Die Handlung setzt 1806 mit den Napoleonischen Kriegen in Deutschland ein, als ein Ansbacher Dra goner von der preußis...
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Die Handlung setzt 1806 mit den Napoleonischen Kriegen in Deutschland ein, als ein Ansbacher Dra goner von der preußischen Armee bei Königsberg desertiert, sich mit seiner Frau nach Mühlhausen in Thüringen durchschlägt und später, als Mühlhausen preußisch wird, seinen Namen ändert. Mehr als hundert Jahre später, am Ende des Zweiten Welt kriegs, wird ein Nachkomme dieses Franz Schirmer für eine amerikanische Millionenerbschaft gesucht. Ein amerikanisches Anwaltsbüro entsendet eine neu gierige Nachwuchskraft nach Europa, und Eric Ambler führt in diesem Fall, in einem seiner besten Bücher, zwei Jahrzehnte europäischer Kriegs- und Nachkriegsgeschichte vor: zunächst die deutsche, dann die griechische und jugoslawische.
Eric Ambler
Schirmer
Erbschaft
Roman
Aus dem Englischen von
Nikolaus Stingl
Diogenes
Titel der 1953 bei
William Heinemann, London,
erschienenen Originalausgabe:
›The Schirmer Inheritance‹
Copyright © 1953 by Eric Ambler
Die deutsche Erstausgabe erschien 1955 im
Fischer Verlag, Frankfurt a. M.;
eine erste ungekürzte deutsche Ausgabe
erschien 1975 in einer revidierten
Übersetzung im Diogenes Verlag
Umschlagfoto von
Werner Richner
Für Sylvia Payne
Neuübersetzung Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 1975, 2001
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
isbn 3 257 23274 8
Prolog
I
m Jahre 1806 schickte Napoleon sich an, den König von Preußen aufs Haupt zu schlagen. In der Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt erlitten die preußischen Armeen eine vernichtende Nieder lage. Was von ihnen übrigblieb, marschierte nach Osten und stieß zu einer russischen Armee unter Bennigsen. Auf diese vereinigte Streitmacht traf Napoleon im Februar des Folgejahrs bei dem Städt chen Preußisch-Eylau nahe Königsberg. Eylau war eine der blutigsten und schrecklichsten Schlachten Napoleons. Sie begann bei Schneesturm und Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt. Beide Heere waren halb verhungert und kämpften schon um das jämmerliche Obdach der Gebäude von Eylau mit verzweifeltem Ingrimm. Beide Seiten erlitten schwere Verluste: Es fielen fast ein Viertel der an der Schlacht Beteiligten. Als die Kämpfe am zweiten Tag bei Einbruch der Dunkelheit endeten, geschah es eher aus Erschöpfung, nicht weil eine Entscheidung herbeigeführt worden war. Dann, im Laufe der Nacht, begann sich die russische Armee Richtung Norden zurückzuziehen. Damit hatten die Überlebenden des preußischen Korps, dessen 5
Flankensicherungsaktion gegen Neys Truppen fast den Sieg gebracht hätte, keinen Grund mehr zum Verweilen. Sie zogen durch das Dorf Kutschitten Richtung Osten ab. Ihre Nachhut abzusichern fiel den Dragonern von Ansbach zu. Diese Einheit stand in einem widersprüchlichen, für die damalige Zeit in Mitteleuropa jedoch nicht ungewöhnlichen Verhältnis zur übrigen preußi schen Armee. Wenige Jahre zuvor – die älteren Sol daten konnten sich noch gut daran erinnern – war das Regiment die einzige berittene Streitmacht des unabhängigen Fürstentums Ansbach gewesen und hatte seinen Fahneneid dem herrschenden Markgra fen geschworen. Dann waren schlimme Zeiten für Ansbach angebrochen, und der letzte Markgraf hat te sein Land und sein Volk an den König von Preu ßen verkauft. Ein neuer Fahneneid war zu leisten. Der neue Herr freilich erwies sich als ebenso wan kelmütig wie der alte. Im Jahr vor der Schlacht von Eylau hatte sich die Staatsangehörigkeit der Drago ner abermals geändert. Preußen hatte das Gebiet von Ansbach an Bayern abgetreten. Da Bayern mit Napoleon verbündet war, hätten die Ansbacher strenggenommen gegen die Preußen und nicht an ihrer Seite kämpfen müssen. Die Dragoner aller dings standen dieser widersinnigen Situation ebenso gleichgültig gegenüber wie der Sache, für die sie kämpften. Der Begriff der Nationalität bedeutete ihnen wenig. Sie waren Berufssoldaten in dem Sin ne, den das Wort im achtzehnten Jahrhundert hatte. 6
Wenn sie zwei Tage und eine Nacht lang gekämpft und gelitten hatten, marschiert und gefallen waren, dann weder aus Liebe zu Preußen noch aus Haß auf Napoleon, sondern weil man sie entsprechend ge drillt hatte, weil sie auf Kriegsbeute hofften und weil sie die Folgen des Ungehorsams fürchteten. So konnte Wachtmeister Franz Schirmer, während sein Pferd sich in jener Nacht einen Weg durch die Wälder am Rande von Kutschitten suchte, ohne grö ßere Gewissensbisse über seine Situation nachden ken und Pläne machen, wie er sich daraus befreien könnte. Von den Ansbacher Dragonern waren nicht mehr viele übrig, und von denen, die es waren, wür den nur wenige die kommenden Strapazen überle ben. Die Verwundeten und diejenigen, die schwere Erfrierungen erlitten hatten, würden als erste ster ben; dann, wenn die Pferde verendet oder aufgeges sen waren, würden Hunger und Krankheit nur die jüngsten und widerstandsfähigsten übriglassen. Vierundzwanzig Stunden zuvor hätte der Wachtmei ster mit Fug und Recht erwarten dürfen, zu den we nigen Überlebenden zu zählen. Nun nicht mehr. Am späten Nachmittag war er selbst verwundet worden. Die Wunde hatte eine seltsame Wirkung auf ihn gehabt. Ein französischer Kürassier hatte den Wachtmeister mit einem Säbelhieb am rechten Arm getroffen. Die Klinge hatte die Deltamuskeln knapp über dem Ellbogen schräg bis auf den Knochen durchschnitten. Es war eine häßliche Wunde, doch der Knochen war nicht gebrochen, so daß sich Schir 7
mer wenigstens nicht der Tortur der Feldscher aus setzen mußte. Ein Kamerad hatte ihm die Wunde verbunden und den Arm mit einem Bandelier an den Körper geschnallt. Der Arm pochte schmerz haft, doch die Blutung war offenbar zum Erliegen gekommen. Schirmer fühlte sich schwach, aber das schrieb er eher dem Hunger und der Kälte als schwerem Blutverlust zu. Seltsam fand er nur, daß mit all seiner körperlichen Qual ein Gefühl außer ordentlichen Wohlbefindens einherging. Es hatte sich eingestellt, während die Wunde ver bunden wurde. Die Überraschung und das Entset zen über das seinen unbrauchbaren Arm hinab strömende Blut hatten sich plötzlich gelegt, und an ihre Stelle war ein absurdes, großartiges Gefühl der Freiheit und Unbeschwertheit getreten. Er war ein etwas schwerfälliger, praktisch veran lagter junger Mann, der sich keine Illusionen mach te. Mit Wunden kannte er sich ein wenig aus. Die seine hatte noch geblutet, als sie verbunden worden war, und konnte daher als sauber gelten; seine Chancen, dem Tod durch Wundbrand zu entgehen, standen trotzdem nicht besser als fünfzig zu fünf zig. Auch mit dem Krieg kannte er sich aus, und er begriff deshalb nicht nur, daß die Schlacht wahr scheinlich verloren war, sondern auch, daß der Rückzug sie durch eine Gegend führen würde, die von durchziehenden Armeen bereits restlos ausge plündert war. Doch diese Erkenntnis erfüllte ihn keineswegs mit Verzweiflung. Es war, als wäre ihm 8
mit seiner Wunde eine besondere Vergebung seiner Sünden zuteil geworden; eine durchgreifendere und umfassendere Absolution, als sie ihm jeder sterbli che Priester hätte erteilen können. Er spürte, daß Gott selbst ihn angerührt hatte und daß jedweder drastische Schritt, den er ergreifen mußte, um zu überleben, von Gott gebilligt würde. Sein Pferd kam ins Straucheln, während es sich aus einer Schneewehe kämpfte, und der Wachtmei ster faßte den Zügel kürzer. Die Hälfte der Offizie re war gefallen, und man hatte ihm den Befehl über eine der Außenabteilungen übertragen. Er hatte Order, sich weitab von der Straße auf der Flanke zu halten, und eine Zeitlang war das nicht schwer ge wesen; nun aber hatten sie den Wald verlassen und kamen im tiefen Schnee nur mit Mühe voran. Ein, zwei Dragoner hinter ihm waren bereits abgesessen und führten ihre Pferde am Zügel. Er konnte sie am Schluß der Kolonne durch den Schnee stapfen hö ren. Falls er selbst gezwungen sein würde, sein Pferd zu führen, würde er womöglich nicht mehr die Kraft haben, wieder aufzusitzen. Er dachte einen Moment darüber nach. Nach ei ner derart verbissen geführten zweitägigen Schlacht war es äußerst unwahrscheinlich, daß es noch fran zösische Kavallerietrupps gab, die imstande waren, den Rückzug von der Flanke her zu stören. Die Flankensicherung war daher nichts weiter als eine Vorsichtsmaßnahme nach dem Reglement. Sie war es keinesfalls wert, daß man dafür Risiken einging. 9
Er gab ein kurzes Kommando, und die Kolonne schwenkte wieder zur Straße hin in den Wald ein. Er hatte keine große Angst davor, daß sein Unge horsam entdeckt wurde. Falls doch, würde er ein fach behaupten, er habe die Orientierung verloren; man würde ihn nicht schwer dafür bestrafen, daß er sich der Aufgabe eines Offiziers nicht gewachsen zeigte. Er hatte jedenfalls Wichtigeres zu bedenken. Etwas zu essen war am vordringlichsten. Glücklicherweise enthielt die Provianttasche un ter seinem langen Mantel noch den größten Teil der erfrorenen Kartoffeln, die er tags zuvor in einem Bauernhaus erbeutet hatte. Er mußte sie sparsam – und heimlich – essen. Wer in Zeiten wie diesen Nah rungsmittel hortete, lebte gefährlich, ganz gleich, welchen Rang er besaß. Die Kartoffeln jedoch wür den nicht lange vorhalten, und am Ende dieses Mar sches warteten keine blubbernden Suppentöpfe. Selbst die Pferde waren besser dran. Von den Troßwagen war keiner verlorengegangen, und sie enthielten noch eine Tagesration Futter. Die Men schen würden zuerst hungern. Er zwang ein aufsteigendes Panikgefühl nieder. Er würde bald etwas unternehmen müssen, und Pa nik würde ihm dabei nichts nützen. Schon spürte er, wie die Kälte an ihm zehrte. Es konnte nur noch wenige Stunden dauern, bis Fieber und Erschöp fung unwiderruflich ihren Tribut forderten. Er preßte unwillkürlich die Knie gegen die Sattelklap pen, und in diesem Augenblick kam ihm die Idee. 10
Das Pferd hatte unter dem Schenkeldruck leicht gescheut und war seitwärts gegangen. Wachtmei ster Schirmer lockerte die Oberschenkelmuskeln, beugte sich vor und tätschelte dem Tier mit der lin ken Hand liebevoll den Hals. Er lächelte vor sich hin, während das Pferd sich wieder beruhigte. Als die Abteilung die Straße erreichte, war sein Plan ge faßt. Den Rest der Nacht und den größten Teil des folgenden Tages über zog das preußische Korps langsam ostwärts auf die Masurischen Seen zu; dann wandte es sich nordwärts Richtung Insterburg. Bald nach Einbruch der Nacht verließ Wachtmeister Schirmer unter dem Vorwand, einen Nachzügler holen zu müssen, die Abteilung und ritt südwärts über die gefrorenen Seen in Richtung Lotzen. Am Morgen befand er sich südlich der Stadt. Außerdem war er beinahe am Ende seiner Kräfte. Schon der Marsch von Eylau bis zu der Stelle, wo er desertiert war, hatte ihm alles abverlangt; der Quer feldeinritt von dort wäre selbst für einen Unver wundeten eine Strapaze wesen. Inzwischen waren die Schmerzen in seinem Arm zuweilen unerträg lich, und das Fieber und die bittere Kälte schüttelten ihn so sehr, daß er sich kaum im Sattel halten konn te. Er begann sich sogar schon zu fragen, ob er Got tes Absichten nicht vielleicht doch falsch einge schätzt hatte und ob das, was ihm wie ein Zeichen göttlicher Gnade erschienen war, sich am Ende als Ankündigung seines nahenden Todes erweisen 11
würde. Jedenfalls war ihm klar, daß er sterben wür de, wenn er nicht bald ein Obdach fände, wie es sein Plan erforderte. Er verhielt sein Pferd und hob mit Mühe aber mals den Kopf, um sich umzusehen. Weitab zu sei ner Linken, jenseits der weißen Öde eines zugefro renen Sees, konnte er den flachen, schwarzen Um riß eines Bauernhauses ausmachen. Sein Blick ging weiter. Womöglich gab es ja ein näher gelegenes Gebäude zu erforschen. Aber da war nichts. Ohne Hoffnung lenkte er sein Pferd auf das Bauernhaus zu und setzte seinen Ritt fort. Die Gegend, in der sich der Wachtmeister mitt lerweile befand, war zu jener Zeit zwar Teil des Königreichs Preußen, wurde jedoch im wesentli chen von Polen bewohnt. Sonderlich wohlhabend war sie nie gewesen; nun, nach dem Durchzug der russischen Armee, die die Wintervorräte an Getrei de und Futter requiriert und das Vieh weggetrieben hatte, war sie kaum mehr als eine Einöde. In man chen Dörfern hatten die Kosakenpferde noch das Stroh von den Dächern gefressen, und in anderen waren die Häuser ausgebrannt. Die Feldzüge des heiligen Rußland konnten sich für seine Verbünde ten verheerender auswirken als für seine Feinde. Als erfahrener Soldat hatte der Wachtmeister durchaus mit Verwüstung gerechnet. Sein Plan fuß te sogar darauf. Ein Gebiet, das gerade eine russi sche Armee versorgt hatte, würde eine Zeitlang kei ne andere anziehen. Ein Deserteur durfte sich hier 12
einigermaßen sicher fühlen. Nicht gerechnet hatte Schirmer freilich damit, daß der Hunger die Bevöl kerung vertrieben haben könnte. Seit dem Morgen grauen war er an mehreren Bauernhäusern vorbei gekommen, und sie waren allesamt verlassen gewe sen. Mittlerweile war ihm klargeworden, daß die Russen (vielleicht weil sie es mit Polen zu tun hat ten) noch schlimmer als sonst gehaust und daß die Bewohner – außerstande, genügend Nahrungsmittel zu verstecken, um bis zum Frühjahr zu überleben – sich in Gebiete weiter südlich geflüchtet hatten, die vielleicht verschont geblieben waren. Falls sämtliche Bauern in der Nähe sich den anderen angeschlossen hatten, war er verloren. Er hob abermals den Kopf, zwinkerte, um seine Wimpern von dem daran haf tenden Eis zu befreien, und spähte voraus. In diesem Moment sah er den Rauch. Er stieg als dünner Faden vom Dach des Hauses empor, auf das Schirmer zuhielt, und er sah ihn nur einen Moment lang, ehe er wieder verschwand. Obwohl Schirmer ein ganzes Stück davon entfernt war, wußte er, daß er sich nicht getäuscht hatte. In dieser Gegend wurde Torf gestochen, und das war Rauch von einem Torffeuer. Seine Stimmung hob sich, während er sein Pferd vorwärts trieb. Er brauchte noch eine halbe Stunde, bis er das Gehöft erreichte. Im Näherkommen sah er, daß es ärmlich und heruntergekommen war. Es bestand aus einer niedrigen Holzkate – Wohnhaus und Stall in einem –, einer leeren Schafhürde und einem ka 13
putten Wagen, der fast vollständig unter einer Schneewehe begraben war. Das war alles. Die Pferdehufe verursachten im gefrorenen Schnee nur ein leises Knirschen. Ein Stück vom Haus entfernt löste Schirmer sorgfältig seinen Ka rabiner aus dem langen Sattelschuh. Nachdem er die Waffe schußfertig gemacht hatte, klemmte er sie quer über den Satteltaschen an den zusammenge rollten Decken am Sattelknopf fest. Dann nahm er die Zügel wieder auf und ritt weiter. Am einen Ende des Gebäudes befand sich ein kleines Fenster mit geschlossenen Läden und daneben eine Tür. Im Schnee davor waren Fußspu ren zu erkennen, doch abgesehen von dem dünnen Torfrauchgekräusel über dem Dach gab es kein Zei chen von Leben. Schirmer hielt an und blickte sich um. Das Gatter der Schafhürde stand offen. Neben dem Karren erhob sich ein kleiner Schneebuckel, vermutlich die Überreste eines Heuhaufens. Es war kein Kuhdreck im frischen Schnee zu sehen, kein Gegacker von Federvieh zu hören. Bis auf das leise Seufzen des Windes herrschte tiefe Stille. Die Russen hatten alles mitgenommen. Er ließ die Zügel durch die Finger gleiten, und das Pferd schüttelte den Kopf. Das Klirren des Ge bisses kam ihm sehr laut vor. Er blickte rasch zur Tür des Hauses hin. Falls man das Geräusch dort gehört hatte, würde die erste Reaktion Angst sein; und Angst wäre nützlich, vorausgesetzt, sie führte dazu, daß man ihm umgehend die Tür öffnete und 14
seinen Wünschen prompt entsprach. Falls sie aller dings dazu führte, daß man die Tür vor ihm ver rammelte, kam er in Schwierigkeiten. Er würde die Tür aufbrechen müssen, und er konnte es erst ris kieren abzusitzen, wenn er sicher war, daß sein Ritt hier endete. Er wartete. Von drinnen war kein Laut zu hören. Die Tür blieb geschlossen. Seinem Dragonerinstinkt hätte es entsprochen, mit dem Gewehrkolben dage gen zu hämmern und den Bewohnern zuzubrüllen, sie sollten herauskommen, wenn ihnen ihr Leben lieb sei; aber er widerstand der Versuchung. Der Gewehrkolben würde vielleicht später noch Ver wendung finden, doch zunächst wollte er es wie ge plant mit Freundlichkeit probieren. Er versuchte »Heda!« zu rufen, doch der Laut, der ihm aus der Kehle drang, war nichts weiter als ein Schluchzen. Verzweifelt versuchte er es erneut. »Heda!« Diesmal gelang es ihm, das Wort zu krächzen, doch zugleich überfiel ihn ein tödliches Gefühl der Hilflosigkeit. Er, der eben noch erwogen hatte, mit seinem Gewehr gegen eine Tür zu hämmern, ja sie einzuschlagen, hatte nicht einmal mehr genügend Kraft, um zu rufen. In seinen Ohren war ein Dröh nen, ihm wurde schwindlig. Er schloß die Augen und kämpfte das schreckliche Gefühl nieder. Als er sie wieder aufschlug, sah er die Tür langsam aufge hen. Das Gesicht der Frau, die in der Tür stand und zu 15
ihm aufblickte, war so vom Hunger verwüstet, daß es schwerfiel, ihr Alter zu schätzen. Wären die um ihren Kopf gewundenen Haarflechten nicht gewe sen, hätten auch hinsichtlich ihres Geschlechts Zweifel bestanden. Die wallenden Bauernlumpen, die sie anhatte, waren völlig formlos und ihre Füße und Beine nach Männerart mit Sackleinen umwik kelt. Sie starrte ihn dumpf an, sagte dann etwas auf polnisch und machte Anstalten, wieder ins Haus zu gehen. Er beugte sich vor und sprach sie auf deutsch an. »Ich bin ein preußischer Soldat. Es hat eine große Schlacht gegeben. Die Russen sind geschlagen.« Er sagte das, als verkündete er einen Sieg. Sie hielt inne und blickte erneut auf. Ihre tief in den Höhlen liegenden Augen waren völlig ausdruckslos. Er hat te die merkwürdige Vorstellung, daß das auch dann so bliebe, wenn er seinen Säbel zöge und sie nieder haute. »Wer ist sonst noch da?« fragte er. Wieder bewegten sich ihre Lippen, und diesmal sprach sie deutsch. »Mein Vater. Er war zu schwach, um mit unseren Nachbarn fortzugehen. Was wollt Ihr hier?« »Was fehlt ihm?« »Er hat die Schwindsucht.« »Ah!« Wenn es die Pest gewesen wäre, wäre er lieber im Schnee gestorben, als hierzubleiben. »Was wollt Ihr?« wiederholte sie. Anstatt eine Antwort zu geben, löste er die 16
Schließen seines Mantels und schlug ihn über sei nem verwundeten Arm zurück. »Ich brauche Obdach und Ruhe«, sagte er, »und jemanden, der mir mein Essen kocht, bis meine Wunde geheilt ist.« Ihr Blick huschte von seinem blutbefleckten Rock zu dem Karabiner und den prallen Sattelta schen darunter. Er nahm an, daß sie überlegte, ob sie die Kraft hatte, das Gewehr an sich zu reißen und ihn zu töten. Er legte die Hand fest auf die Waffe, und ihre Blicke trafen sich wieder. »Es gibt nichts zu essen«, sagte sie. »Ich habe reichlich zu essen«, antwortete er. »Genug, um mit denen zu teilen, die mir helfen.« Sie starrte ihn immer noch an. Er nickte beruhi gend, dann schwang er, den Karabiner fest in der linken Hand, das rechte Bein über den Sattel und ließ sich vom Pferd gleiten. Als seine Füße den Bo den berührten, gaben sie unter ihm nach, und er schlug der Länge nach in den Schnee. Von seinem Arm schoß ein brennender Schmerz in jede Faser seines Körpers. Er schrie auf und lag ein, zwei Mo mente lang schluchzend da. Endlich rappelte er sich, den Karabiner immer noch fest in der Hand, benommen auf. Die Frau hatte keinerlei Anstalten gemacht, ihm zu helfen. Sie hatte sich nicht einmal gerührt. Er drängte sich an ihr vorbei durch die Tür ins Innere der Hütte. Drinnen blickte er sich wachsam um. In dem von 17
der Tür einfallenden Licht, das durch den Torf qualm sickerte, konnte er verschwommen ein gro bes Holzbett ausmachen, auf dem etwas lag, das wie ein Haufen Sackleinen aussah. Von dort kam nun ein wimmernder Laut. In einem primitiven Lehm ofen in der Mitte glomm trübe das Torffeuer. Der gestampfte Boden war weich von Asche und Torfstaub. Der stinkende Dunst machte Schirmer würgen. Er wankte um den Ofen herum und zwi schen den Stützbalken des Daches hindurch in den Teil der Kate, in dem man die Tiere gehalten hatte. Das Stroh unter seinen Füßen war schmutzig, doch er schob es an der Rückseite des Ofens zu einem Haufen zusammen. Er wußte, daß die Frau ihm ge folgt und zu dem Kranken hinübergegangen war. Nun hörte er die beiden flüstern. Er machte sich aus dem Strohhaufen so etwas wie ein Lager und breite te, als er fertig war, seinen Mantel darüber. Das Ge flüster war verstummt. Er nahm eine Bewegung hinter sich wahr und drehte sich um. Die Frau stand ihm gegenüber. Sie hatte eine kleine Axt in den Händen. »Das Essen«, sagte sie. Er nickte und ging wieder vors Haus. Sie folgte ihm und sah zu, wie er sich, den Karabiner zwi schen die Knie geklemmt, mühte, die Decken abzu schnallen. Es gelang ihm schließlich, und er warf die Rolle in den Schnee. »Das Essen«, wiederholte sie. Er hob den Karabiner, drückte sich den Kolben 18
gegen die linke Hüfte und ließ die Hand zum Schloß hinabgleiten. Mit Mühe gelang es ihm, den Hahn zu spannen und den Zeigefinger an den Ab zug zu legen. Dann setzte er dem Pferd knapp un term Ohr die Mündung an den Kopf. »Da ist unser Essen«, sagte er und drückte den Abzug. Vom Knall des Schusses klangen ihm die Ohren, während das Pferd mit zuckenden Beinen zu Boden sank. Der Karabiner war Schirmer aus der Hand ge rissen worden und lag rauchend im Schnee. Er hob die Decken auf und klemmte sie sich unter den Arm, ehe er die Waffe wieder an sich nahm. Die Frau beobachtete ihn immer noch. Er nickte ihr zu, wies auf das Pferd und ging zum Haus zurück. Noch bevor er die Tür erreichte, lag sie neben dem sterbenden Tier auf den Knien und machte sich mit der Axt darüber her. Er blickte sich um. Da war der Sattel samt Inhalt, außerdem sein Säbel. Damit könnte sie ihn ohne weiteres umbringen, während er hilflos dalag. Die flache Ledertasche unter seinem Uniformrock enthielt, nach ihren Begriffen, ein Vermögen. Einen Moment lang betrachtete er die raschen, hektischen Bewegungen ihrer Arme und den dunklen Blutfleck, der sich im Schnee unter ihr ausbreitete. Sein Säbel? Sie würde keinen Säbel brauchen, wenn sie vorhatte, ihn umzubringen. Dann spürte er den periodischen Schmerz in sei nem Arm wiederkehren und hörte sich selbst stöh nen. Er wußte plötzlich, daß er nun nichts mehr tun 19
konnte, um die Welt außerhalb seines Körpers zu ordnen. Er taumelte durch die Tür zu seinem Lager. Den Karabiner legte er unter dem Mantel auf den Boden. Dann nahm er seinen Helm ab, rollte seine Decken aus und legte sich in der warmen Dunkel heit nieder, um den Kampf um sein Leben aufzu nehmen. Die Frau hieß Maria Dutka und war achtzehn, als Wachtmeister Schirmer sie zum erstenmal zu Ge sicht bekam. Sie hatte schon als Kind ihre Mutter verloren, und da es keine weiteren Kinder gab und ihr Vater keine zweite Frau fand, hatte sie früh die Arbeit eines Sohnes und Hoferben verrichten müs sen. Überdies war die chronische Krankheit, an der Dutka litt, nun schon von langer Dauer, und die Phasen der Besserung waren immer seltener gewor den. Maria war es bereits gewohnt, selbständig zu denken und zu handeln. Sie war jedoch nicht eigensinnig. So kam es ihr zwar in den Sinn, den Wachtmeister umzubringen, um das tote Pferd nicht mit ihm teilen zu müssen, aber sie besprach die Sache zuerst mit ihrem Vater. Sie war von Natur aus zutiefst abergläubisch, und als er andeutete, daß beim glücklichen Auftauchen des Wachtmeisters womöglich eine übernatürliche Macht die Hand im Spiel gehabt hatte, begriff sie, wie gefährlich ihre Absicht war. Sie begriff außer dem, daß die übernatürlichen Mächte, selbst wenn der Wachtmeister an seiner Wunde stürbe – und er war dem Tod in den ersten Tagen sehr nahe –, wo 20
möglich annahmen, ihre, Marias, Mordgedanken hätten den Ausschlag gegeben. Infolgedessen pflegte sie ihn mit so etwas wie banger Hingabe, die für den dankbaren Wachtmei ster leicht mißzuverstehen war. Später dann tat sie etwas, was ihn noch mehr für sie einnahm. Als er während seiner Genesung den Versuch machte, ihr dafür zu danken, daß sie ihren Teil der Vereinba rung so getreu eingehalten hatte, setzte sie ihm in al ler Schlichtheit und Offenheit ihre Beweggründe auseinander. Damals belustigte und beeindruckte ihn das zugleich. Als er hinterher darüber nachdach te, was sie gesagt und daß sie es ihm überhaupt ge sagt hatte, überkamen ihn noch erstaunlichere Emp findungen. Während das Essen, das sie miteinander teilten, ihr jugendliches Aussehen und ihre Vitalität wiederherstellte, folgte er immer häufiger den Be wegungen ihres Körpers und begann seine früheren Zukunftspläne auf angenehme Weise abzuändern. Er blieb acht Monate lang im Hause Dutka. Un ter dem Schnee konserviert, versorgte der Pferdeka daver sie alle mit Frischfleisch und, als Tauwetter einsetzte, mit den geräucherten und getrockneten Überresten. Bis dahin war der Wachtmeister auch imstande, mit seinem Karabiner in den Wald zu ge hen und Wild mitzubringen. Gemüse begann zu wachsen. Dann erholte sich der alte Dutka ein paar bemerkenswerte Wochen lang so weit, daß er, mit dem Wachtmeister und Maria als Gespann, schließ lich sogar sein Land pflügen konnte. 21
Daß der Wachtmeister blieb, galt mittlerweile als ausgemacht. Weder Maria noch ihr Vater erwähnte jemals seine militärische Vergangenheit. Er war, wie sie, ein Opfer des Krieges. Auch die zurückkehren den Nachbarn fanden an seiner Anwesenheit nichts Seltsames. Sie hatten den Winter über selbst für Fremde gearbeitet. Wenn der alte Dutka einen kräf tigen, arbeitsamen Preußen gefunden hatte, der ihm half, alles wieder in Ordnung zu bringen, um so besser. Und wenn Neugierige sich darüber verwun derten, wie der alte Dutka ihn bezahlte oder warum ein Preuße sich die Mühe machte, einen so jämmer lichen Flecken Land zu bearbeiten, gab es immer jemanden, der sie auf Marias breite Hüften und kräftige Beine hinwies und welche Ernte ein so ker niger junger Bursche zwischen ihnen halten konnte. Es wurde Sommer. Die Schlacht von Friedland wurde geschlagen. Auf einem Floß, das im Niemen verankert war, trafen der französische und der rus sische Kaiser zusammen. Der Vertrag von Tilsit wurde unterzeichnet. Preußen verlor alle seine Ge biete westlich der Elbe und sämtliche polnische Be sitzungen. Bialla, nur wenige Meilen südlich von Dutkas Gehöft, lag mit einmal an der russischen Grenze, und Lyck wurde Garnisonsstadt. Preußi sche Infanteriepatrouillen suchten Rekruten, und der Wachtmeister flüchtete mit den anderen jungen Männern in die Wälder. Während einer dieser Zei ten seiner Abwesenheit starb Marias Vater. Nachdem die Beerdigungszeremonien vorüber 22
waren, holte der Wachtmeister seine lederne Geldta sche hervor und setzte sich mit Maria zusammen, um seine Ersparnisse zu zählen. Die Erträge zahlreicher Beutezüge und Durchstechereien seiner vier Jahre als Unteroffizier waren eine mehr als ausreichende Er gänzung der bescheidenen Summe, die Maria aus dem Verkauf des väterlichen Besitzes an einen Nachbarn erzielen würde. Denn daß sie weiterhin das Land bearbeiteten, kam nun nicht mehr in Frage. Sie hatten erlebt, was passieren konnte, wenn die russischen Armeen kamen, und angesichts der neuen Grenze waren die Russen nicht mehr als einen Ta gesmarsch entfernt. Dies war in ihren Augen ein ge wichtigeres Argument für die Aufgabe des Besitzes als die heikle Lage des Wachtmeisters als Deserteur. Für sie lag es nahe, in eine Gegend zu ziehen, wo es weder Russen noch Preußen gab und wo Maria, die schon schwanger war, ihre Kinder in der Gewißheit großziehen konnte, daß sie nicht hungern mußten. Anfang November 1807 machten sie sich mit ei nem Handkarren, den sie aus Dutkas altem Wagen fabriziert hatten, zu Fuß Richtung Westen auf. Es war eine beschwerliche, gefahrvolle Reise, denn ihr Weg führte durch Preußen, und sie wagten nur bei Nacht zu marschieren. Hunger allerdings litten sie nicht. Sie führten ihr Essen auf dem Karren mit sich, und es hielt bis Wittenberg vor. Dies war auch die er ste Stadt, die sie am hellichten Tag betraten. Sie hatten preußischen Boden endgültig hinter sich gelassen. Sie blieben jedoch nicht in Wittenberg. Für den 23
Wachtmeister war die Stadt der preußischen Grenze unangenehm nahe. Gegen Mitte Dezember erreich ten sie Mühlhausen, das soeben dem Königreich Westfalen angegliedert worden war. Dort kam Ma rias erster Sohn Karl zur Welt; und dort heirateten Maria und der Wachtmeister. Eine Zeitlang arbeite te der Wachtmeister als Stallknecht; später jedoch, als er seine Ersparnisse aufgebessert hatte, etablierte er sich als Pferdehändler. Sein Geschäft florierte. Die Wogen der Napoleo nischen Kriege erreichten den Hafen, den er und Maria gefunden hatten, nur mehr als sanftes Plät schern. Mehrere Jahre lang schien es, als seien die schlimmen Zeiten vorüber. Dann wurde Maria von der Krankheit befallen, unter der schon ihr Vater gelitten hatte. Sie starb zwei Jahre nach der Geburt ihres zweiten Sohnes Hans. Nach einer gewissen Zeit heiratete Wachtmeister Schirmer wieder und hatte mit seiner zweiten Frau zehn Kinder. Er starb im Jahre 1850 als angesehener und erfolgreicher Mann. Nur ein einziges Mal in all den glücklichen Jahren in Mühlhausen suchten Franz Schirmer unerfreuli che Erinnerungen an seine Fahnenflucht heim. 1815 wurde Mühlhausen durch den Vertrag von Paris zur preußischen Stadt. Es war das Jahr, in dem der Wachtmeister zum zweitenmal heiratete; zwar hielt er es für unwahrscheinlich, daß man die Kirchenbü cher nach den Namen von Deserteuren durchgehen 24
würde, doch es bestand jederzeit die Möglichkeit, daß man sie zur Überprüfung von Mobilisierungsli sten heranzog. Er konnte dieser Gefahr gegenüber einfach nicht gleichgültig bleiben. Nach so vielen Jahren der Straflosigkeit hatte er es sich abgewöhnt, für den Augenblick zu leben. Die Aussicht, vor ei nem Peloton zu sterben, ließ sich, so verschwindend gering sie auch war, nicht mit der früheren Seelen stärke ertragen. Was also war zu tun? Er dachte eingehend über das Problem nach. Früher, machte er sich klar, hatte er auf Gott vertraut; und in Zeiten großer Gefahr war Gott stets gut zu ihm gewesen. Aber konnte er denn auch weiterhin schlicht auf Gott vertrauen? Und war dies, so fragte er sich kritisch, wirklich ei ne Zeit großer Gefahr? In den preußischen Armee listen standen schließlich unzählige Schirmers, und einige davon hießen sicherlich auch Franz. War es wirklich nötig, sich an Gott zu wenden, um sich ge gen die Möglichkeit zu versichern, daß die Liste der Mühlhausener Bürger, die sich vom Kriegsdienst freigekauft hatten, mit der Liste der Deserteure in Potsdam verglichen wurde? Und war es überhaupt klug? Könnte es nicht sein, daß Gott, der schon so viel für Seinen Diener getan hatte, verstimmt dar über wäre, mit einer solchen Lappalie behelligt zu werden, und deshalb gar nicht reagieren würde? Gab es denn nichts, was Sein Diener selbst in dieser Angelegenheit unternehmen konnte, ohne die Hilfe des Allmächtigen zu erflehen? 25
Aber gewiß! Er beschloß, seinen Namen in Schneider zu än dern. Dabei stieß er nur auf eine einzige, geringfügige Schwierigkeit. Seinen Nachnamen und den des Kindes Hans zu ändern war einfach. Er hatte gute Freunde im Rathaus, und daß es in einer nahe gele genen Stadt einen anderen Pferdehändler gleichen Namens gab, wurde als Vorwand ohne weiteres ak zeptiert. Doch sein Erstgeborener Karl stellte ein Problem dar. Der inzwischen siebenjährige Knabe war von den preußischen Militärbehörden soeben zwecks künftiger Rekrutierung erfaßt worden, und in preußischen Militärkreisen hatte der Wachtmei ster keine Freunde und suchte sie auch nicht. Au ßerdem könnte ein amtlicher Antrag, den Namen des Knaben zu ändern, ja gerade die Nachforschun gen hinsichtlich seiner Herkunft auslösen, die er so sehr fürchtete. Am Ende ließ er, was Karls Namen anging, alles beim alten. So kam es, daß die Söhne von Franz und Maria zwar unter dem Namen Schirmer getauft wurden, jedoch mit verschiedenen Nachnamen aufwuchsen. Karl blieb Karl Schirmer; Hans wurde Hans Schneider. Der Namenswechsel bereitete dem Wachtmeister niemals auch nur die geringste Sorge oder Unan nehmlichkeit. Was sich an Sorgen und Unannehm lichkeiten daraus ergab, hatte über hundert Jahre später Mr. George L. Carey auszubaden.
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G
eorge Carey kam aus einer Familie in Dela ware, die aussah, als wäre sie einer Werbung für eine teure Automarke entsprungen. Sein Vater war ein wohlhabender Arzt mit schlohweißem Haar. Seine Mutter entstammte einer alten Familie in Philadelphia und war ein wichtiges Mitglied des Gartenclubs. Seine Brüder waren hochgewachsen, kernig und gutaussehend. Seine Schwestern waren schlank, kräftig und lebhaft. Alle hatten schöne, re gelmäßige Zähne, die man sah, wenn sie lächelten. Die ganze Familie wirkte derart glücklich, sorglos und erfolgreich, daß einem unwillkürlich der Ver dacht kam, die Wahrheit über sie sähe womöglich ganz anders aus. Aber nein, sie waren tatsächlich glücklich, sorglos und erfolgreich. Sie waren außer dem ungemein selbstgefällig. George war der jüngste Sohn, und obwohl seine Schultern nicht so breit waren wie die seiner Brüder und sein Lächeln nicht so selbstzufrieden, war er der Begabteste und Intelligenteste in der Familie. Seine Brüder hatten, als der Ruhm ihrer Zeit als Footballspieler verblaßt war, ohne rechtes Ziel den Weg ins Geschäftsleben genommen. George hatte 27
von dem Moment an, als er von der High-School abging, klare Zukunftspläne. Ungeachtet der Hoff nungen seines Vaters auf einen Nachfolger für die Arztpraxis hatte George es abgelehnt, ein Interesse für Medizin vorzugeben, das er nicht empfand. Er wollte sich auf die Jurisprudenz legen; und zwar nicht auf den Zweig, der sich mit Verbrechen befaßt und im Gerichtssaal abspielt, sondern den, der schon im mittleren Alter in den Vorstand von Ei senbahngesellschaften und Stahlfirmen oder in hohe politische Ämter führt. Der Krieg, der kurz nach seinem Examen in Princeton ausbrach, nahm ihm viel von seinem Ernst und seiner Selbstgefälligkeit und wirkte sich günstig auf seinen Sinn für Humor aus, vermochte ihn jedoch nicht von seinem ge wählten Berufsweg abzubringen. Nach viereinhalb Jahren als Bomberpilot studierte er Jura in Harvard. Anfang 1949 legte er cum laude sein Examen ab. Dann, nach einem nutzbringenden Jahr als Sekretär eines gelehrten und berühmten Richters, trat er bei Lavater ein. Die Anwaltskanzlei Lavater, Powell und Sistrom in Philadelphia zählt zu den wirklich bedeutenden Kanzleien im Osten der Vereinigten Staaten, und die lange Liste ihrer Teilhaber liest sich wie eine Auswahl vielversprechender Kandidaten für einen frei werdenden Sitz im Supreme Court. Bis zu einem gewissen Grad rührt ihr gediegener Ruf sicherlich noch von der Erinnerung an den ge waltigen Handel mit Versorgungsanleihen her, mit dem sie in den Zwanzigern befaßt war; andererseits 28
hat es in den letzten dreißig Jahren kaum einen wirtschaftsrechtlichen Fall von einiger Größenord nung gegeben, in dem die Kanzlei nicht ein wichti ges Mandat innegehabt hätte. Sie ist nach wie vor ein tatkräftiges, vorausschauendes Unternehmen, und eine Stelle von ihr angeboten zu bekommen stellt für einen jungen Anwalt ein höchst schmei chelhaftes Zeichen der Anerkennung dar. George hatte somit allen Grund, mit dem Fort gang seiner Karriere zufrieden zu sein, während er sich mit seinen Habseligkeiten in einem der komfor tabel ausgestatteten Büros der Kanzlei einrichtete. Gewiß, für die etwas untergeordnete Position, die er einnahm, war er schon ein bißchen alt, aber er war schlau genug, um sich klarzumachen, daß seine vier Jahre bei der Luftwaffe aus beruflicher Sicht keine völlig verlorene Zeit und daß seine Kriegsauszeich nungen für sein Hiersein ebenso ausschlaggebend gewesen waren wie seine Leistungen auf der Univer sität und die warmen Empfehlungen des gelehrten Richters. Wenn daher alles gutging (und warum soll te es das nicht?), konnte er mit einem raschen Auf stieg, wertvollen Kontakten und wachsendem per sönlichem Ansehen rechnen. Er hatte das Gefühl, es geschafft zu haben. Die Nachricht, daß er sich mit dem Fall Schnei der-Johnson beschäftigen sollte, war daher ein un angenehmer Schlag. Sie war auch in anderer Hin sicht überraschend. Die Fälle, mit denen Lavater normalerweise zu tun hatte, waren von der Art, die 29
ebenso gewiß Ansehen wie Geld einbrachte. Nach allem, was George noch von dem Fall SchneiderJohnson wußte, handelte es sich dabei um eine jener grotesken Affären, die sich jeder Wirtschaftsanwalt, der auf seinen Ruf bedacht ist, auf Armeslänge vom Leibe hält. Es handelte sich um eine der notorischen Absur ditäten der Vorkriegsjahre, bei denen es um den fehlenden Erben eines Vermögens ging. 1938 war Amelia Schneider-Johnson, eine senile alte Dame von einundachtzig Jahren, in Lamport, Pennsylvania, gestorben. Sie hatte allein in dem her untergekommenen Holzhaus gelebt, das ihr der ver blichene Mr. Johnson zur Hochzeit geschenkt hat te, und ihre letzten Jahre in einer Atmosphäre vor nehmer Armut zugebracht. Nach ihrem Tode je doch hatte man festgestellt, daß zu ihrem Nachlaß drei Millionen Dollar in festverzinslichen Wertpa pieren gehörten, die sie in den zwanziger Jahren von ihrem Bruder Martin Schneider, einem Soft Drink-Magnaten, geerbt hatte. Aufgrund eines über steigerten Mißtrauens gegen Banken und Schließ fächer hatte sie die Wertpapiere in einer Blechscha tulle unter ihrem Bett aufbewahrt. Sie hatte auch Anwälten mißtraut und daher kein Testament ge macht. Die seinerzeit in Pennsylvania geltende Erb folge war durch ein Gesetz von 1917 geregelt wor den, welches besagte, daß noch der entfernteste Blutsverwandte des Erblassers unter Umständen Anspruch auf einen Teil des Nachlasses hatte. Ame 30
lia Schneider-Johnsons einzige bekannte Verwandte war Miss Clothilde Johnson, eine ältere Jungfer, gewesen. Aber sie war lediglich mit Amelia versch wägert und kam daher als Erbin nicht in Betracht. Unter begeisterter und sich verheerend auswirken der Mithilfe der Presse hatte eine Suche nach Ame lias Blutsverwandten begonnen. Der Eifer der Presse war in Georges Augen nur allzu verständlich. Sie hatte einen zweiten Fall Gar rett gewittert. Die alte Mrs. Garrett war 1930 ge storben und hatte siebzehn Millionen Dollar hinter lassen, ohne ein Testament zu machen – nun, acht Jahre später, war die Sache immer noch munter im Gange und hielt bei mittlerweile sechsundzwanzig tausend Anwärtern auf das Geld dreitausend An wälte in Lohn und Brot, und über allem schwebte ein leichter hautgoût von Korruption. Der Fall Schneider-Johnson konnte sich ebenso lang hinzie hen. Er hatte zwar nicht die gleiche Größenord nung, doch Größe war nicht alles. Er war dafür reich an menschlichen Aspekten – das auf dem Spiel stehende Vermögen, die romantische Zurückgezo genheit der alten Dame in ihren letzten Jahren (ihr einziger Sohn war in den Argonnen gefallen), ihr einsamer Tod ohne einen Verwandten am Sterbe bett, die ergebnislose Suche nach dem Testament –, es gab keinen Grund, warum der Fall nicht ebenso zählebig sein sollte. Der Name Schneider und seine amerikanischen Varianten waren weit verbreitet. Die alte Dame mußte irgendwo Blutsverwandte ge 31
habt haben, selbst wenn sie diese – oder ihn! Oder sie! – nicht gekannt hatte. Ja es konnte durchaus sein, daß es nur einen einzigen Erben gab, der nicht zu teilen brauchte! Schön und gut, aber wo steckte er? Oder sie? Auf einer Farm in Wisconsin? In ei nem Immobilienbüro in Kalifornien? Hinter dem Ladentisch eines Drugstores in Texas? Wer von den Tausenden von Schneiders, Snyders und Sniders in Amerika würde der Glückliche sein? Wer war der ahnungslose Millionär? Kitsch? Nun ja, vielleicht, aber immer gut für eine Story und von landeswei tem Interesse. Und landesweit war das Interesse tatsächlich ge wesen. Bis Anfang 1939 war der Nachlaßverwalter von über achttausend Anwärtern auf das Erbe in Kenntnis gesetzt worden, ein Heer von Winkelad vokaten hatte sich eingeschaltet, um sie auszubeu ten, und die ganze Sache war zügig in ein Wolken kuckucksheim von Phantasterei, Schwindel und ju ristischer Farce entschwebt, wo sie verblieb, bis sie bei Ausbruch des Krieges plötzlich in Vergessenheit geriet. Was Lavater für ein Interesse daran haben konn te, einen derart unappetitlichen Leichnam wieder auferstehen zu lassen, konnte George sich beim be sten Willen nicht vorstellen. Mr. Budd, einer der Seniorpartner, klärte ihn darüber auf. Die Hauptlast des Nachlasses Schneider-Johnson war von Moreton, Greener und Cleek getragen 32
worden, einer altmodischen, hochangesehenen An waltskanzlei in Philadelphia. Als Anwälte von Miss Clothilde Johnson hatten sie auf deren Anordnung hin die offizielle Suche nach einem Testament durchgeführt. Nachdem das Fehlen eines solchen von Amts wegen festgestellt worden war, kam die Angelegenheit vor das Waisengericht in Philadel phia, und das Testamentsregister hatte Robert L. Moreton als Nachlaßverwalter eingesetzt. Das war er bis Ende 1944 geblieben. »Und nicht zu seinem Nachteil«, sagte Mr. Budd. »Wenn er nur soviel Verstand gehabt hätte, es dabei zu belassen, hätte ich ihm keinen Vorwurf gemacht. Aber nein, der alte Zausel hat seine eigene Kanzlei zum Rechtsvertreter des Nachlaßverwalters bestellt. Heiliger Strohsack! In einem solchen Fall war das der reinste Selbstmord!« Mr. Budd war ein hühnerbrüstiger Mann mit länglichem Schädel, einem ordentlich gestutzten Schnurrbart und einer Bifokalbrille. Er war immer schnell mit einem Lächeln bei der Hand, hatte die Angewohnheit, veraltete Redewendungen zu ge brauchen, und trug eine Miene sorgloser Gutge launtheit zur Schau, der George zutiefst mißtraute. »Das Gesamthonorar«, sagte George vorsichtig, »muß bei einem Nachlaß dieser Größenordnung ziemlich hoch gewesen sein.« »Kein Honorar«, erklärte Mr. Budd, »ist so groß, daß es sich für eine anständige Kanzlei lohnte, sich mit einer Bande von Unfallgeiern und Schurken 33
gemein zu machen. Auf der ganzen Welt gibt es Dutzende unabgeschlossener Erbschaftsfälle. Sehen Sie sich nur den Nachlaß Abdul Hamid an! Den haben die Briten am Bein, und das nun schon seit über dreißig Jahren. Er wird vermutlich nie gere gelt. Oder sehen Sie sich den Fall Garrett an! Über legen Sie nur, wie viele Menschen er ihren guten Ruf gekostet hat. Alles Quatsch! Es ist doch immer das gleiche. Ist A ein Hochstapler? Ist B geistesge stört? Wer ist vor wem gestorben? Ist das auf dem alten Foto Tante Sarah oder Tante Flossie? War hier ein Fälscher mit bläßlicher Tinte am Werk?« Er wedelte wegwerfend mit den Armen. »Ich sage Ih nen, George, der Fall Schneider-Johnson hat More ton, Greener und Cleek als ernstzunehmende An waltskanzlei so gut wie erledigt. Und als Moreton vierundvierzig krank wurde und in den Ruhestand treten mußte, war das das Ende. Sie haben sich auf gelöst.« »Hätte denn nicht Greener oder Cleek die Nach laßverwaltung übernehmen können?« Mr. Budd heuchelte Entsetzen. »Mein lieber George, ein solches Amt übernimmt man doch nicht einfach. Es ist eine Belohnung für gute und treue Dienste. In diesem Fall war unser gelehrter, hoch geachteter und verehrter John J. Sistrom der Glückliche.« »Aha. Ich verstehe.« »Das Investitionskapital arbeitet, George, und unser John J. kassiert das Honorar als Nachlaßver 34
walter. Allerdings«, fuhr Mr. Budd mit einem An flug von Zufriedenheit in der Stimme fort, »sieht es so aus, als würde er das nicht mehr lange tun. Sie werden gleich verstehen, warum. Nach dem, was mir der alte Bob Moreton seinerzeit erzählt hat, stellte sich die Sache ursprünglich folgendermaßen dar: Amelias Vater hieß Hans Schneider, ein Deut scher, der 1849 eingewandert ist. Bob Moreton und seine Partner waren am Ende ziemlich überzeugt, daß, wenn überhaupt irgendwer Anspruch auf den Nachlaß hatte, es einer der Verwandten des alten Herrn in Deutschland sein mußte. Die ganze Ge schichte wurde allerdings durch die Frage der Rechtsnachfolge kompliziert. Wissen Sie irgend et was darüber, George?« »Bregy gibt in seinem Kommentar zum Gesetz von neunzehnsiebenundvierzig eine sehr klare Zu sammenfassung der früheren Bestimmungen.« »Bestens.« Mr. Budd grinste. »Ich habe davon nämlich offengestanden nicht die geringste Ahnung. Wenn wir das ganze Zeitungsgesums einmal beiseite lassen, war der Hergang der Sache kurz gesagt fol gender: Neununddreißig ist der alte Bob Moreton nach Deutschland gereist, um Nachforschungen über den anderen Zweig der Familie anzustellen. Natürlich der reine Selbsterhaltungstrieb. Sie brauchten Fakten, auf die sie sich stützen konnten, um all die falschen Ansprüche abzuschmettern. Dann, nach seiner Rückkehr, passierte etwas ganz Blödes. In diesem verrückten Fall passieren andau 35
ernd die blödesten Geschichten. Offenbar hatten die Nazis von Bobs Nachforschungen Wind be kommen. Jedenfalls sahen sie sich die Sache an und zogen einen alten Mann namens Rudolph Schneider aus dem Hut. Und erhoben dann in seinem Namen Anspruch auf den gesamten Nachlaß.« »Daran kann ich mich noch erinnern«, sagte George. »Sie haben McClure zu ihrem Rechtsver treter bestellt.« »Richtig. Dieser Rudolph stammte aus Dresden oder sonstwoher, und sie behaupteten, er sei ein Cousin ersten Grades von Amelia Johnson. More ton, Greener und Cleek fochten diesen Anspruch an. Mit der Begründung, daß die von den Krauts vorgelegten Dokumente gefälscht seien. Die Sache war jedenfalls noch gerichtsanhängig, als wir ein undvierzig in den Krieg eintraten, und damit war der Fall für sie erledigt. Der Treuhänder für Feind vermögen schaltete sich ein und machte einen An spruch geltend. Wegen des deutschen Anspruchs, natürlich. Dann tat sich nichts mehr. Als Bob Mo reton in den Ruhestand trat, übergab er sämtliche Dokumente John T. Das waren über zwei Tonnen, und im Augenblick liegen sie in unserem Keller, und zwar genau da, wo sie gelagert worden sind, als Moreton, Greener und Cleek sie vierundvierzig ausgehändigt haben. Kein Mensch hat sich je die Mühe gemacht, sie durchzusehen. Dazu gab es auch keinen Grund. Nun allerdings gibt es einen.« George sank der Mut. »So?« 36
Mr. Budd suchte sich diesen Moment aus, um seine Pfeife zu stopfen, und vermied so Georges Blick, während er fortfuhr. »Die Situation ist fol gende, George: Wie es scheint, beläuft sich der Nachlaß einschließlich Wertzuwachs und Zinsen mittlerweile auf vier Millionen Dollar, und der Staat Pennsylvania hat beschlossen, seine gesetzlichen Rechte wahrzunehmen und das Ganze zu bean spruchen. Allerdings hat man John T. als Nachlaßverwalter, gefragt, ob er den Anspruch anzufechten gedenkt, und er findet, wir sollten nur der Form halber die Dokumente noch einmal durchsehen, um sicherzugehen, daß auch ja kein ernstzunehmender Anspruch mehr offensteht. Und genau das sollen Sie erledigen, George. Sehen Sie sie einfach durch. Nur um sicherzugehen, daß er nichts übersehen hat. Okay?« »Ja, Sir. Okay.« Doch es gelang ihm nicht ganz, einen resignierten Unterton aus seiner Stimme herauszuhalten. Mr. Budd blickte auf und schmunzelte mitfühlend. »Und wenn es ein Trost für Sie ist, George«, meinte er, »kann ich Ihnen sagen, daß uns schon seit einiger Zeit der Kellerraum knapp wird. Falls es Ihnen ge lingt, uns den ganzen Kram vom Hals zu schaffen, ist Ihnen der tiefempfundene Dank der gesamten Kanzlei gewiß.« George brachte ein Lächeln zustande.
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s bereitete ihm keine Schwierigkeiten, die Ak ten zum Fall Schneider-Johnson zu finden. Sie waren feuchtigkeitsfest verpackt und lagerten in ei nem eigenen Kellerverschlag, den sie vom Boden bis zur Decke füllten. Was ihr Gesamtgewicht anging, hatte Mr. Budd mit seiner Schätzung eindeutig nicht übertrieben. Glücklicherweise waren sämtli che Päckchen sorgfältig beschriftet und systema tisch geordnet. George vergewisserte sich zunächst, daß er das zugrunde liegende System begriff, traf dann eine Auswahl unter den Päckchen und ließ sie in sein Büro hinaufschaffen. Es war Spätnachmittag, als er mit der Arbeit be gann. In der Absicht, einen allgemeinen Überblick über den Fall zu gewinnen, ehe er sich ernsthaft mit den einzelnen Ansprüchen befaßte, nahm er sich zunächst ein umfangreiches Päckchen mit der Auf schrift »Schneider-Johnson-Zeitungsausschnitte« vor. Diese Bezeichnung erwies sich als leicht irre führend. In Wirklichkeit enthielt das Päckchen eine Chronik des hoffnungslosen Kampfes von More ton, Greener und Cleek mit der Presse und ihrer Bemühungen, sich der Flut von unsinnigen Ansprü 38
chen entgegenzustemmen, die sie überschwemmte. Es war eine mitleiderregende Lektüre. Die Chronik setzte zwei Tag nach Mr. Moretons Bestellung zum Nachlaßverwalter ein. Ein New Yorker Boulevardblatt hatte herausgefunden, daß Amelias Vater Hans Schneider (»der alte Neunund vierziger«, wie die Zeitung ihn nannte) eine New Yorkerin namens Smith geheiratet hatte. Das aber hieß, behauptete das Blatt aufgeregt, daß der Name des gesuchten Erben ebensogut Smith wie Schnei der sein könnte. Moreton, Greener und Cleek hatten sich füglich beeilt, die Behauptung zurückzuweisen; aber anstatt mehr oder weniger unkompliziert darauf hinzuwei sen, daß Amelias Cousinen und Cousins mütterli cherseits alle schon seit Jahren tot waren und die Angehörigen der Familie Smith aus New York demzufolge nicht als Erben in Betracht kamen, hat ten sie sich damit begnügt, ganz pedantisch das Ge setz zu zitieren, welches besagte, daß »eine Erbfolge zwischen Seitenverwandten nach den Enkeln von Brüdern, Schwestern und Kindern von Tanten und Onkeln nicht zulässig« sei. Dieser unglückliche Satz, ironisch unter der Überschrift »Augenwische rei« zitiert, war das einzige, was man von ihrer Er klärung gedruckt hatte. In der Folge hatten die meisten Erklärungen der Anwaltskanzlei ein ähnliches Schicksal gefunden. Von Zeit zu Zeit hatten sich einige der verantwor tungsbewußteren Zeitungen ernsthaft bemüht, ih 39
ren Lesern das Erbrecht zu erklären, doch die Kanzlei hatte solche Bemühungen, soweit George sehen konnte, niemals unterstützt. Daß Amelia kei ne lebenden nahen Verwandten hatte und als Erben deshalb nur etwaige Nichten und Neffen des ver storbenen Hans Schneider in Frage kamen, der bei Amelias Tod noch am Leben gewesen war, wurde von der Kanzlei niemals ausdrücklich festgestellt. Einer klaren Aussage noch am nächsten kamen die Anwälte mit einer Erklärung, in der sie zu beden ken gaben, es existierten »in Amerika vermutlich keine Cousinen und Cousins ersten Grades der te stamentlosen Erblasserin mehr, welche die Erblas serin überlebt« hätten, und wenn es überhaupt wel che gebe, so seien sie höchstwahrscheinlich in Deutschland zu finden. Sie hätten sich die Mühe sparen können. Die Vermutung, der gesetzliche Erbe des Nachlasses könnte in Europa anstatt irgendwo in Wisconsin le ben, hatte die Zeitungen von 1939 nicht interessiert; die Möglichkeit, daß es überhaupt keinen gab, hat ten sie allesamt von vornherein ignoriert. Außerdem hatte der Unternehmungsgeist einer in Milwaukee beheimateten Zeitung der Geschichte gerade eine neue Wendung gegeben. Mit Hilfe der Einwande rungsbehörden war es dem Sonderrechercheur des Blattes gelungen zu ermitteln, wie viele Familien mit Namen Schneider in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts aus Deutschland einge wandert waren. Die Zahl war gewaltig. Ob denn 40
nicht die Vermutung erlaubt sei, hatte das Blatt ge fragt, daß wenigstens einer der jüngeren Brüder des alten Neunundvierzigers dessen Beispiel gefolgt und ausgewandert war? Gewiß doch! Und schon war die Jagd wieder auf gewesen, und ganze Heer scharen von Sonderrechercheuren hatten sich auf den Spuren der eingewanderten Schneiders hoff nungsfroh durch Personenstandsregister, Grundbü cher und Staatsarchive gewühlt. Mit einem Seufzer verschnürte George das Päck chen wieder. Er wußte bereits, daß er die kommen den Wochen nicht genießen würde. Die Gesamtzahl der erhobenen Ansprüche lag bei knapp über achttausend, und er stellte fest, daß es für jeden eine eigene Akte gab. Die meisten enthiel ten nur zwei, drei Briefe, viele aber waren recht dick, und manche umfaßten ihrerseits ganze Päck chen und waren prall von eidesstattlichen Erklärun gen, Fotokopien von Dokumenten, zerrissenen Fo tos und Stammbäumen. Ein paar enthielten alte Bi beln und andere Familienerbstücke, und in einer steckte aus unerfindlichen Gründen sogar eine speckige Pelzmütze. George machte sich an die Arbeit. Bis Ende der Woche hatte er siebenhundert Ansprüche durchge sehen und empfand tiefes Mitleid für die Kanzlei Moreton, Greener und Cleek. Ein großer Teil der Ansprüche stammte natürlich von Spinnern und Verrückten. Da war der zornige Mann aus North Dakota, der behauptete, er heiße Martin Schneider, 41
er sei keineswegs tot und Amelia Schneider habe ihm das Geld im Schlaf gestohlen. Da war die Frau, die den Nachlaß im Namen einer kalifornischen Gesellschaft zur Verbreitung der kataphrygischen Heresie beanspruchte und geltend machte, der Geist der verstorbenen Amelia sei in Mrs. Schultz, die eh renamtliche Schatzmeisterin der Gesellschaft, gefah ren. Und da war der Mann, der mit verschiedenfar biger Tinte aus einer staatlichen Klinik schrieb, er sei aufgrund einer heimlichen ersten Heirat Amelias mit einem Farbigen deren legitimer Sohn. Doch bei der Mehrzahl der Anspruchsteller schien es sich um Menschen zu handeln, die zwar nicht klinisch ver rückt waren, aber allenfalls rudimentäre Vorstellun gen davon hatten, was einen Beweis darstellte. So gab es in Chicago einen Mann namens Higgins, der einen komplizierten Anspruch aus der Erinnerung daran ableitete, daß er seinen Vater hatte sagen hö ren, Cousine Amelia sei ein gemeiner alter Geizhals; und einen weiteren Mann, der aufgrund eines alten Briefes von einem dänischen Verwandten namens Schneider auf einen Anteil des Nachlasses pochte. Dann gab es die Mißtrauischen, die es ablehnten, Beweise zur Untermauerung ihres Anspruchs vor zulegen, damit diese nicht gestohlen wurden, um der Sache eines anderen Anspruchstellers zum Er folg zu verhelfen, und andere, die Reise- und Hotel spesen forderten, damit sie persönlich ihre Sache dem Nachlaßverwalter vortragen konnten. Und vor allem gab es die Anwälte. 42
Von den ersten siebenhundert Ansprüchen, die George prüfte, waren nur vierunddreißig von An wälten vertreten worden, doch um sich durch deren Akten durchzufinden, brauchte er allein mehr als zwei Tage. Die betreffenden Ansprüche waren größtenteils von fragwürdiger Berechtigung, und ein, zwei waren ganz offensichtlich unlauter. In Georges Augen hätte kein anständiger Anwalt sie auch nur mit der Feuerzange angefaßt. Aber hier handelte es sich um Winkeladvokaten. Sie hatten sie nicht nur angefaßt, sondern festgehalten. Sie hatten nicht existierende Präzedenzfälle zitiert und irrele vante Dokumente kopiert. Sie hatten unredliche Rechercheure beschäftigt, um sinnlose Nachfor schungen anzustellen, und unseriöse Ahnenfor scher, um gefälschte Stammbäume herzustellen. Sie hatten ominöse Briefe geschrieben und finstere Drohungen ausgestoßen. Das einzige, was offenbar keiner von ihnen jemals getan hatte, war, seinem Mandanten zu raten, den Anspruch zurückzuzie hen. In einer der Akten fand sich ein Brief an den Nachlaßverwalter, in dem eine Frau names Snyder es bedauerte, daß sie kein Geld mehr hatte, um ih ren Anwalt zu bezahlen, und darum bat, ihren An spruch deswegen nicht zu übersehen. In seiner zweiten Woche mit all den Akten schaffte es George trotz einer heftigen Erkältung, die Zahl der von ihm geprüften Ansprüche auf ein tausendneunhundert hinaufzuschrauben. In der dritten Woche überschritt er die Dreitausend. Am 43
Ende der vierten Woche hatte er die Hälfte ge schafft. Er war außerdem zutiefst deprimiert. Die ihrem Wesen nach langweilige Arbeit und der ge ballte Effekt so vieler Belege menschlicher Dumm heit waren an sich schon niederschmetternd. Das belustigte Mitgefühl seiner neuen Kollegen und das Bewußtsein, daß er seine Karriere bei Lavater als Opfer eines stehenden Bürowitzes begann, taten ein übriges. Mr. Budd, dem er zuletzt im Fahrstuhl be gegnet war, als dieser vom Lunch zurückkam, hatte sich munter über Baseball verbreitet und es nicht einmal für nötig gehalten, sich nach seinen Fort schritten zu erkundigen. Am Montagmorgen der fünften Woche beäugte George voller Abscheu die Aktenstapel, die noch zu prüfen waren. »Wollen wir die Os fertig machen, Mr. Carey?« Der Fragesteller war der Hausmeister, der den Kel ler in Ordnung hielt, die Aktenpäckchen abstaubte und sie zwischen Keller und Georges Büro hin und her trug. »Nein, ich fange mal lieber mit den Ps an.« »Ich kann die restlichen Os rausfrickeln, wenn Sie wollen, Mr. Carey.« »Na gut, Charlie. Wenn Sie’s schaffen, ohne daß der ganze Krempel einstürzt.« Die Schneisen, die er bereits in die hochgetürmten Aktenstapel geschla gen hatte, hatten die Stabilität des Ganzen allmäh lich stark beeinträchtigt. »Klar doch, Mr. Carey«, sagte Charlie. Er griff nach einem der unteren Päckchen und zog daran. Es 44
gab ein schleifendes Geräusch, ein Poltern, und eine Aktenlawine verschlang ihn. In der Staubwolke, die ihrem Niedergang folgte, rappelte er sich, die Hand am Kopf, hustend und fluchend auf. Er blutete aus einer langen Schramme über dem Auge. »Um Gottes willen, Charlie, wie ist denn das pas siert?« Der Hausmeister versetzte etwas Hartem, das un ter den Aktenhaufen um ihn herum lag, einen Fuß tritt. »Das verdammte Ding da hat mich am Kopf getroffen, Mr. Carey«, erklärte er. »Muß irgendwo dazwischen gesteckt haben.« »Ist es schlimm?« »Ach wo. Es ist ja nur ein Kratzer. Tut mir leid, Mr. Carey.« »Lassen Sie’s trotzdem lieber verbinden.« Nachdem er den Hausmeister der Obhut eines der Fahrstuhlführer übergeben und der Staub im Keller sich wieder gesetzt hatte, ging George hinein und besah sich die Bescherung. Sowohl die Os als auch die Ps waren unter einem Geröll von S und Ws verschwunden. Er schob einige der Päckchen zur Seite und sah, woran sich der Hausmeister die Au genbraue verletzt hatte. Es war eine große, schwarz lackierte Dokumentenschatulle, wie man sie früher in den Regalen alter Familienanwälte zu sehen pflegte. In weißer Schablonenschrift standen darauf die Worte: »schneider – vertraulich«. George zerrte die Schatulle zwischen den Päck chen hervor und versuchte sie zu öffnen. Sie war 45
verschlossen, und an keinen der beiden Griffe war ein Schlüssel angehängt. George zögerte. Er hatte sich nur mit den Akten der Ansprüche zu befassen, und es war töricht, Zeit zu vergeuden, um seine Neugier nach dem Inhalt einer alten Dokumenten schatulle zu befriedigen. Andererseits würde es eine Stunde dauern, das Durcheinander zu seinen Füßen aufzuräumen. Es hatte wenig Sinn, sich mit Staub und Spinnweben zu beschmutzen, um den Vorgang zu beschleunigen, und Charlie würde in ein paar Minuten wieder dasein. Er ging ins Zimmer des Hausmeisters, nahm einen Meißel und einen Ham mer vom Werkzeugregal und kehrte zu der Schatul le zurück. Ein paar Schläge durchstießen das dünne Metall um den Riegel des Schlosses, so daß er den Deckel aufstemmen konnte. Auf den ersten Blick schien die Schatulle lediglich ein paar persönliche Habseligkeiten aus Mr. More tons Büro zu enthalten. Da war ein in Kalbsleder gebundener Terminkalender mit eingeprägten Goldinitialen, eine Schreibgarnitur aus Onyx, ein handgeschnitztes Zigarrenetui aus Teakholz, eine Schreibunterlage aus gepunztem Leder und zwei dazu passende, mit Leder bezogene Briefkörbe. Ei ner der Briefkörbe enthielt ein Handtuch, ein paar Aspirintabletten und ein Fläschchen mit Vitamin kapseln. George hob den Briefkorb an. Darunter lag ein dicker Loseblattordner mit der Aufschrift »deutsche nachforschungen in sachen schnei der von robert l. morton, 1939«. George über 46
flog ein, zwei Seiten, sah, daß das Ganze in Tage buchform abgefaßt war, und legte es zwecks späte rer Lektüre beiseite. Darunter lag ein brauner Um schlag mit einer Unzahl von Fotografien, bei denen es sich offenbar größtenteils um deutsche juristische Dokumente der einen oder anderen Art handelte. Ansonsten enthielt die Schatulle nur noch ein ver siegeltes Päckchen und einen versiegelten Um schlag. Auf dem Päckchen stand »Briefwechsel zwi schen Hans Schneider und seiner Frau nebst ande ren Dokumenten, die Sept. 1938 von Hilton G. Greener und Robert L. Moreton in der Habe der verstorbenen Amelia Schneider-Johnson gefunden wurden«. Auf dem Umschlag stand: »Fotografie, von Pfarrer Weichs in Bad Schwennheim an r.l.m. ausgehändigt«. George legte Mr. Moretons persönliche Gegen stände in die Schatulle zurück und nahm den Rest mit nach oben in sein Büro. Dort öffnete er als er stes das versiegelte Päckchen. Die Briefe darin waren von Mr. Greener und Mr. Moreton sorgfältig numeriert und mit ihren Initia len versehen worden. Es waren insgesamt achtund siebzig, allesamt mit seidenem Band zu kleinen Päckchen verschnürt und jeder mit einer gepreßten Blume darin. George öffnete eines der Päckchen. Die Briefe darin stammten aus der Zeit der jungen Liebe zwischen Amelias Eltern Hans Schneider und Mary Smith. Aus ihnen ergab sich, daß Hans sei nerzeit in einem Lagerhaus gearbeitet und Englisch 47
gelernt und daß Mary Deutsch gelernt hatte. Nach Georges Empfinden waren die Briefe förmlich, un elegant und langweilig. Für Mr. Moreton allerdings mußten sie von beträchtlichem Wert gewesen sein, denn sie hatten wahrscheinlich die rasche Auffin dung der betreffenden Familie Smith ermöglicht und dazu geführt, daß man sie glücklich aus dem Kreis der Anspruchsteller streichen konnte. George verschnürte das Päckchen wieder und wandte sich einem alten Fotoalbum zu. Es enthielt Fotos von Amelia und Martin als Kindern, von ih rem Bruder Frederick, der mit zwölf gestorben war, und natürlich von Hans und Mary. Interessanter je doch, weil noch älter, war eine Daguerrotypie von einem alten Mann mit üppigem Bart. Er saß aufrecht und mit strenger Miene da, die großen Hände umklammerten die Armlehnen des Fotografenstuhls, und er hatte den Kopf fest gegen die Rückenlehne gepreßt. Seine Lippen waren voll und entschlossen. Das Gesicht unter dem Bart war grob und ausdrucksstark. Die versilberte Kupfer platte mit dem Porträt war auf roten Samt aufgezo gen. Darunter hatte Hans geschrieben: »Mein ge liebter Vater Franz Schneider, 1782–1850.« Das einzige andere Dokument war ein dünnes, le dergebundenes Notizbuch, das mit Hans’ spinnen dürrer Handschrift gefüllt war. Es war in Englisch geschrieben. Auf der ersten Seite fand sich, mit kunstvollen Schnörkeln verziert, eine Beschreibung des Inhalts: »Bericht von der heldenhaften Teilnah 48
me meines geliebten Vaters an der Schlacht zu Preußisch-Eylau im Jahre 1807, von seiner Verwundung und seiner Begegnung mit meiner geliebten Mutter, welche sein Leben rettete. Niedergeschrieben von Hans Schneider für seine Kinder im Juni 1867, auf daß sie ihren Namen mit Stolz tragen.« Der Bericht begann mit den Ereignissen, die zur Schlacht führten, und knüpfte daran Schilderungen der diversen Gefechte, in welche die Ansbacher Dragoner den Feind verwickelt hatten, sowie eini ger spektakulärer Ereignisse der Schlacht: eine rus sische Kavallerieattacke, die Einnahme einer Ge schützbatterie, die Enthauptung eines französischen Offiziers. Was Hans niedergeschrieben hatte, war offensichtlich eine auf dem Schoß des Vaters gehör te Legende. In Teilen besaß es noch immer die Kunstlosigkeit eines Märchens. Doch mit dem Fortgang des Berichts ließ sich verfolgen, in welche Verlegenheit Hans als Mann von mittleren Jahren bei dem Versuch kam, seine Kindheitserinnerungen mit dem Wirklichkeitssinn des Erwachsenen in Einklang zu bringen. Die Niederschrift des Be richts, dachte George, mußte eine seltsame Erfah rung für ihn gewesen sein. Nach der Schilderung der Schlacht jedoch hatte Hans seine Mittel sicherer zu handhaben gewußt. Die Gefühle des verwundeten Helden, seine Ge wißheit, daß Gott mit ihm war, seine Entschlossen heit, bis zum Ende seine Pflicht zu tun; das alles war mit geübtem Pathos beschrieben. Und als der 49
schreckliche Moment des Verrats kam, als die feigen Preußen den verwundeten Helden, der einem ge troffenen Kameraden half, im Stich gelassen hatten, ließ Hans einen wahren Sturzbach von biblischem Zorn los. Wenn Gott das Roß des Helden nicht zur Kate der liebreizenden Maria Dutka geführt hätte, wäre gewiß alles zu Ende gewesen. Wie die Dinge lagen, war Maria der preußischen Uniform gegen über verständlicherweise mißtrauisch gewesen, und ihre Mitmenschlichkeit wäre (wie sie dem Helden später gestand) um ein Haar von ihrer Angst um ih re Tugend und ihren darniederliegenden Vater ver drängt worden. Am Ende aber wurde natürlich alles gut. Als seine Wunde geheilt war, hatte der Held seine Retterin im Triumph heimgeführt. Im darauf folgenden Jahr war Hans’ älterer Bruder Karl zur Welt gekommen. Der Bericht schloß mit einer frömmelnden Ho milie zum Thema Gebet und Vergebung der Sün den. Diesen Teil schenkte sich George und ging zu Mr. Moretons Tagebuch über. Mr. Moreton war Ende März 1939 mit einem Dolmetscher, den er in Paris engagiert hatte, in Deutschland eingetroffen. Sein Plan war, jedenfalls der Absicht nach, ein fach gewesen. Er wollte zunächst Hans Schneiders Spur zurückverfolgen. Sobald er wußte, wo die Fa milie Schneider gelebt hatte, würde er sich daran machen, zu ermitteln, was aus all den Brüdern und Schwestern von Hans geworden war. 50
Der erste Teil des Plans hatte sich leicht durch führen lassen. Hans stammte aus Westfalen; und im Jahre 1849 hatte ein Mann im wehrpflichtigen Alter eine Erlaubnis gebraucht, um das Land verlassen zu dürfen. In Münster, der alten Hauptstadt, hatte Mo reton die Urkunde über Hans’ Ausreise aufgetrie ben. Hans war aus Mühlhausen gekommen und nach Bremen weitergereist. In Bremen hatte eine Durchsicht der alten, von der Hafenbehörde archivierten Schiffsmanifeste er geben, daß Hans Schneider aus Mühlhausen am 10. Mai 1849 mit der Abigail, einem englischen Schiff von sechshundert Tonnen, ausgereist war. Das deckte sich mit einer Bemerkung, die Hans in einem seiner Briefe an Mary Smith über seine Ausreise aus Deutschland gemacht hatte. Mr. Moreton zog dar aus den Schluß, daß er auf der Spur des richtigen Hans Schneider war. Als nächstes begab er sich nach Mühlhausen. Dort allerdings sah er sich einer verwirrenden Si tuation gegenüber. Obwohl die Kirchenbücher Eheschließungen, Taufen und Beerdigungen bis zu rück zum Dreißigjährigen Krieg verzeichneten, mußte er feststellen, daß keines der Register für die Jahre 1807 und 1808 irgendeinen Hinweis auf den Namen Schneider enthielt. Mr. Moreton grübelte vierundzwanzig Stunden über die Enttäuschung nach; dann hatte er eine Idee. Er nahm sich die Kirchenbücher noch einmal vor. 51
Diesmal ging er die von 1850, dem Jahr von Franz Schneiders Tod, durch. Tod und Begräbnis waren verzeichnet, die Lage des Grabes angegeben. Moreton war hingegangen, um es sich anzusehen. Und dabei hatte er eine höchst unerfreuliche Über raschung erlebt. Ein verwitterter Grabstein hatte die verwirrende Information geliefert, daß dies der letz te Ruheplatz von Franz Schneider und seiner ge liebten Frau Ruth war. Laut Hans’ Bericht war der Name seiner Mutter Maria gewesen. Mr. Moreton nahm sich erneut die Kirchenbü cher vor. Er brauchte lange, um sich von 1850 bis 1815 zurückzuarbeiten, doch als er damit fertig war, kannte er die Namen von nicht weniger als zehn von Franz Schneiders Kindern und das Datum sei ner Heirat mit Ruth Vogel. Zu seinem Entsetzen hatte er auch festgestellt, daß keines der Kinder den Namen Hans oder Karl trug. Der Gedanke, daß es eine frühere Heirat in einer anderen Stadt gegeben haben mußte, war ihm recht bald gekommen. Wo aber konnte diese frühere Hei rat stattgefunden haben? Mit welchen anderen Städ ten ließ sich Franz Schneider in Verbindung brin gen? In welcher Stadt war er beispielsweise zur preußischen Armee eingezogen worden? Es gab nur einen einzigen Ort, wo derlei Fragen, wenn überhaupt, beantwortet werden konnten. Mr. Moreton und sein Dolmetscher waren nach Berlin gereist. Mr. Moreton hatte bis Ende März gebraucht, um 52
das Dickicht der Nazibürokratie zu durchdringen und in den Potsdamer Archiven so tief zu graben, daß er an die Tagebücher der Ansbacher Dragoner aus der Zeit der Napoleonischen Kriege herankam. Er brauchte weniger als zwei Stunden, um heraus zufinden, daß der Name Schneider zwischen 1800 und 1815 nur ein einziges Mal in der Stammrolle des Regiments auftauchte. Ein Wilhelm Schneider war 1803 durch einen Sturz vom Pferd ums Leben gekommen. Es war ein herber Schlag gewesen. Der betreffen de Tagebucheintrag Mr. Moretons schloß mit den mutlosen Worten: »Also ist es wohl doch ein frucht loses Unterfangen. Trotzdem werde ich morgen noch einmal alles nachprüfen. Sollte dies ergebnislos bleiben, werde ich die Nachforschungen einstellen, da ich weitere Bemühungen für sinnlos halte, wenn es nicht gelingt, Hans Schneiders Verbindung mit der Mühlhausener Familie urkundlich zu belegen.« George blätterte um und machte ein verdutztes Gesicht. Der nächste Tagebucheintrag bestand zur Gänze aus Zahlen. Zeile um Zeile füllten sie die Sei te. Für die nächste und die übernächste Seite galt das gleiche. Er blätterte rasch weiter. Mit Ausnahme der Datumszeile bestanden sämtliche Folgeeinträge – und das Tagebuch umfaßte noch mehr als drei Monate – aus Zahlen. Außerdem bildeten die Zah len Fünfergruppen. Mr. Moreton hatte sich also nicht nur dagegen entschieden, seine Nachfor schungen in Deutschland aufzugeben, sondern er 53
hatte es auch für notwendig erachtet, deren Ergeb nisse verschlüsselt zu notieren. George legte das Tagebuch zur Seite und sah rasch den Stapel fotografierter Dokumente durch. Er konnte Deutsch schon in Druckschrift nicht be sonders gut lesen, und vor der herkömmlichen Süt terlinschrift mußte er vollends kapitulieren. Die be treffenden Dokumente waren allesamt handge schrieben. Zwei, drei davon betrafen, wie eine sorg fältige Untersuchung ergab, Geburt und Tod von Menschen namens Schneider, doch das war kaum überraschend. Er legte sie beiseite und öffnete den Umschlag. Das Foto, »von Pfarrer Weichs in Bad Schwenn heim an r.l.m. ausgehändigt«, erwies sich als esel sohriges, postkartengroßes Porträt eines jungen Mannes und einer jungen Frau, die nebeneinander auf der rustikalen Bank eines Berufsfotografen sa ßen. Die Frau war von einer gewissen anspruchslo sen Hübschheit und möglicherweise schwanger. Der Mann war unscheinbar. Ihre Kleidung ent sprach der Mode der zwanziger Jahre. Sie wirkten wie ein glückliches Arbeiterpaar an seinem freien Tag. Der gemalte Hintergrund zeigte schneebe deckte Tannen. In der Bildecke stand in Sütterlin schrift ›Johann und Ilse‹. Laut dem Stempel des Fo tografen auf der Rückseite des Abzuges war die Aufnahme in Zürich gemacht worden. Sonst ent hielt der Umschlag nichts. Charlie kam mit einem Heftpflaster auf der Stirn 54
und einer weiteren Ladung Päckchen herein, und George machte sich wieder über die Ansprüche her. An diesem Abend jedoch nahm er den Inhalt der Dokumentenschatulle mit in seine Wohnung und ging ihn erneut sorgfältig durch. Er war in einer schwierigen Lage. Man hatte ihn beauftragt, die Ansprüche auf den Nachlaß zu überprüfen, die bei dem früheren Nachlaßverwalter eingegangen waren; sonst nichts. Wenn die Doku mentenschatulle nicht heruntergefallen wäre und den Hausmeister am Kopf verletzt hätte, wäre sie ihm wahrscheinlich entgangen. Man hätte sie woan dershin geräumt und dann im Keller vergessen. Er hätte sich durch die Ansprüche durchgearbeitet und dann zweifellos Mr. Budd berichtet, was Mr. Budd hören wollte: daß es keine offenstehenden Ansprü che gab, die zu behandeln sich lohnte, und daß der Staat Pennsylvania wie geplant vorgehen könne. Dann wäre er, George, die ganze leidige Geschichte losgewesen, um sich mit einem Auftrag belohnen zu lassen, der seinen Fähigkeiten eher entsprach. Nun sah es so aus, als hätte er die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten, sich zum Narren zu machen: Er konnte den Inhalt der Dokumentenschatulle igno rieren und so riskieren, daß Mr. Sistrom einen schweren Schnitzer machte; oder er konnte Mr. Budd mit müßigen Phantastereien auf die Nerven gehen. Hohe politische Ämter und Sitze im Vorstand von Eisenbahngesellschaften schienen an diesem 55
Abend in weite Ferne gerückt. Erst in den frühen Morgenstunden fiel ihm ein, wie er Mr. Budd die Sache taktvoll beibringen konnte. Mr. Budd nahm Georges Bericht sehr ungnädig auf. »Ich weiß gar nicht mal, ob Bob Moreton noch lebt«, sagte er gereizt. »Für mich deutet dieser gan ze Geheimschrift-Sums jedenfalls darauf hin, daß der Mann sich in einem fortgeschrittenen Stadium der Paranoia befand.« »Hat er denn einen gesunden Eindruck gemacht, als Sie ihn vierundvierzig gesehen haben, Sir?« »Den Eindruck mag er gemacht haben, aber nach dem, was Sie mir da zeigen, war er’s anscheinend nicht.« »Aber die Nachforschung hat er fortgesetzt, Sir.« »Und wenn schon?« Mr. Budd seufzte. »Hören Sie, George, wir wollen bei dieser Geschichte keine Komplikationen. Wir wollen die Sache einfach los werden, je früher, desto besser. Ich weiß es zu schätzen, daß Sie gründlich sein wollen, aber ich möchte doch meinen, daß das alles eigentlich ganz einfach ist. Sie besorgen sich einen Deutschüberset zer für die fotografierten Dokumente, stellen fest, worum es sich dabei handelt, gehen dann sämtliche Ansprüche von Leuten namens Schneider durch und überprüfen, ob die Dokumente sich auf einen davon beziehen. Im Grunde ganz simpel, nicht?« George kam zu dem Schluß, daß nun ein taktvol les Vorgehen angezeigt war. »Ja, Sir. Aber ich hatte 56
an eine Möglichkeit gedacht, die ganze Sache zu be schleunigen. Ich bin nämlich noch nicht bis zu den Schneiders gekommen, aber nach den Papiermen gen im Keller zu urteilen, muß es davon mindestens dreitausend geben. Dabei habe ich schon fast vier Wochen dafür gebraucht, so viele gewöhnliche An sprüche zu überprüfen. Die Schneiders werden mit Sicherheit länger dauern. Aber mittlerweile habe ich mich eingehender mit der Sache befaßt, und ich ha be so das Gefühl, wir könnten eine Menge Zeit spa ren, wenn ich einmal mit Mr. Moreton sprechen könnte.« »Wieso? Inwiefern?« »Nun ja, Sir, ich habe mir ein paar von den Be richten über die Sache angesehen, die die Kanzlei gegen den Anspruch von Rudolph Schneider und die deutsche Regierung durchgefochten hat. Es er schien mir ganz klar, daß Moreton, Greener und Cleek über eine ganze Menge von Fakten verfügten, die die Gegenseite nicht besaß. Ich glaube, sie hat ten ganz eindeutige Informationen, daß es keinen lebenden Schneider-Erben gab.« Mr. Budd sah ihn durchdringend an. »Wollen Sie damit etwa andeuten, George, daß Moreton über jeden begründeten Zweifel hinaus festgestellt hat, daß es keinen Erben gab, und daß er und seine Partner diese Tatsache dann verschwiegen haben, um weiterhin Honorar aus dem Nachlaß kassieren zu können?« »Möglich wäre es, Sir, nicht wahr?« 57
»Was für Zyniker ihr jungen Männer doch manch mal seid!« Mr. Budd wurde plötzlich wieder jovial. »Na schön, worauf wollen Sie hinaus?« »Wenn wir die Ergebnisse von Moretons vertrau lichen Nachforschungen bekommen könnten, hät ten wir vielleicht genügend Informationen, um uns jede weitere Überprüfung all dieser Ansprüche spa ren zu können.« Mr. Budd strich sich übers Kinn. »Verstehe. Ja, nicht schlecht, George.« Er nickte lebhaft. »Okay. Sehen Sie zu, was Sie tun können, falls der alte Knabe noch am Leben und bei klarem Verstand ist. Je rascher wir die ganze Sache los sind, desto bes ser.« »Ja, Sir«, sagte George. Am Nachmittag bekam er einen Anruf von Mr. Budds Sekretärin: Eine Nachfrage bei Mr. More tons früherem Club habe ergeben, daß er sich in Montclair, New Jersey, zur Ruhe gesetzt hatte. Mr. Budd habe brieflich bei dem alten Herrn angefragt, ob er George empfangen würde. Zwei Tage später kam Antwort von Mrs. More ton. Ihr Mann sei seit einigen Monaten bettlägerig, doch angesichts der früheren Geschäftsverbindung sei er gerne bereit, sein Gedächtnis Mr. Carey zur Verfügung zu stellen, vorausgesetzt, der Besuch sei kurz. Mr. Moreton schlafe nachmittags. Vielleicht würde Freitag morgen elf Uhr Mr. Carey passen. »Das muß seine zweite Frau sein«, sagte Mr. Budd. 58
Freitag morgen legte George die Dokumenten schatulle nebst vollständigem ursprünglichem In halt auf den Rücksitz seines Wagens und fuhr nach Montclair.
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as von mehreren Morgen gepflegtem Garten umgebene Haus machte einen behaglichen Eindruck, und George kam der Gedanke, daß die finanziellen Geschicke von Moreton, Greener und Cleek wohl doch nicht so katastrophal gewesen wa ren wie von Mr. Budd angedeutet. Die zweite Mrs. Moreton erwies sich als schlanke, gepflegte End vierzigerin. Sie hielt sich sehr gerade und hatte eine energische Art und ein gönnerhaftes Lächeln. Durchaus wahrscheinlich, daß sie Mr. Moretons Pflegerin gewesen war. »Mr. Carey, nicht wahr? Sie werden ihn doch nicht überanstrengen, oder? Im Augenblick darf er morgens aufbleiben, aber wir müssen vorsichtig sein. Koronarthrombose.« Sie ging ihm voran durch eine glasverkleidete Veranda auf der Rückseite des Hauses. Mr. Moreton war korpulent, rosig und schwam mig, wie ein heruntergekommener Athlet. Er hatte kurze weiße Haare und tiefblaue Augen, und das schlaffe, aufgedunsene Gesicht zeigte noch immer eine Spur von jungenhaft gutem Aussehen. Er lag, von Kissen gestützt und in eine Decke gehüllt, auf 60
einer Couch, die mit einem Lesepult ausgestattet war. Er begrüßte George lebhaft, schob das Lese pult zur Seite und rappelte sich in Sitzhaltung hoch, um ihm die Hand geben zu können. Er hatte eine leise, angenehme Stimme und roch schwach nach Lavendelwasser. Ein, zwei Minuten lang erkundigte er sich nach Leuten bei Lavater, die er gekannt hatte, dann fragte er nach einer Reihe von Menschen in Philadelphia, von denen George noch nie gehört hatte. Endlich lehnte er sich lächelnd zurück. »Lassen Sie sich niemals überreden, in den Ruhe stand zu treten, Mr. Carey«, sagte er. »Man lebt in der Vergangenheit und wird zum Langeweiler. Und zwar zu einem unehrlichen Langeweiler. Ich frage Sie, wie es Harry Budd geht. Sie sagen mir, es geht ihm gut. Dabei will ich in Wirklichkeit wissen, ob er eine Glatze bekommen hat.« »Hat er«, sagte George. »Und ob er trotz all seiner bemühten Bonhomie schon Magengeschwüre hat oder hohen Blutdruck.« George lachte. »Wenn ja«, fuhr Mr. Moreton liebenswürdig fort, »wäre es schön. Dann muß ich den alten Gauner wenigstens nicht beneiden.« »Aber Bob«, sagte seine Frau vorwurfsvoll. Er sprach mit ihr, ohne sie anzusehen. »Mr. Ca rey und ich möchten uns jetzt ein wenig über Ge schäftliches unterhalten, Kathy«, sagte er. »Schön. Aber überanstrenge dich nicht.« 61
Mr. Moreton gab keine Antwort. Als sie gegangen war, lächelte er. »Etwas zu trinken, mein Lieber?« »Nein, danke, Sir. Mr. Budd hat, glaube ich, er klärt, weshalb ich Sie sprechen wollte.« »Gewiß. Die Sache Schneider-Johnson. Ich hätte es mir auch so denken können.« Er sah George von der Seite an. »Dann haben Sie’s also gefunden, ja?« »Was gefunden, Sir?« »Das Tagebuch, die Fotos und den ganzen ande ren Kram von Hans Schneider. Sie haben es gefun den, wie?« »Es liegt draußen im Wagen, zusammen mit ein paar persönlichen Dingen von Ihnen, die mit in die Schatulle geraten sind.« Mr. Moreton nickte. »Ich weiß. Ich habe sie selbst hineingelegt – obenauf. Mit etwas Glück, ha be ich mir überlegt, würde jeder, der die Schatulle öffnet, denken, das wäre alles nur mein persönlicher Krempel.« »Verzeihung, aber ich kann Ihnen nicht ganz fol gen, Sir.« »Kann ich mir denken. Ich will es Ihnen erklären. Als Nachlaßverwalter war ich verpflichtet, alles vollständig auszuhändigen. Tja, und diesen vertrau lichen Kram wollte ich eben nicht aushändigen. Ich wollte ihn vernichten, aber Greener und Cleek ha ben mich nicht gelassen. Sie haben gesagt, wenn ir gendwas rauskäme und John J. erführe davon, dann käme ich in Teufels Küche.« »Aha«, sagte George. Seine Vermutung, daß Mo 62
reton, Greener und Cleek wichtige Informationen zurückgehalten hatten, hatte er im Grunde selbst nicht geglaubt. Sie hatte ihm lediglich dazu gedient, Mr. Budd herumzukriegen. Nun war er gelinde ent setzt. Mr. Moreton zuckte die Achseln. »Ich konnte al so nur versuchen, das Zeug zu tarnen. Tja, und das ist mir nicht gelungen.« Er starrte einen Moment lang düster in den Garten hinaus, dann wandte er sich energisch George zu, wie um eine häßliche Er innerung zu vertreiben. »Der Staat Pennsylvania ist wohl wieder hinter dem Zaster her, wie?« »Ja. Und man möchte dort wissen, ob Mr. Si strom sich mit ihnen darum raufen will.« »Und Harry Budd, der sich nicht gern die zarten Finger an dergleichen schmutzig macht, kann es gar nicht abwarten, den Kram aus der Kanzlei zu be fördern, wie? Nein, darauf brauchen Sie nicht zu antworten, mein Lieber. Kommen wir zur Sache.« »Soll ich die Papiere aus dem Wagen holen, Sir?« »Wir werden sie nicht brauchen. Ich kenne den Inhalt der Schatulle in- und auswendig. Haben Sie das kleine Buch gelesen, das Hans Schneider für seine Kinder geschrieben hat?« »Ja.« »Und was halten Sie davon?« George lächelte. »Nach der Lektüre habe ich ei nen Entschluß gefaßt. Falls ich je Kinder habe, wer de ich ihnen niemals auch nur die geringste Kleinig keit von meinen Kriegserlebnissen erzählen.« 63
Der alte Herr schmunzelte. »Sie werden’s aus Ih nen rausholen. Sie müssen nur darauf achten, daß nicht so ein Schafskopf wie Hans aufschreibt, was Sie sagen. Dann wird es nämlich gefährlich.« »Wie das?« »Das will ich Ihnen sagen. Ich war zwar Nach laßverwalter, doch nach Deutschland gereist bin ich auf Wunsch meiner Partner. Wir hatten die Sache schon zu lange am Bein und wollten sie endlich er ledigen. Meine Anweisungen lauteten, Belege für das zu finden, was wir längst vermuteten – daß es keinen legitimen Erben des Nachlasses gab. Tja, und als ich feststellte, daß Hans wahrscheinlich ein Sohn Franz Schneiders aus erster Ehe war, mußte ich Näheres über diese Ehe erfahren, um ein voll ständiges Bild zu bekommen. Wie Sie wissen, bin ich nach Potsdam gefahren, um festzustellen, ob ich ihn über die Regimentsarchive ermitteln könnte. Das gelang mir zunächst nicht.« »Aber am nächsten Tag haben Sie die Sache noch einmal überprüft?« »Ja, aber dazwischen hatte ich eine Nacht zum Überlegen gehabt. Und noch einmal darüber nach gedacht, was Hans geschrieben hatte. Wenn über haupt etwas Wahres daran war, dann mußte Wachtmeister Schneider in der Schlacht von Eylau verwundet und auf dem Rückzug vermißt worden sein. Das Kriegstagebuch würde derlei bestimmt in einer Verlustliste verzeichnen. Anstatt also am nächsten Tag noch einmal die offizielle Stammrolle 64
durchzugehen, habe ich mir vom Übersetzer den Regimentsbericht über die Schlacht übersetzen las sen.« Er seufzte erinnerungsselig. »Es gibt Momen te im Leben, mein Lieber, die einen immer wieder freuen, ganz gleich, wie oft man an sie zurückdenkt. Das war so einer. Es war am späten Vormittag und schon recht warm. Der Übersetzer hatte Schwierig keiten mit der alten Schrift und stotterte die Über setzung herunter. Ich hörte nur halb zu. Ich mußte an einen üblen Marsch denken, den ich selbst ein mal im spanisch-amerikanischen Krieg auf Kuba mitgemacht hatte. Dann plötzlich sagte der Über setzer etwas, was mich hochfahren ließ.« Er hielt inne. »Und was war das?« fragte George. Mr. Moreton lächelte. »Ich erinnere mich noch an den genauen Wortlaut. ›Während der Nacht‹ – ich zitiere aus dem Kriegstagebuch – ›verließ Franz Schirmer, Wachtmeister, das unter seinem Befehl stehende Detachement; er gab an, einem Dragoner Beistand leisten zu wollen, der wegen eines lahmen Pferdes zurückgeblieben war. Bis zum Morgen war Wachtmeister Schirmer nicht zu seinem Detache ment zurückgekehrt. Es wurde festgestellt, daß kein anderer Mann fehlte und auch keiner zurückgeblie ben war. Dementsprechend wurde der Name Franz Schirmer auf die Liste der Deserteure gesetzt.‹« Ein, zwei Momente lang herrschte Schweigen. »Na?« fügte Mr. Moreton hinzu. »Was halten Sie davon?« 65
»Schirmer, sagten Sie?«
»Richtig. Wachtmeister Franz Schirmer, s-c-h-i-r m-e-r.« George lachte. »Der alte Gauner«, sagte er. »Genau.« »Dann war also das ganze Zeug, das er seinem Sohn Hans erzählt hat, von wegen die feigen Preu ßen hätten ihn für tot liegen lassen …« »Quatsch«, sagte Mr. Moreton trocken. »Aber Sie sehen, was für Weiterungen sich daraus erge ben.« »Ja. Was haben Sie unternommen?« fragte George. »Als erstes habe ich Sicherheitsvorkehrungen ge troffen. Wir hatten schon genug Probleme damit, daß die Zeitungen Einzelheiten über den Fall her ausfanden und veröffentlichten, deshalb habe ich mich mit meinen Partnern auf eine bestimmte Vor gehensweise geeinigt, ehe ich nach Deutschland rei ste. Ich sollte das, was ich unternahm, möglichst ge heimhalten, und um nicht an einen Übersetzer mit Kontakten zur deutschen Presse zu geraten, sollte ich ihn in Paris engagieren. Außerdem hatten wir uns auf einen Geheimcode für Vertrauliches geei nigt. Für Sie hört sich das vielleicht eigenartig an, aber falls Sie Erfahrungen mit …« »Ich weiß«, sagte George. »Ich habe die Zeitungs ausschnitte gesehen.« »Aha. Nun denn, ich hatte meinen Partnern Zwi schenberichte in Tagebuchform geschickt. Als ich 66
das mit Schirmer herausfand, begann ich den Ge heimcode zu benutzen. Eine ganz einfache Methode mit Schlüsselwort, aber für unsere Zwecke völlig ausreichend. Sehen Sie, mich verfolgte die Vorstel lung, daß die Zeitungen von dem Namen Schirmer Wind bekommen und eine neue Flut von Ansprü chen von Schirmers, Shermans und so weiter auslö sen würden. Als letztes entließ ich den Übersetzer. Ich sagte ihm, ich gäbe die Nachforschungen auf, und zahlte ihn aus.« »Wieso das?« »Weil ich damit fortfuhr und nicht wollte, daß außerhalb der Kanzlei irgendwer vollständigen Ein blick in die Sache gewann. Es war übrigens nur gut, daß ich ihn entließ, denn später, als die Nazis hinter dem Nachlaß her waren und Frankreich besetzt wurde, holte die Gestapo den zweiten Mann, den ich engagierte, zum Verhör ab. Wenn er gewußt hätte, was der erste gewußt hat, wären wir in die Bredouille geraten. Den zweiten hat mir unsere Pa riser Botschaft vermittelt. Bis er kam, hatte ich den Eintrag im Kriegstagebuch fotografieren lassen – Sie finden ihn in der Akte – und war soweit, daß ich Weiterreisen konnte.« »Nach Ansbach?« »Ja. Dort fand ich den Beleg von Franz Schirmers Taufe. Nach Mühlhausen zurückgekehrt, fand ich die Kirchenbucheinträge der Heirat von Franz und Maria Dutka, der Geburt von Karl und Hans und des Todes von Maria. Das eigentlich Wichtige aber 67
stellte ich fest, als ich wieder nach Münster fuhr. Der Knabe Karl stand als Karl Schirmer in der Mu sterrolle von 1824. Franz hatte seinen Namen geän dert, nicht aber den seines ältesten Sohnes.« George überlegte rasch. »Wahrscheinlich hat Franz seinen Namen geändert, als Mühlhausen an Preußen abgetreten wurde.« »Genau das habe ich auch gedacht. Für die Preu ßen war er ein Deserteur. Aber wegen Karl hat er sich vermutlich einfach keine Sorgen gemacht.« »Hans’ Namen hat er allerdings geändert.« »Aber Hans war damals noch ein Säugling. Er würde ganz selbstverständlich als Schneider auf wachsen. Ganz gleich, welche Gründe er gehabt ha ben mag, so war es nun mal. Hans hatte sechs Brü der und fünf Schwestern. Alle trugen den Nachna men Schneider, bis auf einen, Karl. Sein Nachname lautete Schirmer. Ich mußte also lediglich ermitteln, wer von diesen Personen Kinder gehabt hat – Cou sins oder Cousinen von Amelia – und ob noch wel che davon lebten.« »Das muß ein ziemlicher Aufwand gewesen sein.« Mr. Moreton zuckte die Achseln. »Nun ja, ganz so schlimm, wie es sich anhört, war es nicht. Im vo rigen Jahrhundert lagen die Sterblichkeitsziffern höher. Von den elf Brüdern und Schwestern starben zwei Jungen und zwei Mädchen noch vor ihrem zwölften Lebensjahr während einer Typhusepide mie, und ein weiteres Mädchen wurde mit fünfzehn von einem durchgehenden Pferd zu Tode getram 68
pelt. Ich hatte mich also nur noch mit sechs zu be fassen. Vier davon habe ich einem Privatdetektiv übergeben, der auf solche Sachen spezialisiert ist. Um die anderen beiden habe ich mich selbst ge kümmert.« »Und einer von Ihren beiden war Karl Schirmer?« »Richtig. Bis Mitte Juli war ich mit den Schnei ders fertig. Es hatte tatsächlich Kinder gegeben, aber keines davon hatte Amelia überlebt. Es gab al so noch immer keinen Erben. Der einzige, der noch zu überprüfen blieb, war Karl Schirmer.« »Hatte er denn Kinder?« »Sechs. Er war in Koblenz bei einem Drucker in die Lehre gegangen und hatte die Tochter seines Lehrherrn geheiratet. Von Mitte Juli an suchte ich in Städten und Dörfern des Rheinlandes herum. Bis Mitte August hatte ich alle bis auf einen aufgespürt, und einen Erben hatte ich noch immer nicht. Das fehlende Kind war ein Sohn namens Friedrich, gebo ren 1863. Von ihm wußte ich nur, daß er 1887 in Dortmund geheiratet hatte und Buchhalter war. Und dann bekam ich Schwierigkeiten mit den Nazis.« »Was für Schwierigkeiten?« »Nun ja, im Sommer 1939 machte sich zwangs läufig jeder Ausländer verdächtig, der im Rheinland herumreiste, Fragen stellte, amtliche Archive durch forschte und verschlüsselte Telegramme abschickte, aber daran hatte ich in meiner Dummheit nicht ge dacht. In Essen wurde ich von der Polizei verhört und aufgefordert, über mein Tun und Lassen Aus 69
kunft zu geben. Ich erklärte es, so gut ich konnte, und die Polizisten gingen auch, aber am nächsten Tag kamen sie wieder. Diesmal hatten sie zwei Ker le von der Gestapo dabei.« Mr. Moreton lächelte kläglich. »Ich muß Ihnen gestehen, mein Lieber, ich war froh, daß ich einen amerikanischen Paß hatte. Am Ende habe ich sie allerdings überzeugt. Dazu trug wohl auch bei, daß ich zu verhindern versuch te, daß die Presse Wind von meiner Tätigkeit be kam. Mit der Presse hatten sie nämlich auch nichts im Sinn. Die Hauptsache war, daß ich den Namen Schirmer heraushalten konnte. Schwierigkeiten machten sie mir allerdings trotzdem. Es vergingen keine vierzehn Tage, da bekam ich ein Telegramm von meinen Partnern, in dem es hieß, die deutsche Botschaft in Washington habe das State Department davon in Kenntnis gesetzt, daß künftig die deutsche Regierung jeden deutschen Staatsbürger vertreten werde, der Anspruch auf den Nachlaß SchneiderJohnson erhob, und vollständige Auskunft über den derzeitigen Stand der Ermittlungen des Nachlaßverwalters in dieser Angelegenheit verlangt.« »Sie meinen, die Gestapo hat dem Auswärtigen Amt von Ihren Ermittlungen berichtet?« »Ganz bestimmt. So kam es doch überhaupt erst zu dem falschen Anspruch dieses Rudolph Schnei der. Sie machen sich keinen Begriff, wie schwierig es politisch und in jeder anderen Hinsicht ist, die Echt heit von Dokumenten anzufechten, die von der Re gierung einer befreundeten Macht vorgelegt und be 70
glaubigt werden – ich meine einer Macht, die norma le diplomatische Beziehungen zu Ihrer eigenen Re gierung unterhält. Das ist so, als würden Sie sie be schuldigen, ihre eigenen Banknoten zu fälschen.« »Und was ist mit dem Schirmerschen Zweig der Familie, Sir? Sind die Nazis eigentlich je darauf ge kommen?« »Nein. Im Gegensatz zu uns standen ihnen ja auch nicht Amelias Dokumente zur Verfügung. Sie hatten nicht einmal die richtige Familie Schneider, aber das zu beweisen war schwierig.« »Und Friedrich Schirmer, Karls Sohn? Haben Sie ihn aufgespürt?« »Ja, mein Lieber, ich habe ihn aufgespürt, aber es war ein Wahnsinnsaufwand. Eine Arbeitsvermitt lung für Angestellte in Karlsruhe hat mich schließ lich auf seine Spur gebracht. Sie haben für mich festgestellt, daß sie fünf Jahre zuvor einen älteren Buchhalter namens Friedrich Schirmer in ihrer Kar tei gehabt hatten. Sie hatten ihm in Freiburg im Breisgau eine Stelle in einer Knopffabrik vermittelt. Also bin ich zur Knopffabrik gefahren. Dort hieß es, er habe sich drei Jahre zuvor mit siebzig zur Ru he gesetzt und sei in Bad Schwennheim in eine Kli nik gekommen. Blasenprobleme, hieß es. Sie mein ten, er sei wahrscheinlich gestorben.« »Und, war er’s?« »Ja, er war gestorben.« Mr. Moreton schaute in den Garten hinaus, als könne er ihn nicht ausstehen. »Offengestanden, mein Lieber«, sagte er, »fühlte ich 71
mich zu diesem Zeitpunkt auch ziemlich alt und er schöpft. Es war die letzte Augustwoche, und nach allem, was man im Radio hörte, bestand kaum mehr ein Zweifel daran, daß Europa sich binnen einer Woche im Krieg befinden würde. Ich wollte nach Hause. Ich war noch nie der Typ, der unbedingt überall mittendrin sein muß. Außerdem hatte ich Probleme mit dem Übersetzer. Er war Lothringer, Frankreich mobilisierte, und er hatte Angst, daß er keine Zeit mehr haben würde, seine Frau noch ein mal zu sehen, ehe er zu seinem Regiment einberufen wurde. Und allmählich wurde es auch schwierig, Benzin für den Wagen zu bekommen. Ich war in Versuchung, die ganze Sache sein zu lassen und zu machen, daß ich fortkam. Aber irgendwie brachte ich es nicht fertig zu gehen, ohne noch eine letzte Überprüfung vorzunehmen. Vierundzwanzig Stun den, mehr brauchte ich nicht.« »Also haben Sie es überprüft.« Nun, da er die Fakten hatte, die er wollte, machten George die Reminiszenzen Mr. Moretons ungeduldig. »Ja, ich habe es überprüft. Aber ohne den Über setzer. Er hatte eine solche Heidenangst, daß ich ihm sagte, er solle mit dem Wagen nach Straßburg fahren und dort auf mich warten. Zum Glück, kann ich nur sagen. Als die Gestapo ihn später zu fassen bekam, wußte er nur, daß ich nach Bad Schwenn heim gefahren war. Ein Riesenglück. Ich bin mit dem Zug hingefahren. Kennen Sie den Ort? Er liegt bei Triberg in Baden.« 72
»In die Gegend bin ich nie gekommen.« »Einer dieser abgelegenen Kurorte – Pensionen, Familienhotels und kleine Villen am Rand des Tan nenwaldes. Ich hatte festgestellt, daß man sich mit derlei Anfragen am besten an den Pfarrer wandte, also machte ich mich auf die Suche nach ihm. Die Kirche konnte ich schon sehen – wie eine Kuk kucksuhr klebte sie am Hang –, und mein Deutsch reichte gerade aus, um von einem Passanten zu er fahren, daß das Haus des Pfarrers dahinter lag. Nun ja, ich schwitzte mich den Berg hinauf und sprach mit dem Pfarrer. Glücklicherweise konnte er gut Englisch. Ich habe ihm natürlich die üblichen Mär chen erzählt …« »Märchen?« »Daß es sich um eine Bagatelle handele, ein klei nes Vermächtnis, solche Sachen eben. Man muß dergleichen herunterspielen. Wenn Sie bei einer sol chen Geschichte die Wahrheit sagen, können Sie gleich einpacken. Die Habgier! Sie würden sich wundern, wie ganz normale Menschen sich auffüh ren, wenn sie anfangen, in Millionen zu denken. Al so habe ich die üblichen Märchen erzählt und die üblichen Fragen gestellt.« »Und der Pfarrer hat gesagt, Friedrich Schirmer sei tot?« »Ja.« Mr. Moreton lächelte verschmitzt. »Aber er meinte auch, wie schade es sei, daß ich zu spät ge kommen war.« »Zu spät wozu?« 73
»Zur Beerdigung.« George sank der Mut. »Wollen Sie damit sagen, er hat Amelia überlebt?« »Um mehr als zehn Monate.« »War er verheiratet?« »Seine Frau war schon seit Jahren tot.« »Kinder?« »Ein Sohn namens Johann. In der Schatulle, die Sie haben, ist sein Foto. Johann hatte eine Frau na mens Ilse. Er müßte mittlerweile Mitte fünfzig sein, würde ich sagen.« »Heißt das, er ist noch am Leben?« »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, mein Junge«, sagte Mr. Moreton fröhlich. »Aber wenn, dann ist er mit Sicherheit der Schneider-Johnson-Erbe.« George lächelte. »Dann war er der Erbe, wollten Sie doch wohl sagen, nicht wahr, Sir? Als Deutscher könnte er das Vermächtnis niemals erhalten. Der Treuhänder für Feindvermögen würde den An spruch auf sich selbst übertragen.« Mr. Moreton schmunzelte und schüttelte den Kopf. »Seien Sie da nicht so sicher, mein Lieber. Laut dem Priester hat Friedrich über zwanzig Jahre lang für einen deutschen Elektrofabrikanten mit ei nem Werk bei Schaffhausen in der Schweiz gearbei tet. Johann ist dort geboren worden. Eigentlich müßte er Schweizer sein.« George sank in seinen Sessel zurück. Ein, zwei Momente lang war er zu verwirrt, um klar denken zu können. Mr. Moretons rosige, feiste Wangen 74
bebten vor Vergnügen. Die Wirkung seiner Äuße rung beglückte ihn. George spürte, daß er zornig wurde. »Aber wo hat er gewohnt?« fragte er. »Und wo wohnt er jetzt?« »Auch das weiß ich nicht. Sowenig wie der Pfar rer. Soweit ich feststellen konnte, ist die Familie Anfang der Zwanziger nach Deutschland zurück gekehrt. Aber Friedrich Schirmer hatte jahrelang nichts von Sohn und Schwiegertochter gehört. Mehr noch, in den Papieren, die er hinterließ, gibt es keinerlei Hinweis darauf, daß sie je existiert ha ben, nur das Foto und einiges, was er zu dem Pfar rer gesagt hat.« »Hat Friedrich ein Testament gemacht?« »Nein. Er hatte nichts zu vererben, was den Aufwand gelohnt hätte. Er lebte von einer kleinen Rente. Es war kaum genug Geld da, um ihn anstän dig zu beerdigen.« »Aber Sie haben sich doch sicher bemüht, diesen Johann zu finden?« »Zu dem Zeitpunkt konnte ich nicht viel tun. Ich habe Pfarrer Weichs – so hieß er – gebeten, mich so fort zu verständigen, falls er irgend etwas von oder über Johann hörte, aber drei Tage später brach der Krieg aus. Ich habe nie wieder von ihm gehört.« »Aber als die deutsche Regierung den Nachlaß beanspruchte, haben Sie deren Vertretern da nicht die Lage auseinandergesetzt und sie aufgefordert, Johann Schirmer zu präsentieren?« 75
Der alte Herr zuckte ungeduldig die Achseln. »Ja, gewiß, wenn es soweit gekommen wäre, daß sie eine echte Chance gehabt hätten, ihren Anspruch in Sa chen Schneider zu erhärten, dann hätten wir das wohl gemußt. Aber so war es besser, unsere Karten nicht aufzudecken. Sie hatten schon einen falschen Schneider präsentiert. Was sollte sie daran hindern, auch einen falschen Johann Schirmer zu präsentie ren? Angenommen, sie hätten festgestellt, daß Jo hann und Ilse tot waren und keine Erben hatten! Glauben Sie etwa, die hätten das zugegeben? Au ßerdem waren wir davon überzeugt, daß der Krieg nicht länger als ein, zwei Monate dauern würde; wir rechneten die ganze Zeit damit, daß schon bald ei ner von uns nach Deutschland zurückkehren und die ganze Sache ordnungsgemäß und zu unserer vollen Zufriedenheit aufklären konnte. Aber dann kam Pearl Harbour, und damit war die Sache, was uns anging, zu Ende.« Mr. Moreton sank in seine Kissen zurück und schloß die Augen. Er hatte seinen Spaß gehabt. Nun war er müde. George schwieg. Aus dem Augenwinkel konnte er die zweite Mrs. Moreton im Hintergrund herum stehen sehen. Er stand auf. »Eines ist mir noch nicht ganz klar, Sir«, sagte er zögernd. »Was denn, mein Lieber?« »Sie haben gesagt, Sie wollten Mr. Sistrom nicht auf diese Tatsachen aufmerksam machen, als Ihr Amt vierundvierzig auf ihn überging. Warum?« 76
Langsam schlug Mr. Moreton die Augen auf. »Anfang vierundvierzig«, sagte er, »ist mein Sohn von der SS ermordet worden, nachdem er aus einem deutschen Kriegsgefangenenlager geflüchtet war. Meiner Frau ging es damals nicht allzu gut, und der Schock hat sie umgebracht. Als der Zeitpunkt kam, daß ich alles an Sistrom übergeben mußte, konnte ich wohl einfach den Gedanken nicht akzeptieren, daß ein Deutscher aufgrund meiner Bemühungen etwas aus diesem Land bekommen sollte.« »Verstehe.« »Standeswidrig«, sagte der alte Herr mißbilli gend. »Unmoralisch. Aber so habe ich nun einmal empfunden. Und jetzt –« er zuckte die Achseln, und sein Blick war plötzlich wieder belustigt –, »jetzt frage ich mich einfach, was Harry Budd wohl sagen wird, wenn Sie’s ihm beibringen.« »Das frage ich mich selbst auch schon die ganze Zeit«, sagte George. Mr. Budd sagte mit großem Nachdruck: »Du meine Güte!« und bat seine Sekretärin, festzustellen, ob Mr. Sistrom für eine Besprechung verfügbar sei. John J. Sistrom war der älteste Teilhaber der Kanzlei (Lavater und Powell waren schon vor Jah ren gestorben), und der ältere J. P. Morgan hatte große Stücke auf ihn gehalten. Eine unnahbare, ehr furchtgebietende Gestalt, die ihr Büro durch einen separaten Eingang betrat und verließ, sah ihn außer den anderen Seniorpartnern nur selten jemand. 77
George war ihm bei seinem Eintritt in die Kanzlei vorgestellt worden und hatte einen flüchtigen Hän dedruck bekommen. Er war sehr alt, viel älter als Mr. Moreton, aber mager und lebhaft. Er spielte mit einem goldenen Drehbleistift herum, während er sich Mr. Budds naserümpfend vorgetragene Erklä rung der Sachlage anhörte. »Verstehe«, sagte er schließlich. »Tja, Harry, was schlagen Sie vor? Daß ich jemand anderen manda tiere, vermutlich.« »Ja, John J. Ich dachte, daß vielleicht jemand wie Lieberman interessiert wäre.« »Möglich. Wieviel ist der Nachlaß mittlerweile denn genau wert?« Mr. Budd sah George an. »Vier Millionen dreihunderttausend, Sir«, sagte George. Mr. Sistrom schürzte die Lippen. »Wollen sehen. Die Bundessteuer wird einen ganz schönen Batzen ausmachen. Außerdem hat sich in der Sache seit über sieben Jahren nichts getan, deshalb kommt das Gesetz von 1943 zur Anwendung. Das heißt, acht zig Prozent dessen, was übrigbleibt, geht an den Staat.« »Ein Anspruchsteller könnte von Glück sagen, wenn er eine halbe Million bekäme«, sagte Mr. Budd. »Eine halbe Million steuerfrei ist heutzutage eine Menge Geld, Harry.« Mr. Budd lachte. Mr. Sistrom wandte sich an 78
George. »Was meinen Sie zum Anspruch dieses Jo hann Schirmer, junger Mann?« fragte er. »Mir scheint er auf den ersten Blick begründet, Sir. Ein wichtiger Gesichtspunkt zu seinen Gunsten wäre die Tatsache, daß die Erbfolge selbst zwar un ter das Gesetz von 1917 fällt, der Anspruch Schir mers aber auch den strengeren Bestimmungen des Gesetzes von siebenundvierzig genügt. Die Frage der Rechtsnachfolge stellt sich nicht. Friedrich Schirmer war ein Cousin ersten Grades, und er hat die alte Dame überlebt.« Mr. Sistrom nickte. »Sind Sie auch dieser Mei nung, Harry?« »Aber ja. Ich denke, Lieberman wird die Sache mit Vergnügen übernehmen.« »Komische Geschichten, diese alten Erbschafts fälle«, meinte Mr. Sistrom sinnierend. »Manchmal eröffnen sie ungeahnte Perspektiven. Da desertiert zu Napoleons Zeiten nach einer Schlacht ein deut scher Dragoner und muß seinen Namen ändern. Und über hundert Jahre später sitzen wir hier, vier tausend Meilen davon entfernt, und zerbrechen uns den Kopf über eine Situation, die sich aus ebendie ser Tatsache ergeben hat.« Er lächelte unbestimmt. »Es ist ein interessanter Fall. Wir könnten nämlich argumentieren, daß Friedrich das Vermögen vor Ernennung des Treuhänders für Feindvermögen ge erbt hat und daß es demzufolge nach deutschem Recht auf Johann Schirmer hätte übergehen müssen. Es hat ein zwei Fälle von deutsch-schweizerischen 79
Ansprüchen gegen den Treuhänder gegeben, die durchgesetzt worden sind. Es gibt da vielerlei Mög lichkeiten.« »Und für die Zeitungen wird es ein Fressen, wenn sie davon erfahren!« sagte Mr. Budd. »Sie müssen ja nicht davon erfahren, oder? Jeden falls vorläufig nicht.« Mr. Sistrom hatte offenbar ei ne Entscheidung getroffen. »Ich denke, wir sollten in der Sache nichts übers Knie brechen, Harry«, sagte er. »Natürlich wollen wir uns nicht in irgend einen Zeitungsunsinn hineinziehen lassen, aber wir sind im Besitz bestimmter Informationen, zu denen sonst niemand Zugang hat. Wir sind in einer starken Position. Ehe wir in dieser Angelegenheit zu einer Entscheidung kommen, sollten wir meiner Meinung nach in aller Stille jemanden nach Deutschland schicken, um festzustellen, ob dieser Johann Schir mer sich aufspüren läßt. Mir gefällt die Vorstellung nicht, daß der Staat das ganze Geld bekommt, nur weil wir uns nicht weiter damit abgeben wollen. Wenn er tot ist und keine Nachkommen oder Er ben hat oder wir ihn nicht finden, können wir im mer noch neu überlegen. Vielleicht lege ich dem Staat dann einfach die Tatsachen vor und überlasse denen die ganze Sache. Aber wenn auch nur die ge ringste Möglichkeit besteht, daß der Mann noch am Leben ist, sollten wir alle nur möglichen Anstren gungen unternehmen, ihn zu finden. Es besteht kei ne Notwendigkeit, einer anderen Kanzlei dafür ein fürstliches Honorar zukommen zu lassen. Wir stel 80
len Gebühren in Rechnung, ganz gleich, ob wir Er folg haben oder nicht. Ich wüßte nicht, warum wir die Gelegenheit auslassen sollten.« »Aber mein Gott, John J ….!« »Es ist absolut zulässig, daß die Anwälte des Nachlaßverwalters sich bemühen, den Erben zu finden, und für ihre Bemühungen honoriert wer den.« »Ich weiß, daß es zulässig ist, John J. aber Herr des Himmels …!« »Bei Mandaten dieser Art kann man nicht allzu heikel sein«, sagte Mr. Sistrom bestimmt. »Ich finde nicht, daß wir das Geschäft aus der Hand der Fami lie geben sollten, bloß weil wir uns vor ein bißchen Presserummel fürchten.« Schweigen trat ein. Mr. Budd stieß einen Seufzer aus. »Nun ja, wenn Sie es so formulieren, John J. Aber angenommen, der Mann befindet sich in der sowjetischen Zone Deutschlands oder sitzt als Kriegsverbrecher im Gefängnis?« »Dann können wir immer noch neu überlegen. Also, wen wollen Sie schicken?« Mr. Budd zuckte die Achseln. »Ich würde sagen, ein guter, verläßlicher Privatdetektiv wäre das, was wir brauchen.« »Privatdetektiv!« Mr. Sistrom ließ seinen golde nen Drehbleistift fallen. »Ich bitte Sie, Harry, wir verdienen doch keine Million Dollar an der Ge schichte. Kompetente Privatdetektive sind für derlei Schnitzeljagden viel zu teuer. Ich glaube, ich habe 81
eine bessere Idee.« Er drehte sich auf seinem Stuhl und sah George an. George wartete bangen Herzens. Der Schlag kam. Mr. Sistrom lächelte wohlwollend. »Was hielten Sie von einer Europareise, Mr. Carey?«
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wei Wochen später reiste George nach Paris. Während das Flugzeug aus New York lang sam in die Kurve ging und zum Landeanflug in Or ly ansetzte, rückte unterm Backbordflügel nach und nach die Stadt in sein Gesichtsfeld. Er reckte den Hals, um mehr davon zu sehen. Es war nicht das er ste Mal, daß er Paris überflog; aber er tat es zum er stenmal als Zivilist und war neugierig, ob er die al ten, vertrauten Wahrzeichen noch erkennen würde. Außerdem stand er am Beginn einer neuen Bezie hung zu der Stadt. Für ihn war sie nacheinander ein Punkt auf einer Landkarte gewesen, Standort einer Einrichtung des Hauptquartiers des Army Air Corps, ein Rummelplatz, wo man seinen Urlaub verbrachte, und eine graue Straßenwüste, in der man herumzog, während man ungeduldig auf den Marschbefehl nach Hause wartete. Nun war sie zu einer ausländischen Kapitale geworden, in der er ge schäftlich zu tun hatte; Ausgangspunkt für etwas, das er sich in einem Augenblick der Ausgelassenheit als Odyssee vorgestellt hatte. Nicht einmal die Tat sache, daß er lediglich als preiswerter Ersatz für ei nen kompetenten Privatdetektiv fungierte, konnte 83
ein angenehmes Gefühl der Vorfreude ganz vertrei ben. Seine Einstellung zum Fall Schneider-Johnson hatte sich in jenen zwei Wochen etwas gewandelt. Zwar betrachtete er seine Verbindung damit noch immer als Unglück, aber er sah sie nicht mehr als größere Katastrophe. Mehrere Faktoren hatten da zu beigetragen, ihn in seinem Urteil in der Sache zu bestärken. So etwa Mr. Budds Einwände dagegen, einen so fähigen Mann mit einer so banalen Aufga be zu betrauen. So etwa die unter Kraftausdrücken geäußerte Überzeugung seiner Kollegen, die Über prüfung der Ansprüche sei ihm langweilig gewor den und er habe den Sachverhalt raffinierterweise so dargestellt, daß eine kostenlose Urlaubsreise für ihn heraussprang. Vor allem aber Mr. Sistroms Ent scheidung, sich der Sache persönlich anzunehmen. Mr. Budd hatte dies grollend ordinärer Habgier zu geschrieben, aber George vermutete, daß für Mr. Sistroms vermeintlich schlichten Wunsch, den Nach laß zu schröpfen, solange er die Möglichkeit dazu hatte, auch noch andere, weniger geschäftsmäßige Bestrebungen ausschlaggebend waren. Zu unterstel len, ein Teilhaber von Lavater ließe sich in einer fi nanziellen Angelegenheit von romantischen oder sentimentalen Erwägungen leiten, war fraglos ab surd; aber George hatte bereits gemerkt, daß das Absurde und der Fall Schneider-Johnson nie sehr weit auseinandergelegen hatten. Im übrigen hatte der Glaube, daß in Mr. Sistrom ein Schuljunge 84
schlummerte, etwas durchaus Beruhigendes; und Beruhigendes konnte George im Augenblick gut gebrauchen. Nach einem weiteren Besuch in Montclair hatte er sich an die Entschlüsselung von Mr. Moretons Tagebuch gemacht. Als er mit dieser Aufgabe fertig war und sämtliche fotografierten Dokumente in der Schatulle identifiziert hatte, beschlich ihn ein unge wohntes Gefühl der Unzulänglichkeit und des Selbstzweifels. Münster, Mühlhausen, Karlsruhe, Berlin – auf viele der Städte, in denen Mr. Moreton sich bemüht hatte, die Geschichte der Familie Schirmer zu rekonstruieren, hatte er Bomben abge worfen. Und zweifellos einige ihrer Einwohner ge tötet. Hätte er die Geduld und die Findigkeit aufge bracht, mit der Mr. Moreton zu Werke gegangen war? Er bezweifelte es eher. Es war demütigend, sich mit dem Wissen zu trösten, daß seine Aufgabe sich wahrscheinlich als einfacher erweisen würde. Am Morgen nach seiner Ankunft in Paris begab er sich zur Amerikanischen Botschaft, stellte sich in der dortigen Rechtsabteilung vor und bat darum, ihm einen Deutsch-Englisch-Übersetzer zu emp fehlen, mit dem die Botschaft selbst schon zusam mengearbeitet habe und dessen beeidigte Aussagen später vom Waisengericht in Philadelphia und vom Treuhänder für Feindvermögen anerkannt würden. In sein Hotel zurückgekehrt, fand er einen Brief vor. Er stammte von Mr. Moreton.
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Mein lieber Mr. Carey, haben Sie vielen Dank für Ihren Brief. Ich ha be natürlich mit großem Interesse zur Kenntnis genommen, daß mein alter Freund John Sistrom beschlossen hat, die Nachforschungen in Sachen Schirmer weiterzuführen, und freue mich sehr darüber, daß Sie dafür zuständig sein werden. Meinen Glückwunsch. Sie müssen sich gut mit John J. stehen, daß man Ihnen diese Aufgabe an vertraut. Sie können sich darauf verlassen, daß keine Zeitung von mir auch nur ein Sterbenswört chen zu dem Thema erfährt. Ich nehme mit Ge nugtuung Ihre für mich schmeichelhafte Absicht zur Kenntnis, die gleichen Vorsichtsmaßregeln wie ich zu ergreifen, um Geheimhaltung sicherzu stellen. Wenn Sie erlauben, möchte ich Ihnen in der Frage des Übersetzers einen Rat geben – nehmen Sie keinen, der Ihnen nicht persönlich sympathisch ist. Sie werden so viel mit ihm Zu sammensein, daß Sie ihn, wenn Sie ihn nicht auf Anhieb mögen, irgendwann nicht mehr werden sehen können. Was die Punkte in meinem Tagebuch angeht, die Ihnen nicht klar waren, so habe ich meine Antworten auf Ihre Fragen auf einem gesonder ten Blatt notiert. Bitte denken Sie jedoch daran, daß ich mich hier ganz auf mein Gedächtnis stüt ze, das mich zuweilen im Stich gelassen haben mag. Ich gebe die Antworten mach bestem Wissen und Gewissem. 86
Ich habe eingehend über Ihre Probleme in Deutschland nachgedacht und vermute, daß Pfar rer Weichs, der Pfarrer von Bad Schwennheim, zu den Personen zählt, mit denen Sie sich frühzeitig in Verbindung setzen werden. Als ich jedoch ver suchte, mir ins Gedächtnis zurückzurufen, was ich Ihnen über mein Gespräch mit ihm erzählt habe, wollte es mir scheinen, als hätte ich mehrere wich tige Einzelheiten ausgelassen. Mein Tagebuch gibt, wie ich weiß, nur die nackten Tatsachen. Es handelte sich um mein letztes Gespräch in Deutschland, und ich hatte es eilig, nach Hause zu kommen. Aber wie Sie sich vorstellen können, erinnere ich mich noch lebhaft an die Begegnung. Eine etwas detaillierte Schilderung mag Ihnen vielleicht von Nutzen sein. Wie bereits gesagt, unterrichtete er mich von Friedrich Schirmers Tod, und ich gab ihm eine etwas gefärbte Darstellung der Gründe, aus de nen ich mich nach dem Mann erkundigte. Dar aufhin führten wir ein Gespräch, das ich Ihnen, da es darin einigermaßen ausführlich um Johann Schirmer ging, aus dem Gedächtnis wiedergeben möchte. Pfarrer Weichs ist oder war ein hochgewachse ner, blonder Mann mit knochigem Gesicht und scharfen blauen Augen. Beileibe kein Dummkopf. Und alles andere als ein Dulder. Mein stockendes Deutsch ließ seine Gesichtsmuskeln ungeduldig zucken. Zum Glück spricht er gut Englisch, und 87
nach dem üblichen Austausch von Höflichkeiten setzten wir das Gespräch in dieser Sprache fort. »Ich hatte gehofft, Sie wären vielleicht mit ihm verwandt«, sagte er. »Er hat einmal von einem Onkel in Amerika gesprochen, den er nie gesehen habe.« »Hatte er denn hier keine Verwandten? Keine Ehefrau?« fragte ich. »Seine Frau ist vor etwa sechzehn Jahren in Schaffhausen gestorben. Sie war Schweizerin. Die beiden haben über zwanzig Jahre lang dort ge lebt. Ihr Sohn ist dort geboren worden. Aber als seine Frau starb, ist er nach Deutschland zurück gekehrt. Während seiner letzten Krankheit hat er öfter von seinem Sohn Johann gesprochen, aber er hatte ihn schon seit vielen Jahren nicht mehr ge sehen. Johann war verheiratet, und Friedrich hat te eine Zeitlang bei dem Paar gelebt, aber dann war es zum Streit gekommen, und er hatte das Haus verlassen.« »Wo haben die beiden denn gewohnt?« »In Deutschland, aber wo genau, hat er mir nicht gesagt. Das ganze Thema war sehr schmerz lich für ihn. Er hat überhaupt nur einmal davon gesprochen.« »Worüber haben sie sich denn gestritten?« Bei dieser Frage zögerte Pfarrer Weichs. Offen sichtlich kannte er die Antwort darauf. Aber er sagte lediglich: »Das kann ich nicht sagen.« »Wissen Sie es nicht?« hakte ich nach. 88
Er zögerte erneut, dann antwortete er sehr be dacht: »Friedrich Schirmer war vielleicht kein ganz so einfacher Mann, wie es den Anschein hat te. Mehr kann ich nicht sagen.« »Aha.« »De mortuis … der alte Mann war sehr krank.« »Sie haben also absolut keine Ahnung, Pater, wo Johann sich aufhalten könnte?« »Leider nein. Ich habe in den Sachen des alten Mannes nach der Adresse von jemandem gesucht, dem ich seinen Tod hätte mitteilen können, aber ich habe nichts gefunden. Er hat im Altenheim gewohnt. Laut der dortigen Leiterin hat er keine Briefe bekommen, nur seine monatliche Rente. Bekommt der Sohn denn nun das Erbe?« Auf diese Frage war ich vorbereitet. Einen Moment lang hatte ich erwogen, dem Pfarrer zu vertrauen, aber die gewohnte Vorsicht gewann die Oberhand. Ich antwortete ausweichend. »Das Geld wird treuhänderisch verwaltet«, sagte ich und wechselte das Thema, indem ich fragte, was aus Friedrichs Habseligkeiten geworden sei. »Es war nicht viel mehr als die Kleider da, in denen er begraben wurde«, sagte er. »Kein Testament?« »Nein. Ein paar Bücher und ein paar alte Pa piere – Dokumente über seinen Militärdienst, sol che Sachen. Nichts von Wert. Ich habe sie in Ver wahrung, bis die Behörden mir sagen, daß ich sie vernichten darf.« 89
Natürlich war ich entschlossen, die Sachen selbst durchzusehen, aber dazu war ein taktvolles Vorgehen erforderlich. »Ob ich sie wohl sehen dürfte, Herr Pfarrer?« fragte ich. »Es wäre viel leicht angebracht, wenn ich seinen Verwandten in Amerika sagen könnte, daß ich das getan habe.« »Gewiß, wenn Sie wünschen.« Er hatte die Papiere zusammengepackt und den Rosenkranz des Toten dazugelegt. Ich sah sie durch. Es war, wie ich Ihnen sagen muß, eine erbärm liche Kollektion. Da gab es alte Schweizer Kon zertprogramme und Kataloge von Schweizer Handelsausstellungen, ein Buchhandelsdiplom von einer Handelsschule in Dortmund und die handgeschriebene Speisekarte eines Essens, das 1910 für die deutschen Angestellten der Schaff hausener Fabrik gegeben wurde, in der er gear beitet hatte. Da gab es Antwortbriefe auf Bewer bungen um Buchhalterstellen von Geschäftshäu sern in ganz Deutschland. Der Bewerber hatte, in dieser chronologischen Reihenfolge, aus Dort mund, Mainz, Hannover, Karlsruhe und Freiburg geschrieben. Da gab es die Militärpapiere und die Dokumente in Zusammenhang mit der Rente, die er sich von seinen Ersparnissen gekauft hatte. In Momenten des Überschwangs habe ich zuweilen die Behauptung verfochten, die vermeintlich un wichtigen Dinge, die ein Mensch aufbewahrt, die privaten Erinnerungsstücke, der Plunder, den er 90
im Laufe seines Lebens anhäuft, gäben Aufschluß über die Geheimnisse seiner Seele. Falls das stimmt, muß Friedrich Schirmer ein außerge wöhnlich ereignisloses Innenleben geführt haben. Es gab zwei Fotografien – die eine von Johann und Ilse, die Sie gesehen haben, und eine zweite von der verstorbenen Frau (Friedrich) Schirmers. Ich wußte, daß ich die von Johann um jeden Preis haben mußte. Ich legte sie unauffällig wieder hin. »Nichts von Interesse, wie Sie sehen«, sagte Pfarrer Weichs. Ich nickte. »Aber ich frage mich«, sagte ich, »ob es nicht ein Akt der Mitmenschlichkeit wäre, wenn ich seinen Verwandten in Amerika eine Er innerung an ihn mitbrächte. Wenn die Sachen ohnehin vernichtet werden sollen, wäre es doch schade, nichts von ihm aufzuheben.« Er überlegte einen Moment, doch es fiel ihm nichts ein, was dagegen sprach. Er schlug den Ro senkranz vor. Ich stimmte sofort zu und brachte die Sache mit dem Foto ganz beiläufig ins Spiel. »Falls es aus irgendeinem Grunde doch gebraucht werden sollte, könnte ich es jederzeit kopieren und Ihnen das Original zurückschicken«, sagte ich. Und so nahm ich es mit. Außerdem ließ ich mir von ihm versprechen, daß er mich benachrichti gen würde, falls er irgend etwas über den Aufent haltsort von Johann Schirmer erführe. Wie Sie wissen, habe ich nie von ihm gehört. In den Früh 91
stunden des folgenden Tages überschritt die Wehrmacht die Grenze und marschierte in Polen ein. Tja, das wäre alles, mein Lieber. Meine Frau war so freundlich, mir das alles zu tippen, und ich hoffe, es wird Ihnen von Nutzen sein. Wenn ich sonst noch irgend etwas für Sie tun kann, lassen Sie es mich wissen. Und wenn Sie der Meinung sind, Sie können mich, ohne das Vertrauen Ihrer Kanzlei zu mißbrauchen, über Ihre Fortschritte informieren, würde ich mich sehr freuen, von Ih nen zu hören. Wissen Sie, von all den Schneiders und Schirmers, die ich kennenlernte, ist mir im Grunde nur der alte Wachtmeister Franz ans Herz gewachsen. Ich könnte mir vorstellen, daß er ein harter Bursche war. Was geschieht mit sol chem Blut? O ja, ich weiß, daß nur bestimmte äußere Merkmale weitergegeben werden und daß alles eine Frage der Gene und Chromosomen ist; aber falls Ihnen zufällig ein Schirmer über den Weg läuft, der einen Bart wie Franz hat, dann geben Sie mir Bescheid. Jedenfalls viel Glück. Mit freundlichen Grüßen Robert L. Moreton George faltete den Brief wieder zusammen und be sah sich das beigefügte Blatt mit den Antworten auf seine Fragen. Während er noch damit beschäftigt war, gab das Telefon an seinem Bett ein mißtönen des Schnarren von sich, und er nahm den Hörer ab. 92
»Mademoiselle Kolin möchte Sie sprechen, Sir.« »Schön. Ich komme hinunter.« Es handelte sich um die Dolmetscherin, die ihm von der Botschaft empfohlen worden war. »Miss Kolin?« hatte George gesagt. »Eine Frau?« »Ja sicher, eine Frau.« »Ich bin davon ausgegangen, daß Sie mir einen Mann besorgen. Wissen Sie, ich muß viel herumrei sen und in Hotels absteigen. Das könnte zu Pein lichkeiten führen, wenn …« »Wieso? Sie müssen ja nicht das Bett mit ihr teilen.« »Ist denn kein Mann verfügbar?« »Keiner, der so tüchtig ist wie Miss Kolin. Sie ha ben gesagt, Sie wollen jemanden, für den wir uns verbürgen können, wenn es darauf ankommt, daß seine Aussage vor einem amerikanischen Gericht anerkannt wird. Und für Miss Kolin können wir uns verbürgen. Bei wichtigen Untersuchungskom missionen setzen wir immer sie oder Miss Harle ein, genau wie die Briten. Miss Harle hat im Augenblick in Genf zu tun, also haben wir Miss Kolin genom men. Sie haben Glück, daß sie verfügbar ist.« »Na schön. Wie alt ist sie?« »Anfang Dreißig und ziemlich attraktiv.« »Um Gottes willen.« »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.« Der Mann von der Botschaft hatte auf sonderbare Weise gekichert. George hatte das Kichern überhört und sich nach näheren Einzelheiten über Miss Kolin erkundigt. 93
Sie stammte aus einer serbischen Stadt Jugoslawi ens und hatte an der Universität Belgrad studiert. Sie besaß ein geradezu phänomenales Sprachtalent. Ein britischer Major, der für eine Hilfsorganisation arbeitete, hatte sie 1945 in einem Flüchtlingslager entdeckt und als Sekretärin eingestellt. Später hatte sie als Dolmetscherin für eine Gruppe amerikani scher Juristen gearbeitet, die mit der Vorbereitung der Nürnberger Prozesse beschäftigt war. Als deren Arbeit endete, hatte einer der Juristen, der sowohl von ihren Fähigkeiten als Sekretärin als auch von ihrer Mehrsprachigkeit beeindruckt war, sie der In ternational Standardizing Organisation und der Amerikanischen Botschaft in Paris empfohlen und ihr geraten, sich als Übersetzerin und Dolmetsche rin anzubieten. Sie hatte sich bald durchgesetzt. Dank der Schnelligkeit und Zuverlässigkeit ihrer Arbeit hatte sie auf internationalen Handelskonfe renzen inzwischen einen soliden Ruf. Ihre Dienste waren sehr gefragt. In der Eingangshalle des Hotels warteten mehre re Frauen, so daß George den Portier bitten mußte, ihm seine Besucherin zu zeigen. Maria Kolin war in der Tat attraktiv. Figur und Haltung waren von der Art, die auch billige Klei dung gut zur Geltung kommen läßt. Ihre Gesichts züge waren markant, der braune Teint kontrastierte mit glattem, strohblondem Haar. Sie hatte auffal lende Augen mit schweren Lidern. An Make-up trug sie nur Lippenstift, den sie jedoch kräftig auf 94
getragen hatte. Sie wirkte, als wäre sie gerade aus dem Skiurlaub zurückgekehrt. Doch obwohl sie offenbar gesehen hatte, wie der Portier sie ihm zeigte, blickte sie weiter ins Leere, während George auf sie zukam, und reagierte, als er sie ansprach, mit einem überraschten Zusammen fahren, das unecht wirkte. »Miss Kolin? Ich bin George Carey.« »Angenehm.« Sie berührte die Hand, die er ihr entgegenstreckte, als wäre es eine zusammengerollte Zeitung. »Freut mich, daß Sie kommen konnten«, sagte George. Sie zuckte steif die Achseln. »Sie möchten selbst verständlich mit mir sprechen, ehe Sie entscheiden, ob Sie mich engagieren.« Ihr Englisch war sehr klar und präzise und hatte nur einen winzigen Anflug von Akzent. »In der Botschaft hat man mir gesagt, Sie seien sehr beschäftigt und ich könne mich glücklich schätzen, daß Sie verfügbar sind.« Er legte so viel Freundlichkeit in sein Lächeln, wie er konnte. Sie blickte geistesabwesend an ihm vorbei. »So?« George merkte, daß er sich über sie zu ärgern be gann. »Wollen wir uns irgendwohin setzen und uns unterhalten, Miss Kolin?« »Gewiß.« Er ging ihr durch die Eingangshalle voran zu ei ner bequemen Sitzgruppe in der Nähe der Bar. Sie folgte ihm etwas zu langsam. Seine Gereiztheit 95
nahm zu. Sie mochte eine attraktive Frau sein, aber sie hatte keinen Grund, sich zu verhalten, als wehre sie einen plumpen Annäherungsversuch ab. Sie war wegen einer Arbeit hier. Wollte sie sie, oder wollte sie sie nicht? Wenn nicht, warum verschwendete sie dann ihre Zeit und kam hierher? »Also, Miss Kolin«, sagte er, als sie sich setzten. »Was haben die Leute von der Botschaft Ihnen schon über diesen Job gesagt?« »Daß Sie nach Deutschland fahren wollen, um dort im Zusammenhang mit einem Rechtsstreit mit verschiedenen Leuten zu reden. Daß Sie wörtliche Niederschriften der übersetzten Gespräche haben wollen. Daß es später erforderlich werden könnte, sich in einer amerikanischen Botschaft einzufinden, um diese Übersetzungen beglaubigen zu lassen. Daß Sie mich für einen Zeitraum von mindestens einem und höchstens drei Monaten brauchen wür den. Ich würde jeweils monatlich mein normales Honorar bekommen, außerdem Reise- und Hotel spesen.« Wieder sah sie hocherhobenen Kopfes an ihm vorbei – eine Dame von Stand, die von einem lüsternen Proleten belästigt wird. »Ja, das kommt in etwa hin«, sagte George. »Hat man Ihnen auch gesagt, um was für einen Rechts streit es geht?« »Es hieß nur, daß es sich um eine höchst vertrau liche Angelegenheit handelt und daß Sie mir sicher lich erklären würden, was ich darüber wissen müß te.« Ein schwaches, gleichgültiges Lächeln – was die 96
Männer mit ihren kleinen Geheimnissen doch für Kindsköpfe sind. »Richtig. Was für einen Paß haben Sie, Miss Ko lin?« »Einen französischen.« »Ich dachte, Sie seien Jugoslawin.« »Ich bin naturalisierte Französin. Mein Paß ist für Deutschland gültig.« »Das war’s, was ich wissen wollte.« Sie nickte, blieb jedoch stumm. Bei aller Geduld mit den geistig Schwerfälligen mußte man ihnen nicht auch noch um den Bart gehen. George lagen in diesem Moment mehrere Sätze auf der Zunge, die meisten dazu angetan, das Ge spräch zu einem jähen Ende zu bringen. Er schluck te sie hinunter. Bloß weil sie nicht so tat, als wäre sie dümmer oder auf die Arbeit mehr erpicht, als sie in Wirklichkeit war, mußte er sie nicht beleidigen. Sie hatte ein ungeschicktes Auftreten. Na gut! War sie damit auch eine schlechte Dolmetscherin? Was erwartete er eigentlich von ihr? Daß sie kroch? Er bot ihr eine Zigarette an. Sie schüttelte den Kopf. »Danke, ich rauche lieber diese.« Sie zog ein Päckchen Gitanes hervor. Er gab ihr Feuer. »Haben Sie noch irgendwelche Fragen zu dem Job, die Sie mir stellen möchten?« fragte er. »Ja.« Sie blies Rauch aus. »Haben Sie Erfahrun gen in der Arbeit mit Dolmetschern, Mr. Carey?« »Überhaupt keine.« 97
»Aha. Sprechen Sie etwas Deutsch?« »Ganz wenig, ja.« »Wie wenig? Ich stelle die Frage nicht ohne Grund.« »Das habe ich auch nicht angenommen. Tja, mein bißchen Deutsch habe ich auf der High-School ge lernt. Nach dem Krieg war ich ein paar Monate lang in Deutschland stationiert und habe dort ziemlich viel Deutsch sprechen hören. Bei Gesprächen zwi schen Deutschen bekomme ich meistens mit, wor um es in etwa geht, aber manchmal mißverstehe ich es auch so gründlich, daß ich ohne weiteres der Meinung sein kann, ich höre einer politischen Aus einandersetzung zu, während es in Wirklichkeit um die Feinheiten der Hühnerzucht geht. Beantwortet das Ihre Frage?« »Klar und deutlich. Ich will Ihnen erklären, war um ich gefragt habe. Wenn Sie mit einem Dolmet scher arbeiten, läßt es sich nicht immer vermeiden, daß Sie auch das Gespräch mit anhören, das über setzt wird. Das kann zu Verwirrung führen.« »Soll heißen, es ist besser, der Dolmetscherin zu vertrauen und ihr nicht ins Handwerk zu pfuschen.« »Genau.« Der Barkeeper drückte sich im Hintergrund her um. George ignorierte ihn. Das Gespräch war so gut wie beendet, und er wollte es nicht noch verlän gern. Ihre Zigarette war zur Hälfte geraucht. Wenn sie noch einen weiteren Zentimeter herunterge brannt war, würde er aufstehen. 98
»Ich nehme an, Sie kennen Deutschland ziemlich gut, Miss Kolin.« »Nur bestimmte Gegenden.« »Das Rheinland?« »Ein bißchen.« »Wie ich höre, haben Sie bei der Vorbereitung der Nürnberger Prozesse mitgewirkt.« »Ja.« »Für Sie als Jugoslawin muß das eine große Ge nugtuung gewesen sein.« »Meinen Sie, Mr. Carey?« »Sie billigen die Prozesse nicht?« Sie senkte den Blick auf ihre Zigarette. »Die Deutschen haben meinen Vater als Geisel genom men und erschossen«, sagte sie knapp. »Sie haben meine Mutter und mich zur Arbeit in eine Fabrik in Leipzig geschickt. Meine Mutter ist dort an ei ner Blutvergiftung gestorben, weil man sich gewei gert hat, die infizierte Wunde zu behandeln. Was mit meinen Brüdern passiert ist, weiß ich nicht ge nau, nur daß sie schließlich in einer SS-Kaserne in Zagreb zu Tode gefoltert worden sind. O doch, ich billige die Prozesse durchaus. Wenn die Vereinten Nationen sich dadurch stark und rechtschaffen vorkommen, billige ich sie ganz bestimmt. Aber erwarten Sie nicht von mir, daß ich Beifall klat sche.« »Ja, ich verstehe, daß Sie sich eine persönlichere Vergeltung gewünscht haben müssen.« Sie hatte sich vorgebeugt, um ihre Zigarette aus 99
zudrücken. Nun drehte sie langsam den Kopf, und ihre Blicke trafen sich. »Leider kann ich Ihren Glauben an die Gerech tigkeit nicht teilen, Mr. Carey«, sagte sie. Ein merkwürdiges, gequältes Lächeln lag auf ih ren Lippen. Ihm wurde plötzlich klar, daß er kurz davor stand, die Beherrschung zu verlieren. Sie stand auf und blieb vor ihm stehen, um ihren Rock glattzustreichen. »Möchten Sie sonst noch etwas wissen?« fragte sie ruhig. »Nein, danke, ich glaube nicht.« Er stand auf. »Es war sehr freundlich von Ihnen, daß Sie hergekom men sind, Miss Kolin. Ich weiß noch nicht genau, wann ich Paris verlassen werde. Ich setze mich mit Ihnen in Verbindung, wenn es soweit ist.« »Natürlich.« Sie griff nach ihrer Handtasche. »Auf Wiedersehen, Mr. Carey.« »Auf Wiedersehen, Miss Kolin.« Mit einem Nicken ging sie. Er betrachtete noch einen Moment lang die Ziga rette, die sie ausgedrückt hatte, und den Lippenstift daran; dann ging er zum Fahrstuhl und fuhr zu sei nem Zimmer hinauf. Er rief umgehend den Mann von der Botschaft an. »Ich habe gerade mit Miss Kolin gesprochen«, sagte er. »Gut. Alles geregelt?« »Nein, nichts ist geregelt. Hören Sie, Don, kann ich nicht jemand anderen bekommen?« »Was haben Sie denn an Miss Kolin auszusetzen?« 100
»Ich weiß auch nicht, was es ist, aber ich mag sie einfach nicht.« »Sie haben sie wohl an einem ihrer schlechten Tage erwischt. Ich habe Ihnen doch gesagt, daß sie als Flüchtling ein paar ziemlich unschöne Erlebnisse gehabt hat.« »Hören Sie, ich habe mit vielen Flüchtlingen ge redet, die unschöne Erlebnisse gehabt haben. Aber bisher noch mit keinem, der Sympathien für die Ge stapo in mir geweckt hat.« »Zu dumm. Ihre Arbeit ist allerdings okay.« »Sie aber nicht.« »Sie wollten den besten Dolmetscher, der zur Verfügung steht.« »Ich nehme den zweitbesten.« »Keiner, der mit Miss Kolin gearbeitet hat, hat sich jemals anders als lobend über sie geäußert.« »Für Konferenzen und Komitees mag sie hervor ragend sein. Aber hier geht es um etwas anderes.« »Was ist denn so anders daran? Sie sind doch nicht auf Urlaub hier, oder?« Mittlerweile lag ein Anflug von Gereiztheit in der Stimme. George zögerte. »Nein, aber …« »Angenommen, es kommt später zu einer Aus einandersetzung über die Zeugenaussage. Dann werden Sie ziemlich blöd dastehen, wenn Sie erklä ren müssen, daß Sie sich die Chance, eine zuverläs sige Dolmetscherin zu bekommen, haben entgehen lassen, bloß weil sie Ihnen persönlich nicht sympa thisch war, oder, George?« 101
»Na ja, ich …« George hielt inne und seufzte dann. »Okay – wenn ich als schwerer Alkoholiker wiederkomme, schicke ich Ihnen die Arztrechnun gen.« »Wahrscheinlich werden Sie das Mädchen am Ende heiraten.« George lachte höflich und legte auf. Zwei Tage später reisten er und Maria Kolin nach Deutschland ab.
5
I
m Jahre 1939 ist in Bad Schwennheim ein Buch halter namens Friedrich Schirmer gestorben. Er hatte einen Sohn namens Johann. Machen Sie diesen Sohn ausfindig. Falls er tot sein sollte, dann machen Sie seinen Erben ausfindig. So lauteten Georges Anweisungen. Wahrscheinlich gab es Tausende von Johann Schirmers in Deutschland, doch von dem einen wußte man so einiges. Er war um 1895 in Schaff hausen geboren. Er hatte eine Frau geheiratet, deren Vorname Ilse lautete. Anfang der zwanziger Jahre war ein Foto von den beiden gemacht worden. George hatte einen Abzug davon. Für eine eindeu tige Identifizierung würde das Bild zum jetzigen Zeitpunkt wahrscheinlich wenig nützen, aber es könnte dazu beitragen, daß ehemalige Nachbarn und Bekannte sich an das Paar erinnerten. Die äuße re Erscheinung prägt sich normalerweise besser ein als der Name. Auch das Foto selbst lieferte einen kleinen Hinweis; aus dem Stempel des Fotografen auf dem Abzug ging hervor, daß es in Zürich aufge nommen worden war. Der erste Schritt in dem Schlachtplan, den Mr. Si 103
strom für George entworfen hatte, bestand jedoch, wie von Mr. Moreton vermutet, darin, nach Bad Schwennheim zu fahren und die Nachforschungen dort wieder aufzunehmen, wo sie abgebrochen worden waren. Bei seinem Tod war Friedrich Schirmer seinem Sohn schon mehrere Jahre lang entfremdet gewesen; doch es bestand immerhin die Möglichkeit, daß der Krieg alles geändert hatte. In Notzeiten neigten Familien dazu, zusammenzurücken. Es wäre ganz normal gewesen, hatte Mr. Sistrom behauptet, wenn Johann versucht hätte, sich zu dieser Zeit mit sei nem Vater in Verbindung zu setzen. Falls er das ge tan hätte, wäre er amtlicherseits von dessen Tod in Kenntnis gesetzt worden. Darüber gebe es mögli cherweise einen Aktenvermerk, der auch seine Adresse enthalte. Zwar hatte Mr. Moreton aus Bad Schwennheim nichts zu diesem Thema gehört, aber das hieß gar nichts. Womöglich hatte der Pfarrer sein Versprechen vergessen oder sich nicht daran gebunden gefühlt; sein Brief könnte in den unsiche ren Kriegszeiten verlorengegangen sein; vielleicht war er als Militärgeistlicher zur Wehrmacht gegan gen. Es gab da unzählige Möglichkeiten. Im Zug nach Basel setzte George dies alles Miss Kolin auseinander. Sie hörte aufmerksam zu. Als er fertig war, nickte sie. »Ja, ich verstehe. Sie dürfen natürlich keine Mög lichkeit außer acht lassen.« Sie hielt inne. »Erhoffen Sie sich viel von Bad Schwennheim, Mr. Carey?« 104
»Nein, nicht viel. Ich weiß nicht genau, wie das deutsche Verfahren aussieht, aber ich würde sagen, daß die Behörden sich nicht gerade ein Bein ausrei ßen, um Verwandte ausfindig zu machen und zu benachrichtigen, wenn ein alter Mann wie Friedrich stirbt. Bei uns wäre das jedenfalls nicht so. Wozu auch? Einen Nachlaß gibt es nicht. Und angenom men, Johann hat geschrieben. Dann wäre der Brief an das Sanatorium gegangen und höchstwahrschein lich mit dem Vermerk ›Adressat verstorben‹, oder was immer man dort draufschreibt, wieder zurück gegangen. Es ist ohne weiteres möglich, daß der Pfarrer gar nichts davon erfahren hätte.« Sie schürzte die Lippen. »Schon eine merkwürdi ge Geschichte mit dem alten Mann.« »Ach was. Dergleichen kommt jeden Tag vor.« »Sie sagen, Mr. Moreton habe bei den Papieren des alten Mannes außer dem einen Foto nichts von dem Sohn gefunden. Keine Briefe, keine anderen Fotos außer dem von seiner verstorbenen Frau, nichts. Sie hätten sich zerstritten, heißt es. Es wäre interessant zu erfahren, warum.« »Wahrscheinlich hat die Frau es satt gehabt, ihn um sich zu haben.« »Woran ist er eigentlich gestorben?« »Irgendein Blasenleiden.« »Bestimmt hat er gewußt, daß er todkrank ist, und trotzdem hat er seinem Sohn vor dem Ende nicht geschrieben und auch den Pfarrer nicht darum gebeten.« 105
»Vielleicht war es ihm einfach egal.« »Vielleicht.« Sie überlegte einen Moment. »Wis sen Sie, wie der Pfarrer heißt?« »Das war ein gewisser Weichs.« »Dann, denke ich, könnten Sie schon vor der Fahrt nach Bad Schwennheim Erkundigungen ein ziehen. Sie könnten beim Erzbischöflichen Ordina riat in Freiburg erfahren, ob Pfarrer Weichs noch dort ist. Wenn er es nicht mehr ist, wird man Ihnen sagen können, wo er sich aufhält. Auf diese Weise könnten Sie viel Zeit sparen.« »Das ist ein guter Gedanke, Miss Kolin.« »Vielleicht können Sie in Freiburg auch feststel len, ob die Habseligkeiten des alten Mannes von ei nem Verwandten beansprucht worden sind.« »Um das herauszufinden, werden wir wohl nach Bad Schwennheim fahren müssen, aber wir können es in Freiburg versuchen.« »Sie haben doch nichts dagegen, daß ich solche Vorschläge mache, Mr. Carey?« »Keineswegs. Ganz im Gegenteil, sie sind sehr nützlich.« »Danke.« George hielt es nicht für nötig zu erwähnen, daß ihm die Ideen, die sie vorgebracht hatte, bereits selbst gekommen waren. Er hatte sich einige Ge danken über Miss Kolin gemacht, seit er sich wider strebend entschlossen hatte, sie zu engagieren. Er mochte sie nicht, und wenn man Mr. Moreton glauben durfte, würde er sie am Ende hassen. Sie 106
war jemand, für den er sich nicht freiwillig ent schieden hatte. Sie war ihm im Grunde aufgezwun gen worden. Deshalb wäre es sinnlos, sich ihr ge genüber so zu verhalten, als könnte sie – wie etwa eine gute Sekretärin – so etwas wie sein verlängerter Arm sein. Sie befand sich eher in der Position eines unsympathischen Kollegen, mit dem man korrekt zusammenarbeiten muß, bis eine bestimmte Arbeit erledigt ist. Er war solchen Situationen schon in der Armee begegnet und gelassen damit umgegangen; es gab keinen Grund, warum er nicht auch mit dieser gelassen umgehen sollte. So hatte er sich auf das Schlimmste gefaßt ge macht und war, als Miss Kolin sich an jenem Mor gen mit Koffer und Reiseschreibmaschine auf der Gare de l’Est einfand, angenehm überrascht worden. Zwar war sie den Bahnsteig entlangmarschiert, als sollte sie vor ein Erschießungskommando gestellt werden, und hatte ein Gesicht gemacht, als wäre sie an diesem Tag schon mehrmals beleidigt worden, aber sie hatte ihn durchaus freundlich begrüßt und ihn dann damit verblüfft, daß sie eine ausgezeichnete Karte von Westdeutschland hervorzog, auf die sie zu seiner Orientierung die Grenzen der verschiede nen Besatzungszonen eingezeichnet hatte. Sie hatte seine offenkundig zurückhaltenden Er klärungen zu dem Fall mit geschäftsmäßigem Ver ständnis aufgenommen und sich hellwach und prak tisch gezeigt, als er ihr im einzelnen auseinander setzte, welcher Art die Arbeit war, die sie in 107
Deutschland zu erledigen hatten. Nun machte sie in telligente und nützliche Vorschläge. Miss Kolin bei der Arbeit war offensichtlich ein ganz anderer Mensch als Miss Kolin beim Einstellungsgespräch. Vielleicht hatte der Mann von der Botschaft auch recht gehabt, und George konnte sich, nachdem er seinerzeit einen ihrer schlechten Tage erwischt hatte, nun an einem guten freuen. Falls es so war, wäre es günstig, herauszufinden, wie sich die schlechten, wenn überhaupt, vermeiden ließen. Bis dahin konnte er nur hoffen. Nach zwei guten Tagen in Freiburg hatte sich seine Einstellung gegenüber seiner Mitarbeiterin ein weiteres Mal geändert. Er mochte sie nach wie vor nicht, hatte aber Achtung vor ihren Fähigkeiten be kommen, was jedenfalls vom beruflichen Stand punkt aus bei weitem tröstlicher war. Binnen zwei Stunden nach ihrer Ankunft hatte sie herausgefun den, daß Pfarrer Weichs 1943 von Bad Schwenn heim weggegangen und einem Ruf an das Hospital vom Heiligen Herzen, einer Einrichtung für Behin derte bei Stuttgart, gefolgt war. Bis zum Abend des folgenden Tages hatte sie festgestellt, daß man Friedrich Schirmers Habseligkeiten gemäß einem Gesetz über testamentlos verstorbene Arme ver nichtet hatte und daß als nächster Verwandter des Verstorbenen ein »Johann Schirmer, Sohn, Aufent haltsort unbekannt« in den Akten stand. Anfangs hatte George noch versucht, jeden Schritt der Nachforschungen selbst zu leiten, doch 108
während man sie von einem Beamten zum nächsten weiterreichte, wurde die mühevolle, zeitraubende Prozedur von Frage und Übersetzung, gefolgt von Antwort und Übersetzung, absurd. Auf seinen Vor schlag hin gab sie nur noch den wesentlichen Inhalt von Unterredungen wieder. Dann hatte sie mitten in einem Gespräch mit einmal ungeduldig abgebro chen. »Das ist nicht der richtige Gesprächspartner«, hatte sie ihm gesagt. »Sie verschwenden hier nur Ih re Zeit. Ich denke, es gibt eine einfachere Methode.« Danach hatte er sich zurückgehalten und sie ma chen lassen. Sie war mit beträchtlicher Energie und Selbstsicherheit zu Werke gegangen. Ihr Umgang mit Menschen war schlicht, aber effektiv. Den Ko operativen gegenüber war sie forsch, den Unwilli gen gegenüber gebieterisch, und für die Argwöhni schen hatte sie ein strahlendes, kaltes Lächeln. In Amerika, befand George, hätte dieses Lächeln kei nen sexhungrigen Schuljungen betört, aber in Deutschland schien es zu wirken. Sein endgültiger Triumph bestand darin, daß es einen mürrischen Polizeibeamten bewog, nach Baden-Baden zu tele fonieren und die Gerichtsakte über Friedrich Schirmers Nachlaß anzufordern. Das alles war sehr zufriedenstellend, und George sagte ihr das auch in möglichst wohlgesetzten Wor ten. Sie zuckte die Achseln. »Ich finde es unnötig, daß Sie Ihre Zeit mit diesen einfachen Routineanfragen 109
vergeuden. Wenn Sie meinen, mir soweit vertrauen zu können, daß ich das übernehmen kann, dann will ich es gerne tun.« An diesem Abend fand er etwas noch Beunruhi genderes über Miss Kolin heraus. Sie hatten es sich angewöhnt, beim Abendessen kurz darüber zu sprechen, was am nächsten Tag zu tun war. Hinterher pflegte sie auf ihr Zimmer zu ge hen, und George schrieb Briefe oder las. An diesem Abend jedoch waren sie vor dem Essen an der Bar mit einem Schweizer Geschäftsmann ins Gespräch gekommen, der sie später an seinen Tisch bat. Er hatte ganz offensichtlich die Absicht, Miss Kolin herumzukriegen, falls sich dies ohne allzu großen Aufwand machen ließ und George keine Einwände dagegen hatte. George hatte keine. Der Mann war sympathisch und sprach gut Englisch; George war neugierig, wie erfolgreich er sein würde. Miss Kolin hatte schon vor dem Essen vier Ko gnaks getrunken, der Schweizer mehrere Pernods. Zum Essen trank sie Wein, der Schweizer ebenso. Nach dem Essen lud er sie wieder zum Kognak ein und bestellte wieder doppelte. Sie trank vier. Der Schweizer ebenso. Beim zweiten wurde er auf nek kische Weise zudringlich und versuchte ihr Knie zu streicheln. Sie wehrte den Vorstoß geistesabwesend, aber gekonnt ab. Bis er mit seinem dritten fertig war, ließ er eine bittere Tirade über die amerikani sche Finanzpolitik auf George los. Kurz nach sei nem vierten wurde er plötzlich kreidebleich, ent 110
schuldigte sich hastig und kam nicht wieder. Mit ei nem Nicken zum Kellner hin bestellte sich Miss Kolin einen fünften. George war zuvor schon aufgefallen, daß sie ger ne Kognak trank und selten etwas anderes bestellte. Ihm war, als sie in Basel durch den Zoll gegangen waren, sogar aufgefallen, daß sie in ihrem Koffer ei ne Flasche davon mit sich führte. Er hatte allerdings nie bemerkt, daß der Kognak irgendeine Wirkung auf sie hatte. Hätte man ihn zu diesem Thema be fragt, hätte er gesagt, sie sei ein Muster an Nüch ternheit. Nun beobachtete er sie fasziniert, während sie an ihrem fünften Glas nippte. Hätte er mitgehalten, das wußte er, dann läge er mittlerweile unterm Tisch. Sie wurde noch nicht einmal redselig. Sie saß sehr aufrecht auf ihrem Stuhl und wirkte wie eine attrak tive, aber sehr prüde junge Schullehrerin, die sich zum erstenmal mit einem Fall von jugendlichem Exhibitionismus auseinandersetzen muß. In einem Mundwinkel hatte sie ein wenig Speichel. Sie leckte ihn säuberlich mit der Zungenspitze auf. Ihr Blick war glasig. Sie richtete ihn mit Bedacht auf George. »Morgen fahren wir also zu dem Sanatorium nach Bad Schwennheim?« fragte sie sorgfältig arti kuliert. »Nein, ich glaube nicht. Wir besuchen zuerst Pfarrer Weichs in Stuttgart. Wenn er etwas weiß, ist es vielleicht unnötig, nach Schwennheim zu fah ren.« 111
Sie nickte. »Ich glaube, Sie haben recht, Mr. Ca rey.« Sie betrachtete einen Moment lang ihren Kognak, trank ihn in einem Zug aus und erhob sich, ohne zu wanken. »Gute Nacht, Mr. Carey«, sagte sie dezidiert. »Gute Nacht, Miss Kolin.« Sie griff nach ihrer Handtasche, drehte sich um und visierte die Tür an. Dann ging sie schnurgerade darauf zu. Sie verfehlte um Haaresbreite einen Tisch. Sie schwankte nicht. Sie taumelte nicht. Das Ganze war ein Wunder an Selbstkontrolle. George sah, wie sie das Restaurant verließ, Kurs auf den Empfang nahm, sich ihren Zimmerschlüssel geben ließ und die Treppe hinauf verschwand. Ein zufälli ger Betrachter wäre kaum auf den Gedanken ge kommen, daß sie etwas Stärkeres als ein Glas Rheinwein getrunken haben könnte. Das Hospital vom Heiligen Herzen erwies sich als düsterer Ziegelbau etwas außerhalb von Stuttgart, an der Straße nach Heilbronn. George hatte vorsorglich ein langes Telegramm an Pfarrer Weichs geschickt. Darin hatte er an Mr. Moretons Besuch in Bad Schwennheim im Jahre 1939 erinnert und den Wunsch geäußert, selbst die Bekanntschaft des Pfarrers zu machen. Man ließ ihn und Miss Kolin nur ein paar Minuten warten, ehe eine Nonne erschien und sie durch ein Labyrinth steinerner Flure zum Zimmer des Pfarrers führte. 112
George wußte noch, daß Pfarrer Weichs gut Eng lisch sprach, aber er hielt es für ein Gebot der Höf lichkeit, auf deutsch zu beginnen. Die scharfen blau en Augen des Pfarrers huschten von einem zum an deren, während Miss Kolin Georges wohlgesetzte Erklärung für ihre Anwesenheit übersetzte und daß er hoffe, sein Telegramm (das er auf dem Tisch des Pfarrers liegen sah) sei eingetroffen und erinnere ihn, den Pfarrer, an ein Ereignis im Jahre 1939, als … Pater Weichs’ Kiefermuskeln hatten beim Zuhö ren ungeduldig gezuckt. Nun unterbrach er auf englisch. »Ja, Mr. Carey. Ich erinnere mich an den Herrn, und Ihr Telegramm habe ich auch bekommen, wie Sie sehen. Bitte nehmen Sie Platz.« Er deutete auf zwei Stühle und ging an seinen Tisch zurück. »Ja«, sagte er. »Ich erinnere mich sehr gut an den Herrn. Dazu hatte ich auch allen Grund.« Ein schiefes Lächeln furchte die hageren Wangen. Es war ein schönes, ausdrucksstarkes Gesicht, fand George. Zunächst war man überzeugt, daß sein Träger ein hohes Amt in der Kirche bekleiden müs se; dann bemerkte man die rissigen, klobigen Schu he unter dem Tisch, und die Illusion verschwand. »Ich soll Sie von ihm grüßen«, sagte George. »Danke. Sind Sie in seinem Namen hier?« »Leider ist Mr. Moreton krank und hat sich mitt lerweile zur Ruhe gesetzt.« Es war schwierig, in Gegenwart von Pater Weichs nicht in einen gestelz ten Ton zu verfallen. 113
»Das tut mir natürlich leid.« Der Priester neigte höflich den Kopf. »Allerdings war es nicht der Gentleman selbst, der mir besonderen Anlaß liefer te, mich seiner zu erinnern. Bedenken Sie! Ein ein samer alter Mann stirbt. Ich bin sein Beichtvater. Mr. Moreton kommt zu mir und stellt Fragen über ihn. Das ist alles. Es ist nicht so ungewöhnlich, wie Sie glauben. Ein alter Mensch, der jahrelang von seinen Verwandten vernachlässigt worden ist, wird häufig interessant für sie, wenn er stirbt. Zwar pas siert es nicht oft, daß ein amerikanischer Anwalt kommt, aber auch das ist an sich noch nicht bemer kenswert. Es gibt viele deutsche Familien, die Ver bindungen zu Ihrem Land haben.« Er hielt inne. »Aber der Vorfall wird dann denkwürdig«, fügte er trocken hinzu, »wenn sich herausstellt, daß die Po lizei ihn wichtig nimmt.« »Die Polizei?« George gab sich alle Mühe, nicht so schuldbewußt dreinzuschauen, wie er sich mit einmal fühlte. »Überrascht Sie das, Mr. Carey?« »Sehr. Mr. Moreton hat im Namen eines absolut achtbaren amerikanischen Mandanten Nachfor schungen in einer Erbschaftsangelegenheit ange stellt …«, begann George. »Eine Erbschaftsangelegenheit«, unterbrach der Priester, »bei der es, wie er behauptete, um einen kleinen Geldbetrag ging.« Er hielt inne und bedach te George mit einem frostigen Lächeln, ehe er fort fuhr. »Mir ist natürlich klar, daß Größe relativ ist 114
und daß sie in Amerika nicht mit europäischen Maßstäben gemessen wird, aber mir scheint es auch für amerikanische Verhältnisse untertrieben, bei drei Millionen Dollar von einem kleinen Geldbetrag zu sprechen.« Aus dem Augenwinkel sah George, wie Miss Ko lin ausnahmsweise einmal verblüfft dreinschaute; aber das war in diesem Moment nur eine schwache Genugtuung. »Mr. Moreton war in einer schwierigen Lage, Herr Pfarrer«, sagte er. »Er mußte diskret sein. Die amerikanischen Zeitungen hatten bereits für Ärger gesorgt, indem sie viel zuviel Rummel um die Sache machten. Es waren jede Menge falsche Ansprüche erhoben worden. Außerdem lag der Fall sehr kom pliziert. Mr. Moreton wollte niemandem Hoffnun gen machen, die er dann vielleicht enttäuschen mußte.« Der Priester runzelte die Stirn. »Seine Diskretion hat mich gegenüber der Polizei in eine sehr gefährli che Lage gebracht. Und auch anderen Behörden ge genüber«, fügte er düster hinzu. »Ich verstehe. Das tut mir leid, Herr Pfarrer. Ich denke, wenn Mr. Moreton das gewußt hätte …« Er brach ab. »Wären Sie so freundlich, mir zu erzählen, was passiert ist?« »Wenn es von Interesse für Sie ist. Kurz vor Weihnachten 1940 kam die Polizei zu mir und stell te mir Fragen über Mr. Moretons Besuch im Jahr zuvor. Ich sagte ihnen, was ich wußte. Sie schrieben 115
es auf und gingen wieder. Zwei Wochen später ka men sie mit ein paar anderen Männern zurück, die nicht von der Polizei, sondern von der Gestapo wa ren. Sie nahmen mich nach Karlsruhe mit.« Sein Gesicht verhärtete sich. »Sie beschuldigten mich, ich hätte gelogen, was Mr. Moretons Besuch anging. Es handele sich um eine Angelegenheit von höch ster Wichtigkeit für das Reich. Wenn ich ihnen nicht sagte, was sie wissen wollten, erginge es mir wie einigen meiner Glaubensbrüder.« Er hatte den Blick auf seine Hände gesenkt. Nun hob er den Kopf und sah George in die Augen. »Vielleicht können Sie sich denken, was sie wissen wollten, Mr. Carey.« George räusperte sich. »Ich würde sagen, sie wollten Auskünfte über jemanden namens Schnei der.« Der Priester nickte. »Richtig, jemanden namens Schneider. Sie sagten, Mr. Moreton habe nach dieser Person gesucht und ich verschwiege, was ich wüßte. Sie waren überzeugt, daß ich wußte, wo diese Per son, die Anspruch auf das amerikanische Geld hat te, sich befand, und daß Mr. Moreton mein Still schweigen erkauft hatte, damit das Geld an einen Amerikaner ging.« Er zuckte die Achseln. »Das Traurige an schlechten Menschen ist, daß sie keine Wahrheit glauben können, die die Welt nicht in ih ren Farben malt.« »Für Friedrich Schirmer haben sie sich nicht in teressiert?« 116
»Nein. Letzten Endes waren sie wohl davon überzeugt, daß das ein Trick von Mr. Moreton war, um sie irrezuführen. Ich weiß es nicht. Vielleicht hatten sie auch nur einfach genug von mir. Jeden falls ließen sie mich gehen. Aber Sie sehen nun, daß ich Grund habe, mich an Mr. Moreton zu erin nern.« »Ja. Aber ich sehe nicht, wie er die Schwierigkei ten, in die er Sie gebracht hat, hätte voraussehen können.« »Oh, ich empfinde keinerlei Bitterkeit, Mr. Ca rey.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Aber ich würde gern die Wahrheit erfahren.« George zögerte. »Friedrich Schirmers Familie war ein Zweig der fraglichen Familie Schneider. Die genaue Verbindung zu erklären würde zuviel Zeit erfordern, aber ich kann Ihnen sagen, daß die deut sche Regierung nichts davon wußte.« Der Priester lächelte. »Wie ich sehe, ist es also immer noch erforderlich, diskret zu sein.« George errötete. »Ich bin so offen, wie ich kann, Herr Pfarrer. Der Fall war von Anfang an ziemlich seltsam. Es haben sich schon so viele falsche An spruchsteller gemeldet, daß es, selbst wenn ein legi timer Erbe gefunden würde, mittlerweile enorm schwierig wäre, den Anspruch vor einem amerika nischen Gericht durchzusetzen. Tatsache ist, daß al ler Wahrscheinlichkeit nach niemals ein Anspruch durchgesetzt werden wird. Das Geld wird einfach an den Staat Pennsylvania fallen.« 117
»Warum sind Sie dann hier, Mr. Carey?« »Einmal deshalb, weil die Kanzlei, für die ich ar beite, in dieser Angelegenheit Nachfolgerin von Mr. Moreton wurde. Zum anderen, weil es unsere Pflicht ist, den Erben zu finden. Und drittens, weil die Angelegenheit aufgeklärt werden muß, damit unsere Kanzlei ihr Honorar bekommt.« »Das ist wenigstens ehrlich.« »Vielleicht sollte ich noch hinzufügen, daß, wenn es denn einen rechtmäßigen Erben gibt, er oder sie auch das Geld bekommen sollte und nicht der Staat Pennsylvania. Die Bundesregierung und der Einzel staat werden am Ende ohnehin das meiste in Form von Steuern abschöpfen, aber es gibt keinen Grund, warum nicht auch jemand anders seine Freude dar an haben sollte.« »Mr. Moreton hat von einem Treuhänder gespro chen.« »Tja …« »Aha, ich verstehe. Das war also auch Diskretion.« »Ich fürchte, ja.« »War denn Friedrich Schirmer der rechtmäßige Erbe?« »Nach Mr. Moretons Ansicht schon.« »Warum hat Mr. Moreton dann die Gerichte nicht entsprechend informiert?« »Weil Friedrich Schirmer tot war und weil Mr. Moreton befürchtete, daß die deutsche Regierung, falls sich herausstellte, daß Friedrich keinen leben den Erben hatte, einen falschen vorschieben würde, 118
um an das Geld zu kommen. Sie haben ja auch tat sächlich einen alten Mann präsentiert, von dem sie behaupteten, er wäre der Erbe. Mr. Moreton hat den Anspruch über ein Jahr lang angefochten.« Pfarrer Weichs blieb einen Augenblick stumm, dann seufzte er. »Na schön. Und wie kann ich Ih nen jetzt helfen, Mr. Carey?« »Mr. Moreton hat gesagt, Sie hätten ihm verspro chen, sich zu melden, falls Friedrich Schirmers Sohn Johann auftauchte. Ist er aufgetaucht?« »Nein.« »Wissen Sie, ob Friedrich Schirmer in dem Sana torium, in dem er starb, jemals irgendwelche Briefe bekommen hat?« »Bis Mitte 1940 ist kein Brief gekommen.« »Sie hätten davon erfahren?« »Aber ja. Ich habe oft Besuche im Sanatorium gemacht.« »Und nach Mitte 1940?« »Ist das Sanatorium von der Wehrmacht mit Be schlag belegt worden. Es wurde Hauptquartier ei ner Ausbildungseinheit für Funker.« »Aha. Tja, damit sind wohl alle Fragen beantwor tet.« George stand auf. »Vielen Dank, Herr Pfar rer.« Aber Pfarrer Weichs hatte eine abwehrende Handbewegung gemacht. »Einen Moment noch, Mr. Carey Sie haben gefragt, ob Johann Schirmer nach Bad Schwennheim gekommen ist.« »Ja?« 119
»Er ist nicht gekommen, aber sein Sohn.« »Sein Sohn?« Langsam setzte sich George wieder. »Er würde Sie also auch interessieren, der Sohn?« »Außerordentlich, wenn es sich um einen Enkel von Friedrich Schirmer handelt.« Pfarrer Weichs nickte. »Er hat mich besucht. Ich muß erklären, daß ich, als die Wehrmacht das Sana torium übernahm, den Kommandanten der Ausbil dungseinheit aufgesucht habe, um die Dienste mei ner Kirche für diejenigen anzubieten, die sie wünschten. Der Kommandant war selbst zwar nicht religiös, aber er hatte viel Verständnis und machte es denen, die die Messe besuchen wollten, so ein fach wie möglich.« Er betrachtete George nachdenklich. »Ich weiß nicht, ob Sie selbst in der Armee gedient haben, Mr. Carey«, fuhr er nach ein, zwei Augenblicken fort. George nickte. »Aha! Dann ist Ihnen vielleicht auf gefallen, daß es manche Männer gab – unter den jungen Frontsoldaten, meine ich –, die nicht religiös waren und trotzdem zuweilen das Bedürfnis hatten, die Tröstungen der Religion zu suchen. Dieses Be dürfnis ergab sich offenbar immer dann, wenn sie den Mut aufbringen mußten, Tod oder Verstümme lung ins Auge zu blicken, nachdem sie selbst erlebt hatten, was das war. In solchen Momenten erwies sich der ausgeklügelte Materialismus der Intelligen ten unter ihnen als ebenso nutzlos und steril wie die Heldenmythen, die sie aus der Hitlerjugend mitge bracht hatten. Sie stellten fest, daß sie noch etwas 120
anderes brauchten, und manchmal suchten sie, um es zu bekommen, einen Priester auf.« Er lächelte schwach. »So einfach stellte es sich damals natürlich nicht dar. Sie sind aus vielen, ganz alltäglichen Gründen zu mir gekommen, diese jungen Männer – um über ihre Familien zu reden, wegen irgendwel cher materieller Probleme um Rat zu fragen, ein Buch oder eine Zeitschrift zu leihen, Fotos zu zei gen, die sie gemacht hatten, oder die Abgeschieden heit eines Gartens zu genießen. Aber der äußere Grund war unwichtig. Es war ihnen vielleicht nicht immer bewußt, aber in gewisser Weise wollten sie mit mir als Priester zu einer Verständigung kom men. Sie wollten etwas, wovon sie im tiefsten Her zen glaubten, daß ich es ihnen vielleicht würde ge ben können – inneren Frieden und Kraft.« »Und Schirmers Enkel war einer davon?« Pfarrer Weichs zuckte die Achseln. »Ich war mir nicht sicher. Vielleicht ja. Ich will es Ihnen erzählen. Er war zu einem Sonderlehrgang zu der Ausbil dungseinheit abkommandiert worden. Er war ein …« Er brach ab, zögerte, sah dann Miss Kolin an und sagte auf deutsch das Wort »Fallschirmjäger«. Miss Kolin übersetzte. Der Priester nickte. »Danke, ja. Er kam mich ei nes Tages im September oder Oktober besuchen – genau weiß ich es nicht mehr. Er war ein hochge wachsener, kräftig aussehender junger Mann, ganz der Soldat. Er war in Belgien, beim Angriff auf die Festung Eben-Emael, verwundet worden und noch 121
nicht wieder soweit auf der Höhe, daß er zur kämp fenden Truppe zurückkehren konnte. Er fragte mich, ob ich etwas von seinem Großvater Friedrich Schirmer wüßte.« »Hat er gesagt, wo er zu Hause war?« fragte George rasch. »Ja. Er kam aus Köln.« »Hat er gesagt, was sein Vater von Beruf war?« »Nein. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erin nern.« »Hatte er Geschwister?« »Nein, er war das einzige Kind.« »Hat er, als er zu Ihnen kam, gewußt, daß sein Großvater tot war?« »Nein, das war eine große Enttäuschung für ihn. Als er ein kleiner Junge war, hatte der Großvater im Hause seiner Eltern gewohnt und war immer sehr nett zu ihm gewesen. Dann hatte es eines Tages ei nen Streit gegeben, und der alte Mann war ausgezo gen.« »Hat er gesagt, woher er wußte, daß der alte Mann in Bad Schwennheim wohnte?« »Ja. Der Streit war sehr heftig gewesen, und nach Friedrichs Auszug wurde sein Name von den Eltern des Jungen nie mehr erwähnt. Aber der Junge liebte seinen Großvater. Noch bevor er zur Schule ging, hatte der alte Mann ihm das Schreiben beigebracht und wie man richtige Linien in sein Übungsheft zog. Später half ihm der Großvater bei Rechenauf gaben und unterhielt sich viel über Kaufmännisches 122
mit ihm. Sie wissen, daß Friedrich Schirmer Buch halter war?« »Ja.« »Der Junge hat ihn nicht vergessen. Als er unge fähr vierzehn war, bekamen seine Eltern einen Brief von dem alten Mann, in dem er ihnen mitteilte, daß er sich in Bad Schwennheim zur Ruhe setzen wolle. Der Junge hörte, wie seine Eltern darüber sprachen. Sie vernichteten den Brief, aber er merkte sich den Namen der Stadt, und als er zu dem Lehrgang dort abkommandiert wurde, versuchte er, seinen Großva ter zu finden. Bis ich es ihm sagte, wußte er nicht, daß er aufgrund eines seltsamen Zufalls in dem Ge bäude wohnte, in dem der alte Mann gestorben war.« »Verstehe.« Pfarrer Weichs senkte den Blick auf seine Hände. »Wenn man ihn sah oder mit ihm sprach, wäre man nie auf den Gedanken gekommen, daß es sich um einen jungen Mann handelte, den man unbedingt vor Desillusionierung bewahren mußte. Ich glaube, ich habe in diesem Punkt versagt. Ich habe ihn erst verstanden, als es zu spät war. Er besuchte mich mehrmals. Er stellte viele Fragen über seinen Groß vater. Hinterher erkannte ich, daß er ihn zum Hel den machen wollte. Aber damals habe ich nicht überlegt. Ich habe seine Fragen, so freundlich ich konnte, beantwortet. Dann fragte er mich eines Ta ges, ob ich nicht auch meine, daß sein Großvater Friedrich ein feiner, guter Mensch gewesen sei.« Er hielt inne und fuhr dann langsam und bedächtig 123
fort, als suchte er Worte zu seiner Verteidigung. »Ich antwortete, so gut ich konnte. Ich sagte, Fried rich Schirmer sei ein hart arbeitender Mensch gewe sen und habe seine lange, schmerzhafte Krankheit mit Geduld und Mut ertragen. Weiter kam ich nicht. Der junge Mann faßte meine Worte als Zu stimmung auf und begann mit großer Bitterkeit von seinem Vater zu sprechen, der, so sagte er, den alten Mann in einem Moment eifersüchtigen Hasses fort geschickt habe. Ich durfte ihm nicht erlauben, so zu reden. Es entsprach nicht der Wahrheit. Ich sagte, er tue seinem Vater sehr unrecht, er solle zu ihm gehen und ihn nach der Wahrheit fragen.« Er hob den Blick und sah George düster an. »Er lachte. Er sag te, von seinem Vater sei noch nie etwas Gutes für ihn gekommen und die Wahrheit würde er von ihm auch nicht erfahren. Er sprach weiter in spöttischem Ton von seinem Vater, als verachtete er ihn. Dann ging er. Ich habe ihn nicht wiedergesehen.« Draußen, auf den eisernen Balkonen des Hospi tals, wurden die Schatten länger. Eine Uhr schlug die Stunde. »Was war denn nun die Wahrheit, Herr Pfarrer?« fragte George ruhig. Der Priester schüttelte den Kopf. »Ich war Fried rich Schirmers Beichtvater, Mr. Carey.« »Natürlich. Verzeihung.« »Es würde Ihnen nicht weiterhelfen, wenn Sie es wüßten.« »Ja, das sehe ich ein. Aber sagen Sie mir folgen 124
des, Herr Pfarrer. Mr. Moreton hat eine vorläufige Liste der Dokumente und Fotos angefertigt, die nach Friedrich Schirmers Tod gefunden wurden. War das alles, was er besaß? Wurde sonst nichts mehr gefunden?« Zu seiner Überraschung sah er, wie das Gesicht des Priesters einen verlegenen Ausdruck bekam. Ein, zwei Momente lang hatte Pfarrer Weichs’ Mie ne etwas eindeutig Verstohlenes. »Alte Dokumente«, fügte George rasch hinzu, »können in derartigen Fällen sehr wichtige Be weismittel sein.« Pfarrer Weichs’ Kiefermuskeln verhärteten sich. »Es gab keine anderen Dokumente«, sagte er. »Oder Fotos?« »Keine, die für Sie irgend von Wert gewesen sein könnten, Mr. Carey«, erwiderte der Priester steif. »Gab es denn nun andere Fotos?« hakte George nach. Pfarrer Weichs’ Kiefermuskeln begannen zu zuk ken. »Ich wiederhole, Mr. Carey, sie wären für Ihre Untersuchung ohne Belang gewesen«, sagte er. »›Wären gewesen‹?« wiederholte George. »Heißt das, es gibt sie nicht mehr, Herr Pfarrer?« »Richtig. Es gibt sie nicht mehr. Ich habe sie ver brannt.« »Aha«, sagte George. Es trat ein peinliches Schweigen ein, während sie einander ansahen. Dann erhob sich Pfarrer Weichs seufzend und sah zum Fenster hinaus. 125
»Friedrich Schirmer war kein angenehmer Mann«, sagte er schließlich. »Es schadet wohl nichts, wenn ich Ihnen das sage. Vielleicht haben Sie es sich nach dem, was ich bereits gesagt habe, auch schon ge dacht. Es gab viele von diesen Fotos. Sie waren für keinen außer Friedrich Schirmer je von Bedeutung – möglicherweise noch für die, bei denen er sie ge kauft hat.« George begriff. »Ach so«, sagte er ausdruckslos. »Ach so, ich verstehe.« Er lächelte. Er verspürte das starke Verlangen, laut loszulachen. »Er hatte seinen Frieden mit Gott gemacht«, sag te Pfarrer Weichs. »Es erschien mir besser, sie zu vernichten. Die heimlichen Lüste der Toten sollten mit dem Fleisch enden, aus dem sie hervorgingen. Außerdem«, fügte er lebhaft hinzu, »besteht immer die Gefahr, daß solche Erotika in Kinderhand ge langen.« George erhob sich. »Danke, Herr Pfarrer. Nun möchte ich Sie nur noch zweierlei fragen. Haben Sie je erfahren, in welcher Fallschirmjägereinheit der junge Schirmer diente?« »Nein, leider nicht.« »Nun ja, das können wir später herausfinden. Wie hieß er mit Vornamen, Herr Pfarrer, und wel chen Rang hat er gehabt? Wissen Sie das noch?« »Ich erinnere mich nur noch an einen Namen. Franz lautete er, glaube ich. Franz Schirmer. Er war Feldwebel.«
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A
n diesem Tag übernachteten sie in Stuttgart. Beim Abendessen faßte George die Ergebnis se ihrer Arbeit zusammen. »Wir können direkt nach Köln fahren und versu chen, sämtliche Johann Schirmers im Einwohner verzeichnis der Stadt ausfindig zu machen«, fuhr er fort, »oder wir können die Wehrmachtslisten nach Franz Schirmers Papieren durchsehen und auf diese Weise die Adresse seiner Eltern ermitteln.« »Warum sollte die Wehrmacht die Adresse seiner Eltern haben?« »Na ja, wenn er in unserer Armee gewesen wäre, dann stünde in seiner Akte wahrscheinlich die Adresse seiner Eltern oder, falls er verheiratet ist, die seiner Frau als seiner nächsten Verwandten. Die meisten Armeen haben gern jemanden, den sie be nachrichtigen können, wenn einer gefallen ist. Was meinen Sie?« »Köln ist eine Großstadt, die vor dem Krieg fast eine Million Einwohner hatte. Aber ich war noch nicht dort.« »Ich schon. Als ich die Stadt gesehen habe, war sie ein Trümmerhaufen. Was die britische Luftwaffe 127
nicht zerstört hat, hat unsere Armee besorgt. Ich weiß nicht, ob das Einwohnerverzeichnis erhalten geblieben ist, aber ich neige dazu, es auf jeden Fall zuerst mit den Wehrmachtslisten zu versuchen.« »Schön.« »Ich glaube, die Wehrmacht dürfte überhaupt er giebiger sein. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Wir stellen fest, was mit Feldwebel Schirmer passiert ist, und machen zugleich seine Eltern ausfindig. Haben Sie eine Ahnung, wo seine Wehrmachtspapiere sein könnten?« »Bonn ist die westdeutsche Hauptstadt. Logi scherweise müßten sie jetzt dort sein.« »Aber Sie glauben nicht so recht daran, wie? Ich auch nicht. Egal, ich denke, wir fahren morgen nach Frankfurt. Ich kann mich dort bei den Leuten von der amerikanischen Armee erkundigen. Die werden es wissen. Noch einen Kognak?« »Danke.« Eine weitere Eigenart, die er an Miss Kolin fest gestellt hatte, war, daß sie offenbar nie an einem Ka ter litt, obwohl sie öffentlich oder in der Zurückge zogenheit ihres Zimmers wahrscheinlich mehr als eine halbe Flasche Kognak pro Tag konsumierte. Sie brauchten fast zwei Wochen, um festzustel len, was die Wehrmacht über Feldwebel Schirmer wußte. Er war 1917 in Winterthur als Sohn von Johann Schirmer (Mechaniker) und dessen Frau Ilse, beide rein arischer Abstammung, geboren. Mit achtzehn 128
war er aus der Hitlerjugend direkt in die Wehr macht eingetreten und 1937 zum Unteroffizier be fördert worden. 1938 hatte man ihn von den Pionie ren zu einem Sonderlehrgang bei den Fallschirmjä gern abkommandiert und im Jahr darauf zum Feldwebel befördert. Bei Eben-Emael war er durch einen Schuß in die Schulter verwundet worden, hat te sich jedoch zufriedenstellend erholt. Er hatte an der Invasion Kretas teilgenommen und war wegen besonderer Tapferkeit mit dem Eisernen Kreuz dritter Klasse ausgezeichnet worden. In der zweiten Jahreshälfte war er in Benghasi an Dysenterie und Malaria erkrankt. 1943, in Italien, hatte er sich als Ausbilder bei den Fallschirmjägern die Hüfte ge brochen. Ein Untersuchungsgericht hatte seinerzeit feststellen sollen, wer den Befehl gegeben hatte, über bewaldetem Gebiet abzuspringen. Das Gericht hatte den Feldwebel ausdrücklich dafür belobigt, daß er den von ihm für falsch gehaltenen Befehl zwar nicht weitergegeben, aber selbst befolgt hatte. Nach vier Monaten in Lazarett und Genesungsheim sowie einem längeren Krankenurlaub hatte ein Ärz teausschuß befunden, daß er für eine weitere Ver wendung als Fallschirmspringer sowie jede andere Verwendung bei der kämpfenden Truppe, die aus gedehnte Fußmärsche erforderte, untauglich war. Man hatte ihn zu den Besatzungstruppen nach Griechenland versetzt. Dort hatte er bis zum fol genden Jahr als Waffenausbilder des Neunundvier zigsten Besatzungsregiments in einer Nachschubdi 129
vision Dienst getan. Nach einem Gefecht gegen grie chische Partisanen während des Rückzuges aus Ma zedonien hatte man ihn als »vermißt, wahrscheinlich gefallen« gemeldet. Die nächste Verwandte, eine Ilse Schirmer, Elsaßstraße 39, Köln, war entsprechend benachrichtigt worden. Sie fanden die Elsaßstraße, oder was davon übrig war, in den Trümmern der Altstadt in der Nähe des Neumarkts. Vor dem Reihenbombardement, das sie zerstört hatte, war sie eine schmale Straße gewesen, die aus kleinen Läden mit darüberliegenden Kontoren und einem Tabaklager dazwischen bestand. Das Tabak lager hatte offensichtlich einen Volltreffer abbe kommen. Von den anderen Wänden standen noch ein paar, doch mit Ausnahme dreier Läden am Ende der Straße waren sämtliche Gebäude darin völlig ausgebrannt. Mittlerweile wucherte üppiges Un kraut auf den alten Kellerböden; Schilder verboten das Betreten der Ruinen und das Abladen von Schutt. Nummer 39 war eine Autowerkstatt gewesen, die, von der Straße zurückgesetzt, auf einem Grundstück hinter zwei anderen Gebäuden lag und durch eine überwölbte Toreinfahrt zwischen ihnen zugänglich war. Der Torbogen stand noch. An den Ziegeln war ein rostiges Metallschild befestigt. Was darauf stand, ließ sich noch entziffern: ›garage und reparaturwerkstatt. j. schirmer – berei fung, zubehör, benzin ‹. 130
Sie gingen durch die Toreinfahrt zu der Stelle, wo sich die Werkstatt befunden hatte. Man hatte das Gelände freigeräumt, aber der Grundriß des Ge bäudes war noch zu erkennen. Die Werkstatt konn te nicht sehr groß gewesen sein. Nun war nur noch eine Montagegrube davon übrig. Sie war halb voll Regenwasser, in dem Stücke einer alten Packkiste schwammen. Während sie dort standen, begann es wieder zu regnen. »Am besten, wir stellen fest, ob wir in den Läden am Ende der Straße etwas herausfinden können«, sagte George. Der Eigentümer des zweiten Ladens, in dem sie nachfragten, war Elektriker und wußte Näheres. Er selbst war erst seit drei Jahren hier und kannte die Schirmers nicht, aber er konnte ihnen einiges über die Werkstatt sagen. Er hatte erwogen, sie zu mie ten. Er hatte eine Werkstatt und ein Lager darin un terbringen und die Räume darüber als Wohnung nutzen wollen. Das Grundstück lag nicht direkt an der Straße und war daher von geringem Wert. Er hatte damit gerechnet, es billig zu bekommen, aber die Eigentümerin hatte zuviel verlangt, und so hatte er sich anderweitig beholfen. Die Besitzerin war ei ne Frau Gresser, Frau eines Chemikers, der im La bor einer großen Firma in Leverkusen arbeitete. Wenn Frauen erst einmal anfingen zu feilschen, sei es in jedem Fall das beste, man … Ja, er habe ihre Adresse irgendwo aufgeschrieben; wenn der Herr 131
das Grundstück allerdings ernsthaft in Erwägung ziehe, so würde er persönlich ihm dringend raten, es sich zweimal zu überlegen, ehe er sich mit einer … Frau Gresser wohnte im obersten Geschoß eines erst kürzlich wiederaufgebauten Hauses in der Nä he des Barbarossaplatzes. Sie trafen sie erst beim dritten Besuch an. Sie war eine stämmige, ungepflegte, kurzatmige Frau Ende Fünfzig. Ihre Wohnung war in dem an ei ne Cocktailbar erinnernden, funktionalen Stil der Vorkriegszeit eingerichtet und mit Andenkenkitsch aus Tirol vollgestopft. Sie hörte sich mißtrauisch die Erklärungen ihrer Besucher an, ehe sie sie aufforder te, sich zu setzen. Dann ging sie hinaus, um mit ihrem Mann zu telefonieren. Nach einer Weile kam sie zu rück und sagte, sie sei bereit, Fragen zu beantworten. Ilse Schirmer sei ihre Cousine und Jugendfreun din gewesen. »Leben die Schirmers noch?« fragte George. »Ilse Schirmer und ihr Mann sind bei den großen Luftangriffen auf die Stadt im Mai 1942 ums Leben gekommen«, dolmetschte Miss Kolin. »Haben Sie das Werkstattgrundstück von ihnen geerbt?« Frau Gresser ließ angesichts der Frage Empörung erkennen und antwortete mit einem Redeschwall. Keineswegs. Das Land gehöre ihr, genauer gesagt, ihr und ihrem Mann. Johann Schirmers Geschäft sei bankrott gegangen. Sie und ihr Mann hätten ihm Il se zuliebe wieder auf die Beine geholfen. Natürlich 132
hätten sie sich auch einen Gewinn davon erhofft, doch in erster Linie hätten sie es aus Gutherzigkeit getan. Das Geschäft habe allerdings ihnen gehört. Schirmer sei nur der Geschäftsführer gewesen. Er sei an den Einnahmen beteiligt gewesen und habe die Wohnung über der Werkstatt bekommen. Kein Mensch könne ihnen vorwerfen, sie hätten ihn nicht großzügig behandelt. Und nachdem sie, die Freun de seiner Frau, so viel für ihn getan hätten, habe er versucht, sie bei den Einnahmen zu betrügen. »Wer war sein Erbe? Hat er ein Testament hin terlassen?« »Falls er außer Schulden irgend etwas zu verer ben gehabt hätte, wäre es an seinen Sohn Franz ge gangen.« »Hatten die Schirmers noch andere Kinder?« »Zum Glück nicht.« »Zum Glück?« »Es war schon schwer genug für die arme Ilse, ein Kind zu füttern und zu kleiden. Sie war nie beson ders robust, und bei einem Mann wie Schirmer wäre auch eine robuste Frau krank geworden.« »Was war denn mit Schirmer?« »Er war faul, er war unehrlich, er hat getrunken. Als die arme Ilse ihn geheiratet hat, wußte sie das alles nicht. Er hat jeden getäuscht. Als wir ihn ken nenlernten, hatte er ein gutgehendes Geschäft in Es sen. Wir haben ihn für tüchtig gehalten. Erst als sein Vater wegging, ist die Wahrheit herausgekommen.« »Die Wahrheit?« 133
»Sein Vater, Friedrich, war der mit dem Ge schäftssinn. Er war ein guter Buchhalter und hat den Sohn an der kurzen Leine geführt. Johann war nur Mechaniker. Den Verstand hatte der Vater. Er konnte mit Geld umgehen.« »Hat das Geschäft Friedrich gehört?« »Die beiden waren Teilhaber. Friedrich hatte viele Jahre lang in der Schweiz gelebt und gearbeitet. Jo hann ist dort aufgewachsen. Im Ersten Weltkrieg hat er nicht für Deutschland gekämpft. Ilse hat ihn 1915 kennengelernt, als sie Freunde in Zürich be suchte. Sie haben geheiratet und sind in der Schweiz geblieben. Ihre ganzen Ersparnisse waren in Schweizer Franken angelegt. 1923, während der In flation, sind sie alle nach Deutschland zurückge kommen – Friedrich, Johann, Ilse und der kleine Franz – und haben mit ihrem Schweizer Geld billig die Werkstatt in Essen gekauft. Der alte Friedrich hat sich aufs Geschäft verstanden.« »Dann ist Franz also in der Schweiz geboren?« »Winterthur liegt in der Nähe von Zürich, Mr. Carey«, sagte Miss Kolin. »Wie Sie wissen, stand das in den Wehrmachtspapieren. Die Schweizer Staatsangehörigkeit hätte er aber trotzdem eigens beantragen müssen.« »Ja, das weiß ich alles. Fragen Sie sie, warum das Teilhaberverhältnis in die Brüche gegangen ist.« Frau Gresser zögerte, als sie die Frage hörte. »Wie sie schon sagte, Johann hatte keinen Sinn für …« 134
Frau Gresser zögerte erneut und verstummte dann. Ihr feistes Gesicht war vor Verlegenheit rot angelaufen und glänzte. Schließlich sprach sie wei ter. »Sie möchte lieber nicht darüber sprechen«, sagte Miss Kolin. »Na schön. Fragen Sie sie nach Franz Schirmer. Weiß sie, was aus ihm geworden ist?« Er sah die Erleichterung in Frau Gressers Ge sicht, als sie begriff, daß von Friedrich Schirmers Weggang nicht weiter die Rede sein würde. Das machte ihn neugierig. »Franz wurde 1944 in Griechenland als vermißt gemeldet. Das amtliche Schreiben war an seine Mutter adressiert und wurde an Frau Gresser wei tergeleitet.« »In dem Bericht hieß es ›vermißt, wahrscheinlich gefallen‹. Hat sie je eine offizielle Bestätigung seines Todes bekommen?« »Eine offizielle nicht.« »Was heißt das?« »Einer von Franz’ Offizieren hat Frau Schirmer geschrieben, um ihr zu berichten, was mit ihrem Sohn passiert war. Auch dieser Brief ist an Frau Gresser weitergeleitet worden. Nachdem sie ihn ge lesen hatte, zweifelte sie nicht mehr daran, daß Franz tot war.« »Hat sie den Brief aufgehoben? Wäre es wohl möglich, daß wir ihn sehen?« Frau Gresser erwog die Bitte einen Moment lang; 135
schließlich nickte sie, trat an eine Kommode, die seltsam windschnittig geformt war, und entnahm ihr eine Blechschachtel voller Papiere. Nach langer Suche fand sich der Brief des Offiziers zusammen mit der ursprünglichen Benachrichtigung durch die Wehrmacht. Sie reichte beide Dokumente Miss Kolin und gab dabei irgendeine Erklärung ab. »Frau Gresser möchte erklären, daß Franz es ver säumt hat, die Wehrmacht vom Tod seiner Eltern in Kenntnis zu setzen, und daß die Briefe von der Post an sie weitergeleitet worden sind.« »Aha. Was steht in dem Brief?« »Er stammt von Leutnant Hermann Leubner, Pionierkompanie, Neunundvierzigstes Besatzungs regiment. Er ist vom ersten Dezember 1944 da tiert.« »Und wann wurde Franz von der Wehrmacht als vermißt gemeldet?« »Am einunddreißigsten Oktober.« »Gut.« »Der Leutnant schreibt: ›Sehr geehrte Frau Schirmer. Die Wehrmacht wird Sie zweifellos schon davon unterrichtet haben, daß Ihr Sohn, Feldwebel Franz Schirmer, vermißt wird. Als sein Kompanie führer möchte ich Ihnen von den Umständen be richten, unter denen dieses tragische Ereignis sich zutrug. Es war am vierundzwanzigsten Oktober.‹« Sie hielt inne. »Sie waren dabei, abzuziehen. Sie machten sich 136
nicht die Mühe, jeden Tag Verlustmeldungen abzu setzen«, sagte George. Miss Kolin nickte. »Weiter heißt es: ›Das Re giment bewegte sich von Saloniki westwärts in Richtung Florina auf die griechische Grenze zu. Als erfahrener Soldat und verantwortungsbewußter Mann wurde Feldwebel Schirmer mit drei lkws und zehn Mann zu einem Treibstoffdepot mehrere Ki lometer abseits der Hauptstraße, in der Nähe der Stadt Vodena, geschickt. Sein Befehl lautete, soviel Treibstoff wie möglich auf die lkws zu laden, den Rest zu vernichten und mit der Wachmannschaft des Depots zurückzukehren. Leider geriet seine Abteilung in einen Hinterhalt einer der griechischen Terroristenbanden, die unsere Operationen zu be hindern versuchten. Ihr Sohn befand sich im ersten lkw, der auf eine von den Terroristen gelegte Mine fuhr. Der dritte lkw konnte rechtzeitig anhalten, so daß er dem Maschinengewehrfeuer der Terroristen weitgehend entging und zwei Mann entkommen und wieder zum Regiment stoßen konnten. Ich selbst führte umgehend eine Abteilung zum Ort des Hinterhalts. Ihr Sohn war weder unter den Toten, die wir fanden und begruben, noch konnten wir sonst eine Spur von ihm entdecken. Auch der Fah rer seines lkws fehlte. Ihr Sohn war nicht der Mann, der sich unverwundet ergeben hätte. Es ist möglich, daß die Explosion der Mine ihn bewußtlos machte und er so in Gefangenschaft geriet. Wir wissen es nicht. Aber ich würde meine Pflicht versäumen, 137
wenn ich Sie in der Hoffnung wiegte, daß er im Falle seiner Gefangennahme durch diese Griechen noch am Leben ist. Unser militärischer Ehrenkodex ist ihnen fremd. Es ist natürlich auch möglich, daß Ihr Sohn der Gefangennahme entgangen ist, aber nicht unmittelbar zu seinen Kameraden hat zurückstoßen können. In diesem Falle wird man sie benachrichti gen, sobald es etwas Neues von ihm gibt. Er war ein tapferer Mann und ein guter Soldat. Wenn er tot ist, bleibt Ihnen der stolze Trost der Gewißheit, daß er sein Leben für Führer und Vaterland hingab.‹« George seufzte. »Das ist alles?« »Er fügt noch ›Heil Hitler‹ und seine Unter schrift hinzu.« »Fragen Sie Frau Gresser, ob sie von der Wehr macht noch einmal irgend etwas von der Sache ge hört hat.« »Nein, nichts mehr.« »Hat sie versucht, mehr herauszufinden? Hat sie es zum Beispiel beim Roten Kreuz versucht?« »Man hat ihr mitgeteilt, daß das Rote Kreuz nichts unternehmen könne.« »Wann hat sie denn dort nachgefragt?« »Anfang 1945.« »Und seither nicht mehr?« »Nein. Sie hat auch beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge – dort kümmert man sich um die Soldatengräber – nachgefragt. Ohne Ergebnis.« »Ist je ein Antrag gestellt worden, ihn für tot er klären zu lassen?« 138
»Dafür gab es keinen Grund.« »Weiß sie, ob er je geheiratet hat?« »Nein.« »Hat sie je mit ihm korrespondiert?« »Sie hat ihm Weihnachten 1940 und 1941 einen Beileidsbrief geschrieben, als seine Eltern ums Le ben kamen, aber praktisch nur eine Empfangsbestä tigung von ihm erhalten. Er wollte nicht einmal wissen, wo sie begraben sind. Sie fand das gefühllos. Kurz darauf hat sie ihm ein Paket geschickt. Er hat es nicht einmal für nötig gehalten, sich zu bedan ken. Sie hat ihm kein weiteres geschickt.« »Woher kam 1942 seine Antwort?« »Aus Benghasi.« »Hat sie einen seiner Briefe aufgehoben?« »Nein.« Frau Gresser sprach weiter. George sah zu, wie ihr feistes Gesicht bebte und ihre kleinen, gehässi gen Augen zwischen ihren beiden Besuchern hin und her huschten. Er gewöhnte sich allmählich an die Dolmetscherei und hatte gelernt, die Überset zung beim Warten nicht vorwegzunehmen. Im Au genblick dachte er, daß es unangenehm wäre, Frau Gresser in irgendeiner Weise verpflichtet zu sein. Der emotionale Zinssatz, den sie dafür berechnen würde, wäre exorbitant. »Sie sagt«, sagte Miss Kolin, »sie habe Franz nicht gemocht, und zwar schon als Kind nicht. Er sei ein mürrischer, verdrießlicher Junge gewesen und für erwiesene Freundlichkeiten immer undank 139
bar. Sie hat ihm nur aus Pflichtgefühl gegenüber seiner toten Mutter geschrieben.« »Wie stand er zu Ausländern? Hatte er irgend welche exotische Freundinnen? Ich will auf folgen des hinaus – kann sie sich vorstellen, daß er der Typ Mann ist, der, sagen wir, eine Griechin oder Italie nerin heiraten würde, wenn er die Gelegenheit dazu hätte?« Frau Gresser antwortete prompt und säuerlich. »Was Frauen anging, sagt sie, sei er der Typ ge wesen, der alles tun würde, wozu ihn sein Egoismus treibt. Er würde alles tun, wenn er die Gelegenheit dazu hätte – nur nicht heiraten.« »Aha. Na gut, ich denke, das wäre so ziemlich al les. Würden Sie sie fragen, ob wir die Papiere vier undzwanzig Stunden ausleihen könnten, um Foto kopien davon machen zu lassen?« Frau Gresser bedachte die Frage eingehend. Ihre kleinen Augen wurden undurchsichtig. George merk te, daß die Dokumente plötzlich etwas Kostbares für sie wurden. »Ich gebe ihr natürlich eine Quittung dafür, und sie bekommt sie morgen zurück«, sagte er. »Sagen Sie ihr, der amerikanische Konsul muß die Kopien be glaubigen, sonst bekäme sie sie schon heute wieder.« Frau Gresser gab sie widerstrebend her. Während George die Quittung schrieb, fiel ihm etwas ein. »Miss Kolin, versuchen Sie doch noch einmal, her auszufinden, warum Friedrich Schirmer aus dem Geschäft in Essen ausgeschieden ist.« 140
»Gut.« Er ließ sich mit dem Ausstellen der Quittung Zeit. Er hörte, wie Miss Kolin die Frage stellte. Nach kurzem Schweigen antwortete Frau Gresser mit einem wahren Wortschwall. Dabei wurde ihre Stimme immer schriller. Dann verstummte sie. Er unterschrieb die Quittung, blickte auf und stellte fest, daß sie ihn mit aufgeregt-vorwurfsvoller Miene anstarrte. Er reichte ihr die Quittung und steckte die Dokumente ein. »Sie sagt«, übersetzte Miss Kolin, »die Sache lasse sich nicht in Gegenwart eines Mannes besprechen und sei für Ihre Nachforschungen ohne Belang. Falls Sie jedoch nicht glauben, daß sie die Wahrheit sagt, ist sie bereit, mir im Vertrauen den Grund zu nennen. Sie wird sich zu dem Thema nicht weiter äußern, solange Sie noch hier sind.« »Okay. Ich warte unten auf Sie.« Er stand auf und verbeugte sich vor Frau Gresser. »Vielen Dank, Ma dam. Was Sie mir erzählt haben, ist von unschätzba rem Nutzen. Ich sorge dafür, daß Sie die Papiere morgen unversehrt zurückbekommen. Guten Tag.« Er lächelte liebenswürdig, verbeugte sich erneut und ging. Er befand sich schon fast außerhalb der Wohnung, ehe Miss Kolin damit fertig war, seine Abschiedsrede zu übersetzen. Zehn Minuten später kam sie zur Haustür heraus. »Also«, sagte er, »was war denn nun?« »Friedrich hat sich an Ilse Schirmer herange macht.« 141
»An seine Schwiegertochter?« »Ja.« »Sieh an, sieh an. Hat Frau Gresser Ihnen Nähe res erzählt?« »Ja. Die genießt so etwas richtig.« »Aber der Alte muß damals um die Sechzig ge wesen sein.« »Erinnern Sie sich an die Fotos, die Pfarrer Weichs vernichtet hat?« »Ja.« »Friedrich hat sie seiner Schwiegertochter ge zeigt.« »Weiter nichts?« »Seine Absicht war offenbar unmißverständlich. Außerdem hat er ihr in verschleierter Form vorge schlagen, von ihr ebensolche Fotos zu machen.« »Verstehe.« George versuchte sich die Szene vor zustellen. Er sah ein ärmliches Zimmer in Essen vor sich und einen älteren Buchhalter, der dasaß und abge griffene Fotos, eines nach dem anderen, über den Tisch schob, so daß die Frau seines Sohnes, die über ihre Näharbeit gebeugt war, sie sehen konnte. Wie ihm das Herz geklopft haben mußte, wäh rend er ihr Gesicht beobachtete! Der Kopf mußte ihm geschwirrt haben vor Fragen und Zweifeln. Würde sie lächeln, oder würde sie so tun, als wäre sie schockiert? Sie saß still, ganz still, und hatte ihre Arbeit unterbrochen. Bestimmt würde sie gleich lä cheln. Er konnte ihre Augen nicht sehen. Ein klei 142
ner Scherz zwischen Vater und Schwiegertochter, da war doch nichts dabei, oder? Sie war eine er wachsene Frau und wußte Bescheid, oder nicht? Sie mochte ihn, das wußte er. Er wollte ihr lediglich zeigen, daß er für ein bißchen Spaß noch nicht zu alt war und daß es, wenn auch Johann nichts taugte, immer noch einen Mann im Haus gab, an den sie sich halten konnte. Und jetzt das letzte Foto, das gewagteste von allen. Da machst du Augen, was? Nicht schlecht, was? Sie hatte immer noch nicht ge lächelt, aber die Stirn gerunzelt hatte sie auch nicht. Frauen waren seltsame Geschöpfe. Man mußte den richtigen Moment abpassen; sanft säuseln und dann kühn sein. Jetzt hob sie langsam den Kopf und sah ihn an. Ihre Augen waren ganz rund. Er lächelte und sagte, was er sich vorher zurechtgelegt hatte, die hintersinnige Bemerkung von wegen neue Bil der seien besser als alte. Aber sie hatte sein Lächeln nicht erwidert. Sie erhob sich, und er konnte sehen, daß sie zitterte. Warum? Vor Erregung? Und dann plötzlich hatte sie ein angstvolles Schluchzen ausge stoßen und war aus dem Zimmer gelaufen, hinaus zur Werkstatt, wo Johann gerade das Opel-Taxi entkohlte. Danach war alles zum Alptraum gewor den: Johann brüllte und drohte ihm, Ilse weinte, und der kleine Franz stand mit bleichem Gesicht dabei und bekam alles mit, ohne zu begreifen, was das alles zu bedeuten hatte; er wußte nur, daß auf irgendeine Weise die Welt unterging. Ja, dachte George, ein hübsches Bild; wenn auch 143
vermutlich kein ganz zutreffendes. Aber von derlei Szenen konnte ohnehin kein Mensch, und schon gar nicht die Beteiligten, je ein genaues Bild liefern. Er würde nie erfahren, was wirklich passiert war. Nicht daß das eine große Rolle spielte. Friedrich, Johann und Ilse, die Hauptbeteiligten, waren gewiß tot. Und Franz? George blickte auf Miss Kolin, die neben ihm hermarschierte. »Glauben Sie, Franz ist tot?« fragte er. »Es deutet alles darauf hin. Meinen Sie nicht?« »In gewisser Weise schon. Wenn er mit mir be freundet gewesen wäre und zu Hause Frau und Kinder gehabt hätte, an denen er hing, hätte ich be stimmt nicht versucht, seiner Frau vorzumachen, er könnte noch am Leben sein. Und wenn sie trotz dem so verrückt gewesen wäre zu glauben, daß er noch lebt, hätte ich sie so schonend wie möglich da zu gebracht, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Aber das ist etwas anderes. Wenn wir mit den Beweisen, die wir haben, vor Gericht gingen und den Antrag stellten, Franz Schirmer für tot zu erklären, würde man uns auslachen.« »Das verstehe ich nicht.« »Hören Sie. Der Mann ist auf einem Lastwagen, der in einen Hinterhalt dieser Partisanen gerät. Ei nige Zeit später kommt dieser Leutnant vorbei und besieht sich den Schauplatz. Es liegen viele Leichen herum, nicht aber die unseres Mannes. Also ist er vielleicht entkommen, vielleicht aber auch Gefan gener. Wenn er Gefangener ist, sagt der Leutnant, 144
gibt es keine Hoffnung für ihn, weil die griechi schen Partisanen die Angewohnheit haben, ihre Ge fangenen umzubringen. ›Moment mal‹, sagt der Richter; ›wollen Sie behaupten, sämtliche griechi schen Partisanen, die 1944 operierten, hätten aus nahmslos alle ihre Gefangenen umgebracht? Kön nen Sie beweisen, daß es keinen einzigen Fall gab, in dem ein deutscher Soldat die Gefangennahme über lebt hat? Was sagt der Leutnant dazu? Ich weiß nichts über den Feldzug in Griechenland – ich war nicht dabei –, aber eins weiß ich: Wenn alle diese Partisanen tatsächlich so gut ausgebildet, so gut or ganisiert und so schießwütig gewesen wären, daß kein Deutscher, der ihnen in die Hände fiel, jemals die Schlauheit oder das Glück hatte, davonzukom men, dann hätten sich die Deutschen schon lange vor der Landung in der Normandie aus Griechen land zurückgezogen. Also wollen wir die Aussage anders formulieren. Wir wollen sagen, daß griechi sche Partisanen ihre Gefangenen oft umbringen. Und …‹« »Glauben Sie denn nicht, daß er tot ist?« fragte sie. »Natürlich glaube ich, daß er tot ist. Ich weise le diglich darauf hin, daß zwischen einer Wahrschein lichkeit im gewöhnlichen, alltäglichen Sinne und der vom Gesetz geforderten Sicherheit ein erheblicher Unterschied besteht. Und damit hat das Gesetz völ lig recht. Sie würden sich wundern, wie oft Leute wiederauftauchen, die man für tot gehalten hat. Ein 145
Mann verliert seine Arbeit und hat Krach mit seiner Frau. Also geht er an den Strand, zieht sein Jackett aus, läßt es mit einem Abschiedsbrief dort liegen und wird hinfort nicht mehr gesehen. Tot? Viel leicht. Aber manchmal stellt man Jahre später durch Zufall fest, daß er unter anderem Namen mit einer anderen Frau in einer anderen Stadt auf der anderen Seite des Kontinents lebt.« Sie zuckte die Achseln. »Das ist etwas anderes.« »Nicht unbedingt. Betrachten Sie es doch einmal folgendermaßen: Angenommen, Franz Schirmer wird von den Partisanen gefangengenommen, bleibt jedoch am Leben und kann aufgrund von Glück oder Geschick entkommen. Was soll er machen? Sich zu seiner Einheit durchschlagen? Die deut schen Besatzungskräfte sind dabei, sich durch Jugo slawien zurückzuziehen, und das ist kein Zuk kerlecken. Wenn er sein Versteck verläßt und sie einzuholen versucht, wird er mit Sicherheit wieder von den Partisanen gefangengenommen. Mittler weile sind sie überall. Es ist besser, sich eine Zeit lang nicht zu rühren. Er ist ein findiger Mann, dazu ausgebildet, von dem zu leben, was das Land liefert. Er kann sich am Leben erhalten. Er wird erst gehen, wenn es gefahrlos möglich ist. Zeit vergeht. Das Land steht wieder unter griechischer Herrschaft. Von der nächsten deutschen Einheit trennen ihn Hunderte von Kilometern. In Griechenland bricht der Bürgerkrieg aus. In der daraus entstehenden Verwirrung gelingt es ihm, sich zur türkischen 146
Grenze durchzuschlagen und sie zu überqueren, ohne gefaßt zu werden. Er ist Pionier und hat nichts gegen körperliche Arbeit. Er nimmt eine Stelle an.« »Im Februar 1945 befand sich die Türkei mit Deutschland im Kriegszustand.« »Vielleicht ist es noch nicht Februar.« »Warum wendet er sich dann nicht an den deut schen Konsul?« »Warum sollte er? Deutschland steht kurz vor dem Zusammenbruch. Vielleicht gefällt es ihm da, wo er ist. Wozu sollte er überhaupt ins Nachkriegs deutschland zurückkehren? Um Frau Gresser zu besuchen? Um festzustellen, was von seinem El ternhaus übriggeblieben ist? Vielleicht hat er wäh rend seiner Zeit in Italien eine Italienerin geheiratet und möchte dorthin zurück. Vielleicht hat er sogar Kinder. Es gibt Dutzende möglicher Gründe, war um er sich nicht an den deutschen Konsul gewandt hat. Vielleicht hat er sich auch an den Schweizer Konsul gewandt.« »Wenn er geheiratet hätte, stünde das in seinen Wehrmachtspapieren.« »Nicht wenn er jemanden geheiratet hat, den er nicht heiraten durfte. Denken Sie nur an die Vor schriften, die für amerikanische und britische Solda ten galten, die Deutsche heiraten wollten.« »Was schlagen Sie vor?« »Das weiß ich noch nicht. Ich muß erst überle gen.« 147
Ins Hotel zurückgekehrt, verfaßte er ein langes Telegramm an Mr. Sistrom. Zunächst schilderte er kurz die jüngsten Entwicklungen seiner Nachfor schung, dann bat er um Instruktionen. Sollte er um gehend nach Hause zurückkehren oder weiterma chen und sich bemühen, Franz Schirmers Tod fest zustellen? Am nächsten Nachmittag hatte er die Antwort. nachdem sie unter so viele steine geschaut haben, wäre es schade den letzten nicht um zudrehen stop versuchen sie franz’ tod fest zustellen stop schlage vor drei wochen dafür anzusetzen stop falls bis dahin in ihren augen kein ernsthafter fortschritt erfolgt oder wahrscheinlich suche abbrechen stop sistrom. An diesem Abend reisten George und Miss Kolin von Köln nach Genf ab. Miss Kolin hatte schon auf Konferenzen des In ternationalen Komitees vom Roten Kreuz gedol metscht und kannte die Leute im Hauptquartier, die ihnen weiterhelfen konnten. George wurde umge hend an einen Funktionär verwiesen, der 1944 für das Rote Kreuz in Griechenland gewesen war; ein schlanker, melancholischer Schweizer, der aussah, als könnte ihn nichts mehr überraschen. Er sprach gut Englisch und außerdem noch vier weitere Spra chen. Er hieß Hagen. »Es steht außer Frage, Mr. Carey«, sagte er, »daß die andartes oft ihre Gefangenen umgebracht ha ben. Und zwar nicht einfach aus Haß auf den Feind 148
oder weil sie eine Vorliebe für das Töten hatten, verstehen Sie? Sondern weil ihnen meistens nichts anderes übrigblieb. Ein Partisanentrupp von dreißig Mann oder weniger ist nicht in der Lage, die Gefan genen, die er macht, zu bewachen oder zu ernähren. Außerdem herrscht in Mazedonien die Tradition des Balkans, und dort wird dem Töten eines Fein des keine große Bedeutung beigemessen.« »Aber warum macht man dann überhaupt Ge fangene? Warum bringt man sie nicht gleich um?« »Normalerweise hat man Gefangene gemacht, um sie zu befragen.« »Wenn Sie an meiner Stelle wären, wie würden Sie es dann angehen, den Tod dieses Mannes nach zuweisen?« »Nun ja, da Sie wissen, wo der Hinterhalt stattge funden hat, könnten Sie versuchen, mit einigen der andartes, die in dieser Gegend operierten, Kontakt aufzunehmen. Vielleicht erinnern sie sich ja an den Vorfall. Allerdings dürfte es Ihnen schwerfallen, sie zu überreden, ihre Erinnerung aufzufrischen. Wis sen Sie, ob es ein Trupp der elas oder ein Trupp der edes war?« »edes?« »Das griechische Kürzel für die Nationaldemo kratische Befreiungsarmee – die antikommunisti schen andartes. Die elas waren die Kommunisten – die Nationale Volksbefreiungsarmee. In der Gegend von Vodena dürfte es sich um die elas gehandelt haben.« 149
»Spielt das denn eine Rolle?« »Und ob. Sie dürfen nicht vergessen, daß in Grie chenland drei Jahre Bürgerkrieg geherrscht hat. Nun da der Aufstand vorbei ist, sind die, die auf kommunistischer Seite gekämpft haben, nicht leicht zu finden. Manche sind tot, manche im Gefängnis, und manche verstecken sich noch. Viele leben als Flüchtlinge in Albanien und Bulgarien. Wie die Dinge liegen, dürfte es Ihnen schwerfallen, mit Leu ten von der elas in Kontakt zu kommen. Eine komplizierte Geschichte.« »Ja, hört sich ganz so an. Was meinen Sie, welche Chance habe ich, tatsächlich herauszufinden, was ich wissen möchte?« Monsieur Hagen zuckte die Achseln. »In solchen Fällen habe ich den Zufall schon so seltsame Wege gehen sehen, daß ich es mir abgewöhnt habe, Wahr scheinlichkeiten einzuschätzen. Wie wichtig ist die Angelegenheit denn, Mr. Carey?« »Es steht eine Menge Geld auf dem Spiel.« Sein Gegenüber seufzte. »Es kann so vieles pas siert sein. Wissen Sie, es gab Hunderte von Män nern, die als ›vermißt, wahrscheinlich gefallen‹ ge meldet wurden und schlicht und einfach desertiert waren. In Saloniki gab es Ende 1944 unzählige deut sche Deserteure.« »Unzählige?« »Aber ja. Die meisten hat die elas rekrutiert. Um Weihnachten 1944 gab es viele Deutsche, die für die griechischen Kommunisten kämpften.« 150
»Wollen Sie damit sagen, Ende 1944 hätte ein deutscher Soldat in Griechenland herumlaufen können, ohne umgebracht zu werden?« Ein fahles Lächeln huschte über Monsieur Ha gens melancholisches Gesicht. »In Saloniki konnte man deutsche Soldaten in den Cafés sitzen und auf den Straßen herumlaufen sehen.« »In Uniform?« »Ja, oder in Uniformteilen. Es war eine merk würdige Situation. Während des Krieges hatten sich die Kommunisten in Jugoslawien, Griechenland und Bulgarien darauf geeinigt, einen neuen maze donischen Staat zu schaffen. Das Ganze war Teil ei nes größeren russischen Plans für eine kommunisti sche Föderation auf dem Balkan. Tja, und kaum waren die Deutschen fort, besetzte ein Verband der elas, der sich Mazedonische Divisionsgruppe nann te, Saloniki und machte sich daran, das Vorhaben in die Tat umzusetzen. Die Deutschen waren ihnen mittlerweile egal. Sie hatten einen neuen Feind zu bekämpfen – die rechtmäßige griechische Regie rung. Und kämpfen wollten sie mit ausgebildeten Soldaten. Auf die Idee, deutsche Deserteure zu re krutieren, kam Vafiades. Das war der damalige Kommandeur der elas in Saloniki.« »Kann ich mich nicht mit diesem Vafiades in Verbindung setzen?« fragte George. Er sah, wie Miss Kolin ihn anstarrte. Monsieur Hagens Gesicht nahm einen Ausdruck banger Be stürzung an. 151
»Ich fürchte, das wäre nicht ganz einfach, Mr. Carey.« »Wieso? Ist er tot?« »Nun ja, hinsichtlich seines genauen Schicksals scheint es einige Ungewißheiten zu geben. Unmit telbar von ihm gehört haben wir zuletzt im Jahre 1948. Damals erklärte er einer Gruppe ausländi scher Journalisten, daß er als Chef der provisori schen demokratischen Regierung des Freien Grie chenland beabsichtige, eine Hauptstadt auf griechi schem Boden auszurufen. Das war, glaube ich, un gefähr zu der Zeit, als seine Armee Karpenissi eingenommen hat.« George sah Miss Kolin verständnislos an. »Markos Vafiades hat sich selbst General Markos genannt«, murmelte sie. »Er war während des Krie ges Befehlshaber der griechischen kommunistischen Rebellenarmee.« »Aha, ich verstehe.« George spürte, daß er errö tete. »Ich habe Ihnen ja gesagt, daß ich von den Verhältnissen in Griechenland keine Ahnung habe«, sagte er. »Diese ganzen Namen sagen mir rein gar nichts.« Monsieur Hagen lächelte. »Natürlich, Mr. Carey. Wir sind diesen Dingen hier näher. Vafiades ist ein in der Türkei geborener Grieche, der vor dem Krieg Tabakarbeiter war. Als langjähriger Kommunist hatte er für seine Überzeugung im Gefängnis geses sen. Zweifellos hielt er die revolutionäre Tradition hoch. Als die Kommunisten ihm das Kommando 152
über die Rebellenarmee übertrugen, beschloß er, sich schlicht Markos zu nennen. Das hat nur zwei Silben und klingt eindrucksvoller. Wenn die Auf ständischen gesiegt hätten, wäre er vielleicht ein ebenso bedeutender Mann wie Tito geworden. So aber hatte er, wenn Sie den Vergleich verzeihen, ei niges mit Ihrem General Lee gemeinsam. Er hat sei ne Schlachten gewonnen, aber den Krieg verloren. Und zwar aus ganz ähnlichen Gründen. Für Lee bedeutete der Verlust von Vicksburg und Atlanta, besonders Atlanta, die Zerstörung seiner Nach schublinien. Für Markos, der sich ebenfalls einer Übermacht gegenübersah, hatte die Schließung der jugoslawischen Grenze vergleichbare Auswirkun gen. Solange die Kommunisten Jugoslawiens, Bul gariens und Albaniens ihm halfen, war er in einer starken Position. Indem er sich über diese Grenzen zurückzog, konnte er jedes Gefecht abbrechen, das sich ungünstig zu entwickeln drohte. Hinter der Grenze konnte er sich dann in aller Ruhe umgrup pieren und reorganisieren, Verstärkungen zusam menziehen und mit tödlicher Wirkung an einem schwach besetzten Abschnitt der Regierungsfront wieder auftauchen. Als Tito sich mit Stalin zerstritt und seine Unterstützung für den Mazedonienplan zurückzog, schnitt er Markos’ laterale Verbin dungslinien durch. Griechenland hat Tito viel zu verdanken.« »Aber wäre Markos am Ende nicht ohnehin be siegt worden?« 153
Monsieur Hagen machte ein skeptisches Gesicht. »Vielleicht. Die britische und amerikanische Hil fe hat viel bewirkt. Das will ich gar nicht bestreiten. Das griechische Heer und die Luftwaffe sind kom plett umgebildet worden. Aber daß Markos die ju goslawische Grenze nicht mehr offenstand, hat es erst ermöglicht, diese Kräfte rasch und entscheidend einzusetzen. Im Januar 1949, nach über zweijähri gem Kampf, hielten Markos’ Kräfte noch Naoussa, eine große Industriestadt nur hundertdreißig Kilo meter von Saloniki entfernt. Neun Monate später waren sie geschlagen. Alles, was davon übrigblieb, war ein Widerstandsnest auf dem Berg Grammos, nahe der albanischen Grenze.« »Ich verstehe.« George lächelte. »Tja, dann be steht wohl keine große Aussicht, daß ich mit Gene ral Vafiades reden kann, nicht wahr?« »Leider nein, Mr. Carey.« »Und selbst wenn ich es könnte, hätte es wohl nicht viel Sinn, ihn nach einem deutschen Feldwebel zu fragen, der 1944 in einen Hinterhalt geraten ist.« Monsieur Hagen neigte höflich den Kopf. »Kaum.« »Nur um das noch einmal klarzustellen: 1944 ha ben die Partisanen – die andartes, sagten Sie, nicht? –, die andartes also, manche Deutsche umgebracht und andere rekrutiert. Richtig?« »Ja.« »Wenn es also dem deutschen Soldaten, um den es mir geht, gelungen ist, den Hinterhalt lebendig 154
zu überstehen, wäre es nicht absurd, die Chancen, daß er heute noch lebt, mit fünfzig zu fünfzig anzu setzen.« »Keineswegs. Sondern durchaus realistisch.« »Verstehe. Vielen Dank.« Zwei Tage später befanden sich George und Miss Kolin in Griechenland.
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ünfundvierzigtausend Todesopfer, darunter 3500 Zivilisten, die von den Aufständischen ermordet, und 700, die von ihren Minen getötet worden sind. Doppelt so viele Verwundete. 11 000 zerstörte Häuser. 700 000 Menschen, die im Gebiet der Aufständischen aus ihrem Zuhause vertrieben worden sind. 28 000, die man gewaltsam in kom munistische Länder umgesiedelt hat. 7000 geplün derte Dörfer. Das ist der Preis, den Griechenland für Markos und seine Freunde bezahlt hat.« Oberst Chrysanthos hielt inne, lehnte sich in sei nem Drehstuhl zurück und bedachte George und Miss Kolin mit einem bitteren Lächeln. Es war eine wirkungsvolle Pose. Er war ein sehr gutaussehender Mann mit scharfen, dunklen Augen. »Und ich habe mir von Briten und Amerikanern anhören müssen«, fügte er hinzu, »wir wären mit unseren Kommuni sten zu hart umgesprungen. Zu hart!« Er warf die langen, dünnen Hände in die Luft. George gab ein unbestimmtes Gemurmel von sich. Er wußte, daß die Vorstellungen, die der Oberst von Härte hatte, sich stark von den seinen unterschieden und daß eine Diskussion darüber 156
nicht sehr ergiebig wäre. Monsieur Hagen, der Funktionär des Roten Kreuzes, hatte ihm das Ein führungsschreiben für Oberst Chrysanthos mitge geben und zugleich die Sachlage klargemacht. Die Bekanntschaft des Obersts war nur insofern wün schenswert, als er ein höherer Offizier des militäri schen Geheimdienstes in Saloniki war, der an die Art von Informationen herankam, die George brauchte. Er war kein Mensch, dem man sonderlich freundliche Gefühle entgegenbringen konnte. »Sind bei diesen Verlustzahlen auch die Aufstän dischen berücksichtigt, Herr Oberst?« fragte George. »Was die Getöteten angeht, ja. Von den 45 000 waren 28 000 Aufständische. Über ihre Verwunde ten kennen wir natürlich keine genauen Zahlen; aber wir haben zusätzlich zu den Getöteten 13 000 Gefangene gemacht, und 27 000 haben sich erge ben.« »Haben Sie davon Namenslisten?« »Gewiß.« »Wäre es möglich, festzustellen, ob der Name des Deutschen auf einer dieser Listen steht?« »Natürlich. Allerdings haben wir nicht mehr als eine Handvoll Deutsche gefangengenommen.« »Trotzdem könnte sich der Versuch lohnen, ob wohl ich, wie ich Ihnen schon sagte, nicht einmal weiß, ob der Mann den Hinterhalt überlebt hat.« »Ah ja. Diese Geschichte. Der Hinterhalt ereig nete sich am 24. Oktober 1944, sagen Sie, und zwar 157
in der Nähe eines Treibstofflagers bei Vodena. Die andartes dürften aus der Gegend von Florina ge kommen sein, denke ich. Wir werden sehen. Als dann!« Er drückte einen Knopf auf seinem Schreibtisch, und ein junger Leutnant mit einer Hornbrille kam herein. Der Oberst sprach fast eine halbe Minute lang in scharfem Ton in seiner Muttersprache. Als er geendet hatte, gab der Leutnant ein einsilbiges Wort von sich und ging hinaus. Kaum war die Tür zu, gab sich der Oberst wieder entspannt. »Ein guter Mann, das«, sagte er. »Ihr im Westen bildet euch manchmal ein, bei uns würde nichts funktionieren, aber Sie werden sehen – ein Klacks!« Er schnippte mit den Fingern, lächelte Miss Kolin verführerisch an und warf dann einen kurzen Blick auf George, um festzustellen, ob es ihm etwas ausmachte, daß man seine Begleiterin so anlächelte. Miss Kolin hob lediglich die Augenbrauen. Der Oberst bot Zigaretten an. George fand die Situation unterhaltsam. Von An fang an war deutlich gewesen, daß der Oberst da hinterkommen wollte, in welcher Beziehung seine Besucher zueinander standen. Die Frau war attrak tiv; der Mann machte einen halbwegs virilen Ein druck; es war abwegig anzunehmen, daß sie ge schäftlich miteinander verreisen konnten, ohne die se Gelegenheit auch zu ihrem Vergnügen zu nutzen. Allerdings war der Mann Angelsachse, deshalb 158
konnte man nicht ganz sicher sein. Mangels verläß licher Hinweise darauf, ob die beiden ein Liebes paar waren oder nicht, hatte der Oberst zu sondie ren begonnen. In Kürze würde er es noch einmal probieren. Zunächst aber wieder zum Dienstlichen. Der Oberst strich sich den Uniformrock glatt. »Ihr Deutscher, Mr. Carey – war er Elsässer?« »Nein, er kam aus Köln.« »Viele von den Deserteuren waren Elsässer. Man che von ihnen haben die Deutschen ebensosehr ge haßt wie wir, müssen Sie wissen.« »Ach ja? Waren Sie während des Krieges in Grie chenland, Herr Oberst?« »Manchmal. Zu Anfang ja. Später war ich bei den Briten. Bei den Kommandotrupps. Das war eine Art Spezialeinheit, verstehen Sie. Eine schöne Zeit.« »Schön?« »Waren Sie nicht Soldat, Mr. Carey?« »Ich war Bomberpilot. Ich kann mich nicht entsin nen, daß ich es je sonderlich schön gefunden hätte.« »Kein Wunder – der Luftkrieg hat mit dem ei gentlichen Soldatsein auch wenig zu tun. Man sieht den Feind nicht, den man tötet. Ein Maschinen krieg. Unpersönlich.« »Mir war es persönlich genug«, sagte George; aber die Bemerkung blieb ungehört. Die Augen des Obersts leuchteten erinnerungsselig. »In der Luft haben Sie vieles verpaßt, Mr. Ca rey«, sagte er träumerisch. »Ich erinnere mich zum Beispiel, wie ich einmal …« 159
Und damit legte er los. Er hatte, wie es schien, an zahlreichen britischen Stoßtruppunternehmen gegen deutsche Garnisonen auf griechischem Boden teilgenommen. Und nun beschrieb er in allen Einzelheiten einige nach sei nem Empfinden amüsante Erlebnisse. Nach dem Vergnügen zu urteilen, mit denen er sich ihrer ent sann, hatte er tatsächlich eine schöne Zeit gehabt. »… mit einem Feuerstoß aus dem Maschinenge wehr sein Gehirn an der Wand verspritzt …, ihm das Messer in den Unterbauch gerammt und ihn bis zu den Rippen aufgeschlitzt … die Granaten haben alle im Raum getötet, bis auf einen, also habe ich ihn aus dem Fenster geworfen … sind ohne Hosen weggelaufen, so daß wir ein schönes Ziel hatten, auf das wir schießen konnten … wollte herauskommen und sich ergeben, aber er war ein bißchen langsam auf den Beinen, und die Phosphorgranate hat ihn wie eine Fackel angezündet … Ich habe ihm mit der Schmeisser einen Feuerstoß verpaßt und ihn fast in zwei Teile geschnitten …« Er sprach rasch, lächelte dabei die ganze Zeit und machte anmutige Gesten. Gelegentlich wechselte er zu Französisch über. George machte kaum einen Versuch, ihm zu folgen. Das spielte keine Rolle, denn mittlerweile hatte der Oberst seine ganze Aufmerksamkeit auf Miss Kolin gerichtet. Sie trug zwar weiterhin ihr leicht herablassendes Lächeln zur Schau, aber ihr Gesicht zeigte noch etwas ande res – einen Ausdruck der Lust. Wenn man den bei 160
den zugesehen hätte, ohne zu wissen, wovon die Rede war, dachte George, hätte man meinen kön nen, der gutaussehende Oberst unterhielte sie mit amüsantem Cocktailparty-Klatsch. Der Leutnant kam mit einem zerfledderten Ak tenordner unter dem Arm ins Zimmer zurück. Der Oberst verstummte augenblicklich und setzte sich gerade, um den Ordner entgegenzunehmen. Er blätterte mit ernstem Gesicht darin, während der Leutnant Meldung machte. Einmal feuerte er eine Frage ab und bekam eine Antwort, die ihn offenbar zufriedenstellte. Schließlich nickte er, und der Leutnant ging hinaus. Der Oberst entspannte sich und feixte selbstgefällig. »Es wird einige Zeit dauern, die Listen der Gefan genen durchzusehen«, sagte er; »aber wie ich hoffte, haben wir auch noch andere Informationen. Ob sie Ihnen von Nutzen sind oder nicht, kann ich nicht sagen.« Er senkte den Blick auf das vor ihm liegende Bündel zerfledderter, abgegriffener Papiere. »Der Hinterhalt, von dem Sie reden, war höchstwahr scheinlich eine von mehreren Operationen, die in der fraglichen Woche von einem Trupp der elas durch geführt wurden, der seine Basis in den Bergen über Florina hatte. Er bestand aus vierunddreißig Mann, die meisten davon aus Florina und den Dörfern der Umgebung. Ihr Anführer war ein Kommunist na mens Phengaros. Er kam aus Larisa. Bei dem Über fall wurde ein deutscher Militär-lkw zerstört. Hört sich das nach der Geschichte an, die Sie meinen?« 161
George nickte. »Das ist es. Es waren drei Lastwa gen. Der erste ist auf eine Mine gefahren. Steht da irgend etwas über Gefangene?« »Gefangene sind in der Regel nicht gemeldet worden, Mr. Carey. Aber zum Glück können Sie selbst fragen.« »Wen denn?« »Phengaros.« Der Oberst grinste. »Er wurde 1948 gefangengenommen. Wir haben ihn hinter Schloß und Riegel.« »Immer noch?« »Nein, er wurde aufgrund einer Amnestie entlas sen, aber mittlerweile sitzt er wieder. Er ist Partei mitglied, Mr. Carey, und zwar ein gefährliches. Ein tapferer Mann möglicherweise und gut zu gebrau chen, um Deutsche umzubringen, aber diese Politi schen ändern sich nicht. Sie haben Glück, daß er nicht schon längst erschossen worden ist.« »Ich habe mich schon gefragt, weshalb nicht.« »Man konnte einfach nicht alle Aufständischen erschießen«, sagte der Oberst achselzuckend. »Wir sind keine Deutschen oder Rußkis. Außerdem hätte das Ihren Freunden in Genf nicht gefallen.« »Wo kann ich diesen Mann sprechen?« »Hier in Saloniki. Ich muß zuerst mit dem Ge fängniskommandanten reden. Kennen Sie Ihren hie sigen Konsul?« »Noch nicht, aber ich habe einen Brief für ihn von unserer Gesandtschaft in Athen.« »Ah, gut. Ich werde dem Kommandanten sagen, 162
daß Sie ein Freund des amerikanischen Botschafters sind. Das müßte reichen.« »Weswegen sitzt dieser Phengaros zur Zeit ei gentlich im Gefängnis?« Der Oberst sah in dem Ordner nach. »Wegen Juwelenraub, Mr. Carey.« »Aber Sie haben doch gesagt, er wäre ein politi scher Gefangener.« »In Amerika, Mr. Carey, sind die Verbrecher al lesamt Kapitalisten. Hierzulande und in diesen Zei ten sind sie mitunter Kommunisten. Männer wie Phengaros stehlen nicht für sich selbst, sondern für die Parteikasse. Wenn wir sie erwischen, werden sie natürlich wie normale Straftäter inhaftiert. Wir können sie nicht als Politische auf die Inseln depor tieren. Sie haben in letzter Zeit ein paar große Coups gelandet. Das Ganze entspricht einer Tradi tion. Sogar der große Stalin hat als junger Mann für die Parteikasse eine Bank ausgeraubt. Einige von diesen Banditen aus den Bergen tun natürlich auch nur so, als stehlen sie für die Partei, und behalten al les für sich selbst. Sie sind gerissen und gefährlich, und die Polizei bekommt sie nicht zu fassen. Aber Phengaros ist nicht so. Er ist ein schlichter, ver blendeter Fanatiker des Typs, der sich ständig erwi schen läßt.« »Wann kann ich mit ihm sprechen?« »Morgen vielleicht. Wir werden sehen.« Er drückte erneut den Knopf, um den Leutnant her beizurufen. »Sagen Sie«, meinte er, »haben Sie und 163
Madame heute abend zufällig noch nichts vor? Ich würde Ihnen sehr gern unsere Stadt zeigen.« Zwanzig Minuten später verließen George und Miss Kolin das Gebäude und traten erneut in die Hitze und das Gleißen des Nachmittags hinaus. Georges Ausrede, daß er an diesem Abend einen langen Bericht zu schreiben hätte, war bereitwillig akzeptiert worden. Miss Kolin hatte anscheinend größere Schwierigkeiten gehabt, der Gastfreund schaft des Obersts zu entgehen. Das Gespräch war allerdings auf griechisch geführt worden, so daß George nichts davon verstanden hatte. Sie wechselten in den Schatten auf der anderen Straßenseite über. »Wie haben Sie es geschafft, sich zu drücken?« fragte er, während sie sich in Richtung Hotel wand ten. »Ich habe erklärt, daß ich vom Essen und den vielen Fliegen Magenbeschwerden habe und mir wahrscheinlich die ganze Nacht schlecht sein wird.« George lachte. »Das entspricht der Wahrheit.« »Das tut mir leid. Sollten Sie dann nicht besser zum Arzt?« »Es wird schon vorbeigehen. Haben Sie noch keine Magenbeschwerden?« »Nein.« »Dann bekommen Sie sie noch. Das ist kein ma genfreundlicher Ort, wenn man nicht daran ge wöhnt ist.« 164
»Miss Kolin«, sagte George nach einer Weile, »was halten Sie eigentlich von Oberst Chrysanthos?« »Was soll man von so einem Mann schon hal ten?« »War er Ihnen sympathisch? Immerhin war er sehr hilfsbereit und entgegenkommend.« »Ja, zweifellos. Hilfsbereit zu sein schmeichelt seiner Eitelkeit. Es gibt nur eins, was mir an dem Oberst gefällt.« »Und das wäre?« Stumm ging sie mehrere Schritte weiter. Dann sprach sie leise, so leise, daß er kaum verstehen konnte, was sie sagte. »Er weiß, wie man mit Deutschen umgeht, Mr. Carey.« In diesem Moment verspürte George die ersten Andeutungen einer Verstimmung in Magen und Eingeweiden. Und darüber vergaß er Oberst Chry santos und die Deutschen. »Ich verstehe allmählich, was Sie mit Ihrer Bemer kung über das Essen und die Fliegen gemeint ha ben«, meinte er, als sie um die Ecke vor dem Hotel bogen. »Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich jetzt doch gern bei einer Apotheke vorbeischauen.« Am nächsten Tag fand sich der Leutnant mit ei nem Armeewagen bei ihrem Hotel ein und fuhr sie zum Gefängnis. Es handelte sich um eine umgebaute Kaserne in der Nähe der Überreste eines alten türkischen Forts am Westrand der Stadt. Mit seiner hohen Mauer und den 165
Kalamarabergen jenseits der Bucht als Hintergrund wirkte es von außen eher wie ein Kloster. Drinnen roch es wie eine große, selten geputzte Latrine. Der Leutnant hatte Papiere mitgebracht, die ih nen Einlaß verschafften, und man führte sie in den Verwaltungsblock. Dort stellte man sie einem Zivil beamten vor, der einen engsitzenden Anzug aus Tussahseide trug, die Abwesenheit des Komman danten wegen dringender Amtsgeschäfte entschul digte und Kaffee und Zigaretten anbot. Er war ein dünner, beflissener Mann, der sich fortwährend in der Nase bohrte, eine Unart, die er sich offenbar ohne großen Erfolg abzugewöhnen suchte. Als sie ihren Kaffee getrunken hatten, griff er nach einem schweren Schlüsselbund und führte sie durch eine Reihe von Fluren mit Stahltüren an beiden Enden, die er auf- und hinter sich wieder abschloß. Schließ lich gelangten sie in einen Raum mit gekalkten Wänden, der in der Mitte von einem deckenhohen Stahlgitter geteilt wurde. Durch das Gitter konnten sie eine zweite Tür erkennen. Der Beamte machte ein entschuldigendes Gesicht und murmelte etwas in schlechtem Französisch. »Phengaros«, übersetzte Miss Kolin, »ist kein Musterhäftling und wird manchmal gewalttätig. Der Kommandant möchte nicht, daß wir irgend welchen Unannehmlichkeiten ausgesetzt werden. Aus diesem Grund muß das Gespräch in dieser un gemütlichen Umgebung stattfinden. Er bittet dafür um Entschuldigung.« 166
George nickte. Er fühlte sich nicht wohl. Er hatte eine unangenehme, anstrengende Nacht hinter sich, und der hier herrschende Geruch machte es ihm schwer, diese Tatsache zu vergessen. Außerdem war er noch nie zuvor in einem Gefängnis gewesen, und wenngleich er nicht damit gerechnet hatte, daß das Erlebnis irgend etwas anderes als deprimierend sein würde, hatte ihn nichts auf das heftige Schuldgefühl vorbereitet, das es hervorrief. Von der Tür hinter dem Gitter kam ein Ge räusch, und er blickte sich um. Eine Klappe hatte sich geöffnet, und jemand spähte hindurch. Dann drehte sich ein Schlüssel im Schloß, und die Tür ging auf. Langsam betrat ein Mann den Raum. Der Häftling war dünn und sehnig, mit dunklen, tiefliegenden Augen und einer langen Hakennase. Seine Haut war braun und ledrig, als arbeitete er viel in der Sonne. Auf seinem rasierten Kopf wuch sen kurze schwarze Stoppeln. Er trug ein ärmelloses Unterhemd und eine Leinenhose, die an der Taille von einem Stoffstreifen festgehalten wurde. Seine Füße waren nackt. Er zögerte, als er die Gesichter auf der anderen Seite des Gitters sah, und der Wärter hinter ihm stieß ihn mit seinem Knüppel an. Er trat nach vorn ins Licht. Der Wärter schloß die Tür ab und stellte sich mit dem Rücken dagegen. Der Beamte nickte George zu. »Fragen Sie ihn, wie er heißt«, sagte George zu Miss Kolin. 167
Sie übersetzte die Frage. Der Gefangene leckte sich die Lippen, und seine dunklen Augen blickten an Miss Kolin vorbei auf die drei Männer, als wäre sie der Köder in einer von ihnen konstruierten Fal le. Sein Blick ging von ihr zu dem Beamten, und er murmelte etwas. »Was soll das Spielchen?« übersetzte Miss Kolin. »Sie wissen ganz genau, wie ich heiße. Wer ist diese Frau?« Der Beamte brüllte ihn wütend an, und der Wär ter stieß ihn erneut mit dem Knüppel. George schaltete sich rasch ein. »Miss Kolin, er klären Sie ihm so freundlich wie möglich, daß ich ein amerikanischer Anwalt bin und mein Anliegen nichts mit ihm persönlich zu tun hat. Es geht um eine private, eine juristische Angelegenheit. Sagen Sie, daß wir ihn nur über den Hinterhalt damals bei Vodena befragen wollen. Die Sache hat keinerlei politischen Aspekt. Unsere Fragen an ihn haben le diglich zum Ziel, den Tod eines deutschen Soldaten zu bestätigen, der 1944 als vermißt gemeldet wurde. Geben Sie sich Mühe.« Während sie sprach, beobachtete George das Ge sicht des Häftlings. Die dunklen Augen huschten argwöhnisch in seine Richtung, während sie fort fuhr. Als sie fertig war, überlegte der Häftling einen Moment lang. Dann gab er Antwort. »Er hört sich die Fragen an, und wenn er sie ge hört hat, entscheidet er, ob er sie beantwortet.« Hinter George begann der Leutnant ärgerlich auf 168
den Beamten einzureden. George nahm keine Notiz davon. »Okay«, sagte er, »fragen Sie ihn, wie er heißt. Er muß sich identifizieren.« »Phengaros.« »Fragen Sie ihn, ob er sich an den Überfall auf die lkws erinnert.« »Ja, er erinnert sich daran.« »Er hatte das Kommando über diese speziellen andartes?« »Ja.« »Was genau hat sich dort abgespielt?« »Das weiß er nicht. Er war nicht dabei.« »Aber er hat doch gerade gesagt …« »Er hat zum fraglichen Zeitpunkt einen Angriff gegen das Treibstofflager geführt. Sein Stellvertreter hat die lkws abgefangen.« »Wo ist sein Stellvertreter?« »Tot. Er ist ein paar Monate danach von den fa schistischen Mörderbanden in Athen erschossen worden.« »Aha. Gut, fragen Sie ihn, ob er von deutschen Gefangenen weiß, die damals gemacht worden sind.« Phengaros überlegte einen Moment lang, dann nickte er. »Ja. Es gab einen.« »Hat er diesen Gefangenen gesehen?« »Er hat ihn verhört.« »Welchen Rang hatte er?« 169
»Gefreiter, glaubt er. Der Mann war der Fahrer des lkws, der auf die Mine gefahren ist. Er war verwundet.« »Ist er sicher, daß es keinen anderen Gefangenen gab?« »Ja.« »Sagen Sie ihm, daß laut unseren Informationen zwei Männer im ersten lkw waren, die nicht zu rückgekehrt sind und deren Leichen auch nicht von dem deutschen Trupp gefunden wurden, der später zum Schauplatz kam. Einer war der Fahrer des lkws, den er nach seinen eigenen Worten verhört hat. Der andere war der Feldwebel, der die Abtei lung geführt hat. Wir wollen wissen, was mit dem Feldwebel passiert ist.« Phengaros unterstrich seine Worte mit nach drücklichen Gesten. »Er sagt, er sei nicht dabeigewesen, aber wenn ein deutscher Feldwebel überlebt hätte, dann hätten seine Leute ihn mit Sicherheit zwecks späterer Be fragung gefangengenommen. Ein Feldwebel hätte mehr Informationen liefern können als ein Fahrer.« »Was ist mit dem Fahrer geschehen?« »Er ist gestorben.« »Woran?« Ein kurzes Zögern. »An seinen Wunden.« »Gut, lassen wir das beiseite. Sind ihm, als er in der Armee von General Markos gedient hat, ir gendwelche Deutsche begegnet, die ebenfalls dort gekämpft haben?« 170
»Ein paar.« »Kann er sich an irgendwelche Namen erin nern?« »Nein.« »Fragen Sie ihn, ob er jemanden weiß, der an dem Überfall auf die lkws beteiligt war und noch am Leben ist.« »Er weiß keinen.« »Aber sie können doch nicht alle tot sein. Sagen Sie ihm, er soll noch einmal versuchen, sich zu erin nern.« »Er weiß keinen.« Mittlerweile sah Phengaros nicht mehr Miss Ko lin an, sondern starrte geradeaus. Es trat Schweigen ein. George spürte, wie ihn je mand am Arm berührte. Der Leutnant nahm ihn beiseite. »Mr. Carey, der Mann will keine Informationen liefern, die seine Freunde belasten könnten«, sagte er auf englisch. »Ja, ich verstehe. Natürlich.« »Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment.« Der Leutnant trat zu dem Beamten und führte im Flüsterton ein kurzes Gespräch mit ihm. Dann kehrte er zu George zurück. »Die Informationen ließen sich für Sie in Erfah rung bringen, Mr. Carey«, murmelte er, »aber das würde eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen.« »Wie das?« »Dieser Phengaros ist offenbar schwer zu über 171
reden, aber wenn Sie wünschen, ließen sich gewisse Druckmittel anwenden …« »Nein, nein.« George sprach hastig; die Knie be gannen ihm zu zittern. »Sofern er die Informatio nen nicht absolut freiwillig gibt, haben sie rechtlich gesehen keinerlei Beweiswert.« Das war eine Not lüge. Phengaros’ Aussage hatte ohnehin keinen Be weiswert; wenn überhaupt, wären die Aussagen von Augenzeugen wichtig. Aber George fiel nichts Bes seres ein. »Wie Sie wollen. Möchten Sie sonst noch etwas fragen?« Der Leutnant gab sich gelangweilt. Er hat te George durchschaut. Wenn sich die Befragung mit derart hasenherziger Zaghaftigkeit durchführen ließ, konnte sie nicht sonderlich wichtig sein. »Ich glaube nicht, danke.« George wandte sich an Miss Kolin. »Fragen Sie diesen Gefängnismenschen, ob es gegen die Vorschriften verstößt, dem Häftling ein paar Zigaretten zu schenken.« Der Beamte hörte auf, in der Nase zu bohren, als er die Frage hörte. Dann zuckte er die Achseln. Wenn der Amerikaner an einen derart unkooperati ven Typen Zigaretten verschwenden wollte, war das seine Sache; aber sie mußten zuerst untersucht wer den. George zog ein Päckchen Zigaretten aus der Ta sche und reichte es ihm. Der Beamte warf einen Blick hinein, drückte das Päckchen und gab es zu rück. George steckte es durch das Gitter. Phengaros’ Gesicht zeigte schon eine ganze Weile 172
ein schwaches Lächeln. Sein Blick traf den von George. Mit einer ironischen Verbeugung nahm er die Zigaretten. Dabei begann er zu sprechen. »Ich verstehe die Verlegenheit, die Sie veranlaßt, mir dieses Geschenk anzubieten«, übersetzte Miss Kolin. »Wenn ich ein Verbrecher wäre, würde ich es gern annehmen. Aber das Schicksal, das meine Genossen in den Händen der faschistischen Reak tionäre erlitten haben, lastet schon kaum mehr auf dem Gewissen der Welt. Wenn Ihr Gewissen Sie plagt, so ehrt Sie das. Ich bin hier allerdings noch nicht so korrupt, daß ich Ihnen erlauben würde, es um den Preis eines Päckchens Zigaretten zu erleich tern. Nein. So gern ich sie auch geraucht hätte, ich denke, ihr Schicksal muß das gleiche sein wie das jeder anderen amerikanischen Hilfe.« Mit einer raschen Bewegung aus dem Handge lenk warf er die Zigaretten dem Wärter hinter ihm zu. Sie fielen auf den Boden. Als der Wärter sie hastig aufhob, blaffte der Beamte ihn durch das Gitter hindurch wütend an, und er beeilte sich, die Tür aufzuschließen. Phengaros nickte knapp und ging hinaus. Der Beamte hörte zu bellen auf und wandte sich mit entschuldigendem Gesicht an George. »Une espèce de faussecouche«, sagte er; »je vous demande pardon, Monsieur.« »Wofür?« sagte George. »Wenn er meint, daß ich ein mieser, kryptofaschistischer imperialistischer 173
Lakai bin, hat er vollkommen recht damit, daß er meine Zigaretten verweigert.« »Pardon?« »Immerhin war er so höflich, mir die Zigaretten nicht umgehend ins Gesicht zu werfen. Ich an sei ner Stelle hätte das vielleicht getan.« »Qu’est-ce que Monsieur a dit?« Der Beamte sah Miss Kolin verzweifelt an. George schüttelte den Kopf. »Das brauchen Sie nicht zu übersetzen, Miss Kolin. Er begreift es oh nehin nicht. Sie allerdings verstehen mich, Herr Leutnant, nicht wahr? Ja, das dachte ich mir schon. Und jetzt würde ich gern schleunigst von hier ver schwinden, wenn Sie nichts dagegen haben, ehe in meinem Magen etwas sehr Unangenehmes pas siert.« Ins Hotel zurückgekehrt, fanden sie eine kurze Mitteilung von Oberst Chrysanthos vor. Sie ent hielt die Information, daß eine Durchsicht aller ein schlägigen Listen keinen Mann namens Schirmer erbracht hatte, der in dem Feldzug gegen Markos gefallen oder gefangengenommen worden war; au ßerdem war kein Mann dieses Namens in den Ge nuß einer Amnestie gekommen. »Miss Kolin«, sagte George, »was kann man trin ken, wenn man diese Magengeschichte hat?« »Am besten Kognak.« »Dann sollten wir uns einen genehmigen.« Später, als der Versuch sich bewährt hatte, sagte er: »Als wir in Köln waren, hat meine Kanzlei mir 174
die Erlaubnis gegeben, die Nachforschung noch drei Wochen lang fortzusetzen, falls ich der Mei nung sei, wir machen Fortschritte. Eine davon ist vorbei, und wir haben lediglich herausgefunden, daß Franz Schirmer höchstwahrscheinlich nicht von den Leuten gefangengenommen wurde, die die lkws überfallen haben.« »Na, das ist doch schon etwas.« »Na ja, es ist allenfalls nicht ganz uninteressant. Aber es bringt uns nicht weiter. Ich gebe noch eine Woche zu. Wenn wir der Wahrheit bis dahin nicht nähergekommen sind, fahren wir nach Hause. Okay?« »Ja. Was wollen Sie in dieser Woche unterneh men?« »Was ich meiner Meinung nach schon längst hät te tun sollen. Nach Vodena fahren und nach seinem Grab suchen.«
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odena, das früher Edessa hieß und einst Sitz der Könige von Mazedonien war, liegt etwa achtzig Kilometer westlich von Saloniki inmitten üppiger Weingärten, Granatapfel-, Feigen- und Maulbeerhaine in den Ausläufern des Berges Cha kirka, zweihundert Meter über der Iannitsa-Ebene. Die Hänge hinab stürzen rauschend funkelnde Bergbäche in die Nisia Voda, den Nebenfluß des Vadar, der rasch an der Stadt vorbei zum Haupt strom fließt. Die alten Ziegelhäuser glühen in der Sonne. Es gibt keine Touristenhotels. George und Miss Kolin ließen sich in einem in Saloniki gemieteten Wagen hinfahren. Es war keine sehr angenehme Reise. Der Tag war heiß, die Straße schlecht. An ihrem Ziel angelangt, versagte ihnen der Zustand ihres Magens sogar die Tröstungen ei nes guten Essens und einer Flasche Wein. Während sich der Chauffeur gutgelaunt auf die Suche nach Essen und Wein machte, gingen sie in ein Café, hiel ten sich die Fliegen so lange vom Leib, daß sie einen Kognak trinken konnten, und schleppten sich dann auf der Suche nach Informationen mutlos von dan nen. 176
Das Glück war fast sofort mit ihnen. Ein Bon bonhändler auf dem Markt erinnerte sich nicht nur gut an den Hinterhalt, sondern hatte damals sogar in einem nahe gelegenen Weinberg gearbeitet. Die andartes waren eine Stunde vor den deutschen lkws gekommen und hatten ihm geraten, sich fernzuhal ten. Als der Chauffeur zurückkehrte, überredeten sie den Händler, den Bauchladen mit seinen fliegenum schwirrten Leckereien bei einem Freund zu lassen und sie zum Schauplatz des Hinterhalts zu führen. Das Treibstoffdepot hatte sich in der Nähe eines Eisenbahngleises etwa fünf Kilometer außerhalb von Vodena an der Nebenstraße nach Apsalos be funden. Die lkws waren etwa anderthalb Kilometer vor dem Depot überfallen worden. Es war ein idealer Ort für einen Hinterhalt. Die ständig ansteigende Straße beschrieb an dieser Stelle eine Haarnadelkurve unterhalb eines Hanges, der den Angreifern mit seinen Bäumen und Dickichten reichlich Deckung bot. Davor und dahinter gab es entlang der Straße keinerlei Deckung. Die Minen waren ein ganzes Stück hinter der Kehre plaziert worden, so daß der erste lkw, wenn er getroffen war, den nachfolgenden die Straße blockierte, und das an einer Stelle, wo sie weder wenden noch Dek kung finden konnten, um das Feuer von oben zu erwidern. Die auf dem Hang versteckten andartes mußten leichtes Spiel gehabt haben. Daß zwei der elf Deutschen es überhaupt geschafft hatten, lebend 177
die Straße hinunterzukommen, war erstaunlich. Sie mußten außerordentlich flink oder das Feuer vom Hang mußte außerordentlich ungezielt gewesen sein. Die ums Leben Gekommenen waren etwas wei ter den Hügel hinunter auf einem ebenen Fleck gleich an der Straße begraben worden. Dem Händ ler zufolge war das Gelände seinerzeit regenfeucht gewesen. Die ordentliche Reihe der Gräber war im Unterholz noch erkennbar. Leutnant Leubner und seine Leute hatten auf jedem einen kleinen Stein haufen aufgetürmt. George hatte in Frankreich und Italien deutsche Gräber am Straßenrand gesehen und vermutete daher, daß jedes Grab ursprünglich auch den Stahlhelm des Gefallenen sowie einen Holzpfahl mit seiner Nummer, seinem Namen und seinem Rang getragen hatte. Er sah sich nach den Pfählen um, aber wenn es sie überhaupt je gegeben hatte, so war mittlerweile nichts mehr von ihnen zu sehen. Unter einem nahe gelegenen Busch fand er einen rostigen deutschen Helm; das war alles. »Sieben Gräber«, bemerkte Miss Kolin, während sie wieder den Hügel hinaufgingen; »das entspricht genau dem, womit nach dem Brief des Leutnants an Frau Schirmer zu rechnen ist. Zehn Mann und der Feldwebel fahren los. Zwei Mann kommen zurück. Die Leichen des Feldwebels und des Fahrers des er sten lkw fehlen. Sieben sind begraben.« »Ja, aber Phengaros hat gesagt, es habe nur einen Gefangenen gegeben – den Fahrer. Wo also ist der Feldwebel geblieben? Der Fahrer wurde verwundet, 178
als der lkw auf die Mine fuhr, nicht aber getötet. Höchstwahrscheinlich saß der Feldwebel in der Fahrerkabine neben ihm. Wahrscheinlich ist er ebenfalls verwundet worden. Laut Leutnant Leub ner war er nicht der Mann, der sich kampflos erge ben hätte. Angenommen, er hat es irgendwie ge schafft, von der Straße wegzukommen, und ist ein Stück weit davon entfernt gestellt und getötet wor den?« »Aber wie, Mr. Carey? Wie soll er weggekom men sein?« Sie waren wieder am Schauplatz des Hinterhalts angelangt. George ging an der dem Hang gegenü berliegenden Straßenseite entlang und sah hinunter. Der kahle Fels fiel steil zum Tal hin ab. Es war absurd anzunehmen, daß selbst ein Unverwundeter unter Beschuß vom Hang und der Straße darüber versuchen würde, hier hinunterzuklettern. Die bei den Männer, die entkommen waren, hatten das nur dem Umstand zu verdanken, daß sie im letzten lkw gewesen und unverwundet geblieben waren. Der Feldwebel war volle zweihundert Meter weiter als sie von jeder Deckung entfernt gewesen. Er hatte nicht die geringste Möglichkeit gehabt, davonzu kommen. George kletterte ein Stück weit den Hang hinauf, um sich den Schauplatz von der Warte der Angrei fer aus anzusehen. Er konnte sich die Szene vorstel len: die lkws, die sich den Hang hinaufquälten, die ohrenbetäubende Detonation der Mine, das Knat 179
tern von Maschinengewehr- und Gewehrfeuer, die dumpfen Explosionen der auf die Straße geworfe nen Granaten, das heisere Gebrüll, die Schreie der Sterbenden. Er kraxelte wieder zum Auto zurück. »Na schön, Miss Kolin«, sagte er; »was glauben Sie denn, was passiert ist?« »Ich glaube, daß er zusammen mit dem Fahrer gefangengenommen wurde und beide verwundet worden sind. Ich glaube, daß der Feldwebel an sei nen Wunden gestorben oder auf dem Weg zum Treffpunkt der andartes mit Phengaros bei einem Fluchtversuch erschossen worden ist. In diesem Fall würde Phengaros natürlich annehmen, daß es von vornherein nur einen Gefangenen gab.« »Und was ist mit den Papieren des Feldwebels? Die hätten die andartes doch zu Phengaros mitge nommen.« »Sie haben bestimmt auch die Papiere derer mit genommen, die sie hier getötet haben.« George überlegte. »Ja, Sie könnten recht haben. Zumindest ist das eine plausible Erklärung. Aller dings gibt es nach wie vor nur eine Methode, Ge wißheit zu erlangen, nämlich indem wir jemanden auftreiben, der dabei war.« Miss Kolin machte eine Kopfbewegung zu dem Händler hin. »Ich habe mit dem Mann geredet. Er sagt, die andartes, die dafür verantwortlich waren, stammten aus Florina. Das stimmt mit den Infor mationen des Obersts überein.« 180
»Kennt er einen davon mit Namen?« »Nein. Sie hätten nur gesagt, sie kämen aus Flori na.« »Schon wieder eine Sackgasse. Na schön, wir fah ren morgen hin. Am besten, wir machen uns jetzt auf den Rückweg. Was meinen Sie, wieviel Geld soll ich dem Alten geben?« Es war früher Abend, als sie wieder in Saloniki ein trafen. Während ihrer Abwesenheit schien etwas Ungewöhnliches passiert zu sein. Auf den Straßen taten zusätzliche Polizeikräfte Dienst, und auf den Bürgersteigen standen Ladenbesitzer und bespra chen sich wortreich mit ihren Nachbarn. Die Cafés waren überfüllt. Im Hotel erfuhren sie die Neuigkeit. Kurz vor drei Uhr an diesem Nachmittag war ein geschlossener Armeelastwagen am Eingang der Eu rasischen Kreditbank in der Rue Egnatie vorgefah ren. Er hatte ein, zwei Momente dort gestanden. Dann war hinten plötzlich die Plane zurückgeschla gen worden, und sechs Männer waren herausge sprungen. Sie waren mit Maschinenpistolen und Handgranaten bewaffnet gewesen. Drei von ihnen hatten sich sofort im Eingangsportal postiert. Die anderen drei waren hineingegangen. Binnen wenig mehr als zwei Minuten waren sie mit Devisen im Wert von mehreren hunderttausend Dollar – ame rikanische Dollars, Escudos und Schweizer Franken – wieder herausgekommen. Zehn Sekunden später, 181
fast ehe die Passanten bemerkt hatten, daß etwas nicht stimmte, waren sie wieder im Wagen und ver schwunden gewesen. Der Überfall war perfekt organisiert. Die Verbre cher hatten genau gewußt, in welchem Tresor das Geld aufbewahrt wurde und wie man an ihn heran kam. Es war kein Schuß gefallen. Ein Angestellter, der mutig versucht hatte, eine Alarmglocke auszu lösen, hatte für seine Kühnheit nichts weiter als ei nen Kolbenhieb ins Gesicht bekommen. Die Alarm glocke hatte sich, wie man später feststellte, schlicht deshalb nicht ausgelöst, weil die Kabel durchtrennt worden waren. Die Gangster hatten mit geballter Faust gegrüßt. Es war ganz klar, daß sie einen kommunistischen Komplizen innerhalb der Bank gehabt hatten. Ganz klar war außerdem, daß der Raubüberfall zu einer ganzen Serie gehörte, die dazu diente, die kommunistische Parteikasse wieder auf zufüllen. Was die Identität des Komplizen anging, war es ganz natürlich, daß der Verdacht auf den mu tigen Angestellten fiel. Hätte er das, was er getan hatte, gewagt, wenn er nicht von vornherein gewußt hätte, daß er kein Risiko einging? Ganz bestimmt nicht! Die Polizei verhörte ihn. Soweit der aufgeregte Bericht des Empfangschefs über den Raubüberfall. Der Barkeeper des Hotels bestätigte die Fakten, hatte aber eine etwas ausgefallenere Theorie, was die Motive der Verbrecher anging. Wie kam es eigentlich, fragte er, daß mittlerweile 182
jeder größere Raubüberfall, der stattfand, das Werk von Kommunisten war, die für die Parteikasse stah len? Stahl sonst niemand mehr? Ja, gewiß, es hatte zweifellos politisch motivierte Raubüberfälle gege ben, allerdings nicht so viele wie allgemein ange nommen. Und warum sollten die Bankräuber bei ihrem Abgang mit geballter Faust grüßen? Um zu demonstrieren, daß sie Kommunisten waren? Ab surd! Ihnen ging es lediglich darum, diesen Ein druck zu vermitteln, um die Polizei zu täuschen und die Aufmerksamkeit von sich abzulenken. Sie konnten sich darauf verlassen, daß die Polizei am liebsten die Kommunisten verantwortlich machte. Die Kommunisten wurden für alles Schlimme ver antwortlich gemacht. Er selbst sei natürlich kein Kommunist, aber … Er ließ sich des langen und breiten über das The ma aus. George hörte geistesabwesend zu. In diesem Mo ment war er eher an der Entdeckung interessiert, daß sein Appetit mit einmal zurückgekehrt war und er ohne Widerwillen wieder an Essen denken konnte. Florina liegt am Eingang eines tiefen Tals fünf zehn Kilometer südlich der jugoslawischen Grenze. Etwa fünfundsechzig Kilometer jenseits der Berge beginnt Albanien. Florina ist das Verwaltungszen trum der gleichnamigen Provinz und ein wichtiger Endbahnhof. Die Stadt hat eine Garnison und eine zerstörte türkische Zitadelle. Sie verfügt über mehr als ein Hotel und ist weder so pittoresk wie Vodena 183
noch so alt. Sie entstand als unbedeutende Zwi schenstation auf einer römischen Straße von Duraz zo nach Konstantinopel, allerdings viel zu spät, um an dem kurzlebigen Ruhm des mazedonischen Reichs teilzuhaben. In einem Land, in dem so viele Quellen abendländischer Kultur entsprangen, ist sie ein Parvenü. Doch wenn Florina für die Verfasser von Reise führern historisch nicht viel Interessantes bietet, so hat die Stadt doch das, was man eine Vergangenheit nennt. Im Sommer 1896 nahmen sechzehn Männer an einem Treffen in Saloniki teil. Dort gründeten sie eine politische Vereinigung, die in späteren Jahren zur gefährlichsten geheimen Terroristenorganisati on werden sollte, die der Balkan, ja ganz Europa je gekannt hat. Sie nannte sich Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation, kurz imro. Ihr Glau bensbekenntnis hieß ›Mazedonien den Mazedoni ern‹, ihre Fahne zeigte einen roten Totenschädel mit gekreuzten Knochen auf schwarzem Grund, ihr Wahlspruch lautete ›Freiheit oder Tod‹. Ihre Argu mente waren das Messer, das Gewehr und die Bombe. Ihre Streitkräfte, die in den Hügeln und Bergen Mazedoniens lebten und den Dorf- und Stadtbewohnern imro-Gesetze und imro-Steuern aufzwangen, wurden Komitadschis genannt. Ihr Treueeid wurde auf eine Bibel und einen Revolver abgelegt, Illoyalität mit dem Tode bestraft. Zu de nen, die diesen Eid ablegten und in der imro dien 184
ten, gehörten reiche Leute wie Kleinbauern, Dichter wie Soldaten, Philosophen wie berufsmäßige Mör der. Für die Sache der Unabhängigkeit Mazedoni ens brachte man Türken und Bulgaren, Serben und Walachen, Griechen und Albaner um. Für dieselbe Sache brachte man auch Mazedonier um. Zur Zeit des ersten Balkankrieges war die imro eine ernst zunehmende politische Kraft, die imstande war, be trächtlichen Einfluß auf die Ereignisse auszuüben. Der mazedonische Komitadschi mit seinen Patro nengurten und seinem Gewehr wurde zur legendä ren Gestalt, ein heldenhafter Verteidiger von Frauen und Kindern gegen die Grausamkeit der Türken, ein Ritter der Berge, der den Tod der Unehre vor zog und seine Gefangenen mit Höflichkeit und Milde behandelte. Daß die Grausamkeiten der Tür ken, wie zynische Beobachter immer wieder her vorhoben, im allgemeinen als Vergeltungsmaßnah men für die Greuel der Komitadschis begangen wurden und das ritterliche Verhalten nur dann an den Tag gelegt wurde, wenn die Möglichkeit be stand, ausländische Sympathisanten damit zu be eindrucken, tat der Legende offenbar keinen Ab bruch. Sie hielt sich erstaunlich lange und hält sich bis zu einem gewissen Grad noch heute. Auf dem zentralen Platz von Gorna-Dschumaja, der Haupt stadt Bulgarisch-Mazedoniens, gibt es sogar ein Denkmal für den Unbekannten Komitadschi. Zwar wurde es 1933 von den imro-Gangstern errichtet, die die Stadt beherrschten, aber die damalige bulga 185
rische Zentralregierung erhob keine Einwände da gegen, und es steht mit großer Sicherheit noch heu te. Wenn die imro auch nicht mehr von Dichtern und Idealisten unterstützt wird, so ist sie doch nach wie vor eine politische Kraft, die sich von Zeit zu Zeit mit schöner Unparteilichkeit sowohl an die Fa schisten als auch an die Kommunisten verkauft hat. Die imro ist und war schon immer eine sehr balka nische Institution. Florina war seit jeher eine der Hochburgen der imro. Kurz nach dem folgenreichen Treffen in Sa loniki im Jahre 1896 begann ein ehemaliger Unter offizier der bulgarischen Armee namens Marko, in Florina eine imro-Truppe zu rekrutieren, die rasch zur mächtigsten der ganzen Gegend wurde – und zur berühmtesten. Unter anderem entschlossen sich der bulgarische Dichter Jaworov und der junge Schriftsteller Christo Silianov zum Eintritt und be teiligten sich eifrig am aktiven Dienst (obwohl Si lianov, der Autor, eine weibische Abneigung dage gen zeigte, seinen Gefangenen die Kehle durchzu schneiden). Marko selbst wurde von türkischen Soldaten getötet, aber die Truppe blieb eine schlag kräftige Einheit und spielte bei dem Aufstand von 1913 eine führende Rolle. Die typischen Irredenti stenmethoden – Sabotage, Hinterhalt, Entführung, Einschüchterung, bewaffneter Raubüberfall und Mord – gehören in Florina zum kulturellen Erbe. Und obwohl es mittlerweile Invasion und Krieg braucht, um die gesetzestreuen Bewohner der Pro 186
vinz zu einem Rückgriff auf diese alten Fähigkeiten zu bewegen, gibt es auch in Friedenszeiten stets ein paar kühne Geister, die bereit sind, sich in die Berge zu begeben und ihre unglücklichen Nachbarn daran zu erinnern, daß die Traditionen ihrer Vorväter noch immer höchst lebendig sind. George und Miss Kolin kamen mit dem Zug von Saloniki. Das Hotel Parthenon war ein dreistöckiges Ge bäude in der Nähe des Stadtzentrums. Im Erdge schoß befanden sich ein Café und ein Restaurant, das direkt von der Straße aus zugänglich war. Das Haus hatte ungefähr die Größe eines drittklassigen Hotels für Handelsreisende in einer Stadt wie etwa Lyon. Die Zimmer waren klein, die sanitären Ein richtungen primitiv. Das Bettgestell in Georges Zimmer war aus Eisen, doch der Federrost hatte ei nen Holzrahmen. Auf Miss Kolins Vorschlag hin verbrachte George die erste halbe Stunde dort mit einem Zerstäuber und einer Dose ddt, mit der er die Ritzen im Holzwerk besprühte. Dann ging er nach unten ins Café. Gleich darauf setzte sich Miss Kolin zu ihm. Der Besitzer des Parthenon war ein kleiner Mann mit grauem Gesicht und grauem Bürstenschnitt, der einen zerknitterten grauen Anzug trug. Als er Miss Kolin erscheinen sah, verließ er seinen Tisch am Tresen, wo er sich im Stehen mit einem Armeeoffi zier unterhalten hatte, und kam zu ihnen herüber. Er verbeugte sich und sagte etwas auf französisch. 187
»Fragen Sie ihn, ob er etwas mit uns trinken möchte«, sagte George. Als die Einladung übersetzt worden war, ver beugte sich der kleine Mann erneut, setzte sich mit einem Wort der Entschuldigung und machte mit ei nem Fingerschnippen den Barkeeper auf sich auf merksam. Sie tranken alle Ouzo. Man tauschte Höflichkei ten aus. Der Besitzer entschuldigte sich dafür, daß er kein Englisch sprach, und begann sie dann unauf fällig darüber auszuhorchen, weshalb sie in der Stadt waren. »Wir haben wenige Touristen hier«, bemerkte er. »Ich habe schon oft gesagt, daß das schade ist.« »Die Landschaft ist jedenfalls sehr schön.« »Wenn Sie während Ihres Aufenthaltes Zeit ha ben, sollten Sie eine Ausflugsfahrt unternehmen. Ich besorge Ihnen gern einen Wagen.« »Sehr freundlich von ihm. Sagen Sie ihm, wir hät ten in Saloniki gehört, man könne bei den Seen im Westen ausgezeichnet jagen.« »Der Herr hat vor, jagen zu gehen?« »Diesmal leider nicht. Wir sind geschäftlich hier. Aber man hat uns gesagt, daß es dort oben reichlich Wild gibt.« Der kleine Mann lächelte. »In der Gegend gibt es alle Arten von Wild. In den Bergen gibt es auch Ad ler«, fügte er verschmitzt hinzu. »Adler, die vielleicht selbst ein wenig auf die Jagd gehen?« 188
»Das hat der Herr zweifellos auch in Saloniki er fahren.« »Ich bin stets davon ausgegangen, daß das hier ein sehr romantischer Landesteil ist.« »Ja, für manche ist der Adler ein romantischer Vogel«, sagte der Besitzer schalkhaft. Offenbar ge hörte er zu dem Typ, der den kleinsten Witz zu Tode reiten muß. »Ein Raubvogel ist er außerdem.« »Ja, ganz recht. Wenn Armeen sich auflösen, gibt es immer ein paar, die lieber zusammenbleiben und einen Privatkrieg gegen die Gesellschaft führen. Aber hier in Florina braucht sich der Herr nicht zu fürchten. Die Adler kommen niemals von den Ber gen herunter.« »Schade. Wir hatten gehofft, Sie könnten uns vielleicht helfen, einen zu finden.« »Einen Adler zu finden? Handelt der Herr etwa mit Schmuckfedern?« Aber nun wurde es George zu bunt. »Schön«, sagte er, »lassen wir die Spiegelfechtereien. Sagen Sie ihm, daß ich Anwalt bin und wir wenn möglich mit jemandem reden wollen, der zu dem elasTrupp gehört hat, der 1944 unter der Führung von Phengaros stand. Erklären Sie ihm, daß es nichts Politisches ist, sondern daß wir lediglich nach dem Grab eines deutschen Feldwebels forschen, der in der Nähe von Vodena gefallen ist. Sagen Sie, daß ich für seine Verwandten in Amerika tätig bin.« Er beobachtete das Gesicht des kleinen Mannes, 189
während Miss Kolin übersetzte. Ein, zwei Momente lang legte sich ein ganz ungewöhnlicher Ausdruck über dessen schlaffe, graue Falten, ein Ausdruck, der sich zu gleichen Teilen aus Interesse, Verblüf fung, Empörung und Angst zusammensetzte. Dann fiel ein Vorhang, und das Gesicht wurde leer. Der Hotelier griff nach seinem Glas und leerte es. »Ich bedaure«, sagte er sehr dezidiert, »daß ich Ihnen in dieser Angelegenheit nicht helfen kann.« Er erhob sich. »Moment noch«, sagte George. »Wenn er mir nicht helfen kann, dann fragen Sie ihn, ob er hier jemanden kennt, der es kann.« Sein Gegenüber zögerte und warf dann einen ra schen Blick zu dem Offizier hinüber, der an dem Tisch bei der Bar saß. »Einen Moment«, sagte er knapp. Er ging zu dem Offizier hinüber, beugte sich über den Tisch und begann in drängendem Ton auf ihn einzureden. Ein, zwei Momente später sah George, wie der Offizier rasch zu ihm herüberblickte, um dann mit scharfer Stimme etwas zu dem Hotelbesitzer zu sa gen. Der kleine Mann zuckte die Achseln. Der Of fizier stand auf und kam zu ihnen herüber. Er war ein schlanker, dunkelhaariger junger Mann mit glänzenden Augen, sehr weiten Reithosen und einer Taille wie ein Mädchen. Er trug die Rangab zeichen eines Hauptmanns. Er verbeugte sich vor Miss Kolin und lächelte George freundlich an. »Verzeihung, Sir«, sagte er auf englisch. »Der 190
Wirt hat mir gesagt, Sie stellen hier Nachforschun gen an.« »Richtig.« Der andere schlug die Hacken zusammen. »Stref taris, Hauptmann«, sagte er. »Sie sind Amerikaner, Mister …?« »Mein Name ist Carey. Ja, ich bin Amerikaner.« »Und die Dame?« »Miss Kolin ist Französin. Sie ist meine Dolmet scherin.« »Danke. Vielleicht kann ich Ihnen helfen, Mr. Carey.« »Sehr freundlich von Ihnen, Herr Hauptmann. Setzen Sie sich doch.« »Danke.« Der Hauptmann drehte den Stuhl her um, schob sich die Sitzfläche zwischen die Beine und setzte sich, die Ellbogen auf die Lehne gestützt. Die Geste hatte etwas merkwürdig Unverschämtes. Er lächelte weniger freundlich. »Sie haben den Wirt sehr beunruhigt, Mr. Carey.« »Das tut mir leid. Ich habe ihn nur gebeten, mich mit jemandem in Kontakt zu bringen, der 1944 dem Trupp von Phengaros angehörte. Ich habe ihm ge sagt, meine Nachforschungen haben nichts mit Po litik zu tun.« Der Hauptmann seufzte übertrieben. »Mr. Ca rey«, sagte er, »wenn ich zu Ihnen nach Amerika käme und Sie bäte, mich mit einem von der Polizei gesuchten Gangster in Kontakt zu bringen, wären Sie dann bereit, mir zu helfen?« 191
»Ist das vergleichbar?« »Aber ja. Ich glaube, Sie verstehen unsere Pro bleme hier nicht ganz. Sie sind Ausländer, und das entschuldigt Sie, aber es ist sehr unbedacht, in sol chen Dingen Fragen zu stellen.« »Wären Sie so freundlich, mir zu sagen, warum?« »Diese Männer sind Kommunisten … Gesetzlo se. Wissen Sie, daß Phengaros selbst wegen eines Verbrechens im Gefängnis sitzt?« »Ja. Ich habe vor zwei Tagen mit ihm gesprochen.« »Wie bitte?« »Oberst Chrysanthos in Saloniki war so freund lich, mir ein Gespräch mit Phengaros im Gefängnis zu ermöglichen.« Das Lächeln des Hauptmanns schwand. Er nahm die Ellbogen von der Stuhllehne. »Ich muß Sie um Entschuldigung bitten, Mr. Ca rey.« »Wofür?« »Mir war nicht klar, daß Sie in amtlichem Auftrag hier sind.« »Nun ja, um genau zu sein …« »Ich glaube nicht, daß wir Befehle aus Saloniki bekommen haben. Wäre das der Fall gewesen, hätte der Kommandant mich natürlich entsprechend in struiert.« »Einen Moment, Herr Hauptmann, nur damit wir uns nicht mißverstehen. Ich bin eher in einer zi vilrechtlichen als in einer amtlichen Angelegenheit hier. Ich will es Ihnen erklären.« 192
Der Hauptmann hörte sich die Erklärung auf merksam an. Er wirkte erleichtert, als George fertig war. »Dann sind Sie also nicht auf Anraten von Oberst Chrysanthos hier, Sir?« »Nein.« »Sie müssen wissen, Mr. Carey, daß ich Offizier des militärischen Nachrichtendienstes für diesen Bezirk bin. Es wäre äußerst verhängnisvoll für mich, wenn Oberst Chrysanthos dächte …« »Aber ja, ich weiß. Ein sehr tüchtiger Mann, der Oberst.« »O ja.« »Und ein sehr beschäftigter. Deshalb habe ich mir auch gedacht, es wäre vielleicht besser, den Oberst nicht noch einmal zu behelligen, sondern mir die Namen einiger dieser Leute einfach inoffizi ell zu besorgen.« Der Hauptmann machte ein verdutztes Gesicht. »Inoffiziell? Wie das?« »Ich könnte die Namen kaufen, oder etwa nicht?« »Von wem denn?« »Nun ja, eben das hoffte ich womöglich von dem Wirt zu erfahren.« »Aha!« Der Hauptmann gestattete sich endlich wieder zu lächeln. »Mr. Carey, wenn der Wirt wirklich wüßte, wo man die Namen, die Sie suchen, kaufen kann, wäre er nicht so dumm, das einem Fremden gegen über zuzugeben.« 193
»Haben Sie denn über keinen dieser Leute ir gendwelche Informationen? Was ist aus ihnen ge worden?« »Manche sind bei den Markos-Truppen gefallen, manche leben jenseits der Grenze bei unseren Nach barn. Der Rest« – er zuckte die Achseln – »hat an dere Namen angenommen.« »Aber sie sind doch bestimmt noch hier irgend wo in der Nähe.« »Ja, aber ich kann Ihnen nicht empfehlen, sich auf die Suche nach ihnen zu machen. Es gibt Cafés in dieser Stadt, wo Sie große Unannehmlichkeiten hät ten, wenn Sie die Fragen stellten, die Sie dem Wirt hier gestellt haben.« »Verstehe. Was würden Sie an meiner Stelle tun, Herr Hauptmann?« Der Hauptmann dachte einen Moment lang ein gehend nach, dann beugte er sich vor. »Mr. Carey, Sie dürfen auf keinen Fall denken, daß ich Ihnen nicht helfen möchte, soweit es irgend in meiner Macht steht.« »Nein, natürlich nicht.« Aber der Hauptmann war noch nicht fertig. »Ich möchte Ihnen helfen, soweit ich kann. Aber erklä ren Sie mir eins: Sie möchten einfach wissen, ob die ser deutsche Feldwebel bei dem Hinterhalt gefallen ist oder nicht. Richtig?« »Richtig.« »Sie möchten nicht unbedingt den Namen der Person wissen, die ihn hat sterben sehen?« 194
George überlegte. »Ich möchte es einmal so for mulieren«, sagte er schließlich. »Der Feldwebel ist aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich gefallen. Wenn es so ist, und ich kann mir dieser Tatsache hinreichend sicher sein, dann ist das alles, was ich wissen will. Mein Auftrag ist dann erledigt.« Der Hauptmann nickte. »Aha. Nehmen wir also einmal an, die entsprechende Information ließe sich irgendwie beschaffen. Wären Sie dann bereit, sagen wir dreihundert Dollar dafür zu bezahlen, ohne zu wissen, wo sie herkommt?« »Dreihundert! Ein bißchen happig, wie?« Der Hauptmann tat das Thema mit einer weg werfenden Handbewegung ab. »Sagen wir zwei hundert. Der Betrag ist nicht so wichtig.« »Dann sagen wir einhundert.« »Wie Sie wollen. Sie würden also bezahlen, Mr. Carey?« »Unter bestimmten Bedingungen, ja.« »Was für Bedingungen, bitte?« »Tja, ich kann Ihnen von vornherein sagen, daß ich keine hundert Dollar für das Vergnügen bezah le, daß mir jemand erzählt, er kennt jemanden, der einen Bekannten hat, der bei dem Hinterhalt dabei war und behauptet, der deutsche Feldwebel sei ge fallen. Ich würde irgendeinen Beweis dafür verlan gen, daß die Geschichte authentisch ist.« »Das verstehe ich, aber was für ein Beweis könnte das sein?« »Nun ja, zum einen würde ich eine plausible Er 195
klärung dafür verlangen, daß die deutsche Patrouil le, die hinterher zum Schauplatz kam, die Leiche des Feldwebels nicht gefunden hat. Es waren Lei chen dort, aber die des Feldwebels war nicht darun ter. Ein authentischer Zeuge müßte den Grund da für wissen.« »Ja, das leuchtet ein.« »Gibt es denn überhaupt die Möglichkeit, die In formation zu beschaffen?« »Genau darüber denke ich die ganze Zeit nach. Ich sehe vielleicht eine Möglichkeit, ja. Versprechen kann ich allerdings nichts. Wissen Sie etwas über Methoden der Polizeiarbeit?« »Nur das Übliche.« »Dann wissen Sie, daß es im Umgang mit Verbre chern manchmal klug sein kann, den weniger ge fährlichen zeitweilige Straffreiheit, ja Unterstützung zu gewähren, wenn man auf diese Weise ein wenig darüber erfährt, was bei den übrigen vor sich geht.« »Sie sprechen von bezahlten Spitzeln?« »Nicht ganz. Der bezahlte Spitzel stellt einen sel ten zufrieden. Man zahlt und zahlt für nichts, und wenn er sich gerade bezahlt zu machen verspricht, findet man ihn mit durchschnittener Kehle, und das staatliche Geld ist verschwendet. Nein, die Typen, von denen ich rede, sind die Kleinkriminellen, deren Aktivitäten wir dulden können, weil sie diejenigen, die wir fassen wollen, kennen und ihr Vertrauen ge nießen. Solche Typen betätigen sich nicht als Spit zel, verstehen Sie, aber wenn man sich ihnen gegen 196
über freundlich gibt und bereit ist, ihre kleinen krummen Dinger zu übersehen, kann man viel In teressantes erfahren, was so vor sich geht.« »Ich verstehe. Wenn es etwas dabei zu verdienen gäbe und niemand riskierte, sich selbst zu belasten, könnte so jemand herausfinden, was ich wissen will.« »Genau.« »Denken Sie an jemand Bestimmten?« »Ja, aber ich muß zunächst diskret nachforschen, ob man gefahrlos an die betreffende Person heran treten kann. Ich denke, Oberst Chrysanthos wäre sehr verärgert über mich, Mr. Carey, wenn ich Ihr Leben in Gefahr brächte« – er schenkte Miss Kolin ein strahlendes Lächeln – »oder das von Madame.« Miss Kolin rümpfte die Nase. George grinste. »Nein, den Oberst dürfen wir auf keinen Fall verärgern. Aber es ist trotzdem sehr freundlich von Ihnen, sich soviel Mühe zu machen, Herr Hauptmann.« Der Hauptmann hob abwehrend die Hand. »Nicht doch. Falls Sie dem Oberst gegenüber zufäl lig erwähnen, daß ich Ihnen ein klein wenig helfen konnte, so ist mir das Belohnung genug.« »Natürlich werde ich das erwähnen. Wer ist denn die Person, von der Sie glauben, sie kann die Sache arrangieren?« »Es handelt sich um eine Frau. Nach außen hin ist sie Besitzerin eines Weinladens. In Wirklichkeit handelt sie heimlich mit Waffen. Wenn man ein 197
Gewehr oder einen Revolver braucht, geht man zu ihr. Sie beschafft sie einem. Warum wir sie nicht verhaften? Weil dann jemand anders an ihre Stelle träte, jemand, den wir womöglich nicht kennen und nicht so leicht überwachen können. Eines Tages vielleicht, wenn wir uns sicher sind, daß wir auch ihre Bezugsquellen verstopfen können, werden wir sie festnehmen. Bis dahin lassen wir lieber alles so, wie es ist. Sie liebt den Klatsch und ist von daher für Ihre Zwecke höchst geeignet.« »Weiß sie denn nicht, daß sie überwacht wird?« »Doch, aber sie besticht meine Leute. Daß die ihr Geld nehmen, wiegt die Frau in Sicherheit. Es geht alles ganz freundschaftlich zu. Aber wir wollen sie nicht beunruhigen, deshalb muß man sich zuerst mit ihr besprechen.« Er erhob sich, plötzlich sehr geschäftsmäßig. »Vielleicht heute abend.« »Sehr freundlich von Ihnen, Herr Hauptmann. Möchten Sie nicht noch etwas trinken?« »Nein, vielen Dank. Ich habe noch verschiedenes zu erledigen. Falls die Frau sich einverstanden er klärt, schicke ich Ihnen morgen die Adresse, an die Sie sich wenden müssen, und noch andere Instruk tionen, soweit erforderlich.« »Okay. Schön.« Es gab ein großes Hackenzusammenschlagen und reichlich Artigkeiten, dann ging er. George gab dem Barkeeper ein Zeichen. »Na, Miss Kolin«, sagte er, als man sie erneut be dient hatte, »was meinen Sie?« 198
»Ich meine, daß das, was der Hauptmann zu er ledigen hat, mit ziemlicher Sicherheit bei seiner Ge liebten stattfindet.« »Ich wollte eigentlich wissen, ob Sie meinen, das das Ganze Sinn hat. Sie kennen sich in diesem Teil der Welt aus. Meinen Sie, daß er tatsächlich mit die ser Frau Kontakt aufnimmt?« Sie zuckte die Achseln. »Ich denke, für hundert Dollar würde der Hauptmann so ziemlich alles tun.« George brauchte ein, zwei Momente, um sich klarzumachen, was diese Feststellung implizierte. »Aber der Hauptmann bekommt das Geld nicht«, sagte er. »Ach nein?« »Nein. Es ist für die Frau aus dem Weinladen, wenn sie die gewünschte Information liefert.« »Ich glaube nicht, daß er ihr hundert Dollar gibt. Zwanzig vielleicht. Vielleicht auch gar nichts.« »Das ist nicht Ihr Ernst.« »Sie haben mich nach meinem Eindruck gefragt.« »Er ist der Typ des strebsamen Jungmanagers. Alles, was er will, ist ein Schulterklopfen vom Chef. Sie werden sehen.« Miss Kolin lächelte süffisant. George bekam in dieser Nacht nicht viel Schlaf. Irgendwie hatten die Vorsichtsmaßnahmen, die er gegen Wanzen ergriffen hatte, ihn zu der Überzeu gung gebracht, daß der Matratzenrahmen davon wimmeln mußte. Im Dunkeln hatte er sich rasch einzubilden begonnen, daß er von ihnen überfallen 199
wurde. Es half nichts, sich an das ddt zu erinnern, das er versprüht hatte; balkanische Wanzen ver putzten das Zeug vermutlich wie Eiscreme. Nach dem auch eine vierte panische Inspektion nicht ei nen einzigen Angreifer zutage gefördert hatte, war er in Verzweiflung geraten, hatte das Bett abgezo gen und sich erneut mit dem Zerstäuber über die Matratze hergemacht. Rosenfingrige Dämmerung war zwischen den Berggipfeln aufgeschimmert, ehe er endlich hatte einschlafen können. Um neun Uhr wachte er gereizt auf. Während er im Café unten beim Frühstück saß, kam ein Brief des Hauptmanns. Sehr geehrter Herr, bei der betreffenden Frau handelt es sich um Madame Vassiotis von der Weinhandlung in der Rue Monténégrine. Sie erwartet Sie, allerdings erst heute nachmittag. Sagen Sie, Sie kämen von Monsieur Kliris. Berufen Sie sich nicht auf mich. Man hat ihr gesagt, was Sie wollen, und sie hat möglicherweise eine Antwort für Sie. Der Preis beträgt 150 us-Dollar, aber geben Sie das Geld nicht der Frau selbst, und sprechen Sie auch nicht davon. Ich möchte mich persönlich vergewissern, daß Sie auch zufrieden sind, bevor Sie bezahlen. Falls Sie mir, wenn wir uns heute abend sehen, versichern, daß alles in Ordnung ist, werde ich dafür sorgen, daß das Geld ihr über Monsieur Kliris zugeht. 200
Der Brief war auf schlichtem Papier geschrieben und trug keine Unterschrift. George zeigte ihn nicht Miss Kolin. Die Rue Monténégrine erwies sich als steile, ab fallübersäte Gasse im ärmeren Viertel der Stadt. Die Häuser waren verfallen und häßlich. Zwischen einigen der oberen Fenster waren Leinen mit schmutziger Wäsche quer über die Gasse gespannt, aus anderen hing Bettzeug. Überall wuselten Kin der herum. Die Weinhandlung befand sich am oberen Ende der Gasse neben einem Bauhof. Sie hatte kein Schaufenster. Eine Türöffnung, die mit einem Vor hang aus Perlenschnüren versehen war, führte über einige Stufen ins Innere. George und Miss Kolin traten ein und fanden sich in einer Art Keller mit an den Wänden aufgestapelten Weinfässern und einer wuchtigen Holzbank in der Mitte wieder. Licht kam von einer Öllampe auf einem Bord. Die Luft war kühl, und der Geruch nach abgestande nem Wein und alten Fässern war nicht unange nehm. Im Laden hielten sich zwei Personen auf. Die ei ne, ein alter Mann in blauen Drillichhosen, saß auf der Bank und trank ein Glas Wein. Die andere war Madame Vassiotis. Sie war erstaunlich fett, mit riesigen Hängebrü sten und einem ausladenden Schoß. Sie saß auf ei nem niedrigen Hocker, den sie fast völlig verdeckte, 201
neben einer Tür an der hinteren Wand des Ladens. Als ihre Besucher eintraten, erhob sie sich langsam und watschelte nach vorn ins Licht. Ihr Kopf war klein für ihren Körper, und sie hat te das dunkle Haar straff aus der Stirn zurückge kämmt. Das Gesicht wirkte, als müßte es zu jemand Jüngerem oder weniger Feistem gehören. Es war immer noch fest und zart geformt, und die Augen unter den schweren Lidern waren dunkel und klar. Sie murmelte einen Gruß. Miss Kolin gab Antwort. George hatte sie zur Vorbereitung auf das Gespräch genauestens instru iert, und so machte sie sich nicht die Mühe, die Prä liminarien zu übersetzen. Er sah, wie Madame Vas siotis verständnisvoll nickte und dem alten Mann einen raschen Blick zuwarf. Er trank prompt seinen Wein aus und ging. Dann verbeugte sie sich leicht vor George und ging mit einer einladenden Geste durch die Tür in der hinteren Wand voran in ein Wohnzimmer. Dort gab es türkische Wandteppiche, einen Di wan mit Plüschkissen und ein paar wackelige vikto rianische Möbelstücke. Das Ganze erinnerte ihn an die Bude einer Wahrsagerin auf einem Jahrmarkt. Nur die Kristallkugel fehlte. Madame Vassiotis goß drei Gläser Wein ein, ließ sich schwer auf den Diwan sinken und bedeutete ihnen mit einer Handbewegung, auf Stühlen Platz zu nehmen. Als sie saßen, faltete sie die Hände im Schoß und blickte gelassen von einem zum anderen, 202
als wartete sie darauf, daß jemand ein Gesellschafts spiel vorschlug. »Fragen Sie sie«, sagte George, »ob es ihr gelun gen ist, eine Antwort auf die Fragen zu bekommen, die Monsieur Kliris ihr gestellt hat.« Madame Vassiotis hörte sich mit ernstem Gesicht die Übersetzung an und begann dann mit einem Nicken zu sprechen. »Sie gibt an«, sagte Miss Kolin, »daß sie mit ei nem der andartes hat sprechen können, die an der Affäre bei Vodena beteiligt waren. Nach ihren In formationen ist der deutsche Feldwebel gefallen.« »Weiß sie, wie er ums Leben gekommen ist?« »Er befand sich im ersten lkw des deutschen Kon vois. Der Wagen fuhr auf eine Mine.« George überlegte einen Moment. Diese beiden Tatsachen hatte er dem Hauptmann gegenüber nicht erwähnt. Das Ganze klang vielversprechend. »Hat der Informant gesehen, daß der Feldwebel tot war?« »Ja.« »Lag er auf der Straße?« »Er war dort, wo er fiel, als der lkw getroffen wurde.« »Was ist hinterher mit der Leiche geschehen?« Er sah, wie Madame Vassiotis die Achseln zuckte. »Weiß sie, daß die Leiche nicht da war, als die deutsche Patrouille hinterher zum Schauplatz kam?« »Ja, aber ihr Informant kann dafür keine Erklä rung liefern.« 203
Wieder dachte George nach. Das war eigenartig. Ein erfahrener Mann wüßte wahrscheinlich, daß der Unteroffizier, der eine deutsche Kolonne befehligte, im ersten lkw mitfahren würde; und wer in irgend einer Weise an dem Hinterhalt beteiligt gewesen war, mußte auch wissen, daß der erste lkw auf eine Mine gefahren war. Der Informant konnte ebenso gut weiter unten an der Straße gewesen sein und auf die anderen lkws geschossen haben. Die Aussicht, für seine Mühe ein paar Dollar zu bekommen, könn te ihn allerdings veranlassen, eine plausible Vermu tung zum besten zu geben. »Fragen Sie sie, ob ihr Freund weiß, welcher Art die Verletzungen des Feldwebels waren.« »Das kann sie nicht genau sagen. Der Feldwebel hat in einer Blutlache gelegen.« »Ist sie sich absolut sicher …?« Er hielt inne. »Nein, Moment. Formulieren Sie das anders. Ange nommen, der Feldwebel wäre ihr Sohn – wäre sie dann nach dem, was ihr Freund ihr erzählt hat, ab solut überzeugt davon, daß er tot ist?« Ein Lächeln erschien auf den zart geschwungenen Lippen, und ein Kichern erschütterte den massigen Körper, als sie die Frage erfaßte. Dann hievte sie sich mühevoll ächzend vom Diwan hoch und wat schelte zu einer Schublade im Tisch. Sie entnahm ihr einen Zettel, den sie mit ein paar erklärenden Worten Miss Kolin gab. »Madame hat Ihre Zweifel vorhergesehen und von ihrem Freund einen Beweis dafür verlangt, daß 204
er die Leiche gesehen hat. Er hat ihr gesagt, sie hät ten den toten Deutschen ihre Ausrüstung abge nommen und er habe die Wasserflasche des Feld webels bekommen. Er besitzt sie immer noch. In den Trageriemen sind Name und Nummer des Feldwebels eingebrannt. Sie stehen auf dem Zettel.« Madame Vassiotis setzte sich wieder und nippte an ihrem Wein, während George den Zettel be trachtete. Die Nummer kannte er gut; er hatte sie schon auf mehreren Dokumenten gesehen. Darunter stand in Blockschrift: »schirmer f.«. George überlegte einige Momente lang genau, dann nickte er. Den Namen Schirmer hatte er dem Hauptmann gegenüber nicht erwähnt. Eine Gaune rei war ausgeschlossen. Die Beweise waren schlüs sig. Was hinterher mit der Leiche von Feldwebel Schirmer geschehen war, würde man vielleicht nie erfahren, aber es bestand nicht der leiseste Zweifel daran, daß Madame Vassiotis und ihr geheimnisvol ler Bekannter die Wahrheit erzählten, soweit sie sie kannten. Er nickte, griff nach seinem Glas und hob es höf lich vor seiner Gastgeberin, ehe er trank. »Danken Sie ihr bitte in meinem Namen, Miss Kolin«, sagte er, als er das Glas abstellte, »und sagen Sie ihr, daß ich sehr zufrieden bin.« Er zückte einen Fünfzigdollarschein und legte ihn im Aufstehen auf den Tisch. Er sah einen Ausdruck rasch unterdrückter Ver 205
blüffung über das Gesicht der fetten Frau huschen. Dann erhob sie sich und verbeugte sich lächelnd. Sie war sichtlich erfreut. Hätte ihre Würde es erlaubt, hätte sie den Schein in die Hand genommen und genauer betrachtet. Sie drängte die beiden, noch ein Glas Wein zu trinken. Als es ihnen schließlich gelang, unter Verbeugun gen den Laden zu verlassen, wandte sich George an Miss Kolin. »Sie sagen ihr besser, daß sie Monsieur Kliris nichts von den fünfzig Dollar verrät«, sagte er. »Ich werde auch dem Hauptmann nichts davon sagen. Mit etwas Glück wird sie vielleicht zweimal bezahlt.« Miss Kolin war bei ihrem sechsten Verdauungsko gnak, und ihre Augen wurden rasch glasig. Sie saß kerzengerade auf ihrem Stuhl. Sie würde jetzt jeden Moment beschließen, daß es für sie an der Zeit war, schlafen zu gehen. Der Hauptmann war längst ge gangen. Er hatte das Gehabe eines Menschen zur Schau getragen, dessen Gutherzigkeit man ausge nutzt hat. Die hundert Dollar allerdings, die George ihm angeboten hatte, hatte er nicht abgelehnt. Ver mutlich feierte er den Anlaß gerade mit seiner Ge liebten. Für George gab es in Florina nichts mehr zu tun. »Wir reisen morgen früh ab, Miss Kolin«, sagte er. »Zug nach Saloniki. Flugzeug nach Athen. Flug zeug nach Paris. In Ordnung?« »Sie haben sich also endgültig entschieden?« 206
»Fällt Ihnen irgendein Grund ein, warum man die Sache fortsetzen sollte?« »Ich habe nie daran gezweifelt, daß der Mann tot ist.« »Das stimmt, das haben Sie nicht. Gehen Sie jetzt schlafen?« »Ich denke schon, ja. Gute Nacht, Mr. Carey.« »Gute Nacht, Miss Kolin.« Während er ihren akkuraten Gang zur Tür des Cafés beobachtete, fragte sich George düster, ob sie ihre eiserne Selbstbeherrschung aufrechterhielt, bis sie im Bett lag, oder ob sie sich in der Zurückgezo genheit ihres Zimmers zugestand, einfach umzu kippen. Er selbst trank in Ruhe aus. Er fühlte sich depri miert und suchte nach einer Erklärung dafür. Nach den Maßstäben des jungen Wirtschaftsanwalts, der sich noch vor ein paar Wochen darüber gefreut hat te, daß sein Name auf die Tür einer Kanzlei in Phil adelphia gemalt wurde, hätte er mit dieser Wendung der Ereignisse eigentlich hoch zufrieden sein müs sen. Man hatte ihm eine lästige, undankbare Aufga be übertragen, die er rasch und kompetent erledigt hatte. Nun konnte er voller Selbstvertrauen zu wichtigeren und nützlicheren Geschäften zurück kehren. Alles war in bester Ordnung. Und dennoch bereitete ihm das keinerlei Freude. Es war absurd. Könnte es sein, daß er im Innersten lächerlicherwei se gehofft hatte, den Schneider-Johnson-Erben zu finden und ihn im Triumph jenem jugendlichen 207
Greis, Mr. Sistrom, zu präsentieren? Könnte es sein, daß ihm nun nichts weiter als ein idiotisches Gefühl plötzlicher Leere zu schaffen machte? Natürlich, das mußte es sein. Ein, zwei Momente lang schaffte er es beinahe, sich einzureden, daß er den Grund für seinen Gemütszustand gefunden hatte. Dann däm merte ihm die weniger augenfällige Wahrheit. Die Sache hatte ihm Spaß gemacht. Genau, das war es. Dem begabten, ehrgeizigen, anspruchsvollen Mr. Carey mit seiner selbstgefälli gen, ewig lächelnden Familie, seinen Brooks-Bro thers-Anzügen und seinen Princeton- und HarvardAbschlüssen gefiel es, Detektiv zu spielen, gefiel es, nach nicht existierenden deutschen Soldaten zu su chen, gefiel es, mit langweiligen Menschen wie Frau Dresser, unliebsamen Kerlen wie Oberst Chry santhos und unerwünschten Personen wie Phenga ros zu tun zu haben. Und warum? Weil derlei Er fahrungen in einer Kanzlei von Wirtschaftsanwälten wertvoll waren? Weil er seine Mitmenschen liebte und neugierig auf sie war? Quatsch. Es war eher so, daß die ausgeklügelten Abwehrmechanismen seiner Jugend, die aufgeblasenen Phantasien von großen Bürosesseln und getäfelten Konferenzräumen, von verborgenem Reichtum und Macht hinter den Ku lissen zu bröckeln begannen und daß, verspätet, der pickelige Jüngling zum Vorschein kam. War es nicht möglich, daß er etwas über einen toten Mann herausgefunden und so endlich begonnen hatte, et was über sich selbst herauszufinden? 208
Er seufzte, zahlte, holte seinen Schlüssel und ging zu seinem Zimmer hinauf. Es lag im zweiten Stock auf der Vorderseite des Hotels, und nachts war das Licht, das den nicht mit Läden verschlossenen Fenstern auf der gegenüber liegenden Straßenseite entströmte, so stark, daß man fast dabei lesen konnte. Deshalb griff er nicht sofort nach dem Licht schalter, als er die Tür aufmachte. Während er den Schlüssel aus dem Schloß zog, sah er als erstes seine Aktentasche, die offen auf dem Bett lag und deren Inhalt über die Decke verstreut war. Er trat rasch vor. Er hatte kaum zwei Schritte gemacht, da knallte die Tür hinter ihm zu. Er fuhr herum. Genau neben der Tür stand ein Mann. Er befand sich im Schatten, aber die Pistole in seiner Hand war in dem Licht, das von der anderen Straßenseite hereinfiel, deutlich sichtbar. Sie bewegte sich vor wärts, als der Mann sprach. Er sprach sehr leise, aber auch für Georges ver störte Sinne war der starke Cockney-Akzent der Stimme unverkennbar. »So ist’s recht, Freundchen«, sagte sie. »Schön vorsichtig. Nein, keine Bewegung. Legen Sie ein fach die Hände in den Nacken, bleiben Sie ganz ru hig, und sehen Sie zu, daß Sie nichts abkriegen. Ka piert?«
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eine Erfahrungen mit höchster Gefahr hatte George im Cockpit schwerer Bomber gesam melt, und zwar unter Umständen, auf die er durch lange Ausbildungszeiten sorgfältig vorbereitet wor den war. Mit Gefahren, wie sie hinter Zimmertüren mazedonischer Hotels lauern, Gefahren, die nichts mit dem Tragen einer Uniform und organisierter Kriegführung zu tun haben, hatte er bislang keine Erfahrungen gemacht, und weder Princeton noch die Juristische Fakultät von Harvard hatte ihn in ir gendeiner Weise darauf vorbereitet. Während er daher gehorsam die Hände hob und sie in den Nacken legte, wurde er sich plötzlich ei nes überwältigenden, von keiner Vernunft geleite ten und ganz und gar unerfüllbaren Verlangens be wußt, wegzulaufen und sich irgendwo zu verstek ken. Er kämpfte einen Moment dagegen an; dann sprach der Mann weiter, und das Verlangen legte sich so rasch, wie es gekommen war. Das Blut be gann George unangenehm im Kopf zu pochen. »So ist’s recht, Freundchen«, sagte die Stimme besänftigend. »Und jetzt gehen Sie zum Fenster rüber, und ziehen Sie die Läden zu. Dann machen 210
wir uns ein bißchen Licht. Immer schön langsam. Ja, Sie müssen die Hände dazu nehmen, aber achten Sie darauf, was Sie damit anstellen, sonst gibt’s ei nen Unfall. Und kommen Sie ja nicht auf die Idee zu schreien oder so was. Alles schön ruhig. Genau so.« George zog die Läden zu, und im selben Moment ging das Licht im Zimmer an. Er drehte sich um. Der Mann, der am Lichtschalter stand und ihn betrachtete, war Mitte Dreißig, klein und stämmig, mit dunklem, schütterem Haar. Sein Anzug war of fensichtlich ein einheimisches Produkt. Er selbst war es ebenso offensichtlich nicht. Das grobknochi ge, stupsnasige Gesicht und die schlauen, unver schämten Augen stammten wie der Akzent aus dem Großraum London. »Schon besser, was?« sagte der Besucher. »Jetzt können wir was sehen, ohne daß die Nachbarn auf der anderen Straßenseite alles mitkriegen.« »Was zum Teufel soll das alles?« fragte George. »Und wer zum Teufel sind Sie?« »Immer mit der Ruhe«, sagte der Besucher grin send. »Keine Namen, keine Hektik. Sie können mich Arthur nennen, wenn Sie wollen. So heiße ich zwar nicht, aber was soll’s. Mich nennen viele Ar thur. Sie sind Mr. Carey, stimmt’s?« »Das müßten Sie doch wissen.« George blickte auf die übers Bett verstreuten Papiere. »Ja, stimmt. Tut mir leid, das Durcheinander, Mr. Carey. Ich wollte aufräumen, bevor Sie kommen. 211
Aber es hat nur für einen kurzen Blick gereicht. Ich habe natürlich nichts mitgehenlassen.« »Natürlich. Ich lasse auch kein Geld in Hotel zimmern.« »Na, na, wer wird denn so was Garstiges sagen!« sagte der Besucher fröhlich. »Ein Mundwerk wie eine Peitsche haben wir, was?« »Tja, wenn Sie nicht wegen Geld hier sind, wes wegen sind Sie dann hier?« »Will ein bißchen plaudern, Mr. Carey. Das ist alles.« »Gehen Sie immer mit einer Pistole auf Besuch?« Der Besucher machte ein gequältes Gesicht. »Hö ren Sie, Freundchen, woher sollte ich denn wissen, daß Sie vernünftig sein würden, wenn Sie einen Fremden in Ihrem Zimmer finden? Mal angenom men, Sie hätten ein Riesentheater gemacht und an gefangen, mit Möbeln zu schmeißen. Ich mußte Vorsichtsmaßnahmen treffen.« »Sie hätten unten nach mir fragen können.« Der Besucher grinste verschlagen. »So? Vielleicht kennen Sie sich hierzulande nicht so gut aus, Mr. Carey. Na schön« – sein Ton wurde plötzlich ge schäftsmäßig –, »ich sag Ihnen, was wir machen. Sie versprechen mir, daß Sie nicht anfangen, die Direk tion zusammenzuschreien oder mir sonstwie blöd zu kommen, und ich stecke die Kanone weg, okay?« »Gut. Aber ich möchte immer noch wissen, was Sie hier zu suchen haben.« 212
»Hab ich Ihnen doch gesagt. Ich will ein bißchen plaudern. Das ist alles.« »Worüber?« »Sag ich Ihnen gleich.« Arthur steckte die Pistole unter seine Jacke und zog ein Päckchen griechische Zigaretten hervor. »Was zu rauchen, Mr. Carey?« George zückte sein eigenes Päckchen. »Nein, danke. Ich bleibe bei denen hier.« »Chesterfields, wie? Lange nicht gesehen. Was dagegen, wenn ich eine probiere?« »Bedienen Sie sich.« »Danke.« Wie ein übertrieben bemühter Gastge ber gab er George mit viel Getue Feuer. Dann zün dete er sich seine Zigarette an und zog genüßlich daran. »Guter Tabak«, sagte er. »Sehr gut.« George setzte sich auf die Bettkante. »Hören Sie«, sagte er ungeduldig, »was soll das Ganze eigentlich? Sie brechen in mein Zimmer ein, Sie durchwühlen meine Geschäftspapiere, bedrohen mich mit einer Pistole und sagen dann, Sie wollen nur plaudern. Schön, also plaudern wir. Und weiter?« »Was dagegen, wenn ich mich setze, Mr. Carey?« »Machen Sie, was Sie wollen, aber kommen Sie um Gottes willen endlich zur Sache.« »Ja, gleich, nun hetzen Sie mich doch nicht so.« Arthur setzte sich geziert auf einen Stuhl mit ge flochtener Lehne. »Das Ganze ist sozusagen eine Privatangelegenheit, Mr. Carey«, sagte er. »Vertrau lich, wenn Sie verstehen, was ich meine.« »Ich verstehe, was Sie meinen.« 213
»Die Sache muß unter uns bleiben«, beharrte er. Es war zum Wahnsinnigwerden. »Ich hab’s kapiert.« »Na gut« – er räusperte sich –, »mir ist von be stimmter Seite zugetragen worden«, sagte er mit Bedacht, »daß Sie, Mr. Carey, in der Stadt gewisse Nachforschungen vertraulicher Natur angestellt haben.« »Ja.« »Heute nachmittag hatten Sie eine Unterredung mit einer gewissen Dame, deren Namen wir uner wähnt lassen wollen.« »Sie meinen Madame Vassiotis?« »Richtig.« »Warum sagen Sie dann, daß Sie ihren Namen unerwähnt lassen wollen?« »Keine Namen, keine Hektik.« »Ach ja, richtig. Fahren Sie fort.« »Sie hat Ihnen bestimmte Informationen gege ben.« »Und wenn?« »Immer mit der Ruhe, Mr. Carey. Ihre Nachfor schungen galten einem deutschen Unteroffizier na mens Schirmer, richtig?« »Richtig.« »Hätten Sie etwas dagegen, mir zu sagen, warum Sie besagte Nachforschungen anstellen, Mr. Carey?« »Wenn Sie mir zuerst sagen würden, warum Sie das wissen wollen, würde ich es Ihnen vielleicht sa gen.« 214
Arthur verdaute diese Antwort ein, zwei Mo mente lang stumm. »Und um die Sache zu vereinfachen, Arthur«, fügte George hinzu, »sage ich Ihnen, daß ich zwar Anwalt bin, aber trotzdem durchaus imstande, nor males Englisch zu verstehen. Wie wäre es also, wenn Sie das Gedöns lassen und zur Sache kommen?« Arthurs niedrige Stirn furchte sich von der An strengung des Nachdenkens. »Wissen Sie, die Sache ist vertraulich, das ist das Problem, Mr. Carey«, sagte er unglücklich. »Das haben Sie bereits ausführlich erklärt. Aber wenn sie so vertraulich ist, daß Sie nicht darüber re den können, warum gehen Sie dann nicht nach Hause und lassen mich schlafen?« »Sagen Sie doch nicht so was, Mr. Carey. Ich ge be mir alle Mühe. Hören Sie! Wenn Sie mir erzäh len würden, warum Sie sich nach diesem Menschen erkundigen, könnte ich das bestimmten Leuten sa gen, die Ihnen vielleicht helfen können.« »Was für Leute?« »Leute, die Informationen liefern können.« »Sie meinen, Informationen verkaufen, nicht wahr?« »Ich habe liefern gesagt.« George musterte seinen Gast nachdenklich. »Sie sind Brite, stimmt’s, Arthur?« sagte er nach kurzem Schweigen. »Oder ist das auch vertraulich?« Arthur grinste. »Wollen Sie mich griechisch spre chen hören? Ich kann’s wie ein Einheimischer.« 215
»Na schön. Sie sind also ein Weltbürger, wie?« »Goldsmith!« sagte Arthur vollkommen uner wartet. »Wie bitte?« »Oliver Goldsmith«, wiederholte Arthur. »Der hat ein Buch geschrieben, das heißt Der Weltbürger. Haben wir in der Schule gehabt. Ein Haufen Quatsch über einen Chinesen, der nach London kommt und sich die Sehenswürdigkeiten ansieht.« »Aus welcher Ecke von London kommen Sie, Arthur?« Arthur drohte ihm affektiert mit dem Finger. »Aber, aber! Da würde ich mich ja verraten.« »Haben Sie Angst, daß ich die Vermißtenlisten des britischen Kriegsministeriums für Griechenland durchsehe und herausfinde, wer von denen, die drauf stehen, aus der Ecke stammt, aus der Sie kommen?« »Raten Sie mal, Freundchen.« George lächelte. »Okay, Arthur. Passen Sie auf. Dieser Schirmer, über den ich Nachforschungen angestellt habe, hatte Anspruch auf einiges Geld, das ein entfernter Verwandter von ihm in Amerika hinterlassen hat. Er ist während des Krieges als vermißt gemeldet worden. Ich bin eigentlich hier hergekommen, um eine Bestätigung für seinen Tod zu finden, aber ich möchte auch gern wissen, ob er Kinder hat. Das ist alles. Heute habe ich erfahren, daß er tot ist.« »Von der alten Ma Vassiotis?« »Richtig. Und morgen fahre ich nach Hause.« 216
»Verstehe.« Arthur dachte angestrengt nach. »Geht’s um viel Geld?« fragte er schließlich. »Immerhin soviel, daß es sich für mich gelohnt hat, hierherzukommen.« »Und die Mieze, die Sie dabeihaben?« »Miss Kolin, meinen Sie? Sie ist Dolmetscherin.« »Verstehe.« Arthur kam zu einer Entscheidung. »Angenommen – nur mal angenommen, wohlge merkt –, es gäbe über diesen Deutschen noch ein bißchen mehr zu erfahren? Würde es sich dann für Sie lohnen, noch ein paar Tage hierzubleiben?« »Das käme auf die Informationen an.« »Tja, angenommen, er hätte Frau und Kinder ge habt. Dann hätten die doch Anspruch auf das Geld, oder?« »Hat er denn Frau und Kinder gehabt?« »Ich sage nicht ja, und ich sage nicht nein. Aber nur mal angenommen …« »Wenn sich dafür ein eindeutiger Beweis erbrin gen ließe, würde ich sicherlich noch bleiben. Aber ich bleibe bestimmt nicht, um mir einen Haufen unbestätigter Gerüchte anzuhören, und ich bezahle niemandem mehr auch nur einen Cent.« »Das hat ja auch kein Mensch von Ihnen verlangt, oder?« »Bis jetzt nicht.« »Eklig mißtrauische Natur haben Sie, was?« »Ja.« Arthur nickte düster. »Kann’s Ihnen nicht ver denken. Ausgefuchste Kerle in dieser Ecke der 217
Welt. Hören Sie, wenn ich Ihnen mein heiliges Eh renwort gebe, daß es sich für Sie lohnt, noch ein paar Tage zu bleiben, tun Sie’s dann?« »Sie verlangen eine ganze Menge, wie?« »Hören Sie, Freundchen, Sie sind doch derjenige, dem man hier einen Gefallen tut, nicht ich!« »Das behaupten Sie.« »Tja, mehr kann ich nicht tun. Hier ist mein Vor schlag. Nehmen Sie ihn an, oder lassen Sie’s bleiben. Wenn Sie die Informationen wollen, die meine Freunde haben, dann bleiben Sie hier, und tun Sie, was ich Ihnen sage.« »Und das wäre?« »Tja, als erstes sagen Sie mal kein Wort zu diesem kleinen Scheißkerl von Hauptmann, mit dem Sie ge stern abend geplauscht haben. Okay?« »Weiter.« »Sie gehen einfach morgen nachmittag zwischen vier und fünf in das große Café mit den gelben Ja lousien neben dem Hotel Akropolis. Setzen Sie sich hin, und trinken Sie eine Tasse Kaffee. Das ist alles. Wenn Sie keine Nachricht von mir bekommen, während Sie dort sind, ist die Sache abgeblasen. Wenn Sie eine bekommen, dann handelt es sich um eine Verabredung. Sagen Sie nichts, und halten Sie sie ein.« »Was ist mit meiner Dolmetscherin?« »Wenn sie den Mund hält, kann sie mitkommen.« »Wo würde die Verabredung stattfinden?« »Man würde Sie hinfahren.« 218
»Aha. Nur noch eine Frage. Ich bin nicht gerade ängstlich, aber ich würde doch gern ein bißchen mehr über Ihre Freunde erfahren, ehe ich mich mit ihnen treffe. Es handelt sich nicht zufällig um elasLeute?« Arthur grinste. »Stellen Sie keine Fragen, dann kriegen Sie auch keine Lügen zu hören. Sie brau chen nicht zu kommen, wenn Sie nicht wollen.« »Vielleicht. Aber ich bin nicht blöd. Sie sagen, Ih re Freunde wollen kein Geld für ihre Informatio nen. Okay – was wollen sie dann? Und wo wir ge rade dabei sind, was wollen Sie, Arthur?« »Überhaupt nichts«, sagte Arthur fröhlich. »Jetzt mal im Ernst!« »Na gut. Vielleicht wollen die, daß Gerechtigkeit geschieht.« »Gerechtigkeit?« »Ja. Schon mal davon gehört?« »Sicher. Von Kidnapping habe ich auch schon gehört.« »Du lieber Himmel!« Arthur lachte. »Hören Sie, wenn Sie so nervös sind, Freundchen, dann verges sen Sie’s einfach.« Er stand auf. »Ich muß jetzt los. Wenn Sie kommen wollen, dann seien Sie morgen im Café, wie besprochen. Ansonsten …« Er zuckte die Achseln. »Okay. Ich denke darüber nach.« »Ja, tun Sie das. Tut mir leid, daß ich Ihnen Ihre Papiere so durcheinandergebracht hab, aber ich denke, Sie ordnen sie lieber selbst. Bis dann.« 219
»Auf Wiedersehen«, sagte George. Die Worte waren kaum ausgesprochen, da hatte Arthur das Zimmer auch schon verlassen und ge räuschlos die Tür hinter sich zugezogen. In dieser Nacht waren es nicht seine Bedenken in puncto Wanzen, die George vom Schlafen abhielten. Das Café mit den gelben Jalousien befand sich in exponierter Lage an einer verkehrsreichen Ecke, und jeder, der darin saß, war von jedem Punkt des davorliegenden Platzes aus deutlich zu sehen. Es war, dachte George, der allerletzte Ort, den er mit der Abwicklung geheimer Geschäfte in Verbindung gebracht haben würde. Allerdings war er auch kein geübter Verschwörer. Der größte Aktivposten des Cafés war vermutlich gerade, daß es den Eindruck machte, als habe es nichts zu verbergen. In Arthurs Welt wurde dergleichen zweifellos sorgfältig ins Kalkül einbezogen. Miss Kolin hatte sich Georges Bericht von seinem Gespräch mit Arthur unbeteiligt angehört und sei nen Entschluß, die Abreise zu verschieben, ohne Kommentar akzeptiert. Als er dann jedoch gesagt hatte, er wolle ihr angesichts der möglichen Risiken die Entscheidung, ob sie ihn begleiten wolle, selbst überlassen, hatte sie das ganz offensichtlich amüsiert. »Risiken, Mr. Carey? Was denn für Risiken?« »Woher soll ich das denn wissen?« George war gereizt. »Es ist nun mal so, daß das hier nicht gerade die gesetzestreueste Ecke der Welt ist, und die Art 220
und Weise, wie dieser Arthur sich zum gemütlichen Plausch bei mir eingeführt hat, entspricht auch nicht gerade dem guten Ton, oder?« Sie hatte die Achseln gezuckt. »Es hat seinen Zweck erfüllt.« »Was heißt denn das?« »Offen gesagt, Mr. Carey, ich halte es für einen Fehler, daß Sie dieser Vassiotis so viel Geld gegeben haben.« »Meiner Ansicht nach hatte sie es verdient.« »Ihre Ansicht, Mr. Carey, ist die eines amerikani schen Anwalts. Die Vassiotis und ihre Freunde ha ben ganz andere Ansichten.« »Ich verstehe. Sie glauben also, daß es sich bei Arthurs Vorschlag bloß wieder um eine Gaunerei handelt?« »Allerdings. Sie haben diesem Hauptmann hun dert Dollar gegeben und der Vassiotis fünfzig. Und jetzt wollen Mr. Arthur und seine Freunde auch ein paar Dollars haben.« »Er hat betont, daß es ihm nicht um Geld geht. Das habe ich Ihnen doch gesagt.« »Haben Sie das etwa geglaubt?« »Na schön, ich bin also der Volltrottel. Aber aus irgendeinem Grund habe ich ihm tatsächlich ge glaubt. Und aus irgendeinem zweifellos genauso idiotischen Grund tue ich das immer noch.« Sie hatte erneut die Achseln gezuckt. »Dann ha ben Sie recht damit, daß Sie die Verabredung wahr nehmen. Mal sehen, was dabei herauskommt.« 221
Das war beim Frühstück gewesen. Bis zum Mit tagessen hatte sich sein Vertrauen auf seine erste Einschätzung von Arthurs Absichten vollständig verflüchtigt. Während er im Café saß und verdrieß lich Kaffee schlürfte, hatte er nur einen einzigen tröstlichen Gedanken: ganz gleich, was passierte, ganz gleich, was sie taten, weder Arthur noch einer von Arthurs Freunden würde für seine Mühe auch nur einen roten Heller sehen. Mittlerweile war es nach fünf. Das Café war zu drei Vierteln leer. Niemand, der auch nur entfernt so aussah, als habe er eine Nachricht zu überbrin gen, hatte sich ihnen genähert. George trank seinen Kaffee aus. »Na schön, Miss Kolin«, sagte er, »wir wollen zahlen und gehen.« Sie winkte dem Kellner. Als sein Wechselgeld kam, bemerkte George einen grauen, zusammenge falteten Zettel darunter. Er steckte ihn mit den Münzen in die Tasche. Draußen auf der Straße nahm er ihn heraus und entfaltete ihn. Die Nachricht war mit Bleistift in sorgfältiger Kinderhandschrift geschrieben: Ein Wagen mit der Zulassungsnummer 19907 wird um 20.00 Uhr vor dem Kino auf Sie warten. Wenn jemand wissen will, wo Sie hinfahren, dann unternehmen Sie eine Spazierfahrt, um frische Luft zu schnappen. Der Fahrer ist okay. Stellen Sie keine Fragen. Tun Sie, was er Ihnen sagt. Zie hen Sie bequeme Schuhe an. Arthur 222
Der Wagen war ein alter, offener Renault, den George, wie er sich erinnerte, schon einmal in der Stadt gese hen hatte. Seinerzeit war er hoch mit Möbeln beladen gewesen. Nun war er leer, und der Fahrer stand mit der Mütze in der Hand daneben und hielt ihnen mit ernstem Gesicht die Tür auf. Er war ein grimmiger, sehniger alter Mann mit langem, weißem Schnurrbart und einer Haut wie Leder. Er trug ein geflicktes Hemd und eine alte, gestreifte Hose, die von einem Stück Lichtkabel in der Taille festgehalten wurde. Dem Fond des Wagens war anzusehen, daß damit erst kürzlich nicht nur Möbel, sondern auch Gemüse transportiert worden war. Der Alte raffte eine Hand voll welkender Stengel zusammen und warf sie auf die Straße, ehe er einstieg und losfuhr. Bald hatten sie die Stadt verlassen und befanden sich auf einer Straße, die laut Schild nach Vevi führ te, einer Bahnstation östlich von Florina. Es wurde dunkel, und der Alte schaltete einen einzigen Scheinwerfer ein. Weil er Benzin sparen wollte, machte er auf Gefällstrecken die Zündung aus und ließ den Motor erst wieder an, kurz bevor der Wagen zum Stillstand kam. Die Batterie war fast leer, und wenn der Motor nicht lief, trübte sich der Scheinwerfer so sehr, daß er nutzlos war. Mit dem Schwinden des letzten Tageslichts wurde jedes Gefälle zu einem haarsträubenden Sturz in die Schwärze. Zum Glück hatten sie keinen Gegenver kehr, doch nach einem besonders alptraumhaften Moment protestierte George. 223
»Miss Kolin, sagen Sie ihm, er soll bergab lang samer fahren oder den Motor laufen lassen, damit wir Licht haben. Er bringt uns noch um, wenn er nicht aufpaßt.« Der Fahrer drehte sich auf dem Sitz um, als er antwortete. »Er sagt, daß der Mond gleich aufgehen wird.« »Sagen Sie ihm, er soll nach vorn schauen!« »Er sagt, es besteht keine Gefahr. Er kennt die Straße ganz genau.« »Gut, gut. Sagen Sie nichts mehr. Hauptsache, er hat die Augen auf der Straße.« Sie waren fast eine Stunde unterwegs, und der Mond begann wie versprochen aufzugehen, als sie auf eine von Norden kommende Straße stießen. Zehn Minuten später bogen sie nach links ab, und es begann ein langer, stetiger Anstieg durch die Berge. Sie kamen an ein, zwei vereinzelten Scheunen aus Stein vorbei, dann wurde die Straße immer schlech ter. Bald holperte und schlitterte der Wagen über den mit losen Kieseln und Steinen übersäten Untergrund. Zwei, drei Kilometer weiter bremste er plötzlich ab, vollführte einen Schlenker, um einem achsentiefen Schlagloch auszuweichen, und kam zum Stehen. Der Schlenker und das plötzliche Abbremsen hatten George gegen Miss Kolin geworfen. Einen Moment lang dachte er, der Wagen habe eine Pan ne, doch während er sich von Miss Kolin löste, sah er, daß der Fahrer neben der aufgehaltenen Tür stand und ihnen bedeutete, auszusteigen. 224
»Was soll das?« fragte George. Der Alte sagte etwas. »Er sagt, wir steigen hier aus«, übersetzte Miss Kolin. George blickte sich um. Die Straße war ein schma les Band, das über einen öden, mit Dornengesträuch bewachsenen Hang verlief. Im hellen Mondlicht wirkte das Ganze vollkommen trostlos. Aus dem Gesträuch drang der unablässige Chor der Zikaden. »Sagen Sie ihm, wir bleiben hier, bis er uns dahin bringt, wo er uns hinbringen soll.« Die Übersetzung rief einen Wortschwall hervor. »Er sagt, weiter kann er uns nicht bringen. Die Straße ist hier zu Ende. Wir müssen aussteigen und zu Fuß weitergehen. Auf der Straße weiter vorn wird uns jemand erwarten. Er muß hierbleiben. So lauten seine Anweisungen.« »Er hat doch gesagt, die Straße ist hier zu Ende.« »Wenn wir mit ihm kommen, wird er uns zeigen, daß er die Wahrheit sagt.« »Möchten Sie lieber hier warten, Miss Kolin?« »Nein, danke.« Sie stiegen aus und marschierten zu Fuß los. Der Alte ging unter Erklärungen und ausladen den dramatischen Gesten etwa zwanzig Meter weit vor ihnen her, dann blieb er stehen und zeigte mit dem Finger nach vorn. Sie hatten tatsächlich das Ende der Straße oder jedenfalls das Ende dieses Abschnittes erreicht. Ir gendwann hatte hier ein Brückenbogen einen Ge 225
birgsbach überspannt. Nun lagen ihre Überreste in einer tiefen, mit Felsblöcken übersäten Rinne, die der Bach in den Hang eingeschnitten hatte. »Er sagt, die Deutschen haben die Straße ge sprengt und der Winterregen macht die Lücke von Jahr zu Jahr größer.« »Sollen wir etwa da hinüber?« »Ja. Die Straße geht auf der anderen Seite weiter, und dort erwartet uns jemand. Er bleibt beim Wa gen.« »Wie weit müssen wir denn noch auf der anderen Seite?« »Das weiß er nicht.« »Der Rat von wegen bequeme Schuhe hätte mich warnen müssen. Na ja, wo wir schon mal hier sind, können wir genausogut weitergehen.« »Wie Sie wollen.« Das Bachbett war trocken, und sie fanden ohne große Mühe einen Weg über das Geröll und zwi schen den Felsblöcken hindurch. Auf der anderen Seite hinaufzuklettern war allerdings weniger leicht, da die Rinne hier tiefer war. Die Nacht war warm, und George klebte das Hemd am Körper, bis er Miss Kolin auf die Straße heraufgeholfen hatte. Sie blieben einen Moment stehen, um Atem zu holen, und blickten zurück. Der Alte winkte und ging zu seinem Wagen. »Was meinen Sie, wie lange würden wir zu Fuß von hier nach Florina brauchen, Miss Kolin?« fragte George. 226
»Ich denke, er wird warten. Schließlich ist er noch nicht bezahlt worden.« »Ich habe ihn jedenfalls nicht gemietet.« »Er wird trotzdem damit rechnen, daß Sie ihn bezahlen.« »Das werden wir noch sehen. Jetzt tun wir bes ser, was er sagt.« Sie marschierten los. Bis auf das Zirpen der Zikaden und das Knir schen ihrer Schritte war kein Laut zu hören. Nur einmal vernahmen sie das schwache Geklingel einer fernen Schafglocke, aber das war alles. Sie waren ei nige Minuten lang stetig und schweigend gegangen, als Miss Kolin leise etwas sagte. »Da vorn auf der Straße ist jemand.« »Wo? Ich kann niemanden sehen.« »Bei den Büschen, zu denen wir gleich kommen. Er ist einen Moment lang aus dem Schatten getreten, und ich habe das Mondlicht auf seinem Gesicht gesehen.« George spürte, wie sich im Weitergehen seine Wadenmuskeln verkrampften. Er hielt den Blick auf die Büsche gerichtet. Dann sah er eine Bewegung im Schatten, und ein Mann trat auf die Straße. Es war Arthur, allerdings ein ganz anderer Ar thur als der, mit dem George im Hotel gesprochen hatte. Er trug Breeches, ein am Hals offenes Busch hemd und eine Schirmmütze. Die spitzen Schuhe waren durch schwere, knöchelhohe Stiefel ersetzt worden. An dem breiten Ledergürtel um seine Tail le hing ein Pistolenhalfter. 227
»‘n Abend«, sagte er, als sie bei ihm anlangten. »Hallo«, sagte George. »Miss Kolin, das ist Ar thur.« »Freut mich, Sie kennenzulernen, Miss.« Sein Ton war bescheiden-respektvoll, aber George konn te sehen, wie die schlauen, unverschämten Augen sie taxierten. Miss Kolin nickte. »Guten Abend.« Ihre Feindse ligkeit war deutlich herauszuhören. Arthur schürzte angesichts ihres Tons die Lip pen. »Sie hatten doch hoffentlich keine Schwierig keiten, hierherzukommen, Mr. Carey?« fragte er beflissen. Plötzlich glich er einem Gastgeber, der sich bei seinen Wochenendgästen für die Unzuläng lichkeit der Eisenbahnverbindungen entschuldigt. »Nicht der Rede wert. Wird der Alte auf uns warten?« »Über den machen Sie sich mal keine Gedanken. Wollen wir?« »Klar. Wohin?« »Es ist nicht weit. Ich habe ein Fahrzeug. Bloß ein Stück die Straße hoch.« Er ging voran. Sie folgten schweigend. Etwa vier hundert Meter weiter endete die Straße erneut, diesmal aufgrund eines Erdrutsches vom darüberlie genden Hang, der sie auf einer Länge von etwa fünf zig Metern verschüttet hatte. Durch den Schutt war jedoch ein schmaler Pfad gebahnt worden, und die sen stolperten sie vorsichtig entlang, bis die Straße wiederauftauchte. Das heißt, George und Miss Ko 228
lin stolperten; Arthur spazierte so sicher darüber hin, als befände er sich auf einem Bürgersteig. »Nur noch ein kurzes Stück«, sagte er. Sie gingen noch etwa vierhundert Meter weiter. Hier wuchsen Tamarisken am Hang, und das Mondlicht warf ihre verzerrten Schatten über die Straße. Dann verdichteten sich die Schatten, und Arthur verlangsamte seinen Schritt. An einer Stelle, die so breit war, daß ein Fahrzeug wenden konnte, stand ein kleiner lkw mit Plane. »Da wären wir, Kinder. Sie beide hüpfen hinten rein.« Er leuchtete im Reden mit einer Taschenlampe unter die Ladeklappe. »Sie zuerst, Miss. Aber vor sichtig. Schließlich wollen wir die Nylons nicht ka puttmachen, oder? Sehen Sie den Bügel da? Stellen Sie einfach den Fuß …« Er hielt inne, als Miss Kolin mühelos auf die La defläche des lkws kletterte. »Ich fahre nicht zum er stenmal in einem britischen Militärlastwagen«, sagte sie kalt. »Ach tatsächlich, Miss? Sieh an, sieh an. Na be stens, wie? Übrigens«, fuhr er fort, während George ihr folgte, »werde ich die Plane zumachen müssen. Das wird dann leider ein bißchen warm, aber wir haben’s ja nicht weit.« George stöhnte. »Muß das sein?« »Leider ja. Meine Kumpel haben es nicht so gern, wenn andere Leute wissen, wo sie sind. Sie verste hen – Sicherheit.« 229
»Na hoffentlich lohnt sich das Ganze wenigstens. Schön. Fahren wir.« George und Miss Kolin setzten sich auf zwei ki stenförmige Vorrichtungen auf der Ladefläche, während ihr Begleiter die Segeltuchklappen fest zurrte. Als er damit fertig war, hörten sie ihn einsteigen und den Motor anlassen. Der lkw setzte sich ruckelnd in Bewegung. Arthur war ein energischer Fahrer, und der Lastwagen bockte und schwankte heftig. Drinnen war es unmöglich, sitzen zu bleiben, und sie stan den gekrümmt unter der Plane und hielten sich an den Metallstreben fest. Die Luft im Laderaum mischte sich bald mit Abgasen und war fast nicht zu atmen. George bekam verschwommen mit, daß der Lastwagen mehrere Haarnadelkurven durchfuhr, und er merkte, daß es steil bergauf ging, aber er ver lor rasch jedes Richtungsgefühl. Nach mehr als zehn Minuten qualvollen Unbehagens dachte er schon, er würde Arthur zum Anhalten auffordern müssen, als der Wagen nach einer weiteren Kurve auf vergleichsweise glatten Untergrund gelangte und anhielt. Gleich darauf wurde die Plane hinten losgemacht, Mondlicht und Luft strömten herein, und Arthurs Gesicht erschien an der Ladeklappe. Er grinste. »Bißchen holprig, was?« »Ja.« Sie kletterten steifgliedrig vom Wagen und fan den sich auf dem mit Steinplatten belegten Hof ei nes kleinen Hauses wieder. Von dem Haus selbst 230
war nur noch eine verfallene Mauer und ein Haufen Schutt übrig. »Das waren die Jungs von der elas«, erklärte Ar thur. »Die anderen hatten hier einen Stützpunkt. Wir gehen hier entlang.« Das verfallene Haus stand auf der Kuppe eines mit Pinien bewachsenen Hügels. Sie folgten Arthur einen Pfad entlang, der vom Haus aus durch die Bäume abwärts führte. Sie gingen etwa fünfzig Meter weit stumm über Kiefernnadeln, dann blieb Arthur stehen. »Warten Sie eine Sekunde«, sagte er. Sie warteten, während er weiterging. Es war sehr dunkel unter den Bäumen, und es roch kräftig nach Kiefernharz. Nach der Stickigkeit auf dem Lastwagen war die sanfte, kühle Luft herrlich. Aus der Dunkel heit vor ihnen drang leises Stimmengemurmel. »Haben Sie das gehört, Miss Kolin?« »Ja. Sie haben griechisch gesprochen, aber ich konnte nicht verstehen, was. Es hat sich angehört wie der Anruf durch einen Wachposten und die Antwort darauf.« »Was halten Sie von der ganzen Geschichte?« »Ich denke, wir hätten jemandem Bescheid geben sollen, wo wir hingehen.« »Wir haben doch gar nicht gewußt, wo wir hin gehen, aber ich habe mein möglichstes getan. Falls wir nicht zurück sind, wenn das Zimmermädchen morgen früh bei mir saubermacht, wird sie einen Brief an den Geschäftsführer des Hotels auf mei 231
nem Schreibtisch finden. Er enthält die Zulassungs nummer des Wagens, der uns hergebracht hat, und eine Erklärung für den Hauptmann.« »Sehr klug, Mr. Carey. Mir ist etwas aufgefal len …« Sie hielt inne. »Er kommt zurück.« Sie hatte ein sehr scharfes Gehör. Mehrere Se kunden vergingen, ehe George das leise Geraschel sich nähernder Schritte ausmachen konnte. Aus der Dunkelheit tauchte Arthur auf. »Okay«, sagte er. »Auf geht’s. Gleich werden wir’s auch ein bißchen heller haben.« Sie folgten ihm den Pfad hinab. Mittlerweile war er nicht mehr so steil. Dann, als er flach wurde, knipste Arthur eine Taschenlampe an, und George sah den Wachposten, der mit einem Gewehr unter dem Arm an einem Baum lehnte. Er war ein dünner Mann mittleren Alters in khakifarbener Drillichho se und abgerissenem Unterhemd. Er beobachtete sie scharf, als sie vorbeigingen. Sie hatten das Pinienwäldchen verlassen, und vor ihnen lag ein Haus. »Da unten war mal ein Dorf«, sagte Arthur. »Haben welche von den Jungs ausradiert. Alles platt bis auf unsere Unterkunft, und die haben wir ganz schön aufmöbeln müssen. War völlig verfallen. Hat irgendeinem armen Schwein von Abweichler gehört, dem sie die Kehle durchgeschnitten haben.« Nun war er wieder der Gastgeber, der stolz auf sein Haus war und wollte, daß seine Wochenendgäste seine Begeisterung teilten. 232
Es war ein zweistöckiges Gebäude mit verputz ten Wänden und breiten, überstehenden Traufen. Die Fensterläden waren alle geschlossen. An der Tür stand ein weiterer Wachposten. Ar thur sagte etwas zu ihm, und der Mann leuchtete ihnen mit einer Lampe ins Gesicht, ehe er Arthur zunickte und sie weiterwinkte. Arthur machte die Tür auf, und sie folgten ihm ins Haus. Sie gelangten in einen langen schmalen Flur mit einer Treppe und mehreren Türen. An einem Ha ken neben der Eingangstür hing eine Petroleum lampe. An der Decke war kein Putz mehr, an den Wänden nur noch sehr wenig. Das Ganze sah nach dem aus, was es war: ein durch eine Bombenexplo sion oder einen Artillerietreffer beschädigtes und notdürftig repariertes Haus. »Da wären wir«, sagte Arthur; »Hauptquartier, Kasino und Vorzimmer in einem.« Er hatte die Tür zu einem Raum geöffnet, bei dem es sich offenbar um ein Eßzimmer handelte. Eine rohe Holzplatte auf Böcken wurde von Bän ken flankiert. Auf der Platte waren Flaschen und Gläser, ein Häuflein Messer und Gabeln und eine zweite Petroleumlampe. In der Zimmerecke, auf dem Boden, standen leere Flaschen. »Niemand zu Hause«, sagte Arthur. »Ich könnte mir denken, daß Sie einen Schluck vertragen könn ten, wie? Bedienen Sie sich. Das Örtchen ist gleich rechts übern Flur, falls jemand Bedarf hat. Ich bin gleich wieder da.« 233
Er ging hinaus und schloß die Tür hinter sich. Sie hörten ihn die Treppe hinaufpoltern. George inspizierte die Flaschen. Es gab griechi schen Wein und Zwetschgenschnaps. Er sah Miss Kolin an. »Etwas zu trinken, Miss Kolin?« »Ja, bitte.« Er goß zwei Schnäpse ein. Sie hob ihr Glas, leerte es in einem Zug und hielt es ihm zum Nachfüllen hin. Er füllte es. »Ziemlich starkes Zeug, wie?« sagte er vorsich tig. »Das will ich hoffen.« »Tja, ich habe nicht damit gerechnet, zu so etwas wie einem militärischen Hauptquartier gebracht zu werden. Oder wofür halten Sie das?« »Ich habe da so eine Ahnung.« Sie zündete sich eine Zigarette an. »Sie erinnern sich doch noch an den Bankraub in Saloniki vor vier Tagen?« »Ja, ich erinnere mich. Wieso?« »Am nächsten Tag habe ich im Zug nach Florina den Zeitungsbericht darüber gelesen. Er enthielt ei ne genaue Beschreibung des Lastwagens, der dabei benutzt wurde.« »Und weiter?« »Es ist der Lastwagen, mit dem wir heute abend hierhergekommen sind.« »Was? Sie machen wohl Witze.« »Nein.« Sie nahm einen Schluck Schnaps. »Dann irren Sie sich. Von diesen britischen Ar 234
meelastwagen muß es in Griechenland schließlich noch Dutzende, vielleicht Hunderte geben.« »Aber nicht welche mit Vorrichtungen für falsche Nummernschilder.« »Wovon reden Sie?« »Ich habe die Dinger gesehen, als er mir beim Einsteigen mit der Taschenlampe geleuchtet hat. Die falschen Nummernschilder lagen hinten im Lastwagen auf dem Boden. Als wir anhielten, habe ich sie so hingelegt, daß beim Öffnen der Plane das Mondlicht darauf fiel. Was ich von der Nummer le sen konnte, stimmt mit dem überein, was in der Zeitung stand.« »Sind Sie sich absolut sicher?« »Mit gefällt das genausowenig wie Ihnen, Mr. Carey.« Aber George fiel etwas ein, was Oberst Chry santhos gesagt hatte: ›Sie sind gerissen und gefähr lich, und die Polizei bekommt sie nicht zu fassen.‹ »Wenn diese Leute auch nur den leisesten Ver dacht haben, daß wir etwas wissen …«, begann er. »Ja. Das könnte höchst unangenehm werden.« Sie hob ihr Glas zu einem weiteren Schluck und hielt dann inne. Man hörte Schritte die Treppe herunterkommen. George trank rasch seinen Schnaps aus und holte eine Zigarette hervor. Der gelehrte Richter, dessen Sekretär er gewesen war, hatte einmal gesagt, es sei unmöglich, über viele Jahre in der Rechtspflege tätig zu sein, ohne zu lernen, daß kein Fall, ganz gleich, 235
wie trocken er sich darstelle, gänzlich gegen die be dauerliche Tendenz der Wirklichkeit gefeit sei, Form und Ausmaße eines Melodramas anzunehmen. Da mals hatte George höflich gelächelt und sich gefragt, ob er, wenn er einmal Richter war, wohl auch dazu neigen würde, solche halbgaren Verallgemeinerun gen von sich zu geben. Jetzt fiel ihm das wieder ein. Die Tür ging auf. Der Mann, der den Raum betrat, war blond, mit breiter Brust, kräftigen Schultern und großen Hän den. Er mochte zwischen dreißig und vierzig Jahre alt sein. Dank den kräftigen Wangen, dem entschlos senen Mund und den kühlen, wachsamen Augen wirkte das Gesicht markant. Er hielt sich sehr gera de, und das Buschhemd, das er trug, spannte sich über seiner Brust. Mit dem Revolvergürtel um die Taille sah er fast so aus, als trüge er Uniform. Sein Blick ging rasch von George zu Miss Kolin, während Arthur, der ihm gefolgt war, die Tür schloß und dann vorwärts hastete. »‘tschuldigung, daß ich Sie hab warten lassen«, sagte er. »Mr. Carey, das ist mein Chef. Er kann ein bißchen Englisch, ich hab’s ihm beigebracht, aber gehen Sie mit langen Wörtern sparsam um. Er weiß, wer Sie sind.« Der Neuankömmling schlug die Hacken zusam men und verbeugte sich kaum merklich. »Schirmer«, sagte er knapp. »Franz Schirmer. Ich glaube, Sie wollten mich sprechen.«
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D
ie deutschen Streitkräfte, die sich im Okto ber 1944 aus Griechenland zurückzogen, unterschieden sich an Zahl und Qualität sehr stark von den Kampftruppen, die etwas mehr als drei Jahre zuvor in das Land einmarschiert waren. Hatte die Zwölfte Armee des Generals von List mit ihren Elite-Panzerdivisionen und ihren militä rischen Erfolgen während des Polenfeldzuges noch die unwiderstehliche Stärke der Wehrmacht verkörpert, so verkörperten die Besatzungskräfte, die sich nun auf den Nachhauseweg machten, so lange ihnen noch ein Weg nach Hause offenstand, nicht weniger eindrucksvoll deren endgültige Er schöpfung. Die früher geübte Praxis, Fronttrup pen Erholung zu gewähren, indem man sie zeit weise als Besatzungstruppen einsetzte, galt längst als Luxus und war aufgegeben worden. Die Nach schubdivision, die 1944 im Abschnitt Saloniki in Garnison lag, bestand zum größten Teil aus Män nern, die aus dem einen oder anderen Grund als nicht kampfdiensttauglich galten: entkräftete Überlebende von der russischen Front, die Älte ren, die Schwächlinge und diejenigen, die auf 237
grund von Krankheit oder Verwundung nur be schränkt einsatzfähig waren. Für Feldwebel Schirmer hatte der Krieg an jenem Tag in Italien geendet, an dem er auf Befehl eines unerfahrenen Offiziers über bewaldetem Gelände abgesprungen war. Die soldatische Kameradschaft in einem Elitekorps hat so manchem Mann viel be deutet. Feldwebel Schirmer hatte sie etwas vermit telt, was seine Erziehung ihm stets vorenthalten hatte – seinen Glauben an sich selbst als Mann. Die dem Unfall folgenden Monate im Lazarett, das Un tersuchungsgericht, das Erholungsheim, die medi zinischen Untersuchungen und seine Abkomman dierung nach Griechenland waren das bittere Nach spiel der einzigen Zeit seines Lebens gewesen, in der er nach eigenem Empfinden so etwas wie Glück er lebt hatte. Oft hatte er sich gewünscht, der Ast, der ihm die Hüfte gebrochen hatte, hätte ihm die Brust durchbohrt und ihn getötet. Wäre das Vierundneunzigste Garnisonsregiment in Saloniki eine Einheit gewesen, auf die ein Soldat wie Feldwebel Schirmer, und sei es nur widerwillig, hätte stolz sein können, wäre zweifellos vieles ganz anders gekommen. Aber es war keine Einheit, auf die ein Mann mit Selbstachtung stolz sein konnte. Die Offiziere waren (mit wenigen Ausnahmen wie Leutnant Leubner) nicht zu gebrauchen, Offiziere von der Sorte, die ein Kommandant möglichst rasch wieder los wird und die den größten Teil ihrer Dienstzeit in Depots verbringt und auf ihre Verset 238
zung wartet. Die Unteroffiziere waren (wiederum mit wenigen Ausnahmen) unfähig und korrupt. Die Mannschaften waren ein unzufriedener, verkom mener Haufen von alten Soldaten, chronisch Kran ken, Dummköpfen und Kleinkriminellen. Als der Feldwebel zu der Truppe gestoßen war, hatte man ihm gleich anfangs befohlen, sein Fallschirmjäger abzeichen zu entfernen. Das war seine Einführung in das Regiment gewesen, und im Laufe der Zeit hatte er gelernt, sich mit seiner Verachtung dafür zu trösten und moralisch aufzubauen. Der deutsche Rückzug aus Thrakien war eine schändliche Angelegenheit. Die für die Stabsarbeit zuständigen Etappenhengste hatten wenig Erfah rungen mit der Bewegung von Truppen im Feld und noch weniger darin, sie auf dem Marsch mit Nachschub zu versorgen. Einheiten wie das Vier undneunzigste Besatzungsregiment – und davon gab es mehr als eine – konnten kaum etwas tun, um diese Unzulänglichkeiten wettzumachen. Die Ge wißheit, daß britische Kommandotruppen rasch von Süden her vorstießen, um den Rückzug zu stö ren, und daß bereits Gruppen von andartes angriff bereit in den Flanken lauerten, mag die Absetzbe wegung beschleunigt haben, trug jedoch auch zur allgemeinen Verwirrung bei. Es waren somit eher Verkehrsprobleme als Phengaros’ brillante Taktik, die zu dem Überfall auf Feldwebel Schirmers Kon voi führten. Schirmer gehörte zu den letzten seines Re 239
giments, die sich aus dem Abschnitt Saloniki zu rückzogen. Mochte er sein Regiment auch verach ten, so hinderte ihn das nicht daran, nach besten Kräften dafür zu sorgen, daß der Teil davon, den er befehligte, seine Befehle genauestens ausführte. Als Waffenausbilder hatte er keinen Zug zu führen und wurde dem Befehl eines Offiziers der Pioniere un terstellt, der eine besondere Einheit der Nachhut führte. Dieser Offizier war Leutnant Leubner, und man hatte ihn dazu abkommandiert, im Zuge der Absetzbewegung eine Reihe wichtiger Sprengungen durchzuführen. Der Feldwebel schätzte Leutnant Leubner, der in Italien eine Hand verloren hatte; er hatte das Ge fühl, daß der Leutnant ihn verstand. Gemeinsam teilten sie den Trupp in zwei Abteilungen auf, deren eine dem Befehl des Feldwebels unterstellt wurde. Er trieb sich und seine Männer unbarmherzig an, und es gelang ihm, seinen Teil der Arbeit gemäß den Zeitvorgaben des Rückzugsbefehls zu erledi gen. Während der Nacht des 23. Oktober belud sei ne Abteilung die lkws, die sie mitnehmen sollten, und verließ Saloniki. Alles verlief genau nach Plan. Seine Befehle lauteten, durch Vodena zu fahren, das Treibstofflager an der Straße nach Apsalos zu zerstören und dann bei der Brücke von Vodena zu Leutnant Leubner zu stoßen. Man war davon aus gegangen, daß die Verlegung der Sprengladungen für die Brücke die gemeinsamen Kräfte beider Ab teilungen erforderte, wenn sie nach Zeitplan erfol 240
gen sollte. Als Zeitpunkt der Wiedervereinigung beider Abteilungen war Sonnenaufgang festgesetzt worden. Beim ersten Morgenlicht jenes Tages befand sich Feldwebel Schirmer bei Iannitsa, auf etwas mehr als halber Strecke nach Vodena, und versuchte ver zweifelt, sich an einer Kolonne von Panzertranspor tern vorbei die Durchfahrt zu erzwingen. Die Transporter hätten schon achtzig Kilometer weiter sein müssen, waren ihrerseits aber von einer Kolon ne von Pferdefuhrwerken aufgehalten worden, die mit zwölf Stunden Verspätung von der Straße nach Naoussa gekommen waren. Der Feldwebel lag zwei Stunden hinter dem Zeitplan, als er durch Vodena kam. Wäre er pünktlich gewesen, hätten Phengaros’ Leute ihn um eine Stunde verfehlt. In der Nacht hatte es geregnet, und mit aufstei gender Sonne wurde die Luft feucht und stickig; außerdem hatte der Feldwebel seit dreißig Stunden nicht geschlafen. Dennoch fiel es ihm nicht schwer, wach zu bleiben, während er neben dem Fahrer des vorderen lkw saß. Die Maschinenpistole auf seinen Knien mahnte ihn zur notwendigen Wachsamkeit, und der dumpfe Schmerz in seiner überanstrengten Hüfte verhinderte, daß er eine allzu bequeme Sitz position einnahm. Aber seine Erschöpfung zeigte sich auf andere Weise. Sein Blick, der ein Stück Hang über der Straßenbiegung absuchte, zu der sie hinauffuhren, verschwamm immer wieder, so daß er den Kopf schütteln mußte, ehe er wieder richtig se 241
hen konnte; und seine Gedanken schweiften mit träumerischer Unlogik von den Problemen der vor liegenden Aufgabe und der möglicherweise prekä ren Lage von Leutnant Leubners Abteilung zu dem Angriff auf Eben-Emael, zu einem Mädchen, das er in Hannover gehabt hatte, und dann, voller Unbe hagen, zu dem Moment in Saloniki vor achtund vierzig Stunden, als er einer in Tränen aufgelösten Kyra Lebewohl gesagt hatte. Weinende Frauen bereiteten dem Feldwebel stets Unbehagen. Nicht daß er, was Frauen anging, sen timental gewesen wäre; es war schlicht so, daß der Laut des Weinens jedesmal Unglück für ihn selbst zu verheißen schien. So etwa damals in Belgien, als die alte Frau geheult hatte, weil sie ihre Kuh getötet hatten. Zwei Tage später war er verwundet worden. Oder damals auf Kreta, als es zur Aufrechterhal tung der Disziplin erforderlich gewesen war, ein paar verheiratete Männer an die Wand zu stellen und zu erschießen. Einen Monat später, in Bengha si, war er an Dysenterie erkrankt. Oder damals in Italien, als ein paar von den Burschen sich mit ei nem jungen Mädchen vergnügt hatten. Zwei Tage vor seinem fatalen Absprung war das gewesen. Na türlich würde er sich niemals zu einem derart un vernünftigen und kindischen Aberglauben beken nen; aber falls er jemals heiratete, dann ein Mäd chen, das niemals weinte, und wenn er sie nach Strich und Faden verprügelte. Sie konnte schreien, soviel sie wollte, sie konnte versuchen, ihn umzu 242
bringen, wenn sie wollte und sich traute, aber sie sollte um Gottes willen nicht weinen. Das brachte Unglück. Es war das linke Vorderrad des lkw, das die Mine auslöste. Der Feldwebel spürte für den Bruchteil ei ner Sekunde, wie es den Wagen hochriß, ehe sein Kopf gegen das Dach der Fahrerkabine schlug. Dann war etwas Feuchtes in seinem Gesicht und ein dünnes, hohes Singen in seinen Ohren. Er lag mit dem Gesicht nach unten, und bis auf eine blin kende Lichtscheibe war alles dunkel. Etwas versetz te ihm einen heftigen Schlag in die Seite, aber er war zu müde, um aufzuschreien oder auch nur Schmerz zu empfinden. Er konnte Männerstimmen hören und wußte, daß sie Griechisch sprachen. Dann ver klangen die Stimmen, und er begann durch die Luft auf die Bäume unten zuzustürzen und wehrte sich gegen die grausamen Äste, indem er die Knöchel aneinanderpreßte und die Füße durchstreckte, wie man es ihm auf der Fallschirmspringerschule beige bracht hatte. Die Bäume verschlangen ihn mit ei nem Seufzer, der von seinen eigenen Lippen zu kommen schien. Als er zum zweitenmal das Bewußtsein wiederer langte, war anscheinend nichts Feuchtes mehr in seinem Gesicht, aber irgend etwas straffte dessen Haut. Die Lichtscheibe war immer noch da, aber sie blinkte nicht mehr. Jetzt wurde er gewahr, daß er die Arme über den Kopf gestreckt hatte, als wollte er einen Kopfsprung machen. Er spürte sein Herz 243
klopfen, und es trieb ihm den Schmerz bis in die Haarspitzen. Seine Beine fühlten sich warm an. Er bewegte die Finger, und sie gruben sich in Sand und Kiesel. Das Bewußtsein begann zurückzufluten. Ir gend etwas stimmte nicht mit seinen Augenlidern, und er konnte nicht richtig sehen, aber er blickte weiter auf die Lichtscheibe und bewegte leicht den Kopf. Plötzlich ging ihm auf, daß die Scheibe ein kleiner, weißer Kiesel war, der auf einem Flecken Sonnenlicht lag. Dann fiel ihm ein, daß er sich in Griechenland befand und in einem lkw gesessen hatte, der auf eine Mine gefahren war. Mit Mühe wälzte er sich auf die Seite. Die Wucht der Explosion hatte den lkw umge stürzt und den Boden zu Kleinholz zerschmettert, aber die Hauptdruckwelle hatte die Fahrerkabine verfehlt. Der Feldwebel lag in einem ölgetränkten Durcheinander aus leeren Benzinkanistern und Schutt, das Gesicht in einer Pfütze von Blut, das aus seiner Kopfverletzung geströmt war. Mittlerweile war das Blut auf seinen Wangen und in seinen Au gen geronnen. Das Wrack des lkws ragte über ihm auf und beschattete ihn fast völlig; nur seine Beine lagen in der Sonne. Bis auf das Zirpen der Zikaden und ein leises Tropfen von dem lkw war kein Laut zu hören. Er begann Arme und Beine zu bewegen. Er wuß te zwar, daß er am Kopf verletzt war, kannte aber das Ausmaß seiner anderen Verletzungen nicht. Seine größte Sorge war, daß er sich erneut die Hüfte 244
gebrochen hatte. Für mehrere lange Sekunden konnte er an nichts anderes als das Röntgenbild denken, das der Chirurg ihm gezeigt hatte, das Bild von dem dicken Metallstift, den man ihm eingesetzt hatte, um den Hals des beschädigten Knochens zu stabilisieren. Wenn dieser Stift herausgebrochen war, war er erledigt. Er bewegte vorsichtig das Bein. Die Hüfte tat sehr weh, aber sie hatte auch schon vor der Explosion der Mine weh getan. Wenn er er schöpft war, tat sie immer weh. Er wurde kühner, zog das Bein an und setzte sich langsam auf. In die sem Augenblick bemerkte er, daß seine gesamte Ausrüstung verschwunden war. Er erinnerte sich an die griechischen Stimmen und an den Schlag, den er verspürt hatte, und ihm begann langsam aufzugehen, was passiert war. Sein Kopf pochte fürchterlich, aber die Hüfte schien in Ordnung zu sein. Er quälte sich auf die Knie. Gleich darauf mußte er sich übergeben. Die Anstrengung erschöpfte ihn, und er legte sich wie der hin, um auszuruhen. Ihm war klar, daß die Kopfverletzung möglicherweise schwerwiegend war. Dabei beunruhigte ihn weniger das viele Blut – er hatte schon viele Verletzungen der Kopfhaut gese hen und wußte, daß sie kräftig bluteten –, sondern die Möglichkeit einer inneren Blutung aufgrund der Gehirnerschütterung. Ob eine solche vorlag, würde er allerdings bald genug wissen, und er konnte oh nehin nichts daran ändern. Seine unmittelbare Auf gabe bestand darin, festzustellen, was mit dem Rest 245
der Abteilung passiert war, und nach Möglichkeit Schritte zu unternehmen, um die Situation zu mei stern. Er bemühte sich erneut, auf die Beine zu kommen, und nach einer Weile gelang es ihm. Er blickte sich um. Seine Uhr war verschwunden, aber der Sonnenstand sagte ihm, daß seit der Explo sion weniger als eine Stunde verstrichen war. Das Wrack des lkws lag quer über der Straße und blok kierte sie vollständig. Die Leiche des Fahrers war nirgendwo zu sehen. Er trat vorsichtig in die Stra ßenmitte und blickte die Steigung hinunter. Der zweite lkw hatte sich hundert Meter weiter schräg gestellt und war zum Stehen gekommen. Daneben lagen drei deutsche Soldaten auf der Stra ße. Dahinter konnte er eben noch die Plane der Fahrerkabine ausmachen, die zu dem dritten lkw gehörte. Langsam setzte er sich hügelab in Marsch, wobei er dann und wann stehenblieb, um wieder zu Kräften zu kommen. Die Sonne brannte, und die Fliegen umschwirrten seinen Kopf. Die Entfernung bis zum zweiten lkw erschien ihm gewaltig. Er hat te das Gefühl, sich gleich wieder übergeben zu müs sen, und legte sich in den Schatten eines Busches, bis es ihm wieder besserging. Dann marschierte er weiter. Die Soldaten auf der Straße waren mausetot. Ei nem von ihnen, der so aussah, als wäre er zunächst durch eine Granatenexplosion verwundet worden, hatte man die Kehle durchgeschnitten. Sämtliche Waffen und Ausrüstungsgegenstände fehlten, aber 246
der Inhalt zweier Provianttaschen war auf dem Bo den verstreut worden. Der lkw wies ein paar Ein schußlöcher auf und war von Granatenexplosionen zerschrammt, schien ansonsten aber in Ordnung zu sein. Ein paar verrückte Momente lang erwog er, den Wagen zu wenden und nach Vodena zurückzu fahren, aber die Straße war zum Wenden nicht breit genug, und selbst wenn sie es gewesen wäre, hätte er nicht die Kraft dazu gehabt. Er konnte den dritten lkw jetzt deutlich sehen und bei ihm weitere Tote. Einer hing mit grotesk baumelnden Armen seitlich heraus. Es konnte durchaus sein, daß seine ganze Abteilung gefallen war. Jedenfalls hatte es wenig Sinn, weiter nachzu forschen. Militärisch gesehen, hatte die Abteilung jedenfalls zu existieren aufgehört. Demzufolge durf te er sich um seine eigene Sicherheit kümmern. Er lehnte sich gegen den lkw, um erneut auszu ruhen, und sah sich zufällig im Seitenspiegel. Über all – in seinem Haar, in seinen Augen, in seinem Gesicht – klebte geronnenes Blut; sein ganzer Kopf wirkte so unmenschlich, als wäre er zu Brei zer schmettert worden; es war ohne weiteres nachzu vollziehen, warum die andartes ihn für tot gehalten hatten. Sein Herz machte vor Angst einen plötzlichen Sprung und jagte ihm einen stechenden Schmerz in den Schädel. Die andartes waren zunächst einmal gegangen, aber es war mehr als wahrscheinlich, daß sie mit Fahrern für die beiden noch funktionieren 247
den lkws zurückkommen würden. Es war sogar möglich, daß sie eine Wache zurückgelassen hatten und daß er in ebendiesem Moment vom Hang aus aufs Korn genommen wurde. Im selben Augenblick aber sagte ihm die Vernunft, daß wahrscheinlich doch keine Wache da war; und selbst wenn es eine gab, so hätte der Mann inzwischen reichlich Zeit zum Schießen gehabt, falls er gewollt hätte. Dennoch war es hier gefährlich. Ob die andartes zurückkehrten oder nicht, es würde nicht sehr lan ge dauern, bis die Bewohner der Umgegend sich zum Schauplatz wagen würden. Es gab immer noch vieles zu erbeuten: die Stiefel der Toten, die Benzinkanister, die lkw-Reifen, die Werkzeugkä sten. Die andartes hatten kaum etwas mitgenom men. Er mußte sich rasch davonmachen. Ein, zwei Momente lang überlegte er, ob er ver suchen sollte, zu Fuß das Treibstoffdepot zu errei chen, aber diesen Gedanken gab er rasch wieder auf. Selbst wenn er genug Kraft gehabt hätte, diese Ent fernung zu bewältigen, war es so gut wie unmög lich, am hellichten Tag dorthin zu gelangen, ohne von den Einwohnern der Umgegend gesehen zu werden. In diesem Gebiet und zu dieser Zeit konnte ein einzelner deutscher Soldat, der verwundet und unbewaffnet war, von Glück reden, wenn er nicht gefoltert wurde, ehe die Frauen ihn steinigten. Die Straße nach Vodena zurück war noch gefährlicher. Er mußte somit auf die Dunkelheit warten; das gab ihm vielleicht auch Zeit, wieder zu Kräften zu 248
kommen; was er unmittelbar zu tun hatte, war also völlig klar; er mußte Wasser, etwas zu essen und ein Versteck finden. Später, falls er dann noch lebte, würde er entscheiden, was er als nächstes unter nehmen würde. Die Feldflaschen waren allesamt verschwunden. Er zerrte einen leeren Benzinkanister aus dem lkw und ließ das Kühlwasser hineinlaufen. Als der Kani ster halb voll war, wurde ihm bewußt, daß er mehr gar nicht tragen konnte. Es war noch reichlich Was ser im Kühler, und es war mittlerweile nicht mehr so heiß, daß man es nicht trinken konnte. Als er seinen Durst gelöscht hatte, tränkte er sein Ta schentuch mit Wasser und wischte sich das Blut von Gesicht und Augen. Seine Kopfverletzung rührte er nicht an, damit sie nicht wieder zu bluten anfing. Als nächstes sah er sich nach etwas zu essen um. Die andartes hatten den Sack mit den Mundvorrä ten mitgenommen, aber er kannte die Gewohnhei ten von Armeelastwagenfahrern und sah im Werk zeugkasten nach. Dort fand er zwei eiserne Ratio nen, ein paar Riegel Schokolade und den Mantel des Fahrers. Er steckte die Rationen und die Schokola de in die Manteltaschen und warf ihn sich über die Schulter. Dann nahm er den Kanister mit Wasser in die Hand und hinkte langsam wieder die Straße hinauf. Was sein Versteck anging, hatte er sich bereits entschieden. Er erinnerte sich, wie harmlos der Hang über der Straße gewirkt hatte, als er mit dem 249
lkws die Steigung heraufgekommen war, und wie gut er die Angreifer verborgen hatte. Ihn würde er ebenso verbergen. Er verließ die Straße und kletter te bergan. Er brauchte eine halbe Stunde, um hundert Meter weit zu klettern. Einmal blieb er, zu erschöpft, um sich zu rühren, fast zehn Minuten liegen, ehe er sich aufraffen konnte, mühevoll weiterzukriechen. Der Hang war sehr steil, und er mußte den schweren Benzinkanister hinter sich herziehen. Mehrmals überlegte er, ihn zurückzulassen und später wieder zukommen, um ihn zu holen, aber irgendein In stinkt mahnte ihn, daß Wasser im Augenblick wich tiger für ihn war, als etwas zu essen, und daß er nicht riskieren konnte, es zu verlieren. Er kroch weiter, bis er schließlich nicht mehr konnte und eine Zeitlang hilflos würgend dalag, außerstande, auch nur aus der Sonne zu kriechen. Auf seinem Gesicht ließen sich Fliegen nieder, ohne daß er sie hätte ver scheuchen können. Nach einer Weile schlug er, von den Fliegen gequält, die Augen auf, um festzustellen, wo er war. Etwa einen Meter von ihm entfernt befand sich ei ne Gruppe von Dornensträuchern, zwischen denen eine Tamariske stand. Mit ungeheurer Anstrengung zerrte er den Wasserkanister in den Baumschatten und kroch dann mitsamt dem Mantel zwischen die Dornensträucher. Als letztes sah er irgendwo jenseits des Hügels, in Richtung Treibstofflager, eine dichte schwarze Rauchsäule aufsteigen. Dann ging ihm auf, 250
daß man ihm zumindest eine seiner Entscheidungen abgenommen hatte, und er legte sich mit dem Ge sicht nach unten auf den Mantel und schlief ein. Es war dunkel, als er erwachte. Der Schmerz in seinem Kopf war qualvoll, und obwohl die Nacht warm war, zitterte er heftig. Er kroch zu dem Was serkanister und zog ihn näher an sein Lager. Er wußte jetzt, daß er zu allem Übel auch noch einen Malariaanfall hatte, der seine Widerstandskräfte ge gen eine mögliche Infektion der Kopfverletzung verringerte. Es könnte sein, daß er sterben würde; aber dieses Wissen beunruhigte ihn nicht. Er würde um sein Leben kämpfen, solange er dazu imstande war. Falls er unterlag, machte das auch nichts. Er hatte sein Bestes getan. Er lag fast vier Tage lang zwischen den Dornensträuchern. Die meiste Zeit befand er sich in einer Art Dämmerzustand, in dem er zwar verschwommen den Wechsel zwischen Dunkelheit und Licht, sonst aber kaum etwas au ßerhalb seiner selbst wahrnahm. Zuweilen war ihm in einem Winkel seines Bewußtseins klar, daß er de lirierte und mit Leuten sprach, die gar nicht da wa ren; dann wieder verlor er sich in dem immer wie derkehrenden Alptraum des Sturzes durch die Bäume, der offenbar keine zwei Male auf gleiche Weise endete. Als er am dritten Tag aus tiefem Schlaf erwachte, stellte er fest, daß der Schmerz im Kopf nachgelas sen hatte, daß er klar denken konnte und Hunger verspürte. Er aß einen Teil einer eisernen Ration 251
und inspizierte dann seinen Wasservorrat. Der Ka nister war fast leer, doch für diesen Tag reichte es noch. Zum erstenmal, seit er den Hang hinaufge krochen war, stand er auf. Er fühlte sich fürchter lich schwach, aber er zwang sich, sein Versteck zu verlassen und auf die Straße hinunterzublicken. Die zwei noch fahrtüchtigen lkws waren ver schwunden, der zerstörte war zu Schirmers Erstau nen angezündet worden und ausgebrannt. Das ver kohlte Wrack wirkte wie ein schwarzer Fleck auf dem Kalksteinschotter der Straße. Er hatte von die sem Freudenfeuer weder etwas gesehen noch ge hört. Er ging in sein Versteck zurück und schlief wie der. Einmal, während der Nacht, erwachte er vom Brummen vieler Flugzeuge über ihm und wußte, daß das letzte Stadium des Rückzugs angebrochen war. Die Luftwaffe räumte den Flugplatz von Jidha. Er lag eine Zeitlang lauschend wach und kam sich sehr einsam vor, doch irgendwann schlief er wieder ein. Am nächsten Morgen fühlte er sich kräftiger und konnte sich auf die Suche nach Wasser machen. Er hielt sich von der Straße fern und fand etwa achthundert Meter bergab einen Bach, wo er sich wusch, nachdem er seine Trinkwasservorräte aufge füllt hatte. Um an den Bach zu kommen, hatte er einen ter rassenförmig angelegten Weinberg durchquert, und auf dem Rückweg lief er beinahe einem Mann und einer Frau, die dort arbeiteten, in die Arme. Er sah 252
sie jedoch gerade noch rechtzeitig, zog sich zurück und umging den Weinberg. Dabei kam er in die Nähe der Straße und fand die sieben frischen Grä ber, die jeweils ein Stahlhelm und ein Steinhaufen zierte. An einem in den Boden getriebenen Pfosten war ein Zettel mit Nummer und Namen der hier Begrabenen befestigt, der darum bat, die Ruhestätte nicht zu stören. Er war von Leutnant Leubner un terschrieben. Feldwebel Schirmer war seltsam bewegt. Es war ihm kein einziges Mal in den Sinn gekommen, daß der Leutnant Zeit haben könnte, sich für das Schicksal der vermißten Abteilung zu interessieren. Zweifellos war er es gewesen, der den zerstörten lkw verbrannt und angeordnet hatte, die beiden an deren wegzufahren. Ein guter Offizier, der Leut nant. Er betrachtete erneut den Zettel. Sieben Tote. Das hieß, daß drei, darunter auch der fehlende Fah rer, gefangengenommen worden oder entkommen waren. Das Papier war bereits etwas zerfleddert und hing wahrscheinlich schon seit über zwei Tagen hier. Es war bitter zu wissen, daß hilfreiche Hände so nahe gewesen waren, während er versteckt und besinnungslos zwischen den Dornensträuchern ge legen hatte. Zum erstenmal seit der Explosion der Mine beschlich ihn Verzweiflung. Er schob sie ärgerlich von sich. Was hatte er für einen Grund zu verzweifeln? Etwa weil er nicht im stande war, wieder zum Vierundneunzigsten Besat 253
zungsregiment zu stoßen, das mit eingeklemmtem Schwanz Richtung Vaterland stolperte? Weil nie mand da war, den er um Befehle bitten konnte? Wie die Ausbilder in der Fallschirmspringerschule ge lacht hätten! Er betrachtete erneut die Gräber. Er hatte weder Mütze noch Helm und konnte deshalb nicht salu tieren. Er nahm Habachtstellung ein und schlug re spektvoll die Hacken zusammen. Dann nahm er seinen Benzinkanister auf und begab sich zu dem Hang und den Dornensträuchern zurück. Nachdem er die Reste der ersten eisernen Ration gegessen hatte, legte er sich hin, um gründlich zu überlegen. Die Suche nach Wasser hatte ihn hinreichend er schöpft, um ihm klarzumachen, daß er noch immer sehr schwach war. Es würde mindestens noch vier undzwanzig Stunden dauern, bis er imstande war, sich in Marsch zu setzen. Was er noch zu essen hat te, ließ sich wahrscheinlich so lange strecken. Da nach mußte er Proviant besorgen. Und was dann? Die deutschen Streitkräfte hatten Vodena wahr scheinlich schon vor mehr als zwei Tagen geräumt. Zu glauben, er könnte sie jetzt noch einholen, war müßig. Um das zu schaffen, würde er Hunderte von Kilometern unwegsames Gelände durchqueren müssen. Seine einzige Chance, ungesehen durchzu kommen, bestünde darin, die Straßen zu meiden. Doch wenn er das täte, würden die langen, harten 254
Märsche ihn bald entkräften. Er konnte es natürlich mit der Eisenbahn probieren, aber die war mittler weile fast sicher wieder in griechischer Hand. Seine Verzweiflung kehrte zurück, und diesmal ließ sie sich nicht so einfach abtun. Tatsache war nun ein mal, daß er vernünftigerweise nirgendwohin gehen konnte. Er war vollständig von allem abgeschnitten, und das auf feindlichem Gebiet, wo Gefangennah me oder Aufgabe den Tod bedeuteten und ihm sämtliche Fluchtwege verschlossen waren. Das ein zige, was ihm allem Anschein nach übrigblieb, war, unter dem Dornbusch weiterzuvegetieren wie ein Tier und zu stehlen, was er an Eßbarem auf den Feldern fand. Ein entflohener Kriegsgefangener wä re in einer besseren Lage; er hätte zumindest Zeit gehabt, sich auf das Wagnis vorzubereiten. Er, Schir mer, dagegen war relativ hilflos. Er hatte keine Zi vilkleidung, kein Geld, keine Papiere, so gut wie keine Lebensmittel; außerdem litt er immer noch an den Nachwirkungen der Minenexplosion und an einem Malariaanfall. Er brauchte Zeit, um sich voll ständig zu erholen, und Zeit zum Planen. Vor allem brauchte er jemanden, der ihm half, Ausweispapiere zu beschaffen. Kleidung und Geld konnte er viel leicht stehlen, aber Papiere zu stehlen und zu be nutzen, die in einer Sprache gedruckt waren, die er nicht lesen konnte, wäre Dummheit. Und dann fiel ihm Kyra ein; Kyra, die so bitter geweint hatte, als er ihr hatte Lebewohl sagen müs sen, Kyra, die ihn törichterweise angefleht hatte zu 255
desertieren; die einzige Freundin, die er in diesem feindlichen, tückischen Land besaß. Sie hatte ein kleines Fotogeschäft in Saloniki. Ei nes Tages hatte er das auffällige agfa-Schild vor ih rem Laden gesehen und war hineingegangen, um festzustellen, ob er hier einen Film für seine Kamera kaufen konnte. Sie hatte keinen auf Lager gehabt – Filme waren damals schwer zu bekommen –, aber er hatte sich zu ihr hingezogen gefühlt und war wie dergekommen, sooft er keinen Dienst hatte. Weil Entwicklungsarbeiten kaum anfielen, hatte sie, um mehr Geld zu verdienen, ein kleines, durch einen Vorhang abgeteiltes »Studio« eingerichtet, in dem sie Paß- und Ausweisfotos machte. Als vor Ort Mi litärausweise für die Besatzungstruppen ausgegeben worden waren, hatte er dem zuständigen Offizier seiner Einheit vorschlagen können, Kyra mit sämtli chen Fotoarbeiten zu beauftragen. Außerdem hatte er ihr stets etwas von der Truppenverpflegung mit gebracht. Sie wohnte mit ihrem Bruder in den zwei Räumen über dem Geschäft. Dieser allerdings war Nachtportier in einem Hotel, das von der Standort kommandantur mit Beschlag belegt worden war, und kam nur tagsüber nach Hause. Der Feldwebel hatte sehr bald die Erlaubnis beantragen können, auf Dauer außerhalb der Kaserne zu schlafen. Kyra war eine heißblütige junge Frau mit schlichten, einfach zu erfüllenden Bedürfnissen. Der Feldwebel war ebenso kraftvoll wie geschickt. Die Beziehung hatte sich als höchst zufriedenstellend erwiesen. 256
Nun ließ sie sich einem anderen Zweck dienstbar machen. Saloniki war vierundsiebzig Straßenkilometer entfernt. Das bedeutete, daß er mindestens hundert Kilometer zurücklegen mußte, um sich von den Städten und Dörfern fernzuhalten. Wenn er bei Ta geslicht marschierte, würde er wahrscheinlich unge fähr vier Tage brauchen. Wenn er auf Nummer Si cher ging und nur nachts marschierte, würde es viel länger dauern. Er durfte seine Hüfte nicht zu stark beanspruchen. Außerdem mußte er auch die Zeit in Betracht ziehen, die er für die Nahrungsbeschaffung brauchen würde. Je eher er aufbrach, desto besser. Seine Stimmung hob sich. Nachdem er in der fol genden Nacht den Rest der eisernen Ration geges sen hatte, machte er sich auf den Weg, in der Tasche als Notfallration nur die Schokolade. Er brauchte acht Tage, um sein Ziel zu erreichen. Nachts zu marschieren hatte sich ohne Karte und Kompaß als zu schwierig erwiesen. Er hatte sich mehrfach verlaufen. Nach der dritten Nacht hatte er beschlossen, daß er das größere Risiko hinnehmen und tagsüber marschieren mußte. Es war einfacher gewesen, als er erwartet hatte. Selbst die Ebene bot reichlich Deckung, in deren Schutz er sich bewegen konnte, und außer in der Gegend von Iannitsa konnte er sich recht dicht an der Straße halten. Das größte Problem war die Nahrungsbeschaffung. Auf einem abgelegenen Gehöft hatte er ein paar Eier stehlen können, und an einem anderen Tag hatte er 257
eine verirrte Ziege gemolken; meistens aber lebte er von den Wildbeeren und Früchten, die er fand. Erst am Ende des siebten Tages empfand er seine Lage als so verzweifelt, daß er seine Schokolade aß. Gegen zehn Uhr morgens erreichte er die Voror te von Saloniki. Er befand sich in der Nähe der Ei senbahn, in einer Gegend, die günstige Versteck möglichkeiten bot. Er beschloß, hier haltzumachen und bis zum Einbruch der Nacht zu warten, ehe er in die Stadt ging. Nun, da seine Reise fast zu Ende war, machte er sich am meisten über seine äußere Erscheinung Sor gen. Die Wunde an seinem Kopf verheilte gut und würde kaum Neugier hervorrufen. Der Stoppelbart, der ihm gewachsen war, gefiel ihm nicht, aber nur weil er unsoldatisch war; besonders auffallen würde er deswegen wohl nicht. Das Problem war seine Uniform. In deutscher Uniform durch die Straßen von Saloniki zu gehen hieße mittlerweile, Verhaf tung oder Ermordung geradezu herauszufordern. Irgend etwas mußte geschehen. Er bewegte sich näher an die Gleise heran und ging daran entlang auf Erkundung. Schließlich fand er, was er gesucht hatte – die Hütte eines Strecken arbeiters. Sie war mit einem Vorhängeschloß gesi chert, doch in der Nähe lagen ein paar schwere ei serne Schienenlager auf dem Boden, mit der er die Haspe zertrümmerte, durch die der Schloßbügel lief. Er hatte gehofft, in der Hütte einen Overall oder 258
so etwas wie einen Arbeitskittel zu finden, aber sie enthielt keinerlei Kleidungsstück. Allerdings fand sich darin, in ein Stück Zeitung eingewickelt, das Essen eines Arbeiters: ein Stück Brot, ein paar Oli ven und eine halbe Flasche Wein. Er nahm es mit in sein Versteck und verschlang es gierig. Der Wein machte ihn benommen, und er schlief hinterher eine Weile. Als er aufwachte, fühlte er sich sehr erfrischt und begann erneut, über das Problem seiner Kleidung nachzudenken. Unter seiner Uniformjacke hatte er ein graues Baumwollunterhemd an. Wenn er die Uniformjacke ablegte und die Uniformhose mit Gürtel trug, wür de er obenherum wie ein Hafenarbeiter aussehen. Nachts, wenn Farbe und Material der Hose nicht deutlich zu erkennen waren, würden ihn nur seine Knobelbecher verraten. Er versuchte, sie zu verber gen, indem er die Hosenbeine über die Stiefelschäfte hängen ließ, anstatt sie hineinzustecken. Das Er gebnis war nicht ganz zufriedenstellend, doch er be schloß, daß es hinreichte. Die Risiken, die er einge hen müßte, um Kleidung zu stehlen, waren vermut lich größer als das Risiko, daß seine Stiefel im Dun keln erkannt wurden. Bisher hatte er Glück gehabt. Es wäre unsinnig, es in Sichtweite seines Ziels übermäßig zu strapazieren. Um acht Uhr war es völlig dunkel, und er machte sich auf den Weg in die Stadt. Als er sie erreichte, erlebte er eine unangenehme Überraschung. Die Viertel, die er durchqueren 259
mußte, waren strahlend hell erleuchtet. Die Bürger von Saloniki feierten ihre Befreiung von den Besat zungskräften und die Ankunft der »Mazedonischen Divisionsgruppe« der elas. Es war ein phantastisches Bild. Entlang dem Ufer hüpften und wiegten sich lange Schlangen schreien der, singender Menschen im Takt der Musik, die aus Bars und Cafés plärrte. Die Restaurants waren brechend voll. Kreischende Horden tanzten auf Ti schen und Stühlen. Überall sah man Gruppen be trunkener andartes, viele davon Bulgaren, die unter wildem Gebrüll umhertorkelten, mit ihren Geweh ren in die Luft schossen und Frauen aus den Bor dellen holten, um auf der Straße mit ihnen zu tan zen. Dem Feldwebel, der jeden sich bietenden Schatten nutzte, kam die Stadt wie ein riesiger, or giastischer Rummel vor. Kyras Laden lag in einer schmalen Straße in der Nähe der Eski Juma. Es gab dort weder Bars noch Cafés, und so war es relativ ruhig. Soweit die Laden besitzer über Rolläden verfügten, hatten sie sie vor sichtshalber heruntergelassen; andere hatten ihre Fen ster mit Brettern vernagelt. Auf diese Weise waren auch Kyras Fenster geschützt, und der Laden selbst lag im Dunkeln; im Fenster darüber war jedoch Licht. Darüber war er erleichtert. Er hatte schon be fürchtet, sie wäre womöglich weggegangen, um an dem wilden Treiben auf den Straßen teilzunehmen, und er müßte auf ihre Rückkehr warten. Daß sie zu Hause war, bedeutete außerdem, daß sie die allge 260
meine Freude über die Wendung der Ereignisse nicht teilte. Das war von Vorteil. Er blickte sich vorsichtig um, ob seine Ankunft auch nicht von jemandem bemerkt worden war, der ihn womöglich vom Sehen kannte. Nachdem er sich in dieser Hinsicht beruhigt hatte, läutete er. Kurz darauf hörte er sie die Treppe herunter kommen und durch den Laden zur Tür gehen. Die Bretter verhinderten, daß er sie sah. Er hörte sie stehenbleiben, doch die Tür ging nicht auf. »Wer ist da?« fragte sie auf griechisch. »Franz.« »Allmächtiger Gott!« »Laß mich rein.« Er hörte sie mit den Riegeln hantieren, dann ging die Tür auf. Er trat ein, schloß rasch die Tür hinter sich und nahm sie in die Arme. Er spürte sie zittern, als er sie küßte, dann stieß sie ihn mit einem angst vollen Keuchen von sich. »Was machst du hier?« Er erzählte ihr, was ihm passiert war und was er vorhatte. »Aber du kannst nicht hierbleiben.« »Ich muß.« »Du kannst aber nicht.« »Wieso nicht, Liebste? Es ist nicht gefährlich.« »Man verdächtigt mich schon, weil ich einen Deutschen geliebt habe.« »Was können sie schon machen?« »Vielleicht werde ich verhaftet.« 261
»Ach was. Wenn sie jede Frau hier verhaften wür den, die einen Deutschen geliebt hat, brauchten sie eine Armee, um sie zu bewachen.« »Bei mir liegt der Fall anders. Die andartes haben Niki verhaftet.« »Weshalb?« Niki war ihr Bruder. »Man wirft ihm vor, er hätte für die Deutschen spioniert und den Spitzel gemacht. Wenn er gestan den und andere beschuldigt hat, werden sie ihn um bringen.« »Die Schweine! Trotzdem, ich muß hierbleiben, Liebste.« »Du mußt dich stellen. Du wärst Kriegsgefange ner.« »Von wegen. Die Kehle würden sie mir durch schneiden.« »Nein. Es gibt viele deutsche Soldaten hier. De serteure. Ihnen wird kein Haar gekrümmt, wenn sie sagen, sie sind Sympathisanten.« »Du meinst wohl, wenn sie sagen, sie sind Kom munisten?« »Was spielt das für eine Rolle?« »Wirfst du mich etwa mit diesen Schweinen von Deserteuren in einen Topf?« »Natürlich nicht, Liebster. Ich möchte dich bloß retten.« »Gut. Als erstes brauche ich etwas zu essen. Dann ein Bett. Ich benutze heute nacht Nikis Zim mer. Zu was anderem als schlafen bin ich sowieso nicht imstande.« 262
»Aber du kannst nicht hierbleiben, Franz. Es geht nicht.« Sie begann zu schluchzen. Er packte sie an den Armen. »Keine Tränen, Liebste, und keine Widerrede. Verstanden? Ich gebe die Befehle. Wenn ich gegessen und ausgeruht habe, können wir miteinander reden. Jetzt kannst du mir zeigen, was es zu essen gibt.« Er hatte die Finger tief in ihre Armmuskeln ge bohrt, und als sie zu weinen aufhörte, wußte er, daß er ihr nicht nur Angst gemacht, sondern auch weh getan hatte. So mußte es sein. Ungehorsam würde es vorläufig nicht mehr geben. Sie gingen in die Wohnung hinauf. Als sie ihn bei Licht sah, stieß sie einen Entsetzensschrei aus, doch er würgte weitere Wehklagen gereizt ab. »Ich habe Hunger«, sagte er. Sie richtete ihm eine Mahlzeit her und sah ihm dann beim Essen zu. Mittlerweile war sie schweig sam und in Gedanken versunken, aber er nahm sie kaum wahr. Er plante. Als erstes würde er schlafen, dann würde er sich um die Beschaffung von Zivil kleidung kümmern. Schade, daß ihr Bruder Niki so schmächtig war; seine Kleider waren ihm viel zu klein. Sie würde irgendwo einen gebrauchten An zug kaufen müssen. Dann mußte sie genau feststel len, was für Papiere er brauchte, um sich frei bewe gen zu können. Es gab natürlich die Sprachbarriere; aber die konnte er vielleicht umgehen, indem er sich als Bulgare oder Albaner ausgab; von diesem Ge sindel lief mittlerweile ja wohl genügend herum. 263
Danach mußte er sich entscheiden, wo er hinging – ein heikles Problem. Es gab nicht mehr viele Län der, wo man einen Deutschen willkommen heißen und ihn bei der Repatriierung unterstützen würde. Da waren natürlich Spanien – er könnte auf dem Seeweg hinkommen – oder die Türkei … Doch der Kopf sank ihm auf die Brust, und seine Augen wollten nicht mehr offenbleiben. Er raffte sich soweit auf, daß er es bis ins Schlafzimmer schaffte. Am Bett drehte er sich um und blickte zu rück. Kyra stand in der Tür und beobachtete ihn. Sie lächelte beruhigend. Er sank aufs Bett und schlief ein. Es war noch dunkel, und er konnte kaum mehr als zwei Stunden geschlafen haben, als er davon wach wurde, daß ihn jemand heftig am Arm schüt telte und er einen Stoß ins Kreuz bekam. Er wälzte sich herum und schlug die Augen auf. Zwei Männer mit Pistolen in der Hand schauten auf ihn herab. Sie trugen die rudimentären Unifor men, die er schon vor ein paar Stunden bei den durch die Straßen lärmenden andartes gesehen hat te. Jene allerdings waren stockbetrunken gewesen; diese hier waren stocknüchtern und sachlich. Es waren schlanke, mürrisch dreinschauende junge Männer mit modischen Gürteln und Armbinden. Vermutlich handelte es sich um andarte-Offiziere. Einer davon redete ihn mit scharfer Stimme auf deutsch an. »Aufstehen.« 264
Er gehorchte langsam und mußte dabei ein Schlafbedürfnis überwinden, das heftiger war als je des Gefühl von Angst. Er hoffte, daß sie ihn rasch töteten, damit er Ruhe hatte. »Name?« »Schirmer.« »Dienstrang?« »Feldwebel. Wer sind Sie?« »Das werden Sie schon noch feststellen. Sie sagt, Sie wären Fallschirmjäger und Ausbilder. Stimmt das?« »Ja.« »Wo haben Sie Ihr Eisernes Kreuz bekommen?« Der Feldwebel war mittlerweile soweit wach, daß ihm die Notwendigkeit zu lügen klar war. »In Bel gien«, sagte er. »Wollen Sie am Leben bleiben?« »Wer will das nicht.« »Faschisten. Sie sind in den Tod vernarrt, also bringen wir sie um. Wahre Demokraten wollen am Leben bleiben. Das stellen sie dadurch unter Be weis, daß sie mit ihren Klassengenossen gegen die Faschisten und die kapitalistisch-imperialistischen Aggressoren kämpfen.« »Wer sind diese Aggressoren?« »Reaktionäre und ihre angloamerikanischen Bos se.« »Von Politik verstehe ich nichts.« »Natürlich. Sie haben ja auch nie Gelegenheit ge habt, etwas darüber zu erfahren. Dabei ist es ganz 265
einfach. Faschisten sterben, wahre Demokraten bleiben am Leben. Sie können sich selbstverständ lich frei entscheiden, was Sie sein wollen, aber da die Zeit knapp ist und wir noch viel zu tun haben, haben Sie nur zwanzig Sekunden, um sich die Sache zu überlegen. Üblicherweise gestehen wir nur zehn Sekunden zu, aber Sie sind Unteroffizier, ein erfah rener Soldat und ein wertvoller Ausbilder. Außer dem sind Sie kein Deserteur. Sie haben das Recht, gründlich zu überlegen, ehe Sie die heilige Verant wortung übernehmen, die man Ihnen anbietet.« »Und wenn ich die Rechte eines Kriegsgefange nen beanspruche?« »Sie sind kein Kriegsgefangener, Schirmer. Sie haben sich nicht ergeben. Sie befinden sich immer noch mitten im Gefecht. Im Augenblick sind Sie ein Feind Griechenlands, und« – er hob die Pistole – »wir haben viel zu rächen.« »Und wenn ich annehme?« »Wird man Ihnen umgehend Gelegenheit geben, Ihre politische Verläßlichkeit, Ihre Loyalität und Ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Die zwan zig Sekunden sind längst um. Was möchten Sie sa gen?« Der Feldwebel zuckte die Achseln. »Ich nehme an.« »Dann grüßen Sie gefälligst«, sagte der andarte scharf. Einen Moment lang begann sich der rechte Arm des Feldwebels zu bewegen, und er sah, wie sich der 266
Finger des andarte um den Abzug krümmte. Er ballte die Linke zur Faust und hob sie über seinen Kopf. Der andarte lächelte dünn. »Sehr schön. Du kannst gleich mit uns kommen.« Er ging zur Zim mertür und machte sie auf. »Aber zuerst haben wir noch etwas anderes zu erledigen.« Er winkte Kyra ins Zimmer. Ihr Gang war steif, ihr Gesicht eine tränenüberströmte Maske der Angst. Sie sah den Feldwebel nicht an. »Diese Frau«, sagte der andarte mit einem Lä cheln, »war so freundlich, uns mitzuteilen, daß du hier bist. Ihr Bruder war ein faschistischer Kollabo rateur und Spion. Sie hat dich verraten, um uns da von zu überzeugen, daß sie den wahren demokrati schen Geist besitzt. Was hältst du davon, Genosse Schirmer?« »Ich denke, sie ist eine faschistische Hure«, sagte der Feldwebel kurz angebunden. »Ausgezeichnet. Ganz meine Meinung. Du lernst schnell.« Der andarte sah seinen Begleiter an und nickte. Die Pistole des anderen fuhr hoch. Ehe Kyra schreien oder der Feldwebel auch nur daran denken konnte zu protestieren, waren drei Schüsse gefallen. Durch die Schockwelle löste sich ein Stückchen Putz von der Decke. Der Feldwebel spürte, wie es ihm auf die Schulter fiel, während er sah, wie das Mädchen von der Wucht der schweren Geschosse mit noch offenem Mund gegen die Wand geschleu 267
dert wurde. Dann sank sie ohne einen Laut zu Bo den. Der andarte-Offizier betrachtete sie einen Mo ment lang eingehend, dann nickte er erneut und ging aus dem Zimmer. Der Feldwebel folgte. Er wußte, daß er irgend wann, wenn er nicht mehr so müde und verwirrt war, Entsetzen über das eben Geschehene empfin den würde. Er hatte Kyra gemocht. Feldwebel Schirmer diente etwas mehr als vier Jahre lang in der Demokratischen Armee des Gene rals Markos. Nach dem Dezemberaufstand von 1944 und der Beförderung von Markos zum Oberbefehlshaber der Armee hatte man ihn nach Albanien geschickt. Dort war er Ausbilder in einem Lager gewesen, in dem die Guerillagruppen gedrillt wurden, die da mals zur Vorbereitung auf den Feldzug von 1946 zu größeren Verbänden zusammengefaßt wurden. In diesem Lager hatte er Arthur kennengelernt. Arthur hatte zu einer britischen Spezialeinheit ge hört, die ein deutsches Hauptquartier in Nordafrika überfallen hatte. Er war verwundet und gefangenge nommen worden. Der deutsche Befehlshaber hatte sich über den allgemeinen Befehl hinweggesetzt, demzufolge gefangene Angehörige von Spezialein heiten zu erschießen waren, und Arthur in einen Schub anderer britischer Gefangener gesteckt, die über Griechenland und Jugoslawien nach Deutsch land transportiert werden sollten. In Jugoslawien 268
war Arthur geflüchtet und hatte bis Kriegsende bei den Partisanen Titos gekämpft. Er hatte es nicht ei lig gehabt, nach England zurückzukehren, und war einer der Ausbilder gewesen, die Tito zu Markos’ Unterstützung abstellte. In Arthur fand der Feldwebel eine verwandte Seele. Sie waren beide Berufssoldaten und hatten beide als Unteroffiziere in Eliteeinheiten gedient. Keiner von beiden hatte gefühlsmäßige Bindungen zu seiner Heimat. Beide liebten den Soldatenberuf um seiner selbst willen. Außerdem teilten sie die gleiche Einstellung zu politischen Fragen. Während seiner Zeit bei den Partisanen hatte Ar thur so viele marxistische Phrasen gehört, daß er ei ne Menge davon auswendig kannte. In Momenten der Anspannung oder der Langeweile betete er sie in einem fort und in rasender Geschwindigkeit her unter. Als der Feldwebel ihn das erste Mal so mit bekam, hatte er Arthur unter vier Augen darauf an gesprochen. »Mir war das nicht klar, Corporal«, hatte er in dem unbeholfenen Mischmasch aus Griechisch, Eng lisch und Deutsch gesagt, in dem sie sich unterhiel ten; »ich hätte nicht gedacht, daß du ein Roter bist.« Arthur hatte gegrinst. »So? Ich bin einer der poli tisch zuverlässigsten Männer der ganzen Einheit.« »Tatsächlich?« »Tatsächlich. Beweise ich es nicht immer wieder? Was glaubst du, wie viele Parolen ich kenne. Ich kann reden wie ein Buch.« 269
»Aha.« »Ich weiß zwar nicht, was dieses Zeug von wegen dialektischer Materialismus heißt, aber bei der Bibel hab ich auch nie kapiert, worum es da eigentlich ging. In der Schule mußten wir immer Sachen aus der Bibel aufsagen. In Bibelkunde hab ich immer gute Noten gehabt. Und hier bin ich eben politisch zuverlässig.« »Glaubst du denn nicht an die Sache, für die wir kämpfen?« »Genausowenig wie du, Feldwebel. Das überlasse ich den Amateuren. Mir genügt das Soldatsein. Was soll ich mit einer Sache?« Der Feldwebel hatte nachdenklich genickt und auf die Ordensbänder an Arthurs Hemd geschaut. »Glaubst du, daß die Pläne unseres Generals Aus sicht auf Erfolg haben, Corporal?« Zwar bekleide ten sie beide in der Armee von Markos Offiziers rang, doch sie hatten beschlossen, diese Tatsache untereinander zu ignorieren. Sie waren Unteroffi ziere in richtigen Armeen gewesen. »Vielleicht«, sagte Arthur. »Kommt drauf an, wie viele Fehler die anderen machen, so wie immer. Wie so? Woran denkst du, Feldwebel? An Beförderung?« Der Feldwebel hatte genickt. »Ja, Beförderung. Wenn diese Revolution Erfolg hätte, gäbe es mögli cherweise ausgezeichnete Gelegenheiten für Män ner, die imstande sind, sie zu ergreifen. Ich glaube, ich muß auch Schritte unternehmen, um politisch zuverlässig zu werden.« 270
Die Schritte, die er unternahm, hatten sich als wirkungsvoll erwiesen, und seine natürlichen Füh rungsqualitäten waren bald erkannt worden. 1947 befehligte er, mit Arthur als Stellvertreter, eine Bri gade. Als die Armee von Markos sich 1949 aufzulö sen begann, war diese Brigade eine derjenigen, die im Gebiet von Grammos bis zuletzt aushielten. Doch zu diesem Zeitpunkt wußten sie auch, daß der Aufstand vorüber war, und waren verbittert. Keiner von ihnen hatte je an die Sache geglaubt, für die sie so lange so zäh und geschickt gekämpft hat ten. Aber daß sie von Tito und vom Moskauer Po litbüro verraten worden war, hatten sie dennoch als infam empfunden. »›Setze dein Vertrauen nicht auf Fürsten‹«, hatte Arthur düster zitiert. »Wer sagt das?« hatte der Feldwebel gefragt. »Die Bibel. Nur sind das hier keine Fürsten, son dern Politiker.« »Alles eins.« Der Blick des Feldwebels hatte et was Entrücktes angenommen. »Ich glaube, Corpo ral, in Zukunft müssen wir unser Vertrauen auf uns selbst setzen«, hatte er gesagt.
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s war kurz nach Tagesanbruch, und die Berge über Florina zeichneten sich vor einem rosigen Schimmer am Himmel ab, als der alte Renault George und Miss Kolin vor dem Kino absetzte, wo er sie zehn Stunden zuvor abgeholt hatte. Auf Georges Anweisungen hin bezahlte Miss Kolin den Fahrer und vereinbarte mit ihm, daß er sie am Abend für die glei che Fahrt wieder abholen sollte. Sie gingen schwei gend in ihr Hotel. Auf seinem Zimmer angelangt, vernichtete George den Brief, den er vorsichtshalber für den Manager hinterlassen hatte, und machte sich daran, ein Telegramm an Mr. Sistrom aufzusetzen. anspruchsteller unter seltsamen umstän den ausfindig gemacht stop identität über jeden vernünftigen zweifel erhaben stop komplizierte situation verhindert unmit telbares einfinden in kanzlei stop schicke heute ausführlichen bericht stop erbitte falls vorhanden umgehend bedingungen auslieferungsvertrag usa griechenland mit besonderer berücksichtigung bewaffneter raubüberfall. 272
Daran, dachte er grimmig, dürfte Mr. Sistrom ein Weilchen zu kauen haben. Er las es noch einmal durch, strich unnötige Präpositionen und Konjunk tionen und übersetzte das Ganze dann in den Code, den sie für streng vertrauliche Mitteilungen verein bart hatten. Als er damit fertig war, sah er auf die Uhr. Die Post öffnete erst in einer Stunde. Er würde Mr. Sistrom schreiben und den Brief gleichzeitig mit dem Telegramm aufgeben. Er seufzte. Es war eine anstrengende Nacht gewesen – auf mancherlei un erwartete Weise anstrengend. Als der Kaffee und die Brötchen kamen, die er im Restaurant bestellt hatte, machte er sich daran, seinen Bericht abzufassen. »In meinem letzten Schreiben«, begann er, »habe ich Ihnen von dem Beweismaterial berichtet, das mir Madame Vassiotis lieferte, und von meinem daraus resultierenden Entschluß, so rasch wie mög lich nach Hause zurückzukehren. Seither hat sich, wie Sie meinem Telegramm entnommen haben dürften, das Bild vollkommen geändert. Ich wußte zwar, daß die von Madame Vassiotis in Gang ge setzten Nachforschungen allen möglichen Personen zu Ohren kommen würden, die von den Behörden aus dem einen oder anderen Grund als Kriminelle angesehen werden, aber ich konnte kaum damit rechnen, daß sie auch dem Mann, den wir gesucht haben, zur Kenntnis kommen würden. Ebendies aber geschah. Vor vierundzwanzig Stunden nahm ein Mann mit mir Kontakt auf, der behauptete, er habe Freunde, die Informationen über Schirmer lie 273
fern könnten. In der Folge unternahmen Miss Kolin und ich eine sehr beschwerliche Fahrt zu einem ge heimen Ziel irgendwo in den Bergen, in der Nähe der jugoslawischen Grenze. Dort angekommen, brachte man uns zu einem Haus und stellte uns ei nem Mann gegenüber, der behauptete, er sei Franz Schirmer. Nachdem ich den Zweck unseres Besu ches erklärt hatte, stellte ich ihm verschiedene ein schlägige Fragen, die er allesamt richtig beantworte te. Ich fragte ihn nach dem Hinterhalt bei Vodena und seinem seitherigen Schicksal. Er erzählte mir eine phantastische Geschichte.« George zögerte; dann löschte er das Wort ›phanta stisch‹ – Mr. Sistrom mochte derlei Adjektive nicht – und tippte an seiner Stelle das Wort ›merkwürdig‹. Dabei war es phantastisch gewesen, dort im Licht der Petroleumlampe zu sitzen und dem Ururenkel des Helden von Preußisch-Eylau zuzuhören, wie er in seinem gebrochenen Englisch die Geschichte sei ner Abenteuer in Griechenland erzählte. Er hatte langsam, zuweilen mit einem leisen Lächeln in den Mundwinkeln, gesprochen, die wachsamen grauen Augen stets forschend und taxierend auf seine Be sucher gerichtet. Der Dragoner von Ansbach, dach te George, mußte ein ganz ähnlicher Typ von Mann gewesen sein. Wo andere sich dem Untergang ergä ben, würden Männer wie diese beiden Schirmers stets ausharren und überleben. Der eine war ver wundet worden, hatte sein Vertrauen auf Gott ge setzt, war desertiert und später zum wohlhabenden 274
Kaufmann geworden. Den anderen hatte man für tot liegengelassen, er hatte sein Vertrauen auf sich selbst gesetzt, seine fünf Sinne beisammengehalten und weitergekämpft. Was jedoch aus dem zweiten Unteroffizier Schirmer geworden war, das hatte dieser selbst gar nicht zu beantworten versucht. Sein Bericht von seinen Abenteuern hatte etwas unvermittelt mit der Abriegelung der jugoslawi schen Grenze durch Tito und einer bitteren Tirade gegen die Winkelzüge der kommunistischen Politi ker geendet, denen sich die Niederlage der MarkosArmee verdankte. Aber George hatte mittlerweile kaum noch Zweifel, was die späteren Betätigungen des Feldwebels anging. Sie waren einem alten Mu ster gefolgt. Wenn geschlagene Revolutionsarmeen sich auflösten, wurden die Soldaten, die aus politi schen Gründen nicht heimzukehren wagten oder kein Heim hatten, zu dem sie zurückkehren konn ten, zu Briganten. Und da ganz eindeutig weder der Feldwebel noch Arthur, um mit Oberst Chry santhos zu sprechen, ein schlichter, verblendeter Fanatiker des Typs war, der sich ständig erwischen läßt, war die in Saloniki erzielte Ausbeute mit Si cherheit in ihre Taschen und die ihrer bewaffneten Helfer gewandert. Es war eine heikle Situation. Au ßerdem würde er, George, wenn er nicht verdächtig uninteressiert erscheinen wollte, die beiden auffor dern müssen, ihre derzeitigen Lebensumstände auf ihre eigene Weise zu erklären. 275
Arthur hatte ihm dazu Gelegenheit gegeben. »Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß es sich für Sie lohnen würde, hierherzukommen, Mr. Carey?« sag te er triumphierend, als der Feldwebel geendet hatte. »Das haben Sie in der Tat, Arthur, und ich bin Ih nen sehr dankbar. Und jetzt verstehe ich natürlich auch den Grund für die ganze Geheimnistuerei.« Er sah den Feldwebel an. »Ich hatte keine Ahnung, daß die Kämpfe in diesem Gebiet noch andauern.« »So?« Der Feldwebel lehrte sein Glas und setzte es mit einem Knall ab. »Das liegt an der Zensur«, sagte er. »Die Regierung will die Wahrheit vor der Welt verbergen.« Arthur nickte gewichtig. »Richtig faschistisch imperialistische Lakaien sind das«, sagte er. »Aber wir reden hier nicht über Politik, wie?« Der Feldwebel lächelte, während er Miss Kolin nachgoß. »Das interessiert die schöne Dame nicht.« Sie sagte kühl etwas auf deutsch, und sein Lä cheln schwand. Einen Moment lang schien er seine Einschätzung von Miss Kolin zu überdenken; dann wandte er sich fröhlich an George. »Füllen wir unsere Gläser, und kommen wir zur Sache«, sagte er. »Ja, ein guter Gedanke«, sagte George. Er hatte ihnen den beruhigenden Eindruck vermittelt, daß er sich mit seinem Bild von ihnen als schlichten Revo lutionären, die immer noch für eine verlorene Sache kämpften, zufriedengab. Das reichte. »Ich vermute, Sie wüßten gern ein bißchen mehr über die ganze 276
Geschichte, nicht wahr, Herr Feldwebel?« fügte er hinzu. »Allerdings.« George erzählte ihm die Geschichte des Falles von Anfang an. Eine Zeitlang hörte der Feldwebel höflich zu und unterbrach nur, um sich einen juristischen Begriff oder eine Formulierung erklären zu lassen, die er nicht verstand. Wenn Miss Kolin dergleichen ins Deutsche übersetzte, quittierte er diese Gefälligkeit jedesmal mit einem Nicken. Er wirkte fast gleich gültig, als beträfe ihn das, was er da zu hören be kam, im Grunde gar nicht. Erst als George zu der Rolle kam, die der Bericht über die Heldentaten des ersten Schirmer bei Eylau in dem Fall spielte, änder te sich seine Haltung. Plötzlich beugte er sich nach vorn über den Tisch und begann in scharfem Ton mit unvermittelten Fragen zu unterbrechen. »Franz Schirmer, sagen Sie? Er hatte den gleichen Namen und den gleichen Rang wie ich, der Alte?« »Ja. Und er war auch ungefähr im gleichen Alter wie Sie, als Sie über Kreta abgesprungen sind.« »Aha! Fahren Sie bitte fort.« George fuhr fort, aber nicht lange. »Wo ist er verwundet worden?« »Am Arm.« »Genau wie ich bei Eben-Emael.« »Nein, bei ihm war es ein Säbelhieb.« »Egal. Das läuft auf eins hinaus. Fahren Sie bitte fort.« 277
George erzählte weiter. Der Blick des Feldwebels war gespannt auf ihn gerichtet. Er unterbrach erneut. »Zu essen? Was hatte er zu essen?« »Ein paar erfrorene Kartoffeln, die er aus einer Scheune gestohlen hatte.« George lächelte. »Hören Sie, ich habe den kompletten Bericht über diese Er eignisse, den Franz Schirmers zweiter Sohn Hans verfaßt hat. Das ist der, der nach Amerika ausge wandert ist. Er hat das alles für seine Kinder aufge schrieben, damit sie sehen, was für ein feiner Mann ihr Großvater war.« »Haben Sie ihn hier?« »Ich habe eine Kopie davon im Hotel in Florina.« »Kann ich sie sehen?« Mittlerweile brannte er vor Eifer. »Aber ja. Sie können sie auch haben. Wahrschein lich bekommen Sie irgendwann auch das Original. Ich denke, daß Ihnen von Rechts wegen sämtliche Familienpapiere zustehen.« »Ja, richtig. Die Familienpapiere.« Er nickte nachdenklich. »Aber was Hans geschrieben hat, ist keineswegs die ganze Wahrheit. Es gibt da einiges, was Franz seinen Kindern nicht erzählt hat.« »So? Was denn?« Daraufhin erzählte George ihm von der Begeg nung mit Maria, von Mr. Moretons Nachforschun gen und wie er selbst in den Wehrmachtslisten in Potsdam die Wahrheit entdeckt hatte. Nun hörte der Feldwebel wieder zu, ohne zu un 278
terbrechen, und als George geendet hatte, blieb er ein, zwei Momente lang stumm und hielt den Blick auf den Tisch vor ihm gesenkt. Als er schließlich aufsah, lag ein stilles Lächeln der Befriedigung auf seinem Gesicht. »Das war ein Mann«, sagte er zu Arthur. »Ein richtiger Kerl, keine Frage«, pflichtete Ar thur nickend bei; »dazu noch der gleiche Name und Rang. Mal überlegen – Dragoner, das war doch be rittene Infanterie, oder?« Aber der Feldwebel hatte sich wieder an George gewandt. »Und diese Maria, das ist meine Urur großmutter?« »Richtig. Marias erster Sohn Karl war Ihr Ur großvater. Aber unser überzeugendster Beweis er gibt sich daraus, daß wir über den Namenswechsel Bescheid wissen. Amelia Schneiders Cousin ersten Grades war Ihr Großvater Friedrich, und er hat sie überlebt. Erinnern Sie sich noch an ihn?« Der Feldwebel nickte gedankenverloren. »Ja, ich erinnere mich.« »Rechtlich gesehen, hat er das Geld geerbt. Sie erben über Ihren Vater von ihm. Natürlich ist noch eine Menge zu tun, bis das alles geregelt werden kann. Möglicherweise muß Ihr Anspruch über ein deutsches oder vielleicht sogar ein Schweizer Ge richt geltend gemacht werden. Vielleicht müssen Sie zuerst Schweizer Papiere beantragen. Ich weiß es nicht. Es kommt darauf an, auf welchen Standpunkt sich das Gericht in Pennsylvania stellt. Wir können 279
jedenfalls damit rechnen, daß der Staat Pennsylvania dagegen angehen wird. Und welchen Standpunkt der Treuhänder für Feindvermögen einnimmt, wis sen wir auch noch nicht. Es wird auf jeden Fall kein Zuckerlecken. Aber ich denke, das macht Ihnen nichts aus, wie?« »Nein.« Aber er schien dem, was George sagte, nicht viel Aufmerksamkeit zu schenken. »In Ans bach bin ich nie gewesen«, sagte er langsam. »Tja, dazu werden Sie später noch reichlich Zeit haben, denke ich. Jetzt zur praktischen Seite der gan zen Geschichte. Meine Kanzlei ist Rechtsvertreterin des Nachlaßverwalters, deshalb können wir selbst Sie nicht vertreten. Sie müssen sich einen anderen Anwalt nehmen. Ich weiß nicht, ob Sie das Geld aufbringen können, das es kostet, den Fall durchzu fechten. Die Kosten wären ziemlich hoch. Falls nein, könnten wir Ihnen eine gute Kanzlei empfehlen, die gegen Erfolgshonorar für Sie tätig würde. Das heißt, die Kanzlei bekäme einen bestimmten Prozentsatz von dem, was Sie dabei herausholen. Erklären Sie ihm das bitte alles, Miss Kolin.« Sie erklärte es. Er hörte geistesabwesend zu und nickte dann. »Sind Sie einverstanden?« fragte George. »Ja. Ich bin einverstanden. Machen Sie das alles so.« »Okay. Wie bald können Sie nach Amerika rei sen?« George sah, wie Arthur ihn scharf anblickte. Jetzt würde es gleich Ärger geben. 280
Der Feldwebel runzelte die Stirn. »Amerika?« »Ja. Wir könnten zusammen reisen, wenn Sie wollen.« »Aber ich möchte gar nicht nach Amerika.« »Tja, wenn Sie Anspruch auf Ihr Erbe erheben wollen, wird Ihnen leider nichts anderes übrigblei ben.« George lächelte. »Ohne Sie läßt sich der Fall nicht durchfechten.« »Sie haben doch gesagt, Sie erledigen das alles.« »Ich habe gesagt, wir könnten Ihnen eine Kanzlei empfehlen, die Sie vertritt. Aber auch die kann den Fall nicht durchfechten, ohne den Anspruchsteller zu präsentieren. Man wird Ihre Identität beweisen müssen und so weiter. Die Anwälte des Staates und des Treuhänders für Feindvermögen werden Ihnen eine Menge Fragen stellen wollen.« »Was denn für Fragen?« »Alle möglichen Fragen. Wir dürfen uns da gar nichts vormachen. Sie werden wahrscheinlich über jeden Moment Ihres Lebens Rechenschaft ablegen müssen, besonders über die Zeit, nachdem Sie als vermißt gemeldet wurden.« »Damit ist die Sache gestorben«, sagte Arthur. George mißverstand diese Bemerkung absicht lich. »Ach, ich glaube nicht, daß der Feldwebel Anlaß hat, sich in diesem Punkt irgendwelche Sorgen zu machen«, sagte er. »Es handelt sich um eine rein in neramerikanische Rechtsangelegenheit. Daß er hier in einem Bürgerkrieg gekämpft hat, ist für Pennsyl 281
vania von keinerlei Interesse. Bei der Beschaffung eines Visums könnte es ein paar Schwierigkeiten geben, aber ich denke, die ließen sich angesichts der besonderen Umstände überwinden. Die Griechen könnten ihm natürlich ein paar Knüppel zwischen die Beine werfen, wenn er danach hierher zurück kehren will, aber darüber hinaus können sie wenig machen. Es ist schließlich nicht so, daß er irgendein schweres Verbrechen begangen hat, für das er an die griechische Regierung ausgeliefert werden könnte, oder?« Er hielt inne. »Übersetzen Sie das mal lieber, Miss Kolin«, fügte er hinzu. Miss Kolin übersetzte. Als sie fertig war, herrsch te spannungsgeladenes Schweigen. Der Feldwebel und Arthur starrten einander grimmig an. Schließ lich wandte sich der Feldwebel wieder an George. »Wieviel war das gleich noch mal, dieses Geld?« »Tja, ich will ganz offen zu Ihnen sein. Solange ich mir nicht ganz sicher war, wer Sie sind, wollte ich Ihnen den Mund nicht wäßrig machen. Jetzt sollten Sie aber Bescheid wissen. Nach Abzug di verser Steuern haben Sie mit etwa einer halben Mil lion Dollar zu rechnen.« »Mein lieber Mann!« sagte Arthur, und der Feldwebel fluchte heftig auf deutsch. »Natürlich nur, wenn Sie den Fall gewinnen. Der Staat ist auch hinter dem Geld her. Er wird zu be weisen versuchen, daß Sie ein Hochstapler sind, und Sie müssen imstande sein zu beweisen, daß Sie kei ner sind.« 282
Der Feldwebel war ungeduldig aufgestanden und goß sich ein weiteres Glas Wein ein. George redete ohne Unterbrechung weiter. »Ich denke, das dürfte nicht schwierig sein, wenn man es richtig anpackt. Es gibt da allerhand Mög lichkeiten. Wenn Ihnen zum Beispiel aus irgendei nem Grund einmal die Fingerabdrücke abgenommen worden wären – sagen wir, während Ihrer Zeit bei der Wehrmacht –, dann brauchten Sie sich überhaupt keine Gedanken mehr zu machen. Andererseits …« »Bitte!« Der Feldwebel hob die Hand. »Bitte, Mr. Carey, ich muß nachdenken.« »Aber ja«, sagte George. »Wie dumm von mir. Es muß ein ziemlicher Schock für Sie gewesen sein zu erfahren, daß Sie ein reicher Mann sind. Sie brau chen Zeit, um das zu verarbeiten.« Erneut trat Schweigen ein. Der Feldwebel sah Arthur an, und dann sahen beide Miss Kolin an, die mit ihrem Notizbuch unbeteiligt am Tisch saß. In ihrer Gegenwart konnten sie weder auf griechisch noch auf deutsch sagen, was sie auf dem Herzen hatten. Arthur zuckte die Achseln. Der Feldwebel seufzte und setzte sich wieder zu George. »Mr. Carey«, sagte er. »Ich kann nicht so unmit telbar entscheiden, was ich tun soll. Ich brauche Zeit. Es gibt da so vieles.« George nickte weise, als wäre ihm soeben das ei gentliche Dilemma des Feldwebels klargeworden. »Aber ja. Ich hätte wissen müssen, daß diese Situa tion Sie, von anderen Schwierigkeiten einmal abge 283
sehen, vor ein schwerwiegendes Problem der revo lutionären Ethik stellt.« »Wie bitte?« Miss Kolin übersetzte rasch und mit leisem Spott, der George gar nicht gefiel. Aber der Feldwebel schien nichts davon zu bemerken. Er nickte geistesabwesend. »Ja, ja. So ist es. Ich brauche Zeit, um über vieles nachzudenken.« George fand es an der Zeit, sich etwas deutlicher auszudrücken. »Es gibt da einen Punkt, über den ich gern Klarheit hätte«, sagte er. »Das heißt, falls Sie nichts dagegen haben, mich ins Vertrauen zu ziehen.« »Ja? Was für ein Punkt?« »Sind Sie den griechischen Behörden unter Ihrem Namen bekannt?« »Passen Sie mal auf, Sie …«, begann Arthur war nend. Aber George unterbrach ihn. »Sparen Sie sich das, Arthur. Der Feldwebel muß es mir ja doch ir gendwann sagen, wenn ich ihm von Nutzen sein soll. Das sehen Sie doch ein, nicht wahr, Herr Feldwebel?« Der Feldwebel überlegte einen Moment lang, dann nickte er. »Ja. Das ist eine gute Frage, Corporal. Sei ne Gründe leuchten mir ein. Mr. Carey, ich bin der Polizei unter anderem Namen bekannt.« »Na schön. Ich habe kein Interesse daran, der griechischen Polizei zu helfen. Ich bin mit der Re gelung eines großen Nachlasses befaßt. Angenom 284
men, wir könnten Ihr Alias ganz aus dem Verfahren heraushalten – und ich wüßte nicht, warum das nicht möglich sein sollte –, würde Ihnen das die Entscheidung erleichtern?« Die klugen Augen des Feldwebels waren unver wandt auf ihn gerichtet. »Wären von einem solchen Glückspilz keine Fotos in den Zeitungen, Mr. Ca rey?« »Ja sicher, die Titelseiten wären voll davon. Ach so, ich verstehe. Namen hin oder her, Sie meinen, die Tatsache, daß Sie in Griechenland waren, würde hierzulande auf jeden Fall Aufmerksamkeit erregen, und man könnte Sie anhand der Bilder identifizie ren.« »So viele Leute kennen mein Gesicht«, sagte der Feldwebel entschuldigend. »Sie sehen also, ich muß nachdenken.« »Ja, das sehe ich«, sagte George. Er wußte jetzt, daß dem Feldwebel der Sachverhalt ebenso klar war wie ihm selbst. Falls der Raubüberfall oder die Raubüberfälle, an denen er sich beteiligt hatte, aus lieferungswürdige Verbrechen waren, dann wäre je de Art von Publizität fatal für ihn. Zu denen, die sein Gesicht kannten, gehörten beispielsweise auch die Angestellten der Zweigstelle der Eurasischen Kreditbank in Saloniki. Dem Feldwebel war aller dings nicht klar, daß George den wahren Sachver halt kannte. Zweifellos würde ein Tag kommen, an dem man ihn gefahrlos darüber aufklären konnte; vielleicht in Mr. Sistroms Büro. Vorderhand war Dis 285
kretion angebracht. »Wie lange brauchen Sie zum Überlegen, Herr Feldwebel?« fragte er. »Bis morgen. Wenn Sie morgen abend wieder kommen, unterhalten wir uns weiter.« »Okay.« »Und meine Familienpapiere bringen Sie auch mit?« »Ja.« »Dann auf Wiedersehen.« »Auf Wiedersehen.« »Sie werden die Papiere nicht vergessen?« »Nein, ich werde sie nicht vergessen.« Arthur brachte sie zum lkw zurück. Auf dem Weg dorthin blieb er stumm. Es war offensichtlich, daß auch er viel zu überlegen hatte. Aber als sie wieder im lkw saßen und er gerade die Plane befe stigen wollte, hielt er inne und lehnte sich an die Ladeklappe. »Mögen Sie den Feldwebel?« fragte er. »Er ist ein ziemlich eindrucksvoller Bursche, Sie müssen sehr an ihm hängen.« »Der beste Kumpel der Welt«, sagte Arthur knapp. »War nur so eine Frage. Es wäre mir gar nicht recht, wenn ihm irgendwas zustößt, falls Sie verstehen, was ich meine.« George kicherte. »Wären Sie gern der unbeliebte ste Mann in Philadelphia, Arthur?« »Was?« »Genau das werde ich sein, wenn Franz Schirmer irgend etwas zustößt.« 286
»Oh, là, là! Dann will ich nichts gesagt haben.« »Schwamm drüber. Sagen Sie, wie wär’s, wenn Sie die Kurven diesmal beim Runterfahren ein biß chen langsamer nehmen?« »Okay, Kumpel. Sie haben das Sagen. Fahren wir also langsam.« Die Öffnung zwischen dem Fahrersitz und der Ladefläche wurde von einer Klappe verdeckt, und während der Fahrt hinunter zur Schlucht zündete George ein Streichholz an, damit Miss Kolin noch einmal einen Blick auf die falschen Nummernschil der werfen konnte. Sie betrachtete sie eingehend und nickte. George löschte ungeduldig das Streich holz. Sofern er überhaupt je die Hoffnung gehabt hatte, bei dem Feldwebel könnte es sich am Ende doch nur um einen harmlosen Eiferer vom Typ Phengaros handeln, hatte er sie längst aufgegeben. Es war abwegig, sich weiter an Strohhalme zu klam mern. Arthur setzte sie an der Schlucht ab und ver sprach, sie am nächsten Abend an gleicher Stelle wieder abzuholen. Sie stolperten zum Wagen zu rück, weckten den alten Mann und machten sich auf den Rückweg nach Florina. Obwohl es seit der Begegnung mit dem Feldwe bel die erste Gelegenheit für sie war, sich unter vier Augen zu unterhalten, schwiegen sie beide mehrere Minuten lang. Dann endlich brach Miss Kolin das Schweigen. »Was haben Sie jetzt vor?« fragte sie. 287
»Der Kanzlei telegrafieren und um Instruktionen bitten.« »Die Polizei wollen Sie nicht informieren?« »Nicht, wenn mir die Kanzlei nicht ausdrücklich Anweisung dazu gibt. Ich bin mir ohnehin keines wegs sicher, daß wir ihnen mehr als vage Vermu tungen mitzuteilen hätten.« »Ist das Ihre ehrliche Meinung?« »Miss Kolin, man hat mich nicht nach Europa ge schickt, damit ich für die griechische Polizei den Spitzel spiele, sondern damit ich den rechtmäßigen Erben des Nachlasses Schneider-Johnson finde und in Philadelphia präsentiere. Und genau das tue ich. Was er hier ist, geht mich nichts an. Meinetwegen kann er Brigant, Bandit, Verbrecher, Handelsrei sender oder der Metropolit von Saloniki sein. In Philadelphia ist er der rechtmäßige Erbe des Nach lasses Schneider-Johnson, und was er hier ist, be rührt seinen Anspruch nicht im geringsten.« »Ich würde meinen, daß es seine Glaubwürdig keit vor Gericht erheblich beeinträchtigt.« »Darüber soll sich sein Anwalt den Kopf zerbre chen, nicht ich, und er soll damit umgehen, wie er mag. Was machen Sie sich überhaupt Gedanken darum?« »Ich dachte, Sie glauben an Gerechtigkeit.« »Das tue ich auch. Deswegen geht Franz Schir mer auch nach Philadelphia, wenn ich ihn hinschaf fen kann.« »Gerechtigkeit!« Sie lachte unangenehm. 288
George war bereits müde; nun begann er auch noch ärgerlich zu werden. »Hören Sie, Miss Kolin. Sie sind als Dolmetsche rin engagiert, nicht als Rechtsberaterin oder als mein berufliches Gewissen. Wir wollen uns beide um unsere eigene Arbeit kümmern. Im Augenblick kommt es nur darauf an, daß dieser Mann, so un glaublich es auch erscheinen mag, Franz Schirmer ist.« »Er ist außerdem ein Deutscher der übelsten Sor te«, sagte sie mürrisch. »Was für eine Sorte er ist, interessiert mich nicht. Mich geht nur die Tatsache etwas an, daß er exi stiert.« Einen Moment lang herrschte Schweigen, und er meinte schon, die Auseinandersetzung sei beendet. Dann begann sie erneut zu lachen. »Ein eindrucksvoller Bursche, der Feldwebel!« sagte sie spöttisch. »Nun passen Sie mal auf, Miss Kolin«, begann er, »ich war sehr …« Aber sie hörte gar nicht mehr zu. »Dieses Schwein!« rief sie wütend aus. »Dieses dreckige Schwein!« George starrte sie an. Sie begann sich mit den Fäusten auf die Knie zu hämmern und wiederholte dabei immer wieder das Wort »Schwein«. »Miss Kolin. Meinen Sie nicht …« Sie fuhr ihn an. »Dieses Mädchen in Saloniki! Haben Sie gehört, was er getan hat?« 289
»Ich habe auch gehört, was sie getan hat.« »Nur aus Rache, nachdem er sie verführt hatte. Und wie viele hat er noch so behandelt?« »Ist das nicht ein bißchen albern?« Sie hörte ihn nicht. »Wie viele Opfer gibt es noch?« Ihre Stimme hob sich. »Es ist immer dassel be mit diesen Bestien – sie morden und foltern und vergewaltigen, wo sie auch hinkommen. Was wissen die Amerikaner und die Briten schon von ihnen? Eure Armeen kämpfen nicht in ihrem eigenen Land. Fragen Sie die Franzosen nach den Deutschen auf ihren Straßen und in ihren Häusern. Fragen Sie die Polen und Russen, die Tschechen, die Jugoslawen. Diese Männer sind ein dreckiges Geschmeiß in den Ländern, die unter ihnen leiden. Dreck! Sie prügeln und foltern, prügeln und foltern, drücken mit ihrer Gewalt alles nieder, bis sie … bis sie …« Sie brach ab und starrte mit leerem Blick gerade aus, als hätte sie vergessen, was sie hatte sagen wol len. Dann plötzlich brach sie mit einem heftigen Weinkrampf zusammen. George saß so unerschütterlich da, wie seine Ver legenheit und das Schlingern des Wagens es zulie ßen, und versuchte, sich zu erinnern, wie viele Glä ser er sie seit ihrer Abfahrt in Florina hatte trinken sehen. Es kam ihm so vor, als wäre ihr Glas kein einziges Mal leer gewesen, während sie sich im Hauptquartier des Feldwebels aufgehalten hatten, aber er konnte sich nicht genau erinnern. Wahr scheinlich hatte sie es immer wieder nachgefüllt. 290
Wenn das stimmte, dann mußte sie zusätzlich zu ih ren Verdauungskognaks fast eine ganze Flasche Pflaumenschnaps intus haben. Er war zu beschäftigt gewesen, um sonderlich auf sie zu achten. Mittlerweile schluchzte sie leise vor sich hin. Der alte Mann, der fuhr, hatte sich nur ein einziges Mal umgesehen und dann kein Interesse mehr gezeigt. Vermutlich war er an außer Fassung geratende Frauen gewöhnt. George war es nicht. Sie tat ihm leid; aber er erinnerte sich auch an ihr Vergnügen an den Anekdoten von Oberst Chrysanthos, dem Mann, der wußte, ›wie man mit Deutschen umgeht‹. Nach einer Weile schlief sie ein, den in ihre Arme gebetteten Kopf an die Rückenlehne gelehnt. Der Himmel begann gerade hell zu werden, als sie auf wachte. Eine Zeitlang starrte sie auf die Straße, ohne von dem Wind Notiz zu nehmen, der ihr das Haar zerzauste; dann nahm sie eine Zigarette heraus und versuchte, ihr Feuerzeug in Gang zu setzen. Der Fahrtwind war zu stark dafür, und George, der be reits rauchte, reichte ihr seine Zigarette, damit sie ihre daran anzünden konnte. Sie bedankte sich in völlig normalem Ton. Sie kam mit keinem Wort auf ihren Ausbruch zurück. Zweifellos hatte sie ihn vergessen. Bei Miss Kolin, so hatte er mittlerweile befunden, war alles möglich. Er beendete seinen Bericht an Mr. Sistrom und steckte ihn in einen Umschlag, den er verschloß. Die Post, dachte er, dürfte mittlerweile offen sein. 291
Er nahm Bericht und Telegramm und ging nach un ten. Er hatte Miss Kolin vor über einer Stunde allein gelassen, als sie auf ihr Zimmer gegangen war. Zu seinem Erstaunen sah er sie im Café sitzen, und auf dem Tisch vor ihr standen die Überreste eines Frühstücks. Sie hatte sich umgezogen und wirkte vollkommen ausgeschlafen. »Ich dachte, Sie wären zu Bett gegangen«, sagte er. »Sie haben gesagt, Sie wollten Ihrer Kanzlei tele grafieren. Ich habe gewartet, um das Telegramm zur Post zu bringen. Bei Telegrammen machen die dort ein ungeheures Getue. Es werden so selten welche aufgegeben. Ich dachte mir, Sie haben keine Lust, sich selber mit ihnen herumzuschlagen.« »Das ist sehr nett von Ihnen, Miss Kolin. Hier ist es. Meinen Bericht habe ich auch aufgesetzt. Wür den Sie ihn bitte per Luftpost aufgeben?« »Natürlich.« Sie ließ für das Frühstück etwas Geld auf dem Tisch liegen und wollte gerade durch die Eingangs halle zur Straße gehen, als der Portier ihr nachkam und auf französisch etwas zu ihr sagte. George schnappte das Wort »téléphone« auf. Sie nickte dem Portier zu und lächelte George, wie dieser fand, fast verlegen an. »Mein Gespräch nach Paris«, sagte sie. »Ich hatte meinen Freunden telegrafiert, daß ich auf dem Weg nach Hause bin. Ich wollte ihnen sagen, daß ich nun 292
doch noch aufgehalten werde. Was meinen Sie, wie lange werden wir noch hier sein?« »Zwei, drei Tage, würde ich sagen.« Er wandte sich zum Gehen. »Ziemlich gute Leistung, in einer Stunde von hier nach Paris durchzukommen«, fügte er hinzu. »Ja.« Er sah, wie sie die Telefonzelle betrat und zu sprechen begann, während er nach oben in sein Zimmer zurückging, um zu schlafen. Um acht Uhr an diesem Abend trafen sie erneut den alten Mann mit dem Renault und machten sich auf ihre zweite Fahrt zum Hauptquartier des Feldwebels. George hatte den ganzen Tag unruhig geschlafen und fühlte sich deswegen noch viel erschöpfter. In der schwachen Hoffnung, es könnte vielleicht schon ein Antworttelegramm von Mr. Sistrom dasein, war er am Spätnachmittag aufgestanden und hinunter gegangen, um nachzufragen. Es war noch nichts ge kommen. Er war enttäuscht, aber nicht überrascht gewesen. Mr. Sistrom würde einiges zu überlegen und einige Nachforschungen anzustellen haben, ehe er sinnvoll antworten konnte. Miss Kolin war außer Haus gewesen, und als er nun neben ihr im Wagen saß, fiel ihm auf, daß die Lederhandtasche, die sie an einem Schulterriemen trug, praller wirkte als sonst. Er kam zu dem Schluß, daß sie sich eine Flasche Schnaps gekauft hatte, um sich während der Fahrt damit zu stärken. Er hoffte mit einem gewissen Un 293
behagen, daß sie ihr nicht allzu heftig zusprechen würde. Arthur wartete an derselben Stelle auf sie und ließ als Vorsichtsmaßnahme wie gehabt die Plane herun ter. Es war noch wärmer als in der Nacht zuvor, und George protestierte. »Ist das denn überhaupt noch nötig?« »Tut mir leid, Kumpel. Muß sein.« »Es ist eine kluge Vorsichtsmaßnahme«, sagte Miss Kolin vollkommen unerwartet. »Ja, ganz recht, Miss.« Arthur war anscheinend ebenso überrascht wie George. »Haben Sie dem Feldwebel seine Papiere mitgebracht, Mr. Carey?« »Ja.« »Gut. Er hat sich schon Sorgen gemacht, daß Sie’s vielleicht vergessen. Kann’s gar nicht abwar ten, mehr über seinen Namensvetter zu erfahren.« »Ich habe auch einen Abzug von einem alten Fo to von ihm mitgebracht.« »Sie werden einen Orden kriegen.« »Wie hat er sich entschieden?« »Ich weiß nicht. Gestern nacht, nachdem Sie fort waren, haben wir uns noch unterhalten, aber … egal, reden Sie selbst mit ihm. Na denn! Alles fertig? Ich werd’s ruhig angehen lassen.« Sie fuhren erneut die gewundene Schotterstraße zu dem verfallenen Haus hinauf, wo sie wieder die gleiche Prozedur über sich ergehen lassen mußten. Diesmal jedoch hatten George und Miss Kolin nichts zueinander zu sagen, während sie zwischen 294
den Pinien darauf warteten, daß Arthur den Posten von ihrem Kommen unterrichtete. Arthur kehrte zurück und führte sie zum Haus. Der Feldwebel begrüßte sie im Flur, indem er George die Hand schüttelte und vor Miss Kolin die Hacken zusammenschlug. Er lächelte, wirkte je doch innerlich angespannt, als sei er über ihre guten Absichten im Zweifel. Miss Kolin, so stellte George erleichtert fest, legte ihre übliche Teilnahmslosigkeit an den Tag. Der Feldwebel führte sie ins Eßzimmer, goß etwas zu trinken ein und beäugte Georges Ak tentasche. »Haben Sie die Papiere mitgebracht?« »Aber ja.« George öffnete die Aktentasche. »Ah!« »Und ein Foto des Dragoners«, fügte George hinzu. »Wirklich?« »Alles hier drin.« George nahm einen Ordner heraus, den er aus Philadelphia mitgebracht hatte. Er enthielt Fotokopien oder Fotografien sämtlicher wichtiger Dokumente des Falls. »Der Corporal hat te keine Zeit mehr, die interessanten Sachen zu le sen, als er mein Zimmer durchsucht hat«, fügte er mit einem Grinsen hinzu. »Touché«, sagte Arthur ungerührt. Der Feldwebel setzte sich an den Tisch, und seine Augen leuchteten wie in Erwartung eines ambrosi schen Mahls. George legte die Dokumente nachein ander vor ihn hin und erklärte jeweils deren Her 295
kunft und Bedeutung. Der Feldwebel nickte bei jeder Erklärung verständig oder wandte sich zwecks Ori entierung an Miss Kolin; aber George erkannte rasch, daß er sich im Grunde genommen nur für ganz be stimmte Dokumente interessierte – diejenigen, die unmittelbar den ersten Franz Schirmer betrafen. Selbst ein Foto von Martin Schneider, dem Limona denmagnaten, der das Vermögen angehäuft hatte, das der Feldwebel womöglich erben würde, entlockte ihm nicht mehr als einen höflichen Ausruf. Die Fo tokopien von Hans Schneiders Bericht dagegen sowie die Kirchenbucheinträge über die Heirat von Franz und die Taufe von Karl studierte er eingehend und las sich den deutschen Text laut vor. Mit dem Foto des alten Franz ging er um, als handelte es sich um eine Reliquie. Er starrte es lange Zeit an, ohne ein Wort zu sagen; dann wandte er sich an Arthur. »Was meinst du, Corporal?« sagte er ruhig. »Sehe ich ihm nicht ähnlich?« »Man braucht sich nur den Bart wegzudenken, und er ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten«, pflichtete Arthur bei. Und für jemanden, der das Verwandtschaftsver hältnis kannte, bestand in der Tat eine starke Ähn lichkeit zwischen den beiden Schirmers. Da war die gleiche markante Kraft in den Gesichtern, die glei che Entschlossenheit um die Mundpartie, die glei che aufrechte Haltung, während die großen Hände, die auf der Daguerrotypie die Stuhllehnen gepackt hielten, und diejenigen, die das Foto davon hielten, 296
ohne weiteres zu ein und demselben Mann hätten gehören können. Es klopfte an der Tür, und der Posten steckte den Kopf herein. Er winkte Arthur zu sich. Arthur seufzte ungeduldig. »Ich sehe mal lieber nach, was er will«, sagte er, ging hinaus und schloß die Tür hinter sich. Der Feldwebel achtete gar nicht darauf. Mittler weile lächelte er über Hans Schneiders Bericht von Eylau und die Fotokopie einer Seite aus dem Kriegstagebuch der Dragoner, die George daneben gelegt hatte und auf der es um Franz Schirmers Fahnenflucht ging. Dieser alte Akt von Fahnen flucht schien ihm besonderes Vergnügen zu berei ten. Von Zeit zu Zeit warf er abermals einen Blick auf die Fotografie des Alten. Daß der Feldwebel selbst nicht nach Deutschland zurückgekehrt war, als sich Gelegenheit dazu bot (er hätte eine der Amnestien nutzen können), stellte, so vermutete George, wohl auch eine Art Fahnenflucht dar. Was dem Feldwebel nun solche Freude machte, war vielleicht die Mitteilung aus der Vergangenheit, daß Sünder, entgegen seinem Kindheitsglauben, durch aus nicht immer bei Teufeln hausen müssen und daß Gesetzlose und Deserteure, nicht anders als Märchenprinzen, bis an ihr selig Ende fortleben können. »Haben Sie sich schon entschieden, was Sie ma chen werden?« fragte George. Der Feldwebel blickte auf und nickte. »Ja, ich 297
glaube schon, Mr. Carey. Aber zuerst möchte ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen.« »Ich werde mich bemühen, sie nach …«, begann George. Aber er sollte nie erfahren, wie die Fragen des Feldwebels lauteten. In diesem Moment nämlich wurde die Tür aufgerissen, und Arthur kam ins Zimmer zurück. Er knallte die Tür hinter sich zu, kam zum Tisch herüber und sah George und Miss Kolin grimmig an. Sein Gesicht war vor Wut verkniffen und grau. Plötzlich warf er zwei kleine hellgelbe Röhrchen vor ihnen auf den Tisch. »Na schön«, sagte er. »Wer von euch beiden war’s? Oder wart ihr’s beide?« Die Röhrchen waren knapp vier Zentimeter lang und einen Zentimeter dick. Sie sahen aus, als wären sie von einem Stück Bambus abgeschnitten und dann gefärbt worden. Die drei um den Tisch starr ten sie an, dann kehrte ihr Blick zu Arthur zurück. »Was soll das?« blaffte der Feldwebel. Arthur brach in einen wütenden griechischen Wortschwall aus. George warf einen Blick auf Miss Kolin. Ihr Gesicht war immer noch gleichmütig, aber sie war sehr blaß geworden. Dann verstummte Arthur, und es trat Schweigen ein. Der Feldwebel hob eines der Röhrchen auf, und sein Blick ging von ihm zu George und Miss Kolin. Seine Gesichtsmuskeln spannten sich an. Er nickte Arthur zu. 298
»Erklär es Mr. Carey.« »Als ob er’s nicht selber wüßte!« Arthur preßte die Lippen zusammen. »Na schön. Jemand hat mit den Dingern eine Spur von der Schlucht bis hierher gelegt. Ungefähr alle fünfzig Meter eins, damit uns jemand folgen kann. Einer von den Jungs, der mit einer Lampe raufkam, hat sie gefunden.« Der Feldwebel sagte etwas auf deutsch. Arthur nickte. »Bevor ich hierhergekommen bin, habe ich die anderen losgeschickt, damit sie alle ein sammeln.« Er sah George an. »Irgendeine Ahnung, wer sie ausgelegt haben könnte, Mr. Carey? Eins davon war zwischen Plane und Karosserie des lkws eingeklemmt, also versuchen Sie erst gar nicht, sich dumm zu stellen.« »Dumm oder nicht«, sagte George ruhig. »Ich weiß nichts davon. Was ist das überhaupt?« Der Feldwebel stand langsam auf. George konnte den Puls an seinem Hals sehen, als er Georges Ak tentasche zu sich heranzog und hineinsah. Dann schloß er sie. »Vielleicht sollte man mal die Dame fragen«, sag te er. Miss Kolin saß stocksteif da und schaute starr ge radeaus. Plötzlich griff er nach unten und hob ihre Handta sche auf, die neben ihrem Stuhl auf dem Boden stand. »Sie erlauben?« sagte er, schob die Hand hinein und zog ein Gewirr dünner Schnur heraus. Er zog langsam an der Schnur. Ein gelbes Röhr 299
chen kam zum Vorschein, dann noch eins, dann eine ganze Handvoll, rote und blaue wie gelbe. Es waren Holzperlenschnüre, wie man sie benutzt, um Perlen schnurvorhänge zu machen. George wußte jetzt, daß ihre Handtasche nicht von einer Schnapsflasche so prall gewesen war. Ihm begann schlecht zu werden. »So!« Der Feldwebel warf die Perlen auf den Tisch. »Haben Sie davon gewußt, Mr. Carey?« »Nein.« »Das stimmt«, warf Arthur plötzlich ein. »Es war unsere kleine Unnahbare hier, die darauf bestanden hat, daß die Plane runtergelassen wird. Wollte nicht, daß er sieht, was sie vorhat.« »Herrgott noch mal, Miss Kolin!« sagte George wütend. »Was glauben Sie denn, was das hier ist?« Sie stand entschlossen auf, als wollte sie auf einer öffentlichen Versammlung ein Mißtrauensvotum abgeben, und wandte sich an George. Arthur und den Feldwebel würdigte sie keines Blickes. »Ich muß Ihnen wohl erklären, Mr. Carey«, sagte sie kalt, »daß ich es im Interesse der Gerechtigkeit und ange sichts Ihrer Weigerung, selbst irgendwelche Schritte in dieser Angelegenheit zu unternehmen, für meine Pflicht gehalten habe, Oberst Chrysanthos in Salo niki anzurufen und ihm in Ihrem Namen mitzutei len, daß die Männer, die die Eurasische Kreditbank in Saloniki ausgeraubt haben, hier sind. Auf seine Anweisung habe ich die Strecke von der Schlucht an markiert, so daß seine Truppen …« 300
Die Faust des Feldwebels traf sie voll auf den Mund, und sie krachte in die Ecke des Zimmers, wo die leeren Flaschen standen. George sprang auf. Im gleichen Moment fuhr ihm schmerzhaft der Lauf von Arthurs Pistole in die Seite. »Keine Bewegung, Freundchen, sonst tun Sie sich weh«, sagte Arthur. »Sie hat es so haben wollen, und jetzt kriegt sie’s.« Miss Kolin lag auf den Knien, aus ihrer aufge schlagenen Lippe tropfte Blut. Sie sahen ihr zu, wie sie sich langsam aufrichtete. Plötzlich griff sie nach einer Flasche und schleuderte sie nach dem Feldwebel. Er rührte sich nicht. Die Flasche ver fehlte ihn um ein paar Zentimeter und zerklirrte an der gegenüberliegenden Wand. Schirmer trat vor und schlug sie mit dem Handrücken kräftig ins Gesicht. Sie ging erneut zu Boden. Sie hatte keinen Laut von sich gegeben und machte auch jetzt kei nen Mucks. Kurz darauf begann sie sich erneut aufzurappeln. »Ich sehe mir das nicht länger an«, sagte George wütend und machte eine Bewegung. Die Pistole bohrte sich in seine Seite. »Lassen Sie das, Kumpel, sonst kriegen Sie eine Kugel in die Niere. Das geht Sie nichts an, also halten Sie die Klappe!« Miss Kolin griff erneut nach einer Flasche. Mitt lerweile lief ihr das Blut aus der Nase. Wieder fi xierte sie den Feldwebel. 301
»Du Schuft!« fauchte sie giftig und stürzte sich auf ihn. Er fegte die Flasche beiseite und schlug sie erneut mit der Faust ins Gesicht. Als sie diesmal zu Boden fiel, versuchte sie nicht wieder aufzustehen, sondern blieb keuchend liegen. Der Feldwebel ging zur Tür und machte sie auf. Davor wartete der Posten, der Arthur geholt hatte. Der Feldwebel winkte ihn herein, deutete auf Miss Kolin und gab auf griechisch einen Befehl. Der Mann grinste und hängte sich sein Gewehr über den Rücken. Dann ging er zu Miss Kolin hinüber und zerrte sie hoch. Sie stand schwankend da und wischte sich mit der Hand das Blut vom Gesicht. Er packte sie am Arm und sagte etwas zu ihr. Oh ne ein Wort und ohne einen Blick für einen der Anwesenden setzte sie sich Richtung Tür in Bewe gung. »Miss Kolin …« George ging auf sie zu. Sie nahm keine Notiz von ihm. Der Posten stieß ihn beiseite und folgte Miss Kolin aus dem Zimmer. Die Tür ging zu. George wurde ganz übel, und er wandte sich zit ternd dem Feldwebel zu. »Immer mit der Ruhe, Kumpel«, sagte Arthur. »Markieren Sie bloß nicht den heldenhaften Retter. Das zieht hier nicht.« »Wohin bringt man sie?« fragte George. Der Feldwebel leckte sich das Blut von einem Finger. Er warf George einen flüchtigen Blick zu, 302
setzte sich dann an den Tisch und nahm den Paß aus Miss Kolins Handtasche. »Maria Kolin«, meinte er. »Französin.« »Ich habe gefragt, wohin man sie bringt.« Arthur stand immer noch neben ihm. »An Ihrer Stelle würde ich hier keine große Lippe riskieren, Mr. Carey«, riet er. »Immerhin haben Sie sie hier hergebracht.« Der Feldwebel studierte den Paß. »Geboren in Belgrad«, sagte er. »Slawin.« Er klappte den Paß mit einem Knall zu. »Und jetzt unterhalten wir uns ein bißchen.« George blieb stumm. Der Blick des Feldwebels ruhte auf ihm. »Wie haben Sie das herausgekriegt, Mr. Carey?« George zögerte. »Machen Sie den Mund auf, Kumpel, aber ein bißchen plötzlich.« »Der lkw, in dem der Corporal uns hergebracht hat – der hatte Vorrichtungen für falsche Nummern schilder, und die Nummernschilder lagen auf der Ladefläche. Es waren dieselben Nummern wie die, von denen in den Zeitungen die Rede war.« Arthur fluchte. Der Feldwebel nickte knapp. »So! Haben Sie das gestern abend schon gewußt?« »Ja.« »Aber Sie sind heute nicht zur Polizei gegangen?« »Ich habe lediglich ein verschlüsseltes Telegramm an meine Kanzlei geschickt, in dem ich darum gebe 303
ten habe, festzustellen, was der Auslieferungsver trag zwischen Amerika und Griechenland über be waffneten Raubüberfall sagt.« »Wie bitte?« Arthur erklärte es auf griechisch. Der Feldwebel nickte. »Das war gut. Hat sie ge wußt, daß Sie das getan haben?« »Ja.« »Warum erzählt sie’s dann Chrysanthos?« »Sie mag die Deutschen nicht.« »Ach ja?« George richtete den Blick angelegentlich auf die Hände des Feldwebels. »Ich kann es ihr nachfüh len.« »Immer mit der Ruhe, Kumpel.« Der Feldwebel lächelte rätselhaft. »Sie können es ihr nachfühlen? Das glaube ich nicht.« Der Posten kam herein, gab dem Feldwebel mit einer kurzen Erklärung einen Schlüssel und ging wieder hinaus. Der Feldwebel steckte den Schlüssel in die Tasche und goß sich ein Glas Pflaumenschnaps ein. »Und jetzt«, sagte er, »müssen wir überlegen, was zu tun ist. Ihre kleine Freundin ist oben in einem Zimmer sicher untergebracht. Ich denke, wir müssen Sie auch bitten, hierzubleiben, Mr. Carey. Nicht, daß ich Ihnen nicht vertraue, aber im Augenblick haben Sie, weil Sie nichts begreifen, das Gefühl, Sie müß ten den Corporal und mich vernichten. In zwei Ta gen vielleicht, wenn der Corporal und ich unsere 304
Angelegenheiten endgültig geregelt haben, dürfen Sie gehen.« »Haben Sie vor, mich gewaltsam hier festzuhal ten?« »Nur wenn Sie nicht so klug sind, aus freien Stücken hierzubleiben.« »Haben Sie etwa vergessen, weshalb ich hier bin?« »Nein. In zwei Tagen teile ich Ihnen meine Ent scheidung mit, Mr. Carey. Bis dahin bleiben Sie hier.« »Und wenn ich Ihnen nun sage, daß Sie genauso viel Aussicht haben, den Nachlaß zu erben, wie der Posten da draußen, wenn Sie Miss Kolin und mich nicht augenblicklich freilassen?« »Da wird Ihre Kanzlei in Amerika aber sehr trau rig sein. Arthur hat mir alles erklärt.« George spürte, wie er rot wurde. »Ist Ihnen ei gentlich schon einmal der Gedanke gekommen, daß Oberst Chrysanthos, ob mit oder ohne Spur, nicht mehr lange brauchen wird, diesen Ort hier zu fin den? In zwei, drei Stunden können Sie schon von griechischen Truppen umzingelt sein.« Arthur lachte. Der Feldwebel lächelte grimmig. »Wenn es so ist, Mr. Carey, wird Chrysanthos Ärger mit seiner Regierung bekommen. Aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Wenn die ser böse Oberst kommt, werden wir Sie beschützen. Ein Glas Wein? Nein? Schnaps? Auch nicht? Dann wird der Corporal Ihnen jetzt zeigen, wo Sie schla 305
fen können, Sie sind bestimmt müde. Gute Nacht.« Er entließ ihn mit einem Nicken und vertiefte sich wieder in die Fotokopien, wobei er die, die ihn be sonders interessierten, auf einen gesonderten Stapel legte. »Hier entlang, Kumpel.« »Einen Moment. Was ist mit Miss Kolin, Herr Feldwebel?« Der Feldwebel blickte nicht auf. »Um die müssen Sie sich keine Sorgen machen, Mr. Carey. Gute Nacht.« Arthur ging voran; George folgte ihm; die Wache bildete die Nachhut. Sie gingen nach oben in ein her untergekommenes Zimmer mit einer Strohmatratze auf den Dielen und einem Eimer in der Ecke. Die Wache brachte eine Petroleumlampe. »Es ist nur für ein paar Nächte, Mr. Carey«, sagte Arthur – der Empfangschef, der sich bei einem ge schätzten Gast entschuldigt, der unerwartet einge troffen ist. »Sie werden feststellen, daß der Stroh sack ziemlich sauber ist. Der Feldwebel legt großen Wert auf Hygiene.« »Wo ist Miss Kolin?« »Nebenan.« Er zeigte mit dem Daumen in die entsprechende Richtung. »Aber machen Sie sich ih retwegen keine Sorgen. Sie hat ein besseres Zimmer als das hier.« »Was hat der Feldwebel gemeint, als er sagte, Chrysanthos würde Ärger mit der Regierung be kommen?« 306
»Falls er uns zu umzingeln versucht? Tja, die griechische Grenze ist fast einen Kilometer von hier entfernt. Wir sind auf jugoslawischem Boden. Ich dachte, das hätten Sie längst erraten.« George verdaute diese beunruhigende Nachricht, während Arthur den Lampendocht regulierte. »Und was ist mit den Grenzpatrouillen?« Arthur hängte die Lampe an einen Haken, der aus der Wand ragte. »Sie wollen zuviel wissen, Kum pel.« Er ging zur Tür. »Die Tür hat kein Schloß, aber falls Sie dran denken schlafzuwandeln, draußen steht ein putzmunterer Posten, und er hat einen nervösen Zeigefinger. Kapiert?« »Ja.« »Ich sage Ihnen Bescheid, wenn’s Frühstück gibt. Träumen Sie süß.« Es war etwa eine Stunde vergangen, als George den Feldwebel heraufkommen und etwas zu dem Po sten sagen hörte. Der Posten antwortete kurz. Ein, zwei Augen blicke später hörte George, wie ein Schlüssel in das Türschloß des Zimmers nebenan eingeführt wurde – des Zimmers, in dem sich laut Arthur Miss Kolin befand. In der Vorstellung, sie beschützen zu müssen, fuhr George von der Matratze hoch, auf der er gele gen hatte, und ging zur Tür. Er machte sie nicht so fort auf. Er hörte Miss Kolins Stimme, dann die des Feldwebels. Es trat kurzes Schweigen ein, dann hör 307
te er das Geräusch der sich schließenden Tür. Er neut drehte sich der Schlüssel im Schloß. Eine Zeitlang dachte er, der Feldwebel sei gegan gen, und verfügte sich wieder in die Ecke, in der seine Matratze lag. Dann hörte er erneut die Stimme des Feldwebels und ihre. Sie sprachen auf deutsch miteinander. Er ging zur Wand und lauschte. Ihre Stimmen klangen merkwürdig nach Plauderton. George verspürte ein seltsames Unbehagen, und sein Herzschlag beschleunigte sich. Mittlerweile waren die Stimmen verstummt, aber bald darauf begannen sie von neuem, und zwar lei se, als wollten die Sprecher nicht belauscht werden. Dann war es lange Zeit still. Er legte sich wieder auf die Matratze. Minuten vergingen; dann hörte er Miss Kolin in die Stille hinein einen durchdringen den, leidenschaftlichen Schrei ausstoßen. Er rührte sich nicht. Nach einer Weile war wieder leises Stimmengemurmel zu hören. Dann nichts mehr. Zum erstenmal in dieser Nacht nahm er das Geräusch der Zikaden vor seinem Fenster wahr. Endlich begann er Miss Kolin zu verstehen.
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G
eorge wurde zwei Tage und drei Nächte lang im Hauptquartier des Feldwebels festgehal
ten. Am ersten Tag verließ der Feldwebel das Haus kurz nach Tagesanbruch und kehrte erst zurück, als es schon dunkel war. George verbrachte den Tag in dem Zimmer im Erdgeschoß und nahm dort auch mit Arthur seine Mahlzeiten ein. Er bekam weder den Feldwebel noch Miss Kolin zu Gesicht. Nach der ersten Nacht wurde sie in ein anderes Zimmer in einem Anbau verlegt, und eine der Wachen brachte ihr dort das Essen. Als George fragte, ob er sie sehen könne, schüttelte Arthur den Kopf. »Tut mir leid, Kumpel. Geht nicht.« »Was ist mit ihr passiert?« »Dreimal dürfen Sie raten.« »Ich will sie sehen.« Arthur zuckte die Achseln. »Mir ist es egal, ob Sie sie sehen oder nicht. Es ist nur so, daß sie keine Lust hat, Sie zu sehen.« »Fehlt ihr auch nichts?« »Quietschfidel ist sie.« Er grinste. »Aufgeschla gene Lippe natürlich und ein, zwei blaue Flecken, 309
aber sie strahlt wie eine Braut. Sie würden sie nicht wiedererkennen.« »Wie lange soll das eigentlich noch so gehen?« »Bin ich überfragt. Ich würde sagen, es hat gerade erst angefangen.« »Aber das ist doch abwegig, nach allem, was pas siert ist.« Arthur sah ihn ziemlich belustigt an. »Ich glaube, Sie haben eine behütete Kindheit gehabt. Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie hat es so haben wollen, oder? Tja, und nun hat sie’s gekriegt und dazu noch auf sehr nette Art. Ich hab noch nie erlebt, daß der Feldwebel sich so in eine verguckt hat.« »Verguckt!« George wurde wütend. »Ich gehe jede Wette ein, daß sie noch Jungfrau war«, sinnierte Arthur, »oder jedenfalls so gut wie.« »Herr des Himmels!« »Was ist denn mit Ihnen los, Kumpel? Die Trau ben zu sauer?« »Ich glaube nicht, daß es viel Sinn hat, darüber zu diskutieren. Ist Oberst Chrysanthos aufgetaucht?« »Der Sheriff und seine Leute, meinen Sie? Klar. Die sitzen gleich hinter der Grenze auf ihrem Hin tern, machen ein dummes Gesicht und warten drauf, daß irgendwas passiert.« »Vielleicht warten Sie auch darauf, daß Miss Ko lin und ich auftauchen. Angenommen, die amerika nische Gesandtschaft wird eingeschaltet und fängt an, sich in Belgrad zu beschweren. Könnte ein biß chen unangenehm für Sie werden, oder?« 310
»Ehe die sich auch nur darüber verständigt ha ben, ob sie etwas unternehmen wollen, werden Sie längst zurück sein. Und wenn Sie dann zurück sind, werden Sie noch mal darüber nachdenken, was für einen Aufstand Ihre Kanzlei wegen des Feldwebels veranstalten wird, und Sie werden sagen, daß alles ein Irrtum war.« »Das haben Sie sich ja hübsch ausgedacht. Ich weiß gar nicht, weshalb Sie sich dann so aufregen mußten.« »Nein? Tja, erst mal haben Sie den armen alten Kerl verhaftet, der euch gefahren hat. Nicht beson ders lustig, oder?« »Woher wissen Sie das?« »Das haben wir heute morgen aus Florina erfah ren.« »Wie denn?« »Stellen Sie keine Fragen, dann kriegen Sie auch keine Lügen zu hören. Eines kann ich Ihnen aller dings sagen. Die Komitadschis sind schon seit über fünfzig Jahren in diesen Bergen zu Hause. Es gibt in dieser Gegend nur wenig, womit Sie nicht davon kommen, wenn Sie sich auskennen. Vergessen Sie nicht, daß das auf beiden Seiten der Grenze Maze donier sind. Wenn es um Kleinkram wie die Ge schichte hier geht, haben die Jungs von Chry santhos nicht den Hauch einer Chance.« »Was passiert mit dem Fahrer?« »Das kommt drauf an. Er ist ein alter Komitad schi, also wird er nicht sagen, von wem er seine Be 311
fehle hat, ganz gleich, was sie mit ihm machen. Aber unangenehm ist es schon. Er ist nämlich nicht der einzige in Florina. Da ist zum Beispiel die alte Ma Vassiotis. Vielleicht werden sie sich die mal vor nehmen. Wissen Sie, wenn der Feldwebel hier nicht einiges auf den Kopf gestellt hätte, würde ich am liebsten rauf gehen und Ihrer Miss Dingsbums sel ber eine Abreibung verpassen.« »Angenommen, ich würde Chrysanthos sagen, ich hätte das Auto gemietet und dem Alten gesagt, wo er hinfahren soll?« »Vielleicht würde er Ihnen das sogar abnehmen. Aber woher haben Sie gewußt, wo Sie hinfahren müssen?« »Ich würde sagen, daß Sie’s mir gesagt haben.« Arthur lachte. »Ein richtiger Anwalt sind Sie, was?« »Würde Ihnen das was ausmachen?« »Nicht das geringste.« »Dann ist ja alles okay.« Arthur war damit beschäftigt, eine Pistole zu rei nigen. George sah ihm eine Weile schweigend zu. Schließlich sagte er: »Angenommen, die Frage, ob der Feldwebel nach Amerika geht, hätte sich gar nicht gestellt. Hätten Sie dann trotzdem mit Ihrer Masche weitergemacht?« Arthur blickte auf, dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Ich denke, damit sind wir so ziemlich fer tig.« »Weil Sie das große Ding abgezogen haben?« 312
»Vielleicht. Ist sowieso Zeit, unsere Zelte abzu brechen.« Er beugte sich wieder über die Pistole. »Reichlich Kohle auf die Seite gelegt?« fragte George nach einer Weile. Verblüfft blickte Arthur auf. »Ich hab noch nie jemand kennengelernt, der so schlechte Manieren hat«, sagte er. »Nun hören Sie schon auf, Arthur.« Aber Arthur war aufrichtig empört. »Wie würde es Ihnen gefallen, wenn ich Sie frage, wieviel Geld Sie auf der Bank haben?« fragte er empört. »Na schön. Dann verraten Sie mir etwas anderes. Wie hat das Ganze eigentlich angefangen? Der Feldwebel hat sich da sehr bedeckt gehalten. Was ist am Ende aus der Markos-Brigade geworden, die Sie beide befehligt haben?« Arthur schüttelte bekümmert den Kopf. »Sie können einem wirklich ein Loch in den Bauch fra gen. Liegt wohl daran, daß Sie Anwalt sind.« »Ich bin nun mal sehr wißbegierig.« »Ein richtiger kleiner Naseweis, hätte meine Mutter gesagt.« »Sie vergessen, daß ich im Augenblick der Rechtsberater des Feldwebels bin. Zwischen einem Mann und seinem Rechtsberater sollte es keine Ge heimnisse geben.« Arthur gab eine Obszönität von sich und machte sich wieder an seine Reinigungsarbeit. Aber am folgenden Abend kam er von sich aus auf das Thema zurück. George hatte noch immer 313
nichts von dem Feldwebel oder Miss Kolin gesehen, und ihm kam allmählich ein Verdacht. Er begann erneut Fragen zu stellen. »Um welche Zeit kommt der Feldwebel heute zurück?« »Keine Ahnung, Kumpel. Wenn er wieder da ist, denke ich.« Arthur las eine Belgrader Zeitung, die im Laufe des Tages auf geheimnisvolle Weise einge troffen war. Nun warf er sie angewidert hin. »Ein Haufen Unsinn in dem Blatt«, sagte er. »Haben Sie mal die News of the World gelesen? Eine Londoner Zeitung ist das.« »Nein, die kenne ich nicht. Ist der Feldwebel heute in Griechenland oder in Albanien?« »Albanien?« Arthur lachte, aber als George den Mund aufmachte, um eine weitere Frage zu stellen, fuhr er fort: »Sie haben gefragt, wie es uns ergangen ist, nachdem wir den Kampf eingestellt hatten. Wir waren damals in der Nähe der albanischen Grenze.« »Ach ja?« Arthur nickte erinnerungsselig. »Wenn Sie mal Gelegenheit dazu haben, müssen Sie sich unbedingt den Berg Grammos ansehen«, sagte er. »Wunderba re Landschaft da oben.« Das Grammos-Massiv war eines der ersten Boll werke der Markos-Armee gewesen; es sollte auch eines ihrer letzten sein. Wochenlang hatte sich die Lage der Brigade in dem Gebiet stetig verschlechtert. Das Rinnsal von 314
Deserteuren war zum Strom angewachsen. Es kam ein Tag im Oktober, an dem wichtige Beschlüsse gefaßt werden mußten. Der Feldwebel war seit über vierzehn Stunden auf den Beinen, und seine Hüfte schmerzte ihn, als er endlich Befehl zum Biwakieren gab. Später griff der Befehlshaber eines Vorpostens zwei Deserteure aus einem anderen Bataillon auf und überstellte sie an das Brigadehauptquartier, damit man dort über sie entschied. Der Feldwebel betrachtete die beiden Männer nachdenklich und gab dann Befehl, sie zu erschie ßen. Nachdem man sie abgeführt hatte, goß er sich ein Glas Wein ein und bedeutete Arthur mit einem Nicken, das gleiche zu tun. Sie tranken schweigend ihren Wein. Dann füllte der Feldwebel die Gläser nach. »Kommt es dir nicht auch so vor, Corporal«, sag te er, »als hätten diese beiden Männer ihrem Briga dekommandanten und seinem Stellvertreter mögli cherweise ein gutes Beispiel gegeben?« Arthur nickte. »Das kommt mir schon seit Tagen so vor. Es besteht nicht mehr die geringste Hoff nung.« »Ja. Wir können bestenfalls darauf hoffen, daß sie uns verhungern lassen.« »Sie fangen bereits damit an.« »Ich habe keine Lust, zum Märtyrer der Revolu tion zu werden.« »Ich auch nicht. Wir haben unsere Arbeit, so gut 315
wir können, getan, Feldwebel, und noch ein biß chen was drüber raus. Und wir haben den Glauben nicht verloren. Das können die Schweine an der Spitze nicht von sich behaupten.« »›Setz dein Vertrauen nicht auf Fürsten.‹ Du siehst, ich habe es mir gemerkt. Ich glaube, es ist an der Zeit, daß wir uns selbständig machen.« »Wann gehen wir?« »Morgen nacht wäre nicht zu früh.« »Wenn sie merken, daß wir beide weg sind, wirst du von den anderen nur noch die Staubwolke sehen. Ich frag mich, wie viele wohl durchkommen.« »Die, die immer durchkommen, die Komitad schi-Typen. Sie werden sich in ihren Bergen ver stecken, so wie sie’s seit jeher gemacht haben. Sie werden dasein, wenn wir sie brauchen.« Arthur war verblüfft. »Wenn wir sie brauchen? Gerade hast du doch was von Selbständigkeit ge sagt.« Der Feldwebel füllte sich erneut sein Glas, ehe er Antwort gab. »Ich habe nachgedacht, Corporal«, sagte er schließlich, »und ich habe einen Plan. Die Politiker haben uns nur benutzt. Nun werden wir sie benutzen.« Er stand auf und humpelte zu seinem Tornister, um die Blechschachtel zu holen, in der er seine Zi garren aufbewahrte. Arthur betrachtete ihn mit einem Gefühl, das der Liebe, wie er wußte, sehr ähnlich war. Er empfand tiefen Respekt vor den planerischen Fähigkeiten 316
seines Freundes. Diesem harten, wuchtigen Schädel entsprangen manchmal die überraschendsten Ge danken. »Und wie benutzen wir sie?« fragte er. »Die Idee ist mir vor mehreren Wochen gekom men«, sagte der Feldwebel. »Ich habe an die Ge schichte der Partei gedacht, die wir einmal haben le sen müssen. Erinnerst du dich noch?« »Na klar. Ich hab meine gelesen, ohne die Seiten aufzuschneiden.« Der Feldwebel lächelte. »Da sind dir ein paar wichtige Sachen entgangen, Corporal. Ich gebe dir meine Ausgabe zum Lesen.« Er zündete sich ge nüßlich eine Zigarre an. »Ich halte es für durchaus möglich, daß aus uns einfachen Soldaten vielleicht bald richtige Glücksritter werden.« »Es war ein Klacks«, sagte Arthur. »Der Feldwebel hatte sich eine Liste sämtlicher heimlicher Partei mitglieder und Sympathisanten im Gebiet von Sa loniki beschafft, und wir haben uns diejenigen raus gepickt, die in Banken oder in der Verwaltung von Firmen mit dicker Lohnliste arbeiteten. Die haben wir dann angesprochen und ihnen die große Chance gegeben, der Partei in der Stunde der Not zu die nen, so wie es laut Buch die alten Bolschis gemacht haben. Wenn sie mißtrauisch wurden, konnten wir immer sagen, wir würden sie verpfeifen, aber wir hatten in der Beziehung nie Schwierigkeiten. Ich sa ge Ihnen, bei jedem einzelnen Ding, das wir gedreht 317
haben, hatten wir drinnen einen Mann oder eine Frau, die uns um der Ehre und des Ruhms der Par tei willen geholfen haben.« Er lachte verächtlich. »Fliegen auf dem Mist, vereinigt euch! Sie konnten es gar nicht abwarten, die Leute, für die sie arbeite ten, reinzulegen. Manche würden ihre eigene Mut ter foltern, wenn die Partei es von ihnen verlangt, und zwar mit dem größten Vergnügen. ›Ja, Genos se. Aber sicher, Genosse. Ich helfe doch gern, Ge nosse!‹ Richtig schlecht ist mir manchmal davon geworden«, fügte er selbstgerecht hinzu. »Trotzdem sind Sie ja ganz gut dabei gefahren, oder?« »Vielleicht, aber ich mag es trotzdem nicht, wenn einer die Hand beißt, die ihn füttert.« »Aber einige dieser Leute muß es ganz schön viel Mut gekostet haben, für ihre Überzeugungen so weit zu gehen, daß sie Ihnen halfen.« »Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte Arthur säuerlich. »Wenn Sie mich fragen, dann haben diese politischen Überzeugungen, die es rechtfertigen, daß man andere mit schmutzigen Tricks hintergeht, etwas ziemlich Verlogenes.« »Sie sind ja ein richtiger Moralist, Arthur. Was ist denn mit den Tricks, zu denen Sie gegriffen haben?« »Ich mache mich nicht besser, als ich bin. Ich kann nur diese falschen Fuffziger nicht ausstehen. Sie müßten mal mit einigen davon reden. Schlau. Wissen auf alles eine Antwort. Beweisen einem al les, was man will. Die Sorte, die man garantiert 318
nicht dabeihaben will, wenn man auf Patrouille geht, weil die, wenn es brenzlig wird, als erste einen Vorwand suchen, die Hände in die Tasche zu stek ken und heimzugehen.« »Ist der Feldwebel, was diese Dinge angeht, der gleichen Ansicht?« »Der?« Arthur lachte. »Nein. Den juckt das nicht. Sehen Sie, ich glaube, es gibt alle möglichen Arten von Menschen. Er nicht. Er glaubt, daß es nur zwei Arten gibt – die, die man gern dabeihätte, wenn es hart auf hart geht, und die, die man um keinen Preis dabeihaben will.« Er lächelte verschla gen und fügte hinzu: »Und er ist mit seinem Urteil ganz schnell fertig.« George zündete sich seine letzte Zigarette an und betrachtete Arthur einen Moment lang nachdenk lich. Der Verdacht wurde mit einmal zur Gewiß heit. Er zerknüllte das leere Päckchen und warf es auf den Tisch. »Wo sind sie, Arthur?« fragte er. »Wo ist wer?« Arthurs Gesicht war die reine Un schuld. »Was soll das denn, Arthur! Lassen Sie doch die Spielchen. Gestern abend waren die beiden noch hier, das weiß ich, weil ich den Feldwebel gegen Mitternacht habe zurückkommen und mit Ihnen reden hören. Aber heute morgen war weder er noch Miss Kolin da. Jedenfalls habe ich ihn nicht gese hen, und ihr hat man nichts zu essen raufgebracht. Also, wo sind sie?« 319
»Weiß ich nicht.« »Überlegen Sie noch mal.« »Ich weiß es nicht, Mr. Carey, ganz ehrlich.« »Ist er endgültig gegangen?« Arthur zögerte und zuckte dann die Achseln. »Ja.« George nickte. Er hatte es zwar schon vermutet, aber nun, da er Gewißheit hatte, war die Neuigkeit doch ein Schlag. »Wozu werde ich dann noch hier festgehalten?« fragte er. »Er braucht Zeit, um wegzukommen.« »Weg von mir?« »Nein, weg aus diesem Land.« Arthur beugte sich mit ernstem Gesicht vor. »Sehen Sie, angenommen, Sie gehen zurück und Chrysanthos rückt Ihnen auf die Pelle und Sie plaudern aus, daß der Feldwebel auf der Flucht ist. Ich behaupte gar nicht, daß Sie’s absichtlich täten, aber der Kerl ist gerissen. Sie ver stehen sicher, daß das unangenehm wäre.« »Ja, das verstehe ich. Er hatte sich also schon ent schieden, was er machen wollte. Ich finde, er hätte es mir sagen können.« »Er hat mich darum gebeten, Mr. Carey. Ich wollte bis nach dem Abendessen warten, bloß um sicherzugehen, aber Sie können’s genausogut schon jetzt erfahren. Sehen Sie, es war nicht mehr viel Zeit. Wir sind schon seit Tagen zum Abgang bereit. Gestern hat er die letzten Regelungen getroffen, und er ist bloß noch mal zurückgekommen, um sie zu fragen, ob sie mitwill.« 320
»Und sie wollte?« »Mit Begeisterung. Kann einfach die Finger nicht von ihm lassen. Das ist mir eine.« »Hat er keine Angst, daß sie noch mal versuchen wird, ihn dranzukriegen?« Arthur lachte. »Seien Sie nicht albern, Kumpel. Die hat ihr ganzes Leben lang auf so einen Mann gewartet.« »Ich verstehe es immer noch nicht.« »Sie sind wohl eher wie ich«, sagte Arthur trö stend. »Ich mag’s auch lieber ein bißchen ruhiger. Aber was das Geld angeht …« »Richtig, das Geld.« »Wir haben darüber geredet, er und ich, Mr. Ca rey, und wir sind zu einem Schluß gekommen. Er hätte es unmöglich beanspruchen können. Das ver stehen Sie doch, oder? Sie haben von Auslieferung und so weiter geredet, aber darauf kommt es gar nicht an. Auslieferung hin oder her, es wäre alles herausgekommen. Und das wäre nicht gut. Er will unter neuem Namen ein neues Leben anfangen und das alles hinter sich lassen. Er hat zwar keine halbe Million Dollar oder so was, aber er hat genug, um klarzukommen. Wenn er das Geld beanspruchen würde, wäre er ein Gezeichneter. Das wissen Sie genausogut wie ich.« »Das hätte er mir auch schon beim ersten Mal sa gen können.« »Er wollte nur seine Familienpapiere, Mr. Carey. Das können Sie ihm nicht verdenken.« 321
»Also hat er mich einfach nur hingehalten, damit ich keine Schwierigkeiten mache. Verstehe.« George seufzte. »Na schön. Wie lautet denn sein neuer Name? Schneider?« »Nun seien Sie doch nicht gleich vergrätzt, Kum pel. Er mag Sie, und er ist Ihnen sehr dankbar.« Nach ein, zwei Momenten blickte George auf. »Und was ist mit Ihnen?« »Mit mir? Och, ich schaff’s schon, so nach und nach. Für mich ist es leichter, ich bin schließlich Brite. Ich kann sonstwohin gehen. Vielleicht schlie ße ich mich sogar wieder dem Feldwebel an, wenn mir danach ist.« »Dann wissen Sie also doch, wo er hinwill?« »Ja, aber nicht, wie er dorthin kommt. Vielleicht ist er genau in diesem Moment auf einem Schiff in Saloniki, was weiß ich. Keine Ahnung. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.« »Sie sind also nur noch hier, um sich um mich zu kümmern. Stimmt’s?« »Na ja, ich muß auch noch die Jungs auszahlen und überhaupt ein bißchen aufräumen. Ich bin so zusagen der Adjutant.« Es trat Schweigen ein. Er schaute sich trübsinnig im Zimmer um. Sein Blick traf den von George. Er versuchte – ausnahmsweise einmal ohne Erfolg – zu grinsen. »Ich sag Ihnen was, Kumpel. Jetzt, wo der Feld webel weg ist und alles, sind wir beide, denk ich, ein bißchen deprimiert. Wir haben mal ein paar Fla schen deutschen Wein ergattert. Sie für besondere 322
Gelegenheiten aufgehoben, so wie gestern abend. Wie wär’s, wenn wir beide uns jetzt eine zu Gemüte führen?« Die Sonne schien, als George am folgenden Morgen aufwachte. Ein Blick auf seine Uhr verriet ihm, daß es acht war. An den vorangegangenen Tagen hatte Arthur ihn mit viel militärischem Getöse jeweils um sieben geweckt. Er lauschte. Im Haus war es ganz still, und die Zikaden draußen kamen ihm sehr laut vor. Er ging zur Zimmertür und machte sie auf. Es stand kein Posten mehr davor. Die »Jungs« waren offensichtlich ausgezahlt worden. Er ging nach unten. In dem Zimmer, in dem sie ihre Mahl zeiten zu sich genommen hatten, hatte Arthur einen Zettel und einen Brief für ihn dagelassen. George las zuerst den Zettel. Tja, Kumpel, ich hoffe, Sie haben keinen allzu schlimmen Kater. Hier ist ein Brief, den Feldwe bel Schirmer für Sie dagelassen hat, ehe er gegan gen ist. Tut mir leid, daß ich Ihnen heute morgen meinen Rasierer nicht leihen kann, aber es ist der einzige, den ich habe. Wenn Sie in die gute alte Zivilisation zurückkehren wollen, dann gehen Sie einfach zwischen den Bäumen durch an der Stelle vorbei, wo wir den lkw geparkt haben, und neh men dann die rechte Abzweigung. Sie können es 323
gar nicht verfehlen. Es ist ungefähr anderthalb Kilometer von hier. Auf dieser Seite wird Sie nie mand behelligen. Vergessen Sie nicht, für den al ten Fahrer Ihr Bestes zu tun. War nett, Sie ken nenzulernen. Alles Gute, Arthur Der Brief des Feldwebels war in Miss Kolins ecki ger Handschrift geschrieben. Lieber Mr. Carey, ich habe Maria gebeten, dies für mich zu schreiben, damit die Bedeutung dessen, was ich empfinde, in Ihrer Sprache angemessen ausge drückt und damit klar wird. Zuerst möchte ich mich dafür entschuldigen, daß ich Sie unhöflicherweise so plötzlich verlassen habe, ohne mich von Ihnen zu verabschieden. Wenn Sie dies lesen, wird Ihnen der Corporal zweifellos schon die Lage erklärt haben und auch die Gründe für meine Entscheidung, nicht mit Ihnen nach Amerika zu fahren. Ich hoffe, Sie werden das verstehen. Auch für mich war das na türlich eine Enttäuschung, denn ich wollte Ihr Land schon immer einmal kennenlernen. Viel leicht wird es ja eines Tages möglich sein. Und nun erlauben Sie mir, Ihnen und Ihren Auftraggebern meinen Dank auszudrücken. Ma ria hat mir von Ihrer Beharrlichkeit und Ent 324
schlossenheit erzählt, einen Mann ausfindig zu machen, den Sie aus vielen Gründen für tot hal ten mußten. Es ist gut, wenn man imstande ist, ein wenig weiter zu gehen, während die weniger Couragierten beim ersten Hindernis kehrtma chen. Es tut mir leid, daß Sie dafür keinen wert volleren Lohn als meine Dankbarkeit erhalten. Diese aber biete ich Ihnen von ganzem Herzen, mein Freund. Ich hätte das viele Geld gern ge nommen, wenn es möglich gewesen wäre, aber ich bin nicht weniger froh darüber, daß ich nun die Dokumente besitze, die Sie mir gebracht haben. An das Geld kann ich ohne große Emotionen denken. Es ist eine große Summe, aber ich finde, sie hat nichts mit mir zu tun. Sie wurde in Ameri ka von einem Amerikaner verdient. Falls es kei nen anderen Erben als mich gibt, finde ich es des halb nur gerecht, daß das Geld an den Staat Pennsylvania fällt. Mein wahres Erbe ist das Wis sen um meine Herkunft und mich selbst, das Sie mir gebracht haben. So vieles hat sich verändert, und Eylau ist lange her, doch über die Jahre hin weg greift Hand nach Hand, und wir sind eins. Die Unsterblichkeit eines Menschen liegt in seinen Kindern. Ich hoffe, ich werde viele haben. Viel leicht wird Maria sie zur Welt bringen. Sie sagt, daß sie es möchte. Der Corporal hat mir erzählt, daß Sie so freundlich sein wollen, ein gutes Wort für den verhafteten Fahrer einzulegen. Maria bittet dar 325
um, daß Sie ihm, wenn möglich, ihre Schreibma schine und die anderen Sachen geben, die sie in Florina zurückgelassen hat, damit er sie zu Geld machen kann. Er heißt Douchko. Sie übermittelt Ihnen ebenfalls ihre Entschuldigung und ihren Dank. So bleibt mir nur noch, mein Freund, Ih nen noch einmal zu danken und für Ihr weiteres Leben alles Gute zu wünschen. Ich hoffe, wir be gegnen uns wieder einmal. Mit besten Grüßen Franz Schirmer Unterschrieben hatte er selbst, in einer sehr ordent lichen und klaren Handschrift. George steckte die Briefe ein, holte seine Akten tasche aus seinem Zimmer und spazierte zwischen den Pinien hindurch bergan. Es war ein schöner, frischer Morgen, und die Luft war gut. Er begann darüber nachzudenken, was er Oberst Chrysanthos würde sagen müssen. Der Oberst würde nicht sehr erbaut sein und Mr. Sistrom ebensowenig. Die gan ze Situation war in der Tat höchst unerfreulich. Deshalb fragte sich George auch, weshalb er in einem fort vor sich hin lachte, während er auf die Grenze zumarschierte.