Schriftauslegung • lffi
Widerstreit Herausgegeben von Joseph Ratzinger
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Schriftauslegung • lffi
Widerstreit Herausgegeben von Joseph Ratzinger
"Wie steht es um unsere Fähigkeit, die biblische Botschaft zu hören, sie zu verstehen und auszulegen, um aus ihr verläßliche Weisung für unseren Weg, einzeln und als Gemeinschaft, zu empfangen? Nach den großen Erfolgen der historisch-kritischen Exegese der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, nach dem hoffnungsvollen Aufbruch der biblischen Bewegung in der Zwischenkriegszeit und bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil erscheint der Enthusiasmus des Aufbruchs zur Schrift heute ermüdet, in gegensätzliche Optionen zerspalten. Von der Zuversicht, durch die historische Methode die Bibel wieder quellfrisch zu verstehen, ist wenig geblieben. Neue Methoden werden entwickelt, die bessere Weisen des Zuhörens und der Vergegenwärtigung des Textes ermöglichen sollen; die Frage nach dem soziologischen Subjekt der Auslegung wird neu gestellt: Ist es der einzelne Spezialist, die Republik der Gelehrten, oder ist es ,das Volk', wie südamerikanische Theologen sagen - das Volk, das sich als wahren Besitzer dieses Buches entdeckt und ihm von seinen Erfahrungen her neue Gegenwart gibt? Mit solchen Fragen ist die Grenze gelehrter Auslegung und die Frage vitaler Urformen des Begegnens mit dem geschriebenen Wort berührt. Was dem Leser hierzu vorgelegt wird, ist eine wirkliche, Quaestio disputata', keine in sich abgeschlossene These. Sie lädt zum kritischen und weiterführenden Gespräch ein, das alle theologischen Disziplinen braucht - die historischen ebenso wie die systematischen und die praktischen."
Joseph Cardinal Ratzinger
Die Autoren: Raymond E. Brown, röm. - kath. Professor für N eues Testament am Union Theological Seminary, N ew York; William H. Lazareth, ev. -luth. Bischof in New York; George Lindbeck, ev.-Iuth. Professor für Theologie an der Yale University, New Haven; }oseph Cardinal Ratzinger, Präfekt der Römischen Glaubenskongregation.
IISBN 3-451-02117 -xl
SCHRIFTAUSLEGUNG IM WIDERSTREIT
QUAESTIONES DISPUTATAE Begründet von KARL RAHNER UND HEINRICH SCHLIER Herausgegeben von HEINRICH FRIES UND RUDOLF SCHNACKENBURG
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Internationaler Marken- und Titelschutz: Editiones Herder, Basel
SCHRIFTAUSLEGUNG IM WIDERSTREIT RAYMOND E. BROWN . WILLIAM H. LAZARETH GEORGE LINDBECK· JOSEPH RATZINGER
HERAUSGEGEBEN VON JOSEPH RATZINGER
HERDER FREIBURG . BASEL· WIEN
Deutsche Übersetzung der Beiträge von G. Lindbeck, R. E. Brown und W. H. Lazareth von SUSAN JOHNSON
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Schriftauslegung im Widerstreit / Raymond E. Brown Hrsg. von Joseph Ratzinger - Freiburg im Breisgau; Basel; Wien: Herder 1989 (Quaestiones disputatae; 117) ISBN 3-451-02117-X NE:Brown, Raymond E. [Mitverf.]; Ratzinger [Hrsg.]; GT
Alle Rechte vorbehalten - Printed in Germany © Verlag Herder Freiburg im Breisgau 1989 Herstellung: Freiburger Graphische Betriebe 1989 ISBN 3-451-02117-X
Inhalt
Vorwort .
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I
Joseph Ratzinger Schriftauslegung im Widerstreit Zur Frage nach Grundlagen und Weg der Exegese heute. 1. Vorüberlegung: Situation und Aufgabe . . . . . . . .. 2. Selbstkritik der historisch-kritischen Methode am Paradigma der Methodenlehre von Martin Dibelius und Rudolf Bultmann . . . . . . . . . . . . 3. Grundelemente einer neuen Synthese
15 15
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II
George Lindbeck Heilige Schrift, Konsens und Gemeinschaft 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die klassische Hermeneutik: Prämoderne Bibelauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Moderne: Verluste, aber auch Gewinne . . . 4. Die heutige Situation . . . . . . . . . . . . . . . 5. Wiederentdeckung der klassischen Hermeneutik
45 45 48 55 60 70
III Raymond E. Brown Der Beitrag der historischen Bibelkritik zum ökumenischen Austausch zwischen den Kirchen. . . . . . . . .
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1. 2. 3. 4.
81 87 90 93
Die historische Bibelkritik . . . . . . . . . . . . . . . Der ökumenische Austausch zwischen den Kirchen Der Beitrag der historischen Bibelkritik Zusammenfassung und Schluß . . . . . . . . . . . .
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IV William H. Lazareth Das "sola scriptura"-Prinzip Martin Luthers Evangeliumstraditionen zur Bestimmung des christlichen Gerechtigkeitsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Der himmelstürmende Verstand 2. Das lebendige Wort Gottes 3. Der göttliche Indikativ. . . . . .
98 100 107 118
Vorwort
Die Geschichte der hier vorgelegten "Quaestio disputata" begann, als mich Pastor Neuhaus vom lutherischen "Center on Religion and Society" zu New York einlud, dort die jährliche "Erasmus-Lecture" zu halten und sie anschließend in einem zweitägigen Workshop mit Gelehrten verschiedener christlicher Konfessionen zu diskutieren 1. Das Thema war mir freigestellt, aber es war mir klar, daß ich nach einer Frage suchen müsse, die alle Christen gleichermaßen angeht und daher Theologen unterschiedlicher kirchlicher Prägung im sachlichen und kritischen Gespräch verbinden kann. Dabei schien mir richtig, nicht eine der Kontroversfragen auszuwählen, in denen die Geleise des Denkens in Widerspruch und Annäherung schon weitgehend gelegt sind; für fruchtbarer und der gemeinsamen Bedrängnis des Glaubens der Christen in der Gegenwart gemäßer hielt ich es, ein Thema anzugehen, in dem wir alle gemeinsam neu um Antwort ringen müssen, weil sich uns allen die gemeinsamen Grundlagen zu entziehen drohen. Die uns verbindende Grundlage des Glaubens und der Theologie - das ist zuallererst die Heilige Schrift. Wie aber steht es um unsere Fähigkeit, sie zu hören, sie zu verstehen und auszulegen, um aus ihr verläßliche Weisung für unseren Weg, einzeln und als Gemeinschaft, zu empfangen? Nach den großen Erfolgen der historisch-kritischen Exegese der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, nach dem hoffnungsvollen Aufbruch der biblischen Bewegung in der Zwischenkriegszeit und bis hin 1 Diesem Workshop lagen ferner die Referate von G. Lindbeck, R. Brown, W. Lazareth als Gesprächsunterlagen vor, die in diesem Band mitveröffentlicht werden und damit eine Vorstellung von der Spannweite der Diskussion geben sollen. Die amerikanische Ausgabe der Referate bietet außerdem eine Skizze des Gesprächsverlaufs.
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zum Zweiten Vatikanischen Konzil erscheint der Enthusiasmus des Aufbruchs zur Schrift heute ermüdet, in gegensätzliche Optionen zerspalten. Von der hochgemuten Zuversicht, durch die historische Methode die Bibel wieder quellfrisch zu verstehen, ist wenig geblieben. Neue Methoden werden entwickelt, die bessere Weisen des Zuhörens und der Vergegenwärtigung des Textes ermöglichen sollen 2; die Frage nach dem soziologischen Subjekt der Auslegung wird neu gestellt: Ist es der einzelne Spezialist, die Republik der Gelehrten, oder ist es "das Volk", wie süd amerikanische Theologen sagen - das Volk, das sich als wahren Besitzer dieses Bu,ches entdeckt und ihm von seinen Erfahrungen her neue Gegenwart gibt?3 Mit solchen Fragen ist die Grenze gelehrter Auslegung und die Frage vitaler Urformen des Begegnens mit dem geschriebenen Wort berührt. In der Tat ziehen immer mehr Menschen es vor, ohne Methode sich direkt von der Bibel anreden zu lassen, überzeugt, daß jede Generation von sich sagen kann, "für uns" sei dies geschrieben (vgl. 1 Kor 10,11; Röm 15,4) - weil der Heilige Geist im einen Wort zu jeder Zeit als ihr gleichzeitig spricht. So ist heute "Fundamentalismus" besonders im amerikanischen Protestantismus zu einer mächtigen Strömung geworden 4: Um 2 Eine hilfreiche Darstellung der verschiedenen heute angewandten Methoden bietet das Werk des Brixener Bischofs W. Egger, Methodenlehre zum Neuen Testament. Einführung in linguistische und historisch-kritische Methoden (Freib].lrg 1987); vgl. auch W. Stenger, Biblische Methodenlehre (Düsseldorf 1987). Im deutschen Sprachraum noch wenig beachtet ist die besonders in Amerika an Gewicht zusehends gewinnende Theorie der "kanonischen Exegese", deren zentrale These besagt, daß der vom Exegeten zu verstehende und auszulegende Text der kanonische Text der Bibel als Einheit und Ganzheit ist. Vgl. bes. B. S. Childs, The New Testament as Canon. An Introduction (London-Philadelphia 1984). Eine erste Diskussion dieser Methode im deutschen Bereich findet man in der ThQ 1987, dort vor allem H. Gese, Der auszulegende Text: ThQ 167 (1987) 252-265. Im übrigen wächst - wiederum mehr außerhalb des deutschen Sprachbereichs - auch das Interesse an einem Verstehen der patristischen und mittelalterlichen Auslegungsprinzipien, wie die gründliche Bibliographie bei G. v. Reventlow, Grundzüge biblischer Theologie (Darmstadt 1987) zeigt. 3 Charakteristisch dafür sind vor allem die Veröffentlichungen von Carlos Mesters. Das Problematische an dieser Theorie liegt in ihrem einseitigen Verständnis von "Volk". 4 Das Wort Fundamentalismus hat allerdings heute durch seine Übertragung ins politische Vokabular eine Bedeutungserweiterung erfahren, die ihm jede inhaltliche Deutlichkeit genommen hat und es zu einem polemischen Schlagwort degra-
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der Schrift ihren Rang zu wahren, will man sie nur noch aus sich selber hören, unter bewußter Abweisung aller gelehrten Vermittlungen. In diesem Wirrwarr widersprüchlicher Stilnmen hat zwar die Schrift ihre wunderbare Kraft auch heute nicht verloren, dem menschlichen Herzen die Nähe des lebendigen Gottes mitzuteilen, aber was schriftgemäße Verkündigung und was schriftgemäße Theologie sei, also die Grundlage unseres gemeinsamen Glaubens und Handeins - das entzieht sich uns immer mehr hinter der Wolke des Streits der Theologen. So erschien mir auch im Sinne meines eigenen Auftrags für das Lehramt in der Kirche ein Anlauf auf eine Klärung in dieser Frage dringlich. Um es vorweg zu sagen - die südamerikanischen Theologen scheinen mir mit ihrer Frage nach dem Subjekt der Auslegung und ihrem Hinweis auf "das Volk" als eigentlichen Kommunikationspunkt zwischen Damals und Heute durchaus auf einer richtigen Fährte zu sein. Nur bleibt zu klären, wer oder was denn eigentlich "das Volk" sei, und da scheint mir allerdings jede Antwort zu kurz zu greifen, die nicht das ganze "Volk Gottes" in seiner synchronen und diachronen Erstreckung im Auge behält. Damit ist zunächst gesagt, daß bei der rechten Auslegung der Bibel Schichten des Verstehens im Spiele sind, die über den mikroskopischen Blick des Gelehrten hinausreichen. Vernunft ist mehr als Ratio - das haben die Alten mit ihrer Unterscheidung von "ratio", "intellectus", "mens" vielleicht deutlicher gewußt als wir. Der Logos - so könnten wir auch sagen - reicht weiter als die Ratio, aber - so müssen wir hinzufügen - er umfaßt auch diese. Wenn es so steht, kann und darf kirchliche Auslegung - Auslegung durch das "Volk Gottes" - niemals die "rationalen" Mittel und Wege der Auslegung gering achten - sie bedarf ihrer. Aber die Ratio in ihren verschiedenen Äußerungsformen muß sich in den größeren "Logos" integrieren lassen, um nicht jener Manipulierbarkeit des bloß Verstandlichen zu verfallen, von der die diert. Ursprünglich bezeichnet es eine genau umschriebene religiöse Orientierung auf protestantischer Grundlage, nämlich die Überzeugung, daß die Heilige Schrift in ihrer jedem zugänglichen Wörtlichkeit dem Leser unmittelbar die im Leben und Sterben tragende Wahrheit eröffnet, unter Ausschluß kirchlicher Vermittlung wie wissenschaftlicher Erklärungen, die zwischen Buchstabensinn und lebensbestimmender Offenbarungswahrheit unterscheiden.
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Scholastiker sprachen, wenn sie sagten, die Logik habe eine wächserne Nase, d. h., sie lasse sich immer nach verschiedenen Richtungen herumdrehen. Sind wir heute nicht alle Zuschauer bei diesem Drehspiel des aus seinen Lebensgründen gelösten Verstandes, gerade auch im Wechsel exegetischer Hypothesen? Mit diesen Überlegungen ist die Richtung angedeutet, in der ich mein Thema angefaßt habe. Als Student habe ich begeistert meinem exegetischen Lehrer J. W. Maier zugehört und die ganzen Jahre meines Studiums hindurch keine seiner Vorlesungen ausfallen lassen. Auch als ich selber Lehrer der Theologie geworden war, blieb der Umgang mit der Exegese immer das Herzstück meiner wissenschaftlichen Arbeit, wozu die Freundschaft mit meinen Regensburger Kollegen H. Groß und F. Mußner eine wichtige Hilfe war. Eine Abwendung von den großen Möglichkeiten kritischer Exegese stand und steht damit für mich nicht zur Debatte. Es geht nicht um Flucht vor der Kritik, sondern um eine kritischere Kritik, die die Bedingungen und Grenzen ihres eigenen Tuns sieht, so daß sich "Verstand" in "Vernunft" hinein zu übersteigen lernt und diese wiederum sich dem Licht des Logos öffnet. Wenn dies alles nicht nur Programm bleiben sollte, mußte ich meine Vorstellung von der Selbstkritik der kritischen Methode an Beispielen konkretisieren. Die unter der Leitung von Bo Reicke angefertigte Dissertation von R. Blank bot mir den Ansatz, um an zwei großen Gründern moderner Exegese Dibelius und Bultmann - ein Stück solcher kritischer Besinnung von innen darzustellen; für eine neue Beziehung auf die patristische und mittelalterliche Tradition theologischer Auslegung habe ich Hinweise aus Gregor von Nyssa und Thomas von Aquin entnommen. Es war mir von vornherein klar, daß das Paradigma DibeliusBultmann vordergründiger Kritik einen leichten Ansatz bietet. Denn man kann unschwer sagen, beide seien - bei allem Respekt für ihre Leistung - längst überholt, die kritisierten Positionen seien inzwischen ohnedies aufgegeben und insofern treffe das Gesagte die heutige Exegese überhaupt nicht, es könne in die Schublade des Gewesenen abgelegt werden. Wer so argumentiert, verkennt nicht bloß den paradigmatischen Charakter meiner Analyse, er täuscht sich auch über die Ebene der Fragestel~ 10
lung. Denn hier geht es nicht um exegetische Einzelpositionen und auch nicht um einzelne methodische Theorien. Das einzelne dient nur dazu, um den Ausblick auf die philosophischen Grundentscheide freizulegen, die ungeprüft den Weg des historischen Handwerks prägen und die im Wechsel der Einzelpositionen durchaus die gleichen geblieben sind, selbst über den Graben mehr "idealistisch" oder mehr "materialistisch" gestimmter Optionen hinweg. Die wichtigsten dieser leitenden Grundentscheide habe ich in meinem Beitrag "Schriftauslegung im Widerstreit" versucht, ans Licht zu bringen. Dazu gehört zunächst die Orientierung an naturwissenschaftlichen Modellen, besonders dem Evolutionsgedanken, den man nicht mit geschichtlicher Entwicklung verwechseln sollte: Während diese die Entfaltung innerhalb eines sich durchhaltenden Subjekts meint, geht es bei Evolution um das Hervortreten immer neuer Subjekte, die sich ohne wirkliche innere Kontinuität wesentlich durch den Zwang der Anpassung an neue Verhältnisse bilden. Weiter gehört zu diesen Grundentscheiden die Vorstellung von der Sinnlosigkeit des bloßen Faktums und - alles zusammenfassend - die N ormativität des im einzelnen nicht reflektierten sogenannten modemen Weltbildes. Hinter dem allen zeigt sich schließlich eine Rezeption der Grundentscheide Kants, die als endgültiger Abschied von der Metaphysik verstanden werden, so daß die Möglichkeit einer wirklichen Berührung zwischen Gott und Mensch streng auf den Bereich der praktischen Vernunft beschränkt werden muß. Vor allem aber kam es mir auf die Einsicht an, daß der Disput um die exegetische Methode (und insofern um die Exegese selbst) kein rein innerexegetisches Problem mehr ist, sondern ein wesentlich philosophisches und daher auch systematisch-theologisches Problem darstellt. Diese Einsicht könnte man grundsätzlich an jedem heute schreibenden Exegeten genauso darstellen, wie ich es an Dibelius und Bultmann getan habe; der "Fortschritt" der Exegese ändert daran gar nichts s. In dem zweitägigen Workshop hat mich die vollständige Zustimmung der evangelischen Kollegen der verschiedenen KonZum Problem Exegese und Philosophie P. Piret, L'Ecriture et l'Esprit. Une etude theologique sur l'exegese et les philosophies (Bruxelles 1987).
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fessionen und Denominationen zu allem Wesentlichen meiner Darstellung am meisten überrascht. Das Schriftprinzip setzt offenbar Gemeinden und Theologen ganz unverhüllt der Dramatik unserer Situation aus: Die Gemeinden sehen anscheinend weithin keine andere Möglichkeit, im Wechsel der Hypothesen festen Boden unter den Füßen zu behalten, als indem sie den Historikern die Auslegungskompetenz absprechen und Zuflucht zu einem fundamentalistischen Verstehen der Bibel suchen; die Theologen können darauf nicht einfach mit einem Plädoyer für die Segnungen der historischen Methode antworten - sie müssen sich dem Ernst der Einrede stellen und zeigen, wie die Beständigkeit der biblischen Aussage und der Disput der Exegeten zusammengehen können. Das bedeutet: Sie müssen sich über die Voraussetzungen ihres Handwerks, dessen rechten Weg und dessen Grenzen sorgfältig Rechenschaft ablegen. Das Gespräch im Workshop zeigte, daß dies in beeindruckendem Maß geschieht 6. Bei den katholischen Teilnehmern war - wenigstens anfangs noch eher ein Zögern zu verspüren. Hier besteht immer noch die Angst, daß die mühsam errungene Freiheit der Exegese wieder in den "Würgegriff' des Lehramtes genommen werden solle und daß alle Reflexion doch nur ein Vorwand für solche neuerliche Bevormundung sei. Die Not der Gemeinden drängt weniger als der Schutz der Freiheit gegenüber dem Lehramt - warum es so ist, warum letztlich überholte Frontstellungen so wirksam bleiben, darüber sollten im katholischen Raum wohl beide Seiten, Lehramt und Theologen, je auf ihre Weise eine Gewissenserforschung anstellen. Wie dem auch sei, im Lauf des Gesprächs stellte sich ein weitgehendes Einvernehmen auch mit den katholischen Gesprächspartnern her, je mehr deutlich wurde, daß der Exegese nicht ihr eigener Weg bestritten, ihr besonderer Rang genommen werden sollte; wenn ihr Ort im Ganzen geklärt wird, wird ihr Eigenes nicht gemindert, sondern gestärkt. 6 Ich möchte hier besonders auf die im Erscheinen begriffene Dogmatik des methodistischen Theologen Th. Oden verweisen, der - von Bultmann herkommend - sich immer mehr der patristischen Exegese genähert hat und theologische Auslegung der Schrift aus einer tiefen Reflexion der hier umschriebenen Fragen heraus betreibt. Besonders bereichernd waren im New Yorker Workshop übrigens auch die Gesprächsbeiträge des orthodoxen Theologen Hopko vom St. Vladimir's Orthodox Theological Seminary.
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Was mit diesem Band dem Leser vorgelegt wird, ist so eine wirkliche "Quaestio disputata", keine in sich abgeschlossene These. Sie lädt zum kritischen und weiterführenden Gespräch ein, das alle theologischen Disziplinen braucht. Denn auch darin sehe ich das Positive des Themas, daß es nicht nur alle christlichen Konfessionen gleichermaßen angeht, sondern daß an ihm die Einheit der Theologie sichtbar wird; am Ursprungs ort theologischen Fragens stehend, schließt es alle Dimensionen der Glaubenswissenschaft ein - die historische ebenso wie die systematische und die praktische. So hoffe ich, daß kein Exeget in diesen Versuchen eine ungebührliche Einmischung des Systematikers in seine Kompetenz sehen wird; daß man den Disput nicht als Herrschaftsanspruch der Dogmatik über die Exegese mißversteht. Es geht um die alle Kompetenzen aufsprengende Frage, wie wir das im Menschenwort sich bergende und zeigende Gotteswort recht verstehen können. Rom, am Fest des hl. Pfarrers von Ars 1988 Joseph Cardinal Ratzinger
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I
Schriftauslegung im Widerstreit Zur Frage nach Grundlagen und Weg der Exegese heute
Von Joseph Cardinal Ratzinger
1. Vorüberlegung: Situation und Aufgabe a) Die Problemlage In Wladimir Solowjews Geschichte vom Antichrist empfiehlt sich der endzeitliche Gegenspieler des Erlösers den Gläubigen nicht zuletzt mit dem Hinweis darauf, daß er in Tübingen den Doktor der Theologie erworben und ein von der Fachwelt als bahnbrechend anerkanntes exegetisches Werk geschrieben habe. Der Antichrist als berühmter Exeget - mit diesem Paradox hat Solowjew vor fast hundert Jahren die Zweischneidigkeit moderner Auslegungsmethoden der Bibel ins Licht gerückt. Heute ist es fast schon ein Truism geworden, von der Krise der historischkritischen Methode zu sprechen. Dabei hatte ihr Weg mit einem ungeheuren Optimismus begonnen. In der neuen Freiheit des Denkens, zu der die Aufklärung vorgestoßen war, erschien das Dogma als das eigentliche Hindernis rechten Verstehens der Bibel in sich selbst. Befreit von dieser unsachgemäßen Voraussetzung und ausgerüstet mit einem für strenge Sachlichkeit bürgenden methodischen Instrumentar, schien man nun endlich wieder die Stimme des Ursprungs rein und unverstellt hören zu können. In der Tat kam lang Vergessenes wieder zum Vorschein; die Polyphonie der Geschichte wurde hinter der Homophonie der traditionellen Auslegung wieder hörbar. Weil der menschliche Faktor der heiligen Geschichte immer plastischer hervortrat, zeigte sich zugleich auch Gottes Handeln größer und näher. Aber allmählich wurde das Bild immer verworrener. Die"'Hypothesen verzweigten sich, lösten einander ab und wurden zusehends zum Zaun, der dem Uneingeweihten den Zugang zur Bibel verwehrte. Der Eingeweihte aber liest gar nicht mehr die Bibel, 15
sondern zerlegt sie in die Elemente, aus denen sie geworden sein soll. Die Methode selbst scheint diese Radikalisierungen zu verlangen: Sie kann nicht irgendwo im Ausloten des menschlichen Vorgangs der Heiligen Geschichte stehenbleiben. Sie muß versuchen, den arationalen Rest wegzunehmen und alles zu erklären. Glaube ist kein Bestandteil der Methode und Gott kein Faktor historischen Geschehens, mit dem sie rechnet. Weil aber in der biblischen Darstellung der Geschichte alles durchtränkt ist von göttlichem Handeln, muß eine komplizierte Anatomie des biblischen Wortes beginnen: Man muß versuchen, die Fäden so auseinanderzunehmen, daß man schließlich das "eigentlich Historische", d.h. das bloß Menschliche des Geschehens, in Händen hält und andererseits erklärt, wie es zuging, daß dann überall die Idee Gott eingewoben wurde. So muß man gegen die dargestellte Geschichte eine andere, "wirkliche" konstruieren; hinter den bestehenden Quellen - den biblischen Büchern - anfänglichere Quellen finden, die dann zum Maßstab der Auslegung werden. Daß sich bei diesem Verfahren die Hypothesen immer mehr verzweigen und schließlich zu einem Dschungel voller Widersprüche werden, kann niemand wundernehmen. Am Ende erfährt man nicht mehr, was der Text sagt, sondern was er sagen sollte und auf welche Bestandteile man ihn zurückführen kann 1. Es konnte nicht ausbleiben, daß in einer solchen Lage Gegenreaktionen entstanden. Die Vorsichtigen unter den Systematikern halten Ausschau nach einer Theologie, die von der Exegese möglichst unabhängig ist 2 • Aber was kann eine Theologie schon 1 Mit erfrischender Direktheit, aber auch mit großem literarischen Sachverstand ist diese Situation dargestellt bei C. S. Lewis, Fern-seed and Elephants and other Essays on Christianity, ed. by W. Hooper Fontana/Collins 1975 (deutsch: Was der Laie blökt. Christliche Diagnosen [Einsiedeln 1977], bes. 11-35). Aus großer Sachkenntnis kommende Reflexionen zum Problem auch bei E. Kästner, Die Stundentrommel vom heiligen Berg Athos (Inselverlag 1956). Wichtig zur Diagnose der Situation ferner J. Guitton, Silence sur l'essentiel (Paris 1986) 47-58. Als Durchblick durch die Geschichte der historisch-kritischen Exegese eignet sich W. Kümmel, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme (Freiburg-München 1958). 2 Als Beispiel kann auf evangelischer Seite die "Systematische Theologie" von P. Tillich dienen (Stuttgart 1956/66), bei der - nicht von ungefähr - das Schriftstellenregister für alle drei Bände knapp zwei Seiten beansprucht; auf katholischer Seite der späte K. Rahner, dem es darauf ankam, jedenfalls den
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wert sein, die zu ihren eigenen Grundlagen auf Distanz geht? So gewinnt der als "Fundamentalismus" bezeichnete radikale Weg Anhänger, die die Anwendung der historischen Methode auf Gottes Wort als in sich falsch und widersinnig bezeichnen und die Bibel wieder rein in ihrer Wörtlichkeit, so wie sie steht und wie der Durchschnittshörer sie versteht, als Wort Gottes vernehmen wollen. Aber wann höre ich eigentlich die Bibel "wörtlich"? Und welches Verstehen ist das "normale", das sie ganz in ihrem Eigenen beläßt? Gewiß, der Fundamentalismus kann sich darauf berufen, daß der Platz der Bibel, die von ihr selbst gewählte hermeneutische Perspektive, die Sehweise der "Geringen" ist, der Menschen des "einfachen Herzens" 3. Trotzdem bleibt bestehen, daß die Forderung der "Wörtlichkeit" und des "Realismus" keineswegs so eindeutig ist, wie es den Anschein hat. Ein anderer Ausweg bietet sich im Aufgreifen des Problems der Hermeneutik an: Das Erklären der historischen Werdeprozesse sei nur der eine Teil der Aufgabe des Auslegers, das Verstehen im Heute der andere. Demgemäß müsse man die Bedingungen des Verstehens untersuchen und so zu einer Vergegenwärtigung des Textes kommen, die über die historische "Anatomie am Gestorbenen" 4 hinausgeht. Das ist als Ansatz richtig, denn in der Tat hat man eine Sache noch lange nicht verstanden, wenn man den Hergang ihrer Entstehung zu erklären weiß. Aber wie kann es zu einem Verstehen kommen, das nicht auf der Willkür eigener Setzungen beruht, sondern mich die Botschaft des Textes hören läßt und mir gibt, was ich nicht aus mir selber habe? Hat die Methode erst einmal mit ihrer Anatomie die Historie zum Toten gemacht, wer kann sie dann wieder auferwecken, daß sie als Lebendige mit mir spricht? Anders gesagt: Wenn "Hermeneutik" überzeugen soll, muß der innere Zusammenklang zwischen historischer Analyse und hermeneutischer Synthese gefunden werden. Zweifellos gibt es in der hermeneutischen Debatte ernsthafte "Grundkurs des Glaubens" (Freiburg 1976) von der Exegese weitgehend unabhängig zu halten (vgl. z. B. 25). 3 Vgl. J. Guitton, a. a. O. 56 ff; R. Guardini, Das Christusbild der paulinischen und johanneischen Schriften (Würzburg 21961) 15. 4 So formuliert Kästner, a. a. O. 121; verwandte Gedanken bei L. Kolakowski, Die Gegenwärtigkeit des Mythos (München 1973) 95 f.
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Anläufe in dieser Richtung; eine überzeugende Antwort sehe ich freilich noch nicht. 5 Wenn Bultmann die Philosophie Heideggers als Vehikel der Vergegenwärtigung des biblischen Wortes einsetzte, dann stand das in Einklang mit seiner Rekonstruktion des Eigenen an der Botschaft Jesu. Aber war nicht diese Rekonstruktion selbst schon Produkt seiner Philosophie? Wie hoch ist ihre historische Glaubwürdigkeit? Hören wir am Ende Jesus oder Heidegger zu bei dieser Art des Verstehens ? Immerhin kann man Bultmann ein ernstes Ringen um den Zugang zur Botschaft der Bibel nicht absprechen. Heute aber treten Formen der Auslegung in Erscheinung, die man nur noch als Symptome für den Zerfall von Interpretation und Hermeneutik bezeichnen kann. Materialistische oder feministische Auslegung der Bibel können im Ernst nicht beanspruchen, ein Verstehen dieses Textes und seiner Absichten zu sein. Sie sind bestenfalls ein Ausdruck dafür, daß man den eigentlichen Sinn der Bibel entweder als gänzlich unerkennbar oder als bedeutungslos für die Wirklichkeit heutigen Lebens ansieht und daher überhaupt nicht mehr nach der Wahrheit fragt, sondern allein nach dem, was einer gewählten Praxis dienen kann. Die Kombination solcher Praxis mit Elementen biblischer Überlieferung rechtfertigt sich dann dadurch, daß der Zustrom religiöser Elemente den Schwung des Handeins verstärkt. Historische Methode kann dann sogar als Deckmantel für dieses Manöver dienen, insofern sie die Bibel in diskontinuierliche Einzelteile zerlegt, die nun neuer Anwendung fähig sind und in einer neuen Zu verweisen ist hier besonders auf die Arbeiten von P. Ricoeur, z. B. Hermeneutik und Strukturalismus I (1973); Hermeneutik und Psychoanalyse (1974). Eine hilfreiche Sichtung und Ortung des gegenwärtigen Fragestandes bietet P. Stuhlmacher, Vom Verstehen des Neuen Testaments. Eine Hermeneutik (Göttingen 1986). Wichtige Anläufe findet man ferner bei P. Toinet, Pour une theologie de l'exegese (preface: I. de la Potterie) (Paris 1983); R. Laurentin, Comment reconci1ier l'exegese et 1a foi (Paris 1984); P. Grech, Ermeneutica e Teologia bib1ica (Roma 1986); P. Grelot, Evangiles et histoire (Paris 1985). Die Theologische Quartalschrift (Tübingen) hatte 1979 ein ganzes Heft (1-71) der Diskussion dieser Frage gewidmet, in der Form der Debatte über den Beitrag von J. Blank, Exegese als theologische Basiswissenschaft (2-23). Leider ist dieser Beitrag unergiebig, da er die um die Exegese entstandenen Probleme ausschließlich auf einen noch nicht zur Höhe historischen Denkens fortgeschrittenen Dogmatismus zurückzuführen scheint. 5
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Montage anders eingesetzt werden können. 6 Nur scheinbar seriöser sind tiefenpsychologische "Deutungen" der Schrift. Dabei werden die von der Bibel erzählten Ereignisse auf mythische Urbilder zurückgeführt, die in wechselnden Formen in der ganzen Religionsgeschichte aus der Tiefe der Seele aufgestiegen seien und uns den Weg zur erlösenden Fahrt in die heilenden Gründe unserer Seele weisen sollen 7. Auch hier wird die Schrift gegen ihren eigenen Willen gelesen: Nicht mehr Absage an die Götter soll sie sein, sondern die Weise, wie sich uns im Abendland der ewige Mythos der Erlösung mitteilt. Daß solche Formen der "Auslegung" heute begierig aufgenommen, ja, auch in der Theologie vielfach als wählbare Alternativen angesehen werden, ist vielleicht das dramatischste Zeichen für den Notstand, in den Exegese und Theologie geraten sind. Diese Situation gilt heute für die evangelische und die katholische Theologie im wesentlichen in gleicher Weise, auch wenn ihre Ausdrucksformen sich entsprechend den unterschiedlichen wissenschaftlichen Traditionen in einzelnen Details unterscheiden. Was die katholische Seite angeht, so hat das H. Vatikanum zwar diese Situation nicht geschaffen, sie aber auch nicht verhindern können. Die Konstitution über die göttliche Offenbarung hat v'ersucht, die beiden Seiten der Interpretation, das historische "Erklären" und das ganzheitliche "Verstehen" in einen ausgewogenen Zusammenhang zu bringen. Sie hat zum einen das Recht, ja die Notwendigkeit der historischen Methode betont, die sie auf drei wesentliche Elemente zurückführt: auf das Beachten der literarischen Gattungen, auf die Erforschung des historischen (kulturellen, religiösen usw.) Umfelds und auf die Untersuchung dessen, was man "Sitz im Leben" zu nennen pflegt. Gleichzeitig hat aber das Konzilsdokument auch am theologischen Charakter der Exegese festgehalten und die Schwerpunkte der theologiBezeichnend dafür sind die neuen Formen materialistischer und feministischer Auslegung der Bibel, vgl. z. B. K. Füssel, Materialistische Lektüre der Bibel, in: Theologische Berichte XIII, Methoden der Evangelien-Exegese (Einsiedeln 1985) 123-163. 7 Der Hauptvertreter dieser immer mehr an Boden gewinnenden tiefenpsychologischen Exegese ist E. Drewermann. Vgl. dazu G. Lohfink - R. Pesch, Tiefenpsychologie und keine Exegese (Stuttgart 1987). 6
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schen Methode in der Auslegung des Textes benannt: Die Grundvoraussetzung, auf der theologisches Verstehen der Bibel beruht, sei die Einheit der Schrift; dieser Voraussetzung entspreche als methodischer Weg die "analogia fidei", d. h. das Verstehen der Einzeltexte aus dem Ganzen heraus. Dazu kommen zwei weitere methodische Hinweise. Die Schrift ist eins von ihrem durchgehenden geschichtlichen Träger her, von dem einen Volk Gottes. Sie als Einheit lesen, heißt daher, sie von der Kirche als von ihrem Existenzort her lesen und den Glauben der Kirche als den eigentlichen hermeneutischen Schlüssel ansehen. Das bedeutet zum einen, daß die Tradition den Zugang zu ihr nicht verbaut, sondern öffnet; es heißt zum anderen, daß der Kirche in ihren amtlichen Organen das entscheidende Wort in der Schriftauslegung zukommt 8 • Dieser theologische Methodenkanon steht nun allerdings zur methodischen Grundorientierung der modernen Exegese in Widerspruch; er ist gerade das, was zu überwinden sie ausgezogen ist. Entweder - so könnte man von ihr her sagen - geschieht Auslegung kritisch oder durch Autorität, beides zugleich geht nicht. Die Bibel "kritisch" auslegen heißt eine autoritative Auslegungsinstanz hinter sich lassen. "Tradition" muß dann zwar nicht unbedingt als Verstehenshilfe abgelehnt werden, zählt aber nur, soweit ihre Begründungen den "kritischen" Methoden standhalten. In keinem Fall kann "Tradition" ein Auslegungsmaßstab sein. Aufs Ganze gesehen gilt die traditionelle Auslegung als vorwissenschaftlich und naiv; erst die historisch-kritische Interpretation erscheint als wirkliche Erschließung des Textes. So wird zuletzt auch die Einheit der Bibel zum überholten Postulat. Historisch betrachtet, gelte nicht nur für das Verhältnis von Altem und Neuem Testament, sondern auch innerhalb beider Testamente Diskontinuität, nicht Einheit. Von einem solchen Ausgangspunkt her erscheint der exegetische Auftrag des Konzils als in sich widersprüchlich - "kritisch" und "dogmatisch" zugleich, was dem modernen theologischen Denken als unversöhnbar gilt. Ich bin zwar persönlich überVgl. bes. Dei Verbum 11 und 12, dazu J. Gnilka, Die biblische Exegese im Lichte des Dekretes über die göttliche Offenbarung, in: MThZ 36 (1985) 1-19.
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zeugt, daß eine sorgfältige Lektüre des ganzen Textes von Dei Verbum die wesentlichen Elemente für eine Synthese zwischen historischer Methode und theologischer "Hermeneutik" finden kann, aber ohne weiteres greifbar ist dieser Zusammenhang nicht 9 • So hat die nachkonziliare Rezeption praktisch den theologischen Teil der Aussage als Zugeständnis an die Vergangenheit beiseite gelassen und den Text lediglich als uneingeschränkte offizielle Bestätigung der historisch-kritischen Methode aufgefaßt. Daß auf diese Weise nach dem Konzil die konfessionellen Unterschiede zwischen katholischer und evangelischer Exegese praktisch verschwunden sind, mag man auf das Gewinnkonto solch einseitiger Rezeption des Konzils setzen. Das Negative an dem Vorgang besteht darin, daß nun auch im katholischen Bereich der Hiatus zwischen Exegese und Dogma total geworden ist und daß auch in ihr die Schrift zu einem vergangenen Wort wurde, das jeder auf seine Weise in die Gegenwart zu transportieren versucht, ohne daß er dem Floß allzusehr vertrauen kann, auf das er sich dabei setzt. Der Glaube sinkt herab zu einer Art Lebensphilosophie, die sich der einzelne aus der Bibel zu destillieren versucht, so gut er es eben kann. Das Dogma, dem der Boden der Schrift entzogen worden ist, trägt nicht mehr. Die Bibel, die sich vom Dogma gelöst hat, ist zu einem Dokument des Vergangenen geworden und gehört damit selbst der Vergangenheit an. b) Die Aufgabe Diese Lage ist nicht überall gleich offenkundig. Die Methoden werden nicht immer mit derselben Radikalität gehandhabt und die Suche nach korrigierenden Elementen ist seit langem im Gang. Insofern betritt man mit dem Mühen um eine bessere Synthese von historischer und theologischer Methode, von Kritik und Dogma nicht einfach Neuland. Andererseits wird wohl kaum jemand behaupten wollen, daß ein überzeugendes Gesamtkonzept bereits gefunden sei, das den unwiderruflichen Erkenntnissen der historischen Methode Rechnung trägt, zugleich Vgl. Gnilka a. a. O. 1-9; siehe auch den Kommentar zum 3. Kapitel, von A. Grillmeier, in: LThK, Ergänzungsband II, 528-558.
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aber ihre Begrenzungen überwindet und sie in eine sachgemäße Hermeneutik hinein öffnet. Um dies zu erreichen, wird wenigstens noch die Arbeit einer ganzen Generation nötig sein. Was im Folgenden ausgeführt wird, möchte sich in ein solches Bemühen einordnen und einige Schritte aufzeigen, die auf diesem Weg vorwärtsführen können. Es braucht dabei nicht eigens bewiesen zu werden, daß die Zuflucht zu einer vermeintlich reinen Wörtlichkeit des Verstehens nicht weiterhilft und daß auch eine bloß positivistisch festgehaltene Kirchlichkeit ungenügend wäre. Ein Bestreiten einzelner, besonders gewagter und fragwürdiger Hypothesen genügt gleichfalls nicht. Ebenso ist ein lauwarmer Standpunkt ungenügend, bei dem man sich die jeweils am ehesten mit der Tradition verträglichen Antworten aus dem Angebot der modernen Exegese heraussucht. Solche Vorsicht kann nützlich sein, aber sie faßt das Problem nicht an der Wurzel und bleibt willkürlich, wenn sie ihre Gründe nicht verständlich machen kann. Um zu einer wirklichen Lösung zu kommen, muß man über den Streit um Details hinausgehen und zur Wurzel vordringen. Was wir brauchen, ist eine Kritik der Kritik, die aber nicht von außen, sondern nur aus dem selbstkritischen Potential des kritischen Denkens, aus seinem Inneren entwickelt werden kann: eine Selbstkritik der historischen Exegese, die sich zu einer Kritik der historischen Vernunft in Fortführung und Abwandlung der kantischen Vernunftkritiken ausweiten läßt. Ich maße mir nicht an, eine so große Aufgabe allein und gleichsam im Handstreich durchführen zu können. Aber man muß mit ihr anfangen, auch wenn es sich zunächst nur um erste Erkundungsfahrten in ein noch wenig erschlossenes Gelände handeln kann. Selbstkritik der historischen Methode müßte damit beginnen, daß sie ihre eigenen Ergebnisse diachronisch liest und damit von dem Anschein einer quasi-naturwissenschaftlichen Gewißheit abrückt, mit der bisher ihre Interpretationen weithin vorgetragen werden. Tatsächlich liegt der historisch-kritischen Methode das Bemühen zugrunde, im Feld der Geschichte einen ähnlichen Grad von methodischer Genauigkeit und damit von Gewißheit in den Ergebnissen zu erreichen, wie sie in der Naturwissenschaft vorliegt. Was der Exeget entschie-
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den hat, kann nur noch von Exegeten in Frage gestellt werden das ist die praktische Regel, die meist als geradezu selbstverständlich gültig vorausgesetzt wird. Nun müßte freilich gerade das naturwissenschaftliche Modell selbst dazu führen, daß man die Geltung der Heisenbergschen Unsicherheitsrelation auch auf die historische Methode anwendet. Heisenberg hat gezeigt, daß der Ausgang eines Experiments wesentlich vom Standpunkt des Betrachters mitbestimmt wird, ja, daß sein Fragen und Zusehen selbst verändernd in den "Naturvorgang" miteingeht lO • Das gilt im gesteigerten Maß im Umgang mit den Zeugnissen der Geschichte: Auslegung kann niemals einfach reine Reproduktion dessen sein, "wie es gewesen ist". Das Wort "Inter-pretation" führt hier auf die Spur der Sache selbst: Jede Auslegung verlangt ein "Inter", ein Hineintreten und Dazwischensein, ein Mitsein des Interpreten. Die reine Objektivität ist eine absurde Abstraktion. Nicht der Unbeteiligte erfährt, sondern Beteiligung ist die Voraussetzung für Erkenntnis. Es fragt sich nur, wie man zu einer Beteiligung kommt, bei der nicht das Ich die Stimme der anderen überschreit, sondern ein inneres "Einverständnis" mit dem Damaligen die Ohren für deren Wort rein werden läßt 1l. Das von Heisenberg auf naturwissenschaftliche Experimente hin formulierte Gesetz drückt einen Sachverhalt aus, der für das Subjekt-Objekt-Verhältnis ganz generell gilt. Das Subjekt ist aus keiner Konstellation reinlich herauszuhalten; man kann nur versuchen, es in eine optimale Verfassung zu bringen. Im Umgang mit der Geschichte gilt dies - wie gesagt - verstärkt, denn physikalische Prozesse sind gegenwärtig und wiederholbar, geschichtliche Vorgänge sind vergangen und nicht wiederholbar. Sie tragen überdies die Undurchdringlichkeit und die Tiefe des Menschlichen an sich und sind insofern noch weit mehr von der Haltung des vernehmenden "Subjekts" abhängig als naturgesetzliche Abläufe. Aber wie kommt man den Konstellationen des Subjekts auf die Spur? An dieser Stelle sollte das einsetzen, was Vgl. W. Heisenberg, Das Naturbild der heutigen Physik (Reinbek 1955), bes. 15-23. 11 Ich beziehe mich hier auf P. Stuhlmacher, a. a. O. (s. Anm. 5), der seine eigene Antwort auf die Probleme in einer "Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten" formuliert (222-256). 10
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ich vorhin diachronischen Umgang mit exegetischen Ergebnissen genannt habe. Nach rund zweihundert Jahren historisch-kritischer Arbeit an den Texten kann man deren Ergebnisse nicht mehr flächenhaft lesen; man muß sie perspektivisch im Zusammenhang ihrer eigenen Geschichte sehen. Dann zeigt sich, daß diese Geschichte nicht einfach als Geschichte des Fortschritts von ungenauen zu genauen und objektiven Ergebnissen dasteht. Es wird sichtbar, daß dies vielmehr auch und vor allem eine Geschichte subjektiver Konstellationen ist, deren Wege genau den geistes geschichtlichen Entwicklungen entsprechen und sie in Form von Textinterpretationen widerspiegeln. In der diachronischen Lektüre der Exegese werden deren philosophische Voraussetzungen von selbst sichtbar. Aus der Distanz stellt ger Betrachter mit Erstaunen fest, daß die scheinbar streng wissenschaftlichen, rein "historischen" Interpretationen doch mehr "der Herren eigenen Geist" als den Geist der vergangenen Zeiten widerspiegeln. Das muß nicht zur Skepsis führen, wohl aber zur Selbstbegrenzung und zur Reinigung der Methode.
2. Selbstkritik der historisch-kritischen Methode am Paradigma der Methodenlehre von Martin Dibelius und Rudolf Bultmann a) Die Hauptelemente der Methode und ihre Voraussetzungen Um nicht ganz im Abstrakten allgemeiner Regeln zu verbleiben, möchte ich versuchen, das Gesagte an einem Beispiel zu verdeutlichen. Ich stütze mich dabei auf die Baseler Dissertation von Reiner Blank über "Analyse und Kritik der formgeschichtlichen Arbeiten von Martin Dibelius und Rudolf Bultmann" 12. Dieses Buch scheint mir ein ausgezeichnetes Beispiel für die von mir angesprochene Selbstkritik der historisch-kritischen Methode zu sein: Eine solchermaßen selbstkritisch gewordene Exegese hört auf, "Ergebnisse" an Ergebnisse zu reihen, Hypothesen aufzustellen und zu bestreiten. Sie blickt auf ihren Weg, um ihre 12
Basel 1981, Bd. XVI der Theologischen Dissertationen, hrsg. von Bo Reicke.
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Grundlagen zu erkennen und sich von der Reflexion dieser ihrer Grundlagen her zu reinigen. Damit hebt sie sich keineswegs selber auf. Im Gegenteil: Mit der Selbstbegrenzung findet sie auch ihren richtigen Ort. Zweifellos sind die formgeschichtlichen Arbeiten von Dibelius und Bultmann inzwischen in mancher Hinsicht überholt und im einzelnen korrigiert worden. Ihre methodischen Grundorientierungen bestimmen indes auch heute Methode und Weg der modernen Exegese. Ihre wesentlichen Elemente liegen weiterhin deren historischen und theologischen Urteilen zugrunde, ja, sie haben großenteils eine geradezu dogmatische Geltung erlangt. Dibelius wie Bultmann ging es darum, die Willkür zu überwinden, in die die vorausgehende Phase kritischer Exegese - die sogenannte liberale Theologie - bei ihren Urteilen über "historisch" und "unhistorisch" hineingeraten war. Die bei den Gelehrten suchen daher nach streng literarischen Kriterien, die den Werdeprozeß der neutestamentlichen Texte in einer verläßlichen Weise klären und damit ein getreues Bild der Überlieferung ergeben sollten. Aus diesem Grund waren beide auf der Suche nach der "reinen Form" und nach den Gesetzen, die von den Formen des Anfangs bis zu den uns vorliegenden Texten geführt haben. Dibelius ging dabei wie selbstverständlich von der Meinung aus, das Geheimnis der Geschichte lasse sich aufdecken, indem man ihr Gewordensein erhelle 13. Aber wie kommt man an den damit postulierten Anfang und zu den Verlaufsgesetzen der weiteren Entwicklung? Bei allen Unterschieden im einzelnen kann man hier eine Reihe von Grundvoraussetzungen aufdecken, die Dibelius und Bultmann gemeinsam sind und von beiden unbefragt als verlässig angesehen werden. Beide gehen vom Vorrang der Predigt vor dem Ereignis aus: im Anfang war das Wort. Alles entwickelt sich aus der Predigt. Bei Bultmann ist diese These so weit getrieben, daß für ihn nur das Wort ursprünglich sein kann; das Wort erzeugt die Szene 14. Alles, was Ereignis ist, ist demgemäß bereits sekundär, ist mythische Ausgestaltung. 13 Vgl. R. Blank, a. a. O. 72. Demgegenüber spricht E. Kästner, a. a. O. 120, von dem "Aberglauben ... , es sei alles und jedes aus seinen Entstehungen zu verstehen ... " 14 Vgl. R. Blank, a. a. 0.97.
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Damit ist ein weiteres Axiom schon mitgegeben, das seit Dibelius und Bultmann für die moderne Exegese konstitutiv geblieben ist: die Idee der Diskontinuität, nicht nur zwischen vorösterlicher und nachösterlicher Überlieferung, zwischen vorösterlichem Jesus und der sich bildenden Kirche, sondern in allen Phasen der Überlieferung gilt Diskontinuität - bis zu dem Punkt, daß R. Blank feststellen konnte: "Bultmann intendierte Zusammenhanglosigkeit um jeden Preis."15 Ein Vorteil dieser These war es, daß auf solche Weise das Problem des Verhältnisses von Altem und Neuem Testament entschärft war. Denn wenn schon innerhalb der neutestamentlichen Überlieferung stetige Diskontinuität waltet, ist die Diskontinuität zum Alten Testament hin kein eigentliches Problem mehr. Die von den neutestamentlichen Schriften behauptete Kontinuität der beiden Testamente gehört dann eben zu den vom Historiker durchschauten mystifizierenden Elementen, aus denen sich die spätere Gemeinde ihr Haus zimmerte. Aber zugleich wird an diesem Punkt blitzartig deutlich, wie sehr dieses Zurückgehen auf das angeblich Ursprüngliche sich von der konkreten Aussage des Neuen Testaments entfernt. Denn für dieses ist es konstitutiv, sich in Einheit mit dem gesamten Zeugnis des Alten Testaments zu wis·sen, das erst jetzt als Einheit und als sinnvolle Ganzheit verstanden werde. Tatsächlich wird sich jede Auslegung des N euen Testaments daran messen lassen müssen, ob sie mit dieser seiner Grundüberzeugung in Einklang treten kann. Wo sie unvollziehbar bleibt, ist ein nachvollziehendes Verstehen der inneren Logik der neutestamentlichen Schriften vom Ansatz her ausgeschlossen. Kehren wir zu Dibelius und Bultmann zurück. Mit der These von der Ursprünglichkeit allein des einfachen Wortes und der Diskontinuität zwischen den einzelnen Phasen seiner Entwicklung verbindet sich die Auffassunq, daß nur das Einfache anfänglich, das Komplizierte notwendigerweise spät sei. So ergibt sich ein leicht zu handhabender Parameter für die Bestimmung von Entwicklungsstadien: Je theologisch reflektierter und anspruchsvoller eine Aussage ist, desto jünger ist sie, und je einfa15
Ebd., 154.
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cher etwas ist, desto mehr kann man es dem Ursprung zurechnen 16. Aber der Maßstab, nach dem man etwas als entwikkelt oder weniger entwickelt ansieht, ist keineswegs so offenkundig, wie es fürs erste den Anschein hat. Das Urteil darüber hängt wesentlich von den eigenen theologischen Einschätzungen des Exegeten ab; der Willkür wird hier breiter Raum gelassen. Vor allem aber muß der Grundgedanke bestritten werden, der auf einer einfältigen Übertragung des naturwissenschaftlichen Evolutionsmodells auf die Geschichte des Geistes beruht. Geistige Vorgänge folgen nicht dem Gesetz animalischer Stammbäume. Hier ist es häufig genau umgekehrt: Einem großen Durchbruch folgen Generationen von Epigonen, die das Kühne des neuen Anfangs ins Banale von Schultheorien herunterholen, es verschütten und verdecken, bis es durch vielerlei Verzweigungen . hindurch wieder neu zur Wirkung kommt. Wie fragwürdig die angegebenen Maßstäbe sind, kann man an Beispielen leicht sehen: Wer würde behaupten wollen, Clemens von Rom sei "entwickelter" und "komplizierter" als Paulus? lakobus fortgeschrittener als der Römerbrief? Die Didache weiter als die Pastoralbriefe? Blicken wir auf spätere Zeiten: Ganze Generationen von Schülern des heiligen Thomas haben die Größe seiner Gedanken nicht zu halten vermocht; die lutherische Orthodoxie ist weit "mittelalterlicher" als Luther selbst. Und auch zwischen Großen kann man ein derartiges Entwicklungsschema nicht aufrechterhalten. Gregor der Große z. B. schreibt lange nach Augustinus und kennt ihn, aber bei ihm ist alles aus der kühnen Schau Augustins ins Einfache gläubigen Verstehens übersetzt. Ein anderes Beispiel: Mit welchem Maßstab möchte jemand deklarieren, ob Pascal vor oder nach Descartes einzuordnen sei, welches Denken 16 Vgl. Ebd., 89-183. Bezeichnend für die praktisch allgemeine Annahme dieses Maßstabs ist - um nur ein Beispiel zu nennen - die unreflektierte Selbstverständlichkeit, mit der L. Oberlinner die "zweifellos (etwa gegenüber Paulus) vorangeschrittene(n) Reflexion, beispielsweise in der Ekklesiologie und in der Eschatologie", die er in den synoptischen Evangelien gegeben sieht, als Datierungskriterium einsetzt (Rezension zu J. Carmignac. La naissance des Evangiles Synoptiques, Paris 1984, in: Theol. Rev. 83 [1987]194). Nach welchem Kriterium ist eine Reflexion als mehr und die andere als weniger fortgeschritten zu bezeichnen? Das hängt doch wohl vom Standort des Betrachters ab. Und selbst wenn der Maßstab zuträfe, wer beweist, daß daraus ein Früher bzw. Später folgt?
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als entwickelter zu gelten habe? Die Beispiele ließen sich die ganze Geschichte hindurch darstellen. Alle Urteile, die auf der Theorie von der Zusammenhanglosigkeit der Überlieferungen und auf der evolutionistischen Behauptung des Primates des "Einfachen" vor dem "Komplizierten" beruhen, sind daher von ihrem Ansatz her als unbegründet in Frage zu stellen. Nun müssen wir aber noch konkreter erklären, nach welchen Maßstäben man das "Einfache" festzulegen versuchte. Dafür gibt es formale und inhaltliche Kriterien. Formal suchte man nach den ursprünglichen Formen. Dibelius fand sie im Paradigma, der mündlich vorgetragenen Beispielerzählung, die sich hinter der Predigt rekonstruieren lasse. Späte Formen seien demgegenüber die "Novelle", die "Legende", die Sammlungen erzählenden Materials, der Mythos 17. Bultmann erblickt die reine Form im Apophthegma: "Das ursprüngliche Einzelstück sei abgerundet, knapp; dem Wort Jesu am Ende der Szene sei das Interesse gewidmet; Situationsangaben lägen dieser Form ferne; Jesus trete nie als Initiator auf ... Alles, was dieser Form nicht entsprach, schrieb Bultmann der Entwicklung zu." 18 Das Willkürliche dieser Festlegungen, die noch immer die Entwicklungstheorien und die Echtheitsurteile prägen, springt in die Augen. Um gerecht zu sein, muß man freilich sagen, daß sie so willkürlich nicht sind, wie es beim ersten Zuhören scheinen mag. Die Bestimmung der "reinen Form" beruht nämlich auf einer inhaltlichen Idee des Anfänglichen, die wir nun prüfen müssen. Ein erstes Element davon ist uns schon begegnet: Die These von der Priorität des Wortes vor dem Ereignis. Sie verbirgt zwei weitere Gegensatzpaare: das Ausspielen von Wort gegen Kult und von Eschatologie gegen Apokalypse. In engem Zusammenhang damit steht die Antithese von jüdisch und hellenistisch. Hellenistisch war z. B. für Bultmann der Kosmosgedanke, die . mystische Gottesverehrung, die Kultusfrömmigkeit. Die Konsequenz ist einfach: Was hellenistisch ist, kann nicht palästinensisch, also nicht ursprünglich sein. Was mit Kult, mit Kosmos, mit "Mystik" zu tun hat, muß als spätere Bildung ausscheiden. 17 18
R. Blank, 11-46. Ebd., 98.
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Die Ablehnung der "Apokalyptik" als eines angeblichen Gegensatzes zur "Eschatologie" führt noch auf ein weiteres Element hin: auf den behaupteten Antagonismus des Prophetischen gegen das "Gesetzliche" und so wieder gegen das Kultische wie gegen das Kosmische. Das bedeutet dann auch, daß "Ethik" als unvereinbar mit dem Eschatologischen und Prophetischen angesehen wird; am Anfang habe nicht "Ethik", sondern ein "Ethos" gestanden 19. Hier wirken sicher auch Grundentscheide Luthers nach: die Dialektik von Gesetz und Evangelium, die es nahelegt, Ethik und Kult dem Bereich des Gesetzes zuzuschreiben und damit in einen dialektischen Gegensatz zu Jesus zu stellen, der als Bringer des Evangeliums die Linie der Verheißung vollendet und damit das Gesetz überwindet. Insofern müßte man, um die moderne Exegese zu verstehen und richtig zu beurteilen, Luthers Sicht vom Verhältnis der beiden Testamente neu reflektieren; an die Stelle des bisherigen Modells der Analogie hat er eine dialektische Struktur gesetzt. Vielleicht ist diese Wende sogar der eigentliche Graben, der alte und neue Exegese trennt. Aber wie dem auch sei, bei Luther blieb dies alles noch in einer sehr subtilen Balance; auch für Jesus selbst und somit auch für das christliche Leben bleiben beide Seiten der Dialektik wesentlich - Jesus ist nicht nur die reine Rechtfertigung aus Gnade, sondern auch "Beispiel", und insofern gehört das Ethische in seine Gestalt hinein. Bei Bultmann und Dibelius hingegen ist das Ganze zu einem Entwicklungsschema entartet, dessen Simplizität schwer erträglich ist, auch wenn sie mit zu seiner Durchschlagskraft beigetragen hat. Das Bild Jesu ist mit diesen Voraussetzungen im voraus festgelegt. Jesus muß demnach streng "jüdisch" aufgefaßt werden; alles "Hellenistische" muß man von ihm entfernen. Apokalyptische, sakramentale, mystische Elemente scheiden aus; es bleibt ein streng "eschatologischer" Prophet, der eigentlich nichts Inhaltliches. verkündet, sondern nur "eschatologisch" in die Wachheit für das Ganz-An-
19 M. Dibelius, Die Unbedingtheit des Evangeliums und die Bedingtheit der Ethik, in: Christliche Welt 40 (1926), Sp. 1103-1120, bes. 1107 und 1109; ders., Geschichtliche und übergeschichtliche Religion im Christentum (Göttingen 1925); vgl. dazu R. Blank, a.a.O. 66-71.
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dere, für die Transzendenz ruft, die er in der Form der Naherwartung des WeItendes fordernd vor die Menschen hinstellt. Der Exegese erwuchsen aus dieser Sicht zwei Aufgaben: Sie mußte erklären, wie es von dem unmessianischen, unapokalyptischen, prophetischen Jesus zur apokalyptischen Gemeinde kam, die ihn als Messias verehrte; zu einer Gemeinde, in der sich jüdische Eschatologie, stoische Philosophie und Mysterienreligion zu einem synkretistischen Phänomen verbunden hätten: So nämlich beschreibt Bultmann das Urchristentum 20. Die zweite Aufgabe besteht darin, die ursprüngliche Botschaft Jesu auf die christliche Existenz heute zu beziehen und damit "Verstehen" seines Anrufs zu ermöglichen. Die erste Aufgabe ließ sich nach dem Entwicklungsschema im Prinzip verhältnismäßig leicht lösen, wenn auch im einzelnen ein hohes Maß an Gelehrsamkeit dazu aufgeboten werden mußte. Der produktive Faktor, dem die neutestamentlichen Inhalte zu verdanken sind, wird nicht in Personen, sondern im Kollektiv, in der "Gemeinde" gesehen. Romantische Ideen vom "Volk" und von seiner Weise der Ausgestaltung von Überlieferungen spielen hier eine große Rolle 21. Dazu kommt die Hellenisierungsthese und der Rückgriff auf die religionsgeschichtliche Schule. Die Arbeiten von Gunkel und Bousset behielten in diesem Zusammenhang entscheidende Bedeutung 22. Die zweite Aufgabe war schwieriger. Bultmann hat sich ihr mit seiner Entmythologisierungsthese gestellt und dabei nicht annähernd den Erfolg erzielt, den er mit seinen Theorien über Form und Entwicklung erreichen konnte. Wenn man Bultmanns Weg gegenwärtiger Aneignung von Jesu Botschaft etwas vergröbernd charakterisieren darf, könnte man sagen: Der Marburger Gelehrte stellt eine Entsprechung zwischen dem Unapokalyptisch-Prophetischen und Grundgedanken des frühen Heidegger her. Christsein im Sinn Jesu fällt dann im wesentlichen mit jener Weise des Existierens in Offenheit und Wachheit zusammen, die bei Heidegger geschil20 Vgl. R. Bultmann, Urchristentum (Zürich 21954), bes. !Olff.; vgl. R. Blank, 172ff. 21 Vgl. R. Blank, 111; 175. 22 Vgl. W. Klatt, Hermann Gunkel- Zu seiner Theologie der Religionsgeschichte und zur Entstehung der formgeschichtlichen Methode (1969).
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dert ist. Die Frage, ob man zu so allgemeinen und weitgehend rein formalen Aussagen nicht auch auf einfacherem Wege kommen könne, mußte sich aufdrängen 23. Aber was uns hier interessiert, ist nicht der Systematiker Bultmann, dessen Wirkung durch das Aufkommen der Marxismuswelle ohnedies ein abruptes Ende fand. Hier geht es um den Exegeten Bultmann, der seinerseits für einen noch immer wirksamen methodischen Grundkonsens der wissenschaftlichen Exegese steht. In unserer Analyse ist sichtbar geworden, daß auch der Exeget Bultmann Systematiker ist und daß seine exegetischen Ergebnisse nicht Produkt historischer Wahrnehmung sind, sondern aus einem Gefüge systematischer Vorentscheidungen stammen. Kar! Barth hat recht mit seiner Feststellung: "Bultmann ist Exeget. Aber ich denke nicht, daß man exegetisch mit ihm diskutieren kann, weil er zugleich ein Systematiker von solchem Format ist, daß es wohl keinen Text geben dürfte, in dessen Behandlung nicht sofort gewisse Axiome seines Denkens sichtbar werden, daß an der Frage ihrer Gültigkeit schlechterdings alles sich entscheidet." 24 b) Der philosophische Ursprung der Methode An dieser Stelle steht die Frage auf, warum für Dibelius und Bultmann ihre wesentlichen Urteilskategorien - reine Form, Gegensatz von semitisch und griechisch, von kultisch und prophetisch, von apokalyptisch und eschatologisch usw. - eine solche Evidenz hatten, daß sie glaubten, hier das reine Instrumentar geschichtlicher Erkenntnis vor sich zu haben. Warum wird dieses Kategoriengefüge im großen und ganzen auch heute unbefragt vorausgesetzt und angewandt? Inzwischen ist das meiste davon einfach Schulgewißheit geworden, die dem einzelnen vorausgeht und die durch die Selbstverständlichkeit ihrer Anwendung legitimiert zu sein scheint. Aber wie steht es bei den Begründern der Methode? Gewiß, auch Dibelius und Bultmann standen schon in Vgl. die in der Entmythologisierungsdebatte gestellten Fragen. Die wichtigsten Beiträge dieser Diskussion finden sich gesammelt in den fünf von H. W. Bartsch herausgegebenen Bänden Kerygma und Mythos (Hamburg 1948-1955). 24 K. Barth, Kirchliche Dogmatik III 2 (1959) 534; hier zitiert nach R. Blank, a.a.O.148. 23
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einer Tradition; ihre Abhängigkeit von Gunkel und Bousset wurde schon erwähnt. Aber welches Denken leitete sie dabei? Mit dieser Frage geht die Selbstkritik der historischen Methode in eine Selbstkritik der historischen Vernunft über, ohne die unsere Analyse im Vordergründigen steckenbleiben würde. Zunächst kann man sagen, daß in der religionsgeschichtlichen Schule das Evolutionsmodell auf die Analyse der biblischen Texte übertragen wurde. Es ist der Versuch, Methoden und Modelle der Naturwissenschaft auch im Bereich der Geschichte zur Anwendung zu bringen. Bultmann hat diesen Gedanken genereller gefaßt, indem er dem sogenannten naturwissenschaftlichen Weltbild eine Art von dogmatischem Charakter verlieh. So war für ihn z. B. die Ungeschichtlichkeit der Wunderberichte überhaupt keine Frage mehr; man brauchte nur noch zu erklären, wie es zu Wundergeschichten kam. Die Vorstellung vom naturwissenschaftlichen Weltbild war einerseits vage und nicht reflektiert; andererseits bot es einen absoluten Maßstab für das, was gewesen sein konnte und für das, was nur in seiner Gewordenheit aufgeklärt werden mußte. Zu letzterem gehörte alles, was in der heutigen Durcl1schnittserfahrung nicht vorkommt 25. Es konnte nur das geben, was es immer gibt, und deshalb mußten für alles andere historische Prozesse erfunden werden, deren Rekonstruktion zur eigentlichen Aufgabe der Exegese wurde. Ich denke, man müsse aber doch noch einen Schritt tiefer vordringen, um den systematischen Grundentscheid zu verstehen, der die einzelnen Urteilskategorien gezeugt hat. Die eigentliche philosophische Voraussetzung des Ganzen scheint mir in der von 25 Brillante Analysen zu diesem Sachverhalt findet man bei P. L. Berger, Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die Wiederentdeckung der Transzendenz (Frankfurt 1970) (amerikanische Originalausgabe: A Rumor of Angels. Modern Society and the Rediscovery of the Supernatural (New York 1969). Hier nur ein Zitat: "Die Gegenwart aber ist offenbar immun gegen jegliche Relativierung. Den Autoren des Neuen Testaments wird ein falsches, in ihrer Zeit gegründetes Bewußtsein angekreidet. Der moderne Gelehrte dagegen scheint das Bewußtsein seiner, unserer Zeit ungeprüft als ungeteilten Segen hinzunehmen. Mit anderen Worten: intellektuell werden Elektriker oder Radiohörer über den Apostel Paulus gestellt." Zur Frage des Weltbildes wichtige Reflexionen bei H. Gese, Zur biblischen Theologie (München 1977) 202-222.
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Kant vollzogenen philosophischen Wende zu liegen. Danach kann die Stimme des Seins an sich vom Menschen nicht vernommen werden; er kann sie nur indirekt hören, in den Postulaten der praktischen Vernunft, die sozusagen der schmale Schlitz geblieben sind, durch den sich dem Menschen der Kontakt mit dem Eigentlichen, mit seiner ewigen Bestimmung zuträgt. Im übrigen, im Inhaltlichen seiner Vernunfttätigkeit muß er sich auf den Bereich des Kategorialen bescheiden. Daraus wird dann die Beschränkung aufs Positive, aufs Empirische, auf die "exakte" Wissenschaft, in der per definitionem das Ganz-Andere, der Ganz-Andere, ein neuer Anfang aus einer anderen Ebene nicht vorkommen kann. Ins Theologische übersetzt heißt dies, daß sich Offenbarung ins rein Formale der "eschatologischen" Haltung zurückziehen muß, die dem kantischen Spalt entspricht 26. Im übrigen aber hat sie alles zu "erklären": Was sonst als direkte Kundgabe des Göttlichen erscheinen mochte, kann nur Mythos sein, dessen Entwicklungsgesetze gefunden werden können. Von dieser Grundüberzeugung her liest Bultmann - und mit ihm der größere Teil der modernen Exegese - die Bibel. Sie ist sich gewiß, daß es so, wie es in der Bibel geschildert wird, nicht gewesen sein kann, und findet Methoden, durch die herausgestellt werden soll, wie es in Wirklichkeit gewesen sein muß. Insofern liegt in der modernen Exegese eine reductio historiae in philosophiam vor, eine Rückführung der Geschichte auf Philosophie und durch Philosophie. Die eigentliche Frage ist also: Kann man die Bibel auch anders lesp.n? Oder richtiger: muß man der Philosophie zustimmen, die zu solcher Art von Lektüre zwingt? Die Debatte um die moderne Exegese ist in ihrem Kern nicht eine Debatte unter Historikern, sondern eine philosophische Debatte. Nur so wird sie richtig geführt; im anderen Fall bleibt es bei einem Gefecht im Nebel. Insofern ist das exegetische Problem mit dem Grundlagenstreit unserer Zeit überhaupt identisch. Ein solcher Streit 26 Vgl. R. Blank, 137: "Die Ungeschichtlichkeit der Wundergeschichten war für ihn (= Bultmann) keine Frage." Zum kantisch-philosophischen Hintergrund und zu dessen Kritik vgl. J. Zöhrer, Der Glaube an die Freiheit und der historische Jesus. Eine Untersuchung der Philosophie Kar! Jaspers' unter christologischem Aspekt (Frankfurt 1986).
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kann nicht beiläufig geführt und nicht mit ein paar Andeutungen an sein Ziel gebracht werden. Er fordert, wie schon gesagt, den aufmerksamen und kritischen Einsatz einer ganzen Generation. Er kann sich auch nicht einfach auf das Mittelalter oder auf die Väter zurückziehen und sie dem Geist der Neuzeit entgegenhalten. Aber er kann umgekehrt auch nicht auf die Einsichten der großen Glaubenden aller Zeiten verzichten und so tun, als ob die Geschichte des Denkens im Ernst erst mit Kant beginne. An dieser Horizontbeschränkung leidet meines Erachtens weithin die neuere Debatte um das Problem biblischer Hermeneutik. Die Väterexegese ist nicht damit abgetan, daß man sie als "allegorisch" bezeichnet, und die Philosophie des Mittelalters nicht damit zu erledigen, daß man sie als "vorkritisch" einordnet.
3. Grundelemente einer neuen Synthese Nach den Hinweisen zur Aufgabe einer Selbstkritik der historischen Methode stehen wir so vor der positiven Aufgabe, deren Instrumente mit einer besseren Philosophie zu verbinden, die weniger textfremde Vorgaben enthält, weniger willkürlich ist und mehr Voraussetzungen für ein wirkliches Zuhören auf den Text bietet. Das positive Unternehmen ist zweifellos noch schwieriger als das kritische. Ich möchte am Schluß meiner Überlegungen nur versuchen, ein paar erste Schneisen in das Dickicht zu schlagen, die vielleicht andeuten können, wo und wie hier Wege zu finden wären. 1. Gregor von Nyssa hat im theologischen Methodenstreit seiner Zeit den theologischen Rationalisten Eunomius aufgefordert, Theologie nicht mit Physiologie zu verwechseln (9WAOYEtV ist nicht