George Constable
Eine tierische
Erbschaft
Inhaltsangabe Lake Stevenson, Verleger und Werbetexter, ist so ziemlich ...
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George Constable
Eine tierische
Erbschaft
Inhaltsangabe Lake Stevenson, Verleger und Werbetexter, ist so ziemlich pleite. Da kommt es ihm gerade recht, daß er von seiner verstorbenen Tante eine Riesenvilla in einer der exklusivsten Wohngegenden Philadelphias erben soll. Doch die schrullige alte Dame hat die Erbschaft an zwei Bedingungen geknüpft: Lake darf die Villa nicht verkaufen – und er muß Randall, dem treuen Hund der Tan te, bis an dessen Lebensende Wohnrecht gewähren. Schließlich soll er die Villa selbst bewohnen und sich höchstpersönlich um den Hund kümmern! Lake betrachtet die sonderbare Erbschaft zunächst als Strafe und versucht sich des Hundes und des Hauses zu entledigen. Doch Randall entpuppt sich als äußerst zutraulich, und schon bald schließt Lake den Hund mehr und mehr ins Herz, als ihm lieb ist. Auch an die Villa binden ihn mehr und mehr Gefühle, mit denen er nicht gerechnet hat. Der Gedanke, das Haus doch noch zu verkaufen, rückt in immer weitere Ferne. Vor allem, als er die Bekanntschaft der Maklerin Jennifer Dee macht, die sein ohnehin aus den Fugen geratenes Leben nun völlig auf den Kopf stellt …
Die Originalausgabe erschien 1996 unter dem Titel ›Where You Are‹ bei Doubleday Dell, New York Aus dem Amerikanischen von Liselotte Prugger Portobello Taschenbücher erscheinen im Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH Einmalige Sonderausgabe Juni 2001
Copyright © der Originalausgabe 1996 by George Constable
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1999
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH
Umschlaggestaltung: Design Team München
Umschlagfoto: TIB/Pardo
Druck: Eisnerdruck, Berlin
Verlagsnummer: 55.229 RM • Herstellung: Schröder Made in Germany
ISBN 3-442-55229-X
www.portobello-verlag.de
1 3 5 7 9 1 0 8 6 4 2
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1
S
ie hat dir was vererbt?« fragte Ellen. »Ein Haus«, antwortete er. »Nur ihr Haus?« »Eines ihrer Häuser. In Chestnut Hill. Das Sommerhaus in Maine hat meine Schwester gekriegt.« »Was ist das für ein Haus?« »Ein massives Steinhaus. Ziemlich groß.« »Es war bestimmt auch 'ne Menge Geld da«, sagte Ellen. Lake schwieg. Er dachte an seinen letzten Besuch im Haus vor ein paar Wochen: Tante Ilsa auf dem Sofa neben der Krankenschwester, die im Haus wohnte. Früher eine so starke Frau, saß sie nun stumm und zitternd da, zerschmettert von mehreren Schlaganfällen. Die Krankenschwester hatte ununterbrochen palavert, eine Stunde lang Frohsinn verströmt; wie ein Wasserfall war ihr Geschwätz den Ab hang des Nachmittags hinuntergeplätschert. »Was ist nun mit ihrem Geld?« fragte Ellen, nachdem der Kellner den Hauptgang serviert hatte. »Das meiste davon ist an Tierschutzorganisationen gegangen«, sag te Lake. »Für dich ist nichts geblieben?« »Auf jeden Fall reicht es für den Unterhalt des Hauses. Wie ich sie kenne, hat sie den Betrag bestimmt ganz genau ausgerechnet.« »Wieviel?« »Ausreichend.« »Und was ist mit deinem Vater?« »Was soll mit ihm sein?« »Was hat sie ihm vererbt?« 1
»Bestimmt nichts.« »Wie das?« »Die beiden waren wie Hund und Katze«, sagte Lake. »Er ist nicht mal zu ihrem Begräbnis gekommen.« »Der muß ja ganz schön stinkig sein, daß er nichts abgekriegt hat.« »Das bezweifle ich.« »Aber er ist doch der nächste Verwandte.« »Es war von vornherein klar, daß sie ihm nichts hinterlassen würde. Einmal – da war ich acht Jahre alt – habe ich im Wohnzimmer mitge hört, wie sie meiner Mutter erzählt hat, was für ein mieser, egoistischer Typ er ist und daß sie heilfroh sein kann, ihn endlich los zu sein. Das war Tante Lisas Art, meine Mutter zu trösten, nachdem er abgehauen war.« »Und was hat deine Mutter geantwortet?« »Sie hat geheult.« Ellen nippte an ihrem Wein. Lake aß etwas Brot. »Und sonst gibt es keine Verwandten?« »Nur mich und Karen.« »Ganz schön verrückt.« »Was meinst du damit?« »Es ist verrückt, dir ein Haus zu hinterlassen.« »Vermutlich wollte sie, daß es in der Familie bleibt«, sagte Lake. Er hatte keine Lust, Ellen zu erzählen, was genau in dem Testament stand, und er sagte auch nichts von dem Brief, den Tante Ilsa ihrem letzten Willen beigelegt hatte. »Und wie steht deine Schwester dazu? Ich meine, du erbst dieses gro ße Haus, und sie kriegt nur 'ne Hütte in Maine.« »Was soll Karen mit einem Haus in Philadelphia? Das Haus in Maine kann sie von sich aus bequem in zwei Stunden erreichen. Wahrschein lich freut sie sich.« »Du hast mit ihr also noch nicht gesprochen?« »Nein.« Lake hatte diese Unterhaltung allmählich satt, aber Ellen kam gerade in Fahrt. »Und was willst du mit einem so großen Haus anfangen? Du hast ja nicht gerade dringenden Bedarf an viel Wohnfläche.« 2
»Ich werd's verkaufen«, sagte er. »Hast du deine Tante oft besucht?« fragte sie. »Karen und ich haben den Kontakt nie abreißen lassen. Immer, wenn Karen in Philadelphia war, ist sie zur Tante gefahren. Das war schon fast ein Ritual. Und im letzten Winter war ich auch ein paar mal dort.« »Davon hast du mir gar nichts erzählt«, meinte sie. »Da gab's auch nichts zu erzählen. Als Mama krank war, hat sich Tante Ilsa rührend um uns Kinder gekümmert. Ich war es ihr schul dig.« »Und jetzt hast du ein Haus.« »Ja.« »Und warum nicht auch ihr Geld?« Am liebsten wäre er ihr über den Mund gefahren: Schluß jetzt, El len, Schluß jetzt! Aber bis jetzt war es ein so schöner Abend gewesen. »Vermutlich war Tante Ilsa der Meinung, daß Tiere ihr Geld eher ver dient hätten als Menschen«, meinte er. »Es ist auch nicht wichtig. Wie schmeckt dein Hähnchen?« »Vielleicht war sie ja unzurechnungsfähig«, sagte Ellen. »Testamen te werden manchmal angefochten, wenn Tiere zu Alleinerben einge setzt werden.« »Sie war durchaus zurechnungsfähig«, blaffte Lake sie an. »Die letz ten paar Monate vielleicht nicht mehr, aber auf jeden Fall war sie zu der Zeit, als sie das Testament geschrieben hat, noch mächtig auf Draht.« »Woher willst du das wissen?« »Ich weiß es eben.« »Wieviel hat sie den Tierschützern hinterlassen?« »Was weiß ich.« Er ließ sie spüren, daß sie ihm gewaltig auf die Ner ven ging. Das zeigte Wirkung. Nach einer Weile fragte er: »Wie war dein Tag heute?« »Es hat schon bessere gegeben.« »War wieder was mit Bob?« »Heute hat er mich gefragt, ob ich in der Schule eigentlich Mathema tik gehabt hätte.« 3
»Wie ist er denn darauf gekommen?« »Mir ist ein Fehler passiert, als ich ein Spesenkonto überprüft habe.« »Aha.« »Ein völlig belangloser Fehler.« »Du hättest ihm sagen sollen, daß Einstein auch eine Niete in Arith metik war.« »Falls du es genau wissen willst: Ich bin sogar sehr gut in Arithme tik. Das war das erste Mal, daß mir ein Fehler passiert ist.« »Dann soll er sich nicht so aufblasen.« »Mathematik hatten wir in der Schule sogar als Hauptfach.« Sie plau derten über ihre Kollegen im Büro, darüber, wie angenehm der Früh ling in Philadelphia sein kann, und über das Essen. Die Spannung lö ste sich, und zärtliche Gefühle regten sich in ihm, als sie eine Ver käuferin nachäffte, die ihr in einem Supermarkt ein Make-up andre hen wollte. Er gab ein großzügiges Trinkgeld. Draußen flitzte ein Voll mond durch die Wolken, er hatte es eilig, ein unbestimmtes Ziel zu er reichen. Hingerissen nahm er die Farben der Verkehrsampeln, die Ge räusche der Stadt, den Hauch der warmen Nachtluft auf. Ellen blieb vor einem Schaufenster mit Abendkleidern stehen. Die Schaufenster puppen standen vor einem verspiegelten Hintergrund. Lake betrachte te nachdenklich ihr beider Spiegelbild: ein glückliches, hübsches jun ges Paar. Später sahen sie in ihrem Schlafzimmer fern. Dann hatte er keine Lust mehr, in die Röhre zu schauen. »Was tust du da?« fragte sie, wäh rend ein Studioauditorium losbrüllte. Was er tat? Mit der Nase an ih rem Hals schnüffeln, mit den Fingerspitzen die Einbuchtung ihrer Taille nachzeichnen, die Wölbung ihrer Hüfte neu entdecken – ein seit Urzeiten bekanntes Spiel, das nie langweilig wurde, jeden einzel nen seiner Gedanken beanspruchte und weitere Berührungen gerade zu herausforderte. Zufriedenheit strömte durch seine Träume und sickerte am näch sten Morgen beim Aufwachen träge in sein Bewußtsein. Ein arbeits reicher Tag lag vor ihm. Er hatte in Baltimore einen Termin mit dem 4
stellvertretenden Geschäftsführer einer Firma für Gartenzubehör, den er als neuen Kunden gewinnen wollte. Verkaufen gehörte nicht gerade zu seinen Lieblingsbeschäftigungen, aber heute freute er sich fast dar auf. Vielleicht war ja Tante Ilsas unverhofftes Geschenk der Grund für seine gute Laune, aber er zog es vor, das Wetter oder Ellen dafür ver antwortlich zu machen. Sie, mit den Gedanken schon ganz bei der Ar beit, zog sich gerade fürs Büro an. Er fuhr kurz in seine Wohnung, um sich umzuziehen, rief Mary an, sagte ihr, daß er gegen Mittag ins Büro kommen würde, und legte In struX-Muster in seinen Aktenkoffer. Dann lief er die Treppe hinun ter und hinaus in eine ihm wohlgesinnte Welt. Vor dem Haus war sei ne Vermieterin gerade dabei, rötlich-orangefarbene Blumen in einen Holztrog zu pflanzen. »Guten Morgen, Mrs. Reardon«, rief er. »Guten Morgen, Mr. Stevenson.« »Der Frühling ist gekommen«, sagte er fröhlich und deutete auf die Blumen. »Was sind das für welche?« »Begonien.« »Hübsch. Fast die gleiche Farbe wie die Ziegel. Eine geradezu vibrie rende Kombination.« Sie stand auf und betrachtete stirnrunzelnd die Blumen. Lake hatte sich schon öfter über ihren Sinn für seltsame Farbzusammenstellun gen gewundert, aber sie war eine nette Vermieterin, die das Haus gut in Schuß hielt. Gegen nichts auf der Welt würde er sie und seine Woh nung im oberen Stockwerk eintauschen – und schon gar nicht gegen Tante Ilsas mausoleummäßigen Steinhaufen. »Ich fahre nach Baltimore zu einem Kunden, der Gartengeräte her stellt«, sagte er. »Kann ich Ihnen etwas mitbringen? Brauchen Sie et was für Ihren Garten?« Sie starrte noch immer stumm auf die orangefarbenen Begonien. Lake versuchte seinen respektlosen Kommentar von vorhin abzumil dern. »Wird bestimmt gut aussehen«, sagte er. »Ein echter Blickfang.« Der Morgen schwelgte in sattem Grün und Sonnenlicht. Nachdem er sich in den Verkehr auf der I-95 eingefädelt hatte, öffnete er die Aut ofenster und fuhr in seiner eigenen Privatbrise nach Süden. Die Auto 5
bahn schlängelte sich um das heruntergekommene Chester herum, eil te an Wilmington vorbei und fegte als langgezogener, kalligraphischer Betonstrich über die Hügel von Maryland. Zum ersten Mal nahm Lake die Häuser links und rechts von der Autobahn bewußt wahr. Manche lagen weit entfernt inmitten von Scheunen und Nebengebäuden. An dere duckten sich in Talsenken oder standen im Wasser. Wieder ande re drängten sich an Kreuzungspunkten von Landstraßen zu kleinen Gruppen zusammen. Als Training für die bevorstehende Immobilien transaktion versuchte Lake die Vorzüge und Nachteile der einzelnen Häuser festzustellen. Kein leichtes Unterfangen, ein Haus nur als Ob jekt zu sehen. Bei Wohnhäusern spielen oft Gefühle mit, wenngleich er das in seinem Fall getrost ausschließen konnte. Die Büros seines Kunden lagen in einem eleganten Gebäudekomplex, umgeben von einem perfekt gepflegten, samtweichen Rasen, der fast unecht aussah. Die Empfangsdame führte ihn in das Büro des stellver tretenden Geschäftsführers Derek Kast, einem Mann um die Vierzig, mit Schnurrbart und umgeben von einer Aura von Ungeduld. Lake reichte ihm seine Karte: InstruX Associates, Lake Stevenson, Geschäftsführer. »Ich weiß, Sie sind ein vielbeschäftigter Mann, des halb werde ich mich kurz fassen«, begann er. Er öffnete den Aktenkof fer und holte einige Muster heraus. »Diese hier möchte ich Ihnen da lassen. Sie sprechen eigentlich für sich.« Derek Kast warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Wie ich schon am Telefon sagte«, fuhr Lake fort, »befassen wir uns mit der Herstellung von Anleitungen. Betriebsanleitungen, Benut zeranleitungen, kurz und gut, sämtlichen Dokumentationen, die den Endverbraucher bei Montage und Anwendung von Produkten oder Verfahren begleiten und ihm Tipps an die Hand geben, wenn etwas einmal nicht so funktioniert, wie es sollte. Wir haben Kunden in al len Branchen, und wir würden gerne auch Sie als neuen Kunden ge winnen.« »Wir machen unsere Anleitungen selbst«, schnarrte Derek Kast. »Sie könnten besser sein.« Kasts Augen verengten sich. »Wie meinen Sie das?« 6
»Ich meine, daß die Qualität der Betriebsanleitungen die Qualität eines Unternehmens und seiner Erzeugnisse widerspiegeln sollte«, gab Lake zur Antwort. »Sie verkaufen hochwertige Ware, erstklassige Ware, aber ich bezweifle, daß Ihre Kunden von Ihrer Dokumentation dasselbe sagen.« Er hielt sein Beweisstück hoch, ein eng beschriebenes, unverständliches Blatt mit Bedienungshinweisen für einen program mierbaren Sprinkler. Eine Freundin, Charlotte, hatte Lake die Anlei tung gegeben, nachdem es ihr nicht gelungen war, ihren Sprinkler in Betrieb zu setzen. »Sie wollen also behaupten, daß unsere Anleitungen schlecht sind?« »Jedenfalls können sie Ihrem Sprinkler nicht das Wasser reichen«, sagte Lake. »Haben schon Kunden bei Ihnen reklamiert, weil sie nicht damit zurechtgekommen sind?« »Eher selten.« »Kommen manchmal Geräte zurück, die schon bei der Inbetrieb nahme versagt haben?« »Eigentlich kaum.« »Sie kennen Ihr Geschäft selbst am besten«, fuhr Lake fort. »Ich las se Ihnen diese Arbeitsmuster hier. Ich bitte Sie nur, sie mit Ihren An leitungen zu vergleichen.« »Das ist ja eine merkwürdige Marktnische, die Sie da aufgetan ha ben. Betriebsanleitungen, so was.« »Auf jeden Fall sind wir in eine Marktlücke gestoßen«, sagte Lake. »Gute Instruktionen helfen einem Unternehmen nicht nur, Geld zu sparen, sie bringen ihm auch Geld ein, weil sie großen Anteil am Auf bau eines Corporate Image haben. Aber sie sind schwieriger herzustel len, als man meinen möchte. Einerseits müssen Bedienungsanleitun gen so einfach wie möglich sein, damit der Kunde sie überhaupt zur Hand nimmt, andererseits müssen sie klar gegliedert sein und voll ständige Informationen enthalten. Wenn die Anleitung gut ist, hat der Kunde keine Chance, den Faden zu verlieren. Es ist fast unmöglich, gute Instruktionen zu missachten.« »Zu missachten?« wiederholte Kast. »Ja, darauf läuft es letztendlich hinaus«, bestätigte Lake. 7
»Sie meinen wohl ›falsch interpretieren‹ und nicht ›missachten‹.« »Wie man das Kind nennt, ist letztlich nicht so wichtig«, erklärte Lake, »aber der Punkt ist doch, daß man dem Kunden keine Gelegen heit geben möchte, etwas falsch zu machen. Und das heißt, kein Fach chinesisch, gute Illustrationen und was sonst noch alles dazugehört.« »Ja, sicher.« »Ein geschultes Auge erkennt mögliche Probleme schon im An satz.« »Normalerweise testet meine Frau die Anleitungen für ein neues Produkt«, sagte Kast. »Vielleicht möchte sie Ihnen nicht ins Gesicht sagen, was sie wirklich davon hält«, meinte Lake, »oder vielleicht erkennt sie zwar ein Pro blem, weiß aber nicht, wie sie es lösen kann.« »Möglich.« Lake legte seine Muster auf den Schreibtisch. Kast blätterte sie flüch tig durch. Ein kurzer Blick auf eine Montageanleitung für Möbel, eine Betriebsanleitung für einen Mixer und ein Spielzeugauto; dann – sein Interesse war offenbar geweckt – zog Lake einen achtseitigen Leitfaden für Hobbygärtner heraus, den InstruX zwei Jahre zuvor als Werbebro schüre für eine Samenhandlung gemacht hatte. Er beobachtete Derek Kast, der die Broschüre aufmerksam studierte, und freute sich, daß er gerade diesen Prospekt mitgenommen hatte: typographisch leben dig gestaltet, klare, übersichtlich gegliederte Aussagen, gute Fotos. Ein Meisterwerk. »Unsere Stärken sind Übersichtlichkeit und klare, voll ständige Aussagen«, bekräftigte Lake. Nachdem er Lake auf dem Firmengelände herumgeführt hatte, be gleitete Derek Kast seinen Besucher zum Hauptausgang, schüttelte ihm die Hand und bemerkte nebenbei: »Wir entwickeln im Moment gerade eine elektrische Heckenschere. Ein recht anspruchsvolles Produkt.« »Vielleicht könnten wir dabei mit Ihnen zusammenarbeiten.« »Nun ja, ich hatte mir schon überlegt, diese Dokumentation noch anschaulicher als sonst zu gestalten.« »Da sind Sie bei uns an der richtigen Adresse«, sagte Lake. »Rufen Sie mich in ein, zwei Tagen an.« 8
»Sehr gerne«, freute sich Lake. »Ihr Rasen ist übrigens eine wahre Au genweide! Ich wünschte, meiner würde auch so aussehen.« Er versuchte sich Tante Ilsas Rasen vorzustellen. Er hatte nie darauf geachtet. Als Lake sich zum Gehen wandte, fragte Kast: »Wie sind Sie eigent lich darauf gekommen, sich ausgerechnet mit Dokumentationen zu beschäftigen?« »Ich wollte schon immer meine eigene Firma haben«, erklärte Lake. »Ein paar Jahre lang hatte ich einen Verlag, und irgendwann war es für mich nur logisch, auch Dokumentationen anzubieten.« Kast war da mit offenbar noch nicht zufrieden, also setzte Lake hinzu: »Vielleicht entspricht das auch meiner inneren Natur.«
Als er das Büro betrat, waren alle in ihre Arbeit vertieft. Er setzte sich an den Schreibtisch und schaute eine Weile zum Fenster hinaus, dach te über Kantenschneider, über Scheren und über Rasensprenger nach und überschlug das Auftragsvolumen, das sich InstruX von Derek Kast erhoffen durfte. »Deine Schwester hat angerufen«, sagte Mary. »Hat sie etwas gesagt?« »Sie wollte nur, daß du sie zurückrufst.« Lake hatte keine Lust dazu. Er machte sich daran, die Bildunter schriften zu redigieren, die Danny für den Zusammenbau eines kom plizierten Regalsystems entworfen hatte. Mit frisch gespitztem Blei stift, Nr. 2, strich er überflüssige Worte durch, rottete passive Verben aus und setzte Kommas zwischen Halbsätze, die Danny nicht als sol che erkannt hatte. Das war Arbeit, die er schätzte; eine ähnliche Be friedigung mußte ein Gärtner beim Unkrautjäten empfinden – und das brachte ihn auf den Gedanken, sich ein Buch über Gartenkunde zuzulegen. Auf einen Notizzettel kritzelte er: Gart.Bch. Auch mußte er sich näher mit dem Thema Hunde befassen. »Mary«, fragte er, »hatten wir nicht vor ein paar Jahren mal etwas über Haustiere? Gibt es etwas über Hunde?« 9
Mary ging an die Registratur und begann zu suchen. Sie fand eine Broschüre: Die richtige Pflege von Goldfischen. »Das ist das einzige, was wir über Haustiere haben«, sagte sie. »Eigentlich haben wir es auch nicht selbst gemacht, sondern nur ein bißchen aktualisiert.« »Warum weiß ich nichts von dem Auftrag?« »Damals warst du gerade in Urlaub. Danny hat das gemacht, gleich nachdem er bei uns angefangen hat.« Lake begann zu lesen: Goldfische sind sehr alte Haustiere, deren Ge schichte mehr als tausend Jahre zurückreicht. Wie bitte? Wen interessiert denn so etwas? Die Schwimmblase Ihres Goldfisches funktioniert wie der Ballasttank eines Unterseebootes. Die Schwimmblase ermöglicht es ihm, im Wasser aufzusteigen oder abzusinken, ganz wie es ihm beliebt. Wie? Tankt der Fisch Wasser? Tankt er Luft? Entscheiden sich Fische ›nach Belieben‹? In einem anderen Abschnitt ging es darum, den Kies zu reinigen, be vor er ins Aquarium gefüllt wird. Dazu können Sie den Kies in unbenutzte Blumentöpfe schütten. Weshalb? Damit das Wasser unten aus dem Topf läuft? Wie viele Be sitzer von Zierfischen besitzen überhaupt Blumentöpfe? Was ist mit Alternativen? Lake warf das Handbuch für Goldfische in eine Ecke und machte sich wieder an Dannys Texte für das Regalsystem, zerpflückte sie und kritzelte hartherzige Notizen an den Seitenrand: ›Direkter formul.‹, ›Ausdruck!‹, ›Unklar!‹
Als er an diesem Abend nach Hause kam und den Anrufbeantworter abhörte, sagte Karens Stimme: »Lake, ruf mich bitte noch heute Abend an. Ich kann's nicht glauben!« Er hatte noch immer keine Lösung gefunden, wie er die Geschich te mit dem Haus und die damit zusammenhängenden Probleme am besten anpacken sollte. Zunächst einmal entschloß er sich, strategisch 10
vorzugehen: Er legte die nötigen Unterlagen fein säuberlich nebenein ander auf den Schreibtisch und sondierte die Rechtslage. Zunächst Tante Ilsas Testament: Für den Fall, daß mein Neffe Lake Stevenson mich überlebt, verma che ich ihm mein Haus samt Grundstück in der Peal Avenue Nr. 73, Philadelphia, Pennsylvania, einschließlich des gesamten Mobiliars und der Ausstattung mit der Maßgabe, daß er sich meinem persön lichen Vertreter gegenüber bereit erklärt, meinen Hund Randall auf und in dem obengenannten Anwesen auf seine Kosten zu versor gen, zu pflegen und zu betreuen, bis Randall eines natürlichen Todes stirbt. Ausgenommen hiervon ist die Zeit, in der Randall auf meinem Besitz Pinecroft, York Harbor, Maine weilt … Die Bedingungen waren eindeutig. Um an das Haus zu kommen, muß te er den Hund nehmen. Weiter verlangte sie von ihm, das Haus so lan ge zu behalten, bis der Hund an Altersschwäche gestorben war; Ver kaufen war also nicht drin. Dann, auf den anderen Seiten des Testaments, ging es hauptsächlich um Geld; das war ihm alles recht. Sein einziges Problem war die Hun deklausel. Der Testamentsvollstrecker, Billington Vere, hatte schon eine Einverständniserklärung vorbereitet, die Lake unterschreiben sollte. Ich akzeptiere das Haus zu den genannten Bedingungen und erkläre mich bereit, den Hund im Haus zu betreuen. Als nächstes nahm er sich den persönlichen Brief vor, den er von Vere zusammen mit den anderen Unterlagen bekommen hatte. Die sen Brief hatte seine Tante am fünfzehnten Februar des vergangenen Jahres verfasst, kurz nachdem Karen und er bei ihr zu Besuch gewe sen waren. Ungefähr eine Stunde hatten sie mit ihr über alte Zeiten geplaudert – ein ganz gewöhnlicher Besuch, nichts Besonderes, aber vermutlich war ihr damals die Idee gekommen, ihnen beiden die Vor 11
mundschaft für den Hund anzuhängen. Sie hatte recht gebrechlich gewirkt. Lieber Lake! Ich schreibe Dir diesen Brief, um Dir von meinem wunderschönen Springer-Spaniel Randall zu erzählen. Er stammt aus einer hervor ragenden Zucht, wovon Du Dich anhand der Papiere, die ich bei gefügt habe, selbst überzeugen kannst. Er ist mir ein Freund und Lebensgefährte von höchster Loyalität und Zuneigung. Zu die sen Charakterzügen gesellen sich Sanftmut, ein zurückhaltender Spieltrieb und eine natürliche Neigung zu gutem Benehmen, was bei seiner Rasse keineswegs selbstverständlich ist und ein einzigartiges Licht auf seinen Charakter wirft. Randall hat sein ganzes Leben bei mir verbracht. Wenn ich einmal von ihm gehen muß, zweifle ich nicht daran, daß er bedrückt sein wird. Ich habe mir gründlich überlegt, wie ich ihn am besten vor solchen Gefühlen schützen kann. Dir ist mögli cherweise nicht bekannt, daß Hunde eine ebenso enge – wenn nicht so gar eine noch engere – Bindung an ihr Zuhause haben wie Menschen. Randalls Zuhause ist dieses Haus und Pinecroft. Ich wünsche, daß es so bleibt. Aus diesem Grund beabsichtige ich, dieses Haus Dir zu ver machen und Pinecroft Deiner reizenden Schwester Karen. Ich kenne Karen als junge Dame mit untadeligen Manieren und erfreulichen Charakteranlagen. Sie erinnert mich so sehr an Eure liebe Mutter, die ihr schweres Leben mit einer bewundernswerten Würde ertrug. Es ist mein Wunsch, daß dieses Haus Randalls Heim und auch das Deine sein soll und daß Randall seine Sommerferien in Pinecroft verbringt. Jedes Jahr am ersten Juli reiste ich nach Pinecroft und kehrte Ende August nach Philadelphia zurück. Ich denke, Randall würde es sehr schätzen, wenn dieser Zeitplan auch in Zukunft beibehalten werden könnte. Eine solche Vereinbarung wurde zwar in meinem Testament festgehalten, aber ich möchte, daß Du sie als Familienangelegenheit und nicht als rechtliche Konstruktion betrachtest. Natürlich hof fe ich, daß Du in diesem Haus glücklich sein wirst. Ich denke, daß es gegenüber Deinen derzeitigen Lebensumständen eine beträchtli 12
che Verbesserung darstellen wird, und es bietet bestimmt genügend Platz, wenn Du einmal heiraten und eine Familie gründen solltest. Ich möchte Dir eindringlich raten, bei Deiner Brautschau mit größt möglicher Sorgfalt und Bedachtsamkeit vorzugehen. Vereinbarkeit der Temperamente ist die erste Voraussetzung für häusliches Glück, und daß eine falsche Partnerwahl mit viel Elend und Kummer be zahlt werden muß, brauche ich ausgerechnet Dir nicht zu sagen. Ich setze allergrößtes Vertrauen in Deinen gesunden Menschenverstand. Ich freue mich, sagen zu können, daß Du die Anlagen Deiner Mutter geerbt hast. Wenn es für Dich an der Zeit ist, zu heiraten und Kinder großzuziehen, wird Randall vermutlich schon ein älterer Herr sein. Kinder sind ihrem Naturell entsprechend oft ungestüm. Es liegt in ihrem Wesen, wird aber allzu oft nicht in die rechten Bahnen ge lenkt. Ich bitte Dich daher, die Kinder nur in denjenigen Räumen des Hauses herumtoben zu lassen, die Randall nicht bevorzugt. Sobald Du ihn näher kennst, wirst Du feststellen, daß Randall Lärm uner träglich findet. Dies sind meine Wünsche. Ich werde sie Karen in ei nem eigenen Brief erläutern. Ich denke, daß die Sache mit dem Lärm in ihrem Fall eine etwas heiklere ist, da sie bereits über die Privilegien der Mutterschaft verfügt. Falls Du feststellen solltest, daß in Pinecroft der Trubel zu einem Problem wird, bitte ich Dich sehr herzlich, dieses Thema mit Deiner Schwester zu erörtern und für Abhilfe zu sorgen. Deine Dich liebende Tante Ilsa Ein recht eloquenter Brief, auf irrsinnige Weise eloquent. Er warf ei nen Blick auf das Dokument, das Randalls vorgeblich hohe Herkunft bescheinigte, und las, daß der Hund noch nicht ganz sechs Jahre alt war. Die Chancen standen ziemlich schlecht, daß er in naher Zukunft ohne äußere Einwirkung hinscheiden würde. Andererseits aber könnten durchaus unvorhergesehene Ereignisse eintreten. In dieser gefährlichen Welt kann die Existenz eines Hundes niemals als gesichert gelten. Er rief seine Schwester an. 13
»Ist das denn zu glauben?« zeterte Karen. »Was?« »Ich kriege ein Haus als Sommerresidenz für einen Hund«, jammer te sie. »Tante Ilsa hat mich zu ihrem Hundemädchen bestimmt!« »Aber wenigstens nur zwei Monate im Jahr. Ich hab den Köter die übrigen zehn Monate am Hals.« »Ich denke, das ist ein geringer Preis für ein großes Haus.« »Ich will aber kein Haus«, sagte Lake. »Du mußt zugeben, daß das sehr großzügig von ihr war.« »Karen, es geht doch gar nicht um uns. Merkst du denn nicht, was sie getan hat? Sie hat ihre Häuser dem Hund vermacht, ihrem gottver dammten Randall.« »Aber für uns auch.« »Ja und nein. Sieh mal«, erklärte er, »was braucht denn ein Hund außer einem Haus? Ein Hund braucht ein Herrchen. Also hat sie ihr Testament so verfasst, daß ihr Hund beides kriegt: ein Haus und ein Herrchen. In unserem Fall zwei Häuser und zwei Herrchen. Das ist doch außerordentlich clever, das Werk einer wahren Hundenärrin.« »Das sehe ich nicht so.« »Trotzdem habe ich recht.« »Du wirst das Erbe doch nicht ausschlagen, oder?« »Ich werde das Haus verkaufen.« »Das kannst du nicht«, sagte Karen. »Das werden wir schon sehen.« »Ich habe auch ein Problem«, bemerkte sie. »Wir können diesen Som mer nicht nach Maine fahren. Wir haben uns für Juli schon ein Ferien haus in Martha's Vineyard gemietet.« »Ich bin sicher, daß Randall nichts dagegen hat, dieses eine Mal in Martha's Vineyard anstatt in Maine Urlaub zu machen. Ich meine, er muß solche Dinge pragmatisch sehen.« »Wir können ihn aber nicht mitnehmen. Im Mietvertrag gibt es 'ne Klausel, nach der keine Haustiere gestattet sind. Könntest du ihn nicht diesen Sommer über behalten? Oder zumindest den Juli über?« »Das wird vielleicht gar nicht nötig sein«, gab Lake zur Antwort. 14
»Hast du übrigens die Erklärung unterschrieben, daß du mit den Be dingungen des letzten Willens einverstanden bist?« »Noch nicht.« »Wir werden aber unterschreiben müssen«, meinte Lake. »Gestern hat mich dieser Vere, der Testamentsvollstrecker, angerufen. Er ist ein glü hender Fan von Tante Ilsa. Ein Mann von allerhöchster Gesinnung.« »So ein Testament ist mir noch nicht untergekommen. Vielleicht ist die Klausel mit dem Hund ja rechtswidrig.« »Sie ist rechtens, das kannst du mir glauben, aber ich bin mir fast si cher, daß sie nicht durchgesetzt werden kann. Soweit kenne ich mich mit Gesetzen aus. Für den Fall der Zuwiderhandlung wird keine Stra fe angedroht. Alles ist eher vage gehalten. Hier geht es um nichts als ein Ehrenwort.« »Hört sich aber recht eindeutig an«, sagte sie. »Karen, das ist ein Verfahren, nach dem wir handeln sollen, nicht aber ein Verfahren, nach dem wir handeln müssen. Das ist ein gro ßer Unterschied. Glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche. Ich habe mit solchen Sachen tagtäglich zu tun. Und abgesehen davon ist Tante Ilsas Brief ja mehr oder weniger eine Bestätigung dafür, daß es sich um eine ehrenwörtliche Abmachung handelt. Wenn sie die Geschichte hätte wasserdicht machen können, hätte sie's bestimmt getan.« »Ich würde zu gern wissen, ob sie Daddy was hinterlassen hat.« »Machst du Witze?« »Na ja, vermutlich nicht.« »Vere möchte, daß ich sofort einziehe«, sagte Lake. »Im Moment kümmert sich eine Haushälterin um den Hund.« »Und was machst du jetzt?« fragte sie. »Ich krieg das schon geregelt. Das Wichtigste ist, die unangenehmen Seiten der Geschichte zu minimieren. Als erstes werden wir den Hund pro forma akzeptieren. Aber ich bin mir sicher, daß ich demnächst et was deichseln kann.« »Was zum Beispiel, Lake?« fragte sie. Aus ihrer Stimme sprach Missfallen, das er aber überhörte. »Hunde wechseln ihre Herrchen. So etwas passiert jeden Tag.« 15
Sie schwieg. »Lass mich nur machen«, sagte er. »Sprich bitte mit niemandem dar über. Wenn jemand fragt: Wir haben uns noch nicht über den Hund unterhalten.« »Okay.« »Ich melde mich in ein paar Tagen wieder bei dir«, versprach er. Nachdem er aufgelegt hatte, starrte er die Vereinbarung lange an. Es war ein Knebelvertrag, ein Dokument, das ihn zum Sklaven ei nes Hundes herabwürdigte. Aber er setzte seine Unterschrift darun ter. Jede Verzögerung würde möglicherweise Verdacht erregen. Außer dem gab es einen weiteren guten Grund zu unterschreiben. Hindernis se hatten ihn schon immer gereizt. Wie der große Houdini würde er sich aus Tante Ilsas Fallstricken befreien.
Am nächsten Tag fuhr er in der Mittagspause zum Haus hinaus. Als er sich dem Gebäude näherte, schaltete er seinen Kopf auf Leerlauf; er wollte das Haus mit den Augen eines potentiellen Käufers sehen. Es war beeindruckend. Es hatte Würde, Gewicht, Präsenz; die Steinfas sade und das Schieferdach stammten aus einer Zeit, in der noch mas siv gebaut wurde. Um das Anwesen herum lief eine niedrige Steinmau er mit einem schmiedeeisernen Zaun, der mit dekorativen, aber ge fährlich aussehenden Speerspitzen die Privatsphäre sicherte. Eine alte, sorgfältig getrimmte Eiche überspannte den Rasen vor dem Haus; im Garten wuchsen verstreut dekorative Hartriegelgewächse. Buchssträu cher flankierten den vorderen Treppenaufgang, und der Rasen war perfekt gepflegt. Weitere Häuser desselben Baustils grenzten an das Anwesen; jedes von ihnen vermittelte die gleiche gesellschaftliche Bot schaft. Die Straße war absolut ruhig, bar jeglicher städtischen Lärm belästigung. Lake schätzte, daß Tante Ilsas Haus eine Menge Geld ein bringen würde. Er drückte auf die Klingel. Nach langer Zeit öffnete sich die Tür ei nen Spalt, und ein sauertöpfisches Gesicht spähte heraus. »Ja?« 16
»Ich bin Lake Stevenson, der Neffe von Mrs. Grinnell. Wer sind Sie bitte?« »Mrs. Lundquist.« »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mrs. Lundquist.« Sie öffnete die Tür. Lake trat in die Eingangshalle. Im Haus war es düster; er nahm sich vor, überall Licht einzuschalten, wenn er Kaufin teressenten herumführte. Aber auch ohne Licht gab es genügend zu entdecken: ein Perserteppich auf dem Fußboden, ein großer, goldge rahmter Spiegel an der Wand, ein Tisch mit Marmorplatte, auf dem eine Famille-Verte-Vase stand, eine wunderschöne Hängelampe. »Ich wollte nur mal nach dem Rechten sehen«, sagte er. »Ach so.« Ausdruckslos beobachtete sie ihn hinter ihren Brillenglä sern. Sie war eine Symphonie in Grau, graues Kleid, graues Haar, graue Augen. Ihre Haut war ungewöhnlich blass, fast transparent, durchzo gen von feinen Linien. »Mr. Vere meinte, ich sollte mich hier mal umsehen«, sagte er. »Ja, er sagte, daß Sie kommen wollten«, gab sie zur Antwort. »Und wie geht es hier so?« »Meinen Sie Mrs. Grinnells Hund?« »Nein. Ich meinte, ob hier im Haus alles in Ordnung ist und ob Sie etwas brauchen.« »Mr. Vere hat dafür gesorgt, daß ich alles habe, was ich brauche.« »Kommen Sie jeden Tag?« »Ja, ich komme um acht Uhr dreißig und gehe um sechzehn Uhr dreißig.« »Und was geschieht mit dem Hund an den Wochenenden?« »Ich gebe ihn in die Hundepension an der Daymond Street. Ich brin ge ihn mit dem Taxi hin. Mr. Vere hat alles arrangiert.« »Ach so. Mr. Vere war vermutlich ein Freund meiner Tante?« »Ja, ich glaube.« »Und wo ist der Hund heute?« »In der Küche. Er mag es nicht, wenn Leute kommen.« »Wer ist denn gekommen?« »Nur der Postbote und der Lieferwagen von Stieblers. Mrs. Grinnell 17
hat bei Stieblers immer Lebensmittel und alles Nötige für den Haus halt bestellt. Mr. Vere wollte, daß diese Regelung beibehalten wird. Na türlich hat Ada immer die Bestellungen durchgegeben.« »Ada?« »Die Köchin von Mrs. Grinnell.« »Ich habe eine Köchin?« »Nein. Ada gehört nicht mehr zum Haushalt. Mr. Vere hat sie ent lassen.« Lake fiel auf, wie sie das Wort ›Haushalt‹ betonte; als wäre für sie die ser Job quasi institutionalisiert. »Offensichtlich ist alles perfekt organisiert«, sagte Lake. »Mr. Vere hat an alles gedacht.« »Haben Sie schon lange für meine Tante, äh, für den Haushalt gear beitet?« »Fast zwei Jahre.« »Ich verstehe. Sie war wirklich ein wunderbarer Mensch.« »Ja.« »Ein bißchen streng vielleicht, finden Sie nicht?« »Es steht mir nicht zu, das zu beurteilen.« »Bestimmt war sie streng. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich ein wenig umsehe? Kümmern Sie sich nicht um mich, ich finde mich schon zurecht.« Sie verschwand durch eine Tür am hinteren Ende der Eingangshalle. Er schlenderte ins Wohnzimmer. Hier war ihm alles vertraut; seit sei ner Kindheit hatte sich kaum etwas verändert: der Tisch mit den Mes singbeschlägen, das Chintzsofa und die plüschbezogenen Stühle; der riesige Kaminbock aus Messing hinter dem Kaminschirm; das Porträt von Onkel Paul über dem Kaminsims, der wie ein silberhaariger Raub vogel aussah; die Seidenvorhänge; die Lampen, der Teewagen und die Queen-Anne-Kerzenhalter – alles war noch da: Tante Ilsas Welt, bela den mit Zeit und Erinnerungen. Auf dem großen Tisch vor dem Fen ster stand eine Sammlung von gerahmten Fotos, manche zeigten Tante Ilsa und Onkel Paul, andere Menschen und Orte, die ihm unbekannt waren. Lake nahm eines der Fotos zur Hand. Es zeigte einen Springer 18
Spaniel, der auf einem Kissen neben dem Ruderstand eines großen Se gelbootes thronte und sehr selbstzufrieden wirkte. Der geheiligte Ran dall, der Sommerfrische in Maine frönend. Er sank in einen Sessel. An eines erinnerte er sich aus seiner Kind heit besonders lebhaft, wenn er in diesem Haus zu Besuch war: Immer wollte er diesem Wohnzimmer so schnell wie möglich entfliehen. Er und Karen waren oft ausgebüxt und hatten unter dem Dach gespielt, während sich die Erwachsenen im Wohnzimmer unterhielten: zwei kleine Kinder, leicht und ausdehnungsfähig, erhoben sich aus einem dichteren Medium und schwebten himmelwärts. Selbst jetzt, nach so vielen Jahren, verspürte er noch denselben Drang, sich hinauf in die Abgeschiedenheit des Dachbodens zu flüchten und ein Wiedersehen mit den verstaubten Schätzen zu feiern – den ramponierten Möbeln und den Schachteln mit allem möglichen Krimskrams. Tante Ilsa war vermutlich nie hinaufgegangen; bestimmt hatte sie nicht gewußt, daß sich in diesem Haus Gegenstände verbargen, die man zu einem Palast oder einem Fort zusammenbauen konnte, insbesondere dann, wenn man eine kleine Schwester hatte, die einem nicht nur assistierte, son dern das schöpferische Genie des Bruders auch noch gebührend lobte. Er kehrte dem Wohnzimmer den Rücken und ging weiter auf Ent deckungsreise. Überall fand er Anzeichen vorübergehend eingestellter häuslicher Rituale – Kerzen auf dem Esstisch, die darauf warteten, an gezündet zu werden, ein Fernseher in der Bibliothek, der darauf war tete, eingeschaltet zu werden, ein Brieföffner auf dem Schreibtisch, der auf Post wartete. Er ging nach oben und inspizierte die Schlafzimmer, die Ankleideräume und die Bäder. Die Schränke waren leer: Wenig stens die Kleider der Tante waren fortgeschafft worden. Dann hielt er es für angebracht, Randall in der Küche aufzusuchen. Als er die Schwingtür aufstieß, erhob sich der Hund steifbeinig von sei nem Lager und schenkte ihm ein paar lustlose Schwanzbewegungen. Er war braun-weiß gefleckt, mit Hängeohren, braunen Augen, einer großen, rosigen Nase und einem kummervollen Gesichtsausdruck. »Hallo, Randall«, begrüßte ihn Lake freundlich. Die Antwort war ein oberflächliches Schwanzwedeln. 19
»Hast'n Nickerchen gemacht?« Der Hund tappte herüber und schnüffelte an Lakes Hosenbeinen. Dann machte er kehrt, wackelte zu seinem Platz zurück und legte sich hin. Dieses Verhalten war ganz nach Lakes Geschmack. Randall war kein geselliger Hund, nicht einmal ein liebenswerter Hund. Definitiv aber ein entsorgbarer Hund. Er schaute in den Kühlschrank. Er war leer. Er öffnete eine Schrank tür und entdeckte einen riesigen Sack Hundefutter – Proviant für vie le Monate. »Pech für dich, Randall«, sagte er. Der Hund machte sich nicht die Mühe, den Kopf zu heben, aber er verfolgte Lake mit den Augen, beobachtete die Situation mit gelang weilter Miene. Lake hielt es für besser, in Anbetracht der ungewissen Zukunft des Hundes die Kommunikation mit ihm auf ein Minimum zu beschränken, drehte sich um, ließ die Küchentür hinter sich zufal len, ging durch Anrichtezimmer und Esszimmer in die Eingangshalle und rief Mrs. Lundquist. Sie erschien auf dem oberen Treppenabsatz. »Ja?« fragte sie. »Ich gehe jetzt, Mrs. Lundquist. Wahrscheinlich komme ich an die sem Wochenende noch mal vorbei.« »Soll ich den Hund dann hier lassen?« »Nein, bringen Sie ihn wie gewohnt in die Pension. Ich weiß noch nicht genau, ob ich es schaffe.« Er dachte einen Moment lang nach. »Was hat Mr. Vere zu Ihnen wegen des Hundes gesagt?« »Er sagte mir, daß Sie den Hund entsprechend Mrs. Grinnells Verfü gung hier im Haus behalten werden.« »Ja. Ja, das ist richtig. Aber ich weiß noch nicht, wann ich hier ein ziehen werde. Bitte machen Sie also vorläufig so weiter wie bisher, das wäre das beste.« »Gut.« »Ich bin sicher, daß wir uns hier alle wohl fühlen werden«, sagte er und dachte bei sich: Vorläufig jedenfalls.
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A
m Samstagnachmittag fuhr er mit Ellen wieder zum Haus hinaus, parkte das Auto in der Garage und eskortierte sie zum Vorderein gang, um ihr einen angemessenen Auftritt zu verschaffen. »Mann o Mann«, rief sie, als sie auf die vordere Treppe zugingen. »Eine Zeitreise in die Vergangenheit.« Stocksteif, wie ein Jagdhund auf der Pirsch, stand Ellen in der Hal le; dann steuerte sie auf das Wohnzimmer zu. Er folgte ihr. Mit den Augen machte sie Inventur, berührte die Vorhänge mit einer Finger spitze, wie um ihr Gewicht zu prüfen, strich im Vorbeigehen mit einer Hand über eine Stuhllehne und spähte aus einem Fenster. Es kam ihm so vor, als paßte sie ihre Eindrücke in irgendein kompliziertes geisti ges Modell ein, das sich seinem Verständnis allerdings schon im An satz entzog. »Typisch Tante«, sagte er. »Nicht gerade typisch für dich.« »Ganz bestimmt nicht.« »Wer ist das?« Sie deutete auf das Porträt über dem Kamin. »Der Mann meiner Tante, Onkel Paul. Ich habe ihn kaum gekannt. Er war viel älter als sie. Es war seine zweite Ehe.« »Schaut wie ein Industriekapitän aus.« »Er war Bankier.« »Käpt'n Paul«, sagte sie. »War er es, der das ganze Geld mit in die Ehe gebracht hat?« »Mehr oder weniger.« »Der hat ja richtige Killeraugen.« »Ich würde sagen, daß sein Killerinstinkt eher unterentwickelt war«, sagte Lake. 21
Der nächste Raum in Ellens Besichtigungsprogramm war die Biblio thek. Sie probierte einen Ledersessel aus, nahm auf dem Stuhl hinter dem Schreibtisch Platz und zog eine Schublade auf. Lake sah, daß sie ein paar Blätter Papier in der Hand hielt. Vielleicht war es nur unbe schriebenes Papier, aber plötzlich kam ihm der Gedanke, daß es klü ger gewesen wäre, das Haus zunächst allein unter die Lupe zu nehmen und erst dann Ellen mitzunehmen. Sie öffnete eine weitere Schublade. »Die Eigentumsübergabe hat noch nicht stattgefunden«, bemerkte er. Ellen hob den Kopf. »Von Rechts wegen bin ich erst dann Eigentümer, wenn der Nachlass abgewickelt ist, und das kann noch ein paar Wochen dauern.« »Aber du hast doch gesagt, daß du vielleicht sofort hier einziehen willst.« »Das stellt sich jedenfalls der Testamentsvollstrecker so vor, dieser Billington Vere. Das Haus sollte bewohnt sein, sagte er. Obwohl ja oh nehin jemand da ist.« »Ich weiß.« »Wie, du weißt?« »Alles ist abgestaubt und blitzblank geputzt.« Das war ihm noch gar nicht aufgefallen. »Es gibt eine Haushälte rin.« Ellen marschierte ins Anrichtezimmer und machte alle Sideboards und Schränke auf. Weiter ging es in die Küche. Sie inspizierte den Herd, trat auf das Fußpedal des Mülleimers und warf einen Blick in den Kühlschrank. »Wie oft kommt die Haushälterin?« erkundigte sie sich. »Täglich.« »Offenbar bringt sie ihr Essen selbst mit.« »Offenbar.« Ellen öffnete die Tür des Wandschranks und entdeckte den Sack mit dem Hundefutter. »Was ist das denn?« »Es gibt einen Hund. Er gehörte meiner Tante.« »Und was passiert jetzt mit dem Hund?« 22
»Das steht noch nicht fest.« »Ich finde, er sollte ins Tierheim. Wo ist er im Moment?« »In einer Hundepension nicht weit von hier.« »Vielleicht wissen die ja jemanden, der ihn nimmt.« »Darum kümmere ich mich schon.« Sie gingen nach oben. Ellen machte das Ganze Spaß, das war nicht zu übersehen. Im Schlafzimmer seiner Tante sah er im Spiegel ihr Haar fliegen, als sie eine Pirouette drehte; das Bett sah einladend aus, aber im Moment stand ihm nicht der Sinn danach. »Möchtest du dir den Garten ansehen?« »Sicher.« Sie gingen die Treppe hinunter und traten durch die Terrassentür in den Garten hinaus. »Mann«, rief sie. »Klasse!« »Sieht nach viel Arbeit aus. Komm, gehen wir.« »Bleiben wir doch noch ein bißchen.« »Ich habe keine Lust, hier rumzuhängen.« »Ich aber.« Sie nahm seinen Arm. Also schaute er mit ihr eine Weile in den Garten hinaus. Bis er kribbelig wurde, sich umdrehte und in der Bibliothek die Fernsehnachrichten einschaltete. Anschließend fragte er: »Hast du nicht allmählich Hunger? Komm, lass uns gehen.« »Bestellen wir uns doch eine Pizza.« Nach der Pizza plauderten sie noch eine Weile, während sich drau ßen vor dem Fenster die Farbe aus dem Himmel stahl, es allmählich still wurde und die Blätter in der einsetzenden Dunkelheit reglos an den Zweigen hingen. Ein Flugzeug schleppte sein monotones Brum men über das Haus und hinterließ eine noch tiefere Stille. Lake saß an dem einen und Ellen am anderen Ende des Sofas. »Kann es sein, daß ich auf einigen Fotos auf dem Tisch in dem an deren Zimmer deine Tante gesehen habe?« fragte sie. »Sehr dünn und sehr elegant.« »Das ist sie«, bestätigte er. »Sie war eine interessante Persönlich keit.« »Wie war sie denn so?« 23
»Eigensinnig.« »Sonst nichts?« »Sie war eine Frau, die wußte, was sie wollte, und die dafür gesorgt hat, daß die anderen das auch wußten. Aber wir sind ganz gut mitein ander ausgekommen.« »Du hast gesagt, daß sie mit deinem Vater nicht gut ausgekommen ist.« »Ja.« »Wie das?« »Er ist aus der Reihe getanzt.« »Wieso sprichst du eigentlich nie über ihn? Was hat er denn gemacht? Was war denn so verwerflich?« »Er tut ausschließlich das, wozu er gerade Lust hat. Frauengeschich ten eingeschlossen.« »Haben sich deine Eltern deshalb getrennt?« »Er hat sich mit der Frau seines besten Freundes eingelassen. Das hat einen ziemlichen Skandal gegeben.« »Das kann ich mir vorstellen«, sagte sie. »Als er nach Greenwich gezogen ist, wurde es auch nicht besser. Er kann es anscheinend nicht lassen. Im Moment will er mal wieder hei raten.« Ellen schwieg. »Woran denkst du?« fragte er. »An nichts. An die Arbeit.« »Das Haus hier trägt nicht gerade zur Entspannung bei«, sagte er. »Ich bin entspannt.« »Ich werde mich erst entspannt fühlen, wenn es verkauft ist.« Sie schwieg. »Und was beschäftigt dich genau?« fragte er. »Gestern haben wir erfahren, daß es eine größere Umorganisation gegeben hat. Bob ist befördert worden. Er ist jetzt in einer anderen Ab teilung. Ich arbeite neuerdings für Harry McQueen. Er hat Bobs Job als Controller übernommen.« »Na ja, dann bist du Bob ja endlich los.« 24
»Mhm.« »Eigentlich solltest du froh darüber sein.« »Harry McQueen ist ein Arschloch.« »Aber immer noch besser, als einen Sadisten als Boss zu haben«, sag te Lake. »Trotzdem.« »Trotzdem was?« »Bob hat mich schon mal die eine oder andere Finanzanalyse selb ständig machen lassen. Wahrscheinlich hatte er Größeres mit mir vor und wollte mich testen. Ich glaube, er hat meine Arbeit geschätzt.« »Hat er dir das jemals gesagt?« »Ja.« »Tatsächlich?« »Er hat gesagt, daß ich gute Arbeit leiste.« »Wann war das?« »Vor ein paar Wochen bei der Mitarbeiterbeurteilung. Er sagte, daß ich vielversprechende Anlagen hätte. Jedenfalls dachte ich bis jetzt im mer, daß er wenigstens ehrlich ist.« »Und jetzt denkst du das nicht mehr?« »Gestern haben sich ein paar Leute über ihn unterhalten. Edith sag te, daß sie nicht verstehen kann, wie jemand eine so positive Beurtei lung abgeben kann und die restliche Zeit nur herummeckert. Er hat's nicht mal der Mühe wert gefunden, uns auch nur ein Sterbenswört chen davon zu sagen, daß er die Controlling-Abteilung verlassen wird. Es war ein etwas plötzlicher Abschied. Zack. Macht's gut, Leute. Die Rakete hebt ab, aber leider ist auf unserer Reise kein Platz mehr für euch frei.« »Bob ist es nicht wert, gehasst zu werden«, meinte Lake.
Die nächsten beiden Wochen war er zu beschäftigt, um sich größere Gedanken über das Haus zu machen. Ein Benutzerhandbuch für eine Anwendersoftware mußte noch ein letztes Mal korrigiert und das Lay 25
out nachgebessert werden. Danny hatte sich hingebungsvoll um dieses Projekt gekümmert, bis spät in die Nacht hinein gearbeitet und tage lang mit den Programmierern telefoniert. »Wo hast du diesen Fachjargon eigentlich gelernt, Danny?« fragte Lake. »Ach, im Lauf der Zeit eignet man sich so etwas automatisch an. Es ist reine Logik.« »Hiermit ernenne ich dich zum verantwortlichen Direktor der Ab teilung Logik.« »Ist das eine Beförderung?« »Es ist nichts als ein Titel.« »Hört sich aber wie eine Beförderung an.« »Weißt du, was dein Problem ist? Du stürzt dich immer auf logische Schlussfolgerungen. Aber das zieht bei mir nicht, weil ich nämlich der verantwortliche Direktor der Abteilung Unlogik bin. Ich bin speziali siert auf logische Mängel.« »Und was ist in diesem Fall der Mangel?« »Ich bin der Geschäftsführer.« Mary mischte sich ein: »Er ist nicht wirklich geisteskrank, Danny. Er ist nur pervers.«
An einem Mittwochmorgen opferte Lake eine halbe Stunde, um eine Broschüre über Arbeitssicherheit auf einem Holzlagerplatz durchzuse hen. Ein Mitarbeiter des Holzunternehmens hatte das Pamphlet ver fasst, und es war durch und durch misslungen – rätselhafte Warnhinweise, anklagender Ton, nachträgliche Ergänzungen. Irgendwo stand ein Satz, der offenbar höhere Bezahlung mit schnellerer Arbeit ver band – ein gefundenes Fressen für einen Arbeitsrechtler. Sein Telefon klingelte, und Mary sagte: »Ein gewisser Mr. Vere.« Lake hob den Hörer ab. »Guten Morgen, Mr. Vere.« »Guten Morgen, Mr. Stevenson.« Veres Stimme klang altersbedingt leicht zittrig, hatte aber einen entschlossenen Unterton. »Ich wollte mich nur vergewissern, daß es keine Schwierigkeiten gibt.« 26
»Aber überhaupt keine«, gab Lake zur Antwort. »Ich war schon ein paarmal im Haus. Im Moment wächst mir hier im Büro allerdings die Arbeit über den Kopf.« »Natürlich.« »Ach, übrigens, besten Dank nochmals, daß Sie alles so perfekt or ganisiert haben.« »Ich denke, Mrs. Lundquist ist eine fähige Haushälterin«, sagte Vere. »Ich darf doch annehmen, daß der Hund gut versorgt ist?« »Ja, Randall geht es gut. Er ist recht vergnügt – in Anbetracht der be sonderen Umstände.« »Es muß für einen Hund ein schreckliches Trauma sein, seine Be zugsperson zu verlieren.« »Er scheint es ganz gut zu verkraften«, meinte Lake. »Das ist aller dings nicht mir zu verdanken. Ich habe mich bis jetzt leider noch nicht so um ihn kümmern können, wie ich es möchte.« »Ihre Tante hegte tiefe Gefühle für Hunde.« »Ich weiß.« »Sie schätzte deren Loyalität.« »Ja, es ist unübersehbar, daß Randall eine treue Seele ist«, sagte Lake. »Aber es ist typisch für Ihre Tante, daß diese Beziehung auf Gegen seitigkeit beruhte. Sie war eine bemerkenswerte Frau. Wir waren gute Freunde, wissen Sie.« »Das hatte ich mir schon gedacht. Ja, sie war wirklich etwas Beson deres.« »Sie hatte ein ganz außergewöhnliches Gefühl für Recht und Un recht.« »Richtig«, antwortete Lake einfältig. »Ich werde nie vergessen, was sie zu Laura nach ihrem Autounfall gesagt hat. Laura ist meine Frau. Sie sagte: ›Sobald du wieder auf den Beinen bist, fahren wir beide so oft über diese Kreuzung, bis du ein gesehen hast, daß es nicht deine Schuld war.‹ Sie hatte wirklich keine Schuld daran. Man hatte die Ampelphase verändert.« »Ich verstehe.« 27
»Das ist jetzt etwas über ein Jahr her.« »Man hätte ja einen Hinweis anbringen können.« »Das war ein typisches Beispiel für die Herzensgüte Ihrer Tante. Aber ich schweife ab. Ich wollte nur hören, ob es Probleme gibt oder ob Sie irgendwelche Fragen haben. Dieser Nachlass war wirklich unge wöhnlich problemlos, und ich bin froh, daß wir ihn so schnell abwik keln konnten. Nächste Woche sollten wir dann die letzten Details aus arbeiten. Beabsichtigen Sie, schon bald umzuziehen?« »Sobald ich es schaffe«, gab Lake zur Antwort. »Und Ihrer Schwester geht es gut?« »Ja.« »Ich muß sie auch anrufen. Übrigens freue ich mich, daß wir Nach barn sein werden.« »Wie bitte?« »Ich wohne auch in Chestnut Hill.« »Ach.« »Falls Sie Hilfe oder Rat brauchen, können Sie sich immer an mich wenden. Als Nachbar.« »Das ist sehr freundlich. Darauf werde ich bestimmt zurückkom men.« »Ich melde mich dann nächste Woche wieder.« »Ja, und vielen Dank für Ihren Anruf«, sagte Lake. Beim Auflegen wäre ihm der Hörer beinahe aus der schweißnassen Hand gerutscht. Er hatte die Angelegenheit schleifen lassen. Er brauchte dringend ei nen Aktionsplan für das Haus und den Hund. Mary fragte: »Soll ich ein Mittagessen kommen lassen?« »Ja. Nein. Ich gehe vielleicht noch ein bißchen vors Haus und vertre te mir die Beine.« »Was jetzt? Mittagessen oder kein Mittagessen?« »Mittagessen, aber ich gehe vielleicht zuerst noch ein bißchen vors Haus, vertrete mir die Beine und esse dann etwas.« »Ich bestelle Thunfisch. Ja oder nein?« »Ja.« »Weißer Toast oder kein weißer Toast?« 28
»Lass gut sein, Mary. Ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht.« Er setzte sich und begann, einen Ansatz zur Lösung des Hundepro blems zu formulieren. Punkt eins: Er mußte sich alle Fakten beschaf fen. Sollte er einen Anwalt fragen, ob das Testament anfechtbar war? Das konnte er sich schenken. Es war bestimmt nicht anfechtbar. Da gegen müßte er mit einem Gerichtsverfahren wegen arglistiger Täu schung rechnen, falls er das Haus verkaufen wollte. Und eines war si cher: Vere würde sich seinem Standpunkt niemals anschließen. Den ganzen Trouble konnte er sich sparen. Der geradlinige, einfache Weg, die Probleme mit dem Hund aus dem Weg zu räumen, war, den Hund selbst aus dem Weg zu räumen. Punkt zwei: Geheimhaltung. Um das Vorhaben nicht zu gefährden, mußte er ganz verdeckt arbeiten und durfte nirgendwo etwas durch sickern lassen. Unglücklicherweise hatte er Karen gegenüber schon angedeutet, daß er in Sachen Randall etwas unternehmen wollte. Das war vielleicht ein Fehler gewesen, aber er konnte Karen vertrauen. Ab gesehen davon hatte er sich nur vage geäußert. Abgesehen davon sa ßen beide im selben Boot. Punkt drei: Beachtung äußerer Einflußfaktoren. Machte sich Mrs. Lundquist etwas aus dem Hund? Vermutlich nicht, denn sie hielt ihn ja ständig in der Küche eingesperrt. Aber vielleicht fühlte sie sich für Recht und Ordnung im Haus zuständig. Also wäre es besser, sie ir gendwie von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Und Vere? Viel leicht sollte er ihn besser kennenlernen. Obwohl es andererseits be stimmt ratsam war, diese Bekanntschaft nicht zu pflegen. Punkt vier: Die Frage des richtigen Timings. Er wollte das Haus so schnell wie möglich loswerden, mußte aber so tun, als wollte er die Be dingungen des Testaments auf jeden Fall erfüllen – im großen und ganzen wenigstens. Auf jeden Fall müßte er erst einmal eine Zeitlang im Haus wohnen, mindestens zwei oder drei Wochen zusammen mit dem Hund, und dann, nachdem der Hund verschwunden war, noch ein paar weitere Wochen – auf jeden Fall so lange, bis jede berechtigte Hoffnung auf eine Rückkehr des Hundes aufgegeben werden konnte. Punkt fünf: die Schlüsselfrage: Wie wird man den Hund am besten 29
los? Ein plötzlicher Tod war eine theoretische Möglichkeit, aber das brachte er nicht fertig, selbst in Anbetracht dessen, was ihm Tante Ilsa mit ihrem Testament angetan hatte. Andererseits hätte er keine Skru pel, den Hund zu verlieren. Viele Leute verlieren ihre Hunde. Das war nichts Ungewöhnliches. Das Leben ging trotzdem weiter. Es gab verschiedene Möglichkeiten, einen Hund zu verlieren: (1) den Hund in einem anderen Bezirk absetzen und davonfahren; (2) den Hund um vier Uhr früh an das Tor eines Tierheimes binden und da vonfahren; (3) mit dem Hund Gassi gehen und ihn dabei verlieren. Die Spazierengehen-Hund-verlieren-Variante gefiel Lake. Ein Spaziergang, der damit endet, daß der Hund futsch ist, entbehrt jeglichen kriminellen Beigeschmacks, ein böswilliger Vorsatz wäre nicht zu unterstellen. Ein Schicksalsschlag, mehr oder weniger jeden falls. Ja, das war es. Randalls Schicksal wäre es, abhanden zu kommen. Jemand würde ihn finden, und alle Beteiligten wären glücklich und zufrieden. Er hob den Kopf. Mary hatte auf eine ihrer bevorzugten Kommuni kationstaktiken zurückgegriffen: ein Lake-Schild. Sie saß bewegungs los an ihrem Schreibtisch, Ellbogen aufgestützt, Kinn in der Hand, und glotzte träumerisch ins All. In ihrer freien Hand hielt sie einen Bleistift, dessen Spitze ebenfalls ins All zeigte. Vor ihr stand ein Papp schild, das genau in Lakes Richtung zeigte. Darauf stand in großen, schwarzen Blockbuchstaben: LAKE DENKT. »Ist ja gut«, sagte Lake, »ich bin wieder ansprechbar.« Sie nahm das Schild weg und widmete sich wieder ihrem Compu ter. »Dieses Büro kommt mir wie eine einzige, unendliche Meuterei vor«, sagte er. »Nur gut, daß ich über so ausgeprägte Führungsqualitäten verfüge.« »Richtig«, kommentierte Mary, aber in liebevollem Ton.
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»Hat dich Vere eigentlich angerufen?« fragte er Karen, als er am selben Abend mit ihr telefonierte. »Auf jeden Fall hatte er es vor.« »Ja, wir haben uns heute morgen lange miteinander unterhalten.« »Worüber?« »Hauptsächlich über Tante Ilsa und was für ein besonderer Mensch sie war und wie sehr sie Tiere in ihr Herz geschlossen hatte. Ich glau be, daß er sie echt bewundert.« »Zweifellos.« »Er meint übrigens, daß es okay ist, wenn der Hund diesen Sommer nicht in Maine verbringt«, berichtete Karen. »Ich hab ihm vom Ferien haus in Martha's Vineyard erzählt. Er sagte, er könne sich denken, daß du Randall gerne den Sommer über betreuen würdest.« »Da hat er leider falsch gedacht.« »Er sagte, daß du den Hund offenbar magst.« »Der Hund ist debil.« »Was hast du vor?« »Ein neues Schicksal wird ihn ereilen.« »Lake.« »Was?« »Du wirst langsam komisch.« »Hör zu. Ich will das Haus nicht. Der Hund ist das einzige Verkaufs hindernis, also wird der Hund aufhören müssen, ein Hindernis zu sein. Es gibt ein paar durchaus anständige Möglichkeiten, das zu erreichen. Man muß nur aufpassen, daß man allen Beteiligten gerecht wird. Üb rigens, erzähl bloß niemandem etwas von dieser Geschichte!« »Komm, nerv mich bitte nicht! Ich hab dich bereits beim ersten Mal verstanden.« »Gut.« »Aber ich würde gern mehr über dieses neue Schicksal wissen«, sag te sie. »Das ist noch nicht im Detail ausgearbeitet. Aber mach dir keine Sorgen. Ich werde Randall kein Härchen krümmen.« »Das will ich hoffen.« Er wechselte das Thema. »Was muß man tun, wenn man ein Haus 31
verkaufen will? Du hast das doch schon mal gemacht. Ich habe noch nie ein Haus besessen.« »Ruf ein paar Immobilienmakler an und such dir dann einen aus.« »Gibt es irgendeine Möglichkeit, das Haus unter der Hand zu ver kaufen?« »Vielleicht kennt ein Makler ja einen maßgeschneiderten Käufer. Aber so etwas kriegen die Leute früher oder später doch mit. Wenn ein Haus verkauft wird, steht es irgendwann in der Zeitung, ganz zu schweigen von dem Aufsehen, das Umzugsfirmen machen und so wei ter.« »Aber ist es denn grundsätzlich möglich, diskret vorzugehen?« »Ich denke schon.« »Und wie finde ich einen guten Makler?« »Hör dich um.« »Aber ich kann mich nicht umhören. Genau das kann ich eben nicht tun. Auf jeden Fall nicht im Moment.« »Ich kenne eine Immobilienmaklerin in Philadelphia«, sagte Karen. »Die kennst du übrigens auch.« »Und wie heißt sie?« »Jennifer Dee. Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Kannst du dich nicht mehr an sie erinnern? Ich war mit ihr befreundet.« »Dunkle Haare?« »Ja.« »Wenn ihr in derselben Klasse wart, kann sie nicht viel Erfahrung im Immobiliengeschäft haben.« »Sie macht das jetzt seit drei Jahren. Wahrscheinlich ist sie sogar eine hervorragende Maklerin, und sie ist sehr nett.« »Möglich«, sagte er wenig überzeugt. »Egal, im Moment ist noch keine Eile geboten. Ich gehe damit jedenfalls auf Tauchstation. Denk dran, wir haben uns nie darüber unterhalten.« »Sieh lieber zu, daß du dem Hund nichts antust«, sagte sie. Lake legte auf und grübelte: Sollte das eine Drohung gewesen sein?
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An einem Donnerstag Ende Mai fuhr er nach Chestnut Hill hinaus, um sich vor seinem Umzug nochmals dort umzusehen. Inzwischen war er der rechtmäßige Besitzer der Peal Avenue Nr. 73 einschließlich des gesamten Mobiliars und der gesamten Ausstattung geworden plus eines entbehrlichen Hundes. Er kam sich wohlhabend vor. InstruX flo rierte. Mit dem Reinerlös aus dem Verkauf des Hauses wäre seine Li quidität auf einen Schlag gesichert. Auf der Fahrt stellte er sich sein zukünftiges Ich im weichen Ledersitz einer großen flüsterleisen Mer cedes-Limousine vor, mit Vivaldiklängen aus den Stereolautsprechern und einigen hundert Pferdestärken unter dem Hintern. Auch etwas Sportlicheres – vielleicht ein Porsche, vielleicht rot – würde ihm gut zu Gesicht stehen. Vielleicht sollte er mal wieder verreisen. Mit Ellen im kommenden Winter in Skiurlaub fahren; vielleicht wäre auch Sport tauchen in warmen Gewässern angesagt. Die Karibik winkte, durch flutet von Sonne und Rum. Bis es soweit war, würde er das Haus wie ein Unternehmen führen. Er beschloß, auf den Gärtner zu verzichten und den Rasen selbst zu mähen. Mrs. Lundquist würde er auf zwei Tage die Woche reduzieren; das würde reichen, um das Haus kosmetisch sauber zu halten. Folglich müßte hauptsächlich er sich um den Hund kümmern, aber sein zu er wartendes Intermezzo als Hundebesitzer würde ihm nicht allzu viel abverlangen. Hunde schlafen viel. Sind beim Fressen nicht wählerisch. Werden nicht krank. Wollen nur ein-, zweimal am Tag Gassi gehen. Und ein so begriffsstutziger, lethargischer Hund wie Randall würde ihm schon überhaupt keine Scherereien machen. Mit seinem Schlüssel verschaffte er sich Zutritt zum Haus. »Mrs. Lundquist?« rief er. Im Haus war es still und kalt. Nach einer Weile hörte er Schritte, die sich dem oberen Treppenab satz näherten. Mrs. Lundquist linste herunter. »Ja?« Lake hätte zu gern gewußt, was sie da oben machte. Warum hielt sie sich ständig oben auf? »Wie geht es Ihnen?« fragte er leutselig. »Mir geht es gut, danke.« »Hätten Sie einen Augenblick Zeit?« 33
»Ja.« Sie kam die Treppe herunter. »Wo ist Randall? Wie üblich in der Küche?« »Ja.« »Vielleicht gehe ich mit ihm spazieren. Morgen werde ich endgültig einziehen, Mrs. Lundquist. Fürs erste bringe ich nur meine Garderobe mit. Wahrscheinlich werde ich einen Architekten kommen lassen, der sich das Haus ansehen soll, bevor ich meine Möbel herschaffe. Ich habe eventuell vor, hier einiges zu verändern.« »Ach so.« »Ich möchte mit Ihnen aber über ein anderes Thema sprechen. Ich werde Sie keine fünf Tage die Woche brauchen. Tut mir leid, wenn ich so mit der Tür ins Haus falle, aber ich halte nichts davon, um den heißen Brei herumzureden.« Er beobachtete sie aufmerksam. Ihr Gesicht blieb ausdruckslos. »Ich führe ein viel selbständigeres Leben als meine Tante. Das werden Sie sicher verstehen. Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, daß Sie während der Übergangszeit täglich hier waren, aber ich denke, daß von jetzt ab zwei Tage die Woche reichen werden. Sagen wir Montag und Freitag. Ab nächster Woche. Die nächsten zwei Wochen bekommen Sie aber trotzdem noch Ihr volles Gehalt. Was halten Sie davon?« »Ach so.« »Ach so, was?« »Ich muß darüber nachdenken.« »Wann können Sie mir Bescheid geben?« fragte er. »Falls Sie nicht damit einverstanden sind, würde ich es natürlich verstehen.« »Vielleicht möchten Sie lieber jemand anderen.« »Nein, nein, das ist es nicht – Sie sind wirklich perfekt. Ich bin si cher, daß Sie ausgezeichnet arbeiten. Das ist ja auch nicht zu überse hen. Aber ich führe ein anderes Leben als meine Tante.« Und damit sie es nicht falsch auffassen konnte, setzte er hinzu: »Ich bin daran ge wöhnt, für mich zu sein. Ab und zu macht mir ein bißchen Sauberma chen sogar Spaß. Es ist eine schöne Abwechslung.« Sie starrte ihn an. »Wenn ich mich tüchtig ins Zeug lege«, sagte er, »sollten zwei Tage die Woche eigentlich reichen.« 34
»Dies ist ein großes Haus.« »Denken Sie darüber nach und geben Sie mir Bescheid. Ich bin heu te nachmittag und morgen im Büro. Vermutlich werden Sie ja morgen kommen, oder?« Sie antwortete nicht. »Hier ist meine Karte.« Mit spitzen Fingern nahm sie die InstruX-Karte entgegen – offen bar vermutete sie Sprengladungen oder winzige Rasierklingen, Curare oder Botschaften vom Antichristen auf dem Karton. »Ich gehe jetzt mit Randall spazieren«, sagte er. »Wohin gehen Sie normalerweise mit ihm?« »Ich lasse ihn in den Hof hinaus.« »Weiter kommt er gar nicht?« »Nein.« »Und wie lange lassen Sie ihn draußen?« »Zwanzig Minuten am Morgen und zwanzig Minuten, bevor ich gehe.« Aha, dachte Lake. Das Hundeproblem ließe sich vielleicht ganz schnell lösen: Tor auf und Randall in die Außenwelt entlassen. Ein harmloses Versehen, das jedem unerfahrenen Hundebesitzer leicht unterlaufen kann. »Vielen Dank, Mrs. Lundquist. Sie waren sehr verständnisvoll.« Er ging in die Küche. »Hallo, Randall«, sagte er. Der Hund lag auf dem Fußboden, versunken in seiner üblichen Apathie. Er machte sich nicht einmal die Mühe, mit dem Schwanz zu wedeln. »Wir haben ein Problem, Randall, und das Problem bist du«, sagte Lake. »Unsere ge meinsame Zeit wird nur von kurzer Dauer sein.« Um eine freundliche Atmosphäre zu schaffen, tätschelte er Randalls Kopf. Der Schädel war ziemlich klein, viel Platz fürs Gehirn gab es nicht. Vielleicht neun Zehntel der Gehirnmasse dienen der Analyse von Gerüchen. Das verbleibende eine Zehntel muß für alle anderen Sinne und eventuell vorhandene logische Funktionen herhalten. Lake schätzte, daß nur etwa ein Hundertstel des Gehirnvolumens der Pflege von Beziehungen zu anderen Kreaturen, beispielsweise Menschen, zu 35
geordnet werden konnte. In Anbetracht des Fassungsvermögens von Randalls Schädel war sein goldfischähnliches Verhalten wahrlich nicht überraschend. »Komm«, sagte er. Randall folgte ihm zur Haustür und trottete die Treppe hinunter auf den Rasen. »Denk dran«, mahnte ihn Lake, »die Freiheit ist ein kostbares Geschenk.« Randall hob das Bein an einem Buchsstrauch, drehte sich um, be schnüffelte das Gras und betrachtete die Gegend. Ab der vorderen Treppe hatte er bislang eine Strecke von ungefähr zwei Metern zurück gelegt. Lässig spazierte Lake auf das Gitter zu, öffnete es und trat zur Seite. Randall nahm von dem Tor zur Freiheit keinerlei Notiz. Seine Begriffsstutzigkeit war ein Problem. Randall widmete sich der Untersuchung der Büsche an der rechten Seite des Hauses, entzifferte durch zielsichere Nasenarbeit die Botschaf ten auf Blättern und Erdreich. Inzwischen inspizierte Lake die Umge bung des Anwesens, suchte nach Schwachstellen im Zaun, nach irgend etwas, das dem Verschwinden eines Hundes förderlich sein könnte, selbst wenn sich Randall kaum aus eigener Kraft aus dem Staub ma chen würde. Der Zaun war absolut intakt. Im Garten standen kleine Büsche und blühende gelbe und rosa Din ger, auch ein paar große blaue Dinger, die Beete waren sorgfältig be grenzt und gejätet. Eine wahre Augenweide. Er setzte sich auf die Ter rasse, stellte sich vor, wie seine Tante sich den Nachmittag mit einem Buch vertrieb, an ihrem Tee nippte und ab und zu ein freundliches Wort an den Springer-Spaniel richtete, der zu ihren Füßen ruhte. Er sah das Bild in Mezzotintomanier, eine Szene aus längst vergangenen Zeiten. Der wahrscheinlichste und passendste Käufer dieses Hauses dürfte ein älteres Semester sein, ein bißchen müde, schon abgekehrt vom Trubel der Welt. Was ihn selbst betraf, würde er einen mehr oder weniger flüchtigen Moment in der Geschichte dieses Hauses markie ren, eine Art Katalysator, der in dem Moment entschwand, in dem die Peal Avenue Nr. 73 in adäquate Hände fällt. Genau von diesem Stand punkt aus mußte man es betrachten, dachte er; der Verkauf des Hauses würde die natürliche Ordnung der Dinge wiederherstellen. 36
Nach einer Weile holte er Randall ins Haus. Er hörte ein leises Klin geln und beugte sich zum Hund hinunter, um das Geräusch zu orten. Vom Halsband des Hundes baumelte eine Plakette: RANDALL Mrs. Ilsa Grinnell, Peal Avenue Nr. 73, Philadelphia PA 19.118. Die Plakette mußte verschwinden. Bevor er die Küchentür schloß, sagte er: »Bald wirst du ganz lange Gassi gehen können, Randall.« Der Hund wedel te mit dem Schwanz. Lakes nächstes Ziel war ein Eisenwarenladen, der Rasenmäher im Angebot hatte. Die Auswahl war größer als vermutet, und die Preis schilder versetzten Lake in ehrfürchtiges Staunen. Während er die lan ge Reihe der ausgestellten Geräte abschritt, näherte sich ein Verkäu fer. »Kann ich Ihnen helfen?« »Ich brauche einen Rasenmäher.« »Wie groß ist denn Ihr Rasen?« »So um die zweitausend Quadratmeter.« »Dieser Traktor hier ist ein echter Verkaufsschlager.« »Ich brauche keinen Traktor.« »Dann einen motorgetriebenen Rasenmäher«, schlug der Verkäufer vor. »Dieser hier hat einen sehr leistungsfähigen Motor.« Er deutete auf einen robusten, roten Rasenmäher mit Auffangkorb für das gemäh te Gras. »Haben Sie denn keine normalen Rasenmäher, so Dinger, die man vor sich herschiebt?« erkundigte sich Lake. »Einen mechanischen Mäher?« fragte der Verkäufer indigniert. »Die gibt's in einer anderen Abteilung. Aber so etwas wird für Ihren Rasen kaum reichen.« »Ich schaff das schon.« Fünf Minuten später war Lake stolzer Besitzer eines mechanischen Rasenmähers, der weniger gekostet hatte als ein einziger Einsatz des Gärtners, umweltfreundlich war und dem Anwender noch dazu ein kostenloses Fitnesstraining bescheren würde. Er fuhr zurück in die Peal Avenue, packte den Mäher in der Garage aus, schraubte den Griff an und trug das Gerät zum Testmähen in den Garten. Das sanfte, 37
schleifende Geräusch der Schermesser klang wie Musik in seinen Oh ren. Er freute sich darüber, wie das Gras in die Luft geschleudert wur de, während die Räder über den Rasen rollten und die Messerklingen rotierten. Ein richtiger Test war das noch nicht, weil der Rasen erst vor zwei Tagen gemäht worden war, aber er hatte genug gesehen, um über zeugt zu sein, ein Gerät mit ausgefeilter Technik gekauft zu haben. Allerdings schaffte der Rasenmäher keine sehr breiten Bahnen. Lake hatte entlang der Kante eines Blumenbeetes und wieder zurück ge mäht und die Überlappung falsch eingeschätzt; zwischen den gemäh ten Bahnen blieb ein Streifen zurück, nicht unähnlich einer Irokesen frisur. Er mähte den Streifen ab, und nach ein paar weiteren Bahnen war sein Hemd durchgeschwitzt. Ein rascher Blick auf die noch unge mähte Grasfläche – den Rasen vor dem Haus noch nicht mitgerech net – überzeugte ihn davon, daß es ein schlechter Schachzug wäre, auf den Gärtner zu verzichten. In der Garage stellte er den Mäher in eine Ecke, machte sich auf den Weg ins Büro und tröstete sich damit, daß kleinere Fehlkalkulationen bei allen größeren Kampagnen passieren können. Was allein zählt, sind die großen Entscheidungen.
An diesem Nachmittag rief Mrs. Lundquist nicht an. Am nächsten Morgen fuhr Lake in die Peal Avenue, um Randall zu füttern für den Fall, daß sie es vorgezogen hatte, nicht zu erscheinen. Aber als er die Tür aufsperrte, war sie gerade dabei, im Wohnzimmer Staub zu wi schen. »Guten Morgen«, sagte er. »Guten Morgen.« »Ich hatte gehofft, daß Sie sich melden würden.« »Ich wollte Ihnen eine Nachricht hinterlassen.« »Was wird auf der Nachricht stehen?« »Ich werde am Montag da sein.« »Gut. Freitag auch?« »Ja.« 38
»Gut.« »Ich habe mit Mr. Vere gesprochen«, sagte sie. »Weshalb?« fragte Lake. »Vere ist jetzt nicht mehr von Belang. Er hat nichts mehr mit diesem Haus zu tun.« »Er ist sehr rücksichtsvoll.« »Das weiß ich, aber er hat hier nichts mehr zu sagen. Dies ist eine Angelegenheit zwischen Ihnen und mir.« »Mr. Vere hat mich vor ein paar Wochen angesprochen. Er bat mich, ihn anzurufen, falls sich an meiner Arbeit hier etwas ändern sollte. Mrs. Vere hätte gerne eine zusätzliche Haushaltshilfe.« »Was hat Mrs. Vere damit zu tun?« »Ich werde dienstags, mittwochs und donnerstags bei ihr arbeiten.« »Sie werden für die Veres arbeiten?« »Dienstags, mittwochs und donnerstags.« Er versuchte diese unglaubliche Neuigkeit zu verdauen. Vere hatte seine Haushälterin bestochen. Er hatte sie angestellt und würde sich über Lake auf dem laufenden halten können, ohne auch nur einmal den Telefonhörer in die Hand nehmen zu müssen. Einen Augenblick lang dachte er daran, Mrs. Lundquist auf der Stelle zu feuern, aber was hätte er schon für Gründe? Illoyalität konnte er ihr nicht vorwerfen. Auch konnte er ihr kaum damit kommen, daß er sich entschlossen hätte, das Haus nun doch eigenhändig sauberzumachen. »Das ist sehr nett«, sagte er. »Mrs. Vere hat Probleme mit den Beinen. Sie hatte einen Autoun fall.« »Davon habe ich gehört.« »Bekomme ich für die nächste Woche noch mein volles Gehalt?« »Volles Gehalt?« »Sie hatten gesagt, daß Sie mir in der nächsten Woche auch die drei Tage, die Sie mich nicht benötigen, zahlen würden.« »Ach so, ja.« »Und ich brauche noch Bohnerwachs und Spülmittel.« »Ich werde es besorgen. Schreiben Sie auf, was fehlt. Ich kaufe es am Wochenende ein.« 39
Sie widmete sich wieder ihrem Staubwedel. Lake ging, ohne nach Randall zu sehen. Er hatte eine solche Wut im Bauch, daß er versucht war, die Spazierengehen-und-Hund-verlieren-Variante fallenzulassen und auf einen Plan umzuschwenken, der mit Gewalt zu tun hatte. Er war geneigt, schon bald zuzuschlagen.
3
A
n diesem Tag klappte rein gar nichts. Vor Lake lag der vom Kun den gelieferte Entwurf einer Montageanleitung für ein Gartengrillgerät. Das Rohr der Rohrverzweigung sollte in die rechte vordere Aussparung gleiten, die Zünddrähte hängen dabei lose unter dem Brenner (falls zu treffend). Wütend starrte er auf den Text. Es würde ihm nichts anderes üb rigbleiben, als Danny zum Kunden zu schicken, um den Kern dieser kryptischen Aussage zu erforschen. Anmerkung: Der vordere Flansch sollte von unten an der Kante des Pfostens hervorstehen, wenn er gedreht wird, um in den hinteren Flansch einzurasten. Das Problem waren nicht die Reisekosten, denn die würde er dem Kunden aufbrummen, aber Lake hätte Danny gern im Büro gehabt, solange das Computerprojekt noch nicht abgeschlossen war. Wie die Dinge lagen, würden die Verhandlungen mit den Softwareingenieuren an Lake hängenbleiben. Er beschloß, alle Telefongespräche mit ihnen aufzuzeichnen; Danny würde sie später interpretieren müssen. Dichten Sie die Verbindungen mit einer Masse ab, die gegen flüssige Petroleumgase oder andere chemische Bestandteile der Gase resistent ist. Genervt schob er den Entwurf zur Seite; er hatte drängendere Pro 40
bleme, mit denen er sich herumschlagen mußte. Die Lundquist-VereAllianz erwies sich als ernsthafte Komplikation. Für Mrs. Lundquist wäre es ein leichtes, Vere regelmäßig mit Informationen über Lakes Aktivitäten zu füttern – wie er den Hund behandelte, ob er tatsächlich im Haus wohnte oder nur so tat als ob –, nichts würde verborgen blei ben. Zweimal die Woche, montags und freitags, hätte Lake eine Viper im Haus, die überall herumschlängelte, züngelte; nichts würde ihr ent gehen. Dreimal die Woche würde die Viper mit haarsträubenden Ge schichten zu den Veres hinüberschleichen. Hatte Vere dieses Manöver etwa von vornherein geplant? Nein, für so gerissen hielt er den Testa mentsvollstrecker nun doch nicht. Er rief Ellen an. »Hallo! Viel zu tun?« »Ziemlich.« »Mußt du heute wieder länger arbeiten?« »Viel länger.« »Ruf mich später an, wenn du kannst. Ich bin heut Abend in Tan tes Haus.« »Du meinst wohl, in deinem Haus.« »Ich meine, in meinem Haus.« »Ich versteh immer noch nicht, warum es dich dorthin zieht, wo du es doch ohnehin verkaufst.« »Ich will wissen, was ich verkaufe. Ein Ende ist ja abzusehen.« »Am Ende verliebst du dich noch ins Haus.« »Bestimmt nicht.« »Ich find's irre.« »Um so schneller wird es sich verkaufen lassen.« »Ich muß wieder an die Arbeit«, sagte Ellen. »Tschüs. Ach, Moment noch.« Er wartete einen Moment, hoffte, daß sie es sich überlegt hatte. »Mir ist gerade 'ne Idee gekommen«, sagte sie. »Sehr gut«, meinte er. »Nein – nicht, was du glaubst. Hör zu: Du hast ein Haus. Du ziehst dort ein. Das gehört doch eingeweiht.« »Wie, eingeweiht?« 41
»Na, mit 'ner Party.« »Ich will keine Party.« »Wir geben eine Party in deinem neuen Haus.« »Ellen, nein!« »So, jetzt muß ich aber Schluß machen.« »Keine Party«, sagte er. »Es wäre pietätlos. Vielleicht in ein paar Mo naten, aber jetzt nicht. Keine Party.« »Denk darüber nach«, meinte sie.
Als er die Haustür aufschloss, war seine Laune so im Keller, daß er kei ne Lust mehr hatte, nach Randall zu sehen. Er schaute sich im Fern sehen die Nachrichten an, die Besprechungen der neuesten Filme und die lokalen Meldungen. Nach einer Weile tat ihm der Hund doch leid, und sein schlechtes Gewissen vermieste ihm den berechtigten Zorn auf Mrs. Lundquist, Vere und selbst auf Ellen. Er ging in die Küche, ließ Randall ohne ein Wort der Begrüßung heraus und setzte sich wieder in die Bibliothek. Randall tappte hinter ihm her, legte sich vor Lakes Füße, rollte sich ein und klappte die Augen zu. »Mach dir's nur nicht zu gemütlich«, sagte Lake. Er nestelte an Randalls Halsband, drehte die Hundemarke ab und steckte sie in die Hosentasche. »So. Jetzt ge hörst du niemandem«, sagte er. »Du bist der Hund vom Niemand.« Später stöberte er aus purer Langeweile in den Schränken unter dem Bücherregal herum. Er fand säuberlich etikettierte Mappen und Schuhkartons – Tante Ilsas Archiv. Einige enthielten Steuer- und Fi nanzunterlagen, die er sich irgendwann mal zu Gemüte führen woll te; heute hatte er keine Lust dazu. In einem anderen Karton hatte sie ausführliche Reiseliteratur über so unwirtliche Landstriche wie Grön land und die Färöer-Inseln gesammelt, Reiseziele, die Tantes Tempera ment allerdings durchaus entsprachen. In einem anderen Karton sta pelten sich Monatshefte eines Gartenvereins. Er blätterte in Mappen mit Informationsmaterial von Tierheimen und in Schnellheftern mit Zeitungsausschnitten, in denen es hauptsächlich um das Verhalten 42
von Hunden ging. Die Ränder der einzelnen Artikel hatte Tante Ilsa mit Kommentaren bekritzelt: Genau oder blödsinnige Schlussfolgerung oder Springer viel besser. In vielen Kartons lag Korrespondenz – hauptsächlich Briefe von Freunden, alles chronologisch geordnet. Nette Belanglosigkeiten, nicht besonders interessant. Einer der Kartons war etikettiert mit: »Institut für das Verständnis von Tieren.« Das klang schon vielversprechender: Er holte den Karton heraus und setzte sich damit an den Schreibtisch. Als Absender stand auf den Briefen: Institut für das Verständnis von Tieren, und sie waren von einem Mann namens Ernest Jeffords unter schrieben – offensichtlich der Direktor dieser Organisation. Lake be gann zu lesen: Liebe Mrs. Grinnell, erlauben Sie mir zunächst, Ihnen meinen aufrichtigen Dank für Ihre überaus großzügige Zuwendung zugunsten unserer diversen Forschungsvorhaben auszusprechen. Wir wissen Ihre Unterstützung unserer Arbeit außerordentlich zu schätzen. Die Forschung auf dem Gebiet der Kommunikation mit Tieren hat inzwischen eine überaus fruchtbare Stufe erreicht, und wir vertrauen – wie Sie wissen – unein geschränkt auf die Mitarbeit von Dr. Stapleton. Ihre Spende wird ei nen bedeutenden Beitrag dazu leisten, uns seiner Bemühungen auch weiterhin versichern zu können. Lassen Sie mich sagen, daß das Institut Ihre Anregungen über die Intelligenz von Tieren für überaus wertvoll erachtet, ein Thema, das gemeinhin unterschätzt wird. Was Ihre eigene Wertschätzung an geht, so sind Sie viel zu bescheiden. Viele wichtige Fortschritte in un serem Verständnis der Natur wurden von Menschen erzielt, die kei ne wissenschaftliche Ausbildung genossen. Der britische Physiker Michael Faraday, der im neunzehnten Jahrhundert lebte, ist ein sol ches Beispiel. Wie Sie zweifellos wissen, hob er den Schleier von vie len elektrischen und magnetischen Phänomenen. Er besaß so gut wie keine formelle mathematische Ausbildung, aber seine intuitiven Fähigkeiten machten dieses Defizit bei weitem wett. Weshalb sollte es 43
sich auf Ihrem Forschungsgebiet nicht ähnlich verhalten? Ich war fasziniert, als ich las, worauf Sie achten, wenn Sie ein neues Hundebaby auswählen. Einen Wurf von sechs Wochen alten Welpen zu beobachten und irgendwie ›einfach zu wissen‹, was aus diesem oder jenem Welpen einmal wird, ist, wie ich meine, eine Erfahrung, die viele von uns schon gemacht haben, ohne sie jemals zufrieden stellend erklären zu können. Recht ungewöhnlich ist es, daß Sie die sem intuitiven Prozess so großes Gewicht beimessen. Bis jetzt war mir nicht bekannt gewesen, daß Sie es vorziehen, immer nur einen einzigen Hund zum Lebensgefährten zu wählen. Daher muß die Auswahl eines einzelnen Welpen aus einem Wurf eine außerordent lich intensive Erfahrung für Sie sein, zumal so viel davon abhängt. (Ich selbst habe vier Hunde unterschiedlicher Rassen; der älteste ist mittlerweile zwölf, der jüngste ein Jahr alt.) Ich bin erfreut über Ihre Aussage, daß Sie sich noch nie geirrt haben. Was mich betrifft, so muß ich gestehen, daß ich mich mehr als nur einmal geirrt habe, al ler Wahrscheinlichkeit nach deshalb, weil ich mir nicht zugestand, »es einfach zu wissen«, sondern, ohne zu wollen, den Verstand ein schaltete, das Für und Wider abwog und ähnliches mehr. Sie beschreiben die Auswahl eines Welpen als ›gegenseitiges Erkennen‹, als ›Signal‹. Ich würde von Ihnen gern mehr über die ses Thema hören. Wir wissen, daß sich Tiere und Menschen auf eine Weise verstehen, die fast schon als telepathisch bezeichnet wer den darf. Ihre These vom ›Erkennen‹ ist tatsächlich atemberaubend. Nicht ganz verstanden habe ich Ihre Aussage zu einem ähnlichen ›Erkennen‹, als Sie Ihr Sommerhaus in Maine erwarben. Wollten Sie damit ausdrücken, daß Sie immer dann ›Signale‹ spüren, wenn Sie für Ihr Leben wichtige Entscheidungen zu treffen haben? Mit größtem Vergnügen würde ich von Ihnen in aller Ausführlichkeit hören, ob Sie tatsächlich mit dieser Gabe gesegnet sind. Niemand würde es mehr verdienen als Sie. Natürlich werde ich Sie stets über die Aktivitäten des Instituts und insbesondere über die Fortschritte von Dr. Stapleton auf dem laufenden halten. In der Zwischenzeit darf ich Ihnen nochmals sehr herzlich für Ihre Großzügigkeit dan 44
ken und auch dafür, daß Sie unsere Sache so freundlich und so uner schütterlich unterstützen. Mit freundlichen Grüßen Ernest Jeffords Dieser Mann, vermutete Lake, war geradezu süchtig nach Tantes Geld. Was würde er nicht alles tun, um den Geldfluß in seine Richtung zu lenken! Der nächste Brief datierte einen Monat später. Liebe Mrs. Grinnell, entschuldigen Sie bitte die verspätete Antwort auf Ihren Brief. Eine Erklärung dafür ist die regelmäßige Arbeitsüberlastung in dieser Jahreszeit und eine andere, daß ich mich zunächst ausführlich mit Ihren weiteren Anmerkungen zum Thema ›Signal‹ oder ›Erkennung‹ auseinandersetzen wollte. Ich muß gestehen, daß diese Themen den Rahmen meiner üblichen Studien sprengen. Dennoch fühle ich mich geschmeichelt, daß Sie der Ansicht sind, ich könnte etwas dazu beitra gen. Vorbehaltlich Ihrer Richtigstellung will ich den von Ihnen geschil derten Ablauf der Geschehnisse aus meiner Sicht zusammenfassen: Sie und Ihr Ehemann verbrachten bereits seit mehreren Jahren den Sommer in Maine, und in dieser Zeit wurde Ihr Interesse an der Geschichte dieses Landes geweckt, insbesondere an seiner frühen Geschichte. Eines Tages – Sie unternahmen gerade einen Spaziergang auf einer Landzunge – »spürten« Sie ein Signal. (Sehr interessant üb rigens, daß Sie dafür das Wort spürten wählten.) Sie spürten also, daß etwas auf diesem Land war, eine ›Präsenz‹. Danach fanden Sie heraus, daß dieses Anwesen zum Verkauf stand, und Sie erwarben es in dem Bewußtsein, daß dieses Grundstück für niemand anderen als Sie selbst bestimmt war. Möglicherweise habe ich die einzelnen Begebenheiten etwas durch einandergebracht, denn Ihr Brief weist einen ganz besonderen Stil auf – ich möchte sogar sagen, es ist ein Brief voller Poesie, natürlich im besten Sinne dieses Wortes. Ich war mir zum Beispiel nicht sicher, 45
was Sie mit einem ›Feld verborgenen Lebens‹ meinten, obwohl Sie mit Ihrer Bemerkung natürlich völlig richtig liegen, daß Michael Faraday ebenfalls unsichtbare Felder studiert hatte – elektrische in diesem Fall. Auch verstand ich Ihren Bezug zu dem Begriff ›Pinecroft‹ nicht recht. Steht ›Pinecroft‹ vielleicht in irgendeinem Zusammenhang mit der Küste? Ist es ein Haus? Sie mutmaßen richtig, daß ich mich für historische Dinge interes siere. Die Geschichte von Maine ist in der Tat faszinierend, nicht zu letzt deshalb, weil die frühesten Kapitel so von Geheimnissen umwit tert sind. Ich halte es für denkbar, daß mit diesem Flecken Erde ein in dianischer Zauber verknüpft sein könnte. In diesem Zusammenhang darf ich vielleicht eine Reise irischer Mönche erwähnen, die angeblich lange Zeit vor Kolumbus, angeführt von St. Brendan, den Atlantik überquerten. Nach der Legende fuhren sie in einem kleinen Boot weit auf den Nordatlantik hinaus und strandeten an einer unbekannten Küste. Wenn ich mich recht erinnere, war ihr Abenteuer von vielen magischen Begebenheiten mit eher keltischem Einschlag begleitet, obwohl die Mönche natürlich Katholiken waren. Vielleicht gingen sie damals ja in Maine an Land. Und vielleicht liegt ja noch ein Hauch dieser Magie über der Küste, an der sie vor so vielen Jahren stran deten. Wer weiß? Vielleicht haben Sie diese Magie Jahrhunderte da nach noch gespürt. Diese Geschichte geht in eine ganz andere Richtung als unsere Forschungsarbeiten am Institut, aber das Phänomen des ›Erkennens‹ scheint tatsächlich auf Tiere anwendbar zu sein, wie Sie selbst schon in Ihrem sehr interessanten Brief über die Auswahl von Welpen dar legten. Ich hatte sogar den Eindruck, daß Ihre Gedanken zur Auswahl eines Haustieres vielleicht auf ein Forschungsprogramm hinzielen, welches das Institut ins Leben rufen und unterstützen könnte. Mit freundlichen Grüßen Ernest Jeffords Der nächste Brief folgte schon ein paar Tage später: 46
Liebe Mrs. Grinnell, ich kann nicht verhehlen, daß mich der Ton Ihres kürzlich eingegange nenBriefessehrgetroffenhat,undichmußmichgegenIhreAnschuldigung verwahren, daß (1) ich der Meinung sei, Sie wären römisch-katholischen Glaubens; (2) ich Ihnen unterstellen wollte, daß Ihre Vorfahren Iren wa ren. Es war nicht meine Absicht, eine Verbindung zwischen Ihnen und St. Brendan herzustellen. Vielmehr hatte ich über einen möglichen spi rituellen oder sogar übernatürlichen Aspekt der frühen Geschichte Maines nachgedacht. Daher bitte ich Sie, die vielleicht etwas unglückli che Formulierung zu entschuldigen. Um nichts in der Welt würde ich je manden brüskieren wollen, der so großzügig und so unerschütterlich zu unserer Sache steht und dessen Ideen mich immer schon stimuliert ha ben. Daß Sie stolz auf Ihre norwegischen Vorfahren sind, verstehe ich durchaus. Wußten Sie übrigens, daß sich im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung Skandinavier in Irland niedergelassen haben? Dublin war ursprünglich eine Wikingergemeinde. Wer wollte behaupten, daß in den Adern dieser kühnen Mönche, die über den Nordatlantik zu unbekann ten Küsten segelten, kein norwegisches Blut floss? Mit freundlichen Grüßen Ernest Jeffords Lake las weiter. Liebe Mrs. Grinnell, ich schreibe Ihnen in großer Eile, da ich im Begriff bin, für zwei Wochen nach Kalifornien zu fahren. Nein, es tut mir leid: Die Rasse der Springer-Spaniels stammt nicht aus Norwegen und auch nicht von den Wikingern, die sich in Irland niederließen. Alle Experten sind sich offensichtlich darüber einig, daß diese Rasse ihren Ursprung im mittelalterlichen Spanien hat. Freundlichen Gruß Ernest Jeffords 47
Die folgenden Briefe waren verzweifelte Versuche, das verlorene Wohl wollen wiederzuerlangen, ein Unterfangen, das offenbar Erfolg hatte, denn Tante Ilsa erkundigte sich bei Jeffords nach der Möglichkeit ei ner Reinkarnation von Hunden, und er versprach ihr, daß sein Institut diese sehr interessante These in ein Forschungsthema einbinden wür de – mit ihrer finanziellen Unterstützung selbstredend. Kopfschüttelnd schloß Lake den Karton.
In derselben Nacht wurde Lake von Träumen verfolgt. Der schreck lichste Traum handelte von einer surrealen Stadt. Im Traum sah er Pferde, Häuser, Straßen, Torbögen; aber sie hatten für Menschen kei nerlei Bedeutung. Es war eine Hundewelt: voller Gerüche, voller Ge fahren und voll von jagdbaren Sachen. Er zwang sich aufzuwachen, um diesem Traum zu entfliehen. Er starrte in die Dunkelheit und wußte, daß er sich auf fremdem Terrain befand. Die Tentakel des Traumes streckten sich wieder nach ihm aus. Er stieg aus dem Bett, wollte sich im Badezimmer kaltes Was ser übers Gesicht laufen lassen. Nach ein paar Schritten knallte er mit dem Kopf gegen die Wand. Dann erst fiel ihm ein, daß er in Tante Ilsas Schlafzimmer war. Wo lag das Badezimmer? Wo das Bett, von dem er gerade aufgestanden war? Ohne sich zu bewegen, versuchte er sich sei ne Umgebung zu vergegenwärtigen. Allmählich fügten sich die einzel nen Elemente zusammen: Das Bett stand hinter ihm. Das Badezimmer lag auf der anderen Seite des Bettes – alles genau seitenverkehrt zum Schlafzimmer in seiner Wohnung. Alles war verkehrt. Aber der Schlag gegen den Kopf hatte immerhin den Traum abgewehrt; er schlief bis zum Morgen durch und stand erst um acht Uhr auf. Ein In sekten- und Vogelkonzert erfüllte die Morgenluft. Er zog die Vorhänge zurück. Sonnenlicht flutete an ihm vorbei in jeden Winkel des Zimmers, klatschte von der Glasplatte der Frisierkommode zurück, brandete in der Tiefe des Spiegels. Nicht einmal an den sonnigsten Tagen konnte seine Wohnung mit einer solchen Fülle von Licht aufwarten. 48
Er ging die Treppe hinunter und kramte in den Küchenschränken nach Kaffee. Gähnende Leere. Überraschend war das nicht, ärgerlich aber trotzdem. Er machte sich auf die Suche nach Randall und fand ihn in der Bi bliothek, wo er seinen zehnstündigen nächtlichen Schlaf noch um ein kleines Morgennickerchen erweiterte. Lake ging an die Haustür, stieß sie auf, scheuchte Randall hinaus, schloß die Tür hinter ihm und ging wieder nach oben, um sich anzuziehen. Er fuhr zur Tankstelle, kauf te englische Muffins, Instantkaffeepulver und eine Zeitung. Als er zu rückkam, stand Randall an einem Azaleenstrauch, damit beschäftigt, den Boden mit seiner Nase staubzusaugen. Lake brühte sich eine Tas se Kaffee auf, röstete das Muffin und setzte sich mit der Zeitung auf die Terrasse. Randall kam herüber und setzte sich erwartungsvoll vor ihn hin. »Was gibt's?« fragte Lake. Randalls Blick durchbohrte Lake wie ein Laserstrahl. »Was möchtest du?« Als Antwort reicherte Randall seinen Blick mit Hoffnung und Ver langen an, mit durchschlagendem Erfolg. Lake brach ein Stück von sei nem englischen Muffin ab und gab es Randall. Der Hund verschlang es und wartete auf einen Nachschlag. »Schluß jetzt«, sagte Lake und schob die Zeitung zwischen sich und die flehenden Augen. Lake schlug den Immobilienteil der Samstagsausgabe auf. Er such te nach einer Anzeige, die auf Chestnut Hill paßte, aber er fand über wiegend Angebote für neue Häuser, mit ebenso schwülstigen wie ver führerischen Texten. Die Häuser überboten sich mit ihrer exklusiven Lage, großzügigen Foyers, Ballsälen von Wohnzimmern, fürstlichen Speisezimmern, großzügigen Treppenhäusern und luxuriösen Schlaf suiten. Und über dieser Phantasmagorie von Adjektiven schwelgten Federzeichnungen kuscheliger Eigenheime, ahornbeschatteter Kolo nialhäuser und säulenbestandener, georgianischer Villen mit zahllo sen Zimmerfluchten. Die Grundstücksflächen rings um diese Juwelen präsentierten sich den Anzeigen zufolge als vornehme Außenanlagen, 49
schier endlose Rasenflächen mit Zugang zu grenzenlosen Parkland schaften, Aussichten auf Gewässer, Verheißungen unangreifbarer Pri vatsphäre. Die Vision eines Wohnhimmels auf Erden. Aus den unergründlichen Tiefen seiner Erinnerung stieg ein Satz in Lakes Bewußtsein, den seine Vorschullehrerin einmal gesagt hat te. Lake sah sie vor sich: eine freundliche Frau mit sanfter Stimme. Sie hatte den Kindern erzählt, daß der Himmel ein glückliches Land wäre, wo jeder in einem großen Haus wohnen durfte. Einer aus der Klasse hatte die Lehrerin gefragt, wie viele Leute wohl in den Himmel pas sen mochten. »Alle«, hatte sie geantwortet, »aber nur, wenn sie artig sind.« Eine Zeitlang beobachtete er Randall. Der hatte sich inzwischen den Stamm einer riesigen Buche vorgenommen und konzentrierte sich auf seine Schnüffelarbeit. Lake nippte an seinem Kaffee, las den Sportteil, betrachtete die Blumen und ließ die Gedanken schweifen. Alles an dem Haus war verkehrt, aber es strahlte Frieden aus. Vielleicht soll te er nicht so oft herkommen. Frieden hat etwas Heimtückisches an sich. Friede ist das Gegenteil von Aktion. Ein Mann der Tat muß dar auf achten, sich vom Frieden zu distanzieren. Lake beschloß, den Hund den ganzen Tag im Garten zu lassen. Ein bißchen Überlebenstraining in der Wildnis könnte Randall nicht scha den, falls bei seiner Entsorgung etwas schiefgehen sollte. Er ging nach oben, um das Bett zu machen, falls er heute Abend mit Ellen nochmals ins Haus kommen sollte. Aber warum sollten sie herkommen? Er wür de viel lieber zu ihr nach Hause gehen. Er war gern in ihrer Wohnung. Aber sicherheitshalber machte er doch das Bett. Anschließend suchte er in den anderen Zimmern nach dem tragba ren Fernseher, den er irgendwo beim Rundgang durchs Haus gesehen hatte. Im allerletzten Zimmer am Ende des Flurs fand er ihn. Vermut lich hatte hier die Krankenschwester gewohnt, die seine Tante zuletzt gepflegt hatte. Vor dem Fernseher stand ein Lehnsessel. Das erklär te, weshalb Mrs. Lundquist so häufig hier oben zugange war. Er hät te wetten können, daß der eingestellte Kanal auf Seifenopern speziali siert war. Aber sicherheitshalber wollte er in der Programmzeitschrift 50
nachsehen. Die Frau war nicht dumm, aber er würde schon mit ihr fer tig werden und mit ihrem Auftraggeber auch. Das Schlüsselwort hieß Fehlinformation – Fehlinformation und eine natürliche Entwicklung der Gefühle. Er würde sie und Vere davon überzeugen, daß er die Peal Avenue Nr. 73 als sein endgültiges Domizil betrachtete. Mrs. Lundquist würde reichlich Gelegenheit bekommen, seine Freundlichkeiten gegenüber Randall zu registrieren – Freund lichkeiten, die allmählich zu wahrer Zuneigung würden. Und nach dem Verschwinden des Hundes würde sie Lakes Verzweiflung haut nah miterleben dürfen. Diese Tragödie wäre ein nur allzu verständli ches Argument dafür, daß Lake das Haus schnellstens verkaufen woll te. Selbst Vere würde einsehen, daß die Peal Avenue Nr. 73 – nachdem das Schicksal Tante Ilsas Wünsche demontiert hatte – nur noch ein Ort trauriger Erinnerungen sein könnte. Als ersten Schritt zur Vortäuschung eines bereits erfolgten Umzugs fuhr er zum Supermarkt, packte im Vorbeigehen Dosensuppen, Limo naden, Aufschnitt, Frühstücksflocken, Müllsäcke, Geschirrspülmittel und eine Anzahl anderer Lebensmittel und Haushaltswaren ein, die in keiner funktionsfähigen Küche fehlen durften. Er lud zwei Einkaufs wagen voll, genug, um einen langfristigen Aufenthalt zu suggerieren. Und zusätzlich zu dem ohnehin schon vorhandenen Vorrat an Hun defutter kaufte er noch einen weiteren, riesigen Sack, um jeden Zwei fel an seinen lauteren Absichten auszuschließen. Zehn Flaschen Putz mittel sollten Mrs. Lundquist das beruhigende Gefühl geben, daß Lake mit ihrer Mitarbeit bis ins hohe Alter rechnete. Die Anschaffungsko sten beliefen sich auf mehr als hundert Dollar, aber diese Ausgabe be trachtete er als gute Investition: Mrs. Lundquists Rapport würde von einem jungen Mann berichten, dessen hauswirtschaftliche Instinkte einen bemerkenswert sanften Übergang von einer kleinen Wohnung in ein großes Haus ermöglicht hatten. Nachdem Lake die Einkaufstüten ausgeladen hatte, fuhr er in seine Wohnung. Er packte gerade so viel Kleidung ein, wie nötig war, um die verwaisten Schränke und Kommoden im Schlafzimmer seiner Tante ihrer ursprünglichen Bestimmung zuzuführen. Bis er zum Haus zu 51
rückgefahren war und alles eingeräumt hatte, war es drei Uhr nach mittags. Er sah Randall draußen herumschnüffeln und machte sich auf die Suche nach einer Leine. Zeit, das Gelände zu erkunden. Am unverfänglichsten würde es vermutlich sein, Randall während eines ganz normalen Spazierganges zu verlieren. Hund und Herrchen würden Spazierengehen, im Einklang mit sich und der Welt; Herrchen läßt Hund von der Leine, um ihm eine Freude zu machen; Hund jagt hinter einem Tier her oder folgt einer Fährte, während Herrchen gera de nicht hinsieht; sobald Hund außer Sicht, macht sich Herrchen aus dem Staub, geräuscharm, aber flink wie ein Wiesel; Herrchen kommt nach Hause zurück, Leine in der Hand, besorgten Ausdruck im Ge sicht; hundemarkenloser Hund sucht sich neues Herrchen und lebt mit diesem glücklich und zufrieden bis an sein Lebensende. Natürlich mußte er darauf achten, die Leine weit genug vom Haus entfernt auszuklinken, damit der Hund nicht mehr zurückfand. Lake hatte keine Ahnung, was weit genug war, obwohl die Entfernung ange sichts Randalls niedrigem Intelligenzquotienten und seiner Lethargie bestimmt nicht groß sein mußte. Ziellos wanderte er mit dem Hund eine Viertelstunde lang durch die Gegend, um Randall keine Chan ce zu geben, sich den Weg einzuprägen. Aber der hatte mit Navigati on ohnehin nichts am Hut; er erlebte gerade eine Reihe von Abenteu ern – ein Eichhörnchen, einen Hund, der ihn anbellte, die spannende Lektüre der einen oder anderen Geruchsbotschaft. An etlichen Punk ten entlang des Weges fügte er seinem persönlichen Revier nach Lust und Laune weitere Territorien hinzu. Sie kamen an einen kleinen Park, und Lake erkannte sofort, daß dies der geeignete Platz war, an dem sich die Wege von Herrchen und Hund trennen sollten. Am hinteren Ende des Parks, hinter einer großen Wie se, lag ein Wäldchen: ideales, unübersichtliches Gelände. Hier könn te sich Herrchen unbemerkt davonstehlen. Und das Beste überhaupt: dieser Park wurde von vielen Hundebesitzern frequentiert, was bedeu tete, daß das Fehlen von Randalls Herrchen bestimmt schnell bemerkt und entsprechende Schutzmaßnahmen eingeleitet werden würden. Mitten auf der Wiese stand ein Mann mittleren Alters mit zwei 52
Mädchen, die wie Collegeschülerinnen aussahen. Ihre Hunde tobten um die Gruppe herum. Plötzlich riß Randall sich mit einem Ruck los und lief, die Leine hinter sich herziehend, auf einen großen, hellgelben Hund zu. Lake ließ ihm seinen Willen und gesellte sich zu den dreien. Er wollte herausfinden, ob jemand von ihnen Randall oder Tante Ilsa gekannt hatten. »Hi«, begrüßten ihn die Mädchen. Der Mann nickte Lake zu, warf einen Blick auf Randall und fragte: »Wie alt ist er?« Lake vermutete hinter dieser Frage eine für Hundebesitzer typische Gesprächseinleitung. »Fünf, fast sechs«, gab er zur Antwort. »Und wie alt ist Ihrer?« »Der ist schon ein alter Haudegen«, sagte der Mann und betrachtete liebevoll seinen Hund, ein großes Tier mit rötlichem Fell, durchsetzt mit silbrigen Fäden. »Fast zwölf.« »Ganz schön alt«, bemerkte Lake. »Aber noch immer gut auf den Beinen«, sagte der Mann, als müß te er sich rechtfertigen. »Läufst immer noch gern, was, Alter?« Lake konnte beim besten Willen nicht erkennen, daß der Hund die Ansicht seines Herrn teilte. Er rührte sich nicht vom Fleck, als ihm der Mann den ergrauten Kopf kraulte. Eines der Mädchen fragte: »Wie heißt Ihr Hund?« Das rote T-Shirt stand ihr ausgezeichnet. »Randall. Und Ihrer?« »Chloe.« Chloe war der hellblonde Hund, der es Randall offenbar angetan hatte und den er im Moment ungeniert beschnüffelte. »Hübscher Name«, meinte Lake. »Was für eine Rasse ist das?« »Gelber Labrador«, erklärte sie in einem Ton, der ihm klarmachte, daß dies für jemanden, der sich Hundebesitzer nannte, eine ziemlich dämliche Frage war. »Ich kenne mich mit Hunden nicht so gut aus«, bekannte Lake. »Ihr Springer ist ein wunderschönes Tier.« »Ja, geht so. Ich hab ihn momentan zur Pflege. Haben Sie ihn in die sem Park schon mal gesehen?« 53
»Kann mich nicht erinnern«, sagte sie. »Nein, ganz bestimmt nicht.« Lake wollte sich gerade wieder verabschieden, als sie sagte: »Ich bin Holly. Und das ist Tina. Wir wohnen zusammen.« »Ich heiße Luke.« Holly war freundlich, vorlaut und diejenige, die das große Wort führte. »Der Park hier ist wirklich ideal für Hunde«, schwärmte sie. »Ich bin so gut wie immer da.« »Auch an den Wochenenden?« »Über zu wenig Freizeit kann ich mich nicht beklagen. Ich bin Ae robic-Instrukteurin. Obwohl ich mir überlege, vielleicht nächstes Jahr wieder auf die Schule zu gehen.« »Ich mach auch so was Ähnliches.« »Hab ich dich schon mal im Fitneßclub in Wyndmoor gesehen?« »Nein. Ich will damit nur sagen, daß ich mich ebenfalls mit Instruk tionen beschäftige. Ich mache Betriebsanleitungen. Für allen mögli chen Kram.« »Was für Kram?« »Ach, alles mögliche«, sagte er. In Anbetracht seines zukünftigen Vorhabens hielt er es für besser, nicht über sich selbst zu sprechen. »Wie alt ist Chloe?« fragte er. »Etwas über zwei.« Er warf einen Blick zu den Hunden hinüber und sah, daß Randall seine Frühlingsgefühle schamlos an der Hündin auszuleben versuch te. »Ich muß mich für seine schlechten Manieren entschuldigen. Er hat ein ungestümes Temperament.« »Ist schon gut. Mein Hund kann sehr gut auf sich selbst aufpassen.« Im selben Moment fuhr Chloe herum und stürzte sich knurrend auf Randall. Er hopste aus dem Weg, nur um sich gleich darauf wieder an sie heranzumachen. »Habt ihr hier schon mal streunende Hunde gesehen?« fragte er. »Das Gelände ist ja ziemlich weitläufig.« »Wie meinst du das?« »Na, ob der eine oder andere seinem Herrchen schon mal abhanden 54
gekommen ist – ich meine, ob so ein Hund im Wald herumstreunen und die Orientierung verlieren könnte?« »Nee, so was hab ich noch nie gehört, ich könnt's mir allerdings gut vorstellen. Einmal ist Sable abgehauen – Tinas Hund.« »Aber er war nur eine Stunde weg«, mischte sich Tina ein. »Er ist hinter 'nem anderen Hund hergerannt. Ich hab mit dem Auto die gan ze Gegend abgesucht. Ich hab ihn entdeckt, als er gerade hinter 'nem Supermarkt verschwinden wollte.« »Hat er denn nicht versucht, nach Hause zu finden?« »Ich glaub, er hat die Panik gekriegt. Ich war vielleicht fertig! Sable ist nämlich mein kleiner Süßer, nicht wahr, Sable?« Sable war schwarz und wild, mit Raubtieraugen. »Keine Ahnung, was Randall in so einem Fall machen würde«, mur melte er. »Er trägt doch eine Hundemarke, oder?« erkundigte sich Holly. »Noch nicht. Ich muß ihm erst eine besorgen.« »Er ist wirklich ein besonders schöner Hund. Sieh zu, daß du dir schleunigst 'ne Marke zulegst. Bestimmt wären viele Leute scharf auf so 'nen Hund.« »Willst du damit sagen, daß sie vielleicht gar nicht nach dem Besit zer suchen würden?« »Vielleicht«, sagte Holly. »Aber sie würden doch bestimmt alles tun, damit sich der Hund wohl fühlt, oder?« Holly warf ihm einen merkwürdigen Blick zu. Tina sagte: »Am mei sten Angst hatte ich davor, daß ihn ein Auto überfährt.« »Ich würde Randall nicht gerade als hochintelligenten Hund be zeichnen«, sagte er, »aber Autos kennt er.« Er bemerkte, daß andere Hundebesitzer sich näherten. »So, jetzt muß ich aber los. Komm, Randall.« Er packte die Leine und zerrte den Hund von Chloe fort. »Tschüs, Luke.« »Tschüs, Holly. Tschüs, Tina.« Auf dem Heimweg ließ er die Unterhaltung nochmals Revue passie 55
ren und kam zu dem Schluß, die Befreiungsaktion an einem Wochen ende stattfinden zu lassen, wenn viele Leute im Park unterwegs wären. Im schlimmsten Fall würde Randall in einem Tierheim landen, wo er mit Sicherheit Adoptiveltern finden würde. Aber vielleicht würde ihn auch einer der Hundebesitzer mitnehmen. Ein so wertvoller Ras sehund ohne Hundemarke hätte bestimmt keine Probleme, ein neues Herrchen zu finden. Alle Fakten deuteten auf eine schnelle Eingewöh nung in ein neues Zuhause, eine insgesamt liebevollere Umgebung, in der man seine Anwesenheit als Glücksfall betrachten würde.
Später in der Bibliothek plagten Lake Gewissensbisse. Wenn er den Hund im Park aussetzte, schwanden seine Chancen, ein hübsches Haus im Himmel zu ergattern; so viel war sicher. Und er mußte im mer damit rechnen, daß Randall irgend etwas Dummes anstellte und sich dabei verletzte. Natürlich war Tante Ilsa schuld an dieser verfah renen Situation. Dadurch, daß sie Hunde über Menschen stellte, hatte sie eine unmögliche Bindung geschaffen. Während Lake die moralischen Aspekte erwog, tappte Randall zum Ledersessel hinüber und stellte sich davor. Über die Schulter warf er Lake einen spekulativen Blick zu. Dann schaute er wieder den Ses sel an. Dann wieder Lake; offensichtlich überlegte er etwas. Fasziniert beobachtete Lake den Hund. Plötzlich hopste Randall auf den Sessel, rollte sich zusammen und schloß die Augen, als wollte er – obwohl er gerade direkt unter den Augen der Gesetzeshüter ein Verbrechen be gangen hatte – damit klarstellen, daß jeglicher Protest sinnlos war und er den Fall als abgeschlossen betrachtete. Lake bewunderte Randalls Nerven. Unter Tante Ilsas strengem Re giment war die Beschlagnahme eines Sessels bestimmt ein Verbrechen gewesen. Randall hatte den neuen Besitzer als liberaler eingestuft. Der Hund hatte erstaunlichen Scharfsinn bewiesen. Während Lake über die Strenge seiner Tante reflektierte, lichtete sich allmählich der moralische Nebel. Randall war im Haus wie ein Gefan 56
gener behandelt worden. Lebenslänglich ans Haus gefesselt – verhät schelt, vielleicht sogar abgöttisch geliebt, aber ohne die Möglichkeit, sich auszuleben. Nie war ihm erlaubt worden, zu jagen, zu erforschen. Er hatte nichts als Vorschriften, Langeweile und Gefangenschaft ge kannt. Fünf Jahre lang war er einen schleichenden emotionalen Hun gertod gestorben. Vor die Wahl gestellt, hätte er ein solches Leben si cher strikt abgelehnt. Diese Gedanken veränderten die moralische Landschaft. Man könn te das Thema durchaus auch von einer anderen Seite angehen. Lake würde Randall die Wahl lassen. Er würde mit Randall in den Park ge hen, ihn nach Lust und Laune herumtollen lassen, ihm zu verstehen geben, daß es außer der Peal Avenue noch weitere Alternativen gab. Dann würde Lake vor den Augen des Hundes, ohne jede Hinterlist, den Heimweg antreten. Das wäre der Moment, in dem Randall sich entscheiden müßte, ob er ihm folgen wollte oder nicht. Das Geschenk wäre Freiheit in ihrem wahrsten, ursprünglichsten Sinn: die Freiheit der Wahl. Er war ziemlich sicher, welche Entscheidung Randall treffen wür de. Nach seinem heutigen Verhalten im Park zu schließen, würde der Hund die Freiheit favorisieren. Das Wichtigste aber war: Die Entschei dung würde der Hund allein treffen. Falls Randall aber seinem Herrn nach Hause folgen sollte, würde Lake für auswärtige Unterbringung sorgen. Er würde Randall so lange in einem weit entfernten Tierheim unterbringen, bis er für ihn Adoptiveltern gefunden hatte. Lake überdachte diese Vorgehensweise, während Randall im Leder sessel ein Nickerchen machte. Er kam zu dem Schluß, daß diese Lö sung unter den gegebenen Umständen ethisch einwandfrei war – eine Form hundemäßiger Selbstbestimmung, wenn man es vom richtigen Standpunkt aus betrachtete.
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N
a, womit hast du heute deinen Tag verbracht?« fragte Ellen auf der Fahrt zum Restaurant, wo sie mit den Aliens verabredet waren. Nachdem er ihr nichts von seinen moralischen Überlegungen zum Problem Hund erzählen wollte, sagte er: »Ich habe einiges im Haus er ledigt. Es ist einfach idiotisch, so viel Platz zum Wohnen zu haben.« »Platz ist schön.« »Überleg mal, was allein an Energie für Beleuchtung und Beheizung von Räumen draufgeht, in denen du dich pro Tag nicht mehr als zwei Minuten aufhältst.« »Zu viel Platz kann man gar nicht haben.« »Wenn alle so dächten wie du, hätten wir ernste Probleme«, sagte er. »Du bist ja heute besonders gut aufgelegt.« Lake suchte nach einer schlagfertigen Antwort, war aber nicht in der Stimmung dazu. »Ich hätte nie gedacht, daß die Sache mit dem Haus so kompliziert wird«, sagte er. »Du machst sie kompliziert.« »Was heißt das?« »Du hast 'ne merkwürdige Einstellung dazu.« »Ach, ich weiß nicht, mir ist das alles einfach zu viel.« »Was alles?« fragte sie. Er dachte: Das alles: das Problem mit dem Hund, der Rasen, der zu groß ist, um ihn ohne Traktor mähen zu können; das Badezimmer, das an der falschen Seite des Bettes liegt; Ellen, die in dem Haus mehr sieht als nur einen unverhofften Geldsegen. Die Einweihungsparty hatte sie zwar noch nicht erwähnt, würde aber bestimmt noch darauf zu spre chen kommen. So schlecht war die Idee mit der Einweihungsparty 58
vielleicht gar nicht, überlegte er. Damit würde er Mrs. Lundquist und Vere überzeugen, daß er sein neues Domizil akzeptiert hatte. Aber was für ein Fest könnte man in einem Haus wie diesem wohl feiern? »Vielleicht werde ich mir diesen Sommer einen längeren Urlaub ge nehmigen«, sagte er. »Es wäre doch ganz schön, eine oder zwei Wo chen im Juli oder August in Nantucket zu verbringen. Mal sehen, ob wir noch 'ne Ferienwohnung bekommen.« »Das geht nicht.« »Was soll das heißen?« »Du hast wohl vergessen, daß wir den vierten Juli mit Susan und Charlie feiern wollten.« »Ich hab eher an die letzte Juliwoche und die erste Augustwoche ge dacht.« »Da kann ich vielleicht nicht.« »Warum? Habt ihr Steuertermine?« »Nein, aber vielleicht hab ich da Schule.« »Schule«, wiederholte er verdutzt. »Ich will mich weiterbilden.« »Mitten im Sommer?« »Sommeranfang. In ungefähr drei Wochen.« »Ach, und was willst du machen?« »Betriebswirtschaft studieren.« »Was willst du?« »Betriebswirtschaft studieren.« »Ich weiß, was Betriebswirtschaft ist. Und warum willst du ausge rechnet das studieren?« »Warum nicht?« »Betriebswirtschaft ist ein ziemlich langes Studium.« »Fünf oder sechs Jahre in Abendkursen.« »Sechs Jahre?« fragte er. Er verstand die Welt nicht mehr. »Oder fünf.« »Wann hast du dich denn dazu entschlossen?« »Vor zwei Tagen. Allerdings trag ich mich schon länger mit dem Ge danken.« 59
»Und du hast echt vor, Betriebswirtin zu werden? Ich meine, du ar beitest doch im Controlling. Dazu brauchst du doch nicht Betriebs wirtschaft zu studieren.« »Lake.« »Und wann sind die Kurse?« »Dienstags und donnerstags.« »Um welche Zeit?« »So um zehn. Und dann gibt's natürlich jede Menge Hausaufga ben.« »Sechs Jahre.« Schweigend setzten sie ihre Fahrt fort. Schließlich sagte Lake: »Du bist also fest entschlossen.« »Angemeldet hab ich mich noch nicht, aber ich werd's demnächst tun. Was stört dich eigentlich daran?« »Ach, ich weiß auch nicht. Wenn du's dir vorgenommen hast, mußt du's auch durchziehen.« Sie schaute stur geradeaus. »Du hast nicht ein einziges Mal davon gesprochen«, sagte er. »Nicht ein einziges Wort hast du darüber verloren.« »Jetzt weißt du's ja.« »Soll das heißen, daß es mich nichts angeht?« »Nein. Das soll nur heißen, daß es um meine Zukunft geht. Um mei ne Karriere. Du fragst mich ja auch nicht, wie du dein Geschäft füh ren sollst.« »Ich unterhalte mich immer mit dir darüber.« »Tust du nicht.« »Tu ich doch.« »Du glaubst nur, daß du's tust«, sagte sie. »Okay«, meinte er resigniert, »am Ende wirst du den ganzen Laden schmeißen.« »Das will ich gar nicht.« »Ich dachte, das wäre dein Ziel.« »Mit einem Titel in der Tasche stehen einem viele Türen offen.« »Hast du dann überhaupt noch Freizeit?« 60
»Klar. Zwischen den Trimestern.« »Vielleicht sollten wir unseren Urlaub dann in die Trimesterferien legen.« »Vielleicht solltest du allein in Urlaub fahren«, sagte sie. Und in freundlicherem Ton: »Ich könnte übers Wochenende zu Besuch kom men.« »Das bringt doch nichts.« »Du sollst aber fahren. Du machst nie Urlaub.« »Ich mag aber nicht. Und schon gar nicht allein.« »Vielleicht probierst du's einfach mal.« »Was sagst du?« »Nichts. Nur, daß du's vielleicht mal ausprobieren sollst.« »Vielleicht hast du recht«, gab er zur Antwort. Düstere Gefühle reg ten sich in ihm – namenlose, tintenschwarze Gedanken. »Sag mal, wa rum streiten wir uns eigentlich? Schluß damit! Hör zu, vielleicht hab ich ja falsch reagiert.« »Ich kann es nicht ausstehen, wenn du so'n Scheiß von dir gibst wie ›Ich fahr bestimmt nicht allein‹. Ich hasse das.« »Aber es stimmt doch.« »Weiß ich«, sagte sie. »Ich sehe nicht, was daran falsch sein soll.« »Weiß ich.« »Du glaubst, es hört sich egoistisch an.« »Und was meinst du, wie es sich anhört?« »Keine Ahnung«, gab er zur Antwort. »Ich werde Bob nach dem Studienplan fragen«, sagte sie. »Hab ich dir eigentlich schon erzählt, daß er mich zum Mittagessen eingeladen hat?« »Nein.« »Am Freitag hat er angerufen, einfach so, und mich zum Mittagessen eingeladen. Ich find das unglaublich nett.« »Und warum will er mit dir zum Mittagessen gehen?« »Ach, um sich auf dem laufenden zu halten.« »Und, hast du zugesagt?« 61
»Natürlich.« »Ich hab gar nicht gewußt, daß Bob ein so freundlicher Mensch ist.« »Es geht nicht darum, ob er ein freundlicher Mensch ist, aber wir sind Freunde. Solange er noch mein Chef war, hätte er mich nie zum Mittagessen eingeladen. Das ist typisch für ihn.« »Du willst damit also sagen, daß es freundlich war, wie er dich da mals behandelt hat?« »Auf jeden Fall nicht unfreundlich.« »Dann muß ich mich wohl verhört haben«, bemerkte Lake. »Ich hab nie behauptet, daß er unfreundlich war. Er verlangt sehr viel, ist aber nie gemein oder so.« »Aha.« »Ich hab viel bei ihm gelernt.« »Hast du nicht gesagt, daß sein Privatleben ziemlich chaotisch ver läuft?« »Ich hab nur gesagt, daß er und seine Frau sich getrennt haben. Aber das ist inzwischen alles geregelt. Er geht jetzt mit einer geschiedenen Frau, einer Anwältin. Sie heißt Marion. Ich glaube, er kennt sie schon ziemlich lange.« »Wann hat er dir das alles erzählt?« »Als er noch mein Chef war. Er ist nämlich ein guter Mensch.« Lake gab keine Antwort. Als sie die Tür zum Restaurant aufstießen, saßen Charlie und Susan schon am Tisch und nippten an ihren Drinks. »Hi.« »Hallo.« »Hi.« »Hi.« Freundlich lächelnd setzte sich Lake an den Tisch, unglücklich über sich selbst und alles. »Na, wie geht's euch?« grinste Charlie. Susan schaute Ellen an. »Bestens«, sagte Lake. »Hübsche Krawatte«, stellte Charlie fest. »Danke«, antwortete Lake. »Gemütlich hier«, meinte Charlie. »Wie seid ihr auf dieses Lokal ge kommen?« 62
»Wir haben's einfach mal ausprobiert. Was hast du da für einen grü nen Fleck an der Hand?« »Ich habe heute das Badezimmer gestrichen«, erklärte Charlie. »Farbe«, sagte Susan. »Ich dachte, ihr wolltet euch nach einer anderen Wohnung umse hen«, meinte Ellen. »Stimmt auch. Aber ich konnte dieses Badezimmer einfach nicht mehr ertragen.« »Gerade haben wir uns über dieses Thema unterhalten«, sagte Lake. »Darüber, wieviel Raum der Mensch zum Leben braucht.« »Du meinst wohl, wie viele Räume«, berichtigte ihn Charlie. »Richtig.« »So viele wie möglich«, antwortete Charlie. »Das hat Ellen auch gesagt. Aber wozu soll es gut sein, mehr Räume zu haben, als man braucht?« Charlie schwieg. Ellen und Susan unterhielten sich über eine Kunst ausstellung. Lake hatte das Gefühl, daß Ellen Susan vom Haus seiner Tante erzählt hatte. »Hab ich euch schon erzählt, daß mir meine Tan te ein Haus vererbt hat?« fragte er Charlie. Charlie tat überrascht: »Phantastisch!«
Als das Dessert kam, hatte sich Lakes Ruhelosigkeit gelegt. Sie unter hielten sich über Baseball und Filme, über Schlaglöcher in den Stra ßen und das Wochenende vom vierten Juli. Die Kellnerin verteilte den restlichen Wein auf die Gläser. Ellen und Susan lachten, weil Charlie aus Versehen auch einen seiner Schuhe mit angestrichen hatte. Lake dachte über Farbe nach; er bemerkte, wie Ellens honigblonde Haare schimmerten. »Ellen wird wieder zur Schule gehen.« »Ach, wirklich?« sagte Susan. »Abendschule«, meinte Ellen. »Betriebswirtschaft.« »Super«, freute sich Susan. 63
»Wird 'ne Weile dauern.« »Aber das ist doch super«, rief Susan. »Vielleicht sollte ich auch damit anfangen«, sagte Lake. »Ich kann mir dich beim besten Willen nicht als Betriebswirtschaft ler vorstellen«, meinte Charlie. »Hab ich auch nicht vor. Aber irgendwelche Kurse belegen. Als Ge hirntraining.« »Was zum Beispiel?« fragte Susan. »Philosophie vielleicht. Ich mag Philosophie.« Das entsprach auch durchaus der Wahrheit. Philosophie war schon während seines Stu diums eines seiner Lieblingsfächer gewesen. Ja, ein Philosophiekurs wäre nicht schlecht. Er stellte sich vor, wie er mit einem Ethik-Profes sor eine These diskutierte. Der Professor sagte: Wirklich scharfsinnig, Mr. Stevenson. Die anderen Studenten hörten andächtig zu. Charlie warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Wir müssen los«, drängte er. »Es fängt in zehn Minuten an.« Lake sagte: »Ellen und ich möchten im Haus meiner Tante eine Ein weihungsparty geben.« »Super Idee«, rief Susan, als hätte sie es schon gewußt. Ellen warf Lake einen Blick zu, ihre Augen verengten sich kaum merklich. Sobald sie wieder allein waren, wollte er sich nochmals we gen seiner Reaktion auf das Betriebswirtschaftsstudium entschuldi gen. »Ich war ein Narr«, würde er sagen oder etwas ähnlich Bühnen reifes. Es würde ihm schon etwas Passendes einfallen. Als sie vor Ellens Wohnung vorfuhren, sagte er: »Hör zu, vorhin war ich nicht gerade sehr zartfühlend.« »Mach dir deswegen keine Sorgen.« »Ich war ein Narr.« »Wovon sprichst du eigentlich?« »Ich war ein Narr, diesen Film vorzuschlagen.« »Übertreibst du nicht ein bißchen?« »Das war der schlechteste Film aller Zeiten, vielleicht mal abgesehen von dem Schrott, den sie in Bombay produzieren.« »So schlecht war er nun auch wieder nicht.« 64
»Ich war ein Narr.« Er küsste sie mit verwirrten Gefühlen. Sie war nicht die einzige, die keine Ahnung hatte, wovon er sprach. Er wußte es auch nicht.
Am darauffolgenden Wochenende hatten sich die Wogen fast wieder geglättet. Am Freitag nach dem Abendessen fuhren sie in die Peal Ave nue und schliefen in Tantes Bett miteinander, verspielt, gelöst, ließen sich von ihrer Lust und den Gefühlen treiben. Dann spürte er plötz lich, daß sie nicht allein waren; er drehte sich von ihrem warmen Kör per weg und warf einen Blick über die Bettkante. Auf dem Teppich lag der Hund; die Vorgänge über ihm schienen ihn überhaupt nicht zu in teressieren. Am nächsten Morgen unterhielten sie sich über die Party. Lake woll te sie gleich für den darauffolgenden Samstag ansetzen. »Spontanei tät«, dozierte er, »ist der Garant für eine lockere und lustige Atmo sphäre.« Er wollte dieses Fest so schnell wie möglich hinter sich brin gen und dann seine Pläne in die Tat umsetzen, aber davon sagte er El len nichts. »Zu früh«, gab sie zur Antwort. »Frühestens heute in zwei Wo chen.« »Mir wäre ein spontanes Fest lieber. Keine großen Vorbereitungen. Nichts Prätentiöses.« »Was hast du dir denn vorgestellt?« »Sechs oder acht Leute. Bei schönem Wetter könnten wir auf der Ter rasse essen. Einen ruhigen Abend genießen, ganz im Geist dieses Hau ses.« »Ein Haus hat keinen Geist. Du bist es, der dem Haus den Geist ein haucht.« »Ist ja gut. Dann vielleicht zehn Leute, aber ganz ungezwungen.« Aber es war ihm klar, daß sie schließlich ihren Willen durchset zen würde. Sie würde ihn zwingen, etwas zu feiern, was er möglichst schnell aus seinem Leben verbannen wollte. Am Ende standen mehr 65
als dreißig Leute auf der Gästeliste. Dann sagte Ellen: »Wir könnten auch Bob einladen. Und Marion.« »Bob? Den Bob aus deinem Büro?« »Na klar. Er wird dir gefallen. Wenn wir deinen Freund Bill einla den, sehe ich nicht ein, warum wir nicht auch Bob und Marion einla den sollten.« »Marion ist die Anwältin, mit der er zusammenlebt?« »Er trifft sie ab und zu.« »Und wo siehst du den Zusammenhang mit Bill?« »Du hast mit ihm in der Werbeagentur gearbeitet. Und nur deshalb kennst du ihn. Er ist ein Geschäftsfreund.« »Er ist ein persönlicher Freund.« »Bob auch«, sagte sie. »Ich frag ihn mal.« »Mach, was du willst.« »Wahrscheinlich kommt er ohnehin nicht.« »Ich würde ihn gern kennenlernen«, sagte Lake. Dann unterhielten sie sich über das Essen. »Wir werden einen Party service beauftragen«, sagte Lake. »Die kümmern sich um alles.« »Das können wir doch alles selbst organisieren. Ich mach ein paar Pasteten und so.« »Ich will aber lieber 'nen Partyservice haben. Dann brauchen wir uns um nichts zu kümmern. Und können das Fest voll genießen.« »Ich mach's aber gern.« »Überleg doch mal«, sagte er, »so ein Partyservice schafft alles her an – Teller, Gläser, Gabeln –, und die Leute machen die ganze Arbeit. Und hinterher müssen wir nicht einmal aufräumen.« »Du willst, daß die alles komplett liefern? Hast du eigentlich 'ne Ah nung, wieviel Porzellangeschirr und Silber hier herumliegt?« Er wußte es. Er hatte eine grobe Inventur gemacht, weil er alles ver steigern lassen wollte; aber er zog es vor, ihr nichts davon zu verraten, also schüttelte er den Kopf. »Dann komm mal mit.« Sie führte ihn in das Anrichtezimmer und öffnete einen Schrank nach dem anderen. »Hier«, sagte sie. Sein Blick schweifte über Stapel von Tellern, unzählige, auf Haken aufgereih 66
te Tassen, über Servierplatten und Terrinen, über funkelnde Spalie re von Weingläsern, Champagnergläsern, Sherrygläsern, Wasserglä sern, Whiskygläsern. »Das gehört dir«, sagte sie. Sie holte einen gold gerahmten Eßteller aus dem Schrank und hielt ihn ihm vor die Nase. »Gehört dir.« Behutsam faßte er mit beiden Händen den Teller an. »Aber wir wer den keine bombastische Party geben«, sagte er. »Es soll einfach ein net ter Abend mit ein paar netten Leuten sein. Dazu ist das Equipment des Partyservice gut genug. Es geht nichts Wertvolles zu Bruch, und wir brauchen nicht aufzuräumen.« »Vergiß den Partyservice.« »Wenn ich das Haus verkaufen will, möchte ich hier nicht allzu viel durcheinander bringen.« »Ich sag dir was: Vergiß die Party.« »Ich will's uns ja nur einfacher machen.« »Das hier ist kein Museum. Was glaubst du eigentlich? Daß die Leu te dein Haus in Schutt und Asche legen? Daß sie das Porzellan zerhau en? Komm, gib her.« Sie riß ihm den Teller aus der Hand und stellte ihn zurück. »Natürlich nicht. Aber das hier ist doch 'ne vorübergehende Ge schichte. Das weißt du.« »Warum gibst du dann kein vorübergehendes Einweihungsfest in ei nem Hotel?« »Außerdem ist es ja keine richtige Einweihung, weil ich nicht lang hier wohnen werde. Es ist schlicht und einfach 'ne Party.« »Vergiß die Party.« »Will ich aber nicht.« »Vergiß sie.« »Also, noch mal von vorn«, sagte er. »Vergessen wir einfach, worüber wir uns eben gestritten haben. Fangen wir noch mal ganz von vorne an. Wir geben eine Party. Es wird eine nette Party sein. Kein Partyser vice wird auch nur eine Nasenspitze in dieses Haus stecken. Wir wer den alles selbst machen, und es wird ein gelungenes Fest werden.« »Das bezweifle ich.« 67
»Vertrau mir«, sagte er. »Warum sollte ich dir vertrauen?« »Ellen, ständig liegen wir uns in den Haaren.« »Das hab ich auch schon gemerkt.« »Ich hab keine Lust mehr, mich mit dir zu streiten.« Sie starrte ihn an. Dann sagte sie: »Gut.« Aber den ganzen Vormittag über verbreitete sie schlechte Laune.
Am Montag – er war gerade dabei, den Entwurf der Bedienungsan leitung für die neue elektrische Heckenschere zu redigieren – durch zuckte ihn der Gedanke, daß ihm die Ereignisse allmählich aus der Hand glitten. Vielleicht war das die Erklärung für seine gedrückte Stimmung in letzter Zeit. Mrs. Lundquist würde sich schon bald fra gen, weshalb er noch immer keine Möbel aus seiner Wohnung ins Haus geschafft hatte; der Hund entwickelte allmählich eine plum pe Vertraulichkeit; und zu allem Überfluss luden er und Ellen zu ei ner Einweihungsparty in ein Haus ein, das mit seinem Leben rein gar nichts zu tun hatte. Er mußte seine Pläne zielstrebig in die Tat um setzen, um nicht alles noch schlimmer zu machen. Zumindest war es jetzt an der Zeit, die Weichen für den Verkauf des Hauses zu stellen. Er rief Karen an. »Hi, ich bin's, Lake.« »Wie geht es dem Hund?« fragte sie. »An sich wollte ich nur mal guten Tag sagen.« »Bestimmt nicht. Du rufst nie an, um nur guten Tag zu sagen. Was hast du mit dem Hund gemacht?« »Nichts. Randall geht's gut.« »Hast du's dir anders überlegt?« »Was überlegt? Soviel ich weiß, haben wir uns vage und nebenbei über den Hund unterhalten. Sei bitte so lieb, und leg mir nichts in den Mund.« »Und du paß lieber auf, daß du dem Hund nichts antust.« 68
»Das Geheimnis deiner Mitwisserschaft liegt bei mir in sicheren Händen«, sagte er. »Ich meine es ernst.« »Wie heißt der Immobilienladen, in dem deine Freundin arbeitet?« »Jennifer? Moment mal, ich glaub, ich hab ihre Büronummer. Wart einen Augenblick.« Während er wartete, studierte Lake die Konstruktionszeichnung der Heckenschere. Sie sah aus wie der Rachen eines weißen Hals, der dar auf lauerte, Menschen zu verschlingen. Er würde Derek Kast davon überzeugen müssen, sämtliche Graphiken von InstruX machen zu las sen. Karen kam wieder ans Telefon und gab ihm die Nummer. »Vielleicht sollte ich mit jemand anderem in der Firma verhandeln«, meinte er. »Warum das? Sie ist ganz bestimmt gut.« »Freunde sollte man in solchen Angelegenheiten besser außen vor lassen«, sagte er. Plötzlich fiel ihm auf, wie verschwörerisch sich das anhörte, und er fügte schnell hinzu: »Hast ja recht. Ich werd sie selbst anrufen. Eigentlich spricht ja nichts dagegen.« »Hoffentlich nicht.« »Kann sie schweigen? Im Moment will ich auf jeden Fall verhindern, daß irgend jemand Wind von dem Verkauf kriegt.« »Frag sie selbst.« »Wenn ich mich recht erinnere, war sie früher ziemlich geschwät zig.« »Keine Vorurteile, Lake!« »Nein, nein. Wer weiß, vielleicht rufe ich sie ja auch überhaupt nicht an. Vielleicht suche ich mir 'nen Makler aus den Gelben Seiten.« »Wie du willst.« »Übrigens könnte es sein, daß ich im Sommer in der Nähe von Martha's Vineyard bin. Vielleicht komm ich euch besuchen.« »Ja, mach das«, sagte sie ausgesprochen kühl.
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Lake wählte die Nummer der Immobilienfirma. Eigentlich wollte er den Geschäftsführer verlangen. Aber dann spürte er Karens bohren den Blick im Genick und sagte: »Jennifer Dee, bitte.« »Sehr gern. Ich sehe nach, ob sie im Büro ist.« Gleich darauf hörte er einen Anrufbeantworter: »Hier spricht Jenni fer Dee. Heute Vormittag habe ich leider auswärts zu tun. Ich werde aber gegen vierzehn Uhr wieder im Büro sein. Bitte nennen Sie den Grund Ihres Anrufes und Ihre Telefonnummer. Ich rufe Sie dann zurück.« Lake legte den Hörer auf. Er dachte über die Stimme nach, versuchte sie einzuschätzen. Sie klang einigermaßen professionell. Um halb drei versuchte er es nochmals. Diesmal war sie selbst am Telefon. »Hallo«, sagte er. »Hier spricht Lake Stevenson. Karens Bruder.« »Hallo.« »Sie erinnern sich bestimmt nicht mehr an mich. Ich war derjenige, der immer oben Musik gespielt hat.« »Wie geht's Karen?« »Gut.« »Ich habe sie lange nicht mehr gesehen.« »Ja. Hören Sie. Ich trage mich mit dem Gedanken, ein Haus zu ver kaufen.« »Ach ja?« »Es liegt in Chestnut Hill. Betreut Ihre Agentur dieses Gebiet?« »Ja.« »Ich möchte mich beraten lassen, was man alles bei einem Verkauf beachten muß und so weiter.« »Gern.« »Kann ich eine vertrauliche Beratung bekommen?« »Natürlich.« Sie hörte sich ehrlich an, aber es konnte sicher nicht schaden, die Sa che etwas vage zu halten. »Also, bis jetzt habe ich noch keine endgül tige Entscheidung getroffen«, begann er. »Vielleicht werde ich auch im Haus wohnen bleiben. Eigentlich ist es das Haus meiner Tante. Sie hat es mir vererbt.« 70
»Ach so.« »An und für sich würde ich schon gern dort wohnen, aber irgendwie ist es zu groß für mich.« »Mhm.« »Auf dem Immobilienmarkt ist momentan nicht gerade viel los, wie ich gehört habe.« »Es ist ein wenig ruhig«, sagte sie, »aber allmählich kommt wieder Bewegung in die Geschichte. Wie viele Zimmer hat das Haus?« »Keine Ahnung, 'ne ganze Menge.« »Der Markt für Immobilien der oberen Preisklasse ist immer noch gut.« »Ach ja? Mein Haus liegt sicher auch in der oberen Preisklasse. Wie ermitteln Sie eigentlich den Verkaufspreis für ein solches Objekt?« »Wir würden uns das Haus ansehen und Ihnen dann einen Vor schlag machen. Vielleicht haben Sie ja schon selbst eine Preis Vorstel lung?« »Wer ist wir?« »Meine Partner und ich.« »Ich möchte nicht, daß ein Haufen Leute damit zu tun haben.« »Wir sind nicht viele. Ich könnte selbst vorbeikommen und es mir ansehen, wenn Sie möchten.« »Ja, das wäre mir lieber. Könnten Sie es relativ schnell verkaufen?« »Das hängt von verschiedenen Voraussetzungen ab. Die wichtigste Voraussetzung ist der Preis.« »Sie meinen, je niedriger der Preis, desto schneller verkauft es sich?« »Das habe ich nicht gesagt. Ich sage nur, daß sich ein Haus nicht ver kaufen läßt, wenn ein zu hoher Preis angesetzt wird.« »Mir ist es wichtig, daß es schnell verkauft wird«, meinte er. Sie schwieg. »Und dann möchte ich nicht, daß die Nachbarschaft durch Verkaufs schilder und durch Leute aufgeschreckt wird, die im Haus ein und aus gehen.« »Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.« Das hörte sich alles sehr gut an. Eine taktische Variante fiel ihm ein: 71
Vielleicht könnte er das Haus ja verkaufen, ohne daß Mrs. Lundquist und Vere Wind davon bekamen. Hinterher könnten sie protestieren, soviel sie wollten. Ja, das war es. Er würde Mrs. Lundquist behalten, damit sie bezeugen könnte, wie sehr er unter dem Verlust seines Hun des litt, aber das Haus würde er heimlich verkaufen. Ein ausgezeichne ter Plan, fand er, und völlig stressfrei. »Bitte beachten Sie auch«, sagte er, »daß das Haus montags und frei tags nicht besichtigt werden darf. An diesen Tagen ist eine Haushälte rin da, und ich will sie auf keinen Fall beunruhigen. Sie ist schon eine ältere Dame.« »Auch das dürfte kein Problem sein.« »Können Sie dafür sorgen, daß andere Agenturen nichts davon er fahren?« »Die Listen werden normalerweise über den Computer gestreut. Aber wir können in Ihrem Fall eine Ausnahme machen.« »Darum würde ich Sie sehr bitten.« Sie schwieg. Dann sagte sie: »Gibt es sonst noch etwas?« »Nur, daß ich die ganze Angelegenheit so diskret wie möglich behan delt haben möchte. Das ist auch im Sinn meiner Nachbarn, die größten Wert darauf legen, daß ihre Privatsphäre nicht gestört wird. Es geht darum, das Andenken an meine Tante zu respektieren. Sie ist erst vor zwei Monaten gestorben.« »Ich verstehe«, sagte sie. »Betrachten Sie dieses Gespräch bitte als rein informativ.« »Vielleicht möchten Sie noch mit anderen Maklern sprechen?« frag te sie. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie nicht interessiert sind?« »Keineswegs«, gab sie zur Antwort. »Sie haben mich um meinen Rat gefragt. Ich halte es für wichtig, daß der Makler, den Sie mit dem Ver kauf Ihres Hauses beauftragen, und auch der Verkaufspreis Ihren Vor stellungen entspricht.« »Okay. Ich werde mich umhören. Es ist ein großes Haus«, sagte er. »Mit lauter schönen Möbeln. Ich bin überzeugt davon, daß es sofort ei nen Käufer finden wird. Wann werden Sie es sich ansehen?« 72
»Diese Woche könnte ich es noch einrichten.« »Wie sieht es mit morgen aus?« »Morgen habe ich ziemlich viel Termine. Ich könnte gegen sechzehn Uhr vorbeischauen.« »Gut«, sagte er. »Die Adresse ist Peal Avenue Nr. 73. Es ist ein Ziegelbau mit grünen Fensterläden und einem schmiedeeisernen Zaun.« »Wie war noch der Name Ihrer Tante?« fragte sie. Weshalb wollte sie das wissen? Würde sie durchsickern lassen, daß Ilsa Grinnells Haus zum Verkauf stand? »Ilsa«, sagte er. »Ich wollte ihren Nachnamen wissen.« »Stevenson«, sagte er. Und das war nicht einmal ganz gelogen: Ste venson war ihr Mädchenname gewesen. Er hatte das Gefühl, daß Jen nifer sich etwas notierte – vermutlich fertigte sie eine Gesprächsnotiz an. Er mußte auf der Hut sein. »Ich verpflichte mich im Moment zu gar nichts«, sagte er. »Im Mo ment ist alles noch völlig hypothetisch.« »Ich verstehe.« »Bis morgen dann.« Er legte den Hörer auf. Die Geschichte war so gut wie unter Dach und Fach, außer sie hatte vor, den Preis zu drücken. Jetzt mußte er sich nur noch darum küm mern, den Hund zu entsorgen, damit er vorm Gesetz sauber dastand; aber das war mehr oder weniger eine Formsache. Nach dem Gespräch mit Jennifer Dee war er so aufgekratzt, daß ihn Dannys witzige Formulierungen in einem Layout der Montageanlei tung für das Gartengrillgerät nur peripher verdrossen. Danny hatte eine Schraube abgebildet, die in die Brennkammer eingedreht wird, um den Griff zu befestigen. Die Bildunterschrift lautete: Ein Dreh am Ritzel, dann die Schraube einrichten, ist das gelungen, können Sie auf Klebstoff verzichten. »Danny.« Danny kam herüber. Lake deutete auf die Bildunterschrift. »Ja, da schau her«, sagte Danny. »Da muß wohl der Poet mit mir durchgegangen sein.« 73
»Lass solche Scherze bitte. Sonst geht so was am Ende noch in Druck, nur weil du vergessen hast, es zu korrigieren.« »Schau dir mal die Graphik an«, sagte Danny. »Irgendwas kommt mir daran komisch vor.« Lake schaute sich die Zeichnung genauer an. Ihm fiel nichts auf. »Irgend etwas ist mit der Schraube.« Lake schaute genauer hin. Das Gewinde war verkehrt herum ge zeichnet. »Paul.« Der Konstrukteur kam mit unschuldigem Gesicht herüber. »Mach das nicht noch mal«, schimpfte Lake und deutete auf die Schraube. »Ich mag es nicht, wenn ihr solchen Unfug macht. Das ist gefährlich.« Mit einer Geste entließ er Paul. »Siehst du das da?« fragte er Danny. Er deutete auf eine Bildunter schrift in einem anderen Layout, die er blau eingekreist hatte: Vor der ersten Benutzung drehen Sie den Heizungsregler auf höchste Stufe, um den Grill anzuwärmen. »Auf höchste Stufe drehen, wie lange?« fragte Lake. »Dreißig Sekun den lang? Einen Tag lang? Bis er schmilzt?« »Fünfzehn Minuten«, gab Danny zur Antwort. »Tut mir leid. Meine Schuld. Das ist ein Satzfehler. Eigentlich sollte die Zeit drin stehen.« Lake hielt eine Standpauke für angebracht. »Du mußt alles ganz ge nau durchlesen. Alles«, sagte er. »Jeden einzelnen Bedienungsschritt mußt du aufmerksam lesen. Sonst verliert der Benutzer sofort die Fähr te. Ich weiß, ich habe das schon tausendmal gepredigt, aber ich sage es jetzt noch einmal, weil das nämlich der Kern unseres Geschäfts ist: Wenn du einem Benutzer nur die geringste Gelegenheit bietest, Mist zu bauen, wird er diese Gelegenheit todsicher ergreifen.« Mit zerknirschtem Gesicht machte sich Danny an den Rückzug. »Weißt du auch, warum?« Danny schüttelte den Kopf. »Weil er es so will«, sagte Lake. »Er will es?« »Tief in seinem Inneren will er es falsch machen. Er will nicht ge horchen. Das ist die menschliche Natur. Die Hälfte der Leute, die die 74
se Anweisung liest, würde den Grill sicherheitshalber nicht länger als zwei Minuten auf höchster Stufe vorheizen. Ein Viertel davon würde ihn auf höchster Stufe brennen lassen, bis der Propangastank leer oder das Haus niedergebrannt ist. Die übrigen würden den Grill ein Jahr lang anstarren und sich fragen, was sie machen sollen. Kein einziger würde ihn fünfzehn Minuten lang anheizen. Nicht ein einziger.« »Hab verstanden. Tut mir leid.« »Ist schon gut«, sagte Lake. »Hör zu, du hast gute Arbeit geleistet. Im Ernst. Ich habe mir das Material angesehen, das du als Vorgabe be kommen hast.« »Vielen Dank.« »In der zweiten Zeile hast du allerdings das Versmaß nicht ganz hin gekriegt.«
Am nächsten Tag stellte Lake um fünfzehn Uhr fünfundvierzig zwei Schüsseln unters Dach – eine mit Wasser, die andere mit Hundefutter. Der Dachboden kam ihm viel kleiner vor als damals, als er und Karen als Kinder dort gespielt hatten, aber ansonsten war alles unverändert – ein Sammelsurium von Schachteln, Truhen, Möbeln, alten Radierun gen, Teppichen. Ein mit einem Laken abgedeckter Stuhl stand immer noch da; den hatten sie damals als Thron zweckentfremdet. Auch der Kampfergeruch hing noch in der Luft. Wie damals fiel schwaches Licht durch ein rundes Fenster am anderen Ende des Dachbodens. Der ide ale Platz, um einen Hund von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Es zeugte von Umsicht, daß er daran gedacht hatte, den Hund vor Jen nifer Dee zu verstecken; schließlich ließ seine Existenz nicht einmal den Gedanken an einen Verkauf des Hauses zu. »Komm, Randall«, rief er. Stille. Er ging hinunter in den ersten Stock. Randall lag am Fuß der Treppe. »Komm«, lockte ihn Lake und klatsch te ermutigend in die Hände. Randall rührte sich nicht von der Stelle. Offenbar gehörte der Dachboden nicht zu seinem Revier. Lake hob ihn auf. »Ist schon in Ordnung, Alter«, beruhigte er ihn. Er trug den zap 75
pelnden Hund nach oben und setzte ihn neben den Futternapf. Ran dall schnüffelte hektisch in der Luft herum. Lake entdeckte einen klei nen Teppich und breitete ihn vor Randall auf den Fußboden aus. Lakes Uhr zeigte fünf vor vier. »Brav sein«, ermahnte er den Hund. Er ging hinaus, schloß die Tür hinter sich, nahm zwei Treppen auf einmal zur Küche hinunter, griff sich eine Packung Schinkenscheiben aus dem Kühlschrank und hetzte wieder auf den Dachboden. Oben angekommen, hörte er schon das leise Läuten der Türklingel. Ran dall bellte. Lake ließ den Schinken in die Hundeschüssel fallen, sperr te die Dachbodentür zu und schlich sich auf Zehenspitzen hinunter. Er schloß die Tür am Fuß der Dachbodentreppe. Durch den doppelten Schallschutz würde das Geheimnis Randall ein Geheimnis bleiben. Er eilte zur Eingangstür. Er hatte erwartet, sie wiederzuerkennen, was auch stimmte, wenn gleich die Ähnlichkeit zu früher eher vage war. Jennifer war sehr hübsch – dunkles Haar, feingeschnittenes Gesicht, fast französisch. »Hallo«, sagte sie und streckte ihm die Hand hin. Jetzt erinnerte er sich wieder daran, wie sie vor langer Zeit in Haver ford mit Karen ums Haus gerannt war. »Kommen Sie herein«, sagte er, noch keuchend vom Treppenlaufen. »Ich hab gerade ein paar Sachen in den Garten geschafft«, murmelte er entschuldigend. Mit dem Arm machte er eine weit ausladende Geste. »Also, das ist es.« »Es ist wunderschön«, sagte sie. »Mhm.« Sie wartete. »Wie sollen wir am besten beginnen?« fragte er. »Erst einmal muß ich wissen, was Sie vorhaben«, begann sie. »Sie möchten das Haus über uns verkaufen. Richtig?« »Richtig.« »Sie haben noch nicht an einen bestimmten Preis gedacht.« »Nein.« »Gut. Dann werden wir Ihnen zunächst einmal einen Preis vorschla gen. Ich würde auch empfehlen, daß Sie mit uns einen Exklusivvertrag abschließen. Das heißt: Wir arbeiten eine bestimmte Zeit für Sie und 76
Sie bezahlen uns bei Abschluß des Kaufvertrages eine Provision von sechs Prozent. Während der vereinbarten Laufzeit dürfen Sie das Ob jekt nur über uns verkaufen.« »In Ordnung.« »Sie würden einen Maklervertrag unterschreiben.« »Okay«, sagte er. »Aber wenn wir uns einig werden, möchte ich mit Ihnen über ein paar spezielle Vertragsklauseln sprechen.« »Gut.« »Über Vertraulichkeit.« »Ich möchte mich gern mal umsehen.« »Soll ich mitkommen?« »Wenn es Ihnen nichts ausmacht.« »Es ist ein großes Haus«, sagte er und führte sie zuerst in das Wohn zimmer. »Das Mobiliar ist noch von meiner Tante. Ich habe nichts an gerührt, aber das sehen Sie wahrscheinlich selbst.« Sie gab keine Antwort. Weshalb hatte er sie nur als Tratschtante in Erinnerung? Sofern sie überhaupt etwas sagte, war es rein geschäftlich. »Ich hätte Sie fast nicht wiedererkannt«, sagte er. »Es ist ja auch schon ziemlich lange her.« Sie nickte. »Aber vermutlich geht es Ihnen nicht anders«, sagte er. »Sie und Karen sehen sich sehr ähnlich«, bemerkte sie. »Ja, das sagen viele.« »Wie hoch sind die Abgaben?« »Keine Ahnung. Das kann ich aber feststellen.« »Ich kann selbst nachsehen«, sagte sie. Er hatte völlig vergessen, daß es kommunale Unterlagen über das Anwesen gab. »Was ich noch sagen wollte«, begann er langsam, das Problem einkreisend. »Gestern sagte ich, daß meine Tante Stevenson heißt. Eigentlich wollte ich Grinnell sagen, Ilsa Grinnell. Ihr Mäd chenname war Stevenson.« Er führte sie in die Bibliothek, ins Es szimmer, ins Anrichtezimmer und in die Küche. Plötzlich fielen ihm die Säcke mit dem Hundefutter im Schrank ein. Er lehnte sich lässig gegen die Schranktür, aber sie machte keinerlei Anstalten, eine der 77
Türen zu öffnen. Ihre Augen huschten über Wände, über die Ein richtung, so schnell, daß er nicht erkennen konnte, ob ihr gefiel, was sie sah. »Gibt es noch etwas, was Sie wissen möchten?« fragte er. »Hier wird mit Öl geheizt. Der Brenner ist fast neu. Das Haus ist in sehr gutem Zustand. Haben Sie das Dach gesehen? Schiefer.« »Ja.« »Alle Dachrinnen und die Fallrohre sind aus Kupfer.« »Mhm.« »Ich weiß, das macht man heute nicht mehr.« »Es ist wunderschön.« »Aber die elektrischen Leitungen und Fallrohre sind ziemlich neu. Das sind doch gute Verkaufsargumente, oder?« »Ja, das ist nicht von Nachteil.« »Und wie arbeitet es sich in der Immobilienbranche?« »Mir macht's Spaß.« »Sie sind aber erst seit ein paar Jahren dabei, oder?« »Drei Jahre.« »Meine Tante hat Karen ihr Sommerhaus in Maine vererbt, hab ich Ihnen das eigentlich schon gesagt?« »Ich würde jetzt gern nach oben gehen.« »Sie wird es behalten.« Sie wanderten durch die Zimmer im ersten Stockwerk. Als sie gerade das Zimmer der Krankenschwester am anderen Ende des Flurs verlie ßen, hörte er von oben einen dumpfen Schlag. Sie blieb stehen, lausch te. Lake hörte ein klackendes Geräusch wie Hundekrallen, die über Holz trappeln. »Vermutlich sind Eichhörnchen in der Dachtraufe«, versuchte er zu erklären. »Ich muß mal jemanden kommen lassen, der das abstellt. Kommen Sie, ich zeige Ihnen jetzt den Keller. Der Brenner ist so gut wie neu, und dort können Sie sich auch die Falleitungen ansehen.« Er drängte sie die Treppe hinunter. Nachdem sie Keller, Garten und Garage durchwandert hatten, gin gen sie um das Haus herum zur vorderen Zufahrt. Die Besichtigung 78
war offenbar beendet. Sie blieb in der Zufahrt stehen und drehte sich zu ihm um. »Könnte ich Ihre Telefonnummer haben?« Lake kramte nach einer Visitenkarte. Er versuchte ihren Gesichts ausdruck zu deuten. Er war neutral, wenn nicht gar indifferent. »Ein merkwürdiger Job, sich ständig Häuser anzusehen«, sagte er. »Ich finde es interessant.« »Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Immobilienmaklerin zu wer den?« »Ein Freund brachte mich dazu. Und womit beschäftigen Sie sich?« »Ich stelle Betriebsanleitungen her.« »Interessant. Ich melde mich am Donnerstag oder Freitag wieder bei Ihnen.« Sie streckte ihm die Hand entgegen. Er schüttelte sie. Als sie gegangen war, spürte er noch eine Weile, wie sich ihre Hand in der sei nen angefühlt hatte, spürte die einzelnen Fingerknochen. Als nächstes mußte er sicherstellen, daß Jennifer den Preis nicht zu niedrig ansetzte, nur um das Haus schnell verkaufen zu können. Er hät te sich zwar bei Vere erkundigen können, wie hoch das Anwesen für die Erbschaftssteuer geschätzt worden war, aber eine solche Frage wür de den Feind mißtrauisch machen. Indirekte Methoden mußten ergrif fen werden. Er suchte sich aus den Gelben Seiten ein großes Maklerbü ro heraus, das sich auf Wohnhäuser spezialisiert hatte, und rief dort an. »Ich möchte ein Haus kaufen«, erzählte er der Dame am Telefon. Sie verband ihn. Eine andere Stimme sagte: »Ich bin Mrs. Evans. Wie kann ich Ihnen helfen?« »Ich denke daran, ein Haus in Chestnut Hill zu kaufen. Gibt es einen einfachen Weg, wie ich mich über das Preisniveau in dieser Gegend informieren könnte? Ich möchte mich erst mal orientieren, bevor ich mich entscheide, ob so etwas für mich überhaupt in Frage kommt.« »Ich könnte Ihnen einige aktuelle Angebote zusammenstellen.« »Mit Bildern?« »Ja, das wäre vielleicht im Moment am einfachsten, Mr. …« »Stevenson.« »Das erledigen wir gern für Sie, Mr. Stevenson. Wie schreibt man Ih ren Namen bitte?« 79
Auf der Stelle bereute Lake seine Ehrlichkeit. Selbst die nur mittelbar mit dem Hausverkauf zusammenhängenden Aktivitäten verlangten nach einer Verfälschung der Tatsachen. »S-t-e-p-h-e-n-s-o-n«, buch stabierte er. »Ich möchte Ihre Zeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen, weil ich noch nicht genau weiß, ob ich wirklich etwas kaufen werde. Ich würde nur gern einen kurzen Blick auf die Angebote wer fen, damit ich eine Vorstellung habe, ob ich mir so etwas überhaupt lei sten kann.« »Wohnen Sie im Moment in Philadelphia?« »Ich bin hierher versetzt worden«, sagte er. »Könnte ich heute in Ih rem Büro vorbeikommen? Es dauert nur ein paar Minuten. Nur zur Orientierung.« »Paßt Ihnen fünfzehn Uhr?« »Ja.« »Ich heiße Margaret Evans. Wie groß soll das Haus denn sein?« »Groß.« »Haben Sie Kinder? Ich möchte Sie nicht ausfragen, aber so kann ich etwas heraussuchen, was genau auf Ihre Bedürfnisse zugeschnit ten ist.« »Ein Kind, aber er braucht nicht viel Platz zum Spielen. Er ist ein ziemlich ruhiges Kerlchen.« »Ich werde Ihnen etwas zusammenstellen.«
»Oh«, sagte sie, als er ihr Büro betrat. »Sie sind jünger, als ich dachte.« Er machte ein unverbindliches Gesicht, um ihr die Lust auf weiteren Smalltalk zu nehmen. Sie war eine füllige Frau, und sie war zappelig. Er setzte sich auf den Stuhl neben ihrem Schreibtisch und begann die photokopierten Exposés durchzublättern, die sie für ihn zusammen gestellt hatte. »Dürfte ich Sie fragen, an welchen Preisrahmen Sie gedacht haben?« fragte sie. Lake war voll damit beschäftigt, sich die Zahlen zu merken. Einige 80
Preise waren geradezu astronomisch; die Nullen erstreckten sich bis in die Unendlichkeit. Zwei Häuser sahen ungefähr wie das seine aus. Er überflog Fakten und Zahlen, runzelte äußerlich die Stirn und froh lockte innerlich. Ein solcher Preis würde ihm einen lebenslangen Tau chunterricht in der Karibik finanzieren oder – noch besser – InstruX den Weg ins Videogeschäft und andere Wachstumsbranchen öffnen. »Wie bitte?« fragte er. »Ich wollte wissen, welche Preiskategorie Sie sich vorgestellt hatten.« »Diese hier werde ich mir nicht leisten können, fürchte ich.« »Von woher sind Sie versetzt worden?« »Alaska.« »Soviel ich weiß, sind Immobilien in Alaska auch nicht gerade billig.« »Nicht dort, wo ich wohne.« »Chestnut Hill ist eine unserer teuersten Adressen. Vielleicht dürfte ich Ihnen eine andere Gegend vorschlagen.« »Ich muß mir das Ganze noch mal durch den Kopf gehen lassen. Vie len Dank, Mrs. Evans. Auf jeden Fall weiß ich jetzt, wo ich stehe. Soll te ich mich zum Kauf entschließen, werde ich Sie anrufen. Aber ver mutlich werde ich mir zunächst mal etwas mieten. Sehr wahrschein lich sogar.« Sie machte Anstalten, ihm ihre Hilfe bei der Anmietung eines Hau ses anzubieten. Er dankte ihr nochmals und machte, daß er wegkam, schuldbewusst, weil er gelogen hatte, aber beruhigt wegen der vielen Nullen.
Jennifer rief am Donnerstag nicht an. Am Abend, als er Randall Gas si führte, grübelte er nach, weshalb sie nichts von sich hören ließ. Viel leicht war sie als Maklerin nicht aggressiv genug. Vielleicht täuschte sie ihm mangelndes Interesse vor, um ihn auf ein niedriges Gebot einzu stimmen. Vielleicht gehörte die Hinhaltetaktik aber einfach zur übli chen Dramaturgie von Immobilienmaklern. Er wußte nicht, woran er bei ihr war. 81
Am nächsten Tag, Schlag halb neun, erschien Mrs. Lundquist, als er gerade mit Randall von einem Spaziergang um den Block zurückkam. »Wir waren schön lange spazieren«, sagte er, als er sich ihr mit müden Schritten näherte, um zu suggerieren, er sei kilometerweit gelaufen. »Waren Sie diese Woche bei den Veres?« »Ja.« »Wie geht es Mr. Vere?« »Ich habe ihn nicht gesehen.« »Richten Sie ihm das nächste Mal schöne Grüße von mir aus und sa gen Sie ihm, daß es uns hier gutgeht. Randall gewöhnt sich offenbar ganz gut an mich.« »Ja.« »Lassen Sie ihn heute bitte länger als sonst im Garten, Mrs. Lund quist. Frische Luft tut ihm bestimmt gut.« Er klinkte die Leine aus. Randall trottete davon. Lake ging zu seinem Auto.
Am gleichen Nachmittag verkündete Mary: »Eine Jennifer Dee will dich sprechen.« Lake hob den Hörer ab. »Hallo«, sagte er. »Wir haben jetzt einen Richtpreis kalkuliert.« Er hielt die Luft an. Sie nannte den Betrag, fast hunderttausend Dollar mehr, als er er wartet hatte. »Ja, das scheint im Rahmen zu liegen«, sagte er. »Wenn Sie sich dazu entschließen, mit uns zusammenzuarbeiten, be reite ich einen Exklusivvertrag vor. Wenn Sie wollen, verpflichten wir uns auch dazu, Ihr Angebot nicht auf die Computerlisten zu setzen.« »Soweit bin ich noch nicht. Und ich möchte noch ein paar zusätzli che Vertragsklauseln mit Ihnen besprechen, bevor wir etwas schrift lich abmachen. Das hatte ich ja schon angedeutet.« »Darüber können wir uns natürlich noch unterhalten.« »Glauben Sie, daß wir das Haus zu diesem Preis verkaufen kön nen?« 82
»Ja.« »Soll ich mich noch bei anderen Maklern erkundigen?« »Ehrlich gesagt, bin ich der Meinung, daß Sie sich für uns entschei den sollten.« »Aber vor zwei Tagen haben Sie mir noch empfohlen, mich auch wo anders umzusehen.« »Vor zwei Tagen haben wir uns nur unverbindlich unterhalten. Aber jetzt möchte ich Ihr Haus verkaufen.« Aus unerfindlichen Gründen störten ihn ihre Worte. »Sprechen wir über den Vertrag«, sagte er. »Mein Problem ist, daß ich alles so ver schwiegen wie möglich abgewickelt haben möchte. Mir wäre es am liebsten, wenn niemand erfährt, daß das Haus zum Verkauf steht – vorausgesetzt, ich entschließe mich dazu, es zu verkaufen. Also keine Werbetafeln und keine Anzeigen.« »Das können wir in den Vertrag aufnehmen.« »Ich möchte die Vereinbarung auch jederzeit kündigen können.« »Das ist allerdings ein Problem.« »Das ist eine sehr delikate Angelegenheit, und ich möchte zurücktre ten können, wenn ich es für nötig halte.« »Warum?« »Das Andenken an meine Tante und so weiter. Es könnte sein, daß ich ihre Freunde vor den Kopf stoße, wenn ich das Haus schon jetzt verkaufe. Ich kann es Ihnen nicht im Detail erklären, aber bei die ser Geschichte spielen Gefühle eine große Rolle. Ich werde mich nicht zum Verkauf entschließen, wenn ich nicht alles stoppen kann, falls ich es für nötig halte. Ich habe es zwar nicht vor, möchte aber die Möglich keit dazu haben.« »In anderen Worten, Sie erwarten von uns, daß wir unsere Zeit und unsere Arbeitskraft investieren, um einen Käufer zu finden, aber wenn wir einen gefunden haben, der alle Voraussetzungen erfüllt und den Preis zahlen will, möchten Sie die Freiheit haben zu sagen, daß Sie nicht mehr an einem Verkauf interessiert sind. Für uns ist das eine sehr schwierige Situation.« »Es ist ja nur als Vorsichtsmaßnahme gedacht.« 83
»Ich muß das erst mit meinen Partnern besprechen.« Eine Stunde später rief sie an. »Okay«, sagte sie. »Es ist zwar nicht üblich, aber wir sind einverstanden.« Dieses Zugeständnis war für Lake der Beweis, daß sie das Haus für einen Verkaufsschlager hielt; ganz bestimmt hatte er recht. Sein Plan entwickelte sich wunderbar, und nun hatte er sogar einen ver traglich abgesicherten Notausgang, falls sich die Situation aus ir gendwelchen Gründen zuspitzen sollte. »Setzen Sie bitte den Ver trag auf und schicken Sie ihn mir zu«, sagte er. Dann fiel ihm ein, daß Mrs. Lundquist vielleicht Lunte riechen könnte, falls sie in der Post einen Umschlag von einer Immobilienfirma entdecken sollte. »Schicken Sie ihn an mein Büro. Wundern Sie sich nicht, wenn ich ihn nicht sofort zurückschicke. Ich muß vorher noch einiges klä ren.« »Okay.« »Ich muß Ihnen eine etwas dumme Frage stellen«, sagte er. »Kennen Sie einen guten Partyservice?« »Wofür?« »Für ein kaltes Buffet, nichts Großes.« Sie gab ihm eine Adresse. Er hoffte immer noch, Ellen umstimmen zu können, obwohl ihm klar war, daß er die Frage des Partyservice nicht nochmals direkt ansprechen durfte. Sie mußte selbst einsehen, daß das die bessere Lösung war.
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A
m selben Abend fand er zwischen Rechnungen und den üblichen Werbebriefen, die ihm Mrs. Lundquist auf den Tisch in der Ein gangshalle gelegt hatte, eine Einladung: Cocktail bei den Veres, 20. Juni; u.A.zv.g. 84
Er studierte die Einladung: Aus welchem Grund sollten ihn die Veres zum Cocktail bitten? Vielleicht hatten sie ja schon Verdacht geschöpft, und Vere wollte die Gelegenheit nutzen, ihn einem Verhör zu unter ziehen. Er würde absagen, sich mit seinem übervollen Terminkalender entschuldigen, eine Wochenendreise nach China vorschieben, um die Werbetrommel für eine neue Serie von Betriebsanleitungen auf Man darin zu rühren. Andererseits sollte er vielleicht doch hingehen. Dann hätte er Gele genheit, ihnen vom Haus vorzuschwärmen und seine wachsende Zu neigung zu Randall zu proklamieren. Ja, das wäre genau der richtige Schachzug. Das Haus übertrifft meine kühnsten Erwartungen, würde er sagen. Plus: Ich kann's immer noch nicht glauben, wie schnell einem so ein Hund ans Herz wachsen kann. Er ging ans Telefon. »Mrs. Vere, bitte«, sagte er, als er eine weibliche Stimme hörte. »Am Apparat.« »Hier spricht Lake Stevenson, Mrs. Vere. Vielen Dank für Ihre Ein ladung am zwanzigsten Juni. Ich komme sehr gerne.« »Das freut mich. Ihre Tante war eine so gute Freundin von uns. Ich bin wirklich froh, daß Sie das Haus geerbt haben.« »Ich kann mein Glück immer noch nicht fassen«, sagte er. »Und dann noch Randall quasi als Bonus.« »Randall?« »Der Hund von Tante Ilsa.« »Ach ja, natürlich. Ich freue mich wirklich, daß Sie kommen können. Außer Ihnen haben wir noch ein paar Nachbarn eingeladen. Billing ton meinte, daß Sie vielleicht ein paar von ihnen kennenlernen möch ten. Keine Angst, es sind nicht nur alte Knacker, ein paar junge Leute sind auch dabei.« »Bitte grüßen Sie Mr. Vere. Und danke übrigens, daß Sie Mrs. Lund quist übernommen haben. Hier im Haus habe ich wirklich nicht genü gend Arbeit für sie.« »Sie ist eine große Hilfe«, sagte Mrs. Vere. Lake dachte: Sie ist eine Informantin, das ist sie. Aber Mrs. Vere hat 85
te bestimmt keine Ahnung davon. »Bis zum zwanzigsten also«, verab schiedete er sich.
Dazwischen lag seine eigene Party und Ellens hartnäckige Weigerung, die Logik eines Partyservice einzusehen. Er versuchte, sie in die rich tige Richtung zu stupsen. Eines Abends zeigte er auf ein schön arran giertes Foto in einer Kochzeitschrift – ein Tisch mit einem knuspri gen Braten, einem riesigen Salatbuffet, Käse, Brot und anderen Versu chungen, alles in Szene gesetzt mit unzähligen Kerzen und üppigem Blumenschmuck. »Das war bestimmt 'ne Menge Arbeit«, kommentier te er das Bild. »Nicht gerade aus dem Leben gegriffen«, sagte Ellen. »In dem Artikel steht, daß es bei jemandem zu Hause aufgenommen worden ist.« »Es ist ein gestelltes Foto. Um das zu machen, karren sie ein ganzes Team an.« »So etwas wie 'nen Partyservice, oder?« Sie gab keine Antwort. Dann sagte sie: »Das Tischtuch gefällt mir. Vielleicht hat deine Tante ja ein Spitzentischtuch, das wir hernehmen können.« »Das bezweifle ich.« »Ich finde bestimmt eins«, sagte sie. Lake legte die Zeitschrift beiseite. Als Ellen im Haus das Abendessen zubereitete, um ein Gefühl für die Küche zu bekommen, probierte er es mit einem anderen Trick. Er half ihr beim Kochen, räumte so viele Schüsseln, Messbecher, Töpfe und Pfannen wie möglich heraus; machte so viele Schneebesen, Kochlöffel, Messer und Suppenkellen schmutzig, wie er nur konnte, und stapelte alles in den zwei Spülbecken übereinander. »Schau dir diesen Saustall an«, sagte er. »Das muß doch auch anders gehen.« »Das geht auch anders, wenn du zwischendurch immer wieder sau bermachst.« 86
Anschließend stellte sie ihm eine Einkaufsliste für die Party zusam men. Sie war zwei Seiten lang. »Das werde ich zeitlich vielleicht gar nicht schaffen«, sagte er. »Of fenbar haben wir uns doch ein bißchen viel zugemutet.« »Dann nimm dir die Zeit«, antwortete sie. Er überlegte, ob er den Herd außer Betrieb setzen sollte. Ohne Herd würde ihr nichts anderes übrigbleiben, als einen Partyservice zu be auftragen. Aber so weit wollte er dann doch nicht gehen. Sie beobachtete ihn. »Was hast du eigentlich für ein Problem?« frag te sie. »Was meinst du mit Problem?« »Du widersetzt dich schlicht allem, was mit der Party zu tun hat.« Er gab auf. »Ich habe keine Beziehung zu diesem Haus«, sagte er. »Und warum versuchst du's nicht?« »Kannst du dir vorstellen, daß ich hier wohne?« Sie sagte nichts. Sie schaute ihn an, aber in Wirklichkeit betrachtete sie etwas hinter ihm. Sie formte einen Gedanken. »Ist schon gut«, sagte er. »Mach dir keine Mühe.«
Als der Tag der Party gekommen war, zeigte sich Ellens Organisati onstalent mit voller Wucht. Ihre Energie riß ihn mit und schwappte ihn zu den verschiedenen Besorgungen, die noch zu erledigen waren. Er holte Eis, spülte Gläser, stellte in der Bibliothek einen Tisch für die Drinks auf, rückte Bilder zurecht, wählte die Musik aus. Er wusch Sa lat, schnitt Brot für die Croutons, spülte Schüsseln, die sie nicht mehr brauchte. Randall lief ständig hinter ihm her, denn es duftete überall verführerisch nach Fressbarem. Ellen schickte Lake erneut los, um Sahne und Thymian zu besorgen. Als er aus dem Supermarkt kam, sprach ihn der Junge an, der ihm half, die Einkäufe ins Auto zu laden. »Ey, Mann, heut waren Sie aber schon oft da.« »Wir geben 'ne Party.« 87
»Super, Mann! Partys am Sonnabend sind Klasse.« »Mal sehen«, sagte Lake. »Letzte Woche ist bei mir 'ne Fete gestiegen, aber die Bullen ham ir gendwann dazwischengefunkt.« »Wie das?« »Zuviel Krach.« »Ach so.« »Also, ich hab denen gesagt, daß wir ganz leise sind.« »Und dann?« »Dann sind se wieder abgehauen.« »Eigentlich sind sie bei solchen Sachen ziemlich human«, sagte Lake. »Man kann den Leuten doch nicht verbieten, Feste zu feiern.« »Schön war's. Am Ende ham se uns endgültig den Saft abgedreht.« »Im Ernst?« »Mein Bruder hat mit aufs Revier gemusst.« »Mann, das muß euch ja einen ganz schönen Dämpfer gegeben ha ben.« »Ey, Mann, darauf können Sie einen lassen.« »Zu uns kommen vermutlich eher ruhige Leute«, sagte Lake. »Sehen Sie zu, Mann, daß die Fenster zu sind. Und die Türen auch.« »Mach ich. Und außerdem habe ich einen Hund, der gegen Lärm all ergisch ist.« »Muß 'n Polizeihund sein.« »Nein. Dafür ist er zu kurz geraten. Sie sind übrigens nicht zufällig an einem Hund interessiert?« »Was soll ich mit 'nem Köter?« »Also, ich muß jetzt los.« »Viel Spaß dann heut bei Ihrer Fete. Falls jemand bei Ihnen anklopft, sagen Sie einfach: Falsche Baustelle, Leute. Alles unter Kontrolle.« Diese Unterhaltung erinnerte Lake daran, daß an diesem Abend Randalls Anwesenheit entbehrlich war. Je weniger Menschen von sei ner Existenz wußten, desto besser. »Ich sperre den Hund dann oben ein«, sagte er zu Ellen, als er zurückkam. »Er stört doch nicht.« 88
»Er ist sehr lärmempfindlich.« »Bitte schäl das mal, ja?« Er schälte und wusch und schleppte und holte. Auf dem Herd und im Ofen brodelte und brutzelte es. Ein Salat nahm Gestalt an. Auf ei ner Platte mit Goldrand formten sich hauchdünne Schinkenscheiben zu einer Irisblüte. Von irgendwoher zauberte Ellen Blumenkohlrös chen und ein Dressing. In einer runden Form lag ein Kuchen, garniert mit Kiwi und Pfirsichen. Durch das Haus zogen köstliche Düfte. Aus den Schränken und Schubladen im Anrichtezimmer förderte sie zarte Dessertschüsselchen aus Glas zutage, die leise sangen, wenn man sie berührte, reich ziselierte Salzfässchen mit Rändern aus Ko baltglas, einen ganzen Schatz silberner Teller und Servierplatten, Sta pel von Leinendecken, unzähliges Porzellangeschirr. Lake verbrachte fünfundvierzig Minuten damit, das Silber zu polieren, und überschlug spaßeshalber, was das Silber bei einer Auktion wohl einbringen würde. Natürlich fand Ellen ein Tischtuch aus Spitze, mit dem sie den Tisch im Esszimmer deckte. Dann ging sie ins Wohnzimmer und revidierte sein wohldurchdachtes Möbelarrangement; aber es war ihm egal. Im Handumdrehen war der Nachmittag vorüber, und das leuchten de Blau des Himmels verblasste. Er ging in den Garten und lausch te dem Vogelgesang. Er fühlte sich wohl. Ellen war oben und zog sich um. Vielleicht würde der heutige Abend ja die Risse in ihrer Beziehung wieder kitten. Dann war es halb acht, Randall war im Dachboden weggesperrt, und leise Musik rieselte durch die Räume. Es läutete an der Tür, und die ersten Gäste trudelten ein: zunächst Ed Sparkman und seine Frau, dann Ellens Freundin Ruthie mit jemandem, den sie ihm als Morgan oder Morton vorstellte, dann weitere Leute, und nach acht erschien Bob mit seiner angeblichen Freundin Marion – Bob sah aus wie einem Modemagazin entstiegen; großgewachsen, dunkles, welliges Haar, di stanziertes Lächeln, gestreiftes Hemd, keine Krawatte, Jackett mit brei ten Aufschlägen, auffallende Kordsamthosen; an den Füßen trug er schwarze italienische Trotteurs aus dem Leder einer vermutlich fast ausgestorbenen Eidechsenart. Bob sah absolut nicht wie jemand aus, 89
der in einer Steuerkanzlei arbeitet, absolut nicht. Doch Lake registrier te nur die Fakten. Ein Glas Sauvignon Blanc hatte ihm inzwischen die nötige Gelassenheit verschafft; er schwebte quasi über den Dingen und er gab sich dem üblichen Small talk hin.
»Julia, Ed, schön, euch zu sehen!« »Kommen wir zu früh?« »Nein, nein, überhaupt nicht. Kommt herein.« »Wir sind zu früh.« »Aber nein.« »Er ist immer so überpünktlich.« »Wenn zu mir jemand halb acht sagt, soll ich da vielleicht anneh men, daß er lügt?« »Kommt doch herein.« »O Gott, schau dir das an! Jesus, Maria! Lake, das ist ja unglaub lich!« »Nun ja.« »Es ist unglaublich.« »Es ist das Haus meiner Tante. Ich bin gerade erst eingezogen.« »Ach, ist der Teppich schön.« »Sie ist vor ein paar Monaten gestorben.« »Der Spiegel da. Ist der antik?« »Möglich.« »Bestimmt. Schau dir nur das Glas an. Er ist antik.« »Kommt weiter. Ihr nehmt doch bestimmt einen Drink. Julia, was möchtest du?« »O Gott!« »Ellen kommt gleich herunter.« »Ich hab's doch gewußt! Wir sind zu früh, Ed.« »Bestimmt nicht.« »Wer ist das?« »Mein Onkel Paul.« 90
»Du siehst ihm ähnlich.« »Wir waren nicht verwandt.« »Er hat den gleichen Gesichtsausdruck. Dieselben Augen.« »Er ist erst durch Heirat mein Onkel geworden.« »Läßt du ihn da oben hängen?« »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Warum?« »Reine Neugierde. Er paßt genau da hin.« »Vielleicht Lass ich ihn hängen. Ich hab mich noch nicht entschie den.« »Hi, ihr beiden.« »Ellen, dein Kleid ist traumhaft.« »Vielen Dank.« »Dieses Haus ist einfach unglaublich.« »Lake hat's geerbt.« »Weiß ich. Hab ich schon gehört.« »Susan, soll ich dir einen Drink holen?« »Also das ist das Haus.« »Ja.« »Ellen hat es mir schon beschrieben. Es ist wunderschön.« »Cleverer Monopoly-Zug, Lake.« »Danke, Charlie.« »Du siehst aus, als würdest du dich hier schon richtig zu Hause füh len.« »Ich hole euch noch Wein.« »Danke. Weißt du, was mir zutiefst zuwider ist?« »Was?« »Niedrige Zimmerdecken.« »Meine alte Wohnung hatte eine niedrige Decke. Find ich gar nicht so schlecht. Mit der Zeit gewöhnt man sich dran.« »Der Raum hier ist bestimmt dreieinhalb, wenn nicht sogar vier Me ter hoch.« 91
»Ja, ziemlich hoch.« »Ich bin Innenarchitektin.« »Bist du mit Steve gekommen?« »Mit Bill. Weißt du, wie der Bezugsstoff auf diesem Sessel heißt?« »Nein.« »Clarence House. Todsicher. Hast du vor, dich anders einzurich ten?« »Vermutlich.« »Ruf mich an, wenn du Unterstützung brauchst.« »Gern.« »Du möchtest doch bestimmt etwas mit diesen Vorhängen ma chen.« »Ich möchte …?« »Ja, um das Zimmer aufzuhellen.« »Meinst du, die sind zu dunkel?« »Bestimmt.« »Du hast recht. Ich werde sie wegnehmen.« »Und die Lampen da?« »Ich verstehe, was du meinst. Ziemlich altmodisch.« »Wir können vieles hier wieder verwerten.« »Vielleicht sollte man am besten alles rausschmeißen.« »Du würdest dich wundern, was man nur mit Farben und Stoffen al les zaubern kann.« »Ich würde am liebsten alles rausschmeißen.« »Ellen sieht einfach toll aus.« »Wie geht's dir, Ruthie?« »Sie sieht so glücklich aus.« »Ja.« »Mit wem unterhält sich Ellen gerade?« »Sie heißt Marion. Sie ist zusammen mit Bob gekommen, dem Typ aus ihrem Büro.« »Ach so, Bob.« »Kennst du Bob?« 92
»Kann sein, daß ich ihn schon mal gesehen habe.« »Und wo?« »Bei Ellen im Büro, glaube ich.« »Und er hat in ihrem Büro rumgehangen?« »Nein. Ich meine, er war einfach nur da.« »Weißt du, daß sich Ellen für eine Abendschule angemeldet hat?« »Sie ist so intelligent.« »Das war doch Bobs Vorschlag, oder?« »Ja, ich glaub, er hat sie dazu ermutigt.« »Gut für ihn.« »Sie hat schon länger damit geliebäugelt, weißt du?« »Guter Typ, dieser Bob. So ermutigend.« »Was meinst du damit?« »Was macht Morgan?« »Morton.« »Was macht Morton?« »Er arbeitet im Anzeigenverkauf eines Video-Journals.« »Ich muß mich mit ihm über Videos unterhalten.« »Lake, sag den Leuten bitte, daß sie in fünf Minuten ins Esszimmer gehen sollen.« »Kann ich was helfen?« »Sieh einfach zu, daß die Leute in fünf Minuten ins Esszimmer ge hen.« »Ich werde sie ermutigen, sich dorthin zu bewegen.« »Hast du getrunken?« »Ein oder zwei Gläser.« »Keinen Wein mehr.« »Keinen einzigen Tropfen.« »Kümmere dich um Ruthie. Sie kann den Typ nicht ausstehen, mit dem sie gekommen ist.« »Er ist ein guter Mann. Er ist im Video-Geschäft.« »Fünf Minuten.« »Lake, kann ich mich mal kurz oben umsehen?« »Klar.« 93
»Am liebsten würde ich mir das ganze Haus anschauen.« »Schau dich nur überall um, Charlotte.« »Liebst du das Haus?« »Liebe ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort.« »Du bist bestimmt begeistert. Du mußt doch jeden Morgen mit dem Gefühl aufwachen, zu träumen.« »Vielleicht hat es sich bei mir noch nicht gesetzt.« »Ich wäre komplett aus dem Häuschen!« »Dieses Haus würde in deine Garage passen, Charlotte.« »Ich hasse mein Haus.« »Ich würde dir dieses anbieten, aber ich glaube kaum, daß Frank da mit einverstanden wäre.« »Bob, geht's dir gut?« »Lake.« »Richtig.« »Nett hier. Ist vermutlich aus den zwanziger Jahren.« »Keine Ahnung.« »Bestimmt.« »Woher weißt du das?« »Ist doch offensichtlich.« »Du arbeitest also mit Ellen zusammen?« »Ja, früher einmal. Du hast da was auf deinem Jackett.« »Ein verirrtes Fusilli.« »Ellen ist eine gute Köchin.« »Woher weißt du, daß sie das gekocht hat?« »Sie hat es mir gesagt.« »Aber vielleicht war es ja auch naheliegend.« »Und was machst du beruflich, Lake?« »Ich stelle Betriebsanleitungen her. Ich habe eine Firma; sie heißt In struX.« »Familienunternehmen?« »Ich habe sie gegründet. Was meinst du, soll ich das auf meine Visi tenkarte schreiben? Firmengründer und Geschäftsführer?« »Das würde ich nicht tun.« 94
»Ich weiß nicht. Ich möchte keinen Zweifel daran lassen, wer der Fir mengründer ist.« »Und wie sind deine Verkaufszahlen?« »Wir verkaufen Dienstleistungen.« »Ich meine, dein Umsatz. Wie hoch ist dein Umsatz?« »Ach so. So um die fünfzig Millionen, vielleicht auch einundfünf zig. War nur Spaß, etwas weniger ist es schon. Im Moment sind wir zu viert. Was weißt du über Bedienungsanleitungen für Video?« »Rein gar nichts.« »Vielleicht wird das bei Steuerleuten auch nicht gebraucht.« »Nein.« »Besonders dann nicht, wenn du 'ne Betriebswirtin hast.« »Wer ist der auf dem Bild da?« »Nur ein Banker. Der Banker meiner Tante. Ihr Mann.« »Welche Bank?« »Keine Ahnung.« »Mir gefällt seine Taschenuhr.« »Ja, diese Serie sollte man wieder neu auflegen.« »Hallo, Charlotte, schöne Frau. Hast du dich umgesehen?« »Du bist noch nicht eingezogen. Es ist noch nichts von deinen Sa chen da.« »Die Möbelpacker sind für nächste Woche bestellt.« »So ein Umzug macht abartig viel Arbeit.« »Na ja, vielleicht überleg ich's mir ja auch noch anders.« »Lake, hast du was verloren?« »Was ist das?« »Ein Brief oder so was Ähnliches.« »Wo hast du den gefunden?« »Auf dem Stuhl, unter dem Sitzkissen. Mir sind ein paar Münzen aus der Tasche gerutscht. Und wie ich das Sitzkissen hochhebe, liegt es da. Wer ist Randall?« »Der Hund meiner Tante.« »Ganz schön schwer zu entziffern. Irgendwas über den Stuhl und Randall. Hat sie das geschrieben?« 95
»Ja.« »Schau dir bloß diese Handschrift an! Als sie das geschrieben hat, war sie bestimmt nicht gut drauf.« »Stimmt.« »Und du hast den Brief nie vorher gesehen?« »Nein.« »Vermutlich hat sie ihn selber druntergeschoben.« »Vielleicht war das ihre Art, ihn an mich zu schicken. Zu der Zeit war sie zu nichts anderem mehr in der Lage.« »Das da sieht aus wie ›nicht vertrauenswürdig‹.« »Stimmt.« »Du kannst das lesen?« »Ganz und gar.« »Na gut, ich bin ja auch nur der Postbote.« »Ich sollte wohl mal 'nen Rundgang durchs Haus machen. Vielleicht gibt's ja noch mehr von diesen Briefen.« »Gute Nacht, Charlotte, schöne Frau.« »Nacht, Lake.« »Grüß Frank.« »Wo ist Ellen? Ich möchte mich auch noch von ihr verabschieden.« »Hab sie nicht gesehen.« »Ach, da ist sie ja! Gute Nacht, Lake, mein Schöner.« »Vielen Dank, Lake. Ich finde dein Haus einfach Klasse.« »Gute Nacht, Ruthie. Bis dann, Morgan. Ich ruf dich an.« »Was?« »Wir müssen uns über Videos unterhalten. Ich ruf dich an.« »Super Party.« »Wird nicht die letzte sein.« »Noch 'n Ende.« »Was?« »Nächstes Wochenende. Sonntag, bei den Phillies, hast du's schon vergessen? Baseball!«
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»Tschüs.« »Lake?« »Tschüs.« »Mit wem sprichst du?« »Ach, Ellen.« »Mit wem hast du gerade gesprochen?« »Mit mir selbst. Hab die Akustik gecheckt.« »Bist du betrunken?« »Bestimmt nicht.«
Ohne auf die Uhr zu sehen – er wußte, daß es spät war und vielleicht sogar schon zu spät –, sammelte er Gläser, Servietten und Teller ein und trug sie in die Küche, wo Ellen die Arme bis über die Ellbogen im Spülwasser hatte. Ein Teller rutschte ihm aus der Hand und fiel auf den Fußboden. Winzige Scherben weißen Porzellans mit Goldrand schep perten über den Küchenboden und bestätigten seine Meinung über den Partyservice; das wäre sonst nie passiert, weder wäre etwas zer brochen, noch hätte man hinterher alles aufräumen müssen, und man hätte sich um nichts kümmern müssen. Jetzt mußte er alle Scherben mühsam zusammenklauben. Ellen sagte: »Geh ins Bett, Lake.«
Er ging ins Bett.
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A
ls er am nächsten Morgen die Augen aufschlug, war das Bett ne ben ihm leer, und in seinem Schädel hatte sich ein Gehirn breitge macht, das fürchterlich schmerzte und folglich nicht ihm gehören 97
konnte, denn er hatte nie Kopfschmerzen. Aber andererseits trank er normalerweise auch nicht so viel, also war es vielleicht doch seins. Und zu allem Überfluss strafte es ihn mit einem haargenauen Playback all dessen, was er am Vorabend von sich gegeben hatte. Er stellte sich un ter die Dusche und ließ heißes Wasser auf sich niederprasseln. Anschließend sah er sich den zerknautschten Brief an, den Steve un ter dem Sitzkissen im Wohnzimmer gefunden hatte. Es war das ge prägte Briefpapier seiner Tante, die Handschrift stammte zweifellos von ihr – eine krakelige, fehlerbehaftete Version des Briefes, den sie ihrem letzten Willen beigelegt hatte. Sie mußte diese Notiz nach ih rem ersten oder zweiten Schlaganfall geschrieben haben, als sie noch in der Lage war, sich eigenständig fortzubewegen und, mehr schlecht als recht zwar, aber immerhin noch denken konnte. Er las: Mein lieber Lake, Du darfst Randall nicht erlauben, auf Stühle zu springen. Einmal habe ich ihn auf diesem Stuhl schlafend vorgefunden. Ich habe ihn bestraft und geglaubt, es ihm ausgetrieben zu haben. Aber seither habe ich des öfteren feststellen müssen, daß die Kissen eingedrückt waren. Randall ist ansonsten durchaus vertrauenswürdig, aber viel leicht hat er es nicht ganz verstanden. Wenn Du ihn auf diesem Stuhl vorfinden solltest, kannst Du davon ausgehen, daß er weiß, daß er es nicht darf. Der Brief stimmte Lake traurig; er stellte sich vor, wie sie sich abmüh te, diese Worte zu Papier zu bringen, um ihm von Randall zu erzäh len. Er legte den Brief in die oberste Schublade der Kommode unter seine Socken. Ellen war in der Küche und stellte auf der Theke Gläser in einer Rei he auf. »Komm, ich helf dir.« »Ich bin schon fast fertig.« »Wie lange bist du schon hier unten?« »Etwa eine Stunde.« »Du hättest auf mich warten sollen.« 98
»Kein Problem.« »Mach Schluß. Ich kümmere mich um den Rest.« »Du kannst die Teller abtrocknen helfen.« »Gestern habe ich einen zerbrochen.« »Stimmt.« »Ich war gar nicht richtig betrunken.« »Nein.« »Ich hab mich blöd benommen.« »Ich hab nichts bemerkt.« »Ich hab den ganzen Abend idiotische Sachen von mir gegeben.« »Mach dir darüber keine Sorgen. Du warst schon okay. Allen hat es gefallen.« »Ja, wirklich?« »Es war eine gelungene Party«, sagte Ellen. »Meinst du?« »Mir hat's gefallen.« »Vielleicht sollten wir das öfter machen«, sagte er. »Lake.« »Was?« »Ich finde, wir sollten uns eine Zeitlang nicht mehr sehen.« »Ich wußte, daß du das sagen würdest.« »Du bist also auch dieser Meinung. Egal, wir werden es jedenfalls tun.« »Ich hätte dir mehr helfen sollen.« »Das hat nichts mit der Party zu tun. Die Party war okay.« »Komm, setzen wir uns in den Garten und ruhen uns etwas aus.« »Nein. Ich möchte, daß du mich nach Hause fährst, wenn wir hier fertig sind. Ich hab noch einiges zu erledigen.« Auch er hatte einiges zu erledigen, obwohl er zunächst nicht genau wußte, was. Er las die Zeitung, kommentierte Layouts für das Soft wareprojekt, schaute sich ein Baseballmatch im Fernsehen an, dachte über Ellen, Bob, Ruthie und Charlotte nach und darüber, wie gern er unstrukturierte Tage mochte, vorausgesetzt, jemand teilte sie mit ihm. Aber er hatte niemanden und wollte auch niemanden. 99
Randall schien zu spüren, daß etwas in der Luft lag, und wich nicht von seiner Seite. Viel später, im großen, leeren Haus, betrachtete Lake den Hund, und plötzlich kam ihm ein Gedanke, gebieterisch, unwi derstehlich. Er dachte: Randall, wir sollten uns eine Zeitlang nicht mehr sehen. Und er dachte: Auf der Stelle. Er würde Randall nicht die Wahl seines Schicksals überlassen. Das Leben läßt einem manchmal keine Wahl. Um elf an diesem Abend ging er mit Randall zum vorderen Garten tor. Er schob ihn hinaus und schloß es hinter ihm. »Viel Glück, Alter«, sagte er. Er ging wieder ins Haus und setzte sich in die Bibliothek. Es war ganz einfach gewesen; er kam sich überhaupt nicht schäbig vor. Während die Minuten verstrichen, konzentrierte er sich darauf, was er Mrs. Lundquist am nächsten Morgen sagen wollte. »Er ist weggelau fen«, könnte er sagen. »Irgendwie hat er es geschafft, durch den Zaun zu kriechen. Die halbe Nacht lang habe ich nach ihm gesucht.« Er könnte zwischendurch immer wieder rufen: »Randall! Hierher, Ran dall! Komm zu Herrchen, Alter!« Er könnte sagen: »Ich fahre noch mal los und suche die Nachbarschaft ab.« Ja, das könnte er sagen. Aber na türlich würde er wie üblich zur Arbeit fahren. Und am Nachmittag oder am nächsten Tag oder spätestens am Mittwoch würde er Jennifer Dee anrufen und sie bitten, sich klammheimlich um den Verkauf des Hauses zu kümmern. Wenn er Glück hatte, war alles innerhalb von ein paar Wochen abgewickelt. Aber selbst während er sich überlegte, was er Mrs. Lundquist sa gen sollte, lauschte er immer wieder in die Dunkelheit hinaus, frag te sich, wo der Hund im Moment wohl sein mochte, ob Randall däm lich genug war, vor ein Auto zu laufen, sah ihn vor sich, von Schein werfern geblendet oder benommen durch dunkle Gassen tappen. Ran dalls Chancen zu lernen, wie er sich aus Mülltonnen bedienen konn te, waren gleich Null. Das einzige, was gegen seinen Tod sprach, war sein gutes Aussehen; aber schon nach wenigen Tagen oder sogar Stun den würde sich Randall so struppig und traurig präsentieren, daß ihn keiner mehr haben wollte. »Mein Gott«, würden die Leute sagen, wenn sie seinen Kadaver fänden, »was muß das für einer sein, der einem 100
Hund so etwas antut?« Ein anderer würde antworten: »Eine Bestie von Mensch. Ohne einen Funken Gewissen. Kaum vorstellbar, daß sich so einer noch selbst in die Augen sehen kann.« Es war ihm klar, daß selbst berechtigter Zorn kein Grund dafür war, einen Hund mitten in der Nacht vor die Tür zu setzen. Er würde sich auf die Suche nach Randall machen. Vielleicht streunte der Hund ja noch irgendwo in der Nachbarschaft herum, bevor er sich in die unbe kannte Welt hinauswagte. In dem Augenblick, in dem Lake erkannte, daß er das Geschehene ungeschehen machen mußte, hörte er ein Bellen – ein einziges, beiläu figes Bellen, typisch Randall. Es klang ganz nah. Lake ging ins Wohn zimmer, schaltete das Licht aus und linste in die Dunkelheit. Randall stand vorm Tor und schaute ihm direkt ins Gesicht. Er hatte sich kei nen Millimeter von der Stelle bewegt. Sein völliger Mangel an Initiati ve hatte ihn gerettet. Lake ging zu ihm. »Sehr clever, Randall«, lobte er. Der Hund spa zierte triumphierend die Zufahrt zum Haus hinauf, und später folgte er Lake ins Schlafzimmer, wo er sich auf seiner Decke ausstreckte, als wäre rein gar nichts geschehen. Immerhin war der Kampf nun ausgefochten. Von jetzt an, beschloß Lake, wird nur noch fair gekämpft. Keine erzwungene Verbannung mehr, dafür die Wiederaufnahme seines Plans, Randall über seine Zukunft selbst entscheiden zu lassen. Ort: der Park. Vorgehen: Lake würde einfach gehen, und der Hund konnte im Park bleiben oder auch nicht, wie es ihm beliebte. Tag: der kommende Samstag, ein Tag, an dem sich viele Hundebesitzer im Park tummelten, die Randalls Rettung sicherstellen würden. Zeit: der Vormittag, damit Randall den ganzen Tag zur Verfügung hatte, seine Arrangements zu treffen. Er satzplan: Randalls Spur verliert sich in einem weit entfernten Tier heim, falls er die Chance auf einen Neubeginn seines Lebens nicht wahrnehmen sollte. Doch wieder zogen Zweifel wie Nebelschwaden auf und verschleier ten die moralische Landschaft. Um sie abzuschütteln und wieder kla rer zu sehen, dachte er über Knebelverträge und Sklaverei nach und an 101
Tantes felsenfeste Überzeugung, jeder sei käuflich. Aber danach sah er auch nicht klarer. Inzwischen fuhr Randall schwere Geschütze auf. Jeden Morgen saß er an Lakes Seite und wartete auf sein Stück getoastetes English Muf fin. Lake erkannte durchaus, daß Randall mit seiner Masche auf eine seit vielen Hundegenerationen bewährte Methode, Bindungen zu fe stigen, zurückgriff, und trotzdem konnte er Randalls höflichem Be nehmen und seiner aufrichtigen Wertschätzung des Gebäcks nicht widerstehen. Damit nicht genug, führte Randall ein ähnliches Ritu al auch beim Abendessen ein. Lake versuchte ihm klarzumachen, daß das Abendessen eine unpassende Gelegenheit war zu teilen, aber er neut mußte er vor dem drängenden Blick dieser Augen kapitulieren. Lake mußte einräumen, daß er Randalls Gesellschaft schätzte. Es gefiel ihm, wenn ihn Randall mit wildem Schwanzwedeln begrüßte, wenn er Abends nach Hause kam. Eines Abends, mitten in der Woche, brachte Randall Lake dazu, ihm Stöckchen zu werfen. Eine halbe Stunde lang jagte Lake den Hund auf dem Anwesen herum. Am nächsten Tag hielt er an einem Geschäft für Tierbedarf und kaufte eine Frisbeescheibe. Im Geschäft entdeckte er auch ein Buch über Springer-Spaniels, das er ebenfalls mitnahm in der Hoffnung, daraus einige neue Erkenntnisse zu gewinnen. Nach einer Runde mit dem Frisbee zog er sich mit Randall in die Bibliothek zu rück. Lake blätterte im Buch. Der erste Teil war gespickt mit schwül stigen Kommentaren zur Rasse, den er überblätterte und sich schließ lich in einem Kapitel festlas, das von den Gefahren für herumstreu nende Hunde handelte. Ist Ihnen bewußt, daß sich ein Hund, der im Wald oder auf Feldern herumstreunt, mit den verschiedensten Parasiten infizieren kann? Dazu genügt es schon, mit einem kleinen Beutetier, einem Kaninchen beispielsweise, das solchen Parasiten als Wirtstier dient, herumzu spielen oder es anzufressen.
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Die Wahrscheinlichkeit, daß Randall ein Kaninchen fangen sollte, war gering. Er las weiter: Grundsätzlich ist der Springer-Spaniel ein Hund, der nicht im Haus gehalten werden muß. Über Generationen hinweg wurde er für die Jagd gezüchtet und hält sich gerne im Freien auf Feldern, in Wäldern und an Flüssen auf. Und weiter: Springer sind sehr robust und widerstehen selbst widrigsten Wetterbedingungen. Lake war beruhigt. Wenn selbst die Fachwelt die Meinung vertrat, daß Springer-Spaniels das physische Rüstzeug besitzen, um in der Wildnis zu überleben, war sein Entsorgungsplan so verwerflich nicht.
Am nächsten Tag unterhielt er sich beim Mittagessen mit Bill über die Idee, Bücher über Haustiere herauszugeben. Ein riesiger Markt, wie Bill sagte. »Vor kurzem habe ich mir so ein Buch angesehen«, sagte Lake. »Sehr wenig Information. Hauptsächlich Lobhudeleien über diese einzigar tige Rasse.« »Ja, so sind fast alle Bücher aufgebaut.« »In dem besagten Buch war übrigens vom fröhlichen Schwanz des Hundes die Rede, der seine Begeisterung signalisiert. Ich zitiere: ›Sein fröhlicher Schwanz‹.« »Um welche Hunderasse ging es dabei?« fragte Bill. »Eine mit langhaarigem Fell.« »Welche Farbe?« »Weiß ich nicht mehr.« »Vielleicht überlegst du dir etwas anderes als Tierbücher. Das ist nicht dein Ding.« »InstruX würde einen völlig anderen Ansatz wählen. Keine Senti mentalitäten. Nichts als Fakten.« 103
»Das entspricht aber nicht dem, was der Markt fordert.« »Hör zu. Weshalb soll ein klares Verfahren und eine klare Technik nicht verkäuflich sein? Dein Hund, deine Katze oder dein Fisch müs sen gefüttert werden. Dein Hund oder dein Vogel muß gebadet wer den. Du mußt ihm die Flügel schneiden oder das Tier auf Krankheiten untersuchen. Manche Leute wären dankbar für konkrete Fakten.« »Vögel badet man nicht.«
»Egal. Dann die Katze.«
»Katzen badet man auch nicht.«
»Dann dein Pferd, verdammt noch mal!«
»Keines davon wird gebadet.«
»Ich weiß aber, daß man Pferde badet. Man spritzt sie mit einem
Schlauch ab.« »Das möchte ich bezweifeln.« »Ich hab schon mal dabei zugeschaut. Im Zoo. Vielleicht war es auch kein Pferd, sondern ein Elefant, aber die Sache an sich ist die gleiche.« Bill zuckte die Achseln. »Wie geht's Ellen?« »Gut.« »Auf eurer Party hatte ich nicht viel Gelegenheit, mich mit ihr zu un terhalten.« »Na ja, sie hat sich dafür anderweitig ganz gut unterhalten«, sagte Lake. »Ellen und ich haben uns getrennt.« »Und ich dachte immer, ihr beide paßt gut zusammen«, meinte Bill. »Wir haben uns auseinandergelebt, wie man so schön sagt.« Bill nickte. »Vermutlich lag das Problem eher bei mir. Ich habe zugelassen, daß es passiert. Ich weiß nicht, warum, ich weiß nur, daß es so war.« »Meistens liegt es nicht nur an einem allein«, sagte Bill. »Wie geht es Sarah? Sie wollte mein Haus neu einrichten.« »Was hast du mit dem Haus vor?« »Vielleicht will ich es loswerden.« »Behalt es«, sagte Bill. »Warum?« »Du und das Haus, ihr paßt gut zusammen.« 104
»Du spinnst wohl.« »Im Ernst.« »Wir passen überhaupt nicht zusammen. Das ist der größte Woh nung-Mensch-Unterschied in der Geschichte der Menschheit, den man sich nur vorstellen kann.« »Vielleicht ist er gar nicht so groß, wie du denkst.« »Komm, reden wir übers Geschäft. Was würde es kosten, dich für InstruX einzukaufen? Wir vergrößern uns. Wir wollen verschiedene neue Sachen anleiern.« »Mir gefällt es da, wo ich bin.« »Stell dir doch einfach mal vor, was dich dazu bringen könnte, zu uns zu kommen. Egal, was. Lass mal deine Phantasie spielen.« »Gib mir das dreifache Gehalt. Überlass mir die Hälfte des Ge schäftskapitals.« Lake war zufrieden. Bill war gewillt, seine Phantasie einzusetzen.
An diesem Abend beschloß Lake nach einem Frisbeematch mit Randall und einem brüderlich geteilten Hamburger, weitere Nachrichten von Tante Ilsa zu suchen, denn er war überzeugt, daß die zerknitterte No tiz über Randalls Vorliebe für Stühle nur Teil einer größeren Kommuni kationsstrategie war. Schließlich war sie eine Stevenson, und die Steven sons waren bekannt für ihre Hartnäckigkeit und ihren langen Atem. Er hatte keine Ahnung, wo er suchen sollte. Wer ist schon in der Lage, die Postverteilungsstrategie einer Frau vorauszusagen, die eine Notiz unter ein Stuhlkissen legt? Er beschloß, im Keller zu beginnen und sich dann hochzuarbeiten. Schon bald stieß er auf eine ergiebige Ader. In einem Karton mit Weihnachtskram lag obenauf ein roter Socken aus Samt, aus dem ein Stück Papier lugte – Tante Ilsas cremefarbenes Briefpapier. Ihre Hand schrift wütete über das Papier, als hätte sie einen elektrischen Sturm in ihrem Gehirn zu Papier gebracht. Auf dem Blatt stand: Das ist Ran dalls Socke. 105
Eines mußte er einräumen: Sie hatte Weitsicht. Sie wollte sicherstel len, daß Lake an Weihnachten Randalls Socke auch wirklich an den Kamin hängte. Leider Gottes würde Santa Claus dieses Jahr aber kei nen Randall vorfinden. In einem Wandschrank im Erdgeschoß entdeckte Lake einen klei nen Korb, gefüllt mit Hundespielzeug – ein Knochen aus Stoff, ein Ball mit einer Klingel darin, Lederstöckchen zum Kauen. Vermutlich war Tante Ilsa der Ansicht, daß diese Dinge für sich selbst sprachen, denn er fand keine Notiz darunter. Er schaute unter alle Sitzkissen auf Stühlen und Sofas, nicht nur im Wohnzimmer, sondern auch in der Bibliothek, fand aber nichts. Dann sah er ein Fitzelchen eines cremefarbenen Etwas hinter dem Verstär ker der Hi-Fi-Anlage. Er versuchte sich vorzustellen, was darauf stand. Vermutlich: »Bitte in der Nacht keine Musik spielen.« Weit gefehlt: Randall mag Mozart. Bei Beethoven wird er unruhig. Er durchsuchte den Schreibtisch. In der mittleren Schublade gab es wiederum einen Zettel: Lake Green Grove Mr. Witter. Von allen Notizen war diese die schwierigste. Tante Ilsa hatte die Worte mit fahrigen, unkontrollierten Strichen quer über die Seite ge krakelt. Wohl schaffte er es, die Worte zu entziffern, daraus schlau wurde er aber nicht. ›Lake Green Grove Mr. Witter‹ ergab keinen Sinn, außer vielleicht als Beweis für die Vergänglichkeit des Fleisches. Er durchsuchte das Esszimmer, das Anrichtezimmer und die Küche, fand aber nichts. Er setzte die Suche im ersten Stockwerk fort, begann an dem einen Ende des langen Flurs und arbeitete sich bis zum an deren Ende durch, vergaß kein Schlafzimmer, kein Badezimmer, kein Ankleidezimmer, keine Kammer. Nichts. Nach ›Lake Green Grove Mr. Witter‹ hatten ihre Kräfte sie verlassen.
Der Samstag rückte näher – der Augenblick der Wahrheit für Randall. Um sich moralische Unterstützung zu holen, studierte Lake das Porträt von Onkel Paul über dem Kaminsims. Es fiel ihm ein, daß er sich Tan 106
te Ilsa immer untergeordnet hatte und still dabeigesessen war, während sie sich mit Lakes Mutter unterhielt. Trotz seiner raubvogelartigen Er scheinung hatte der Mann einen Mangel an Rückgrat. Lake nahm sich vor, am Samstag über Onkel Pauls Schwächen zu meditieren. Unabhängig davon, wie sich Randalls Schicksal entscheiden sollte, war Lake entschlossen, das Haus loszuwerden. Am Donnerstag rief er Jennifer an. »Ich möchte das Haus in der nächsten Woche zum Ver kauf freigeben.« »Haben Sie den Vertrag unterschrieben?« »Ich werde ihn heute Abend unterschreiben und auf kommenden Dienstag datieren.« »Soll ich ihn abholen?« »Ich schicke ihn mit der Post. Bitte denken Sie daran, daß die ganze Angelegenheit wirklich streng vertraulich behandelt werden muß.« »Das verstehe ich. Ich kann Ihnen aber keine absolute Geheimhal tung garantieren. Schließlich muß das Haus besichtigt werden.« »Ich verlange nur Diskretion.«
Es wurde Freitag. Nach dem Frühstück erwartete er die Ankunft von Mrs. Lundquist, entschlossen, das Fundament für seinen Schmerz über den Verlust von Randall zu legen. Durch das Wohnzimmerfen ster sah er sie die Zufahrt heraufkommen. Er ging zur Tür und öffne te. »Guten Morgen, Mrs. Lundquist«, sagte er fröhlich. »Guten Morgen.« »Was für ein schöner Tag«, freute er sich. »Ja.« »Wenn Sie heute in der Küche zu tun haben, werden Sie bestimmt bemerken, daß ich Randall ein größeres Frühstück hingestellt habe als gewöhnlich. Seit ein paar Tagen ist er so energiegeladen.« Sie gab keine Antwort. »Wenn Sie nur sehen könnten, wie er andauernd in der Luft herum schnüffelt«, sagte Lake. »Irgend etwas beunruhigt ihn.« 107
»Um diese Jahreszeit fuhr Mrs. Grinnell immer mit ihm nach Maine.« »Vielleicht hat ihn schon das Fernweh gepackt.« »Ich dachte, Sie würden ihn zu Ihrer Schwester bringen.« »Das hat sich erledigt. Randall bleibt gottlob bei uns. Was ich noch sagen wollte, Mrs. Lundquist: Nachdem Sie ja besonders gern im er sten Stockwerk saubermachen, möchte ich Sie darauf aufmerksam ma chen, daß mein Schlafzimmer bestimmt voller Hundehaare ist. Ran dall schläft jetzt immer dort. Es ist schon erstaunlich, wie sich Hunde an einen neuen Herrn gewöhnen.« »Ja.« »Und umgekehrt genauso«, sagte Lake. Er spürte, daß sie mißtrau isch wurde, und wechselte das Thema. »Haben Sie übrigens irgend wo im Haus Notizen gefunden? Während meine Tante krank war und nicht sprechen konnte, hat sie Notizen gemacht. Damals war ihre Handschrift aber schon schwer zu lesen.« »Ich habe einen oder zwei Zettel gefunden.« »Und was stand darauf?« »Sie waren kaum zu entziffern. Ich hatte nicht den Eindruck, daß sie von Bedeutung waren.« »Wo haben Sie die Zettel gefunden?« »Einer lag in diesem Wandschrank da.« »In dem Korb mit den Hundespielsachen?« »Kann sein. Ja, ich glaube schon.« »Falls Sie noch welche finden, heben Sie die Notizen bitte für mich auf. Die meisten betreffen ja Randall, und schon allein deshalb inter essieren sie mich.« »Gut.« »Haben Sie schon mal den Namen Mr. Witter oder Green Grove ge hört?« »Ich glaube nicht.« »Macht nichts.« »Mr. Stevenson, am Montag fiel mir auf, daß die Marke vom Hunde halsband verschwunden ist.« 108
»Nächste Woche besorg ich eine neue«, sagte Lake. Augen wie ein Luchs hat dieses Luder, dachte Lake, aber die Tatsache, daß ihr die feh lende Marke aufgefallen war, könnte sich für ihn als durchaus vorteilhaft erweisen. Vere und Mrs. Lundquist würden einsehen, daß der abhanden gekommene Hund mangels Marke seinem Besitzer auch nicht zurück gebracht werden kann. Folglich müßte Randall für tot erklärt werden.
Schließlich war es Samstag – ein heißer Tag mit unzähligen Federwol ken am Himmel und erfüllt von sommerlichen Düften. Lake begann den Tag damit, daß er sich vor Onkel Pauls Porträt stellte und über die Defizite dieses Mannes grübelte. Dann machte er sich mit Randall auf den Weg in den Park. Lake wollte unvoreingenommen abwarten, wie sich die Dinge entwickeln. Er war überrascht, daß einige Hunde mit ihren Herrchen bereits die Bühne betreten hatten. Auch Holly und ihr Labrador waren da. »Hi, Luke«, rief sie ihm entgegen. »Hallo, Holly.« Sie trug einen Jogginganzug und hatte ihr Haar zu ei nem Pferdeschwanz gebunden. »Wie geht's Chloe?« »Ach, du weißt noch, wie sie heißt?« »Klar.« Sie lächelte ihn an, ein zerstreutes Lächeln. »Schon ziemlich viel los hier«, sagte er. »Ja«, murmelte sie. Aber sie war mit ihren Gedanken woanders. »Was macht dein Aerobic?« fragte er. »Geht so.« »Und wie geht's Tina?« »Gut.« Als Lake schon weitergehen wollte, ging ihm plötzlich auf, daß mit Holly irgend etwas nicht stimmte. »Ist mit Tina wirklich alles in Ord nung?« fragte er. »Entschuldige«, sagte sie. »Tina geht's wirklich gut. Ich bin nur ein bißchen gestresst.« 109
»Wie das?« »Ach, die Familie.« »Hoffentlich nichts Ernstes.« »Meine Eltern«, antwortete sie mit einem Achselzucken. »Was ist mit ihnen?« »Ich habe gerade mit ihnen telefoniert. Das war ungefähr der zehnte Anruf in zwei Tagen. Aber das interessiert dich bestimmt nicht.« »Interessiert mich doch«, sagte er. »Sie wollten wieder nach Missouri zurück. Und jetzt erwarten sie von mir, daß ich hier alles aufgebe, irgendwohin in die Pampa zie he und mir dort 'ne Arbeit suche. Meine Mutter hat mir angeboten, im Laden meines Stiefvaters zu arbeiten. Das Dorf hat knapp vier hundert Einwohner. Ich weiß gar nicht, warum ich dir das alles er zähle.« »Sag ihnen doch einfach, daß du nicht mitgehst. Du hast doch ei nen Beruf.« »Sie finden, daß Aerobic-Trainerin kein Beruf ist.« Sie wandte ihren Blick ab, sah Missouri. »Das ist doch lächerlich.« »Du hast ja keine Ahnung, was ich den beiden schon alles erklärt habe.« »Holly, tu's einfach nicht. Glaub mir, auf dem Gebiet kenn ich mich aus. Du mußt dich auch überhaupt nicht dafür rechtfertigen.« Sie machte ein verlegenes Gesicht, während sie zu den anderen Hun debesitzern hinüberschlenderten. »So, jetzt muß ich Randall ein biß chen bewegen«, sagte er. »Es wäre schön, wenn du öfter in den Park kämst.« Er konnte ihr schlecht sagen, daß seine Parkbesuche mit dem heuti gen Tage beendet sein würden. Aber diese Unterhaltung hatte ihn der letzten Möglichkeit beraubt, Randall einfach zurückzulassen. Holly tat ihm leid, weil eine so un sichere Zukunft auf sie wartete. Er konnte Randall nicht das gleiche antun. Es gab nur noch eine Lösung, und die war, Randall in einem Tierheim unterzubringen, bis das Haus verkauft war. Danach würde 110
er Randall zu sich in seine Wohnung holen. Sie würden zusammen bleiben. Nachdem Lake nun schon so viel mentale Energie in seinen Plan in vestiert hatte, hätte er doch gerne gewußt, wie Randall auf die Alterna tive zwischen Park und Haus reagieren würde. Diese Frage beschäftig te ihn schon aus rein wissenschaftlichen Motiven. »Komm, Randall«, sagte er. Er ging mit ihm ans andere Ende des Parks und spielte mit ihm eine Zeitlang Frisbee. Randall schaute immer wieder zu den an deren Hunden hinüber. Immer, wenn er sich zu ihnen gesellen woll te, sagte Lake: »Nein.« Als Randall keine Lust mehr hatte, das Frisbee zu apportieren, ging Lake an den Waldrand und setzte sich ins Gras. Randall setzte sich neben ihn und schaute sehnsüchtig zu den anderen Hunden hinüber. Lake tätschelte ihm den Kopf. Dann war der Zeit punkt für den Test gekommen. »Randall«, sagte er. »Ich werde jetzt ge hen. Wenn du willst, kannst du mitkommen. Es liegt ganz bei dir.« Er stand auf. Randall legte sich hin, erschöpft vom Frisbeespiel. Lake entfernte sich zehn Schritte. Randall schloß die Augen. »Ich gehe jetzt, Randall. Komm, wenn du willst, oder bleib hier. Du hast die Wahl. Paß auf dich auf.« Randall war eingenickt. Lake ging zum Hund zurück und stupste ihn mit der Fußspitze an. »Du bist wirklich zum Weinen«, sagte er. Randall stand auf und trot tete hinter ihm her.
Dennoch mußte der Zeitplan eingehalten werden. Wenn Mrs. Lund quist am Montag kam, mußte der Hund weg sein. Am Dienstag würde das Haus zum Verkauf stehen. Zu Hause blätterte Lake in den Gelben Seiten nach Tierheimen. Es gab etwa ein Dutzend Anzeigen. Die Hei me warben mit bewaldetem Gelände, fachmännischer Pflege, eigenen Tierärzten, Trainingsprogrammen und klimatisierten Zwingern. Ein Anbieter bezeichnete sich als Country Club. Ein anderer als Ranch. Er konzentrierte sich auf die Anzeige des Valley View Pet Hotel, das au 111
genscheinlich keine Wünsche offenließ und zu einem Informationsbe such einlud. »Bringen Sie Ihren besten Freund mit, damit er sich selbst ein Bild von uns machen kann«, stand da. Lake rief an und ließ sich eine Wegbeschreibung geben. Eine halbe Stunde lang fuhren sie durch den Sommermorgen. Ran dall saß auf dem Vordersitz und beobachtete, wie die Stadt allmählich in eine Welt ausgedehnter Wiesen und eingezäunter Felder überging. Eine Landstraße führte über eine schmale Brücke und eine Anhöhe hinauf, um dann in ein Tal mit weit verstreuten Bauernhöfen abzufal len. Ein Schild wies auf das ›Valley View Pet Hotel‹ hin. Lake fuhr die Zufahrt hinauf und hielt vor einem niedrigen weißen, blitzsauberen Gebäude, vor dem einige Autos parkten. Lake nahm den Hund an die Leine. »Ist das nicht eine tolle Aussicht, Alter?« sagte er zu Randall. Aber irgendwie stand die Sache von Anfang an unter einem schlech ten Stern. Als sie sich dem Gebäude näherten, stemmte Randall die Beine gegen den Boden; er schien sich vor etwas zu fürchten. Lake zerrte ihn durch die Tür. Von irgendwoher drang gedämpftes Jaulen, Bellen, Winseln und Heulen an sein Ohr. Damit Randall sich wieder beruhigen konnte, blieb er an einer Pinnwand stehen, die mit Postkar ten und Briefen vollgepflastert war. Auf einer davon stand: Liebe Bimi, hoffentlich geht es Dir im Tierhotel gut. Ich hoffe, Du bist ein bra ves Hündchen. Gestern war ich am Strand und bin in den Wellen ge schwommen. Heute gehe ich mit Daddy zum Fischen. Sei ein liebes Hündchen und iss schön brav, sonst kriegst Du Ärger mit mir. Eine Frau hinter dem Tresen sprach ihn an: »Kann ich Ihnen helfen?« Lake schleifte den Hund an die Rezeption. »Die Postkarte auf der Pinnwand an diesen Bimi ist ja wirklich rührend«, sagte er. »Hat sich sein kleines Herrchen doch tatsächlich um ihn gesorgt. Was für eine Rasse war Bimi denn?« »Wir haben so viele Hunde hier. Das weiß ich wirklich nicht mehr.« Lake spürte, wie sich die Leine spannte. Randall zog mit aller Kraft 112
in Richtung Tür. »Ich wäre daran interessiert, meinen Hund hier un terzubringen«, sagte er. »Für längere Zeit wahrscheinlich.« »Natürlich. Wie sind Sie auf Valley View gekommen?« »Durch die Gelben Seiten.« »Darf ich Sie über unsere Sonderprogramme informieren? Wir bie ten Wander- und Spielprogramme an und Sportstunden. Natürlich übernehmen wir auch die Pflege der Tiere. Steht alles in dieser Bro schüre, auch die Preise.« »Sie bieten Wanderungen für Hunde an?« »Natürlich.« »Ist das etwas anderes, als sie hier herumlaufen zu lassen?« »Sie wandern mit einem Trekkingführer.« »Hast du das gehört, Randall?« fragte er. »Trekkingführer.« Aber Randalls Schwanz hing schlaff nach unten und seine Augen waren vol ler Panik. »Vermutlich hat ihn das Gebell eingeschüchtert«, sagte Lake. »Was ist hinter dem Haus?« »Die Zwinger. Jeder Hund hat sein eigenes Gelände, auf dem er sich bewegen kann. Zweimal täglich wird es gereinigt.« »Kann ich mir das mal ansehen?« »Natürlich.« Sie öffnete eine Tür hinter der Rezeption. Das Gebell, Gejaule und Geheule steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Crescendo. Vor ihm erstreckte sich eine lange Reihe von Käfigen, die mit Hunden al ler Rassen besetzt waren, manche von ihnen klebten förmlich an den Drahtzäunen, andere liefen hektisch im Kreis herum, wieder andere verhielten sich eher katatonisch. »Sehr sauber«, bekannte Lake. »Der Pflegeraum ist dort drüben.« Lake achtete nicht darauf. Er hatte alle Hände voll zu tun, Randall hinter sich herzuschleppen, dessen Füße über den Linoleumboden schleiften, während er mit aller Gewalt versuchte, diesem Ort zu ent fliehen. »Mein Hund fühlt sich hier nicht sehr wohl«, sagte Lake. »Manchmal fühlen sie sich durch die Anwesenheit der vielen ande ren Hunde gestört«, sagte die Frau. »Sie gewöhnen sich aber daran.« 113
»Vielleicht ist er noch nicht soweit. Wir überlegen es uns noch ein mal«, sagte Lake. Aber sein Urteil war gefällt. Randall zerrte Lake zur Tür hinaus und den Weg hinunter zum Auto, daß die Muskeln an sei nen Beinen hervortraten. Er zog so heftig an der Leine, daß ihm das Halsband fast die Luft abschnürte. »Ist ja gut«, sagte Lake. »Das hier ist nichts für einen Hund.«
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A
uf dem Heimweg fiel ihm ein, daß er am Abend zum Cocktail bei den Veres eingeladen war. Die Aussicht darauf reizte ihn weniger denn je, und er überlegte sich, ob er anrufen und sagen sollte, er wäre plötzlich krank geworden oder mit einer Autopanne unterwegs liegen geblieben. Nach einigem Hin und Her entschied er schließlich, sich in die Höhle des Löwen zu wagen. Warum auch nicht? Grund für ein schlechtes Gewissen gab es nicht mehr, nachdem inzwischen klar war, daß er Randall behalten würde. Randalls Zuhause wäre zwar nicht der Ort, den Tante Ilsa für ihn bestimmt hatte, aber das ging Vere letzt endlich nichts an. Das war ausschließlich eine Angelegenheit zwischen den Stevensons. Dennoch stellte sich nach wie vor die Frage, wie er den Hund ver schwinden lassen konnte. Den ganzen Nachmittag über wartete er ver gebens auf einen Geistesblitz. Auf der Fahrt zu den Veres entschloß er sich zu einer temporären Taktik: An den Tagen, an denen Mrs. Lund quist in der Peal Avenue Nr. 73 zu tun hatte, würde er den Hund in sei ner Wohnung verstecken. Am Sonntagabend würde er Randall in die Wohnung fahren und am Montag, sobald die Luft rein war, wieder ab holen. Freitags würde er genauso verfahren. Das wäre zwar umständ lich, aber effektiv: Für Mrs. Lundquist und Vere würde der Hund auf gehört haben zu existieren. 114
Das Haus der Veres sah dem Haus von Tante Ilsa ähnlich, nur war es noch größer, die Zufahrt kreisförmig, und es hatte so viele Schornsteine auf dem Dach, daß man davon ausgehen konnte, daß die Besitzer für den Schutz der Wälder allenfalls marginales Interesse aufbrachten. Eine Asia tin öffnete die Tür und führte ihn in den Salon. Er tauchte in ein Stim menmeer ein, entdeckte auf der anderen Seite des Raumes einen Bar keeper in weißem Jackett und steuerte zielsicher auf ihn zu. Ein Tablett schwebte an ihm vorüber. Er pflückte ein kleines, tortenähnliches Teil chen vom Tablett und arbeitete sich weiter durch die Menschenmenge. Soweit er feststellen konnte, kannte er hier niemanden, nicht eine Men schenseele in diesem quasselnden Haufen. Aber vielleicht war das gut so. »Weißwein, bitte«, sagte er zum Barkeeper, als er an die Reihe kam. Der Barkeeper schenkte großzügig ein; Lake registrierte es mit Dankbarkeit. Er sah sich nach Vere um, versuchte, sich das zerfurchte Adlergesicht mit dem kalten Blick vorzustellen, das er auf dem Begräbnis gesehen hatte. Eine Frau um die Vierzig berührte ihn am Arm. »Sind Sie Pe ter McClellan?« »Nein, ich bin Lake Stevenson.« »Ich suche Peter.« »Kenn ich nicht«, sagte Lake. »Wir sprachen gerade über England«, sagte sie zu ihrer Begleiterin, einer elegant gekleideten Frau mit gelangweiltem Blick. »Diese Preise! Schrecklich. Ich weiß wirklich nicht, wie man dort leben kann. Waren Sie kürzlich mal dort?« »Nein«, sagte Lake. »Schrecklich, Marjorie«, erklärte sie der gelangweilten Frau und gab Lake mit einer unwilligen Schulterbewegung zu verstehen, daß sie sei nen Beitrag an der Unterhaltung für beendet betrachtete. Er bewegte sich vorsichtig durch die Menschenmenge und nippte an seinem Glas. Jemand rempelte ihn an. »Pardon«, entschuldigte sich ein grauhaariger Mann. »Keine Ursache. Ich bin Lake Stevenson.« »Perry McClellan«, stellte sich der Mann vor. »Lake Stevensonja? Be stimmt bist du der Sohn des alten Stevenson.« 115
»Richtig.« »Habe deinen Vater schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Hoffent lich benimmt er sich anständig.« Er betrachtete Lake und strich sich übers Kinn; vermutlich war ihm etwas eingefallen. »Ich sehe ihn auch nicht oft«, sagte Lake. »Soviel ich gehört habe, wohnt er jetzt in Greenwich, stimmt's?« »Ja.« »Irgendeiner hat mir etwas über ihn erzählt«, sinnierte McClellan. »Kann mich nur nicht mehr erinnern, was es war. Ganz schöner Casa nova, dein Vater, was?« Er zwinkerte Lake zu. »Möglich.« »Möchte wetten, daß du's auch faustdick hinter den Ohren hast, eh?« »Eher nicht«, sagte Lake. Der Mann ging ihm auf die Nerven. »Sie sind mit Ihrem Sohn hier, oder?« fragte er, um das Thema zu wechseln. »Ja, mit Peter. Kennst du ihn?« »Nein.« »Dort drüben steht er.« Er zeigte in eine Richtung. Peter McClellan stand in einer Gruppe von Männern mittleren Al ters. Er selbst war Ende Zwanzig, mit Schildpattbrille und glatt zu rückgekämmten Haaren. Als die Gruppe in Gelächter ausbrach, lach te er am lautesten und längsten von allen. Lake machte auf dem Absatz kehrt und ging in die entgegengesetzte Richtung davon. Er hörte, wie sich zwei Männer über Immobilien unterhielten, und gesellte sich zu ihnen. »… fünf Millionen verpulvert«, erzählte der eine. »Mehr«, korrigierte ihn der andere. »Hallo, ich bin Lake Stevenson.« »Hallo.« »Sie unterhalten sich gerade über Immobilien?« fragte Lake. »Sind Sie im Immobiliengeschäft tätig?« »In gewisser Weise, ja. Hauptsächlich Wohnhäuser«, sagte Lake. In diesem Moment kam eine weißhaarige Frau auf ihn zu. »Sie müs sen Lake Stevenson sein.« 116
»Stimmt.« »Ich bin Laura Vere. Ich freue mich sehr, daß Sie kommen konn ten.« »Vielen Dank nochmals für die Einladung.« »Ihre Tante war eine sehr gute Freundin von uns. Sie fehlt uns schrecklich. Sind Sie glücklich im Haus?« »Ich wohne zwar noch nicht lange da, aber ich glaube, es wird mir gefallen«, sagte Lake. »Ich freue mich wirklich. Kennen Sie David Dugan? Er ist auch erst kürzlich in Chestnut Hill eingezogen.« »Nein.« »Dann darf ich Sie beide bekannt machen.« Sie führte ihn in die Mit te des Raumes. »David, das hier ist Lake Stevenson. Sie beide sind prak tisch Nachbarn.« David Dugan war um die Fünfzig, Orthopäde. Von Lakes Fragen er mutigt, hielt er ihm einen zehnminütigen Vortrag über Hüftoperatio nen. Dann erschien Mrs. Vere wieder und zog Lake mit sich, um ihn jemand anderem vorzustellen. Allmählich verschwammen die Gesich ter vor seinen Augen. Er vertiefte sich in eine Konversation über die beklagenswerten politischen Zustände in Philadelphia, wanderte zwi schen den Gästen umher, verlor hier ein Wort und da ein Wort. Und wieder unterbrach ihn Mrs. Vere. Er wollte ihr gerade sagen, daß er leider schon gehen müsse, daß ihm die Party sehr gefallen hätte, gute Nacht, vielen Dank, aber sie kam ihm zuvor. »Billington, das ist Lake Stevenson«, sagte sie. »Hallo, Mr. Vere«, sagte Lake. »Schön, daß Sie gekommen sind«, näselte Vere. Er wirkte ebenso bie der wie überheblich; Typ Moralapostel. Lake suchte nach Worten. »Meine Nachbarn habe ich schon kennen gelernt«, sagte er. »Netter Haufen.« Vere taxierte ihn. »Man fühlt sich sofort akzeptiert«, sagte Lake. »Ja, Nachbarschaft bedeutet hier noch etwas.« »Kommt einem fast vor, als würde man heimkehren.« 117
»Haben Sie als Kind hier gelebt?« »Nein, in Haverford.« »Dachte ich mir.« »Aber Tante Ilsas Haus steckt voller Erinnerungen. Manchmal dro hen sie mich zu überwältigen.« »Ach ja?« fragte Vere. »Ja, es kommt mir immer noch so vor, als wäre sie noch da«, sagte Lake. »Die ganzen Möbel, ihre Sachen. Ich habe bis jetzt alles unver ändert gelassen. Jede Veränderung gäbe mir das Gefühl, sie aus dem Haus zu treiben.« »Ja, Mrs. Lundquist erzählte meiner Frau schon, daß Sie nicht viel verändert haben«, sagte Vere. »Aber Sie werden sich bestimmt bald heimisch fühlen.« So ist das also, dachte Lake. Er hatte richtig vermutet. Mrs. Lund quist war ein Spitzel. »Wenn man in das Haus eines anderen Menschen zieht, kommt es einem fast vor, als müsse man eine psychologische Hürde überwin den«, dozierte Lake. »Gewissermaßen eine Eigentümerhürde. Aber ich denke doch, daß ich es schaffen werde. Im Moment bin ich sozusagen gerade in der Mitte der Hürde angelangt.« Die Hürden-Metapher gefiel ihm. Sollte Vere erfahren, daß das Haus verkauft war, würde er vielleicht Lakes empfindliches mentales Gleich gewicht berücksichtigen und erkennen, daß der Verlust eines Hundes einem Menschen mit labilem Gemütszustand einen doppelt schweren Schlag versetzen mußte. Aber Vere hatte sich auf die Herstellung nachbarschaftlicher Bezie hungen kapriziert. »Haben Sie Peter McClellan schon kennengelernt?« fragte er. »Er ist etwa in Ihrem Alter, glaube ich.« »Ich hatte noch keine Gelegenheit, mit ihm zu sprechen.« »Ein netter junger Mann.« »Er lacht gern«, sagte Lake. »Wie bitte?« »Er scheint viel Humor zu haben.« »Ach so. Bestimmt geht es Ihrer Schwester gut.« 118
»Bestimmt«, sagte Lake. Er warf einen Blick auf die Armbanduhr. »Jetzt muß ich aber gehen, Mr. Vere. Vielen Dank nochmals für die Einladung. Ich werde die Hürde mit dem Haus ganz bestimmt noch schaffen.« »Vielleicht treffen wir uns bald wieder einmal.« »Das hoffe ich auch«, sagte Lake. Er ging auf die Suche nach Mrs. Vere, dankte ihr nochmals für die Einladung und steuerte auf die Haustür zu. Aber bevor er sie erreicht hatte, entdeckte er Jennifer. Er war verblüfft, sie hier zu sehen, und versucht, sich ohne Begrü ßung an ihr vorbeizustehlen. Schließlich hatte er seine Mission erle digt und die Cocktailparty mit Bravour hinter sich gebracht. Aber an dererseits waren er und Jennifer gewissermaßen Verbündete. Und ab gesehen davon war sie ein erfreulicher Anblick. Und außerdem mochte er sie. Darüber hatte er bisher noch nicht nachgedacht, aber es stimmte schon: Er mochte sie wirklich. Sie unterhielt sich gerade mit einer älteren Dame, lächelte ihm aber zu, als er auf sie zusteuerte. »Ich bin Lake Stevenson«, stellte sich Lake der Frau vor. »Eleanor Winter«, sagte die Frau. »Jennifer, ich sehe mal nach, wo Charles abgeblieben ist.« »Wie geht es Ihnen?« fragte er Jennifer. »Ich habe den Vertrag erhalten.« »Den höchst vertraulichen Vertrag«, sagte Lake, »den Vertrag, der sozusagen ein Anwalt-Mandanten-Verhältnis schafft.« »Richtig.« »Wie kommt es, daß ich Sie hier treffe?« »Ich bin mit einem Cousin gekommen. Dort drüben steht er.« Sie deutete auf ein paar Leute, die sich um Mrs. Vere geschart hatten. »Im Immobiliengeschäft ist es sicher wichtig, so viele Leute wie mög lich kennenzulernen, hab ich recht? Gesellschaftliche Kontakte sind in Ihrem Beruf bestimmt ein Muß, oder?« »Auf jeden Fall schadet es nicht.« »Hübschen Schal haben Sie.« »Vielen Dank.« 119
»Rot«, sagte er; er brachte kaum noch einen Ton heraus. »Ja.« »Und Gold.« »Auch Gold.« Lake fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Aus unerfindlichen Gründen hatte sein Hirn die Arbeit eingestellt. Schließlich erkundig te er sich: »Wohnen Sie eigentlich auch in Chestnut Hill? Ich habe Sie nie danach gefragt.« »Nein. Ich wohne mit ein paar Leuten in einem Haus in Merion. Wir sind zu sechst.« »Da ist sicher immer was los.« »Langweilig ist es bestimmt nicht.« »Ich bin eher ein Einzelgänger«, bemerkte er. »Zwei meiner Mitbewohner ziehen gerade aus«, sagte sie. »Sie heira ten.« »Waren sie schon früher zusammen, oder haben sie sich erst in Ih rem Haus kennengelernt?« Sie verzog den Mund zum Lachen, tat es dann aber doch nicht. »Ich frage nur aus Neugier.« »Ich verspreche Ihnen, daß alles mit rechten Dingen zugeht. Sie ist Anwältin.« »Und wovon leben die anderen?« »Eine macht eine Ausbildung zur Börsenmaklerin, eine andere ist in der Werbung. Und wen haben wir dann noch? Ach ja, einen Studenten im höheren Semester und einen, der einen Job sucht.« »Das ist ja fast 'ne Stadt im Miniaturformat«, lächelte er. »Da mögen Sie recht haben. Von dieser Warte aus hab ich's noch gar nicht betrachtet.« Lake musterte ihr dunkles Haar, die Form ihrer Lippen, den schönen Schwung ihrer Augenbrauen, all die strukturellen Besonderheiten, die Gott den Frauen geschenkt hat, um die Köpfe der Männer zu verdre hen. Ihre Stimme klang ernst, mit leicht amüsiertem Unterton. Er hat te den Faden verloren, also fing er nochmals von vorn an. »Jetzt haben Sie also mehr Platz«, sagte er. 120
»Ja, aber vermutlich werden wir ihn nicht nutzen.« »Ich habe eine Wohnung in der Stadt, erste Etage. Besser gesagt, ich hatte eine. Naja, eigentlich habe ich sie noch immer.« »Werden Sie wieder in Ihre Wohnung einziehen?« »Ja.« »Dann wird ja alles glatt über die Bühne gehen«, meinte sie. »Ich habe vor, zwei Wochen nach Nantucket zu fahren«, sagte er völ lig zusammenhanglos. »Können Sie mir eine Telefonnummer dalassen? Vielleicht muß ich Sie erreichen.« »Ich würde gerne auf dem laufenden bleiben«, sagte er. Und nach dem das etwas merkwürdig klang, setzte er hinzu: »Nette Party, nicht?« »Ich bin froh, daß ich gekommen bin«, sagte Jennifer. »Meine Groß mutter sieht schon viel besser aus.« »Ihre Großmutter?« »Sie hatte einen Verkehrsunfall. Sie ist noch immer nicht ganz wie derhergestellt.« Eine Ahnung stieg in ihm auf – finster, wild, beunruhigend. »Wer ist denn Ihre Großmutter?« fragte er. »Mrs. Vere.« »Mrs. Vere ist Ihre Großmutter?« »Ja.« »Und Vere ist Ihr Großvater? Äh, Mr. Vere.« »Ich verspreche Ihnen, daß ich nicht lüge«, lächelte Jennifer. Offen bar hatte er etwas Komisches gesagt. »Das sind ja Neuigkeiten«, sagte er. »Das mit den Veres, meine ich.« »Sie sind offenbar überrascht.« »Ach, überhaupt nicht. Ich wußte es nur nicht.« Sie beobachtete ihn. »Ich muß jetzt gehen«, meinte er. »Übrigens, um noch mal auf un ser Gespräch von vorhin zurückzukommen: Ich kann gar nicht genug betonen, wie sehr ich mit Ihrer Vertraulichkeit rechne. Wirklich, aus nahmslos. Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, daß ich so darauf 121
herumreite. Ich lege nur großen Wert darauf, die Gefühle bestimmter Menschen nicht zu verletzen und so weiter.« Sie nickte. »Bis dann also«, sagte er. »Tschüs.« Auf dem Heimweg schwirrte ihm der Kopf. Diese neueste Vere-Con nection war schlimmer als die Lundquist-Schiene. Er kam sich verra ten vor, obgleich er nicht genau wußte, wem er die Schuld dafür in die Schuhe schieben sollte. Mit derartigen Situationen muß in jedem Krieg gerechnet werden, fiel ihm später ein. Das Wichtigste war, Ruhe zu bewahren und den einge schlagenen Kurs beizubehalten. Einen absurden, leichtsinnigen Moment lang hatte er bei den Veres daran gedacht, Jennifer um ein Rendezvous zu bitten. Er plauderte gern mit ihr, wenngleich es ihm in ihrer Gegen wart eher die Sprache verschlug. Aber das wäre kein kluger Schritt, ins besondere angesichts der bestehenden Familienbande. Alles, was mit dem Hausverkauf zu tun hatte, mußte auf rein geschäftlicher Ebene abgewik kelt werden. In diesem Stadium war mönchisches Verhalten gefragt.
Am nächsten Nachmittag erlebte er die Phillies als siegreiches Base ballteam; sie kamen von hinten und erzielten zwei Walks, ein Single und ein Double im neunten. »Idiotisch, ihn drin zu lassen«, ereifer te sich Steve. »Das sieht doch ein Blinder, daß der völlig überfordert war.« Aber Lake war mit seinen Gedanken nicht beim Spiel. Das Ge brüll der zwanzigtausend begeisterten Fans empfand er als beklem mend, und sein Unterbewusstsein registrierte den leeren Platz neben sich, auf dem sonst immer Ellen gesessen hatte. Am selben Abend spielte er mit Randall lange Frisbee. Er schüttete Hundefutter in einen Müllsack und fuhr mit Randall zu seiner Woh nung. Am darauffolgenden Morgen würde er Mrs. Lundquist wie ge plant den Verlust des Hundes bekanntgeben. Wie ein Kronprinz thron te Randall auf dem Beifahrersitz. 122
Lake parkte vorm Haus und spazierte mit Randall einmal kurz den Gehweg auf und ab, um den Hund mit der Gegend vertraut zu ma chen. Randall schnüffelte an dem Efeu, den Mrs. Reardon anstelle der Begonien in den Holztrog gepflanzt hatte. Nachdem er die wichtigsten Reviergrenzen abgesteckt hatte, gingen sie nach oben. »Fühl dich wie zu Hause«, sagte Lake und machte die Wohnungstür weit auf. Randall tappte hinter ihm her in die Küche. Lake fühlte sich beengt in seiner Wohnung. Er hatte sie immer für beeindruckend groß gehalten, aber nach den überdimensionierten Räumlichkeiten in der Peal Avenue wirkte hier alles zusammenge pfercht, wenn nicht sogar etwas trist. Die Kaufhausmöbel sahen wie Kaufhausmöbel aus. Die Poster waren Allerweltsbilder. Nicht einmal seinen alten Fotos von verschiedenen Stillleben konnte er etwas Positi ves abringen – geometrische Aufnahmen von Maschinen, altertümli chem Tischlerwerkzeug und Schrottplatzobjekten, die er mit sechzehn geknipst hatte. Das passiert eben, wenn man einige Zeit woanders ge wohnt hat, dachte er. Abwesenheit verändert den Blickwinkel. Aber sobald er wieder hier wohnen würde, würde sich der alte Stolz auf sei ne vier Wände schon wieder einstellen. Und Randall würde die Woh nung ohnehin mit Leben erfüllen. Er beschloß, ein paar schöne Stücke von der Peal Avenue hierher zu schaffen, sobald das Haus verkauft war. Bevor er die restlichen Mö bel und sonstigen Einrichtungsgegenstände versteigern lassen wür de, könnte sich Karen noch das eine oder andere Stück aussuchen. Aber der Schreibtisch aus der Bibliothek und ein paar Stühle würden sich hier bestimmt gut machen; auch die Bilder seiner Tante mochte er. Vielleicht sollte er einen Teil der Möbel vorläufig einlagern, falls er doch einmal in eine größere Wohnung ziehen sollte. Es klopfte an der Tür. Als er aufmachte, stand Mrs. Reardon vor ihm und machte ein griesgrämiges Gesicht. »Mr. Stevenson«, fragte sie, »habe ich richtig gesehen, daß Sie mit einem Hund gekommen sind?« »Ja. Keine Angst, er beißt nicht.« »Ich nehme an, Sie wissen, daß in diesem Haus keine Hunde gestat tet sind.« 123
»Was soll ich wissen?« »Wenn Sie Ihren Mietvertrag aufmerksam lesen, werden Sie feststel len, daß Sie hier keinen Hund halten dürfen.« »Es ist aber ein sehr zivilisierter Hund. Er wird niemanden stören.« »Mr. Stevenson, lesen Sie einfach Ihren Mietvertrag.« »Als ich unterschrieben habe, habe ich diese Klausel nicht gesehen. Dann müssen wir eben neu verhandeln. Er wird hier wohnen.« »Ich habe eine Hundeallergie.« »Ich werde aufpassen, daß er Ihnen nicht über den Weg läuft.« »Auf der Stelle schaffen Sie den Hund aus diesem Haus. Sofort!« »Das geht nicht. Der Hund kann nirgendwo anders hin.« »Das ist nicht mein Problem, Mr. Stevenson.« Sie nieste vernehmlich. Lake wertete dies als dramaturgische Einlage, ganz sicher war er sich allerdings nicht. »Ich bestehe darauf, daß dieses Tier auf der Stelle ver schwindet«, sagte sie. »Das ist ein sehr wertvoller Hund«, entgegnete Lake. »Jeder Angriff auf sein Wohlbefinden, wie ihn zum Beispiel auf die Straße zu setzen, zieht beträchtliche finanzielle Folgen nach sich; dessen sollten Sie sich bewußt sein.« »Raus hier, auf der Stelle!« »Nehmen Sie denn keine Tabletten gegen Ihre Allergie?« »Hinaus!« Sie nieste. »Es ist aber kein sehr großer Hund«, sagte Lake. »Wenn der Hund nicht in spätestens fünf Minuten aus dem Haus ist, werden Sie Schwierigkeiten bekommen, Mr. Stevenson.« »Die Schwierigkeiten habe ich schon, Mrs. Reardon. Das betrübt mich wirklich. Ich frage mich ernsthaft, was das hier für ein Haus sein soll, in dem kein Platz für Hunde ist. Hunde sind seit Abertausenden von Jahren – was sage ich: seit Millionen von Jahren – treue Begleiter des Menschen.« »Fünf Minuten.« Sie rauschte ab. »Komm, Randall«, sagte er. »Wir sitzen ganz schön in der Patsche.«
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»Er ist weg«, sagte Lake zu Mrs. Lundquist, als sie Montag früh zur Ar beit kam. »Ich kann's noch immer nicht fassen. Randall ist verschwun den.« Er schaute angestrengt an ihr vorbei, als suche er den Horizont nach Anzeichen von Braun und Weiß ab, die das Glück in seine Welt zurückbringen würden. »Wo ist er denn hingelaufen?« »Ich weiß nicht, wie's passiert ist. Er war draußen. Das Tor war zu. Ich weiß, daß es zu war.« »Vielleicht kommt er ja wieder. Er wird Hunger bekommen.« »Mrs. Lundquist, ich suche schon seit fast vierundzwanzig Stunden nach ihm. Ich fürchte, es gibt keine Hoffnung mehr. Und ich bin noch nicht dazu gekommen, ihm eine neue Hundemarke zu kaufen. Ich hat te es diese Woche vor.« »Ich kann mir nicht vorstellen, daß er es geschafft haben soll, das Tor selbst aufzumachen«, sagte sie. »Natürlich nicht. Ich habe das Tor oft genug persönlich überprüft.« »Immer, wenn er draußen war, hatte ich ein Auge auf ihn«, sagte sie. »Das weiß ich, Mrs. Lundquist. Sie haben vorbildlich auf Randall aufgepaßt. Aber ich wollte, daß er häufiger an die frische Luft kommt. Ich dachte, das täte ihm gut.« »Ich kann mir nicht vorstellen, daß der Hund ohne Grund davon läuft.« »Sie haben bestimmt recht«, sagte er. »Dann hat ihn jemand mitge nommen. Vermutlich ist er gestohlen worden, als ich gestern das Früh stück gemacht habe. Er hat keinen Ton von sich gegeben. Ich hatte kei ne Ahnung, daß er in Gefahr war.« »Jemand soll ihn mitgenommen haben?« »Was sonst?« Offenbar wog sie die Wahrscheinlichkeit einer Entführung ab und kam zu einem negativen Ergebnis. »Ich bin sicher, daß er wieder auf taucht, Mr. Stevenson«, sagte sie. Ihre Worte klangen merkwürdig pointiert. »Bitte seien Sie wachsam, Mrs. Lundquist. Lassen Sie das Tor offen.« 125
»Gut.« »Ich werde es natürlich der Polizei melden.« »Gute Idee.« Lake gefiel ihr Kommentar ganz und gar nicht. Er steuerte auf die Garage zu. Randall erwartete ihn auf seinem Thron, dem Beifahrer sitz, allzeit bereit für ein Abenteuer. »Platz, Randall«, sagte er. »Mach bloß kein Aufsehen!«
»Was ist das?« fragte Mary. »Das ist ein Hund«, klärte Lake sie auf. »Das weiß ich, aber was macht er hier?« »Er wird den Tag bei uns verbringen. Und, um genau zu sein, er wird eine Zeitlang hier wohnen.« »Ich wußte nicht, daß du einen Hund hast.« »Es ist auch nicht unbedingt mein Hund.« »Wem gehört der Hund?« »Betrachte seinen Status einfach als unbestimmt. Betrachte ihn schlicht als herrenlos.« »Dafür, daß er herrenlos ist, sieht er aber sehr gut aus.« »Ja, er ist recht hübsch.« Randall tappte zu ihr hinüber, um sich mit ihr anzufreunden; er schaute Mary in die Augen, während sie ihm den Kopf kraulte. »So ein lieber Hund«, sagte sie. »Wie heißt er?« Auf diese Frage war er vorbereitet. Am Abend zuvor hatte er ver schiedene, ähnlich klingende Namen durchgespielt und sie laut ausge sprochen, um deren Wirkung auf Randall zu testen. Der Name Ralph zeitigte keinerlei Reaktion. Der Name Bongo war eine Niete. Dann, nach weiteren Versuchen, hatte Lake einen Trumpf gelandet – einen phonetisch ähnlich klingenden Namen, den Randall ersatzweise ak zeptierte. »Renard«, sagte er mit französischem Akzent, denn dieser Name hatte beim Probelauf vom Vorabend die besten Ergebnisse erzielt. 126
»Renard? Wie ein Fuchs?« »Genau.« »Du bist aber kein Fuchs«, nuschelte Mary mit Kinderstimmchen und kraulte ihm immer noch den Kopf. »Du bist ein Hund, ein wun derschöner Hund.« »Er hat aber ziemlich viel von einem Fuchs an sich«, sagte Lake. Mary gab gurrende Laute von sich. »Er ist nur zu Besuch«, sagte Lake. »Vielleicht trägt er zu etwas mehr Menschlichkeit im Büro bei.« Eine halbe Stunde später erschien ein verschlafener Danny. Er tät schelte Randall. »Wieso hast du deinen Hund mitgebracht, Mary?« fragte er. »Es ist Lakes Hund.« »Seid doch bitte so lieb«, flehte Lake, »lassen wir diese kleinkarier ten Diskussionen, wem er nun gehört oder nicht. Er ist ein Büro hund.« Im Verlauf des Tages entwickelte sich Randall als geradezu idealer Bürohund. Er hatte es sich neben Lakes Stuhl bequem gemacht und verschlief die meiste Zeit, erhob sich nur gelegentlich, um in den Pa pierkörben herumzuschnüffeln oder Danny oder Paul eine Stippvisite abzustatten. Besonders Mary schien ihm zu gefallen, denn sie kraulte ihn immer am Kopf und lockte ihn mit gurrenden Lauten. Lake fand, daß sich beide ziemlich kindisch verhielten. »Stört dich der Hund, Mary?« erkundigte er sich. »Hat Renard schon etwas zu fressen bekommen?« fragte Mary. »Ich könnte ihm aus der Mittagspause 'ne Dose Hundefutter mitbringen.« »Er kriegt Trockenfutter.« »Soll ich dann Trockenfutter kaufen?« fragte sie. »Er bekommt mittags nichts zu fressen.« »Er sieht aber hungrig aus.« »Ist er aber nicht. Ich kenne seine Freßgewohnheiten sehr gut.« »Bist du hungrig, Renard?« gluckte Mary. »Hierher, Renard«, sagte Lake. »Ich könnte mit ihm Gassi gehen.« 127
»Ich werde das tun«, sagte Lake bestimmt. Einen Augenblick später hörte er das charakteristische Hüsteln, das üblicherweise ein neues Lake-Schild ankündigte. Er schaute zu ih rem Schreibtisch hinüber. Sie war in der Pose eines menschenfressen den Ungeheuers erstarrt, mit gebleckten Zähnen, die Finger krallenar tig gespreizt. Die Blockbuchstaben auf dem Schild bildeten die Worte: LAKE DER GRAUSAME. Er ignorierte den Hinweis, und die Geschäftsbeziehungen mit dem Hund pendelten sich schließlich auf ein stabiles Niveau ein; Randall machte gelegentlich die Runde, um Streicheleinheiten zu kassieren und Kostproben aus der Trickkiste ›Vertiefen der Hund-Mensch-Bin dung‹ zu liefern. Aus den Augenwinkeln beobachtete Lake mögliche negative Einflüsse auf die Produktivität seiner Mitarbeiter. Kein Nach lassen war festzustellen, im Gegenteil: die Arbeitsmoral hatte sich so gar gebessert. Jennifer rief um drei an. »Meine Partner werden das Haus morgen um zehn Uhr besichtigen, wenn Ihnen dieser Termin paßt.« »Wissen Ihre Partner, daß alles streng vertraulich ist?« »Ja«, sagte sie. »Ich weiß nicht, ob Sie über unsere Firma informiert sind, aber Sie haben mit uns genau ins Schwarze getroffen.« »Gut.« »Im Anschluss daran werde ich es einem Interessenten zeigen. Die se Dame ist schon seit längerem unsere Kundin. Sie sucht genau so ein Haus wie Ihres.« »Könnte man ihr irgendwie beibringen, daß das Haus nur an und für sich zu verkaufen ist, ich meine, daß es zwar verkauft werden könnte, aber nicht ganz offiziell?« »Entweder ist es zu verkaufen, oder es ist nicht zu verkaufen«, sagte sie. »Sie müssen sich schon entscheiden.« »Also gut, es ist zu verkaufen.« »Gut.« »Rufen Sie mich bitte gleich danach an. Ich möchte wissen, wie es ge laufen ist.« »Gut.« 128
»Oder ich könnte Sie anrufen.« »Ich werde Sie anrufen«, sagte sie.
Am selben Abend machte er einen Rundgang durchs Haus, um sich davon zu überzeugen, daß alles in bester Ordnung war. Soweit er es beurteilen konnte, erledigte Mrs. Lundquist trotz der reduzierten Ar beitszeit ihre Aufgaben tadellos. Er hatte selbst von Zeit zu Zeit die Hundehaare weggesaugt, die Mrs. Lundquist Randalls nächtliche An wesenheit hätten verraten können, und dafür gesorgt, daß die Futter näpfe unbenutzt aussahen. Lake fragte sich, ob Randall wußte, daß er auf der Flucht war. Für ihn war das Leben hektisch geworden: zu erst der Abstecher ins Tierheim, dann das kurze Intermezzo in der Wohnung, tagsüber in einem Büro und Nachts in der Peal Avenue; am Montag morgen hinausgeschmuggelt und am Abend heimlich wieder nach Hause gebracht. Auf seinem Rundgang durch das Haus stellte Lake fest, daß auf dem tragbaren Fernsehgerät im ersten Stockwerk ein anderer Kanal eingestellt war – Beweis dafür, daß die Reinigungs arbeiten für Mrs. Lundquist nach wie vor nicht in Stress ausarteten. Er schlug in der Fernsehzeitschrift nach, welche Sendungen auf die sem Kanal liefen: Seifenopern satt. An und für sich war es ihm egal, denn bald würde sie aus seinem Leben verschwunden sein, aber als lei se Warnung stellte er einen anderen Kanal ein. Als der Tag sich zu Ende neigte, setzte er sich auf die Terrasse und beobachtete ein paar Rotkehlchen und eine Spottdrossel, die auf der Wiese umherhüpften. Das Gras war gerade gemäht worden und ver breitete einen frischen, feuchten Duft. Ein paar langstielige helle Blu men standen friedlich im Abendlicht – wahrscheinlich Lilien, oder waren es Iris? Auf jeden Fall fand er die Dinger schön. Er blieb eine halbe Stunde auf der Terrasse sitzen, ging dann zum Musikhören in die Bibliothek und legte für Randall ein Klarinettenquintett von Mo zart auf. Am nächsten Tag im Büro schweiften seine Gedanken regelmäßig 129
zum Haus ab. Er stellte sich vor, wie Jennifers Partner das Haus durch streiften und vielleicht gerade darüber sprachen, wie sie den Preis drük ken konnten. Er stellte sich vor, daß Jennifer zu ihrer Kundin sagte: Ich weiß, das ist hier alles ein bißchen altmodisch, aber ich kann Ihnen versichern, daß wenigstens die Bausubstanz in Ordnung ist. Derek Kast rief am Nachmittag an. »Ich bin mit Ihrer Arbeit sehr zu frieden«, sagte er. »Das hatte ich gehofft.« »Die graphischen Darstellungen sind wirklich gelungen.« »Ja, unsere Designabteilung leistet erstklassige Arbeit«, sagte Lake und versuchte, sich eine ganze Armee von Designern und Graphikern vorzustellen, und nicht nur Paul, den Einzelkämpfer mit seinem Ohr ring und seiner Kollektion verrückter T-Shirts. »An einigen Stellen ist der Ton für meinen Geschmack allerdings et was zu forsch.« »Wir legen großen Wert darauf, alles auf den Punkt zu bringen«, er klärte Lake. »Das ist eines unserer Grundprinzipien.« »Ja, ich finde es wirklich gut. Ich würde mich gern mit Ihnen über weitere Projekte unterhalten.« »Sehr gern.« »Die nächsten zwei Wochen bin ich verreist. Könnten Sie in der drit ten Juliwoche vorbeikommen? Ich nehme an, daß ich dann wieder in Philadelphia sein werde. Dann könnten wir das weitere Vorgehen be sprechen.« »Sehr gern«, sagte Lake. Sie einigten sich auf den fünfundzwanzigsten Juli. Lake, beflügelt von diesem kräftigen finanziellen Aufwind, überlegte sich, ob er mit InstruX vielleicht in repräsentativere Räume umziehen sollte. Das wäre bestimmt eine gute Idee, falls sich das Geschäft mit den Videos konkretisieren und Bill sich zu einer Mitarbeit entschlie ßen sollte. Um fünf Uhr rief Jennifer an. »Sie wollten meinen Bericht«, sagte sie. »Wie ist es gelaufen?« fragte Lake. 130
»Sehr gut. Meine Partner sind begeistert. Die Frau, der ich das Haus am Nachmittag gezeigt habe, sagte nicht viel, aber das ist typisch für sie. Ich glaube, sie ist interessiert.« »Sie sagte nicht viel? Sie muß doch etwas gesagt haben! Es ist doch nicht möglich, dieses Haus zu besichtigen und sich überhaupt nicht zu äußern. Was sagte sie? Sie fand es bestimmt abscheulich.« »Überhaupt nicht.« »Sie verbergen etwas vor mir.« »Ihr Haus war eines von dreien, die ich ihr heute gezeigt habe.« »Hat sie wenigstens eine Wertung abgegeben? Wie hat mein Haus dabei abgeschnitten?« »Nein, sie hat keine Wertung abgegeben«, sagte Jennifer. »Und was ist mit Ihren Partnern?« »Sie meinen, daß der Preis stimmt.« »Ach so. Ihre Partner sind also kurz durch das Haus gegangen, wie der herausgekommen und haben festgestellt, daß der Preis stimmt. Ich verstehe euch Makler nicht. Ich muß schon sagen, daß Sie auch nicht anders sind als andere Ihrer Branche. Sie selbst waren gerade mal fünf Minuten im Haus, haben sich so gut wie gar nichts angesehen, und ein paar Tage später haben Sie Ihren Kommentar abgeliefert, der, wenn ich mich recht erinnere, ein Preis war. Aber vermutlich ist das alles, was man braucht, um im Immobiliengeschäft erfolgreich zu sein.« »Nein.« »Nein was?« »Nein, das ist nicht alles, was man braucht. Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen erzählen würde, daß die Tapete in der Eingangshal le gräßlich ist?« »Was soll daran gräßlich sein? Ich finde, daß die Tapete sogar ganz außergewöhnlich ist. Mir gefällt sie sehr gut. Wie kommen Sie dazu, zu behaupten, daß sie gräßlich ist?« »Ist sie ja auch nicht«, sagte sie. »Sie ist wirklich sehr hübsch. Aber verstehen Sie jetzt, warum ich nichts davon halte, Ihnen alles zu erzäh len, was die Leute von sich geben?« »Ach so.« 131
»Für morgen haben wir noch keine Termine vereinbart. Falls sich daran etwas ändern sollte, werde ich Sie anrufen.« »Ich habe noch eine Frage. Wieso haben Sie eigentlich nicht darauf bestanden, daß Ihre Partner das Haus besichtigen, bevor Sie mir einen Preis nennen? Ist das nicht der übliche Weg?« »Normalerweise schon. Aber ich habe sie davon überzeugt, eine Aus nahme zu machen.« »Warum?« »War nur so ein Gefühl von mir.« »Was für ein Gefühl?« »Instinkt«, sagte sie. Sie zögerte und setzte dann hinzu: »Ihnen liegt die Vertraulichkeit dieser Angelegenheit sehr am Herzen.« »Aber Sie verstehen doch meine Gründe.« »Nicht ganz«, bemerkte sie. »Aber das ist nicht relevant.« »Das finde ich schon. Ich möchte, daß Sie es verstehen.« »Dann erklären Sie es mir bitte noch einmal.« Lake holte in Gedanken weit aus, um mit einer überzeugenden Rede vom Andenken an seine Tante, von Respekt und Pietät loszulegen. Aber er brachte kein Wort hervor. Er räusperte sich. Sie wartete. »Ich werde es Ihnen später einmal erklären«, sagte er schließlich. »Im Mo ment ist es ziemlich kompliziert.« Nach einem Augenblick des Schweigens sagte sie: »Ein Haus wie die ses zu verkaufen ist nicht ganz einfach.« »Da haben Sie recht.« »Ich rufe Sie wieder an, wenn es etwas Neues gibt«, sagte sie. »Tut mir leid, daß ich Ihnen vorhin so zugesetzt habe. Das Haus macht mich ganz nervös.« »Das ist normal«, beruhigte sie ihn. »Über Besichtigungstermine brauchen Sie mich nicht zu informie ren. Die können Sie ganz nach Belieben vereinbaren. Ich brauche nicht alle Einzelheiten zu wissen. Wichtig ist nur, daß es verkauft wird.« »Ich rufe Sie an«, sagte sie. »Ich werde mich beruhigen«, sagte er. 132
Am Donnerstag Nachmittag rief sie wieder an. »Hallo, hier spricht Jennifer«, sagte sie. Sie hörte sich gutgelaunt an. »Na, wie läuft's?« fragte er. »Ganz gut, glaube ich. Wir haben das Haus zehn oder zwölf Leuten gezeigt. Es besteht konkretes Interesse.« »Sie waren aber fleißig! Was ist das für 'n Lärm im Hintergrund?« »Ich rufe Sie aus dem Auto an.« »Sie haben ein Autotelefon?« »In diesem Geschäft ist das ein absolutes Muß.« »Vielleicht sollte ich mir auch ein Autotelefon zulegen. Ganz be stimmt sogar. Dann könnten Sie mich auch in meinem Auto anru fen, und wir wären einander ebenbürtig. Ich hab's nicht gern, wenn je mand mobiler ist als ich.« »Warum nicht?« »Laufen war schon immer mein Lieblingssport«, sagte er. »Auf der Highschool und am College bin ich immer die Meile gelaufen. Die mo bilste Person gewinnt.« »Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich am Samstag Vormittag um zehn gern mit zwei Interessenten vorbeikommen würde. Es ist die Frau, die das Haus schon einmal besichtigt hat, und ihr Mann. Lei der hat ihr Mann nur am Samstag Zeit. Nebenbei bemerkt, ist es das erste Mal, daß sie ihn darum gebeten hat, sich ein Haus anzu sehen.« »Und das ist ein gutes Zeichen?« »Vielleicht.« »Sie sagen, daß Sie schon lange für diese Kundin arbeiten?« »Ja, aber eigentlich ist nicht sie die Kundin. Sie sind unser Kunde. Wir vertreten Sie.« »Hört sich gut an.« »Also dann, Samstag Vormittag um zehn?« »Ich werde da sein«, sagte er. »Ist Ihnen das recht?« »Mir ist es durchaus recht, wenn es Ihnen recht ist.« »Ich habe übrigens Besuch.« »Ich kann den Termin noch verlegen«, sagte sie. 133
»Sie werden bestimmt nichts gegen diesen Besucher einzuwenden haben.« »Also dann um zehn Uhr.«
Am Freitag in der Mittagspause ging er in eine Drogerie und stellte sich vor das Regal mit Haarfärbemitteln. Er griff sich eine Schachtel Ka stanienbraun, die versprach: »Natürliche Wirkung. Überdeckt graue Haare.« Genau das Richtige für Randall, die weißen Flecken in seinem Fell waren bestimmt mit menschlichen grauen Haaren vergleichbar. Am Abend zog sich Lake ein altes Unterhemd, Bluejeans und Gummi handschuhe an, lockte Randall in ein Badezimmer in der oberen Eta ge, schloß die Tür ab und machte sich ans Werk. Er füllte die Applikationsflasche, verteilte die Farbpaste über den weißen Streifen auf Randalls Kopf und paßte höllisch auf, daß nichts davon in seine Augen kam. Dann verteilte er etwas auf der weißen Brust und einer Schulter. Er hielt Randall in der Armbeuge fest, wäh rend er das Fell einschäumte. Anfangs versuchte Randall, sich aus sei nem Arm zu winden, aber nach einer Weile gab er auf. »Keine Angst«, beruhigte ihn Lake, »du wirst sensationell aussehen.« Vierzig Minu ten lang blieben sie sitzen und warteten. Lake hielt nur durch, weil er sich sagte, daß er eine wahre Meisterleistung vollbracht hatte. Leider hatte er nicht daran gedacht, den tragbaren Fernseher ins Badezim mer zu stellen, um sich die Zeit zu vertreiben. In der Anleitung für das Färbemittel hätte sich ein Tip zur Überwindung der Langeweile nicht schlecht gemacht, fand er. Tip: Denken Sie daran, während der Einwirkungszeit des Mittels et was gegen die Langeweile zu unternehmen. Wir empfehlen ein kleines, tragbares Fernsehgerät, falls die Umstände es nicht zulassen, die Seiten eines Buches umzublättern. Mit dem abschließenden Spülvorgang in der Badewanne erklärte Randall seine bisherige Zusammenarbeit heftig strampelnd als been det. Als Lake später sein Werk betrachtete, stellte er fest, daß Randalls 134
dunkle Stellen im Fell sich nun zweifarbig präsentierten und das Ka stanienbraun seiner einstmals weißen Brust merkwürdig fleckig wirk te. Dennoch wertete er die Behandlung insgesamt als Erfolg: Niemand konnte diesen Hund mehr mit seinem Vorgänger verwechseln. »Du siehst um Jahre jünger aus«, sagte er. Während Randall trocknete, rief Lake seine Schwester in Martha's Vineyard an. »Ganz bestimmt geht es dir gut«, sagte er zur Begrü ßung. »Wie bitte?« »Ich gebe nur eine Frage von Vere weiter. ›Bestimmt geht es Ihrer Schwester gut‹, hat er gesagt. Ich war letztes Wochenende auf einer Cocktailparty bei ihm eingeladen.« »Und was hast du ihm geantwortet?« »Ich habe gesagt, daß ich auch sicher bin, daß es dir bestimmt gut geht. Hör zu, ich bin in ungefähr zwei Wochen in Nantucket. Kann ich bei euch auf einen Besuch vorbeikommen?« »Ja. Aber ruf vorher bitte kurz an.« »Ich habe das Haus zum Verkauf gegeben. Nicht öffentlich, übrigens. Es ist eher eine verdeckte Operation.« »Du gehst ja ganz schön ran. Was hast du mit dem Hund gemacht?« »Ich gebe dir meine persönliche Garantie, daß es dem Hund gutgeht. Randall weilt zwar nicht mehr unter uns, aber dem Hund geht es gut, und es wird ihm auch weiterhin gutgehen.« »Ich glaube nicht, daß ich etwas davon hören will.« »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Obwohl, ein Problem habe ich: Jennifer ist die Maklerin.« »Und warum ist das ein Problem?« »Vere ist ihr Großvater.« »Nein. O nein! Ich wußte, ich hatte etwas vergessen.« »Ich habe es gerade erst herausgekriegt.« »Ich hätte sie dir nie vorschlagen sollen«, jammerte Karen. »Wer hätte das denn ahnen können? Dich trifft keine Schuld.« »Such dir 'nen anderen Makler, Lake. Mr. Vere wird ernstlich böse, wenn er herausfindet, daß du das Haus verkauft hast.« 135
»Da kann ich ihm auch nicht helfen. Er hätte nicht zulassen sollen, daß Tante Ilsa einen so verrückten letzten Willen verfasst.« »Und was glaubst du, wie er reagieren wird, wenn er herausfindet, daß Jennifer darin verwickelt ist? Er wird bestimmt denken, daß sie von Anfang an mit dir unter einer Decke gesteckt hat.« »Aber das stimmt ja gar nicht.« »Das läuft so nicht«, sagte Karen. »Du solltest dir wirklich einen an deren Makler suchen. Wenigstens das solltest du machen.« »Kann ich nicht. Ich habe einen Vertrag unterschrieben.« »Dann erzähl Jennifer von dem Testament. Sag ihr, daß ihr Großva ter der Testamentsvollstrecker ist. Dann soll sie selbst entscheiden, was sie tun will.« »Und wenn sie mit ihm darüber spricht, rastet er vollkommen aus.« »Erzähl's ihr. Du mußt es ihr sagen.« Lake dachte darüber nach. Das wäre das Dümmste, was er tun könn te. Selbst wenn Jennifer ihrem Großvater nicht reinen Wein einschen ken sollte, könnte sie den Vertrag kündigen; außerdem würde sie Lake wegen seiner Unaufrichtigkeit verachten. »Und du glaubst wirklich, was du sagst, ja?« fragte er. »Aber natürlich.« »Es gibt keine andere Möglichkeit?« »Keine«, sagte sie. »Daß gerade mir das passieren muß!« »Du mußt es tun.« »Ich werde darüber nachdenken«, sagte er. »Da wir gerade beim The ma sind, habe ich noch eine andere Frage: Hat Jennifer eigentlich ei nen festen Freund? Ich meine, geht sie mit jemandem? Weißt du das zufällig?« Sekunden verstrichen, während Karen seine Frage verdaute. Er spür te, wie Wellen von Argwohn mit Lichtgeschwindigkeit von Martha's Vineyard nach Philadelphia rasten. Schließlich: »Weshalb fragst du?« »Ich möchte es nur gern wissen.« »Deshalb hast du also angerufen, oder?« fragte Karen. »Ich habe dich nur um eine ganz normale Auskunft gebeten.« 136
»Klar.« »Und, hat sie einen Freund?« »Das sag ich dir, wenn du ihr von dem Testament erzählt hast.« »Ich verspreche dir, ich werde sie nur aus der Entfernung anbeten. Im Ernst. Ich bin nur neugierig.« »Sie hatte eine Zeitlang einen«, sagte Karen, »aber der ist nach Kali fornien gegangen. Aber es wäre ohnehin nichts geworden.« »Sie wohnt mit ein paar Leuten in einem Haus«, sagte Lake. »Ich hätte dir Jennifer niemals empfehlen sollen.« »Doch. Es war ein guter Vorschlag, wenn man von der Geschichte mit ihrem Großvater absieht, aber das konnte ja keiner wissen. Keine Angst, mein Leben ist ausschließlich der Arbeit gewidmet.« »Sehr gut.« »Nie glaubst du mir«, klagte Lake. »Ich glaube dir fast immer, aber nur weil ich weiß, wann ich dir nicht glauben darf.« Diese Antwort gefiel ihm überhaupt nicht, aber er mußte zugeben, daß sie eine gute Schwester war. »Ich werde mir überlegen, wie ich ihr das mit dem Testament am schonendsten beibringe. Aber im Moment habe ich noch kein richtiges Rezept.« »Erzähl's ihr.«
Am Samstag Vormittag um Punkt zehn läutete es. Randall begleitete Lake an die Tür. Er machte sie weit auf, um seine Gäste hereinzubitten. Jennifer warf einen überraschten Blick auf den Hund und sprach Lake mit rein geschäftlichem Ton an. »Ich hoffe, wir stören nicht.« Hinter ihr stand ein Mann in Tweed und eine Frau in Tweed. »Mr. und Mrs. Dankmyer«, sagte sie, »Mr. Stevenson.« »Guten Morgen. Kommen Sie doch bitte herein«, sagte Lake. Das Paar folgte Jennifer über die Türschwelle. Ihr Auftreten war di stanziert, als wollten sie ihm zu verstehen geben, daß das Haus inzwi schen ein nicht definiertes Territorium war, es war das ihre ebenso 137
gut wie das seine. »Ich bin im Garten«, sagte Lake. »Sehen Sie sich nur gründlich um.« Eine halbe Stunde lang las er im Garten Zeitung. Dann stand er auf und folgte Randall ins Haus, weil er vermutete, seine Besucher wären bereits gegangen. Jennifer stand mit verschränkten Armen mitten im Wohnzimmer. »Sie sind also noch da«, sagte er. »Sie sind oben.« »Ich dachte, sie wären schon fort.« »Soll ich ihnen sagen, daß sie sich beeilen sollen?« »Nein, das habe ich nicht gemeint. Ich hatte nicht den Eindruck, daß sie sehr interessiert waren.« »Ihn kann ich nicht einschätzen, aber sie ist bestimmt interessiert. Ganz sicher.« »Mir wäre das nicht aufgefallen«, sagte Lake. Sie standen sich schwei gend gegenüber. Er zermarterte sein Gehirn, wie er ihr die Geschich te mit der Beziehung ihres Großvaters zu seiner Tante und zu diesem Haus am besten erzählen konnte. Damit müßte er beginnen, alles wei tere würde sich dann ergeben. Er würde ihr die Geschichte in Etap pen erzählen, damit sie sah, daß er keine andere Wahl hatte – er wür de sagen, daß das Testament eigentlich ein Knebelvertrag war, mögli cherweise sogar verfassungswidrig, ein Bruch von Artikel vierzehn der amerikanischen Verfassung. »Ich wußte nicht, daß Sie einen Hund haben«, sagte Jennifer. »Ich habe ihn momentan in Pflege. Er ist der Besuch, von dem ich Ih nen erzählt hatte.« »Ach so.« Er wartete auf ihre Frage, wem der Hund gehöre, aber sie sagte nichts. Er entschloß sich, ihrer Frage zuvorzukommen. Dazu mußte er sich einer letzten, winzigen Lüge bedienen, obwohl es eigentlich gar keine richtige Lüge war, eher eine Metapher: »Meine Tante hatte einen Hund wie diesen hier«, sagte er. »Er hieß Randall.« Er ging zum Tisch am Fenster und nahm das Foto von Randall, das ihn in Maine auf ei nem Segelboot zeigte. Er ließ sie einen Blick darauf werfen. »Das ist 138
ihr Hund. Der hier heißt Renard. Gleiche Rasse, nur daß Renard ein dunkleres Fell hat.« »Hallo, Renard«, sagte sie und beugte sich hinunter, um ihn zu strei cheln. »Mögen Sie Hunde?« fragte Lake. Sie nickte. »Hatten Sie als Kind einen?« »Einen Labrador.« »Springer-Spaniels sind tolle Hunde. Sehr einfallsreich.« »Sie sollten sich einen anschaffen«, sagte sie. »Ich hab schon einen.« »Ich dachte, daß Sie diesen Hund nur in Pflege haben.« »Vielleicht werde ich ihn behalten.« Sie schwieg. »Stört es Sie, daß er im Haus ist, wenn Sie mit Interessenten kom men?« »Nein.« »Vielleicht ist es sogar von Vorteil. Das Haus sieht dann irgendwie bewohnter aus. Aber lieber wäre es Ihnen schon, wenn er nicht hier wäre, oder?« »Das habe ich nicht gesagt«, antwortete sie. »Es spielt wirklich keine Rolle. Der Hund ist Teil des großen Geheimnisses.« Lake blinzelte. »Wie meinen Sie das?« »Vergessen Sie, was ich gesagt habe.« »Okay«, sagte Lake. »Ich weiß, was Sie meinen.« Er stellte das Foto wieder auf den Tisch und rückte es zurecht. Von oben hörte er Stim men. Die Dankmyers würden bald herunterkommen. Während er das Foto betrachtete, spürte er, wie ihm die Schamröte ins Gesicht stieg. Er dachte: Warum gerade jetzt? Warum jetzt, nachdem ich schon wo chenlang wie wild herummanövriere? Aber das Gefühl war so stark, daß er wußte, es hatte sich schon die ganze Zeit in ihm versteckt. Jennifer wandte sich zum Gehen. Lake sagte: »Ich würde mich gern mit Ihnen über diese Geschichte unterhalten. Das Geheimnis, Sie wissen schon.« 139
»Natürlich.« »Eigentlich gibt es gar kein Geheimnis. Es ist, besser gesagt, eine Ver pflichtung, und ich weiß nicht genau, wie ich damit umgehen soll.« Sie beobachtete ihn. »Es wäre gut.« »Was wäre gut?« »Darüber zu reden.« Offenbar wußte sie nicht, was sie sagen sollte. Dann blinkte eine Alarmlampe in seinem Kopf. Er wollte seine Worte unterdrücken – zu spät. »Könnten wir uns vielleicht bei einem Abendessen darüber unter halten?« »Ich glaube nicht.« »Ich würde mich sehr darüber freuen.« »Ich glaube nicht, daß das eine gute Idee ist.« »Sie haben recht«, sagte er. »Vielleicht haben Sie recht.« Ihr Haar war leicht zerzaust; ihr Gesichtsausdruck verriet Unwillen und vielleicht auch etwas Traurigkeit. Lake ließ seine Scham zu. Gna denlos brannte sie in seinem Gesicht. Er bückte sich und streichelte Randall, damit sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Jennifer ging zur Haustür. Als sie fort war, ließ das Gefühl nach, verschwand aber nicht. Er packte einen Koffer, hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbe antworter im Büro und verließ mit Randall Chestnut Hill in Rich tung Norden – Nantucket, wenn möglich, aber auf jeden Fall fort von diesem Haus, von dieser Vorstellung, die er abgegeben hatte. An der ersten Autobahnraststätte hielt er an und telefonierte. Nach mehreren Anrufen und ebenso vielen Diskussionen über Haustie re hatte er einen Platz gefunden. Am späten Nachmittag stellte er sein Auto auf dem Parkplatz vor dem Fähranleger am Cape Cod ab und kaufte sich eine einfache Fahrkarte zur Insel. Er setzte sich auf das Oberdeck der Fähre. Die großen Dieselmotoren erwachten brummend zum Leben und steuerten über den Nantucket Sound aufs Meer hinaus. Möwen segelten über ihm in der Luft und stießen 140
krächzende Schreie aus. Randall beobachtete sie bei ihren Flugma növern, wie sie sich näherten, wieder in die Lüfte schwangen und erneut herabstießen. Und auch sie beobachteten ihn mit ihren gel ben Augen.
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ie hatten Glück, daß wir noch ein Zimmer frei hatten«, sagte Mrs. Hayes. »Normalerweise sind wir um diese Jahreszeit ausgebucht. Aber gestern hat jemand seine Reservierung storniert.« »Glück ist sozusagen mein zweiter Vorname«, sage Lake. Auf der Stelle bedauerte er diesen überflüssigen Kommentar: Seit zwanzig Mi nuten saß er im Salon der Pension und plauderte ungezwungen mit seiner Vermieterin, während sie strickte. »Eigentlich ist mein zweiter Vorname Drew«, sagte er. »Drew.« »Ein Verwandter mütterlicherseits. Aber einer, der tatsächlich vom Glück verfolgt ist. Ich halte Sie doch hoffentlich nicht vom Zubettge hen ab?« »Aber nein. Meine Schlafenszeit ist um Punkt zwölf.« »Gemütlich haben Sie's hier.« »Freut mich, daß es Ihnen gefällt.« Randall winselte im Schlaf, zuckte immer wieder, offenbar war er auf der Jagd nach einem Traumtier. Mrs. Hayes bemerkte: »Sie haben ei nen hübschen Hund.« »Im Moment scheint er etwas desorientiert zu sein.« »Mein Rory ist letztes Jahr gestorben. Bis jetzt habe ich mich noch nicht zu einem neuen Hund durchringen können.« »Das tut mir leid.« »Er war ein stattlicher alter Herr.« 141
»Sie sollten sich wieder einen Hund anschaffen. Was für eine Ras se war er?« »Ein Neufundländer.« »Ich glaube, daß ein Springer-Spaniel gut zu Ihnen passen würde. Ich habe das Gefühl, daß diese Hunde das Meer lieben. Renard war schon öfter beim Segeln.« »Haben Sie selbst die Absicht, hier zu segeln?« »Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen. Bestünde denn die Möglichkeit?« »Ja. Sie können ein Segelboot mieten. Kennen Sie Nantucket?« »Nur von einem Reiseartikel. Ich habe mich spontan entschlossen, hier Urlaub zu machen. Vielleicht werden wir auch nur Spazierengehen.« »Sie können den Hund gern bei mir lassen, so oft Sie möchten. Er scheint ja sehr gut erzogen zu sein.« »Vielen Dank«, sagte Lake. »Heute Abend bleiben wir zu Hause. Es war ein langer Tag.« Sie zog sich in ihre eigene Gedankenwelt zurück. Die Stricknadeln klapperten wie ein Metronom. »Dürfte ich Ihnen bitte eine persönliche Frage stellen?« fragte er. »Mir geht gerade etwas durch den Kopf.« Er mußte einfach darüber sprechen. »Aber sicher.« »Hätten Sie wirklich nichts dagegen?« »Ich weiß ja noch nicht, was es ist.« »Also, ich möchte Sie folgendes fragen: Haben Sie in Ihrem Leben einmal jemanden gekannt, dem Sie anfangs nicht getraut haben, später aber dann doch? Ich würde gern die Ansicht einer Frau hören.« »Ich weiß nicht, ob ich Ihre Frage richtig verstanden habe«, sagte sie und beobachtete ihn über ihre Brille hinweg. Sie legte ihr Strickzeug zur Seite. »Es ist schwer zu erklären. Ich meine, jemand tritt gleich von Anfang an voll ins Fettnäpfchen. Ein Mann. Er macht ein paar blöde Fehler. Täuscht irgendwas vor. Aber vielleicht fanden Sie dann heraus, daß er gar nicht so schlecht war, wie es den Anschein hatte.« 142
»Das passiert in Beziehungen doch häufig.« »Ja, vielleicht. Leider sprechen wir gerade über mich.« »Aha.« »Keine wirklich großen Fehler; eigentlich weiß die betreffende Per son nicht einmal genau, welche Fehler es sind. Sie ahnt nur, daß etwas nicht stimmt.« »Mögen Sie diese Person?« »Irgendwie schon. Ich meine, es könnte sich entwickeln. Aber es ist noch völlig vage. Eigentlich ist es eher so, daß ich ihr unsympathisch bin. Und das möchte ich ändern.« »Kennen Sie sie schon lange?« »Ein paar Wochen.« »Oft heilt die Zeit die Wunden.« »Ich hoffe, Sie haben recht, Mrs. Hayes.« »Das ist dabei natürlich ein besonders wichtiger Aspekt.« »Was, bitte?« »Hoffnung. Sich Gedanken machen.« »Ich habe nicht allzu viel Hoffnung. Ich glaube, ich stehe auf verlo renem Posten.« Ein paar Minuten lang herrschte Stille im Raum. »Bitte sagen Sie, wie Sie das meinen, daß Zeit die Wunden heilt, Mrs. Hayes.« »Also, ein typisches Beispiel ist Alfred – mein Mann.« »Ging es dabei auch um mangelndes Vertrauen?« »Ja.« »Ich möchte keine Details wissen, aber erzählen Sie mir doch bitte, wie es war, als er Sie zum ersten Mal um ein Rendezvous bat. Was ant worteten Sie ihm?« »Ich lehnte ab.« »Genau. Das entspricht genau meiner Erfahrung. Aber offensichtlich gab er sich ja nicht mit Ihrer Antwort zufrieden, nachdem Sie jetzt mit ihm verheiratet sind.« »Ich lehnte mehrmals ab.« »Wie lange?« 143
»Zwei Jahre.« »Zwei Jahre?« sagte Lake. »Ja. Vielleicht war es auch etwas weniger.« »Darf ich Sie fragen, warum? Ich möchte nicht neugierig sein, aber hatten Sie dafür einen bestimmten Grund?« »Ich dachte, daß er mit Amelia Roberts ging. Auf jeden Fall dach te sie das.« »Sie hatten also das Gefühl, daß er unehrlich war?« »Ja, allerdings.« »Vielleicht war es nicht ganz so einfach. Vielleicht hatte er sich in et was hineinmanövriert.« »So könnte man es auch sehen.« »Bei Ihnen hat sich am Ende alles geregelt. Alfred hat alles klarge stellt, oder? Nach diesen zwei Jahren fragte er Sie also nochmals und Sie sagten ja. War danach alles in Ordnung? Offensichtlich schon, oder?« »Nein, keineswegs.« »Ach. Und was ist passiert?« »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das alles erzählen soll.« »Nur wie die Geschichte ausgegangen ist; bis Sie mit ihm ins reine gekommen sind, bitte.« »Nun ja, es hat eine Weile gedauert. Alfred hatte damals manchmal Probleme mit der Wahrheit. Er legte nicht so viel Wert darauf, wie nö tig gewesen wäre.« »Aber Sie haben ihn geheiratet.« »Drei Jahre später.« »Drei Jahre«, sagte er. »Wie lange sind Sie schon verheiratet?« »Siebenundvierzig Jahre.« »Es hat also zwei Jahre gedauert, bis Sie mit ihm ausgegangen sind, drei weitere Jahre, bis alle Missverständnisse geklärt waren, und dann noch siebenundvierzig Jahre? Das ist gar kein so schlechtes Zeitverhält nis, wenn man es genau betrachtet, wenn man es langfristig sieht.« »Alfred war ein guter Mann. Aber er hat mir ganz schön zu schaf fen gemacht.« 144
»Aber es hat sich schließlich gelohnt«, sagte Lake. »Manchmal lohnt es sich.« Sie packte ihr Strickzeug ein. »Von acht bis zehn gibt's Frühstück.« »Ich werde früh aufstehen. Immer auf Achse.«
Geduld. Vielleicht entsprach diese Tugend nicht gerade seinem Tempe rament, aber einen Versuch war es wert. Als Mitternacht vorüber und er gerade dabei war, wegzudämmern, traf er eine Entscheidung: Das nächste Mal würde er Jennifer am elften Juli um ein Rendezvous bit ten, genau in einem Jahr, gerechnet ab heute. Alfred und Mrs. Hayes' nordische Zurückhaltung war nicht geboten. Philadelphia lag in ei ner wärmeren Klimazone als Nantucket; das Leben dort hatte einen schnelleren Rhythmus. Eine einjährige Wartezeit war ein guter Vor satz, ein geduldiger Vorsatz. Wenn Jennifer in der Zwischenzeit je mand anderen kennenlernen sollte, hatte er eben Pech gehabt. Nichts im Leben ist ohne Risiko. Die Träume streckten ihre Fühler nach ihm aus, aber er hielt sie noch auf Abstand und überdachte sein Vorhaben. Selbst ein Jahr erschien ihm als zu lang. Er änderte den Zeitplan: Das nächste Mal würde er Jennifer am elften Oktober um ein Rendezvous bitten, genau in drei Monaten. Bis dahin hätten sich alle Probleme in Zusammenhang mit dem Haus von selbst erledigt, und alle seine Ausweichmanöver wären in Vergessenheit geraten. Drei Monate, ja, das war ein besserer Zeit raum. Aber der gesunde Menschenverstand gebot es, die dreimonatige Wartezeit schon ab dem Vortag, dem zehnten Juli, gelten zu lassen, da dies der Tag war, an dem er sie zum ersten Mal um ein Rendezvous ge beten hatte. Dadurch hätte er einen Tag gewonnen. Aber nachdem er sie schon am frühen Morgen gefragt hatte und seit her Reue zeigte, sollte auch der Vortag schon in die Wartezeit eingerech net werden. Demnach wäre der neunte Oktober der Tag, an dem er es nochmals versuchen wollte – falls er Lust dazu hatte. Er schlief ein. 145
Am nächsten Morgen nahm er Randall an die Leine und ging mit ihm in die Stadt. Er setzte sich auf eine Bank und beobachtete die Men schen, die an ihm vorbeiströmten. Eine Horde Kids auf aufgemotzten Mountain Bikes sauste in sein Blickfeld, schoß einen Hügel hinauf und aus dem Blickfeld hinaus. Randalls Nase kräuselte sich, denn er sog den Duft von Kaffee und Doughnuts ein. Später schlenderte Lake zum Hafenviertel hinunter, vertrieb sich die Zeit in einer kleinen Kunstgalerie, die Bilder von Bauernhäusern mit rosaroten Dächern ausgestellt hatte, und spazierte dann durch die Ma rina – eine Wasserstadt mit einem Gewirr von Masten, Ruderbooten und Funkantennen. Die Bewohner der schwimmenden Häuser waren wie Tiere in einem Zoo der Öffentlichkeit preisgegeben, nahmen ihre Mahlzeiten ein, spielten Karten oder saßen vor dem Fernseher. Neben einem bulligen Mann, der am Heck eines großen Motorbootes stand, blieb er stehen; auf dem Heckspiegel stand der Name: Herz-Klopfen. »Guten Morgen«, sagte Lake. »Witziger Name für ein Boot. Motoren klopfen doch auch, richtig?« Der Mann paffte seine Zigarre und zuckte gleichgültig die Schul tern. »Wieso haben Sie das Wort mit Bindestrich geschrieben?« »Was weiß ich.« Der Anblick der vielen Ruderboote brachte Lake auf eine Idee. Er entdeckte ein Anglergeschäft, lieh sich eine Wurfleine, kaufte ein paar Köder und fragte nach dem nächstgelegenen Strand hinter dem Ha fen. »Dort werden Sie aber nicht viel fangen«, sagte der Mann in dem La den. »Ich mach's ja nur zur Entspannung.« Nach einem viertelstündigen Spaziergang hatte er die Treppe er reicht, die steil zum Strand hinunter führte. Dahinter dehnte sich eine Wasserwelt aus, glitzernd und vom Wind gekräuselt, mit einer lang gezogenen Brandung, die gemächlich vom Horizont heranrollte. Er spürte förmlich die Wölbung des Planeten. Er erahnte das Flüstern von Stürmen, die tausend Meilen entfernt tobten, den felsigen Kon 146
tinentalschelf, der in die Dunkelheit hinabtauchte, das Klappern der Hummerscheren und die Echogeräusche der Wale. Es war richtig, daß er hierhergekommen war. Jennifer hatte nicht das Monopol auf In stinkte. Den ganzen Vormittag warf er seine Angel nach Bluefish aus, der ge rade woanders schwamm. Er zog seine Turnschuhe aus, rollte die Ho senbeine hoch und watete bis zu den Knien ins Wasser, um den Rhyth mus des Meeres zu spüren. Manchmal wurde die Leine zu seinem ver längerten Arm, und er konnte sie in weitem Bogen der Sonne entge genschleudern; der Haken schwang sich in einer Kurve in den blauen Himmel, produzierte bei der Landung eine kleine Wasserfontäne und tanzte zu ihm zurück, wenn er an der Spule drehte. Randall rollte sich auf dem Sand zusammen und schlief die meiste Zeit. Zwischendurch tappte er herum, schnüffelte an Seegras, ange schwemmtem Holz und anderem interessanten Strandgut. Eine Frau und ein kleiner Junge kamen zum Strand herunter. Sie lockte den Hund, und der Junge streichelte vorsichtig seinen Kopf. Ein joggen des Pärchen blieb kurz stehen, um ihn zu tätscheln. Lake angelte. Sei ne Lippen schmeckten salzig. Seine Augen waren vom Sonnenlicht ge blendet. Wieder und wieder hüpfte der Haken zurück, fischlos – aber er angelte nicht der Fische wegen. Er fühlte sich dem Boden unter sich verbunden, fest verankert mit der terrestrischen Materie, war wunsch los glücklich. Dann wurde er hungrig. Er verstaute sein Angelzeug, zog die Schu he an, rief nach Randall und stieg die Treppe hinauf, während hinter ihm das Rollen der Brandung abebbte. Oben angelangt, schaute er auf die Uhr. Es war fast halb zwei. Die Datumsanzeige auf dem Zifferblatt zeigte den elften Juli. Der neunte Oktober schien nicht mehr weit ent fernt – kaum länger als ein Wimpernschlag für jemanden, der in lan gen Zeiträumen rechnete.
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Körperliche Anstrengung war genau das, was er brauchte. Am Nach mittag joggte er mit Randall meilenweit zur Südküste, Lake schwamm im Ozean, während Randall am Ufer Wache hielt. Als die Sonne schon fast den Horizont berührte, kehrten sie um, trödelten nach Hause. Später ging Lake allein auf Entdeckungsreise. Er lauschte der Gitar re eines Straßenmusikers, schlenderte nochmals zur Marina hinun ter und beobachtete, wie sich die Schiffseigner auf ihren Motoryachten den Abend vertrieben, trank ein Bier in einer Bar und kehrte dann zu seiner Frühstückspension zurück, wo er auf seinem Bett einen schla fenden Randall vorfand, erschöpft von den Anstrengungen des Tages. Lake scheuchte ihn vom Bett herunter, aber liebevoll. Am nächsten Morgen begrüßte ihn ein klarer, sonniger Tag mit ei nem Lüftchen, gerade stark genug, um die Fahnen zum Flattern zu bringen. Lake trug seinen Kaffee zu einem Schaukelstuhl im Innen hof und betrachtete den Tag. Möwen zogen über den Himmel, Kletter rosen neigten sich an einer Schindelwand. Mary war bestimmt schon im Büro. Er überlegte sich, sie anzurufen, um sich auf dem laufenden zu halten, aber eigentlich interessierte es ihn nicht. Statt dessen spa zierte er mit Randall zum Leuchtturm hinaus, der am Ende des Ha fens auf sandigem Grund stand. Dort verlief der Kanal nahe der Küste, und eine bunte Mischung von Wasserfahrzeugen paradierte an ihm vorbei – Boote mit Außenbordmotoren, eine brummende Motoryacht, spitz wie ein Messer, Segelyachten, die beim Vorüberrauschen ihre An tifoulingfarbe präsentierten, ein verrosteter Trawler, ein Surfbrett, das sich gegen den Wind stemmte und über die Wellenköpfe donnerte. Eine halbe Stunde später hatte er einen Segelbootverleih ausgekund schaftet. Seine Segelerfahrung beschränkte sich auf einen Ausflug vor fünf Jahren mit Freunden, mit denen er auf einem Boot herumgealbert hat te, aber er glaubte, daß genaue Beobachtung ihm das nötige nauti sche Wissen verschaffen würde. Er stand in einiger Entfernung vom Schwimmdock, über das die Leihjollen zu Wasser gelassen wurden. Der Wind blies beständig und genau ablandig, in Richtung der Flotte von großen Yachten, die im Hafen an Bojen lagen. Vom Land wegzu 148
kommen wäre kein Problem – einfach das einzige Segel der Jolle aus fahren und sich vom Wind hinaustreiben lassen. Um zurückzukom men, würde er kreuzen müssen. Wie das technisch vor sich gehen soll te, wußte er nicht, wohl aber, daß das Segel ganz dicht gefahren wer den mußte. In diesem Moment gingen ein Mann und ein kleiner Junge auf eine der festgebundenen Jollen zu, machten sie los, hüpften an Bord, zogen das Segel auf, stießen sich ab und legten die Pinne auf die andere Sei te um. Das Boot drehte sich, und sie glitten davon. Lake beobachtete jede Bewegung mit Argusaugen und prägte sich die Abfolge genau ein; er war überzeugt davon, nun alle Handgriffe nachmachen zu können. Ein paar Minuten später lieferte eine weitere Mietjolle die notwendige Lektion für das Einlaufen in den Hafen. Ein sonnengebräuntes Mäd chen segelte das Boot allein. Sie fuhr ein paar Mal im Zickzack, und als das Boot die letzten Meter zur Pier zurücklegte, ließ sie das Segel flat tern. Auch hier merkte sich Lake jedes winzige Detail. Er näherte sich dem Bootsverleiher. »Ich möchte für ein paar Stunden ein Boot mie ten«, sagte er. »Können Sie segeln?« »Klar.« »Sind Sie schon einmal gesegelt?« »Natürlich.« »Wie gut können Sie segeln?« »Über dem Durchschnitt, würde ich sagen.« »Sie müssen mir ein Pfand oder Ihre Kreditkartennummer dalas sen.« »Gern.« »Sie müssen eine Schwimmweste anziehen.« »Das ist nicht nötig.« »Es wird aber verlangt. Das Ding müssen Sie immer anbehalten.« »Na gut. Und wie sieht's mit einer Schwimmweste für meinen Hund aus?« »Die Küstenwache kümmert sich nicht um Hunde.« »Kein Problem, er ist ein erfahrener Segler«, sagte Lake. »Ich nehme 149
dieses hier.« Er zeigte auf das Boot, mit dem das Mädchen gerade her eingekommen war. Das Segel war noch aufgetakelt, also könnte er sich die Peinlichkeit ersparen, unter den Augen des Bootsverleihers nach dem richtigen Seil zum Hochziehen zu suchen. Er hob Randall auf den Glasfasersitz, der direkt an eine Kiste mit einem Schlitz grenzte. Aber Randall hatte seine eigene Vorstellung davon, wo er sitzen wollte, und suchte sich einen Platz ganz unten im Bootsrumpf. Unter genauer Beachtung des soeben Gelernten löste Lake die Fest macherleine, stieg ein und legte die Pinne auf die andere Seite um. Un ter dem Winddruck glitt das Boot zurück und drehte sich. Das Segel schwenkte von allein hinaus. Er packte das Seil, das am Baum festge macht war. Er legte die Pinne zur Mitte des Boots und bewegte sie ein paar Mal hin und her, um ein Gefühl für dieses flotte, kleine Gefährt zu bekommen. Die Jolle sauste los, mit schäumender Welle hinten und unbekanntem Ziel vorn. Er fand, daß er ein außergewöhnlich elegan tes Ablegemanöver hingelegt hatte. Randall fühlte sich offensichtlich nicht wohl. Lake beschloß, eine Zeitlang nicht zu experimentieren, zumindest so lange nicht, bis sich Randall beruhigt hatte und er den skeptischen Bootsverleiher weit ach teraus gelassen hatte. Er legte einen Arm lässig an das Waschbord des Bootes und reckte sein Gesicht in die Sonne. Als er einen Augenblick später die Augen öffnete, stellte er fest, daß er vom Kurs abgekommen war. Schnell korrigierte er die Richtung. Offensichtlich war permanen te Aufmerksamkeit unverzichtbar, aber bald schon würde er die Kräfte des Windes und der Wellen meistern können. Eine solche Herausfor derung liebte er. Improvisation, ›learning by doing‹ – da spürte man, daß Leben in einem steckte. Sie hielten auf den Rand des Bojenfeldes zu. Um in sicherem Abstand vorbeizusegeln, drückte er die Pinne auf die andere Seite. Plötzlich er eignete sich Merkwürdiges. Der Baum hob sich. Das Segel bauschte sich. Der Baum schwang wie eine große Sense quer über das Boot und verfehlte Lakes Kopf, der sich geistesgegenwärtig geduckt hatte, nur um Zentimeter. Das Boot drehte sich im Kreis, schwankte beängsti gend. Das Segel rauschte auf die andere Seite und knatterte ohrenbe 150
täubend. Während er noch damit beschäftigt war, sich diese Vorgänge zu erklären, sah Lake, daß Randall sich auf den Boden des Bootes ge kauert hatte. »Kein Problem«, sagte Lake. Die nächsten Sekunden vergingen ohne weitere Vorkommnisse. Lake zog das Seil an, das den Baum unter Kontrolle hielt. Das Segel füllte sich und das Boot nahm wieder Fahrt auf. Er konzentrierte sich darauf, einen geraden Kurs zu steuern, und bald hatten sie die Yachten hinter sich gelassen, und vor dem Bug lagen keine Hindernisse mehr. Einige Zeit später kam er zu dem Schluß, daß der Wind das Segel deshalb auf die andere Seite geworfen hatte, weil er die Pinne in die falsche Richtung gelegt hatte. Ganz vorsichtig drückte er die Pinne ge gen das Segel und zog gleichzeitig das Seil am Baum an, genau wie es das sonnengebräunte Mädchen getan hatte. Nun fuhr das Boot in eine andere Richtung, etwa seitwärts zum Wind. Dennoch segelte er eher mit dem Wind als zum Hafen zurück. Sollte das Boot etwa kaputt sein und er deshalb nicht mehr kreuzen können? Er drückte die Pinne wei ter in die andere Richtung und trimmte das Segel. Die Jolle fuhr wei terhin quer zum Wind oder aber mit dem Wind und ließ sich nur noch schwer steuern. Er ging wieder auf seinen ursprünglichen Kurs zurück. Offenbar segelte das Boot ständig mit dem Wind, egal, was er tat. Er schaute sich nach einer Betriebsanleitung um. Es war keine da. Oberflächlich betrachtet, war es ein geradezu idyllisches Segeln: Mit Leichtigkeit tanzte das Boot über die Wellen. Aber wenn er es nicht schaffte, einen anderen Kurs zu fahren, könnte dieser Ausflug unge wöhnlich lang werden. Ein Handbuch wäre sehr hilfreich gewesen. Wichtig: Decken Sie sich vor jedem Segeltörn mit Proviant ein, auch wenn Sie nur einen kurzen Ausflug machen. Das Meer ist unberechen bar. Er spähte voraus. Noch immer befand er sich im Hafen. Randall sah Lake unverwandt an. Zu beiden Seiten der Jolle glitten Sand und niedrige Hügel vorüber – möglicherweise in Reichweite, wenn er nur gewußt hätte, wie man das Segel anders setzt oder einen anderen Kurs steuert. Mit hoher Ge schwindigkeit näherte sich ein Boot mit Außenbordmotor. Er wedelte 151
mit beiden Armen, das Boot verlangsamte seine Fahrt und kam heran. Vier Kids, Teenager, mit nackten Oberkörpern, schauten zu ihm her über. »Was ist los?« fragte einer von ihnen. Lake zeigte auf Vorwindkurs. »Was liegt eigentlich in dieser Rich tung?« fragte er. »Wauwinet«, antwortete der Junge, der am Steuerhebel saß. »Was ist Wauwinet?« »Eine Stadt.« »Wie weit?« »'n paar Meilen.« »Das Boot hier segelt nur in eine Richtung.« »Ist das Schwert ausgefahren?« »Keine Ahnung. Glaub nicht.« Der Junge warf seinen Freunden einen Blick zu. »Hören Sie zu«, sag te er, »wir würden Sie ja abschleppen, aber leider haben wir keine Zeit. Wenn Sie möchten, kann ich Sie ans Ufer schleppen, aber entscheiden Sie sich schnell.« Lake winkte ab. »Ich wollte mir Wauwinet schon immer mal anse hen.« Der Junge drückte den Gashebel durch, und das Boot schoß davon, bis es nur noch ein kleiner Punkt am Horizont war. Lake und Randall segelten ins Ungewisse. Eine halbe Stunde später lockte das Ende der Reise. Die Jolle steuer te auf Wauwinet zu, das Segel bauschte sich und das Seil zerrte an La kes rechter Hand. Die Stadt bestand offenbar nur aus einer Handvoll am Ufer aufgereihter Häuser. Einige Boote schwojten um ihre Bojen, und eine lange Pier streckte sich von einer Art Hafenkneipe ins Meer. Er steuerte auf die linke Seite der Pier zu, suchte eine Lücke zwischen den Booten. Er wollte direkt auf den Strand segeln. Sobald er wieder si cheren Boden unter den Füßen hätte, würde er sich einen Jeep und ei nen Hänger mieten und die Jolle zum Ausgangspunkt seiner Reise zu rückbringen. Während er über die verschiedenen Möglichkeiten nach dachte, die sich ihm boten, trieb das Boot seitwärts ab und weigerte sich, dem nach links eingeschlagenen Kurs zu gehorchen. Er hielt ge 152
nau auf die Pier zu und war nahe daran, sie zu rammen. Er warf die Pinne herum. Das Segel bauschte sich auf die inzwischen bekannte Weise. Der Baum stieg hoch und wischte haarscharf an seinem Kopf vorbei. Das Seil verfing sich irgendwo, und das Segel füllte sich wie der. Wie von einer Riesenhand gepackt schlingerte die Jolle, tauch te mit der Nase unter Wasser und schaukelte furchterregend. Wasser floss über das Waschbord. Lake suchte nach einem Halt, fand keinen und fiel verdattert über Bord. Als er wieder zur Jolle hinübersah, trieb sie kieloben, das Segel lag im Wasser. Er sah keinen Hund. »Verdammt, verdammt!« Er wirbelte im Wasser herum und such te nach ihm. Plötzlich kam ihm der Gedanke, daß sich Randall viel leicht unter dem Segel verfangen haben könnte. Er versuchte zu tau chen, aber die Schwimmweste hielt ihn an der Oberfläche. Er riß sie sich vom Leib und tauchte unter das Segel auf der Suche nach einem Hundekörper. Schließlich mußte er zum Luftholen an die Oberfläche. Als er gerade wieder tauchen wollte, warf er einen Blick ans weniger als dreißig Meter entfernte Ufer. Dort stand ein Hund und beobachte te ihn. Lake richtete das Boot auf, packte die Festmacherleine und schwamm los. Bald ertasteten seine Füße festen Grund, und fünf Minuten spä ter waren er und das klatschnasse Boot an Land. Er stand am Ufer und rang nach Luft. Ein Mann in Arbeitskleidung näherte sich. »Sie haben ganz offensichtlich ein Problem.« Lake hatte keine Lust auf eine Unterhaltung. »Das kommt darauf an, von welcher Warte aus Sie es betrachten.« »Woher kommen Sie?« »Nantucket.« »Und wie wollen Sie zurückkommen?« »Per Hubschrauber.« »Ich könnte Sie hinschleppen.« Er deutete auf einen verbeulten, wei ßen Kahn. »Das ist mein Boot.« »Ach, das wäre nett von Ihnen.« »Für fünfzig Dollar.« »Zehn«, versuchte Lake entrüstet zu handeln. 153
»Nein, fünfzig.« »Ich habe einen Freund, der mich abschleppen kann.« »Nun, vielleicht wäre ich mit fünfundzwanzig zufrieden, aber kei nen Cent weniger.« »Okay«, willigte Lake ein. »Mein Hund hier ist vielleicht etwas mit genommen. Ich sollte ihn besser nach Hause bringen.« »Mitgenommen?« »Ich war mir nicht sicher, ob er schwimmen kann«, sagte Lake. »Mann, das ist ein Spaniel. Der könnte um die ganze Insel schwim men, wenn er wollte. Der war in weniger als zehn Sekunden vom Boot runter und am Ufer.« »Typisch.« »Sind Sie schon oft gesegelt?« »Hin und wieder.« »Wieso ist eigentlich das Schwert nicht heruntergelassen? Nicht gera de ideal, wenn man kreuzen will.« »Ach.«
Als er in die Pension zurückkam, rief er Karen an. »Was hältst du da von, wenn ich euch heute besuche?« fragte er. »Wann?« »In ein paar Stunden.« »Wo bist du?« »In Nantucket.« »Warum bist du jetzt schon da? Du wolltest doch erst in zwei Wo chen kommen.« »Ich bin eben meiner Zeit voraus.« »Eigentlich paßt es mir nicht. Bleibst du länger hier? Stephen kommt am Freitag. Komm doch am Wochenende.« »Ich möchte aber jetzt kommen.« »Ist irgend etwas los?« »Eigentlich nicht, aber ich möchte dich kurz besuchen.« 154
»Na, dann komm.« Lake bedankte sich bei Mrs. Hayes, hetzte in die Stadt und erwisch te gerade noch die Fähre nach Oak Bluffs. Von dort fuhr er mit dem Taxi quer über die Insel. Randall saß neben ihm. Das Taxi hielt an ei nem alten, mit Schindeln gedeckten weißen Haus inmitten eines gro ßen Rasens. Er läutete. Karen öffnete die Tür und lächelte. Dann sah sie Randall. »Du hast den Hund mitgebracht.« »Natürlich. Wo ich hingehe, da geht auch er hin.« »Du hast dich also entschlossen, ihn zu behalten.« »Das ist nicht Randall«, sagte Lake. »Das ist Renard. Eine Art Er satz.« »Du hast dir einen anderen Hund angeschafft?« »Um den leeren Platz in meinem Herzen zu füllen.« »Du kannst ihn nicht hereinbringen. Wir dürfen hier keine Haustie re haben. Bring ihn in ein Tierheim.« »Wir kommen herein.« »Bring ihn in die Garage.« »Wir kommen herein.« »Na, dann beeil dich, bevor die Nachbarn den Hund sehen.« Lake folgte ihr ins Haus. Drinnen war es luftig und hell; überall lag Kinderspielzeug herum, an den Wänden hingen Bilder mit Schiffsmo tiven. »Nett hast du's hier«, sagte er. »Wie gefällt dir übrigens das Haus von Tante Ilsa in Maine?« »Sehr gut«, sagte sie. Sie betrachtete Randall. »Er ist verfilzt.« »Mir gefällt das. Sieht lässig aus, finde ich.« »Was ist mit seinem Fell passiert?« »Er hatte einen Bootsunfall.« »Da, auf dem Kopf – diese zwei Brauntöne.« »Vermutlich war einer seiner Vorfahren ein Cockerspaniel.« Sie inspizierte das Fell und teilte es mit den Fingern. »Nein, ich glaub's nicht«, sagte sie. »Paß auf, du verletzt seine Gefühle.« »Du hast ihm das Fell gefärbt«, prustete sie. 155
»Ach, woher denn! Das ist Renard.« Sie ließ sich in einen Stuhl fallen und schaute Lake entgeistert an. »Du bist völlig verrückt.« »Das ist Renard«, sagte er. »Okay, das ist Renard.« »Wo sind die Kinder?« »In der Küche.« Lake ging in die Küche. Emily saß im Pyjama an einem Tisch und spielte mit einem Löffel und einer Gabel ein Mutter-und-Vater-Spiel. Steebie thronte auf einem Babystuhl und ließ sich ohne Begeisterung von einem Babysitter füttern. Kinn und Lätzchen waren vollgeklek kert. »Hallo, ich bin Lake«, sagte er zu dem Mädchen. »Hallo.« »Der kleckert ganz schön rum, was?« »Er ist nicht gerade kooperativ.« Karen kam herein. »Margaret, das ist mein Bruder Lake. Emily, sag guten Tag zu deinem Onkel.« »Hallo, Onkalake«, sagte Emily, ohne von ihrem Spiel aufzusehen. Lake war froh, daß er gekommen war. Als die Kinder später im Bett lagen und der Babysitter nach Hause gegangen war, setzte er sich mit Karen ins Wohnzimmer. »Manchmal meine ich, daß ich geradezu auf Katastrophen programmiert bin«, sag te er. »Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm.« »Ach wo«, sagte Karen. »Obwohl, einen Unterschied gibt es: Dad macht immer das, wozu er gerade Lust hat, und gibt sich nicht mal die Mühe, es zu verbergen. Ich mache auch, wozu ich gerade Lust habe, aber ich verberge es. Angst vor negativen Reaktionen, denke ich.« »Ihr beide seid sehr unterschiedlich, Lake.« »Manchmal wünschte ich, Tante Ilsa hätte mir ihr Haus nicht ver macht. Seitdem steht bei mir alles köpf.« »Hast du Jennifer über das Testament und ihren Großvater aufge klärt?« 156
»Nein.« »Das mußt du aber. Vielleicht ist es ihr ja egal, vielleicht sieht sie aber auch eine andere Möglichkeit. Auf alle Fälle mußt du es ihr sagen.« »Das hatte ich auch vor. Aber ich bin's nicht richtig angegangen.« »Wie meinst du das?« »Ich hab sie zum Abendessen eingeladen. Ich wollte in gelöster Atmo sphäre mit ihr sprechen. Ich dachte, daß es mir dann leichter fällt.« »Ich hab's gewußt.« Er zuckte die Achseln. »Das war wirklich bescheuert von dir«, sagte Karen aufgebracht. »Sie verkauft dein Haus. Sie ist die Maklerin. Sie zum Abendessen einzu laden bringt sie, rein geschäftlich gesehen, in eine prekäre Situation – ganz abgesehen von der schon vorhandenen prekären Situation, von der sie ja noch nicht einmal etwas weiß.« »Sie hat schon was gemerkt.« »Daran bist du selbst schuld, Lake.« »Vielleicht denkt sie in drei Monaten anders. Bei solchen Sachen muß man sich in Geduld üben«, sagte er. Karen schwieg. »Ich habe ohnehin im Büro jede Menge zu tun.« »Du magst sie.« »Ja, ich mag sie.« »Sie ist nicht dein Typ.« »Und wer ist mein Typ?« »Du warst beispielsweise in Charlotte verknallt. Sie ist das genaue Gegenteil von Jennifer, sie wuselt überall herum und will alles und je den organisieren, kurz gesagt: ein Elefant im Porzellanladen.« »Charlotte ist in Ordnung. Sie brennt nur ein bißchen heller als die meisten anderen.« »Du bist auf sie abgefahren.« »Es war nie wirklich ernst«, sagte er. »Und außerdem ist sie jetzt eine Ehefrau.« »Wenn du das eine Ehe nennen willst, bitte. Frank Sibley ist das letz te Arschloch.« 157
»Wir sprachen aber über Jennifer und nicht über Charlotte.« »Jennifer ist nicht die Art Frau, die du benutzen kannst«, sagte Ka ren. »Du meinst also, ich benutze sie?« »Etwa nicht?« »So hab ich's noch gar nicht gesehen.« »Es gibt niemanden, der andere Menschen nicht benutzt, selbst wenn er meint, es wäre anders«, sagte Karen. »Aber Jennifer würde das so fort merken. Sie hat einen wachen Verstand, Lake.« »Das kann ich leider nur bestätigen.« Sie schwiegen. Lake befürchtete, daß die Unterhaltung beendet war. Er würde zu Bett gehen und am nächsten Morgen nach Philadelphia zurückfahren, ohne schlauer geworden zu sein. »Findest du, daß ich Jennifers Typ bin?« fragte er. »Ich meine, falls ich sie nicht benutzen würde.« Karen schüttelte den Kopf. »Ich habe es befürchtet«, sagte er. »Egal, ich werde sie jetzt ohnehin eine Weile nicht mehr sehen.« »Gute Idee.« Er schaute in die Dunkelheit hinaus. »Ich habe es versaut«, sagte er. »Komplett versaut.« »Vielleicht solltest du mit ihrem Großvater sprechen. Vielleicht könn te man die Bedingungen ja etwas flexibel gestalten. Oder ich könnte mit ihm sprechen. Ihn aushorchen.« »Danke, das ist lieb von dir«, sagte er. »Aber mit diesem Problem muß ich selbst fertigwerden.« »Ich bin froh, daß du den Hund behalten hast.« »Der Hund macht nichts als Probleme«, sagte Lake. Er ging nach oben. Hinter ihm sagte Karen leise: »Vielleicht ist sie doch dein Typ, Lake.«
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V
ielleicht würde die Zeit Jennifers Erinnerung an seine Unaufrich tigkeit auslöschen, allerdings nur dann, wenn er den eingeschla genen Weg nicht weiter verfolgte. Er würde das Haus nicht über sie verkaufen. Vielleicht würde er es irgendwann später verkaufen – über einen anderen Makler –, aber sie würde damit nichts mehr zu tun ha ben. Falls er sie nochmals um ein Treffen bitten sollte und sie ihn nä her kennen gelernt hätte, würde er ihr alles erzählen. Es war gut, daß er sie eine Weile nicht mehr sehen würde. Er hatte noch keine Vorstel lung, wie er ihr alles erklären sollte. Am nächsten Morgen kämpfte er sich aus einem geträumten Meer mit schwimmenden Hunden, mit Steebie im Babystuhl und einem Motorboot, das dauernd im Kreis herumfuhr. Nachdem Karen, der Babysitter und die Kinder an den Strand gegangen waren, setzte sich Lake im Wohnzimmer neben das Telefon. Vermutlich würde ihm die ser Anruf vom Autotelefon aus leichter fallen: die Worte würden nur so von seinen Lippen sprudeln. Er wählte die Nummer von Jennifers Büro, bereit aufzuhängen, falls sich ihr Anrufbeantworter melden sollte. Aber sie hob selbst ab. »Jennifer Dee.« »Ich bin's, Lake.« »Hallo«, sagte sie. Ihre Stimme klang unverbindlich. »Wie geht es Ihnen?« »Gut.« »Das freut mich. Hören Sie: Ich möchte Ihre Zeit nicht zu sehr in Anspruch nehmen. Es sind nur zwei Dinge, die ich Ihnen sagen muß, möchte aber gleich betonen, daß das eine nichts mit dem anderen zu tun hat.« 159
»Einen Moment bitte, ja?« sagte sie. Sie legte die Hand auf die Sprech muschel. Er hörte, wie sie mit einer anderen Frau sprach, verstand aber nicht, was sie sagte. »Entschuldigen Sie«, sagte sie dann in den Hörer. »Was sagten Sie gerade?« »Daß ich Ihnen zwei Dinge sagen muß.« »Einen Moment bitte.« Sie legte wieder die Hand auf die Sprechmu schel. Er hörte ein gedämpftes Wort, das wie ›Gegenangebot‹ klang. Dann war sie wieder da. »Tut mir leid«, erklärte sie. »Ich bin mitten in einer Krisensitzung.« »Und daß sie nichts miteinander zu tun haben.« »Wie bitte?« »In keiner bestimmten Rangfolge. Sie sind …« Wieder hörte er die Stimme der anderen Frau im Hintergrund. Jen nifer sagte: »Kann ich Sie zurückrufen?« »Es dauert nur eine Minute«, sagte er. »Gut. Was hat nichts miteinander zu tun?« »Sie haben absolut nichts miteinander zu tun.« »Und was hat absolut nichts miteinander zu tun? Ich bin übrigens froh, daß Sie angerufen haben. Ich wollte Ihnen ohnehin berichten.« »In beliebiger Reihenfolge handelt es sich um die folgenden Dinge: Erstens – wegen gestern … ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, Sie zum Essen einzuladen. Das hätte ich nicht tun sollen, und dafür möchte ich mich entschuldigen. Es tut mir vorübergehend leid, wirk lich. Ich wünschte, ich hätte es nicht gesagt. Ich hoffe, Sie können mir verzeihen.« »Es tut Ihnen vorübergehend leid?« »Ja.« »Das verstehe ich nicht.« »Was verstehen Sie nicht?« »Was meinen Sie mit ›vorübergehend‹?« »Ach, nichts. Ich versuche nur, zwei einfache Sachen so ehrlich zu sa gen, wie ich nur kann. Die zweite Sache ist die, daß ich das Haus aus dem Angebot nehmen möchte. Ich muß es tun. Ich bin noch nicht be reit, es zu verkaufen.« 160
»Sind Sie absolut sicher?« »Nichts ist absolut, aber ich bin sicher.« »Erinnern Sie sich noch an die Dankmyers, die Leute, die sich das Haus am Samstag angesehen haben?« »Ja.« »Ich glaube, sie werden ein Gebot abgeben. Ich kann es Ihnen nicht garantieren, aber ich habe so ein Gefühl. Wenn Sie das Haus jetzt zu rückziehen, haben wir sie als potentielle Käufer verloren. Ein Haus aus dem Angebot zu nehmen und es später wieder anzubieten geht nie ganz reibungslos über die Bühne.« »Es bleibt mir nichts anderes übrig.« »Können wir uns darüber unterhalten?« fragte sie. »Haben Sie mor gen schon eine Verabredung zum Mittagessen?« »Ich bin in Martha's Vineyard«, sagte er. »Was machen Sie da?« »Ich besuche Karen.« »Ich dachte, Sie wollten erst in zwei Wochen nach Nantucket?« »Ich hab's mir anders überlegt.« »Ach so.« »A propos, Mittagessen«, sagte er. »Vielleicht kann ich Sie später anrufen?« fragte Jennifer. »Würden Sie mir Ihre Nummer geben?« »Fragen Sie mich doch noch einmal wegen des Mittagessens.« »Wenn Sie auf Vineyard sind, können wir kaum zusammen zum Mittagessen gehen. Ich könnte Sie morgen anrufen.« »Ich bin am Mittwoch wieder in Philadelphia.« »Können wir uns dann darüber unterhalten?« fragte sie. »Wie war das noch mit dem Mittagessen?« »Haben Sie am Mittwoch Zeit?« »Ja. Aber ich werde das Haus trotzdem aus dem Angebot nehmen.« »Ich möchte Ihnen nur klarmachen, was auf dem Spiel steht.« »Mir wird allmählich klar, was auf dem Spiel steht.«
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Das Telefon in seinem Büro klingelte gerade in dem Augenblick, als er zum Treffen mit Jennifer losfahren wollte. Es war ein Ingenieur, der ihm lang und breit die Funktion des Ventils auf einem Propangastank er läuterte, aber Lake war zu zerstreut, um ihm richtig zuzuhören. Als er im Restaurant eintraf, saß Jennifer schon an einem Tisch an der Längs wand, wirkte cool und professionell und nippte an ihrem Eistee. »Tut mir leid, daß ich mich verspätet habe«, sagte er. »Einer unserer Kunden hatte Angst, daß wir unschuldige Anwender massenhaft ein äschern wollen.« »Wie war Ihre Reise?« fragte sie. »Gut. Ich war ein bißchen segeln, aber allzu erfolgreich war ich nicht.« »Was ist passiert?« »Ich bin abgesoffen.« »Das hört sich ja schlimm an.« »So schlimm war's gar nicht.« »Hatten Sie schönes Wetter?« »Wunderschönes. Und wie war es hier?« »Den ganzen Montag über war's schlecht; erst gestern Nachmittag ist es schöner geworden.« »Der Garten könnte etwas Regen gebrauchen«, sagte Lake. »Wie geht's Karen?« »Gut. Arbeiten Sie gern im Garten?« »Ich habe keinen Garten.« »Aber angenommen, Sie hätten einen?« »Vielleicht«, sagte sie. »Wahrscheinlich wird es heute Nachmittag regnen«, sagte er. »Ja, sieht ganz so aus.« »Was halten Sie eigentlich von einem Gemüsegarten? Vielleicht sollte ich in meinem Garten zwischen die Blumen Gemüse pflanzen – dann hätte ich wenigstens was davon.« »Sprechen wir über das Haus«, sagte sie. »Das tun wir doch schon.« »Ich meine, über die Möglichkeit, es noch eine Zeitlang im Angebot zu lassen.« 162
»Über die Unmöglichkeit.« »Können Sie mir sagen, weshalb Sie es gerade jetzt zurückziehen möchten?« »Lieber nicht.« »Ist es schon durchgedrungen, daß es verkauft werden soll? Wir wa ren wirklich sehr diskret.« »Das glaube ich Ihnen.« »Sie wissen, daß Sie uns schriftlich davon in Kenntnis setzen müs sen, wenn Sie es aus dem Angebot nehmen möchten.« »Heute Nachmittag werde ich den Brief an Sie schicken.« Er erwartete, daß sie aufstand und ging. Aber sie blieb sitzen. »Jenni fer, ich kann es im Moment einfach nicht verkaufen. Ich habe ein Pro blem.« »Ist es ein großes Problem?« »Ich weiß nicht recht. Ob Sie es glauben oder nicht, es hat etwas mit einem Hund zu tun. Aber mehr will ich dazu nicht sagen.« »Das hört sich ja nicht gerade nach einem großen Problem an.« Er gab keine Antwort und spielte mit dem Besteck herum. Ihm fiel Emily ein, die mit einem Löffel und einer Gabel Familie gespielt hat te – ein Spiel, das niemals schief gehen konnte. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, sagte sie dann. »Es tut mir wirklich leid«, sagte er. »Ich mache Ihnen folgenden Vorschlag: Wir werden das Anwesen niemandem mehr zeigen. Wenn die Dankmyers es kaufen wollen, werde ich Sie darüber informieren. Die Dankmyers sind so weit, daß sie ein Gebot abgeben möchten. Sie brauchen nur zuzuhören. Dann können Sie nein sagen, wenn Sie möchten. Wenn Sie aber der Mei nung sind, daß es ein gutes Gebot ist, und glauben, daß Ihr Problem aus der Welt geschafft werden könnte, wären Sie vielleicht bereit, dem Verkauf zuzustimmen. Damit wäre der Vertrag automatisch reak tiviert. Wir würden unsere Provision bekommen und Sie Ihr Haus verkaufen.« »Ich finde das den Dankmyers gegenüber unfair, weil ich bestimmt nein sagen werde.« 163
»Sie verlieren nichts dabei, wenn Sie zuhören, und in diesem Stadi um verlieren auch die Dankmyers nichts. Deren Meinung steht fest. Ich habe ihnen gestern noch einmal das Haus gezeigt.« »Sie meinen, daß ich, egal, wie hoch das Gebot ist, einfach nein sa gen kann?« »Außer, Sie wollen ja sagen oder weiter verhandeln.« »Rechnen Sie damit, daß ich nicht nein sagen werde?« »Manchmal ändern Menschen ihre Meinung, wenn sie ein gutes An gebot bekommen. Die Dankmyers geben sich keinen Illusionen hin. Ich habe ihnen schon angedeutet, daß Sie daran denken, das Haus aus dem Angebot zu nehmen.« »Und wie haben sie es aufgenommen?« »Ich glaube, sie vermuteten, daß Sie damit schon im Vorfeld den Preis hochtreiben wollten.« »Ich werde die Methoden in der Immobilienbranche nie verstehen. Es kommt mir vor wie ein Spiegelkabinett.« »Ein wichtiger Aspekt unseres Berufes ist es tatsächlich, die Leute bei der Stange zu halten. Den Dialog nicht abreißen zulassen.« »Was mir dabei gefällt, ist der Dialog.« »Gut«, sagte sie. »Es ist eine Art, auf Zeit zu spielen, oder?« »Gewissermaßen.« »Ich halte viel davon, auf Zeit zu spielen«, sagte er. »Den Dankmyers gefällt das Haus?« »Sehr gut.« »Und wie finden Sie es? Ich meine, nicht als Maklerin, sondern als normaler Mensch.« In diesem Moment erschien der Kellner, um die Bestellung aufzuneh men. »Dieses Restaurant ist bekannt für frischen Fisch«, sagte Lake. »Ich nehme einen Salat«, sagte sie. »Sie haben heute Bluefish auf der Speisekarte.« »Salat bitte.« »Bluefish läßt sich nur schwer fangen«, sagte er. »Man muß enorm viel Geduld aufbringen.« 164
»Salat braucht lange zum Wachsen.« Nachdem sie die Bestellung aufgegeben hatten, unterhielten sie sich über Segelboote, und sie erklärte ihm, wie man richtig kreuzt. »Ich persönlich mag Motorboote lieber«, sagte er. Er beschrieb ihr Karens Ferienhaus auf Vineyard – zu ungenau, wie sie fand. Sie wollte genaue Informationen über Zimmer, Quadratmeter und Ausstattung. Weder konnte er ihr sagen, wo die Waschmaschine und der Trockner stan den, noch, ob so etwas überhaupt im Haus war. Als sie mit dem Essen fast fertig waren, fragte er: »Finden Sie, daß mein Haus ein Mausoleum ist?« »Überhaupt nicht. Es ist etwas ganz Besonderes.« »Was ich eigentlich wissen wollte, ist: Finden Sie es verrückt, daß je mand wie ich in einem Haus wie diesem wohnt?« »Ich kenne Sie nicht sehr gut. Aber ich halte es nicht für verrückt.« »Im großen und ganzen bin ich derjenige, der ich zu sein scheine«, sagte er. »Mit ein paar Macken, aber ich bemühe mich, sie auszubü geln. Wissen Sie, was ich herausgefunden habe? Mir gefallen viktoria nische Gemälde. Ob Sie's glauben oder nicht, sie gefallen mir wirklich. Tante Ilsa hatte einen guten Geschmack.« Stille senkte sich über den Tisch. »Schmeckt Ihnen Ihr Salat?« fragte er schließlich. »Sehr gut.« »Wie geht es Ihrem Großvater?« »Sie meinen, meiner Großmutter?« »Richtig, Ihrer Großmutter. Wie geht es ihr?« »Gut, glaube ich.« »In Nantucket habe ich eine ältere Frau kennen gelernt. Mrs. Hayes. Sie ist um die Siebzig. Sie rechnet in sehr langen Zeiträumen, irgend wie scheint sie ein völlig anderes Zeitmaß zu haben.« »Vielleicht ist das normal, wenn man älter wird.« »Sie war aber schon so, als sie noch jung war. Sie hat mir erzählt, wie es war, bevor sie ihren Mann Alfred heiratete. Er hatte ihr vorher fünf Jahre lang den Hof gemacht.« »Vielleicht waren sie nicht sicher, ob sie zueinander passen«, sagte Jennifer. 165
»Alfred war sich sicher.« »Wissen Sie das genau?« fragte Jennifer. »Nun ja, er hat jedenfalls nicht lockergelassen.« »Auch das ist keine Garantie für tiefe Gefühle«, sagte sie. »Manche Menschen meinen, daß ihnen am anderen etwas liegt, aber ihre Ge fühle halten da oft nicht mit.« »Ist Ihnen so etwas schon einmal passiert?« fragte Lake. »Ja.« »Mir auch«, sagte Lake. Nach einer Pause sagte er: »Eigentlich wollte ich nicht über so ern ste Dinge sprechen.« »Ist schon in Ordnung.« »Möchten Sie Kaffee?« »Nein danke.« Sie dachte über etwas nach. »Ich war übrigens damals am Samstag ziemlich grob zu Ihnen«, sagte sie. »Nein, waren Sie nicht.« »Ich hätte anders reagieren sollen.« »Das sollten Sie nicht sagen.« Plötzlich fühlte er sich merkwürdig ver stimmt oder merkwürdig irgendwas. »Sie haben genau richtig reagiert.« Sie schüttelte den Kopf. Er überlegte, die gewonnenen Punkte bei Jennifer zu konsolidieren. Dieses Mittagessen hatte zarte Bande einer freundschaftlichen Bezie hung zwischen ihnen geknüpft. Er sollte es vorerst dabei belassen. Es war genug. Vielleicht würde nie mehr daraus werden, obwohl er hoff te, daß eines Tages doch mehr daraus werden könnte; er spürte, daß sie viele Gemeinsamkeiten hatten, Resonanzpunkte sozusagen. Sie hatte die Augen niedergeschlagen, war mit ihren Gedanken wo anders. Er fühlte sich schwach. Die Schwäche breitete sich über seinen ganzen Körper aus. Er sagte sich: Tu's nicht. Aber er würde es doch tun; er würde sie um ein Rendezvous bitten. »Jennifer«, sagte er. »Ich habe mir geschworen, es nicht zu tun, aber ich tu's doch. Darf ich Sie mal zum Abendessen einladen?« Schon wäh rend er es sagte, war ihm klar, daß er ihre Überraschung und ihre Ent rüstung nicht würde ertragen können. »Am neunten Oktober«, sag 166
te er. »In drei Monaten. Ach, vergessen Sie's einfach. Ich bin etwas von der Rolle. Niemand plant so weit voraus. Sagen Sie, sind Sie satt? Ein Salat ist ja nicht gerade eine üppige Mahlzeit.« »Mal sehen«, murmelte sie. Sie zog einen ledergebundenen Termin kalender aus der Handtasche und blätterte, bis sie den Oktober gefun den hatte. »Sieht so aus, als hätte ich da noch nichts vor.« Sie zückte ei nen Füllfederhalter und notierte: Lake Stevenson. »Ich hole Sie um acht Uhr ab«, sagte er. Sie notierte sich die Zeit. »Ich hatte mir geschworen, Sie erst an diesem Tag zum Essen einzu laden«, sagte Lake. »Das hatte ich vorhin gemeint, als ich sagte, es täte mir vorübergehend leid.« »Ach so.« »Aber würden Sie vielleicht irgendwann früher mit mir essen gehen? Vielleicht könnten wir ins Kino gehen.« »Okay.« »Tatsächlich?« »Ja.« »Morgen?« »Gut.« Sie trank ihren Eistee aus. Dann standen sie vor dem Restaurant. »Und wir sind uns in allen Punkten einig?« »Vielleicht nicht in allen.« »Aber Sie waren damit einverstanden, sich das Gebot der Dankmy ers anzuhören, falls sie in den nächsten Tagen eines abgeben sollten.« »Ich bin fest entschlossen«, sagte er. »Vielleicht doch nicht so ganz«, sagte sie. »Und wann kann ich wieder fest entschlossen sein?« »Bald«, sagte sie.
Als er an ihrer Haustür in Merion klingelte, öffnete ein kraushaariger Typ die Tür. »Ist Jennifer da?« fragte Lake. 167
»Jennifer!« rief der Typ. Dann: »Komm rein. Ich bin Mike. Nimm Platz.« Er deutete auf ein abgewetztes Sofa und verließ den Raum. Lake warf einen kurzen Blick auf die Zeitschriften und Kataloge, die kreuz und quer auf dem Couchtisch lagen. Eine Dose Coca-Cola stand ne ben dem Telefon. Jennifer kam herunter. Sie trug einen dunklen Rock und eine blaue, ärmellose Seidenbluse. Er stand auf. Er dachte: Du bist schöner als ir gend etwas anderes auf der ganzen Welt. »Können wir gehen?« fragte sie. Er hielt ihr die Tür auf. »Das war Mike Rankin«, sagte sie auf dem Weg zum Auto. »Wie viele Leute, sagten Sie, wohnen im Haus?« »Sechs, aber zwei davon heiraten bald. Ich glaube nicht, daß es wie der sechs sein werden. Ganz schönes Chaos bei uns, nicht?« »Geht so.« »Für dieses Wochenende ist Hausputz angesagt. Ich bin für die Kü che zuständig.« »Wohnen Sie gern mit anderen Leuten zusammen?« »Meistens schon. Wir kommen ganz gut miteinander aus, aber manchmal ist's ziemlich chaotisch.« »In meinem Haus ist das genaue Gegenteil der Fall. Nur ich und der Hund.« »Reynolds heißt er, oder?« »Renard.« »Aber er ist doch nicht Ihr Hund, oder?« »Momentan ist er mein Hund.« Er öffnete ihr die Autotür. »Sie sagten doch, Sie hätten kein Autotelefon«, sagte sie. »Ich war auf Ihres eifersüchtig.« Sie lachte. Er stellte sich vor, wie schön es sein würde, neben ihr im Kino zu sitzen. »Gehen wir doch zuerst ins Kino und danach zum Abendessen.« »Okay.« 168
Während eine wilde Autojagd über die Leinwand tobte und der Kino saal erfüllt war vom Geräusch quietschender Reifen, berstenden Blechs und den Schreien entsetzter Fußgänger, war Lake mit seinen Gedan ken ganz woanders. Er genoß es, neben ihr zu sitzen; ihr nackter Arm war ihm so nah, daß er sich gut vorstellen konnte, wie winzige Parti kel zwischen ihr und ihm Quantensprünge vollführten. Als sie später im Restaurant saßen, sagte er: »Ich kann mich noch an Sie erinnern, da waren Sie so um die Dreizehn.« »Ich erinnere mich auch noch an Sie«, sagte sie. »Leben Ihre Eltern in Haverford? Vielleicht waren wir ja Nachbarn.« »Vor ein paar Jahren sind sie nach Florida gezogen.« »Sie haben aber Verwandte in Philadelphia.« »Nur eine Tante, einen Onkel und ein paar Cousins. Und meine Großeltern.« »Haben Sie sich mit Karen noch oft getroffen, nachdem sie nach Greenwich umgezogen ist?« »Wir sind immer in Verbindung geblieben«, sagte sie. »Sie sind nicht nach Greenwich mitgezogen, stimmt's?« »Dazu ist es nicht mehr gekommen. Als meine Mutter starb, war ich sozusagen auf dem Weg ins College.« »Das muß damals schwer für Sie gewesen sein.« »Das ist wahr«, gab er zu. »Karen sagte mir, daß sie damals das Gefühl hatte, die ganze Fami lie würde sich auflösen.« »Ich konnte einfach nicht bei meinem Vater wohnen. Karen schon, aber ich nicht. Mir hat es schon gereicht, wenn ich zu Besuch war. Aber ich hatte keine Ahnung, daß Karen es damals als so schlimm empfun den hat. Ich meine, das Gefühl, daß sich die Familie auflöst.« »Das dachte sie wirklich.« »Das hätte ich damals gerne gewußt.« »Und was haben Sie nach dem College gemacht?« »Bei einer Werbeagentur gearbeitet. Bis ich meine eigene Firma ge gründet habe.« »Ihre Arbeit gefällt Ihnen, oder?« 169
»Sehr gut.« »Sie waren Fotograf. Einmal sind Karen und ich heimlich in Ihre Dunkelkammer geschlichen. Als die Tür auf war, hatten wir ziemli chen Bammel, daß wir die Fotos ruiniert hatten.« »Vermutlich war das auch so.« Sie lächelte schelmisch. »Sie waren damals eine ziemliche Schnatterliese. Daran kann ich mich noch erinnern«, sagte er. »Stimmt gar nicht.« »Andauernd haben Sie geplappert.« »Ich war noch nie eine Schnatterliese.« »Und jetzt sind Sie eine Sphinx.« »Stimmt gar nicht.« »Und, was sind Sie dann Ihrer Meinung nach?« »Ich befinde mich im seelischen Gleichgewicht«, sagte sie. »Obwohl das im Moment auch nicht ganz stimmt.« »Inwiefern?« fragte er. »Das verrate ich Ihnen besser nicht.« »Ich plaudere gern mit Ihnen«, sagte Lake. »Warum?« »Nur so.« Sie unterhielten sich über die Leute in ihrem Büro – über eine Frau namens Binky, deren Sohn Schwierigkeiten in der Schule hatte, eine Freundin namens Harriet, die ihr beruflich sehr geholfen hatte, einen Mann, der nach der höchsten Position in der Firma strebte. »Wie heißt er?« fragte Lake. »Robert Tinley.« »Bob. Hätte ich mir denken können.« »Er ist sehr gut.« »Hüten Sie sich vor Menschen, die Bob heißen«, sagte er. »Sprechen Sie aus Erfahrung?« »Nicht direkt.« »Was hat Bob in Ihrem Fall angestellt?« fragte sie. »Das weiß ich eigentlich nicht so genau, aber ich bin sicher, daß er 170
nicht alle Gebote Gottes achtet. Und außerdem legt er zu viel Wert auf Kleidung.« »Robert Tinley sieht immer wie aus dem Ei gepellt aus.« »Da haben wir's: Sie sind alle gleich.« »Ich hatte mal einen Freund, der Bob hieß.« »War er wie die anderen?« »Nein.« »War es eine ernste Geschichte?« »Eine Zeitlang schon. Dann stellte sich die Frage, ob eine ernste oder keine ernste Beziehung daraus wird. Jetzt lebt er in Kalifornien.« Lake wartete. »Aber Ihre Bob-Theorie stimmt nicht«, sagte sie. »Das ist normalerweise mit allen meinen Theorien so.« »Aber bei Leuten, die Amanda heißen, ist es allerdings etwas ande res. Vor denen muß man sich hüten.« »Und, ist keine ernste Beziehung daraus geworden?« fragte er. »Woraus?« »Mit Bob. Mit dem, der nach Kalifornien gegangen ist.« »Ach, mit dem ist überhaupt nichts geworden.« Lake sah ihr an, daß sie die Wahrheit sagte. »Ich kenne eine Amanda«, meinte er. »Nicht gerade eine auffallen de Erscheinung, aber trotzdem könnten Sie mit Ihrer Amanda-Theo rie recht haben.« Später meinte er: »Offenbar waren Sie nicht besonders von meiner Idee angetan, Gemüse zwischen die Blumen zu pflanzen.« »Da haben Sie recht.« »Es ist vielleicht etwas ungewöhnlich, aber was spricht dagegen?« »Was spricht dafür? Sie haben einen wunderschönen Garten.« »Ich könnte beispielsweise Salat anpflanzen.« »Oder sich im Supermarkt welchen kaufen«, sagte sie. »Gemüse zieht Wildtiere an. Ich habe viel Zeit damit verbracht her auszufinden, was im hinteren Bereich meines Gartens abgeht. Zum Beispiel habe ich eine Spottdrossel, die immer Reden schwingt. Aller dings weiß ich nicht, wer ihr Publikum ist.« 171
»Sie schützt ihr Revier.« »Vor wem?« »Vor anderen Spottdrosseln.« »Ach so.« »Haben Sie in der Nähe Ihrer Wohnung einen Park oder einen be grünten Hinterhof oder etwas Ähnliches?« fragte sie. »Wir haben zwar einen Hinterhof, haben aber leider noch nichts daraus gemacht.« »Ich werde meine Wohnung aufgeben. Aber ich wäre ohnehin nicht mehr dorthin zurückgegangen, selbst wenn ich das Haus verkauft hät te. Es ist kein sehr gastliches Haus.« »Und wenn Sie umziehen, wo werden Sie dann wohnen?« fragte sie. »Weiß ich noch nicht.« »Werden Sie wieder eine Wohnung suchen?« »Ein Haus. Aber ich habe nicht vor, umzuziehen.« Sie machte ein nachdenkliches Gesicht. »Denken Sie gerade über ein Haus nach, das zu mir paßt?« fragte er. »Ich versuch's wenigstens.« »Wie würde so ein Haus aussehen?« »Im Moment kann ich mir gar nichts vorstellen.« »Es muß doch etwas geben, was mir entspricht«, sagte er, »erfinden Sie eins für mich.« »Wozu? Mein Hirn ist andersherum programmiert.« »Meines nicht. Erfundenes kann durchaus zur Belebung beitragen, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet.« »Zum Beispiel?« »Nun ja, ich denke zum Beispiel an die Cocktailparty bei Ihren Großeltern. Eine Frau erzählte von ihrer Reise nach England und frag te mich von oben herab, ob ich vielleicht kürzlich dort gewesen wäre. Ich sagte nein. Aber ich hätte ihr auch sagen können, daß ich gerade erst aus London zurückgekommen bin. Dann hätte sich daraus viel leicht ein interessantes Gespräch ergeben.« »Aber dann hätten Sie immer weiterlügen müssen.« »Nun ja, sagen wir mal, korrigieren. Wenn sie mich gefragt hätte, in welchem Hotel ich abgestiegen bin, hätte ich irgendwas erfinden kön 172
nen, den ›Grünen Ochsen‹ zum Beispiel oder so was Ähnliches. Und falls sie wirklich nachgebohrt hätte, wäre mir bestimmt ein eleganter Rückzug eingefallen. Nichts wäre passiert.« »Das hört sich ja schrecklich an«, sagte sie. Er merkte, daß er sich in eine peinliche Lage gebracht hatte. »Aber so etwas mache ich kaum noch«, rechtfertigte er sich. »Weshalb machen Sie es überhaupt?« »Weiß ich nicht«, sagte er. »Aber ich bin dabei, es mir abzugewöh nen. Ich habe es mir schon abgewöhnt. Ich würde Ihnen nicht einmal die kleinste Lüge erzählen.« »Woher soll ich wissen, daß das wirklich stimmt?« Wie recht sie hatte! »Ich weiß nicht, was ich Ihnen darauf antwor ten soll.« Sie schwieg. »Muß ich darauf antworten?« fragte er. »Nein.« »Schlechte Angewohnheit«, sagte er. »Schwer abzulegen.« »So schwer ist es auch wieder nicht. Nicht, wenn Sie es wirklich wol len.« »Mir kommt es aber schwer vor.« »Ist es aber nicht.« »Sie sind sehr nett, Jennifer.« »Und Sie sind netter, als Sie glauben.« Er fühlte sich in die Enge getrieben, also wechselte er schnell das Thema und fragte sie, welche Sportarten sie mochte. Sie gab zur Ant wort, daß sie gern Tennis spiele; er fragte sie, ob sie Baseball mochte, und sie sagte, daß sie keine Ahnung davon habe; er fragte sie, was sie täte, wenn sie tun könne, was sie wolle, und sie sagte, daß sie dann viel lesen würde. Das Thema Wahrheitsliebe war fürs erste ad acta gelegt. Sie plauderten über ihre Lieblingsstädte, darüber, ob sie wär mere oder kältere Klimazonen bevorzugten, über ihre Fahrradtour in Kanada, die besten Mountain Bikes, welche Gefühle Berge in ih nen weckten, über die Psychologie von Bergsteigern. »Ich habe mich mit Hundepsychologie beschäftigt«, sagte er. »Hunde betrachten sich 173
als unverzichtbar. Sie halten sich für die begnadetsten Geschöpfe, die es gibt.« »Das muß ein schönes Gefühl sein.« »Ich habe den Verdacht, daß sie für Menschen sogar so etwas wie Verachtung empfinden.« »Sprechen Sie über Renard?« »Vielleicht nicht gerade Verachtung«, sagte er. »Aber sie sind völlig unabhängige Denker. Und sehr scharfsinnig. Man muß bei Renard höllisch aufpassen. Glauben Sie eigentlich, daß Hunde leiden, wenn sie umziehen müssen?« »Mit oder ohne ihren Besitzer?« »Mit oder ohne. Sowohl als auch.« »Ich glaube, daß Hunde an ihrem Besitzer hängen und nicht an dem Ort, an dem sie leben.« »Aber Hunde hängen sehr an ihrem Revier.« »Ihr Revier ist dort, wo ihr Besitzer ist.« »Vielleicht ist es ja wirklich so einfach, wie Sie sagen«, meinte er. Sie unterhielten sich über die Vorzüge von Schieferdächern und die Qualitäten des Bürgermeisters. Bis er merkte, daß sie ein Gähnen un terdrückte. »Sie sind müde«, sagte er. »Ein bißchen. Es war ein langer Tag.« Er winkte den Kellner heran und bezahlte. »Das Essen war ausgezeichnet.« Sie gingen schweigend zum Auto. Er hatte kein Bedürfnis mehr, sich zu unterhalten. Vor dem heutigen Abend hatte er in ihrer Gegenwart nie die richtigen Worte gefunden. Und jetzt schien sich ein geradezu unerschöpflicher Vorrat in ihm anzusammeln. »Es war ein sehr schöner Abend«, sagte sie. »Ja, das finde ich auch.« Auf dem Rückweg schaltete er einen Sender mit klassischer Musik ein. »Wir sind da«, sagte er, als er vor ihrem Haus anhielt. An der Haustür sagte sie zu ihm: »Vielen Dank nochmals. Es war ein sehr schöner Abend.« »Fand ich auch«, antwortete er. »Gute Nacht.« 174
»Gute Nacht.«
Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. Sie waren Freunde.
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A
m nächsten Tag rief Jennifer am späten Nachmittag an. »Lake, ich muß Ihnen etwas sagen.« »Ja?« »Gerade hat mich Lydia Dankmyer angerufen. Ihr Mann ist noch einmal zu Ihrem Haus gefahren. Sie hat mich angerufen, weil sie ihr schlechtes Gewissen plagt.« »Sagen Sie das noch mal, bitte.« »Sie hat mir erzählt, daß ihr Mann heute Morgen zu Ihrem Haus ge fahren ist. Um es sich nochmals von außen anzusehen. Sie hatten vor, ein Gebot abzugeben, und er wollte sich nochmals den Zustand der Fensterläden – sie war sich nicht sicher, ob es das oder etwas anderes war – ansehen. Also ist er noch ein letztes Mal hingefahren. Die Dank myers haben gewußt, daß das Haus freitags nicht besichtigt werden kann. Das hatte ich ihnen schon vor mehreren Wochen gesagt, aber er ist trotzdem hingefahren.« »Natürlich«, sagte er. »Was meinen Sie damit?« »Was haben Sie den Leuten wegen Freitag gesagt?« »Daß der Eigentümer nicht möchte, daß das Haus an Montagen oder Freitagen besichtigt wird.« »Dann ist alles klar. Es war unvermeidlich, daß er an einem Montag oder Freitag hinfährt. Ich bin überrascht, daß er nicht an beiden Ta gen dort war.« »Das verstehe ich nicht.« »Das ist mein Spezialgebiet. Damit verdiene ich meinen Lebensun 175
terhalt. Für jeden Bedienungsschritt ist es unbedingt notwendig, die Regeln genauestens zu formulieren, um keinen Platz für andere Ausle gungen zu lassen. Demnach hätte man sagen müssen: ›Sie dürfen un ter keinen Umständen, aus keinerlei Gründen, egal, welcher Natur, an Montagen oder Freitagen sich dem Haus nähern, geschweige denn es betreten; sollten Sie es dennoch tun, wird das Haus nicht mehr ver kauft werden!‹ Wenn man nicht jede Möglichkeit des Ungehorsams sanktioniert, hält sich keiner an die Vorgabe. Das ist ein Gesetz der menschlichen Natur.« »Er hat das Haus nicht betreten.« »Nun, dann ist ja vielleicht noch einmal alles gut gegangen.« »Aber Ihre Haushälterin ist herausgekommen.« »Ach so.« »Sie hat gesehen, wie er ums Haus ging, ist herausgekommen und hat ihn gefragt, was er will.« »Und, was hat er gesagt?« »Das weiß Lydia nicht genau. Aber ich glaube, daß ihr Mann der Haushälterin gesagt hat, er überlege, das Haus zu kaufen, und es sich deswegen nochmals ansehen wollte.« »In anderen Worten, er sagte ihr, daß es zum Verkauf steht.« »Offenbar.« »Da haben wir es«, sagte Lake. »Ich hätte nie im Traum gedacht, daß er so etwas tun könnte.« »Sie trifft keine Schuld.« »Ich hoffe, daß Ihre Haushälterin sich jetzt keine Sorgen macht.« »Ich werde es ihr schon irgendwie erklären«, sagte er. Er versuchte, sich eine passende Geschichte zusammenzureimen. Vielleicht konn te er sie davon überzeugen, daß Dankmyer ein gerissener Finanzbe amter war, der den Wert des Hauses schätzen wollte; schließlich hatte Lake es beinahe geschafft, Mary weiszumachen, daß er Randalls Fell gefärbt hatte, um ein kosmetisches Experiment mit ihm durchzufüh ren. Aber er war sicher, daß das Kind schon in den Brunnen gefal len war. Mrs. Lundquist hatte Vere vermutlich gleich Bericht erstattet, nachdem Dankmyer gegangen war. 176
»Das tut mir sehr leid, Lake. Ich werde mit Mr. Dankmyer spre chen.« »Ach, machen Sie sich keine Umstände. Er hat nur getan, womit wir ohnehin haben rechnen müssen. Ich werd das schon irgendwie ausbü geln.« »Lydia Dankmyer hat angekündigt, daß sie morgen ein Gebot abge ben wollen.« »Es ist sinnlos.« »Aber Sie werden es sich doch anhören?« »Ja, das sagte ich schon. Aber meine Antwort wird nein sein.« »Hören Sie es sich einfach an. Mehr brauchen Sie nicht zu tun.« »Gehen Sie morgen mit mir zum Mittagessen? Ich kenne ein sehr nettes Restaurant auf dem Land. Mit ausgezeichneten Salaten.« »Morgen habe ich den ganzen Tag zu tun. An den Wochenenden ist immer am meisten los. Schade, aber es geht wirklich nicht.« »Na ja, dann ein andermal.« »Auf Wiedersehen.«
Am nächsten Morgen saß er mit Randall auf der Terrasse, als das Te lefon klingelte. Eine Hummel schwirrte zwischen den Blumen herum, und kleine Schattenflecken wanderten über den Rasen. Beim fünften Läuten hob er den Hörer ab. »Ich bin's, Jennifer«, sagte sie. »Ich bin draußen in der Sonne gesessen.« »Ich hab jetzt ein Gebot von den Dankmyers.« »Ich höre es mir an, aber mein Entschluß steht fest.« »Ich möchte es Ihnen persönlich sagen. Es könnte ja sein, daß Sie noch Fragen haben.« »Legen Makler Angebote immer persönlich vor?« »Ja, normalerweise schon. Es ist oft von Vorteil.« »Gefällt mir, diese Politik.« »Wann wäre es Ihnen recht?« fragte sie. 177
»Am besten jetzt gleich.« Er ging wieder auf die Terrasse, streckte sich im Liegestuhl aus, schloß die Augen und wartete auf ihren Besuch. Nach einer Weile läu tete wieder das Telefon. Er stürzte ins Haus, hoffte, daß sie ihre Mei nung nicht geändert hatte. »Mr. Stevenson?« fragte eine schnarrende Stimme. »Ja.« »Hier spricht Billington Vere.« »Guten Morgen, Mr. Vere.« »Soeben erhielt meine Frau einen sehr verwirrenden Anruf von Mrs. Lundquist. Sie fragte, ob sie vielleicht an jedem Wochentag bei uns ar beiten könnte. Sie könnte Vollzeit arbeiten, da Sie das Haus verkau fen.« »Ach so.« »Verkaufen Sie das Haus, Mr. Stevenson?« »Nein. Ich hab zwar mit dem Gedanken gespielt, aber im Moment verkaufe ich das Haus nicht.« »Sie wissen aber noch, daß das Anwesen nur unter einer bestimm ten Bedingung in Ihren Besitz überging? Diese Bedingung war, daß Sie das Haus als Heim für den Hund Ihrer Tante behalten und pflegen, bis der Hund eines natürlichen Todes stirbt. Muß ich Sie wirklich dar an erinnern?« »Hat Ihnen Mrs. Lundquist nicht erzählt, daß Randall verschwun den ist? Hat sie Ihnen nicht davon berichtet?« »Randall ist der Hund?« »War der Hund.« »Ich unterhalte mich mit Mrs. Lundquist nicht über Hunde, Mr. Ste venson, und im übrigen auch nicht über etwas anderes. Das geht sie nichts an. Sie sagen, der Hund sei verschwunden?« »Leider ja.« In diesem Moment klingelte es. Randall bellte. »Mr. Stevenson.« »Ja?« »War das soeben ein Hund, der gebellt hat?« 178
»Vielleicht. Aber nicht der Hund, an den Sie denken.« »Ich komme jetzt zu Ihnen hinüber, Mr. Stevenson. Bleiben Sie, wo Sie sind. Und ich möchte, daß der Hund ebenfalls anwesend ist, wenn ich komme.« Er legte auf. Lake stand da und dachte nach. Jetzt war sein ganzes Genie gefordert; jetzt war sein bestes Rückzugsgefecht aller Zeiten gefragt. Er könn te sich Randall greifen, zusammen mit ihm flüchten und erst nach ein paar Tagen wieder zurückkommen. Er könnte den Hund den Dank myers zusammen mit dem Haus verkaufen und so den Geist des letz ten Willens seiner Tante erfüllen. Er könnte … Es läutete an der Tür. Er ging in die Eingangshalle und warf einen schnellen Blick in den Spiegel. Die Person, die er sah, machte einen aufrichtigen Eindruck – etwas gestresst vielleicht, sah aber bestimmt nicht aus wie ein Krimineller. Er öffnete die Tür. Jennifer lächelte ihn an und hielt ihm einen brau nen Umschlag vor die Nase – zweifellos das Gebot der Dankmyers. »Sie müssen leider wieder gehen«, sagte er. »Es hat sich herausgestellt, daß es mir im Moment wirklich überhaupt nicht paßt.« »Was ist los?« »Ein kleines Problem hat sich ergeben. Könnten Sie in einer halben Stunde noch einmal vorbeikommen?« Ihre Gesichtszüge verdüsterten sich. Es tat ihm weh, sie so zu sehen. Er hörte ein Auto heranfahren. »Schnell, kommen Sie herein«, sag te er und zog sie durch die Tür. Er wollte sie hinten hinaus lassen oder sie im Dachboden verstecken – wußte aber die ganze Zeit über, daß es diesmal kein Entrinnen gab, daß er sich diesmal nicht aus der Affäre würde ziehen können. Es läutete wieder an der Tür. Randall bellte. Lake öffnete die Tür und wurde von Veres anklagendem Blick festgenagelt. Um Zeit zu gewin nen, sagte er: »Ich hoffe, es geht Ihnen gut?« Kurze Zeit ignorierte ihn Vere. »Jennifer, was machst du hier?« frag te er. »Hallo, Großpapa«, sagte sie. »Ich bin geschäftlich hier.« »Ach, so ist das«, sagte er. Er dachte einen Moment nach. »Steht dei 179
ne Anwesenheit in irgendeinem Zusammenhang mit dem Verkauf dieses Hauses?« Jennifer drehte sich zu Lake um. »Das Haus steht nicht zum Verkauf, Mr. Vere«, sagte Lake. »Aber Sie dachten daran, es zu verkaufen«, bemerkte Vere kühl. »Nach dem, was Mrs. Lundquist mir berichtete, denkt ein Mann, den sie gestern hier angetroffen hat, daran, es zu kaufen.« »Aber jetzt steht es nicht mehr zum Verkauf.« »Das ist sehr interessant«, sagte Vere. »Jennifer, wusstest du, daß Mr. Stevensons Tante ihm dieses Haus unter der Bedingung hinterlassen hat, daß er es so lange behält, bis der Hund eines natürlichen Todes stirbt?« »Nein«, sagte sie. »Sie haben dieser Bedingung doch zugestimmt, oder etwa nicht, Mr. Stevenson?« »Ja, stimmt. Und ich muß sagen, daß ich Tante Ilsas Konzept bewun dere. Sie war eine verwegene Denkerin.« »Sie haben dem, was Sie ihr ›Konzept‹ nennen, jedenfalls zuge stimmt«, sagte Vere, »und ich muß nun feststellen, daß Sie Schritte er griffen haben, das Haus zu verkaufen, während der Hund noch sehr le bendig ist.« »Ach, Sie glauben, dieser Hund sei Randall. Nein, das hier ist Renard.« »Ich denke, das ist der Hund Ihrer Tante.« »Ich kann Ihnen beweisen, daß er es nicht ist. Im Wohnzimmer steht ein Foto von Randall.« »Und was macht dieser Hund hier?« »Er ist ein Ersatz für Randall.« »Hatten Sie vielleicht Angst, jemand könnte herausfinden, daß Sie es geschafft haben, den Hund Ihrer Tante, nachdem er gerade ein paar Wochen unter Ihrer Aufsicht stand, zu verlieren? Ich möchte gar nicht wissen, welche Sorglosigkeit oder Gedankenlosigkeit dazu geführt hat. Ein Hund, dessen Wohlbefinden ihr so am Herzen lag. Ein Hund, für den sie diese Mühe auf sich genommen hat, nur um ihn versorgt 180
zu wissen. Ich möchte gar nicht wissen, wie Sie Ihre Pflichten auf so schändliche Weise so schnell vernachlässigen konnten. Aber ich kann Ihnen sagen, daß Sie gute Gründe hatten, sich davor zu fürchten, daß man es herausfinden könnte.« »Solche Sachen passieren eben, Mr. Vere.« »Sie haben also einen anderen Hund.« »Er ist so gut wie der alte. Meine Tante hätte ihn gemocht.« »Zweifellos«, sagte Vere. »Obwohl sie vielleicht das Original vorge zogen hätte.« »Das kann man nie wissen.« »Und was das Haus betrifft, das sie Ihnen so großzügig hinterlassen hat, nebst einer Geldsumme, die Ihre Ausgaben mehr als nur deckt, beschlossen Sie, hier ebenfalls eine Veränderung vorzunehmen.« »Ich sagte, daß ich mit dem Gedanken gespielt hatte. Es war nichts Konkretes.« »Ganz recht! Und jetzt erfahre ich, daß Sie nicht nur über meine En kelin das Haus verkaufen, sondern daß Sie ihr auch noch wichtige Fak ten in diesem Zusammenhang verschwiegen haben. Fakten, die ich als schockierend bezeichnen möchte.« Lake brachte es nicht fertig, Jennifer anzusehen. »Das ist richtig. Ich habe sie ihr verschwiegen, Mr. Vere.« »Werden Sie diesen Hund auch so mir nichts, dir nichts verlieren, wenn es Ihnen in den Kram paßt?« »Nein, aber er kann selbst wählen, was er möchte. Wir glauben in diesem Haus an die freie Willensentscheidung.« »Das kommt Ihnen sehr entgegen, nicht wahr?« »Ich glaube nicht, daß ein Hund zwischen einem Menschen und des sen Wunsch stehen kann, über seinen Besitz nach Gutdünken zu ver fügen«, sagte Lake. »Nein, aber das Ehrgefühl kann dazwischen stehen.« Lake gab keine Antwort. Er wußte, daß er schon zu weit gegangen war; er hatte dem offenen Schlagabtausch einfach nicht widerstehen können. »Ich habe Ihre Tante gewarnt, ihren letzten Willen so zu formulie 181
ren«, sagte Vere. »Ich habe ihr empfohlen, für den Hund einen Treu händer einzusetzen. Aber sie wollte nicht auf mich hören. Sie sagte, sie kenne Sie gut. Sie sagte, Sie würden schon das Richtige tun. Mir scheint, daß Ihre Tante Sie nicht gut genug gekannt hat.« »Vermutlich nicht«, sagte Lake betreten. Vere sagte: »Weiß Ihre Schwester davon?« Das war der Punkt. Das war das Ende. Vere wußte genau, wie er ihn packen konnte. »Nein«, sagte Lake. »Nein, sie weiß nichts davon.« Wut stieg in ihm hoch. »Aber ich möchte eines klarstellen, Mr. Vere: Ich mache mit meinem Haus, was ich möchte.« »Gegen den Wunsch Ihrer Tante.« »Meine Tante ist tot.« Vere wandte sich wütend zum Gehen. Er hätte gern zu ihm gesagt: Mr. Vere, die Stevensons sind wie Vishnu – wir verfügen über eine Zerstörungskraft, die Sie sich nicht einmal im Traum vorstellen kön nen. Dann war Vere gegangen. Jennifer stand noch da. »Was nun?« fragte Lake. »Sie treffen hier doch die Entscheidungen«, sagte sie. »Richtig, ich treffe die Entscheidungen.« Sie schleuderte den Umschlag auf den Tisch der Eingangshalle. »Ma chen Sie damit, was Sie wollen«, sagte sie. »Aber von jetzt ab müssen Sie mit meinen Partnern verhandeln. Ich möchte mit diesem Haus nichts mehr zu tun haben.« Dann war auch sie gegangen, und er stand zwischen den Ruinen; riesenhaft und gewaltig in seinem Zorn; daß alles um ihn herum in Trümmern lag, scherte ihn nicht.
Am Montag früh – seine Laune hatte sich noch immer nicht gebes sert – paßte er Mrs. Lundquist an der Haustür ab, sagte ihr, daß er sie nicht mehr brauche, und gab ihr das Geld für die nächsten zwei Wo chen. »Einen Moment noch, Mrs. Lundquist«, sagte er, als sie schon 182
gehen wollte. »Ich habe noch etwas für Sie.« Er ging zum Tisch in der Eingangshalle und kehrte mit dem tragbaren Fernsehgerät zurück, das er für sie bereitgestellt hatte. »Nehmen Sie das als Abschiedsgeschenk von meiner Tante«, sagte er. Sie zuckte zurück. »Nein, nein, nehmen Sie nur«, sagte er. »Es gibt niemanden, der ihn sich mehr verdient hätte als Sie.« »Danke.« »Ist doch nicht der Rede wert. Auf Wiedersehen.« Im Büro stürzte er sich verbissen in die Arbeit. Vor der Mittagspau se fragte Mary: »Was ist los, Lake?« »Alles.« »Kann ich irgend etwas tun?« »Du könntest mich erschießen.« »So schlimm kann es gar nicht sein.« »Es ist noch schlimmer. Erschießen wäre ein zu gnädiger Tod.« »Soll ich dir etwas zum Mittagessen holen? Vielleicht vom Chinesen, das magst du doch so gern?« »Mary, tu mir bitte einen Gefallen: Sei bloß nicht nett zu mir. Ich bin es nicht wert. Es ist reine Vergeudung.« Also vertieften sich alle mit grimmiger Miene in die Arbeit, ohne das sonst übliche Geplänkel, und die Stunden schleppten sich dahin.
Am nächsten Morgen rief ihn jemand von Jennifers Büro an. »Mr. Ste venson, hier spricht Binky Foster«, sagte eine Frau mit schwungvoller Stimme. »Ich rufe wegen des Gebotes der Dankmyers für Ihr Haus in Chestnut Hill an.« »Das Angebot liegt mir vor.« »Die Dankmyers hatten gehofft, daß Sie darauf reagieren würden. Wir haben natürlich Ihren Brief erhalten, demzufolge Sie von einem Verkauf absehen möchten. Aber mir wurde gesagt, daß Sie ein Ange bot der Dankmyers in Betracht ziehen würden.« 183
»Ich ziehe es in Betracht.« »Wir halten es für ein sehr gutes Angebot.« »Wer ist ›wir‹?« »Wir bei Mayhew, Foster.« »Ich ziehe es in Betracht.« »Wissen Sie schon, wann Sie sich entscheiden könnten?« »Sehr bald.« »Ich werde es den Dankmyers ausrichten. Sie warten ungeduldig auf eine Reaktion. Darf ich Ihnen wegen des Gebotes ein paar Fragen stel len?« »Keine Fragen. Ich rufe Sie irgendwann im Lauf der Woche an, so bald ich mich entschieden habe.« Er legte auf. Er schaute zum Fenster hinaus. Er mußte nur noch ja sagen. Er wuß te nicht, weshalb er zögerte, nachdem er sich bereits dazu entschlos sen hatte, das Angebot zu akzeptieren. Es war besser, als er sich hätte träumen lassen, und ohne jede Einschränkung. Jennifer würde eine so hohe Provision bekommen, daß sie zumindest vom finanziellen Stand punkt aus nicht denken konnte, daß er der schlechteste Mensch war, der ihr jemals untergekommen war. Er würde einfach sein früheres Leben wiederaufnehmen. Er hatte sich noch nicht überlegt, wo er woh nen wollte. Vielleicht näher am Büro. Er könnte sich alles leisten und hätte noch genügend Geld übrig, um InstruX zu vergrößern. Er überlegte, ob er Karen anrufen sollte. Er wollte ihr vorschlagen, sich vom Silber und vom Porzellan etwas auszusuchen. Es sollte in der Familie bleiben. Aber im Moment konnte er sich nicht einmal vor stellen, mit Karen zu sprechen, der einzigen Person, die vielleicht Ver ständnis für ihn aufbrächte.
In der Nacht besuchte ihn Jesus. Lake war im Büro einer Vollstrek kungsbehörde, und Jesus erschien, lautlos. Er hatte langes Haar. Er war in eine weiße Robe gekleidet und trug eine Dornenkrone. Er trat in den Raum, starrte Lake nachdenklich an und schüttelte den Kopf, wo 184
mit er zu verstehen gab, daß Vergebung außer Frage stand. Im Traum schien die Zusammenarbeit zwischen Jesus und dem FBI eine ganz na türliche Sache zu sein, aber es wurde kein Wort gesprochen. Am nächsten Tag nieselte es. Am Abend hatte er keine Lust, sich in der Küche etwas zu essen zu holen oder die Siebenuhrnachrichten ein zuschalten. Er ging in den Garten, wanderte zwischen den Blumenbee ten herum und prägte sich ihre Anordnung und ihre Farben ein. An seinem nächsten Wohnort wollte er einen kleinen Blumengarten an legen. Blumen waren gut, eine sanfte Transaktion zwischen den Men schen und der Erde. Kleine Tropfen hingen an den Blüten und an den Blättern, und die Bienen gingen unverdrossen ihrer Arbeit nach. Die blauen Blumen, die wie Glocken aussahen, gefielen ihm. Die großen, weißen Dinger gefie len ihm. Alle Blumen gefielen ihm. Während er mit Randall, der hin ter ihm herlief, über den Rasen spazierte, fiel ihm auf, daß die Tage all mählich kürzer wurden, und er beschloß, so schnell wie möglich aus zuziehen, selbst wenn die Dankmyers nicht sofort einziehen wollten. In der Bibliothek legte er Bach auf, um einen klaren Kopf zu bekom men, und öffnete dann die Post. Einer der Briefe war an Mrs. Grin nell adressiert. Der Absender war: Green Grove Memorial Park, Ha verford, Pennsylvania. Er hatte die fast unleserliche Notiz schon bei nahe vergessen, die Tante Ilsa in ihre Schreibtischschublade gesteckt hatte: Lake Green Grove Mr. Witter. In dem Brief lag ein einzelnes Blatt mit einer kurzen Nachricht, ge schrieben auf einer mechanischen Schreibmaschine: Sehr geehrte Mrs. Grinnell, wir möchten Sie daran erinnern, daß wir noch auf Ihre Anweisungen bezüglich des Steins warten. Mit freundlichen Grüßen Louis Witter
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Ein Friedhof. Ein Stein. Ein Stein, mit dem offensichtlich ein Verspre chen oder eine Verpflichtung verbunden war. Er legte den Zettel zur Seite, müde der Komplikationen, desinteressiert an den bizarren Ge dankengängen seiner Tante. Erneut nahm er alle Kraft zusammen, Karen anzurufen. Er wußte nicht, worüber er mit ihr sprechen sollte. Vielleicht würde er sie fragen, wie es damals war, als sie das Gefühl hatte, daß ihre Familie sich all mählich auflöste. Vielleicht würde sie ihm gern davon erzählen, wenn er sie fragte. Aber er rief nicht an.
Am nächsten Tag im Büro las er die erste Eintragung in seinem Ter minkalender: Binky Foster anrufen. Aber er rief nicht an. Um den Anruf hinauszuschieben, schlug er im Telefonbuch die Nummer des Green Grove Memorial Park nach. Eine ältere, männli che Stimme war am Apparat: »Green Grove. Louis Witter.« »Mr. Witter, ich bin Mrs. Grinnells Neffe. Ich habe Ihren Brief erhal ten. Mein Name ist Lake Stevenson.« »Soso«, sagte er. »Sie hüten also den Sommer über das Haus?« »Meine Tante ist gestorben, Mr. Witter. Ich wohne jetzt in ihrem Haus.« Am anderen Ende der Leitung war es still. Schließlich sagte Mr. Wit ter: »Es tut mir leid, das zu hören.« »Sie starb Anfang April.« »Das tut mir wirklich leid.« »Sie erwähnten einen Stein.« »Ja, Ihre Tante bestellte ihn im Februar. Sie sagte, sie würde mir noch genauere Anweisungen geben, aber dann hörte ich nichts mehr von ihr.« »Was für ein Stein ist es?« »Marmor. Der beste. Extra in Georgia angefertigt.« »Es handelt sich um einen Grabstein?« »Richtig.« 186
»Mr. Witter, was für ein Friedhof ist Green Grove eigentlich?« »Ein Haustierfriedhof.« »Hat sie erwähnt, was sie damit vorhatte?« »Ich meine mich erinnern zu können, daß sie mit jemandem über den Stein sprechen wollte. Ich hatte Probleme, sie zu verstehen, als sie den Stein in Auftrag gab. Sie hörte sich nicht gesund an. Sogar sehr schlecht, wenn ich das sagen darf.« »Sie hatte mehrere Schlaganfälle.« »Tut mir leid, daß sie entschlafen ist. Ich kannte sie sehr lange. Sie war eine sehr gute Bekannte.« »Könnte ich wohl zu Ihnen hinaus kommen?« »Natürlich.« »Am liebsten sofort, wenn es Ihnen recht ist.« Er ließ sich die Wegbe schreibung geben. Dann sagte er zu Mary: »Ich bin ungefähr für eine Stunde weg. Wenn eine Binky Foster anruft, sag ihr bitte, daß ich sie am Nachmittag zurückrufen werde. Komm, Renard.« »Du kannst Renard hier lassen, wenn du möchtest.« »Ich nehme ihn mit. Ich brauche Gesellschaft.«
Green Grove war überraschend klein – ein grasbewachsenes Gelän de im Schatten von Bäumen, umgeben von einem schmiedeeisernen Zaun. Er parkte auf dem gekiesten Parkplatz neben dem Bürogebäu de. Anstatt hineinzugehen, schlenderte er über einen kurvigen Pfad durch den Friedhof. Randall beobachtete ihn vom Vordersitz des Wa gens aus. Überall standen Grabplatten und Monumente, Hunderte an der Zahl. Manche Gräber zierten Blumen, Opfergaben in Form von Hun defutter und kleine amerikanische Flaggen. Neben einem Grab lag ein zerfledderter Snoopy. An manchen Stellen drehten sich Plastik-Wind mühlen munter im Wind. Lake las die Inschriften:
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Lisalee 1970-1982
Unser kleiner Liebling
Familie McNair
Donny
Bis wir uns wiedersehen
Anna Strong
Jinx
1951-1965
Mein bester Freund in dieser selbstsüchtigen Welt
Auf Wiedersehen
Joe
Trinket
Schlaf gut, mein Engel
Mami
Tiger
1985-1986
Unsere Liebe währet in alle Ewigkeit
Gottes Wille geschehe
Familie Beardsley
Auf der Grabplatte von Tiger klebte das in Kunststoff eingeschweiß te Foto eines wuscheligen weißen Hundes mit leuchtenden Augen und einer schwarzen Knopfnase. Viele der Gräber waren als Familiengräber angelegt. Anna Strong hatte drei Hunde Seite an Seite begraben. Joe hatte drei Jinxes begra ben. Lake machte sich auf die Suche nach dem Namen seiner Tante. Er wußte, daß er ihn finden würde, und da war er. Unter einer Eiche wa ren fünf Grabplatten nebeneinander aufgereiht. Die erste war eine ein fache Messingtafel. 188
Rudy
1927-1939
Geliebter Hund von
Ilsa Stevenson
Die zweite war geringfügig größer, auch aus Messing. Risa
1939-1951
Mein Liebling
Ilsa Stevenson
Alle anderen waren aus Marmor und undatiert. Roland
Mein geliebter Freund
Ilsa Grinnell
Rima
Meine geliebte Freundin
Ilsa Grinnell
Rosy
Meine geliebte Freundin
Ilsa Grinnell
Lake blieb eine Weile stehen. Dann ging er auf das Bürogebäude zu und stieß die Glastür auf. Ein alter Mann saß hinter einem Schreib tisch, auf dem sich jede Menge Papier türmte. »Ich bin Lake Stevenson, Mr. Witter«, sagte Lake.
»Ah, Mrs. Grinnells Neffe, wie Sie sagten.«
»Alle ihre Hunde sind hier begraben.«
»Jeder einzelne«, sagte Mr. Witter.
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»Sie muß noch ganz jung gewesen sein, als sie ihren ersten hier be graben hat.« »Sie war noch ein Mädchen. Noch nicht mal erwachsen. Ich kann mich noch genau an sie erinnern, weil sie eine meiner ersten Kundin nen war. Sie war noch ein Kind, und sie kam allein. Sie wußte, was sie wollte, und hatte ihr Geld dafür gespart.« Er sah aus, als hätte er geweint, aber vielleicht war es nur das Alter. »Sie war eine sehr gute Freundin von mir«, sagte er. »Sie half mir ein mal aus der Klemme. Und sie brachte jeden ihrer Hunde zu mir. Ich glaube, sie wäre am liebsten auch hier begraben worden.« »Das glaube ich auch.« »Ich bringe Ihnen den Stein«, sagte er. Er ging ins Hinterzimmer und kam mit einem rechteckigen Paket heraus. »Gut, daß Sie gekommen sind«, sagte er. Er entfernte das braune Packpapier und reichte ihm die rosafarbene Marmorplatte. Darauf stand: Randall
Unser geliebter Freund
Ilsa Grinnell
Lake Stevenson
Lake sah sich den Stein lange an. Schließlich sagte Mr. Witter: »Ist ihr Hund jetzt bei Ihnen?« »Ja.« »Also, das hier ist der Stein.« »Lassen Sie ihn bitte hier in Green Grove, Mr. Witter. Ist er bezahlt? Darf ich Ihnen die Lagergebühren bezahlen?« »Nein, nein. Das kostet nichts.« »Wenn es soweit ist, werde ich ihn hier begraben lassen.« »Das freut mich.« Lake streckte ihm die Hand hin. Mr. Witter schüttelte sie. »Danke, Mr. Witter«, sagte Lake.
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Vom Autotelefon aus wählte er die Nummer des Maklerbüros, wäh rend er an einer roten Ampel warten mußte. Als Binky Foster sich mel dete, sagte er: »Hallo, hier spricht Lake Stevenson. Ich bin zu einem Entschluß gekommen. Ich werde das Haus nicht verkaufen. Bitte sagen Sie den Dankmyers, daß ich ihr Angebot nicht annehmen kann.« »Sind Sie sicher?« »Ganz sicher.« »Besteht die Möglichkeit, daß Sie Ihren Entschluß doch noch mal überdenken? Die Dankmyers wären sicher zu Zugeständnissen be reit.« »Nein. Aber es war ein sehr gutes Angebot.« »Ich werde es ihnen ausrichten.« »Könnten Sie mich bitte mit Jennifer Dee verbinden?« »Tut mir leid, sie ist nicht im Büro.« »Wo ist sie?« »Sie bat mich, diesen Vorgang zu bearbeiten, Mr. Stevenson.« »Ich möchte mit ihr nicht über das Haus sprechen. Es geht um etwas anderes, und zwar um etwas sehr Wichtiges.« »Ich werde ihr sagen, daß Sie mit ihr sprechen möchten.« »Wo ist sie im Moment? Verstehen Sie bitte, ich muß ihr etwas sagen. Es ist eine persönliche Angelegenheit.« »Sie ist gerade auf dem Weg nach Merion. Ich glaube nicht, daß es dort ein Telefon gibt. Ich werde ihr sagen, daß sie Sie anrufen soll.« »Könnte ich bitte ihre Autotelefonnummer haben?« »Sie wird Sie anrufen.« »Bitte«, sagte er. »Es ist wichtig.« Er hörte es rascheln. Sie gab ihm die Nummer. Während er fuhr, wählte er die Nummer. »Ja?« sagte sie mit tonloser Stimme. »Ich muß Ihnen unbedingt etwas sagen.« Sie gab keine Antwort. »Weshalb ich das Haus verkaufen wollte. Und dann noch etwas.« »Sie müssen mir gar nichts erklären.« »Möchte ich aber.« 191
»Also gut, machen Sie schnell.« »Ich bin ganz in Ihrer Nähe. Ich sitze im Auto. Komisch, sich von Auto zu Auto zu unterhalten. Sie bewegen sich fort, ich bewege mich fort. Alles bewegt sich zu schnell.« »Was wollten Sie mir sagen?« »Die eine Sache ist, daß ich meine Tante mißverstanden habe«, sag te er. »In ihrem letzten Willen stand, daß ich das Haus nur bekomme, wenn ich auch den Hund nehme.« »Das ist mir bekannt.« »Ich habe nicht verstanden, was sie damit eigentlich beabsichtigt hat te. Ich dachte, es ginge ausschließlich um sie – ihren Hund, ihr Haus – und daß sie alles so arrangiert hatte, daß sich die Welt auch nach ih rem Tod noch nach ihren Wünschen weiterdreht. Aber ich habe falsch gedacht. Sie wollte mit mir teilen, was ihr am meisten ans Herz ge wachsen war.« »Und was war das?« »Ihr Hund. Das habe ich eben erst herausgefunden.« »Herausgefunden?« Verwirrung sprach aus ihrer Stimme. »Sie wollte, daß er auch dort begraben wird, wo alle ihre Hunde be graben sind, und sie wollte, daß ihr Name zur Erinnerung auf diesem Grabstein stand. Sie hat schon einen Grabstein für ihn anfertigen las sen. Aber sie hat nicht nur ihren, sondern auch meinen Namen darauf setzen lassen und damit wohl ausdrücken wollen, daß er unser beider Hund war. Ich habe den Grabstein gesehen. Deshalb denke ich jetzt anders.« »Lake, ich bin schon fast angekommen, wo ich hinwollte.« »Könnten Sie noch eine Minute sitzen bleiben, bitte? Ich muß Ihnen noch etwas sagen.« »Aber nur eine Minute.« »Ich werde mich kurz fassen. Daß ich mich in ihr geirrt habe, ist nicht das Wichtigste, was ich Ihnen sagen wollte.« »Und was wäre das Wichtigste?« Er schaffte es einfach nicht, das Thema Lügen auszusprechen. »Sind Sie noch da?« 192
»Ja.« »Was ist das Wichtigste?« Schließlich sagte er: »Jetzt weiß ich, weshalb Makler gern Angebote persönlich überreichen.« »Warum?« »Um deren Wichtigkeit zu unterstreichen.« Einen Augenblick herrschte Schweigen am anderen Ende. Dann sag te sie: »Wollen Sie damit sagen, daß Sie es mir persönlich sagen wol len?« »Ja«, gab er zur Antwort, während ihm Tränen in die Augen stiegen. »Wo sind Sie?« »Ich glaube, auf der Jansen Street«, sagte er. »Ich parke gerade.« »Ich bin in der 3214 Highfield Avenue. Ich sitze in meinem Auto vor dem Haus. Aber ich muß bald hineingehen.« »Danke«, sagte er. Drei Minuten später hielt er hinter ihrem Auto, stieg aus und setzte sich neben sie auf den Beifahrersitz. »Ich werde mein Autotelefon wie der abmelden«, sagte er. »Ich wollte Sie nicht überfallen. Ich mußte mit Ihnen sprechen, aber eigentlich nicht auf diese Art.« »Ist schon gut.« »Ich habe Binky Foster angerufen und ihr gesagt, daß ich das Ange bot nicht annehmen kann.« »Gut«, sagte sie. »Es war wirklich ein gutes Angebot. Sie haben erstklassige Arbeit geleistet. Ich glaube, Sie hatten die Dankmyers von Anfang an im Vi sier.« »Stimmt.« »Tut mir leid um Ihre Provision.« Sie zuckte die Achseln. »Haben Sie seit letztem Samstag mit Ihrem Großvater gesprochen?« »Er hat mich angerufen.« »Was hat er gesagt?« »Daß ich mich aus künftigen Verhandlungen mit Ihnen heraushal ten sollte. Aber das hatte ich ja schon vorher beschlossen.« 193
»Sprach er mit Ihnen über Ehre?« »Ja.« »Er hat recht«, sagte Lake. »Ich wollte Ihnen von dem Testament er zählen, aber ich hatte Angst davor, daß Sie schlecht von mir denken könnten.« »Sie sind ja nicht allein schuld daran«, sagte sie. »Sie wollten das Haus ja aus dem Angebot nehmen. Ich habe Sie immer gedrängt. Ich dach te, daß Sie vielleicht Ihre Meinung ändern, wenn Sie das Angebot der Dankmyers sehen. Ich wußte, daß es ein gutes Angebot sein würde.« »Ich muß Ihnen von noch einer Lüge berichten, Jennifer. Die letzte allerdings.« »Okay, schießen Sie los.« »Ihren Großvater wird es vielleicht beruhigen, aber ich bin einfach nicht in der Lage, mit ihm zu sprechen.« Sie wartete. »Sehen Sie den Hund in Ihrem Rückspiegel?« Sie schaute hinein und nickte. Er sagte: »Das ist der Hund meiner Tante. Er heißt nicht Renard, das ist eine Erfindung von mir. Er heißt Randall.« »Das hab ich mir schon gedacht.« »Das Bild, das meine Tante im Boot von ihm gemacht hat, hat mich auf diese Idee gebracht. Damals, als die Fotografiererei noch mein Hob by war, hab ich viel retuschiert. Und da hab ich Randall retuschiert.« »Ich verstehe.« »Ziemlich dämlich von mir.« »Ziemlich.« »Das ist alles«, sagte er. »Danke, daß Sie mir zugehört haben.« »Danke, daß Sie es mir persönlich gesagt haben.« »Es reinigt die Luft.« »Stimmt«, sagte sie. Dann, weil die Luft gereinigt war: »Ich möchte Sie wieder einmal an rufen.« »Gut.« »Aber nicht übers Autotelefon.« 194
»Nein.«
Er stieg aus; das Nein hallte in seinen Ohren.
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E
s war zu spät im Jahr, um noch Salat anzubauen, aber einem Buch für Hobbygärtner entnahm er, daß Kohl noch gepflanzt werden konnte. Jeder, der gern Salat aß, würde auch gern Coleslaw essen, fol gerte er; vielleicht würde er also seine herbstlichen Aktivitäten im Gar ten der Kultivierung von Kohl widmen. Inzwischen rollten im Büro die Aufträge wie eine Springflut her ein. Derek Kast bombardierte Lake mit einem nicht enden wollen den Strom von Anfragen. Er wünschte sich eine vierfarbige Ausga be einer alten Schwarzweißanleitung für eine Baumschere; er woll te seine Sprinklermodelle, von denen nur dürftige Diagramme vor lagen, vor dem Hintergrund einer ausgesuchten Landschaft präsen tieren; er wollte eine bebilderte Schritt-für-Schritt-Anleitung, wie ein Blumenbeet anzulegen ist; er wünschte sich ein völlig neues Image. Ein Fahrradhersteller, der neu im Geschäft war, fragte an, ob InstruX Interesse hätte, sämtliche Verkaufsunterlagen zu erstellen. Dannys Arbeit für das Softwareprojekt zog die Anfrage einer Firma aus Te xas nach sich. Allmählich erstreckten sich die Arbeitstage bis in den Abend hinein. Lake mußte seine Mitarbeiter bitten, einen Sonntag anzuhängen, aber selbst dann schafften sie es nicht, der Arbeit Herr zu werden. Ende Juli erschien ein Bekannter von Paul im Büro – mager, aufge weckt, ganz in Schwarz, mit Stahlrandbrille. Paul ging zu Lake und fragte in seiner üblichen, kryptischen Art: »Hast 'ne Minute Zeit?« »Klar.« Paul verzog sich wieder. Sein Freund sagte: »Ich wäre an einem Job 195
interessiert. Paul hat erzählt, daß Sie vielleicht 'nen neuen Mitarbeiter suchen.« »Das stimmt zwar nicht, aber das könnte sich in nächster Zeit än dern«, sagte Lake. »Sind Sie Designer?« »Texter.« »Und was texten Sie?« »Theaterstücke. Experimentelles Theater. Bis jetzt ist allerdings noch nichts davon produziert worden.« »Unsere Texte sind eine ziemlich trockene Angelegenheit. Ich bin übrigens Lake Stevenson.« »Robert Dickey.« »Und Ihre Freunde nennen Sie Bob, oder?« »Rob.« »Sehr gut«, sagte Lake. »Ich könnte Ihnen gleich einen Text geben, wenn Sie möchten. Als Test. Damit Sie einen ersten Eindruck bekom men, womit wir uns beschäftigen.« »Gern.« Lake suchte in seinem Schreibtisch nach der Betriebsanleitung für seine neue Digitalarmbanduhr. Er gab Rob das Heftchen zusammen mit der Uhr. »Gestern Abend habe ich versucht, die Zeit einzustellen«, sagte er. »Diese Anleitung ist ein typisches Beispiel für das, was wir üblicherweise hereinbekommen. Redigieren Sie ein, zwei Absätze und sehen Sie zu, ob Sie noch etwas verbessern können. Sie können sich dort drüben hinsetzen.« Rob nahm auf einem Stuhl an der Wand Platz, fummelte an der Uhr herum und machte sich auf einem Block, den Mary ihm gegeben hat te, Notizen. Nach einer Weile gab er Lake die Uhr nebst der ursprüng lichen Anleitung und einer korrigierten Fassung zurück. Aus dem Text: Wenn der Funktionsstatus der Uhr auf normaler Uhrzeit steht (das Display zeigt entweder AM oder PM), blinken nach Drücken des Einstellknopfes 4 die Sekunden. Durch Drücken des Einstellknopfes 3 blinken die Stunden. Durch Drücken des Knopfes 1 werden die 196
Stunden weitergezählt. Durch erneutes Drücken des Knopfes 3 blin ken die Minuten. Durch Drücken des Knopfes 1 werden die Minuten weitergezählt. Durch Drücken des Einstellknopfes 4 kehrt der Funktionsstatus wieder auf normale Uhrzeit zurück. war folgendes entstanden: Ihre Uhr zeigt die normale Zeit an, wenn die Buchstaben PM oder AM neben den Ziffern für Stunden, Minuten und Sekunden erschei nen. Um den Modus für normale Zeit einzustellen, drücken Sie Knopf 1. Um die Uhrzeit einzustellen, drücken Sie zunächst Knopf 4; die Sekunden beginnen zu blinken: das bedeutet, daß Sie jetzt mit dem Einstellen beginnen können. Um die Stunden einzustellen, drücken Sie zunächst Knopf 3; die Ziffern für die Stunden beginnen zu blin ken. Drücken Sie so oft auf Knopf 1, bis die Stunden richtig eingestellt sind. Um die Minuten einzustellen, drücken Sie wieder Knopf 3; die Ziffern für die Minuten beginnen zu blinken. Drücken Sie nun Knopf 1 so oft, bis die Minuten richtig eingestellt sind. Wenn Sie nun Knopf 4 drücken, kehren Sie wieder zum Modus für normale Uhrzeit zurück. Damit ist Ihre Uhr eingestellt. »Worum geht es in Ihren Theaterstücken?« fragte Lake. »Gerade bin ich mit einem fertig geworden, das in einer bemannten Raumkapsel spielt, die nach Ausfall der Navigationsmstrumente aus dem Sonnensystem trudelt.« »Hört sich ja schrecklich an.« »Die Charaktere sind ein Astronaut und ein Computer. Nur daß der Computer auch etwas abbekommen hat, eine Art Sprachbehinderung. Sobald der Astronaut etwas in der Gegenwartsform oder der Vergan genheitsform sagt, beginnt der Computer, verschlüsselt zu sprechen. Er unterhält sich mit dem Astronauten nur in der Zukunftsform.« Lake nickte und überlegte sich, ob es wohl einen Zusammenhang gab zwischen dem Schreiben experimenteller Theaterstücke und der Fähigkeit, gute Betriebsanleitungen zu texten. »Das, was Sie hier ge 197
macht haben, ist gut«, sagte er. »Eigentlich ist es besser als gut. Ich ma che Ihnen einen Vorschlag: Ich gebe Ihnen einen Teil eines Projektes, an dem wir arbeiten, und Sie bringen mir Ihre Korrektur, sobald sie fertig ist, zusammen mit Ihrer Rechnung.« »Übrigens habe ich Ihre Uhr um eine Minute vorgestellt«, sagte Rob. »Sie ging nach.« Ende der Woche hatte Rob einen festen Arbeitsvertrag in der Ta sche. Die Produktivität schnellte in die Höhe. Randall hörte wieder auf seinen alten Namen. Als Lake ihr erklärt hatte, daß es sich um einen Fall von Personenverwechslung handelte, hatte Mary die Augenbrauen hochgezogen, die Angelegenheit aber nicht weiter verfolgt. Bill rief an. »Was macht der Leitfaden für Haustiere?« fragte er. »Die Idee mit den Videos hab ich noch immer nicht fallengelassen«, sagte Lake, »aber im Moment weiß ich vor Arbeit nicht, wo mir der Kopf steht. Übrigens ist der Posten des Hauptabteilungsleiters noch immer frei. Gute Bezahlung. Viele Sozialleistungen.« »Vielleicht sollten wir uns mal darüber unterhalten.« Lake entnahm Bills Worten, daß er es ernst meinte. Er schloß mit sich selbst eine Wette ab, daß Bill noch vor Jahresende bei InstruX ein steigen würde. Aber ansonsten lag die Zukunft eher im dunkeln. Immer, wenn er daran dachte, Jennifer anzurufen, überlegte er es sich wieder anders, fand, daß er vielleicht noch ein paar Wochen oder Monate verstrei chen lassen sollte. Sein Anruf vom Autotelefon aus mußte ihr wie ein Überfall vorgekommen sein, obwohl er es eigentlich nicht beabsichtigt hatte. Die Geschichte war ihm auf eine Art peinlich, die er nicht defi nieren konnte. Die Tage vergingen, und seine Arbeitstage wurden im mer länger. Es stellte sich heraus, daß Randall Geschmack an chinesi schem Essen fand. Als Lake am Montag nach Hause kam und den Anrufbeantworter in der Bibliothek abhörte, sagte Steves Stimme: »Trivial Pursuit Match bei mir zu Hause am Freitag um acht. Ich rechne mit dir. Bring Ellen mit.« Er rief Steve an. »Freitag paßt gut«, sagte er, »aber ohne Ellen.« 198
»Ich hab mir schon so was gedacht.« »Warum?« »Letzte Woche hab ich sie gesehen. Sie war mit 'nem Typ beim Mit tagessen«, sagte Steve. »So, wie die beiden miteinander umgegangen sind, war offensichtlich, daß mehr dahintersteckt.« »Sieht er aus wie ein italienischer Filmstar?« »Genau.« »Das überrascht mich nicht«, sagte Lake. »Aber ich habe ein ande res Problem. Ich würde gern jemand anders mitbringen, falls sie Zeit hat.« »Gern«, sagte Steve. »Solange sie keine Dr. phil. ist.« Er rief Jennifer an. Zwei Leute meldeten sich zur gleichen Zeit. »Ich übernehme das Gespräch«, sagte Jennifer, und nach einem Klicken: »Hallo.« »Ich wollte mal fragen, ob Sie am Freitag Abend Zeit hätten. Ein Freund von mir veranstaltet regelmäßig Trivial-Pursuit-Abende, und die sind immer recht lustig.« »Ja, gern.« »Ich hole Sie um acht ab.« »Gut.« »Sie sind nicht zufällig eine Dr. phil. oder?« »Nein.« »Sehr gut.«
In der Kategorie Kunst und Freizeit war sie unschlagbar. »Woher wis sen Sie das alles?« fragte er, als sie auf dem Heimweg waren. »Ich lese gern. Und woher haben Sie Ihre geographischen Kenntnis se?« »Ich beschäftige mich gern mit Landkarten.« »Sie wußten, wie die Hauptstadt von Finnland heißt, und Sie waren der Beste in der Kategorie Wissenschaften«, sagte sie. »Es hat mir Spaß gemacht. Steve ist sehr nett.« 199
»Wir sind zusammen aufgewachsen.« Das Auto rollte durch den Abend, folgte fast wie von selbst den geo logischen Unebenheiten der Landschaft. Insekten umschwirrten die Straßenlaternen. Eine Reihe Bäume auf einer Hügelkette wanderte nach links aus dem Bild, eine graue Kamelkarawane im Mondlicht. Worte und Schweigen flossen federleicht ineinander. Vor ihrem Haus hielt er an, doch sie blieben noch im Auto sitzen. »Haben Sie Geschwister?« »Nein, warum?« »Sie sind so selbstsicher.« »Bestimmt nicht so selbstsicher wie Sie.« »Nein, nein«, sagte er. »Ich bin berüchtigt für Fehlverhalten – aber das wissen Sie ja.« »Das heißt nicht, daß Sie nicht selbstsicher sind. Möchten Sie noch auf einen Sprung hereinkommen?« Ein paar Minuten später trudelten zwei ihrer Mitbewohner ein. »Mike, du kennst Lake ja schon«, sagte sie. »Lake, das ist Terry.« Mit leuchtenden Augen berichteten die beiden von dem Softball match, das sie am Abend gespielt hatten. Jennifer hörte ihnen auf merksam zu. Lake spüre, daß in diesem Haus Kameradschaft einen hohen Stellenwert besaß. Dann zogen sich Mike und Terry in die Küche zurück, um dort ihre Unterhaltung fortzusetzen. Lake bemerkte: »Verglichen mit hier herrscht in meinem Haus geradezu Grabesstille.« »Langweilig ist es hier bestimmt nicht«, sagte sie. »Und nächste Wo che zieht noch jemand ein.« »Ich dachte, Sie wollten niemanden mehr ins Haus nehmen.« »Es ist ein Freund von Terry. Terry ist der Hauptmieter hier.« Mike kam herein. »Entschuldigung, ich will nicht lange stören. Wie hieß noch gleich der berühmte Typ, der bei den Baltimore Orioles der Pitcher war?« »Hoyt Wilhelm«, sagte Lake. »Genau«, sagte Mike. »Hoyt Wilhelm. Ich arbeite an dem gleichen Trick, mit dem er immer geglänzt hat.« 200
»Stell ihm doch mal 'ne Frage in Geographie«, sagte Jennifer. »Wo liegt Belize?« »In Mittelamerika«, sagte Lake. »Da staunst du, was?« sagte Jennifer zufrieden. Mike ging wieder in die Küche, um seine Unterhaltung mit Terry weiterzuführen, aber Lake hatte trotzdem nicht das Gefühl, mit Jenni fer allein zu sein. Nach einer Weile stand er auf: »Versprechen Sie mir, daß Sie mein regelmäßiger Trivial-Pursuit-Partner sein werden?« »Versprochen.«
Den folgenden Mittwoch verbrachte er allein mit ihr. Sie gingen zum Abendessen in ein Bistro. Als ersten Gang bestellte sie Salat. »Mögen Sie eigentlich Coleslaw?« fragte er. »Sehr gern. Warum?« »Das dachte ich mir. Übrigens, habe ich Ihnen eigentlich schon er zählt, daß ich eine Reinigungsfirma engagiert habe? Jeden Freitag kom men drei Leute. Die gehen die ganze Geschichte fast militärisch an.« »Ist die Haushälterin nicht mehr da?« »Nein. Sie gehörte zu den schlechten, alten Zeiten.« »Lake«, sagte sie nach einer Pause, »ich sage das nur noch einmal, nur damit Sie es wissen, und dann werde ich nie mehr darauf zurückkom men. Die Dankmyers wollen das Haus nach wie vor. Lydia Dankmy er bat mich, Ihnen zu sagen, daß sie noch immer sehr interessiert sind, falls Sie es sich mit dem Verkauf jemals anders überlegen sollten.« »Ich habe es mir nicht anders überlegt.« »Ich übermittle nur die Botschaft«, sagte sie. »Ich spiele mit dem Gedanken, einen Innenarchitekten kommen zu lassen. Kennen Sie Sarah Beasley?« »Nein.« »Sie ist die Freundin eines Bekannten. Ich habe das Gefühl, daß sie, wenn es nach ihr ginge, alles auf den Kopf stellen würde. Glauben Sie, daß das Haus eine Generalüberholung nötig hätte?« 201
»Das müssen Sie schon selbst entscheiden.« »Was die Innenausstattung anbelangt, habe ich überhaupt keine Meinung.« »Manchmal muß man einfach eine Zeitlang irgendwo gewohnt ha ben.« »Vermutlich«, sagte er. Sie sagte nichts. »Es gefällt mir, wie Sie schweigen«, sagte er. »Sie können auf sehr net te Art schweigen.« Er schaute aus dem Fenster. »Der Sommer verab schiedet sich allmählich. Es ist schon fast dunkel draußen.« »Nächste Woche fahre ich für drei Wochen weg«, sagte sie. »Ich bin nach Labor Day wieder zurück.« Er nickte und beobachtete sie. »Verwandte von mir haben ein Haus in den Adirondacks, und sie ha ben mich eingeladen. Normalerweise bin ich jeden Sommer dort.« »Und was machen Sie da?« »Kanu fahren, wandern, alles mögliche. Es liegt direkt an einem See.« »Hört sich großartig an«, sagte er. Hört sich auch weit weg an. Als er sie später nach Hause brachte, begleitete er sie bis zur Haustür. Durch ein Fenster sah er, daß der Fernseher lief und zwei Leute davor saßen. »Möchten Sie noch hereinkommen?« fragte sie. »Heute nicht, vielen Dank«, sagte er. Er nahm ihre Hand, hob sie an den Mund und küsste ihre Finger, dann nahm er sie unvermittelt in die Arme und küsste sie. Er ließ sie wieder los. »Muß morgen schon früh aus den Federn«, sagte er. »Ich rufe dich an.« »Gute Nacht«, sagte sie.
»Wann geht dein Flugzeug?« fragte er, als er am nächsten Tag mit ihr telefonierte. »Sonntag früh.« »Kann ich dich noch mal sehen, bevor du fliegst? Wie wär's Samstag zum Abendessen?« 202
»Ich glaub nicht, daß ich das schaffe, Lake. Ich muß noch einkaufen gehen und packen. Außerdem hab ich im Büro noch jede Menge zu er ledigen, und vor allem am Samstag wird der Teufel los sein.« »Schickst du mir 'ne Postkarte?« fragte er. »Natürlich. Eine mit Bergen drauf.« »Warum ausgerechnet mit Bergen?« »Wir haben uns doch einmal über Bergsteiger unterhalten, und du hast gesagt, daß sie vermutlich dem Verständnis für die Erde am näch sten kommen. Das hat mir gefallen. Weißt du noch?« Er erinnerte sich noch daran, aber viel wichtiger war die Tatsache, daß sie es nicht vergessen hatte. »Aber sei bitte nicht enttäuscht, wenn sie mit Kiefern bewachsen sind«, sagte sie. »Die Adirondacks sind nicht gerade alpines Gelände. Nun ja, vielleicht sind Kiefern auch typischer für diese Gegend. Also schicke ich dir vermutlich Kiefern.« »Ich freu mich schon darauf.«
Er versuchte sich auf ihre Abwesenheit einzustellen. Aber am Samstag am späten Vormittag rief sie ihn zu Hause an und verkündete: »Eine meiner Verabredungen ist geplatzt. Hättest du Lust, heut nachmittag Tennis zu spielen? Maggie und Bruce kommen auch. Nur eine Stun de lang.« »Ich habe aber schon länger nicht mehr gespielt.« »Macht nichts. Maggie auch nicht.« »Hast du alle Einkäufe erledigt? Hast du schon gepackt?« »Noch nicht alles«, sagte sie, »aber Maggie und Bruce möchten Ten nis spielen, und Mike und Terry haben heut keine Zeit. Ich hab ihnen gesagt, daß ich einspringe, falls du mitkommst. Kannst du's einrichten? Der Tennisplatz ist ganz in deiner Nähe. Wir könnten dich abholen.« »Wer ist Bruce?« »Bruce McClellan. Er ist letzte Woche bei uns eingezogen. Seine El tern haben einen Tennisplatz.« 203
»Hat er einen Bruder, der Peter heißt?« »Ja, kennst du ihn?« »Eigentlich nicht«, sagte Lake. Er wollte schon fragen: Lacht Bruce auch so laut? »Na, wie sieht's aus?« fragte sie. »Die Bespannung an meinem Racket ist hinüber.« »Ach, wir finden schon 'nen Schläger für dich.«
Schlag drei hupte es, drei Gestalten saßen in einem Cherokee, Bruce am Steuer mit der gleichen Frisur wie sein Bruder Peter. Der Platz ne ben Jennifer war frei. »Lake, das ist Maggie und das ist Bruce«, sagte sie, als er einstieg. »Ich hoffe, daß ihr nachsichtig mit mir seid«, sagte er. »Ich bin etwas eingerostet.« »Du spielst mit Jennifer«, sagte Bruce. »Ich weiß, wie sie spielt. Wohnst du in diesem großen Haus ganz allein?« »Ja.« »Wow!« »Plus einem Hund«, sagte Lake. »Jennifer sagte, daß du ihn ebenfalls geerbt hast. Wie ist es so?« »Was?« »Na, hier zu wohnen.« »Schön. Ich mag viel Platz.« Er wandte sich an Jennifer. »Ich werde die Gartenmöbel weiß streichen. Ich war gerade dabei, als du angeru fen hast. Sieht gut aus.« »Welche Farbe hatten sie früher?« fragte Maggie. Sie hatte rundliche, fast babyhafte Züge und sehr feines, blondes, mit einem Samtband zu sammengefasstes Haar. Ihr Tennisoutfit war perfekt, weiß, mit Frot teeband ums Handgelenk. Jennifer trug ein gelbes T-Shirt und einen Tennisrock. »Schmutziggrün«, sagte er. »Die weiße Farbe macht alles viel freund licher.« 204
»An weißen Möbeln sieht man schneller den Schimmel«, sagte Mag gie. »Macht nichts. Ich habe jede Menge Farbe im Keller.« »Hier ist es«, sagte Bruce und bog in die Einfahrt zu einer Tudor-Vil la ein. »Meine Eltern sind verreist, und alles ist verrammelt. Ich kann euch also leider nicht hineinbitten. Es ist ihnen aber sehr recht, wenn ich den Tenniscourt benutze. Das schreckt Einbrecher ab. Ich kann dir ein Racket leihen, Lake. Mittlere Größe, fünf achtel Inch Griff. Wirst du damit spielen können?« »Aber klar.« Lake wußte, was passieren würde – er wußte, daß Bruce ein guter Spieler war und Maggie besser als angekündigt. Aber es machte ihm nichts aus, weil er mit Jennifer spielen würde. Als sie ums Haus zum Court gingen, klopfte er auf die Bespannung seines Rackets und sag te: »Und mit dem hier muß man den Ball treffen, richtig?« Sie schaute ihn verdutzt an. Er sagte: »Ich muß versuchen, mein Manko mit Kör perkraft zu kompensieren.« Bruce spielte sehr gut, mit langen, weichen Schlägen und sehr guter Technik am Netz. Beim Einschlagen zielte Lake tief auf seine Rück hand, und Bruce retournierte den Ball problemlos mit einem starken Topspin. Die hohen Bälle beherrschte er meisterhaft, und die Volleys nahm er wie eine Maschine. Aber Lake stellte auch fest, daß Jennifers Spiel fast ebenso ausgefeilt war und daß Maggie so gut wie keine Rück hand beherrschte. Sobald das Match begonnen hatte, entwickelte es sich zu einem Schlagabtausch zwischen Bruce und Jennifer. Bruce schlug ihr die meisten Bälle zu, und sie retournierte sie fast immer auf seine Seite – sie hatten beide Spaß an harten Grundschlägen, geschickten Lobs und angeschnittenen Volleys. Lake konzentrierte sich nur darauf, einen Ball zurückzubringen, wenn er zufällig in seine Richtung flog. Von der Grundlinie aus ein Spiel gegen Bruce zu gewinnen war fast aussichts los, und Maggie war so frustriert, daß er ihre Probleme nicht noch ver größern wollte. Als sie nach dem dritten Spiel die Seiten wechselten, sagte Bruce zu 205
ihm: »Du spielst gut.« Was er meinte, war: Du spielst nicht in unserer Liga. Aber Lake war schnell, und diesen Vorteil nutzte er nun aus. In der Mitte des ersten Satzes sprintete er bei jeder Gelegenheit ans Netz und schlug alles in seiner Reichweite zurück, war selbst überrascht von seinen Erfolgen. Fasziniert beobachtete er Jennifer. Sie war gnadenlos aggressiv, wenn nicht sogar rücksichtslos. Bei 4:5 lief sie ans Netz und donnerte einen Ball aus nächster Nähe genau auf Bruces Körper. Er retournierte mit einer Reflexbewegung zum Satzgewinn und grinste. Nach dem Match ruhten sie sich eine Weile auf den Stühlen neben dem Court aus. »Du bist schnell«, sagte Jennifer zu Lake. »Du bist unglaublich.« »Ich hab in letzter Zeit viel gespielt.« Als sie Lake eine halbe Stunde später zu Hause ablieferten, sagte er zu Bruce und Maggie: »Vielen Dank. Hat Spaß gemacht.« Und zu Jen nifer: »Gute Reise.« »Tschüs«, sagte sie. Er ging die Zufahrt hinauf und dachte über den letzten Punkt des Matches nach, als er sich nach einem Vorhand-Passierball von Bruce gestreckt hatte und Jennifer aus dem Nichts gekommen war und den Ball flach über das Netz gedroschen hatte; diese Bewegung war perfekt gewesen, einer Skulptur würdig.
Der Sommer bäumte sich ein letztes Mal auf, die Augustsonne zog über einen bleichen Himmel, die Straßen und der Boden atmeten die Hitze – es war zu heiß, um Kohl anzupflanzen, so heiß, daß Randall hechelnd im Schatten lag. Die Hitze hielt bis in die Abendstunden an, und er spürte sie immer noch, wenn er am Morgen aufwachte, den zwitschernden Vögeln zuhörte und wieder einschlief. Sie war weit weg, an einem kühlen Ort, ohne ihn, vielleicht dachte sie nicht ein mal an ihn. In den Augenblicken zwischen Wachsein und Schlaf stellte er sich 206
manchmal die Nächte an ihrem See im Norden vor – die Wasserober fläche wie ein geriffelter Spiegel, Mondlicht, das durch die Dunkelheit tanzte und ins Auge stach. Der Schrei der Eulen. Sie schlief in einer Hütte, weiche Umrisse zeichneten sich unter der Decke ab. Ihr Haar lag ausgebreitet auf dem Kissen. Er betrachtete sie. Manchmal stellte er sich ihre Tage in den Adirondacks vor – grüne Berge und hohe Wolken, ein langes, glitzerndes V hinter einem Kanu, kleine Cousins, die über eine Wiese tollten. Sie saß am Wasser und las. Sie balancierte barfuss auf den Steinen. Er betrachtete sie. Manchmal sehnte er sich nach ihr, dachte daran, wie sie vor ihrer Haustür standen, wie er sie küsste, spürte den leichten Druck ihres Körpers gegen den seinen, so unendlich sinnlich. Er fragte sich, was mit ihm los war. Aber er wußte es, er wußte es. Manchmal sah er sie auf dem Tennisplatz, wie sie einem gefühlvollen Lob hinterherlief und ihn über die mit den Armen fuchtelnde Maggie zurückschlug, wie sie einen Passierball an Bruce vorbeidonnerte, wie sich alle am Ende die Hände schüttelten. Er dachte an sie, wie sie im Auto saß, als sie von Steve kamen oder aus einem Restaurant, wie ihre Unterhaltung Abschnitte ihres Lebens durchwanderte, so ungezwun gen, fast wie Kinder, die in der Dunkelheit miteinander flüstern. Einmal waren sie in einen Streit geschlittert. Im Bistro hatte er den Kellner um die Weinkarte gebeten, es sich dann anders überlegt und gesagt: »Nein, doch nicht.« »Warum?« sagte sie. »Such dir einen aus.« »Hättest du denn gern Wein?« »Ich möchte ein Mineralwasser.« »Keinen Wein«, sagte er zum Kellner, der wieder verschwand. »Wie kommst du darauf, daß ich keinen Wein wollte«, fragte sie auf gebracht. »Du magst keinen Wein.« »Aber weshalb nimmst du das an? Ich habe es nie gesagt. Woher willst du wissen, ob ich Wein mag oder nicht?« »Ich weiß es nicht.« »Hat dir Karen etwas erzählt?« 207
»Nein.« »Warum hast du es also angenommen?« »Weil du auf der Cocktailparty deiner Großeltern Wasser getrunken hast, und als wir zusammen abends essen waren, hast du den Wein kaum angerührt, und bei Steve hast du Ginger Ale getrunken. Aber ich hätte es nicht voraussetzen sollen.« »Nein.« Allmählich legte sich ihr Zorn. »Wir hatten damit ein Problem zu Hause, Lake«, sagte sie schließ lich. »Ich weiß, wie das ist«, sagte er. »Meine Mutter hatte damit eine Zeitlang Schwierigkeiten. Manch mal stört mich schon allein der Gedanke ans Trinken. Ich weiß, das ist dumm, aber es ist so.« »Sag das nicht. Vielleicht hast du ja recht.« »Vielleicht möchte ich doch etwas Wein.« »Gut.« Damals war sie nicht näher darauf eingegangen, aber er hatte das Gefühl, daß sie später darüber sprechen würden, wenn das Vertrauen zueinander gewachsen war. Aber jetzt lag eine ganze Welt zwischen ihr und ihm. Hier Hitze und feuchte Luft, dort seine Vorstellung von ihren sternenübersäten Näch ten, kristallklaren Tagen und dem beißenden Geruch brennenden Holzes. Dann kam eine Postkarte und stellte die Verbindung her. Auf der Vorderseite prangte die Luftaufnahme eines Sees inmitten end loser Kiefernwälder. Auf der Rückseite las er ihre Handschrift, sicher und flüssig: Lieber Lake, seit einer Woche regnet es nun fast ununterbrochen, und wir sind alle erkältet, aber trotzdem geht es mir sehr gut. Ich habe zwei Bücher gelesen, eines mit 700 Seiten über das Leben im Mittelalter, das grau siger war, als ich vermutet hatte, besonders was das Essen anbe langt. Morgen machen wir eine Wanderung, mindestens 10 Meilen, 208
und ich hoffe, daß mich der Regen nicht von den Bergen spült. Mein Onkel John ist gerade von Philadelphia gekommen und sagt, daß es bei Euch sehr heiß ist. Auf der Postkarte ist auch unser Camp zu se hen. Es ist die Häusergruppe in der oberen rechten Ecke. Du fehlst mir. Jennifer. Er fehlte ihr. Es stand da, in ihrer eigenen Handschrift, ein blauer Schriftzug aus ihrem Füllfederhalter, eigenhändig vollzogen. Er nahm die Postkarte am nächsten Tag mit ins Büro und warf immer wieder einen verstohlenen Blick darauf. Bis Mary auffiel, daß er einem heimli chen Vergnügen nachging, und er die Karte weglegte, um sie nur noch in Gedanken zu lesen. Charlotte rief an. »Lake«, sagte sie, »kann eure Firma auch Regeln schreiben? Spielregeln, zum Beispiel? Ich brauche ein paar Spielanlei tungen. Es reicht, wenn du sie auf ein Stück Papier schreibst.« »Ich weiß nicht, was du meinst.« »Ich gebe eine Poolparty, und das Thema ist Fischen. Ich dachte, daß es vielleicht ganz lustig wäre, ein paar einschlägige Spiele zu veranstalten.« »Frank fällt dazu bestimmt mehr ein als mir«, sagte Lake. »Er weiß alles über Fischen. Ich habe nur wenig Ahnung davon.« »Die Party gebe ich eigentlich für Frank«, sagte sie. »Ich habe mir das folgendermaßen gedacht: Frank hat ein paar Angeln, die wir für das Spiel hernehmen könnten, und außerdem liegen irgendwo noch 'n paar alte Fischerstiefel rum. Vielleicht war es ganz witzig, 'nen Wettbe werb in Zielwerfen zu machen. Also, man muß einen Gegenstand im Pool treffen, und der Sieger gewinnt ein Glas Champagner. Irgend so was. Und wenn man fünfmal hintereinander danebenwirft, muß man zur Strafe die Fischerstiefel anziehen.« »Hört sich ziemlich einfach an«, sagte er. »Hältst du es nicht für über trieben, dafür extra Spielregeln zu drucken? Warum sagst du den Leu ten nicht einfach, worum es geht?« »Ja, aber ich hab mir überlegt, daß man die Regeln auf einer Art An gelschein präsentieren könnte. Jeder, der mitspielen will, kriegt einen Schein. So was braucht man doch auch fürs wirkliche Fischen.« 209
»Die Idee ist nicht schlecht«, sagte Lake. »Natürlich kannst du mir eine Rechnung schicken.« »Vergiß es. Ich schulde dir ohnehin einen Gefallen. Du hast mir doch mal von dieser grausamen Betriebsanleitung deines programmierten Sprinklers erzählt. Die Firma, die diesen Sprinkler herstellt, ist inzwi schen mein Kunde.« »Das freut mich«, sagte sie. »Ich mach einen Entwurf und melde mich dann wieder. Obwohl ich auf Haken verzichten würde. Vielleicht kannst du ja einen Korken oder irgendwas aus Plastik an die Schnur hängen.« »Frank hat jede Menge Angelkram rumliegen«, sagte sie. »Ich werd schon was ohne Haken finden.« Am Nachmittag opferte Lake zehn Minuten für einen Entwurf: ANGELSCHEIN ausgestellt vom Department of Game and Fisheries; gültig für den Pool von Sibley; nicht gültig für andere Gewässer in Pennsylvania. Die An gelsaison wird um (Uhrzeit von Charlotte geben lassen) eröffnet. Gel tungsdauer: ein Tag. Die glitzernden Flüsse und quellfrischen Seen von Pennsylvania bieten wohl die schönsten Angelgründe in Nordamerika. Der Fang, der aus dem Pool von Sibley geangelt werden kann, zeichnet sich durch perlen de Schönheit aus, ist begehrt von Angler/inne/n aus aller Welt, erfor dert aber spezielle, ausgeklügelte Fangtechniken: Ausrüstung: Angelleine und Schwimmer. Ziel Schwimmreifen, der im Pool schwimmt. Regeln:
ist
ein
Pro Runde hat jede/r Angler/in 3 Versuche, den Schwim mer in den Reifen zu werfen.
210
Preis:
Ein erfolgreicher Wurf des Schwimmers in das Ziel be rechtigt den/die Angler/in zu einem Glas Champagner oder einem anderen Getränk seiner/ihrer Wahl.
Strafe:
Der/die Angler/in, der/die erfolglos wirft, muß Fischer stiefel anziehen und diese so lange tragen, bis das glei che Schicksal eine/n andere/n Angler/in ereilt.
Die Eigentümer behalten sich vor, den Fang eine/s/r jeden Angler/s/in zu beschränken, um das natürliche Gleichgewicht im Pool von Sibley zu bewahren.
Es war nicht berauschend, und Lake war sich ohnehin sicher, daß Frank nichts von dieser Idee hielt. Angeln war für ihn ein geheiligter Sport schlechthin. Frank würde sich über dieses Spiel nur ärgern. Er zeigte Paul seinen Entwurf. »Das ist für eine Party gedacht«, sag te er. »Es sollte wie ein Angelschein aufgemacht sein. Könntest du 'nen Rahmen dafür entwerfen, der einigermaßen offiziell aussieht? Aber verplempere nicht zu viel Zeit damit.« Kommentarlos nahm Paul den Entwurf entgegen und setzte sich an seinen Computer. Eine Viertelstunde später winkte er Lake zu sich her über; der Rahmen erinnerte an die kunstvoll gestaltete Umrandung ei nes Wertpapiers, nur daß sich in diesem Fall springende Fische darauf tummelten. »Perfekt«, lobte ihn Lake. »Ich werde das den Leuten vorlegen, und dann drucken wir die paar Exemplare, die sie brauchen. Ich bin ihnen einen Gefallen schuldig.« Paul machte sich wieder an seine Arbeit, ohne ein einziges Wort ver loren zu haben.
211
Als das Softwaremanual endlich gedruckt, gebunden und versandt war, versprach Lake seinen Mitarbeitern zur Belohnung ein chinesi sches Mittagessen. Um Punkt halb eins am vereinbarten Tag legten alle die Arbeit nieder und bereiteten sich auf den Abmarsch vor. Lake schaute ihnen zu. Keiner von ihnen ließ es sich nehmen, jeder auf seine Weise gebührend Abschied von Randall zu nehmen, der die ihm be zeugte Reverenz gnädig über sich ergehen ließ. Ein jeder hatte ein paar nette Worte und ein paar Streicheleinheiten für ihn übrig. Paul im Ton eines Terminators: »Ich komme wieder.« Danny: »Okay, Randall, du bist jetzt der Chef hier.« Rob: »Schön brav sein, Randall.« Mary, die ständig Keile zwischen Randall und seinen Herrn zu treiben wußte: »Ich finde es nicht fair, daß du nicht mitkommen darfst. Ich bring dir was Gutes mit.« Menschen rasten leicht aus, wenn es um Hunde geht, dachte Lake. Die Erwartungen eines Hundes an Zuwendung und Liebe waren so absolut, daß niemand widerstehen konnte. Es grenzte fast schon an Gehirnwäsche. Ein Hund braucht einen nur anzusehen, und plötz lich fühlt man sich verpflichtet, ihn zu streicheln oder ihm etwas Net tes zu sagen. Lake ging zu Randall und tätschelte seinen Kopf. »Da mit du's weißt: Ich mach das unter Protest.« Randall wedelte mit dem Schwanz. Beim Mittagessen unterhielten sie sich über die Projekte, die InstruX in den vergangenen Monaten durchgezogen hatte. Sie sprachen über die Möglichkeit, einige Freiberufler zu engagieren, um Mehrarbeit in Stoßzeiten abzufangen; auch wollten sie sich nach ein paar neuen Fo tografen umsehen. Paul brauchte einen neuen Computer; er wollte die Möglichkeiten von Anleitungen mit Animation erkunden. Mary reg te an, über Veränderungen in der Buchhaltung nachzudenken. Dan ny wollte eine Reise nach Texas genehmigt bekommen, um dort einen potentiellen Kunden zu besuchen. Lake stimmte allen Vorschlägen zu. Die Leute waren für ihn wie eine Familie, selbst Rob war inzwischen unverzichtbarer Bestandteil der Crew geworden; von allen hatte er das meiste Talent. »Nächstes Jahr wird ein Jahr der Veränderungen sein, glaube ich«, sagte Lake. 212
Sie sahen ihn an. »Ich weiß nicht, was sich verändern wird«, sagte er. »Aber es wer den positive, konstruktive Veränderungen sein. Wir brauchen mehr Platz.« Allmählich schweifte das Gespräch von der Arbeit ab. »Wie gefällt dir dein neues Haus, Lake?« fragte Mary. »Es ist sehr ruhig.« »Schreib jede Einzelheit auf, die du im Haus machst«, schlug Danny vor. »Wir könnten einen InstruX-Leitfaden für frischgebackene Haus besitzer herausgeben. Wie man bei der Küchenplanung an die richti gen Handwerker kommt – Problembewältigung und so weiter.« »Es gibt nicht viel, worüber ich Notizen machen könnte«, sagte er. »Im Moment herrscht eine eher statische Situation.« »Fehlt dir deine alte Wohnung?« fragte Mary. »Ich kann mich kaum noch an sie erinnern.« »Die schwindende Vergangenheit, die unsichtbare Zukunft, die weg lose Gegenwart«, murmelte Rob. »Wie bitte?« fragte Lake. »Das ist eine Zeile aus meinem Theaterstück.« »Meinst du das Stück, in dem der Computer mit dem Astronauten in der Zukunftsform spricht?« »Der Astronaut sagt das. Aber eine Freundin von mir hält es für prä tentiös. Sie ist Schauspielerin, also hat sie vielleicht recht.« »Gefällt mir gut«, sagte Lake. »Vielleicht häng ich noch einen Akt an. Das Raumschiff kollidiert mit interstellarem Müll, und plötzlich spricht der Computer nur noch in der Vergangenheitsform.« »Jetzt hab ich's kapiert«, sagte Danny. »Der Astronaut sagt: ›Ich sehe, daß wir uns einem Planeten nähern. Computer, wird seine Atmosphä re erdähnliches Leben ermöglichen?‹ Und der Computer sagt: ›Nein, sie hat es nicht ermöglicht.‹ Und der Astronaut sagt: ›Wird sie es denn ermöglichen?‹ Und der Computer sagt: ›Diese Frage macht keinen Sinn.‹« »Hat keinen Sinn gemacht«, korrigierte Rob. 213
Lake füllte noch einmal seinen Teller und fragte sich, wer wohl jetzt in seiner Wohnung wohnte. Dann dachte er über die weglose Gegen wart nach. Sie könnte überallhin führen.
Eine zweite Ansichtskarte flatterte ins Haus, diesmal mit Bergen in leuchtendem Herbstlaub. Lieber Lake, endlich ist die Sonne herausgekommen, und es ist einfach super hier. Jackie (Kusine) und ich sind schon um den ganzen See gepaddelt. Ich spüre meine Arme kaum noch, aber es hat riesigen Spaß gemacht, al les war so friedlich und schön. Wir sind erst nach Sonnenuntergang zurückgekommen. Am liebsten würde ich für immer hier bleiben, aber vermutlich bin ich früher zu Hause als diese Karte. Außerdem ist es im Winter lausig kalt, und die Blätter verfärben sich allmäh lich. J. Immer wieder las er die Postkarte. Nichts darüber, daß sie ihn vermiß te. Es stand nur da, daß sie die Adirondacks vermissen würde. Diese Karte hätte sie ebensogut an einen x-beliebigen Bekannten schicken können. Vielleicht sah sie das auch so. Er las daraus: Wir sind Postkartenfreunde. In zwei Tagen, wenn sie wieder in Philadelphia wäre, würde sie ihn bestimmt nicht anrufen. Vielleicht nach einer Woche: Du kannst dir nicht vorstellen, wieviel Arbeit liegengeblieben ist, würde sie sagen. Leider bin ich erst jetzt dazugekommen, dich anzurufen. Wie war's bei dir? Wie geht's Randall? Vielleicht hast du ja Lust, wieder mal Tennis zu spielen. Hast du es dir mit dem Haus inzwischen anders überlegt? Oder vielleicht würde er sie anrufen. Ich wollte nur mal hallo sagen, würde er beginnen. Danke für die Ansichtskarten. Im Büro war der Teufel los. Vielleicht treffen wir uns ja wieder einmal. Und während er das sagen würde, würde er denken, was er wirklich 214
empfand: Du hast mir gefehlt; ich habe täglich tausendmal an dich ge dacht; ich träume von dir; ich möchte ständig mit dir Zusammensein. Aber nichts davon könnte er ihr sagen. Also würde er sie nicht anru fen.
Es kam das Wochenende des Labor Day, und es wurde noch heißer. Am Sonntag ging er mit Randall in den Park, um dessen Eignung für einen Haustierleitfaden auf Video zu testen. Sie arbeiteten mit Basisbefehlen: Sitz, Platz, Komm, Halt. Schon bald langweilte sich Randall; er weigerte sich zu sitzen, weigerte sich zu liegen und weigerte sich schließlich, ihm überhaupt zuzuhören. »Hi, Luke«, sagte eine Stimme hinter ihm. Er drehte sich um. »Hallo, Holly, hallo, Tina.« »Was machst du da?« fragte Holly. »Ich teste ihn gerade für Probeaufnahmen. Er wird es allerdings nicht schaffen, auf die Besetzungsliste zu kommen. Ich dachte daran, ihn in einem Video mitspielen zu lassen, aber er ignoriert den Regisseur.« »Was ist mit seinem Fell passiert?« »Er ist an eine dilettantische Kosmetikerin geraten.« Randall und Chloe näherten sich einander. Sie gestattete seine Auf merksamkeiten gnädig, vielleicht sogar mit einer Spur von Interesse. Tina warf für Sable einen Tennisball. »Ich hab dich hier schon lang nicht mehr gesehen«, sagte Holly. »Stimmt. Ich hatte viel zu tun.« »Ich hab übrigens deinen Rat beherzigt. Ich werde nicht nach Mis souri gehen.« »Sehr gut, Holly.« »Es gefällt mir hier. Ich könnte nicht mehr zurückgehen.« Lake freute sich für sie. Sie schien glücklich zu sein. Sie trug ihr Haar kürzer als zu Sommeranfang, und sie war braungebrannt. Die goldene Halskette stand ihr ausgezeichnet. »Bist du am Meer gewesen?« frag te er. 215
»Fast jedes Wochenende. An diesem Wochenende ist mir allerdings zu viel Verkehr. Und du?« »Ich war im Juli in Nantucket.« »Soll schön sein dort.« »Ist es auch.« »Und was hast du gemacht?« fragte sie. »Meistens rumgehangen. Ich sollte mich vielleicht mehr bewegen.« »Du solltest Mitglied in meinem Fitneßclub werden.« »Mhm.« »Er heißt Skyvane und ist in der Germantown Avenue«, sagte sie. »Da gibt es wirklich alles, und es ist nicht teuer.« »Mal sehen«, sagte er. »Schau dir die beiden an«, sagte sie und zeigte auf Randall und Chloe, die sich nun gegenseitig die Schnauzen leckten. Lake mußte lächeln, als er es sah. »Vielleicht wollte ich ihn für das falsche Video besetzen«, sagte er. »Die sind ja süß«, begeisterte sich Holly. »Randall tendiert dazu, sein Glück herauszufordern.« »Wohnst du hier in der Nähe?« fragte sie. »Eine Viertelstunde zu Fuß.« »Tina und ich wohnen dort drüben.« Sie zeigte auf ein Gebäude auf der anderen Parkseite. »Wir wohnen ebenerdig.« »Da ist der Park ja geradezu ideal für euch.« »Ja, aber du solltest wirklich öfter herkommen. Die Leute hier sind wirklich super.« »Ja, vielleicht hast du recht.« »Ich werde heut nachmittag wieder hier sein«, sagte sie. »Dann wird's allerdings ziemlich laut, weil alle hier Picknick machen und Fußball spielen, aber drüben am Waldrand kann man schön in der Sonne lie gen. Das mach ich immer. Ideal, wenn man braun werden will.« »Ich muß heute nachmittag zu einer Poolparty«, sagte er. Er rief Ran dall. »Na dann, viel Spaß«, sagte Holly. »Dir auch.« 216
Anstatt zur Party zu gehen, nahm er sich vor, die liegen gebliebe nen Fachzeitschriften zu lesen. Charlottes Einladung war unverbind lich gewesen – »ein Sommerabschlußfest«, hatte sie es genannt: »Halb Amerika ist im Urlaub.« Er saß im Garten und arbeitete sich durch eine Reihe von Artikeln, aber seine Gedanken schweiften immer wie der ab. Er war verschwitzt. Die Fahrt zu Charlotte würde sich schon allein für ein kurzes Bad im Pool lohnen. Abgesehen davon würde die Zeit schneller vergehen. Er griff sich ein Jackett und eine Badehose und fuhr zur Sibley's Farm hinaus. Als er in die lange, baumbestandene Zufahrt bog, verstand er wie so oft nicht, daß es Charlotte hierher verschlagen hatte. Welcher Zufall hatte sie auf dieses Anwesen gebracht, in dieses riesige, verschachtelte Gebäude, die Felder und Holzzäune, dazu angetan, die Nachbarn auf Distanz zu halten; mitten aufs Land mit einem Ehemann, der zwan zig Jahre älter war als sie, berühmt für seine Grobschlächtigkeit und seinen Hang zum anderen Geschlecht. Sie liebte Geld, aber es mußte mehr gewesen sein, etwas, das Lake nicht ganz kapierte. Einmal hat te sie zu ihm gesagt: »Ihm ist völlig egal, was ich denke.« Vielleicht war das Teil der Anziehungskraft. Mehr als ein Dutzend Autos parkten entlang der Auffahrt. Als er aus stieg, wehte das Kreischen einer weiblichen Stimme zu ihm herüber. Er ging den Geräuschen nach bis zum Pool. Die Party war in vollem Gange – die Gäste aßen an Tischen, standen mit ihren Drinks am Rand des Pools, räkelten sich auf Liegestühlen, ein paar von ihnen planschten im Wasser, alle plauderten und amüsierten sich. Und in das Geplapper mischten sich brasilianische Klänge. Ein dickbäuchiger Mann hüpfte vom Sprungbrett und klatschte, Wanst voraus, auf die Wasseroberfläche, daß das Wasser nur so spritzte. »Fünf Komma neun«, schrie einer. Ein anderer, der in La kes Nähe stand, murmelte: »Zwei Komma eins, du Fettsack.« Er entdeckte Charlotte. Über ihrem Badeanzug trug sie eine hauch dünne offene Robe; silbrig glänzend, mit Schuppenmuster. Sie hielt ein leeres Champagnerglas in der Hand und unterhielt sich mit ein paar weiblichen Gästen, die Lake nicht kannte; nur wenige Gesichter waren ihm vertraut. 217
Mehrere Zettel lagen auf dem breiten Beckenrand verstreut; sei ne Angelscheine, benutzt und weggeworfen. Ein Paar Fischerstiefel – die Strafe für erfolgloses Werfen – stand neben dem Sprungbrett. Die Schwimmreifen trieben noch immer im Pool. Er beobachtete die Szene. Auf dem Rasen in der Nähe des seichten Pools stand eine Bar, bewacht von einem Barkeeper mit ausdrucksloser Miene und Sonnenbrille; ein orangefarbenes Fischernetz lag als Tisch tuch über der Bartheke, und ein Paar gekreuzter Ruderblätter sorg te für den nötigen maritimen Touch. Eine Frau in gestärktem, blauem Kleid stand hinter einem langen Buffet mit den Überresten eines rie sigen Lachses. Charlotte hatte hart an ihrem Thema gearbeitet. Zwei kurze Hochseeangelruten mit glitzernden Messingrollen steckten wie Fahnenstangen an jeder Seite des Buffets; große, graue, aufblasbare Fische – Kinderspielzeug – hingen von den Spitzen der Angelruten. Aufblasbare Schildkröten, an den Schwänzen mit Angelleine aneinan dergebunden, bildeten einen dekorativen Bogen über dem Tisch. Am Pool war eine Art Anschlagbrett, auf dem ›FISHING CAMP‹ stand. Eine von Franks ausgestopften Trophäen, ein großer, schimmernder Marlin, war darunter angebracht worden, sozusagen als Beweis für die Richtigkeit der Aussage. Am Weg zum Haus hatte Charlotte ihr gelungenstes Dekorations stück ausgestellt: eine männliche Schaufensterpuppe, die in einem kleinen Aluminiumboot mit flachem Bug saß. Die Schaufensterpup pe trug sämtliche Insignien eines richtigen Fischers – Stiefel, schwere Khakihosen, ein Flanellhemd und eine Weste mit unzähligen Taschen sowie einen Stoffhut, übersät mit Blinkern und künstlichen Fliegen. In der rechten Hand hielt die Schaufensterpuppe eine Angelrute zum Lachsfischen. Lake sah sich diese Komposition aus der Nähe an. Im Heck lag eine offene Box mit Angelzubehör. Unter den diversen Kö dern lag auf der obersten Etage eine Packung Kondome. Zu Füßen der Schaufensterpuppe waren Plastikfische und eine leere Flasche Whis key arrangiert. Ein Stück Papier prangte am Hut der Puppe: »Frank«. Eine Frau kreischte, fiel rückwärts in den Pool, und ein Mann sprang hinterher. Ein Pärchen tanzte neben dem Badehaus. Lake zog sein Jak 218
kett aus und ging zu Charlotte hinüber. »Eine Forelle, wie ich anneh men darf«, sagte er. Sie wandte sich von den Damen ab, mit denen sie gerade gesprochen hatte, schlang die Arme um seinen Hals und drückte ihre Wange an sein Gesicht. »Ich bin der Fang des Tages«, sagte sie. »Komm, zieh dei ne Klamotten aus. Du gehst jetzt mit mir fischen.« »Wo ist Frank?« fragte er. »Wo ist Frank immer?« »Kein Frank?« »Frank ist beim Angeln. Frank ist selbstverständlich in Kanada. Oder war es Alaska? Hoffentlich fressen ihn die Mücken auf. Aber was er kann, können wir schon lange. Wir können unsere eigene Fischer party feiern. Das ist eine so genannte Konkurrenzveranstaltung.« »Das sehe ich.« »Gefällt es dir?« fragte sie und deutete auf das Boot und die Schau fensterpuppe. »Sie ist Frank wie aus dem Gesicht geschnitten«, sagte er. »O nein, wo denkst du hin! Frank sieht wirklich nicht so gut aus. Was meinst du? Soll ich ein Foto davon machen und es ihm zeigen?« »Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist.« »Kann sein, obwohl ich gute Lust dazu hätte.« »Wo hast du all diese Gummifische bloß aufgetrieben?« fragte Lake, weil ihm nichts anderes einfiel. »Ich hab 'nen Laden aufgekauft«, sagte sie. »Zieh deine Badehose an. Du siehst aus, als ob du gleich schmilzt.« »Ja, gleich. Wie ist dein Angelspiel gelaufen?« »Oh, das war sehr lustig. Sally Emmett hat die Stiefel fast die ganze Zeit tragen müssen, weil alle anderen ziemlich gut geworfen haben. Du kannst dir sicher vorstellen, wie begeistert sie war. Ein paar Leute ha ben pro Runde zwei- oder dreimal ins Ziel geworfen. Leider haben wir uns nicht einigen können, ob man nach den Regeln einen Drink pro Runde oder einen für jeden Treffer bekommt. Also habe ich entschei den müssen.« »Und wie hast du entschieden?« 219
»Ein Drink pro Runde.« »Kluges Kind.« »Aber diese Verrückten haben die Angelruten zerbrochen. Sie haben ein paar von den aufblasbaren Fischen an die Leinen gebunden und auf die Fische gezielt. Die haben die ganzen Angeln ruiniert, die Blöd männer. Was das für einen Sinn hatte, weiß ich nicht. Sogar mir ist be kannt, daß man nicht mit Fischen wirft.« »Die Regeln waren nicht eindeutig genug«, sagte er. »Ich hätte wis sen müssen, daß den Leuten einfallen könnte, auf Fische zu werfen. Ich hätte eine weitere Strafe einbauen müssen.« »Aber es hat riesig Spaß gemacht«, sagte Charlotte, »und jetzt holst du dir einen Drink und etwas zu essen und ziehst deine Badehose an. Der Tag ist noch jung. Ich glaube, wir werden zum Nachtfischen ge hen.« »Ich wollte eigentlich nur auf einen Sprung in den Pool vorbeikom men und ein paar Leute festnehmen«, sagte er. »Als Hüter von Recht und Ordnung.« Der ballonbäuchige Johnnie platschte in den Pool. Charlotte hüpfte zurück. »Arschloch«, sagte sie. »Vielleicht meint er, er fischt mit Dynamit«, sagte Lake. Charlotte zog ihre Forellenrobe aus und untersuchte, wo er sie ange spritzt hatte. Lake ging zum Badehaus, um sich umzuziehen. Am Bek kenrand blieb er kurz stehen. Am Grund des Pools lagen die beiden Angelruten vom Angelscheinspiel; die aufblasbaren Fische hingen im mer noch an der Leine. Beide Angelruten waren im oberen Drittel ge brochen; nicht mehr zu reparieren. Es waren Fliegenruten aus gesplit tetem Bambus – empfindlich, alt, schön, zweifellos ein paar tausend Dollar wert. Aber es war passiert, und vermutlich würde noch mehr passieren, bevor dieser spezielle Angelausflug zu Ende war. Er würde schnell in den Pool springen und sich dann verkrümeln.
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A
ls er am Dienstagabend in der Bibliothek saß und zuschaute, wie das Tageslicht verblasste, verblassten auch die unbedeutenden Ge danken und hinterließen eine einzige, übermächtige Tatsache: Sie ist wieder zurück. Sie ist hier. Irgendwo. Immer wieder hatte er ihre Post karte gelesen und wußte, daß es nur eine Schlussfolgerung gab: Es wird nichts daraus; er hatte zugelassen, daß sich seine Gefühle vertieften, er hatte jeden Bezug zur Realität verloren; er hatte sich alles nur eingebil det. Sie war wieder da, ein paar Kilometer getrennt von ihm, mit Men schen zusammen, aber nicht mit ihm. Oder vielleicht war sie auch al lein, jedenfalls nicht mit ihm. Am liebsten würde ich für immer hier bleiben, aber vermutlich bin ich früher zu Hause als diese Karte. Außerdem ist es im Winter lau sig kalt, und die Blätter verfärben sich allmählich. J. Robs Theaterstück über den Astronauten und den Computer fiel ihm ein. Wenn alles in der Zukunftsform bleibt, kann einen nichts berüh ren; das war die Essenz von Robs Idee. Man könnte sich Sorgen ma chen, man könnte einen Grund haben, depressiv zu sein, aber man würde keine Wunden lecken und würde nie enttäuscht werden. Er te stete das Konzept, indem er in Gedanken einen Kurzfilm aus der Zu kunft ablaufen ließ: Lake wird in ein Stadthaus umziehen. Seine Woh nung wird im Dachgeschoß und die Büros von InstruX werden in den unteren Etagen liegen; Bill wird sich entschließen mitzumachen und Lake dadurch Gelegenheit geben, ausgiebig Urlaub in der Karibik und in Europa zu machen, wo er die Frau kennenlernen wird, die er hei raten wird, eine ehemalige Skirennläuferin aus Belgien, Olympiateil 221
nehmerin, mit einem bezaubernden Akzent. Jennifer wird nach Kali fornien ziehen, ihren Bob heiraten und sich in der Immobilienbranche eine goldene Nase verdienen; sie wird zwei Kinder haben, Bob und Jen nifer; viele Jahre später werden sich Jennifer und Lake zufällig in Los Angeles treffen; sie wird sagen: »Ich kenne Sie doch von irgendwoher«; er wird sagen: »Ja, das stimmt«; sie wird sagen: »Ihr Gesicht kommt mir so bekannt vor, aber ich weiß nicht, wo ich es hintun soll«; er wird sagen: »Philadelphia, im Sommer, vor vielen Jahren. Sie wollten mein Haus verkaufen«; »Ach ja, jetzt erinnere ich mich. Blake, richtig? Was für eine nette Überraschung! Nett, dich mal wieder zu sehen, Blake. Übrigens bin ich sehr glücklich verheiratet.« Es tat überhaupt nicht weh. Man mußte nur in der Zukunft bleiben, denn in der Gegenwart war nichts davon passiert, schon gar nicht die unangenehmen Sachen. Aber er wußte, daß er sie anrufen würde. Um seine Nerven zu stär ken, pilgerte er in das Wohnzimmer und stellte sich vor das Porträt von Onkel Paul. Rückwirkend keimte Verachtung in ihm auf. Er ging ans Telefon. Beim ersten Versuch hörte er das Besetztzeichen, auch beim zweiten. Als er schließlich durchkam, war jemand am Apparat, der nach Mike klang. Im Hintergrund sprachen mehrere Leute. Er fragte: »Ist Jenni fer da?« »Jennifer! Jennifer!« rief Mike. »Telefon für dich. Nein. Richtig. Okay. Jemand will dich sprechen.« Nach einer Weile kam Jennifer ans Telefon. »Hallo?« meldete sie sich. »Hallo, ich bin's, Lake.« »Oh, hallo, Lake«, sagte sie fröhlich. »Bist du gerade zurückgekommen? Störe ich gerade?« »Ich bin heute Nachmittag zurückgekommen«, sagte sie. »Am Flug hafen war der Teufel los. Einer meiner Koffer ist nicht mitgekom men.« »Na ja, vermutlich bringen sie ihn dir heut Abend nach.« »Bestimmt«, sagte sie. 222
»Nach Hause zu kommen muß ja ein richtiger Klimaschock für dich gewesen sein, oder?« »Irgendwie bin ich ein bißchen orientierungslos.« »Hattest du 'nen schönen Urlaub?« »Ja, wunderschön. Aber ich bin von dem vielen Regen ganz durch weicht. Wie geht's dir?« »Ausgezeichnet. Wunderbar. Sehr beschäftigt. Hab nur gearbeitet.« »Ich mag gar nicht an die Arbeit morgen denken.« »Feiert ihr gerade etwas?« »'ne kleine Wiedersehensfeier. Maggie und Terry sind auch gerade erst eingetrudelt.« »Es geht doch nichts über ein Essen am heimischen Herd.« »Bruce kocht. Er macht Pasta Primavera.« »Hoffentlich mit Salat«, sagte Lake. »Kein Salat. Der ist in der Pasta.« Lake dachte daran, Lebensregeln aufzustellen: Regel Nr. 1: Traue dir niemals selbst. Folgerung aus Regel Nr. 1: Schenke vor allem deinen Empfindungen kein Vertrauen. Nichts ist so, wie es scheint. »Hast du meine Karten bekommen?« erkundigte sie sich. »Ja. Die Adirondacks sehen wie richtige Wildnis aus.« »Ich habe ein paar Fotos gemacht«, sagte sie, »obwohl du sie be stimmt schlecht finden wirst.« »Ich würde sie mir gern mal ansehen«, sagte er. »Eigentlich möchte ich aber dich gern sehen.« Er hörte, wie jemand im Hintergrund etwas rief. Dann schrie jemand eine Antwort. Er überlegte, ob es angebracht sein könnte, die Unterhaltung in Zukunftsform zu führen. Ich werde dich bitten, mich zu treffen, wenn du es auch wollen wirst; ja, wir wer den zusammen zum Abendessen gehen, falls du damit einverstanden sein wirst. Aber er sagte: »Hast du Lust, morgen Abend mit mir zum Abendessen zu gehen?« »Sehr gern.« »Dann hole ich dich um acht ab, wenn's dir recht ist.« »Sehr recht sogar.« 223
Als er sie sah, durchrieselte ihn Frieden – allein ihre physische Anwe senheit löste auf wunderbare Weise jede Anspannung. »Du bist ja richtig braungebrannt«, stellte sie fest. Er dachte: Du bist das Gesicht, das ich seit drei Wochen gesehen habe. Du bist die Stimme, die ich gehört habe. »Letztes Wochenende war ich häufig in der Sonne.« »Und ich bin im Regen blass geblieben«, sagte sie. »Stimmt gar nicht.« »Schau, was für Muskeln ich vom Rudern gekriegt habe«, sagte sie und spannte ihren Bizeps. »Wow!« Als sie zum Auto gingen, sagte er: »Du hast mir gefehlt.« »Du mir auch.« Bevor er den Motor anließ, beugte er sich zu ihr hinüber und küsste sie wortlos, weil er nicht anders konnte und weil sie sich freute, ihn zu sehen. Als sie im Restaurant saßen, vertiefte sich der Frieden, und bald schon hatten sie wieder dorthin zurückgefunden, wo sie vorher schon gewesen waren – sie unterhielten sich, ohne zu denken, eingehüllt in einen gemeinsamen Kokon. Er erzählte ihr von der Arbeit und von Rob, dem neuen Mitarbeiter, der mühelos jede Unklarheit beseitigte. »Eigentlich sollte ich sein Mit arbeiter sein und nicht umgekehrt«, sagte Lake. »Obwohl er erst seit einem Monat bei uns ist, habe ich größte Angst davor, ihn zu verlie ren.« »Befürchtest du denn, daß er nicht bleiben könnte?« »Er ist ein Künstler.« »Alle anderen sind geblieben«, sagte sie. »Du hast mir erzählt, daß alle quasi von Anfang an dabei sind. Vielleicht verläßt man deine Fir ma einfach nicht.« »Hoffentlich«, sagte er. »Und du? Denkst du auch so ähnlich über deine Firma? Könntest du dir vorstellen, in zehn Jahren noch dort zu arbeiten?« »Keine Ahnung. Manchmal glaube ich, daß ich eine Veränderung bräuchte.« 224
»Zehn Jahre sind eine lange Zeit«, sagte Lake. Dann kehrte sich der Gedanke um. »Ich habe dich vor zehn Jahren kennen gelernt.« »Elf.« »Ganz schön lang her«, meinte er. »Ganz schön lang her«, meinte sie. »Ist schon merkwürdig.« Sie sah ihn mit einem Gesichtsausdruck an, den er nicht deuten konnte. »Ich habe dich damals richtig niedlich gefunden«, sagte sie. »Wie bitte?« »Mit dreizehn.« »Niedlich?« »Ja, schon.« »Und wie findest du mich jetzt?« Aber sie war mit ihren Gedanken woanders. Nach einer Weile sagte sie: »Du bist anders als damals.« »Gott sei Dank! Ich möchte nicht unbedingt für niedlich gehalten werden.« »Auch anders als vor ein paar Monaten.« Darauf wußte er keine Antwort. Als er sie vor ihrer Tür absetzen wollte, sagte sie: »Im Fernsehen läuft heute ein guter Film. Hast du Lust?« »Klar.« Sie holte aus der Küche Kartoffelchips und machte es sich neben ihm auf dem Sofa bequem. Er legte einen Arm um sie. Von oben waren Schritte zu hören. »Wer ist das?« fragte er. »Maggie.« Sie sahen sich die zweite Hälfte des Films an. Als der Film fast zu Ende war, kam Mike nach Hause, winkte ihnen zu und ging nach oben. Dann setzten Violinklänge ein, die Kamera fuhr zurück, bis der Held nur noch ein Fliegenschiss auf dem Bildschirm war, aber bis zur letzten Einstellung ein Gentleman. Lake sagte: »Ich muß gehen.« Sie nickte. An der Haustür gab er ihr einen zarten Kuss. »Gute Nacht«, sagte sie. 225
Ein weiterer Abend: Abendessen; sie unterhielten sich über ihre Kusine Jackie, unterhielten sich über Karen, unterhielten sich über nichts, hat ten das Gefühl, zu zweit auf einem Floß zu schwimmen. Dann ein wei terer Abend: Abendessen, Kino. Zehn Minuten einer Geschichte über einen mordlustigen Teenager und seine hirngeschädigte Mutter, dann flüsterte er: »Schrecklicher Film.« »Finde ich auch.« »Gehen wir?« »Ja.« Vor dem Kino sagte er: »Wir könnten zu mir gehen.« »Gut.« »Wenn es dir lieber ist, könnten wir auch zu dir gehen. Oder in einen Jazzkeller, in dem ich schon mal war. Zu dir ist es am näch sten.« »Gehen wir zu dir.« An der Haustür begrüßte sie Randall. »Siehst du, er erinnert sich noch an dich«, sagte Lake. »Eigentlich erinnert er sich an fast alles. Aber nur, wenn er will. Wenn ich ihm sage, daß er nicht aufs Bett darf, erinnert er sich bestimmt nicht dran.« Lake führte sie in das Wohnzimmer und schaltete dann überall die Lampen ein. Er schaltete das Licht über dem Porträt von Onkel Paul ein. Dann ging er ins Esszimmer und schaltete dort die Beleuchtung ein. »Entschuldige bitte. Hier ist es überall so dunkel«, sagte er. »Ich benutze diese Räume eigentlich nie.« »Wo hältst du dich am liebsten auf?« »Der Dachboden ist schön.« »Ich meine hier unten.« »In der Bibliothek und der Küche. Die anderen Zimmer benutze ich nie.« »Sind sie dir zu unpersönlich?« »Keine Ahnung. Ich fühl mich einfach noch nicht wohl darin.« »Dann schalt das Licht doch wieder aus«, sagte sie. »Aber dann spüre ich die große Leere.« »Dann schließ die Türen. Oder schließ die Tür zum Wohnzimmer. 226
Wenn du in die Küche willst, mußt du durch das Esszimmer und das Anrichtezimmer. Aber du gehst ja nur durch.« »Die Tür schließen?« fragte er verdattert. »Bis du das Gefühl hast, du möchtest sie wieder aufmachen.« »Und du würdest das tun?« »Du tust ja nichts anderes, als das Licht ausschalten und die Türen schließen«, sagte sie. »Du reißt ja keine Wände ein, obwohl du das na türlich auch machen könntest.« »Die Dinge müssen sich entwickeln, hast du einmal gesagt.« »Richtig.« »Geduld«, sagte er. »Es ist schwer, ein Haus vom ersten Augenblick an zu begreifen. Manchmal ist es falsch, sofort aktiv zu werden.« Er ging in die Eingangshalle zurück. Zögernd zog er probeweise die Wohnzimmertür zu. Das Schloß rastete mit lautem Klicken ein. Der Raum war weg. »Und wie fühlst du dich jetzt?« fragte sie. »Nicht schlecht. Sogar recht gut.« »Na siehst du.« Er machte die Tür wieder auf, schaltete die Lampe im Wohnzimmer aus und machte die Tür wieder zu. »Möchtest du etwas essen oder trinken?« fragte er. »Nein, vielen Dank.« Er schloß die Tür zum Wohnzimmer. »Jetzt bleibt noch die Biblio thek«, sagte er. »Wir nähern uns allmählich dem Minimum.« »Und was hältst du von der Bibliothek?« fragte sie. »Sehr viel.« Er führte sie hinein. »Der da gehört Randall«, sagte er und deutete auf einen Stuhl. Wie auf Befehl tappte Randall herein, hopste auf den Lederstuhl und rollte sich zu einer Kugel zusammen. »Möchtest du fernsehen?« fragte er. »Ich weiß aber nicht, was läuft.« »Was machst du normalerweise, wenn du hier bist?« »Musik hören, wenn ich nicht gerade lese oder arbeite.« »Dann würde ich gern Musik hören«, sagte sie. Lake wählte ein Klavierkonzert von Mozart, gerade so laut, daß sie 227
sich noch ungestört unterhalten konnten. Sie kuschelte sich an ihn. »Erzähl mir, wie es ist, Kanu zu fahren«, bat er. »Es ist einfach schön.« »Und jetzt erzähl mir bitte, was für ein Gefühl es ist, wenn das Pad del ins Wasser taucht.« »Es ist einfach schön.« »Und jetzt erzähl mir doch bitte, was das Kanu für ein Geräusch macht, wenn es durch das Wasser pflügt.« »Ein schönes Geräusch.« Er küsste ihr Haar, ließ sich ins Kissen sinken, und die Gedanken an das Kanu vermischten sich mit Mozart. Mitten im zweiten Satz schlief sie ein, ihr Kopf lag an seiner Schul ter, und ihre Lippen hatte sie leicht geöffnet. Er verhielt sich ganz ru hig, Zufriedenheit umgab ihn – alles außer ihm schlief. Die Gegenwart war nicht weglos: Der Weg schlief an seiner Schulter. Nach einer Weile bewegte sie sich. »Schläfst du?« fragte er sie. »Nein.« Sie kuschelte sich an ihn. Das Verlangen überrollte ihn wie eine Lawine. Sie lag in seinen Ar men, hielt sich an ihm fest; er verlor sich im Geschmack ihrer Haut, dem Geräusch ihres Atems, konnte nicht genug von ihr bekommen, be gehrte sie unendlich. Er konnte kaum sprechen, flüsterte nur: »Komm mit nach oben.« Auf der Treppe blieben sie stehen, tauschten Küsse, die nicht warten konnten, standen benommen voreinander und fühl ten, wie das Universum um sie herum rauschte. Sie setzten sich aufs Bett. Sie sanken in eine unvorstellbare Tiefe, hielten einander fest, ließen sich davontragen, vereinigten sich zu einer Reise, schöner als alles, wovon er die ganze Zeit in seiner Sehnsucht ge träumt hatte.
Die Tage eines neuen Lebens verstrichen, alles veränderte sich: die Luft, die Erde, auch er selbst. Die Hitze war abgeklungen, der Himmel hat te sich in ein reines Blau verwandelt, und einmal beobachtete er eine 228
schwankende Formation von Gänsen, die über ihn hinweg schaukel te. Dann wieder segelte eine Armada von Kumuluswolken vorüber – unerschütterliche, silbrigweiße Haufen, die auf einem nicht spürba ren Wind dahinritten. Die Blätter der Hartriegelbäume verfärbten sich wie reifende Äpfel. Einzelne Ahornblätter vergilbten an den Astspit zen, einige davon tanzten zu Boden. Eicheln und Bucheckern fielen von den Bäumen. Er kaufte einen Rechen. Das Gras war so üppig und so grün, daß er es sauber halten wollte. Das Zirpen der Grillen verebbte, und die Vögel unterhielten sich sel tener, die Blumen welkten, aber er genoß diesen Niedergang als Ein tritt in eine Ruhepause, lauschte den Veränderungen wie einer Musik. »Was ist los mit dir, Lake?« fragte Mary eines Tages. »Den ganzen Morgen schon grinst du wie ein Honigkuchenpferd.« »Ach, ich träume nur.« Sie nickte. Ein paar Minuten später hörte er ein Hüsteln und schaute zu ihr hinüber. Er wußte schon, daß es wieder ein Lake-Schild gab. Sie hatte die Hände gefaltet und ihre Augen in Verzückung gen Himmel erhoben. Auf dem Schild vor ihr standen keine Worte, sondern nur:
Sie entspannte sich, lächelte ihn liebevoll an und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Es ist dir aufgefallen, Mary, wollte er sagen. Du hast recht. Mit jedem Tag vertieften sich seine Gefühle, wuchsen unter dem Eindruck der winzigsten Begebenheiten. An einem Sonntag kam sie zu ihm nach Hause, bevor er ins Büro ging, und sie bereiteten gemein sam einen Brunch vor. Er verquirlte Milch, Eier und Mehl miteinander und versprach perfekt zubereitete Pfannkuchen. »Perfekte Pfannkuchen gibt es nicht«, sagte sie. »Schau her«, sagte er. »Wie groß möchtest du deinen Pfannku chen?« »Mittel.« Lake goss Teig in die Pfanne. 229
»Zu klein«, sagte sie. Lake goss noch eine kleine Menge dazu. Sie betrachtete den Pfann kuchen mit prüfendem Blick. »Noch immer zu klein«, stellte sie fest. Er schüttete noch etwas Teig in die Pfanne. »Er ist nicht rund«, sagte sie. »Er muß perfekt rund sein.« Er wendete den Kuchen mit einem Pfannenheber. »Ein bißchen dicker sollte er sein«, sagte sie. »Außerdem muß er an beiden Seiten die genau gleiche Farbe haben.« »Man kann ihn essen, oder wie siehst du das?« »Ja.« »Essbarkeit ist der Maßstab«, sagte Lake. »Das hier ist ein perfekter Pfannkuchen.« Dann machte sie einen Pfannkuchen, der einem vierblättrigen Klee blatt ähnelte. »Das hier ist ein Glückspfannkuchen«, sagte sie, und er wußte, daß sie ihn und sich damit meinte. Manchmal, wenn er und Jennifer miteinander schliefen, hatte er das Gefühl, in Lust zu ertrinken. Einmal sagte sie: »Lake ist ein komischer Name. Hört sich wie ›lecken‹ an« und leckte sein Ohr, seine Wange, seinen Hals und trieb ihn damit fast zum Wahnsinn. Manchmal drif teten sie unendlich sanft auf ihr Ziel zu. Manchmal lagen sie nur ne beneinander und unterhielten sich leise. Er wollte ihr nicht sagen, wie viel sie ihm bedeutete – noch nicht. In dieser Hinsicht waren sie beide schüchtern. Aber das würde noch kommen. Dann war es Zeit für Jennifer, nach Hause zu gehen. Er wünsch te sich, daß sie bliebe, damit er mit ihr gemeinsam das Zwitschern der Vögel beim Aufwachen erleben konnte, aber sie sagte immer: »Ich muß nach Hause.« Die Fahrt von Chestnut Hill nach Merion – acht zehn Kilometer und zwanzig Minuten quer durch die Stadt – machte ihm nichts aus. Die Fahrt nach Hause war es, die ihm schwer fiel. Er fragte sich, wann er zu ihr würde sagen können: »Ich bringe dich mor gen früh nach Hause«, oder »ich würde gerne mit dir hier zusammen wohnen«. Es war nur ein kleiner Schatten, so wie es auch ein kleiner Schat ten war, daß sie an den Wochenenden arbeiten mußte. An solchen Ta 230
gen ging er wieder in den Park. An einem Sonntag entdeckte er Holly, die in der Nähe der Bäume auf einem Badetuch saß und Zeitung las. Chloe saß neben ihr. Holly trug ein weißes Herrenhemd und ein Biki nihöschen. Als sie ihm zuwinkte, ging er zu ihr. »Na, was gibt's Inter essantes auf der Welt?« fragte er und deutete auf die Zeitung. »Überhaupt nichts. Tina hat gesagt, daß du gestern mit Randall hier trainiert hast.« »Ach, das ist vergebene Liebesmüh. Er macht nur, was er will.« »Lass es mich mal versuchen«, sagte sie und sprang auf. Sie ging zu Randall, beugte sich zu ihm hinunter, schaute ihm in die Augen und sagte: »Sitz.« Auf der Stelle setzte sich Randall. Aufmerksam erwarte te er ihren nächsten Befehl. »Ich glaub's einfach nicht«, sagte Lake. »Du mußt ihm klarmachen, daß du meinst, was du sagst«, erklär te sie. »Verdammt noch mal, Randall, was für ein Hund bist du eigentlich?« schimpfte Lake. »Soll ich ihn für dich trainieren?« fragte Holly. »Nun ja, er und ich haben uns auf eine ganz besondere Art von Be ziehung geeinigt«, erklärte Lake. »Alles geschieht auf absolut freiwilli ger Basis. Das möchte ich eigentlich nicht ändern. Und außerdem hab ich noch 'nen Trumpf in der Hand. Für Essbares macht er alles. Inso weit steht er voll unter meiner Fuchtel.« »Soll ich mit ihm Frisbee spielen?« »Wenn du willst.« Er beobachtete sie. Ihre Technik war ausgefeilt. Zum Schluß kraul te sie ihn am ganzen Körper. Er aalte sich geradezu in ihren Gunstbe zeugungen, streckte den Hals, damit sie nur ja nicht die bevorzugten Stellen unter dem Kinn oder um die Ohren herum vergaß. »Das gefällt dir, Kleiner, was?« sagte sie. »Ja, das magst du, das gefällt dir. Uns Men schen gefällt das auch, Randall.« Sie hob das Frisbee auf und gab es Lake zurück. Als sie zu ihrer Zei tung zurückging, streifte sie seinen Arm. »Willst du auch ein Stück von der Zeitung?« fragte sie. 231
»Ich muß gleich weg«, sagte er. Er überlegte, ob er so nebenbei Jen nifer erwähnen sollte, tat es aber dann doch nicht. Die Natur verfügte vermutlich über zartfühlendere Methoden, derartige Komplikationen aus dem Weg zu räumen. »Tschüs, Randall«, sagte Holly. »Chloe, komm, sag auch tschüs.«
Dann senkte sich ein weiterer Schatten über ihn. »Lake, dein Vater«, sagte Mary eines Morgens. Lake nahm den Hörer ab: »Hallo, Dad.« »Einen Moment bitte«, sagte eine Sekretärin. Nach einer Weile kam sein Vater an den Apparat: »Hallo, Lake. Geht's dir gut?« »Ja.« »Gut. Hör zu. Ich mach dir einen Vorschlag. Ich werde zum Har vard-Penn-Match gehen und würde dich bei dieser Gelegenheit gern treffen. Es ist der zweite Sonntag im Oktober, der neunte.« »Ich bin zu Hause.« »Ich komme mit Philippa. Kennst du Philippa schon?« »Nein.« »Sie und ich sind seit einiger Zeit zusammen. Na ja, du hast ja von meinem jetzigen Leben recht wenig mitbekommen. Das ist übrigens ei ner der Gründe, weshalb ich dich sehen möchte. Sie ist schon gespannt darauf, dich kennenzulernen. Familie und so 'n Kram, weißt du.« »Ich würde sie auch gern kennenlernen. Und ich möchte dir auch je manden vorstellen.« »Sie hat einen elfjährigen Sohn. Richie. Er ist auch ein Grund, wa rum ich komme. Philippa möchte ihn für Football interessieren. Sie macht sich Sorgen um ihn, und deswegen möchten wir ihn ein biß chen Stadionluft schnuppern lassen.« »Hört sich gut an.« »Manchmal muß man sich einfach aufraffen«, sagte er. »Wie sie die Footballtermine rausgekriegt hat, ist mir schleierhaft. Wie du siehst, 232
ist sie eine einfallsreiche Frau. Wir könnten uns nach dem Spiel im Racquet Club treffen. Um halb fünf vielleicht. Genau das Richtige, um sich ein paar Minuten zu unterhalten.« »Ich bin kein Clubmitglied.« »Dann solltest du zusehen, daß du eins wirst. Ist sehr nützlich. Macht aber nichts, ich darf einen Gast empfangen.« »Was hältst du denn davon«, sagte Lake spontan, »nach dem Spiel zu mir zu fahren? Hier ist es nicht ganz so förmlich. Und es gibt jeman den, den ich dir auch vorstellen möchte.« »Sprichst du von Tante Ilsas Haus?« »Ja, da redet es sich leichter.« Einen Augenblick lang herrschte Schweigen am anderen Ende, dann sagte er: »Ja, vielleicht wäre das eine Möglichkeit, aber wir können nicht lange bleiben. Wer ist dieser Jemand?« »Jennifer Dee.« »Von früher kenne ich ein paar Dees. Ich hoffe, du denkst nicht dar an, etwas Unüberlegtes zu tun.« »Ich möchte, daß du sie kennen lernst.« »Weil wir gerade davon sprechen«, sagte sein Vater. »Ich möchte dir etwas anvertrauen, damit du weißt, wie der Hase läuft, wie man so schön sagt. Philippa und ich sind vielleicht nicht ganz so … also nicht ganz so eng verbunden, wie sie vielleicht denkt. Sie hat gewisse Vor stellungen, aber in letzter Zeit ist einiges nicht so gut gelaufen.« »Ich verstehe.« »Aber sie hat ihre guten Seiten. Also gut, treffen wir uns bei Ilsa. Gib mir die Adresse.« »Peal Avenue Nummer dreiundsiebzig.« »Karen hat mir erzählt, daß du das Haus so lange behalten mußt, bis der Hund stirbt.« »Richtig.« »Außergewöhnlich. Aber durchaus typisch für Ilsa. Es hat ihr immer schon gefallen, die Leute an die Leine zu legen.« »Ich glaube nicht, daß sie das wirklich so gesehen hat.« »Na gut, so bekommt Philippa wenigstens einen Einblick in die Fa 233
milie. Wenn es ihr denn so wichtig ist. Gut, also am neunten Oktober dann, irgendwann vor fünf.« »Tschüs, Dad.« Nachdem er aufgelegt hatte, regten sich Zweifel in ihm: sein Vater, das Haus, Familie – Familienbruchstücke wie driftende Kontinente, zernarbt von vergangenen Kollisionen und Trennungen. Ob er anru fen und ihm vorschlagen sollte, sich doch lieber im Racquet Club zu treffen? Aber vielleicht würde mit Jennifer die Gleichung aufgehen, und die Bruchstücke würden sich zu einem neuen Muster zusammen fügen. Das Datum erinnerte ihn an etwas. Dann fiel es ihm ein. Er erreichte Jennifer im Büro. »Gerade hat mich mein Vater ange rufen«, sagte er. »Er kommt am neunten Oktober mit einer Freundin und ihrem Sohn zu einem Footballmatch herunter und will nach dem Spiel kurz bei mir vorbeischauen. Hättest du Lust, dazuzukommen? Ich möchte gern, daß du ihn kennen lernst.« »Das ist ein Samstag«, sagte sie. »Richtig.« »Samstag nachmittags ist es immer schlecht«, sagte sie. »Ich könnte frühestens um fünf kommen.« »Ausgezeichnet! Außerdem haben wir ohnehin am selben Abend um acht 'ne Verabredung zum Abendessen.« »Ach ja?« »Sag bloß nicht, du hast es vergessen«, sagte er. »Hast du deinen Ter minkalender mit dem roten Ledereinband bei der Hand?« »Ja.« »Dann schau mal nach, was am neunten Oktober steht.« Blätter raschelten. »Was ist das denn?« sagte sie überrascht. »Ach, jetzt weiß ich's wieder. Das war dein Scherz, als du aus Nantucket zu rückgekommen bist.« »Das war kein Scherz. Es ist ein ganz besonderer Tag. An diesem Tag wird Schluß damit sein, daß es mir vorübergehend leid tut. Danach werde ich nur noch ein reines Gewissen haben.« Er beschloß, nicht an den Besuch seines Vaters zu denken, aber er 234
fühlte die innerliche Anspannung. Er kaufte ein paar Spirituosen, Käse, Cracker, Pâté. Er rückte die Möbel im Wohnzimmer zurecht. Er ging nochmals in den Schnapsladen und kaufte Sherry. Vielleicht stand Philippa ja auf Sherry. Er machte einen Abstecher in den Super markt, holte Tee; vielleicht mochte sie ja Tee. Er kaufte Coca-Cola für Richie. Dann, nachdem er sich vorgestellt hatte, wie das arme Kind im Wohnzimmer bei den Erwachsenen saß, kaufte er ein neues Profi-Fris bee, mit dem Richie und Randall spielen konnten. Selbst Jennifer blieb von seiner seelischen Anspannung und seiner Zerstreutheit nicht verschont. Er sagte eine Verabredung ab, weil er länger arbeiten wollte; dann sagte sie eine ab. Es war noch nicht zu spät, das Treffen auf das neutrale Terrain des Racquet Clubs zu verlegen. Er erwog es gerade wieder einmal, als Char lotte ihn am Samstag anrief. »Lake«, sagte sie und hörte sich gestresst an. »Ich bin in der Stadt. Kann ich schnell vorbeikommen?« »Klar.« »Ich bin in einer Viertelstunde da.« Pünktlich zur angekündigten Zeit fuhr sie in ihrem Mercedes-Sport wagen vor. In ihrem strahlend gelben Leinenkostüm sah sie wie eine Löwin aus, geschmeidig und sprungbereit. Sie gab ihm einen Kuss und sagte: »Hallo, mein Liebster.« »Als ich dich das letzte Mal gesehen habe«, gab Lake zur Antwort, »warst du ein Fisch.« Ihre Gesichtszüge erstarrten. Er hatte es scherzhaft gemeint und setzte schnell hinzu: »Eine sehr schöne Forelle übrigens.« »Erinnere mich bloß nicht daran! Deshalb bin ich übrigens hier.« »Komm herein. Setzen wir uns in den Garten.« »Was ist das denn?« »Was ist was?« »Warum ist diese Tür zu?« »Ich halte mich nie im Wohnzimmer auf. Ich fühle mich dort nicht wohl. Vielleicht ändert sich das ja eines Tages.« »Eines Tages«, sagte sie, als wäre er ein albernes Kind. »Lake, du 235
Trottel! Das hier ist ein wunderschönes Haus. Du kannst die Türen nicht einfach zumachen.« »Warum nicht?« »Weil du es nicht kannst. Wie willst du dich jemals in einem Zimmer zu Hause fühlen, wenn du es nicht benutzt? Türen zumachen ist wirk lich der falsche Weg.« »Komm, gehen wir in den Garten.« »Wir gehen ins Wohnzimmer«, sagte sie und öffnete die Tür. Sie zerrte ihn in das Zimmer und drückte ihn auf einen der Stühle. Sie setzte sich auf einen anderen Stuhl. »So«, sagte sie. »Das ist schon viel besser. Es ist sehr gemütlich.« Lake wartete. Sie fuhr sich immer wieder mit den Fingern durch die Haare, warf den Kopf herum, scheinbar um einen Blick auf die Bilder und die Möbel zu werfen. »Charlotte …«, begann er. »Wir haben keine Geheimnisse voreinander, Lake.« »Natürlich haben wir welche«, sagte er, »aber nicht zu viele, hoffe ich.« »Wir kennen uns doch ziemlich gut«, meinte sie. »Wir wissen, was der andere meint, wenn er etwas sagt.« »Ich denke schon«, bestätigte er. »Ich möchte, daß du mir einen kleinen Gefallen tust«, sagte sie. »Komm hinaus in den Garten«, bat er. Er führte sie nach draußen, und sie nahmen auf den weißen Stühlen Platz. »Es ist nichts Großes«, erklärte sie. »Erinnerst du dich noch an die Geschichte mit dem Angelschein?« »Ja.« »Das war ein Witz. Die ganze Party war ein Witz. Nichts als ein Witz.« »Ist die Party später etwas entglitten?« »Das könnte man so sagen«, preßte sie zwischen den Zähnen her vor. »Schlimm?« »Na ja, Jungs und Mädels spielen gern. Auf jeden Fall war es an dem Tag ein richtig verspielter Haufen, das kann ich dir sagen. Auch Frank 236
würde es verstehen, daß der Mensch ab und zu spielen muß. Niemand weiß das besser als er.« Lake wartete. »Nicky Turnbull ist allerdings etwas zu sehr aus der Rolle gefallen. Er war sturzbesoffen. Ich hätte ihn nie einladen sollen. Ich kann ihn nicht ausstehen.« »Und was würde Frank nicht verstehen?« fragte Lake. »Die Sache mit der Frank-Puppe«, sagte sie. »Das war mein Fehler. Anscheinend darf man seinen Mann vor versammelter Mannschaft nicht lächerlich machen, egal, wie sehr er es verdient hat.« »Hat ihm jemand etwas davon erzählt?« »Ja, und es ging sogar noch weiter, als ich geplant hatte. Die Schau fensterpuppe war ein Spaß, aber manche haben es einfach zu weit ge trieben. Das Blondchen, das mit Nicky gekommen ist, hatte vor länge rer Zeit mal 'ne Affäre mit Frank. Sie beschloß, die Schaufensterpuppe nach Hause mitzunehmen. Sie trompetete überall herum, daß sie und Nicky sich zu Hause ein bißchen vergnügen wollten und Frank dabei zusehen sollte.« »O Gott!« »Anscheinend hat Frank sie damals betrogen. Und das war ihre Ra che. Die beiden waren so voll, daß sie die Puppe kaum noch tragen konnten.« Lake versuchte, sich die Situation vorzustellen – ausgelassene, tor kelnde Menschen, und Charlotte, eine stolze Walküre, hoch über dem Schlachtfeld thronend, für das sie verantwortlich war. Und dann die Gerüchte, die bis zu Frank gedrungen waren. »Zweifelsohne ist von großer Bedeutung, wie das Ganze ursprüng lich gedacht war«, sagte Charlotte. »Das ist zumindest ein Punkt.« »Lake, wenn dich jemand nach dem Angelschein oder dem Anlass für die Party fragen sollte, sagst du einfach, es sollte nur eine Gaudi sein. Ich meine, wenn dich beispielsweise ein Anwalt fragen sollte – oder was weiß ich. Behaupte, daß ich dir gesagt hätte, daß es einfach ein Scherz sein sollte, nur ein Spaß.« 237
»Mach ich.« »Danke. Mit Frank, diesem Arschloch, werde ich schon fertig, keine Sorge.« Ihr Gesicht leuchtete: Das Gesicht der Kriegsgöttin. Sie stand auf und ging ins Haus; er folgte ihr. Sie betrachtete die offene Tür zum Wohnzimmer und schien über etwas nachzudenken. Dann sagte sie: »Und was ist mit oben?« »Was soll damit sein?« »Hast du die Türen oben auch zugemacht?« »Vielleicht.« »Das seh ich mir mal an.« Sie ging nach oben. Er folgte ihr in eini gem Abstand. Oben angekommen, kriegte sie einen Lachanfall und sagte: »Genauso hab ich's mir vorgestellt.« Er schaute ihr zu, wie sie durch den Flur ging und methodisch alle Türen öffnete, die er geschlossen hatte. Sie kam an seinem Schlafzim mer vorbei und warf einen Blick hinein. Er sagte: »Diese Tür ist bereits offen, Charlotte.« »Das sehe ich.« Sie ging hinein. Er blieb an der Türschwelle stehen und beobachtete sie. Sie stellte sich ans Fenster und schaute hinaus, ließ ihren Blick zufrieden über den vorderen Rasen schweifen. Dann spa zierte sie im Zimmer herum, als wäre sie hier zu Hause. Etwas auf der Frisierkommode erweckte ihre Aufmerksamkeit. Er sah, daß Jenni fer dort ein Paar goldene Ohrringe liegengelassen hatte. Charlotte hob einen hoch und inspizierte ihn. Sie drehte sich grinsend zu ihm um. »Und du sagst, daß du keine Geheimnisse vor mir hast«, sagte sie. »Keine, die du nicht wissen darfst.« »Du bist süß, Lake. Du bist mein Freund.«
Die Schatten wurden größer. Er und Jennifer gingen am Montag in ei nes ihrer Lieblingsrestaurants, aber sie war von Anfang an reserviert und schien ihm nach einiger Zeit nicht einmal mehr zuzuhören. »Wie ist es?« fragte er. »Was?« 238
»Dein Rindergulasch?« »Ganz gut, danke«, sagte sie. »Das Lammgulasch, meine ich.« »Die Bedienung ist ziemlich nachlässig«, sagte sie. Bevor das Dessert kam, eröffnete sie ihm, daß sie früh nach Hause wollte. »Viel gearbeitet heute?« fragte er. »Eigentlich nicht.« Als er sie zur Haustür brachte, bat sie ihn nicht hinein. Da wußte er, daß etwas im Busch war. Sie rief ihn noch am selben Abend an. Ohne Einleitung oder Begrüßung platzte sie heraus: »Ich muß dich etwas fragen.« »Frag mich.« »Weshalb war Charlotte Sibley am Samstag bei dir?« »Woher weißt du das?« »Ich weiß es einfach. Das muß reichen. Woher ich es weiß, spielt kei ne Rolle.« Er spürte, wie die Wut in ihm hochstieg, und er stellte sich selbst Fragen: Wer konnte gesehen haben, daß Charlotte zu Besuch war? Wer hatte sich verpflichtet gefühlt, es Jennifer unbedingt sagen zu müs sen? »Ich kann mir vorstellen, woher du das weißt«, sagte er. »Lass mich mal raten: Dein Großvater hat Charlotte gesehen.« »Lake«, sagte sie. »Ich wünschte, ich hätte dich nicht angerufen. Nein, es war nicht mein Großvater.« »Aber du hast angerufen, und ich habe den Eindruck, daß du mir et was vorwirfst, also rate ich noch einmal. Es war Bruce.« Sie gab keine Antwort. »Bruce war es, oder?« »Ja, es war Bruce«, sagte sie. »Beobachtet Bruce neuerdings mein Haus?« »Er war auf dem Weg zum Tenniscourt seiner Eltern. Er hat ihr Auto gesehen. Bruce kennt sie.« »Mit wem hat er Tennis gespielt?« »Warum hat dich Charlotte Sibley besucht?« fragte sie. 239
»Mit wem hat Bruce Tennis gespielt?« »Ich glaube, mit Terry. Warum hat dich Charlotte Sibley besucht?« »Sie ist eine gute Bekannte von mir«, sagte Lake. »Sie war im ersten Stock. Bruce hat sie am Fenster gesehen.« »Ich bin von Bruces detektivischen Qualitäten mächtig beeindruckt. Er ist wirklich gut«, sagte Lake. »Und was, wenn Charlotte im ersten Stock war? Sie wollte sich umsehen. Ihr paßt es nicht, daß ich alle Tü ren schließe.« »Du warst doch auf ihrer Party, oder? Auf ihrer berühmten Angel party.« »Woher weißt du das schon wieder?« »Viele Leute wissen von dieser Party, Lake.« »Soll ich dir davon erzählen?« begann er. Dann hörte er den schnei denden Ton in seiner Stimme. »Jennifer, ich kann nicht glauben, daß wir uns über so etwas streiten.« Aber die Frage zu Charlottes Besuch hing zwischen ihnen. Lake wußte, daß sie nicht nochmals fragen würde. Innerlich hatte er eine Stinkwut auf Bruce. Er stellte sich vor, was er zu ihr gesagt hatte: Jennifer, ich glaube, du solltest wissen, was für ein Mensch Lake ist. Das ist in dieser Familie gang und gäbe. Lake konnte fast hören, wie er es ihr sagte – diese hilfreichen Andeutungen, die vä terliche Vergangenheit, die Bruce vielleicht von seinem eigenen Vater her kannte. Er erinnerte sich an die Begegnung mit Bruces Vater auf der Cocktailparty bei den Veres. Perry McClellans augenzwinkernde Anspielungen auf seinen Vater, den Weiberhelden. »Charlotte hatte mich gebeten, einen Angelschein zu entwerfen für ein Partyspiel«, sagte er. »Ich habe es ihr zuliebe gemacht. Ich bin auch auf der Party gewesen, aber nur kurz. Es tut mir leid, daß dieses Fest inzwischen die Runde macht. Aber du solltest Charlotte nicht danach beurteilen.« »Warum nicht?« »Du kennst sie nicht, Jennifer.« Sie gab keine Antwort. Eine halbe Minute lang war es stumm in der Leitung – sie war über einen unsichtbaren Faden mit ihm verbunden. 240
Er sagte: »Als ich zuletzt schweigend telefoniert habe, war ich sechzehn gewesen. Macht eigentlich Spaß.« »Ich habe am letzten Wochenende mit Bruce Tennis gespielt, aber nicht bei seinen Eltern«, sagte Jennifer. Lake dachte darüber nach. Er fragte: »Und wer hat gewonnen?« »Bruce. Obwohl ich ihn beinahe geschlagen hätte.« »Er ist nicht unschlagbar«, sagte Lake.
Der Argwohn blieb. Er spürte ihn, als er sie am nächsten Abend be suchte. Sie war allein zu Hause. »Setzen wir uns kurz«, schlug er vor und deutete auf das Sofa. Sie setzte sich ans andere Ende. »Haben wir gestern alles geklärt?« fragte er. »Ich denke schon.« »Ich verstehe nicht, wie es passieren konnte, daß wir uns auf diese Art streiten.« »Lake, wir kennen uns noch immer nicht sehr gut.« »Doch.« »Wir haben uns lange Zeit aus den Augen verloren.« »Meinst du, daß ich schwer zu durchschauen bin?« »Ein bißchen.« »Aber du machst Fortschritte, oder?« fragte er. »Ja.« »Das ist gut. Ich bin zu jeder Zusammenarbeit bereit.« Sie lächelte, und Lake entspannte sich. »Mir gefällt dieses Haus«, sag te er. »Es ist freundlich.« »Ich glaube, daß Jackie einziehen wird«, sagte Jennifer. »Sie bricht ihr Jurastudium ab.« Lake dachte: Du solltest mit mir zusammen wohnen und nicht mit deiner Kusine oder mit diesen anderen Leuten. Aber er sagte nichts. Später am Abend erinnerte er sie an den Besuch ihres Vaters am Sams tag. 241
»Am Nachmittag hab ich einen sehr wichtigen Termin in Paoli«, sag te sie. »Er ist schon zweimal verlegt worden.« Er sagte nichts. Es war offensichtlich, daß sie nicht kommen wollte. »Aber ich versuch's«, sagte sie.
Der Besuch rückte immer näher. Dann war es Samstag. Um zehn Uhr ging er mit Randall in den Park. Es waren viele Leute da – Hunde jag ten hintereinander her, Stöcke und Bälle flogen durch die Luft, alle wa ren in Wochenendstimmung. Holly schälte sich aus der Menschenmenge. »Hallo, Luke«, rief sie. Er wollte ihr sagen, daß er eigentlich Lake hieß. Aber er hatte keine Lust, sich Ausreden auszudenken, weshalb er sie angelogen hatte. »Rat mal«, sagte sie. »Ich gehe wieder auf die Schule. Teilzeit.« »Super, Holly.« »Meine Eltern werden nicht dafür aufkommen, also muß ich weiter hin arbeiten. Ich hab keinen Draht mehr zu ihnen. Sie verstehen mich einfach nicht.« Als er nicht auf das Thema einging, sagte sie: »Heute abend steigt 'ne Party bei Tina und mir.« Er nickte. »Komm doch vorbei, wenn du Zeit hast«, sagte sie. »Es ist ganz un gezwungen. Du weißt ja, wo ich wohne.« Sie deutete auf das Haus. »Im Erdgeschoß. Auf der Türklingel steht H. Baker. Kommst du? Sag ja.« »Heut Abend kann ich nicht. Aber danke für die Einladung, Holly.« »Schade. Aber das nächste Mal kriegen wir dich. Ich hätte dich ja an gerufen. Aber ich weiß deinen Nachnamen nicht.« »Ich heiße Stevenson. Eigentlich Lake Stevenson, aber manche Leu te nennen mich Luke.« »Lake.« »Oder Luke.« »Mir gefällt Lake.« 242
»Es ist egal. Ich glaube, ich hab ein Identifikationsproblem.« »Du siehst müde aus.« »Ich scheine momentan auch so etwas wie ein Missouri-Problem zu haben«, sagte er. »Denk dran, was du mir geraten hast: Sag einfach nein.« »Daran hab ich auch schon gedacht«, sagte er. »Vor langer Zeit.«
»Sie müssen Lake sein«, sagte Philippa. »Ich habe schon viel von Ihnen gehört.« Sie sah gut aus, sorgfältig frisiert, ganz offensichtlich für einen Landausflug gekleidet, aber mit viel Schmuck behangen. »Stimmt«, sagte Lake. »Kommt herein. Hallo, Richie. Wie war das Spiel?« »Wir haben verloren«, sagte Richie standhaft. »Es war ein aufregendes Spiel«, erzählte Philippa. »Wir hätten viel leicht gewonnen, wenn der Schiri nicht zum Schluß ein Stürmerfoul gegeben hätte.« »Der Schiedsrichter«, berichtigte Lakes Vater. »Und nicht Stürmerfoul, sondern Abseits.« Er war älter geworden – immer noch auf die ihm arrogante Art imposant, aber auf jeden Fall älter. Lake hörte ei nen leicht genervten Ton aus seiner Stimme. Er fragte sich, ob heute etwas zwischen Philippa und ihm vorgefallen war. Sie hatte einen ro ten Kopf. Sie ging an Lake vorbei und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. »Ilsa hat dir also das alles vermacht«, sagte sein Vater. »Gut, gut, gut. Ich habe mir dich hier nie vorstellen können. Niemals.« »Wo hättest du dir mich denn vorstellen können?« »Philippa«, sagte er mit lustloser Stimme und schaute an ihr vorbei, »darf ich dir meinen Sohn vorstellen? Du hast sicher schon selbst be merkt, daß er um eine schlagfertige Antwort nie verlegen ist. Also, wo hätte ich mir dich vorstellen können? Soweit ich mich überhaupt in all deinen Jahren der Undefinierbarkeit ein Bild von dir habe machen können, hätte ich mir dich vielleicht im Auswärtigen Dienst vorstellen 243
können, als Schlichter internationaler Streitigkeiten, ein Schlichter auf höchstem Niveau.« »Das Haus gefällt mir sehr gut«, sagte Philippa, die sich wieder vom Spiegel abgewandt hatte. »Es sieht fast aus wie meins.« »Ich lebe mich allmählich ein«, sagte Lake. »Hoffentlich bekommen wir dich in Greenwich öfter zu sehen«, sag te sie. »Wir müssen uns über Thanksgiving unterhalten. Puh, bin ich erledigt!« »Kommt herein und ruht euch aus«, sagte Lake. Er führte sie in das Wohnzimmer. »Ich hole euch etwas zu trinken.« »Philippa trinkt Tee«, sagte sein Vater. »Ich nehme einen Scotch mit etwas Wasser, kein Eis. Wir können nicht lange bleiben.« »Richie, wo bist du?« rief Philippa. »Komm her.« Aber er war fort. »Typisch Jungs«, sagte sie zu Lake. »Obwohl, das Match hat ihm offen bar gefallen.« »Er hat ja nicht mal hingesehen«, sagte sein Vater. »Er mußte ja dau ernd quasseln.« »Na ja«, sagte sie zu Lake. »Ich freue mich, daß wir es endlich ge schafft haben, uns kennen zu lernen. Sicher hat dir dein Vater schon die große Neuigkeit erzählt.« Sein Vater schien nicht zuzuhören; er bürstete einen Flusen von sei nem Ärmel. Lake sagte: »Er ist nicht ins Detail gegangen.« »Wir haben uns noch für keinen bestimmten Termin entschieden«, sagte sie, »aber es wird bald sein.« »Philippa spricht vom Heiraten«, sagte sein Vater. »Wir werden in meinem Haus in Greenwich wohnen. Es ist dort viel gemütlicher. Wir haben viel Platz für Besuch. Und du hast bei uns dein eigenes Zimmer; du kannst also kommen, wann immer du Lust hast. Karen hat uns letztes Frühjahr mit ihren hübschen Kindern besucht. Ich bin mir vorgekommen wie eine Großmutter, obwohl Richie ja auch erst elf ist.« »Reif fürs Internat«, sagte sein Vater. »Sag das bitte nicht, Schatz. Er könnte dich hören. Er ist viel zu jung fürs Internat.« 244
»Dafür ist man nie zu jung.« »Ich hatte dich gebeten, nicht so etwas zu sagen, Schatz. Dein Vater neckt mich immer«, sagte sie zu Lake. »War er schon immer so?« »Vermutlich.« »Ich gewöhne mich ja allmählich daran, aber Richie könnte es falsch verstehen, obwohl er ein sehr intelligenter Junge ist.« »Ein begnadetes Kind«, bemerkte Lakes Vater. »Na, vielleicht nicht gerade ›begnadet‹«, sagte sie, »aber er ist ein au ßerordentlich guter Schüler. Er hat einen höchst bemerkenswerten Aufsatz über einen Baum geschrieben, wie er aus einem Samen ent steht, alt wird und …« »Ein brillanter Junge«, stellte Lakes Vater fest. »Besonders die Antike interessiert ihn. Er hat mir erzählt, daß der Name Philippa aus der Familie Alexanders des Großen stammt. Das ist doch außergewöhnlich, oder?« »Blaublütige Vorfahren. Jedes Internat würde sich die Finger nach ihm lecken.« »Ich hole jetzt die Drinks«, sagte Lake. »Tee für Philippa«, sagte sein Vater. Lake ging in die Küche und setzte Wasser auf. Er entdeckte Richie und Randall auf dem hinteren Rasen, brachte ihnen das neue Frisbee und mixte dann den Drink für seinen Vater. Als er ins Wohnzimmer zurückkam, sagte sein Vater gerade etwas über Tante Ilsa. »Stimmt es, daß Ihnen Ihre Tante auch ihren Hund hinterlassen hat?« fragte Philippa. »Das war ja wohl an Blödheit nicht zu überbieten«, sagte sein Vater. »Typisch Ilsa.« »Sie hat sehr an dem Hund gehangen«, antwortete Lake. »Das ist die haarsträubendste, idiotischste Idee, von der ich je ge hört habe. Wer, natürlich abgesehen von Ilsa, würde wohl darauf be stehen, daß du den Hund zusammen mit dem Haus übernimmst? Aber so war sie schon immer. Ich habe sie nie verstanden. Die hat schon immer einen sturen Kopf gehabt. Ich könnte dir Geschichten erzählen …« 245
»War das ihr Mann?« fragte Philippa und zeigte auf das Porträt. »Ja«, sagte Lake. »Onkel Paul.« »Ich habe nie verstanden, was ein Mann an ihr finden konnte«, sag te sein Vater. »Du bist vielleicht ein hartherziger Bruder«, sagte Philippa. »Be stimmt war sie nicht so schlecht, wie du sie hinstellst.« »Sie war großartig«, sagte Lake. Seine Gesichtsmuskeln verhärteten sich. Sein Vater sah ihn mit leicht verengten Augen an; er erinnerte an ei nen Chirurgen, der sich überlegte, wo und wie tief er den ersten Schnitt machen sollte. »Und wie macht sich dein kleiner Laden, Lake?« frag te er. »Nicht schlecht«, sagte Lake. »Und wie geht's bei dir so?« »Du nennst ihn doch ›Instructions‹, oder?« »InstruX.« »Lake hat eine Firma, die den Leuten sagt, was sie zu tun haben«, er klärte er Philippa. »Das weiß ich.« »Das ist ein sehr verantwortungsvoller Beruf«, sagte sein Vater. »Was?« »Na, allen zu sagen, was sie zu tun haben. Da muß man doch immer recht haben, oder? Aber manche Leute sind stark genug, diese Last zu tragen. Ilsa gehörte dazu.« »Erinnerst du dich noch an einen der Hunde aus deiner Kindheit?« »Nein.« »Was war mit Rudy? Der war der erste, von dem ich weiß. Damals warst du vielleicht fünf. Oder Risa. Risa war der nächste.« »Wenn es einen Rudy oder eine Risa gegeben haben sollte, dann wa ren es Ilsas Hunde.« »Dieser Meinung war sie offenbar auch. Sie waren ihre geliebten Hunde. So steht es auf den Grabplatten. Komisch, in den meisten Fa milien gehören die Hunde allen Familienmitgliedern.« »Was soll das werden? Eine Schlussfolgerung? Offenbar versuchst du dir daraus einen Reim zu bilden.« 246
»Eigentlich nicht«, sagte Lake. Er wandte sich an Philippa: »Wie ist das Footballmatch denn ausgegangen?« »Zwei Touchdowns zu drei, glaube ich. Wie viele Punkte gibt das?« »Denk mal scharf nach«, sagte sein Vater. Es läutete. »Das wird Jennifer sein«, sagte Lake. »Ich habe sie gebe ten, vorbeizukommen.« Sein Vater und Philippa sahen sich an. Philippa hob die Augenbrau en. Lake ging an die Tür. »Hallo«, sagte Jennifer, als er öffnete. »Ich bin doch früher fertig ge worden.« »Sie sind im Wohnzimmer«, sagte er. »Richie ist mit Randall im Gar ten.« Er führte sie hinein. »Philippa, das ist Jennifer Dee. Jennifer, das ist mein Vater.« Jennifer schüttelte beiden die Hände. »Er hat schon immer einen Blick für schöne Frauen gehabt«, sagte sein Vater. Lake dachte: Woher willst du das wissen? »Also, Jennifer, sagen Sie mal«, begann sein Vater, »ist Ihr Vater Reg gie Dee?« »Ja.« »Ich habe ihn vor vielen Jahren mal gekannt. Ein wunderbarer Ten nisspieler, immer war er Club Champion. Spielen Sie Tennis?« »Ja.« »Dann müssen Sie aber viel üben«, sagte Philippa. »Übung ist so un glaublich wichtig. Lake – Lakes Vater – hat mit meinem Sohn Richie Football geworfen …« »Football gespielt«, sagte sein Vater. »… und inzwischen spielt Richie ihn sogar noch weiter als er, obwohl das natürlich auch eine Frage des Alters ist. Aber selbst in meinem Al ter schaffe ich es praktisch nicht, den Ball zu spielen. Ich bin sportlich eine absolute Niete.« »Aber ganz im Gegenteil«, sagte sein Vater. »Du bist eine exzellente Crocketspielerin.« »Ja, Crocket kann ich ganz gut«, sagte sie. »Darin bin ich sogar ziem lich gut. Aber, unter uns gesagt, es ist ja auch nicht so schwer, oder? 247
Man schwingt einfach den Schläger und der Ball rollt fast immer in die richtige Richtung. Lange Schläge gelingen mir am besten. Mein er ster Mann hat versucht, mir Golf beizubringen, aber ich war ein hoff nungsloser Fall. Eigentlich könnte man meinen, daß sich die beiden Sportarten sehr ähnlich sind …« »Du hattest nur einen Ehemann, meine Liebe«, sagte sein Vater. »Natürlich rechne ich dich mit.« »Die Hochzeit droht«, klärte sein Vater Jennifer auf. »An diesem heu tigen Tage beschlossen. In der Halbzeit. Bei Hot dogs, während Richie auf dem Klo war.« »Gratuliere«, sagte Jennifer. »Jetzt müssen Sie mir aber alles über sich und Lake erzählen«, bat Philippa. »Philippa«, sagte Lake, »Jennifer ist nur vorbeigekommen, um guten Tag zu sagen. Sie ist eine Freundin von Karen.« »Arbeiten Sie, Jennifer?« »Ich bin Immobilienmaklerin.« »An so etwas hatte ich auch schon gedacht. Alle sagen, daß ich das sicher gut könnte. Es liegt mir irgendwie im Blut. Aber ich habe so viel anderes zu tun. Alle wollen, daß ich in diesem oder jenem Komitee mitarbeite, und es fällt mir schwer, nein zu sagen, wenn es die Sache wert ist, was meistens natürlich der Fall ist.« »Ich hole den Tee«, sagte Lake. »Kennen Sie und Lake sich schon lange?« fragte Philippa, als er hin ausging. Lake blieb so lange weg, wie er konnte – länger, als er hätte wegblei ben sollen, fast zehn Minuten, denn dieser Raum strahlte für ihn eine merkwürdige Hoffnungslosigkeit aus. Während der Tee zog, ging er nach draußen. Richie hatte gerade das Frisbee mit voller Wucht gegen den Stamm der großen Eiche geworfen; er versuchte sich offenbar im Zielschießen. »Na, wie läuft's?« fragte er Richie. »Gut.« »Magst du eine Cola?« »Nein.« 248
»Wo ist Randall?« »Er hatte keine Lust, das Frisbee zu fangen.« »Ja, er langweilt sich schnell. Magst du fernsehen?« »Nein.« »Der Fernseher steht dort drüben, falls du es dir anders überlegst. Du könntest auch den Dachboden erforschen.« »Was gibt's dort?« »Jede Menge toller Sachen.« »Dachböden stinken«, sagte er. Er warf das Frisbee erneut gegen den Baum, verfehlte ihn aber. Als Lake mit dem Tablett ins Wohnzimmer kam, unterhielten sie sich noch immer über Immobilien. »Ich kann Häuser mit alten Bade zimmern nicht ausstehen«, sagte Philippa. »Ich muß einfach schöne Badezimmer und große Wandschränke um mich haben. Es gibt nichts Schlimmeres als zu wenig Platz in den Schränken.« »Ich möchte anmerken, daß Philippa geradezu riesige Schränke ihr eigen nennt«, sagte Lakes Vater gedehnt. »Dafür solltest du dankbar sein«, sagte Philippa. »In deinen winzi gen Schränken werden alle Klamotten schon verknittert. Aber Jenni fer kann dir sicher einiges über Wandschränke erzählen. Die sind ja momentan ziemlich im Kommen, oder? Nachträgliche Einbauten sind zwar teuer, aber sie lohnen sich auf jeden Fall. Finden Sie nicht auch?« »Das ist durchaus möglich«, gab Jennifer zur Antwort. Lake stellte das Tablett mit dem Tee ab. »Jennifer, ich habe ganz ver gessen, dich zu fragen, ob du auch etwas möchtest.« »Nur Tee.« »Ach, ist das Teeservice hübsch«, rief Philippa. »War das auch im Haus?« »Ja.« »Praktisch die Mitgift«, sagte sein Vater. »Wie bitte?« fragte Lake. »Für den Hund.« »Der Hund ist ein Rüde«, sagte Lake. »Dann eben eine Stiftung«, sagte sein Vater. 249
»Genau, eine Stiftung.« »Mein vom Glück begünstigter Sohn.« »Der Hund scheint ja ganz in Ordnung zu sein«, sagte Philippa. »Aber wichtiger ist doch: Gefällt es Ihnen hier, Jennifer?« Mit weit ausladender Geste bezog sie das gesamte Haus in ihre Frage mit ein. Sein Vater intervenierte eilig: »Was genau stand eigentlich in Ilsas Testament, Lake? Es muß doch eine Möglichkeit geben, dieses Haus zu verkaufen.« »Vielleicht möchten die beiden ja hier wohnen, Schatz«, sagte Philippa. »Sie hat nicht …«, begann Lake. Sein Vater unterbrach ihn. »Du hast nicht zugehört, Philippa.« Er wandte sich wieder an Lake. »Ist es eine Art Treuhänderschaft?« »So war es nicht abgefasst.« »Wenn der Hund zufällig verschwindet, kannst du machen, was du willst«, sagte sein Vater. »Vielleicht kann Jennifer ja das Haus für dich verkaufen. Bringt 'ne schöne Provision.« Jennifers Augen wanderten unruhig von Lakes Vater zu Lake und wieder zurück; offenbar stellte sie eine Verbindung her. »Das ist ein sehr unpassender Vorschlag, den du ganz bestimmt nicht so gemeint hast«, sagte Philippa. »Ich bin überrascht, daß du dei nem Sohn so etwas vorschlagen kannst. Aber vermutlich machst du nur wieder Spaß.« Die Hoffnungslosigkeit griff auf Lake über. Er beschloß, die Wahr heit zu sagen, komme, was da wolle. »Ich habe schon daran gedacht«, sagte er. »Ich bin sicher, daß du nicht eine Sekunde lang mit diesem Gedan ken gespielt hast«, sagte Philippa. »Ich habe ungefähr einen Monat lang mit diesem Gedanken ge spielt«, sagte Lake. »Offenbar produzieren gleiche Gene auch gleiche Gedanken.« »Das ist doch albern«, sagte Philippa. »Ihr Männer kommt wirklich auf die lächerlichsten Ideen. Nur gut, daß ihr uns Frauen habt.« 250
»Gott sei's gedankt«, sagte Lakes Vater. »Wer weiß, was wir sonst tun würden?« Philippa fummelte an ihren Ringen, offenbar freute sie sich über et was. »Sei dankbar«, sagte sie. Ihre Augen schweiften durchs Zimmer. »Ich glaube wirklich, daß wir eine sehr attraktive Familie abgeben«, sagte sie. Als ihr niemand antwortete, sagte sie: »Jennifer, Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet.« »Welche Frage?« »Gefällt es Ihnen hier?« Jennifer saß kerzengerade auf ihrem Stuhl. »Hier. Das da«, erklärte Philippa. »Aber natürlich gefällt es Ihnen.« »Nein«, sagte Jennifer. Sie warf Lake einen schnellen Blick zu. Er sah Traurigkeit, aber keine Unsicherheit. Philippa starrte sie an. »Nein, tut mir leid, aber es gefällt mir hier nicht«, sagte Jennifer ent schlossen. Lakes Vater beugte sich vor. Sein Mund verzerrte sich zu einem dün nen, verkniffenen Strich. Er brach das Schweigen. »Alle Achtung. Ein ehrliches Wort«, sagte er. Lake hatte sich in sich selbst zurückgezogen, alles war für ihn mei lenweit entfernt. Mehr als alles andere hätte er wissen wollen, was Jen nifer von einer Zukunft mit ihm in diesem Haus hielt. Er hatte niemals erwartet, dies auf solch schreckliche Weise erfahren zu müssen. Aber früher oder später wäre der Augenblick der Wahrheit doch gekom men. Sein Vater hatte mit ihrer Ehrlichkeit recht gehabt. Sie würde ei ner direkten Frage niemals ausweichen. »Nun«, sagte sein Vater. »Es war ein interessanter und ereignisrei cher Tag. Wir würden gerne noch bleiben und uns ein wenig mit euch unterhalten, aber wir haben eine lange Heimfahrt vor uns. Wir müs sen los. Ich habe mich sehr gefreut, Sie kennen zu lernen, Jennifer.« Jennifer nickte. »Ich hole Richie, und du trinkst inzwischen deinen Tee aus, Philippa. Vielleicht kann ich ja noch einige Wunder entdecken, die meinem Sohn widerfahren sind. Ilsa hatte ein Auge für Kunst. Wer weiß, was 251
es draußen noch alles gibt. Vielleicht ein großes Tierheim hinten im Garten?« Er verschwand nach draußen. Philippa trank ihren Tee aus. »Denk dran«, sagte sie zu Lake, als sie aufstand, »ich erwarte, daß du uns besuchst. Denk dran, was ich dir über dein eigenes Zimmer gesagt habe. Ich hoffe, daß wir dich an Thanksgiving zu sehen bekommen.« »Sicher«, sagte Lake. »Auf Wiedersehen«, sagte sie zu Jennifer. »Meistens regelt sich alles zur Zufriedenheit.«
Nachdem sein Vater, Philippa und Richie gegangen waren, standen sie noch in der Eingangshalle. Lake fühlte sich hilflos, ausgelaugt. Er dachte daran, wie zerbrechlich Träume waren. Ein Wort kann sie in tausend Stücke zerbrechen, ein einziges, unbedachtes Wort. Er zwang sich, zu sprechen. »Ein Tag der Wahrheit«, sagte er. »Was meinst du damit?« »Was du zu Philippa gesagt hast.« »Sie hatte getrunken. Sie ist wie alle Trinker. Sie zerstören.« »Das stimmt.« »Erwartest du von mir, daß ich sie mag?« fragte sie kühl. »Erwartest du, daß ich deinen Vater mag?« »Nein, das erwarte ich nicht«, sagte er. »Er ist ein bösartiger Mann. Es macht ihm Spaß.« »In diesem Haus zu sein machte ihn bösartig«, meinte Lake. »Er war hier nie willkommen.« »Tut mir leid, daß ich so direkt war. Ich wollte dich nicht verletzen, aber sie hat so gebohrt.« »Es war mein Fehler. Keiner von uns war darauf vorbereitet.« »Möchtest du darüber sprechen?« »Nein.« Er würde ihre Erläuterungen, weshalb sie mit diesem Haus nichts am Hut hatte, nicht ertragen. Er wollte nicht, daß sie ihm expli zit sagte, was es war – Vertrauensprobleme, Verhaltensprobleme, Pro 252
bleme mit Beziehungen und Verbindungen, Probleme mit einem Haus, das wie ein Klotz an seinem Bein hing. Er dachte an die Zeit, als er in der Highschool eine Meile gelaufen war. Während eines Rennens mußte man immer genau wissen, wo man war. Den schlimmsten Fehler, den ein Läufer machen konnte, war, das Gleichgewicht zwischen Vergangenheit und Zukunft falsch einzuschätzen. Genau das hatte er getan, und jetzt gab es nur noch Vergangenheit. Er schaffte es nicht, sich von ihr zu verabschieden. »Ich rufe dich morgen an«, sagte er. »Ich muß noch aufräumen.« Er ging in die Kü che, ohne zu sehen, wohin er ging. Als er in der Küche stand, beschloß er, daß es besser wäre, jetzt gleich die Wahrheit herauszufinden als später, wenn es noch mehr schmer zen würde. Er hatte es kommen sehen – dieses Auseinanderdriften, die Abnutzung der früheren Gelöstheit, der Nähe. Sie hatte die gan ze Zeit ihre Vorbehalte deutlich gemacht, sich vom Haus distanziert, nie eine Nacht hier verbracht, hatte immer darauf geachtet, ihre Bin dung an ihr eigenes Haus zu signalisieren. Sie hatte ihn niemals in die Irre geführt.
Er ging mit Randall spazieren. Sie schlugen den Weg zum Park ein. Auf halbem Weg stolperten seine Gedanken über etwas Unsichtba res – vielleicht war es dieses Unsichtbare, weswegen Familien sterben oder weswegen sie manchmal nicht einmal geboren werden –, und sein Mund verzog sich wie bei einem Kind. Aber er würde sich diesen Ge fühlen nicht ergeben. Er bog um die nächste Ecke. Randall trottete munter neben ihm her. Lake stellte sich vor, wie er im Winter durch einen Schneesturm wandern würde. Falls Schneeflocken auf ihm lan den sollten, würden sie nicht schmelzen. Dann würden die Menschen die Kälte seines Charakters erkennen, all die, die davon nichts gewußt hatten. Er kam an dem Haus vorbei, in dem Holly wohnte. Musik dröhnte 253
nach draußen. Er ging an der Haustür vorüber, zögerte nicht einmal, und es wurde ihm bewußt, daß er zu einer anderen, längst vergange nen Zeit nach einem derart verpfuschten Tag vermutlich hineingegan gen wäre, mitgefeiert und vielleicht die Nacht mit Holly verbracht hät te, um für kurze Zeit alles zu vergessen, sich hinter einer verschlosse nen Tür zu verlieren, hinter der Musik hämmerte. Lebensregel: Bürde deine eigenen Sorgen keinem anderen auf. Der Park lag vergessen da, ein Loch im Lichtermeer der Stadt. Er spazierte auf die Wiese und schaute in einen sternenübersäten Him mel. Als Kind hatte er einmal versucht, die Sterne zu zählen, aber da mit aufgehört, noch bevor er die Tausend erreicht hatte. Damals hat te ihn ihre unermessliche Zahl geängstigt. Jetzt beruhigte sie ihn. Un ter einem solchen Überfluss von Welten waren alle Menschen einsam. Jemanden zu verlieren, den man gern mochte, Worte zu hören, die man nicht hören wollte – angesichts Milliarden von Sternen über ei nem schrumpften diese Dinge zur Belanglosigkeit. Und die Worte, die nicht ausgesprochen wurden – der Vater, der ging, ohne zu sagen, daß es ihm schwer fiel zu gehen, der Sohn, der ihn nicht bitten konnte zu bleiben, die Worte wahrer Liebe, die ein Mann und eine Frau einander sagten, wenn sie wußten, daß sie zusammengehörten – all diese Wor te, selbst wenn sie gesprochen worden wären: gegen den Ruf der Sterne versänken sie in Bedeutungslosigkeit. Das beruhigte ihn. Er saß im feuchten Gras und schaute mit großen Augen in den Sternenhimmel. Randall wanderte im schwachen Ster nenlicht herum, ein undeutlicher Schatten. Lake fragte sich, wo Jennifer jetzt sein mochte. Bei dem Gedanken an sie roch er den Duft ihrer Haut, spürte, wie sehr sie sein Leben bestimmte. Tränen liefen ihm über die Wangen, er ließ sie laufen, er hatte ja die Sterne, die ihm beistanden. Menschen würden diese Sterne besuchen. Sie würden sich in die Schwärze stürzen und auf einen Lichtpunkt zufliegen, viele Lebensal ter weit entfernt, dann zum nächsten und wieder zum nächsten, wür den versuchen, sie zu beherrschen, so wie er sie durch Abzählen zu be herrschen versucht hatte. In seiner Hoffnungslosigkeit war das ein tap ferer Versuch gewesen. 254
Randall kam und setzte sich neben ihn. Lake überlegte, was er Jenni fer am nächsten Morgen sagen wollte. Er würde sich für Philippa und ihre Anmaßung entschuldigen, aber nicht für seinen Vater. Er würde seinen Vater nicht verleugnen. Er und Jennifer könnten Freunde blei ben. Diesen Gedanken ertrug er nicht. Er lag im Gras und weinte lan ge Zeit still vor sich hin. Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Er schaffte es nicht einmal, die Sterne an sich heranzulassen. Danach lief er noch lange weiter, und er wäre noch viel weiter gelau fen, wäre Randall nicht allmählich müde geworden. Sie kehrten nach Hause zurück; Lake setzte sich auf die Terrasse und betrachtete den dunklen Garten. Vielleicht würde er jetzt doch nie mehr die Namen der Blumen lernen. Am nächsten Morgen rief er sie an. »Ich glaube, wir sollten uns eine Weile nicht mehr sehen«, sagte Lake. »Meinst du nicht, daß wir miteinander reden sollten, Lake?« »Du hast gesagt, was du gedacht hast.« »Ja«, sagte sie. »Das ist immer das beste.« »Wir könnten zusammen zum Mittagessen gehen«, sagte sie, »wir könnten uns irgendwo treffen.« Sie hatten sich wieder auf gemeinsame Mittagessen verlegt. In einem einzigen Tag waren sie drei Monate rückwärts gegangen. Aber rück wärts zu gehen war keine Antwort. »Heute geht es leider nicht«, sagte er. Es war nicht gelogen. Ein Mittagessen mit ihr hätte er nicht durch gestanden.
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T
hanksgiving rückte näher, und Lake bereitete sich auf das Famili entreffen in Greenwich vor, das Philippa organisiert hatte. Ein Nein würde sie nicht akzeptieren, hatte sie betont; Karen habe auch zugesagt, und mit ihm wäre die Familie komplett. Die Einladung hat te wie eine Aufforderung geklungen, so als hätte das Festessen in ih rem Haus eine lange Familientradition. Er hatte zu erscheinen; es wur de erwartet. Lake sagte zu. Er mußte aus dem Haus, egal, wohin. Das Haus existierte kaum noch für ihn. Fast immer arbeitete er bis spät in den Abend hinein und ging auch an den Wochenenden ins Büro. In seiner spärlichen freien Zeit, wenn er sich mit Randall zwangsläu fig in der Peal Avenue Nr. 73 aufhalten mußte, wohnten sie in der Bi bliothek, in der Küche und im Schlafzimmer. Diese drei Zimmer wa ren für ihn mehr als genug. Manchmal schlief er auf dem Sofa in der Bibliothek ein, aber dann stieß ihn eine feuchte Schnauze ins Gesicht und drängte ihn nach oben. Randall paßte es offenbar nicht, daß er auf dem Sofa schlief; er wünschte, die Nacht, wie es sich gehörte, im Schlafzimmer zu verbringen. Gelegentliche Ausflüge in andere Zimmer ließen Lake die Über macht seines Gefängnisses immer wieder aufs neue spüren. Das alte Regime war noch intakt. Möbel, Gardinen, Teppiche, Bücher, Lampen, all die kleinen Gegenstände und Dekorationsobjekte – sie waren noch da und widersetzten sich stumm jedem Versuch, sie auszuquartieren. Wohnzimmer und Esszimmer wehrten sich mit ihrem Chippendaleund Plüschmief, dem düsteren Mahagoni und den Darstellungen eu ropäischer Städte und Küstenlandschaften früherer Jahrhunderte er folgreich dagegen, daß er sich dort einnistete. In diesen Räumen setz 256
te die Dämmerung im Winter schon früh ein und hing auch tagsüber in allen Ritzen. Wenn er das Licht einschaltete, flammte das Blattgold, das Messing und das Silber auf, und nachdem das Feuer erloschen war, blieb eine Gruft zurück. Manchmal versuchte er, einen neuen Weg durch die Welt zu finden. Ende Oktober fuhr er nach Cape May, denn er hatte gehört, daß man dort besonders gut Vögel beobachten konnte. Aber Randall und er lie fen den ganzen Tag am Strand entlang, neben sich ein grauer Ozean. Holly rief an und lud ihn zu einer anderen Party ein, aber er bedauerte: Er könne nicht kommen, weil er auf Geschäftsreise wäre. Bei Steve un terhielt er sich einen halben Abend lang mit einem Mädchen, an deren Namen er sich nicht mehr erinnerte. Sie hatte sich brennend für das Thema Emotionen interessiert. Offenbar vertrat sie die Ansicht, daß die Einsamkeit der heutigen Zeit eine Erfindung der Franzosen war. Lake trank und nickte. Gut möglich, sagte er; sehr interessant. Aber könnte sie nicht auch von Hollywood erfunden worden sein? regte er an. Im Verlauf der Unterhaltung dozierte er, daß Einsamkeit gemein hin mit Leere assoziiert wird, dabei sei sie doch eher eine Kompressi on. Sie preßt einen in einen immer kleiner werdenden Raum. Sie stürzt einen in ein schwarzes Loch. Die einzige Hoffnung, die bleibt, ist die Flucht in ein anderes Universum. Sehr interessant, sagte sie; eine gute Metapher. Sie tranken und nickten. Nach einer Weile war sie gegan gen. Dann unterhielt sich Lake mit Megan, Steves Freundin. Sie erkun digte sich nach dem Haus. Es wird schon werden, gab Lake zur Ant wort. Du kannst es ja noch immer verkaufen, sagte Megan. Er zuck te die Achseln. Er mochte Megan, aber er konnte ihr nicht sagen, was der Verkauf des Hauses beweisen würde: daß er immer noch derselbe war wie vorher. Er bemühte sich, nicht an Jennifer zu denken. Dazu wandte er einen Trick an: Er versuchte jeden Gedanken an sie schon im Keim zu erstik ken und in eine andere Richtung zu zwingen – auf sein Vorhaben, ein anderes Büro zu mieten, oder die Frage, wohin zum Mittagessen ge hen, oder auf irgendein anderes Thema. Das funktionierte zwar nor malerweise nicht, aber in dem Maß, in dem die Wochen vergingen, 257
verlagerte sich das Gefühl, einen Verlust beklagen zu müssen, in ein Gefühl, das eher Bedauern ausdrückte. Als dann Philippa immer wie der anrief, glaubte er, Thanksgiving in Greenwich irgendwie durchste hen zu können. Am Mittwochabend waren die Ausfallstraßen von Philadelphia hoffnungslos verstopft. Ein Unfall auf der Schnellstraße führte zu ei nem enormen Stau. Auf der George Washington Bridge herrschte ki lometerweit Stop-and-go-Verkehr. Als er schließlich nach elf in Green wich ankam, lag Philippas Haus schon im Dunkeln. Aber sie öffnete ihm selbst und begrüßte ihn herzlich. »Alle außer deinem Vater sind schon im Bett«, sagte sie. Sie führte ihn in einen großen, holzgetäfelten Raum, wo sein Vater sich die Nachrichten anschaute. »Hallo, Dad«, sagte er. Sein Vater grunzte. Er hievte sich aus dem Stuhl und schüttelte Lake die Hand. »Schön, daß du gekommen bist, Lake.« Fast klang es, als hätte er es so gemeint, und Lake schöpfte Hoffnung, daß sie Thanksgi ving ohne Streit hinter sich bringen könnten. »Wo soll der Hund hin?« fragte sein Vater. »Er schläft bei mir.« Sein Vater grunzte erneut und bemerkte: »Mach dir etwas zu trin ken. Und du, Philippa, gehst ins Bett. Du hast morgen einen anstren genden Tag.« »Ich zeige Lake noch sein Zimmer«, sagte sie. »Dann könnt ihr beide euch ungestört unterhalten.« »Ich glaube, ich werde auch gleich ins Bett gehen«, sagte Lake. »Die Fahrt war ziemlich anstrengend.« Philippa führte ihn nach oben und durch den Flur in ein Zimmer mit einem riesigen Himmelbett. Sie wünschte ihm eine gute Nacht. Berge von Kissen bedeckten fast ein Drittel des Bettes; Lake warf alle Kissen bis auf eines in eine Ecke, verfrachtete die rosafarbene Patch workdecke auf einen Stuhl und legte sich hin. Er starrte in den Him mel und kam sich vor, als schliefe er in einer Hütte. Zum Frühstück waren alle im Esszimmer versammelt: Philippa und sein Vater, Richie brav und höflich, Stephen herzlich und gesprächig, 258
Karen zerstreut, weil sie dauernd Emily und Steebie ermahnen mußte. Karen war diejenige, die er sehen wollte; sie war seine Familie. Nach dem Frühstück fand er sie im Wohnzimmer, wo sie in einer Zeitschrift blätterte, während Emily auf dem Teppich spielte. »Wie geht's so?« fragte er. »Es ist nett von dir, daß du gekommen bist«, sagte sie. »Es bedeutet Philippa sehr viel.« »Was ist mit ihrer Hochzeit?« »Dauert nicht mehr lange, glaube ich.« »Philippa scheint ihn ja ganz schön zu bearbeiten.« »Er braucht jemanden wie sie«, sagte Karen. »Und wie geht's dir?« »Nicht schlecht. Viel Arbeit.« Er beobachtete Emily, eine Karen in Miniaturausgabe. Sie spielte mit ein paar Plastikfiguren – unterschiedlich eingefärbte Zylinder mit Ku geln obenauf als Köpfe. Er streckte sich auf dem Teppich neben ihr aus. »Darf ich mit dir spielen, Em?« fragte er. »Ja.« Er berührte eine der Plastikfiguren: »Wer ist das?« »Das ist Mami.« »Und wer ist das?« »Das ist Daddy.« »Wer ist das?« »Das ist die Krankenschwester.« »Wozu brauchst du eine Krankenschwester?« »Das Baby wird erstochen.« »Erstochen? Wer ersticht es denn?« »Nein, das Baby wird gestochen.« »Ach so. Aber das wird dem Baby gar nicht gefallen.« »Mit einer Nadel.« »Darf ich das Baby spielen?« »Ja.« »Ich spiele auch den Daddy«, sagte er. Mit dieser Arbeitsteilung war sie einverstanden. Emily schob ihm zwei der Figuren hin, und sie begannen zu spielen. 259
Nach einer Weile fragte Karen: »Lake, wie geht's dir wirklich?« »Hab ich doch gesagt: gut.« »Etwas macht dir zu schaffen. Das sehe ich doch«, sagte sie. »Ich glaube, daß ich einen guten Daddy abgebe. Und auch ein gu tes Baby.« »Ja.« Ihre Feststellung versetzte ihm einen Stich. Aber er hatte Vertrauen zu Karen und sagte: »Es ist eine Herzensangelegenheit.« »Wer?« »Jennifer.« »Dacht ich's mir doch. Sie hat mich im September angerufen und ge fragt, wann du Geburtstag hast.« »Im März«, sagte er, »zu spät.« »Warum?« »Weil wir uns getrennt haben. Wir waren in einer Sackgasse ange langt.« »Und das hast du entschieden?« fragte Kate. »Nein, sie. Ich werde schon darüber hinwegkommen.« Karen sagte nichts. Er lächelte sie an, fühlte sich ein wenig geborgen. Er wandte sich wieder seinem Spiel mit Emily zu: »Was ist passiert, während ich nicht da war?« fragte er sie. »Das Baby ist jetzt im Spielzeuggeschäft«, informierte ihn Emily. »Daddy wird dem Baby ein Spielzeug kaufen«, sagte er.
Das Thanksgiving-Abendessen war zeremoniell und ausgedehnt, und Emily verschwand früh. Randall erschien im Türrahmen, bereit für den Truthahn, aber er erinnerte sich der Manieren, die ihm Tante Ilsa beigebracht hatte, und blieb jenseits der Türschwelle stehen. Auch La kes Vater hatte zur Feier des Tages sein bestes Benehmen rausgekramt, erzählte Geschichten von bunten Vögeln aus der Wall Street und neck te Karen mit ihrer Mutterliebe. Philippa hielt einen Vortrag über die Ursprünge der Vereinigten Staaten und behauptete steif und fest, daß 260
viele ihrer Vorfahren mit der Mayflower gekommen waren. Dann sag te sie zu Lake: »Armer Randall. Er sieht so traurig aus.« »Das ist nicht Traurigkeit«, sagte Lake. »Das ist Angst, die gegen Gier ankämpft.« »Wir heben ihm etwas vom Truthahn auf«, sagte sie. Lake stand auf, hob das Glas und sagte: »Philippa, wenn ich für die Zugereisten in dieser Familie einschließlich Randall sprechen darf, möchte ich sagen, daß wir gerne auch in Zukunft jeden Weg auf uns nehmen, egal, wie weit er ist, um so ausgezeichnet essen zu dürfen. Aber was wirklich zählt, ist, daß wir alle zusammengekommen sind. Wir danken dir dafür, daß du uns alle zusammengebracht hast, und danken dir auch für die beste Füllung, die einem Truthahn jemals zu teil geworden ist.« Philippa strahlte, Stephen applaudierte und Karen strahlte: »Ach, ist das schön, Philippa.« Lake nahm wieder Platz und dachte an Jenni fer und an die Veres, vereint und festlich gestimmt, tief im Süden des Landes. Er bemerkte neue Ohrringe an Karen, anmutige Spiralen mit winzi gen Smaragden und Diamanten. Später sprach er sie darauf an: »Die sind wunderschön. Hast du die von Stephen bekommen?« »Die sind von Tante Ilsa. Sie hat mir viel Schmuck vererbt.« »Die sind wirklich schön.« »Danke«, sagte sie und berührte sie mit den Fingern.
Eine Woche später kam ein Paket aus Boston. In dem Paket lag ein kleines Schmuckkästchen, und in dem Kästchen lagen die spiralförmi gen Ohrringe. Auf einem Zettel stand: »Gib sie jemandem.« Am selben Abend rief er sie an. »Karen«, sagte er, »ich hatte nicht die Absicht, dir deine Ohrringe abzuschwatzen.« »Ich möchte, daß du sie nimmst.« »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« »Sag danke, liebe Karen, wie ein braver Junge.« 261
»Danke, liebe Karen. Vielen herzlichen Dank.« »Keine Ursache«, sagte sie liebevoll. Steebie krähte im Hintergrund. »Ich muß jetzt Schluß machen«, sagte sie.
Er schüttete sich wieder mit Arbeit zu. InstruX florierte. Danny sprach von einer eigenen Softwareabteilung; auf seinem Schreibtisch stand eine Karte: STELLV. GESCHÄFTSFÜHRER IN SPE. Rob war produktiver denn je. Scheinbar mühelos brachte er fast poetische Texte zu Papier. Lösen Sie die Bremse. Lassen Sie die Spule frei laufen. Oder: Extreme Temperaturen schwächen die Verbindung. Vermeiden Sie nicht nur Hitze, sondern auch Kälte. Eines Tages bemerkte Lake, daß Rob und Mary gemeinsam in die Mittagspause gingen. Er dachte sich nichts dabei, aber im Lauf der Woche geschah es mehrmals. Danach achtete er darauf und entdeck te winzige Signale – Blicke, die über den Raum schweiften und sich auf dem anderen wie ein Schmetterling auf einer Blume niederließen. Wortlos legte Rob Mary einen Zettel auf den Tisch, Mary zupfte gei stesabwesend etwas von seinem Ärmel, als er zufällig in ihrer Nähe stand. Die beiden waren ein ungleiches Pärchen: Rob mager, dunkel und konzentriert; Mary, großgewachsen, mit roten, wuscheligen Haa ren. Aber sie hatten die gleiche Lebenslust und das gleiche Selbstver trauen. Lake freute sich für Mary: Bisher hatte sie sich immer für Män ner interessiert, die sie am Ende verachtete. Er lud Rob zum Mittagessen in das chinesische Restaurant ein. »Wie kommst du mit deinem Stück voran?« fragte er, nachdem sie Platz ge nommen hatten. »Das mit dem Astronauten und dem Computer.« »Es ist nichts daraus geworden.« »Schade. Die Idee hat mir sehr gefallen. Machst du etwas Neues?« »Im Moment nicht.« Lake beschloß, gleich zur Sache zu kommen. »Wie gefällt es dir bei InstruX?« fragte er. 262
»Besser als erwartet.« »InstruX ist sehr mit dir zufrieden«, sagte Lake. »Soll das vielleicht eine Beurteilung sein? Ich habe bisher noch nie 'ne Beurteilung gekriegt.« »Nein. Es ist eine Anerkennung. Du machst ausgezeichnete Arbeit. Ab heute kriegst du eine Gehaltserhöhung von fünfzig Prozent. Vor dir liegt eine große Zukunft, Rob. Ich hoffe, du bleibst uns erhalten.« Ganz offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet. »Danke«, sag te er. Dann unterhielten sie sich eine Weile über Politik. Und plötzlich, als hätte er es schon lange mit sich herumgetragen, sagte Rob: »Lake, das Wichtigste für mich ist immer noch das Theater. Das ist immer noch die Nummer eins.« »Das ist doch in Ordnung. InstruX braucht Mitarbeiter, deren Leben im Gleichgewicht ist.« Rob war sichtlich erleichtert. »Und was ist mit dir?« fragte er. »Wie läuft's bei dir?« »Recht gut.« »Wohnst du noch immer im Haus deiner Tante?« »Noch immer«, sagte Lake. »Und dort werde ich auch für absehba re Zeit bleiben.« »Aber eigentlich hast du keine Lust dazu?« »Meine Tante wäre eine gute Drehbuchautorin geworden«, sagte Lake. »Sie hat meine Wohnsituation für die Zukunft festgeschrieben.« »Ich hätte nichts gegen eine solche Tante«, sagte Rob. »Sie hatte auch Vorstellungskraft. Sagen wir mal, sie hat sich Dinge vorgestellt. Sie hat geglaubt, psychische Macht zu besitzen. Aber offen bar bezog sich diese Macht nicht auf Menschen.« »Worauf bezog sie sich dann?« »Auf Hunde«, sagte Lake. »Sie verließ sich immer auf eine innere Stimme, wenn sie aus einem ganzen Wurf ihren Hund ausgewählt hat. Ich weiß das, weil mir im vorigen Sommer ein Karton mit Briefen in die Hände gefallen ist, die ihr der Vorsitzende einer Organisation ge schrieben hat, die sich ›Institut für das Verständnis von Tieren‹ nennt. 263
Der Mann heißt übrigens Ernest Jeffords. Er war scharf auf ihr Geld. Keine Idee war Ernest Jeffords zu verrückt, solange sie den Geldfluß an sein Institut sicherte.« »Zum Beispiel?« »Tante Ilsa hat auch über psychische Kräfte in Verbindung mit Häu sern verfügt. Sie hat Jeffords erzählt, daß sie ihr Sommerhaus in Maine deshalb gekauft habe, weil sie den Ruf von Geistern gehört hätte. Jef fords hatte damit kein Problem. Er hatte sogar einige Vorschläge pa rat, welche Geister es hätten sein können. Er erzählte ihr, daß sie mög licherweise aus Irland gekommen wären und noch vor Kolumbus amerikanischen Boden betreten hätten. Ein irischer Mönch namens St. Brendan hat vermutlich zu dieser Zeit den Atlantik überquert – er und noch ein paar andere Mönche –, und bei ihrer Landung sollen alle möglichen magischen Sachen passiert sein.« »Katholiken glauben doch nicht an Geister«, sagte Rob. »Außer an den Heiligen Geist.« »Vielleicht sind damals auch ein paar keltische Geister als blinde Pas sagiere mitgereist«, sagte Lake. »In Maine sind sie dann an Land ge gangen und haben nach einem Eichenwäldchen gesucht.« Lake hatte das im Scherz gesagt, aber Rob wurde plötzlich ernst. Er nickte und klopfte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Das ist inter essant«, sagte er. »Das ist sogar sehr interessant.« »Ich würde sagen, daß es bescheuert ist.« »Es birgt viele Möglichkeiten«, sagte Rob. »Ich könnte ein Stück dar aus machen. Hör zu: Mal angenommen, in dem Boot haben sich Drui den versteckt. Mal angenommen, einer der Mönche war ein verkleide ter Druide. Das Christentum bringt die alte keltische Magie aus Irland heraus, und dieser Druide schaut sich nach einem Ort um, wo er einen neuen Anfang machen könnte. Also gibt er sich als Mönch aus und er gattert eine Schiffspassage nach Amerika.« »Woher will er wissen, daß auf der anderen Seite Amerika liegt?« sagte Lake. »Das weiß er nicht. Aber er ist sicher, daß sie irgendwo neues Land entdecken werden.« 264
»Es könnte ein kahler Felsen sein, übersät mit Vogelscheiße. Keine Eichen.« Rob ignorierte ihn. »Auf dem Ozean sprechen die Mönche christ liche Gebete, bekreuzigen sich und so weiter, nur dieser eine Mönch murmelt fremdartige Formeln, die die anderen nicht verstehen. Es sind keltische Zaubersprüche, aber das wissen die anderen nicht.« »Richtig«, sagte Lake, um einen neutralen Ton bemüht. »Und nun passiert folgendes«, fuhr Rob fort. »Sie landen. Der Drui de glaubt, daß Amerika jungfräuliches Territorium ist. Er holt mit sei nen Zaubersprüchen eine kleine Armee keltischer Geister herbei. Der Druide plant, den ganzen Kontinent mit keltischen Geistern zu fül len. Was er nicht weiß, ist, daß Amerika bereits besetzt ist. Indianische Geister leben zwischen den Felsen und in den Wäldern, und sie haben nicht vor, sich vertreiben zu lassen. Das Ergebnis ist ein Krieg der Gei ster. Die keltischen Geister versuchen sich vom Brückenkopf Maine freizukämpfen, aber sie sitzen in der Falle, weil die indianischen Gei ster in der Überzahl sind. Sie können nicht mehr nach Irland zurück, aber sie können auch nicht weiter ins Landesinnere vordringen.« »Du willst also sagen, daß demnach immer noch eine kleine kelti sche Kolonie an der Küste existiert.« »Richtig«, sagte Rob. »Empfindsame Menschen, wie deine Tante zum Beispiel, nehmen sie wahr, aber für die meisten Menschen sind sie nicht erreichbar.« »Wie das?« »Sie existieren außerhalb der normalen Zeit wie alle Geister. Sie ha ben ihre eigene Zeit.« »Aha«, sagte Lake. »Kann ich mal einen Blick in die Briefe deiner Tante werfen?« »Klar.« »Super«, sagte Rob. »Damit kann ich bestimmt was anfangen.«
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Am selben Abend holte Lake die Schuhschachtel mit den Briefen des Instituts für das Verständnis von Tieren heraus. Er wählte die Briefe aus, in denen Tante Ilsa von ihrer inneren Stimme schrieb, und legte sie für Rob zur Seite. Er las ein paar andere Briefe und stellte fest, daß Ernest Jeffords es geschafft hatte, in jedem einzelnen Brief einen klei nen Tip für finanzielle Zuwendungen unterzubringen. Er suchte sei nen letzten Brief, weil er neugierig war, ob er bis zu Tante Ilsas Ende versucht hatte, Geld aus ihr herauszuholen. Er hatte. Sehr verehrte Mrs. Grinnell, ich bin sehr bestürzt zu hören, daß Sie sich um Ihre Gesundheit Gedanken machen. Ich vertraue darauf, daß Ihre Sorgen sich schon bald als unbegründet herausstellen werden. Dem, was Sie über die Zerbrechlichkeit des Lebens schreiben, ist nicht zu widerspre chen, aber ich glaube, daß jedem von uns eine bestimmte Art von Unsterblichkeit gegeben ist. Wenn jeder von uns einen Teil seiner Mittel dem ständigen Bemühen nach Wissen zur Verfügung stellt, haben wir etwas Dauerhaftes geschaffen. Wofür wir letztlich etwas geben, ist nicht wichtig: Diejenigen, die mit ihren großzügigen finan ziellen Zuwendungen kontinuierliche Forschung ermöglichen, haben nicht weniger Verdienste erworben als die Forscher selbst. Aber das war Ihnen ja schon immer bekannt. Es entspricht voll und ganz Ihrem Charakter, daß Sie sich zu einer Zeit, da Ihnen Ihre Gesundheit Sorgen bereitet, um das Wohlbefinden Ihres Hundes sorgen. Ich hoffe, Sie verstehen mich richtig, wenn ich zu Ihrem Plan, den Sie für Ihre Nichte und Ihren Neffen ausgearbei tet haben, eine Meinung äußere, wenngleich ich der Auffassung bin, daß Sie noch lange nicht an eine solche Möglichkeit denken müssen. Aber nachdem Sie mich nach meiner Meinung fragen, muß ich Ihnen antworten. Meine Ansichten stimmen völlig mit den Ihren überein. Ich stimme Ihnen zu, daß es in dem undenkbaren Fall, daß Sie Ihren Hund Randall verlassen müssen, ideal für ihn wäre, wenn er seinen derzeitigen Aufenthaltsort beibehalten könnte. Natürlich sind Ideale manchmal unerreichbar. Es ist ein Segen, daß 266
Sie eine Nichte und einen Neffen haben, die eine solche Vorsorge be grüßen würden – die, wie ich meine, völlig unnötig ist, aber schon al lein dadurch, daß Sie diese Möglichkeit in Betracht ziehen, ist Ihr einzigartiges und wunderbares Empfinden für Tiere für mich wieder einmal unter Beweis gestellt. Mit freundlichen Grüßen Ernest Jeffords Lake las den Brief nochmals. Dieser habgierige Parasit hatte kräftig da bei mitgewirkt, Lake fünf, sechs oder sieben Jahre in einem Gefängnis aus Stein zu kasernieren. Ohne Jeffords Ermutigung hätte Tante Ilsa diese Idee vielleicht fallengelassen. Dann dachte Lake an Vere. Als Freund Tante Ilsas und als ihr Rechtsberater hätte er es ihr ausreden können. Er hätte sie daran hin dern können, ein solches Testament aufzusetzen, hatte es aber nicht getan. Und nicht nur das, er war auch später nicht geneigt, das Arran gement zu ändern. Er hatte Lake mit Prinzipien geknebelt. Er hatte ge sagt: Entweder man hat Ehre im Leib oder nicht. Und Jennifer war da bei gewesen. Lake betrachtete den Brief und dachte über Jeffords und Vere nach, einer links und einer rechts neben seiner Tante: Komplizen. Eine Ah nung stieg in ihm auf. Er überlegte. Es war extrem weit hergeholt, aber doch einen Versuch wert. Zum ersten Mal seit Wochen spürte er ein Aufflammen seiner Leidenschaft am Kräftemessen.
Am nächsten Tag im Büro – die anderen waren in der Mittagspause – wählte Lake die Nummer des Instituts für das Verständnis von Tieren. Eine quäkende Stimme meldete sich: »Ernest Jeffords.« »Mr. Jeffords, mein Name ist Lake Stevenson. Ich bin der Neffe von Ilsa Grinnell, der verstorbenen Ilsa Grinnell.« 267
»Ja?« »Ich bin ihr Erbe«, sagte Lake. »Ah, ich verstehe. Ja, ich verstehe. Mrs. Grinnell war eine unserer be sten … sie war unserem Institut stets in großer Freundschaft verbun den.« »Ich weiß, weshalb.« »Wie meinen Sie das, Mr. …« »Stevenson.« »Wie meinen Sie das, Mr. Stevenson?« »Ich habe mir die Freiheit genommen, Ihre Briefe an meine Tante zu lesen. Es ist klar, wieviel Ihre Organisation meiner Tante bedeutet hat. Und Ihr Rat.« »Das ist sehr freundlich von Ihnen.« »Ich gehe davon aus, daß das Institut aus ihrem Vermögen ein Ver mächtnis erhalten hat.« »Ja. Ein sehr großzügiges.« »So war sie. Ich rufe Sie an, weil ich hoffe, daß Sie mich über die Ak tivitäten Ihres Institutes weiterhin auf dem laufenden halten.« »Aber gerne. Mit dem größten Vergnügen.« »Ich wohne in ihrem Haus in Chestnut Hill.« »Noch heute werde ich einige Unterlagen zur Post geben. Das Insti tut unterstützt im Moment einige viel versprechende Forschungsvor haben. Ich bin sicher, daß Mrs. Grinnell größtes Interesse daran ge habt hätte.« »Ich bin schon sehr gespannt auf die Informationen. Da wir gera de von dem Haus in Chestnut Hill sprechen, fällt mir etwas ein. Dazu würde ich gern Ihren Rat hören. Ich habe folgendes Problem: Ich bin nicht verheiratet und habe keine Familie. Man könnte also durchaus sagen, daß ich eigentlich zu jung bin, um in einem Haus wie diesem zu wohnen. Wie Sie wissen, wollte meine Tante vermeiden, daß ih rem Hund nach ihrem Tod zu viele Veränderungen aufgebürdet wer den. Das Haus wurde mir mit der Maßgabe hinterlassen, daß es so lan ge das Zuhause des Hundes sein sollte, bis er eines natürlichen Todes stirbt.« 268
»Ja. Ich weiß, daß sie das gewünscht hat. Ich schrieb ihr meine Mei nung zu … nun, zur Selbstlosigkeit dieser Entscheidung.« »Ich habe Ihren Brief gelesen und sehr bewundert. Sie haben sie of fenbar in ihrer Ansicht bestärkt, daß es das Wichtigste sei, Randall weiterhin die Fürsorge und Liebe zuteil werden zu lassen, die er von Tante Ilsa empfangen hat.« »Ja, gewiß.« »Ich würde mir niemals anmaßen, mich mit Tante Ilsa zu verglei chen, wenn es um die Fürsorge für einen Hund geht, wohl aber, was die Liebe betrifft. Ich hoffe, daß ich ihr in dieser Hinsicht das Wasser reichen kann.« »Natürlich.« »Randall ist mir sehr ans Herz gewachsen.« »Das freut mich zu hören.« »Und nun hätte ich gerne Ihren Rat – und auch Ihre Hilfe. Ich glau be, wir stimmen darin überein, daß die Fürsorge und die Liebe zum Hund an erster Stelle stehen und daß das Haus von sekundärer Be deutung ist. Ich gehe sogar noch weiter: Ich würde behaupten, daß ein Hund in dem Haus am glücklichsten ist, das seinen Herrn am glück lichsten macht. Daraus folgt: Fühlt sich das Herrchen nicht wohl, fühlt sich auch der Hund nicht wohl.« »Sehr richtig.« »Die einzige Schwierigkeit besteht darin, daß der Testamentsvoll strecker von mir erwartet, in diesem Haus wohnen zu bleiben. Er heißt Billington Vere.« »Bestimmt wünscht er sich auch, daß der Hund glücklich ist.« »Das meinen Sie, Mr. Jeffords. Ich habe dagegen den Eindruck, daß er den derzeitigen Status beibehalten möchte. Er sieht die Sache aus dem Blickwinkel eines Rechtsanwalts. Er käme niemals auf die Idee, daß es Randall besser gehen würde, wenn ich woandershin ziehe.« »Nein. Ein Rechtsanwalt würde es bestimmt nicht aus der Sicht ei nes Hundes sehen.« »Und deswegen möchte ich Sie um folgenden Gefallen bitten: Sie sind eine Autorität auf dem Gebiet der Tierforschung, also würde Mr. 269
Vere auf Ihre Meinung hören. Ich wäre Ihnen wirklich sehr verbun den, wenn Sie ihm schreiben könnten. Ich gebe Ihnen seine Adres se. Sie könnten ihm schreiben, daß Sie nichts dagegen einzuwenden hätten, wenn ich das Haus verkaufe. Vielleicht erwähnen Sie sogar, daß dies eine wünschenswerte Lösung sei. Sie könnten ihm schreiben, daß meine Tante Sie über viele Jahre in Angelegenheiten ihres Hundes konsultiert hat.« »Ich denke, daß sie in diesen Angelegenheiten meine Meinung schätzte.« »Davon bin ich überzeugt. Und ich zweifle auch nicht daran, daß Mr. Vere ebenso denken wird.« »Sehr freundlich von Ihnen, Mr. Stevenson, daß Sie das sagen.« »Meinen Sie, daß Sie ihm schreiben könnten?« »Ja, ich denke schon.« »Sie könnten vielleicht erwähnen, daß ich Sie angerufen habe, um Ihren Rat zu erbitten, wie es meine Tante früher so oft getan hat.« »Ja.« »Sagen Sie einfach, daß dieses Thema im Verlauf des Gespräches an geschnitten wurde. Sie hätten die Situation mit mir erörtert und wä ren zu der Ansicht gelangt, daß Sie sich in Anbetracht Ihrer langjähri gen Beziehung zu meiner Tante nun dazu äußern sollten. Der Umzug in ein kleineres Haus wäre durchaus in Randalls Interesse. Genau das hätte meine Tante gewollt, wenn sie alle Fakten hätte berücksichtigen können, die sich inzwischen ergeben haben.« »Ich werde den Brief gerne für Sie schreiben.« »Ich bin Ihnen für Ihre Hilfe wirklich dankbar, Mr. Jeffords. Würden Sie bitte Mr. Vere auch noch darum bitten, mich zu informieren, ob er mit Ihrem Rat einverstanden ist?« »Natürlich. Ich werde Mr. Vere noch heute schreiben.« »Und denken Sie bitte daran, mir die Unterlagen über Ihr Institut zu zusenden. Ich möchte alles über Ihre laufenden Projekte wissen. Meine Tante und ich hatten viele gemeinsame Interessen.« Ein paar Tage später flatterte mit der Post eine Nachricht ins Haus. 270
Sehr geehrter Mr. Stevenson, kürzlich erhielt ich einen verblüffenden Brief von einem Mr. Ernest Jeffords. Ich habe den Eindruck, daß er für Sie tätig ist, obwohl er verschiedene Presseartikel über Delphine und Schimpansen beifügte und mich offenbar als Tierschutzaktivisten betrachtet. Bitte teilen Sie ihm mit, daß ich keinerlei Interesse daran habe, seiner Organisation etwas zu spenden. Mr. Jeffords hatte die Frechheit, mich zu bitten, Ihnen die Erlaubnis zu erteilen, das Haus zu verkaufen, das Ihnen Ihre verstorbene Tante so großzügigerweise hinterließ. Ich will mich in dieser Angelegenheit auf die Gesetzeslage beschränken. So gesehen gibt es nichts, was Sie davon abhalten könnte. Die einzig möglichen Hindernisse wären Ihr Ehrgefühl, Ihr Respekt vor den Wünschen Ihrer Tante und die Tatsache, daß Sie Ihr Wort gegeben haben. Vielleicht hat das für Sie keinen hohen Stellenwert. Wie dem auch sei, wie Sie sich entschei den, liegt voll und ganz bei Ihnen. Hochachtungsvoll Billington Vere Vere war eine harte Nuss, aber ein würdiger Feind. Lake klebte den Brief an die Kühlschranktür, damit er ihn jeden Tag ansehen konnte. Es hatte eine gewisse Faszination, Tag für Tag sein Todesurteil zu le sen. Dann rief ihn Charlotte im Büro an: »Lake«, sagte sie, »ich finde, du solltest wissen, daß wir uns trennen, Frank und ich.« »Das tut mir leid, Charlotte.« »Das braucht dir nicht leid zu tun. Im Gegenteil.« »Was wirst du jetzt tun? Ich meine, was hast du vor?« »Ich fange wieder zu leben an.« »Sag mir, wenn du was brauchst. Zieht Frank aus?« »Die Farm gehört Frank. Und abgesehen davon kann ich sie ohnehin nicht leiden. Ich bin ein Stadtmensch. Ich miete mir wahrscheinlich zunächst mal was. Eigentlich habe ich an Chestnut Hill gedacht.« 271
»Das kann ich dir nicht empfehlen.« »Hast du dich immer noch nicht eingewöhnt?« »Eigentlich nicht.« »Nun, deshalb rufe ich eigentlich an, Lake. Ich dachte mir schon, daß du deine Meinung über das Haus noch nicht geändert hast. Könntest du dir vorstellen, es mir zu vermieten?« »Vermieten?« »Vermiet mir dein Haus, Lake. Komplett möbliert. Ich finde es Klas se. Es ist perfekt für mich.« »Das geht leider nicht.« »Warum nicht? Du rennst dauernd herum und machst die Türen zu. Du wärst woanders viel glücklicher.« »Ich muß hier wohnen«, sagte er. »Ich vermiete es dir in fünf Jahren, vielleicht auch erst in sechs.« »Und du überlegst es dir nicht anders?« »Mein Ehrgefühl verbietet es mir«, sagte er.
Weihnachten rückte näher, und er arbeitete weiterhin bis in den späten Abend. Der Vertrag für das neue Bürogebäude war unterzeichnet. Im Januar würde InstruX in ein großes Haus umziehen, das einen Konfe renzraum, ein Fotostudio und viel zusätzlichen Raum für eine spätere Expansion bot. Lake nahm an, daß InstruX innerhalb des kommen den Jahres enorm wachsen würde. Er würde in Arbeit ertrinken; das Leben würde einfacher werden. Er beobachtete mit Wohlgefallen, wie Rob und Mary sich verstohlen umkreisten. Eines Tages sprach ihn Rob an: »Ich muß mich nochmals für die Druiden-Geschichte bedanken. Ich komme mit dem Stück gut voran.« »Wie sieht die erste Szene aus?« »Die Mönche stellen ein Kreuz an der Stelle auf, wo sie in Maine an Land gingen, aber der Druide hält sich im Hintergrund. Es erklingt in dianische Musik, die sich in die Gesänge der Mönche mischt.« 272
»Wie wird die Geschichte ausgehen?« fragte Lake. »Ich denke an eine Art Friedensvertrag zwischen den keltischen und den indianischen Geistern. Ein magisches Appomattox sozusagen.« »Nicht schlecht«, sagte Lake. »Ich werde Ernest Jeffords eine Ein trittskarte schicken.« Am selben Tag kaufte Lake Weihnachtsgeschenke: Einen Arztkoffer für Emily, einen kleinen ausgestopften Bären für Steebie, Bücher für Karen, Stephen, Philippa und seinen Vater, ein Dartspiel für Richie. Er schickte die Pakete in den Norden. Auf dem Heimweg hielt er an ei nem Zoofachgeschäft und suchte auch für Randall ein paar Geschen ke aus, verschiedene Hundeleckereien. Es war ihm klar, daß es besser wäre, die Weihnachtsfeiertage in mög lichst großer Entfernung von Chestnut Hill zu verbringen. Aber er hat te sich nicht die Mühe gemacht, eine Reise zu planen, und nun war es zu spät. Er beschloß, einfach jeden Tag ins Büro zu gehen; das lange Weihnachtswochenende würde er schöpferisch nutzen. Am Dienstag fielen fast fünfzehn Zentimeter Schnee. Draußen fuh ren Lastwagen vorbei, räumten die Straßen und streuten Salz. Er ar beitete bis zehn Uhr abends, fuhr dann nach Hause und sah sich bis Mitternacht eine Talkshow an. Am nächsten Tag fuhr er früh ins Büro und vertiefte sich in die Arbeit. Randall langweilte sich, wanderte ziel los umher, auf der Suche nach Abwechslung. Schließlich legte er sich zu Marys Füßen schlafen. Als er zu schnarchen begann, stieß sie ihn mit dem Fuß an. Danach war als einziges Geräusch im Büro nur noch das Klicken der Computertasten zu hören. Gegen halb elf klingelte sein Telefon. Mary nahm den Anruf entge gen. Lake hörte, wie sie sagte: »Mayhew, Foster? Einen Moment bitte.« Sie schaute zu Lake hinüber, zögerte, ahnte etwas, obwohl er ihr gegen über nichts von seinen Problemen erwähnt hatte. Fast traurig sagte sie: »Für dich.« Er dachte: Bitte, lass es Jennifer sein! Bitte. Er nahm den Hörer ab. »Hier spricht Binky Foster von Mayhew, Fo ster, Mr. Stevenson«, sagte die Stimme am anderen Ende. »Wir haben vor vier Monaten miteinander gesprochen.« »Ja, ich weiß«, sagte Lake. »Sie haben mir die Nummer von Jenni 273
fers Autotelefon gegeben. Bitte nennen Sie mich nicht Mr. Stevenson. Ich heiße Lake.« »Gut, Lake. Hätten Sie einen Augenblick Zeit?« »Ja.« »Ich weiß, es hört sich wie ein Überfall an«, sagte sie. »Und es ist auch wirklich etwas ungewöhnlich, aber vielleicht kommt es Ihnen ja gelegen. Erinnern Sie sich noch an die Dankmyers, die Leute, die Ihr Haus kaufen wollten?« »Sicher.« »Also, falls Sie es sich inzwischen anders überlegt haben sollten, woll te ich Ihnen nur sagen, daß die Dankmyers nach wie vor sehr interes siert sind. Ich glaube sogar, daß sie den vollen Preis bezahlen möch ten.« »Mein Haus scheint ja wirklich sehr begehrt zu sein«, sagte Lake. »Gerade erst wollte es jemand mieten.« »Es ist eben etwas Besonderes«, sagte sie. »Es ist genau das, was die Dankmyers suchen. Sie haben sich geradezu in das Haus verliebt.« »Leider ist meine Antwort noch immer dieselbe, Binky. Es steht nicht zum Verkauf. Vielleicht in fünf oder sechs Jahren. Das hängt von ei nem Hund ab, und der ist nicht sehr kooperativ.« »Ich verstehe. Ich hoffe, Sie nehmen es mir trotzdem nicht übel, daß ich gefragt habe.« »Überhaupt nicht.« Nachdem er aufgelegt hatte, starrte Lake aus dem Fenster. Es war nicht die Art von Mayhew, Foster, Leute anzusprechen, die kein Inter esse bekundet hatten, ihr Haus zu verkaufen. Er rief sie nochmals an. »Binky«, sagte er, »gibt es einen speziellen Grund, der Sie darauf gebracht haben könnte, daß dieses Haus viel leicht doch zu verkaufen sei?« »Wir arbeiten immer noch für die Dankmyers«, sagte sie. »Aber Sie hätten mich bestimmt nicht angerufen, wenn Sie nicht glauben würden, daß ich meine Meinung geändert haben könnte.« Sie zögerte. »Das ist richtig«, sagte sie. »Normalerweise würde ich das nicht tun.« 274
»Und was brachte Sie darauf zu glauben, daß ich mich anders ent schieden hätte?« »Ich muß mich entschuldigen, Lake. Das war sicher ein Versehen.« »Entschuldigen Sie sich nicht«, sagte er. »Es ist schon in Ordnung. Ei gentlich lagen Sie ja auch gar nicht so falsch damit. Eine Zeitlang war ich tatsächlich am Überlegen. Vielleicht können Sie ja Gedanken le sen.« »Nein.« »Nein, das ist mir klar«, sagte er. »Ist Jennifer da?« »Ja.« »Ich muß dringend mit ihr sprechen.« Jennifer kam an den Apparat. »Hallo«, sagte sie vorsichtig. »Hallo«, sagt er. »Ich würde gern etwas wissen, und ich könnte mir vorstellen, daß du es mir sagen kannst.« »Was ist es?« »Warum hat mich Binky Foster gefragt, ob ich das Haus den Dank myers nicht doch verkaufen möchte?« »Nachfassen gehört zum Geschäft von Immobilienmaklern.« »Das stimmt nicht«, sagte er. »Zumindest macht eure Firma es nicht so. Sie dachte, ich wäre interessiert. Was hat sie dazu gebracht?« »Ich habe ihr gesagt, daß es vielleicht so sein könnte.« »Ich höre«, sagte er. »Ich war übers Wochenende bei den Großeltern«, sagte sie. »Mein Großvater hat mir den Brief von einem Tierforscher gezeigt. Dieser Mann hat geschrieben, daß du mit ihm über das Haus gesprochen hast. Daß du es verkaufen wolltest.« »Das habe ich mir gedacht.« »Mein Großvater sagte, daß er dir gleich nach Erhalt dieses Briefes geschrieben hat.« »Hat er dir gesagt, was er geschrieben hat?« »Daß es deine Entscheidung sei, ob du das Haus verkaufen willst oder nicht.« »Und daß es eine Frage der Ehre, des Ehrenwortes und des Respekts gegenüber dem Wunsch meiner Tante sei?« 275
»Alles«, sagte sie. »Wie kommt dein Großvater dazu, so etwas mit dir zu besprechen?« »Nun, er weiß, daß ich mit dir befreundet war«, sagte sie. Sie zögerte und fügte dann hinzu: »Es war eine seiner Moralpredigten. Er nutzt die klein ste Chance, jedem in der Familie moralische Lektionen zu erteilen.« »Ich verstehe.« »Er sagte, er sei sicher, daß du das Haus verkaufen würdest. Er hätte keinen Zweifel daran.« »Deswegen hast du Binky gebeten, mich anzurufen, damit sie die Provision einstreichen kann?« »Nicht unbedingt«, sagte sie. Lake vernahm einen merkwürdigen Ton in ihrer Stimme. »Was heißt, nicht unbedingt?« »Es ist nicht wichtig.« »Es ist schon wichtig«, sagte er. »Ich habe meinem Großvater gesagt, daß er unrecht hat.« »Das hast du ihm gesagt? Du hast ihm gesagt, ich würde nicht ver kaufen?« »Ich sagte, ich glaube nicht, daß du verkaufst.« »Aber du warst dir nicht sicher.« »Ich habe mit ihm gewettet.« »Um wieviel?« »Fünf Dollar.« »Ein nicht gerade hoher Einsatz«, sagte Lake. »Du kennst meinen Großvater nicht«, sagte sie. »Für ihn sind fünf Dollar ein sehr hoher Einsatz.« »Etwas verstehe ich nicht. Wenn du nicht erwartet hast, daß ich ver kaufe, warum hast du Binky anrufen lassen?« »Ich wollte wissen, ob ich meine Wette gewinne«, sagte sie. Lake ertrank förmlich in ihrer Stimme. Er sagte: »Du hast nicht ge rade viel Geduld bewiesen, oder?« »Eigentlich nicht.« »Das grenzt ja schon fast an Skrupellosigkeit.« »Das ist mir egal.« 276
Er lauschte ins Telefon, versuchte, die Bedeutung ihrer Worte zu er fassen. Dann erblühte die Antwort plötzlich strahlend und überwälti gend und füllte den leeren Raum zwischen ihnen: Was ich mache, in teressiert sie. Er wußte, daß sie ebenfalls versuchte, die Bedeutung seiner Worte zu erfassen. »A propos, Mittagessen«, sagte er. »Was für ein Mittagessen?« »Wir hatten uns zum Mittagessen verabredet. Im Oktober übrigens, aber da hab ich's leider nicht geschafft. Aber jetzt hätte ich Zeit.« »Wann?« »Jetzt. Sofort.« »Lake, es ist noch nicht mal elf.« »Dann um zwölf.« »Ich habe um Viertel vor eins einen Termin, auf den ich mich noch vorbereiten muß.« »Wir gehen in den McDonald's, bei deinem Büro um die Ecke. Von zwölf bis halb eins. Von zwölf bis Viertel nach zwölf.« »Gut.«
Als sie sich an den Tisch setzte, wirkte sie verlegen. Er war nervös. Sie gingen an die Theke, um sich ihr Essen zu holen, und standen wort los nebeneinander. Als sie wieder am Tisch saßen, schob er sein Essen zur Seite. Er wußte nicht, wie er beginnen sollte. Er schaute zum Fen ster hinaus. Eine verirrte Schneeflocke flog vorbei. »Wir werden wei ße Weihnachten kriegen«, sagte er. Dann: »Was machst du an Weih nachten? Florida?« »Ich gehe mit Jackie und ihren Eltern zum Skifahren. Sie haben in Sun Valley eine Hütte. Und was machst du?« Er konnte nicht sagen, daß er arbeiten wollte; das würde pathetisch klingen. »Philippa hat mich nach Greenwich eingeladen«, sagte er. Das war nicht einmal gelogen. Sie hatte ihn wirklich eingeladen. 277
Jennifer nickte. »Du erinnerst dich doch noch an Philippa«, sagte er. »Ja.« »Aber bestimmt hast du keine Lust, darüber zu sprechen«, meinte er. »Willst du denn darüber sprechen?« Er wollte nicht, aber es gab kein Entrinnen. »Dieser Besuch damals war eine einzige Katastrophe«, sagte er. »Ich hätte dich nicht in die se Situation bringen dürfen. Ich hatte unsere Beziehung falsch einge schätzt.« Sie beobachtete ihn, gewappnet und distanziert. Lake verließ der Mut. Er sagte: »Wo mein Vater ist, gibt's Schwierigkeiten.« Aber er wußte, daß sein Vater und Philippa nur Statisten waren: Jen nifer hatte sich ihre Meinung über ihn gebildet, bevor sie an diesem Tag geklingelt hatte. »Ich war blind«, sagte er. »Ich habe nicht gemerkt, was los war. Als du Philippa erzählt hast, daß du für uns keine Zukunft siehst, ist eine Welt für mich zusammengebrochen. Aber ich möchte es noch einmal versuchen, wenn du mich läßt.« »Was hab ich gesagt?« »Daß es mit uns zu nichts führt. Du warst ja nur ehrlich.« »Wovon sprichst du eigentlich?« fragte sie. Er sah sie an. »Doch, hast du«, sagte er. »Was genau, glaubst du, habe ich zu ihr gesagt?« fragte Jennifer. »Du kannst dich doch noch daran erinnern«, sagte er. »Philippa war der Meinung, daß wir Pläne schmiedeten – vermutlich, weil sie selbst Pläne schmiedete –, und sie hat dich nach dem Haus gefragt. Ob es dir zusagen würde.« »Ich habe überhaupt nichts zu dem Haus gesagt.« »Sie hat die Frage ganz direkt gestellt. Es ging sie überhaupt nichts an. Ich fand es unglaublich anmaßend, daß sie dich danach gefragt hat.« »Ich glaub's einfach nicht«, sagte Jennifer. »Sie hat mich gefragt, wie es mir gefällt. Sie hat gesagt, ach, ist es nicht nett, alle zusammen, ist 278
es nicht unglaublich nett hier? Das hat sie gesagt. Und sie war halb be trunken, und dein Vater war absolut destruktiv. Das alles war mir zu wider. Ich habe so etwas zu oft erlebt. Bei meiner eigenen Mutter. Ich wollte nicht dabeisein. Das habe ich gesagt.« »Du mußt deine Worte nicht zurücknehmen. Ich bitte dich nicht darum, sie zurückzunehmen.« »Ich habe nie etwas über das Haus oder über uns gesagt. Wie kannst du nur so etwas glauben, Lake?« Er merkte, wie das Blut aus seinem Gesicht wich. »Aber ich konnte es«, sagte er. »Ich hab es geglaubt. Ich hätte doch nie im Leben so reagiert, wenn das alles war, was du gesagt hast?« »Ich habe gesagt, daß dein Vater bösartig ist«, sagte sie. »Du kannst über ihn alles sagen, was du möchtest. Du weißt ja kaum etwas.« Aber er spürte, daß da noch etwas war. Sie saß aufrecht auf ihrem Stuhl. Ihre Augen verdüsterten sich. »Später habe ich mir dann ge dacht, daß vielleicht etwas anderes dahintersteckte«, sagte sie. »Etwas anderes?« Nach kurzem Zögern sagte sie: »Ich dachte, daß du dich von mir trennen möchtest und daß es dir nach diesem Tag einfach leichter ge fallen ist, es durchzuziehen.« »Jennifer, aber weshalb sollte ich das gewollt haben?« Sie schüttelte den Kopf. »Warum? Warum?« »Ich muß jetzt los.« Er wollte ihre Hand fassen, aber sie entzog sie ihm. Draußen stauten sich die Autos; Menschen strömten in das Restau rant. Er wußte plötzlich die Antwort: »Charlotte«, sagte er. »Du hast geglaubt, daß ich etwas mit Charlotte habe. Du dachtest, ich hätte dich angelogen.« Sie war aufgestanden, ging auf den Ausgang zu. »Ich hatte nichts mit ihr«, sagte er, als er aufstand. Er lief ihr nach, blieb dicht an ihrer Seite, als sie über den Parkplatz ging. Sie hatten ihr Auto erreicht. Sie sah ihn nicht an. Er legte die 279
Arme um sie. »Ich habe dich nicht angelogen. Ich würde dich niemals anlügen.« »Sag bitte nichts, sag bitte nichts«, sagte sie. Er hielt sie einen Augenblick lang fest in seinen Armen. Dann hielt er ihr die Tür auf und schaute ihr nach, als sie wegfuhr. Er dachte: Wir fangen noch mal von vorn an, und dann wird es nie mehr auf hören.
In diesem Augenblick beschloß er, sich ein schönes Weihnachtsfest zu machen. In seinen Gedanken war es schon Januar und Jennifer aus dem Skiurlaub zurück. Auf dem Heimweg kaufte er einen großen Le bensmittelvorrat für das lange Wochenende ein. In derselben Nacht unternahm er wiederholte Ausflüge zu Tante Ilsas Brennholzlager in der Garage. Er zündete ein Feuer im Kamin an und stapelte reich lich Holzscheite daneben. Er rückte einen Stuhl an den Kamin. Er und Randall würden jeden Abend vor einem prasselnden Kaminfeuer sit zen, und das Haus würde von Chorälen erfüllt sein. Er breitete die Ge schenke von Philippa und Karen auf dem Wohnzimmertisch aus. Er holte Randalls Strumpf aus dem Keller und hängte ihn an den Kaminschirm. Randall beobachtete ihn interessiert; er erkannte den Strumpf als einen Behälter guter Sachen. Der Donnerstag begrüßte ihn mit einem bleiernen Himmel. Er war mit dem neuen Vermieter verabredet und hatte sich entsprechend in Schale geworfen, aber der Mann rief an und sagte den Termin ab. Nachdem Lake den Hörer aufgelegt hatte, erklärte er die Ferien offizi ell für eröffnet. Paul verteilte computergefertigte Weihnachtskarten, Absender: Ran dall, signiert mit einem Pfotenabdruck. Danny spielte ein Band ab, die Melodie war ›Jingle Bells‹, der Text Hundegebell. Zur Mittagszeit öff nete Lake eine Flasche Champagner und wünschte allen fröhliche Weihnachten. Es begann zu schneien. »Seht euch das an«, sagte Mary, und alle schauten hinaus und freuten sich. 280
Sie bestellten ein nobles Mittagessen und aßen und redeten. Um halb zwei verabschiedete sich Danny, weil er noch einkaufen wollte. Nach einer Weile folgten Rob und Mary. Paul saß an seinem Compu ter. »Geh nach Hause«, sagte Lake. »Wir haben geschlossen.« »Und was ist mit dir?« fragte Paul. »Ich geh auch in ein paar Minuten.« »Ich gehe, wenn du gehst«, sagte Paul. »Ich bleib nicht mehr lange«, sagte Lake. »Komm, hau ab.« »Ich gehe nicht, bevor du nicht gehst«, sagte Paul. »Ich hab meine Anweisungen.« »Von wem?« fragte Lake. »Von allen.« Lake blieb nichts anderes übrig als zu gehen. Es hatte zu schneien aufgehört, aber der Himmel war düsterer denn je. Er nahm sich Zeit auf dem Nachhauseweg, er genoß es, die Leute zu beobachten, die noch schnell Besorgungen machten, sichtlich in Fe rienstimmung. Selbst Chestnut Hill verbreitete auf seine Weise Fest stimmung, mit Girlanden und Lichterketten und dem Lastwagen eines Partyservice vor einer Villa. Sein Haus sah aus wie auf einer Ansichts karte, die wuchtige Steinfassade vom Schnee veredelt. Drinnen war es lausig kalt, und er wollte einen Blick auf den Ther mostaten werfen. Aber so weit kam er nicht. Auf dem Tisch in der Ein gangshalle lagen zwei Pakete, beide in rotes Papier eingewickelt und mit einem grünen Band verknotet. Er schlich um den Tisch herum und überlegte. Nur der Reinigungs service hatte einen Schlüssel zum Haus. Vielleicht gehörte das Vertei len von Geschenken zu ihrer Werbestrategie. Obwohl es nicht danach aussah. Es waren zwei Geschenke. Er trat an den Tisch und schaute sich die Karten an, die von den Bän dern hingen. »Für Lake in Liebe Jennifer.« Auf der anderen stand: »Für Randall Fröhliche Weihnachten.« In Liebe, stand auf seiner Karte. Lake ging in die Bibliothek und setzte sich hin. Er las die Karte. Noch immer stand ›in Liebe‹ darauf. 281
Er rief bei Jennifer in Merion an. Maggie war am Apparat: »Hallo, Lake«, sagte sie. »Jennifer ist nicht da.« »Ist sie schon in Skiurlaub gefahren?« »Nein. Erst morgen. Sie arbeitet noch, aber sie müßte so gegen fünf zu Hause sein.« »Okay«, sagte er. »Ich möchte nur schnell etwas vorbeibringen. Ich bin in ungefähr einer halben Stunde da.« »Fahr vorsichtig«, sagte Maggie. Er rannte nach oben, fummelte unter seinen Socken in der obersten Schublade des Schreibtisches und zog die kleine Box mit den Ohrrin gen hervor. Im Keller fand er Geschenkpapier und ein passendes Band und in der Bibliothek eine Schere. Randall schaute ihm zu, während er die Schachtel einpackte. »Kommst du mit?« fragte Lake. Randall wedelte mit dem Schwanz und folgte ihm in die Garage. Es hatte wieder zu schneien begonnen, und der Wind blies durch seinen Mantel. Mit Kennermiene schnüffelte Randall in der Luft. Es war viel los auf den Straßen, der Feiertagsverkehr hatte bereits eingesetzt, und die Autos krochen unter den tanzenden Schneeflocken dahin. Geschlagene zwanzig Minuten stand er in einem Stau, wäh rend die Scheibenwischer gegen die Schneeflocken ankämpften. Wei ter ging es; die Bremslichter blinkten auf und erloschen wieder, wenn die Autos wieder zum Stehen kamen, anfuhren und wieder bremsten. Schließlich war er durch den Stau durch und trat aufs Gas, wenngleich ein übervorsichtiges Wohnwagengespann ihn weiter aufhielt. Allmäh lich wurde es dunkel. Die Wischer produzierten leuchtende Schlie ren an der Scheibe. Eine Verkehrsampel flammte in der Dämmerung grün, gelb und wieder rot; bei jeder Ampelphase schafften es nur weni ge Autos durchzukommen. An einer anderen Kreuzung, fünf Autos vor ihm, drehten beim An fahren die Räder eines Wagens durch. Zwei junge Männer sprangen aus dem Fahrzeug und schoben es über den leichten Anstieg hinauf. Das Auto schlitterte, der Motor heulte, und schließlich fassten die Rei fen wieder. Die Jungs sprangen triumphierend ins Auto. Während er wartete, bis es wieder weiterging, schaute Lake das klei 282
ne Päckchen an und stellte sich vor, wie Jennifer die Ohrringe anlegte. Vielleicht war es ein unpassendes Geschenk; vielleicht war es ihr pein lich, wenn sie es in einer Wohnung in Idaho vor der ganzen Vere-Cli que öffnete; wenigstens wußte keiner von ihnen, wer es ihr geschenkt hatte. Es war nicht wichtig. Er sah, wie sie ihren Kopf neigte, während sie die Ohrringe befestigte. Er sah ihr verstohlenes Lächeln. Um Viertel vor fünf erreichte er die Vororte von Merion, bog von der Hauptverkehrsstraße ab in eine Seitenstraße, die er manchmal als Abkürzung wählte. Ein Windstoß wirbelte eine Schneewolke vor ihm auf. Als er die Bremse antippte, schlitterte der Wagen leicht, fing sich aber gleich wieder. Er fuhr einen Abhang hinunter und gab Gas, als die Straße wieder anstieg. Keine Reifenspur störte die schneebedeck te Straße. Jungfräulich. Hinter den wirbelnden Schneeflocken tauchten plötzlich Scheinwer fer auf. Sie kamen auf ihn zu; zu schnell; der Fahrer hatte nicht er wartet, auf dieser Straße einem anderen Auto zu begegnen. Er sah die Scheinwerfer schwanken. Dann leuchteten sie in eine andere Richtung, der herannahende Wagen lag beängstigend schräg auf der Straße und rutschte ihm in Zeitlupe mit blockierten Rädern entgegen. Kurz er haschte er das angstverzerrte Gesicht einer Frau. Im letzten Moment vor dem Zusammenstoß riß er das Steuer herum. Sein Auto sprang über die Bordsteinkante und durch einen niedrigen Schneehaufen, den der Pflug zurückgelassen hatte, dann stand er: mit den Vorder reifen auf einem fremden Rasen. Das andere Auto glitt in völliger Stil le, immer noch seitlich zur Straße, an ihm vorbei. Lake drehte sich um und schaute ihm nach. Die Frau schaffte es, das Auto wieder in ihre Gewalt zu bekommen, bevor sie die Anhöhe hinter sich gebracht hat te. Ohne anzuhalten fuhr sie weiter. Randall war vom Sitz gefallen, kletterte aber gleich wieder hoch und war offensichtlich nicht nachhaltig beeindruckt. Lake streichelte ihn und sagte: »Immer anschnallen.« Er legte den Rückwärtsgang ein. Die Vorderräder drehten sich, aber das Auto rührte sich kaum von der Stelle. Er versuchte es mit dem Vor wärtsgang; das half auch nichts. Er wippte vor und zurück, und das 283
Auto arbeitete sich ein paar Zentimeter durch den Schneehaufen hin ter den Vorderrädern; dann saß er wieder fest. Er stieg aus, um die Lage zu peilen. Das Problem war nicht groß: Das Vorderteil des Autos saß auf dem Schneehaufen. Wenn er etwas Schnee unter dem Motor wegräumen würde, konnte er rückwärts rausfahren. Aber dazu hatte er jetzt keine Zeit. Er schaute auf die Uhr: Sechzehn Uhr achtundvierzig. »Komm, Ran dall«, sagte er, und Randall sprang aus dem Auto. Lake nahm das klei ne Päckchen und steckte es ein. Er überlegte: Jennifer wohnte noch etwa eine Meile entfernt. Sie wür de gegen fünf nach Hause kommen. Er wollte ihr das Geschenk so überreichen, wie sie es getan hatte – klammheimlich, mit einem lie bevollen, schriftlichen Gruß. Er konnte es schaffen, vor ihr da zu sein und wieder weg. Er konnte und er würde es schaffen. Aber er würde laufen müssen, und Lake war ein Läufer. Ein Gedanke kam ihm, als er seinen Mantel zuknöpfte. Vielleicht war Geschwindigkeit seine natür liche Charaktereigenschaft. Vielleicht war das eine Erklärung dafür, warum er so wenig Geduld hatte. In seinem Kopf knallte ein Startschuss, und er rannte los. Seine Sportschuhe waren auf dem frischgefallenen Schnee fast nutzlos, aber nach einer Weile waren seine Schritte und sein Atem gleichmäßig. Der Schnee blies ihm ins Gesicht und schmolz auf der Haut. Er hatte die Anhöhe erreicht. Die Straße verlief in einer leichten Linkskurve den Abhang hinunter. Er lief in der Mitte der Straße, und seine Schrit te wurden länger. Die einzigen Geräusche waren sein Atem und sei ne Schritte. Es war genau wie viele Jahre früher: Selbst mit dieser Klei dung, selbst mit diesen Schuhen war er jemand, der Zeit und Distanz meisterte. Er warf einen Blick zurück über die Schulter. Randall galoppierte leichtfüßig hinter ihm her; er zeigte den voll konzentrierten Blick ei nes Läufers. Lake sah es und war stolz auf ihn. Alles kam wieder. Dies war sein Tempo, das Tempo des Läufers über eine Meile, weich, gefühlvoll und getragen von einer inneren Strö mung. Sie trug ihn an einer unscharfen Welt vorbei, spülte ihn um 284
die Kurven und die Geraden entlang, Beine und Arme wie Metrono me, die Bahn spulte sich vor ihm ab, Runde um Runde, eine nach der anderen. Während die weiße Straße ihm den Weg wies, erinnerte er sich an die Rennen, die er gelaufen war. In der letzten Runde war er nahe an die Führenden herangekommen, leichtfüßig, hatte abgewar tet. Dann hatte er zu überholen begonnen. Die Gruppe der Läufer teilte sich, manche fielen weit zurück. Aber in der letzten Kurve war norma lerweise immer noch mindestens ein Läufer vor ihm. Lake mobilisier te erst dann die letzten Kräfte, die er sich für diesen Zeitpunkt aufge spart hatte. Sie waren gespeichert, hatten auf ihn gewartet und trieben ihn nun vorwärts. Der Führende spürte ihn hinter sich und kämpfte noch verbissener. Sie fegten um die Kurve. Auf der letzten Geraden la gen sie gleichauf. Lake versuchte noch etwas mehr aus sich herauszu holen. Mit einem Seitenblick stellte er fest, wie sich der andere quälte. Er ließ nicht locker – gab alles, bis zur Ziellinie. Und dann hatte er sie erreicht, er streckte sich, und wie im Rausch flog er über die Linie. Die Straße führte über eine Steinbrücke und mündete in einen dunklen Waldabschnitt, die Flocken rieselten auf ihn herab. Er warf einen Blick über die Schulter. Randall war zurückgefallen, etwa zwan zig Meter, und mühte sich offenbar. »Komm«, rief er. Er sah, wie Ran dall seine Reserven mobilisierte und zu ihm aufholte. Das erfüllte Lake mit Freude. Der Hund verfügte über den wahren Geist eines Läufers. Sie setzten ihren Weg fort, der Schnee spritzte unter ihren Füßen weg, und der Wald rauschte an ihnen vorüber. Lake konzentrierte sich auf seinen Körper und dachte über den Geist eines Läufers nach. Er er innerte sich daran, daß ihm schon früh aufgefallen war – er war da mals sieben oder acht Jahre alt –, daß niemand ihn erwischen konnte, wenn er sich nicht erwischen lassen wollte. Er war schneller als alle an deren; er konnte schweben; er konnte fliegen. Später hatte er bei Wett kämpfen dasselbe Gefühl gehabt – ein grenzenloser Optimismus, das Herz eines Geparden, eine animalische Lust. Aber das Laufen hatte ihn auch gelehrt, daß Geschwindigkeit al lein nicht ausreichte. In jedem Augenblick mußte man wissen, wo man 285
war, was hinter einem geschah, was vor einem lag. Das war eine Lekti on, die er nie vergessen durfte. Jeder Atemzug schmerzte, obwohl die Beine immer noch Kraft hat ten. Der Wald öffnete sich zu einer Häusergruppe. Zur Rechten hörte er Hundegebell. Ein schwarzer Hund kam auf sie zugerannt, stemmte sich mit gespreizten Beinen gegen den Boden, bereit zum Kampf, und giftete die Eindringlinge an. Randall drehte sich um, wurde aber nicht langsamer. Sie liefen weiter. Er warf einen Blick auf seine Uhr: fünf Minuten vor fünf. Sie würden es schaffen. Er trieb sich zur Eile. Er atmete schwer. Aber er wußte, daß er noch eine letzte Kraftreserve hatte, den letzten Kick. Er warf einen Blick über die Schulter. Randall war verschwun den. Dann sah er ihn – fünfzig Meter hinter sich; er schnüffelte am Stra ßenrand. Lake bremste ab, rutschte. »Randall!« rief er. »Komm.« Randall schaute kurz hoch, schnüffelte weiter. Offenbar betrachtete er das Rennen für sich als gelaufen. Lake schaute auf die Uhr: Sechzehn Uhr sechsundfünfzig. Das Haus lag direkt hinter der Kurve. Es war unglaublich; das war nun wirk lich nicht der Geist eines Läufers. »Komm, lauf, lauf«, rief er. Randall schaute auf, erwog seine Alternativen und schnüffelte weiter. Lake rannte zurück. »Du verpfuschst alles, Randall«, sagte er, als er ihn erreicht hatte. Randall schenkte ihm keine Beachtung. »Okay, du hast es so gewollt.« Er packte den Hund um den Brustkorb und hob ihn hoch. Randall wollte sich freikämpfen, aber Lake hielt ihn mit eisernem Griff umklammert. Er begann zu laufen, aber mit diesem Gewicht war das unmöglich. Er verlegte sich auf eine schnelle Gang art. Er keuchte, spürte seine Füße nicht mehr, seine Schuhe waren vol ler Schnee, und die Kraft in seinen Armen ließ nach. Er nahm die letz te Kurve. Er stellte sich den vorderen Zugang zum Haus als Ziellinie vor. Zehn Meter davor beschleunigte er zu einem schwerfälligen Lauf schritt. Er überquerte die imaginäre Linie, streckte sich elegant und ließ Randall hinter der Linie fallen. Seine Uhr zeigte sechzehn Uhr 286
achtundfünfzig Minuten und dreiunddreißig Sekunden. Technisch hatte er einen Sieg errungen – aber Jennifers Auto stand in der Zu fahrt. Mit geschlossenen Augen stemmte er die Hände gegen die Knie, sein Kopf war völlig klar, die Brust hob und senkte sich. Nach einer Weile atmete er ruhiger. Er bürstete sich den Schnee vom Mantel, stellte sich auf ein Bein und leerte den Schnee aus dem anderen Schuh. Dann war er bereit. Er würde nur eine Minute bleiben, nicht länger. Ein Gedanke nahm Gestalt an. »Komm her, Randall«, sagte er. Ran dall näherte sich mißtrauisch. Lake kniete sich hin und löste Randalls Halsband. Er holte die kleine Schachtel aus der Manteltasche, streifte das Geschenkband um den Lederriemen und machte mit gefühllosen Fingern die Schnalle wieder zu. Er trat zurück, um sein Werk zu be trachten. Es sah gut aus. Randall sah einem Miniaturbernhardiner auf Rettungsmission in den Alpen täuschend ähnlich. Er klingelte. Jennifer öffnete die Tür. »Ich hab mir schon Sorgen ge macht«, sagte sie. »Maggie sagt, sie hätte dich schon vor einer Stunde erwartet.« »Wir sind so schnell gekommen, wie wir konnten«, sagte er und warf einen anklagenden Blick auf Randall. »Gib mir deinen Mantel«, sagte sie. Er blieb in der Tür stehen. »Eigentlich wollte ich gleich wieder ge hen«, sagte er. »Ich möchte nur etwas abgeben.« »Du bist ja völlig verfroren.« »Ach, überhaupt nicht«, sagte er. Er deutete auf Randall. »Der hier, falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, ist ein kleiner Bernhar diner.« »Was hat er denn am Hals?« Er griff hinunter und löste Randalls Halsband. Seine Hände wa ren geschwollen und rot, seine Finger verweigerten ihm beinahe den Dienst. Er kriegte das Päckchen trotzdem ab und gab es Jennifer. »Fro he Weihnachten«, sagte er zärtlich. »Warum ist Randall voller Schnee?« fragte sie. »Es schneit ziemlich.« 287
»Hast du Schwierigkeiten gehabt, herzukommen?« »Eigentlich nicht«, sagte er. »Zieh deinen Mantel aus. Schau dir deine Hände an.« Er versteckte sie in den Manteltaschen. Er spürte Eisklumpen an den Augenbrauen und in den Haaren und versuchte sie abzuwischen. »Ich mach dir einen heißen Kakao«, schlug sie vor. Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht bleiben«, sagte er. »Die Stra ßen werden bald unpassierbar sein.« Er lächelte sie liebevoll an. Trotz seiner Vorsätze und obwohl Maggie ihnen zusah und Mike gerade mit einem Bier aus der Küche kam, nahm er sie in die Arme und drückte sein Gesicht in ihr Haar, erlaubte sich einen Augenblick lang, sie fest zuhalten – einen Augenblick nur, gerade so lange, um ihm über die Zeit hinwegzuhelfen, bis er sie wieder festhalten konnte. Sie berührte sein Gesicht mit ihrer Hand. »Du bist ja halb erfroren«, sagte sie. »Setz dich.« Er schüttelte den Kopf. »Du hast bestimmt noch jede Menge zu pak ken. Und ich muß auch noch einiges erledigen.« Er rief ins Haus hin ein: »Fröhliche Weihnachten.« »Fröhliche Weihnachten«, sagten Maggie und Mike. Lake beugte sich zu Randall hinunter und legte ihm das Halsband wieder an. Während er sich noch damit abmühte, verschwand Jenni fer. Schließlich saß das Halsband wieder fest. Zu Maggie sagte er: »Ich glaube fast, daß Randall ein südländischer Typ ist. Jedenfalls hat er spanische Vorfahren.« Jennifer kam zurück. Sie hatte sich einen Parka übergezogen. »Was hast du vor?« fragte er. »Ich begleite dich zum Auto.« »Es ist zu kalt«, sagte er. »Bleib hier, wo's warm ist.« »Ich möchte mit dir sprechen.« »Okay«, sagte er und wartete. »Allein«, sagte sie. Sie öffnete die Haustür und ging in das Schnee treiben hinaus. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Randall trottete hinterher. In der Zufahrt sagte sie: »Wo ist dein Auto?« 288
»Geh wieder ins Haus«, sagte er. »Du ruinierst dir deine Schuhe. Ich ruf dich heut Abend an. Gib mir deine Nummer in Sun Valley.« »Wir unterhalten uns in deinem Auto. Wo steht es?« »Ich wünsche mir auch ein paar Ansichtskarten«, sagte er. »Mit Ber gen.« »In welcher Richtung steht dein Auto?« Er machte eine vage Geste und meinte: »Es ist zu kalt. Geh wieder hinein.« Sie hakte sich bei ihm unter und begleitete ihn. Der Schnee fiel in zwischen in großen, schweren Flocken vom Himmel. Auf dem Geh weg blieb er stehen und drängte sie: »Du mußt zurückgehen.« »Warum?« »Das Auto steht ein paar Minuten weiter weg von hier.« »Warum?« »Randall und ich wollten uns sportlich betätigen.« »Was ist mit dem Auto passiert, Lake?« »Nicht viel.« Sie wartete. »Es steckt fest«, meinte er. »Aber ich kriege es problemlos wieder flott. Das dauert nur ein paar Minuten.« »Ich helfe dir. Mike kann auch helfen.« »Es geht schon. Mir geht es schon wieder gut, abgesehen davon, daß wir im Moment in verschiedene Richtungen gehen. Ich hätte das gern endlich hinter mir.« »Deine Richtung ist Greenwich?« »Der häusliche Herd«, sagte er. »Wo genau ist dieser häusliche Herd?« »Eigentlich hat Philippa ziemlich viele Herde.« »Wirst du Weihnachten bei Philippa verbringen?« Er zuckte die Achseln. »Greenwich ist sicher hübsch, wenn es ver schneit ist«, sagte er. »Du fährst nicht nach Greenwich«, sagte sie. »Wie kommst du darauf?« »Das will ich dir sagen: Als ich heut in deinem Haus war, hab ich 289
den Weihnachtsstrumpf und das Brennholz gesehen. Und in der Kü che die ganzen Lebensmittel. Ich hab mir die Verfallsdaten angesehen. Du hast die Sachen gerade erst gekauft. Du fährst nicht nach Green wich.« »Ja, ich hab's mir anders überlegt.« »Du hattest nie vor, nach Greenwich zu gehen«, stellte sie fest. »Zuviel Arbeit im Büro«, murmelte er. »Wir holen dein Auto morgen früh«, sagte sie. Sie packte ihn am Arm und zog ihn zum Haus zurück. Ihre Füße rutschten auf dem Schnee. »Das kannst du nicht machen«, protestierte er. »Kann ich doch.« Er versuchte sich loszumachen. Seine Füße rutschten weg. Sie ließ seinen Arm los, und er fiel in einer weißen Schneewolke auf den Ra sen. Schnell war er wieder auf den Beinen. »Bin nur ausgerutscht, das zählt nicht«, erklärte er. Aber bevor er sich umdrehen konnte, war sie bei ihm und hatte seinen Arm gepackt. »Ich hab nicht gelogen«, sagte er. »Ich hab nie ausdrücklich gesagt, daß ich nach Greenwich fahre. Ganz bestimmt habe ich das nie ge sagt.« »Sei still.«
Viel später führte sie ihn in ihr Schlafzimmer. Bauschige Kissen, Bü cher auf einem Tisch, drei Trophäen, das Foto eines Tennisspielers, der ihr Vater sein mußte, ein Foto von ihr mit einer Frau, die Jackie sein mußte, ein Druck von Monet, ein kleines Sofa mit orange-grünem Stoffbezug, ein Schreibtisch aus abgelaugtem Holz, geblümte Gardi nen, ein braun-beige gemusterter Teppich. Er erfuhr ihr Zimmer mit den Augen. Als sie das Licht gelöscht hatte und sie in ihrem schmalen Bett lagen, sagte er: »Ich würde gerne wissen, wann genau du vom Skifahren zu rückkommst. Gib mir die Flugnummer.« »Ich gehe nicht zum Skifahren«, sagte sie. »Ich hab den Flug vor ei 290
ner Stunde storniert, als du dich in der Küche mit Maggie unterhal ten hast.« »Jennifer«, sagte er. »Ich bleibe lieber hier.« »Wie bist du in das Haus gekommen?« fragte er. »Ich hatte noch einen Schlüssel von damals, als du das Haus noch verkaufen wolltest«, sagte sie. »Er liegt schon seit letztem Sommer in meinem Schreibtisch. Ich hätte ihn zurückgeben sollen. Vielleicht wußte ich, daß ich ihn irgendwann mal brauchen werde.«
Eines Abends – es war Ende Februar – saßen sie in dem Fischrestau rant, in das sie so gern gingen. Lake sagte: »Letzten Sommer hab ich dich dazu überredet, mich hierher zum Mittagessen einzuladen, als ich dich von Marthas Vineyard angerufen habe.« »Ich glaube, damals war es meine Idee, zum Mittagessen zu gehen«, meinte sie. »Ich habe es dir leichtgemacht.« »Wie?« »Du hast mich zum Mittagessen eingeladen, um mich zu überreden, das Haus doch zu verkaufen.« »Also war's meine Idee«, sagte sie. »Aber du hast nicht darauf bestanden«, antwortete er. »Ich habe dich dazu verleitet, mich noch mal zu fragen. Ich hätte dich nicht fragen können, weil ich mir geschworen hatte, daß ich es nicht tun würde – auf jeden Fall nicht die nächsten drei Monate.« »War's schwer?« »Was?« »Mich dazu zu verleiten, dich noch mal zu fragen?« Er versuchte sich daran zu erinnern. Es schien Ewigkeiten her zu sein. Er wußte noch, daß er Angst hatte, sie könnte ihn unsympathisch finden. Er wußte noch, daß er auf eine zweite Chance gehofft hatte. Als sie vom Mittagessen gesprochen und ihren Vorschlag dann fallenge 291
lassen hatte, hatte er immer wieder gesagt: »A propos, Mittagessen, a propos, Mittagessen« und hatte versucht, ihr über die Distanz die tele pathische Nachricht zu schicken: Frag mich doch, frag mich doch. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Es war nicht schwer«, meinte sie. »Wie meinst du das?« »Ich wollte dich ja fragen.« Sie schwiegen. Er beobachtete sie beim Essen. Wie hübsch sie war, wie lieb, wieviel sie ihm bedeutete! Während er seinen Gedanken nachhing, schaute sie von ihrem Salat auf, blick te ihm in die Augen und errötete. Dann plauderten sie noch eine Wei le – über Krokusse, darüber, wann das Gras wieder grün werden wür de. Dann saßen sie schweigend beieinander. Nach dem Dessert streckte er seinen Arm über den Tisch und nahm ihre Hand. Sein Kopf war von dem einzigen Gedanken beseelt, sie zu berühren. Nur ihre Hand zu halten – mehr wollte er nicht. Nur den Arm ausstrecken und spüren, daß sie da war. Ihm wurde bewußt, daß diese Stille anders war, unendlich tief, nicht die Abwesenheit von Worten erzeugte sie, sondern eine Präsenz, fast hörbar, wenn auch nur fast. Robs Vorstellung von Geistern fiel ihm ein, Geister, die verborgen zwischen Felsen und Bäumen an der Küste von Maine leben. Sie existieren in einer anderen Zeit, hatte Rob gesagt. Deshalb siehst du sie nicht und hörst sie auch nicht, obwohl du weißt, daß sie da sind. Diese Stille war etwas Ähnliches. Fast konnte er Geschehnisse hören, die noch nicht geschehen waren. Sie lagen vor ihm, warteten auf ihn. Die Rechnung kam. Selbst im Auto hielt die Stille an. Lake dachte an die Magie, die über einen Ozean gebracht wurde, auf der Suche nach einer neuen Heimat. Auch er hatte einen weiten Weg zurückgelegt. Er war noch immer auf der Reise, er und Jennifer reisten durch die Nacht von Philadelphia, durch stille Straßen, durch Lichtke gel hindurch, vorbei an Spuren alten Schnees. Dann war es Zeit, anzuhalten. Er war so erfüllt von Gefühlen, daß 292
er nicht weiterfahren konnte. Er bog in eine dunkle Straße, deren Na men er nicht kannte, und fuhr an den Randstein. Er streckte die Arme nach ihr aus, aber sie kam ihm bereits entgegen. »Heirate mich«, bat er. »Bitte heirate mich.« Und sie sagte ja. Sie sagte ja.
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