Jörg Hagedorn · Verena Schurt · Corinna Steber Wiebke Waburg (Hrsg.) Ethnizität, Geschlecht, Familie und Schule
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Jörg Hagedorn · Verena Schurt · Corinna Steber Wiebke Waburg (Hrsg.) Ethnizität, Geschlecht, Familie und Schule
Jörg Hagedorn Verena Schurt · Corinna Steber Wiebke Waburg (Hrsg.)
Ethnizität, Geschlecht, Familie und Schule Heterogenität als erziehungswissenschaftliche Herausforderung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Stefanie Laux VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16856-2
Festschrift für Leonie Herwartz-Emden
Grußwort
Tempora mutantur … – Ich denke gerne zurück an die Jahre mit Leonie Herwartz-Emden an unserem Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS), das wir Anfang der 1990er Jahre an der Universität Osnabrück gemeinsam aus der Taufe hoben. Leonie war, als anfangs einzige Frau an Bord, Mitbegründerin des IMIS. Sie hatte damals in der Forschungslandschaft schon markante und in der internationalen Fachöffentlichkeit vielbeachtete Spuren hinterlassen. Sie war und blieb eine kritische, bei Bedarf auch streitbare interdisziplinäre Querdenkerin mit einem erfrischenden Desinteresse an unnötigen Kompromissen. Heute blickt sie selber auf eine große Zahl von Schülerinnen und Schülern, die ihrerseits bereits vielerlei Forschungsspuren hinterlassen haben. Ich freue mich, zu denen zählen zu dürfen, die seinerzeit ein Stück weit dazu beitragen durften, Leonie den weiteren wissenschaftlichen Weg zu ebnen. Dabei denke ich an ein Wort meines verstorbenen alten deutsch-amerikanischen Freundes Fritz Redlich (Harvard University), dass es für einen Wissenschaftler nichts Schöneres gebe, als durch die Last derer, die auf seinen Schultern stünden, dereinst unter den Rasen gedrückt zu werden. Nehmen wir uns damit noch etwas Zeit, um zu sehen, wie es weitergeht mit Leonie, ihren Forschungsplänen und ihrer Forschungsgruppe. Beide Daumen dafür und herzlichen Glückwunsch zum 60. Geburtstag. Prof. Dr. Klaus J. Bade, Vorsitzender des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), Berlin
Inhaltsverzeichnis
Einleitung............................................................................................................ 11 Gabriele Khan-Svik Ethnizität und Bildungserfolg – begriffsgeschichtlich und empirisch beleuchtet .................................................. 15 Hans Merkens Erfolg und Misserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund beim Spracherwerb in der Grundschule....................................................................... 33 Cornelia Braun & Volker Mehringer Familialer Hintergrund, Übertrittsempfehlungen und Schulerfolg bei Kindern mit und ohne Migrationshintergrund ............................................................................... 55 Britta Hoffarth & Isabell Diehm Migrationskindheit erzählt – Das Sprechen über sich selbst als Aneignung von Erinnerung ........................................................................... 81 Josef Strasser & Corinna Steber Lehrerinnen und Lehrer mit Migrationshintergrund – Eine empirische Reflexion einer bildungspolitischen Forderung ........................................................................... 97 Carol Hagemann-White Geschlecht und Gewaltprävention .................................................................... 127 Eva Breitenbach Zur Bedeutung der Geschlechtszugehörigkeit für die Arbeit im Elementarbereich .................................................................. 141
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Inhaltsverzeichnis
Wiebke Waburg & Verena Schurt Interdependente Geschlechtskonstruktionen in der Mädchenschule. Ein empirisch-intersektioneller Blick auf geschlechtersegregierte Lernkontexte ............................................... 159 Manuela Westphal Gender und Heterogenität in der politischen Bildung mit eingewanderten Frauen und Männern ........................................................ 189 Hildegard Macha Geschlecht und Erziehung in Familien und die doppelte Entgrenzung ................................................................................. 217 Werner Schneider Pluralität – Heterogenität – Heterotopie? Begrifflich-theoretische Anmerkungen zur Frage nach dem Wandel von Familie ..........................................................................237 Eva Matthes Zentrale wissenschaftliche Positionen zur aktuellen Situation der Familie und ihre Widerspiegelung in Sozialkundebüchern in Deutschland – ein Werkstattbericht............................. 257 Dorothea Bender-Szymanski Vom gerechten Umgang der Schule mit religiös-weltanschaulicher Heterogenität. Ergebnisse der Durchführung einer Lehr-Lernsequenz mit Schülerinnen und Schülern......................................................................... 269 Jürgen Budde Perspektiven für heterogenitätsorientierten Unterricht durch Projektarbeit in Lernbereichen in der Sekundarstufe I ........................... 295 Eva Lang, Frauke Grittner, Cornelia Rehle & Andreas Hartinger Das Heterogenitätsverständnis von Lehrkräften im jahrgangsgemischten Unterricht der Grundschule....................................... 315
Inhaltsverzeichnis
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Markus Dresel, Gabriele Steuer & Valérie-D. Berner Zum Zusammenhang von Geschlecht, kultureller Herkunft und sozialer Herkunft mit Lernen und Leistung im Kontext von Schule und Unterricht .............................................. 333 Maria Hirschauer & Harry Kullmann Lehrerprofessionalität im Zeichen von Heterogenität – Stereotype bei Lehrkräften als kollegial zu bearbeitende Herausforderung .......................................................................... 351 Wassilios Baros Innovative methodische Zugänge für qualitative Forschung im interkulturellen Kontext............................................................................... 375 Jörg Hagedorn Heterogenität als erziehungswissenschaftliche Herausforderung – Über die Schwierigkeit, die Einheit in der Differenz zu denken ................................................................... 403
Autorinnen und Autoren ................................................................................... 425
Einleitung
Die vorliegende Festschrift anlässlich des 60. Geburtstages von Leonie Herwartz-Emden spannt einen Rahmen auf, der die zentralen Arbeitsfelder und Forschungsbereiche von Leonie Herwartz-Emden aufnimmt, die sich auf den Zusammenhang von Heterogenität und Bildungserfolg beziehen. Mit dieser von ihr verfolgten Forschungslinie wird auf eine große Herausforderung im internationalen wie im deutschsprachigen Raum reagiert, nämlich Modelle für das Verstehen von und den Umgang mit Vielfalt in gesellschaftlichen und institutionellen Kontexten zu finden. Heterogenität wird zunehmend mehr zum Leitbegriff der Beschreibung und Analyse eben dieser Vielheiten entlang der Dimensionen sozialer, kultureller und sprachlicher Herkunft und des Geschlechts, des Alters sowie individueller Voraussetzungen. Zum gesellschaftlichen Problem wird Heterogenität explizit dann, wenn mit Bildungs- und Sozialisationsbedingungen im Bezug auf bestimmte askriptive Merkmale (Geschlecht, Alter u.a.) systematische Ungleichheiten verbunden sind, die hinsichtlich gesellschaftlicher Teilhabe Benachteiligungen für gesellschaftliche Gruppen schaffen. Dies zeigt sich exemplarisch und sehr deutlich im Bildungssystem: Selektion findet vordergründig nicht über die eigentlichen Potentiale der Lernenden statt, sondern ist mit Merkmalen wie Geschlecht, ethnischer und/oder sozialer Herkunft u.ä. assoziiert. Dieser Befund ist insbesondere von Relevanz, weil dadurch gesellschaftliche Teilhabechancen einzelner Gesellschaftsmitglieder sowie verschiedener Bevölkerungsgruppen beschnitten werden und – gesamtgesellschaftlich betrachtet – wichtige Bildungsreserven ungenutzt bleiben. Der vorliegende Band will im Durchlauf durch die zentralen erziehungswissenschaftlich relevanten Felder Schule, Familie, Erwachsenenbildung sowie den jeweiligen Schnittmengen zwischen diesen Feldern einige Problemlagen gesellschaftlicher Wandlungsprozesse und die daraus resultierenden Konsequenzen für die Aufwachsbedingungen und Bildungschancen Heranwachsender sowie daran beteiligter Erwachsener vor dem Hintergrund erziehungswissenschaftlicher empirischer Forschung eruieren. Für das Themenfeld „Familie“ wird etwa die Frage nach dem Wandel von Familienformen, dem Einfluss der Familie auf Übertrittsempfehlungen sowie
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Einleitung
nach dem Einfluss der sozialen Herkunft resp. des sozioökonomischen Status auf den Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen gestellt und diskutiert. Für das Themenfeld Schule und Erwachsenenbildung wird der Blick auf die Selektionskriterien im Bildungssystem gerichtet. Dabei wird der Fokus auf die Dimensionen Geschlecht, kulturelle und soziale Herkunft gelegt, und es wird einerseits die Frage nach ggf. ungesehenen Bildungs- und Leistungspotenzialen von Kindern und Jugendlichen aufgeworfen und diskutiert. Andererseits werden aber auch die Anforderungen an professionelles Lehrer(innen)handeln reflektiert bzw. wird eine professionelle Lehrer(innen)bildung unter der Perspektive von Heterogenität als pädagogische Herausforderung thematisiert. In den verschiedenen erziehungswissenschaftlich relevanten Feldern wird insbesondere das Themenfeld „Migration“ in den Mittelpunkt gerückt. Hier wird die Problematik der Bildungsgerechtigkeit in der Migrationsgesellschaft in Bezug auf die Bildungssituation von Kindern und Jugendlichen (sowie Erwachsenen) mit Migrationshintergrund beleuchtet. Für das Themenfeld „Geschlecht“ steht die Frage nach den Leistungs- und Bildungserfolgen von Jungen und Mädchen aus der Perspektive einer „geschlechtergerechten Pädagogik“ im Vordergrund. Übergreifend werden in diesem Sammelband die Dimensionen Geschlecht, kulturelle und /oder soziale Herkunft – auch in Bezug auf die Intersektionalität dieser mit anderen Dimensionen sozialer Ungleichheit – in den Blick genommen. Zentral ist in diesem Zusammenhang die Frage nach Gleichheit und Anerkennung in Aufwachs- und Bildungsbedingungen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Diesem Ansatz liegt die Annahme zugrunde, dass Teilhabe- und Bildungschancen Heranwachsender entgegen homogenisierender Modelle und Konzepte und entlang der jeweiligen heterogenen kulturellen und individuellen Besonderheiten analysiert und gestaltet werden müssen. Erst ein solcher Modus anerkennt die tatsachlichen und gegebenenfalls bisher ungesehenen Leistungsfähigkeiten und Bildungspotenziale von Heranwachsenden unter Berücksichtigung und Einbezug ihrer je individuellen, kulturellen und sozialen Besonderheiten. Der Band präsentiert sich als ein besonderer ‚Fundus‘ zu den Fragen von Heterogenität im Spannungsfeld von Migration, Geschlecht, Familie und Schule und somit zu den wissenschaftlichen Gegenständen, denen Leonie HerwartzEmden ihr wissenschaftliches Arbeiten und ihre Laufbahn mit großem Engagement widmet. Es finden sich fundierte Überblicksartikel, theoretische Denkanstöße sowie empirische Arbeiten, die mittels quantitativer oder qualitativer Ansätze unterschiedliche Heterogenitätsdimensionen in den Blick nehmen. Wir hoffen, dass die Beiträge ein möglichst breites Publikum erreichen und zu vielen Diskussionen um die Frage nach der Optimierung von Bildungschancen anregen.
Einleitung
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Viele Menschen waren an der Entstehung des vorliegenden Sammelbandes beteiligt. Unser Dank gilt an erster Stelle den Autorinnen und Autoren, deren Beiträge einen unseres Erachtens bislang einzigartigen Überblick zu den Schwerpunkten Ethnizität, Geschlecht, Familie und Schule in ihrer Vernetzung bieten und die in der Diskussion um Heterogenität als erziehungswissenschaftliche Herausforderung viele und neue Akzente setzen. Herzlich bedanken wir uns bei Cornelia Braun und Volker Mehringer für die anregenden Gespräche und kritischen Kommentare zum Gesamtkonzept der Festschrift. Ein großes Dankeschön gilt schließlich den studentischen Hilfskräften Stefanie Baumann, Julia Franken, Thomas Grunau und Matthias Matuschka für die kompetente Unterstützung bei der Redigierung des Buches. Wir wünschen alles Gute! Jörg Hagedorn, Verena Schurt, Corinna Steber & Wiebke Waburg
Gabriele Khan-Svik
Ethnizität und Bildungserfolg – begriffsgeschichtlich und empirisch beleuchtet
Ziele des vorliegenden Textes sind, den Begriff ‚Ethnizität’ in seiner Vielschichtigkeit, und daher Undeutlichkeit zu beleuchten, wobei vor allem Texte aus der Ethnologie/Kulturanthropologie einfließen, und in weiterer Folge, trotz aller Bedenken hinsichtlich der Prägnanz und Verwendbarkeit des Begriffes, auf einige empirische Studien Bezug zu nehmen, die Ethnizität neben anderen Variablen als Ursache von schulischem Misserfolg sehen.
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Kurzer Abriss über die Geschichte des Begriffs ‚Ethnizität’ – ein Blick über die Grenzen der Interkulturellen Bildungswissenschaft
1.1
Zur Entstehung des Begriffs ‚Ethnie’
Der Begriff ‚Ethnie’ ist vom Griechischen ‚ethnos’ (νΌΑΓΖ) abgeleitet, was „Menschengruppe mit nichtgriechischer, also fremder Daseinsform“ (Rudolph 1992, S. 60) bedeutete. Vom späten Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert war ‚ethnisch’ im englischen Sprachraum ein Synonym für „heidnisch“ (Eriksen 1993, S. 3). Heute wird unter Ethnie „eine Gruppe von Lebewesen, denen spezifische Daseinsbedingungen, Verhaltensmuster, Traditionen, Empfindungsweisen, moralische Grundsätze, Rechtsnormen, Charakterzüge und dieselbe Art zu denken gemeinsam sind [verstanden]. Es bildet ein eigenes System, was jedoch innere Differenzierungen und Untergliederungen keinesfalls ausschließt“ (Erny & Rothe 1992, S.101; Hervorhebung im Original). Ethnien sind nicht nur außereuropäische Stämme (tribes), der ursprüngliche Forschungsbereich von Ethnolog(inn)en, sondern auch die „europäischen Völker“ (Müller 1992, S. 179), die sich in den Dialekten oder im Brauchtum voneinander unterscheiden, oder Migrant(inn)en, wie z.B. Türk(inn)en aus Ostanatolien, Tschetschen(inn)en oder Griech(inn)en, die in (anderen) europäischen Staaten leben, bzw. die hispanics in den USA (vgl. Eriksen 1999, S. 40f.).
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Am Begriff ‚tribes’ bzw. in weiterer Folge ‚Ethnie’ ist zu kritisieren, dass im Zuge der Kolonialisierung die vor Ort lebenden Gruppen nach europäischem Verständnis – zur Unterstützung der Verwaltung der Kolonien – in die Kategorie ‚Stamm’ eingeteilt wurden, ohne Berücksichtigung der sozialen Strukturen, in denen die indigene Bevölkerung lebte. Georg Elwert weist darauf hin, dass sich „relevante Teile der Menschheit [...] als Heiratsklassen, Altersklassen, sozioprofessionelle Gruppen, Verwandtschaftslinien oder Lokalgruppen organisierten“ (Elwert 1989, S. 18) und keinesfalls in Stämmen nach europäischer Vorstellung. Wo es aber bereits Ethnien gab, war dies auch nicht gleichbedeutend damit, dass es sich um eine eindeutige und ausschließliche Zuordnung handelte, sondern es waren Mehrfachzugehörigkeiten und soziale Überschneidungen möglich. Eine Tatsache, die von den Europäern1 schlichtweg ignoriert wurde. 1.2
Die Breite und der Wandel des Begriffs ‚Ethnizität’
Der Begriff ‚Ethnizität’, ursprünglich dem Vokabular amerikanischer Soziolog(inn)en entstammend2, beschreibt ein Gegenkonzept zur melting-pot-Ideologie, die von einer Aufhebung der Herkunftsdifferenzen im Zuge der Assimilierung von Zuwanderer(inne)n ausgegangen war. Doch die gegenteilige Entwicklung trat ein: „The ethnic group in American society became not a survival from the age of mass immigration but a new social form” (Glazer & Moynihan 1970, S. 16; zitiert nach Sökefeld 2001, S. 2; siehe auch Glowka & Krüger 1988, S. 36). Im Sinne der new ethnicity3 kam es zu einer Neupositionierung entlang ethnischer Grenzen. Bezug nehmend auf diese Entwicklung fordert Stuart Hall sogar, dass jedes Individuum nicht nur durch die Zugehörigkeit zu einer Nation oder zu einer bestimmten kulturellen Ausprägung zu charakterisieren sei, sondern auch durch die Zugehörigkeit zu einer Ethnie (vgl. Larcher 2000, S. 85; insbesondere: Hall 1994, S. 23). Der Ausgangspunkt der Ethnizitätskonzepte liegt im Begriff ‚ethnische Identität’ – ein Begriff, der mit den Namen Erik Homburger Erikson und George
1 Es wird die maskuline Form des Substantivs verwendet, weil nur männliche Verwaltungsbeamte in den Kolonien tätig waren. 2 David Riesman 1953 hat diesen Begriff erstmals verwendet (Eriksen 1993). Obwohl Joshua A. Fishman nachweist, dass ‚ethnicity’ bereits Ende des 18. Jahrhunderts als englisches Wort bekannt war, wurde es erst Mitte des letzten Jahrhunderts in die Wissenschaftssprache aufgenommen (Fishman 1999, S. 446; siehe auch Sollors 2002, S. 97f.). 3 Ethnizität, die sich im Zuge der (Arbeits-) Migration reetabliert (Hall 2001) – in deutlicher Abhebung zu Ethnizität, die in traditionalen Gesellschaften zwischen Ethnien besteht.
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Herbert Mead verbunden ist4. ‚Ethnizität‘ und ‚ethnische Identität‘ werden heute (fast) synonym verwendet. Auch wenn Dieter Haller im Anschluss an Anthony Smith (1993) zu differenzieren versucht, dass ‚Ethnizität‘ und ‚ethnische Identität‘ Unterschiedliches bedeuten – während „Ethnizität die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe“ (Haller 1995, S. 12) beschreibt, kann sich darauf aufbauend unter gewissen Umständen ethnische Identität entwickeln –, hat sich diese Unterscheidung kaum durchgesetzt. Da der Begriff ‚Ethnizität’ in der Interkulturellen Pädagogik in ähnlich umfangreicher Form verwendet wird wie der Terminus ‚Kultur’, beides zentrale Begriffe, sollen dessen unterschiedliche Dimensionen nun kurz beschrieben werden. 1.2.1 Der etische5 und der emische6 Blick auf Ethnizität Eine Kontroverse, die in den 1970er Jahren begann, wurde abgehandelt entlang der Dimensionen Wahrnehmung und Zugehörigkeit: Der Objektivismus ging davon aus, dass die Wahrnehmung der Ethnien von außen (= etisch) aufgrund einer Zuordnung anhand von eindeutigen Merkmalen möglich sei, während der Subjektivismus ausschließlich auf das subjektive Zugehörigkeitsgefühl (= emisch) rekurrierte. Allerdings weist Marco Heinz darauf hin, dass die Vertreter/innen der subjektivistischen Richtung den Fehler begangen haben, die emische Analyseebene „als ‚subjektives Empfinden’ zu begreifen und nicht als von den Betroffenen objektiv erfahrbares Weltbild darzustellen“ (Heinz 1993, S. 170). Die Diskussion zwischen den beiden Richtungen ließe sich insofern auflösen, als beide Perspektiven als legitim und einander bedingend wahrgenommen werden sollten. Je nach konkretem Forschungsinteresse mag dann der einen oder der anderen Herangehensweise der Vorzug gegeben werden (vgl. Heinz 1993, S. 271). Dieser Forderung wird heute vielfach Rechnung getragen und die Zugehörigkeit zu einer Ethnie auf zwei Ebenen definiert – das Individuum bekennt sich zu ihr und identifiziert sich mit ihr und wird gleichermaßen von außen als zugehörig bestimmt.
4 Auf die Unterschiede dieser beiden Positionen einzugehen, würde den vorgegebenen Rahmen sprengen. 5 ‚Etisch’ bezeichnet den Blick von außen auf eine Ethnie. „Der Begriff ist vom linguistischen Terminus phonetisch abgeleitet, der sich auf die Aufnahme von in der Sprache gebrauchten Lauten bezieht, unabhängig davon, ob die Laute für die Sprecher einer besonderen Sprache bedeutungstragend sind oder nicht“ (Vivelo 1981, S. 317; Hervorhebung im Original). 6 Gegenbegriff zu ‚etisch’: der Blick von innen auf die eigene Ethnie. „Der Begriff ist vom linguistischen Terminus phonemisch abgeleitet, der sich auf bedeutungstragende Laute in einer Sprache bezieht“ (Vivelo 1981, S. 316; Hervorhebung im Original).
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1.2.2 Die ethnische Determiniertheit des Menschen Drei Ansätze lassen sich anführen, die von der ethnischen Determiniertheit des Menschen ausgehen: (1) Primordialismus7, (2) Soziobiologie und (3) Symbolismus. 1. Der Primordialismus geht davon aus, dass Ethnizität eine Konstante ist und als grundlegender Aspekt menschlicher Identität verstanden werden muss (vgl. Banks 1996; Phillipson 1999; Dittrich & Lentz 1995). Sozusagen von Geburt an beginnt jedes Individuum die Normen und Werte der Familie und der ethnischen Gruppe zu übernehmen und unverrückbar zu leben. Der Einzelne/die Einzelne wird daher als Repräsentant/in dieser Gruppe verstanden und sein/ihr individuelles Verhalten kann auf seine/ihre ethnische Zugehörigkeit zurückgeführt werden (vgl. Heinz 1993; Haller 1995). Obwohl dieser Ansatz kaum mehr Inhalt des wissenschaftlichen Diskurses ist, orientiert sich die Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit sehr wohl an solchen Vorstellungen und erweitert es auf folgende Kategorien: „verschiedene Sorten von Unterschieden (Sprache, Religion, regionale Herkunft, Kultur, ‚Rasse’ usw.) [werden verdinglicht und] die Existenz darauf gegründeter Gruppen“ postuliert (Sökefeld 2001, S. 2). 2. Während der Primordialismus Ethnizität durch den sozialen Raum bedingt sieht, geht die Soziobiologie noch einen Schritt weiter: Ethnizität wird als genetisch grundgelegt verstanden, sie wird als biologischer Instinkt interpretiert (vgl. Sokolovskii & Tishkov 1998). „Der Mensch ist hier zur Verwandtenselektion und damit zur Ethnizität programmiert“ (Heinz 1993, S. 312).
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Bevor auf die Darstellung der einzelnen Vorstellungen ethnischer Determiniertheit eingegangen wird, ist es unabdingbar, die Person Clifford Geertz’ ins rechte Licht zu rücken, sozusagen von der Zuschreibung des Primordialismus zu befreien. Er ist nicht als ein Vertreter des Primordialismus zu verstehen, wie es fälschlicherweise des Öfteren kolportiert wird, sondern gehört zu den Mitbegründern der symbolischen Anthropologie (Spencer 1998). Allerdings begann die Diskussion in Auseinandersetzung mit seinen Texten, in denen er primor- dial attachments (der Begriff wurde von Edward Shils 1957 kreiert [siehe Hutchinson & Smith1996, S. 8].) – „congruities of blood, speech, custom, and so on” (Geertz 1996, S. 41f.) – als Erklärung für die Aufrichtung von Grenzen und in weiterer Folge für die Entstehung von Konflikten zwischen Ethnien annahm. Er geht aber zum einen von vielen dieser Bindungen aus und nicht nur von Ethnizität. Zum anderen weist er darauf hin, dass es sich um eine Annahme seinerseits handelt, und nicht, dass er diese Bindungen tatsächlich bestätigen könne. Trotzdem wurde diese Passage – „blood, speech, custom“ – als Basis für die Entwicklung der primordialen Theorie von Ethnizität herangezogen, die nach Ansicht von Marco Heinz den ursprünglichen Geertz’schen Text bis zur Unkenntlichkeit entstellt habe (Heinz 1993, S. 274; siehe auch Cornell & Hartmann 1998).
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In der Ethnologie/Kulturanthropologie hat der soziobiologische Ansatz zwar kaum eine Rolle gespielt, doch weist Dieter Haller darauf hin, dass auch hier eine Übernahme in den Alltagsdiskurs stattgefunden hat. Es sind deutliche Ähnlichkeiten zu Humangenetik und Humanethologie festzustellen, und deren zunehmende Bedeutung in der öffentlichen und politischen Sphäre – er spricht sogar vom „paradigmatischen Wechsel zur Biologisierung des öffentlichen Diskurses“ (Haller 1995, S. 2; siehe auch Feagin 1990). Grundlage der beiden dargestellten Ansätze ist die Familie: im primordialistischen Denken deren soziale Funktion, in der Soziobiologie deren biologische Funktion. Darüber hinaus gehen beide Wissenschaftstraditionen davon aus, dass die Bindung zur Familie sich automatisch zur Bindung an die Ethnie weiterentwickelt, in einem weiteren Schritt dann möglicherweise zur Bindung an die Nation. Hierzu merkt Steve Fenton kritisch an, dass diese Annahmen nicht haltbar sind, da mehrere theoretische Ebenen unreflektiert vermischt werden, und dass sie außerdem schon vielfach widerlegt wurden (vgl. Fenton 1999). 3. Der Ansatz des Symbolismus schließlich beschäftigt sich mit Grenzziehungen zwischen Ethnien. Diese Grenzen werden innerhalb der Ethnie wahrgenommen und definiert. Nach Marco Heinz handelt es sich um „ein Symbolset [...], welches auf Dauer (wenn auch ständiger Modifizierungen unterworfen) die Gruppengrenzen markiert“ (Heinz 1993, S. 135), welches den dauerhaften Bestand von Ethnien sichert. Der Inhalt dieses Symbolsets kann vielfältig sein – Historisches, Rituale, Äußerlichkeiten etc. –, doch muss es für alle Mitglieder der ethnischen Gruppe verbindlich sein. 1.2.3 Ethnizität als gesellschaftliches Phänomen Im Gegensatz zur ethnischen Determiniertheit, wo Ethnizität nicht veränderbar und sozial oder biologisch gegeben ist, lässt die Betrachtung von Ethnizität als gesellschaftliches Phänomen zu, dass ethnische Zugehörigkeit sehr breit interpretiert oder sogar eine spezifische durch eine andere ersetzt werden könnte. Hier wären die Ansätze (1) Formalismus, (2) Instrumentalismus (Zirkumstantialismus) und (3) die Machtkonflikttheorien zu nennen. 1. Charakteristisch für den Formalismus8 ist, dass Ethnizität nicht als Phänomen einer Gruppe, wie z.B. im Symbolismus, betrachtet wird, sondern es kann nur zwischen Gruppen existieren, d.h. Ethnizität beschreibt nicht einseitig definierte und wahrgenommene Gruppencharakteristika, sondern wendet den Blick in Richtung Prozesse (vgl. Eriksen 1991). „Ethnicity is the enduring 8
Wesentlich beeinflusst von und verbunden mit dem Namen Fredrik Barth (1969 & 1994).
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and systematic communication of cultural differences between groups considering themselves to be distinct. It appears whenever cultural differences are made relevant in social interaction, and it should be studied at the level of social life, not at the level of symbolic culture” (Eriksen 2001, S. 7). 2. In Abhebung zum Primordialismus – und seiner rigiden Vorstellung von Ethnizität – und zum Formalismus, dem eine zu harmonische Sichtweise und ahistorische Herangehensweise vorgeworfen wird, setzen sich Instrumentalismus (amerikanische Anthropologie und Soziologie) bzw. Zirkumstantialismus (britische Anthropologie) damit auseinander, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen Ethnizität entsteht. Obwohl beide Richtungen ähnlich argumentieren, indem sie Ethnizität als eine Interessengruppe betrachten, geht der Instrumentalismus zusätzlich von einem Ressourcenwettstreit miteinander konkurrierender ethnischer Einheiten aus (vgl. Heinz 1993). Auch hier gibt es einen Rückgriff auf primordiales Gedankengut – ungeachtet der Entstehung von Ethnizität als gesellschaftliche Kraft werden von den Beteiligten primordiale Argumente als subjektive Gründe angegeben. „Die Ideologen greifen zur Mobilisierung ‚ethnischer Gruppen’ bewußt auf Emotionen wie die ‚gemeinsame Abstammung’ und ‚dasselbe Blut’ zurück“ (Heinz 1993, S. 302; siehe auch Wicker 1998). 3. Die dritte Position, die Machtkonflikttheorie, steht dem Neomarxismus nahe. Im kapitalistischen Wirtschaftssystem nehmen z.B. Zuwanderer/innen fast immer die untersten Positionen ein. „Die kapitalistische Produktionsweise bringt erstens die Gruppen und Abteilungen der Arbeiterschaft in eine hierarchische Rangfolge; und sie produziert zweitens fortwährend symbolisch überhöhte ‚kulturelle’ Merkmale, durch die sich die einzelnen Gruppen voneinander unterscheiden“ (Wolf 1986, S. 525; zitiert nach Heinz 1993, S. 323). Personen und Gruppen ähnlicher ethnischer Herkunft können sich nun entlang dieser Ethnizität organisieren, um ihre Position zu stärken. Wobei Vertreter/innen der Machtkonflikttheorien nicht davon ausgehen, dass dies immer geschehen müsse, noch dass damit die einzige Ursache für die Bildung von Ethnizität angesprochen sei (vgl. Heinz 1993). 1.2.4 Ethnizität – relational und situational Ethnizität wird also heutzutage als etwas verstanden, das zwischen Gruppen stattfindet: „Ethnische Gruppe oder ethnische Identität können nur in der Beziehung zwischen gesellschaftlichen Gruppen Bedeutung erlangen“ (Fillitz 2003, S. 25), wobei Ethnizität und Kultur nicht deckungsgleich sein müssen. Ob und in welcher Form sich Ethnizität ausprägt und sich von anderen Ethnizitäten abhebt, hängt von einer Vielzahl an Einflussfaktoren ab (vgl. Wimmer 2008a & b).
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Des Weiteren wird davon ausgegangen, dass ethnische Identität ein Aspekt menschlicher Identitäten ist – ergänzt z.B. durch gender identity, religiöse Identität, kulturelle Identität oder nationale Identität (vgl. Rex 2001), um nur einige zu nennen –, dass dem Einzelnen also ein ganzes Bündel an Identitäten zur Verfügung steht. Diese Identitäten werden nicht abwechselnd eingesetzt, indem ich mich z.B. jetzt als Frau/Mann empfinde, in zwei Stunden als Staatsbürger/in eines europäischen Landes, am Abend als Tochter/Sohn, sondern als alle zugleich. Adrien Katharine Wing spricht in diesem Zusammenhang in der Pluralform von „multiplicative identities“ (Wing 2002, S. 163ff.), Cristina Allemann-Ghionda nennt es „polyphone Identität“ (Allemann-Ghionda 2002, S. 15) und Wolfgang Gröpel „polyvalente Identität“ (Gröpel 1999, S. 156). Welcher Aspekt der Identität aus dem Pool der miteinander verbundenen Identitäten aktuell nach außen gespiegelt wird, ist von den handelnden Personen und der Situation abhängig (vgl. Dannenbeck & Lösch 2000). 1.3
Ethnizität – Ethnizismus – Ethnisierung
Ethnizität war und ist ein dehnbarer Begriff und ähnelt, wie Richard Jenkins feststellt, einer russischen Puppe mit unterschiedlichen Schichten, er beschreibt sowohl die soziale Identifikation als auch die dahinterstehende Ideologie (vgl. Jenkins 1997; Giordano 1996). Diese beiden Bedeutungsebenen sollten allerdings im Sinne von begrifflicher Klarheit deutlich voneinander unterschieden werden, die Ideologie wird daher häufig in Anlehnung an ‚Nationalismus’ als ‚Ethnizismus’ bezeichnet. Dieser kann von den betroffenen Gruppen als politischer oder sozialer Kampfbegriff verwendet werden, Avtar Brah berichtet aber auch über Beispiele aus Indien, in denen die Zuteilung von zusätzlichen Ressourcen seitens Politik und Verwaltung an benachteiligte ethnische Gruppen auf eben diesem Ethnizismus beruht (vgl. Brah 2001). Ethnisierung heißt zum einen, dass die Ethnizität instrumentalisiert wird (ethnic mobilisation; Rex 1996, S. 90ff.) – „Ethnisierung wird also dort wirksam, wo aus einer ‚Ethnie an sich’ eine ‚Ethnie für sich’ wird, wo also objektive Kriterien Bedeutung erlangen und dazu dienen, eine Ethnie zu konstituieren und sie mit einem Wir-Gefühl auszustatten“ (Hummel & Wehrhöfer 1996, S. 21). Zum anderen dient es als Bezeichnung dafür, dass vielfältige soziale Probleme auf den Faktor ‚Ethnie’ reduziert werden (vgl. Griese 2002). Letzteres findet sich auf globaler Ebene in Huntigtons Ansatz des ,clashes of civilizations‘ (vgl. Hummel & Wehrhöfer 1996) ebenso wie auch auf schulischer Ebene, wenn Probleme von Migrant(inn)enkindern auf deren Zugehörigkeit zu einer Ethnie/Sprachgruppe zurückgeführt werden, ohne die anderen Einflussfaktoren zu erwähnen.
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Die Entstehung von ethnischen Konflikten ist dann möglich, wenn mehrere Komponenten zusammen treffen: Zum einen muss Ethnizität in der Gesellschaft als legitimes Differenzierungskriterium wahrgenommen werden, zum anderen muss ein Ungleichgewicht im Zugang zu unterschiedlichen Ressourcen gegeben sein, wie z.B. Einkommen, symbolisches Kapital, Berufspositionen, nationale Symbole (in multiethnischen Staaten z.B. welche Ethnie stellt die Staatsflagge, die Nationalhymne, die nationalen Rituale) etc. (vgl. Tambiah 1994). 2
Interkulturellen Pädagogik: Ethnizität als beeinflussender Faktor für Schulerfolg?
Im Zuge von Migration kann es im Aufnahmestaat zur Ausprägung von new ethnicity kommen, d.h. Migrant(inn)en können sich selbst als Ethnizität definieren (und damit einhergehend über ethnische Identität verfügen) bzw. können von anderen als solche wahrgenommen werden. Ethnizität kann somit als eine soziale Kategorie betrachtet werden, die ergänzend zu Kategorien wie z.B. sozioökonomischer Status oder Bildungsstatus der Familie Einfluss auf das Leben der Migrant/innen (Bildung, Beruf, Gesundheit und viele andere Aspekte) nehmen kann. 2.1
Ethnizität als soziale Kategorie
Es wird in pädagogischen empirisch quantitativen Studien kaum explizit nach der Ethnizität von Proband(inn)en gefragt9, doch findet meist eine Zuordnung aufgrund der Variablen ‚Nationalität/Staatsbürgerschaft’ oder ‚Sprachgruppenzugehörigkeit’ statt. Vor allem in den älteren Studien galt die Staatsbürgerschaft als wichtigstes (einziges) Kriterium (vgl. Diefenbach 2007). Eine zusammenfas-
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Wenn, dann findet sich in englischsprachigen Studien eine Zuordnung zu Ethnizität – siehe z.B. Andriessen und Phalet (2002) bzw. die Publikationen zu CILS (z.B. Rumbaut & Portes 2001; Portes 2005; Portes & Rumbaut 2005). Allerdings gibt es neuere Studien aus der Wirtschaftswissenschaft (Datenbasis: Deutscher SOEP 2001), die sich mit ‚ethnosizing’ als objektiv erhobener abhängiger Variable beschäftigen, also mit der Ausprägung der ethnischen Identität unter Migrationsbedingungen. Eines der Hauptergebnisse ist, dass nicht von einer linearen Zuordnung ausgegangen werden darf, sondern vom einem Sowohlals-auch – z.B. deutsch und griechisch oder deutsch und italienisch, in unterschiedlichen Graden (Zimmermann, Zimmermann & Constant 2007; Constant & Zimmermann 2008). Des Weiteren kann Assimilation oder Separation, Marginalisierung oder Integration in verschiedenen sozialen Bereichen stattfinden (Sprachverwendung, Kultur, ethnische Netzwerke, Migrationsgeschichte, ethnische Selbstidentifikation), und jeweils unterschiedlich gewichtet sein (Constant, Gataullina & Zimmermann 2006).
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sende Darstellung von in dieser Hinsicht ausgerichteten internationalen Studien kann Willem Fase (1994) entnommen werden. Nach Nationalität oder Erstsprache zu fragen, stellt aber eine verkürzte Herangehensweise dar. Am Beispiel der türkischen Migrant(inn)en sei dies kurz dargestellt: Sowohl die Frage nach Staatsbürgerschaft wie auch nach Sprachgruppe kann ähnliche Ergebnisse erbringen, nämlich ‚Türkisch’. (Sofern diese Person nicht bereits im Aufnahmeland eingebürgert ist.) Damit kann die Zugehörigkeit zu ethnischen Minderheiten, wie z.B. Kurden oder Tscherkessen und deren jeweils nicht-türkischen Erstsprachen, nicht erfasst werden10. Es kann auch nicht festgestellt werden, in der wievielten Generation sich diese Personen im Aufnahmeland befinden. Des Weiteren bleiben die Kompetenzen in der Sprache des Aufnahmelandes unberücksichtigt ebenso wie andere mögliche Einflussfaktoren. Auch die Voruntersuchung zur Grundschulstudie SOKKE11 (2004-2009) hat aufgezeigt, dass das Kriterium ‚Staatsbürgerschaft’ allein nicht geeignet ist, die komplexe Situation von Kindern mit Migrationshintergrund adäquat zu beschreiben (vgl. Herwartz-Emden 2005; Herwartz-Emden & Küffner 200612). Allerdings ist aufgrund des Aufwandes bei der Datenerhebung bzw. der Zugänglichkeit der Daten davon auszugehen, dass in den empirischen Studien kaum mehr als einige Kategorien herangezogen werden (können), um Ethnizität konkret zu erfassen. Ob und in welchem Ausmaß Ethnizität als beeinflussende Variable für Probleme im schulischen Fortkommen angesehen werden kann, soll nun exemplarisch anhand einiger Studien vorgestellt werden. 2.1.1 Ethnizität oder Sozialstatus? Die von Cornelia Kristen und Nadia Granato durchgeführte Analyse des deutschen Mikrozensus (Jahre 1991, 1993, 1995, 1996, 1997, 1998) erbrachte deutliche ethnische Unterschiede in Hinblick auf den Zugang zu Bildung: Personen griechischer Herkunft erreichen zu 45,5% Abitur/Fachhochschulreife, Personen mit deutscher Staatsbürgerschaft zu 43,3%. Am unteren Ende der Skala finden sich Personen türkischer (23,1%), (ex-)jugoslawischer (22,9%) und italienischer Herkunft (19,2%) (vgl. Kristen & Granato 2004 & 2007). In der schrittweisen Anwendung differenzierterer Regressionsmodelle lässt sich allerdings belegen, 10
Zu den Implikationen der unter Kemal Atatürk durchgeführten Zwangsturkisierungen auf die Sprachkompetenzen in Türkisch siehe Briziü 2007. SOKKE = Sozialisation und Akkulturation in Erfahrungsräumen von Kindern mit Migrationshintergrund – Schule und Familie 12 Vgl. zu Ergebnissen der Studie auch den Beitrag von Braun & Mehringer in diesem Band. 11
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dass nur vordergründig die Interpretation in Richtung Ethnizität richtig ist. Wird die Bildung der Bezugsperson berücksichtigt, dann sind nur mehr (Ex-)Jugoslaw(inn)en und Italiener/innen deutlich unterrepräsentiert, Griech(inn)en hingegen deutlich überrepräsentiert. Wird auch noch die berufliche Stellung der Bezugsperson und deren Nettoeinkommen in das Modell aufgenommen, dann verschwinden alle Diskriminierungen, der positive Effekt von Personen griechischer Herkunft vergrößert sich allerdings nochmals (vgl. Kristen & Granato 2004; Kristen 2006). Ein Blick über die Grenzen des deutschsprachigen Raumes hinaus zeigt zu dieser Thematik Unterschiedliches: Eine niederländische Schulleistungsstudie (Reanalyse der Educational Cohort Study, 1993) belegt die größere Bedeutung des sozialen Hintergrunds im Vergleich zur Ethnizität (vgl. Van de Werfhorst & Van Tubergen 2007). Ähnliches kann in England und Wales nachgewiesen werden (Youth Cohort Study 1991–2000): Die Schichtzugehörigkeit ist der besten Prädiktor für Schulerfolg und zwar für alle Ethnien gleichermaßen (white, black, Indian, Pakistani/Bangladeshi; Rothon 2007). Die Untersuchung in den Niederlanden erbringt aber auch das interessante Ergebnis, dass zwar Unterschiede zwischen den Ethnien bestehen in Hinblick auf den Besuch höher qualifizierender Schulen, aber dahingehend, dass es sich um eine ethnische Bevorzugung handelt: „Turks, Moroccans, Surinames and Antilleans choose higher types of secondary schooling than natives with comparable class backgrounds” (Van de Werfhorst & Van Tubergen 2007, S. 432f.). Im Gegensatz dazu zeigen andere Daten aus den Niederlanden, dass genau diese vier Migrantengruppen eine dreimal so hohe Rate an Schulabbrecher(inne)n haben wie die Autochthonen (vgl. de Graaf & van Zenderen 2009). Dies ist abermals als ein Beleg für die schon mehrfach diskutierte Hypothese der bipolaren Bildungsstruktur bei Migrant(inn)en anzusehen (vgl. Bock-Schappelwein & Falk 2009). Die Schichtzugehörigkeit allein konnte in einer belgischen Untersuchung die Benachteiligungen der türkischen und marokkanischen Minderheiten in Belgien nicht erklären (vgl. Mikrozensus 1991–2001; Phalet, Deboosere & Bestiaenssen 2007), ebenso wie in Frankreich (Nationale Längsschnittstudie des Ministère de l’Éducation Nationale, 1995). Zwar entsprechen die Bildungserfolge der Migrant(inn)en im Allgemeinen jenen der französischen Jugendlichen, die aus ähnlich sozial benachteiligten Familien kommen, doch können die nordafrikanischen Jugendlichen die Bildungserwartungen ihrer Eltern nicht erfüllen – im Gegensatz zu den portugiesischen (vgl. Brinbaum & Cebolla-Boado 2007).
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Eine norwegische Studie (Educational Careers: Attainment, Qualifications and Transitions to Work) schließlich zeigt auf, dass zwar der soziale Status und die Bildung der Eltern Vieles erklären können, nicht aber die Unterschiede zwischen den drei größten Migrantengruppen: Türk(inn)en (geringster Bildungserfolg), Pakistani und Inder/innen (größter Bildungserfolg; vgl. Fekjær 2007). Daraus, und aus den Resultaten vieler anderen Untersuchungen (vgl. Khan-Svik 2008), ist der Schluss zu ziehen, dass zwar der sozio-ökonomische Status in manchen Studien größere Erklärungskraft als Ethnizität hat, aber er scheint nicht in allen Fällen ausreichend zu sein – d.h. es muss die Kombination dieser beiden Faktoren erwogen werden (vgl. Bryne 2009). 2.1.2 Ethnizität oder Kompetenzen in der Schulsprache? Schulbesuch unter internationalen Migrationsbedingungen hängt meist mit einem Wechsel des sprachlichen Umfeldes zusammen13, d.h. Kinder/Jugendliche sind mit einer Unterrichtssprache konfrontiert, die sich von der Familiensprache unterscheidet. Diese Schüler/innen haben nun eine doppelte Leistung zu vollbringen, nämlich einerseits die Schulsprache zu erwerben und andererseits, transportiert über diese erst zu erlernende Sprache, denselben Lernstoff zu absolvieren wie ihre Schulkolleg(inn)en, bei denen Unterrichtssprache und Familiensprache identisch sind. Die schulischen Leistungen vom Kindern/Jugendlichen mit Migrationshintergrund hängen daher wesentlich von den Sprachkenntnissen in der Schulsprache ab. Urs Moser konnte beispielsweise zeigen (Reanalyse zweier Datensätze aus Zürich), dass in der 6. Schulstufe, in der 8. Schulstufe in etwas abgeschwächter Form, die Leistungen im Fach Deutsch (= Unterrichtssprache) proportional zur Aufenthaltsdauer14 steigen. Die Mathematikleistungen hängen hingegen nur in geringem Maße von der Dauer des Aufenthaltes ab (vgl.Moser 2001). Werden die Variablen kognitive Leistungsfähigkeit, soziale Herkunft, Geschlecht und Aufenthaltsdauer kontrolliert, so zeigt sich, dass Jugendliche aus Albanien in der 6. Schulstufe signifikant schlechtere Deutschleistungen haben als alle anderen Migrant(inn)engruppen, deren Ergebnisse jenen der deutschsprachigen Schweizer/innen entsprechen (vgl. ebd.). Eine multivariate Detailauswertung des österreichischen PIRLS-Datensatz15 2006 bezieht neben der Ethnizität auch den familiären Sprachgebrauch16, ebenso 13
Eine Wanderung innerhalb desselben Sprachraumes wird hier ausgeklammert. … als Indikator dafür, wie lange die Schüler/innen schon Deutsch lernen, und in Folge davon wie gut ihre Deutschkenntnisse sind 15 PIRLS = Progress in International Reading Literacy Study, deutschsprachige Bezeichnung: IG-LU = Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung 14
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wie allgemeine Strukturmerkmale und Prozessmerkmale mit ein: Bei ausschließlicher Berücksichtigung der Ethnizität ergibt sich das gewohnte Bild – Migrantenkinder erbringen durchwegs schlechtere Leseleistungen. Wird der familiäre Sprachgebrauch kontrolliert, dann verringern sich zwar die Signifikanzen, bleiben aber für die türkische Gruppe und die Kinder mit BKS (Bosnisch, Kroatisch, Serbisch) als Erstsprache auffällig. Fließen auch noch allgemeine Strukturmerkmale (höchster Bildungsabschluss bzw. höchste berufliche Position der Eltern) bzw. Prozessmerkmale (kulturelles und soziales Kapital der Familie) ein, dann unterscheiden sich nur mehr die Testleistungen der Kinder mit türkischer Herkunft von den deutschsprachigen, alle anderen ethnischen Gruppen erbringen dieselben Testleistungen in Lesen (vgl. Unterwurzacher 2009). Auch hier lässt sich zusammenfassend feststellen, dass weder Ethnizität alleine noch die Kompetenzen in der Schulsprache bzw. der familiäre Sprachgebrauch eindeutige Ergebnisse bringen. 2.2
Ist die Kategorie ‚Ethnizität’ entbehrlich?
Wie die genannten Studien (und viele andere mehr) belegen, kann keine allgemein gültige Antwort auf die Frage gegeben werden, ob ‚Ethnizität’ eine entbehrliche Kategorie sei. Die Modalitäten von Migration und die daraus resultierenden Lebensumstände können sehr unterschiedlich sein, weswegen zwar immer von einem potenziellen Einfluss der ethnischen Zugehörigkeit auszugehen ist. Ob und in welchem Ausmaß die einzelnen ethnischen Gruppen davon betroffen sind, wird hingegen je nach Gruppenzugehörigkeit bzw. Situation jeweils neu zu klären sein. Ebenso wichtige Prädiktoren können der sozio-ökonomische Status bzw. der Bildungsstand der Eltern sein und die Kompetenzen, die die Schüler/innen in der Schulsprache erwerben konnten. Darüber hinaus könnten kulturelle Faktoren (vgl. Herwartz-Emden 2005a) oder Akkulturation als Erklärung herangezogen werden ebenso wie ethnische Segmentierung bzw. Segregation oder institutionelle Diskriminierung (vgl. Khan-Svik 2008). Cristina Allemann-Ghionda nennt des Weiteren die Qualität des Unterrichts, mangelhafte Kompetenzen der Lehrpersonen in Diagnostik und Leistungsbeurteilung und eine zu geringe Förderung von Bilingualität als Erklärungsansätze für mangelnden Bildungserfolg (vgl. Allemann-Ghionda 2006), außerdem wird in der Lehrer/innenbildung zu wenig auf den Umgang mit kultureller Diversität Bezug genommen. Auf schulorganisatorischer Ebene kann auch die Struktur des Schulsystems einen Einfluss haben. 16
… ebenfalls als Indikator dafür, wie gut die Deutschkenntnisse der Schüler/innen sind
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Um der Vielschichtigkeit gerecht werden zu können, scheint es angebracht, möglichst viele Daten zu Beeinflussungsfaktoren zu erheben und einfache statistische Auswertungen durch multivariate Analysen zu ersetzen, denen komplexe Modelle zugrunde liegen. Beispiele dafür finden sich in der neueren Fachliteratur (siehe z.B. Herwartz-Emden, Reiss & Mehringer 2008; Watermann & Baumert 2006; Unterwurzacher 2009). 3
Ein Gedanke zum Abschluss
An den dargestellten empirischen Studien ist zu kritisieren, dass es m.E. kaum gelang, die Prozesshaftigkeit und situationale Einbettung von Ethnizität zu erheben. Zwar wurde versucht die Mehrdimensionalität einfließen zu lassen – z.B. hatten Wolfgang Gröpel und Martin Urbanek insgesamt drei Variablen, aus denen sie die ethnische Zugehörigkeit ableiteten: Erstsprache, Ethnie nach Selbsteinschätzung und Staatsbürgerschaft, die sich faktorenanalytisch zu ‚Regionale Herkunft’ zusammenfassen ließen (vgl. Gröpel & Urbanek 1999; ähnlich differenziert wurde in der Studie SOKKE vorgegangen) – doch blieb der interaktive Aspekt bisher eher unberücksichtigt. Studien, die sich mit der Entwicklung und Ausprägung von Ethnizität bzw. ethnischer Identität bei Kindern/Jugendlichen mit Migrationshintergrund auseinandersetzen (vgl. u.a. Schönpflug 2000; Merkens u.a. 2001; Raithel & Mrazek 2004; Weiss 2007), sehen diese als abhängige Variable und hinterfragen deren Entstehungsbedingungen. Was jedoch fehlt, ist die Betrachtung des Einflussfaktors Ethnizität auf Bildungserfolg in seiner gesamten Komplexität, wahrgenommen als Itembündel und als relational, variabel bzw. situationsspezifisch. Literatur Allemann-Ghionda, Cristina (2002): Mut zur Pluralität. Interkulturelles Lernen als Handlungsfeld der allgemeinen Pädagogik. Erwachsenenbildung 48 (1), S. 14-18. Allemann-Ghionda, Cristina (2006): Klasse, Gender oder Ethnie? Zum Bildungserfolg von Schüler/innen mit Migrationshintergrund. Zeitschrift für Pädagogik 52 (3), S. 350-362. Andriessen, Iris; Phalet, Karen (2002): Acculturation and School Success: A study among minority youth in the Netherlands. Intercultural Education 13 (1), pp. 21-36. Banks, Marcus (1996): Ethnicity: anthropological constructions. London: Routledge. Barth, Fredrik (1969): Parthan Identity and its Maintenance. In: Fredrik Barth (ed.): Ethnic Groups and Boundaries. Boston: Little, Brown and Co, pp. 117-134. Barth, Fredrik (1994): A Personal View of Present Tasks and Priorities in Cultural and Social Anthropology. In: Robert Borofsky (ed.): Assessing Cultural Anthropology. New York: McGrawHill, pp. 349-360.
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Erfolg und Misserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund beim Spracherwerb in der Grundschule
1
Die Ausgangsposition
Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund erzielen im deutschen Schulsystem einen durchschnittlich geringeren Bildungserfolg als deutsche Kinder und Jugendliche (vgl. z.B. Lehmann u.a. 2002, S. 148ff.; Powell & Wagner 2002; Bos, Lankes, Prenzel, Schwippert, Walther & Valtin 2003; Schründer-Lenzen & Merkens 2006; Prenzel 2007; Stanat 2008). Für die Schweiz gibt es ähnliche Ergebnisse (vgl. Kronig 2002). Der Bildungsnachteil von Kindern mit Migrationshintergrund im deutschen Schulsystem wird seit mehr als 20 Jahren immer wieder belegt (vgl. z.B. Bott, Merkens & Schmidt 1991; Arbeitsgruppe „Bildungsbericht“ des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung 1994; Gogolin 1994; Herwartz-Emden 2003)1. Er ist in den PISA-Studien nochmals bestätigt worden (vgl. Baumert & Schümer 2001 & 2002; OECD 2001; Ramm, Walter, Heidemeier & Prenzel 2005; Prenzel 2007). Bei IGLU finden sich Hinweise darauf, dass Disparitäten der Kinder mit Migrationshintergrund zu den deutschen Kindern bereits in der Grundschule bestehen (Schwippert, Bos & Lankes 2003; Schwippert, Stubbe, Freiberg & Hornberg 2007). Empirisch ist noch nicht geklärt, wieweit der bei PISA berichtete Effekt, dass Jugendliche mit Migrationsstatus innerhalb des Bildungssystems bei der Unterstützung ihrer Bildungskarrieren benachteiligt sind, in der Sekundarstufe I, in der Primarstufe oder in der Vorschule verstärkt bzw. abgeschwächt wird2. Es gibt 1 Kinder mit Migrationshintergrund schneiden auch in anderen Ländern, die an den OECD-Studien teilgenommen haben, schlechter ab als die Kinder der jeweiligen autochthonen Gesellschaft (OECD 2001, S. 18). So stehen die Empfehlungen, die die OECD (2002, S. 58ff.), auch als Reaktion auf die Ergebnisse von PISA, formuliert hat, unter der Überschrift „Den Einfluss des familiären Hintergrunds verringern“. Aber die Benachteiligungen der Kinder mit Migrationshintergrund sind in Deutschland größer als im Durchschnitt der anderen Länder (OECD 2001, S. 18). 2 Diese Frage wird im Folgenden nur für die Grundschule verfolgt, weil die Stichprobe aus Kindern der Grundschule gezogen worden ist.
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nur wenige Untersuchungen zu der Frage, wo die Ursachen für den geringeren Schulerfolg dieser Kinder bzw. Jugendlichen auf den verschiedenen Schulstufen liegen: Bildungsverläufe werden bisher selten untersucht. Erst auf dieser Basis könnten aber Ursachen für Wirkungen identifiziert werden3. Für den unbefriedigenden Forschungsstand zum Spracherwerb und dem Schulerfolg bei Kindern mit Migrationshintergrund lassen sich verschiedene Ursachen identifizieren. Bei der Mehrzahl der bisher durchgeführten Untersuchungen handelt es sich um Querschnittsuntersuchungen. Aus Differenzen, die sich zwischen Kindern mit Migrationshintergrund und Kindern der autochthonen Bevölkerung ergeben, werden Kausalannahmen über mögliche Ursachen entwickelt. Im Prinzip werden ex-post-facto-Hypothesen aus Befunden hergeleitet und anschließend anhand derselben Daten geprüft. In vielen Untersuchungen mit einem anderen Design sind die Stichproben sehr klein4. In vielen Fällen mangelt es an einem experimentellen Design mit einer Versuchs- und einer Kontrollgruppe (vgl. Hopf 2005). Dabei darf nicht übersehen werden, dass es auch sehr große Probleme bereitet, ein experimentelles Design zu realisieren (vgl. Söhn 2005a). Wenn nach dem Vorbild eines quasiexperimentellen Designs eine Versuchsund eine Kontrollgruppe gebildet worden sind, ist in aller Regel der erste Messzeitpunkt nicht vor den Beginn der Untersuchung gelegt worden. Trotz des unbefriedigenden Standes der Forschung zu möglichen Ursachen bleibt festzuhalten, dass Kinder mit Migrationshintergrund im Vergleich zu deutschen Kindern im Durchschnitt erhebliche Sprachdefizite aufweisen (vgl. Baumert & Schümer 2001 & 2003; Stanat 2006 & 2008; Schwippert, Bos & Lankes 2003)5. Die Debatte, die darüber geführt worden ist, wo die Ursachen zu suchen sind und welche Lösungen sich anbieten, ist häufig von Behauptungen wie z.B. der geprägt worden, dass die geringen Erfolge von Kindern mit Migrationshintergrund darin begründet seien, dass keine Alphabetisierung in der Muttersprache erfolge, sondern die Kinder nur in der Zielsprache Deutsch unterrichtet würden6. Generell hat sich, wenn es Untersuchungen zu bestimmten Fragestellungen gab, eine Tendenz gezeigt, aus der Forschung vor allem die Befunde zu zitieren, die die 3
Abhilfe ist hier von dem Bildungspanel zu erwarten. Auf der Basis kleiner Stichproben können keine allgemeingültigen Aussagen gewonnen werden (vgl. Hopf 2005; Söhn 2005a). 5 Wenn Schwippert, Bos und Lankes (2003) ihre Ergebnisse erläutern, sprechen sie öfter expressis verbis von Vermutungen, sobald sie auf mögliche Ursachen verweisen. Das zeigt, dass es keinen nennenswerten Forschungsstand zu diesen Fragen gibt. 6 Diese Aussage mag plausibel klingen, sie ist aber bis heute nicht durch entsprechende Untersuchungen bestätigt worden (zum Forschungsstand vgl. Hopf 2005). 4
Erfolg und Misserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund
35
eigenen Überzeugungen stützten und nicht danach zu fragen, wie seriös die Untersuchungen gewesen sind, die als Beleg herangezogen wurden (vgl. dazu Hopf 2005; Söhn 2005a & b). Die Untersuchung, aus der im Folgenden Ergebnisse berichtet werden, ist mit dem Ziel durchgeführt worden, Aufschlüsse darüber zu gewinnen, wie sich der Spracherwerb in der Grundschule bei Kindern mit Migrationshintergrund entwickelt. 2
Spracherwerb
Die Kompetenzen Lesen und Schreiben sind in den Industriegesellschaften wichtige Voraussetzungen für die gesellschaftliche Teilhabe. Lebenschancen hängen damit zusammen. Deshalb sind Erkenntnisse dazu, wie der Spracherwerb allgemein und der Schriftspracherwerb speziell in der Grundschule aber auch den Schulformen auf der Sekundarstufe erfolgen, von großer Bedeutung. Dabei interessiert im Folgenden, welches Wissen es bezüglich des Spracherwerbs bei Kindern mit Migrationshintergrund gibt. Zu dieser Fragestellung liegen keine eindeutigen wissenschaftlichen Befunde vor. Das hängt u.a. damit zusammen, dass in der Forschung aber auch als Basis für die Optimierung des Spracherwerbs auf unterschiedliche Theorien rekurriert worden ist. Nach Ehlich (2005) sind für Sprache in der linguistischen Tradition verschiedene Konzepte entwickelt worden. Er hat dabei zwischen der griechisch-lateinisch basierten Grammatik- und einer pragmatischen Konzeption unterschieden. In der Praxis des Deutschunterrichts hat lange Zeit die zuerst benannte Variante dominiert. In Anlehnung an diese Praxis haben sich Überlegungen zum Spracherwerb häufig an Methoden orientiert, die in der Grundschule allgemein oder speziell beim Zweitspracherwerb eine Rolle spielen. Dabei hat im ersteren Falle nicht der Spracherwerb allgemein, sondern der Schriftspracherwerb in der Grundschule im Zentrum des Interesses gestanden7. Gemäß Hanke (1997) gibt es eine Vielfalt von Untersuchungen zu diesem Thema, die von der Entwicklung von Modellen zur Beschreibung von Schriftspracherwerbsprozessen bis hin zur
7 Während der Spracherwerb in allen Kontexten stattfindet, in denen sich Kinder bewegen, wird der Schriftspracherwerb als eine Variante vor allem in der Grundschule trainiert und hat den Erwerb einer formalisierten Sprache zum Ziel. Dabei wird traditionell besonderer Wert auf Orthographie und Grammatik gelegt.
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Hans Merkens
Suche nach Möglichkeiten reichten, Schwierigkeiten in diesem Prozess möglichst frühzeitig zu erkennen8. Wichtiger als die Diskussion über das angemessene methodische Vorgehen beim Schriftspracherwerb in der Primarstufe sind für die Untersuchung, über die im Folgenden berichtet wird und in der ein Aspekt der Lesekompetenz getestet worden ist, Arbeiten, in denen allgemeine Bedingungen für den Spracherwerb theoretisch modelliert, sowie empirisch überprüft worden sind. Dabei hat sich das phonologische Bewusstsein als eine zentrale Variable erwiesen (Schneider 2001). Neuere Untersuchungen lassen aber erkennen, dass für die Grundschule dem Vorwissen, z.B. dem vorhandenen Wortschatz am Beginn der Grundschule, noch größere Bedeutung zukommt (Limbird 2006), so dass alleine das Training des phonologischen Bewusstseins nicht auszureichen scheint. Kinder mit Migrationshintergrund müssen spätestens im Rahmen der schulischen Bildung in einer Zweitsprache lernen, kompetent zu kommunizieren. Mit dem Begriff Zweitspracherwerb ist die Annahme verbunden, dass Kinder mit Migrationshintergrund zumindest rudimentär eine Erstsprache, ihre so genannte Muttersprache, erworben hätten und spätestens mit dem Beginn der Grundschule gezwungen wären, eine Zweitsprache, Deutsch, zu erlernen. Wieweit diese Annahme als zutreffend angesehen werden kann, ist von den jeweiligen Vertreter(inne)n der Position nicht weiter überprüft worden. Geht man vom Begriff ‚Zweitspracherwerb‘ aus, dann besteht die Leistung darin, Bedeutungsgehalte aus der einen Sprache in eine andere Sprache zu transformieren, d.h. Annahmen zu Art und Qualität der erforderlichen Übersetzungsleistungen aus der Erst- in die Zweitsprache stehen im Zentrum. Vor diesem Hintergrund hat es nahegelegen, auf Erfahrungen zurückzugreifen, die beim Erlernen von Deutsch als Fremdsprache gesammelt werden konnten. So herrscht eine an der Grammatik und Orthographie orientierte linguistische Variante vor9. Sie bilden daher wesentliche Bestandteile im Anfangsunterricht in der ersten Klasse. Die bisher benannten Zusammenhänge beim Unterricht von Kindern mit einer nichtdeutschen Herkunftssprache komplizieren sich in einem Modell von Fishman (1968), der zwischen formaler und informeller Sprache unterschieden hat. Hochsprachen – die in der Schule erlernte Variante einer Sprache ist hierzu zu rechnen – sind immer formale Sprachen. Alltagssprachen zählen demgegenü8 Zunächst hat die Diskussion über die Vor- und Nachteile der analytischen bzw. synthetischen Vorgehensweise beim Schriftspracherwerb die Debatte bestimmt (vgl. z.B. Bittner 1994; Gerhardt 1995; Kirschock u.a. 2002). Inzwischen verläuft die Auseinandersetzung zwischen Vertretern der lernwegsorientierten (Dehn 1994) und einer lehrgangsorientierten (Metze 1994) Variante (Schründer-Lenzen & Merkens 2006). 9 Das hat sich vor allem bei den theoretischen Überlegungen in den 1980er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gezeigt, wenn auf die kontrastive Linguistik oder den Interlanguage-Ansatz verwiesen wurde, um nur zwei Beispiele zu benennen.
Erfolg und Misserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund
37
ber zu den informellen Sprachen. Schriftspracherwerb in der Schule bedeutet für Muttersprachler/innen, dass eine informelle Sprache von einer formalen Sprache überlagert wird. Für Kinder, die eine andere Variante einer informellen Sprache beherrschen, das sind Kinder mit einer anderen Muttersprache, resultiert daraus das Problem, dass sie eine formale Sprache erwerben sollen, zu der ihnen das informelle Pendant fehlt. Diese Fragestellung hat in der bisherigen Forschung keine Rolle gespielt. Ebenso ist bisher wenig Wert auf eine an der Pragmatik orientierte Variante des Zweitspracherwerbs für die Schulen im Unterricht von Kindern mit Migrationshintergrund entwickelt worden. Die Überlegungen zum Schriftspracherwerb, wie sie bis hier dargestellt worden sind, zeigen an, dass der Spracherwerb in der Schule, vor allem dann, wenn er nicht in der Muttersprache erfolgt, eine Reihe von Fragen aufwirft. Zunächst erweist sich die einfache Annahme, dass beim Spracherwerb nur Regeln des angemessenen Kodierens und Dekodierens in Bezug auf Sprache erworben werden müssten, als nicht mehr hinreichend. Deshalb genügt beim Schriftspracherwerb die Konzentration auf Orthographie und Grammatik wahrscheinlich nicht10. Lesen erfordert ebenfalls mehr als nur das Dekodieren geschriebener Sprache. Vielmehr muss zumindest auch selektiert werden, d.h. es müssen dem Text Informationen entnommen werden, die ihre Bedeutung erst im jeweiligen Kontext gewinnen (vgl. Smith 1994)11. Rumelhart (1994) hat das Modell nochmals dahin spezifiziert, dass beim Lesen Bedeutungszuschreibungen auf der Basis des Kontextes erfolgen, in dem das jeweilige Wort steht. Dieser Ansatz passt im Prinzip besser zu der lernwegsorientierten Vorgehensweise beim Schriftspracherwerb am Beginn der Grundschule (vgl. Kirschock, Einsiedler, Treinies & Martschinke 2002). Dabei wird von Beginn an der Zusammenhang zwischen gesprochener und geschriebener Sprache herausgefordert, sowie der Prozess der Sinnentnahme beim Lesen mehr beachtet. In diesem Fall interessieren zuerst die Wahrnehmungsprozesse und die Prozesse der Regelbildung beim Lernenden (vgl. Dehn 1994)12. Dieser Prozess wird wahrscheinlich befördert, wenn gemäß der Modellierung von Fishman (1968) eine informelle Variante der Sprache beherrscht wird, über die ein kontextspezifisches Verständnis befördert werden kann. International liegt eine Reihe von Untersuchungen zu der Frage vor, ob eine bilinguale Erziehung in der Schule erforderlich sei, um die Bildungschancen von Kindern mit Migrationshintergrund systematisch zu verbessern. Dabei sind ver10 Verschriftlichung von Sprache bedeutet auch, dass ein hinreichendes Maß an Redundanz in den Text aufgenommen wird, weil auf diese Weise die Entschlüsselung des Textes leichter fällt. Das Muster der Pragmatik, das Platzieren der Wörter im Kontext, ist auch für die Verschriftlichung entscheidend. 11 In der Grundschule wird das durch die systematische Erarbeitung des Wortschatzes angestrebt. 12 Unterschiedliche Varianten zum Leseverständnis sind bei Voss, Carstensen und Bos (2005) sowie Blatt und Voss (2005) dargestellt.
38
Hans Merkens
schiedene Varianten unterschieden worden (vgl. Söhn 2005a). Inzwischen gibt es mehrere Meta-Analysen, in denen versucht wird, den Forschungsstand zu bilanzieren (Rossell & Baker 1996; Greene 1998; Slavin & Cheung 2005; Rossell & Kuder 2005). Allerdings vermitteln diese Meta-Analysen unterschiedliche Ergebnisse (Söhn 2005b). Es gibt bei einer kritischen Sichtung der vorliegenden Literatur zu Untersuchungen nur deutliche Hinweise dafür, dass sich keine negativen Effekte der bilingualen Erziehung für den Erwerb der so genannten Zweitsprache ergeben und dass Unterricht in der Erstsprache bei diesen Kindern nicht schadet (Söhn 2005a)13. Gegenwärtig werden in Deutschland zwei weitere Hypothesen favorisiert, wenn es darum geht, Gründe für den Erfolg oder Misserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund im Bildungssystem zu benennen. Erstens ist die time-ontask-Hypothese von Carroll (1963) zu nennen, die Hopf (2005) stark gemacht hat. Nach dieser Hypothese fördert vermehrter Unterricht in Deutsch den Schulerfolg der Kinder mit Migrationshintergrund nachhaltig (Barnitzky & SpeckHamdan 2005). Inzwischen liegen viele Untersuchungen vor, in denen geprüft worden ist, wieweit eine gezielte Orientierung im Sinne der Fokussierung von Unterrichtszeit auf einen Lerngegenstand zu einer Verbesserung der Lernergebnisse bei diesem Lerngegenstand führt. Die dabei erzielten Ergebnisse sind widersprüchlich (vgl. Roelofs, Veenman & Raemarkers 1994). Von dieser Vorgehensweise kann eine andere unterschieden werden, bei der im Prinzip die Gesamtdauer der Zeit abzuschätzen versucht wird, die für den Erwerb der Sprachkompetenz zur Verfügung stand. Untersuchungen dieses Typs ziehen beispielsweise die Dauer des Aufenthaltes von Schülerinnen und Schülern im Gastland in die Analysen mit ein. Hier gibt es positive Befunde dafür, dass eine längerer Aufenthaltsdauer sich günstig auf die Schulleistungen auswirkt (vgl. z.B. Cortes 2006; Stanat 2006). Aus diesen Resultaten lässt sich schlussfolgern, dass die Dauer der Zeit, die Kinder in Kontexten verbringen, in denen die Zielsprache gesprochen wird, zu einer besseren Beherrschung dieser Sprache führen wird. Deshalb wäre z.B. zu prüfen, ob der Besuch eines Kindergartens günstige Auswirkungen hat. Dabei kann zusätzlich davon ausgegangen werden, dass dort eher die informelle Variante der Sprache Deutsch vermittelt wird und das formale Training der deutschen Sprache zumindest bisher eine geringere Rolle gespielt hat.
13 Allerdings muss einschränkend darauf verwiesen werden, dass es bisher nicht gelungen ist, alle möglichen Einflüsse in den Untersuchungen zu kontrollieren. So wird das Sprechhandeln in den Familien allenfalls unvollständig erfasst, um nur ein Beispiel zu benennen: Häufig wird in den Familien bei einem Teil der Kommunikation eine Variante der Zielsprache verwendet. Das geschieht z.B. wenn Geschwister sich in der Zielsprache und nicht in ihrer Muttersprache unterhalten.
Erfolg und Misserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund
39
Unterstützung findet die These der Nützlichkeit des Kindergartenbesuchs durch eine Metaanalyse der Arbeiten, in denen die längerfristigen Wirkungen von Kompetenzen, über die die Kinder im vorschulischen Bereich verfügen, auf Kompetenzen in der Grundschule überprüft werden (LaParo & Pianta 2000)14. Allerdings werden in dieser Arbeit die Kriterien, die zum Ausschluss einer Arbeit bzw. deren Aufnahme in die Stichprobe der Metaanalyse geführt haben, nicht genau geschildert, so dass der Wert der Erkenntnisse nicht genau abgeschätzt werden kann. Folgt man aber den Ergebnissen, dann bestehen im kognitiven Bereich moderate Einflüsse des Entwicklungsstandes in der Vorschulzeit auf die Schulzeit, während es im sozialen und Verhaltensbereich eher schwächere Einflüsse zu geben scheint. Konkurrierend zur time-on-task-Hypothese gibt es zweitens die Humankapitalhypothese, nach der die familiären Voraussetzungen ein entscheidender Faktor für den Bildungserfolg auch der Kinder mit Migrationshintergrund sind15. Diese Hypothese ist vor allem durch die PISA-Studien nochmals verstärkt worden, wenn auf den Sozialstatus als entscheidende Variable für den Schulerfolg verwiesen worden ist (vgl. Baumert & Schümer 2002; Ramm u.a. 2004; Diefenbach 2005; Kristensen 2006)16. Sie ist in vielen Untersuchungen die zentrale These (vgl. auch Zöller, Roos & Schöler 2006). Zum humanen Kapital können am Beginn der Grundschule die kognitive Leistungsfähigkeit, über die Kinder verfügen, sowie deren Sprachstand in der Zielsprache Deutsch gerechnet werden. Walker, Greenwood, Hart und Carta (1994) haben über den negativen Einfluss von niedrigem Sozialstatus und Zugehörigkeit zu einer Minorität bei Kindern berichtet, bei denen die frühe Sprachproduktion mit ihren späteren Leistungen in Beziehung gesetzt wurde, wenn man diese Kinder mit Kindern verglich, deren Eltern einen höheren Sozialstatus aufwiesen – d.h. sie haben im Prinzip auch noch einmal die Humankapitalhypothese unterstützt. Allerdings mangelt es bisher an Untersuchungen, in denen systematisch versucht worden ist, eine der beiden Hypothesen zu bestätigen. Erschwerend muss 14
Hier sind genauere Aufschlüsse von der Forschergruppe aus Bamberg (Blossfeld, Faust-Siehl, Roßbach, Weinert) zu erwarten, die speziell den Übergang von der vorschulischen Erziehung, z.B. im Kindergarten, in die Grundschule untersuchen. Damit wird eine wichtige Forschungslücke geschlossen werden. 15 Die Humankapitaltheorie ist ursprünglich nicht eingegrenzt auf den Eintritt in die Grundschule und die in dieser Schulform verbrachte Zeit formuliert worden (vgl. Becker 1994; Solga 2005). Aus ihr lassen sich aber bestimmte Annahmen in Bezug auf humane Ressourcen am Beginn der Grundschule herleiten. Die kognitive Leistungsfähigkeit und die Beherrschung der deutschen Sprache können als humanes Kapital bestimmt werden, über das die Kinder am Beginn der Schule in unterschiedlichem Maße verfügen. 16 Kristensen (2006) legt dar, dass es sich bei der Benachteiligung der Kinder mit Migrationshintergrund in der Schule nicht um einen Akt der Diskriminierung, sondern um eine Auswirkung des sozioökonomischen Status handelt.
40
Hans Merkens
hinzugefügt werden, dass es sich nicht um Alternativhypothesen handelt, die sich wechselseitig ausschließen. Vielmehr können beide zutreffen. Der letzte Hinweis macht auf ein großes Defizit der bisherigen Schul- und Unterrichtsforschung aufmerksam: Es ist zu beklagen, dass es in Deutschland und auch international zu wenige Längsschnittstudien gibt, in denen der Schulerfolg von Kindern mit Migrationshintergrund untersucht und nach Gründen für deren schlechteres Abschneiden im Vergleich zu deutschen Kindern gefragt wird. Dabei wäre es wichtig, Bildungsverläufe über die Schulzeit, also Primar- und Sekundarstufe, abzubilden. Der Mangel hängt damit zusammen, dass Längsschnittstudien generell noch nicht so häufig durchgeführt werden17. Aufschlüsse über Verläufe und mögliche Gründe für solche Verläufe können aber erst auf der Basis von Längsschnittsuntersuchungen ermittelt werden. Inzwischen sind Untersuchungen begonnen worden, die vom Design her anspruchsvoller und damit geeignet sind, einige Schwächen der bisher durchgeführten Erhebungen zu beheben. Beispielsweise haben Moser, Stamm und Hollenweger (2005) im Kanton Zürich eine breit angelegte Studie zur hier interessierenden Fragestellung begonnen. Sie haben vor allem auch eine Messung der Eingangsqualifikationen und -kenntnisse bei den Schulkindern durchgeführt. Damit ist ein Desiderat der meisten bisher durchgeführten Untersuchungen behoben. Allerdings wird auch bei der Untersuchung in Zürich kein experimentelles Design realisiert. Das wird in aller Regel unter den Bedingungen der Schule nicht möglich sein, wenn längerfristige Untersuchungen durchgeführt werden müssen. 3
Untersuchungshypothesen
Bei der Untersuchung von Bildungsverläufen lassen sich verschiedene Ansatzpunkte unterscheiden. Auf der Basis des Humankapitalansatzes kann nach der Wirkung personaler Ressourcen auf den Schulerfolg gefragt werden. Weiterhin kann geprüft werden, ob sich die Lernzeit auf den Lernerfolg auswirkt. Außerdem empfiehlt es sich, bei Untersuchungen zum Bildungserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund Kompositionseffekte der Klasse in die Untersuchung mit einzubeziehen. Im Folgenden sollen drei Hypothesen geprüft werden, die sich in diesem Umfeld ansiedeln lassen. H1: Der Besuch vorschulischer Einrichtungen wirkt sich positiv auf den Bildungserfolg von Kindern mit Migrationhintergrund aus. 17
Das hängt erstens mit den hohen Kosten, zweitens aber auch mit spezifischen Problemen des Datenschutzes zusammen, weil in Längsschnittuntersuchungen parallel zu dem Datenfile eine Datei vorhanden sein muss, über die es gelingt, die Daten der einzelnen Wellen zusammen zu spielen.
Erfolg und Misserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund
41
H2:
Personale Ressourcen, über die Kinder am Beginn der Schulzeit verfügen, haben einen wesentlichen Einfluss auf den jeweiligen Bildungserfolg. H3: Die Zusammensetzung der jeweiligen Klasse, der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund, beeinflusst den Bildungserfolg der Kinder mit Migrationshintergrund. Von diesen Hypothesen lässt sich die zweite unschwer dem Humankapitalansatz zuordnen. Die erste kann bei einer Bestätigung als Indikator dafür angesehen werden, dass eine längere Dauer der Beschäftigung mit der Zielsprache Deutsch einen positiven Effekt ausübt; sie kann also als eine Variante der time-on-taskHypothese betrachtet werden. Die dritte stellt eine Mischung dar18. Einerseits variiert die Dauer der Beschäftigung mit der Zielsprache Deutsch in der Regel mit den dort benannten Bedingungen. Vor allem Kinder der gleichen Herkunft können auch Zeit mit einer anderen als der deutschen Sprache in der Schule verbringen. Diese Wahrscheinlichkeit nimmt bei einem größeren Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund in einer Klasse zu. Andererseits handelt es sich um einen Kompositionseffekt der Klasse. 4
Das Design der Untersuchung und Instrumente
Im Folgenden werden Ergebnisse einer Längsschnittstudie aus dem Projekt ‚BeLesen‘ berichtet, in dem der Schriftspracherwerb von Kindern mit Migrationshintergrund in Berlin untersucht wurde19. In Klassen mit einem hohen Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund sollten Bedingungen für einen verbesserten Lernerfolg dieser Kinder in der Grundschule ermittelt werden. Alle Grundschulen, aus denen Klassen in der Stichprobe vertreten waren, lagen im Westteil der Stadt in Quartieren, die im Sozialatlas von Berlin als durchschnittlich bis sozial schwach gekennzeichnet sind. Die Untersuchung wurde im Herbst 2002 im ersten Schuljahr begonnen20 und am Ende der vierten Klasse im Herbst 18 Es hat sich bei einer Zwischenauswertung herausgestellt, dass vor allem die Kinder mit einem türkischen Migrationshintergrund bei einem höheren Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund in einer Klasse benachteiligt werden. Das kann man als Variante der time-on-task-Hypothese im hier vertretenen Sinn ansehen (vgl. auch Bellin 2009). 19 Das Projekt wurde von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport Berlin finanziert und wurde von Prof. Dr. Hans Merkens sowie Prof. Dr. Agi Schründer-Lenzen geleitet. 20 Für einen großen Teil der Stichprobe konnten die Daten der Einschulungsuntersuchung, soweit sie nicht medizinisch waren, zugespielt werden. Auf diese Weise konnten für die Kinder der vorschulische Sprachstand (nach Einschätzung der Mediziner/innen), der Besuch einer vorschulischen Einrichtung (nach Angaben der Eltern) und in vielen Fällen ein sozioökonomischer Status gebildet werden. Die Angaben zum Besuch der vorschulischen Einrichtung werden auf der Basis dieser ergänzenden Angaben im Folgenden als unabhängige Variable in die Analysen eingefügt.
42
Hans Merkens
2006 abgeschlossen. Jeweils halbjährlich wurden Schülerleistungen in Deutsch sowie Mathematik erhoben und ein bis zwei Monate später klassenbezogen an die jeweiligen Lehrkräfte zurückgemeldet21. Die Stichprobe setzte sich aus 55 Klassen an 26 Grundschulen zusammen. Es handelte sich um eine Längsschnittstudie, die in der Klasse 1 begonnen hat und mit dem Ende der Klasse 4 abgeschlossen worden ist. Auf ein Auswahlverfahren wurde bei der Zusammensetzung der Stichprobe verzichtet, es wurde nur als Bedingung formuliert, dass weniger als drei Zehntel der Schülerinnen und Schüler in den Klassen deutscher Herkunft sein durften. In der Stichprobe überwogen demnach Kinder mit Migrationshintergrund22. Es handelt sich um eine gelegentliche Stichprobe. Obwohl im Verlauf der Untersuchung etwa ein Drittel der Schülerinnen und Schüler als Schwund zu verzeichnen ist, hat sich die Komposition der Stichprobe kaum verändert, wie Tabelle 1 belegt. Tab. 1: Übersicht über die Entwicklung der Stichprobe zwischen Beginn Klasse 1 und Ende Klasse 423 Beginn Klasse 1
Ende Klasse 1
Ende Klasse 4
Schulen
26
26
25
Klassen
59
59
52
Gesamt
24
1237
1215
1188
Anzahl
N
%
N
%
N
%
Männlich
587
47,5
607
50
594
50
Weiblich
650
52,5
608
50
594
50
(14 ohne Angabe) Deutsch
378
30,6
363
29,9
335
28,3
Migration
859
69,4
773
63,6
854
71,7
(51 ohne Angabe)
Die Auswertung, die im Folgenden vorgestellt wird, basiert auf einer Nettostichprobe von 25 Schulen und 52 Klassen mit insgesamt 925 Kindern, von denen 21 Die Lehrerinnen wurden im Anschluss an die Rückmeldung befragt, wie sie ihren Unterricht im vergangenen halben Jahr gestaltet hatten und welche Schwerpunkte sie im nächsten Halbjahr in ihrem Unterricht setzen wollten. Über diesen Teil der Untersuchung wird hier nicht berichtet. 22 Die Verkehrszellen, in denen die Grundschulen lagen, wiesen nach dem Sozialindex von Berlin Werte zwischen 4 und 7 auf. Sie reichten also von einer mittleren bis zu einer sehr ungünstigen Lage. 4 Schulen lagen in Verkehrszellen mit mittlerer, 2 in einer mit niedriger, 9 in einer mit der ungünstigsten und 11 in einer mit ungünstiger sozialer Lage. 23 Der Schwund bei den Schulen resultierte daraus, dass eine Schule aufgelöst worden ist. Der Schwund bei den Klassen ergab sich durch Zusammenlegungen von Förderklassen. 24 Gesamtzahl der Kinder, die bei den einzelnen Messzeitpunkten teilgenommen haben.
Erfolg und Misserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund
43
49,9% männlichen sowie 50,1% weiblichen Geschlechts waren und 29,4% deutscher sowie 70,6% nichtdeutscher Herkunft gewesen sind25. Um die Lesekompetenz zu erfassen und über die Jahre der Untersuchung miteinander vergleichbare Ergebnisse zu erhalten, wurde die Würzburger Leiseleseprobe WLLP (Küspert & Schneider 1998) – die Leseleistung wird als Dekodiergeschwindigkeit operationalisiert – zu allen hier interessierenden Messzeitpunkten eingesetzt. In der Mitte der ersten Klasse wurden die Hamburger Schreibprobe und am Ende der Klasse 4 ein C-Test eingesetzt. C-Tests sind so aufgebaut, dass ihnen eine Geschichte als Grundlage dient, die die Kinder kennen müssen und die oft deren Alltag entnommen ist. Nach einem kurzen vollständigen einleitenden Satz fehlt in allen folgenden Sätzen bei jedem zweiten Wort die zweite Hälfte der Buchstaben. Die Kinder müssen also auf der Basis einer eingeschränkten Information den Sinn des Textes rekonstruieren und dann die jeweiligen fehlenden Worthälften ergänzen26. Im November 2002 sind die Lehrerinnen gebeten worden, den Sprachstand ihrer Schülerinnen und Schüler einzuschätzen. Außerdem ist in der Mitte der Klasse 1 die kognitive Leistungsfähigkeit der Kinder mit vier Subtests des CFT erfasst worden.
25
Die Differenz zur Ausgangsstichprobe resultiert neben den in Anmerkung 22 genannten Umständen aus einer starken Binnenwanderung in Berlin. 26 C-Tests setzen im Sinne der eingangs zum Spracherwerb formulierten Theorien ein komplexes Verständnis beim Lesen voraus (vgl. auch Voss, Carstensen & Bos 2005).
44 5
Hans Merkens Ergebnisse der Untersuchung
Zunächst bleibt festzuhalten, dass alle Kinder, die an der Untersuchung teilgenommen haben, in den ersten vier Jahren der Grundschule Lernfortschritte erzielt haben. Weiterhin ist bedeutsam, dass alle Auswertungen, variablen- und nicht personenorientiert durchgeführt worden sind (Eye 2006). Tab. 2: Deskriptive Befunde Test
Gesamtstichprobe
Deutsche
Nichtdeutsche
Alpha
Mittel-
Streu-
Mittel-
Streu-
Mittel-
Streu-
wert
ung
wert
ung
wert
ung
Sprachstand
3,1
0,8
3,7
0,5
2,8
0,8
0,97
CFT
24,8
5,8
26,7
5,0
24,0
6,0
0,85
HSP
8,6
4,5
9,7
4,3
8,2
4,5
0,9
WLLP 1
27,4
16,3
33,3
18,4
25,0
14,6
0,97
WLLP 4
102,9
23,6
113,7
22,6
98,4
24,5
C-Test
35,5
8,5
40,3
7,7
33,5
7,9
In allen Tests haben zu den verschiedenen Messzeitpunkten die deutschen Schüler/innen durchschnittlich besser abgeschnitten als der Durchschnitt der Schüler/innen nichtdeutscher Herkunft. Insofern werden Befunde anderer Studien bestätigt27. Die Prüfung der Hypothesen erfolgt in einem ersten Schritt mit Varianzanalysen. Dabei wird als abhängige Variable jeweils das Abschneiden bei der Würzburger Leiselese Probe bzw. beim C-Test verwendet. Als Kovariaten werden die folgenden Variablen in die Analysen eingefügt: Die kognitive Leistungsfähigkeit, gemessen mit drei Subtests des CFT, der von den Lehrerinnen eingeschätzte Sprachstand im November 2002, der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund in den jeweiligen Klassen und der Besuch einer Vorschuleinrichtung. Während die ersten beiden Kovariaten humanes Kapital abbilden, über das die Kinder am Beginn der Grundschule verfügt haben, wird mit der dritten ein Kompositionseffekt der jeweiligen Klassen erfasst. Die vierte wird als Maß für die gewährte Lernzeit in der Zielsprache Deutsch einbezogen.
27
Dass sich dieses Ergebnis auch beim CFT einstellt, kann als Indikator dafür genommen werden, dass der Test nicht sprachfrei ist. Die entsprechenden Anweisungen zum Test wurden auf Deutsch präsentiert.
Erfolg und Misserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund
45
Tab. 3: Univariate Varianzanalyse WLLP Ende Klasse 1 F-Wert
Signifikanz
Quelle
Part. Eta-Quadr.
Kovariate: Kognitive Leistungsfähigkeit
57,9
.000
Kovariate: Anteil ausländischer Kinder
3,6
.06
.01
Kovariate Sprachstand November 2002
48,3
.000
.08
Geschlecht
1,1
.3
Herkunft
0,4
.8
Besuch einer Vorschuleinrichtung
0,04
.9
Geschlecht x Herkunft
0,7
.5
Geschlecht x Vorschulische Einrichtung
1,1
.4
Herkunft x Vorschulische Einrichtung
0,9
.5
Herkunft x Geschlecht x Besuch einer vorschuli- 0,2
.9
.09
schen Einrichtung R-Quadrat=0,29
Mit der Varianzanalyse werden 29% der Varianz aufgeklärt. Das verdeutlicht, dass die Aussagen, die auf der Basis der Analyse formuliert werden können, in Bezug auf die Forschungshypothesen substantiell sind. Es sind zwei Variablen, die einen sehr starken Einfluss ausüben, d.h. über eine hohe Effektstärke verfügen: Die kognitive Leistungsfähigkeit (10%) und der Sprachstand der Kinder im November des Besuchs der ersten Klasse (8%). Es ist das humane Kapital, welches einen deutlichen Einfluss auf die Leistungen der befragten Kinder am Ende der ersten Klasse ausübt. Zwei Ergebnisse überraschen: Das Geschlecht und die Herkunft, die hier wie in den anderen Varianzanalysen, die noch mitgeteilt werden, als deutsch, als mit türkischem Migrationshintergrund und als mit anderem Migrationshintergrund operationalisiert worden sind und jeweils mit dem Ausgangsdatum, Beginn Klasse 1, übernommen werden28, üben keinen Einfluss aus. Das kann für die Herkunft damit erklärt werden, dass in der Variablen ‚Sprachstand‘ im November Klasse 1 indirekt auch eine Wirkung der Variablen ‚Herkunft‘ enthalten ist: Der Sprachstand variierte sys-
28 Das ergab sich alleine schon deshalb als notwendig, weil im Verlauf der Untersuchung Klassen zusammengelegt worden sind (vgl. Tab. 1).
46
Hans Merkens
tematisch mit der Herkunft (vgl. Merkens u.a. 2006)29. Der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund in den Klassen ist ebenfalls kaum von Bedeutung. Alle weiteren Variablen, auch der Besuch einer vorschulischen Einrichtung, bleiben ohne systematische Wirkung. Tab. 4: Univariate Varianzanalyse WLLP Ende Klasse 4 F-Wert
Signifikanz
Quelle
Part. EtaQuadr.
Kovariate: Kognitive Leistungsfähigkeit
40,0
.000
.06
Kovariate: Anteil ausländischer Kinder
18,2
.000
.05
Kovariate Sprachstand November Klasse 1
38,9
.000
.16
Geschlecht
0
.99
Herkunft
1,1
.3
Besuch einer Vorschuleinrichtung
4,8
.01
Geschlecht x Herkunft
0,7
.5
Geschlecht x Besuch einer vorschulischen Einrichtung
1,1
.4
Herkunft x Besuch einer Vorschuleinrichtung
0,9
.5
Herkunft x Geschlecht x Besuch einer vorschulischen 0,2
.7
.02
Einrichtung R-Quadrat=0,29
Am Ende der Klasse 4 hat sich der Prozentsatz der aufgeklärten Varianz nicht verändert. Noch immer stehen die kognitive Leistungsfähigkeit und der Sprachstand der Kinder im November der ersten Klasse an der Spitze der Variablen, die systematisch zur Varianzaufklärung beitragen, obwohl seit der Diagnose der kognitiven Leistungsfähigkeit und des Sprachstandes der Kinder mehr als drei Jahre verstrichen sind. Die Effektstärken sind auch nur wenig zurückgegangen. Offensichtlich kommt dem humanen Kapital, welches die Kinder am Beginn der Grundschule mitbringen, ein großer Einfluss zu. Aber es gibt auch zwei bemerkenswerte Veränderungen in der Struktur der Ergebnisse: Die Kovariate ‘Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund in der Klasse‘, wiedergegeben für die Zusammensetzung der Klasse in der Klasse 1 am Beginn der Schulzeit, hat einen systematischen Einfluss auf das Ergebnis. Außerdem gibt es jetzt einen Einfluss der Variablen ‚Besuch einer vorschulischen Einrichtung‘. Am Ende der Klasse 4 zeigt sich demnach ein Hinweise darauf, dass neben der Ausstattung mit huma29
Auf eine Dokumentation der entsprechenden Ergebnisse wird an dieser Stelle verzichtet, weil die im hier berichteten Kontext wichtige Frage danach, welche Ressourcen den Schulerfolg nachhaltig beeinflussen und welche Kompositionseffekte sich in diesem Zusammenhang zusätzlich nachweisen lassen, von größerem Interesse ist.
Erfolg und Misserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund
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nem Kapital auch die time-on-task eine Rolle beim Schulerfolg der Kinder spielt. Denn sowohl der Besuch einer vorschulischen Einrichtung als auch ein niedrigerer Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund in der Klasse können als Indikator dafür gelten, dass die Kinder häufiger Gelegenheit haben bzw. gezwungen sind, Deutsch zu sprechen. Der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund kann zusätzlich als Indikator dafür genommen werden, dass die Kompositionseffekte der Klasse in der Grundschule eine Rolle spielen (vgl. hierzu auch Bellin 2009). Die Herkunft und auch das Geschlecht üben wiederum keinen Einfluss auf die Ergebnisse aus. Damit werden die Ergebnisse am Ende der ersten Klasse bestätigt. Ebenfalls gibt es, das traf bereits am Ende der ersten Klasse zu, keine Interaktionseffekte. Tab. 5: Univariate Varianzanalyse C-Test Ende Klasse 4 F-Wert Quelle
Signifi-
Part. Eta-
kanz
Quadr.
Kovariate: Kognitive Leistungsfähigkeit
38,7
.000
.06
Kovariate: Anteil ausländischer Kinder
31,^1
.000
.05
Kovariate Sprachstand November Klasse 1
108,3
.000
.16
Geschlecht
1,2
.3
Herkunft
1,0
.4
Besuch einer Vorschuleinrichtung
6,7
.001
Geschlecht x Herkunft
0,3
.8
Geschlecht x Besuch einer Vorschuleinrichtung
0,6
.5
Herkunft x Besuch einer Vorschuleinrichtung
1,6
.2
Herkunft x Geschlecht x Besuch einer vorschulischen Ein- 0,5
.7
.03
richtung R-Quadrat=0,44
Die Ergebnisse zum C-Test enthalten im Vergleich zu den bisher vorgestellten Resultaten einige Überraschungen. Der Anteil der aufgeklärten Varianz ist deutlich größer. Das zeigt an, dass anspruchsvollere Leistungen in Deutsch noch mehr durch die Variablen beeinflusst werden, die auch bisher schon im Fokus der Betrachtung gestanden haben. Vor allem der Sprachstand, den die Lehrerinnen im November der ersten Klasse mitgeteilt haben, übt einen sehr starken Effekt aus (20%). Der Einfluss der kognitiven Leistungsfähigkeit ist dem bei der WLLP vergleichbar. Leicht zugenommen haben nochmals in der Effektstärke die Zusammensetzung der Klasse – Anteil Kinder mit Migrationshintergrund am Beginn der ersten Klasse – und der Besuch einer vorschulischen Einrichtung:
48
Hans Merkens
Kinder, die einen Kindergarten besucht haben, sind in ihren Leistungen im CTest deutlich besser30. Demgegenüber gibt es für Geschlecht und Herkunft wiederum keinen systematischen Effekt. So werden die Ergebnisse für die Würzburger Leiseleseprobe in gewisser Weise bestätigt. Es bleibt aber festzuhalten, dass alle Effektstärken im Vergleich mit dieser Variablen zugenommen haben. Der große Einfluss der Kovariaten auf die abhängigen Variablen legt es nahe, die Ergebnisse am Ende der vierten Klasse nochmals mit Regressionsanalysen zu überprüfen. Dabei wird zusätzlich der mit dem HSP in der Mitte der ersten Klasse gemessene Sprachstand als unabhängige Variable aufgenommen. Auf diese Weise soll der frühe Sprachstand der Kinder in der Schule auch noch mit einem standardisierten Test erfasst werden. Tab. 6: Regressionsanalysen für WLLP und C-Test am Ende der Klasse 4 Unabhängige Variablen
WLLP
C-Test
Hamburger Schreibprobe
.32
.33
Anteil Kinder mit Migrationshintergrund
-.19
-.14
CFT
.19
.15
Kindergartenbesuch
.10
.11
Sprachstand November 2002
.11
.26
R-Quadrat
.38
.47
Einerseits werden die Ergebnisse der Varianzanalysen bestätigt, andererseits ergeben sich doch leichte Modifikationen. Der nach einem halben Jahr Grundschulbesuch mit der HSP gemessene Stand der Schreibentwicklung ist in beiden Fällen der beste Prädiktor. Bei der Würzburger Leiselese-Probe wirkt der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund in der jeweiligen Klasse deutlich negativ stärker als beim C-Test. Hier hat der am Beginn der Schule von der jeweiligen Lehrerin eingeschätzte Sprachstand eine große Wirkung, die bei der Würzburger Leiseleseprobe deutlich geringer ausfällt. In beiden Fällen ist die kognitive Leistungsfähigkeit ein Prädiktor für die Schulleistungen und es gibt in beiden Fällen auch einen moderat positiven Einfluss des Kindergartenbesuchs auf die erzielten Leistungen. Die Varianzaufklärung für Leistungen am Ende der vierten Klasse durch Variablen am Beginn der Grundschulzeit ist wiederum groß. Während die Humankapitalthese als gut bestätigt angesehen werden kann, fällt die Bestäti30
Die größten Nachteile weisen die Kinder auf, die bei der Einschulungsuntersuchung durch den Jugendgesundheitsdienst zurückgestellt worden sind und eine Vorklasse besucht haben. Sie hatten zwar am Ende der Vorklasse bei der Feststellung der Deutschleistungen durch die Lehrerinnen Vorteile gegenüber den Kindern, die keine Einrichtung besucht hatten (am besten schnitten die Besucher eines Kindergartens ab), aber langfristig haben sie bestimmte Nachteile bei ihrem Lernen, die zur Aberkennung der Schulreife führten, nicht abarbeiten können.
Erfolg und Misserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund
49
gung der time-on-task-Hypothese deutlich schwächer aus, aber auch hier zeigt sich ein moderater Einfluss. 6
Diskussion der Ergebnisse
Die drei Untersuchungshypothesen konnten bestätigt werden. Dabei ist vor allem das Ergebnis für die erste Hypothese von Interesse: Während sich am Beginn der Grundschule, in der Klasse 1, keine Vorteile für Kinder nachweisen ließen, die einen Kindergarten besucht hatten, schnitten diese im Durchschnitt am Ende der Klasse 4 deutlich besser ab, wenn das Sprachverständnis getestet wurde. Weiterhin konnte für alle Messzeitpunkte nachgewiesen werden, dass bessere personale Ressourcen am Beginn der Grundschule, kognitive Leistungsfähigkeit und Sprachverhalten (Hypothese 2), förderlich für das Sprachverständnis sind. Außerdem konnte nachgewiesen werden, dass ein Kompositionseffekt der Klasse am Beginn der Grundschule einen Einfluss auf das Sprachverständnis der Kinder hat (Hypothese 3)31. Es konnten also eine Reihe von Ursachen für die Entwicklung des Sprachverständnisses bei Kindern mit Migrationshintergrund in der Grundschule nachgewiesen werden. Dieses Ergebnis kann man auch als Indikator dafür ansehen, dass die time-on-task-Hypothese bestätigt worden ist. In Klassen mit einem höheren Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund bieten sich mehr Gelegenheiten, in der Herkunfts- und nicht in der Muttersprache zu kommunizieren32. Die Notwendigkeit von Längsschnittuntersuchungen lässt sich mit den hier vorgestellten Ergebnissen bestätigen. Inhaltlich zeigt sich, dass individuelle Ressourcen, über die die Kinder am Beginn der Grundschule verfügen, zumindest in Klassen, in denen ein großer Teil der Kinder mit Migrationshintergrund am Unterricht teilnimmt, den Schulerfolg in hohem Maße beeinflussen. Überraschend ist, dass der Herkunft keine sehr große Bedeutung zukommt33. Ebenfalls lässt sich kein Vorteil der Mädchen dokumentieren. Von Interesse ist ein weiteres Ergebnis: Die Lehrerinnen schätzten im November der Klasse 1 den Sprachstand 31 Zur Bedeutsamkeit von Kompositionseffekten für den Lernerfolg von Grundschulkindern vgl. auch Lehmann (2006). Allerdings handelt es sich in diesem Fall nicht um die Ergebnisse einer Längsschnittuntersuchung. Es werden Querschnittsdaten analysiert. 32 Merkens (2005) konnte zeigen, dass es sich um einen Effekt handelt, der durch die Kinder mit einem türkischen Migrationshintergrund verursacht wird (vgl. auch Mücke 2006). Etwas differenzierter sind die Analysen von Bellin (2009). 33 Dieses Ergebnis bestätigt sich in den Varianzanalysen auch dann, wenn die Variable ‚Sprachstand im November der Klasse 1‘ nicht in die Analysen aufgenommen wird. Das kann als Indikator dafür genommen werden, dass die einfache Annahme, die Kinder müßten zunächst in ihrer Muttersprache unterrichtet werden, so nicht zutreffen kann.
50
Hans Merkens
der Kinder ein. Zu diesem Zeitpunkt konnten Leistungen in Orthographie, wahrscheinlich aber auch in Grammatik, (noch) keine entscheidende Rolle spielen. Es ging vielmehr im Kern um eine Einschätzung der Kommunikation in der deutschen Sprache. Die Kinder, die hier besser abschnitten, wurden entsprechend besser bewertet. Das so eingeschätzte Sprachverhalten beeinflusst wiederum das Sprachverständnis am Ende der Klasse 4. Damit wird ersichtlich, dass es vor allem Sprachverhalten ist, welches in der Grundschule eine entscheidende Rolle spielt. Diese Interpretation spricht dafür, eine Bestätigung des pragmatischen Ansatzes von Ehlich (2005) aus den Ergebnissen heraus zu lesen. Sie macht es aber auch erforderlich, die Maxime zu beachten, dass jeder Unterricht in der Grundschule Sprachunterricht ist. Weiterhin zeigt sich, dass in den Grundschulklassen, die in die Untersuchung einbezogen waren, die am Beginn der Grundschule vorhandenen Sprachdifferenzen nicht systematisch abgebaut werden konnten. Deshalb handelt es sich bei den in PISA mitgeteilten Befunden über die schlechteren Chancen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Alter von 15 Jahren wahrscheinlich um einen Effekt, der bereits in der Grundschule wirksam ist. Die Annahme, die im Anschluss an Fishman (1968) über das Zusammenspiel von formaler und informeller Sprache formuliert worden ist, ist konkret in der vorliegenden Untersuchung nicht überprüft worden. Die Tatsache, dass ein Aufenthalt im Kindergarten sich günstig auf Dimensionen der Lesekompetenz auswirkt, wie sie hier mit WLLP und C-Test getestet worden ist, kann aber so interpretiert werden, dass ein Kindergartenbesuch zum Aufbau der informellen Alltagssprache in der Zielsprache Deutsch beigetragen hat. Entsprechend dem pragmatischen Ansatz von Ehlich (2005) kann darüber ein Tiefenverständnis von Sprache gefördert werden. Die Schlussfolgerung daraus wäre – das wird in einer Anschlussuntersuchung überprüft –, dass die Teilnahme am Ganztagsschulunterricht sich bei Kindern mit Migrationshintergrund auf die Lesekompetenz positiv auswirkt. Zusätzlich müsste auch geprüft werden, ob sich der vermutete Zusammenhang zwischen informeller und formaler Sprache bestätigen lässt. Literatur Arbeitsgruppe „Bildungsbericht“ des Max-Plack-Instituts für Bildungsforschung (1994): Forschungsbericht Nr. 53 des MPI für Bildungsforschung. Berlin: MPI Bartnitzky, Horst; Speck-Hamdan, Angelika (2005). Sprachförderung als Herausforderung. In: Horst Bartnitzky; Angelika Speck-Hamdan (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache. Beiträge zur Reform der Grundschule 120, Frankfurt a. M.: Arbeitskreis Grundschule – Der Grundschulverband, S. 818.
Erfolg und Misserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund
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Cornelia Braun, Volker Mehringer
Familialer Hintergrund, Übertrittsempfehlungen und Schulerfolg bei Kindern mit und ohne Migrationshintergrund
1
Einleitung
Diskrepanzen im Schulerfolg von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund, welche nicht erst in der Sekundar-, sondern bereits in der Primarstufe des deutschen Bildungswesens deutlich zu Tage treten, stoßen in den letzten Jahren zunehmend auf breites politisches und wissenschaftliches Interesse. Die intensiven Bemühungen der empirischen Bildungs- und Ungleichheitsforschung haben wesentlich dazu beigetragen, verschiedene Faktorenbündel zu identifizieren, die einen großen Anteil an der Entstehung, Aufrechterhaltung und Verstärkung dieser Differenzen haben (vgl. z.B. Deutsches PISA-Konsortium 2001; Bos, Hornberg, Arnold, Faust, Fried, Lankes, Schwippert & Valtin 2007; Schründer-Lenzen & Merkens 2006; Tiedemann & Billmann-Mahecha 2004; Herwartz-Emden, Braun, Heinze, Rudolph-Albert & Reiss 2008; Herwartz-Emden, Reiss & Mehringer 2008). Eines dieser Faktorenbündel stellt der so genannte familiale Hintergrund dar, auf dessen Bedeutung für Schullaufbahn und Schulerfolg aktuelle Studien immer wieder verstärkt hinweisen (vgl. z.B. Baumert & Schümer 2002; Ehmke, Hohensee, Heidemeier & Prenzel 2004; Diewald & Schupp 2004). Obwohl die Berücksichtigung der familiären Lebensverhältnisse mittlerweise als fester Bestandteil von Schulleistungsuntersuchungen gelten kann, wurde bislang in Deutschland nur selten explizit der familiale Hintergrund von Kindern mit Migrationshintergrund in seinem Einfluss auf die Vergabe von Übertrittsempfehlungen und den Schulerfolg untersucht. Die aktuelle Forschungspraxis beschränkt sich meist darauf, den Migrationshintergrund als ein familiales Merkmal gleich gestellt mit anderen Merkmalen in die Analysen aufzunehmen. Dabei wird allerdings häufig der indirekte Einfluss des Migrationshintergrunds, der über andere familiale Merkmale vermittelt wird, nur ungenau herausgearbeitet. Es wird nicht ausreichend deutlich, ob und inwieweit die Lebensverhältnisse einer Familie bedingt durch einen vorhandenen oder nicht vorhandenen Migrationshintergrund differentiell auf die schulische Laufbahn einwirken.
56
Cornelia Braun, Volker Mehringer
Vorliegender Text setzt an diesem Punkt an und stellt durch einen Vergleich logistischer Regressionsmodelle für Grundschüler(inne)n mit und ohne Migrationshintergrund heraus, wie kulturelle, ökonomische und soziale Familienmerkmale in Abhängigkeit vom Migrationshintergrund den Schulerfolg in Form der am Ende der Grundschulzeit vergebenen Übertrittsempfehlungen beeinflussen. Die Grundlage für diese Analysen bilden Daten aus dem Projekt „Sozialisation und Akkulturation in Erfahrungsräumen von Kindern mit Migrationshintergrund – Familie und Schule“ (SOKKE), das an späterer Stelle genauer vorgestellt wird. 2
Familialer Hintergrund, Übertrittsempfehlungen und Schulerfolg
Der bedeutsame Einfluss familialer Merkmale auf den Schulerfolg gilt als erwiesen (vgl. z.B. Baumert & Schümer 2002; Ehmke u.a. 2004; Diewald & Schupp 2004). Familiale Lebensverhältnisse stellen bedeutsame Entwicklungsumgebungen dar, welche mit sozialen sowie ethnischen Merkmalen in Zusammenhang stehen (vgl. Ehmke & Baumert 2007) und über Erziehungs- und Sozialisationsprozesse einen wesentlichen Einfluss auf die schulischen Leistungen ausüben. Somit können unterschiedliche familiale Lebenssituationen differentielle Lernprozesse und Bildungslaufbahnen bedingen (vgl. ebd.). Aufgrund der Tatsache, dass sich der elterliche Einfluss am Übergang von der Grund- auf eine weiterführende Schule, an dem erstmals eine institutionsbedingte Trennung der Schüler(inne)n stattfindet (vgl. Schneider 2004), als höchst bedeutsam erweist (vgl. z.B. ebd.; Erikson & Jonsson 1996), liegt der Fokus der hier berichteten Ergebnisse auf den am Ende der Grundschulzeit von den Lehrkräften formulierten Übertrittsempfehlungen. Diese werden in den meisten Bundesländern entlang der in der 4. Klasse vergebenen Deutsch- und Mathematiknoten gebildet und stellen somit einen guten Indikator des am Ende der Grundschule erreichten formalen Schulerfolgs dar. Darüber hinaus kann der Übertrittsempfehlung zusätzliche Bedeutung beigemessen werden, da die verschiedenen Schulzweige aufgrund ihres Anspruchsniveaus differentielle Lernmilieus darstellen und die weiteren schulischen und beruflichen Chancen somit maßgeblich beeinflussen. Obwohl Kinder mit Migrationshintergrund an deutschen Grundschulen mit einem Anteil von über 30% keinesfalls eine zu vernachlässigende Minderheit darstellen (Statistisches Bundesamt 2007), stehen umfassende Erklärungsansätze in Bezug auf den Verlauf ihrer Schulkarriere nach wie vor aus. US-amerikanische Untersuchungen liefern deutliche Hinweise dahingehend, dass familiale Merkmale gerade für den Schulerfolg von Kindern, die einer Minorität angehören, von großer Bedeutung sind (Epstein 2001; Henderson & Mapp 2002). Für
Familialer Hintergrund, Übertrittsempfehlung und Schulerfolg
57
den deutschsprachigen Raum stehen Erkenntnisse diesbezüglich bislang allerdings weitestgehend aus. Die Frage nach einer je nach Herkunft eventuell unterschiedlichen Wirkweise der Variablen wurde ebenfalls nicht erforscht. In Anlehnung an Bourdieu (1983) wurden die Variablen zur Erfassung des familialen Hintergrundes den Bereichen kulturelles, soziales und ökonomisches Kapital zugeordnet und zudem in Struktur- oder Prozessvariablen (Helmke & Weinert 1997) untergliedert (siehe Tab. 1). Den Strukturmerkmalen sind indirekt wirkende, strukturelle Variablen wie beispielsweise die Familienform zuzuordnen. Die Prozessmerkmale umfassen Variablen, die direkt beeinflussende und beeinflussbare Prozesse innerhalb der Familie wie zum Beispiel das konkrete elterliche Unterstützungsverhalten abbilden. Im Folgenden werden die einzelnen im Rahmen der Studie erhobenen Variablen kurz vorgestellt und operationalisiert. Tab. 1: Erfasste familiale Variablen
Strukturvariablen
Prozessvariablen
UNABHÄNGIGE VARIABLEN Kulturelles Kapital Soziales Kapital Kultureller Anregungsgehalt (Ausgewählte Kulturgüter) Familienstruktur (Ein/Zweielternfamilie, Familialer Anzahl Geschwister) Bildungshintergrund (Elterlicher Schulabschluss) Kulturelle Praxis (In der Familie gesprochene Sprache, wahrgenommene elterliche Unterstützungsleistungen)
Ökonomisches Kapital Sozioökonomischer Status (HISEI)
Nachhilfe
ABHÄNGIGE VARIABLE Übertrittsempfehlung
2.1
Kulturelles Kapital
Kulturelles Kapital meint in Anlehnung an Bourdieu (1983) diejenigen Ressourcen, die die grundlegende regelmäßige Teilnahme an der bürgerlichen Kultur ermöglichen. Es erscheint in drei unterschiedlichen Formen: Zum einen in einem verinnerlichten inkorporierten Zustand in Form von dauerhaften Dispositionen des Organismus, darüber hinaus in einem objektivierten Zustand in Form von
58
Cornelia Braun, Volker Mehringer
Kulturgütern und zum anderen im institutionalisierten Zustand. Übertragen auf den familialen Hintergrund kann das kulturelle Kapital auf Strukturebene unter anderem am kulturellen Anregungsgehalt des Haushalts und am familialen Bildungshintergrund festgemacht werden. Um die Konstrukte zu operationalisieren, wurden in der Untersuchung zum einen ausgewählte Kulturgüter (Bücher, Zeitungen und Lernprogramme) und zum anderen die elterlichen Schulabschlüsse erfragt. Auf Prozessebene ist es vor allem die gelebte kulturelle Praxis, durch die die intergenerative Transmission dieser Kapitalsorte zu großen Teilen getragen wird. Aus forschungsökonomischen Gründen wurde die kulturelle Praxis auf die in der Familie gesprochene Sprache und die wahrgenommenen elterlichen Unterstützungsleistungen beschränkt. Erstere ist, wie viele Studien zeigen (vgl. z.B. Lanfranchi 2002; Stanat & Christensen 2006), ein zentrales schulerfolgsrelevantes Merkmal bei Familien mit Migrationshintergrund. Die von den Kindern wahrgenommenen Unterstützungsleistungen durch ihre Eltern wurden mit Hilfe von vier selbst konstruierten Skalen erfasst. In Anlehnung an die Arbeiten von Martinez-Pons (1996 & 2002) und Hoover-Dempsey und Sandler (2005) sind diese Skalen Abbildungen der Unterstützungsprozesse Ermutigung, Vorbildfunktion, positive Verstärkung und Anleitung. 2.2
Soziales Kapital
Nach Bourdieu (1983, S. 190f.; Hervorhebungen im Original) ist das soziale Kapital „die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen“. Dieses Netzwerk umfasst beispielsweise familiäre und soziale Beziehungen in Freundeskreisen, im Beruf oder in Vereinen. Für den vorliegenden Kontext werden unter sozialem Kapital die dem jeweiligen Kind zur Verfügung stehenden innerfamiliären sozialen Ressourcen verstanden. Zu diesen zählt einerseits die Familienform, das heißt, ob das Kind in einer Eineltern- oder in einer Zweielternfamilie lebt. Andererseits sind damit die Anzahl der in der Familie lebenden Kinder und das daraus entstehende Netzwerk an Geschwisterbeziehungen gemeint.
Familialer Hintergrund, Übertrittsempfehlung und Schulerfolg 2.3
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Ökonomisches Kapital
Unter der letzten Kapitalform, dem ökonomischen Kapital, werden alle Formen des materiellen Besitzes zusammengefasst, die in Gesellschaften mit entwickelten Märkten und mittels Geld getauscht werden können. Unter bestimmten Bedingungen lässt sich ökonomisches Kapital auch aus sozialem oder kulturellem Kapital bilden (vgl. Maaz 2006). Für die Positionierung einer Person im sozialen Raum ist diese Kapitalform von maßgeblicher Bedeutung. Unter familialem ökonomischen Kapital werden diejenigen materiellen Ressourcen verstanden, die den Kindern über ihre Eltern und vor allem deren Einkommen zur Verfügung gestellt werden. Auf Strukturebene wird es vor allem durch den sozioökonomischen Status repräsentiert, der in der hier vorgestellten Untersuchung anhand des höchsten beruflichen Status der Eltern operationalisiert wurde. Als ein Indikator ökonomisch induzierter familialer Prozesse wurde zudem erfasst, ob und in welchem Umfang ein Kind Nachhilfe erhalten hat. 2.4
Aktueller Stand der Forschung
Vergleichbar mit den im Folgenden dargestellten Analysen haben Baumert, Watermann und Schümer (2003)1 ein Modell entworfen, das Struktur- und Prozessvariablen zum kulturellen, sozialen und ökonomischen Kapital (sowie individuelle Schülervoraussetzungen) umfasst und es anhand der PISA-E-Daten in ihrem Einfluss auf die als Schulleistungsindikator gesetzte Lesekompetenz geprüft. Die herangezogenen strukturellen Merkmale (Sozioökonomischer Status, Bildungsniveau, Migrationsstatus, Verweildauer) und die ausgewählten Prozessvariablen (Kulturelle Praxis, Familiensprache, Kinderzahl) erklären insgesamt 36% der Varianz in der Lesekompetenz der Fünfzehnjährigen. Die Auswirkungen des familialen Bildungsniveaus auf die Lesekompetenz sind ausschließlich über die familiäre kulturelle Praxis vermittelt, welche zum einen Investitionen in Kulturgüter wie bspw. Bücher und zum anderen gemeinsame kulturelle Aktivitäten wie bspw. Theaterbesuche beinhaltet. Die kulturelle Praxis, die wiederum durch den sozioökonomischen Status und das Bildungsniveau beeinflusst ist, erweist sich mit einem im mittleren Bereich liegenden Pfadkoeffizienten als aussagekräftigster Prädiktor. Der hohe Erklärungswert der kulturellen Prozessmerkmale kann allerdings teilweise auch darauf zurückgeführt werden, dass die Autor(inn)en nicht trennscharf zwischen Prozess- und Strukturmerkmalen unterschieden haben. Der Besitz verschiedener Kulturgüter wurde auf Prozessebene angelegt, obwohl über 1 Die Autoren trennen ihre Analysen nach neuen und alten Bundesländern, die hier berichteten Ergebnisse beziehen sich lediglich auf die alten Bundesländer.
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Cornelia Braun, Volker Mehringer
deren Gebrauch keinerlei Informationen gegeben sind (vgl. Baumert, Watermann & Schümer 2003). Die in der Familie gesprochene Sprache, die zu großen Teilen durch den Migrationsstatus und die Verweildauer in Deutschland erklärt werden kann, wirkt sich moderat auf die Lesekompetenz aus (vgl. ebd.). Aussagen über differentielle Auswirkungen des familialen Hintergrunds in Abhängigkeit vom Migrationsstatus lassen sich sowohl bei den berechneten Pfaddiagrammen als auch bei den durchgeführten Regressionsanalysen nur in sehr eingeschränktem Umfang treffen, da das Vorhandensein eines Migrationshintergunds nur als ein familiales Merkmal in die Untersuchung mit aufgenommen wurde, nicht aber dazu genutzt wurde, einen Gruppenvergleich vorzunehmen. Was das strukturelle soziale Kapital einer Familie in Form der Anzahl der Geschwister anbelangt, so kann Baumert, Watermann und Schümer (2003) zufolge zur Leseleistung nur ein moderat negativer Zusammenhang festgestellt werden. Anders verhält es sich mit der Familienform. Wie Bofinger (1998) und Schauenberg (2007) feststellen, weisen Kinder, die in einer Kernfamilie aufwachsen, höheren Schulerfolg auf als Kinder, die nicht kontinuierlich mit ihren beiden leiblichen Eltern zusammenleben. Im Gegensatz dazu fanden Ehmke u.a. (2004) nur geringe mathematische Kompetenzunterschiede bei Jugendlichen aus Einelternfamilien im Vergleich zu solchen aus Kernfamilien, welche unter Kontrolle der sozialen Herkunft zudem kein signifikantes Niveau mehr erreichten. In Bezug auf das ökonomische Kapital wird vielfach auf den in Deutschland besonders stark ausgeprägten Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status eines Kindes bzw. seiner Familie und dem Schulerfolg (i.S.v. Bildungsbeteiligung) hingewiesen. Kinder und Jugendliche, deren Eltern einen niedrigen sozioökonomischen Status aufweisen, unterliegen einem vielfach höheren Risiko, eine Hauptschule statt einer Realschule oder eines Gymnasiums zu besuchen als Kinder und Jugendliche aus höheren sozioökonomischen Schichten (vgl. z.B. Deutsches PISA-Konsortium 2001; Baumert & Schümer 2002; Ehmke u.a. 2004; Pietsch & Stubbe 2007). Die Ergebnisse aktueller Studien deuten insgesamt darauf hin, dass sowohl kulturelle Struktur- als auch Prozessvariablen mit dem Schulerfolg und der Vergabe von Übertrittsempfehlungen in Zusammenhang stehen und diese, vermittelt über weitere Variablen, mit bedingen. Auch ökonomische Kapitalsorten, darunter vor allem der sozioökonomische Status, stehen in einem engen Zusammenhang mit der Schullaufbahn. Das soziale Kapital umfassende Variablen scheinen hinsichtlich des Schulerfolges hingegen eher eine untergeordnete Rolle zu spielen. Zu differentiellen Wirkweisen familialer Merkmale bei Kindern mit und ohne Migrationshintergrund lassen sich auf der Grundlage der bislang verfügbaren Untersuchungen keine gesicherten Aussagen treffen.
Familialer Hintergrund, Übertrittsempfehlung und Schulerfolg 3
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Die eigene Studie – SOKKE
Die Grundlage für die im Folgenden dargestellten Rechnungen bilden Daten aus dem von der DFG finanzierten Projekt „Sozialisation und Akkulturation in Erfahrungsräumen von Kindern mit Migrationshintergrund – Schule und Familie“, kurz SOKKE, das unter der Leitung von Prof. Dr. Leonie Herwartz-Emden steht. Bei SOKKE handelt es sich um eine längsschnittlich angelegte Grundschulstudie, in der Kompetenzentwicklungs- und Akkulturationsprozesse von Kindern mit Migrationshintergrund über alle vier Grundschuljahre (Laufzeit 2004 bis 2008) untersucht und nachgezeichnet werden. Im Fokus der Untersuchungen steht der Schulerfolg als zentrales Akkulturationsmaß, von dem ausgehend wesentliche Rückschlüsse auf die Integration von Kindern bzw. Schüler(inne)n mit Migrationshintergrund gezogen werden können. Ergänzend zu Schulerfolg und Kompetenzentwicklung werden im Projekt schulische Einflüsse und individuelle Dispositionen der Schüler(inne)n erfasst, um ein möglichst umfassendes Bild über wesentliche Einflussfaktoren des Schulerfolgs und der Kompetenzentwicklung bei Kindern mit Migrationshintergrund zu erhalten (dazu genauer: vgl. Herwartz-Emden & Küffner 2006; Herwartz-Emden, Reiss & Mehringer 2008). Für den vorliegenden Kontext sind die im Forschungsdesign berücksichtigten familien- und elternbezogenen Konstrukte von besonderer Relevanz (vgl. Punkt 2 und Punkt 3.2). Die empirische Erfassung der für das Projekt benötigten Daten erfolgte über verschiedene Zugänge. Im Mittelpunkt der Erhebungen standen standardisierte Schulleistungstests zur Erfassung der mathematischen, der Lese- und Rechtschreib-Kompetenzen, die in altersgerechter und in auf den Lehrplan abgestimmter Form jährlich zum Einsatz kamen. Des Weiteren wurden den Schüler(inne)n, ebenfalls meist im jährlichen Turnus, verschiedene Fragebögen vorgelegt, mit denen unterschiedliche Konstrukte wie Selbstkonzept, Selbstwertgefühl oder deren soziale Stellung innerhalb der Klassengemeinschaft erfasst werden sollten. Die erzielten Schulleistungen und Übertrittsempfehlungen der Schüler(inne)n sowie schulische oder lehrkraftbezogene Aspekte wurden mittels Lehrerbefragungen erhoben, die sowohl zu Beginn als auch am Ende der Grundschulzeit durchgeführt wurden. Informationen zum familialen Hintergrund der Kinder wurden mithilfe einer Elternbefragung gesammelt.
62 3.1
Cornelia Braun, Volker Mehringer Stichprobe und Stichprobenziehung
Die Stichprobenziehung erfolgte mithilfe eines mehrstufigen Verfahrens, bei dem aus vier verschiedenen Sozialregionen einer süddeutschen Großstadt eine Stichprobe mit N=23 Klassen aus acht Schulen gezogen wurde. Bei den Klassen wurden die Kontextbedingungen Sozialregion, geringer und hoher Anteil an Nicht-Deutschen im Stadtbezirk und geringer (66%) an Kinder mit Migrationshintergrund in der Klasse unterschieden. Den folgenden Auswertungen liegt eine Stichprobe von 435 Schüler(inne)n zugrunde. Von diesen weisen 246 Schüler(inne)n (56,6%) einen Migrationshintergrund auf, 189 Schüler(inne)n (43,3%) sind ohne Migrationshintergrund. Was das Verhältnis von Jungen zu Mädchen anbelangt, so ist das Merkmal Geschlecht sowohl bei Kindern mit (126 Jungen zu 120 Mädchen) als auch bei Kindern ohne Migrationshintergrund (95 Jungen zu 94 Mädchen) nahezu gleich verteilt. Der Rücklauf der Elternbefragung belief sich insgesamt auf 72%, das heißt, Eltern von 312 der 435 in der Schülerstichprobe erfassten Schüler(inne)n füllten den Fragebogen aus. Das Verhältnis der Eltern ohne oder zu den Eltern mit Migrationshintergrund verschiebt sich hierbei gegenüber den Schüler(inne)n um einige Prozent in Richtung der Eltern ohne Migrationshintergrund auf 52% zu 48%. 3.2
Datengrundlage und Instrumentierung
Die Datengrundlage für die vorgenommenen Analysen bilden Daten, die vorwiegend in der letzten Erhebungswelle, das heißt in der 4. Klasse, mittels verschiedener eigens dafür konstruierter Befragungsinstrumente erfasst wurden. Zu diesen Befragungsinstrumenten zählen Lehrer-, Eltern- und Schülerfragebögen. Welchen Instrumenten bzw. Befragungen die zur Modellierung des familialen Hintergrunds und zur Abbildung des formalen Schulerfolgs herangezogenen Variablen entstammen, kann folgender Tabelle entnommen werden.
Familialer Hintergrund, Übertrittsempfehlung und Schulerfolg
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Tab. 2: Befragungszuteilung der Indikatorvariablen x demographische Angaben zu den Schüler(inne)n (Alter, Geschlecht Migrationshintergrund, etc.) Lehrerbefragung x Schulerfolg (Noten, Übertrittempfehlungen, Klassenwiederholung) x Berufliche Angaben (Tätigkeit, beruflicher Status) x Angaben zum Bildungsniveau und zur Ausbildung der Eltern Elternbefragung x Angaben zum Migrationshintergrund x Angaben zur außerschulischen Förderung (Nachhilfe) x Familienstruktur (Familienform und Haushaltsgröße) x Angaben zum Beruf der Eltern Schülerbefragung x Wahrgenommene elterliche Unterstützungsleistungen x Angaben zu ausgewählten Kulturgütern (Bücher im Haushalt, Zeitung, Lernprogramme etc.)
An der Übersicht wird deutlich, dass die berufliche Tätigkeit der Eltern sowohl auf Seiten der Eltern als auch auf Seiten der Schüler(inne)n erfragt wurde. Die Angaben der Schüler(inne)n wurden als so genannte Proxy-Angaben genutzt, um bei Fehlen des entsprechenden Elternfragebogens oder bei Nicht-Beantwortung der entsprechenden Fragen von Seiten der Eltern auf die Angaben der Schüler(inne)n zurückgreifen zu können. Wie Maaz, Kreuter und Watermann (2006) in ausführlichen Analysen herausstellen, sind diese Proxy-Angaben der Schüler(inne)n zu ihrem sozialen Hintergrund, gerade in Bezug auf die elterliche Berufstätigkeit, sehr zuverlässig und in nur geringem Maße fehlerbehaftet. Ein erster Vergleich der Angaben der Schüler(inne)n mit den, wo vorhanden, entsprechenden Angaben der Eltern bestätigt diesen Befund auch für die vorliegenden Daten. Durch diese Vorgehensweise konnte der durch den Rücklauf der Elternbefragung bedingte Anteil fehlender Daten in Bezug auf die berufliche Tätigkeit von 28% auf 14% reduziert werden. Aufbauend auf den berufsbezogenen Angaben und mithilfe des von Ganzeboom, de Graaf, Treiman und de Leeuw (1992) erstellten Indexes wurde der sozioökonomische Status der Familien bestimmt. Dafür wurden zunächst dem Beruf des Vaters und dem Beruf der Mutter gemäß dem Internationalen Sozioökonomischen Index (International Socio-Economic Index of Occupational Status, kurz ISEI) (Ganzeboom & Treiman 1996) der jeweilige ISEI-Wert zugewiesen. Anschließend wurde anhand der vergebenen ISEI-Werte eine Variable mit dem jeweils höchsten Sozialstatus in einer Familie gebildet (in der Forschung meist als HISEI bezeichnet). Die sich für den HISEI ergebende Verteilung mit einem Mittelwert von 49,00 und einer Standardabweichung von 16,4 weicht nur geringfügig von der bei PISA 2006 festgestellten Verteilung (M=49,15; SD=15,2; Ehmke & Baumert 2007) ab. Fehlende Werte sind in quantitativ ausgerichteten empirischen Untersuchungen ein häufiges Problem, das durch die längsschnittliche Ausrichtung von Studien meist noch zusätzlich verstärkt wird. In den letzten Jahren hat sich die Mul-
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Cornelia Braun, Volker Mehringer
tiple Imputation als sehr gut geeignetes Verfahren erwiesen, um fehlende Werte zu ersetzen (Schafer & Graham 2002). Vereinfacht gesprochen, werden bei einer Multiplen Imputation mit Hilfe leistungsstarker Algorithmen fehlende Datenwerte mehrfach geschätzt und mit diesen Schätzungen mehrere vollständige Datensätze erstellt, auf deren Grundlage die Analysen vorgenommen werden können. Für die vorliegenden Daten wurden mittels des im Statistikprogramm SPSS enthaltenen multiplen Imputationsverfahrens fünf vollständige Datensätze erzeugt. Die im Folgenden dargestellten Ergebnisse stellen die statistisch korrigierte Mittelung der auf Grundlage der fünf vollständigen Datensätze berechneten Werte dar. 4
Ergebnisse
Wie bereits in Abschnitt 2 herausgearbeitet, wird der formale Schulerfolg der Grundschüler(inne)n im vorliegenden Kontext anhand der am Ende der Grundschulzeit von den Lehrkräften ausgegebenen Übertrittsempfehlungen operationalisiert. Um Einflüsse verschiedener Faktoren auf die Übertrittsempfehlungen statistisch berechnen zu können, wird in der empirischen Bildungsforschung zumeist auf multinomiale logistische Regressionsanalysen zurück gegriffen. Die Ergebnisse solcher Analysen werden mittels so genannter odds ratios dargestellt. Vergleichbar mit Wettquoten geben sie das Verhältnis an, in dem die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Ereignisses (hier: die Wahrscheinlichkeit eine Realschul- oder Gymnasialempfehlung zu erhalten) zur Eintrittswahrscheinlichkeit eines zuvor als Referenz gesetzten Ereignisses (hier: die Wahrscheinlichkeit eine Hauptschulempfehlung zu erhalten) steht. So beträgt beispielsweise, wie in nachfolgender Tabelle abzulesen, das odds ratio einer Gymnasialempfehlung für ein Kind ohne Migrationshintergrund 8.42, wenn dessen Mutter einen Gymnasialabschluss hat. Das heißt, verfügt eine Mutter aus einer nicht migrierten Familie über Abitur, so erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für deren Kind eine Empfehlung für das Gymnasium anstatt einer Hauptschulempfehlung zu erhalten um fast das Neunfache. Schrittweise wurden jeweils für Grundschüler(inne)n mit und ohne Migrationshintergrund fünf unterschiedliche Regressionsmodelle berechnet. Modell I berücksichtigt nur die Indikatoren des in der Familie vorhandenen sozialen Kapitals, Modell II die Indikatoren des ökonomischen Kapitals und Modell III die Indikatoren des kulturellen Kapitals. Modell IV und V sind beides Gesamtmodelle, die alle Indikatoren beinhalten, wobei in Modell V zusätzlich die mittels des Grundintelligenztests (kurz: CFT; vgl. Cattell, Weiß & Osterland 1997) ermittelten kognitiven Grundfähigkeiten kontrolliert wurden. Die Tabellen 3 und 4 zei-
Familialer Hintergrund, Übertrittsempfehlung und Schulerfolg
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gen die so berechneten Modelle. Im Folgenden werden die darin dargestellten Ergebnisse entlang der einzelnen Kapitalsorten kurz zusammengefasst und abschließend noch einmal im Gesamtmodell betrachtet. 4.1
Soziales Kapital
Als Indikatoren des sozialen Kapitals gehen zwei die Familienstruktur abbildende Variablen in die Analysen ein, zum einen, ob das Kind in einer Familie mit einer alleinerziehenden Mutter lebt2, und zum anderen, ob es ein Einzelkind ist oder Geschwister hat. Werden die Anteile der durch das Modell jeweils aufgeklärten Varianz miteinander verglichen, so zeigt sich hier bereits ein Trend, der sich auch bei den beiden weiteren Kapitalsorten und im Gesamtmodell fortsetzt. Die Anteile der aufgeklärten Varianz liegen bei den Modellen für Kinder ohne Migrationshintergrund durchgehend deutlich über den Anteilen der Modelle für Kinder mit Migrationshintergrund. Das heißt, die generierten Modelle haben für Grundschulkinder ohne Migrationshintergrund und deren familialen Hintergrund einen höheren Erklärungswert. Für das soziale Kapital liegt das Verhältnis der erklärten Varianzanteile bei 10% zu 1%. Zurückzuführen ist diese Differenz auf den für Familien ohne Migrationshintergrund signifikanten Einfluss der Familienform. Lebt ein Kind bei einer alleinerziehenden Mutter, so ist dessen Wahrscheinlichkeit anstatt einer Hauptschul- eine Gymnasialempfehlung zu erhalten nur etwa ein Drittel so groß (odds ratio=.29). Obwohl davon ausgegangen werden kann, dass Familien der gleichen Familienform keine homogene Gruppe darstellen, so lässt sich dennoch ein systematischer negativer Einfluss von Einelternfamilien ohne Migrationshintergrund auf den formalen Schulerfolg feststellen. Dieser Befund ist inhaltlich mit einer Reihe bereits oben genannter Studien in Einklang zu bringen, die ebenfalls empirisch belegen konnten, dass Kinder aus Kernfamilien hinsichtlich ihres formalen Schulerfolgs erfolgreicher sind als Kinder, die nicht kontinuierlich mit beiden leiblichen Eltern zusammenleben (vgl. Bofinger 1998; Fthenakis 2003; Schauenberg 2007). Als mögliche Ursachen für diese Differenz werden in der Literatur mehrere Aspekte diskutiert, angefangen bei durch die Scheidung bedingten Einkommenseinbußen über die psychosozialen Auswirkungen von Trennungen bis hin zu den teils knappen Zeitressourcen, die alleinerziehenden Eltern für ihre Kinder zur Verfügung stehen (vgl. Bofinger 1994).
2 Die Beschränkung auf alleinerziehende Mütter ist auf die Zusammensetzung der Stichprobe zurückzuführen, in der keine alleinerziehenden Väter enthalten sind.
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Tab. 3: Ergebnisse der logistischen Regressionen (odds ratios) für Kinder ohne Migrationshintergrund Übertrittsempfehlung (Referenzkategorie: Hauptschule) r Realschule Gymnasium Modell I II III IV V I II III IV V Familienform (Mutter alleiner.24 .31 .26 .21 .29 .25 .22 ziehend) Einzelkind .16 .83 .87 .95 .48 .36 .45 HISEI: 2. Quartil .19 1.22 .62 .59 1.10 .32 .31 HISEI: 3. Quartil .04 1.76 1.22 1.19 2.49 1.08 .87 HISEI: 4. Quartil -.33 .84 .27 .32 7.15 .99 .97 Nachhilfe .36 .32 .27 .28 .06 .04 .07 Kulturgüter: Zei-.14 1.00 .86 .87 1.99 1.55 1.59 tung Kulturgüter: -.03 .97 .84 .87 .83 .85 .74 Lernprogramme Kulturgüter: Bücher -.29 .88 .74 .60 1.80 1.47 1.23 (Zwei oder mehr Regale) Schulabschluss: .04 .87 1.05 .99 2.82 4.41 3.68 Mutter RS Schulabschluss: -.36 1.78 2.30 2.06 7.62 9.50 8.42 Mutter GY Schulabschluss: .17 3.19 5.72 5.49 1.24 1.73 1.67 Vater RS Schulabschluss: -.40 2.43 3.99 3.52 3.70 3.15 2.98 Vater GY Im Haushalt gesprochene Sprache (Nicht-deutsch) Positive Verstär-.26 1.51 1.80 1.66 1.81 1.37 1.52 kung Ermutigung -.10 1.30 1.39 1.48 .87 .88 .96 Anleitung -.09 2.00 2.22 2.11 1.06 1.18 1.05 Vorbildfunktion -.14 1.05 .68 .64 1.32 .91 .81 Pseudo R2 nach .10 .28 .40 .51 .56 .10 .28 .40 .51 .56 Nagelkerke Anmerkungen: Signifikante Werte sind fett gedruckt; Referenzkategorie bei HISEI ist das 1. Quartil; Referenzkategorie bei Schulabschluss der Eltern ist ein Abschluss der Hauptschule; Abkürzungen: RS – Realschule; GY – Gymnasium; r – Einfachkorrelation
Zu vermuten ist, dass die nachteiligen Effekte der Strukturvariablen Familienform nicht durch einen zentralen prozessualen Faktor zu erklären, sondern auf
Familialer Hintergrund, Übertrittsempfehlung und Schulerfolg
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das auf Prozessebene von Fall zu Fall unterschiedliche Zusammenspiel verschiedener Risikofaktoren zurückzuführen sind. Wie bereits der sehr niedrige Anteil an erklärter Varianz vermuten lässt, bleibt dieser Effekt der Familienform bei Kindern bzw. Familien mit Migrationshintergrund aus. Die Familienform weist hier keinen signifikanten Einfluss auf die ausgesprochenen Übertrittsempfehlungen auf. Der naheliegende Schluss, dass dieses Ergebnis durch eine in der Gruppe der Migrant(inn)en niedrigere Zahl an Familien mit alleinerziehenden Müttern bedingt ist, lässt sich nicht bestätigen. Ein statistischer Vergleich beider Gruppen hinsichtlich der Verteilung der Familienformen zeigt keinen signifikanten Unterschied. Alternative Erklärungsansätze für diesen Befund wären zum einen die Unterschiede in den Übertrittsempfehlungen zu Ungunsten der Migrantenkinder, so dass in vielen Fällen eine weitere Verschlechterung nicht möglich ist, oder zum anderen Unterschiede im sozialen Umfeld der Mütter mit Migrationshintergrund im Sinne zusätzlich zur Verfügung stehender sozialer Ressourcen, durch die die nachteiligen Effekte der Familienform zumindest teilweise kompensiert werden können. Zur Überprüfung beider Ansätze bedarf es allerdings diesbezüglich detaillierterer empirischer Daten. Was die zusätzlich zur Familienform in ihrem Einfluss überprüfte Einzelkindvariable anbelangt, so lässt sich sowohl für die Gruppe der Migrant(inn)en als auch für die Gruppe ohne Migrationshintergrund kein Einfluss auf die Vergabe von Übertrittsempfehlungen feststellen. Auch der in der Literatur teils vorzufindende Befund, dass Einzelkinder mit hohem sozialem Status bessere Übertrittsempfehlungen erhalten als entsprechende Kinder mit Geschwistern (vgl. Nauck, Diefenbach & Petri 1998), kann anhand des vorliegenden Datensatzes nicht bestätigt werden. 4.2
Ökonomisches Kapital
Die häufig herausgestellte und in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzende Konfundierung von Migrationshintergrund und sozioökonomischem Hintergrund steht bei der Betrachtung der familiären Ausstattung mit ökonomischem Kapital zweifellos meist im Fokus (vgl. Herwartz-Emden & Schneider 2006; SchründerLenzen 2008). Für die vorliegenden Daten zeigen erste statistische Analysen erwartungsgemäß ebenfalls einen stark ausgeprägten Unterschied in der Verteilung des HISEI zwischen der Gruppe mit und der Gruppe ohne Migrationshintergrund (t (435)=8,50; p