den Zeitschriften „Für Dich“ und „Neue Berliner Illustrierte“ (vor 1963 „Frau von Heute“). Der Arbeitsschwerpunkt lag auf Fotos aus den siebziger und achtziger Jahren.
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der mit ihr verbundene große zeitliche Aufwand wurden dethematisiert. Mit Reproduktionsarbeit war keine gesellschaftliche Anerkennung verbunden; Mütterlichkeit dagegen wurde besonders betont und hervorgehoben (ebd.: 216). Durch Inanspruchnahme des Babyjahres aus dem Zeit- und Leistungsdruck der Arbeitswelt auszusteigen, bedeutete, für ein Lebensjahr subjektiv andere Schwerpunkte als den der Erwerbsarbeit zu setzen. Mutterschaft stellte im Alltagsleben der DDR sowohl einen Gegenpol zur Berufswelt dar, ging aber auch in diese ein. Mütterlichkeit wird in Fürsorgeberufen funktionalisiert. In anderen Berufsfeldern wurde das Konstrukt Mütterlichkeit dazu benutzt, die Kompetenz von Frauen ‚weich zu zeichnen’ bzw. abzuschwächen. Da diese Abschwächung in der nur auf den ersten Blick positiven Idealisierung ‚besonderer weiblicher Fähigkeiten’ lag, war die Abwertung von Sachkompetenz in Bezeichnungen wie der Frau als ‚Seele des Kollektivs’ (ebd.: 205) nicht leicht zu durchschauen. Und wie stellte sich Väterlichkeit in der DDR dar? Bilder von Kinderwagen schiebenden Männern waren (auch) in der DDR eher die Ausnahme: Väterlichkeit wurde in der Vater-Sohn-Beziehung zu älteren Kindern gezeigt, die nicht mehr der Pflege bedurften. Sie bestand vor allem in der Beschäftigung mit ‚typisch männlichen’ Tätigkeiten, also technischen Spielen und Basteleien. Die besondere gesellschaftliche Rolle des Mannes setzte sich v. a. in der Beziehung zu Söhnen fort (Dölling 1991: 218; Merkel 1990: 166 ff.). Während Mütter also für Haushalt, Versorgung und Erziehung zuständig waren und ihnen wenig Zeit für Außergewöhnliches blieb, erlebten die Kinder ihre Väter in Spiel- und Ausnahmesituationen (Merkel 1990: 167). Mit der ansteigenden Zahl berufstätiger Frauen in der DDR verblasste das Bild vom Vater als dem Ernährer der Familie. Während Darstellungen von Vätern in den 60er Jahren noch deren Unsicherheit im Umgang mit den Kindern hervorhuben, reklamierte in den 80er Jahren eine zahlenmäßig langsam ansteigende Minderheit von Männern für sich das Recht auf zärtliche Gefühle auch zu ihren Kleinstkindern und begann, sich an deren Pflege und Versorgung zu beteiligen (Dölling 1991: 218 ff.). Die Bilder in Frauenzeitschriften dieser Jahre zeigen zunehmend Väter, die das Zusammensein mit ihren Kindern (und zwar sowohl größeren Kindern als auch Säuglingen) genossen und dabei vormals Mütterlichkeit zugeschriebene Eigenschaften wie Fürsorglichkeit und Zärtlichkeit ausbildeten. Die Erziehungsverantwortung scheint jedoch weiterhin bei den Frauen geblieben zu sein: Männer übernahmen nach wie vor eher spielerische Anteile in der Beschäftigung mit ihren Kindern. Die Toleranz unter Männern bezüglich der Veränderung des Vaterbildes stieß in dem Moment an ihre Grenzen, wo der Beruf im Leben der Männer seine
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eindeutige Vormachtstellung verlor, wo also Abstriche aufgrund familiärer Verpflichtungen gemacht werden mussten (Dölling 1991: 223).
3.3.3 Diskurse zum Kindeswohl Die flächendeckende weibliche Vollzeiterwerbstätigkeit führte zusammen mit der nicht in Frage gestellten männlichen Vollzeiterwerbstätigkeit dazu, dass in der Anfangszeit der DDR die Erziehungsfunktionen der Familie kaum beachtet wurden (vgl.: Gerlach 1996: 109). Ab den 60er Jahren wurden Familien jedoch zunehmend als wesentliche gesellschaftliche Sozialisationsinstanz vom Staat fokussiert (ebd.: 112). Die Diskurse zum Kindeswohl in der DDR beschäftigten sich in erster Linie mit der Definition und möglichst störungsfreien Produktion der ‚sozialistischen Persönlichkeit’. In dem Kapitel zu „elterlicher Erziehung“ im DDR Familiengesetzbuch war zu lesen: „Das Ziel der Erziehung der Kinder ist, sie zu geistig und moralisch hochstehenden körperlich gesunden Persönlichkeiten heranzubilden, die die gesellschaftliche Entwicklung bewußt mitgestalten. Durch verantwortungsbewußte Erfüllung ihrer Erziehungspflichten, durch eigenes Vorbild und durch übereinstimmende Haltung gegenüber den Kindern erziehen die Eltern ihre Kinder zur sozialistischen Einstellung zum Lernen und zur Arbeit, zur Achtung vor den arbeitenden Menschen, zur Einhaltung der Regeln des sozialistischen Zusammenlebens, zur Solidarität, zum sozialistischen Patriotismus und Internationalismus.“ (DDR 1965 [1975])
Die Heranziehung des ‚sozialistischen Menschen’ ging mit der Zuschreibung der Orientierung zu Ehe und Familie einher: „Die Erziehung der Kinder umfaßt auch die Vorbereitung zu einem späteren verantwortungsbewußten Verhalten zur Ehe und Familie.“ (DDR 1965 [1975] § 42 Abs.2 u.3).
Wesentlicher Teil der Erziehung zum sozialistischen Menschen war die intensive institutionelle Begleitung des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen, die sowohl unterstützende, als auch kontrollierende Merkmale aufwies. Wie weit dabei die Kontrolle des DDR-Staates im Umgang mit Kindern und Jugendlichen gehen konnte, zeigten die Reaktionen panischer Härte auf jugendliche Subkulturen und Protestaktionen (Wierling 1994). Denunziations- und Bespitzelungssysteme untergruben bis in die Familien hinein systematisch den Wert, der doch zum höchsten Erziehungsziel erklärt worden war, die gegenseitige Solidarität. Eltern mussten sich für ‚auffälliges Verhalten’ ihrer Kinder nicht nur
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rechtfertigen, sondern ein solches Verhalten konnte Konsequenzen bis hin zum Verlust des Arbeitsplatzes nach sich ziehen. Infolgedessen konnten sich Kinder und Jugendliche in Auseinandersetzung mit VerteterInnen des Staates (z. B. LehrerInnen) nur in Ausnahmefällen auf die Unterstützung durch ihre Eltern verlassen. Eltern, die sich in solchen Konflikten hinter ihre Kinder stellten, waren ihrerseits infantilisierendem, autoritärem staatlichem Vorgehen ausgesetzt (ebd.: 421). Es ist davon auszugehen, dass auf Kinder und Erwachsene in Ein-ElterFamilien ein besonders starker Konformitätsdruck in Erziehungsfragen lastete. Das System der Kontrolle der gesamten Familie war ein zentraler Bestandteil aller pädagogischen Einrichtungen der DDR. Dabei war eine mechanistische Sicht auf die Entwicklung des Menschen vorherrschend: Wierling zu Folge spiegelte der oftmals zur Schau getragene „pädagogische Optimismus“ von DDR- Erziehern eher die Überzeugung der Plan- und Kontrollierbarkeit allen pädagogischen Handelns als eine an der Realität der Kinder und Jugendlichen orientierte Einschätzung wider (ebd.: 417). 1970 erschien unter dem Titel ‚Disziplin bei Jungen und Mädchen’ (Otto 1970 diskutiert in: Hempel 1995) ein Buch, das auf die Pädagogik der DDR starken Einfluss hatte. Otto entsprach mit seinen Forschungsergebnissen der damals in der DDR inflationär angewandten pädagogischen Theorie Makarenkos (vgl.: Makarenko 1983 [1970]). Ordnung und Disziplin zeigen sich hier wiederum als elementar für den pädagogischen Diskurs. Mit der thematischen Hinwendung auf den Geschlechtsunterschied als in der Pädagogik relevantem Aspekt stellte die Publikation Ottos – wie er selbst bemerkte – eine Ausnahme im Diskurs der DDR dar (Otto 1970: 32).52 Otto ging einerseits davon aus, dass „die biologischen Geschlechtsunterschiede nicht für die Entwicklung psychischer Geschlechtsbesonderheiten entscheidend und wesentlich sein können.“ (ebd.: 178) Vielmehr sei die gesellschaftliche Prägung von elementarer Bedeutung, u. a. für das in seiner Untersuchung festgestellte unterschiedliche Disziplinverhalten von Jungen und Mädchen, welches wiederum der vollen Gleichberechtigung der Geschlechter im Wege stehe. Andererseits bemerkte er jedoch, es sei nicht anzunehmen, „dass die psychischen Geschlechtsunterschiede restlos auf gesellschaftliche Einflüsse zu reduzieren wären“ (ebd.: 179) und distanzierte sich von „jeglicher Gleichmacherei in der Frage der psychischen Geschlechtseigenarten“ (ebd.: 182): 52
Eine Sichtung der Literatur über den pädagogischen Diskurs in der DDR zeigt, dass das Thema der geschlechtsspezifischen Erziehung in seiner Bedeutung im Vergleich zu anderen Themen wie z. B. der Ideologiekonformität zurückstand. So findet die geschlechtsspezifische Erziehung in einschlägigen Werken zur Pädagogik in der DDR keinerlei Erwähnung (vgl. z. B.: Häder und Tenorth 1997; Schneider 1995; Steinhöfel 1993).
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„Als ‚echt’ und ‚wahr’ bezeichnen wir jene psychischen Geschlechtsbesonderheiten, die in keiner Weise auf irgendwelche unterschiedlichen sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen der Geschlechter zurückzuführen sind. Wir müssen uns vorläufig mit dieser negativen und lediglich abgrenzenden Bestimmung der echten psychischen Geschlechtsdifferenzen begnügen, da noch nicht genau bekannt ist, worin sie wirklich bestehen“ (ebd.)
Diese Haltung, bei der an einer Natürlichkeit des Geschlechtsunterschiedes festgehalten wurde, kann als typisch für den pädagogischen Diskurs der DDR angesehen werden. Die Akzeptanz öffentlicher Kinderbetreuung wurde durch den weitgehend einheitlichen pädagogischen Diskurs der DDR, der diese als förderlich für das Kindeswohl und die Prägung der sozialistischen Persönlichkeit ansah, gestützt. Eine Ausnahme bildete der Dresdener Sozialhygieniker Rudolf Neubert, als er 1962 dafür plädierte, „daß sich Frauen nach der Geburt eines Kindes etwa drei Jahre lang nur der Erziehung widmen sollten“ (Neubert, Rudolf: Frau, Mutter und außerhäusliche Arbeit, in: Die Wirtschaft, 30/1962, S.9, zitiert nach: Helwig 1993:11). Diese Meinungsäußerung führte zu einer direkten Reaktion der SED, von der ein Gegenartikel in Auftrag gegeben wurde, der den Vorschlag von Neubert als „spießbürgerlich“ verwarf: “Eine Frau, deren Tätigkeit sich auf den engen Kreis der Familie beschränkt, wird auch als Mutter stets in Gefahr sein, schon durch ihr Beispiel bei den Kindern ähnliche Idealbilder zu wecken, von den Gefahren der ‚Affenliebe’ und der zu starken Konzentration auf die Interessen der Kinder, weil man von eigenen nicht ausgefüllt ist, ganz zu schweigen. Jeder kennt die engstirnigen ‚Klein-aber-meinSpießbürger’, die das Ergebnis sind und zugleich eine Bremse jeder sozialistischen Entwicklung. Eine gute Mutter aber ist heute eine arbeitende Mutter, die gleichberechtigt und gleich qualifiziert neben dem Vater steht.“ (Eva Schmidt Kolmer / Heinz H. Schmidt: Frauenarbeit und Familie. In: Einheit, 12/1962, S.99. Zitiert nach: Helwig 1993:11)
Über die Frage der Qualität der Kinderbetreuung in den Kinderkrippen und Kindertagesstätten der DDR gingen und gehen die Meinungen (auch in der nachträglichen Reflexion) weit auseinander. Helwig bezeichnet Kinderkrippen als „Kompromiss zwischen den Interessen des Kindes und denen der Mutter“ (Helwig 1993: 11). Auf der einen Seite wurden die ganztägigen Kinderbetreuungseinrichtungen der DDR als Bildungseinrichtungen und kindgerechte Lebensbereiche geschätzt, auf der anderen Seite aber auch als Erziehungseinrichtungen mit ideologischen und politischen Zielsetzungen kritisiert (Höckner 1995).
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In den achtziger Jahren wurde die Emanzipation der Frau als erreicht gefeiert, Geschlechterungleichheiten wurden systematisch dethematisiert. Ein Prozess, der für jüngere Generationen nicht leicht zu entschlüsseln war und zur Reproduktion von Geschlechterstereotypen in der Alltagswirklichkeit der Subjekte beitrug (Hempel 1995: 56). Hempel zu Folge wurde dieser ‚Gleichberechtigungsmythos’ im Curriculum der DDR-Schulen gestützt. Diese Haltung ließ keinen Raum für Reflektionen über den Niederschlag der in die Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit eingeschriebenen Hierarchien in die alltägliche Interaktion, sowohl zwischen Kindern und Jugendlichen, als auch in Interaktionen zwischen Pädagogen und Kindern / Jugendlichen. Insofern verhinderte die Idealisierung des gesellschaftlichen Zustands die Analyse fortbestehender geschlechtstypischer Verhaltensmuster in pädagogischen Institutionen. Während der Geschlechteraspekt in der psychologischen Forschung der DDR durchaus erwähnt wurde, fanden geschlechtsspezifische Besonderheiten in der pädagogischen Literatur – mit Ausnahme der Sexual- und Familienpädagogik - nahezu keine Erwähnung (vgl.: Hempel 1995: 61). Hinsichtlich der Untersuchung des Geschlechterverhaltens bestand insgesamt in der erziehungswissenschaftlichen Forschung eine starke Konzentration auf die Familie – im Privaten konnte im Gegensatz zur öffentlichen Sphäre auf Verhältnisse eingegangen werden, die dem sozialistischen Gesellschaftsideal nicht entsprachen. Die systematische Dethematisierung von Geschlechterungleichheiten hatte u. a. zur Folge, dass geschlechtertypisierende Bilder in pädagogischen Interaktionen wie auch Diskursen (z. B. Schulbüchern) unreflektiert weiter getragen wurden. Können einerseits auch durch geschlechtsspezifische Pädagogik Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen reproduziert und erneut festgeschrieben werden – wenngleich mit Modifikationen zu als überkommen betrachteten Bildern – so verschwinden doch andererseits strukturelle Ungleichheiten nicht durch ihre Dethematisierung, sondern teilen sich im Sozialisationsprozess der nachfolgenden Generation wiederum mit: Wie bereits in Kap.2 erwähnt, erleben Kinder die Gesellschaft, in die sie hineingeboren werden, zunächst als Natur- ähnlich. Eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung der Erwachsenengeneration wird gerade dann, wenn sie als solche nicht thematisiert wird, in der alltäglichen Sozialisation an die nächste Generation weitergegeben (vgl.: Nickel 1990 :18). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die DDR- Geschichte ein Beispiel für die gleichzeitige Proklamation von Geschlechtergerechtigkeit und Dethematisierung von Geschlechterungleichheit ist. Trotz der Einführung flächendeckender institutioneller Kinderbetreuung und der erreichten Normalität 83
von Frauenerwerbstätigkeit setzte sich die Idealisierung der heterosexuellen Zwei-Eltern-Familie fort. Die Lebensform der Ein-Elter-Familie war weit verbreitet, jedoch standen Alleinerziehende weiterhin unter erhöhtem Normerfüllungs- und Rechtfertigungsdruck, z. B. in dem Fall, dass ihre Kinder den an Disziplin und Ordnung orientierten sozialistisch-pädagogischen Vorgaben nicht entsprachen. Es zeigen sich also in der DDR– Geschichte Gleichzeitigkeiten von gesellschaftlicher Anerkennung und fortwährendem Misstrauen gegenüber EinElter-Familien. Spielräume in der Konstruktion von Geschlecht und Familie gegenüber der heterosexuellen Zwei-Eltern-Familie mit traditioneller Arbeitsteilung lassen sich an der weiten Verbreitung von Ein-Elter-Familien, hohen Scheidungszahlen, institutionell ermöglichter Frauenerwerbstätigkeit und der gegen Ende der DDR zunehmend aktiven Vaterschaft ablesen. Gleichzeitig sind jedoch neue normierende, Spielräume begrenzende Entwicklungen festzustellen, wie z. B. der wachsende gesellschaftliche Druck auf Mütter, Familienarbeit und Vollerwerbstätigkeit miteinander zu vereinbaren.
3.4 BRD 1949 –1989 In diesem Unterkapitel werden ähnliche Quellen wie in Kapitel 3.3 verwendet. Eine besondere Stellung nehmen die Familienberichte ein, welche 1965 durch einen Beschluss des Bundestages als Instrument geschaffen wurden, um „Handlungsbedarfe im Aktionsfeld Familie auf der Basis von Ist-Analysen und SollWerten zu definieren“ (Gerlach 1996: 180). Die Familienberichte dienen der Begründung einer rationalen Familienpolitik und zugleich der Kontrolle finanzieller Leistungen für Familien (vgl.: Heinz 1980: 355).
3.4.1
Retraditionalisierung und sozialer Wandel
Im Gegensatz zur DDR findet die Gleichberechtigung der Frau im Laufe der BRD- Geschichte nur unter großen Schwierigkeiten Eingang in die Verfassung. Im Parlamentarischen Rat ereignen sich Ende der 40er Jahre heftige Diskussionen um den Gleichberechtigungsgrundsatz. Noch als dieser 1949, als Reaktion auf den außerparlamentarischen Sturm der Frauen und angesichts der weiblichen Bevölkerungsmehrheit, durchgesetzt war (GG Art. 3 Abs.II), gab es innerhalb des Parlamentarischen Rates massive Widerstände gegen die konkrete Umsetzung des Gleichberechtigungsgrundsatzes im Familienrecht.
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„Es gab gewichtige juristische Meinungen, die bestrebt waren, den Willen des Parlamentarischen Rates auszuhöhlen oder zumindest zu verwässern. Sie gingen davon aus, daß Mann und Frau in natürlicher Weise verschieden seien und daß sich dies auch im Recht niederschlagen müsse; ja, sie gingen sogar so weit zu erklären, das männliche Entscheidungsrecht in allen Fragen, die das gemeinsame Leben der Eheleute betreffen (§1354 BGB), der väterliche ‚Stichentscheid’ sowie die ‚Alleinvertretungsmacht’ des Vaters (§1628,1629 BGB) stünden mit dem Gleichberechtigungsartikel in Einklang. Man berief sich dazu auf die ‚natürliche Ordnung’ der Ehe und eine ‚gewisse natürliche Präponderanz des Mannes’!“ (Langer 1985b :75)
Die Unterstützung der evangelischen und der katholischen Kirche war dieser Position gewiss. Nach längerem politischem Gerangel wurde die Aufnahme des Gleichheitsgrundsatzes ins Grundgesetz in seiner vollen Geltung auf das Jahr 1953 verschoben. Es wurde zunächst eine Übergangsregelung (GG Art. 117) in Kraft gesetzt (Schäfgen 2000: 71). Auch um die Definition und den verfassungsrechtlichen Status der Familie (der spätere Artikel 6 GG) fanden heftige Diskussionen im parlamentarischen Rat statt. Einer der besonders kontrovers diskutierten Punkte war die Stellung von den so genannten ‚Restfamilien’ bzw. ‚unvollständigen Familien’ sowie von unehelichen Kindern. Die letztendliche Formulierung des Abs. 5 des Art. 6 GG fiel schließlich zögerlich aus und lautete folgendermaßen: „Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.“ (zitiert nach: Gerlach 1996: 98)
Dieser Artikel beinhaltet keinen Rechtsanspruch. Er kommt eher einer Absichtserklärung gleich. In den folgenden Jahren ging die politische Diskussion um die konkreten Ausformungen und Umsetzungen des Gleichberechtigungsparagraphen weiter. Der vom Gericht ausgeschlossene ‚Stichentscheid des Vaters’53 wurde in einem Regierungsentwurf erneut eingebracht. Erst 1958 schließlich „trat das Gleichberechtigungsgesetz auch im Ehe- und Familienrecht in Kraft“ (Schäfgen 2000: 73). Besonders interessant sind die Argumentationsmuster der Verfechter patriarchalischer Strukturen: Die Konstruktion der Hierarchie zwischen Männern und Frauen wurde mit dem Naturbegriff verbunden, woraus sich Vorstellungen 53
Im so genannten ‚Stichentscheid des Vaters’ wurde zwar „festgelegt, dass das minder-jährige Kind unter der elterlichen Gewalt von Vater und Mutter stehe (§1626), dass beide die Verantwortung tragen und sich einigen sollten (§1627), doch für den Fall, dass keine Einigung zustande kam, war vorgesehen, dass der Vater entscheiden sollte (§1628). Auch blieb die Vertretung der Kinder nach außen dem Vater vorbehalten (§1629).“ (Langer 1985b: 76/77)
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von Bedingungen fürs Kindeswohl ableiteten. Exemplarisch deutlich wird diese Argumentationsstruktur in Aussagen von Vertretern der christlich-liberalen Koalition (1949-1966). Bundesministers Neumayer, FDP: „Können sich die Ehegatten nicht einigen, so muss im Interesse der Familie die Entscheidung der einzelnen Angelegenheiten dem Ehegatten übertragen werden, der nach der natürlichen Ordnung von Ehe und Familie, wie sie das Leben selbst entwickelt hat, diese Entscheidung treffen muss. Das ist der Mann.“ (Langer 1985b: 54 77)
Dr. Weber, CDU/CSU: „Daß insbesondere nicht aus doktrinären Gedankengängen heraus eine formale Gleichstellung von Mann und Frau auch da herbeigeführt werden darf, wo der in Artikel 6, Abs. 1 GG besonders anerkannte Schutz der Ehe und Familie oder die in Artikel 6 Abs.2 ebenda hervorgehobenen Interessen der Kinder einer völligen Gleichstellung beider Geschlechter in der Ehe Schranken setzen.“ (in: Langer 1985b: 77)
Ehe, Familie und das Wohlergehen der Kinder wurden als von der Gleichberechtigung der Frauen bedroht angesehen. Schutz bot hier allein die Aufrechterhaltung der ‚natürlichen’, hierarchischen Ordnung. Die im Begriff ‚doktrinär’ bereits angedeutete argumentative Verbindung zur Abgrenzung gegen sozialistische Gesellschaftsstrukturen, insbesondere die der DDR, wurde in folgendem Zitat des ab 1953 amtierenden Familienministers Würmeling55 unmissverständlich formuliert: „Wohin schließlich eine totale Gleichberechtigung und Gleichsetzung von Mann und Frau in letzter Konsequenz führt, zeigt uns ein Blick in die Ostzone. … In der
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Aus: „Stenographische Berichte des Bundestages“, 2 WP, 15. Sitzung, vom 12. Februar 1954, S.474. 55 Adenauer gründete 1953 das erste Familienministerium und ernannte Würmeling zu dessen Minister. Würmeling erreichte nachhaltigen Bekanntheitsgrad durch die Einführung der im Volksmund als ‚Karnickelpass’ bezeichneten Fahrpreisermäßigung für Kinder bei Bahnfahrten, die Teil seines familienpolitischen 8-Punkte-Programms war und folgende Aspekte umfasste: „1. Familiengerechter Wohnungsbau, 2. Bevorzugter Familieneigenheimbau, 3. 20 DM monatliches Kindergeld ab drittem Kind, 4. Hohe Kindergeldzuschläge für alle Rentenempfänger, 5. Hohe Steuerfreibeträge für Familien mit Kindern, 6. Familienermäßigung bei der Bundesbahn, 7. Schutz der überanspruchten Mutter, 8. Mehr Schutz schuldlos verlassener Frauen und Kinder.“ (Delille und Grohn 1985) Würmeling hatte das Amt des Familienministers bis zum Jahr 1962 inne.
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letzten Konsequenz enden diese Dinge dann im Kohlen- oder Uranbergwerk.“ (in: 56 Langer 1985b: 81)
Zeitgleich mit der Rückkehr der Männer aus der Kriegsgefangenschaft wurde die heterosexuelle Zweielternfamilie als Norm festgeschrieben. Die Frauen, die während des Krieges oftmals sowohl den Broterwerb, als auch die Familienarbeit alleine bewältigt hatten, wurden in die Hausfrauenrolle zurückgedrängt. Durch die vielen verwitweten Frauen gab es eine große Zahl von Ein-Elter-Familien. Diese stellten zunächst eine Normalität dar, wurden aber in den 50er Jahren, mit der zunehmenden Idealisierung der Kleinfamilie, mehr und mehr als abweichende Lebensform angesehen und dementsprechend als ‚unvollständige Familien’ bezeichnet, auch wenn sie in einem gemeinschaftlichen Verband mit Kindern und Geschwistern, Eltern oder Freundinnen zusammen lebten (Meyer und Schulze 1985). Der wirtschaftliche und der familienideologische Aufschwung ereigneten sich in den 50er Jahren parallel. Während die Beschäftigung von Frauen in typischen Männerberufen in den ersten Nachkriegsjahren weit verbreitet war, wurden Frauen in den darauf folgenden Jahren auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt: Kriegsheimkehrer wurden bei der Vergabe von Stellen bevorzugt und Frauen durch wieder eingesetzte Arbeitsschutzbestimmungen aus typischen Männerberufen gedrängt. „Während 1946 z. B. im Bau- und Baunebengewerbe 49.711 Frauen arbeiteten, waren es Ende 1950 nur noch 11.146“ (ebd.: 94). Insgesamt lässt sich für die 50er Jahre der Trend zur Abdrängung der Frauen aus dem Arbeitsmarkt bzw. in schlecht bezahlte Berufe konstatieren (vgl.: ebd.). Viele allein erziehende Frauen mussten mit einem äußerst geringen Einkommen die in dieser Zeit sehr hohen Lebenshaltungskosten für sich, ihre Kinder und oftmals auch noch für andere Verwandte bestreiten. Das Nichtvorhandensein staatlich organisierter Kinderbetreuung verkomplizierte die Organisation des Alltags zusätzlich. Hinzu kam eine große Wohnraumnot. Alleinerziehende mussten oftmals jahrelang zur Untermiete wohnen. In den 50er Jahren wurden aufgrund bevölkerungspolitischer Überlegungen nacheinander Kindergeld57, Kinderfreibeträge und das Ehegattensplitting eingeführt. Diese Zahlungen kamen den Familienernährern, also i. d. R. den Männern, zu. Der bezahlte Mutterschaftsurlaub, der Ende der 70er Jahre eingeführt wurde, war die erste
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Ebd.: S.479. Die politische Diskussion um die Wiedereinführung eines Kindergeldes nach seiner Abschaffung durch die Alliierten begann bereits Ende der 40er Jahre, ein Kinderfreibetrag für das erste Kind wurde schon 1948 beschlossen.
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familienpolitische Leistung, die explizit an die Mütter gerichtet war (vgl.: Kolbe 2001). Mit der Gründung des Familienministeriums 1953 und der Einsetzung des Katholiken Würmeling ins Amt des Familienministers begann in der BRD die Ära einer ideologisch besetzten, unter demographischen Gesichtspunkten diskutierten und der Wirtschaftspolitik nachgeordneten Familienpolitik mit starken klerikalen Einflüssen. Proklamiert wurde das Familienleitbild der heterosexuellen Zwei-Eltern-Familie mit mehreren Kindern, mit eindeutiger Zuständigkeit der Frauen für Familie und der Männer für Erwerbstätigkeit. Im folgenden Zitat Würmelings deutet sich an, dass in dieser Familienpolitik Elemente faschistischer Ideologie weiterlebten und dass sie gleichzeitig ganz im Zeichen des kalten Krieges in Abgrenzung zur DDR konzipiert war: „Millionen innerlich gesunder Familien mit rechtschaffen erzogenen Kindern sind als Sicherung gegen die drohende Gefahr der kinderreichen Völker des Ostens 58 mindestens so wichtig wie alle militärische Sicherungen.“ (in: Langer 1985a :110)
Die in den ‚gesunden Familien’ enthaltene Konstruktion ‚ungesunder’, also als abweichend gesehener Familien erinnert stark an den nationalsozialistischen Umgang mit dem Begriff der Degeneration. Die Rede von der „drohenden Gefahr der kinderreichen Völker des Ostens“ scheint entlehnt aus dem Vokabular des deutschen Faschismus und verdeutlicht, in welchem Ausmaß die Familienpolitik der fünfziger Jahre in der BRD mit außenpolitischen Zielen verwoben war. Elemente dieser Politik waren die Strafbarkeit von Schwangerschaftsunterbrechungen, Erschwerung von Geburtenkontrolle und Scheidung sowie die unterlassene Einrichtung öffentlicher Kinderbetreuung. Letzteres diente u. a. dem Ziel, das traditionelle Familienleben und die geschlechtertypische elterliche Rollenverteilung zu stärken.59 Die Belastungen besonders kinderreicher Familien wurden gleichzeitig durch finanzielle Vergünstigungen wie Heiratsdarlehen, Familienlastenausgleich und Kindergeld abgemildert (Schäfgen 2000: 72). Hierzu zusammenfassend Behning: „Die Leitbilder der ‚sozialen Geschlechter’ sind klar definiert. Sie sind trotz des Gleichheitsgebotes des Grundgesetzes (Art.3 Abs.2GG) im Bürgerlichen Gesetzbuch geschlechtsspezifisch festgeschrieben. Bis 1957 gilt der §1356, der besagt, dass die Frau berechtigt und verpflichtet ist, das gemeinsame Hauswesen zu leiten. In der Neufassung vom Juni 1957 beinhaltet der §1356, dass die Frau den Haushalt in 58
Zitiert nach: Franz-Josef Würmeling, Staatliche Familienpolitik, in: Bonner Hefte 8 (1953), S.1-6. Forderungen nach institutionell geregelter Kinderbetreuung standen in dieser Zeit unter dem Verdacht des Kollektivismus. 59
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eigener Verantwortung führt, mit dem Zusatz, dass sie berechtigt ist, erwerbstätig zu sein, allerdings nur, soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist.“ (Behning 1996: 148)
Vom Gesetzgeber wurde – trotz vorsichtiger Schritte in Richtung Gleichberechtigung - das Leitbild der Hausfrauenehe, bzw. des männlichen Familienernährers festgelegt, eine Gesetzgebung, die bis zum 1976 formulierten „Ersten Gesetz zur Ehe- und Familienrechtsreform“ in Kraft blieb. Dann allerdings erfuhr das gesetzliche Leitbild der familialen Geschlechtsrollenverteilung eine zentrale Wende: Die Entscheidung für das Modell des männlichen Haupternährers, der Zuverdiener- oder Doppelverdienerehe wird nun vollständig in das Ermessen der Ehepartner gestellt (vgl.: Gerlach 1996: 105/106). Hiermit wird eine Stärkung individueller Rechte vorgenommen. Ähnlich wie bei den Diskussionen um eine geschlechtergerechte Aufteilung von Hausarbeit in der DDR der 50er Jahre gab es zu dieser Zeit auch in der BRD emanzipative Diskurse: In den Jahren nach Gründung der Bundesrepublik erlangte das Genre der Beratungslektüre für verwitwete, allein erziehende Mütter einen enormen Zuwachs. Zielsetzung dieser Literatur war die Vermittlung von Handlungshilfen für ein selbstständiges Leben (vgl.: Nave-Herz und Krüger 1992: 17). In einigen Frauenzeitschriften wurde auch die Wiederherstellung patriarchaler Familienverhältnisse durch die heimkehrenden Männer und die besonders für Frauen bedrohliche ökonomische Situation diskutiert und kritisiert (Langer 1985b). Die kritischen Stimmen in diesen Medien verstummten jedoch, auch hier eine Parallele zur oben erwähnten Diskussion in der DDR, Ende der 50er Jahre. In der Folgezeit dominierten der ‚weibliche Körperkult’ (Mode, Schminken und Gewichtskorrekturen) sowie Haushalt, Hygiene und Mutterschaft die Bilder, Textbeiträge und Werbeanteile der Frauenzeitschriften. Gesellschaftlich relevante Themen wurden mehr und mehr ausgespart und der Weg in Konsumwelten vorgezeichnet (Grum 1985). In der von Meyer und Schulze durchgeführten Medienanalyse von Frauenzeitschriften und Illustrierten wird die thematische Umorientierung von der Zielgruppe der allein erziehenden Mütter in der Nachkriegszeit auf verheiratete Frauen und Mütter im Laufe der 50er Jahre beschrieben. Fragen und Probleme allein erziehender Mütter wurden danach kaum mehr diskutiert (Meyer und Schulze 1985: 97). Zu den Benachteiligungen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt und der diskursiven Ausblendung der Alltagsrealität Alleinerziehender kamen soziale Diskriminierungen, die von Unachtsamkeiten und mangelndem Einfühlungs-
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vermögen bis zu sexistischen Ausgrenzungen reichten.60 Trotz dieser Schwierigkeiten geht aus den ebenfalls von Meyer und Schulze durchgeführten retrospektiven Interviews mit in der Zeit der 50er Jahre ‚allein stehenden’ Frauen jedoch hervor, dass diese in dem Versuch, das Beste aus ihrer Situation zu machen, größte Beharrlichkeit zeigten. Meyer und Schulze zu Folge zogen sie die hierfür nötige Stärke aus solidarischen Kontakten zu anderen Frauen und zur Verwandtschaft. Ihre in den End- und Nachkriegsjahren errungene Selbstständigkeit hatte sie selbstbewusst gemacht (vgl.: Meyer und Schulze 1985: 98). In den folgenden Jahrzehnten konnten weder rechtliche61, noch institutionelle Maßnahmen62, noch die Verfestigung von Leitbildern gesellschaftliche Entwicklungen stoppen, die sich aus der Kriegs- und Nachkriegsgeschichte ergaben: Die Zahl der jährlichen Ehescheidungen stieg von 19.271 im Jahre 1961 auf 86.614 im Jahre 1972 an (vgl.: Langer 1985b). Während bereits Anfang des 20. Jahrhunderts erste Stimmen für einen humaneren Umgang mit ledigen Müttern zu hören waren, so verbesserte sich deren soziale Lage de facto erst 1970. Durch das Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung nichtehelicher Kinder bekamen Alleinerziehende einen geschützteren gesellschaftlichen Status (vgl.: Nave-Herz und Krüger 1992: 51). Die Verwandtschaft zwischen leiblichen Vätern und unehelichen Kindern wurde nun anerkannt - mit positiven Folgen für Unterhalts- und Erbrechts- Ansprüche der unehelichen Kinder, bzw. der EinElter-Familien, in denen diese in der Regel lebten (vgl.: Gerlach 1996: 105). Auch die Quote erwerbstätiger Frauen stieg, nachdem sie in den Nachkriegsjahren erheblich gesunken war, ab Mitte der 50er Jahre wieder an. Ende der 60er Jahre lässt sich auch eine Zunahme von Müttererwerbstätigkeit feststellen. Unter Bezugnahme auf eine demographische Studie zur Entwicklung mütterlicher Erwerbstätigkeit im Zeitraum zwischen 1965 und 197163 beschreibt Lehr, dass die „Zahl der außerhalb der Landwirtschaft tätigen Frauen, die Kinder unter 15 Jahren haben, sich von 1965 bis 1971 um 29% erhöhte“ (Lehr 1974: 75), wobei jedoch einschränkend darauf hingewiesen wird, dass „nur 48% aller erwerbstätigen Mütter mit Kindern unter 18 Jahren eine Vollzeitbeschäftigung“ hatten (ebd.: 76).
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Bis weit in die 60er Jahre hinein war es in Westdeutschland z. B. nicht üblich, dass eine Frau alleine ein Restaurant besuchte. 61 1961 setze die CDU/CSU eine rechtliche Erschwerung der Scheidung durch (§48 Ehegesetz), die in ihren unübersehbaren klerikalen Einflüssen als Bruch mit den säkularen Grund-sätzen des Staates gesehen werden kann. 62 1954 werden Kindergeld, Steuererleichterungen für Verheiratete und die Option auf Heiratsdarlehen eingeführt. 63 Es handelt sich hier um die Arbeit von H. Schubnell: „Der Geburtenrückgang in der Bundesrepublik. Die Entwicklung der Erwerbstätigkeit von Frauen und Müttern.“ Kohlhammer, 1973 (Stuttgart).
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Wie bereits in der Einführung zu diesem Unterkapitel erwähnt, wurde durch einen Beschluss des Bundestages im Jahre 1965 das Instrument der periodisch neu herzustellenden ‚Familienberichte’ institutionalisiert, welches dazu gedacht war, den gegenwärtigen Zustand von Familien zu erfassen und zu analysieren sowie Richtungs- weisende Inhalte für Familienpolitik zu formulieren. Damit wurde auf die Schwierigkeiten reagiert, denen ein politischer Querschnittsbereich wie die Familienpolitik mit seinen Bezügen zu Arbeitsmarkt, Sozialpolitik und Bildungspolitik ausgesetzt war. Die Familienberichte stellen Gerlach zufolge den Versuch dar, Familienrealitäten möglichst präzise zu beschreiben und aus diesem Befund familienpolitische Zielvorgaben zu entwickeln. Insofern komme den Familienberichten eine Schlüsselposition für die Definition der Probleme von Familien zu. Gleichzeitig dokumentieren die durch die jeweilige Regierung den Familienberichten angefügten Stellungnahmen, welche politischen Konsequenzen aus den Analysen gezogen wurden (Gerlach 1996: 180). Aufgrund der zentralen Stellung, welche die Familienberichte für die jeweilige Familienpolitik einnahmen (und nehmen), lassen sich an ihnen die Vor- und Rückschritte, denen sozialer Wandel im Laufe der Zeit unterworfen war und ist, besonders gut ablesen. Der erste Familienbericht erschien 1968 und wurde unter der Federführung des Familienministeriums erstellt. In diesem Bericht wurden ein, wenn auch geringer so doch gleichmäßiger, Bevölkerungszuwachs sowie die Zunahme eines gleichberechtigten und partnerschaftlichen Umgangs der Ehepartner prognostiziert. Problematisiert wurden Chancenungleichheiten durch schichtbezogene Unterschiede in der schulischen Sozialisation. Im ersten Familienbericht wurde Familie als Kernfamilie auf ehelicher Basis definiert. Ein-Elter-Familien wurden als ‚unvollständige Familien’ bezeichnet und aus der Definition der ‚Normalfamilie’ ausgegrenzt. Das traditionelle Familienmodell mit männlichem Ernährer und weiblicher Hausfrau wurde selbstverständlich vorausgesetzt (vgl.: Gerlach 1996: 181/182). Der erste Familienbericht kann als „eine wissenschaftlich gestützte Rechtfertigung der während der langjährigen Herrschaft der CDU propagierten Ideologie der bürgerlichen Familie“ (Heinz 1980: 355) gelesen werden. Dies änderte sich im zweiten Familienbericht. Während die AutorInnen dieses 1975 unter der sozial-liberalen Koalition erschienenen Berichtes ergänzend zu den Bezeichnungen ‚unvollständige Familie’ und ‚alleinstehende Elternteile’ die Begriffe ‚Mutter-Familie’ und ‚Vater-Familie’ vorschlugen (vgl.: Der Bundesminister für Jugend 1975 :17), war in der Stellungnahme der damaligen Regierung unter Brandt weiterhin nur von ‚unvollständigen Familien’ und – parallel zu den in der DDR üblichen Formulierungen – ‚allein stehenden Elternteilen’ die Rede (vgl.: Der Bundesminister für Jugend 1975: XIII). Eine 91
Veränderung des Familienleitbildes ließ sich gleichzeitig jedoch darin erkennen, dass „gesellschaftliche Anerkennung lediger Elternteile mit Kindern als Familie“ (ebd.: VIII) auch von Regierungsseite ausdrücklich eingefordert wurde. Die den Bericht verfassenden WissenschaftlerInnen kritisierten jene gesellschaftlichen Normen, denen zufolge Kinder zur gelungenen familialen Sozialisation Mutter und Vater benötigen würden. Sie explizierten, dass sich diese Form der Idealisierung der Zwei-Eltern-Familie in sozialen Vorbehalten gegenüber EinElter-Familien ausdrücke (Der Bundesminister für Jugend 1975: 23). In deutlicher Abgrenzung zur Familienpolitik der 50er und 60er Jahre wurde im zweiten Familienbericht die private Abschottung vieler Familien und die daraus resultierende „fehlende Kontrollierbarkeit elterlicher Machtausnutzung“ (Der Bundesminister für Jugend 1975: 37) problematisiert und die Notwendigkeit des Ausbaus öffentlicher Kinderbetreuung thematisiert. Es zeigte sich ein verändertes Familienleitbild. Durch die positive Haltung gegenüber frühkindlicher Erziehung in kollektiven Strukturen kam auch eine Auflockerung der Beziehungen zur DDR zum Ausdruck, welche als bezeichnend für die Ära Brandt angesehen werden kann. In den Sozialausschüssen der CDU werden in den 70er Jahren64 dagegen die Argumentationsmuster des Familienministers Wuermeling aus den 50er Jahren reproduziert: Emanzipation führe zur ‚Vermännlichung’ von Frauen und die Verkümmerung von ‚Mütterlichkeit’ bewirke kindliche Defizite. Weiterhin wird die Familie als heimeliger Gegenpol zu der von Konkurrenz und Käuflichkeit bestimmten modernen Industriegesellschaft konstruiert, indem Mütterlichkeit mit Natürlichkeit, Liebe, Fürsorglichkeit und Aufopferung für die Familie gleichgesetzt wird (vgl.: Delille und Grohn 1985: 147).65 Infolge von Studenten- und Frauenbewegung lockerten sich Ende der 60er / Anfang der 70er Jahre die normativen Vorstellungen zu Ehe und Familie. Diese Entwicklung brachte sowohl eine Pluralisierung von Familienformen im Sinne der Ausbildung neuer Formen des Zusammenlebens als auch die quantitative Zunahme bereits bestehender nicht-traditioneller Familien- und Sozialisations-
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„Die Sonderorganisationen der beiden großen Parteien, der CDU und der SPD, sind – dies gilt insbesondere für die CDU – Ausdruck ihres Selbstverständnisses als Volkspartei und des in ihr organisierten innerparteilichen Interessenpluralismus. Dabei ist ihre Aufgabe grundsätzlich in einer Doppelfunktion zu sehen: Zum einen artikulieren sie innerhalb der eigenen Partei die Interessen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen; zum anderen haben sie die Aufgabe, innerhalb der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppe für die Ziele und Prinzipien der eigenen Partei intensiver zu werben.“ (Andersen und Woyke 2003: 555) 65 Delille und Grohn beziehen sich hier auf eine Studie, die von den Sozialausschüssen der christlich demokratischen Arbeitnehmerschaft unter dem Titel: „Die sanfte Macht der Familie“ im Jahr 1981 herausgegeben wurde.
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formen (z. B. Singles, Alleinerziehende und Patchworkfamilien) mit sich.66 Zwischen 1970 und 1980 nahm die Zahl der Ein-Elter-Familien um 35% zu, ihr Prozentsatz im Verhältnis zur Gesamtzahl aller bundesdeutschen Familien betrug 1980 15%, davon waren 250.000 allein erziehende Väter und 1,3 Millionen allein erziehende Mütter (vgl.: Delille und Grohn 1985: 146). Auch die Anzahl nichtehelicher Lebensgemeinschaften und Singlehaushalte stieg seit den 70er Jahren an. Die normative Kraft der Institution Ehe verlor an Wirkung. Der soziale Wandel in den siebziger Jahren wurde auch durch die starke Expansion des Bildungssystems vorangetrieben, durch den sich die individuellen Handlungsräume vor allem für Mädchen und Frauen erheblich erweiterten. Die seit den siebziger Jahren gewachsene subjektive Entscheidungsfreiheit wurde von den jeweiligen politischen Lagern sehr unterschiedlich bewertet, von den Linken als Erfolg der Emanzipationsbewegungen und von den Konservativen als Werteverlust und Krise der Familie. Trotzdem kann konstatiert werden, dass sich die Diskurse zu Leitbildern von Familie und Geschlecht in den siebziger und achtziger Jahren in Richtung wachsender Akzeptanz von Frauenerwerbstätigkeit veränderten - Müttererwerbstätigkeit allerdings blieb (und bleibt im Westen) ein intensiv diskutiertes Thema. Der 1979 erschienene dritte Familienbericht positionierte sich einerseits als Fürsprecher der Mütter im Sinne freier Entscheidungen der Ausbalancierung von Erwerbs- und Familienarbeit, Väter wurden in ihrer Erziehungsverantwortung bezüglich der zeitlichen Verteilung zwischen Erwerbs- und Familienarbeit jedoch nicht berücksichtigt. Sinkende Geburtenzahlen führen zur 66 Die These der Pluralisierung familialer Lebensformen entwickelte sich mit Bezug auf die Becksche Theorie von dem fortschreitenden Prozess der „Individualisierung und Diversifizierung von Lebenslagen und Lebensstilen“ (Beck 1986: 122). Aktuell wird diskutiert, ob „Familienformen, die in der Pluralisierungsdebatte als ‚neue’ Familienformen argumentativ angeführt werden, wie z. B. nicht-eheliche Lebensgemeinschaften historisch vergleichend als wirklich neu, als ‚Produkt’ bzw. Prototyp der Moderne betrachtet werden oder [ob es sich hier, B.R.] um bereits früher existierende Familienformen, deren quantitative Bedeutung in der Moderne zunimmt“ handelt (Vaskovics 1997: 25). Nach Nave-Herz ist „die Frage nach der Vielfältigkeit familialer Lebensformen selbstverständlich abhängig vom gewählten Begriff von Familie.“ (Nave-Herz 1997b: 37) Da es „keine allgemein anerkannte Definition von Familie“ (ebd.) gibt, fallen die Antworten auf die Frage nach der Pluralität familialer Lebensformen entsprechend unterschiedlich aus. Festzuhalten ist, dass es sich, wird ein erweiterter historischer Vergleichszeitraum (bis hinein in die vorindustrielle Zeit) gewählt, „lediglich um eine geringe Verschiebung in der Gewichtung der verschiedenen Familienformen handelt, nicht um die Entstehung von neuen.“ (ebd.: 39) In der These von der Pluralität der Familie wird hingegen der Vergleichszeitraum vollständig ignoriert, oder es werden die 50er/60er Jahre, das ‚golden age of marriage’, die Hoch-Zeit der gesellschaftlichen Dominanz der heterosexuellen Kleinfamilie als Vergleich herangezogen. Durch die (häufig ungenannte) Wahl dieses Zeitraums als Maßstab entsteht eine Mythologisierung der bürgerlichen Kleinfamilie, vor allem bei jenen AutorInnen, die der ‚heilen’ und ‚normalen’ Familie in der Vergangenheit nachtrauern (vgl. kritisch: Lüscher 1997: 53).
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Ausformulierung einer bevölkerungspolitischen Zielvorstellung in diesem Bericht, es wurde zum Kinderkriegen ermutigt (vgl.: Gerlach 1996: 183/184). Im dritten Familienbericht wie auch in den Mitte der 70er bis Mitte der 80er Jahre vorgenommenen institutionellen Maßnahmen ist ein Wandel vom Modell des alleinigen männlichen Haupternährers zum Modell des männlichen Haupternährers mit der Frau als Zuverdienerin erkennbar. Durch die Reform des Heirats- und Familienrechts 1977 wurde Hausarbeit in die Verantwortung von Frauen und Männern gestellt, von nun an hatten auch Frauen das Recht auf Erwerbstätigkeit (Pfau-Effinger 2000: 130). 1979 wurde der Mutterschaftsurlaub eingeführt, der allerdings weiterhin nur von Frauen in Anspruch genommen werden konnte. Zwischen 1979 und 1985 gab es für westdeutsche Frauen nach der Geburt eines Kindes die Möglichkeit eines sechsmonatigen Mutterschaftsurlaubs. Trotz steuerlicher Diskriminierung von Doppelverdiener-Haushalten67 und fehlenden Kinderbetreuungseinrichtungen stieg die Erwerbsquote verheirateter Frauen an (Delille und Grohn 1985: 146). „Mehr als ein Drittel der erwerbstätigen Frauen, circa 2,6 Millionen, hat Kinder im Alter unter 15 Jahren“ (ebd.). Sommerkorn zufolge hat sich die Zahl erwerbstätiger Mütter im Zeitraum zwischen 1950 und 1980 annähernd verdoppelt, wobei sie darauf aufmerksam macht, dass der Zuwachs bei zunehmender Kinderzahl geringer ausfällt (vgl.: Sommerkorn 1988: 117). Nach 1986 war in Westdeutschland der Erziehungsurlaub auf 12 Monate begrenzt, 1992 wurde die Höchstdauer von 36 Monaten eingeführt (vgl.: Dornseiff und Sackmann 2003: 323). 1986 wurde das Bundeserziehungsgeldgesetz als staatliche Anerkennung von Erziehungsleistung einschließlich der Berücksichtigung bei der Rentenregelung verabschiedet. Eltern konnten jetzt einkommensabhängig bis zu 600 DM monatlich für maximal zwei Jahre erhalten. Ab 1988 wurde das Erziehungsgeld von 10-monatiger Bezugszeit auf 12-monatige Bezugszeit und später auf 24 Monate angehoben, Teilzeitarbeit wurde arbeitsrechtlich besser abgesichert. Obwohl die neuen Rechte auch Vätern zugesprochen wurden, führten die genannten Maßnahmen weniger zur geschlechtergerechten Aufteilung von Familienarbeit, als zur Verlängerung der tatsächlichen Verweildauer von Frauen in der Familienphase (Bird 2001). Familienleitbilder und Familienpolitik blieben widersprüchlich: Im 1986 erschienenen, vierten Familienbericht, der den Themenschwerpunkt ‚ältere Menschen in der Familie’ hatte, wurde von einem dynamischen, durch sich wandelnde kulturelle Vorstellungen veränderbaren Familienverständnis ausge67
Bereits im Steuersystem von 1958 wurde das ‚Ehegattensplitting’ eingeführt, durch welches jene Ehepaare bevorteilt wurden, welche „das Modell der Hausfrauenehe lebten, unabhängig davon, ob sie Kinder hatten.“ (Pfau-Effinger 2000: 130) Auch erwerbstätige Alleinerziehende werden durch diese Regelung benachteiligt.
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gangen. Erklärtermaßen nahm die zu diesem Zeitpunkt christlich-konservative Bundesregierung hier grundsätzlich von einer Leitbildkonstruktion Abstand: „Es geht nicht darum, den Bürgerinnen und Bürgern ein bestimmtes Leitbild für ihre Lebensplanung vorzugeben, bestimmte Aufgabenverteilungen zwischen Männern und Frauen vorzuschreiben oder bestimmte Lebensformen zu diskriminieren.“ (Der Bundesminister für Jugend 1986: III)
Dieser offene Ansatz stand im Widerspruch zur Familiendefinition der Sachverständigenkommission, welche Familie unter rechtlicher Bindung und Blutsverwandtschaft fasste, wodurch nichteheliche Lebensgemeinschaften, homosexuelle Paare mit Kindern und andere Formen der Wahlverwandtschaften wiederum ausgegrenzt wurden (vgl.: Der Bundesminister für Jugend 1986: 14). Somit fiel der vierte Familienbericht hinter Differenzierungen des zweiten Familienberichtes zurück, indem das ‚biologische Geschlecht’ nun wiederum der Familienbildung selbstverständlich vorausgesetzt und in Verbindung mit Sexualität gebracht wurde (vgl. kritisch: Behning 1996: 152). Interessant am vierten Bericht war insbesondere die eindeutige Parteinahme für familienfreundliche Arbeitsmarktstrukturen, die eine flexible Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern ermöglichen sollten, so dass auch die Variante, in der „beide Familienmitglieder [hier: Mutter und Vater, B.R.] Teilzeit bzw. wechselseitig auch einmal Vollzeit erwerbstätig sind“ (Der Bundesminister für Jugend 1986: 165) als wünschenswerte Alternative bezeichnet wurde. Zentral für den vierten Familienbericht war außerdem das Thema der Solidarität zwischen den Generationen. Die geschlechtsspezifisch ungleiche Arbeitsverteilung der familiären Pflege älterer Menschen wurde kritisiert.
3.4.2 Mütterlichkeit und Väterlichkeit In den 50er Jahren führte die ansteigende Müttererwerbstätigkeit zu einer heftigen gesellschaftlichen Diskussion über die Folgen für das Kindeswohl. In dieser Debatte wurde mit den Begriffen ‚Schlüsselkinder’ und ‚Rabenmütter’ ein Bild vernachlässigter bis verwahrloster Kinder erzeugt. Erwerbstätige Mütter, welche nicht aus purer ökonomischer Not heraus arbeiteten, wurden als egoistisch und konsumorientiert stigmatisiert (vgl. kritisch: Sommerkorn 1988). Mit größter Selbstverständlichkeit wurde die Berufstätigkeit der Väter als mögliches Problemfeld ausgeklammert, eine diskursive Praxis, die sich bis heute weitgehend erhalten hat. Der einflussreiche Familiensoziologe Schelsky wurde in den 60er Jahren das wissenschaftliche Sprachrohr konservativer Kräfte. Er interpretierte die 95
(wieder) zunehmende wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen als gegen ihren eigentlichen, natürlichen Willen gerichtet, welcher sie ausschließlich nach Hausund Familienarbeit streben lasse. Der Sinn der ’früheren’68 Frauen- und Mütterschutzgesetzgebung sei „die Bewahrung ihrer eigentümlichen familiären Rolle und deren Schutz vor der Ausbeutung durch die industriellen Produktionsformen“69 (in: Delille und Grohn 1985: 60) gewesen. Schelsky vertrat die Ansicht, dass die Emanzipation der Frauen gegen deren Willen erfolge und ignorierte bei seinen Ausführungen über die Vorteile des Hausfrauendaseins, welche in der freien „Persönlichkeitsgestaltung“ und individueller Gestaltung des Alltags lägen (ebd.), sowohl die Monotonie dieser Tätigkeiten als auch die bei ausschließlicher Hausfrauentätigkeit gegebene Abhängigkeit vom erwerbstätigen Mann. Die Zuspitzung der Emanzipation „gegen den Willen und die Interessen der Frau“ (zitiert nach: Delille und Grohn 1985: 59) sah Schelsky in der „Rolle der Frau in den totalitären Staats- und Wirtschaftssystemen“ (ebd.). Hier führt er das 1950 in der DDR erlassene „Gesetz über Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau“ an (ebd.). Das mit dieser Einstellung verbundene Bild der Mutter dieser Zeit wird vom damaligen Familienminister Würmeling folgendermaßen dargestellt: „Mutterglück ist stets vom Anfang an nicht nur mit großer Verantwortung, sondern auch mit stetem Verzicht verbunden“ … „Diese Gabe und Aufgabe der Selbsthingabe um höherer Ziele willen ist es auch, die die Mutter zur verständnisvollen Lebensbegleiterin des Mannes und Vaters und zum Herzen der Familie werden lässt. In einer Zeit immer stärkerer Entpersönlichung der menschlichen und sozialen Beziehungen ist sie es, die die Tugenden geduldiger, liebender, verstehender und verzeihender Sorge miteinander, der Dankbarkeit und Hilfsbereitschaft, des Miterlebens und Mittragens am Schicksal des Nächsten, der Freude an Fortschritt und 70 Fortentwicklung menschlich-geistigen Lebens vorlebt.“ (in: Delille und Grohn 1985: 67)
Ein Teil der Mütter distanzierte sich durch ihre Handlungen von einem derart weich gezeichneten Hausfrauenleben. Die Anzahl der erwerbstätigen Mütter nahm trotz der Warnungen vor den negativen Auswirkungen von Müttererwerbsarbeit auf das Kindeswohl stark zu (ebd.: 50).
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Der Zeitpunkt des ‚früher’ wurde hier nicht näher definiert. Schelsky, Helmut (Stuttgart, 1960): „Wandlungen der deutschen Familie der Gegenwart“ zitiert nach (Delille und Grohn 1985). 70 Würmeling, Franz-Josef (Baden-Baden 1959): „Familie – Gabe und Aufgabe“. 69
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Inwieweit sich dichotome Bilder von Mütterlichkeit und Väterlichkeit im juristischen Diskurs der 80er Jahre spiegelten, zeigen folgende Aussagen eines Familienrichters: „Die Erfahrung zeigt, dass ein Aufwachsen nur bei einem Elternteil zu schweren erzieherischen Fehlentwicklungen führen kann. Denn die mehr verstandesgemäße Erziehung durch den Vater erhält ihr Äquivalent durch die mehr emotionelle seitens der Mutter (…) Fehlt eines der erzieherischen Elemente, so kann es zu einer Verkümmerung der einen oder anderen Seite kommen…“ (Marx 1982: 14 zitiert nach Swientek 1984: 104)
Die weitgehende Abwesenheit der Väter aus den Familien wurde von sozialwissenschaftlicher Seite her auf sehr unterschiedliche Art und Weise aufgegriffen. Breite Rezeption finden bis heute die Gedanken des Historikers und Psychoanalytikers Alexander Mitscherlich. Mitscherlich verortete in seinem Buch: ‚Auf dem Weg in die vaterlose Gesellschaft’ bereits Beginn des 19. Jahrhunderts „zwei Stufen der Entfremdung“ (Mitscherlich 1984 [1963]: 188) der Väter von ihren Söhnen71. Die erste Stufe der Entfremdung betrifft die Trennung von Arbeits- und Familienleben, durch welche die Arbeit des Vaters ihre Anschaulichkeit in der Wahrnehmung der Nachkommen verliert. Diesen Prozess bezeichnete er als ein „Erlöschen des Vaterbildes (…), das im Wesen unserer Zivilisation selbst begründet ist und das die unterweisende Funktion des Vaters betrifft: Das Arbeitsbild des Vaters verschwindet, wird unbekannt“ (ebd.: 177). Auf die vormalige Idealisierung des Vaterbildes folgt nun ein Prozess der Entwertung. Die zweite Stufe der Entfremdung betrifft die Verwandlung väterlicher Autorität in eine erzieherische Strafinstanz, nun „taucht der Vater häufig nur noch als ein Schreckgespenst in der Welt des Kindes auf“ (ebd.: 188). Mitscherlich nahm eine kritische Haltung gegenüber der substanzlosen Autoritätsausübung, welche weitgehend in unreflektierten Befehl / Gehorsam – Interaktionen besteht, ein.72 Jedoch sah er den Vater als unverzichtbar an (vgl.: Drinck 2005). Getreu der klassischen psychoanalytischen Theorie wurden bei Mitscherlich die Väter für die Vermittlung des Gesellschaftlichen und die Frauen für den emotionalen Bereich zuständig angesehen. Dabei kam in Mitscherlichs Konzept dem Vater die zentrale Stellung für die sozialisatorische Vermittlung von Selbstverantwortung und Autonomie zu (ebd.: 154). 71
Mitscherlich bezog sich auf die Beziehung zu Vater und Sohn und bezeichnete diese als beispielhaft für die anderen innerfamilialen Beziehungen (Mitscherlich 1984 [1963]: 175). Diese Übertragbarkeit müsste innerhalb seiner Theorie aber gerade aufgrund seines ausgeprägten Verständnisses unterschiedlicher Rollen der Geschlechter angezweifelt werden. 72 In einer derartig reduzierten Vater-Sohn-Interaktion sah Mitscherlich eine Ursache unterschiedlichster psychischer Störungen.
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In den folgenden Jahrzehnten wurde vielfach in diesem Sinne auf Mitscherlich Bezug genommen. Während Vätern also, wiederum und weiterhin, der kulturelle Bereich zugeschrieben wurde, wurden Mütter für Versorgungsaspekte zuständig gesehen. Ihre primäre Aufgabe sah Mitscherlich in der Bereitstellung einer stabilen frühkindlichen Bindung zum Kind. Die zunehmende Erwerbstätigkeit der Frauen, welche Mitscherlich zufolge „längst nicht mehr nur von Wünschen nach Vitalsicherung angetrieben, sondern zu einem guten Teil von konformistischen Zwängen der Statussicherung“ (Mitscherlich 1984 [1963]: 77)
motiviert waren, sah er als Gefahr für die Mutter-Kind Beziehung: „Die Konflikte werden besonders tief sein, wenn in der Mutter die pflegerischen Tendenzen von anderen Triebregungen (besonders selbstbezogenen, narzisstischen) durchkreuzt werden.“ (ebd.).
Es lässt sich festhalten, dass Müttererwerbstätigkeit aus so unterschiedlichen Perspektiven wie konservativer Politik (Schelsky) und sozialkritischer Psychoanalyse (Mitscherlich) her problematisiert wurde. Bestärkung erhält diese Position in den siebziger und achtziger Jahren aus dem pädagogisch/psychologischen Diskurs, der im Folgenden dargestellt wird. In den sechziger und siebziger Jahren wurden in der BRD Theorien zur Bedeutung der frühen Mutter-Kind-Beziehung für die Persönlichkeitsentwicklung im pädagogischen und psychologischen Diskurs diskutiert. Häufig rezipierte Theoretiker, die bis heute in pädagogischen Ausbildungen herangezogen werden, waren in dieser Zeit René Spitz, John Bowlby und D.W. Winnicott73. Aus der Kritik an Massenunterbringungen von Säuglingen und Kleinkindern in Krippen und Heimen (Spitz 1969) entsprang in den Theorien von Bowlby und Winnicott die Idealisierung der biologischen Mutter-Kind-Beziehung, wobei die Anforderungen an die Mütter dahingehend gesteigert wurden, dass sie kein Bedürfnis außer dem der Mütterlichkeit haben durften, wenn sie ihrem Kind nicht schaden wollten. Mit der fortschreitenden Pädagogisierung der Kindheit wuchs die Verantwortung der Mutter. Über Frauen, die nicht vollständig in der ‚primären Mütterlichkeit’, also in der symbiotischen Beziehung zum Säugling in dessen ersten Lebenswochen aufgehen, schrieb Winnicott74: 73
Diese Diskussion kam damals mit 10-15jähriger Verspätung aus den englischsprachigen Ländern in die B.R.D. Die Verzögerung lässt sich mit den aus der nationalsozialistischen Ideologie übernommenen, fortgesetzten Vorbehalten gegen die psychoanalytische Theorie erklären. 74 Winnicott war Kinderarzt und Psychoanalytiker.
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„Manche dieser Frauen haben sicher sehr große andere Interessen, die sie nicht gern völlig aufgeben (…). Wenn eine Frau sehr männlich identifiziert ist, fällt es ihr ganz besonders schwer, diesen Teil ihrer mütterlichen Funktion zu erfüllen, und ein verdrängter Penisneid lässt für die primäre Mütterlichkeit nur wenig Raum.“ (Winnicott 1976 [1985]: 156)
Hier wird das Interesse von Müttern an der gesellschaftlichen Realität mit Penisneid gleichgesetzt. Wird die ‚Außenwelt’ nicht zumindest für eine Zeit völlig unwichtig, so ist die psychische Gesundheit des Kindes nach Winnicotts Theorie gefährdet. Während der Mutter also keine Atempause und keine aus der Beziehung zum Kind gelösten Bedürfnisse zugestanden werden, besteht die Rolle des Vaters zunächst nur in der Sorge um das Wohlbefinden der Mutter, darüber hinaus gibt es „über die Vater-Kind-Beziehung nur wenig zu sagen“ (Bowlby 1972 [1953]: 13). Durchschlagende Wichtigkeit bekommt der Vater jedoch in dem Moment, wo er nicht mal in der Peripherie des Familienlebens auftaucht, also bei Ein-Elter-Familien. Bowlby kam durch die Auswertung psychologischer Untersuchungen Alleinerziehender zu dem Schluss, „dass es in den westlichen Ländern emotional gestörte Männer und Frauen sind, die in gesellschaftlich unannehmbarer Weise uneheliche Kinder hervorbringen. Darüber hinaus halten sie den gesellschaftlichen Prozess in Gang, von dem bereits gesagt wurde, dass er schwerwiegende Konsequenzen hat, indem eine Generation vernachlässigter Kinder zu Eltern werden, die eine nächste Generation vernachlässigter Kinder hervorbringen werden“ (Bowlby 1972 [1953]: 104).
Es sei allerdings angemerkt, dass Bowlby aus dieser abwertenden Aussage die Notwendigkeit materieller und psychologischer Hilfen für Ein-Elter-Familien hergeleitet hat (ebd.: 110). Schütze fasst kritisch zusammen, dass in den Theorien von Bowlby und Winnicott das Verhältnis zwischen Müttern und ihren Kindern zu einem gegenseitiges Machtverhältnis wird. Da Abweichungen von vollständiger Hingabe an die Mutterschaft als schädlich für die kindliche Entwicklung angesehen werden, wird das kindliche Verhalten zum Prüfstein wahrer Mütterlichkeit (vgl.: Schütze 1986: 91). Nun ist es aber keineswegs so, dass eine Mutter ein gutes Gewissen haben kann, wenn sie sich voll und ganz ihrem Kind widmet, denn damit setzt sie sich dem Verdacht der Überfürsorglichkeit aus. So wurden von Spitz Dreimonatskoliken von Säuglingen mit übergroßer Aufmerksamkeit der Mütter erklärt, welche wiederum unbewussten Feindseligkeiten gegen das Kind entspringe (Spitz 1969, diskutiert in: Schütze 1986: 93ff.). So wandeln die Mütter „auf
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einem schmalen Grat zwischen Vernachlässigung und Überfürsorglichkeit“ (Schütze 1986: 95). Im Zuge der fortschreitenden Psychologisierung wird die ehemals als irrational konstruierte Mutterliebe zunehmend funktionalisiert (ebd.: 96). In den Theorien von Spitz, Bowlby und Winnicott finden wir von psychologischer Seite die Ausformulierung des mütterlichen Liebesideals, das in der fürsorgerischen Tätigkeit an sich Erfüllung findet, ohne materieller oder anders gearteter gesellschaftlicher Anerkennung zu bedürfen. Erwerbstätige Mütter und damit viele Alleinerziehende geraten durch die psychologisch prophezeiten negativen Folgen mütterlicher Erwerbstätigkeit in Verunsicherung und Stress, ein emotionaler Zustand, der in einem Prozess von ‚Self-fulfilling Prophecy’ ungünstige Folgen für ihre Kinder haben kann.75 In den 50er bis 80er Jahren wurde den Vätern in der BRD nahezu unhinterfragt die Rolle der Familienernährer zugeschrieben. Der zum Nachteil der Frauen geschlechtsspezifisch segregierte Arbeitsmarkt, in dem Frauen in schlechter bezahlten Berufen mit geringeren Aufstiegschancen arbeiteten, war und ist im Prozess der Konstruktion und Aufrechterhaltung der innerfamilialen Rollenaufteilung ein tragendes Element. Es gab jedoch auch Gegenbewegungen zu diesem traditionellen Diskurs zu Geschlecht und Familie, deren Bedeutung und Einfluss mit der Zeit zunahm. Dem feministischen Diskurs sowie der beginnenden Väterforschung kommen hier maßgebliche Bedeutungen zu. So versuchte Landolf bereits 1968 eine Neubeschreibung väterlicher Funktionen, setzte sich kritisch mit den oben beschriebenen Rollenzuweisungen auseinander und konstatierte optimistisch das Entstehen einer neuen Väterlichkeit (Landolf 1968). Diesem mutigen Vorstoß folgten in den 80er Jahren einzelne soziologische und psychologische Publikationen, durch die auf Väter, die sich um ein verstärktes Engagement in der Familie bemühten, positive gesellschaftliche Aufmerksamkeit gelenkt wurde (vgl. zusammenfassend: Walter 2002: 24ff.). Die parallel zur Debatte zu konstatierenden, zunächst vorsichtigen und schließlich immer deutlicher werdenden sich wandelnden väterlichen Wünsche weg von der alleinigen Konzentration auf Erwerbsarbeit und hin zur Teilhabe an der innerfamilialen Verantwortung, fanden ihre Grenzen an der Institution Arbeitmarkt (vgl.: Born und Krüger 2002), die sich einer Veränderung in Richtung mehr Familienfreundlichkeit nachhaltig verweigerte. Während Teile des feministischen Diskurses sich frühzeitig mit den speziellen und heterogenen Lebensbedingungen von Frauen auseinandersetzten 75
Eine Zusammenfassung der feministischen Kritik an den Theorien von Spitz und Bowlby findet sich in Lehr, 1982, S. 108ff..
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und hierarchische Strukturen zwischen den Geschlechtern in Beruf und Familie analysierten und kritisierten, sich also mit Herrschaft und Dominanz basierend auf der Forderung nach gleichen Chancen für alle auseinandersetzten, beharrten andere Teile des feministischen Diskurses auf der wesenhaften Verschiedenheit der Geschlechter, wenngleich die traditionellen dichotomen Zuschreibungen nun positiv zu Gunsten des Weiblichen uminterpretiert wurden (z. B.: Ostner 1987). Auch wenn festzuhalten ist, dass die beharrliche Rekonstruktion dichotomer Geschlechterbilder von Teilen des feministischen Diskurses reproduziert und stabilisiert wurde,76 soll dem zu diesem Aspekt kritischen Teil des Diskurses als Kontrapunkt zum gesellschaftlichen Mainstream größere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Eine wichtige Stellung bei der Analyse und Kritik der Zuschreibungen zu Mütterlichkeit und Väterlichkeit kommt Lehr77 zu, die dieses Thema systematisch unter verschiedenen Gesichtspunkten bearbeitet hat und hier daher beispielhaft für einen Teil der feministischen Kritik angeführt wird: So kritisierte sie schon früh in einer Studie zur Bedeutung der Familie im Sozialisationsprozess die auf Vorurteilen beruhenden Einstellungen78, die mütterlicher Erwerbstätigkeit negative Folgen für das Kindeswohl zuschreiben (Lehr 1970). Auch die Vernachlässigung des Vaters in der Sozialisationsforschung und generalisierende Familienbilder wurden von Lehr kritisiert (Lehr 1974): „es gibt weder die Vollfamilie noch die unvollständige Familie. Je nach Gründen der Vaterabwesenheit, je nach Reaktion der Mutter auf diese Vaterabwesenheit, die von der gegebenen Situation und der Einstellung der Umwelt abhängig ist, und je nach Alter, Geschlecht und Persönlichkeit des Kindes wird diese Vaterabwesenheit unterschiedliche Sozialisationseffekte nach sich ziehen. Das eindimensionale UrsacheFolge-Denken wie: diese oder jene Fehlentwicklung ist Folge der Berufstätigkeit oder ist Folge des fehlenden Vaters, ist unzulässig.“ (Lehr 1979: 27)
Der Diskurs um mütterliche Berufstätigkeit in den 70er Jahren zeigt, wie groß die Vorurteile gegen und Angriffe auf erwerbstätige Mütter zu dieser Zeit im Westen im Unterschied zu und in der Abgrenzung vom Osten Deutschlands waren. Es herrschte erheblicher Rechtfertigungsdruck für erwerbstätige Mütter (vgl.: Lehr 1982). Dichotome Zuschreibungen zu Mütterlichkeit und Väterlichkeit wurden in der deutschen feministischen Theorie der 70er und 80er Jahre zwar nicht als solche kritisiert, die Forderungen nach egalitärer Arbeitsaufteilung 76
Eine beharrliche Kritikerin fand der Differenzansatz bereits frühzeitig in A. Knapp (vgl. z. B. Knapp 1990. 77 Die Psychologin und CDU- Politikerin U. Lehr bekleidete von 1988 bis Anfang 1991 das Amt als Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. 78 Welche teilweise mit der oben beschriebenen Bindungstheorie nach Bowlby begründet werden.
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basierten jedoch auf der Überzeugung, dass beide Geschlechter über in Familie wie Erwerbsarbeit benötigte Fähigkeiten verfügen. Mitte der 70er und Mitte der 80er Jahre erschienen zwei repräsentative Studien über Einstellungen von Männern zu Beruf, Familie und Partnerschaft.79 In der Zusammenfassung der Ergebnisse der ersten Studie80 wurde konstatiert, dass die Forderungen der Frauen nach egalitärer Verteilung von Haus-, Familienund Berufsarbeit von den Männern schlichtweg ignoriert wurden. Die Dichotomie der Geschlechter und die aus dieser Logik folgende Aufteilung von gesellschaftlicher Arbeit sollte nach Meinung der Männer dieser Zeit nicht in Frage gestellt werden. Pross beschrieb die Frauen- und Männerbilder der 70er Jahre folgendermaßen: „So wie die meisten Männer sie zeichnen, sind die sozialen Muster der Beziehungen zwischen den Geschlechtern im wesentlichen problemlos: Der Mann ist stärker, er will den Beruf und will Familienernährer sein; die Frau ist schwächer, sie will ihre heutige Familienrolle und nur zeitweise einen dann auch noch anspruchslosen Beruf, und sie will zum Mann aufschauen können. Nach diesem Situationsverständnis sind Männer und Frauen einander so zugeordnet, daß sie sich in prinzipiell harmonischer Weise ergänzen. Eine solche Ordnung in Frage zu stellen, gilt als schlechte Störung.“ (Pross 1978: 173)
Während in den 70er Jahren von Seiten der Männer also an der traditionellen Ordnung gegen die Wünsche vieler Frauen festgehalten wurde, war in der zehn Jahre später folgenden Studie (Metz-Göckel und Müller 1986) ein heterogeneres Bild festzustellen. Grundsätzlich ließ sich nun die Tendenz konstatieren, dass die beruflichen Interessen von Frauen nun von den Männern akzeptiert wurden, solange keine Abstriche am eigenen beruflichen Engagement zu erwarten waren. Das Mütterbild war nach wie vor ideologisch überhöht – die Mütter wurden als Alleinverantwortliche für die Kleinkindbetreuung gesehen, denen man nun aber hier und da ein bisschen half. Zusammenfassend wurde festgestellt: „Die Männer sind in ihren Reaktionen geteilt. Wofür sie mit ihrem Kopf eintreten, setzen sie in die Tat nicht um.“ (Metz-Göckel und Müller 1986: 18) Die bestehenden Widerstände gegen die anstehende Veränderung hatten ihre Ursachen sowohl auf subjektiver als auch auf struktureller Ebene: Einer weit verbreiteten Resistenz gegenüber Hausarbeit und einem familienunfreundlichen Arbeitsmarkt. Während also in die Einstellungen der Subjekte um innerfamiliale Rollenverteilung innerhalb der heterosexuellen Zwei-Eltern-Familie langsam 79 Diese von der Zeitschrift „Brigitte“ in Auftrag gegebenen Studien fanden aufgrund der großen Verbreitung dieser Zeitschrift und dem für viele Frauen drängenden Thema der Rolle des Mannes weitreichende Rezeption. 80 Datenerhebung: 1976, Veröffentlichung: 1978.
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Bewegung kam, waren die subjektiven Einstellungen gegenüber Mütterlichkeit und Väterlichkeit in Ein-Elter-Familien weiterhin von dichotomen Geschlechterbildern geprägt: Eine Hamburger Untersuchung der Einstellungen gegenüber Alleinerziehenden (Napp-Peters 1983) ergab, dass „die Ein-Eltern-Familie an dem traditionellen Muster der ‚Normalfamilie’ gemessen wird und überwiegend die Auffassung besteht, dass die Alleinerziehenden nicht in der Lage sind, alle Bedürfnisse der Kinder zu befriedigen. Den alleinerziehenden Mutter-Familien mangelt es an Vaterautorität, den alleinerziehenden Vater-Familien an Emotionalität – so die Vorstellung vieler Interviewter. Diese 1983 durchgeführte Befragung zeigt, wenn auch regional begrenzt, dass in der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung noch Vorstellungen von einer sozialen und psychischen Defizitsituation in Ein-Eltern-Familien bestehen.“ (Nave-Herz und Krüger 1992)
Hier schlugen Mütterideologie (Emotionalität) und Vaterideologie (Autorität) wiederum voll durch.
3.4.3 Diskurse zum Kindeswohl In erster Linie als Folge der Studentenbewegung und der grundsätzlichen Infragestellung von Autorität kamen Rechte von Kindern gegenüber sozialisatorischen Instanzen wie Familie und Schule zunehmend in die gesellschaftliche Diskussion. Während Versuche zur praktischen Umsetzung einer antiautoritären Erziehung auf relativ kleine Personenkreise, welche z. B. Kinderläden gründeten, beschränkt blieben, so schlug doch die Diskussion um verschiedene Erziehungsstile hohe Wellen in der gesamten Gesellschaft. Durch das 1976 formulierte „Erste Gesetz zur Ehe- und Familienrechtsreform“ wurde die elterliche Erziehungsgewalt eingeschränkt, es wurden Erziehungsleitbilder formuliert, nach denen auf die Interessen und Bedürfnisse der Kinder Rücksicht zu nehmen ist, entwürdigende Erziehungsmaßnahmen wurden verboten. Somit erfolgte eine stärkere Verrechtlichung der Familie, der Staat erhob Anspruch auf die Realisierung der durch seine Organe formulierten Leitbilder und wertete somit gleichzeitig die individuellen Rechte der Kinder auf (vgl.: Gerlach 1996: 107). In den 70er Jahren erschienen erste Studien, die besagten, die kindliche Sozialisation sei von einer Vielzahl von Faktoren abhängig und mütterliche Erwerbstätigkeit allein habe keine negativen Folgen für Kinder (z. B. Lehr 1973, diskutiert in: Sommerkorn 1988: 134). Hier deutet sich ein sozialer Wandel hinsichtlich größerer Akzeptanz der Vereinbarung von Mutterschaft und Beruf an. Allerdings blieb es bis auf weiteres bei dieser Andeutung, denn Kinderbe103
treuung wurde in der BRD zu dieser Zeit fast ausschließlich für Kinder ab drei Jahren und nur für wenige Stunden am Vormittag angeboten, und auch diese Angebote existierten noch nicht flächendeckend. Die oben beschriebene Mystifizierung von Mutterschaft zeigte nachhaltige Effekte auf Vorstellungen vom Kindeswohl. Es sind hier also gleichzeitig Prozesse sozialen Wandels und der Beharrung traditioneller Sichtweisen festzustellen. In den 60er und 70er Jahren wurden geschlechtsspezifische Ungleichheiten in der schulischen Sozialisation von Mädchen und Jungen thematisiert. Die entscheidende Maßnahme gegen diesen Zustand war die Koedukation, die Ende der 70er Jahre an einem Großteil der Schulen eingeführt war. Untersuchungsergebnisse der 80er Jahre zeigten jedoch, dass geschlechtsspezifische Nachteile für Mädchen in naturwissenschaftlichen Fächern und Mathematik weiterhin bestanden. Dieser Umstand war der Auslöser für eine zweite Koedukationsdebatte. Nahezu unerforscht blieb, wie Schüler und Schülerinnen das geschlechterdifferierende Verhalten des Lehrerpersonals wahrnehmen. Auch eine strukturierte Untersuchung von Lernmitteln auf Geschlechterstereotype erfolgte nicht (vgl. zusammenfassend: Jungwirth 1997). Durch Studentenbewegung und Emanzipation lockerten sich die Erwartungen an die Reproduktion von Geschlechterstereotypen im kindlichen Verhalten. Gleichwohl durchzogen Vorstellungen von einer ‚gesunden Geschlechtsidentität’ wie ein roter Faden die Diskurse um geschlechtsspezifische Sozialisation. Der Überblick über Geschlechter- und Familienleitbilder in den 40 Jahren nach dem zweiten Weltkrieg in der BRD zeigt beides: einen erheblichen sozialen Wandel, die Gleichberechtigung der Geschlechter wie die Sichtweisen auf Familien betreffend, und das Fortbestehen von Idealisierungen der heterosexuellen Zwei-Eltern-Familie, manifestiert in Mystifizierungen von Mutterschaft und fortgesetzten Reproduktionen von Geschlechterstereotypen. Gegenüber Ein-Elter-Familien sind Normalisierungsprozesse auszumachen, wenngleich eine durchgehende gesellschaftliche Anerkennung dieser Lebensform noch nicht festgestellt werden kann. Auch Müttererwerbstätigkeit erfährt einen Prozess der Normalisierung. Sie bleibt gleichzeitig Gegenstand heftiger Debatten, während Vätererwerbstätigkeit keinen Diskussionsgegenstand darstellt – ebenso wenig kommen Vaterfamilien in den Blick. Das Leitbild innerfamilialer Arbeitsteilungen wandelt sich vom männlichen Haupternährer und Hausfrau zum männlichen Haupternährer und Hausfrau/Zuverdienerin. Der Vater verliert durch juristische Änderungen einen Teil seiner Machtstellung in der Familie, gleichzeitig wird die Bedeutung des Vaters im psychologischen Diskurs abgestützt (Mitscherlich). Wachsende Kritik an der fortdauernden Ideologisierung von Familie und Geschlechterungleichheiten wird in feministischen Theorien geäußert. 104
Die Expansion des Bildungssystems stellte einen entscheidenden Faktor für die zunehmende Gleichberechtigung von Mädchen und Frauen dar, wenngleich das geschlechtsspezifisch segregierte Ausbildungssystem Geschlechterungleichheiten reproduzierte. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass sich in der BRD im Zeitraum bis 1989 von Institutionen und Leitbildern her Spielräume für die Konstruktion von Geschlecht und Familie eröffnen, die jedoch weiterhin durch strukturelle, diskursive und interaktive Aspekte begrenzt werden.
3.5 Nach der Vereinigung: 1989 ff. In dem nun folgenden Teilkapitel wird auf etwas andere Quellen als in den beiden vorangegangen zurückgegriffen. Selbst die bruchstückhafte Rezeption von Zitaten aus dem politischen Diskurs hätte anlässlich der quantitativen Zunahme von Stellungnahmen zum Thema Familie den hier vorgegebenen Rahmen gesprengt. Stattdessen wird größerer Wert auf die Darstellung der sozialstrukturellen Hintergründe familialen Lebens gelegt, da diese die Lebensbedingungen der im empirischen Teil dieser Arbeit befragten Alleinerziehenden vom Zeitkontext her bereits mitbestimmen. Besondere Bedeutung erlangt hier die Diskussion um institutionelle Kinderbetreuung. Am Für und Wider gegenüber der Ganztagsbetreuung besonders von kleinen Kindern machen sich auch heute Familienbilder fest, wobei mit der Befürwortung von Ganztagsbetreuung eine Relativierung der Bedeutung von Familie und damit gleichzeitig eine Entmystifizierung der Mutterrolle einhergeht. Die Diskussionen um die PISA – Ergebnisse spielen hier eine entscheidende Rolle, da sie zu einer breiteren öffentlichen Zustimmung zu Ganztagsschulen wie auch ausgedehnten Kinderbetreuungszeiten für Kinder im Kindergarten- und Vorschulalter führten und damit den staatlichen Institutionen größere Verantwortung für die Bildung der Kinder zusprechen. Diese Diskussionen haben besondere Bedeutung für Alleinerziehende, da sie in stärkerem Maße als Zwei-Eltern-Familien auf institutionelle Kinderbetreuung angewiesen sind, wenn sie erwerbstätig sein wollen. Inwieweit die Diskussionen um Familie in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten zu einer Normalisierung von Ein-Elter-Familien geführt haben, wird in einem an Kap. 3.4.1 anschließenden Exkurs beleuchtet. Wie bereits in den vorangegangen Teilkapiteln (3.2 und 3.3) wird auch in dem nun folgenden den Aspekten ‚Väterlichkeit und Mütterlichkeit’ so wie dem ‚Kindeswohl’ besondere Aufmerksamkeit zuteil (3.5.2 und 3.5.3). Dabei wird das Unterkapitel zu Mütterlichkeit und Väterlichkeit (3.5.2) durch einen Exkurs 105
zu „Psychoanalyse und Geschlecht“ ergänzt, da die moderne Diskussion um Mütterlichkeit und Väterlichkeit - insbesondere was die Mütterlichkeit betrifft in starkem Maße von Begriffen und Positionen aus psychoanalytischen Diskursen bestimmt ist. Weiterhin ist anzunehmen, dass sich die Diskurse der Alleinerziehendenforschung, der ‚neuen-Väter’ und psychoanalytischer Theorien in der Beratungs- und Betreuungspraxis von Pädagogen, Psychologen und Sozialarbeitern bemerkbar machen und auf diesem Wege Eingang in die Selbstbilder Alleinerziehender finden.
3.5.1 Transformation und Modernisierung Die Zeit nach dem Fall der Mauer, speziell das Jahr vom Herbst 1989 bis zum 3.10.1990 (Inkrafttreten des Einigungsvertrags) war eine Zeit des Umbruchs, der Veränderung, in der zunächst vieles möglich schien: Die autonome Frauenbewegung der DDR versuchte, emanzipative Errungenschaften81 aus der DDR-Zeit in den ‚Vereinigungsprozess’ hinein zu retten. Dies gelang in den 90er Jahren mit dem weitgehenden Erhalt der Kinderbetreuungseinrichtungen in Ostdeutschland. Mit dem Ende der DDR-Gesellschaft und der Umwandlung des Gebietes der ehemaligen DDR in die ‚neuen Bundesländer’ sahen sich die dort lebenden Menschen einem Wohlfahrtsstaat gegenüber, der sich selbst in einem Prozess des wirtschaftlichen und sozialpolitischen Wandels befand und bis heute befindet. Im Zusammenhang mit Globalisierungsprozessen und der Ausbreitung neoliberaler Wirtschaftspolitik erodierte das so genannte Normalarbeitsverhältnis zunehmend. Die Zahl prekärer Beschäftigungsverhältnisse in Form von Leiharbeit, Ein-Euro-Jobs etc. stieg an, während tarifliche Absicherung abnahm. Die Flexibilisierung von Beschäftigungsverhältnissen und Arbeitszeiten brachte es mit sich, dass die Erwerbsarbeit eine immer stärkere Dominanz gegenüber der privaten Lebenssphäre erlangte. Hohe Arbeitslosenzahlen und der demographische Wandel waren Auslöser für den Umbau der sozialen Sicherungssysteme des Wohlfahrtsstaates. Dieser Umbau bedeutete für viele Hilfenehmer einen Zuwachs an Zumutungen und Verunsicherungen. Nimmt man die genannten tief greifenden Veränderungen in den Blick, so wird deutlich, dass die BürgerInnen der neuen Bundesländer einem doppelten Transformationsprozess ausgesetzt (Dölling 2005) waren. Die Einführung der Marktwirtschaft82 und die dadurch ausgelöste flächendeckende Schließung der 81
Z. B. die flächendeckende Ganztagsbetreuung und das Abtreibungsrecht. Die Ausbreitung des kapitalistischen Wirtschaftssystems rückte Werbung und Konsum in den Vordergrund und hatte so u. a. Konsequenzen für die Wahrnehmung weiblicher Körperlichkeit: „Der 82
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DDR- Industrieanlagen durch die Treuhandgesellschaft in Ostdeutschland führte zur schnellen Ausbreitung von Arbeitslosigkeit – eine Erfahrung, die für die Menschen im Osten völlig neu war. Frauen waren von dem Verlust des Arbeitsplatzes öfter betroffen als Männer: „Im März 1991 stellten Frauen schon 55 Prozent aller Arbeitslosen, und bis Anfang 1993 wuchs diese Quote auf rund zwei Drittel, in manchen Regionen gar auf 70 Prozent und mehr.“ (Helwig 1993: 9)
Eine Befragung Ostberliner Frauen nach der Wende zeigte, wie widersprüchlich die Veränderungen erlebt wurden: Einerseits als Möglichkeit größerer Wahl- und Bewegungsfreiheit und materiellen Zugewinns, andererseits als psychische Belastung durch den Druck auf dem Arbeitsmarkt (Drauschke und Stolzenburg 1995: 47ff., 64ff.). Die kollektive Transition der DDR BürgerInnen nach 1989 in die BRD brachte einen ebenfalls kollektiven Verlust der Amortisierungschancen83 von Qualifikationen mit sich, von dem Frauen besonders getroffen waren.84 (vgl. Brand 2002: 21) „Im Transformationsprozess gerieten sowohl die Stellung der Frau auf dem Arbeitsmarkt“ wie die Voraussetzungen für die „Vereinbarkeit von Beruf und Familie von Anfang an massiv unter Druck“ (Brand und Hammer 2002:17). Die materielle Lage allein erziehender Frauen verschlechterte sich mit der Wende (Drauschke und Stolzenburg 1995: 62). Zu den materiellen Einschränkungen kam die Sorge um die eigene und die Zukunft der Kinder. „Neu ist die existentielle Angst.“ (Drauschke und Stolzenburg 1995: 80). Zwar brachten Drauschke und Stolzenburg zufolge viele der allein erziehenden Frauen in den neuen Ländern aus ihrer Alltagsbewältigung in DDRZeiten Fähigkeiten sparsamen Haushaltens mit (ebd.), die zunächst unbekannte und - Arbeitsmarkt- wie wohlfahrtsstaatliche Hilfeleistungen betreffend komplizierte Situation nach der Wende bedeutet jedoch häufig eine Übererruptive Aufbruch der westlichen Warenwelt in unsere sozialistische Mangelwirtschaft ist zugleich ein Feldzug der Bilder, Symbole und Fetische des Konsums.“ (Merkel 1990: 7) Es sind andere Frauenbilder, aufgeladen mit den Normen sexueller Attraktivität und Jugendlichkeit, mit denen sich die Frauen der DDR plötzlich und unentrinnbar konfrontiert sehen. Die dadurch bewirkten Mechanismen der Präsentation und Veräußerlichung, die von jeder Einzelnen verlangen, „das Einverständnis mit der erzwungenen Unterordnung auch noch zur Schau zu stellen“ (Merkel 1990: 8), sind längst Gewohnheit für Frauen im Westen, für die Ostfrauen jedoch zunächst ein Schock. 83 Mit Amortisierungschancen werden hier die Möglichkeiten bezeichnet, Kosten, Zeit und Anstrengungen für Qualifikationen in einem entsprechend entlohnten Arbeitsplatz mit Aufstiegsmöglichkeiten einsetzen zu können. 84 Die geringen Amortisierungschancen weiblicher Qualifikationen sind bis heute im Westen Deutschlands als Folge partnerschaftlicher Aushandlungsprozesse der Aufteilung von Familien- und Berufsarbeit, sowie institutionell schlechter Vereinbarungsbedingungen Teil weiblicher Lebensverläufe (Born und Krüger 2001; Krüger 2001a).
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forderung. Nichtsdestotrotz ist die Lebensform des Alleinerziehens bis heute in den neuen Bundesländern stärker verbreitet als in den alten Bundesländern: Im Jahr 2004 sind in Westdeutschland 7,0 % der Bevölkerung über 18 Jahren allein erziehend (davon 1,2 % Männer). In Ostdeutschland (einschl. Ostberlin) sind es 8,8% (davon 1,3 % Männer) (vgl.: DJI 2005: 234). Schaut man sich den Anteil Alleinerziehender an familialen Lebensformen an, ergeben sich deutlichere Bilder85 der starken Verbreitung von Ein-Elter-Familien wie auch der Unterschiede in West und Ost:86:
Tabelle 1:
Eltern-Kind-Gemeinschaften in West- und Ostdeutschland 2004 (in %)
Lebensformen Verheiratete Eltern Nichteheliche Lebensgemeinschaften Alleinerziehende ohne Lebenspartner/in Zusammen
West N = 10.211.000 76,2
Ost N = 2.312.000 63,5
4,8
12,3
19,0
24,2
100,0
100,0
Datenbasis: Mikrozensus 2004 Quelle: Statistisches Bundesamt, Sonderauswertung
Die Ein-Elter-Familie im Osten hat aber auch einen stärkeren Übergangscharakter. Es kann festgestellt werden, dass die vorübergehende Ein-Elterschaft „zum normalen Bestandteil ostdeutscher Frauen-Biographien geworden ist“ (ebd.). Die größere Verbreitung der Lebensform Alleinerziehend in Ostdeutschland scheint vor allem durch die „Nachwirkungen der spezifischen Situation der Alleinerziehenden in der DDR“ (Schneider et al. 2001: 12) verursacht worden zu sein. Bezüglich der Unterschiede zwischen Ost und West sind auch die folgenden Erkenntnisse aus einer Untersuchung von Schneider et al. zu Unterschieden im Belastungserleben von Frauen interessant:
85 86
Die Tabelle wurde leicht verändert übernommen aus: (DJI 2005: 250). Hier sind die ostdeutschen Bundesländer einschließlich Ostberlins erfasst.
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„Berufstätige Frauen aus dem Westen fühlen sich deutlich stärker durch die Kindererziehung, die Organisation der Kinderbetreuung, die Alleinverantwortung sowie die Rollenvielfalt belastet. Zum anderen berichten sie von einer deutlich höheren Gesamtbelastung als die berufstätigen Frauen in den neuen Bundesländern.“ (Schneider et al. 2001: 300)
Der hier beschriebene Unterschied im Belastungserleben ist umso beeindruckender, als allein erziehende Frauen im Osten fast durchgängig Vollzeit erwerbstätig sind – im Unterschied zu westdeutschen Alleinerziehenden, von denen nur etwa die Hälfte einer Vollzeitbeschäftigung nachgeht. „Ostdeutsche Alleinerziehende sind also in einem deutlich höheren Umfang berufstätig, dennoch beschreiben sie sich als geringer belastet“ (ebd.). Diese Unterschiede in Belastung und Bewertung der Belastung lassen sich im Wesentlichen mit zwei Faktoren in Verbindung bringen: Erstens mit den nach wie vor bestehenden Unterschieden institutioneller Kinderbetreuung in den alten und den neuen Bundesländern, und zweitens mit den bis heute divergierenden Mutterleitbilder in Ost und West (s. u.). Auch wenn von den Frauen in Ostdeutschland die DDR als Ganzes kaum zurückgewünscht wird, bedauern viele den Verlust sozialer Sicherheiten. Je nach konkreter Lebenslage führen die Veränderungen zu Resignation oder verstärkten Aktivitäten. Dabei lässt sich die beharrliche Orientierung auf Erwerbstätigkeit ostdeutscher Alleinerziehender auch daran erkennen, dass entgegen den im Westen konstant reproduzierten Vorurteilen über eine Ostdeutsche ‚NehmerHaltung’ die Inanspruchnahme staatlicher Unterstützung nur im Notfall akzeptiert wird (Drauschke und Stolzenburg 1995: 18). Die massiven wirtschaftlichen und politischen Unsicherheiten nach dem Zusammenbruch der DDR 1989 schlugen sich jedoch massiv in sinkenden Geburtenraten nieder: Während in der DDR die Geburtenziffern in den 80er Jahren noch bei 1,7 je Frau lagen, sanken sie bis zum Tiefstand in den Jahren 1993/94 auf 0,77 Kinder pro Frau. Somit fielen die Geburtenziffern in Ostdeutschland von ihrem im Vergleich zur BRD ehemals relativ hohen Niveau noch unter die westdeutsche Geburtenrate (Dornseiff und Sackmann 2003). Die im Jahre 2000 zu verzeichnenden 1,21 Kinder je Frau bedeuten zwar einen Wiederanstieg der Zahlen, eine Diskrepanz zwischen West und Ost bleibt jedoch bestehen. Auch die signifikante Verschiebung des Timings der Familiengründung im Lebensalter nach hinten in Ostdeutschland lässt „auf eine Angleichung an ähnliche Entwicklungen in Westdeutschland schließen“ (Dornseiff und Sackmann 2003 :315). Während Frauen in der DDR ihre Kinder häufig im Alter von Anfang zwanzig bekamen, liegt der heutige Altersdurchschnitt von Erstgebärenden in Ostdeutschland bei dreißig Jahren. Die Ergebnisse einer Unter109
suchung des Timings im Lebensverlauf von Müttern in Bezug auf Erst- und Zweitgeburten und die Länge der Erwerbsunterbrechung bzw. Teilzeitarbeit oder Vollzeit- Familientätigkeit zeigt allerdings anhaltende Unterschiede für Ost- und Westdeutschland: Während in Westdeutschland die Familienzeiten von Frauen oftmals länger ausgedehnt werden als die 36 Monate Elternzeit, bzw. zweite Kinder häufig bereits in dieser Zeit zur Welt kommen, gibt es in den Jahren seit 1991 für Ostdeutschland sowohl Anzeichen für einen Wandel als auch für Persistenz. Die Familienzeiten ostdeutscher Mütter sind zwar deutlich länger als vor 1991, im Vergleich zu Westdeutschland fangen die Mütter jedoch erheblich früher wieder an zu arbeiten und wesentlich mehr von ihnen arbeiten Vollzeit (Dornseiff und Sackmann 2003). Globalisierung und Modernisierungsprozesse bringen auch für die aus den alten Bundesländern stammenden Menschen neue Erfahrungen mit sich: Die oben beschriebene Flexibilisierung von Arbeitszeiten und die zunehmende Prekarisierung von Beschäftigungsverhältnissen trifft Alleinerziehende in besonderem Maße, zumal in den 90er Jahren die Ganztagsbetreuung im Westen nicht nennenswert ausgebaut wird. In den neuen Bundesländern werden Kinderbetreuungseinrichtungen, vor allem im ländlichen Raum, teilweise abgebaut. Wie bereits oben angedeutet, ist der soziale Wandel wesentlich mit dem Faktor Zeit verknüpft. Arbeits- und Produktionsprozesse sowie Entwicklungen von Kindheit, Jugend und alltäglich gelebter Elternschaft sind steigendem Zeitdruck ausgesetzt. Dies birgt besondere Probleme für diejenigen, die Erwerbsarbeit und Familienaufgaben allein bewältigen müssen. Elternschaft wird zunehmend nicht die ganze Kindheit hindurch im gemeinsamen Haushalt oder überhaupt gemeinsam gelebt. Diese Entwicklung ist für die BürgerInnen der alten Bundesländer einschneidender als für jene mit DDR-Herkunft: Im Westen ist Elternschaft weiterhin weitaus enger mit der Institution der Ehe verknüpft als in Ostdeutschland (Dornseiff und Sackmann 2003). Die Entkoppelung von Ehe und Elternschaft war dort erheblich weiter fortgeschritten, die Anzahl nichtehelicher Geburten und damit auch der Alleinerziehenden erheblich höher (s. o.). Die wachsende gesellschaftliche Toleranz gegenüber Lebensformen, die von der weiterhin als Normalitätsmuster fungierenden Zwei-Eltern-Familie abweichen, bringt sowohl die Möglichkeit als auch den Zwang zur Wahl mit sich. In den alten Bundesländern lässt sich trotzdem weiterhin eine stärkere Orientierung von Elternschaft und Mutterschaft an der Norm der bürgerlichen Kleinfamilie konstatieren als in Ostdeutschland (Alt 2001: 16-19). Es kann zusammenfassend festgehalten werden, dass sich nach 1989 die westdeutsche (im Wandel begriffene) Institutionenordnung im Osten ausbreitete,
110
während die Unterschiedle der Familienleitbilder in West- und Ostdeutschland teilweise weiter bestanden (vgl.: Schaeper und Falk 2001 :181)87. Von ostdeutschen Frauen wurden gleichwohl Handlungsräume genutzt, die ihnen in der DDR verwehrt waren: Anfang der 90er Jahre war Teilzeitarbeit das von ostdeutschen Müttern präferierte Arbeitszeitmodell: „Die Frauen wollen mehr Zeit gewinnen für die Familie, andererseits aber ihre Berufstätigkeit nicht völlig zugunsten der Kindererziehung aufgeben. Diese Auffassung vertreten ca. 42% der Frauen solange ein Kleinkind und 58% solange ein Kindergartenkind im Haushalt ist, bei Schulkindern in der Familie sind es 49%. Der Trend geht hier mit einem Drittel bereits wieder in Richtung Vollbeschäftigung. Damit wird deutlich, daß die gelebte Realität der Vollbeschäftigung von Müttern mit Vorschulkindern in der DDR nicht ihren Wünschen, sondern gesellschaftlichen Strukturen und Zwängen entsprach.“ (Höckner 1995: 345)
Um die Unterschiede zwischen Ost und West zu fassen, muss die Kategorie Teilzeitarbeit differenziert werden: Kreckel/Schenk schlagen die Unterscheidung in die Rubriken ‚reduzierte Stundenzahl’, ‚Halbzeitarbeit’ und ‚Arbeitsverhältnisse, die unter 20 Wochenstunden liegen’ vor. Anhand dieser Differenzierung lässt sich aufzeigen, dass es sich bei der Teilzeiterwerbstätigkeit bei Frauen im Osten in der Regel um reduzierte Stundenzahl handelt (um die 30 Stunden), während Teilzeitarbeit bei Frauen im Westen überwiegend in 20 oder weniger Stunden besteht (Kreckel und Schenk 2001). Mitte der 90er Jahre sind die Einstellungen zur Teilzeitarbeit im Westen weitaus positiver als im Osten, die überwiegende Mehrheit der erwerbstätigen Frauen in Ostdeutschland zieht nun eine Vollzeitstelle einer wie auch immer reduzierten Stundenzahl vor. Dies entspricht auch den tatsächlichen Arbeitsverhältnissen, 1995 arbeiten 67% aller erwerbstätigen Frauen im Osten 40 und mehr Stunden wöchentlich, im Westen sind es nur 34% - bei den Teilzeitarbeitsverhältnissen sind die Verhältnisse nahezu umgekehrt (ebd.: 169). Die Entscheidung für Teilzeitarbeit bringt allerdings neben aktuellen materiellen Einschränkungen auch eine schlechtere Altersabsicherung, sowie geringe berufliche Aufstiegschancen mit sich. Zahlen zur Müttererwerbstätigkeit zeigen Parallelen zur Frauenerwerbstätigkeit. Die Vollzeiterwerbstätigkeit von Müttern sinkt in den 90er Jahren in Ostdeutschland zwar von 60,1 % im Jahr 1991 auf 47,9 %, im Jahr 2002 ab, liegt damit jedoch immer noch weit über der Vollzeiterwerbstätigkeit von Müttern im Westen, welche im Jahr 2002 bei 15,6 % liegt (Geisler und Kreyenfeld 2005:
87 Schaeper und Falk untersuchen Geschlechterarrangements und Geschlechterordnung in Bezug auf ‚cultural lags’ und ‚structural lags’.
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17). Somit sind auch zehn Jahre nach der Wende noch erhebliche Unterschiede zwischen Ost und West festzustellen. Tabelle 2:
Vollzeit Teilzeit geringfügig erwerbslos Nichterwerbsperson
Müttererwerbstätigkeit Ostdeutschland 1991 1996 2002 60,1 58,1 47,9 7,8 7,6 9,3 0,8 1,4 3,6 10,3 16,8 15,6 21,0 16,2 23,6
Westdeutschland 1991 1996 2002 18,5 16,1 15,6 18,5 18,3 21,2 7,0 9,9 14,6 3,1 3,8 3,8 52,9 51,8 44,9
Deutschland 1991 1996 29,1 24,6 15,8 16,2 5,4 8,2 4,9 6,4 44,7 44,6
2002 20,4 19,4 12,9 5,6 41,7
Vollzeiterwerbstätigkeit>=30 h/Woche; Teilzeiterwerbstätigkeit: 15-29 h/Woche; geringfügige Beschäftigung: