Die Handlung setzt 1806 mit den Napoleonischen Kriegen in Deutschland ein, als ein Ansbacher Dragoner von der preußisch...
24 downloads
546 Views
853KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Die Handlung setzt 1806 mit den Napoleonischen Kriegen in Deutschland ein, als ein Ansbacher Dragoner von der preußischen Armee bei Königsberg desertiert, sich mit seiner Frau nach Mühlhausen in Thüringen durchschlägt und später, als Mühlhausen preußisch wird, seinen Namen ändert. Mehr als hundert Jahre später, am Ende des Zweiten Weltkriegs, wird ein Nachkomme dieses Franz Schirmer für eine amerikanische Millionenerbschaft gesucht. Ein amerikanisches Anwaltsbüro entsendet eine neugierige Nachwuchskraft nach Europa, und Eric Ambler führt in diesem Fall, in einem seiner besten Bücher, zwei Jahrzehnte europäischer Kriegs- und Nachkriegsgeschichte vor: zunächst die deutsche, dann die griechische und jugoslawische.
Eric Ambler
Schirmer Erbschaft Roman Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Diogenes
Titel der 1953 bei William Heinemann, London, erschienenen Originalausgabe: ›The Schirmer Inheritance‹ Copyright © 1953 by Eric Ambler Die deutsche Erstausgabe erschien 1955 im Fischer Verlag, Frankfurt a. M.; eine erste ungekürzte deutsche Ausgabe erschien 1975 in einer revidierten Übersetzung im Diogenes Verlag Umschlagfoto von Werner Richner
Für Sylvia Payne
Neuübersetzung Alle deutschen Rechte vorbehalten Copyright © 1975, 2001 Diogenes Verlag AG Zürich www.diogenes.ch isbn 3 257 23274 8
Prolog
I
m Jahre 1806 schickte Napoleon sich an, den König von Preußen aufs Haupt zu schlagen. In der Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt erlitten die preußischen Armeen eine vernichtende Niederlage. Was von ihnen übrigblieb, marschierte nach Osten und stieß zu einer russischen Armee unter Bennigsen. Auf diese vereinigte Streitmacht traf Napoleon im Februar des Folgejahrs bei dem Städtchen Preußisch-Eylau nahe Königsberg. Eylau war eine der blutigsten und schrecklichsten Schlachten Napoleons. Sie begann bei Schneesturm und Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt. Beide Heere waren halb verhungert und kämpften schon um das jämmerliche Obdach der Gebäude von Eylau mit verzweifeltem Ingrimm. Beide Seiten erlitten schwere Verluste: Es fielen fast ein Viertel der an der Schlacht Beteiligten. Als die Kämpfe am zweiten Tag bei Einbruch der Dunkelheit endeten, geschah es eher aus Erschöpfung, nicht weil eine Entscheidung herbeigeführt worden war. Dann, im Laufe der Nacht, begann sich die russische Armee Richtung Norden zurückzuziehen. Damit hatten die Überlebenden des preußischen Korps, dessen 5
Flankensicherungsaktion gegen Neys Truppen fast den Sieg gebracht hätte, keinen Grund mehr zum Verweilen. Sie zogen durch das Dorf Kutschitten Richtung Osten ab. Ihre Nachhut abzusichern fiel den Dragonern von Ansbach zu. Diese Einheit stand in einem widersprüchlichen, für die damalige Zeit in Mitteleuropa jedoch nicht ungewöhnlichen Verhältnis zur übrigen preußischen Armee. Wenige Jahre zuvor – die älteren Soldaten konnten sich noch gut daran erinnern – war das Regiment die einzige berittene Streitmacht des unabhängigen Fürstentums Ansbach gewesen und hatte seinen Fahneneid dem herrschenden Markgrafen geschworen. Dann waren schlimme Zeiten für Ansbach angebrochen, und der letzte Markgraf hatte sein Land und sein Volk an den König von Preußen verkauft. Ein neuer Fahneneid war zu leisten. Der neue Herr freilich erwies sich als ebenso wankelmütig wie der alte. Im Jahr vor der Schlacht von Eylau hatte sich die Staatsangehörigkeit der Dragoner abermals geändert. Preußen hatte das Gebiet von Ansbach an Bayern abgetreten. Da Bayern mit Napoleon verbündet war, hätten die Ansbacher strenggenommen gegen die Preußen und nicht an ihrer Seite kämpfen müssen. Die Dragoner allerdings standen dieser widersinnigen Situation ebenso gleichgültig gegenüber wie der Sache, für die sie kämpften. Der Begriff der Nationalität bedeutete ihnen wenig. Sie waren Berufssoldaten in dem Sinne, den das Wort im achtzehnten Jahrhundert hatte. 6
Wenn sie zwei Tage und eine Nacht lang gekämpft und gelitten hatten, marschiert und gefallen waren, dann weder aus Liebe zu Preußen noch aus Haß auf Napoleon, sondern weil man sie entsprechend gedrillt hatte, weil sie auf Kriegsbeute hofften und weil sie die Folgen des Ungehorsams fürchteten. So konnte Wachtmeister Franz Schirmer, während sein Pferd sich in jener Nacht einen Weg durch die Wälder am Rande von Kutschitten suchte, ohne größere Gewissensbisse über seine Situation nachdenken und Pläne machen, wie er sich daraus befreien könnte. Von den Ansbacher Dragonern waren nicht mehr viele übrig, und von denen, die es waren, würden nur wenige die kommenden Strapazen überleben. Die Verwundeten und diejenigen, die schwere Erfrierungen erlitten hatten, würden als erste sterben; dann, wenn die Pferde verendet oder aufgegessen waren, würden Hunger und Krankheit nur die jüngsten und widerstandsfähigsten übriglassen. Vierundzwanzig Stunden zuvor hätte der Wachtmeister mit Fug und Recht erwarten dürfen, zu den wenigen Überlebenden zu zählen. Nun nicht mehr. Am späten Nachmittag war er selbst verwundet worden. Die Wunde hatte eine seltsame Wirkung auf ihn gehabt. Ein französischer Kürassier hatte den Wachtmeister mit einem Säbelhieb am rechten Arm getroffen. Die Klinge hatte die Deltamuskeln knapp über dem Ellbogen schräg bis auf den Knochen durchschnitten. Es war eine häßliche Wunde, doch der Knochen war nicht gebrochen, so daß sich Schir7
mer wenigstens nicht der Tortur der Feldscher aussetzen mußte. Ein Kamerad hatte ihm die Wunde verbunden und den Arm mit einem Bandelier an den Körper geschnallt. Der Arm pochte schmerzhaft, doch die Blutung war offenbar zum Erliegen gekommen. Schirmer fühlte sich schwach, aber das schrieb er eher dem Hunger und der Kälte als schwerem Blutverlust zu. Seltsam fand er nur, daß mit all seiner körperlichen Qual ein Gefühl außerordentlichen Wohlbefindens einherging. Es hatte sich eingestellt, während die Wunde verbunden wurde. Die Überraschung und das Entsetzen über das seinen unbrauchbaren Arm hinabströmende Blut hatten sich plötzlich gelegt, und an ihre Stelle war ein absurdes, großartiges Gefühl der Freiheit und Unbeschwertheit getreten. Er war ein etwas schwerfälliger, praktisch veranlagter junger Mann, der sich keine Illusionen machte. Mit Wunden kannte er sich ein wenig aus. Die seine hatte noch geblutet, als sie verbunden worden war, und konnte daher als sauber gelten; seine Chancen, dem Tod durch Wundbrand zu entgehen, standen trotzdem nicht besser als fünfzig zu fünfzig. Auch mit dem Krieg kannte er sich aus, und er begriff deshalb nicht nur, daß die Schlacht wahrscheinlich verloren war, sondern auch, daß der Rückzug sie durch eine Gegend führen würde, die von durchziehenden Armeen bereits restlos ausgeplündert war. Doch diese Erkenntnis erfüllte ihn keineswegs mit Verzweiflung. Es war, als wäre ihm 8
mit seiner Wunde eine besondere Vergebung seiner Sünden zuteil geworden; eine durchgreifendere und umfassendere Absolution, als sie ihm jeder sterbliche Priester hätte erteilen können. Er spürte, daß Gott selbst ihn angerührt hatte und daß jedweder drastische Schritt, den er ergreifen mußte, um zu überleben, von Gott gebilligt würde. Sein Pferd kam ins Straucheln, während es sich aus einer Schneewehe kämpfte, und der Wachtmeister faßte den Zügel kürzer. Die Hälfte der Offiziere war gefallen, und man hatte ihm den Befehl über eine der Außenabteilungen übertragen. Er hatte Order, sich weitab von der Straße auf der Flanke zu halten, und eine Zeitlang war das nicht schwer gewesen; nun aber hatten sie den Wald verlassen und kamen im tiefen Schnee nur mit Mühe voran. Ein, zwei Dragoner hinter ihm waren bereits abgesessen und führten ihre Pferde am Zügel. Er konnte sie am Schluß der Kolonne durch den Schnee stapfen hören. Falls er selbst gezwungen sein würde, sein Pferd zu führen, würde er womöglich nicht mehr die Kraft haben, wieder aufzusitzen. Er dachte einen Moment darüber nach. Nach einer derart verbissen geführten zweitägigen Schlacht war es äußerst unwahrscheinlich, daß es noch französische Kavallerietrupps gab, die imstande waren, den Rückzug von der Flanke her zu stören. Die Flankensicherung war daher nichts weiter als eine Vorsichtsmaßnahme nach dem Reglement. Sie war es keinesfalls wert, daß man dafür Risiken einging. 9
Er gab ein kurzes Kommando, und die Kolonne schwenkte wieder zur Straße hin in den Wald ein. Er hatte keine große Angst davor, daß sein Ungehorsam entdeckt wurde. Falls doch, würde er einfach behaupten, er habe die Orientierung verloren; man würde ihn nicht schwer dafür bestrafen, daß er sich der Aufgabe eines Offiziers nicht gewachsen zeigte. Er hatte jedenfalls Wichtigeres zu bedenken. Etwas zu essen war am vordringlichsten. Glücklicherweise enthielt die Provianttasche unter seinem langen Mantel noch den größten Teil der erfrorenen Kartoffeln, die er tags zuvor in einem Bauernhaus erbeutet hatte. Er mußte sie sparsam – und heimlich – essen. Wer in Zeiten wie diesen Nahrungsmittel hortete, lebte gefährlich, ganz gleich, welchen Rang er besaß. Die Kartoffeln jedoch würden nicht lange vorhalten, und am Ende dieses Marsches warteten keine blubbernden Suppentöpfe. Selbst die Pferde waren besser dran. Von den Troßwagen war keiner verlorengegangen, und sie enthielten noch eine Tagesration Futter. Die Menschen würden zuerst hungern. Er zwang ein aufsteigendes Panikgefühl nieder. Er würde bald etwas unternehmen müssen, und Panik würde ihm dabei nichts nützen. Schon spürte er, wie die Kälte an ihm zehrte. Es konnte nur noch wenige Stunden dauern, bis Fieber und Erschöpfung unwiderruflich ihren Tribut forderten. Er preßte unwillkürlich die Knie gegen die Sattelklappen, und in diesem Augenblick kam ihm die Idee. 10
Das Pferd hatte unter dem Schenkeldruck leicht gescheut und war seitwärts gegangen. Wachtmeister Schirmer lockerte die Oberschenkelmuskeln, beugte sich vor und tätschelte dem Tier mit der linken Hand liebevoll den Hals. Er lächelte vor sich hin, während das Pferd sich wieder beruhigte. Als die Abteilung die Straße erreichte, war sein Plan gefaßt. Den Rest der Nacht und den größten Teil des folgenden Tages über zog das preußische Korps langsam ostwärts auf die Masurischen Seen zu; dann wandte es sich nordwärts Richtung Insterburg. Bald nach Einbruch der Nacht verließ Wachtmeister Schirmer unter dem Vorwand, einen Nachzügler holen zu müssen, die Abteilung und ritt südwärts über die gefrorenen Seen in Richtung Lotzen. Am Morgen befand er sich südlich der Stadt. Außerdem war er beinahe am Ende seiner Kräfte. Schon der Marsch von Eylau bis zu der Stelle, wo er desertiert war, hatte ihm alles abverlangt; der Querfeldeinritt von dort wäre selbst für einen Unverwundeten eine Strapaze wesen. Inzwischen waren die Schmerzen in seinem Arm zuweilen unerträglich, und das Fieber und die bittere Kälte schüttelten ihn so sehr, daß er sich kaum im Sattel halten konnte. Er begann sich sogar schon zu fragen, ob er Gottes Absichten nicht vielleicht doch falsch eingeschätzt hatte und ob das, was ihm wie ein Zeichen göttlicher Gnade erschienen war, sich am Ende als Ankündigung seines nahenden Todes erweisen 11
würde. Jedenfalls war ihm klar, daß er sterben würde, wenn er nicht bald ein Obdach fände, wie es sein Plan erforderte. Er verhielt sein Pferd und hob mit Mühe abermals den Kopf, um sich umzusehen. Weitab zu seiner Linken, jenseits der weißen Öde eines zugefrorenen Sees, konnte er den flachen, schwarzen Umriß eines Bauernhauses ausmachen. Sein Blick ging weiter. Womöglich gab es ja ein näher gelegenes Gebäude zu erforschen. Aber da war nichts. Ohne Hoffnung lenkte er sein Pferd auf das Bauernhaus zu und setzte seinen Ritt fort. Die Gegend, in der sich der Wachtmeister mittlerweile befand, war zu jener Zeit zwar Teil des Königreichs Preußen, wurde jedoch im wesentlichen von Polen bewohnt. Sonderlich wohlhabend war sie nie gewesen; nun, nach dem Durchzug der russischen Armee, die die Wintervorräte an Getreide und Futter requiriert und das Vieh weggetrieben hatte, war sie kaum mehr als eine Einöde. In manchen Dörfern hatten die Kosakenpferde noch das Stroh von den Dächern gefressen, und in anderen waren die Häuser ausgebrannt. Die Feldzüge des heiligen Rußland konnten sich für seine Verbündeten verheerender auswirken als für seine Feinde. Als erfahrener Soldat hatte der Wachtmeister durchaus mit Verwüstung gerechnet. Sein Plan fußte sogar darauf. Ein Gebiet, das gerade eine russische Armee versorgt hatte, würde eine Zeitlang keine andere anziehen. Ein Deserteur durfte sich hier 12
einigermaßen sicher fühlen. Nicht gerechnet hatte Schirmer freilich damit, daß der Hunger die Bevölkerung vertrieben haben könnte. Seit dem Morgengrauen war er an mehreren Bauernhäusern vorbeigekommen, und sie waren allesamt verlassen gewesen. Mittlerweile war ihm klargeworden, daß die Russen (vielleicht weil sie es mit Polen zu tun hatten) noch schlimmer als sonst gehaust und daß die Bewohner – außerstande, genügend Nahrungsmittel zu verstecken, um bis zum Frühjahr zu überleben – sich in Gebiete weiter südlich geflüchtet hatten, die vielleicht verschont geblieben waren. Falls sämtliche Bauern in der Nähe sich den anderen angeschlossen hatten, war er verloren. Er hob abermals den Kopf, zwinkerte, um seine Wimpern von dem daran haftenden Eis zu befreien, und spähte voraus. In diesem Moment sah er den Rauch. Er stieg als dünner Faden vom Dach des Hauses empor, auf das Schirmer zuhielt, und er sah ihn nur einen Moment lang, ehe er wieder verschwand. Obwohl Schirmer ein ganzes Stück davon entfernt war, wußte er, daß er sich nicht getäuscht hatte. In dieser Gegend wurde Torf gestochen, und das war Rauch von einem Torffeuer. Seine Stimmung hob sich, während er sein Pferd vorwärts trieb. Er brauchte noch eine halbe Stunde, bis er das Gehöft erreichte. Im Näherkommen sah er, daß es ärmlich und heruntergekommen war. Es bestand aus einer niedrigen Holzkate – Wohnhaus und Stall in einem –, einer leeren Schafhürde und einem ka13
putten Wagen, der fast vollständig unter einer Schneewehe begraben war. Das war alles. Die Pferdehufe verursachten im gefrorenen Schnee nur ein leises Knirschen. Ein Stück vom Haus entfernt löste Schirmer sorgfältig seinen Karabiner aus dem langen Sattelschuh. Nachdem er die Waffe schußfertig gemacht hatte, klemmte er sie quer über den Satteltaschen an den zusammengerollten Decken am Sattelknopf fest. Dann nahm er die Zügel wieder auf und ritt weiter. Am einen Ende des Gebäudes befand sich ein kleines Fenster mit geschlossenen Läden und daneben eine Tür. Im Schnee davor waren Fußspuren zu erkennen, doch abgesehen von dem dünnen Torfrauchgekräusel über dem Dach gab es kein Zeichen von Leben. Schirmer hielt an und blickte sich um. Das Gatter der Schafhürde stand offen. Neben dem Karren erhob sich ein kleiner Schneebuckel, vermutlich die Überreste eines Heuhaufens. Es war kein Kuhdreck im frischen Schnee zu sehen, kein Gegacker von Federvieh zu hören. Bis auf das leise Seufzen des Windes herrschte tiefe Stille. Die Russen hatten alles mitgenommen. Er ließ die Zügel durch die Finger gleiten, und das Pferd schüttelte den Kopf. Das Klirren des Gebisses kam ihm sehr laut vor. Er blickte rasch zur Tür des Hauses hin. Falls man das Geräusch dort gehört hatte, würde die erste Reaktion Angst sein; und Angst wäre nützlich, vorausgesetzt, sie führte dazu, daß man ihm umgehend die Tür öffnete und 14
seinen Wünschen prompt entsprach. Falls sie allerdings dazu führte, daß man die Tür vor ihm verrammelte, kam er in Schwierigkeiten. Er würde die Tür aufbrechen müssen, und er konnte es erst riskieren abzusitzen, wenn er sicher war, daß sein Ritt hier endete. Er wartete. Von drinnen war kein Laut zu hören. Die Tür blieb geschlossen. Seinem Dragonerinstinkt hätte es entsprochen, mit dem Gewehrkolben dagegen zu hämmern und den Bewohnern zuzubrüllen, sie sollten herauskommen, wenn ihnen ihr Leben lieb sei; aber er widerstand der Versuchung. Der Gewehrkolben würde vielleicht später noch Verwendung finden, doch zunächst wollte er es wie geplant mit Freundlichkeit probieren. Er versuchte »Heda!« zu rufen, doch der Laut, der ihm aus der Kehle drang, war nichts weiter als ein Schluchzen. Verzweifelt versuchte er es erneut. »Heda!« Diesmal gelang es ihm, das Wort zu krächzen, doch zugleich überfiel ihn ein tödliches Gefühl der Hilflosigkeit. Er, der eben noch erwogen hatte, mit seinem Gewehr gegen eine Tür zu hämmern, ja sie einzuschlagen, hatte nicht einmal mehr genügend Kraft, um zu rufen. In seinen Ohren war ein Dröhnen, ihm wurde schwindlig. Er schloß die Augen und kämpfte das schreckliche Gefühl nieder. Als er sie wieder aufschlug, sah er die Tür langsam aufgehen. Das Gesicht der Frau, die in der Tür stand und zu 15
ihm aufblickte, war so vom Hunger verwüstet, daß es schwerfiel, ihr Alter zu schätzen. Wären die um ihren Kopf gewundenen Haarflechten nicht gewesen, hätten auch hinsichtlich ihres Geschlechts Zweifel bestanden. Die wallenden Bauernlumpen, die sie anhatte, waren völlig formlos und ihre Füße und Beine nach Männerart mit Sackleinen umwikkelt. Sie starrte ihn dumpf an, sagte dann etwas auf polnisch und machte Anstalten, wieder ins Haus zu gehen. Er beugte sich vor und sprach sie auf deutsch an. »Ich bin ein preußischer Soldat. Es hat eine große Schlacht gegeben. Die Russen sind geschlagen.« Er sagte das, als verkündete er einen Sieg. Sie hielt inne und blickte erneut auf. Ihre tief in den Höhlen liegenden Augen waren völlig ausdruckslos. Er hatte die merkwürdige Vorstellung, daß das auch dann so bliebe, wenn er seinen Säbel zöge und sie niederhaute. »Wer ist sonst noch da?« fragte er. Wieder bewegten sich ihre Lippen, und diesmal sprach sie deutsch. »Mein Vater. Er war zu schwach, um mit unseren Nachbarn fortzugehen. Was wollt Ihr hier?« »Was fehlt ihm?« »Er hat die Schwindsucht.« »Ah!« Wenn es die Pest gewesen wäre, wäre er lieber im Schnee gestorben, als hierzubleiben. »Was wollt Ihr?« wiederholte sie. Anstatt eine Antwort zu geben, löste er die 16
Schließen seines Mantels und schlug ihn über seinem verwundeten Arm zurück. »Ich brauche Obdach und Ruhe«, sagte er, »und jemanden, der mir mein Essen kocht, bis meine Wunde geheilt ist.« Ihr Blick huschte von seinem blutbefleckten Rock zu dem Karabiner und den prallen Satteltaschen darunter. Er nahm an, daß sie überlegte, ob sie die Kraft hatte, das Gewehr an sich zu reißen und ihn zu töten. Er legte die Hand fest auf die Waffe, und ihre Blicke trafen sich wieder. »Es gibt nichts zu essen«, sagte sie. »Ich habe reichlich zu essen«, antwortete er. »Genug, um mit denen zu teilen, die mir helfen.« Sie starrte ihn immer noch an. Er nickte beruhigend, dann schwang er, den Karabiner fest in der linken Hand, das rechte Bein über den Sattel und ließ sich vom Pferd gleiten. Als seine Füße den Boden berührten, gaben sie unter ihm nach, und er schlug der Länge nach in den Schnee. Von seinem Arm schoß ein brennender Schmerz in jede Faser seines Körpers. Er schrie auf und lag ein, zwei Momente lang schluchzend da. Endlich rappelte er sich, den Karabiner immer noch fest in der Hand, benommen auf. Die Frau hatte keinerlei Anstalten gemacht, ihm zu helfen. Sie hatte sich nicht einmal gerührt. Er drängte sich an ihr vorbei durch die Tür ins Innere der Hütte. Drinnen blickte er sich wachsam um. In dem von 17
der Tür einfallenden Licht, das durch den Torfqualm sickerte, konnte er verschwommen ein grobes Holzbett ausmachen, auf dem etwas lag, das wie ein Haufen Sackleinen aussah. Von dort kam nun ein wimmernder Laut. In einem primitiven Lehmofen in der Mitte glomm trübe das Torffeuer. Der gestampfte Boden war weich von Asche und Torfstaub. Der stinkende Dunst machte Schirmer würgen. Er wankte um den Ofen herum und zwischen den Stützbalken des Daches hindurch in den Teil der Kate, in dem man die Tiere gehalten hatte. Das Stroh unter seinen Füßen war schmutzig, doch er schob es an der Rückseite des Ofens zu einem Haufen zusammen. Er wußte, daß die Frau ihm gefolgt und zu dem Kranken hinübergegangen war. Nun hörte er die beiden flüstern. Er machte sich aus dem Strohhaufen so etwas wie ein Lager und breitete, als er fertig war, seinen Mantel darüber. Das Geflüster war verstummt. Er nahm eine Bewegung hinter sich wahr und drehte sich um. Die Frau stand ihm gegenüber. Sie hatte eine kleine Axt in den Händen. »Das Essen«, sagte sie. Er nickte und ging wieder vors Haus. Sie folgte ihm und sah zu, wie er sich, den Karabiner zwischen die Knie geklemmt, mühte, die Decken abzuschnallen. Es gelang ihm schließlich, und er warf die Rolle in den Schnee. »Das Essen«, wiederholte sie. Er hob den Karabiner, drückte sich den Kolben 18
gegen die linke Hüfte und ließ die Hand zum Schloß hinabgleiten. Mit Mühe gelang es ihm, den Hahn zu spannen und den Zeigefinger an den Abzug zu legen. Dann setzte er dem Pferd knapp unterm Ohr die Mündung an den Kopf. »Da ist unser Essen«, sagte er und drückte den Abzug. Vom Knall des Schusses klangen ihm die Ohren, während das Pferd mit zuckenden Beinen zu Boden sank. Der Karabiner war Schirmer aus der Hand gerissen worden und lag rauchend im Schnee. Er hob die Decken auf und klemmte sie sich unter den Arm, ehe er die Waffe wieder an sich nahm. Die Frau beobachtete ihn immer noch. Er nickte ihr zu, wies auf das Pferd und ging zum Haus zurück. Noch bevor er die Tür erreichte, lag sie neben dem sterbenden Tier auf den Knien und machte sich mit der Axt darüber her. Er blickte sich um. Da war der Sattel samt Inhalt, außerdem sein Säbel. Damit könnte sie ihn ohne weiteres umbringen, während er hilflos dalag. Die flache Ledertasche unter seinem Uniformrock enthielt, nach ihren Begriffen, ein Vermögen. Einen Moment lang betrachtete er die raschen, hektischen Bewegungen ihrer Arme und den dunklen Blutfleck, der sich im Schnee unter ihr ausbreitete. Sein Säbel? Sie würde keinen Säbel brauchen, wenn sie vorhatte, ihn umzubringen. Dann spürte er den periodischen Schmerz in seinem Arm wiederkehren und hörte sich selbst stöhnen. Er wußte plötzlich, daß er nun nichts mehr tun 19
konnte, um die Welt außerhalb seines Körpers zu ordnen. Er taumelte durch die Tür zu seinem Lager. Den Karabiner legte er unter dem Mantel auf den Boden. Dann nahm er seinen Helm ab, rollte seine Decken aus und legte sich in der warmen Dunkelheit nieder, um den Kampf um sein Leben aufzunehmen. Die Frau hieß Maria Dutka und war achtzehn, als Wachtmeister Schirmer sie zum erstenmal zu Gesicht bekam. Sie hatte schon als Kind ihre Mutter verloren, und da es keine weiteren Kinder gab und ihr Vater keine zweite Frau fand, hatte sie früh die Arbeit eines Sohnes und Hoferben verrichten müssen. Überdies war die chronische Krankheit, an der Dutka litt, nun schon von langer Dauer, und die Phasen der Besserung waren immer seltener geworden. Maria war es bereits gewohnt, selbständig zu denken und zu handeln. Sie war jedoch nicht eigensinnig. So kam es ihr zwar in den Sinn, den Wachtmeister umzubringen, um das tote Pferd nicht mit ihm teilen zu müssen, aber sie besprach die Sache zuerst mit ihrem Vater. Sie war von Natur aus zutiefst abergläubisch, und als er andeutete, daß beim glücklichen Auftauchen des Wachtmeisters womöglich eine übernatürliche Macht die Hand im Spiel gehabt hatte, begriff sie, wie gefährlich ihre Absicht war. Sie begriff außerdem, daß die übernatürlichen Mächte, selbst wenn der Wachtmeister an seiner Wunde stürbe – und er war dem Tod in den ersten Tagen sehr nahe –, wo20
möglich annahmen, ihre, Marias, Mordgedanken hätten den Ausschlag gegeben. Infolgedessen pflegte sie ihn mit so etwas wie banger Hingabe, die für den dankbaren Wachtmeister leicht mißzuverstehen war. Später dann tat sie etwas, was ihn noch mehr für sie einnahm. Als er während seiner Genesung den Versuch machte, ihr dafür zu danken, daß sie ihren Teil der Vereinbarung so getreu eingehalten hatte, setzte sie ihm in aller Schlichtheit und Offenheit ihre Beweggründe auseinander. Damals belustigte und beeindruckte ihn das zugleich. Als er hinterher darüber nachdachte, was sie gesagt und daß sie es ihm überhaupt gesagt hatte, überkamen ihn noch erstaunlichere Empfindungen. Während das Essen, das sie miteinander teilten, ihr jugendliches Aussehen und ihre Vitalität wiederherstellte, folgte er immer häufiger den Bewegungen ihres Körpers und begann seine früheren Zukunftspläne auf angenehme Weise abzuändern. Er blieb acht Monate lang im Hause Dutka. Unter dem Schnee konserviert, versorgte der Pferdekadaver sie alle mit Frischfleisch und, als Tauwetter einsetzte, mit den geräucherten und getrockneten Überresten. Bis dahin war der Wachtmeister auch imstande, mit seinem Karabiner in den Wald zu gehen und Wild mitzubringen. Gemüse begann zu wachsen. Dann erholte sich der alte Dutka ein paar bemerkenswerte Wochen lang so weit, daß er, mit dem Wachtmeister und Maria als Gespann, schließlich sogar sein Land pflügen konnte. 21
Daß der Wachtmeister blieb, galt mittlerweile als ausgemacht. Weder Maria noch ihr Vater erwähnte jemals seine militärische Vergangenheit. Er war, wie sie, ein Opfer des Krieges. Auch die zurückkehrenden Nachbarn fanden an seiner Anwesenheit nichts Seltsames. Sie hatten den Winter über selbst für Fremde gearbeitet. Wenn der alte Dutka einen kräftigen, arbeitsamen Preußen gefunden hatte, der ihm half, alles wieder in Ordnung zu bringen, um so besser. Und wenn Neugierige sich darüber verwunderten, wie der alte Dutka ihn bezahlte oder warum ein Preuße sich die Mühe machte, einen so jämmerlichen Flecken Land zu bearbeiten, gab es immer jemanden, der sie auf Marias breite Hüften und kräftige Beine hinwies und welche Ernte ein so kerniger junger Bursche zwischen ihnen halten konnte. Es wurde Sommer. Die Schlacht von Friedland wurde geschlagen. Auf einem Floß, das im Niemen verankert war, trafen der französische und der russische Kaiser zusammen. Der Vertrag von Tilsit wurde unterzeichnet. Preußen verlor alle seine Gebiete westlich der Elbe und sämtliche polnische Besitzungen. Bialla, nur wenige Meilen südlich von Dutkas Gehöft, lag mit einmal an der russischen Grenze, und Lyck wurde Garnisonsstadt. Preußische Infanteriepatrouillen suchten Rekruten, und der Wachtmeister flüchtete mit den anderen jungen Männern in die Wälder. Während einer dieser Zeiten seiner Abwesenheit starb Marias Vater. Nachdem die Beerdigungszeremonien vorüber 22
waren, holte der Wachtmeister seine lederne Geldtasche hervor und setzte sich mit Maria zusammen, um seine Ersparnisse zu zählen. Die Erträge zahlreicher Beutezüge und Durchstechereien seiner vier Jahre als Unteroffizier waren eine mehr als ausreichende Ergänzung der bescheidenen Summe, die Maria aus dem Verkauf des väterlichen Besitzes an einen Nachbarn erzielen würde. Denn daß sie weiterhin das Land bearbeiteten, kam nun nicht mehr in Frage. Sie hatten erlebt, was passieren konnte, wenn die russischen Armeen kamen, und angesichts der neuen Grenze waren die Russen nicht mehr als einen Tagesmarsch entfernt. Dies war in ihren Augen ein gewichtigeres Argument für die Aufgabe des Besitzes als die heikle Lage des Wachtmeisters als Deserteur. Für sie lag es nahe, in eine Gegend zu ziehen, wo es weder Russen noch Preußen gab und wo Maria, die schon schwanger war, ihre Kinder in der Gewißheit großziehen konnte, daß sie nicht hungern mußten. Anfang November 1807 machten sie sich mit einem Handkarren, den sie aus Dutkas altem Wagen fabriziert hatten, zu Fuß Richtung Westen auf. Es war eine beschwerliche, gefahrvolle Reise, denn ihr Weg führte durch Preußen, und sie wagten nur bei Nacht zu marschieren. Hunger allerdings litten sie nicht. Sie führten ihr Essen auf dem Karren mit sich, und es hielt bis Wittenberg vor. Dies war auch die erste Stadt, die sie am hellichten Tag betraten. Sie hatten preußischen Boden endgültig hinter sich gelassen. Sie blieben jedoch nicht in Wittenberg. Für den 23
Wachtmeister war die Stadt der preußischen Grenze unangenehm nahe. Gegen Mitte Dezember erreichten sie Mühlhausen, das soeben dem Königreich Westfalen angegliedert worden war. Dort kam Marias erster Sohn Karl zur Welt; und dort heirateten Maria und der Wachtmeister. Eine Zeitlang arbeitete der Wachtmeister als Stallknecht; später jedoch, als er seine Ersparnisse aufgebessert hatte, etablierte er sich als Pferdehändler. Sein Geschäft florierte. Die Wogen der Napoleonischen Kriege erreichten den Hafen, den er und Maria gefunden hatten, nur mehr als sanftes Plätschern. Mehrere Jahre lang schien es, als seien die schlimmen Zeiten vorüber. Dann wurde Maria von der Krankheit befallen, unter der schon ihr Vater gelitten hatte. Sie starb zwei Jahre nach der Geburt ihres zweiten Sohnes Hans. Nach einer gewissen Zeit heiratete Wachtmeister Schirmer wieder und hatte mit seiner zweiten Frau zehn Kinder. Er starb im Jahre 1850 als angesehener und erfolgreicher Mann. Nur ein einziges Mal in all den glücklichen Jahren in Mühlhausen suchten Franz Schirmer unerfreuliche Erinnerungen an seine Fahnenflucht heim. 1815 wurde Mühlhausen durch den Vertrag von Paris zur preußischen Stadt. Es war das Jahr, in dem der Wachtmeister zum zweitenmal heiratete; zwar hielt er es für unwahrscheinlich, daß man die Kirchenbücher nach den Namen von Deserteuren durchgehen 24
würde, doch es bestand jederzeit die Möglichkeit, daß man sie zur Überprüfung von Mobilisierungslisten heranzog. Er konnte dieser Gefahr gegenüber einfach nicht gleichgültig bleiben. Nach so vielen Jahren der Straflosigkeit hatte er es sich abgewöhnt, für den Augenblick zu leben. Die Aussicht, vor einem Peloton zu sterben, ließ sich, so verschwindend gering sie auch war, nicht mit der früheren Seelenstärke ertragen. Was also war zu tun? Er dachte eingehend über das Problem nach. Früher, machte er sich klar, hatte er auf Gott vertraut; und in Zeiten großer Gefahr war Gott stets gut zu ihm gewesen. Aber konnte er denn auch weiterhin schlicht auf Gott vertrauen? Und war dies, so fragte er sich kritisch, wirklich eine Zeit großer Gefahr? In den preußischen Armeelisten standen schließlich unzählige Schirmers, und einige davon hießen sicherlich auch Franz. War es wirklich nötig, sich an Gott zu wenden, um sich gegen die Möglichkeit zu versichern, daß die Liste der Mühlhausener Bürger, die sich vom Kriegsdienst freigekauft hatten, mit der Liste der Deserteure in Potsdam verglichen wurde? Und war es überhaupt klug? Könnte es nicht sein, daß Gott, der schon so viel für Seinen Diener getan hatte, verstimmt darüber wäre, mit einer solchen Lappalie behelligt zu werden, und deshalb gar nicht reagieren würde? Gab es denn nichts, was Sein Diener selbst in dieser Angelegenheit unternehmen konnte, ohne die Hilfe des Allmächtigen zu erflehen? 25
Aber gewiß! Er beschloß, seinen Namen in Schneider zu ändern. Dabei stieß er nur auf eine einzige, geringfügige Schwierigkeit. Seinen Nachnamen und den des Kindes Hans zu ändern war einfach. Er hatte gute Freunde im Rathaus, und daß es in einer nahe gelegenen Stadt einen anderen Pferdehändler gleichen Namens gab, wurde als Vorwand ohne weiteres akzeptiert. Doch sein Erstgeborener Karl stellte ein Problem dar. Der inzwischen siebenjährige Knabe war von den preußischen Militärbehörden soeben zwecks künftiger Rekrutierung erfaßt worden, und in preußischen Militärkreisen hatte der Wachtmeister keine Freunde und suchte sie auch nicht. Außerdem könnte ein amtlicher Antrag, den Namen des Knaben zu ändern, ja gerade die Nachforschungen hinsichtlich seiner Herkunft auslösen, die er so sehr fürchtete. Am Ende ließ er, was Karls Namen anging, alles beim alten. So kam es, daß die Söhne von Franz und Maria zwar unter dem Namen Schirmer getauft wurden, jedoch mit verschiedenen Nachnamen aufwuchsen. Karl blieb Karl Schirmer; Hans wurde Hans Schneider. Der Namenswechsel bereitete dem Wachtmeister niemals auch nur die geringste Sorge oder Unannehmlichkeit. Was sich an Sorgen und Unannehmlichkeiten daraus ergab, hatte über hundert Jahre später Mr. George L. Carey auszubaden.
1
G
eorge Carey kam aus einer Familie in Delaware, die aussah, als wäre sie einer Werbung für eine teure Automarke entsprungen. Sein Vater war ein wohlhabender Arzt mit schlohweißem Haar. Seine Mutter entstammte einer alten Familie in Philadelphia und war ein wichtiges Mitglied des Gartenclubs. Seine Brüder waren hochgewachsen, kernig und gutaussehend. Seine Schwestern waren schlank, kräftig und lebhaft. Alle hatten schöne, regelmäßige Zähne, die man sah, wenn sie lächelten. Die ganze Familie wirkte derart glücklich, sorglos und erfolgreich, daß einem unwillkürlich der Verdacht kam, die Wahrheit über sie sähe womöglich ganz anders aus. Aber nein, sie waren tatsächlich glücklich, sorglos und erfolgreich. Sie waren außerdem ungemein selbstgefällig. George war der jüngste Sohn, und obwohl seine Schultern nicht so breit waren wie die seiner Brüder und sein Lächeln nicht so selbstzufrieden, war er der Begabteste und Intelligenteste in der Familie. Seine Brüder hatten, als der Ruhm ihrer Zeit als Footballspieler verblaßt war, ohne rechtes Ziel den Weg ins Geschäftsleben genommen. George hatte 27
von dem Moment an, als er von der High-School abging, klare Zukunftspläne. Ungeachtet der Hoffnungen seines Vaters auf einen Nachfolger für die Arztpraxis hatte George es abgelehnt, ein Interesse für Medizin vorzugeben, das er nicht empfand. Er wollte sich auf die Jurisprudenz legen; und zwar nicht auf den Zweig, der sich mit Verbrechen befaßt und im Gerichtssaal abspielt, sondern den, der schon im mittleren Alter in den Vorstand von Eisenbahngesellschaften und Stahlfirmen oder in hohe politische Ämter führt. Der Krieg, der kurz nach seinem Examen in Princeton ausbrach, nahm ihm viel von seinem Ernst und seiner Selbstgefälligkeit und wirkte sich günstig auf seinen Sinn für Humor aus, vermochte ihn jedoch nicht von seinem gewählten Berufsweg abzubringen. Nach viereinhalb Jahren als Bomberpilot studierte er Jura in Harvard. Anfang 1949 legte er cum laude sein Examen ab. Dann, nach einem nutzbringenden Jahr als Sekretär eines gelehrten und berühmten Richters, trat er bei Lavater ein. Die Anwaltskanzlei Lavater, Powell und Sistrom in Philadelphia zählt zu den wirklich bedeutenden Kanzleien im Osten der Vereinigten Staaten, und die lange Liste ihrer Teilhaber liest sich wie eine Auswahl vielversprechender Kandidaten für einen frei werdenden Sitz im Supreme Court. Bis zu einem gewissen Grad rührt ihr gediegener Ruf sicherlich noch von der Erinnerung an den gewaltigen Handel mit Versorgungsanleihen her, mit dem sie in den Zwanzigern befaßt war; andererseits 28
hat es in den letzten dreißig Jahren kaum einen wirtschaftsrechtlichen Fall von einiger Größenordnung gegeben, in dem die Kanzlei nicht ein wichtiges Mandat innegehabt hätte. Sie ist nach wie vor ein tatkräftiges, vorausschauendes Unternehmen, und eine Stelle von ihr angeboten zu bekommen stellt für einen jungen Anwalt ein höchst schmeichelhaftes Zeichen der Anerkennung dar. George hatte somit allen Grund, mit dem Fortgang seiner Karriere zufrieden zu sein, während er sich mit seinen Habseligkeiten in einem der komfortabel ausgestatteten Büros der Kanzlei einrichtete. Gewiß, für die etwas untergeordnete Position, die er einnahm, war er schon ein bißchen alt, aber er war schlau genug, um sich klarzumachen, daß seine vier Jahre bei der Luftwaffe aus beruflicher Sicht keine völlig verlorene Zeit und daß seine Kriegsauszeichnungen für sein Hiersein ebenso ausschlaggebend gewesen waren wie seine Leistungen auf der Universität und die warmen Empfehlungen des gelehrten Richters. Wenn daher alles gutging (und warum sollte es das nicht?), konnte er mit einem raschen Aufstieg, wertvollen Kontakten und wachsendem persönlichem Ansehen rechnen. Er hatte das Gefühl, es geschafft zu haben. Die Nachricht, daß er sich mit dem Fall Schneider-Johnson beschäftigen sollte, war daher ein unangenehmer Schlag. Sie war auch in anderer Hinsicht überraschend. Die Fälle, mit denen Lavater normalerweise zu tun hatte, waren von der Art, die 29
ebenso gewiß Ansehen wie Geld einbrachte. Nach allem, was George noch von dem Fall SchneiderJohnson wußte, handelte es sich dabei um eine jener grotesken Affären, die sich jeder Wirtschaftsanwalt, der auf seinen Ruf bedacht ist, auf Armeslänge vom Leibe hält. Es handelte sich um eine der notorischen Absurditäten der Vorkriegsjahre, bei denen es um den fehlenden Erben eines Vermögens ging. 1938 war Amelia Schneider-Johnson, eine senile alte Dame von einundachtzig Jahren, in Lamport, Pennsylvania, gestorben. Sie hatte allein in dem heruntergekommenen Holzhaus gelebt, das ihr der verblichene Mr. Johnson zur Hochzeit geschenkt hatte, und ihre letzten Jahre in einer Atmosphäre vornehmer Armut zugebracht. Nach ihrem Tode jedoch hatte man festgestellt, daß zu ihrem Nachlaß drei Millionen Dollar in festverzinslichen Wertpapieren gehörten, die sie in den zwanziger Jahren von ihrem Bruder Martin Schneider, einem SoftDrink-Magnaten, geerbt hatte. Aufgrund eines übersteigerten Mißtrauens gegen Banken und Schließfächer hatte sie die Wertpapiere in einer Blechschatulle unter ihrem Bett aufbewahrt. Sie hatte auch Anwälten mißtraut und daher kein Testament gemacht. Die seinerzeit in Pennsylvania geltende Erbfolge war durch ein Gesetz von 1917 geregelt worden, welches besagte, daß noch der entfernteste Blutsverwandte des Erblassers unter Umständen Anspruch auf einen Teil des Nachlasses hatte. Ame30
lia Schneider-Johnsons einzige bekannte Verwandte war Miss Clothilde Johnson, eine ältere Jungfer, gewesen. Aber sie war lediglich mit Amelia verschwägert und kam daher als Erbin nicht in Betracht. Unter begeisterter und sich verheerend auswirkender Mithilfe der Presse hatte eine Suche nach Amelias Blutsverwandten begonnen. Der Eifer der Presse war in Georges Augen nur allzu verständlich. Sie hatte einen zweiten Fall Garrett gewittert. Die alte Mrs. Garrett war 1930 gestorben und hatte siebzehn Millionen Dollar hinterlassen, ohne ein Testament zu machen – nun, acht Jahre später, war die Sache immer noch munter im Gange und hielt bei mittlerweile sechsundzwanzigtausend Anwärtern auf das Geld dreitausend Anwälte in Lohn und Brot, und über allem schwebte ein leichter hautgoût von Korruption. Der Fall Schneider-Johnson konnte sich ebenso lang hinziehen. Er hatte zwar nicht die gleiche Größenordnung, doch Größe war nicht alles. Er war dafür reich an menschlichen Aspekten – das auf dem Spiel stehende Vermögen, die romantische Zurückgezogenheit der alten Dame in ihren letzten Jahren (ihr einziger Sohn war in den Argonnen gefallen), ihr einsamer Tod ohne einen Verwandten am Sterbebett, die ergebnislose Suche nach dem Testament –, es gab keinen Grund, warum der Fall nicht ebenso zählebig sein sollte. Der Name Schneider und seine amerikanischen Varianten waren weit verbreitet. Die alte Dame mußte irgendwo Blutsverwandte ge31
habt haben, selbst wenn sie diese – oder ihn! Oder sie! – nicht gekannt hatte. Ja es konnte durchaus sein, daß es nur einen einzigen Erben gab, der nicht zu teilen brauchte! Schön und gut, aber wo steckte er? Oder sie? Auf einer Farm in Wisconsin? In einem Immobilienbüro in Kalifornien? Hinter dem Ladentisch eines Drugstores in Texas? Wer von den Tausenden von Schneiders, Snyders und Sniders in Amerika würde der Glückliche sein? Wer war der ahnungslose Millionär? Kitsch? Nun ja, vielleicht, aber immer gut für eine Story und von landesweitem Interesse. Und landesweit war das Interesse tatsächlich gewesen. Bis Anfang 1939 war der Nachlaßverwalter von über achttausend Anwärtern auf das Erbe in Kenntnis gesetzt worden, ein Heer von Winkeladvokaten hatte sich eingeschaltet, um sie auszubeuten, und die ganze Sache war zügig in ein Wolkenkuckucksheim von Phantasterei, Schwindel und juristischer Farce entschwebt, wo sie verblieb, bis sie bei Ausbruch des Krieges plötzlich in Vergessenheit geriet. Was Lavater für ein Interesse daran haben konnte, einen derart unappetitlichen Leichnam wiederauferstehen zu lassen, konnte George sich beim besten Willen nicht vorstellen. Mr. Budd, einer der Seniorpartner, klärte ihn darüber auf. Die Hauptlast des Nachlasses Schneider-Johnson war von Moreton, Greener und Cleek getragen 32
worden, einer altmodischen, hochangesehenen Anwaltskanzlei in Philadelphia. Als Anwälte von Miss Clothilde Johnson hatten sie auf deren Anordnung hin die offizielle Suche nach einem Testament durchgeführt. Nachdem das Fehlen eines solchen von Amts wegen festgestellt worden war, kam die Angelegenheit vor das Waisengericht in Philadelphia, und das Testamentsregister hatte Robert L. Moreton als Nachlaßverwalter eingesetzt. Das war er bis Ende 1944 geblieben. »Und nicht zu seinem Nachteil«, sagte Mr. Budd. »Wenn er nur soviel Verstand gehabt hätte, es dabei zu belassen, hätte ich ihm keinen Vorwurf gemacht. Aber nein, der alte Zausel hat seine eigene Kanzlei zum Rechtsvertreter des Nachlaßverwalters bestellt. Heiliger Strohsack! In einem solchen Fall war das der reinste Selbstmord!« Mr. Budd war ein hühnerbrüstiger Mann mit länglichem Schädel, einem ordentlich gestutzten Schnurrbart und einer Bifokalbrille. Er war immer schnell mit einem Lächeln bei der Hand, hatte die Angewohnheit, veraltete Redewendungen zu gebrauchen, und trug eine Miene sorgloser Gutgelauntheit zur Schau, der George zutiefst mißtraute. »Das Gesamthonorar«, sagte George vorsichtig, »muß bei einem Nachlaß dieser Größenordnung ziemlich hoch gewesen sein.« »Kein Honorar«, erklärte Mr. Budd, »ist so groß, daß es sich für eine anständige Kanzlei lohnte, sich mit einer Bande von Unfallgeiern und Schurken 33
gemein zu machen. Auf der ganzen Welt gibt es Dutzende unabgeschlossener Erbschaftsfälle. Sehen Sie sich nur den Nachlaß Abdul Hamid an! Den haben die Briten am Bein, und das nun schon seit über dreißig Jahren. Er wird vermutlich nie geregelt. Oder sehen Sie sich den Fall Garrett an! Überlegen Sie nur, wie viele Menschen er ihren guten Ruf gekostet hat. Alles Quatsch! Es ist doch immer das gleiche. Ist A ein Hochstapler? Ist B geistesgestört? Wer ist vor wem gestorben? Ist das auf dem alten Foto Tante Sarah oder Tante Flossie? War hier ein Fälscher mit bläßlicher Tinte am Werk?« Er wedelte wegwerfend mit den Armen. »Ich sage Ihnen, George, der Fall Schneider-Johnson hat Moreton, Greener und Cleek als ernstzunehmende Anwaltskanzlei so gut wie erledigt. Und als Moreton vierundvierzig krank wurde und in den Ruhestand treten mußte, war das das Ende. Sie haben sich aufgelöst.« »Hätte denn nicht Greener oder Cleek die Nachlaßverwaltung übernehmen können?« Mr. Budd heuchelte Entsetzen. »Mein lieber George, ein solches Amt übernimmt man doch nicht einfach. Es ist eine Belohnung für gute und treue Dienste. In diesem Fall war unser gelehrter, hoch geachteter und verehrter John J. Sistrom der Glückliche.« »Aha. Ich verstehe.« »Das Investitionskapital arbeitet, George, und unser John J. kassiert das Honorar als Nachlaßver34
walter. Allerdings«, fuhr Mr. Budd mit einem Anflug von Zufriedenheit in der Stimme fort, »sieht es so aus, als würde er das nicht mehr lange tun. Sie werden gleich verstehen, warum. Nach dem, was mir der alte Bob Moreton seinerzeit erzählt hat, stellte sich die Sache ursprünglich folgendermaßen dar: Amelias Vater hieß Hans Schneider, ein Deutscher, der 1849 eingewandert ist. Bob Moreton und seine Partner waren am Ende ziemlich überzeugt, daß, wenn überhaupt irgendwer Anspruch auf den Nachlaß hatte, es einer der Verwandten des alten Herrn in Deutschland sein mußte. Die ganze Geschichte wurde allerdings durch die Frage der Rechtsnachfolge kompliziert. Wissen Sie irgend etwas darüber, George?« »Bregy gibt in seinem Kommentar zum Gesetz von neunzehnsiebenundvierzig eine sehr klare Zusammenfassung der früheren Bestimmungen.« »Bestens.« Mr. Budd grinste. »Ich habe davon nämlich offengestanden nicht die geringste Ahnung. Wenn wir das ganze Zeitungsgesums einmal beiseite lassen, war der Hergang der Sache kurz gesagt folgender: Neununddreißig ist der alte Bob Moreton nach Deutschland gereist, um Nachforschungen über den anderen Zweig der Familie anzustellen. Natürlich der reine Selbsterhaltungstrieb. Sie brauchten Fakten, auf die sie sich stützen konnten, um all die falschen Ansprüche abzuschmettern. Dann, nach seiner Rückkehr, passierte etwas ganz Blödes. In diesem verrückten Fall passieren andau35
ernd die blödesten Geschichten. Offenbar hatten die Nazis von Bobs Nachforschungen Wind bekommen. Jedenfalls sahen sie sich die Sache an und zogen einen alten Mann namens Rudolph Schneider aus dem Hut. Und erhoben dann in seinem Namen Anspruch auf den gesamten Nachlaß.« »Daran kann ich mich noch erinnern«, sagte George. »Sie haben McClure zu ihrem Rechtsvertreter bestellt.« »Richtig. Dieser Rudolph stammte aus Dresden oder sonstwoher, und sie behaupteten, er sei ein Cousin ersten Grades von Amelia Johnson. Moreton, Greener und Cleek fochten diesen Anspruch an. Mit der Begründung, daß die von den Krauts vorgelegten Dokumente gefälscht seien. Die Sache war jedenfalls noch gerichtsanhängig, als wir einundvierzig in den Krieg eintraten, und damit war der Fall für sie erledigt. Der Treuhänder für Feindvermögen schaltete sich ein und machte einen Anspruch geltend. Wegen des deutschen Anspruchs, natürlich. Dann tat sich nichts mehr. Als Bob Moreton in den Ruhestand trat, übergab er sämtliche Dokumente John T. Das waren über zwei Tonnen, und im Augenblick liegen sie in unserem Keller, und zwar genau da, wo sie gelagert worden sind, als Moreton, Greener und Cleek sie vierundvierzig ausgehändigt haben. Kein Mensch hat sich je die Mühe gemacht, sie durchzusehen. Dazu gab es auch keinen Grund. Nun allerdings gibt es einen.« George sank der Mut. »So?« 36
Mr. Budd suchte sich diesen Moment aus, um seine Pfeife zu stopfen, und vermied so Georges Blick, während er fortfuhr. »Die Situation ist folgende, George: Wie es scheint, beläuft sich der Nachlaß einschließlich Wertzuwachs und Zinsen mittlerweile auf vier Millionen Dollar, und der Staat Pennsylvania hat beschlossen, seine gesetzlichen Rechte wahrzunehmen und das Ganze zu beanspruchen. Allerdings hat man John T. als Nachlaßverwalter, gefragt, ob er den Anspruch anzufechten gedenkt, und er findet, wir sollten nur der Form halber die Dokumente noch einmal durchsehen, um sicherzugehen, daß auch ja kein ernstzunehmender Anspruch mehr offensteht. Und genau das sollen Sie erledigen, George. Sehen Sie sie einfach durch. Nur um sicherzugehen, daß er nichts übersehen hat. Okay?« »Ja, Sir. Okay.« Doch es gelang ihm nicht ganz, einen resignierten Unterton aus seiner Stimme herauszuhalten. Mr. Budd blickte auf und schmunzelte mitfühlend. »Und wenn es ein Trost für Sie ist, George«, meinte er, »kann ich Ihnen sagen, daß uns schon seit einiger Zeit der Kellerraum knapp wird. Falls es Ihnen gelingt, uns den ganzen Kram vom Hals zu schaffen, ist Ihnen der tiefempfundene Dank der gesamten Kanzlei gewiß.« George brachte ein Lächeln zustande.
2
E
s bereitete ihm keine Schwierigkeiten, die Akten zum Fall Schneider-Johnson zu finden. Sie waren feuchtigkeitsfest verpackt und lagerten in einem eigenen Kellerverschlag, den sie vom Boden bis zur Decke füllten. Was ihr Gesamtgewicht anging, hatte Mr. Budd mit seiner Schätzung eindeutig nicht übertrieben. Glücklicherweise waren sämtliche Päckchen sorgfältig beschriftet und systematisch geordnet. George vergewisserte sich zunächst, daß er das zugrunde liegende System begriff, traf dann eine Auswahl unter den Päckchen und ließ sie in sein Büro hinaufschaffen. Es war Spätnachmittag, als er mit der Arbeit begann. In der Absicht, einen allgemeinen Überblick über den Fall zu gewinnen, ehe er sich ernsthaft mit den einzelnen Ansprüchen befaßte, nahm er sich zunächst ein umfangreiches Päckchen mit der Aufschrift »Schneider-Johnson-Zeitungsausschnitte« vor. Diese Bezeichnung erwies sich als leicht irreführend. In Wirklichkeit enthielt das Päckchen eine Chronik des hoffnungslosen Kampfes von Moreton, Greener und Cleek mit der Presse und ihrer Bemühungen, sich der Flut von unsinnigen Ansprü38
chen entgegenzustemmen, die sie überschwemmte. Es war eine mitleiderregende Lektüre. Die Chronik setzte zwei Tag nach Mr. Moretons Bestellung zum Nachlaßverwalter ein. Ein New Yorker Boulevardblatt hatte herausgefunden, daß Amelias Vater Hans Schneider (»der alte Neunundvierziger«, wie die Zeitung ihn nannte) eine New Yorkerin namens Smith geheiratet hatte. Das aber hieß, behauptete das Blatt aufgeregt, daß der Name des gesuchten Erben ebensogut Smith wie Schneider sein könnte. Moreton, Greener und Cleek hatten sich füglich beeilt, die Behauptung zurückzuweisen; aber anstatt mehr oder weniger unkompliziert darauf hinzuweisen, daß Amelias Cousinen und Cousins mütterlicherseits alle schon seit Jahren tot waren und die Angehörigen der Familie Smith aus New York demzufolge nicht als Erben in Betracht kamen, hatten sie sich damit begnügt, ganz pedantisch das Gesetz zu zitieren, welches besagte, daß »eine Erbfolge zwischen Seitenverwandten nach den Enkeln von Brüdern, Schwestern und Kindern von Tanten und Onkeln nicht zulässig« sei. Dieser unglückliche Satz, ironisch unter der Überschrift »Augenwischerei« zitiert, war das einzige, was man von ihrer Erklärung gedruckt hatte. In der Folge hatten die meisten Erklärungen der Anwaltskanzlei ein ähnliches Schicksal gefunden. Von Zeit zu Zeit hatten sich einige der verantwortungsbewußteren Zeitungen ernsthaft bemüht, ih39
ren Lesern das Erbrecht zu erklären, doch die Kanzlei hatte solche Bemühungen, soweit George sehen konnte, niemals unterstützt. Daß Amelia keine lebenden nahen Verwandten hatte und als Erben deshalb nur etwaige Nichten und Neffen des verstorbenen Hans Schneider in Frage kamen, der bei Amelias Tod noch am Leben gewesen war, wurde von der Kanzlei niemals ausdrücklich festgestellt. Einer klaren Aussage noch am nächsten kamen die Anwälte mit einer Erklärung, in der sie zu bedenken gaben, es existierten »in Amerika vermutlich keine Cousinen und Cousins ersten Grades der testamentlosen Erblasserin mehr, welche die Erblasserin überlebt« hätten, und wenn es überhaupt welche gebe, so seien sie höchstwahrscheinlich in Deutschland zu finden. Sie hätten sich die Mühe sparen können. Die Vermutung, der gesetzliche Erbe des Nachlasses könnte in Europa anstatt irgendwo in Wisconsin leben, hatte die Zeitungen von 1939 nicht interessiert; die Möglichkeit, daß es überhaupt keinen gab, hatten sie allesamt von vornherein ignoriert. Außerdem hatte der Unternehmungsgeist einer in Milwaukee beheimateten Zeitung der Geschichte gerade eine neue Wendung gegeben. Mit Hilfe der Einwanderungsbehörden war es dem Sonderrechercheur des Blattes gelungen zu ermitteln, wie viele Familien mit Namen Schneider in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts aus Deutschland eingewandert waren. Die Zahl war gewaltig. Ob denn 40
nicht die Vermutung erlaubt sei, hatte das Blatt gefragt, daß wenigstens einer der jüngeren Brüder des alten Neunundvierzigers dessen Beispiel gefolgt und ausgewandert war? Gewiß doch! Und schon war die Jagd wieder auf gewesen, und ganze Heerscharen von Sonderrechercheuren hatten sich auf den Spuren der eingewanderten Schneiders hoffnungsfroh durch Personenstandsregister, Grundbücher und Staatsarchive gewühlt. Mit einem Seufzer verschnürte George das Päckchen wieder. Er wußte bereits, daß er die kommenden Wochen nicht genießen würde. Die Gesamtzahl der erhobenen Ansprüche lag bei knapp über achttausend, und er stellte fest, daß es für jeden eine eigene Akte gab. Die meisten enthielten nur zwei, drei Briefe, viele aber waren recht dick, und manche umfaßten ihrerseits ganze Päckchen und waren prall von eidesstattlichen Erklärungen, Fotokopien von Dokumenten, zerrissenen Fotos und Stammbäumen. Ein paar enthielten alte Bibeln und andere Familienerbstücke, und in einer steckte aus unerfindlichen Gründen sogar eine speckige Pelzmütze. George machte sich an die Arbeit. Bis Ende der Woche hatte er siebenhundert Ansprüche durchgesehen und empfand tiefes Mitleid für die Kanzlei Moreton, Greener und Cleek. Ein großer Teil der Ansprüche stammte natürlich von Spinnern und Verrückten. Da war der zornige Mann aus North Dakota, der behauptete, er heiße Martin Schneider, 41
er sei keineswegs tot und Amelia Schneider habe ihm das Geld im Schlaf gestohlen. Da war die Frau, die den Nachlaß im Namen einer kalifornischen Gesellschaft zur Verbreitung der kataphrygischen Heresie beanspruchte und geltend machte, der Geist der verstorbenen Amelia sei in Mrs. Schultz, die ehrenamtliche Schatzmeisterin der Gesellschaft, gefahren. Und da war der Mann, der mit verschiedenfarbiger Tinte aus einer staatlichen Klinik schrieb, er sei aufgrund einer heimlichen ersten Heirat Amelias mit einem Farbigen deren legitimer Sohn. Doch bei der Mehrzahl der Anspruchsteller schien es sich um Menschen zu handeln, die zwar nicht klinisch verrückt waren, aber allenfalls rudimentäre Vorstellungen davon hatten, was einen Beweis darstellte. So gab es in Chicago einen Mann namens Higgins, der einen komplizierten Anspruch aus der Erinnerung daran ableitete, daß er seinen Vater hatte sagen hören, Cousine Amelia sei ein gemeiner alter Geizhals; und einen weiteren Mann, der aufgrund eines alten Briefes von einem dänischen Verwandten namens Schneider auf einen Anteil des Nachlasses pochte. Dann gab es die Mißtrauischen, die es ablehnten, Beweise zur Untermauerung ihres Anspruchs vorzulegen, damit diese nicht gestohlen wurden, um der Sache eines anderen Anspruchstellers zum Erfolg zu verhelfen, und andere, die Reise- und Hotelspesen forderten, damit sie persönlich ihre Sache dem Nachlaßverwalter vortragen konnten. Und vor allem gab es die Anwälte. 42
Von den ersten siebenhundert Ansprüchen, die George prüfte, waren nur vierunddreißig von Anwälten vertreten worden, doch um sich durch deren Akten durchzufinden, brauchte er allein mehr als zwei Tage. Die betreffenden Ansprüche waren größtenteils von fragwürdiger Berechtigung, und ein, zwei waren ganz offensichtlich unlauter. In Georges Augen hätte kein anständiger Anwalt sie auch nur mit der Feuerzange angefaßt. Aber hier handelte es sich um Winkeladvokaten. Sie hatten sie nicht nur angefaßt, sondern festgehalten. Sie hatten nicht existierende Präzedenzfälle zitiert und irrelevante Dokumente kopiert. Sie hatten unredliche Rechercheure beschäftigt, um sinnlose Nachforschungen anzustellen, und unseriöse Ahnenforscher, um gefälschte Stammbäume herzustellen. Sie hatten ominöse Briefe geschrieben und finstere Drohungen ausgestoßen. Das einzige, was offenbar keiner von ihnen jemals getan hatte, war, seinem Mandanten zu raten, den Anspruch zurückzuziehen. In einer der Akten fand sich ein Brief an den Nachlaßverwalter, in dem eine Frau names Snyder es bedauerte, daß sie kein Geld mehr hatte, um ihren Anwalt zu bezahlen, und darum bat, ihren Anspruch deswegen nicht zu übersehen. In seiner zweiten Woche mit all den Akten schaffte es George trotz einer heftigen Erkältung, die Zahl der von ihm geprüften Ansprüche auf eintausendneunhundert hinaufzuschrauben. In der dritten Woche überschritt er die Dreitausend. Am 43
Ende der vierten Woche hatte er die Hälfte geschafft. Er war außerdem zutiefst deprimiert. Die ihrem Wesen nach langweilige Arbeit und der geballte Effekt so vieler Belege menschlicher Dummheit waren an sich schon niederschmetternd. Das belustigte Mitgefühl seiner neuen Kollegen und das Bewußtsein, daß er seine Karriere bei Lavater als Opfer eines stehenden Bürowitzes begann, taten ein übriges. Mr. Budd, dem er zuletzt im Fahrstuhl begegnet war, als dieser vom Lunch zurückkam, hatte sich munter über Baseball verbreitet und es nicht einmal für nötig gehalten, sich nach seinen Fortschritten zu erkundigen. Am Montagmorgen der fünften Woche beäugte George voller Abscheu die Aktenstapel, die noch zu prüfen waren. »Wollen wir die Os fertig machen, Mr. Carey?« Der Fragesteller war der Hausmeister, der den Keller in Ordnung hielt, die Aktenpäckchen abstaubte und sie zwischen Keller und Georges Büro hin und her trug. »Nein, ich fange mal lieber mit den Ps an.« »Ich kann die restlichen Os rausfrickeln, wenn Sie wollen, Mr. Carey.« »Na gut, Charlie. Wenn Sie’s schaffen, ohne daß der ganze Krempel einstürzt.« Die Schneisen, die er bereits in die hochgetürmten Aktenstapel geschlagen hatte, hatten die Stabilität des Ganzen allmählich stark beeinträchtigt. »Klar doch, Mr. Carey«, sagte Charlie. Er griff nach einem der unteren Päckchen und zog daran. Es 44
gab ein schleifendes Geräusch, ein Poltern, und eine Aktenlawine verschlang ihn. In der Staubwolke, die ihrem Niedergang folgte, rappelte er sich, die Hand am Kopf, hustend und fluchend auf. Er blutete aus einer langen Schramme über dem Auge. »Um Gottes willen, Charlie, wie ist denn das passiert?« Der Hausmeister versetzte etwas Hartem, das unter den Aktenhaufen um ihn herum lag, einen Fußtritt. »Das verdammte Ding da hat mich am Kopf getroffen, Mr. Carey«, erklärte er. »Muß irgendwo dazwischen gesteckt haben.« »Ist es schlimm?« »Ach wo. Es ist ja nur ein Kratzer. Tut mir leid, Mr. Carey.« »Lassen Sie’s trotzdem lieber verbinden.« Nachdem er den Hausmeister der Obhut eines der Fahrstuhlführer übergeben und der Staub im Keller sich wieder gesetzt hatte, ging George hinein und besah sich die Bescherung. Sowohl die Os als auch die Ps waren unter einem Geröll von S und Ws verschwunden. Er schob einige der Päckchen zur Seite und sah, woran sich der Hausmeister die Augenbraue verletzt hatte. Es war eine große, schwarz lackierte Dokumentenschatulle, wie man sie früher in den Regalen alter Familienanwälte zu sehen pflegte. In weißer Schablonenschrift standen darauf die Worte: »schneider – vertraulich«. George zerrte die Schatulle zwischen den Päckchen hervor und versuchte sie zu öffnen. Sie war 45
verschlossen, und an keinen der beiden Griffe war ein Schlüssel angehängt. George zögerte. Er hatte sich nur mit den Akten der Ansprüche zu befassen, und es war töricht, Zeit zu vergeuden, um seine Neugier nach dem Inhalt einer alten Dokumentenschatulle zu befriedigen. Andererseits würde es eine Stunde dauern, das Durcheinander zu seinen Füßen aufzuräumen. Es hatte wenig Sinn, sich mit Staub und Spinnweben zu beschmutzen, um den Vorgang zu beschleunigen, und Charlie würde in ein paar Minuten wieder dasein. Er ging ins Zimmer des Hausmeisters, nahm einen Meißel und einen Hammer vom Werkzeugregal und kehrte zu der Schatulle zurück. Ein paar Schläge durchstießen das dünne Metall um den Riegel des Schlosses, so daß er den Deckel aufstemmen konnte. Auf den ersten Blick schien die Schatulle lediglich ein paar persönliche Habseligkeiten aus Mr. Moretons Büro zu enthalten. Da war ein in Kalbsleder gebundener Terminkalender mit eingeprägten Goldinitialen, eine Schreibgarnitur aus Onyx, ein handgeschnitztes Zigarrenetui aus Teakholz, eine Schreibunterlage aus gepunztem Leder und zwei dazu passende, mit Leder bezogene Briefkörbe. Einer der Briefkörbe enthielt ein Handtuch, ein paar Aspirintabletten und ein Fläschchen mit Vitaminkapseln. George hob den Briefkorb an. Darunter lag ein dicker Loseblattordner mit der Aufschrift »deutsche nachforschungen in sachen schneider von robert l. morton, 1939«. George über46
flog ein, zwei Seiten, sah, daß das Ganze in Tagebuchform abgefaßt war, und legte es zwecks späterer Lektüre beiseite. Darunter lag ein brauner Umschlag mit einer Unzahl von Fotografien, bei denen es sich offenbar größtenteils um deutsche juristische Dokumente der einen oder anderen Art handelte. Ansonsten enthielt die Schatulle nur noch ein versiegeltes Päckchen und einen versiegelten Umschlag. Auf dem Päckchen stand »Briefwechsel zwischen Hans Schneider und seiner Frau nebst anderen Dokumenten, die Sept. 1938 von Hilton G. Greener und Robert L. Moreton in der Habe der verstorbenen Amelia Schneider-Johnson gefunden wurden«. Auf dem Umschlag stand: »Fotografie, von Pfarrer Weichs in Bad Schwennheim an r.l.m. ausgehändigt«. George legte Mr. Moretons persönliche Gegenstände in die Schatulle zurück und nahm den Rest mit nach oben in sein Büro. Dort öffnete er als erstes das versiegelte Päckchen. Die Briefe darin waren von Mr. Greener und Mr. Moreton sorgfältig numeriert und mit ihren Initialen versehen worden. Es waren insgesamt achtundsiebzig, allesamt mit seidenem Band zu kleinen Päckchen verschnürt und jeder mit einer gepreßten Blume darin. George öffnete eines der Päckchen. Die Briefe darin stammten aus der Zeit der jungen Liebe zwischen Amelias Eltern Hans Schneider und Mary Smith. Aus ihnen ergab sich, daß Hans seinerzeit in einem Lagerhaus gearbeitet und Englisch 47
gelernt und daß Mary Deutsch gelernt hatte. Nach Georges Empfinden waren die Briefe förmlich, unelegant und langweilig. Für Mr. Moreton allerdings mußten sie von beträchtlichem Wert gewesen sein, denn sie hatten wahrscheinlich die rasche Auffindung der betreffenden Familie Smith ermöglicht und dazu geführt, daß man sie glücklich aus dem Kreis der Anspruchsteller streichen konnte. George verschnürte das Päckchen wieder und wandte sich einem alten Fotoalbum zu. Es enthielt Fotos von Amelia und Martin als Kindern, von ihrem Bruder Frederick, der mit zwölf gestorben war, und natürlich von Hans und Mary. Interessanter jedoch, weil noch älter, war eine Daguerrotypie von einem alten Mann mit üppigem Bart. Er saß aufrecht und mit strenger Miene da, die großen Hände umklammerten die Armlehnen des Fotografenstuhls, und er hatte den Kopf fest gegen die Rückenlehne gepreßt. Seine Lippen waren voll und entschlossen. Das Gesicht unter dem Bart war grob und ausdrucksstark. Die versilberte Kupferplatte mit dem Porträt war auf roten Samt aufgezogen. Darunter hatte Hans geschrieben: »Mein geliebter Vater Franz Schneider, 1782–1850.« Das einzige andere Dokument war ein dünnes, ledergebundenes Notizbuch, das mit Hans’ spinnendürrer Handschrift gefüllt war. Es war in Englisch geschrieben. Auf der ersten Seite fand sich, mit kunstvollen Schnörkeln verziert, eine Beschreibung des Inhalts: »Bericht von der heldenhaften Teilnah48
me meines geliebten Vaters an der Schlacht zu Preußisch-Eylau im Jahre 1807, von seiner Verwundung und seiner Begegnung mit meiner geliebten Mutter, welche sein Leben rettete. Niedergeschrieben von Hans Schneider für seine Kinder im Juni 1867, auf daß sie ihren Namen mit Stolz tragen.« Der Bericht begann mit den Ereignissen, die zur Schlacht führten, und knüpfte daran Schilderungen der diversen Gefechte, in welche die Ansbacher Dragoner den Feind verwickelt hatten, sowie einiger spektakulärer Ereignisse der Schlacht: eine russische Kavallerieattacke, die Einnahme einer Geschützbatterie, die Enthauptung eines französischen Offiziers. Was Hans niedergeschrieben hatte, war offensichtlich eine auf dem Schoß des Vaters gehörte Legende. In Teilen besaß es noch immer die Kunstlosigkeit eines Märchens. Doch mit dem Fortgang des Berichts ließ sich verfolgen, in welche Verlegenheit Hans als Mann von mittleren Jahren bei dem Versuch kam, seine Kindheitserinnerungen mit dem Wirklichkeitssinn des Erwachsenen in Einklang zu bringen. Die Niederschrift des Berichts, dachte George, mußte eine seltsame Erfahrung für ihn gewesen sein. Nach der Schilderung der Schlacht jedoch hatte Hans seine Mittel sicherer zu handhaben gewußt. Die Gefühle des verwundeten Helden, seine Gewißheit, daß Gott mit ihm war, seine Entschlossenheit, bis zum Ende seine Pflicht zu tun; das alles war mit geübtem Pathos beschrieben. Und als der 49
schreckliche Moment des Verrats kam, als die feigen Preußen den verwundeten Helden, der einem getroffenen Kameraden half, im Stich gelassen hatten, ließ Hans einen wahren Sturzbach von biblischem Zorn los. Wenn Gott das Roß des Helden nicht zur Kate der liebreizenden Maria Dutka geführt hätte, wäre gewiß alles zu Ende gewesen. Wie die Dinge lagen, war Maria der preußischen Uniform gegenüber verständlicherweise mißtrauisch gewesen, und ihre Mitmenschlichkeit wäre (wie sie dem Helden später gestand) um ein Haar von ihrer Angst um ihre Tugend und ihren darniederliegenden Vater verdrängt worden. Am Ende aber wurde natürlich alles gut. Als seine Wunde geheilt war, hatte der Held seine Retterin im Triumph heimgeführt. Im darauffolgenden Jahr war Hans’ älterer Bruder Karl zur Welt gekommen. Der Bericht schloß mit einer frömmelnden Homilie zum Thema Gebet und Vergebung der Sünden. Diesen Teil schenkte sich George und ging zu Mr. Moretons Tagebuch über. Mr. Moreton war Ende März 1939 mit einem Dolmetscher, den er in Paris engagiert hatte, in Deutschland eingetroffen. Sein Plan war, jedenfalls der Absicht nach, einfach gewesen. Er wollte zunächst Hans Schneiders Spur zurückverfolgen. Sobald er wußte, wo die Familie Schneider gelebt hatte, würde er sich daran machen, zu ermitteln, was aus all den Brüdern und Schwestern von Hans geworden war. 50
Der erste Teil des Plans hatte sich leicht durchführen lassen. Hans stammte aus Westfalen; und im Jahre 1849 hatte ein Mann im wehrpflichtigen Alter eine Erlaubnis gebraucht, um das Land verlassen zu dürfen. In Münster, der alten Hauptstadt, hatte Moreton die Urkunde über Hans’ Ausreise aufgetrieben. Hans war aus Mühlhausen gekommen und nach Bremen weitergereist. In Bremen hatte eine Durchsicht der alten, von der Hafenbehörde archivierten Schiffsmanifeste ergeben, daß Hans Schneider aus Mühlhausen am 10. Mai 1849 mit der Abigail, einem englischen Schiff von sechshundert Tonnen, ausgereist war. Das deckte sich mit einer Bemerkung, die Hans in einem seiner Briefe an Mary Smith über seine Ausreise aus Deutschland gemacht hatte. Mr. Moreton zog daraus den Schluß, daß er auf der Spur des richtigen Hans Schneider war. Als nächstes begab er sich nach Mühlhausen. Dort allerdings sah er sich einer verwirrenden Situation gegenüber. Obwohl die Kirchenbücher Eheschließungen, Taufen und Beerdigungen bis zurück zum Dreißigjährigen Krieg verzeichneten, mußte er feststellen, daß keines der Register für die Jahre 1807 und 1808 irgendeinen Hinweis auf den Namen Schneider enthielt. Mr. Moreton grübelte vierundzwanzig Stunden über die Enttäuschung nach; dann hatte er eine Idee. Er nahm sich die Kirchenbücher noch einmal vor. 51
Diesmal ging er die von 1850, dem Jahr von Franz Schneiders Tod, durch. Tod und Begräbnis waren verzeichnet, die Lage des Grabes angegeben. Moreton war hingegangen, um es sich anzusehen. Und dabei hatte er eine höchst unerfreuliche Überraschung erlebt. Ein verwitterter Grabstein hatte die verwirrende Information geliefert, daß dies der letzte Ruheplatz von Franz Schneider und seiner geliebten Frau Ruth war. Laut Hans’ Bericht war der Name seiner Mutter Maria gewesen. Mr. Moreton nahm sich erneut die Kirchenbücher vor. Er brauchte lange, um sich von 1850 bis 1815 zurückzuarbeiten, doch als er damit fertig war, kannte er die Namen von nicht weniger als zehn von Franz Schneiders Kindern und das Datum seiner Heirat mit Ruth Vogel. Zu seinem Entsetzen hatte er auch festgestellt, daß keines der Kinder den Namen Hans oder Karl trug. Der Gedanke, daß es eine frühere Heirat in einer anderen Stadt gegeben haben mußte, war ihm recht bald gekommen. Wo aber konnte diese frühere Heirat stattgefunden haben? Mit welchen anderen Städten ließ sich Franz Schneider in Verbindung bringen? In welcher Stadt war er beispielsweise zur preußischen Armee eingezogen worden? Es gab nur einen einzigen Ort, wo derlei Fragen, wenn überhaupt, beantwortet werden konnten. Mr. Moreton und sein Dolmetscher waren nach Berlin gereist. Mr. Moreton hatte bis Ende März gebraucht, um 52
das Dickicht der Nazibürokratie zu durchdringen und in den Potsdamer Archiven so tief zu graben, daß er an die Tagebücher der Ansbacher Dragoner aus der Zeit der Napoleonischen Kriege herankam. Er brauchte weniger als zwei Stunden, um herauszufinden, daß der Name Schneider zwischen 1800 und 1815 nur ein einziges Mal in der Stammrolle des Regiments auftauchte. Ein Wilhelm Schneider war 1803 durch einen Sturz vom Pferd ums Leben gekommen. Es war ein herber Schlag gewesen. Der betreffende Tagebucheintrag Mr. Moretons schloß mit den mutlosen Worten: »Also ist es wohl doch ein fruchtloses Unterfangen. Trotzdem werde ich morgen noch einmal alles nachprüfen. Sollte dies ergebnislos bleiben, werde ich die Nachforschungen einstellen, da ich weitere Bemühungen für sinnlos halte, wenn es nicht gelingt, Hans Schneiders Verbindung mit der Mühlhausener Familie urkundlich zu belegen.« George blätterte um und machte ein verdutztes Gesicht. Der nächste Tagebucheintrag bestand zur Gänze aus Zahlen. Zeile um Zeile füllten sie die Seite. Für die nächste und die übernächste Seite galt das gleiche. Er blätterte rasch weiter. Mit Ausnahme der Datumszeile bestanden sämtliche Folgeeinträge – und das Tagebuch umfaßte noch mehr als drei Monate – aus Zahlen. Außerdem bildeten die Zahlen Fünfergruppen. Mr. Moreton hatte sich also nicht nur dagegen entschieden, seine Nachforschungen in Deutschland aufzugeben, sondern er 53
hatte es auch für notwendig erachtet, deren Ergebnisse verschlüsselt zu notieren. George legte das Tagebuch zur Seite und sah rasch den Stapel fotografierter Dokumente durch. Er konnte Deutsch schon in Druckschrift nicht besonders gut lesen, und vor der herkömmlichen Sütterlinschrift mußte er vollends kapitulieren. Die betreffenden Dokumente waren allesamt handgeschrieben. Zwei, drei davon betrafen, wie eine sorgfältige Untersuchung ergab, Geburt und Tod von Menschen namens Schneider, doch das war kaum überraschend. Er legte sie beiseite und öffnete den Umschlag. Das Foto, »von Pfarrer Weichs in Bad Schwennheim an r.l.m. ausgehändigt«, erwies sich als eselsohriges, postkartengroßes Porträt eines jungen Mannes und einer jungen Frau, die nebeneinander auf der rustikalen Bank eines Berufsfotografen saßen. Die Frau war von einer gewissen anspruchslosen Hübschheit und möglicherweise schwanger. Der Mann war unscheinbar. Ihre Kleidung entsprach der Mode der zwanziger Jahre. Sie wirkten wie ein glückliches Arbeiterpaar an seinem freien Tag. Der gemalte Hintergrund zeigte schneebedeckte Tannen. In der Bildecke stand in Sütterlinschrift ›Johann und Ilse‹. Laut dem Stempel des Fotografen auf der Rückseite des Abzuges war die Aufnahme in Zürich gemacht worden. Sonst enthielt der Umschlag nichts. Charlie kam mit einem Heftpflaster auf der Stirn 54
und einer weiteren Ladung Päckchen herein, und George machte sich wieder über die Ansprüche her. An diesem Abend jedoch nahm er den Inhalt der Dokumentenschatulle mit in seine Wohnung und ging ihn erneut sorgfältig durch. Er war in einer schwierigen Lage. Man hatte ihn beauftragt, die Ansprüche auf den Nachlaß zu überprüfen, die bei dem früheren Nachlaßverwalter eingegangen waren; sonst nichts. Wenn die Dokumentenschatulle nicht heruntergefallen wäre und den Hausmeister am Kopf verletzt hätte, wäre sie ihm wahrscheinlich entgangen. Man hätte sie woandershin geräumt und dann im Keller vergessen. Er hätte sich durch die Ansprüche durchgearbeitet und dann zweifellos Mr. Budd berichtet, was Mr. Budd hören wollte: daß es keine offenstehenden Ansprüche gab, die zu behandeln sich lohnte, und daß der Staat Pennsylvania wie geplant vorgehen könne. Dann wäre er, George, die ganze leidige Geschichte losgewesen, um sich mit einem Auftrag belohnen zu lassen, der seinen Fähigkeiten eher entsprach. Nun sah es so aus, als hätte er die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten, sich zum Narren zu machen: Er konnte den Inhalt der Dokumentenschatulle ignorieren und so riskieren, daß Mr. Sistrom einen schweren Schnitzer machte; oder er konnte Mr. Budd mit müßigen Phantastereien auf die Nerven gehen. Hohe politische Ämter und Sitze im Vorstand von Eisenbahngesellschaften schienen an diesem 55
Abend in weite Ferne gerückt. Erst in den frühen Morgenstunden fiel ihm ein, wie er Mr. Budd die Sache taktvoll beibringen konnte. Mr. Budd nahm Georges Bericht sehr ungnädig auf. »Ich weiß gar nicht mal, ob Bob Moreton noch lebt«, sagte er gereizt. »Für mich deutet dieser ganze Geheimschrift-Sums jedenfalls darauf hin, daß der Mann sich in einem fortgeschrittenen Stadium der Paranoia befand.« »Hat er denn einen gesunden Eindruck gemacht, als Sie ihn vierundvierzig gesehen haben, Sir?« »Den Eindruck mag er gemacht haben, aber nach dem, was Sie mir da zeigen, war er’s anscheinend nicht.« »Aber die Nachforschung hat er fortgesetzt, Sir.« »Und wenn schon?« Mr. Budd seufzte. »Hören Sie, George, wir wollen bei dieser Geschichte keine Komplikationen. Wir wollen die Sache einfach loswerden, je früher, desto besser. Ich weiß es zu schätzen, daß Sie gründlich sein wollen, aber ich möchte doch meinen, daß das alles eigentlich ganz einfach ist. Sie besorgen sich einen Deutschübersetzer für die fotografierten Dokumente, stellen fest, worum es sich dabei handelt, gehen dann sämtliche Ansprüche von Leuten namens Schneider durch und überprüfen, ob die Dokumente sich auf einen davon beziehen. Im Grunde ganz simpel, nicht?« George kam zu dem Schluß, daß nun ein taktvolles Vorgehen angezeigt war. »Ja, Sir. Aber ich hatte 56
an eine Möglichkeit gedacht, die ganze Sache zu beschleunigen. Ich bin nämlich noch nicht bis zu den Schneiders gekommen, aber nach den Papiermengen im Keller zu urteilen, muß es davon mindestens dreitausend geben. Dabei habe ich schon fast vier Wochen dafür gebraucht, so viele gewöhnliche Ansprüche zu überprüfen. Die Schneiders werden mit Sicherheit länger dauern. Aber mittlerweile habe ich mich eingehender mit der Sache befaßt, und ich habe so das Gefühl, wir könnten eine Menge Zeit sparen, wenn ich einmal mit Mr. Moreton sprechen könnte.« »Wieso? Inwiefern?« »Nun ja, Sir, ich habe mir ein paar von den Berichten über die Sache angesehen, die die Kanzlei gegen den Anspruch von Rudolph Schneider und die deutsche Regierung durchgefochten hat. Es erschien mir ganz klar, daß Moreton, Greener und Cleek über eine ganze Menge von Fakten verfügten, die die Gegenseite nicht besaß. Ich glaube, sie hatten ganz eindeutige Informationen, daß es keinen lebenden Schneider-Erben gab.« Mr. Budd sah ihn durchdringend an. »Wollen Sie damit etwa andeuten, George, daß Moreton über jeden begründeten Zweifel hinaus festgestellt hat, daß es keinen Erben gab, und daß er und seine Partner diese Tatsache dann verschwiegen haben, um weiterhin Honorar aus dem Nachlaß kassieren zu können?« »Möglich wäre es, Sir, nicht wahr?« 57
»Was für Zyniker ihr jungen Männer doch manchmal seid!« Mr. Budd wurde plötzlich wieder jovial. »Na schön, worauf wollen Sie hinaus?« »Wenn wir die Ergebnisse von Moretons vertraulichen Nachforschungen bekommen könnten, hätten wir vielleicht genügend Informationen, um uns jede weitere Überprüfung all dieser Ansprüche sparen zu können.« Mr. Budd strich sich übers Kinn. »Verstehe. Ja, nicht schlecht, George.« Er nickte lebhaft. »Okay. Sehen Sie zu, was Sie tun können, falls der alte Knabe noch am Leben und bei klarem Verstand ist. Je rascher wir die ganze Sache los sind, desto besser.« »Ja, Sir«, sagte George. Am Nachmittag bekam er einen Anruf von Mr. Budds Sekretärin: Eine Nachfrage bei Mr. Moretons früherem Club habe ergeben, daß er sich in Montclair, New Jersey, zur Ruhe gesetzt hatte. Mr. Budd habe brieflich bei dem alten Herrn angefragt, ob er George empfangen würde. Zwei Tage später kam Antwort von Mrs. Moreton. Ihr Mann sei seit einigen Monaten bettlägerig, doch angesichts der früheren Geschäftsverbindung sei er gerne bereit, sein Gedächtnis Mr. Carey zur Verfügung zu stellen, vorausgesetzt, der Besuch sei kurz. Mr. Moreton schlafe nachmittags. Vielleicht würde Freitag morgen elf Uhr Mr. Carey passen. »Das muß seine zweite Frau sein«, sagte Mr. Budd. 58
Freitag morgen legte George die Dokumentenschatulle nebst vollständigem ursprünglichem Inhalt auf den Rücksitz seines Wagens und fuhr nach Montclair.
3
D
as von mehreren Morgen gepflegtem Garten umgebene Haus machte einen behaglichen Eindruck, und George kam der Gedanke, daß die finanziellen Geschicke von Moreton, Greener und Cleek wohl doch nicht so katastrophal gewesen waren wie von Mr. Budd angedeutet. Die zweite Mrs. Moreton erwies sich als schlanke, gepflegte Endvierzigerin. Sie hielt sich sehr gerade und hatte eine energische Art und ein gönnerhaftes Lächeln. Durchaus wahrscheinlich, daß sie Mr. Moretons Pflegerin gewesen war. »Mr. Carey, nicht wahr? Sie werden ihn doch nicht überanstrengen, oder? Im Augenblick darf er morgens aufbleiben, aber wir müssen vorsichtig sein. Koronarthrombose.« Sie ging ihm voran durch eine glasverkleidete Veranda auf der Rückseite des Hauses. Mr. Moreton war korpulent, rosig und schwammig, wie ein heruntergekommener Athlet. Er hatte kurze weiße Haare und tiefblaue Augen, und das schlaffe, aufgedunsene Gesicht zeigte noch immer eine Spur von jungenhaft gutem Aussehen. Er lag, von Kissen gestützt und in eine Decke gehüllt, auf 60
einer Couch, die mit einem Lesepult ausgestattet war. Er begrüßte George lebhaft, schob das Lesepult zur Seite und rappelte sich in Sitzhaltung hoch, um ihm die Hand geben zu können. Er hatte eine leise, angenehme Stimme und roch schwach nach Lavendelwasser. Ein, zwei Minuten lang erkundigte er sich nach Leuten bei Lavater, die er gekannt hatte, dann fragte er nach einer Reihe von Menschen in Philadelphia, von denen George noch nie gehört hatte. Endlich lehnte er sich lächelnd zurück. »Lassen Sie sich niemals überreden, in den Ruhestand zu treten, Mr. Carey«, sagte er. »Man lebt in der Vergangenheit und wird zum Langeweiler. Und zwar zu einem unehrlichen Langeweiler. Ich frage Sie, wie es Harry Budd geht. Sie sagen mir, es geht ihm gut. Dabei will ich in Wirklichkeit wissen, ob er eine Glatze bekommen hat.« »Hat er«, sagte George. »Und ob er trotz all seiner bemühten Bonhomie schon Magengeschwüre hat oder hohen Blutdruck.« George lachte. »Wenn ja«, fuhr Mr. Moreton liebenswürdig fort, »wäre es schön. Dann muß ich den alten Gauner wenigstens nicht beneiden.« »Aber Bob«, sagte seine Frau vorwurfsvoll. Er sprach mit ihr, ohne sie anzusehen. »Mr. Carey und ich möchten uns jetzt ein wenig über Geschäftliches unterhalten, Kathy«, sagte er. »Schön. Aber überanstrenge dich nicht.« 61
Mr. Moreton gab keine Antwort. Als sie gegangen war, lächelte er. »Etwas zu trinken, mein Lieber?« »Nein, danke, Sir. Mr. Budd hat, glaube ich, erklärt, weshalb ich Sie sprechen wollte.« »Gewiß. Die Sache Schneider-Johnson. Ich hätte es mir auch so denken können.« Er sah George von der Seite an. »Dann haben Sie’s also gefunden, ja?« »Was gefunden, Sir?« »Das Tagebuch, die Fotos und den ganzen anderen Kram von Hans Schneider. Sie haben es gefunden, wie?« »Es liegt draußen im Wagen, zusammen mit ein paar persönlichen Dingen von Ihnen, die mit in die Schatulle geraten sind.« Mr. Moreton nickte. »Ich weiß. Ich habe sie selbst hineingelegt – obenauf. Mit etwas Glück, habe ich mir überlegt, würde jeder, der die Schatulle öffnet, denken, das wäre alles nur mein persönlicher Krempel.« »Verzeihung, aber ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Sir.« »Kann ich mir denken. Ich will es Ihnen erklären. Als Nachlaßverwalter war ich verpflichtet, alles vollständig auszuhändigen. Tja, und diesen vertraulichen Kram wollte ich eben nicht aushändigen. Ich wollte ihn vernichten, aber Greener und Cleek haben mich nicht gelassen. Sie haben gesagt, wenn irgendwas rauskäme und John J. erführe davon, dann käme ich in Teufels Küche.« »Aha«, sagte George. Seine Vermutung, daß Mo62
reton, Greener und Cleek wichtige Informationen zurückgehalten hatten, hatte er im Grunde selbst nicht geglaubt. Sie hatte ihm lediglich dazu gedient, Mr. Budd herumzukriegen. Nun war er gelinde entsetzt. Mr. Moreton zuckte die Achseln. »Ich konnte also nur versuchen, das Zeug zu tarnen. Tja, und das ist mir nicht gelungen.« Er starrte einen Moment lang düster in den Garten hinaus, dann wandte er sich energisch George zu, wie um eine häßliche Erinnerung zu vertreiben. »Der Staat Pennsylvania ist wohl wieder hinter dem Zaster her, wie?« »Ja. Und man möchte dort wissen, ob Mr. Sistrom sich mit ihnen darum raufen will.« »Und Harry Budd, der sich nicht gern die zarten Finger an dergleichen schmutzig macht, kann es gar nicht abwarten, den Kram aus der Kanzlei zu befördern, wie? Nein, darauf brauchen Sie nicht zu antworten, mein Lieber. Kommen wir zur Sache.« »Soll ich die Papiere aus dem Wagen holen, Sir?« »Wir werden sie nicht brauchen. Ich kenne den Inhalt der Schatulle in- und auswendig. Haben Sie das kleine Buch gelesen, das Hans Schneider für seine Kinder geschrieben hat?« »Ja.« »Und was halten Sie davon?« George lächelte. »Nach der Lektüre habe ich einen Entschluß gefaßt. Falls ich je Kinder habe, werde ich ihnen niemals auch nur die geringste Kleinigkeit von meinen Kriegserlebnissen erzählen.« 63
Der alte Herr schmunzelte. »Sie werden’s aus Ihnen rausholen. Sie müssen nur darauf achten, daß nicht so ein Schafskopf wie Hans aufschreibt, was Sie sagen. Dann wird es nämlich gefährlich.« »Wie das?« »Das will ich Ihnen sagen. Ich war zwar Nachlaßverwalter, doch nach Deutschland gereist bin ich auf Wunsch meiner Partner. Wir hatten die Sache schon zu lange am Bein und wollten sie endlich erledigen. Meine Anweisungen lauteten, Belege für das zu finden, was wir längst vermuteten – daß es keinen legitimen Erben des Nachlasses gab. Tja, und als ich feststellte, daß Hans wahrscheinlich ein Sohn Franz Schneiders aus erster Ehe war, mußte ich Näheres über diese Ehe erfahren, um ein vollständiges Bild zu bekommen. Wie Sie wissen, bin ich nach Potsdam gefahren, um festzustellen, ob ich ihn über die Regimentsarchive ermitteln könnte. Das gelang mir zunächst nicht.« »Aber am nächsten Tag haben Sie die Sache noch einmal überprüft?« »Ja, aber dazwischen hatte ich eine Nacht zum Überlegen gehabt. Und noch einmal darüber nachgedacht, was Hans geschrieben hatte. Wenn überhaupt etwas Wahres daran war, dann mußte Wachtmeister Schneider in der Schlacht von Eylau verwundet und auf dem Rückzug vermißt worden sein. Das Kriegstagebuch würde derlei bestimmt in einer Verlustliste verzeichnen. Anstatt also am nächsten Tag noch einmal die offizielle Stammrolle 64
durchzugehen, habe ich mir vom Übersetzer den Regimentsbericht über die Schlacht übersetzen lassen.« Er seufzte erinnerungsselig. »Es gibt Momente im Leben, mein Lieber, die einen immer wieder freuen, ganz gleich, wie oft man an sie zurückdenkt. Das war so einer. Es war am späten Vormittag und schon recht warm. Der Übersetzer hatte Schwierigkeiten mit der alten Schrift und stotterte die Übersetzung herunter. Ich hörte nur halb zu. Ich mußte an einen üblen Marsch denken, den ich selbst einmal im spanisch-amerikanischen Krieg auf Kuba mitgemacht hatte. Dann plötzlich sagte der Übersetzer etwas, was mich hochfahren ließ.« Er hielt inne. »Und was war das?« fragte George. Mr. Moreton lächelte. »Ich erinnere mich noch an den genauen Wortlaut. ›Während der Nacht‹ – ich zitiere aus dem Kriegstagebuch – ›verließ Franz Schirmer, Wachtmeister, das unter seinem Befehl stehende Detachement; er gab an, einem Dragoner Beistand leisten zu wollen, der wegen eines lahmen Pferdes zurückgeblieben war. Bis zum Morgen war Wachtmeister Schirmer nicht zu seinem Detachement zurückgekehrt. Es wurde festgestellt, daß kein anderer Mann fehlte und auch keiner zurückgeblieben war. Dementsprechend wurde der Name Franz Schirmer auf die Liste der Deserteure gesetzt.‹« Ein, zwei Momente lang herrschte Schweigen. »Na?« fügte Mr. Moreton hinzu. »Was halten Sie davon?« 65
»Schirmer, sagten Sie?« »Richtig. Wachtmeister Franz Schirmer, s-c-h-i-rm-e-r.« George lachte. »Der alte Gauner«, sagte er. »Genau.« »Dann war also das ganze Zeug, das er seinem Sohn Hans erzählt hat, von wegen die feigen Preußen hätten ihn für tot liegen lassen …« »Quatsch«, sagte Mr. Moreton trocken. »Aber Sie sehen, was für Weiterungen sich daraus ergeben.« »Ja. Was haben Sie unternommen?« fragte George. »Als erstes habe ich Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Wir hatten schon genug Probleme damit, daß die Zeitungen Einzelheiten über den Fall herausfanden und veröffentlichten, deshalb habe ich mich mit meinen Partnern auf eine bestimmte Vorgehensweise geeinigt, ehe ich nach Deutschland reiste. Ich sollte das, was ich unternahm, möglichst geheimhalten, und um nicht an einen Übersetzer mit Kontakten zur deutschen Presse zu geraten, sollte ich ihn in Paris engagieren. Außerdem hatten wir uns auf einen Geheimcode für Vertrauliches geeinigt. Für Sie hört sich das vielleicht eigenartig an, aber falls Sie Erfahrungen mit …« »Ich weiß«, sagte George. »Ich habe die Zeitungsausschnitte gesehen.« »Aha. Nun denn, ich hatte meinen Partnern Zwischenberichte in Tagebuchform geschickt. Als ich 66
das mit Schirmer herausfand, begann ich den Geheimcode zu benutzen. Eine ganz einfache Methode mit Schlüsselwort, aber für unsere Zwecke völlig ausreichend. Sehen Sie, mich verfolgte die Vorstellung, daß die Zeitungen von dem Namen Schirmer Wind bekommen und eine neue Flut von Ansprüchen von Schirmers, Shermans und so weiter auslösen würden. Als letztes entließ ich den Übersetzer. Ich sagte ihm, ich gäbe die Nachforschungen auf, und zahlte ihn aus.« »Wieso das?« »Weil ich damit fortfuhr und nicht wollte, daß außerhalb der Kanzlei irgendwer vollständigen Einblick in die Sache gewann. Es war übrigens nur gut, daß ich ihn entließ, denn später, als die Nazis hinter dem Nachlaß her waren und Frankreich besetzt wurde, holte die Gestapo den zweiten Mann, den ich engagierte, zum Verhör ab. Wenn er gewußt hätte, was der erste gewußt hat, wären wir in die Bredouille geraten. Den zweiten hat mir unsere Pariser Botschaft vermittelt. Bis er kam, hatte ich den Eintrag im Kriegstagebuch fotografieren lassen – Sie finden ihn in der Akte – und war soweit, daß ich Weiterreisen konnte.« »Nach Ansbach?« »Ja. Dort fand ich den Beleg von Franz Schirmers Taufe. Nach Mühlhausen zurückgekehrt, fand ich die Kirchenbucheinträge der Heirat von Franz und Maria Dutka, der Geburt von Karl und Hans und des Todes von Maria. Das eigentlich Wichtige aber 67
stellte ich fest, als ich wieder nach Münster fuhr. Der Knabe Karl stand als Karl Schirmer in der Musterrolle von 1824. Franz hatte seinen Namen geändert, nicht aber den seines ältesten Sohnes.« George überlegte rasch. »Wahrscheinlich hat Franz seinen Namen geändert, als Mühlhausen an Preußen abgetreten wurde.« »Genau das habe ich auch gedacht. Für die Preußen war er ein Deserteur. Aber wegen Karl hat er sich vermutlich einfach keine Sorgen gemacht.« »Hans’ Namen hat er allerdings geändert.« »Aber Hans war damals noch ein Säugling. Er würde ganz selbstverständlich als Schneider aufwachsen. Ganz gleich, welche Gründe er gehabt haben mag, so war es nun mal. Hans hatte sechs Brüder und fünf Schwestern. Alle trugen den Nachnamen Schneider, bis auf einen, Karl. Sein Nachname lautete Schirmer. Ich mußte also lediglich ermitteln, wer von diesen Personen Kinder gehabt hat – Cousins oder Cousinen von Amelia – und ob noch welche davon lebten.« »Das muß ein ziemlicher Aufwand gewesen sein.« Mr. Moreton zuckte die Achseln. »Nun ja, ganz so schlimm, wie es sich anhört, war es nicht. Im vorigen Jahrhundert lagen die Sterblichkeitsziffern höher. Von den elf Brüdern und Schwestern starben zwei Jungen und zwei Mädchen noch vor ihrem zwölften Lebensjahr während einer Typhusepidemie, und ein weiteres Mädchen wurde mit fünfzehn von einem durchgehenden Pferd zu Tode getram68
pelt. Ich hatte mich also nur noch mit sechs zu befassen. Vier davon habe ich einem Privatdetektiv übergeben, der auf solche Sachen spezialisiert ist. Um die anderen beiden habe ich mich selbst gekümmert.« »Und einer von Ihren beiden war Karl Schirmer?« »Richtig. Bis Mitte Juli war ich mit den Schneiders fertig. Es hatte tatsächlich Kinder gegeben, aber keines davon hatte Amelia überlebt. Es gab also noch immer keinen Erben. Der einzige, der noch zu überprüfen blieb, war Karl Schirmer.« »Hatte er denn Kinder?« »Sechs. Er war in Koblenz bei einem Drucker in die Lehre gegangen und hatte die Tochter seines Lehrherrn geheiratet. Von Mitte Juli an suchte ich in Städten und Dörfern des Rheinlandes herum. Bis Mitte August hatte ich alle bis auf einen aufgespürt, und einen Erben hatte ich noch immer nicht. Das fehlende Kind war ein Sohn namens Friedrich, geboren 1863. Von ihm wußte ich nur, daß er 1887 in Dortmund geheiratet hatte und Buchhalter war. Und dann bekam ich Schwierigkeiten mit den Nazis.« »Was für Schwierigkeiten?« »Nun ja, im Sommer 1939 machte sich zwangsläufig jeder Ausländer verdächtig, der im Rheinland herumreiste, Fragen stellte, amtliche Archive durchforschte und verschlüsselte Telegramme abschickte, aber daran hatte ich in meiner Dummheit nicht gedacht. In Essen wurde ich von der Polizei verhört und aufgefordert, über mein Tun und Lassen Aus69
kunft zu geben. Ich erklärte es, so gut ich konnte, und die Polizisten gingen auch, aber am nächsten Tag kamen sie wieder. Diesmal hatten sie zwei Kerle von der Gestapo dabei.« Mr. Moreton lächelte kläglich. »Ich muß Ihnen gestehen, mein Lieber, ich war froh, daß ich einen amerikanischen Paß hatte. Am Ende habe ich sie allerdings überzeugt. Dazu trug wohl auch bei, daß ich zu verhindern versuchte, daß die Presse Wind von meiner Tätigkeit bekam. Mit der Presse hatten sie nämlich auch nichts im Sinn. Die Hauptsache war, daß ich den Namen Schirmer heraushalten konnte. Schwierigkeiten machten sie mir allerdings trotzdem. Es vergingen keine vierzehn Tage, da bekam ich ein Telegramm von meinen Partnern, in dem es hieß, die deutsche Botschaft in Washington habe das State Department davon in Kenntnis gesetzt, daß künftig die deutsche Regierung jeden deutschen Staatsbürger vertreten werde, der Anspruch auf den Nachlaß SchneiderJohnson erhob, und vollständige Auskunft über den derzeitigen Stand der Ermittlungen des Nachlaßverwalters in dieser Angelegenheit verlangt.« »Sie meinen, die Gestapo hat dem Auswärtigen Amt von Ihren Ermittlungen berichtet?« »Ganz bestimmt. So kam es doch überhaupt erst zu dem falschen Anspruch dieses Rudolph Schneider. Sie machen sich keinen Begriff, wie schwierig es politisch und in jeder anderen Hinsicht ist, die Echtheit von Dokumenten anzufechten, die von der Regierung einer befreundeten Macht vorgelegt und be70
glaubigt werden – ich meine einer Macht, die normale diplomatische Beziehungen zu Ihrer eigenen Regierung unterhält. Das ist so, als würden Sie sie beschuldigen, ihre eigenen Banknoten zu fälschen.« »Und was ist mit dem Schirmerschen Zweig der Familie, Sir? Sind die Nazis eigentlich je darauf gekommen?« »Nein. Im Gegensatz zu uns standen ihnen ja auch nicht Amelias Dokumente zur Verfügung. Sie hatten nicht einmal die richtige Familie Schneider, aber das zu beweisen war schwierig.« »Und Friedrich Schirmer, Karls Sohn? Haben Sie ihn aufgespürt?« »Ja, mein Lieber, ich habe ihn aufgespürt, aber es war ein Wahnsinnsaufwand. Eine Arbeitsvermittlung für Angestellte in Karlsruhe hat mich schließlich auf seine Spur gebracht. Sie haben für mich festgestellt, daß sie fünf Jahre zuvor einen älteren Buchhalter namens Friedrich Schirmer in ihrer Kartei gehabt hatten. Sie hatten ihm in Freiburg im Breisgau eine Stelle in einer Knopffabrik vermittelt. Also bin ich zur Knopffabrik gefahren. Dort hieß es, er habe sich drei Jahre zuvor mit siebzig zur Ruhe gesetzt und sei in Bad Schwennheim in eine Klinik gekommen. Blasenprobleme, hieß es. Sie meinten, er sei wahrscheinlich gestorben.« »Und, war er’s?« »Ja, er war gestorben.« Mr. Moreton schaute in den Garten hinaus, als könne er ihn nicht ausstehen. »Offengestanden, mein Lieber«, sagte er, »fühlte ich 71
mich zu diesem Zeitpunkt auch ziemlich alt und erschöpft. Es war die letzte Augustwoche, und nach allem, was man im Radio hörte, bestand kaum mehr ein Zweifel daran, daß Europa sich binnen einer Woche im Krieg befinden würde. Ich wollte nach Hause. Ich war noch nie der Typ, der unbedingt überall mittendrin sein muß. Außerdem hatte ich Probleme mit dem Übersetzer. Er war Lothringer, Frankreich mobilisierte, und er hatte Angst, daß er keine Zeit mehr haben würde, seine Frau noch einmal zu sehen, ehe er zu seinem Regiment einberufen wurde. Und allmählich wurde es auch schwierig, Benzin für den Wagen zu bekommen. Ich war in Versuchung, die ganze Sache sein zu lassen und zu machen, daß ich fortkam. Aber irgendwie brachte ich es nicht fertig zu gehen, ohne noch eine letzte Überprüfung vorzunehmen. Vierundzwanzig Stunden, mehr brauchte ich nicht.« »Also haben Sie es überprüft.« Nun, da er die Fakten hatte, die er wollte, machten George die Reminiszenzen Mr. Moretons ungeduldig. »Ja, ich habe es überprüft. Aber ohne den Übersetzer. Er hatte eine solche Heidenangst, daß ich ihm sagte, er solle mit dem Wagen nach Straßburg fahren und dort auf mich warten. Zum Glück, kann ich nur sagen. Als die Gestapo ihn später zu fassen bekam, wußte er nur, daß ich nach Bad Schwennheim gefahren war. Ein Riesenglück. Ich bin mit dem Zug hingefahren. Kennen Sie den Ort? Er liegt bei Triberg in Baden.« 72
»In die Gegend bin ich nie gekommen.« »Einer dieser abgelegenen Kurorte – Pensionen, Familienhotels und kleine Villen am Rand des Tannenwaldes. Ich hatte festgestellt, daß man sich mit derlei Anfragen am besten an den Pfarrer wandte, also machte ich mich auf die Suche nach ihm. Die Kirche konnte ich schon sehen – wie eine Kukkucksuhr klebte sie am Hang –, und mein Deutsch reichte gerade aus, um von einem Passanten zu erfahren, daß das Haus des Pfarrers dahinter lag. Nun ja, ich schwitzte mich den Berg hinauf und sprach mit dem Pfarrer. Glücklicherweise konnte er gut Englisch. Ich habe ihm natürlich die üblichen Märchen erzählt …« »Märchen?« »Daß es sich um eine Bagatelle handele, ein kleines Vermächtnis, solche Sachen eben. Man muß dergleichen herunterspielen. Wenn Sie bei einer solchen Geschichte die Wahrheit sagen, können Sie gleich einpacken. Die Habgier! Sie würden sich wundern, wie ganz normale Menschen sich aufführen, wenn sie anfangen, in Millionen zu denken. Also habe ich die üblichen Märchen erzählt und die üblichen Fragen gestellt.« »Und der Pfarrer hat gesagt, Friedrich Schirmer sei tot?« »Ja.« Mr. Moreton lächelte verschmitzt. »Aber er meinte auch, wie schade es sei, daß ich zu spät gekommen war.« »Zu spät wozu?« 73
»Zur Beerdigung.« George sank der Mut. »Wollen Sie damit sagen, er hat Amelia überlebt?« »Um mehr als zehn Monate.« »War er verheiratet?« »Seine Frau war schon seit Jahren tot.« »Kinder?« »Ein Sohn namens Johann. In der Schatulle, die Sie haben, ist sein Foto. Johann hatte eine Frau namens Ilse. Er müßte mittlerweile Mitte fünfzig sein, würde ich sagen.« »Heißt das, er ist noch am Leben?« »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, mein Junge«, sagte Mr. Moreton fröhlich. »Aber wenn, dann ist er mit Sicherheit der Schneider-Johnson-Erbe.« George lächelte. »Dann war er der Erbe, wollten Sie doch wohl sagen, nicht wahr, Sir? Als Deutscher könnte er das Vermächtnis niemals erhalten. Der Treuhänder für Feindvermögen würde den Anspruch auf sich selbst übertragen.« Mr. Moreton schmunzelte und schüttelte den Kopf. »Seien Sie da nicht so sicher, mein Lieber. Laut dem Priester hat Friedrich über zwanzig Jahre lang für einen deutschen Elektrofabrikanten mit einem Werk bei Schaffhausen in der Schweiz gearbeitet. Johann ist dort geboren worden. Eigentlich müßte er Schweizer sein.« George sank in seinen Sessel zurück. Ein, zwei Momente lang war er zu verwirrt, um klar denken zu können. Mr. Moretons rosige, feiste Wangen 74
bebten vor Vergnügen. Die Wirkung seiner Äußerung beglückte ihn. George spürte, daß er zornig wurde. »Aber wo hat er gewohnt?« fragte er. »Und wo wohnt er jetzt?« »Auch das weiß ich nicht. Sowenig wie der Pfarrer. Soweit ich feststellen konnte, ist die Familie Anfang der Zwanziger nach Deutschland zurückgekehrt. Aber Friedrich Schirmer hatte jahrelang nichts von Sohn und Schwiegertochter gehört. Mehr noch, in den Papieren, die er hinterließ, gibt es keinerlei Hinweis darauf, daß sie je existiert haben, nur das Foto und einiges, was er zu dem Pfarrer gesagt hat.« »Hat Friedrich ein Testament gemacht?« »Nein. Er hatte nichts zu vererben, was den Aufwand gelohnt hätte. Er lebte von einer kleinen Rente. Es war kaum genug Geld da, um ihn anständig zu beerdigen.« »Aber Sie haben sich doch sicher bemüht, diesen Johann zu finden?« »Zu dem Zeitpunkt konnte ich nicht viel tun. Ich habe Pfarrer Weichs – so hieß er – gebeten, mich sofort zu verständigen, falls er irgend etwas von oder über Johann hörte, aber drei Tage später brach der Krieg aus. Ich habe nie wieder von ihm gehört.« »Aber als die deutsche Regierung den Nachlaß beanspruchte, haben Sie deren Vertretern da nicht die Lage auseinandergesetzt und sie aufgefordert, Johann Schirmer zu präsentieren?« 75
Der alte Herr zuckte ungeduldig die Achseln. »Ja, gewiß, wenn es soweit gekommen wäre, daß sie eine echte Chance gehabt hätten, ihren Anspruch in Sachen Schneider zu erhärten, dann hätten wir das wohl gemußt. Aber so war es besser, unsere Karten nicht aufzudecken. Sie hatten schon einen falschen Schneider präsentiert. Was sollte sie daran hindern, auch einen falschen Johann Schirmer zu präsentieren? Angenommen, sie hätten festgestellt, daß Johann und Ilse tot waren und keine Erben hatten! Glauben Sie etwa, die hätten das zugegeben? Außerdem waren wir davon überzeugt, daß der Krieg nicht länger als ein, zwei Monate dauern würde; wir rechneten die ganze Zeit damit, daß schon bald einer von uns nach Deutschland zurückkehren und die ganze Sache ordnungsgemäß und zu unserer vollen Zufriedenheit aufklären konnte. Aber dann kam Pearl Harbour, und damit war die Sache, was uns anging, zu Ende.« Mr. Moreton sank in seine Kissen zurück und schloß die Augen. Er hatte seinen Spaß gehabt. Nun war er müde. George schwieg. Aus dem Augenwinkel konnte er die zweite Mrs. Moreton im Hintergrund herumstehen sehen. Er stand auf. »Eines ist mir noch nicht ganz klar, Sir«, sagte er zögernd. »Was denn, mein Lieber?« »Sie haben gesagt, Sie wollten Mr. Sistrom nicht auf diese Tatsachen aufmerksam machen, als Ihr Amt vierundvierzig auf ihn überging. Warum?« 76
Langsam schlug Mr. Moreton die Augen auf. »Anfang vierundvierzig«, sagte er, »ist mein Sohn von der SS ermordet worden, nachdem er aus einem deutschen Kriegsgefangenenlager geflüchtet war. Meiner Frau ging es damals nicht allzu gut, und der Schock hat sie umgebracht. Als der Zeitpunkt kam, daß ich alles an Sistrom übergeben mußte, konnte ich wohl einfach den Gedanken nicht akzeptieren, daß ein Deutscher aufgrund meiner Bemühungen etwas aus diesem Land bekommen sollte.« »Verstehe.« »Standeswidrig«, sagte der alte Herr mißbilligend. »Unmoralisch. Aber so habe ich nun einmal empfunden. Und jetzt –« er zuckte die Achseln, und sein Blick war plötzlich wieder belustigt –, »jetzt frage ich mich einfach, was Harry Budd wohl sagen wird, wenn Sie’s ihm beibringen.« »Das frage ich mich selbst auch schon die ganze Zeit«, sagte George. Mr. Budd sagte mit großem Nachdruck: »Du meine Güte!« und bat seine Sekretärin, festzustellen, ob Mr. Sistrom für eine Besprechung verfügbar sei. John J. Sistrom war der älteste Teilhaber der Kanzlei (Lavater und Powell waren schon vor Jahren gestorben), und der ältere J. P. Morgan hatte große Stücke auf ihn gehalten. Eine unnahbare, ehrfurchtgebietende Gestalt, die ihr Büro durch einen separaten Eingang betrat und verließ, sah ihn außer den anderen Seniorpartnern nur selten jemand. 77
George war ihm bei seinem Eintritt in die Kanzlei vorgestellt worden und hatte einen flüchtigen Händedruck bekommen. Er war sehr alt, viel älter als Mr. Moreton, aber mager und lebhaft. Er spielte mit einem goldenen Drehbleistift herum, während er sich Mr. Budds naserümpfend vorgetragene Erklärung der Sachlage anhörte. »Verstehe«, sagte er schließlich. »Tja, Harry, was schlagen Sie vor? Daß ich jemand anderen mandatiere, vermutlich.« »Ja, John J. Ich dachte, daß vielleicht jemand wie Lieberman interessiert wäre.« »Möglich. Wieviel ist der Nachlaß mittlerweile denn genau wert?« Mr. Budd sah George an. »Vier Millionen dreihunderttausend, Sir«, sagte George. Mr. Sistrom schürzte die Lippen. »Wollen sehen. Die Bundessteuer wird einen ganz schönen Batzen ausmachen. Außerdem hat sich in der Sache seit über sieben Jahren nichts getan, deshalb kommt das Gesetz von 1943 zur Anwendung. Das heißt, achtzig Prozent dessen, was übrigbleibt, geht an den Staat.« »Ein Anspruchsteller könnte von Glück sagen, wenn er eine halbe Million bekäme«, sagte Mr. Budd. »Eine halbe Million steuerfrei ist heutzutage eine Menge Geld, Harry.« Mr. Budd lachte. Mr. Sistrom wandte sich an 78
George. »Was meinen Sie zum Anspruch dieses Johann Schirmer, junger Mann?« fragte er. »Mir scheint er auf den ersten Blick begründet, Sir. Ein wichtiger Gesichtspunkt zu seinen Gunsten wäre die Tatsache, daß die Erbfolge selbst zwar unter das Gesetz von 1917 fällt, der Anspruch Schirmers aber auch den strengeren Bestimmungen des Gesetzes von siebenundvierzig genügt. Die Frage der Rechtsnachfolge stellt sich nicht. Friedrich Schirmer war ein Cousin ersten Grades, und er hat die alte Dame überlebt.« Mr. Sistrom nickte. »Sind Sie auch dieser Meinung, Harry?« »Aber ja. Ich denke, Lieberman wird die Sache mit Vergnügen übernehmen.« »Komische Geschichten, diese alten Erbschaftsfälle«, meinte Mr. Sistrom sinnierend. »Manchmal eröffnen sie ungeahnte Perspektiven. Da desertiert zu Napoleons Zeiten nach einer Schlacht ein deutscher Dragoner und muß seinen Namen ändern. Und über hundert Jahre später sitzen wir hier, viertausend Meilen davon entfernt, und zerbrechen uns den Kopf über eine Situation, die sich aus ebendieser Tatsache ergeben hat.« Er lächelte unbestimmt. »Es ist ein interessanter Fall. Wir könnten nämlich argumentieren, daß Friedrich das Vermögen vor Ernennung des Treuhänders für Feindvermögen geerbt hat und daß es demzufolge nach deutschem Recht auf Johann Schirmer hätte übergehen müssen. Es hat ein zwei Fälle von deutsch-schweizerischen 79
Ansprüchen gegen den Treuhänder gegeben, die durchgesetzt worden sind. Es gibt da vielerlei Möglichkeiten.« »Und für die Zeitungen wird es ein Fressen, wenn sie davon erfahren!« sagte Mr. Budd. »Sie müssen ja nicht davon erfahren, oder? Jedenfalls vorläufig nicht.« Mr. Sistrom hatte offenbar eine Entscheidung getroffen. »Ich denke, wir sollten in der Sache nichts übers Knie brechen, Harry«, sagte er. »Natürlich wollen wir uns nicht in irgendeinen Zeitungsunsinn hineinziehen lassen, aber wir sind im Besitz bestimmter Informationen, zu denen sonst niemand Zugang hat. Wir sind in einer starken Position. Ehe wir in dieser Angelegenheit zu einer Entscheidung kommen, sollten wir meiner Meinung nach in aller Stille jemanden nach Deutschland schicken, um festzustellen, ob dieser Johann Schirmer sich aufspüren läßt. Mir gefällt die Vorstellung nicht, daß der Staat das ganze Geld bekommt, nur weil wir uns nicht weiter damit abgeben wollen. Wenn er tot ist und keine Nachkommen oder Erben hat oder wir ihn nicht finden, können wir immer noch neu überlegen. Vielleicht lege ich dem Staat dann einfach die Tatsachen vor und überlasse denen die ganze Sache. Aber wenn auch nur die geringste Möglichkeit besteht, daß der Mann noch am Leben ist, sollten wir alle nur möglichen Anstrengungen unternehmen, ihn zu finden. Es besteht keine Notwendigkeit, einer anderen Kanzlei dafür ein fürstliches Honorar zukommen zu lassen. Wir stel80
len Gebühren in Rechnung, ganz gleich, ob wir Erfolg haben oder nicht. Ich wüßte nicht, warum wir die Gelegenheit auslassen sollten.« »Aber mein Gott, John J ….!« »Es ist absolut zulässig, daß die Anwälte des Nachlaßverwalters sich bemühen, den Erben zu finden, und für ihre Bemühungen honoriert werden.« »Ich weiß, daß es zulässig ist, John J. aber Herr des Himmels …!« »Bei Mandaten dieser Art kann man nicht allzu heikel sein«, sagte Mr. Sistrom bestimmt. »Ich finde nicht, daß wir das Geschäft aus der Hand der Familie geben sollten, bloß weil wir uns vor ein bißchen Presserummel fürchten.« Schweigen trat ein. Mr. Budd stieß einen Seufzer aus. »Nun ja, wenn Sie es so formulieren, John J. Aber angenommen, der Mann befindet sich in der sowjetischen Zone Deutschlands oder sitzt als Kriegsverbrecher im Gefängnis?« »Dann können wir immer noch neu überlegen. Also, wen wollen Sie schicken?« Mr. Budd zuckte die Achseln. »Ich würde sagen, ein guter, verläßlicher Privatdetektiv wäre das, was wir brauchen.« »Privatdetektiv!« Mr. Sistrom ließ seinen goldenen Drehbleistift fallen. »Ich bitte Sie, Harry, wir verdienen doch keine Million Dollar an der Geschichte. Kompetente Privatdetektive sind für derlei Schnitzeljagden viel zu teuer. Ich glaube, ich habe 81
eine bessere Idee.« Er drehte sich auf seinem Stuhl und sah George an. George wartete bangen Herzens. Der Schlag kam. Mr. Sistrom lächelte wohlwollend. »Was hielten Sie von einer Europareise, Mr. Carey?«
4
Z
wei Wochen später reiste George nach Paris. Während das Flugzeug aus New York langsam in die Kurve ging und zum Landeanflug in Orly ansetzte, rückte unterm Backbordflügel nach und nach die Stadt in sein Gesichtsfeld. Er reckte den Hals, um mehr davon zu sehen. Es war nicht das erste Mal, daß er Paris überflog; aber er tat es zum erstenmal als Zivilist und war neugierig, ob er die alten, vertrauten Wahrzeichen noch erkennen würde. Außerdem stand er am Beginn einer neuen Beziehung zu der Stadt. Für ihn war sie nacheinander ein Punkt auf einer Landkarte gewesen, Standort einer Einrichtung des Hauptquartiers des Army Air Corps, ein Rummelplatz, wo man seinen Urlaub verbrachte, und eine graue Straßenwüste, in der man herumzog, während man ungeduldig auf den Marschbefehl nach Hause wartete. Nun war sie zu einer ausländischen Kapitale geworden, in der er geschäftlich zu tun hatte; Ausgangspunkt für etwas, das er sich in einem Augenblick der Ausgelassenheit als Odyssee vorgestellt hatte. Nicht einmal die Tatsache, daß er lediglich als preiswerter Ersatz für einen kompetenten Privatdetektiv fungierte, konnte 83
ein angenehmes Gefühl der Vorfreude ganz vertreiben. Seine Einstellung zum Fall Schneider-Johnson hatte sich in jenen zwei Wochen etwas gewandelt. Zwar betrachtete er seine Verbindung damit noch immer als Unglück, aber er sah sie nicht mehr als größere Katastrophe. Mehrere Faktoren hatten dazu beigetragen, ihn in seinem Urteil in der Sache zu bestärken. So etwa Mr. Budds Einwände dagegen, einen so fähigen Mann mit einer so banalen Aufgabe zu betrauen. So etwa die unter Kraftausdrücken geäußerte Überzeugung seiner Kollegen, die Überprüfung der Ansprüche sei ihm langweilig geworden und er habe den Sachverhalt raffinierterweise so dargestellt, daß eine kostenlose Urlaubsreise für ihn heraussprang. Vor allem aber Mr. Sistroms Entscheidung, sich der Sache persönlich anzunehmen. Mr. Budd hatte dies grollend ordinärer Habgier zugeschrieben, aber George vermutete, daß für Mr. Sistroms vermeintlich schlichten Wunsch, den Nachlaß zu schröpfen, solange er die Möglichkeit dazu hatte, auch noch andere, weniger geschäftsmäßige Bestrebungen ausschlaggebend waren. Zu unterstellen, ein Teilhaber von Lavater ließe sich in einer finanziellen Angelegenheit von romantischen oder sentimentalen Erwägungen leiten, war fraglos absurd; aber George hatte bereits gemerkt, daß das Absurde und der Fall Schneider-Johnson nie sehr weit auseinandergelegen hatten. Im übrigen hatte der Glaube, daß in Mr. Sistrom ein Schuljunge 84
schlummerte, etwas durchaus Beruhigendes; und Beruhigendes konnte George im Augenblick gut gebrauchen. Nach einem weiteren Besuch in Montclair hatte er sich an die Entschlüsselung von Mr. Moretons Tagebuch gemacht. Als er mit dieser Aufgabe fertig war und sämtliche fotografierten Dokumente in der Schatulle identifiziert hatte, beschlich ihn ein ungewohntes Gefühl der Unzulänglichkeit und des Selbstzweifels. Münster, Mühlhausen, Karlsruhe, Berlin – auf viele der Städte, in denen Mr. Moreton sich bemüht hatte, die Geschichte der Familie Schirmer zu rekonstruieren, hatte er Bomben abgeworfen. Und zweifellos einige ihrer Einwohner getötet. Hätte er die Geduld und die Findigkeit aufgebracht, mit der Mr. Moreton zu Werke gegangen war? Er bezweifelte es eher. Es war demütigend, sich mit dem Wissen zu trösten, daß seine Aufgabe sich wahrscheinlich als einfacher erweisen würde. Am Morgen nach seiner Ankunft in Paris begab er sich zur Amerikanischen Botschaft, stellte sich in der dortigen Rechtsabteilung vor und bat darum, ihm einen Deutsch-Englisch-Übersetzer zu empfehlen, mit dem die Botschaft selbst schon zusammengearbeitet habe und dessen beeidigte Aussagen später vom Waisengericht in Philadelphia und vom Treuhänder für Feindvermögen anerkannt würden. In sein Hotel zurückgekehrt, fand er einen Brief vor. Er stammte von Mr. Moreton.
85
Mein lieber Mr. Carey, haben Sie vielen Dank für Ihren Brief. Ich habe natürlich mit großem Interesse zur Kenntnis genommen, daß mein alter Freund John Sistrom beschlossen hat, die Nachforschungen in Sachen Schirmer weiterzuführen, und freue mich sehr darüber, daß Sie dafür zuständig sein werden. Meinen Glückwunsch. Sie müssen sich gut mit John J. stehen, daß man Ihnen diese Aufgabe anvertraut. Sie können sich darauf verlassen, daß keine Zeitung von mir auch nur ein Sterbenswörtchen zu dem Thema erfährt. Ich nehme mit Genugtuung Ihre für mich schmeichelhafte Absicht zur Kenntnis, die gleichen Vorsichtsmaßregeln wie ich zu ergreifen, um Geheimhaltung sicherzustellen. Wenn Sie erlauben, möchte ich Ihnen in der Frage des Übersetzers einen Rat geben – nehmen Sie keinen, der Ihnen nicht persönlich sympathisch ist. Sie werden so viel mit ihm Zusammensein, daß Sie ihn, wenn Sie ihn nicht auf Anhieb mögen, irgendwann nicht mehr werden sehen können. Was die Punkte in meinem Tagebuch angeht, die Ihnen nicht klar waren, so habe ich meine Antworten auf Ihre Fragen auf einem gesonderten Blatt notiert. Bitte denken Sie jedoch daran, daß ich mich hier ganz auf mein Gedächtnis stütze, das mich zuweilen im Stich gelassen haben mag. Ich gebe die Antworten mach bestem Wissen und Gewissem. 86
Ich habe eingehend über Ihre Probleme in Deutschland nachgedacht und vermute, daß Pfarrer Weichs, der Pfarrer von Bad Schwennheim, zu den Personen zählt, mit denen Sie sich frühzeitig in Verbindung setzen werden. Als ich jedoch versuchte, mir ins Gedächtnis zurückzurufen, was ich Ihnen über mein Gespräch mit ihm erzählt habe, wollte es mir scheinen, als hätte ich mehrere wichtige Einzelheiten ausgelassen. Mein Tagebuch gibt, wie ich weiß, nur die nackten Tatsachen. Es handelte sich um mein letztes Gespräch in Deutschland, und ich hatte es eilig, nach Hause zu kommen. Aber wie Sie sich vorstellen können, erinnere ich mich noch lebhaft an die Begegnung. Eine etwas detaillierte Schilderung mag Ihnen vielleicht von Nutzen sein. Wie bereits gesagt, unterrichtete er mich von Friedrich Schirmers Tod, und ich gab ihm eine etwas gefärbte Darstellung der Gründe, aus denen ich mich nach dem Mann erkundigte. Daraufhin führten wir ein Gespräch, das ich Ihnen, da es darin einigermaßen ausführlich um Johann Schirmer ging, aus dem Gedächtnis wiedergeben möchte. Pfarrer Weichs ist oder war ein hochgewachsener, blonder Mann mit knochigem Gesicht und scharfen blauen Augen. Beileibe kein Dummkopf. Und alles andere als ein Dulder. Mein stockendes Deutsch ließ seine Gesichtsmuskeln ungeduldig zucken. Zum Glück spricht er gut Englisch, und 87
nach dem üblichen Austausch von Höflichkeiten setzten wir das Gespräch in dieser Sprache fort. »Ich hatte gehofft, Sie wären vielleicht mit ihm verwandt«, sagte er. »Er hat einmal von einem Onkel in Amerika gesprochen, den er nie gesehen habe.« »Hatte er denn hier keine Verwandten? Keine Ehefrau?« fragte ich. »Seine Frau ist vor etwa sechzehn Jahren in Schaffhausen gestorben. Sie war Schweizerin. Die beiden haben über zwanzig Jahre lang dort gelebt. Ihr Sohn ist dort geboren worden. Aber als seine Frau starb, ist er nach Deutschland zurückgekehrt. Während seiner letzten Krankheit hat er öfter von seinem Sohn Johann gesprochen, aber er hatte ihn schon seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Johann war verheiratet, und Friedrich hatte eine Zeitlang bei dem Paar gelebt, aber dann war es zum Streit gekommen, und er hatte das Haus verlassen.« »Wo haben die beiden denn gewohnt?« »In Deutschland, aber wo genau, hat er mir nicht gesagt. Das ganze Thema war sehr schmerzlich für ihn. Er hat überhaupt nur einmal davon gesprochen.« »Worüber haben sie sich denn gestritten?« Bei dieser Frage zögerte Pfarrer Weichs. Offensichtlich kannte er die Antwort darauf. Aber er sagte lediglich: »Das kann ich nicht sagen.« »Wissen Sie es nicht?« hakte ich nach. 88
Er zögerte erneut, dann antwortete er sehr bedacht: »Friedrich Schirmer war vielleicht kein ganz so einfacher Mann, wie es den Anschein hatte. Mehr kann ich nicht sagen.« »Aha.« »De mortuis … der alte Mann war sehr krank.« »Sie haben also absolut keine Ahnung, Pater, wo Johann sich aufhalten könnte?« »Leider nein. Ich habe in den Sachen des alten Mannes nach der Adresse von jemandem gesucht, dem ich seinen Tod hätte mitteilen können, aber ich habe nichts gefunden. Er hat im Altenheim gewohnt. Laut der dortigen Leiterin hat er keine Briefe bekommen, nur seine monatliche Rente. Bekommt der Sohn denn nun das Erbe?« Auf diese Frage war ich vorbereitet. Einen Moment lang hatte ich erwogen, dem Pfarrer zu vertrauen, aber die gewohnte Vorsicht gewann die Oberhand. Ich antwortete ausweichend. »Das Geld wird treuhänderisch verwaltet«, sagte ich und wechselte das Thema, indem ich fragte, was aus Friedrichs Habseligkeiten geworden sei. »Es war nicht viel mehr als die Kleider da, in denen er begraben wurde«, sagte er. »Kein Testament?« »Nein. Ein paar Bücher und ein paar alte Papiere – Dokumente über seinen Militärdienst, solche Sachen. Nichts von Wert. Ich habe sie in Verwahrung, bis die Behörden mir sagen, daß ich sie vernichten darf.« 89
Natürlich war ich entschlossen, die Sachen selbst durchzusehen, aber dazu war ein taktvolles Vorgehen erforderlich. »Ob ich sie wohl sehen dürfte, Herr Pfarrer?« fragte ich. »Es wäre vielleicht angebracht, wenn ich seinen Verwandten in Amerika sagen könnte, daß ich das getan habe.« »Gewiß, wenn Sie wünschen.« Er hatte die Papiere zusammengepackt und den Rosenkranz des Toten dazugelegt. Ich sah sie durch. Es war, wie ich Ihnen sagen muß, eine erbärmliche Kollektion. Da gab es alte Schweizer Konzertprogramme und Kataloge von Schweizer Handelsausstellungen, ein Buchhandelsdiplom von einer Handelsschule in Dortmund und die handgeschriebene Speisekarte eines Essens, das 1910 für die deutschen Angestellten der Schaffhausener Fabrik gegeben wurde, in der er gearbeitet hatte. Da gab es Antwortbriefe auf Bewerbungen um Buchhalterstellen von Geschäftshäusern in ganz Deutschland. Der Bewerber hatte, in dieser chronologischen Reihenfolge, aus Dortmund, Mainz, Hannover, Karlsruhe und Freiburg geschrieben. Da gab es die Militärpapiere und die Dokumente in Zusammenhang mit der Rente, die er sich von seinen Ersparnissen gekauft hatte. In Momenten des Überschwangs habe ich zuweilen die Behauptung verfochten, die vermeintlich unwichtigen Dinge, die ein Mensch aufbewahrt, die privaten Erinnerungsstücke, der Plunder, den er 90
im Laufe seines Lebens anhäuft, gäben Aufschluß über die Geheimnisse seiner Seele. Falls das stimmt, muß Friedrich Schirmer ein außergewöhnlich ereignisloses Innenleben geführt haben. Es gab zwei Fotografien – die eine von Johann und Ilse, die Sie gesehen haben, und eine zweite von der verstorbenen Frau (Friedrich) Schirmers. Ich wußte, daß ich die von Johann um jeden Preis haben mußte. Ich legte sie unauffällig wieder hin. »Nichts von Interesse, wie Sie sehen«, sagte Pfarrer Weichs. Ich nickte. »Aber ich frage mich«, sagte ich, »ob es nicht ein Akt der Mitmenschlichkeit wäre, wenn ich seinen Verwandten in Amerika eine Erinnerung an ihn mitbrächte. Wenn die Sachen ohnehin vernichtet werden sollen, wäre es doch schade, nichts von ihm aufzuheben.« Er überlegte einen Moment, doch es fiel ihm nichts ein, was dagegen sprach. Er schlug den Rosenkranz vor. Ich stimmte sofort zu und brachte die Sache mit dem Foto ganz beiläufig ins Spiel. »Falls es aus irgendeinem Grunde doch gebraucht werden sollte, könnte ich es jederzeit kopieren und Ihnen das Original zurückschicken«, sagte ich. Und so nahm ich es mit. Außerdem ließ ich mir von ihm versprechen, daß er mich benachrichtigen würde, falls er irgend etwas über den Aufenthaltsort von Johann Schirmer erführe. Wie Sie wissen, habe ich nie von ihm gehört. In den Früh91
stunden des folgenden Tages überschritt die Wehrmacht die Grenze und marschierte in Polen ein. Tja, das wäre alles, mein Lieber. Meine Frau war so freundlich, mir das alles zu tippen, und ich hoffe, es wird Ihnen von Nutzen sein. Wenn ich sonst noch irgend etwas für Sie tun kann, lassen Sie es mich wissen. Und wenn Sie der Meinung sind, Sie können mich, ohne das Vertrauen Ihrer Kanzlei zu mißbrauchen, über Ihre Fortschritte informieren, würde ich mich sehr freuen, von Ihnen zu hören. Wissen Sie, von all den Schneiders und Schirmers, die ich kennenlernte, ist mir im Grunde nur der alte Wachtmeister Franz ans Herz gewachsen. Ich könnte mir vorstellen, daß er ein harter Bursche war. Was geschieht mit solchem Blut? O ja, ich weiß, daß nur bestimmte äußere Merkmale weitergegeben werden und daß alles eine Frage der Gene und Chromosomen ist; aber falls Ihnen zufällig ein Schirmer über den Weg läuft, der einen Bart wie Franz hat, dann geben Sie mir Bescheid. Jedenfalls viel Glück. Mit freundlichen Grüßen Robert L. Moreton George faltete den Brief wieder zusammen und besah sich das beigefügte Blatt mit den Antworten auf seine Fragen. Während er noch damit beschäftigt war, gab das Telefon an seinem Bett ein mißtönendes Schnarren von sich, und er nahm den Hörer ab. 92
»Mademoiselle Kolin möchte Sie sprechen, Sir.« »Schön. Ich komme hinunter.« Es handelte sich um die Dolmetscherin, die ihm von der Botschaft empfohlen worden war. »Miss Kolin?« hatte George gesagt. »Eine Frau?« »Ja sicher, eine Frau.« »Ich bin davon ausgegangen, daß Sie mir einen Mann besorgen. Wissen Sie, ich muß viel herumreisen und in Hotels absteigen. Das könnte zu Peinlichkeiten führen, wenn …« »Wieso? Sie müssen ja nicht das Bett mit ihr teilen.« »Ist denn kein Mann verfügbar?« »Keiner, der so tüchtig ist wie Miss Kolin. Sie haben gesagt, Sie wollen jemanden, für den wir uns verbürgen können, wenn es darauf ankommt, daß seine Aussage vor einem amerikanischen Gericht anerkannt wird. Und für Miss Kolin können wir uns verbürgen. Bei wichtigen Untersuchungskommissionen setzen wir immer sie oder Miss Harle ein, genau wie die Briten. Miss Harle hat im Augenblick in Genf zu tun, also haben wir Miss Kolin genommen. Sie haben Glück, daß sie verfügbar ist.« »Na schön. Wie alt ist sie?« »Anfang Dreißig und ziemlich attraktiv.« »Um Gottes willen.« »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.« Der Mann von der Botschaft hatte auf sonderbare Weise gekichert. George hatte das Kichern überhört und sich nach näheren Einzelheiten über Miss Kolin erkundigt. 93
Sie stammte aus einer serbischen Stadt Jugoslawiens und hatte an der Universität Belgrad studiert. Sie besaß ein geradezu phänomenales Sprachtalent. Ein britischer Major, der für eine Hilfsorganisation arbeitete, hatte sie 1945 in einem Flüchtlingslager entdeckt und als Sekretärin eingestellt. Später hatte sie als Dolmetscherin für eine Gruppe amerikanischer Juristen gearbeitet, die mit der Vorbereitung der Nürnberger Prozesse beschäftigt war. Als deren Arbeit endete, hatte einer der Juristen, der sowohl von ihren Fähigkeiten als Sekretärin als auch von ihrer Mehrsprachigkeit beeindruckt war, sie der International Standardizing Organisation und der Amerikanischen Botschaft in Paris empfohlen und ihr geraten, sich als Übersetzerin und Dolmetscherin anzubieten. Sie hatte sich bald durchgesetzt. Dank der Schnelligkeit und Zuverlässigkeit ihrer Arbeit hatte sie auf internationalen Handelskonferenzen inzwischen einen soliden Ruf. Ihre Dienste waren sehr gefragt. In der Eingangshalle des Hotels warteten mehrere Frauen, so daß George den Portier bitten mußte, ihm seine Besucherin zu zeigen. Maria Kolin war in der Tat attraktiv. Figur und Haltung waren von der Art, die auch billige Kleidung gut zur Geltung kommen läßt. Ihre Gesichtszüge waren markant, der braune Teint kontrastierte mit glattem, strohblondem Haar. Sie hatte auffallende Augen mit schweren Lidern. An Make-up trug sie nur Lippenstift, den sie jedoch kräftig auf94
getragen hatte. Sie wirkte, als wäre sie gerade aus dem Skiurlaub zurückgekehrt. Doch obwohl sie offenbar gesehen hatte, wie der Portier sie ihm zeigte, blickte sie weiter ins Leere, während George auf sie zukam, und reagierte, als er sie ansprach, mit einem überraschten Zusammenfahren, das unecht wirkte. »Miss Kolin? Ich bin George Carey.« »Angenehm.« Sie berührte die Hand, die er ihr entgegenstreckte, als wäre es eine zusammengerollte Zeitung. »Freut mich, daß Sie kommen konnten«, sagte George. Sie zuckte steif die Achseln. »Sie möchten selbstverständlich mit mir sprechen, ehe Sie entscheiden, ob Sie mich engagieren.« Ihr Englisch war sehr klar und präzise und hatte nur einen winzigen Anflug von Akzent. »In der Botschaft hat man mir gesagt, Sie seien sehr beschäftigt und ich könne mich glücklich schätzen, daß Sie verfügbar sind.« Er legte so viel Freundlichkeit in sein Lächeln, wie er konnte. Sie blickte geistesabwesend an ihm vorbei. »So?« George merkte, daß er sich über sie zu ärgern begann. »Wollen wir uns irgendwohin setzen und uns unterhalten, Miss Kolin?« »Gewiß.« Er ging ihr durch die Eingangshalle voran zu einer bequemen Sitzgruppe in der Nähe der Bar. Sie folgte ihm etwas zu langsam. Seine Gereiztheit 95
nahm zu. Sie mochte eine attraktive Frau sein, aber sie hatte keinen Grund, sich zu verhalten, als wehre sie einen plumpen Annäherungsversuch ab. Sie war wegen einer Arbeit hier. Wollte sie sie, oder wollte sie sie nicht? Wenn nicht, warum verschwendete sie dann ihre Zeit und kam hierher? »Also, Miss Kolin«, sagte er, als sie sich setzten. »Was haben die Leute von der Botschaft Ihnen schon über diesen Job gesagt?« »Daß Sie nach Deutschland fahren wollen, um dort im Zusammenhang mit einem Rechtsstreit mit verschiedenen Leuten zu reden. Daß Sie wörtliche Niederschriften der übersetzten Gespräche haben wollen. Daß es später erforderlich werden könnte, sich in einer amerikanischen Botschaft einzufinden, um diese Übersetzungen beglaubigen zu lassen. Daß Sie mich für einen Zeitraum von mindestens einem und höchstens drei Monaten brauchen würden. Ich würde jeweils monatlich mein normales Honorar bekommen, außerdem Reise- und Hotelspesen.« Wieder sah sie hocherhobenen Kopfes an ihm vorbei – eine Dame von Stand, die von einem lüsternen Proleten belästigt wird. »Ja, das kommt in etwa hin«, sagte George. »Hat man Ihnen auch gesagt, um was für einen Rechtsstreit es geht?« »Es hieß nur, daß es sich um eine höchst vertrauliche Angelegenheit handelt und daß Sie mir sicherlich erklären würden, was ich darüber wissen müßte.« Ein schwaches, gleichgültiges Lächeln – was die 96
Männer mit ihren kleinen Geheimnissen doch für Kindsköpfe sind. »Richtig. Was für einen Paß haben Sie, Miss Kolin?« »Einen französischen.« »Ich dachte, Sie seien Jugoslawin.« »Ich bin naturalisierte Französin. Mein Paß ist für Deutschland gültig.« »Das war’s, was ich wissen wollte.« Sie nickte, blieb jedoch stumm. Bei aller Geduld mit den geistig Schwerfälligen mußte man ihnen nicht auch noch um den Bart gehen. George lagen in diesem Moment mehrere Sätze auf der Zunge, die meisten dazu angetan, das Gespräch zu einem jähen Ende zu bringen. Er schluckte sie hinunter. Bloß weil sie nicht so tat, als wäre sie dümmer oder auf die Arbeit mehr erpicht, als sie in Wirklichkeit war, mußte er sie nicht beleidigen. Sie hatte ein ungeschicktes Auftreten. Na gut! War sie damit auch eine schlechte Dolmetscherin? Was erwartete er eigentlich von ihr? Daß sie kroch? Er bot ihr eine Zigarette an. Sie schüttelte den Kopf. »Danke, ich rauche lieber diese.« Sie zog ein Päckchen Gitanes hervor. Er gab ihr Feuer. »Haben Sie noch irgendwelche Fragen zu dem Job, die Sie mir stellen möchten?« fragte er. »Ja.« Sie blies Rauch aus. »Haben Sie Erfahrungen in der Arbeit mit Dolmetschern, Mr. Carey?« »Überhaupt keine.« 97
»Aha. Sprechen Sie etwas Deutsch?« »Ganz wenig, ja.« »Wie wenig? Ich stelle die Frage nicht ohne Grund.« »Das habe ich auch nicht angenommen. Tja, mein bißchen Deutsch habe ich auf der High-School gelernt. Nach dem Krieg war ich ein paar Monate lang in Deutschland stationiert und habe dort ziemlich viel Deutsch sprechen hören. Bei Gesprächen zwischen Deutschen bekomme ich meistens mit, worum es in etwa geht, aber manchmal mißverstehe ich es auch so gründlich, daß ich ohne weiteres der Meinung sein kann, ich höre einer politischen Auseinandersetzung zu, während es in Wirklichkeit um die Feinheiten der Hühnerzucht geht. Beantwortet das Ihre Frage?« »Klar und deutlich. Ich will Ihnen erklären, warum ich gefragt habe. Wenn Sie mit einem Dolmetscher arbeiten, läßt es sich nicht immer vermeiden, daß Sie auch das Gespräch mit anhören, das übersetzt wird. Das kann zu Verwirrung führen.« »Soll heißen, es ist besser, der Dolmetscherin zu vertrauen und ihr nicht ins Handwerk zu pfuschen.« »Genau.« Der Barkeeper drückte sich im Hintergrund herum. George ignorierte ihn. Das Gespräch war so gut wie beendet, und er wollte es nicht noch verlängern. Ihre Zigarette war zur Hälfte geraucht. Wenn sie noch einen weiteren Zentimeter heruntergebrannt war, würde er aufstehen. 98
»Ich nehme an, Sie kennen Deutschland ziemlich gut, Miss Kolin.« »Nur bestimmte Gegenden.« »Das Rheinland?« »Ein bißchen.« »Wie ich höre, haben Sie bei der Vorbereitung der Nürnberger Prozesse mitgewirkt.« »Ja.« »Für Sie als Jugoslawin muß das eine große Genugtuung gewesen sein.« »Meinen Sie, Mr. Carey?« »Sie billigen die Prozesse nicht?« Sie senkte den Blick auf ihre Zigarette. »Die Deutschen haben meinen Vater als Geisel genommen und erschossen«, sagte sie knapp. »Sie haben meine Mutter und mich zur Arbeit in eine Fabrik in Leipzig geschickt. Meine Mutter ist dort an einer Blutvergiftung gestorben, weil man sich geweigert hat, die infizierte Wunde zu behandeln. Was mit meinen Brüdern passiert ist, weiß ich nicht genau, nur daß sie schließlich in einer SS-Kaserne in Zagreb zu Tode gefoltert worden sind. O doch, ich billige die Prozesse durchaus. Wenn die Vereinten Nationen sich dadurch stark und rechtschaffen vorkommen, billige ich sie ganz bestimmt. Aber erwarten Sie nicht von mir, daß ich Beifall klatsche.« »Ja, ich verstehe, daß Sie sich eine persönlichere Vergeltung gewünscht haben müssen.« Sie hatte sich vorgebeugt, um ihre Zigarette aus99
zudrücken. Nun drehte sie langsam den Kopf, und ihre Blicke trafen sich. »Leider kann ich Ihren Glauben an die Gerechtigkeit nicht teilen, Mr. Carey«, sagte sie. Ein merkwürdiges, gequältes Lächeln lag auf ihren Lippen. Ihm wurde plötzlich klar, daß er kurz davor stand, die Beherrschung zu verlieren. Sie stand auf und blieb vor ihm stehen, um ihren Rock glattzustreichen. »Möchten Sie sonst noch etwas wissen?« fragte sie ruhig. »Nein, danke, ich glaube nicht.« Er stand auf. »Es war sehr freundlich von Ihnen, daß Sie hergekommen sind, Miss Kolin. Ich weiß noch nicht genau, wann ich Paris verlassen werde. Ich setze mich mit Ihnen in Verbindung, wenn es soweit ist.« »Natürlich.« Sie griff nach ihrer Handtasche. »Auf Wiedersehen, Mr. Carey.« »Auf Wiedersehen, Miss Kolin.« Mit einem Nicken ging sie. Er betrachtete noch einen Moment lang die Zigarette, die sie ausgedrückt hatte, und den Lippenstift daran; dann ging er zum Fahrstuhl und fuhr zu seinem Zimmer hinauf. Er rief umgehend den Mann von der Botschaft an. »Ich habe gerade mit Miss Kolin gesprochen«, sagte er. »Gut. Alles geregelt?« »Nein, nichts ist geregelt. Hören Sie, Don, kann ich nicht jemand anderen bekommen?« »Was haben Sie denn an Miss Kolin auszusetzen?« 100
»Ich weiß auch nicht, was es ist, aber ich mag sie einfach nicht.« »Sie haben sie wohl an einem ihrer schlechten Tage erwischt. Ich habe Ihnen doch gesagt, daß sie als Flüchtling ein paar ziemlich unschöne Erlebnisse gehabt hat.« »Hören Sie, ich habe mit vielen Flüchtlingen geredet, die unschöne Erlebnisse gehabt haben. Aber bisher noch mit keinem, der Sympathien für die Gestapo in mir geweckt hat.« »Zu dumm. Ihre Arbeit ist allerdings okay.« »Sie aber nicht.« »Sie wollten den besten Dolmetscher, der zur Verfügung steht.« »Ich nehme den zweitbesten.« »Keiner, der mit Miss Kolin gearbeitet hat, hat sich jemals anders als lobend über sie geäußert.« »Für Konferenzen und Komitees mag sie hervorragend sein. Aber hier geht es um etwas anderes.« »Was ist denn so anders daran? Sie sind doch nicht auf Urlaub hier, oder?« Mittlerweile lag ein Anflug von Gereiztheit in der Stimme. George zögerte. »Nein, aber …« »Angenommen, es kommt später zu einer Auseinandersetzung über die Zeugenaussage. Dann werden Sie ziemlich blöd dastehen, wenn Sie erklären müssen, daß Sie sich die Chance, eine zuverlässige Dolmetscherin zu bekommen, haben entgehen lassen, bloß weil sie Ihnen persönlich nicht sympathisch war, oder, George?« 101
»Na ja, ich …« George hielt inne und seufzte dann. »Okay – wenn ich als schwerer Alkoholiker wiederkomme, schicke ich Ihnen die Arztrechnungen.« »Wahrscheinlich werden Sie das Mädchen am Ende heiraten.« George lachte höflich und legte auf. Zwei Tage später reisten er und Maria Kolin nach Deutschland ab.
5
I
m Jahre 1939 ist in Bad Schwennheim ein Buchhalter namens Friedrich Schirmer gestorben. Er hatte einen Sohn namens Johann. Machen Sie diesen Sohn ausfindig. Falls er tot sein sollte, dann machen Sie seinen Erben ausfindig. So lauteten Georges Anweisungen. Wahrscheinlich gab es Tausende von Johann Schirmers in Deutschland, doch von dem einen wußte man so einiges. Er war um 1895 in Schaffhausen geboren. Er hatte eine Frau geheiratet, deren Vorname Ilse lautete. Anfang der zwanziger Jahre war ein Foto von den beiden gemacht worden. George hatte einen Abzug davon. Für eine eindeutige Identifizierung würde das Bild zum jetzigen Zeitpunkt wahrscheinlich wenig nützen, aber es könnte dazu beitragen, daß ehemalige Nachbarn und Bekannte sich an das Paar erinnerten. Die äußere Erscheinung prägt sich normalerweise besser ein als der Name. Auch das Foto selbst lieferte einen kleinen Hinweis; aus dem Stempel des Fotografen auf dem Abzug ging hervor, daß es in Zürich aufgenommen worden war. Der erste Schritt in dem Schlachtplan, den Mr. Si103
strom für George entworfen hatte, bestand jedoch, wie von Mr. Moreton vermutet, darin, nach Bad Schwennheim zu fahren und die Nachforschungen dort wieder aufzunehmen, wo sie abgebrochen worden waren. Bei seinem Tod war Friedrich Schirmer seinem Sohn schon mehrere Jahre lang entfremdet gewesen; doch es bestand immerhin die Möglichkeit, daß der Krieg alles geändert hatte. In Notzeiten neigten Familien dazu, zusammenzurücken. Es wäre ganz normal gewesen, hatte Mr. Sistrom behauptet, wenn Johann versucht hätte, sich zu dieser Zeit mit seinem Vater in Verbindung zu setzen. Falls er das getan hätte, wäre er amtlicherseits von dessen Tod in Kenntnis gesetzt worden. Darüber gebe es möglicherweise einen Aktenvermerk, der auch seine Adresse enthalte. Zwar hatte Mr. Moreton aus Bad Schwennheim nichts zu diesem Thema gehört, aber das hieß gar nichts. Womöglich hatte der Pfarrer sein Versprechen vergessen oder sich nicht daran gebunden gefühlt; sein Brief könnte in den unsicheren Kriegszeiten verlorengegangen sein; vielleicht war er als Militärgeistlicher zur Wehrmacht gegangen. Es gab da unzählige Möglichkeiten. Im Zug nach Basel setzte George dies alles Miss Kolin auseinander. Sie hörte aufmerksam zu. Als er fertig war, nickte sie. »Ja, ich verstehe. Sie dürfen natürlich keine Möglichkeit außer acht lassen.« Sie hielt inne. »Erhoffen Sie sich viel von Bad Schwennheim, Mr. Carey?« 104
»Nein, nicht viel. Ich weiß nicht genau, wie das deutsche Verfahren aussieht, aber ich würde sagen, daß die Behörden sich nicht gerade ein Bein ausreißen, um Verwandte ausfindig zu machen und zu benachrichtigen, wenn ein alter Mann wie Friedrich stirbt. Bei uns wäre das jedenfalls nicht so. Wozu auch? Einen Nachlaß gibt es nicht. Und angenommen, Johann hat geschrieben. Dann wäre der Brief an das Sanatorium gegangen und höchstwahrscheinlich mit dem Vermerk ›Adressat verstorben‹, oder was immer man dort draufschreibt, wieder zurückgegangen. Es ist ohne weiteres möglich, daß der Pfarrer gar nichts davon erfahren hätte.« Sie schürzte die Lippen. »Schon eine merkwürdige Geschichte mit dem alten Mann.« »Ach was. Dergleichen kommt jeden Tag vor.« »Sie sagen, Mr. Moreton habe bei den Papieren des alten Mannes außer dem einen Foto nichts von dem Sohn gefunden. Keine Briefe, keine anderen Fotos außer dem von seiner verstorbenen Frau, nichts. Sie hätten sich zerstritten, heißt es. Es wäre interessant zu erfahren, warum.« »Wahrscheinlich hat die Frau es satt gehabt, ihn um sich zu haben.« »Woran ist er eigentlich gestorben?« »Irgendein Blasenleiden.« »Bestimmt hat er gewußt, daß er todkrank ist, und trotzdem hat er seinem Sohn vor dem Ende nicht geschrieben und auch den Pfarrer nicht darum gebeten.« 105
»Vielleicht war es ihm einfach egal.« »Vielleicht.« Sie überlegte einen Moment. »Wissen Sie, wie der Pfarrer heißt?« »Das war ein gewisser Weichs.« »Dann, denke ich, könnten Sie schon vor der Fahrt nach Bad Schwennheim Erkundigungen einziehen. Sie könnten beim Erzbischöflichen Ordinariat in Freiburg erfahren, ob Pfarrer Weichs noch dort ist. Wenn er es nicht mehr ist, wird man Ihnen sagen können, wo er sich aufhält. Auf diese Weise könnten Sie viel Zeit sparen.« »Das ist ein guter Gedanke, Miss Kolin.« »Vielleicht können Sie in Freiburg auch feststellen, ob die Habseligkeiten des alten Mannes von einem Verwandten beansprucht worden sind.« »Um das herauszufinden, werden wir wohl nach Bad Schwennheim fahren müssen, aber wir können es in Freiburg versuchen.« »Sie haben doch nichts dagegen, daß ich solche Vorschläge mache, Mr. Carey?« »Keineswegs. Ganz im Gegenteil, sie sind sehr nützlich.« »Danke.« George hielt es nicht für nötig zu erwähnen, daß ihm die Ideen, die sie vorgebracht hatte, bereits selbst gekommen waren. Er hatte sich einige Gedanken über Miss Kolin gemacht, seit er sich widerstrebend entschlossen hatte, sie zu engagieren. Er mochte sie nicht, und wenn man Mr. Moreton glauben durfte, würde er sie am Ende hassen. Sie 106
war jemand, für den er sich nicht freiwillig entschieden hatte. Sie war ihm im Grunde aufgezwungen worden. Deshalb wäre es sinnlos, sich ihr gegenüber so zu verhalten, als könnte sie – wie etwa eine gute Sekretärin – so etwas wie sein verlängerter Arm sein. Sie befand sich eher in der Position eines unsympathischen Kollegen, mit dem man korrekt zusammenarbeiten muß, bis eine bestimmte Arbeit erledigt ist. Er war solchen Situationen schon in der Armee begegnet und gelassen damit umgegangen; es gab keinen Grund, warum er nicht auch mit dieser gelassen umgehen sollte. So hatte er sich auf das Schlimmste gefaßt gemacht und war, als Miss Kolin sich an jenem Morgen mit Koffer und Reiseschreibmaschine auf der Gare de l’Est einfand, angenehm überrascht worden. Zwar war sie den Bahnsteig entlangmarschiert, als sollte sie vor ein Erschießungskommando gestellt werden, und hatte ein Gesicht gemacht, als wäre sie an diesem Tag schon mehrmals beleidigt worden, aber sie hatte ihn durchaus freundlich begrüßt und ihn dann damit verblüfft, daß sie eine ausgezeichnete Karte von Westdeutschland hervorzog, auf die sie zu seiner Orientierung die Grenzen der verschiedenen Besatzungszonen eingezeichnet hatte. Sie hatte seine offenkundig zurückhaltenden Erklärungen zu dem Fall mit geschäftsmäßigem Verständnis aufgenommen und sich hellwach und praktisch gezeigt, als er ihr im einzelnen auseinandersetzte, welcher Art die Arbeit war, die sie in 107
Deutschland zu erledigen hatten. Nun machte sie intelligente und nützliche Vorschläge. Miss Kolin bei der Arbeit war offensichtlich ein ganz anderer Mensch als Miss Kolin beim Einstellungsgespräch. Vielleicht hatte der Mann von der Botschaft auch recht gehabt, und George konnte sich, nachdem er seinerzeit einen ihrer schlechten Tage erwischt hatte, nun an einem guten freuen. Falls es so war, wäre es günstig, herauszufinden, wie sich die schlechten, wenn überhaupt, vermeiden ließen. Bis dahin konnte er nur hoffen. Nach zwei guten Tagen in Freiburg hatte sich seine Einstellung gegenüber seiner Mitarbeiterin ein weiteres Mal geändert. Er mochte sie nach wie vor nicht, hatte aber Achtung vor ihren Fähigkeiten bekommen, was jedenfalls vom beruflichen Standpunkt aus bei weitem tröstlicher war. Binnen zwei Stunden nach ihrer Ankunft hatte sie herausgefunden, daß Pfarrer Weichs 1943 von Bad Schwennheim weggegangen und einem Ruf an das Hospital vom Heiligen Herzen, einer Einrichtung für Behinderte bei Stuttgart, gefolgt war. Bis zum Abend des folgenden Tages hatte sie festgestellt, daß man Friedrich Schirmers Habseligkeiten gemäß einem Gesetz über testamentlos verstorbene Arme vernichtet hatte und daß als nächster Verwandter des Verstorbenen ein »Johann Schirmer, Sohn, Aufenthaltsort unbekannt« in den Akten stand. Anfangs hatte George noch versucht, jeden Schritt der Nachforschungen selbst zu leiten, doch 108
während man sie von einem Beamten zum nächsten weiterreichte, wurde die mühevolle, zeitraubende Prozedur von Frage und Übersetzung, gefolgt von Antwort und Übersetzung, absurd. Auf seinen Vorschlag hin gab sie nur noch den wesentlichen Inhalt von Unterredungen wieder. Dann hatte sie mitten in einem Gespräch mit einmal ungeduldig abgebrochen. »Das ist nicht der richtige Gesprächspartner«, hatte sie ihm gesagt. »Sie verschwenden hier nur Ihre Zeit. Ich denke, es gibt eine einfachere Methode.« Danach hatte er sich zurückgehalten und sie machen lassen. Sie war mit beträchtlicher Energie und Selbstsicherheit zu Werke gegangen. Ihr Umgang mit Menschen war schlicht, aber effektiv. Den Kooperativen gegenüber war sie forsch, den Unwilligen gegenüber gebieterisch, und für die Argwöhnischen hatte sie ein strahlendes, kaltes Lächeln. In Amerika, befand George, hätte dieses Lächeln keinen sexhungrigen Schuljungen betört, aber in Deutschland schien es zu wirken. Sein endgültiger Triumph bestand darin, daß es einen mürrischen Polizeibeamten bewog, nach Baden-Baden zu telefonieren und die Gerichtsakte über Friedrich Schirmers Nachlaß anzufordern. Das alles war sehr zufriedenstellend, und George sagte ihr das auch in möglichst wohlgesetzten Worten. Sie zuckte die Achseln. »Ich finde es unnötig, daß Sie Ihre Zeit mit diesen einfachen Routineanfragen 109
vergeuden. Wenn Sie meinen, mir soweit vertrauen zu können, daß ich das übernehmen kann, dann will ich es gerne tun.« An diesem Abend fand er etwas noch Beunruhigenderes über Miss Kolin heraus. Sie hatten es sich angewöhnt, beim Abendessen kurz darüber zu sprechen, was am nächsten Tag zu tun war. Hinterher pflegte sie auf ihr Zimmer zu gehen, und George schrieb Briefe oder las. An diesem Abend jedoch waren sie vor dem Essen an der Bar mit einem Schweizer Geschäftsmann ins Gespräch gekommen, der sie später an seinen Tisch bat. Er hatte ganz offensichtlich die Absicht, Miss Kolin herumzukriegen, falls sich dies ohne allzu großen Aufwand machen ließ und George keine Einwände dagegen hatte. George hatte keine. Der Mann war sympathisch und sprach gut Englisch; George war neugierig, wie erfolgreich er sein würde. Miss Kolin hatte schon vor dem Essen vier Kognaks getrunken, der Schweizer mehrere Pernods. Zum Essen trank sie Wein, der Schweizer ebenso. Nach dem Essen lud er sie wieder zum Kognak ein und bestellte wieder doppelte. Sie trank vier. Der Schweizer ebenso. Beim zweiten wurde er auf nekkische Weise zudringlich und versuchte ihr Knie zu streicheln. Sie wehrte den Vorstoß geistesabwesend, aber gekonnt ab. Bis er mit seinem dritten fertig war, ließ er eine bittere Tirade über die amerikanische Finanzpolitik auf George los. Kurz nach seinem vierten wurde er plötzlich kreidebleich, ent110
schuldigte sich hastig und kam nicht wieder. Mit einem Nicken zum Kellner hin bestellte sich Miss Kolin einen fünften. George war zuvor schon aufgefallen, daß sie gerne Kognak trank und selten etwas anderes bestellte. Ihm war, als sie in Basel durch den Zoll gegangen waren, sogar aufgefallen, daß sie in ihrem Koffer eine Flasche davon mit sich führte. Er hatte allerdings nie bemerkt, daß der Kognak irgendeine Wirkung auf sie hatte. Hätte man ihn zu diesem Thema befragt, hätte er gesagt, sie sei ein Muster an Nüchternheit. Nun beobachtete er sie fasziniert, während sie an ihrem fünften Glas nippte. Hätte er mitgehalten, das wußte er, dann läge er mittlerweile unterm Tisch. Sie wurde noch nicht einmal redselig. Sie saß sehr aufrecht auf ihrem Stuhl und wirkte wie eine attraktive, aber sehr prüde junge Schullehrerin, die sich zum erstenmal mit einem Fall von jugendlichem Exhibitionismus auseinandersetzen muß. In einem Mundwinkel hatte sie ein wenig Speichel. Sie leckte ihn säuberlich mit der Zungenspitze auf. Ihr Blick war glasig. Sie richtete ihn mit Bedacht auf George. »Morgen fahren wir also zu dem Sanatorium nach Bad Schwennheim?« fragte sie sorgfältig artikuliert. »Nein, ich glaube nicht. Wir besuchen zuerst Pfarrer Weichs in Stuttgart. Wenn er etwas weiß, ist es vielleicht unnötig, nach Schwennheim zu fahren.« 111
Sie nickte. »Ich glaube, Sie haben recht, Mr. Carey.« Sie betrachtete einen Moment lang ihren Kognak, trank ihn in einem Zug aus und erhob sich, ohne zu wanken. »Gute Nacht, Mr. Carey«, sagte sie dezidiert. »Gute Nacht, Miss Kolin.« Sie griff nach ihrer Handtasche, drehte sich um und visierte die Tür an. Dann ging sie schnurgerade darauf zu. Sie verfehlte um Haaresbreite einen Tisch. Sie schwankte nicht. Sie taumelte nicht. Das Ganze war ein Wunder an Selbstkontrolle. George sah, wie sie das Restaurant verließ, Kurs auf den Empfang nahm, sich ihren Zimmerschlüssel geben ließ und die Treppe hinauf verschwand. Ein zufälliger Betrachter wäre kaum auf den Gedanken gekommen, daß sie etwas Stärkeres als ein Glas Rheinwein getrunken haben könnte. Das Hospital vom Heiligen Herzen erwies sich als düsterer Ziegelbau etwas außerhalb von Stuttgart, an der Straße nach Heilbronn. George hatte vorsorglich ein langes Telegramm an Pfarrer Weichs geschickt. Darin hatte er an Mr. Moretons Besuch in Bad Schwennheim im Jahre 1939 erinnert und den Wunsch geäußert, selbst die Bekanntschaft des Pfarrers zu machen. Man ließ ihn und Miss Kolin nur ein paar Minuten warten, ehe eine Nonne erschien und sie durch ein Labyrinth steinerner Flure zum Zimmer des Pfarrers führte. 112
George wußte noch, daß Pfarrer Weichs gut Englisch sprach, aber er hielt es für ein Gebot der Höflichkeit, auf deutsch zu beginnen. Die scharfen blauen Augen des Pfarrers huschten von einem zum anderen, während Miss Kolin Georges wohlgesetzte Erklärung für ihre Anwesenheit übersetzte und daß er hoffe, sein Telegramm (das er auf dem Tisch des Pfarrers liegen sah) sei eingetroffen und erinnere ihn, den Pfarrer, an ein Ereignis im Jahre 1939, als … Pater Weichs’ Kiefermuskeln hatten beim Zuhören ungeduldig gezuckt. Nun unterbrach er auf englisch. »Ja, Mr. Carey. Ich erinnere mich an den Herrn, und Ihr Telegramm habe ich auch bekommen, wie Sie sehen. Bitte nehmen Sie Platz.« Er deutete auf zwei Stühle und ging an seinen Tisch zurück. »Ja«, sagte er. »Ich erinnere mich sehr gut an den Herrn. Dazu hatte ich auch allen Grund.« Ein schiefes Lächeln furchte die hageren Wangen. Es war ein schönes, ausdrucksstarkes Gesicht, fand George. Zunächst war man überzeugt, daß sein Träger ein hohes Amt in der Kirche bekleiden müsse; dann bemerkte man die rissigen, klobigen Schuhe unter dem Tisch, und die Illusion verschwand. »Ich soll Sie von ihm grüßen«, sagte George. »Danke. Sind Sie in seinem Namen hier?« »Leider ist Mr. Moreton krank und hat sich mittlerweile zur Ruhe gesetzt.« Es war schwierig, in Gegenwart von Pater Weichs nicht in einen gestelzten Ton zu verfallen. 113
»Das tut mir natürlich leid.« Der Priester neigte höflich den Kopf. »Allerdings war es nicht der Gentleman selbst, der mir besonderen Anlaß lieferte, mich seiner zu erinnern. Bedenken Sie! Ein einsamer alter Mann stirbt. Ich bin sein Beichtvater. Mr. Moreton kommt zu mir und stellt Fragen über ihn. Das ist alles. Es ist nicht so ungewöhnlich, wie Sie glauben. Ein alter Mensch, der jahrelang von seinen Verwandten vernachlässigt worden ist, wird häufig interessant für sie, wenn er stirbt. Zwar passiert es nicht oft, daß ein amerikanischer Anwalt kommt, aber auch das ist an sich noch nicht bemerkenswert. Es gibt viele deutsche Familien, die Verbindungen zu Ihrem Land haben.« Er hielt inne. »Aber der Vorfall wird dann denkwürdig«, fügte er trocken hinzu, »wenn sich herausstellt, daß die Polizei ihn wichtig nimmt.« »Die Polizei?« George gab sich alle Mühe, nicht so schuldbewußt dreinzuschauen, wie er sich mit einmal fühlte. »Überrascht Sie das, Mr. Carey?« »Sehr. Mr. Moreton hat im Namen eines absolut achtbaren amerikanischen Mandanten Nachforschungen in einer Erbschaftsangelegenheit angestellt …«, begann George. »Eine Erbschaftsangelegenheit«, unterbrach der Priester, »bei der es, wie er behauptete, um einen kleinen Geldbetrag ging.« Er hielt inne und bedachte George mit einem frostigen Lächeln, ehe er fortfuhr. »Mir ist natürlich klar, daß Größe relativ ist 114
und daß sie in Amerika nicht mit europäischen Maßstäben gemessen wird, aber mir scheint es auch für amerikanische Verhältnisse untertrieben, bei drei Millionen Dollar von einem kleinen Geldbetrag zu sprechen.« Aus dem Augenwinkel sah George, wie Miss Kolin ausnahmsweise einmal verblüfft dreinschaute; aber das war in diesem Moment nur eine schwache Genugtuung. »Mr. Moreton war in einer schwierigen Lage, Herr Pfarrer«, sagte er. »Er mußte diskret sein. Die amerikanischen Zeitungen hatten bereits für Ärger gesorgt, indem sie viel zuviel Rummel um die Sache machten. Es waren jede Menge falsche Ansprüche erhoben worden. Außerdem lag der Fall sehr kompliziert. Mr. Moreton wollte niemandem Hoffnungen machen, die er dann vielleicht enttäuschen mußte.« Der Priester runzelte die Stirn. »Seine Diskretion hat mich gegenüber der Polizei in eine sehr gefährliche Lage gebracht. Und auch anderen Behörden gegenüber«, fügte er düster hinzu. »Ich verstehe. Das tut mir leid, Herr Pfarrer. Ich denke, wenn Mr. Moreton das gewußt hätte …« Er brach ab. »Wären Sie so freundlich, mir zu erzählen, was passiert ist?« »Wenn es von Interesse für Sie ist. Kurz vor Weihnachten 1940 kam die Polizei zu mir und stellte mir Fragen über Mr. Moretons Besuch im Jahr zuvor. Ich sagte ihnen, was ich wußte. Sie schrieben 115
es auf und gingen wieder. Zwei Wochen später kamen sie mit ein paar anderen Männern zurück, die nicht von der Polizei, sondern von der Gestapo waren. Sie nahmen mich nach Karlsruhe mit.« Sein Gesicht verhärtete sich. »Sie beschuldigten mich, ich hätte gelogen, was Mr. Moretons Besuch anging. Es handele sich um eine Angelegenheit von höchster Wichtigkeit für das Reich. Wenn ich ihnen nicht sagte, was sie wissen wollten, erginge es mir wie einigen meiner Glaubensbrüder.« Er hatte den Blick auf seine Hände gesenkt. Nun hob er den Kopf und sah George in die Augen. »Vielleicht können Sie sich denken, was sie wissen wollten, Mr. Carey.« George räusperte sich. »Ich würde sagen, sie wollten Auskünfte über jemanden namens Schneider.« Der Priester nickte. »Richtig, jemanden namens Schneider. Sie sagten, Mr. Moreton habe nach dieser Person gesucht und ich verschwiege, was ich wüßte. Sie waren überzeugt, daß ich wußte, wo diese Person, die Anspruch auf das amerikanische Geld hatte, sich befand, und daß Mr. Moreton mein Stillschweigen erkauft hatte, damit das Geld an einen Amerikaner ging.« Er zuckte die Achseln. »Das Traurige an schlechten Menschen ist, daß sie keine Wahrheit glauben können, die die Welt nicht in ihren Farben malt.« »Für Friedrich Schirmer haben sie sich nicht interessiert?« 116
»Nein. Letzten Endes waren sie wohl davon überzeugt, daß das ein Trick von Mr. Moreton war, um sie irrezuführen. Ich weiß es nicht. Vielleicht hatten sie auch nur einfach genug von mir. Jedenfalls ließen sie mich gehen. Aber Sie sehen nun, daß ich Grund habe, mich an Mr. Moreton zu erinnern.« »Ja. Aber ich sehe nicht, wie er die Schwierigkeiten, in die er Sie gebracht hat, hätte voraussehen können.« »Oh, ich empfinde keinerlei Bitterkeit, Mr. Carey.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Aber ich würde gern die Wahrheit erfahren.« George zögerte. »Friedrich Schirmers Familie war ein Zweig der fraglichen Familie Schneider. Die genaue Verbindung zu erklären würde zuviel Zeit erfordern, aber ich kann Ihnen sagen, daß die deutsche Regierung nichts davon wußte.« Der Priester lächelte. »Wie ich sehe, ist es also immer noch erforderlich, diskret zu sein.« George errötete. »Ich bin so offen, wie ich kann, Herr Pfarrer. Der Fall war von Anfang an ziemlich seltsam. Es haben sich schon so viele falsche Anspruchsteller gemeldet, daß es, selbst wenn ein legitimer Erbe gefunden würde, mittlerweile enorm schwierig wäre, den Anspruch vor einem amerikanischen Gericht durchzusetzen. Tatsache ist, daß aller Wahrscheinlichkeit nach niemals ein Anspruch durchgesetzt werden wird. Das Geld wird einfach an den Staat Pennsylvania fallen.« 117
»Warum sind Sie dann hier, Mr. Carey?« »Einmal deshalb, weil die Kanzlei, für die ich arbeite, in dieser Angelegenheit Nachfolgerin von Mr. Moreton wurde. Zum anderen, weil es unsere Pflicht ist, den Erben zu finden. Und drittens, weil die Angelegenheit aufgeklärt werden muß, damit unsere Kanzlei ihr Honorar bekommt.« »Das ist wenigstens ehrlich.« »Vielleicht sollte ich noch hinzufügen, daß, wenn es denn einen rechtmäßigen Erben gibt, er oder sie auch das Geld bekommen sollte und nicht der Staat Pennsylvania. Die Bundesregierung und der Einzelstaat werden am Ende ohnehin das meiste in Form von Steuern abschöpfen, aber es gibt keinen Grund, warum nicht auch jemand anders seine Freude daran haben sollte.« »Mr. Moreton hat von einem Treuhänder gesprochen.« »Tja …« »Aha, ich verstehe. Das war also auch Diskretion.« »Ich fürchte, ja.« »War denn Friedrich Schirmer der rechtmäßige Erbe?« »Nach Mr. Moretons Ansicht schon.« »Warum hat Mr. Moreton dann die Gerichte nicht entsprechend informiert?« »Weil Friedrich Schirmer tot war und weil Mr. Moreton befürchtete, daß die deutsche Regierung, falls sich herausstellte, daß Friedrich keinen lebenden Erben hatte, einen falschen vorschieben würde, 118
um an das Geld zu kommen. Sie haben ja auch tatsächlich einen alten Mann präsentiert, von dem sie behaupteten, er wäre der Erbe. Mr. Moreton hat den Anspruch über ein Jahr lang angefochten.« Pfarrer Weichs blieb einen Augenblick stumm, dann seufzte er. »Na schön. Und wie kann ich Ihnen jetzt helfen, Mr. Carey?« »Mr. Moreton hat gesagt, Sie hätten ihm versprochen, sich zu melden, falls Friedrich Schirmers Sohn Johann auftauchte. Ist er aufgetaucht?« »Nein.« »Wissen Sie, ob Friedrich Schirmer in dem Sanatorium, in dem er starb, jemals irgendwelche Briefe bekommen hat?« »Bis Mitte 1940 ist kein Brief gekommen.« »Sie hätten davon erfahren?« »Aber ja. Ich habe oft Besuche im Sanatorium gemacht.« »Und nach Mitte 1940?« »Ist das Sanatorium von der Wehrmacht mit Beschlag belegt worden. Es wurde Hauptquartier einer Ausbildungseinheit für Funker.« »Aha. Tja, damit sind wohl alle Fragen beantwortet.« George stand auf. »Vielen Dank, Herr Pfarrer.« Aber Pfarrer Weichs hatte eine abwehrende Handbewegung gemacht. »Einen Moment noch, Mr. Carey Sie haben gefragt, ob Johann Schirmer nach Bad Schwennheim gekommen ist.« »Ja?« 119
»Er ist nicht gekommen, aber sein Sohn.« »Sein Sohn?« Langsam setzte sich George wieder. »Er würde Sie also auch interessieren, der Sohn?« »Außerordentlich, wenn es sich um einen Enkel von Friedrich Schirmer handelt.« Pfarrer Weichs nickte. »Er hat mich besucht. Ich muß erklären, daß ich, als die Wehrmacht das Sanatorium übernahm, den Kommandanten der Ausbildungseinheit aufgesucht habe, um die Dienste meiner Kirche für diejenigen anzubieten, die sie wünschten. Der Kommandant war selbst zwar nicht religiös, aber er hatte viel Verständnis und machte es denen, die die Messe besuchen wollten, so einfach wie möglich.« Er betrachtete George nachdenklich. »Ich weiß nicht, ob Sie selbst in der Armee gedient haben, Mr. Carey«, fuhr er nach ein, zwei Augenblicken fort. George nickte. »Aha! Dann ist Ihnen vielleicht aufgefallen, daß es manche Männer gab – unter den jungen Frontsoldaten, meine ich –, die nicht religiös waren und trotzdem zuweilen das Bedürfnis hatten, die Tröstungen der Religion zu suchen. Dieses Bedürfnis ergab sich offenbar immer dann, wenn sie den Mut aufbringen mußten, Tod oder Verstümmelung ins Auge zu blicken, nachdem sie selbst erlebt hatten, was das war. In solchen Momenten erwies sich der ausgeklügelte Materialismus der Intelligenten unter ihnen als ebenso nutzlos und steril wie die Heldenmythen, die sie aus der Hitlerjugend mitgebracht hatten. Sie stellten fest, daß sie noch etwas 120
anderes brauchten, und manchmal suchten sie, um es zu bekommen, einen Priester auf.« Er lächelte schwach. »So einfach stellte es sich damals natürlich nicht dar. Sie sind aus vielen, ganz alltäglichen Gründen zu mir gekommen, diese jungen Männer – um über ihre Familien zu reden, wegen irgendwelcher materieller Probleme um Rat zu fragen, ein Buch oder eine Zeitschrift zu leihen, Fotos zu zeigen, die sie gemacht hatten, oder die Abgeschiedenheit eines Gartens zu genießen. Aber der äußere Grund war unwichtig. Es war ihnen vielleicht nicht immer bewußt, aber in gewisser Weise wollten sie mit mir als Priester zu einer Verständigung kommen. Sie wollten etwas, wovon sie im tiefsten Herzen glaubten, daß ich es ihnen vielleicht würde geben können – inneren Frieden und Kraft.« »Und Schirmers Enkel war einer davon?« Pfarrer Weichs zuckte die Achseln. »Ich war mir nicht sicher. Vielleicht ja. Ich will es Ihnen erzählen. Er war zu einem Sonderlehrgang zu der Ausbildungseinheit abkommandiert worden. Er war ein …« Er brach ab, zögerte, sah dann Miss Kolin an und sagte auf deutsch das Wort »Fallschirmjäger«. Miss Kolin übersetzte. Der Priester nickte. »Danke, ja. Er kam mich eines Tages im September oder Oktober besuchen – genau weiß ich es nicht mehr. Er war ein hochgewachsener, kräftig aussehender junger Mann, ganz der Soldat. Er war in Belgien, beim Angriff auf die Festung Eben-Emael, verwundet worden und noch 121
nicht wieder soweit auf der Höhe, daß er zur kämpfenden Truppe zurückkehren konnte. Er fragte mich, ob ich etwas von seinem Großvater Friedrich Schirmer wüßte.« »Hat er gesagt, wo er zu Hause war?« fragte George rasch. »Ja. Er kam aus Köln.« »Hat er gesagt, was sein Vater von Beruf war?« »Nein. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern.« »Hatte er Geschwister?« »Nein, er war das einzige Kind.« »Hat er, als er zu Ihnen kam, gewußt, daß sein Großvater tot war?« »Nein, das war eine große Enttäuschung für ihn. Als er ein kleiner Junge war, hatte der Großvater im Hause seiner Eltern gewohnt und war immer sehr nett zu ihm gewesen. Dann hatte es eines Tages einen Streit gegeben, und der alte Mann war ausgezogen.« »Hat er gesagt, woher er wußte, daß der alte Mann in Bad Schwennheim wohnte?« »Ja. Der Streit war sehr heftig gewesen, und nach Friedrichs Auszug wurde sein Name von den Eltern des Jungen nie mehr erwähnt. Aber der Junge liebte seinen Großvater. Noch bevor er zur Schule ging, hatte der alte Mann ihm das Schreiben beigebracht und wie man richtige Linien in sein Übungsheft zog. Später half ihm der Großvater bei Rechenaufgaben und unterhielt sich viel über Kaufmännisches 122
mit ihm. Sie wissen, daß Friedrich Schirmer Buchhalter war?« »Ja.« »Der Junge hat ihn nicht vergessen. Als er ungefähr vierzehn war, bekamen seine Eltern einen Brief von dem alten Mann, in dem er ihnen mitteilte, daß er sich in Bad Schwennheim zur Ruhe setzen wolle. Der Junge hörte, wie seine Eltern darüber sprachen. Sie vernichteten den Brief, aber er merkte sich den Namen der Stadt, und als er zu dem Lehrgang dort abkommandiert wurde, versuchte er, seinen Großvater zu finden. Bis ich es ihm sagte, wußte er nicht, daß er aufgrund eines seltsamen Zufalls in dem Gebäude wohnte, in dem der alte Mann gestorben war.« »Verstehe.« Pfarrer Weichs senkte den Blick auf seine Hände. »Wenn man ihn sah oder mit ihm sprach, wäre man nie auf den Gedanken gekommen, daß es sich um einen jungen Mann handelte, den man unbedingt vor Desillusionierung bewahren mußte. Ich glaube, ich habe in diesem Punkt versagt. Ich habe ihn erst verstanden, als es zu spät war. Er besuchte mich mehrmals. Er stellte viele Fragen über seinen Großvater. Hinterher erkannte ich, daß er ihn zum Helden machen wollte. Aber damals habe ich nicht überlegt. Ich habe seine Fragen, so freundlich ich konnte, beantwortet. Dann fragte er mich eines Tages, ob ich nicht auch meine, daß sein Großvater Friedrich ein feiner, guter Mensch gewesen sei.« Er hielt inne und fuhr dann langsam und bedächtig 123
fort, als suchte er Worte zu seiner Verteidigung. »Ich antwortete, so gut ich konnte. Ich sagte, Friedrich Schirmer sei ein hart arbeitender Mensch gewesen und habe seine lange, schmerzhafte Krankheit mit Geduld und Mut ertragen. Weiter kam ich nicht. Der junge Mann faßte meine Worte als Zustimmung auf und begann mit großer Bitterkeit von seinem Vater zu sprechen, der, so sagte er, den alten Mann in einem Moment eifersüchtigen Hasses fortgeschickt habe. Ich durfte ihm nicht erlauben, so zu reden. Es entsprach nicht der Wahrheit. Ich sagte, er tue seinem Vater sehr unrecht, er solle zu ihm gehen und ihn nach der Wahrheit fragen.« Er hob den Blick und sah George düster an. »Er lachte. Er sagte, von seinem Vater sei noch nie etwas Gutes für ihn gekommen und die Wahrheit würde er von ihm auch nicht erfahren. Er sprach weiter in spöttischem Ton von seinem Vater, als verachtete er ihn. Dann ging er. Ich habe ihn nicht wiedergesehen.« Draußen, auf den eisernen Balkonen des Hospitals, wurden die Schatten länger. Eine Uhr schlug die Stunde. »Was war denn nun die Wahrheit, Herr Pfarrer?« fragte George ruhig. Der Priester schüttelte den Kopf. »Ich war Friedrich Schirmers Beichtvater, Mr. Carey.« »Natürlich. Verzeihung.« »Es würde Ihnen nicht weiterhelfen, wenn Sie es wüßten.« »Ja, das sehe ich ein. Aber sagen Sie mir folgen124
des, Herr Pfarrer. Mr. Moreton hat eine vorläufige Liste der Dokumente und Fotos angefertigt, die nach Friedrich Schirmers Tod gefunden wurden. War das alles, was er besaß? Wurde sonst nichts mehr gefunden?« Zu seiner Überraschung sah er, wie das Gesicht des Priesters einen verlegenen Ausdruck bekam. Ein, zwei Momente lang hatte Pfarrer Weichs’ Miene etwas eindeutig Verstohlenes. »Alte Dokumente«, fügte George rasch hinzu, »können in derartigen Fällen sehr wichtige Beweismittel sein.« Pfarrer Weichs’ Kiefermuskeln verhärteten sich. »Es gab keine anderen Dokumente«, sagte er. »Oder Fotos?« »Keine, die für Sie irgend von Wert gewesen sein könnten, Mr. Carey«, erwiderte der Priester steif. »Gab es denn nun andere Fotos?« hakte George nach. Pfarrer Weichs’ Kiefermuskeln begannen zu zukken. »Ich wiederhole, Mr. Carey, sie wären für Ihre Untersuchung ohne Belang gewesen«, sagte er. »›Wären gewesen‹?« wiederholte George. »Heißt das, es gibt sie nicht mehr, Herr Pfarrer?« »Richtig. Es gibt sie nicht mehr. Ich habe sie verbrannt.« »Aha«, sagte George. Es trat ein peinliches Schweigen ein, während sie einander ansahen. Dann erhob sich Pfarrer Weichs seufzend und sah zum Fenster hinaus. 125
»Friedrich Schirmer war kein angenehmer Mann«, sagte er schließlich. »Es schadet wohl nichts, wenn ich Ihnen das sage. Vielleicht haben Sie es sich nach dem, was ich bereits gesagt habe, auch schon gedacht. Es gab viele von diesen Fotos. Sie waren für keinen außer Friedrich Schirmer je von Bedeutung – möglicherweise noch für die, bei denen er sie gekauft hat.« George begriff. »Ach so«, sagte er ausdruckslos. »Ach so, ich verstehe.« Er lächelte. Er verspürte das starke Verlangen, laut loszulachen. »Er hatte seinen Frieden mit Gott gemacht«, sagte Pfarrer Weichs. »Es erschien mir besser, sie zu vernichten. Die heimlichen Lüste der Toten sollten mit dem Fleisch enden, aus dem sie hervorgingen. Außerdem«, fügte er lebhaft hinzu, »besteht immer die Gefahr, daß solche Erotika in Kinderhand gelangen.« George erhob sich. »Danke, Herr Pfarrer. Nun möchte ich Sie nur noch zweierlei fragen. Haben Sie je erfahren, in welcher Fallschirmjägereinheit der junge Schirmer diente?« »Nein, leider nicht.« »Nun ja, das können wir später herausfinden. Wie hieß er mit Vornamen, Herr Pfarrer, und welchen Rang hat er gehabt? Wissen Sie das noch?« »Ich erinnere mich nur noch an einen Namen. Franz lautete er, glaube ich. Franz Schirmer. Er war Feldwebel.«
6
A
n diesem Tag übernachteten sie in Stuttgart. Beim Abendessen faßte George die Ergebnisse ihrer Arbeit zusammen. »Wir können direkt nach Köln fahren und versuchen, sämtliche Johann Schirmers im Einwohnerverzeichnis der Stadt ausfindig zu machen«, fuhr er fort, »oder wir können die Wehrmachtslisten nach Franz Schirmers Papieren durchsehen und auf diese Weise die Adresse seiner Eltern ermitteln.« »Warum sollte die Wehrmacht die Adresse seiner Eltern haben?« »Na ja, wenn er in unserer Armee gewesen wäre, dann stünde in seiner Akte wahrscheinlich die Adresse seiner Eltern oder, falls er verheiratet ist, die seiner Frau als seiner nächsten Verwandten. Die meisten Armeen haben gern jemanden, den sie benachrichtigen können, wenn einer gefallen ist. Was meinen Sie?« »Köln ist eine Großstadt, die vor dem Krieg fast eine Million Einwohner hatte. Aber ich war noch nicht dort.« »Ich schon. Als ich die Stadt gesehen habe, war sie ein Trümmerhaufen. Was die britische Luftwaffe 127
nicht zerstört hat, hat unsere Armee besorgt. Ich weiß nicht, ob das Einwohnerverzeichnis erhalten geblieben ist, aber ich neige dazu, es auf jeden Fall zuerst mit den Wehrmachtslisten zu versuchen.« »Schön.« »Ich glaube, die Wehrmacht dürfte überhaupt ergiebiger sein. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Wir stellen fest, was mit Feldwebel Schirmer passiert ist, und machen zugleich seine Eltern ausfindig. Haben Sie eine Ahnung, wo seine Wehrmachtspapiere sein könnten?« »Bonn ist die westdeutsche Hauptstadt. Logischerweise müßten sie jetzt dort sein.« »Aber Sie glauben nicht so recht daran, wie? Ich auch nicht. Egal, ich denke, wir fahren morgen nach Frankfurt. Ich kann mich dort bei den Leuten von der amerikanischen Armee erkundigen. Die werden es wissen. Noch einen Kognak?« »Danke.« Eine weitere Eigenart, die er an Miss Kolin festgestellt hatte, war, daß sie offenbar nie an einem Kater litt, obwohl sie öffentlich oder in der Zurückgezogenheit ihres Zimmers wahrscheinlich mehr als eine halbe Flasche Kognak pro Tag konsumierte. Sie brauchten fast zwei Wochen, um festzustellen, was die Wehrmacht über Feldwebel Schirmer wußte. Er war 1917 in Winterthur als Sohn von Johann Schirmer (Mechaniker) und dessen Frau Ilse, beide rein arischer Abstammung, geboren. Mit achtzehn 128
war er aus der Hitlerjugend direkt in die Wehrmacht eingetreten und 1937 zum Unteroffizier befördert worden. 1938 hatte man ihn von den Pionieren zu einem Sonderlehrgang bei den Fallschirmjägern abkommandiert und im Jahr darauf zum Feldwebel befördert. Bei Eben-Emael war er durch einen Schuß in die Schulter verwundet worden, hatte sich jedoch zufriedenstellend erholt. Er hatte an der Invasion Kretas teilgenommen und war wegen besonderer Tapferkeit mit dem Eisernen Kreuz dritter Klasse ausgezeichnet worden. In der zweiten Jahreshälfte war er in Benghasi an Dysenterie und Malaria erkrankt. 1943, in Italien, hatte er sich als Ausbilder bei den Fallschirmjägern die Hüfte gebrochen. Ein Untersuchungsgericht hatte seinerzeit feststellen sollen, wer den Befehl gegeben hatte, über bewaldetem Gebiet abzuspringen. Das Gericht hatte den Feldwebel ausdrücklich dafür belobigt, daß er den von ihm für falsch gehaltenen Befehl zwar nicht weitergegeben, aber selbst befolgt hatte. Nach vier Monaten in Lazarett und Genesungsheim sowie einem längeren Krankenurlaub hatte ein Ärzteausschuß befunden, daß er für eine weitere Verwendung als Fallschirmspringer sowie jede andere Verwendung bei der kämpfenden Truppe, die ausgedehnte Fußmärsche erforderte, untauglich war. Man hatte ihn zu den Besatzungstruppen nach Griechenland versetzt. Dort hatte er bis zum folgenden Jahr als Waffenausbilder des Neunundvierzigsten Besatzungsregiments in einer Nachschubdi129
vision Dienst getan. Nach einem Gefecht gegen griechische Partisanen während des Rückzuges aus Mazedonien hatte man ihn als »vermißt, wahrscheinlich gefallen« gemeldet. Die nächste Verwandte, eine Ilse Schirmer, Elsaßstraße 39, Köln, war entsprechend benachrichtigt worden. Sie fanden die Elsaßstraße, oder was davon übrig war, in den Trümmern der Altstadt in der Nähe des Neumarkts. Vor dem Reihenbombardement, das sie zerstört hatte, war sie eine schmale Straße gewesen, die aus kleinen Läden mit darüberliegenden Kontoren und einem Tabaklager dazwischen bestand. Das Tabaklager hatte offensichtlich einen Volltreffer abbekommen. Von den anderen Wänden standen noch ein paar, doch mit Ausnahme dreier Läden am Ende der Straße waren sämtliche Gebäude darin völlig ausgebrannt. Mittlerweile wucherte üppiges Unkraut auf den alten Kellerböden; Schilder verboten das Betreten der Ruinen und das Abladen von Schutt. Nummer 39 war eine Autowerkstatt gewesen, die, von der Straße zurückgesetzt, auf einem Grundstück hinter zwei anderen Gebäuden lag und durch eine überwölbte Toreinfahrt zwischen ihnen zugänglich war. Der Torbogen stand noch. An den Ziegeln war ein rostiges Metallschild befestigt. Was darauf stand, ließ sich noch entziffern: ›garage und reparaturwerkstatt. j. schirmer – bereifung, zubehör, benzin ‹. 130
Sie gingen durch die Toreinfahrt zu der Stelle, wo sich die Werkstatt befunden hatte. Man hatte das Gelände freigeräumt, aber der Grundriß des Gebäudes war noch zu erkennen. Die Werkstatt konnte nicht sehr groß gewesen sein. Nun war nur noch eine Montagegrube davon übrig. Sie war halb voll Regenwasser, in dem Stücke einer alten Packkiste schwammen. Während sie dort standen, begann es wieder zu regnen. »Am besten, wir stellen fest, ob wir in den Läden am Ende der Straße etwas herausfinden können«, sagte George. Der Eigentümer des zweiten Ladens, in dem sie nachfragten, war Elektriker und wußte Näheres. Er selbst war erst seit drei Jahren hier und kannte die Schirmers nicht, aber er konnte ihnen einiges über die Werkstatt sagen. Er hatte erwogen, sie zu mieten. Er hatte eine Werkstatt und ein Lager darin unterbringen und die Räume darüber als Wohnung nutzen wollen. Das Grundstück lag nicht direkt an der Straße und war daher von geringem Wert. Er hatte damit gerechnet, es billig zu bekommen, aber die Eigentümerin hatte zuviel verlangt, und so hatte er sich anderweitig beholfen. Die Besitzerin war eine Frau Gresser, Frau eines Chemikers, der im Labor einer großen Firma in Leverkusen arbeitete. Wenn Frauen erst einmal anfingen zu feilschen, sei es in jedem Fall das beste, man … Ja, er habe ihre Adresse irgendwo aufgeschrieben; wenn der Herr 131
das Grundstück allerdings ernsthaft in Erwägung ziehe, so würde er persönlich ihm dringend raten, es sich zweimal zu überlegen, ehe er sich mit einer … Frau Gresser wohnte im obersten Geschoß eines erst kürzlich wiederaufgebauten Hauses in der Nähe des Barbarossaplatzes. Sie trafen sie erst beim dritten Besuch an. Sie war eine stämmige, ungepflegte, kurzatmige Frau Ende Fünfzig. Ihre Wohnung war in dem an eine Cocktailbar erinnernden, funktionalen Stil der Vorkriegszeit eingerichtet und mit Andenkenkitsch aus Tirol vollgestopft. Sie hörte sich mißtrauisch die Erklärungen ihrer Besucher an, ehe sie sie aufforderte, sich zu setzen. Dann ging sie hinaus, um mit ihrem Mann zu telefonieren. Nach einer Weile kam sie zurück und sagte, sie sei bereit, Fragen zu beantworten. Ilse Schirmer sei ihre Cousine und Jugendfreundin gewesen. »Leben die Schirmers noch?« fragte George. »Ilse Schirmer und ihr Mann sind bei den großen Luftangriffen auf die Stadt im Mai 1942 ums Leben gekommen«, dolmetschte Miss Kolin. »Haben Sie das Werkstattgrundstück von ihnen geerbt?« Frau Gresser ließ angesichts der Frage Empörung erkennen und antwortete mit einem Redeschwall. Keineswegs. Das Land gehöre ihr, genauer gesagt, ihr und ihrem Mann. Johann Schirmers Geschäft sei bankrott gegangen. Sie und ihr Mann hätten ihm Ilse zuliebe wieder auf die Beine geholfen. Natürlich 132
hätten sie sich auch einen Gewinn davon erhofft, doch in erster Linie hätten sie es aus Gutherzigkeit getan. Das Geschäft habe allerdings ihnen gehört. Schirmer sei nur der Geschäftsführer gewesen. Er sei an den Einnahmen beteiligt gewesen und habe die Wohnung über der Werkstatt bekommen. Kein Mensch könne ihnen vorwerfen, sie hätten ihn nicht großzügig behandelt. Und nachdem sie, die Freunde seiner Frau, so viel für ihn getan hätten, habe er versucht, sie bei den Einnahmen zu betrügen. »Wer war sein Erbe? Hat er ein Testament hinterlassen?« »Falls er außer Schulden irgend etwas zu vererben gehabt hätte, wäre es an seinen Sohn Franz gegangen.« »Hatten die Schirmers noch andere Kinder?« »Zum Glück nicht.« »Zum Glück?« »Es war schon schwer genug für die arme Ilse, ein Kind zu füttern und zu kleiden. Sie war nie besonders robust, und bei einem Mann wie Schirmer wäre auch eine robuste Frau krank geworden.« »Was war denn mit Schirmer?« »Er war faul, er war unehrlich, er hat getrunken. Als die arme Ilse ihn geheiratet hat, wußte sie das alles nicht. Er hat jeden getäuscht. Als wir ihn kennenlernten, hatte er ein gutgehendes Geschäft in Essen. Wir haben ihn für tüchtig gehalten. Erst als sein Vater wegging, ist die Wahrheit herausgekommen.« »Die Wahrheit?« 133
»Sein Vater, Friedrich, war der mit dem Geschäftssinn. Er war ein guter Buchhalter und hat den Sohn an der kurzen Leine geführt. Johann war nur Mechaniker. Den Verstand hatte der Vater. Er konnte mit Geld umgehen.« »Hat das Geschäft Friedrich gehört?« »Die beiden waren Teilhaber. Friedrich hatte viele Jahre lang in der Schweiz gelebt und gearbeitet. Johann ist dort aufgewachsen. Im Ersten Weltkrieg hat er nicht für Deutschland gekämpft. Ilse hat ihn 1915 kennengelernt, als sie Freunde in Zürich besuchte. Sie haben geheiratet und sind in der Schweiz geblieben. Ihre ganzen Ersparnisse waren in Schweizer Franken angelegt. 1923, während der Inflation, sind sie alle nach Deutschland zurückgekommen – Friedrich, Johann, Ilse und der kleine Franz – und haben mit ihrem Schweizer Geld billig die Werkstatt in Essen gekauft. Der alte Friedrich hat sich aufs Geschäft verstanden.« »Dann ist Franz also in der Schweiz geboren?« »Winterthur liegt in der Nähe von Zürich, Mr. Carey«, sagte Miss Kolin. »Wie Sie wissen, stand das in den Wehrmachtspapieren. Die Schweizer Staatsangehörigkeit hätte er aber trotzdem eigens beantragen müssen.« »Ja, das weiß ich alles. Fragen Sie sie, warum das Teilhaberverhältnis in die Brüche gegangen ist.« Frau Gresser zögerte, als sie die Frage hörte. »Wie sie schon sagte, Johann hatte keinen Sinn für …« 134
Frau Gresser zögerte erneut und verstummte dann. Ihr feistes Gesicht war vor Verlegenheit rot angelaufen und glänzte. Schließlich sprach sie weiter. »Sie möchte lieber nicht darüber sprechen«, sagte Miss Kolin. »Na schön. Fragen Sie sie nach Franz Schirmer. Weiß sie, was aus ihm geworden ist?« Er sah die Erleichterung in Frau Gressers Gesicht, als sie begriff, daß von Friedrich Schirmers Weggang nicht weiter die Rede sein würde. Das machte ihn neugierig. »Franz wurde 1944 in Griechenland als vermißt gemeldet. Das amtliche Schreiben war an seine Mutter adressiert und wurde an Frau Gresser weitergeleitet.« »In dem Bericht hieß es ›vermißt, wahrscheinlich gefallen‹. Hat sie je eine offizielle Bestätigung seines Todes bekommen?« »Eine offizielle nicht.« »Was heißt das?« »Einer von Franz’ Offizieren hat Frau Schirmer geschrieben, um ihr zu berichten, was mit ihrem Sohn passiert war. Auch dieser Brief ist an Frau Gresser weitergeleitet worden. Nachdem sie ihn gelesen hatte, zweifelte sie nicht mehr daran, daß Franz tot war.« »Hat sie den Brief aufgehoben? Wäre es wohl möglich, daß wir ihn sehen?« Frau Gresser erwog die Bitte einen Moment lang; 135
schließlich nickte sie, trat an eine Kommode, die seltsam windschnittig geformt war, und entnahm ihr eine Blechschachtel voller Papiere. Nach langer Suche fand sich der Brief des Offiziers zusammen mit der ursprünglichen Benachrichtigung durch die Wehrmacht. Sie reichte beide Dokumente Miss Kolin und gab dabei irgendeine Erklärung ab. »Frau Gresser möchte erklären, daß Franz es versäumt hat, die Wehrmacht vom Tod seiner Eltern in Kenntnis zu setzen, und daß die Briefe von der Post an sie weitergeleitet worden sind.« »Aha. Was steht in dem Brief?« »Er stammt von Leutnant Hermann Leubner, Pionierkompanie, Neunundvierzigstes Besatzungsregiment. Er ist vom ersten Dezember 1944 datiert.« »Und wann wurde Franz von der Wehrmacht als vermißt gemeldet?« »Am einunddreißigsten Oktober.« »Gut.« »Der Leutnant schreibt: ›Sehr geehrte Frau Schirmer. Die Wehrmacht wird Sie zweifellos schon davon unterrichtet haben, daß Ihr Sohn, Feldwebel Franz Schirmer, vermißt wird. Als sein Kompanieführer möchte ich Ihnen von den Umständen berichten, unter denen dieses tragische Ereignis sich zutrug. Es war am vierundzwanzigsten Oktober.‹« Sie hielt inne. »Sie waren dabei, abzuziehen. Sie machten sich 136
nicht die Mühe, jeden Tag Verlustmeldungen abzusetzen«, sagte George. Miss Kolin nickte. »Weiter heißt es: ›Das Regiment bewegte sich von Saloniki westwärts in Richtung Florina auf die griechische Grenze zu. Als erfahrener Soldat und verantwortungsbewußter Mann wurde Feldwebel Schirmer mit drei lkws und zehn Mann zu einem Treibstoffdepot mehrere Kilometer abseits der Hauptstraße, in der Nähe der Stadt Vodena, geschickt. Sein Befehl lautete, soviel Treibstoff wie möglich auf die lkws zu laden, den Rest zu vernichten und mit der Wachmannschaft des Depots zurückzukehren. Leider geriet seine Abteilung in einen Hinterhalt einer der griechischen Terroristenbanden, die unsere Operationen zu behindern versuchten. Ihr Sohn befand sich im ersten lkw, der auf eine von den Terroristen gelegte Mine fuhr. Der dritte lkw konnte rechtzeitig anhalten, so daß er dem Maschinengewehrfeuer der Terroristen weitgehend entging und zwei Mann entkommen und wieder zum Regiment stoßen konnten. Ich selbst führte umgehend eine Abteilung zum Ort des Hinterhalts. Ihr Sohn war weder unter den Toten, die wir fanden und begruben, noch konnten wir sonst eine Spur von ihm entdecken. Auch der Fahrer seines lkws fehlte. Ihr Sohn war nicht der Mann, der sich unverwundet ergeben hätte. Es ist möglich, daß die Explosion der Mine ihn bewußtlos machte und er so in Gefangenschaft geriet. Wir wissen es nicht. Aber ich würde meine Pflicht versäumen, 137
wenn ich Sie in der Hoffnung wiegte, daß er im Falle seiner Gefangennahme durch diese Griechen noch am Leben ist. Unser militärischer Ehrenkodex ist ihnen fremd. Es ist natürlich auch möglich, daß Ihr Sohn der Gefangennahme entgangen ist, aber nicht unmittelbar zu seinen Kameraden hat zurückstoßen können. In diesem Falle wird man sie benachrichtigen, sobald es etwas Neues von ihm gibt. Er war ein tapferer Mann und ein guter Soldat. Wenn er tot ist, bleibt Ihnen der stolze Trost der Gewißheit, daß er sein Leben für Führer und Vaterland hingab.‹« George seufzte. »Das ist alles?« »Er fügt noch ›Heil Hitler‹ und seine Unterschrift hinzu.« »Fragen Sie Frau Gresser, ob sie von der Wehrmacht noch einmal irgend etwas von der Sache gehört hat.« »Nein, nichts mehr.« »Hat sie versucht, mehr herauszufinden? Hat sie es zum Beispiel beim Roten Kreuz versucht?« »Man hat ihr mitgeteilt, daß das Rote Kreuz nichts unternehmen könne.« »Wann hat sie denn dort nachgefragt?« »Anfang 1945.« »Und seither nicht mehr?« »Nein. Sie hat auch beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge – dort kümmert man sich um die Soldatengräber – nachgefragt. Ohne Ergebnis.« »Ist je ein Antrag gestellt worden, ihn für tot erklären zu lassen?« 138
»Dafür gab es keinen Grund.« »Weiß sie, ob er je geheiratet hat?« »Nein.« »Hat sie je mit ihm korrespondiert?« »Sie hat ihm Weihnachten 1940 und 1941 einen Beileidsbrief geschrieben, als seine Eltern ums Leben kamen, aber praktisch nur eine Empfangsbestätigung von ihm erhalten. Er wollte nicht einmal wissen, wo sie begraben sind. Sie fand das gefühllos. Kurz darauf hat sie ihm ein Paket geschickt. Er hat es nicht einmal für nötig gehalten, sich zu bedanken. Sie hat ihm kein weiteres geschickt.« »Woher kam 1942 seine Antwort?« »Aus Benghasi.« »Hat sie einen seiner Briefe aufgehoben?« »Nein.« Frau Gresser sprach weiter. George sah zu, wie ihr feistes Gesicht bebte und ihre kleinen, gehässigen Augen zwischen ihren beiden Besuchern hin und her huschten. Er gewöhnte sich allmählich an die Dolmetscherei und hatte gelernt, die Übersetzung beim Warten nicht vorwegzunehmen. Im Augenblick dachte er, daß es unangenehm wäre, Frau Gresser in irgendeiner Weise verpflichtet zu sein. Der emotionale Zinssatz, den sie dafür berechnen würde, wäre exorbitant. »Sie sagt«, sagte Miss Kolin, »sie habe Franz nicht gemocht, und zwar schon als Kind nicht. Er sei ein mürrischer, verdrießlicher Junge gewesen und für erwiesene Freundlichkeiten immer undank139
bar. Sie hat ihm nur aus Pflichtgefühl gegenüber seiner toten Mutter geschrieben.« »Wie stand er zu Ausländern? Hatte er irgendwelche exotische Freundinnen? Ich will auf folgendes hinaus – kann sie sich vorstellen, daß er der Typ Mann ist, der, sagen wir, eine Griechin oder Italienerin heiraten würde, wenn er die Gelegenheit dazu hätte?« Frau Gresser antwortete prompt und säuerlich. »Was Frauen anging, sagt sie, sei er der Typ gewesen, der alles tun würde, wozu ihn sein Egoismus treibt. Er würde alles tun, wenn er die Gelegenheit dazu hätte – nur nicht heiraten.« »Aha. Na gut, ich denke, das wäre so ziemlich alles. Würden Sie sie fragen, ob wir die Papiere vierundzwanzig Stunden ausleihen könnten, um Fotokopien davon machen zu lassen?« Frau Gresser bedachte die Frage eingehend. Ihre kleinen Augen wurden undurchsichtig. George merkte, daß die Dokumente plötzlich etwas Kostbares für sie wurden. »Ich gebe ihr natürlich eine Quittung dafür, und sie bekommt sie morgen zurück«, sagte er. »Sagen Sie ihr, der amerikanische Konsul muß die Kopien beglaubigen, sonst bekäme sie sie schon heute wieder.« Frau Gresser gab sie widerstrebend her. Während George die Quittung schrieb, fiel ihm etwas ein. »Miss Kolin, versuchen Sie doch noch einmal, herauszufinden, warum Friedrich Schirmer aus dem Geschäft in Essen ausgeschieden ist.« 140
»Gut.« Er ließ sich mit dem Ausstellen der Quittung Zeit. Er hörte, wie Miss Kolin die Frage stellte. Nach kurzem Schweigen antwortete Frau Gresser mit einem wahren Wortschwall. Dabei wurde ihre Stimme immer schriller. Dann verstummte sie. Er unterschrieb die Quittung, blickte auf und stellte fest, daß sie ihn mit aufgeregt-vorwurfsvoller Miene anstarrte. Er reichte ihr die Quittung und steckte die Dokumente ein. »Sie sagt«, übersetzte Miss Kolin, »die Sache lasse sich nicht in Gegenwart eines Mannes besprechen und sei für Ihre Nachforschungen ohne Belang. Falls Sie jedoch nicht glauben, daß sie die Wahrheit sagt, ist sie bereit, mir im Vertrauen den Grund zu nennen. Sie wird sich zu dem Thema nicht weiter äußern, solange Sie noch hier sind.« »Okay. Ich warte unten auf Sie.« Er stand auf und verbeugte sich vor Frau Gresser. »Vielen Dank, Madam. Was Sie mir erzählt haben, ist von unschätzbarem Nutzen. Ich sorge dafür, daß Sie die Papiere morgen unversehrt zurückbekommen. Guten Tag.« Er lächelte liebenswürdig, verbeugte sich erneut und ging. Er befand sich schon fast außerhalb der Wohnung, ehe Miss Kolin damit fertig war, seine Abschiedsrede zu übersetzen. Zehn Minuten später kam sie zur Haustür heraus. »Also«, sagte er, »was war denn nun?« »Friedrich hat sich an Ilse Schirmer herangemacht.« 141
»An seine Schwiegertochter?« »Ja.« »Sieh an, sieh an. Hat Frau Gresser Ihnen Näheres erzählt?« »Ja. Die genießt so etwas richtig.« »Aber der Alte muß damals um die Sechzig gewesen sein.« »Erinnern Sie sich an die Fotos, die Pfarrer Weichs vernichtet hat?« »Ja.« »Friedrich hat sie seiner Schwiegertochter gezeigt.« »Weiter nichts?« »Seine Absicht war offenbar unmißverständlich. Außerdem hat er ihr in verschleierter Form vorgeschlagen, von ihr ebensolche Fotos zu machen.« »Verstehe.« George versuchte sich die Szene vorzustellen. Er sah ein ärmliches Zimmer in Essen vor sich und einen älteren Buchhalter, der dasaß und abgegriffene Fotos, eines nach dem anderen, über den Tisch schob, so daß die Frau seines Sohnes, die über ihre Näharbeit gebeugt war, sie sehen konnte. Wie ihm das Herz geklopft haben mußte, während er ihr Gesicht beobachtete! Der Kopf mußte ihm geschwirrt haben vor Fragen und Zweifeln. Würde sie lächeln, oder würde sie so tun, als wäre sie schockiert? Sie saß still, ganz still, und hatte ihre Arbeit unterbrochen. Bestimmt würde sie gleich lächeln. Er konnte ihre Augen nicht sehen. Ein klei142
ner Scherz zwischen Vater und Schwiegertochter, da war doch nichts dabei, oder? Sie war eine erwachsene Frau und wußte Bescheid, oder nicht? Sie mochte ihn, das wußte er. Er wollte ihr lediglich zeigen, daß er für ein bißchen Spaß noch nicht zu alt war und daß es, wenn auch Johann nichts taugte, immer noch einen Mann im Haus gab, an den sie sich halten konnte. Und jetzt das letzte Foto, das gewagteste von allen. Da machst du Augen, was? Nicht schlecht, was? Sie hatte immer noch nicht gelächelt, aber die Stirn gerunzelt hatte sie auch nicht. Frauen waren seltsame Geschöpfe. Man mußte den richtigen Moment abpassen; sanft säuseln und dann kühn sein. Jetzt hob sie langsam den Kopf und sah ihn an. Ihre Augen waren ganz rund. Er lächelte und sagte, was er sich vorher zurechtgelegt hatte, die hintersinnige Bemerkung von wegen neue Bilder seien besser als alte. Aber sie hatte sein Lächeln nicht erwidert. Sie erhob sich, und er konnte sehen, daß sie zitterte. Warum? Vor Erregung? Und dann plötzlich hatte sie ein angstvolles Schluchzen ausgestoßen und war aus dem Zimmer gelaufen, hinaus zur Werkstatt, wo Johann gerade das Opel-Taxi entkohlte. Danach war alles zum Alptraum geworden: Johann brüllte und drohte ihm, Ilse weinte, und der kleine Franz stand mit bleichem Gesicht dabei und bekam alles mit, ohne zu begreifen, was das alles zu bedeuten hatte; er wußte nur, daß auf irgendeine Weise die Welt unterging. Ja, dachte George, ein hübsches Bild; wenn auch 143
vermutlich kein ganz zutreffendes. Aber von derlei Szenen konnte ohnehin kein Mensch, und schon gar nicht die Beteiligten, je ein genaues Bild liefern. Er würde nie erfahren, was wirklich passiert war. Nicht daß das eine große Rolle spielte. Friedrich, Johann und Ilse, die Hauptbeteiligten, waren gewiß tot. Und Franz? George blickte auf Miss Kolin, die neben ihm hermarschierte. »Glauben Sie, Franz ist tot?« fragte er. »Es deutet alles darauf hin. Meinen Sie nicht?« »In gewisser Weise schon. Wenn er mit mir befreundet gewesen wäre und zu Hause Frau und Kinder gehabt hätte, an denen er hing, hätte ich bestimmt nicht versucht, seiner Frau vorzumachen, er könnte noch am Leben sein. Und wenn sie trotzdem so verrückt gewesen wäre zu glauben, daß er noch lebt, hätte ich sie so schonend wie möglich dazu gebracht, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Aber das ist etwas anderes. Wenn wir mit den Beweisen, die wir haben, vor Gericht gingen und den Antrag stellten, Franz Schirmer für tot zu erklären, würde man uns auslachen.« »Das verstehe ich nicht.« »Hören Sie. Der Mann ist auf einem Lastwagen, der in einen Hinterhalt dieser Partisanen gerät. Einige Zeit später kommt dieser Leutnant vorbei und besieht sich den Schauplatz. Es liegen viele Leichen herum, nicht aber die unseres Mannes. Also ist er vielleicht entkommen, vielleicht aber auch Gefangener. Wenn er Gefangener ist, sagt der Leutnant, 144
gibt es keine Hoffnung für ihn, weil die griechischen Partisanen die Angewohnheit haben, ihre Gefangenen umzubringen. ›Moment mal‹, sagt der Richter; ›wollen Sie behaupten, sämtliche griechischen Partisanen, die 1944 operierten, hätten ausnahmslos alle ihre Gefangenen umgebracht? Können Sie beweisen, daß es keinen einzigen Fall gab, in dem ein deutscher Soldat die Gefangennahme überlebt hat? Was sagt der Leutnant dazu? Ich weiß nichts über den Feldzug in Griechenland – ich war nicht dabei –, aber eins weiß ich: Wenn alle diese Partisanen tatsächlich so gut ausgebildet, so gut organisiert und so schießwütig gewesen wären, daß kein Deutscher, der ihnen in die Hände fiel, jemals die Schlauheit oder das Glück hatte, davonzukommen, dann hätten sich die Deutschen schon lange vor der Landung in der Normandie aus Griechenland zurückgezogen. Also wollen wir die Aussage anders formulieren. Wir wollen sagen, daß griechische Partisanen ihre Gefangenen oft umbringen. Und …‹« »Glauben Sie denn nicht, daß er tot ist?« fragte sie. »Natürlich glaube ich, daß er tot ist. Ich weise lediglich darauf hin, daß zwischen einer Wahrscheinlichkeit im gewöhnlichen, alltäglichen Sinne und der vom Gesetz geforderten Sicherheit ein erheblicher Unterschied besteht. Und damit hat das Gesetz völlig recht. Sie würden sich wundern, wie oft Leute wiederauftauchen, die man für tot gehalten hat. Ein 145
Mann verliert seine Arbeit und hat Krach mit seiner Frau. Also geht er an den Strand, zieht sein Jackett aus, läßt es mit einem Abschiedsbrief dort liegen und wird hinfort nicht mehr gesehen. Tot? Vielleicht. Aber manchmal stellt man Jahre später durch Zufall fest, daß er unter anderem Namen mit einer anderen Frau in einer anderen Stadt auf der anderen Seite des Kontinents lebt.« Sie zuckte die Achseln. »Das ist etwas anderes.« »Nicht unbedingt. Betrachten Sie es doch einmal folgendermaßen: Angenommen, Franz Schirmer wird von den Partisanen gefangengenommen, bleibt jedoch am Leben und kann aufgrund von Glück oder Geschick entkommen. Was soll er machen? Sich zu seiner Einheit durchschlagen? Die deutschen Besatzungskräfte sind dabei, sich durch Jugoslawien zurückzuziehen, und das ist kein Zukkerlecken. Wenn er sein Versteck verläßt und sie einzuholen versucht, wird er mit Sicherheit wieder von den Partisanen gefangengenommen. Mittlerweile sind sie überall. Es ist besser, sich eine Zeitlang nicht zu rühren. Er ist ein findiger Mann, dazu ausgebildet, von dem zu leben, was das Land liefert. Er kann sich am Leben erhalten. Er wird erst gehen, wenn es gefahrlos möglich ist. Zeit vergeht. Das Land steht wieder unter griechischer Herrschaft. Von der nächsten deutschen Einheit trennen ihn Hunderte von Kilometern. In Griechenland bricht der Bürgerkrieg aus. In der daraus entstehenden Verwirrung gelingt es ihm, sich zur türkischen 146
Grenze durchzuschlagen und sie zu überqueren, ohne gefaßt zu werden. Er ist Pionier und hat nichts gegen körperliche Arbeit. Er nimmt eine Stelle an.« »Im Februar 1945 befand sich die Türkei mit Deutschland im Kriegszustand.« »Vielleicht ist es noch nicht Februar.« »Warum wendet er sich dann nicht an den deutschen Konsul?« »Warum sollte er? Deutschland steht kurz vor dem Zusammenbruch. Vielleicht gefällt es ihm da, wo er ist. Wozu sollte er überhaupt ins Nachkriegsdeutschland zurückkehren? Um Frau Gresser zu besuchen? Um festzustellen, was von seinem Elternhaus übriggeblieben ist? Vielleicht hat er während seiner Zeit in Italien eine Italienerin geheiratet und möchte dorthin zurück. Vielleicht hat er sogar Kinder. Es gibt Dutzende möglicher Gründe, warum er sich nicht an den deutschen Konsul gewandt hat. Vielleicht hat er sich auch an den Schweizer Konsul gewandt.« »Wenn er geheiratet hätte, stünde das in seinen Wehrmachtspapieren.« »Nicht wenn er jemanden geheiratet hat, den er nicht heiraten durfte. Denken Sie nur an die Vorschriften, die für amerikanische und britische Soldaten galten, die Deutsche heiraten wollten.« »Was schlagen Sie vor?« »Das weiß ich noch nicht. Ich muß erst überlegen.« 147
Ins Hotel zurückgekehrt, verfaßte er ein langes Telegramm an Mr. Sistrom. Zunächst schilderte er kurz die jüngsten Entwicklungen seiner Nachforschung, dann bat er um Instruktionen. Sollte er umgehend nach Hause zurückkehren oder weitermachen und sich bemühen, Franz Schirmers Tod festzustellen? Am nächsten Nachmittag hatte er die Antwort. nachdem sie unter so viele steine geschaut haben, wäre es schade den letzten nicht umzudrehen stop versuchen sie franz’ tod festzustellen stop schlage vor drei wochen dafür anzusetzen stop falls bis dahin in ihren augen kein ernsthafter fortschritt erfolgt oder wahrscheinlich suche abbrechen stop sistrom. An diesem Abend reisten George und Miss Kolin von Köln nach Genf ab. Miss Kolin hatte schon auf Konferenzen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz gedolmetscht und kannte die Leute im Hauptquartier, die ihnen weiterhelfen konnten. George wurde umgehend an einen Funktionär verwiesen, der 1944 für das Rote Kreuz in Griechenland gewesen war; ein schlanker, melancholischer Schweizer, der aussah, als könnte ihn nichts mehr überraschen. Er sprach gut Englisch und außerdem noch vier weitere Sprachen. Er hieß Hagen. »Es steht außer Frage, Mr. Carey«, sagte er, »daß die andartes oft ihre Gefangenen umgebracht haben. Und zwar nicht einfach aus Haß auf den Feind 148
oder weil sie eine Vorliebe für das Töten hatten, verstehen Sie? Sondern weil ihnen meistens nichts anderes übrigblieb. Ein Partisanentrupp von dreißig Mann oder weniger ist nicht in der Lage, die Gefangenen, die er macht, zu bewachen oder zu ernähren. Außerdem herrscht in Mazedonien die Tradition des Balkans, und dort wird dem Töten eines Feindes keine große Bedeutung beigemessen.« »Aber warum macht man dann überhaupt Gefangene? Warum bringt man sie nicht gleich um?« »Normalerweise hat man Gefangene gemacht, um sie zu befragen.« »Wenn Sie an meiner Stelle wären, wie würden Sie es dann angehen, den Tod dieses Mannes nachzuweisen?« »Nun ja, da Sie wissen, wo der Hinterhalt stattgefunden hat, könnten Sie versuchen, mit einigen der andartes, die in dieser Gegend operierten, Kontakt aufzunehmen. Vielleicht erinnern sie sich ja an den Vorfall. Allerdings dürfte es Ihnen schwerfallen, sie zu überreden, ihre Erinnerung aufzufrischen. Wissen Sie, ob es ein Trupp der elas oder ein Trupp der edes war?« »edes?« »Das griechische Kürzel für die Nationaldemokratische Befreiungsarmee – die antikommunistischen andartes. Die elas waren die Kommunisten – die Nationale Volksbefreiungsarmee. In der Gegend von Vodena dürfte es sich um die elas gehandelt haben.« 149
»Spielt das denn eine Rolle?« »Und ob. Sie dürfen nicht vergessen, daß in Griechenland drei Jahre Bürgerkrieg geherrscht hat. Nun da der Aufstand vorbei ist, sind die, die auf kommunistischer Seite gekämpft haben, nicht leicht zu finden. Manche sind tot, manche im Gefängnis, und manche verstecken sich noch. Viele leben als Flüchtlinge in Albanien und Bulgarien. Wie die Dinge liegen, dürfte es Ihnen schwerfallen, mit Leuten von der elas in Kontakt zu kommen. Eine komplizierte Geschichte.« »Ja, hört sich ganz so an. Was meinen Sie, welche Chance habe ich, tatsächlich herauszufinden, was ich wissen möchte?« Monsieur Hagen zuckte die Achseln. »In solchen Fällen habe ich den Zufall schon so seltsame Wege gehen sehen, daß ich es mir abgewöhnt habe, Wahrscheinlichkeiten einzuschätzen. Wie wichtig ist die Angelegenheit denn, Mr. Carey?« »Es steht eine Menge Geld auf dem Spiel.« Sein Gegenüber seufzte. »Es kann so vieles passiert sein. Wissen Sie, es gab Hunderte von Männern, die als ›vermißt, wahrscheinlich gefallen‹ gemeldet wurden und schlicht und einfach desertiert waren. In Saloniki gab es Ende 1944 unzählige deutsche Deserteure.« »Unzählige?« »Aber ja. Die meisten hat die elas rekrutiert. Um Weihnachten 1944 gab es viele Deutsche, die für die griechischen Kommunisten kämpften.« 150
»Wollen Sie damit sagen, Ende 1944 hätte ein deutscher Soldat in Griechenland herumlaufen können, ohne umgebracht zu werden?« Ein fahles Lächeln huschte über Monsieur Hagens melancholisches Gesicht. »In Saloniki konnte man deutsche Soldaten in den Cafés sitzen und auf den Straßen herumlaufen sehen.« »In Uniform?« »Ja, oder in Uniformteilen. Es war eine merkwürdige Situation. Während des Krieges hatten sich die Kommunisten in Jugoslawien, Griechenland und Bulgarien darauf geeinigt, einen neuen mazedonischen Staat zu schaffen. Das Ganze war Teil eines größeren russischen Plans für eine kommunistische Föderation auf dem Balkan. Tja, und kaum waren die Deutschen fort, besetzte ein Verband der elas, der sich Mazedonische Divisionsgruppe nannte, Saloniki und machte sich daran, das Vorhaben in die Tat umzusetzen. Die Deutschen waren ihnen mittlerweile egal. Sie hatten einen neuen Feind zu bekämpfen – die rechtmäßige griechische Regierung. Und kämpfen wollten sie mit ausgebildeten Soldaten. Auf die Idee, deutsche Deserteure zu rekrutieren, kam Vafiades. Das war der damalige Kommandeur der elas in Saloniki.« »Kann ich mich nicht mit diesem Vafiades in Verbindung setzen?« fragte George. Er sah, wie Miss Kolin ihn anstarrte. Monsieur Hagens Gesicht nahm einen Ausdruck banger Bestürzung an. 151
»Ich fürchte, das wäre nicht ganz einfach, Mr. Carey.« »Wieso? Ist er tot?« »Nun ja, hinsichtlich seines genauen Schicksals scheint es einige Ungewißheiten zu geben. Unmittelbar von ihm gehört haben wir zuletzt im Jahre 1948. Damals erklärte er einer Gruppe ausländischer Journalisten, daß er als Chef der provisorischen demokratischen Regierung des Freien Griechenland beabsichtige, eine Hauptstadt auf griechischem Boden auszurufen. Das war, glaube ich, ungefähr zu der Zeit, als seine Armee Karpenissi eingenommen hat.« George sah Miss Kolin verständnislos an. »Markos Vafiades hat sich selbst General Markos genannt«, murmelte sie. »Er war während des Krieges Befehlshaber der griechischen kommunistischen Rebellenarmee.« »Aha, ich verstehe.« George spürte, daß er errötete. »Ich habe Ihnen ja gesagt, daß ich von den Verhältnissen in Griechenland keine Ahnung habe«, sagte er. »Diese ganzen Namen sagen mir rein gar nichts.« Monsieur Hagen lächelte. »Natürlich, Mr. Carey. Wir sind diesen Dingen hier näher. Vafiades ist ein in der Türkei geborener Grieche, der vor dem Krieg Tabakarbeiter war. Als langjähriger Kommunist hatte er für seine Überzeugung im Gefängnis gesessen. Zweifellos hielt er die revolutionäre Tradition hoch. Als die Kommunisten ihm das Kommando 152
über die Rebellenarmee übertrugen, beschloß er, sich schlicht Markos zu nennen. Das hat nur zwei Silben und klingt eindrucksvoller. Wenn die Aufständischen gesiegt hätten, wäre er vielleicht ein ebenso bedeutender Mann wie Tito geworden. So aber hatte er, wenn Sie den Vergleich verzeihen, einiges mit Ihrem General Lee gemeinsam. Er hat seine Schlachten gewonnen, aber den Krieg verloren. Und zwar aus ganz ähnlichen Gründen. Für Lee bedeutete der Verlust von Vicksburg und Atlanta, besonders Atlanta, die Zerstörung seiner Nachschublinien. Für Markos, der sich ebenfalls einer Übermacht gegenübersah, hatte die Schließung der jugoslawischen Grenze vergleichbare Auswirkungen. Solange die Kommunisten Jugoslawiens, Bulgariens und Albaniens ihm halfen, war er in einer starken Position. Indem er sich über diese Grenzen zurückzog, konnte er jedes Gefecht abbrechen, das sich ungünstig zu entwickeln drohte. Hinter der Grenze konnte er sich dann in aller Ruhe umgruppieren und reorganisieren, Verstärkungen zusammenziehen und mit tödlicher Wirkung an einem schwach besetzten Abschnitt der Regierungsfront wieder auftauchen. Als Tito sich mit Stalin zerstritt und seine Unterstützung für den Mazedonienplan zurückzog, schnitt er Markos’ laterale Verbindungslinien durch. Griechenland hat Tito viel zu verdanken.« »Aber wäre Markos am Ende nicht ohnehin besiegt worden?« 153
Monsieur Hagen machte ein skeptisches Gesicht. »Vielleicht. Die britische und amerikanische Hilfe hat viel bewirkt. Das will ich gar nicht bestreiten. Das griechische Heer und die Luftwaffe sind komplett umgebildet worden. Aber daß Markos die jugoslawische Grenze nicht mehr offenstand, hat es erst ermöglicht, diese Kräfte rasch und entscheidend einzusetzen. Im Januar 1949, nach über zweijährigem Kampf, hielten Markos’ Kräfte noch Naoussa, eine große Industriestadt nur hundertdreißig Kilometer von Saloniki entfernt. Neun Monate später waren sie geschlagen. Alles, was davon übrigblieb, war ein Widerstandsnest auf dem Berg Grammos, nahe der albanischen Grenze.« »Ich verstehe.« George lächelte. »Tja, dann besteht wohl keine große Aussicht, daß ich mit General Vafiades reden kann, nicht wahr?« »Leider nein, Mr. Carey.« »Und selbst wenn ich es könnte, hätte es wohl nicht viel Sinn, ihn nach einem deutschen Feldwebel zu fragen, der 1944 in einen Hinterhalt geraten ist.« Monsieur Hagen neigte höflich den Kopf. »Kaum.« »Nur um das noch einmal klarzustellen: 1944 haben die Partisanen – die andartes, sagten Sie, nicht? –, die andartes also, manche Deutsche umgebracht und andere rekrutiert. Richtig?« »Ja.« »Wenn es also dem deutschen Soldaten, um den es mir geht, gelungen ist, den Hinterhalt lebendig 154
zu überstehen, wäre es nicht absurd, die Chancen, daß er heute noch lebt, mit fünfzig zu fünfzig anzusetzen.« »Keineswegs. Sondern durchaus realistisch.« »Verstehe. Vielen Dank.« Zwei Tage später befanden sich George und Miss Kolin in Griechenland.
7
F
ünfundvierzigtausend Todesopfer, darunter 3500 Zivilisten, die von den Aufständischen ermordet, und 700, die von ihren Minen getötet worden sind. Doppelt so viele Verwundete. 11 000 zerstörte Häuser. 700 000 Menschen, die im Gebiet der Aufständischen aus ihrem Zuhause vertrieben worden sind. 28 000, die man gewaltsam in kommunistische Länder umgesiedelt hat. 7000 geplünderte Dörfer. Das ist der Preis, den Griechenland für Markos und seine Freunde bezahlt hat.« Oberst Chrysanthos hielt inne, lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück und bedachte George und Miss Kolin mit einem bitteren Lächeln. Es war eine wirkungsvolle Pose. Er war ein sehr gutaussehender Mann mit scharfen, dunklen Augen. »Und ich habe mir von Briten und Amerikanern anhören müssen«, fügte er hinzu, »wir wären mit unseren Kommunisten zu hart umgesprungen. Zu hart!« Er warf die langen, dünnen Hände in die Luft. George gab ein unbestimmtes Gemurmel von sich. Er wußte, daß die Vorstellungen, die der Oberst von Härte hatte, sich stark von den seinen unterschieden und daß eine Diskussion darüber 156
nicht sehr ergiebig wäre. Monsieur Hagen, der Funktionär des Roten Kreuzes, hatte ihm das Einführungsschreiben für Oberst Chrysanthos mitgegeben und zugleich die Sachlage klargemacht. Die Bekanntschaft des Obersts war nur insofern wünschenswert, als er ein höherer Offizier des militärischen Geheimdienstes in Saloniki war, der an die Art von Informationen herankam, die George brauchte. Er war kein Mensch, dem man sonderlich freundliche Gefühle entgegenbringen konnte. »Sind bei diesen Verlustzahlen auch die Aufständischen berücksichtigt, Herr Oberst?« fragte George. »Was die Getöteten angeht, ja. Von den 45 000 waren 28 000 Aufständische. Über ihre Verwundeten kennen wir natürlich keine genauen Zahlen; aber wir haben zusätzlich zu den Getöteten 13 000 Gefangene gemacht, und 27 000 haben sich ergeben.« »Haben Sie davon Namenslisten?« »Gewiß.« »Wäre es möglich, festzustellen, ob der Name des Deutschen auf einer dieser Listen steht?« »Natürlich. Allerdings haben wir nicht mehr als eine Handvoll Deutsche gefangengenommen.« »Trotzdem könnte sich der Versuch lohnen, obwohl ich, wie ich Ihnen schon sagte, nicht einmal weiß, ob der Mann den Hinterhalt überlebt hat.« »Ah ja. Diese Geschichte. Der Hinterhalt ereignete sich am 24. Oktober 1944, sagen Sie, und zwar 157
in der Nähe eines Treibstofflagers bei Vodena. Die andartes dürften aus der Gegend von Florina gekommen sein, denke ich. Wir werden sehen. Alsdann!« Er drückte einen Knopf auf seinem Schreibtisch, und ein junger Leutnant mit einer Hornbrille kam herein. Der Oberst sprach fast eine halbe Minute lang in scharfem Ton in seiner Muttersprache. Als er geendet hatte, gab der Leutnant ein einsilbiges Wort von sich und ging hinaus. Kaum war die Tür zu, gab sich der Oberst wieder entspannt. »Ein guter Mann, das«, sagte er. »Ihr im Westen bildet euch manchmal ein, bei uns würde nichts funktionieren, aber Sie werden sehen – ein Klacks!« Er schnippte mit den Fingern, lächelte Miss Kolin verführerisch an und warf dann einen kurzen Blick auf George, um festzustellen, ob es ihm etwas ausmachte, daß man seine Begleiterin so anlächelte. Miss Kolin hob lediglich die Augenbrauen. Der Oberst bot Zigaretten an. George fand die Situation unterhaltsam. Von Anfang an war deutlich gewesen, daß der Oberst dahinterkommen wollte, in welcher Beziehung seine Besucher zueinander standen. Die Frau war attraktiv; der Mann machte einen halbwegs virilen Eindruck; es war abwegig anzunehmen, daß sie geschäftlich miteinander verreisen konnten, ohne diese Gelegenheit auch zu ihrem Vergnügen zu nutzen. Allerdings war der Mann Angelsachse, deshalb 158
konnte man nicht ganz sicher sein. Mangels verläßlicher Hinweise darauf, ob die beiden ein Liebespaar waren oder nicht, hatte der Oberst zu sondieren begonnen. In Kürze würde er es noch einmal probieren. Zunächst aber wieder zum Dienstlichen. Der Oberst strich sich den Uniformrock glatt. »Ihr Deutscher, Mr. Carey – war er Elsässer?« »Nein, er kam aus Köln.« »Viele von den Deserteuren waren Elsässer. Manche von ihnen haben die Deutschen ebensosehr gehaßt wie wir, müssen Sie wissen.« »Ach ja? Waren Sie während des Krieges in Griechenland, Herr Oberst?« »Manchmal. Zu Anfang ja. Später war ich bei den Briten. Bei den Kommandotrupps. Das war eine Art Spezialeinheit, verstehen Sie. Eine schöne Zeit.« »Schön?« »Waren Sie nicht Soldat, Mr. Carey?« »Ich war Bomberpilot. Ich kann mich nicht entsinnen, daß ich es je sonderlich schön gefunden hätte.« »Kein Wunder – der Luftkrieg hat mit dem eigentlichen Soldatsein auch wenig zu tun. Man sieht den Feind nicht, den man tötet. Ein Maschinenkrieg. Unpersönlich.« »Mir war es persönlich genug«, sagte George; aber die Bemerkung blieb ungehört. Die Augen des Obersts leuchteten erinnerungsselig. »In der Luft haben Sie vieles verpaßt, Mr. Carey«, sagte er träumerisch. »Ich erinnere mich zum Beispiel, wie ich einmal …« 159
Und damit legte er los. Er hatte, wie es schien, an zahlreichen britischen Stoßtruppunternehmen gegen deutsche Garnisonen auf griechischem Boden teilgenommen. Und nun beschrieb er in allen Einzelheiten einige nach seinem Empfinden amüsante Erlebnisse. Nach dem Vergnügen zu urteilen, mit denen er sich ihrer entsann, hatte er tatsächlich eine schöne Zeit gehabt. »… mit einem Feuerstoß aus dem Maschinengewehr sein Gehirn an der Wand verspritzt …, ihm das Messer in den Unterbauch gerammt und ihn bis zu den Rippen aufgeschlitzt … die Granaten haben alle im Raum getötet, bis auf einen, also habe ich ihn aus dem Fenster geworfen … sind ohne Hosen weggelaufen, so daß wir ein schönes Ziel hatten, auf das wir schießen konnten … wollte herauskommen und sich ergeben, aber er war ein bißchen langsam auf den Beinen, und die Phosphorgranate hat ihn wie eine Fackel angezündet … Ich habe ihm mit der Schmeisser einen Feuerstoß verpaßt und ihn fast in zwei Teile geschnitten …« Er sprach rasch, lächelte dabei die ganze Zeit und machte anmutige Gesten. Gelegentlich wechselte er zu Französisch über. George machte kaum einen Versuch, ihm zu folgen. Das spielte keine Rolle, denn mittlerweile hatte der Oberst seine ganze Aufmerksamkeit auf Miss Kolin gerichtet. Sie trug zwar weiterhin ihr leicht herablassendes Lächeln zur Schau, aber ihr Gesicht zeigte noch etwas anderes – einen Ausdruck der Lust. Wenn man den bei160
den zugesehen hätte, ohne zu wissen, wovon die Rede war, dachte George, hätte man meinen können, der gutaussehende Oberst unterhielte sie mit amüsantem Cocktailparty-Klatsch. Der Leutnant kam mit einem zerfledderten Aktenordner unter dem Arm ins Zimmer zurück. Der Oberst verstummte augenblicklich und setzte sich gerade, um den Ordner entgegenzunehmen. Er blätterte mit ernstem Gesicht darin, während der Leutnant Meldung machte. Einmal feuerte er eine Frage ab und bekam eine Antwort, die ihn offenbar zufriedenstellte. Schließlich nickte er, und der Leutnant ging hinaus. Der Oberst entspannte sich und feixte selbstgefällig. »Es wird einige Zeit dauern, die Listen der Gefangenen durchzusehen«, sagte er; »aber wie ich hoffte, haben wir auch noch andere Informationen. Ob sie Ihnen von Nutzen sind oder nicht, kann ich nicht sagen.« Er senkte den Blick auf das vor ihm liegende Bündel zerfledderter, abgegriffener Papiere. »Der Hinterhalt, von dem Sie reden, war höchstwahrscheinlich eine von mehreren Operationen, die in der fraglichen Woche von einem Trupp der elas durchgeführt wurden, der seine Basis in den Bergen über Florina hatte. Er bestand aus vierunddreißig Mann, die meisten davon aus Florina und den Dörfern der Umgebung. Ihr Anführer war ein Kommunist namens Phengaros. Er kam aus Larisa. Bei dem Überfall wurde ein deutscher Militär-lkw zerstört. Hört sich das nach der Geschichte an, die Sie meinen?« 161
George nickte. »Das ist es. Es waren drei Lastwagen. Der erste ist auf eine Mine gefahren. Steht da irgend etwas über Gefangene?« »Gefangene sind in der Regel nicht gemeldet worden, Mr. Carey. Aber zum Glück können Sie selbst fragen.« »Wen denn?« »Phengaros.« Der Oberst grinste. »Er wurde 1948 gefangengenommen. Wir haben ihn hinter Schloß und Riegel.« »Immer noch?« »Nein, er wurde aufgrund einer Amnestie entlassen, aber mittlerweile sitzt er wieder. Er ist Parteimitglied, Mr. Carey, und zwar ein gefährliches. Ein tapferer Mann möglicherweise und gut zu gebrauchen, um Deutsche umzubringen, aber diese Politischen ändern sich nicht. Sie haben Glück, daß er nicht schon längst erschossen worden ist.« »Ich habe mich schon gefragt, weshalb nicht.« »Man konnte einfach nicht alle Aufständischen erschießen«, sagte der Oberst achselzuckend. »Wir sind keine Deutschen oder Rußkis. Außerdem hätte das Ihren Freunden in Genf nicht gefallen.« »Wo kann ich diesen Mann sprechen?« »Hier in Saloniki. Ich muß zuerst mit dem Gefängniskommandanten reden. Kennen Sie Ihren hiesigen Konsul?« »Noch nicht, aber ich habe einen Brief für ihn von unserer Gesandtschaft in Athen.« »Ah, gut. Ich werde dem Kommandanten sagen, 162
daß Sie ein Freund des amerikanischen Botschafters sind. Das müßte reichen.« »Weswegen sitzt dieser Phengaros zur Zeit eigentlich im Gefängnis?« Der Oberst sah in dem Ordner nach. »Wegen Juwelenraub, Mr. Carey.« »Aber Sie haben doch gesagt, er wäre ein politischer Gefangener.« »In Amerika, Mr. Carey, sind die Verbrecher allesamt Kapitalisten. Hierzulande und in diesen Zeiten sind sie mitunter Kommunisten. Männer wie Phengaros stehlen nicht für sich selbst, sondern für die Parteikasse. Wenn wir sie erwischen, werden sie natürlich wie normale Straftäter inhaftiert. Wir können sie nicht als Politische auf die Inseln deportieren. Sie haben in letzter Zeit ein paar große Coups gelandet. Das Ganze entspricht einer Tradition. Sogar der große Stalin hat als junger Mann für die Parteikasse eine Bank ausgeraubt. Einige von diesen Banditen aus den Bergen tun natürlich auch nur so, als stehlen sie für die Partei, und behalten alles für sich selbst. Sie sind gerissen und gefährlich, und die Polizei bekommt sie nicht zu fassen. Aber Phengaros ist nicht so. Er ist ein schlichter, verblendeter Fanatiker des Typs, der sich ständig erwischen läßt.« »Wann kann ich mit ihm sprechen?« »Morgen vielleicht. Wir werden sehen.« Er drückte erneut den Knopf, um den Leutnant herbeizurufen. »Sagen Sie«, meinte er, »haben Sie und 163
Madame heute abend zufällig noch nichts vor? Ich würde Ihnen sehr gern unsere Stadt zeigen.« Zwanzig Minuten später verließen George und Miss Kolin das Gebäude und traten erneut in die Hitze und das Gleißen des Nachmittags hinaus. Georges Ausrede, daß er an diesem Abend einen langen Bericht zu schreiben hätte, war bereitwillig akzeptiert worden. Miss Kolin hatte anscheinend größere Schwierigkeiten gehabt, der Gastfreundschaft des Obersts zu entgehen. Das Gespräch war allerdings auf griechisch geführt worden, so daß George nichts davon verstanden hatte. Sie wechselten in den Schatten auf der anderen Straßenseite über. »Wie haben Sie es geschafft, sich zu drücken?« fragte er, während sie sich in Richtung Hotel wandten. »Ich habe erklärt, daß ich vom Essen und den vielen Fliegen Magenbeschwerden habe und mir wahrscheinlich die ganze Nacht schlecht sein wird.« George lachte. »Das entspricht der Wahrheit.« »Das tut mir leid. Sollten Sie dann nicht besser zum Arzt?« »Es wird schon vorbeigehen. Haben Sie noch keine Magenbeschwerden?« »Nein.« »Dann bekommen Sie sie noch. Das ist kein magenfreundlicher Ort, wenn man nicht daran gewöhnt ist.« 164
»Miss Kolin«, sagte George nach einer Weile, »was halten Sie eigentlich von Oberst Chrysanthos?« »Was soll man von so einem Mann schon halten?« »War er Ihnen sympathisch? Immerhin war er sehr hilfsbereit und entgegenkommend.« »Ja, zweifellos. Hilfsbereit zu sein schmeichelt seiner Eitelkeit. Es gibt nur eins, was mir an dem Oberst gefällt.« »Und das wäre?« Stumm ging sie mehrere Schritte weiter. Dann sprach sie leise, so leise, daß er kaum verstehen konnte, was sie sagte. »Er weiß, wie man mit Deutschen umgeht, Mr. Carey.« In diesem Moment verspürte George die ersten Andeutungen einer Verstimmung in Magen und Eingeweiden. Und darüber vergaß er Oberst Chrysantos und die Deutschen. »Ich verstehe allmählich, was Sie mit Ihrer Bemerkung über das Essen und die Fliegen gemeint haben«, meinte er, als sie um die Ecke vor dem Hotel bogen. »Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich jetzt doch gern bei einer Apotheke vorbeischauen.« Am nächsten Tag fand sich der Leutnant mit einem Armeewagen bei ihrem Hotel ein und fuhr sie zum Gefängnis. Es handelte sich um eine umgebaute Kaserne in der Nähe der Überreste eines alten türkischen Forts am Westrand der Stadt. Mit seiner hohen Mauer und den 165
Kalamarabergen jenseits der Bucht als Hintergrund wirkte es von außen eher wie ein Kloster. Drinnen roch es wie eine große, selten geputzte Latrine. Der Leutnant hatte Papiere mitgebracht, die ihnen Einlaß verschafften, und man führte sie in den Verwaltungsblock. Dort stellte man sie einem Zivilbeamten vor, der einen engsitzenden Anzug aus Tussahseide trug, die Abwesenheit des Kommandanten wegen dringender Amtsgeschäfte entschuldigte und Kaffee und Zigaretten anbot. Er war ein dünner, beflissener Mann, der sich fortwährend in der Nase bohrte, eine Unart, die er sich offenbar ohne großen Erfolg abzugewöhnen suchte. Als sie ihren Kaffee getrunken hatten, griff er nach einem schweren Schlüsselbund und führte sie durch eine Reihe von Fluren mit Stahltüren an beiden Enden, die er auf- und hinter sich wieder abschloß. Schließlich gelangten sie in einen Raum mit gekalkten Wänden, der in der Mitte von einem deckenhohen Stahlgitter geteilt wurde. Durch das Gitter konnten sie eine zweite Tür erkennen. Der Beamte machte ein entschuldigendes Gesicht und murmelte etwas in schlechtem Französisch. »Phengaros«, übersetzte Miss Kolin, »ist kein Musterhäftling und wird manchmal gewalttätig. Der Kommandant möchte nicht, daß wir irgendwelchen Unannehmlichkeiten ausgesetzt werden. Aus diesem Grund muß das Gespräch in dieser ungemütlichen Umgebung stattfinden. Er bittet dafür um Entschuldigung.« 166
George nickte. Er fühlte sich nicht wohl. Er hatte eine unangenehme, anstrengende Nacht hinter sich, und der hier herrschende Geruch machte es ihm schwer, diese Tatsache zu vergessen. Außerdem war er noch nie zuvor in einem Gefängnis gewesen, und wenngleich er nicht damit gerechnet hatte, daß das Erlebnis irgend etwas anderes als deprimierend sein würde, hatte ihn nichts auf das heftige Schuldgefühl vorbereitet, das es hervorrief. Von der Tür hinter dem Gitter kam ein Geräusch, und er blickte sich um. Eine Klappe hatte sich geöffnet, und jemand spähte hindurch. Dann drehte sich ein Schlüssel im Schloß, und die Tür ging auf. Langsam betrat ein Mann den Raum. Der Häftling war dünn und sehnig, mit dunklen, tiefliegenden Augen und einer langen Hakennase. Seine Haut war braun und ledrig, als arbeitete er viel in der Sonne. Auf seinem rasierten Kopf wuchsen kurze schwarze Stoppeln. Er trug ein ärmelloses Unterhemd und eine Leinenhose, die an der Taille von einem Stoffstreifen festgehalten wurde. Seine Füße waren nackt. Er zögerte, als er die Gesichter auf der anderen Seite des Gitters sah, und der Wärter hinter ihm stieß ihn mit seinem Knüppel an. Er trat nach vorn ins Licht. Der Wärter schloß die Tür ab und stellte sich mit dem Rücken dagegen. Der Beamte nickte George zu. »Fragen Sie ihn, wie er heißt«, sagte George zu Miss Kolin. 167
Sie übersetzte die Frage. Der Gefangene leckte sich die Lippen, und seine dunklen Augen blickten an Miss Kolin vorbei auf die drei Männer, als wäre sie der Köder in einer von ihnen konstruierten Falle. Sein Blick ging von ihr zu dem Beamten, und er murmelte etwas. »Was soll das Spielchen?« übersetzte Miss Kolin. »Sie wissen ganz genau, wie ich heiße. Wer ist diese Frau?« Der Beamte brüllte ihn wütend an, und der Wärter stieß ihn erneut mit dem Knüppel. George schaltete sich rasch ein. »Miss Kolin, erklären Sie ihm so freundlich wie möglich, daß ich ein amerikanischer Anwalt bin und mein Anliegen nichts mit ihm persönlich zu tun hat. Es geht um eine private, eine juristische Angelegenheit. Sagen Sie, daß wir ihn nur über den Hinterhalt damals bei Vodena befragen wollen. Die Sache hat keinerlei politischen Aspekt. Unsere Fragen an ihn haben lediglich zum Ziel, den Tod eines deutschen Soldaten zu bestätigen, der 1944 als vermißt gemeldet wurde. Geben Sie sich Mühe.« Während sie sprach, beobachtete George das Gesicht des Häftlings. Die dunklen Augen huschten argwöhnisch in seine Richtung, während sie fortfuhr. Als sie fertig war, überlegte der Häftling einen Moment lang. Dann gab er Antwort. »Er hört sich die Fragen an, und wenn er sie gehört hat, entscheidet er, ob er sie beantwortet.« Hinter George begann der Leutnant ärgerlich auf 168
den Beamten einzureden. George nahm keine Notiz davon. »Okay«, sagte er, »fragen Sie ihn, wie er heißt. Er muß sich identifizieren.« »Phengaros.« »Fragen Sie ihn, ob er sich an den Überfall auf die lkws erinnert.« »Ja, er erinnert sich daran.« »Er hatte das Kommando über diese speziellen andartes?« »Ja.« »Was genau hat sich dort abgespielt?« »Das weiß er nicht. Er war nicht dabei.« »Aber er hat doch gerade gesagt …« »Er hat zum fraglichen Zeitpunkt einen Angriff gegen das Treibstofflager geführt. Sein Stellvertreter hat die lkws abgefangen.« »Wo ist sein Stellvertreter?« »Tot. Er ist ein paar Monate danach von den faschistischen Mörderbanden in Athen erschossen worden.« »Aha. Gut, fragen Sie ihn, ob er von deutschen Gefangenen weiß, die damals gemacht worden sind.« Phengaros überlegte einen Moment lang, dann nickte er. »Ja. Es gab einen.« »Hat er diesen Gefangenen gesehen?« »Er hat ihn verhört.« »Welchen Rang hatte er?« 169
»Gefreiter, glaubt er. Der Mann war der Fahrer des lkws, der auf die Mine gefahren ist. Er war verwundet.« »Ist er sicher, daß es keinen anderen Gefangenen gab?« »Ja.« »Sagen Sie ihm, daß laut unseren Informationen zwei Männer im ersten lkw waren, die nicht zurückgekehrt sind und deren Leichen auch nicht von dem deutschen Trupp gefunden wurden, der später zum Schauplatz kam. Einer war der Fahrer des lkws, den er nach seinen eigenen Worten verhört hat. Der andere war der Feldwebel, der die Abteilung geführt hat. Wir wollen wissen, was mit dem Feldwebel passiert ist.« Phengaros unterstrich seine Worte mit nachdrücklichen Gesten. »Er sagt, er sei nicht dabeigewesen, aber wenn ein deutscher Feldwebel überlebt hätte, dann hätten seine Leute ihn mit Sicherheit zwecks späterer Befragung gefangengenommen. Ein Feldwebel hätte mehr Informationen liefern können als ein Fahrer.« »Was ist mit dem Fahrer geschehen?« »Er ist gestorben.« »Woran?« Ein kurzes Zögern. »An seinen Wunden.« »Gut, lassen wir das beiseite. Sind ihm, als er in der Armee von General Markos gedient hat, irgendwelche Deutsche begegnet, die ebenfalls dort gekämpft haben?« 170
»Ein paar.« »Kann er sich an irgendwelche Namen erinnern?« »Nein.« »Fragen Sie ihn, ob er jemanden weiß, der an dem Überfall auf die lkws beteiligt war und noch am Leben ist.« »Er weiß keinen.« »Aber sie können doch nicht alle tot sein. Sagen Sie ihm, er soll noch einmal versuchen, sich zu erinnern.« »Er weiß keinen.« Mittlerweile sah Phengaros nicht mehr Miss Kolin an, sondern starrte geradeaus. Es trat Schweigen ein. George spürte, wie ihn jemand am Arm berührte. Der Leutnant nahm ihn beiseite. »Mr. Carey, der Mann will keine Informationen liefern, die seine Freunde belasten könnten«, sagte er auf englisch. »Ja, ich verstehe. Natürlich.« »Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment.« Der Leutnant trat zu dem Beamten und führte im Flüsterton ein kurzes Gespräch mit ihm. Dann kehrte er zu George zurück. »Die Informationen ließen sich für Sie in Erfahrung bringen, Mr. Carey«, murmelte er, »aber das würde eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen.« »Wie das?« »Dieser Phengaros ist offenbar schwer zu über171
reden, aber wenn Sie wünschen, ließen sich gewisse Druckmittel anwenden …« »Nein, nein.« George sprach hastig; die Knie begannen ihm zu zittern. »Sofern er die Informationen nicht absolut freiwillig gibt, haben sie rechtlich gesehen keinerlei Beweiswert.« Das war eine Notlüge. Phengaros’ Aussage hatte ohnehin keinen Beweiswert; wenn überhaupt, wären die Aussagen von Augenzeugen wichtig. Aber George fiel nichts Besseres ein. »Wie Sie wollen. Möchten Sie sonst noch etwas fragen?« Der Leutnant gab sich gelangweilt. Er hatte George durchschaut. Wenn sich die Befragung mit derart hasenherziger Zaghaftigkeit durchführen ließ, konnte sie nicht sonderlich wichtig sein. »Ich glaube nicht, danke.« George wandte sich an Miss Kolin. »Fragen Sie diesen Gefängnismenschen, ob es gegen die Vorschriften verstößt, dem Häftling ein paar Zigaretten zu schenken.« Der Beamte hörte auf, in der Nase zu bohren, als er die Frage hörte. Dann zuckte er die Achseln. Wenn der Amerikaner an einen derart unkooperativen Typen Zigaretten verschwenden wollte, war das seine Sache; aber sie mußten zuerst untersucht werden. George zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche und reichte es ihm. Der Beamte warf einen Blick hinein, drückte das Päckchen und gab es zurück. George steckte es durch das Gitter. Phengaros’ Gesicht zeigte schon eine ganze Weile 172
ein schwaches Lächeln. Sein Blick traf den von George. Mit einer ironischen Verbeugung nahm er die Zigaretten. Dabei begann er zu sprechen. »Ich verstehe die Verlegenheit, die Sie veranlaßt, mir dieses Geschenk anzubieten«, übersetzte Miss Kolin. »Wenn ich ein Verbrecher wäre, würde ich es gern annehmen. Aber das Schicksal, das meine Genossen in den Händen der faschistischen Reaktionäre erlitten haben, lastet schon kaum mehr auf dem Gewissen der Welt. Wenn Ihr Gewissen Sie plagt, so ehrt Sie das. Ich bin hier allerdings noch nicht so korrupt, daß ich Ihnen erlauben würde, es um den Preis eines Päckchens Zigaretten zu erleichtern. Nein. So gern ich sie auch geraucht hätte, ich denke, ihr Schicksal muß das gleiche sein wie das jeder anderen amerikanischen Hilfe.« Mit einer raschen Bewegung aus dem Handgelenk warf er die Zigaretten dem Wärter hinter ihm zu. Sie fielen auf den Boden. Als der Wärter sie hastig aufhob, blaffte der Beamte ihn durch das Gitter hindurch wütend an, und er beeilte sich, die Tür aufzuschließen. Phengaros nickte knapp und ging hinaus. Der Beamte hörte zu bellen auf und wandte sich mit entschuldigendem Gesicht an George. »Une espèce de faussecouche«, sagte er; »je vous demande pardon, Monsieur.« »Wofür?« sagte George. »Wenn er meint, daß ich ein mieser, kryptofaschistischer imperialistischer 173
Lakai bin, hat er vollkommen recht damit, daß er meine Zigaretten verweigert.« »Pardon?« »Immerhin war er so höflich, mir die Zigaretten nicht umgehend ins Gesicht zu werfen. Ich an seiner Stelle hätte das vielleicht getan.« »Qu’est-ce que Monsieur a dit?« Der Beamte sah Miss Kolin verzweifelt an. George schüttelte den Kopf. »Das brauchen Sie nicht zu übersetzen, Miss Kolin. Er begreift es ohnehin nicht. Sie allerdings verstehen mich, Herr Leutnant, nicht wahr? Ja, das dachte ich mir schon. Und jetzt würde ich gern schleunigst von hier verschwinden, wenn Sie nichts dagegen haben, ehe in meinem Magen etwas sehr Unangenehmes passiert.« Ins Hotel zurückgekehrt, fanden sie eine kurze Mitteilung von Oberst Chrysanthos vor. Sie enthielt die Information, daß eine Durchsicht aller einschlägigen Listen keinen Mann namens Schirmer erbracht hatte, der in dem Feldzug gegen Markos gefallen oder gefangengenommen worden war; außerdem war kein Mann dieses Namens in den Genuß einer Amnestie gekommen. »Miss Kolin«, sagte George, »was kann man trinken, wenn man diese Magengeschichte hat?« »Am besten Kognak.« »Dann sollten wir uns einen genehmigen.« Später, als der Versuch sich bewährt hatte, sagte er: »Als wir in Köln waren, hat meine Kanzlei mir 174
die Erlaubnis gegeben, die Nachforschung noch drei Wochen lang fortzusetzen, falls ich der Meinung sei, wir machen Fortschritte. Eine davon ist vorbei, und wir haben lediglich herausgefunden, daß Franz Schirmer höchstwahrscheinlich nicht von den Leuten gefangengenommen wurde, die die lkws überfallen haben.« »Na, das ist doch schon etwas.« »Na ja, es ist allenfalls nicht ganz uninteressant. Aber es bringt uns nicht weiter. Ich gebe noch eine Woche zu. Wenn wir der Wahrheit bis dahin nicht nähergekommen sind, fahren wir nach Hause. Okay?« »Ja. Was wollen Sie in dieser Woche unternehmen?« »Was ich meiner Meinung nach schon längst hätte tun sollen. Nach Vodena fahren und nach seinem Grab suchen.«
8
V
odena, das früher Edessa hieß und einst Sitz der Könige von Mazedonien war, liegt etwa achtzig Kilometer westlich von Saloniki inmitten üppiger Weingärten, Granatapfel-, Feigen- und Maulbeerhaine in den Ausläufern des Berges Chakirka, zweihundert Meter über der Iannitsa-Ebene. Die Hänge hinab stürzen rauschend funkelnde Bergbäche in die Nisia Voda, den Nebenfluß des Vadar, der rasch an der Stadt vorbei zum Hauptstrom fließt. Die alten Ziegelhäuser glühen in der Sonne. Es gibt keine Touristenhotels. George und Miss Kolin ließen sich in einem in Saloniki gemieteten Wagen hinfahren. Es war keine sehr angenehme Reise. Der Tag war heiß, die Straße schlecht. An ihrem Ziel angelangt, versagte ihnen der Zustand ihres Magens sogar die Tröstungen eines guten Essens und einer Flasche Wein. Während sich der Chauffeur gutgelaunt auf die Suche nach Essen und Wein machte, gingen sie in ein Café, hielten sich die Fliegen so lange vom Leib, daß sie einen Kognak trinken konnten, und schleppten sich dann auf der Suche nach Informationen mutlos von dannen. 176
Das Glück war fast sofort mit ihnen. Ein Bonbonhändler auf dem Markt erinnerte sich nicht nur gut an den Hinterhalt, sondern hatte damals sogar in einem nahe gelegenen Weinberg gearbeitet. Die andartes waren eine Stunde vor den deutschen lkws gekommen und hatten ihm geraten, sich fernzuhalten. Als der Chauffeur zurückkehrte, überredeten sie den Händler, den Bauchladen mit seinen fliegenumschwirrten Leckereien bei einem Freund zu lassen und sie zum Schauplatz des Hinterhalts zu führen. Das Treibstoffdepot hatte sich in der Nähe eines Eisenbahngleises etwa fünf Kilometer außerhalb von Vodena an der Nebenstraße nach Apsalos befunden. Die lkws waren etwa anderthalb Kilometer vor dem Depot überfallen worden. Es war ein idealer Ort für einen Hinterhalt. Die ständig ansteigende Straße beschrieb an dieser Stelle eine Haarnadelkurve unterhalb eines Hanges, der den Angreifern mit seinen Bäumen und Dickichten reichlich Deckung bot. Davor und dahinter gab es entlang der Straße keinerlei Deckung. Die Minen waren ein ganzes Stück hinter der Kehre plaziert worden, so daß der erste lkw, wenn er getroffen war, den nachfolgenden die Straße blockierte, und das an einer Stelle, wo sie weder wenden noch Dekkung finden konnten, um das Feuer von oben zu erwidern. Die auf dem Hang versteckten andartes mußten leichtes Spiel gehabt haben. Daß zwei der elf Deutschen es überhaupt geschafft hatten, lebend 177
die Straße hinunterzukommen, war erstaunlich. Sie mußten außerordentlich flink oder das Feuer vom Hang mußte außerordentlich ungezielt gewesen sein. Die ums Leben Gekommenen waren etwas weiter den Hügel hinunter auf einem ebenen Fleck gleich an der Straße begraben worden. Dem Händler zufolge war das Gelände seinerzeit regenfeucht gewesen. Die ordentliche Reihe der Gräber war im Unterholz noch erkennbar. Leutnant Leubner und seine Leute hatten auf jedem einen kleinen Steinhaufen aufgetürmt. George hatte in Frankreich und Italien deutsche Gräber am Straßenrand gesehen und vermutete daher, daß jedes Grab ursprünglich auch den Stahlhelm des Gefallenen sowie einen Holzpfahl mit seiner Nummer, seinem Namen und seinem Rang getragen hatte. Er sah sich nach den Pfählen um, aber wenn es sie überhaupt je gegeben hatte, so war mittlerweile nichts mehr von ihnen zu sehen. Unter einem nahe gelegenen Busch fand er einen rostigen deutschen Helm; das war alles. »Sieben Gräber«, bemerkte Miss Kolin, während sie wieder den Hügel hinaufgingen; »das entspricht genau dem, womit nach dem Brief des Leutnants an Frau Schirmer zu rechnen ist. Zehn Mann und der Feldwebel fahren los. Zwei Mann kommen zurück. Die Leichen des Feldwebels und des Fahrers des ersten lkw fehlen. Sieben sind begraben.« »Ja, aber Phengaros hat gesagt, es habe nur einen Gefangenen gegeben – den Fahrer. Wo also ist der Feldwebel geblieben? Der Fahrer wurde verwundet, 178
als der lkw auf die Mine fuhr, nicht aber getötet. Höchstwahrscheinlich saß der Feldwebel in der Fahrerkabine neben ihm. Wahrscheinlich ist er ebenfalls verwundet worden. Laut Leutnant Leubner war er nicht der Mann, der sich kampflos ergeben hätte. Angenommen, er hat es irgendwie geschafft, von der Straße wegzukommen, und ist ein Stück weit davon entfernt gestellt und getötet worden?« »Aber wie, Mr. Carey? Wie soll er weggekommen sein?« Sie waren wieder am Schauplatz des Hinterhalts angelangt. George ging an der dem Hang gegenüberliegenden Straßenseite entlang und sah hinunter. Der kahle Fels fiel steil zum Tal hin ab. Es war absurd anzunehmen, daß selbst ein Unverwundeter unter Beschuß vom Hang und der Straße darüber versuchen würde, hier hinunterzuklettern. Die beiden Männer, die entkommen waren, hatten das nur dem Umstand zu verdanken, daß sie im letzten lkw gewesen und unverwundet geblieben waren. Der Feldwebel war volle zweihundert Meter weiter als sie von jeder Deckung entfernt gewesen. Er hatte nicht die geringste Möglichkeit gehabt, davonzukommen. George kletterte ein Stück weit den Hang hinauf, um sich den Schauplatz von der Warte der Angreifer aus anzusehen. Er konnte sich die Szene vorstellen: die lkws, die sich den Hang hinaufquälten, die ohrenbetäubende Detonation der Mine, das Knat179
tern von Maschinengewehr- und Gewehrfeuer, die dumpfen Explosionen der auf die Straße geworfenen Granaten, das heisere Gebrüll, die Schreie der Sterbenden. Er kraxelte wieder zum Auto zurück. »Na schön, Miss Kolin«, sagte er; »was glauben Sie denn, was passiert ist?« »Ich glaube, daß er zusammen mit dem Fahrer gefangengenommen wurde und beide verwundet worden sind. Ich glaube, daß der Feldwebel an seinen Wunden gestorben oder auf dem Weg zum Treffpunkt der andartes mit Phengaros bei einem Fluchtversuch erschossen worden ist. In diesem Fall würde Phengaros natürlich annehmen, daß es von vornherein nur einen Gefangenen gab.« »Und was ist mit den Papieren des Feldwebels? Die hätten die andartes doch zu Phengaros mitgenommen.« »Sie haben bestimmt auch die Papiere derer mitgenommen, die sie hier getötet haben.« George überlegte. »Ja, Sie könnten recht haben. Zumindest ist das eine plausible Erklärung. Allerdings gibt es nach wie vor nur eine Methode, Gewißheit zu erlangen, nämlich indem wir jemanden auftreiben, der dabei war.« Miss Kolin machte eine Kopfbewegung zu dem Händler hin. »Ich habe mit dem Mann geredet. Er sagt, die andartes, die dafür verantwortlich waren, stammten aus Florina. Das stimmt mit den Informationen des Obersts überein.« 180
»Kennt er einen davon mit Namen?« »Nein. Sie hätten nur gesagt, sie kämen aus Florina.« »Schon wieder eine Sackgasse. Na schön, wir fahren morgen hin. Am besten, wir machen uns jetzt auf den Rückweg. Was meinen Sie, wieviel Geld soll ich dem Alten geben?« Es war früher Abend, als sie wieder in Saloniki eintrafen. Während ihrer Abwesenheit schien etwas Ungewöhnliches passiert zu sein. Auf den Straßen taten zusätzliche Polizeikräfte Dienst, und auf den Bürgersteigen standen Ladenbesitzer und besprachen sich wortreich mit ihren Nachbarn. Die Cafés waren überfüllt. Im Hotel erfuhren sie die Neuigkeit. Kurz vor drei Uhr an diesem Nachmittag war ein geschlossener Armeelastwagen am Eingang der Eurasischen Kreditbank in der Rue Egnatie vorgefahren. Er hatte ein, zwei Momente dort gestanden. Dann war hinten plötzlich die Plane zurückgeschlagen worden, und sechs Männer waren herausgesprungen. Sie waren mit Maschinenpistolen und Handgranaten bewaffnet gewesen. Drei von ihnen hatten sich sofort im Eingangsportal postiert. Die anderen drei waren hineingegangen. Binnen wenig mehr als zwei Minuten waren sie mit Devisen im Wert von mehreren hunderttausend Dollar – amerikanische Dollars, Escudos und Schweizer Franken – wieder herausgekommen. Zehn Sekunden später, 181
fast ehe die Passanten bemerkt hatten, daß etwas nicht stimmte, waren sie wieder im Wagen und verschwunden gewesen. Der Überfall war perfekt organisiert. Die Verbrecher hatten genau gewußt, in welchem Tresor das Geld aufbewahrt wurde und wie man an ihn herankam. Es war kein Schuß gefallen. Ein Angestellter, der mutig versucht hatte, eine Alarmglocke auszulösen, hatte für seine Kühnheit nichts weiter als einen Kolbenhieb ins Gesicht bekommen. Die Alarmglocke hatte sich, wie man später feststellte, schlicht deshalb nicht ausgelöst, weil die Kabel durchtrennt worden waren. Die Gangster hatten mit geballter Faust gegrüßt. Es war ganz klar, daß sie einen kommunistischen Komplizen innerhalb der Bank gehabt hatten. Ganz klar war außerdem, daß der Raubüberfall zu einer ganzen Serie gehörte, die dazu diente, die kommunistische Parteikasse wieder aufzufüllen. Was die Identität des Komplizen anging, war es ganz natürlich, daß der Verdacht auf den mutigen Angestellten fiel. Hätte er das, was er getan hatte, gewagt, wenn er nicht von vornherein gewußt hätte, daß er kein Risiko einging? Ganz bestimmt nicht! Die Polizei verhörte ihn. Soweit der aufgeregte Bericht des Empfangschefs über den Raubüberfall. Der Barkeeper des Hotels bestätigte die Fakten, hatte aber eine etwas ausgefallenere Theorie, was die Motive der Verbrecher anging. Wie kam es eigentlich, fragte er, daß mittlerweile 182
jeder größere Raubüberfall, der stattfand, das Werk von Kommunisten war, die für die Parteikasse stahlen? Stahl sonst niemand mehr? Ja, gewiß, es hatte zweifellos politisch motivierte Raubüberfälle gegeben, allerdings nicht so viele wie allgemein angenommen. Und warum sollten die Bankräuber bei ihrem Abgang mit geballter Faust grüßen? Um zu demonstrieren, daß sie Kommunisten waren? Absurd! Ihnen ging es lediglich darum, diesen Eindruck zu vermitteln, um die Polizei zu täuschen und die Aufmerksamkeit von sich abzulenken. Sie konnten sich darauf verlassen, daß die Polizei am liebsten die Kommunisten verantwortlich machte. Die Kommunisten wurden für alles Schlimme verantwortlich gemacht. Er selbst sei natürlich kein Kommunist, aber … Er ließ sich des langen und breiten über das Thema aus. George hörte geistesabwesend zu. In diesem Moment war er eher an der Entdeckung interessiert, daß sein Appetit mit einmal zurückgekehrt war und er ohne Widerwillen wieder an Essen denken konnte. Florina liegt am Eingang eines tiefen Tals fünfzehn Kilometer südlich der jugoslawischen Grenze. Etwa fünfundsechzig Kilometer jenseits der Berge beginnt Albanien. Florina ist das Verwaltungszentrum der gleichnamigen Provinz und ein wichtiger Endbahnhof. Die Stadt hat eine Garnison und eine zerstörte türkische Zitadelle. Sie verfügt über mehr als ein Hotel und ist weder so pittoresk wie Vodena 183
noch so alt. Sie entstand als unbedeutende Zwischenstation auf einer römischen Straße von Durazzo nach Konstantinopel, allerdings viel zu spät, um an dem kurzlebigen Ruhm des mazedonischen Reichs teilzuhaben. In einem Land, in dem so viele Quellen abendländischer Kultur entsprangen, ist sie ein Parvenü. Doch wenn Florina für die Verfasser von Reiseführern historisch nicht viel Interessantes bietet, so hat die Stadt doch das, was man eine Vergangenheit nennt. Im Sommer 1896 nahmen sechzehn Männer an einem Treffen in Saloniki teil. Dort gründeten sie eine politische Vereinigung, die in späteren Jahren zur gefährlichsten geheimen Terroristenorganisation werden sollte, die der Balkan, ja ganz Europa je gekannt hat. Sie nannte sich Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation, kurz imro. Ihr Glaubensbekenntnis hieß ›Mazedonien den Mazedoniern‹, ihre Fahne zeigte einen roten Totenschädel mit gekreuzten Knochen auf schwarzem Grund, ihr Wahlspruch lautete ›Freiheit oder Tod‹. Ihre Argumente waren das Messer, das Gewehr und die Bombe. Ihre Streitkräfte, die in den Hügeln und Bergen Mazedoniens lebten und den Dorf- und Stadtbewohnern imro-Gesetze und imro-Steuern aufzwangen, wurden Komitadschis genannt. Ihr Treueeid wurde auf eine Bibel und einen Revolver abgelegt, Illoyalität mit dem Tode bestraft. Zu denen, die diesen Eid ablegten und in der imro dien184
ten, gehörten reiche Leute wie Kleinbauern, Dichter wie Soldaten, Philosophen wie berufsmäßige Mörder. Für die Sache der Unabhängigkeit Mazedoniens brachte man Türken und Bulgaren, Serben und Walachen, Griechen und Albaner um. Für dieselbe Sache brachte man auch Mazedonier um. Zur Zeit des ersten Balkankrieges war die imro eine ernstzunehmende politische Kraft, die imstande war, beträchtlichen Einfluß auf die Ereignisse auszuüben. Der mazedonische Komitadschi mit seinen Patronengurten und seinem Gewehr wurde zur legendären Gestalt, ein heldenhafter Verteidiger von Frauen und Kindern gegen die Grausamkeit der Türken, ein Ritter der Berge, der den Tod der Unehre vorzog und seine Gefangenen mit Höflichkeit und Milde behandelte. Daß die Grausamkeiten der Türken, wie zynische Beobachter immer wieder hervorhoben, im allgemeinen als Vergeltungsmaßnahmen für die Greuel der Komitadschis begangen wurden und das ritterliche Verhalten nur dann an den Tag gelegt wurde, wenn die Möglichkeit bestand, ausländische Sympathisanten damit zu beeindrucken, tat der Legende offenbar keinen Abbruch. Sie hielt sich erstaunlich lange und hält sich bis zu einem gewissen Grad noch heute. Auf dem zentralen Platz von Gorna-Dschumaja, der Hauptstadt Bulgarisch-Mazedoniens, gibt es sogar ein Denkmal für den Unbekannten Komitadschi. Zwar wurde es 1933 von den imro-Gangstern errichtet, die die Stadt beherrschten, aber die damalige bulga185
rische Zentralregierung erhob keine Einwände dagegen, und es steht mit großer Sicherheit noch heute. Wenn die imro auch nicht mehr von Dichtern und Idealisten unterstützt wird, so ist sie doch nach wie vor eine politische Kraft, die sich von Zeit zu Zeit mit schöner Unparteilichkeit sowohl an die Faschisten als auch an die Kommunisten verkauft hat. Die imro ist und war schon immer eine sehr balkanische Institution. Florina war seit jeher eine der Hochburgen der imro. Kurz nach dem folgenreichen Treffen in Saloniki im Jahre 1896 begann ein ehemaliger Unteroffizier der bulgarischen Armee namens Marko, in Florina eine imro-Truppe zu rekrutieren, die rasch zur mächtigsten der ganzen Gegend wurde – und zur berühmtesten. Unter anderem entschlossen sich der bulgarische Dichter Jaworov und der junge Schriftsteller Christo Silianov zum Eintritt und beteiligten sich eifrig am aktiven Dienst (obwohl Silianov, der Autor, eine weibische Abneigung dagegen zeigte, seinen Gefangenen die Kehle durchzuschneiden). Marko selbst wurde von türkischen Soldaten getötet, aber die Truppe blieb eine schlagkräftige Einheit und spielte bei dem Aufstand von 1913 eine führende Rolle. Die typischen Irredentistenmethoden – Sabotage, Hinterhalt, Entführung, Einschüchterung, bewaffneter Raubüberfall und Mord – gehören in Florina zum kulturellen Erbe. Und obwohl es mittlerweile Invasion und Krieg braucht, um die gesetzestreuen Bewohner der Pro186
vinz zu einem Rückgriff auf diese alten Fähigkeiten zu bewegen, gibt es auch in Friedenszeiten stets ein paar kühne Geister, die bereit sind, sich in die Berge zu begeben und ihre unglücklichen Nachbarn daran zu erinnern, daß die Traditionen ihrer Vorväter noch immer höchst lebendig sind. George und Miss Kolin kamen mit dem Zug von Saloniki. Das Hotel Parthenon war ein dreistöckiges Gebäude in der Nähe des Stadtzentrums. Im Erdgeschoß befanden sich ein Café und ein Restaurant, das direkt von der Straße aus zugänglich war. Das Haus hatte ungefähr die Größe eines drittklassigen Hotels für Handelsreisende in einer Stadt wie etwa Lyon. Die Zimmer waren klein, die sanitären Einrichtungen primitiv. Das Bettgestell in Georges Zimmer war aus Eisen, doch der Federrost hatte einen Holzrahmen. Auf Miss Kolins Vorschlag hin verbrachte George die erste halbe Stunde dort mit einem Zerstäuber und einer Dose ddt, mit der er die Ritzen im Holzwerk besprühte. Dann ging er nach unten ins Café. Gleich darauf setzte sich Miss Kolin zu ihm. Der Besitzer des Parthenon war ein kleiner Mann mit grauem Gesicht und grauem Bürstenschnitt, der einen zerknitterten grauen Anzug trug. Als er Miss Kolin erscheinen sah, verließ er seinen Tisch am Tresen, wo er sich im Stehen mit einem Armeeoffizier unterhalten hatte, und kam zu ihnen herüber. Er verbeugte sich und sagte etwas auf französisch. 187
»Fragen Sie ihn, ob er etwas mit uns trinken möchte«, sagte George. Als die Einladung übersetzt worden war, verbeugte sich der kleine Mann erneut, setzte sich mit einem Wort der Entschuldigung und machte mit einem Fingerschnippen den Barkeeper auf sich aufmerksam. Sie tranken alle Ouzo. Man tauschte Höflichkeiten aus. Der Besitzer entschuldigte sich dafür, daß er kein Englisch sprach, und begann sie dann unauffällig darüber auszuhorchen, weshalb sie in der Stadt waren. »Wir haben wenige Touristen hier«, bemerkte er. »Ich habe schon oft gesagt, daß das schade ist.« »Die Landschaft ist jedenfalls sehr schön.« »Wenn Sie während Ihres Aufenthaltes Zeit haben, sollten Sie eine Ausflugsfahrt unternehmen. Ich besorge Ihnen gern einen Wagen.« »Sehr freundlich von ihm. Sagen Sie ihm, wir hätten in Saloniki gehört, man könne bei den Seen im Westen ausgezeichnet jagen.« »Der Herr hat vor, jagen zu gehen?« »Diesmal leider nicht. Wir sind geschäftlich hier. Aber man hat uns gesagt, daß es dort oben reichlich Wild gibt.« Der kleine Mann lächelte. »In der Gegend gibt es alle Arten von Wild. In den Bergen gibt es auch Adler«, fügte er verschmitzt hinzu. »Adler, die vielleicht selbst ein wenig auf die Jagd gehen?« 188
»Das hat der Herr zweifellos auch in Saloniki erfahren.« »Ich bin stets davon ausgegangen, daß das hier ein sehr romantischer Landesteil ist.« »Ja, für manche ist der Adler ein romantischer Vogel«, sagte der Besitzer schalkhaft. Offenbar gehörte er zu dem Typ, der den kleinsten Witz zu Tode reiten muß. »Ein Raubvogel ist er außerdem.« »Ja, ganz recht. Wenn Armeen sich auflösen, gibt es immer ein paar, die lieber zusammenbleiben und einen Privatkrieg gegen die Gesellschaft führen. Aber hier in Florina braucht sich der Herr nicht zu fürchten. Die Adler kommen niemals von den Bergen herunter.« »Schade. Wir hatten gehofft, Sie könnten uns vielleicht helfen, einen zu finden.« »Einen Adler zu finden? Handelt der Herr etwa mit Schmuckfedern?« Aber nun wurde es George zu bunt. »Schön«, sagte er, »lassen wir die Spiegelfechtereien. Sagen Sie ihm, daß ich Anwalt bin und wir wenn möglich mit jemandem reden wollen, der zu dem elasTrupp gehört hat, der 1944 unter der Führung von Phengaros stand. Erklären Sie ihm, daß es nichts Politisches ist, sondern daß wir lediglich nach dem Grab eines deutschen Feldwebels forschen, der in der Nähe von Vodena gefallen ist. Sagen Sie, daß ich für seine Verwandten in Amerika tätig bin.« Er beobachtete das Gesicht des kleinen Mannes, 189
während Miss Kolin übersetzte. Ein, zwei Momente lang legte sich ein ganz ungewöhnlicher Ausdruck über dessen schlaffe, graue Falten, ein Ausdruck, der sich zu gleichen Teilen aus Interesse, Verblüffung, Empörung und Angst zusammensetzte. Dann fiel ein Vorhang, und das Gesicht wurde leer. Der Hotelier griff nach seinem Glas und leerte es. »Ich bedaure«, sagte er sehr dezidiert, »daß ich Ihnen in dieser Angelegenheit nicht helfen kann.« Er erhob sich. »Moment noch«, sagte George. »Wenn er mir nicht helfen kann, dann fragen Sie ihn, ob er hier jemanden kennt, der es kann.« Sein Gegenüber zögerte und warf dann einen raschen Blick zu dem Offizier hinüber, der an dem Tisch bei der Bar saß. »Einen Moment«, sagte er knapp. Er ging zu dem Offizier hinüber, beugte sich über den Tisch und begann in drängendem Ton auf ihn einzureden. Ein, zwei Momente später sah George, wie der Offizier rasch zu ihm herüberblickte, um dann mit scharfer Stimme etwas zu dem Hotelbesitzer zu sagen. Der kleine Mann zuckte die Achseln. Der Offizier stand auf und kam zu ihnen herüber. Er war ein schlanker, dunkelhaariger junger Mann mit glänzenden Augen, sehr weiten Reithosen und einer Taille wie ein Mädchen. Er trug die Rangabzeichen eines Hauptmanns. Er verbeugte sich vor Miss Kolin und lächelte George freundlich an. »Verzeihung, Sir«, sagte er auf englisch. »Der 190
Wirt hat mir gesagt, Sie stellen hier Nachforschungen an.« »Richtig.« Der andere schlug die Hacken zusammen. »Streftaris, Hauptmann«, sagte er. »Sie sind Amerikaner, Mister …?« »Mein Name ist Carey. Ja, ich bin Amerikaner.« »Und die Dame?« »Miss Kolin ist Französin. Sie ist meine Dolmetscherin.« »Danke. Vielleicht kann ich Ihnen helfen, Mr. Carey.« »Sehr freundlich von Ihnen, Herr Hauptmann. Setzen Sie sich doch.« »Danke.« Der Hauptmann drehte den Stuhl herum, schob sich die Sitzfläche zwischen die Beine und setzte sich, die Ellbogen auf die Lehne gestützt. Die Geste hatte etwas merkwürdig Unverschämtes. Er lächelte weniger freundlich. »Sie haben den Wirt sehr beunruhigt, Mr. Carey.« »Das tut mir leid. Ich habe ihn nur gebeten, mich mit jemandem in Kontakt zu bringen, der 1944 dem Trupp von Phengaros angehörte. Ich habe ihm gesagt, meine Nachforschungen haben nichts mit Politik zu tun.« Der Hauptmann seufzte übertrieben. »Mr. Carey«, sagte er, »wenn ich zu Ihnen nach Amerika käme und Sie bäte, mich mit einem von der Polizei gesuchten Gangster in Kontakt zu bringen, wären Sie dann bereit, mir zu helfen?« 191
»Ist das vergleichbar?« »Aber ja. Ich glaube, Sie verstehen unsere Probleme hier nicht ganz. Sie sind Ausländer, und das entschuldigt Sie, aber es ist sehr unbedacht, in solchen Dingen Fragen zu stellen.« »Wären Sie so freundlich, mir zu sagen, warum?« »Diese Männer sind Kommunisten … Gesetzlose. Wissen Sie, daß Phengaros selbst wegen eines Verbrechens im Gefängnis sitzt?« »Ja. Ich habe vor zwei Tagen mit ihm gesprochen.« »Wie bitte?« »Oberst Chrysanthos in Saloniki war so freundlich, mir ein Gespräch mit Phengaros im Gefängnis zu ermöglichen.« Das Lächeln des Hauptmanns schwand. Er nahm die Ellbogen von der Stuhllehne. »Ich muß Sie um Entschuldigung bitten, Mr. Carey.« »Wofür?« »Mir war nicht klar, daß Sie in amtlichem Auftrag hier sind.« »Nun ja, um genau zu sein …« »Ich glaube nicht, daß wir Befehle aus Saloniki bekommen haben. Wäre das der Fall gewesen, hätte der Kommandant mich natürlich entsprechend instruiert.« »Einen Moment, Herr Hauptmann, nur damit wir uns nicht mißverstehen. Ich bin eher in einer zivilrechtlichen als in einer amtlichen Angelegenheit hier. Ich will es Ihnen erklären.« 192
Der Hauptmann hörte sich die Erklärung aufmerksam an. Er wirkte erleichtert, als George fertig war. »Dann sind Sie also nicht auf Anraten von Oberst Chrysanthos hier, Sir?« »Nein.« »Sie müssen wissen, Mr. Carey, daß ich Offizier des militärischen Nachrichtendienstes für diesen Bezirk bin. Es wäre äußerst verhängnisvoll für mich, wenn Oberst Chrysanthos dächte …« »Aber ja, ich weiß. Ein sehr tüchtiger Mann, der Oberst.« »O ja.« »Und ein sehr beschäftigter. Deshalb habe ich mir auch gedacht, es wäre vielleicht besser, den Oberst nicht noch einmal zu behelligen, sondern mir die Namen einiger dieser Leute einfach inoffiziell zu besorgen.« Der Hauptmann machte ein verdutztes Gesicht. »Inoffiziell? Wie das?« »Ich könnte die Namen kaufen, oder etwa nicht?« »Von wem denn?« »Nun ja, eben das hoffte ich womöglich von dem Wirt zu erfahren.« »Aha!« Der Hauptmann gestattete sich endlich wieder zu lächeln. »Mr. Carey, wenn der Wirt wirklich wüßte, wo man die Namen, die Sie suchen, kaufen kann, wäre er nicht so dumm, das einem Fremden gegenüber zuzugeben.« 193
»Haben Sie denn über keinen dieser Leute irgendwelche Informationen? Was ist aus ihnen geworden?« »Manche sind bei den Markos-Truppen gefallen, manche leben jenseits der Grenze bei unseren Nachbarn. Der Rest« – er zuckte die Achseln – »hat andere Namen angenommen.« »Aber sie sind doch bestimmt noch hier irgendwo in der Nähe.« »Ja, aber ich kann Ihnen nicht empfehlen, sich auf die Suche nach ihnen zu machen. Es gibt Cafés in dieser Stadt, wo Sie große Unannehmlichkeiten hätten, wenn Sie die Fragen stellten, die Sie dem Wirt hier gestellt haben.« »Verstehe. Was würden Sie an meiner Stelle tun, Herr Hauptmann?« Der Hauptmann dachte einen Moment lang eingehend nach, dann beugte er sich vor. »Mr. Carey, Sie dürfen auf keinen Fall denken, daß ich Ihnen nicht helfen möchte, soweit es irgend in meiner Macht steht.« »Nein, natürlich nicht.« Aber der Hauptmann war noch nicht fertig. »Ich möchte Ihnen helfen, soweit ich kann. Aber erklären Sie mir eins: Sie möchten einfach wissen, ob dieser deutsche Feldwebel bei dem Hinterhalt gefallen ist oder nicht. Richtig?« »Richtig.« »Sie möchten nicht unbedingt den Namen der Person wissen, die ihn hat sterben sehen?« 194
George überlegte. »Ich möchte es einmal so formulieren«, sagte er schließlich. »Der Feldwebel ist aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich gefallen. Wenn es so ist, und ich kann mir dieser Tatsache hinreichend sicher sein, dann ist das alles, was ich wissen will. Mein Auftrag ist dann erledigt.« Der Hauptmann nickte. »Aha. Nehmen wir also einmal an, die entsprechende Information ließe sich irgendwie beschaffen. Wären Sie dann bereit, sagen wir dreihundert Dollar dafür zu bezahlen, ohne zu wissen, wo sie herkommt?« »Dreihundert! Ein bißchen happig, wie?« Der Hauptmann tat das Thema mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Sagen wir zweihundert. Der Betrag ist nicht so wichtig.« »Dann sagen wir einhundert.« »Wie Sie wollen. Sie würden also bezahlen, Mr. Carey?« »Unter bestimmten Bedingungen, ja.« »Was für Bedingungen, bitte?« »Tja, ich kann Ihnen von vornherein sagen, daß ich keine hundert Dollar für das Vergnügen bezahle, daß mir jemand erzählt, er kennt jemanden, der einen Bekannten hat, der bei dem Hinterhalt dabei war und behauptet, der deutsche Feldwebel sei gefallen. Ich würde irgendeinen Beweis dafür verlangen, daß die Geschichte authentisch ist.« »Das verstehe ich, aber was für ein Beweis könnte das sein?« »Nun ja, zum einen würde ich eine plausible Er195
klärung dafür verlangen, daß die deutsche Patrouille, die hinterher zum Schauplatz kam, die Leiche des Feldwebels nicht gefunden hat. Es waren Leichen dort, aber die des Feldwebels war nicht darunter. Ein authentischer Zeuge müßte den Grund dafür wissen.« »Ja, das leuchtet ein.« »Gibt es denn überhaupt die Möglichkeit, die Information zu beschaffen?« »Genau darüber denke ich die ganze Zeit nach. Ich sehe vielleicht eine Möglichkeit, ja. Versprechen kann ich allerdings nichts. Wissen Sie etwas über Methoden der Polizeiarbeit?« »Nur das Übliche.« »Dann wissen Sie, daß es im Umgang mit Verbrechern manchmal klug sein kann, den weniger gefährlichen zeitweilige Straffreiheit, ja Unterstützung zu gewähren, wenn man auf diese Weise ein wenig darüber erfährt, was bei den übrigen vor sich geht.« »Sie sprechen von bezahlten Spitzeln?« »Nicht ganz. Der bezahlte Spitzel stellt einen selten zufrieden. Man zahlt und zahlt für nichts, und wenn er sich gerade bezahlt zu machen verspricht, findet man ihn mit durchschnittener Kehle, und das staatliche Geld ist verschwendet. Nein, die Typen, von denen ich rede, sind die Kleinkriminellen, deren Aktivitäten wir dulden können, weil sie diejenigen, die wir fassen wollen, kennen und ihr Vertrauen genießen. Solche Typen betätigen sich nicht als Spitzel, verstehen Sie, aber wenn man sich ihnen gegen196
über freundlich gibt und bereit ist, ihre kleinen krummen Dinger zu übersehen, kann man viel Interessantes erfahren, was so vor sich geht.« »Ich verstehe. Wenn es etwas dabei zu verdienen gäbe und niemand riskierte, sich selbst zu belasten, könnte so jemand herausfinden, was ich wissen will.« »Genau.« »Denken Sie an jemand Bestimmten?« »Ja, aber ich muß zunächst diskret nachforschen, ob man gefahrlos an die betreffende Person herantreten kann. Ich denke, Oberst Chrysanthos wäre sehr verärgert über mich, Mr. Carey, wenn ich Ihr Leben in Gefahr brächte« – er schenkte Miss Kolin ein strahlendes Lächeln – »oder das von Madame.« Miss Kolin rümpfte die Nase. George grinste. »Nein, den Oberst dürfen wir auf keinen Fall verärgern. Aber es ist trotzdem sehr freundlich von Ihnen, sich soviel Mühe zu machen, Herr Hauptmann.« Der Hauptmann hob abwehrend die Hand. »Nicht doch. Falls Sie dem Oberst gegenüber zufällig erwähnen, daß ich Ihnen ein klein wenig helfen konnte, so ist mir das Belohnung genug.« »Natürlich werde ich das erwähnen. Wer ist denn die Person, von der Sie glauben, sie kann die Sache arrangieren?« »Es handelt sich um eine Frau. Nach außen hin ist sie Besitzerin eines Weinladens. In Wirklichkeit handelt sie heimlich mit Waffen. Wenn man ein 197
Gewehr oder einen Revolver braucht, geht man zu ihr. Sie beschafft sie einem. Warum wir sie nicht verhaften? Weil dann jemand anders an ihre Stelle träte, jemand, den wir womöglich nicht kennen und nicht so leicht überwachen können. Eines Tages vielleicht, wenn wir uns sicher sind, daß wir auch ihre Bezugsquellen verstopfen können, werden wir sie festnehmen. Bis dahin lassen wir lieber alles so, wie es ist. Sie liebt den Klatsch und ist von daher für Ihre Zwecke höchst geeignet.« »Weiß sie denn nicht, daß sie überwacht wird?« »Doch, aber sie besticht meine Leute. Daß die ihr Geld nehmen, wiegt die Frau in Sicherheit. Es geht alles ganz freundschaftlich zu. Aber wir wollen sie nicht beunruhigen, deshalb muß man sich zuerst mit ihr besprechen.« Er erhob sich, plötzlich sehr geschäftsmäßig. »Vielleicht heute abend.« »Sehr freundlich von Ihnen, Herr Hauptmann. Möchten Sie nicht noch etwas trinken?« »Nein, vielen Dank. Ich habe noch verschiedenes zu erledigen. Falls die Frau sich einverstanden erklärt, schicke ich Ihnen morgen die Adresse, an die Sie sich wenden müssen, und noch andere Instruktionen, soweit erforderlich.« »Okay. Schön.« Es gab ein großes Hackenzusammenschlagen und reichlich Artigkeiten, dann ging er. George gab dem Barkeeper ein Zeichen. »Na, Miss Kolin«, sagte er, als man sie erneut bedient hatte, »was meinen Sie?« 198
»Ich meine, daß das, was der Hauptmann zu erledigen hat, mit ziemlicher Sicherheit bei seiner Geliebten stattfindet.« »Ich wollte eigentlich wissen, ob Sie meinen, das das Ganze Sinn hat. Sie kennen sich in diesem Teil der Welt aus. Meinen Sie, daß er tatsächlich mit dieser Frau Kontakt aufnimmt?« Sie zuckte die Achseln. »Ich denke, für hundert Dollar würde der Hauptmann so ziemlich alles tun.« George brauchte ein, zwei Momente, um sich klarzumachen, was diese Feststellung implizierte. »Aber der Hauptmann bekommt das Geld nicht«, sagte er. »Ach nein?« »Nein. Es ist für die Frau aus dem Weinladen, wenn sie die gewünschte Information liefert.« »Ich glaube nicht, daß er ihr hundert Dollar gibt. Zwanzig vielleicht. Vielleicht auch gar nichts.« »Das ist nicht Ihr Ernst.« »Sie haben mich nach meinem Eindruck gefragt.« »Er ist der Typ des strebsamen Jungmanagers. Alles, was er will, ist ein Schulterklopfen vom Chef. Sie werden sehen.« Miss Kolin lächelte süffisant. George bekam in dieser Nacht nicht viel Schlaf. Irgendwie hatten die Vorsichtsmaßnahmen, die er gegen Wanzen ergriffen hatte, ihn zu der Überzeugung gebracht, daß der Matratzenrahmen davon wimmeln mußte. Im Dunkeln hatte er sich rasch einzubilden begonnen, daß er von ihnen überfallen 199
wurde. Es half nichts, sich an das ddt zu erinnern, das er versprüht hatte; balkanische Wanzen verputzten das Zeug vermutlich wie Eiscreme. Nachdem auch eine vierte panische Inspektion nicht einen einzigen Angreifer zutage gefördert hatte, war er in Verzweiflung geraten, hatte das Bett abgezogen und sich erneut mit dem Zerstäuber über die Matratze hergemacht. Rosenfingrige Dämmerung war zwischen den Berggipfeln aufgeschimmert, ehe er endlich hatte einschlafen können. Um neun Uhr wachte er gereizt auf. Während er im Café unten beim Frühstück saß, kam ein Brief des Hauptmanns. Sehr geehrter Herr, bei der betreffenden Frau handelt es sich um Madame Vassiotis von der Weinhandlung in der Rue Monténégrine. Sie erwartet Sie, allerdings erst heute nachmittag. Sagen Sie, Sie kämen von Monsieur Kliris. Berufen Sie sich nicht auf mich. Man hat ihr gesagt, was Sie wollen, und sie hat möglicherweise eine Antwort für Sie. Der Preis beträgt 150 us-Dollar, aber geben Sie das Geld nicht der Frau selbst, und sprechen Sie auch nicht davon. Ich möchte mich persönlich vergewissern, daß Sie auch zufrieden sind, bevor Sie bezahlen. Falls Sie mir, wenn wir uns heute abend sehen, versichern, daß alles in Ordnung ist, werde ich dafür sorgen, daß das Geld ihr über Monsieur Kliris zugeht. 200
Der Brief war auf schlichtem Papier geschrieben und trug keine Unterschrift. George zeigte ihn nicht Miss Kolin. Die Rue Monténégrine erwies sich als steile, abfallübersäte Gasse im ärmeren Viertel der Stadt. Die Häuser waren verfallen und häßlich. Zwischen einigen der oberen Fenster waren Leinen mit schmutziger Wäsche quer über die Gasse gespannt, aus anderen hing Bettzeug. Überall wuselten Kinder herum. Die Weinhandlung befand sich am oberen Ende der Gasse neben einem Bauhof. Sie hatte kein Schaufenster. Eine Türöffnung, die mit einem Vorhang aus Perlenschnüren versehen war, führte über einige Stufen ins Innere. George und Miss Kolin traten ein und fanden sich in einer Art Keller mit an den Wänden aufgestapelten Weinfässern und einer wuchtigen Holzbank in der Mitte wieder. Licht kam von einer Öllampe auf einem Bord. Die Luft war kühl, und der Geruch nach abgestandenem Wein und alten Fässern war nicht unangenehm. Im Laden hielten sich zwei Personen auf. Die eine, ein alter Mann in blauen Drillichhosen, saß auf der Bank und trank ein Glas Wein. Die andere war Madame Vassiotis. Sie war erstaunlich fett, mit riesigen Hängebrüsten und einem ausladenden Schoß. Sie saß auf einem niedrigen Hocker, den sie fast völlig verdeckte, 201
neben einer Tür an der hinteren Wand des Ladens. Als ihre Besucher eintraten, erhob sie sich langsam und watschelte nach vorn ins Licht. Ihr Kopf war klein für ihren Körper, und sie hatte das dunkle Haar straff aus der Stirn zurückgekämmt. Das Gesicht wirkte, als müßte es zu jemand Jüngerem oder weniger Feistem gehören. Es war immer noch fest und zart geformt, und die Augen unter den schweren Lidern waren dunkel und klar. Sie murmelte einen Gruß. Miss Kolin gab Antwort. George hatte sie zur Vorbereitung auf das Gespräch genauestens instruiert, und so machte sie sich nicht die Mühe, die Präliminarien zu übersetzen. Er sah, wie Madame Vassiotis verständnisvoll nickte und dem alten Mann einen raschen Blick zuwarf. Er trank prompt seinen Wein aus und ging. Dann verbeugte sie sich leicht vor George und ging mit einer einladenden Geste durch die Tür in der hinteren Wand voran in ein Wohnzimmer. Dort gab es türkische Wandteppiche, einen Diwan mit Plüschkissen und ein paar wackelige viktorianische Möbelstücke. Das Ganze erinnerte ihn an die Bude einer Wahrsagerin auf einem Jahrmarkt. Nur die Kristallkugel fehlte. Madame Vassiotis goß drei Gläser Wein ein, ließ sich schwer auf den Diwan sinken und bedeutete ihnen mit einer Handbewegung, auf Stühlen Platz zu nehmen. Als sie saßen, faltete sie die Hände im Schoß und blickte gelassen von einem zum anderen, 202
als wartete sie darauf, daß jemand ein Gesellschaftsspiel vorschlug. »Fragen Sie sie«, sagte George, »ob es ihr gelungen ist, eine Antwort auf die Fragen zu bekommen, die Monsieur Kliris ihr gestellt hat.« Madame Vassiotis hörte sich mit ernstem Gesicht die Übersetzung an und begann dann mit einem Nicken zu sprechen. »Sie gibt an«, sagte Miss Kolin, »daß sie mit einem der andartes hat sprechen können, die an der Affäre bei Vodena beteiligt waren. Nach ihren Informationen ist der deutsche Feldwebel gefallen.« »Weiß sie, wie er ums Leben gekommen ist?« »Er befand sich im ersten lkw des deutschen Konvois. Der Wagen fuhr auf eine Mine.« George überlegte einen Moment. Diese beiden Tatsachen hatte er dem Hauptmann gegenüber nicht erwähnt. Das Ganze klang vielversprechend. »Hat der Informant gesehen, daß der Feldwebel tot war?« »Ja.« »Lag er auf der Straße?« »Er war dort, wo er fiel, als der lkw getroffen wurde.« »Was ist hinterher mit der Leiche geschehen?« Er sah, wie Madame Vassiotis die Achseln zuckte. »Weiß sie, daß die Leiche nicht da war, als die deutsche Patrouille hinterher zum Schauplatz kam?« »Ja, aber ihr Informant kann dafür keine Erklärung liefern.« 203
Wieder dachte George nach. Das war eigenartig. Ein erfahrener Mann wüßte wahrscheinlich, daß der Unteroffizier, der eine deutsche Kolonne befehligte, im ersten lkw mitfahren würde; und wer in irgendeiner Weise an dem Hinterhalt beteiligt gewesen war, mußte auch wissen, daß der erste lkw auf eine Mine gefahren war. Der Informant konnte ebensogut weiter unten an der Straße gewesen sein und auf die anderen lkws geschossen haben. Die Aussicht, für seine Mühe ein paar Dollar zu bekommen, könnte ihn allerdings veranlassen, eine plausible Vermutung zum besten zu geben. »Fragen Sie sie, ob ihr Freund weiß, welcher Art die Verletzungen des Feldwebels waren.« »Das kann sie nicht genau sagen. Der Feldwebel hat in einer Blutlache gelegen.« »Ist sie sich absolut sicher …?« Er hielt inne. »Nein, Moment. Formulieren Sie das anders. Angenommen, der Feldwebel wäre ihr Sohn – wäre sie dann nach dem, was ihr Freund ihr erzählt hat, absolut überzeugt davon, daß er tot ist?« Ein Lächeln erschien auf den zart geschwungenen Lippen, und ein Kichern erschütterte den massigen Körper, als sie die Frage erfaßte. Dann hievte sie sich mühevoll ächzend vom Diwan hoch und watschelte zu einer Schublade im Tisch. Sie entnahm ihr einen Zettel, den sie mit ein paar erklärenden Worten Miss Kolin gab. »Madame hat Ihre Zweifel vorhergesehen und von ihrem Freund einen Beweis dafür verlangt, daß 204
er die Leiche gesehen hat. Er hat ihr gesagt, sie hätten den toten Deutschen ihre Ausrüstung abgenommen und er habe die Wasserflasche des Feldwebels bekommen. Er besitzt sie immer noch. In den Trageriemen sind Name und Nummer des Feldwebels eingebrannt. Sie stehen auf dem Zettel.« Madame Vassiotis setzte sich wieder und nippte an ihrem Wein, während George den Zettel betrachtete. Die Nummer kannte er gut; er hatte sie schon auf mehreren Dokumenten gesehen. Darunter stand in Blockschrift: »schirmer f.«. George überlegte einige Momente lang genau, dann nickte er. Den Namen Schirmer hatte er dem Hauptmann gegenüber nicht erwähnt. Eine Gaunerei war ausgeschlossen. Die Beweise waren schlüssig. Was hinterher mit der Leiche von Feldwebel Schirmer geschehen war, würde man vielleicht nie erfahren, aber es bestand nicht der leiseste Zweifel daran, daß Madame Vassiotis und ihr geheimnisvoller Bekannter die Wahrheit erzählten, soweit sie sie kannten. Er nickte, griff nach seinem Glas und hob es höflich vor seiner Gastgeberin, ehe er trank. »Danken Sie ihr bitte in meinem Namen, Miss Kolin«, sagte er, als er das Glas abstellte, »und sagen Sie ihr, daß ich sehr zufrieden bin.« Er zückte einen Fünfzigdollarschein und legte ihn im Aufstehen auf den Tisch. Er sah einen Ausdruck rasch unterdrückter Ver205
blüffung über das Gesicht der fetten Frau huschen. Dann erhob sie sich und verbeugte sich lächelnd. Sie war sichtlich erfreut. Hätte ihre Würde es erlaubt, hätte sie den Schein in die Hand genommen und genauer betrachtet. Sie drängte die beiden, noch ein Glas Wein zu trinken. Als es ihnen schließlich gelang, unter Verbeugungen den Laden zu verlassen, wandte sich George an Miss Kolin. »Sie sagen ihr besser, daß sie Monsieur Kliris nichts von den fünfzig Dollar verrät«, sagte er. »Ich werde auch dem Hauptmann nichts davon sagen. Mit etwas Glück wird sie vielleicht zweimal bezahlt.« Miss Kolin war bei ihrem sechsten Verdauungskognak, und ihre Augen wurden rasch glasig. Sie saß kerzengerade auf ihrem Stuhl. Sie würde jetzt jeden Moment beschließen, daß es für sie an der Zeit war, schlafen zu gehen. Der Hauptmann war längst gegangen. Er hatte das Gehabe eines Menschen zur Schau getragen, dessen Gutherzigkeit man ausgenutzt hat. Die hundert Dollar allerdings, die George ihm angeboten hatte, hatte er nicht abgelehnt. Vermutlich feierte er den Anlaß gerade mit seiner Geliebten. Für George gab es in Florina nichts mehr zu tun. »Wir reisen morgen früh ab, Miss Kolin«, sagte er. »Zug nach Saloniki. Flugzeug nach Athen. Flugzeug nach Paris. In Ordnung?« »Sie haben sich also endgültig entschieden?« 206
»Fällt Ihnen irgendein Grund ein, warum man die Sache fortsetzen sollte?« »Ich habe nie daran gezweifelt, daß der Mann tot ist.« »Das stimmt, das haben Sie nicht. Gehen Sie jetzt schlafen?« »Ich denke schon, ja. Gute Nacht, Mr. Carey.« »Gute Nacht, Miss Kolin.« Während er ihren akkuraten Gang zur Tür des Cafés beobachtete, fragte sich George düster, ob sie ihre eiserne Selbstbeherrschung aufrechterhielt, bis sie im Bett lag, oder ob sie sich in der Zurückgezogenheit ihres Zimmers zugestand, einfach umzukippen. Er selbst trank in Ruhe aus. Er fühlte sich deprimiert und suchte nach einer Erklärung dafür. Nach den Maßstäben des jungen Wirtschaftsanwalts, der sich noch vor ein paar Wochen darüber gefreut hatte, daß sein Name auf die Tür einer Kanzlei in Philadelphia gemalt wurde, hätte er mit dieser Wendung der Ereignisse eigentlich hoch zufrieden sein müssen. Man hatte ihm eine lästige, undankbare Aufgabe übertragen, die er rasch und kompetent erledigt hatte. Nun konnte er voller Selbstvertrauen zu wichtigeren und nützlicheren Geschäften zurückkehren. Alles war in bester Ordnung. Und dennoch bereitete ihm das keinerlei Freude. Es war absurd. Könnte es sein, daß er im Innersten lächerlicherweise gehofft hatte, den Schneider-Johnson-Erben zu finden und ihn im Triumph jenem jugendlichen 207
Greis, Mr. Sistrom, zu präsentieren? Könnte es sein, daß ihm nun nichts weiter als ein idiotisches Gefühl plötzlicher Leere zu schaffen machte? Natürlich, das mußte es sein. Ein, zwei Momente lang schaffte er es beinahe, sich einzureden, daß er den Grund für seinen Gemütszustand gefunden hatte. Dann dämmerte ihm die weniger augenfällige Wahrheit. Die Sache hatte ihm Spaß gemacht. Genau, das war es. Dem begabten, ehrgeizigen, anspruchsvollen Mr. Carey mit seiner selbstgefälligen, ewig lächelnden Familie, seinen Brooks-Brothers-Anzügen und seinen Princeton- und HarvardAbschlüssen gefiel es, Detektiv zu spielen, gefiel es, nach nicht existierenden deutschen Soldaten zu suchen, gefiel es, mit langweiligen Menschen wie Frau Dresser, unliebsamen Kerlen wie Oberst Chrysanthos und unerwünschten Personen wie Phengaros zu tun zu haben. Und warum? Weil derlei Erfahrungen in einer Kanzlei von Wirtschaftsanwälten wertvoll waren? Weil er seine Mitmenschen liebte und neugierig auf sie war? Quatsch. Es war eher so, daß die ausgeklügelten Abwehrmechanismen seiner Jugend, die aufgeblasenen Phantasien von großen Bürosesseln und getäfelten Konferenzräumen, von verborgenem Reichtum und Macht hinter den Kulissen zu bröckeln begannen und daß, verspätet, der pickelige Jüngling zum Vorschein kam. War es nicht möglich, daß er etwas über einen toten Mann herausgefunden und so endlich begonnen hatte, etwas über sich selbst herauszufinden? 208
Er seufzte, zahlte, holte seinen Schlüssel und ging zu seinem Zimmer hinauf. Es lag im zweiten Stock auf der Vorderseite des Hotels, und nachts war das Licht, das den nicht mit Läden verschlossenen Fenstern auf der gegenüberliegenden Straßenseite entströmte, so stark, daß man fast dabei lesen konnte. Deshalb griff er nicht sofort nach dem Lichtschalter, als er die Tür aufmachte. Während er den Schlüssel aus dem Schloß zog, sah er als erstes seine Aktentasche, die offen auf dem Bett lag und deren Inhalt über die Decke verstreut war. Er trat rasch vor. Er hatte kaum zwei Schritte gemacht, da knallte die Tür hinter ihm zu. Er fuhr herum. Genau neben der Tür stand ein Mann. Er befand sich im Schatten, aber die Pistole in seiner Hand war in dem Licht, das von der anderen Straßenseite hereinfiel, deutlich sichtbar. Sie bewegte sich vorwärts, als der Mann sprach. Er sprach sehr leise, aber auch für Georges verstörte Sinne war der starke Cockney-Akzent der Stimme unverkennbar. »So ist’s recht, Freundchen«, sagte sie. »Schön vorsichtig. Nein, keine Bewegung. Legen Sie einfach die Hände in den Nacken, bleiben Sie ganz ruhig, und sehen Sie zu, daß Sie nichts abkriegen. Kapiert?«
9
S
eine Erfahrungen mit höchster Gefahr hatte George im Cockpit schwerer Bomber gesammelt, und zwar unter Umständen, auf die er durch lange Ausbildungszeiten sorgfältig vorbereitet worden war. Mit Gefahren, wie sie hinter Zimmertüren mazedonischer Hotels lauern, Gefahren, die nichts mit dem Tragen einer Uniform und organisierter Kriegführung zu tun haben, hatte er bislang keine Erfahrungen gemacht, und weder Princeton noch die Juristische Fakultät von Harvard hatte ihn in irgendeiner Weise darauf vorbereitet. Während er daher gehorsam die Hände hob und sie in den Nacken legte, wurde er sich plötzlich eines überwältigenden, von keiner Vernunft geleiteten und ganz und gar unerfüllbaren Verlangens bewußt, wegzulaufen und sich irgendwo zu verstekken. Er kämpfte einen Moment dagegen an; dann sprach der Mann weiter, und das Verlangen legte sich so rasch, wie es gekommen war. Das Blut begann George unangenehm im Kopf zu pochen. »So ist’s recht, Freundchen«, sagte die Stimme besänftigend. »Und jetzt gehen Sie zum Fenster rüber, und ziehen Sie die Läden zu. Dann machen 210
wir uns ein bißchen Licht. Immer schön langsam. Ja, Sie müssen die Hände dazu nehmen, aber achten Sie darauf, was Sie damit anstellen, sonst gibt’s einen Unfall. Und kommen Sie ja nicht auf die Idee zu schreien oder so was. Alles schön ruhig. Genau so.« George zog die Läden zu, und im selben Moment ging das Licht im Zimmer an. Er drehte sich um. Der Mann, der am Lichtschalter stand und ihn betrachtete, war Mitte Dreißig, klein und stämmig, mit dunklem, schütterem Haar. Sein Anzug war offensichtlich ein einheimisches Produkt. Er selbst war es ebenso offensichtlich nicht. Das grobknochige, stupsnasige Gesicht und die schlauen, unverschämten Augen stammten wie der Akzent aus dem Großraum London. »Schon besser, was?« sagte der Besucher. »Jetzt können wir was sehen, ohne daß die Nachbarn auf der anderen Straßenseite alles mitkriegen.« »Was zum Teufel soll das alles?« fragte George. »Und wer zum Teufel sind Sie?« »Immer mit der Ruhe«, sagte der Besucher grinsend. »Keine Namen, keine Hektik. Sie können mich Arthur nennen, wenn Sie wollen. So heiße ich zwar nicht, aber was soll’s. Mich nennen viele Arthur. Sie sind Mr. Carey, stimmt’s?« »Das müßten Sie doch wissen.« George blickte auf die übers Bett verstreuten Papiere. »Ja, stimmt. Tut mir leid, das Durcheinander, Mr. Carey. Ich wollte aufräumen, bevor Sie kommen. 211
Aber es hat nur für einen kurzen Blick gereicht. Ich habe natürlich nichts mitgehenlassen.« »Natürlich. Ich lasse auch kein Geld in Hotelzimmern.« »Na, na, wer wird denn so was Garstiges sagen!« sagte der Besucher fröhlich. »Ein Mundwerk wie eine Peitsche haben wir, was?« »Tja, wenn Sie nicht wegen Geld hier sind, weswegen sind Sie dann hier?« »Will ein bißchen plaudern, Mr. Carey. Das ist alles.« »Gehen Sie immer mit einer Pistole auf Besuch?« Der Besucher machte ein gequältes Gesicht. »Hören Sie, Freundchen, woher sollte ich denn wissen, daß Sie vernünftig sein würden, wenn Sie einen Fremden in Ihrem Zimmer finden? Mal angenommen, Sie hätten ein Riesentheater gemacht und angefangen, mit Möbeln zu schmeißen. Ich mußte Vorsichtsmaßnahmen treffen.« »Sie hätten unten nach mir fragen können.« Der Besucher grinste verschlagen. »So? Vielleicht kennen Sie sich hierzulande nicht so gut aus, Mr. Carey. Na schön« – sein Ton wurde plötzlich geschäftsmäßig –, »ich sag Ihnen, was wir machen. Sie versprechen mir, daß Sie nicht anfangen, die Direktion zusammenzuschreien oder mir sonstwie blöd zu kommen, und ich stecke die Kanone weg, okay?« »Gut. Aber ich möchte immer noch wissen, was Sie hier zu suchen haben.« 212
»Hab ich Ihnen doch gesagt. Ich will ein bißchen plaudern. Das ist alles.« »Worüber?« »Sag ich Ihnen gleich.« Arthur steckte die Pistole unter seine Jacke und zog ein Päckchen griechische Zigaretten hervor. »Was zu rauchen, Mr. Carey?« George zückte sein eigenes Päckchen. »Nein, danke. Ich bleibe bei denen hier.« »Chesterfields, wie? Lange nicht gesehen. Was dagegen, wenn ich eine probiere?« »Bedienen Sie sich.« »Danke.« Wie ein übertrieben bemühter Gastgeber gab er George mit viel Getue Feuer. Dann zündete er sich seine Zigarette an und zog genüßlich daran. »Guter Tabak«, sagte er. »Sehr gut.« George setzte sich auf die Bettkante. »Hören Sie«, sagte er ungeduldig, »was soll das Ganze eigentlich? Sie brechen in mein Zimmer ein, Sie durchwühlen meine Geschäftspapiere, bedrohen mich mit einer Pistole und sagen dann, Sie wollen nur plaudern. Schön, also plaudern wir. Und weiter?« »Was dagegen, wenn ich mich setze, Mr. Carey?« »Machen Sie, was Sie wollen, aber kommen Sie um Gottes willen endlich zur Sache.« »Ja, gleich, nun hetzen Sie mich doch nicht so.« Arthur setzte sich geziert auf einen Stuhl mit geflochtener Lehne. »Das Ganze ist sozusagen eine Privatangelegenheit, Mr. Carey«, sagte er. »Vertraulich, wenn Sie verstehen, was ich meine.« »Ich verstehe, was Sie meinen.« 213
»Die Sache muß unter uns bleiben«, beharrte er. Es war zum Wahnsinnigwerden. »Ich hab’s kapiert.« »Na gut« – er räusperte sich –, »mir ist von bestimmter Seite zugetragen worden«, sagte er mit Bedacht, »daß Sie, Mr. Carey, in der Stadt gewisse Nachforschungen vertraulicher Natur angestellt haben.« »Ja.« »Heute nachmittag hatten Sie eine Unterredung mit einer gewissen Dame, deren Namen wir unerwähnt lassen wollen.« »Sie meinen Madame Vassiotis?« »Richtig.« »Warum sagen Sie dann, daß Sie ihren Namen unerwähnt lassen wollen?« »Keine Namen, keine Hektik.« »Ach ja, richtig. Fahren Sie fort.« »Sie hat Ihnen bestimmte Informationen gegeben.« »Und wenn?« »Immer mit der Ruhe, Mr. Carey. Ihre Nachforschungen galten einem deutschen Unteroffizier namens Schirmer, richtig?« »Richtig.« »Hätten Sie etwas dagegen, mir zu sagen, warum Sie besagte Nachforschungen anstellen, Mr. Carey?« »Wenn Sie mir zuerst sagen würden, warum Sie das wissen wollen, würde ich es Ihnen vielleicht sagen.« 214
Arthur verdaute diese Antwort ein, zwei Momente lang stumm. »Und um die Sache zu vereinfachen, Arthur«, fügte George hinzu, »sage ich Ihnen, daß ich zwar Anwalt bin, aber trotzdem durchaus imstande, normales Englisch zu verstehen. Wie wäre es also, wenn Sie das Gedöns lassen und zur Sache kommen?« Arthurs niedrige Stirn furchte sich von der Anstrengung des Nachdenkens. »Wissen Sie, die Sache ist vertraulich, das ist das Problem, Mr. Carey«, sagte er unglücklich. »Das haben Sie bereits ausführlich erklärt. Aber wenn sie so vertraulich ist, daß Sie nicht darüber reden können, warum gehen Sie dann nicht nach Hause und lassen mich schlafen?« »Sagen Sie doch nicht so was, Mr. Carey. Ich gebe mir alle Mühe. Hören Sie! Wenn Sie mir erzählen würden, warum Sie sich nach diesem Menschen erkundigen, könnte ich das bestimmten Leuten sagen, die Ihnen vielleicht helfen können.« »Was für Leute?« »Leute, die Informationen liefern können.« »Sie meinen, Informationen verkaufen, nicht wahr?« »Ich habe liefern gesagt.« George musterte seinen Gast nachdenklich. »Sie sind Brite, stimmt’s, Arthur?« sagte er nach kurzem Schweigen. »Oder ist das auch vertraulich?« Arthur grinste. »Wollen Sie mich griechisch sprechen hören? Ich kann’s wie ein Einheimischer.« 215
»Na schön. Sie sind also ein Weltbürger, wie?« »Goldsmith!« sagte Arthur vollkommen unerwartet. »Wie bitte?« »Oliver Goldsmith«, wiederholte Arthur. »Der hat ein Buch geschrieben, das heißt Der Weltbürger. Haben wir in der Schule gehabt. Ein Haufen Quatsch über einen Chinesen, der nach London kommt und sich die Sehenswürdigkeiten ansieht.« »Aus welcher Ecke von London kommen Sie, Arthur?« Arthur drohte ihm affektiert mit dem Finger. »Aber, aber! Da würde ich mich ja verraten.« »Haben Sie Angst, daß ich die Vermißtenlisten des britischen Kriegsministeriums für Griechenland durchsehe und herausfinde, wer von denen, die draufstehen, aus der Ecke stammt, aus der Sie kommen?« »Raten Sie mal, Freundchen.« George lächelte. »Okay, Arthur. Passen Sie auf. Dieser Schirmer, über den ich Nachforschungen angestellt habe, hatte Anspruch auf einiges Geld, das ein entfernter Verwandter von ihm in Amerika hinterlassen hat. Er ist während des Krieges als vermißt gemeldet worden. Ich bin eigentlich hierhergekommen, um eine Bestätigung für seinen Tod zu finden, aber ich möchte auch gern wissen, ob er Kinder hat. Das ist alles. Heute habe ich erfahren, daß er tot ist.« »Von der alten Ma Vassiotis?« »Richtig. Und morgen fahre ich nach Hause.« 216
»Verstehe.« Arthur dachte angestrengt nach. »Geht’s um viel Geld?« fragte er schließlich. »Immerhin soviel, daß es sich für mich gelohnt hat, hierherzukommen.« »Und die Mieze, die Sie dabeihaben?« »Miss Kolin, meinen Sie? Sie ist Dolmetscherin.« »Verstehe.« Arthur kam zu einer Entscheidung. »Angenommen – nur mal angenommen, wohlgemerkt –, es gäbe über diesen Deutschen noch ein bißchen mehr zu erfahren? Würde es sich dann für Sie lohnen, noch ein paar Tage hierzubleiben?« »Das käme auf die Informationen an.« »Tja, angenommen, er hätte Frau und Kinder gehabt. Dann hätten die doch Anspruch auf das Geld, oder?« »Hat er denn Frau und Kinder gehabt?« »Ich sage nicht ja, und ich sage nicht nein. Aber nur mal angenommen …« »Wenn sich dafür ein eindeutiger Beweis erbringen ließe, würde ich sicherlich noch bleiben. Aber ich bleibe bestimmt nicht, um mir einen Haufen unbestätigter Gerüchte anzuhören, und ich bezahle niemandem mehr auch nur einen Cent.« »Das hat ja auch kein Mensch von Ihnen verlangt, oder?« »Bis jetzt nicht.« »Eklig mißtrauische Natur haben Sie, was?« »Ja.« Arthur nickte düster. »Kann’s Ihnen nicht verdenken. Ausgefuchste Kerle in dieser Ecke der 217
Welt. Hören Sie, wenn ich Ihnen mein heiliges Ehrenwort gebe, daß es sich für Sie lohnt, noch ein paar Tage zu bleiben, tun Sie’s dann?« »Sie verlangen eine ganze Menge, wie?« »Hören Sie, Freundchen, Sie sind doch derjenige, dem man hier einen Gefallen tut, nicht ich!« »Das behaupten Sie.« »Tja, mehr kann ich nicht tun. Hier ist mein Vorschlag. Nehmen Sie ihn an, oder lassen Sie’s bleiben. Wenn Sie die Informationen wollen, die meine Freunde haben, dann bleiben Sie hier, und tun Sie, was ich Ihnen sage.« »Und das wäre?« »Tja, als erstes sagen Sie mal kein Wort zu diesem kleinen Scheißkerl von Hauptmann, mit dem Sie gestern abend geplauscht haben. Okay?« »Weiter.« »Sie gehen einfach morgen nachmittag zwischen vier und fünf in das große Café mit den gelben Jalousien neben dem Hotel Akropolis. Setzen Sie sich hin, und trinken Sie eine Tasse Kaffee. Das ist alles. Wenn Sie keine Nachricht von mir bekommen, während Sie dort sind, ist die Sache abgeblasen. Wenn Sie eine bekommen, dann handelt es sich um eine Verabredung. Sagen Sie nichts, und halten Sie sie ein.« »Was ist mit meiner Dolmetscherin?« »Wenn sie den Mund hält, kann sie mitkommen.« »Wo würde die Verabredung stattfinden?« »Man würde Sie hinfahren.« 218
»Aha. Nur noch eine Frage. Ich bin nicht gerade ängstlich, aber ich würde doch gern ein bißchen mehr über Ihre Freunde erfahren, ehe ich mich mit ihnen treffe. Es handelt sich nicht zufällig um elasLeute?« Arthur grinste. »Stellen Sie keine Fragen, dann kriegen Sie auch keine Lügen zu hören. Sie brauchen nicht zu kommen, wenn Sie nicht wollen.« »Vielleicht. Aber ich bin nicht blöd. Sie sagen, Ihre Freunde wollen kein Geld für ihre Informationen. Okay – was wollen sie dann? Und wo wir gerade dabei sind, was wollen Sie, Arthur?« »Überhaupt nichts«, sagte Arthur fröhlich. »Jetzt mal im Ernst!« »Na gut. Vielleicht wollen die, daß Gerechtigkeit geschieht.« »Gerechtigkeit?« »Ja. Schon mal davon gehört?« »Sicher. Von Kidnapping habe ich auch schon gehört.« »Du lieber Himmel!« Arthur lachte. »Hören Sie, wenn Sie so nervös sind, Freundchen, dann vergessen Sie’s einfach.« Er stand auf. »Ich muß jetzt los. Wenn Sie kommen wollen, dann seien Sie morgen im Café, wie besprochen. Ansonsten …« Er zuckte die Achseln. »Okay. Ich denke darüber nach.« »Ja, tun Sie das. Tut mir leid, daß ich Ihnen Ihre Papiere so durcheinandergebracht hab, aber ich denke, Sie ordnen sie lieber selbst. Bis dann.« 219
»Auf Wiedersehen«, sagte George. Die Worte waren kaum ausgesprochen, da hatte Arthur das Zimmer auch schon verlassen und geräuschlos die Tür hinter sich zugezogen. In dieser Nacht waren es nicht seine Bedenken in puncto Wanzen, die George vom Schlafen abhielten. Das Café mit den gelben Jalousien befand sich in exponierter Lage an einer verkehrsreichen Ecke, und jeder, der darin saß, war von jedem Punkt des davorliegenden Platzes aus deutlich zu sehen. Es war, dachte George, der allerletzte Ort, den er mit der Abwicklung geheimer Geschäfte in Verbindung gebracht haben würde. Allerdings war er auch kein geübter Verschwörer. Der größte Aktivposten des Cafés war vermutlich gerade, daß es den Eindruck machte, als habe es nichts zu verbergen. In Arthurs Welt wurde dergleichen zweifellos sorgfältig ins Kalkül einbezogen. Miss Kolin hatte sich Georges Bericht von seinem Gespräch mit Arthur unbeteiligt angehört und seinen Entschluß, die Abreise zu verschieben, ohne Kommentar akzeptiert. Als er dann jedoch gesagt hatte, er wolle ihr angesichts der möglichen Risiken die Entscheidung, ob sie ihn begleiten wolle, selbst überlassen, hatte sie das ganz offensichtlich amüsiert. »Risiken, Mr. Carey? Was denn für Risiken?« »Woher soll ich das denn wissen?« George war gereizt. »Es ist nun mal so, daß das hier nicht gerade die gesetzestreueste Ecke der Welt ist, und die Art 220
und Weise, wie dieser Arthur sich zum gemütlichen Plausch bei mir eingeführt hat, entspricht auch nicht gerade dem guten Ton, oder?« Sie hatte die Achseln gezuckt. »Es hat seinen Zweck erfüllt.« »Was heißt denn das?« »Offen gesagt, Mr. Carey, ich halte es für einen Fehler, daß Sie dieser Vassiotis so viel Geld gegeben haben.« »Meiner Ansicht nach hatte sie es verdient.« »Ihre Ansicht, Mr. Carey, ist die eines amerikanischen Anwalts. Die Vassiotis und ihre Freunde haben ganz andere Ansichten.« »Ich verstehe. Sie glauben also, daß es sich bei Arthurs Vorschlag bloß wieder um eine Gaunerei handelt?« »Allerdings. Sie haben diesem Hauptmann hundert Dollar gegeben und der Vassiotis fünfzig. Und jetzt wollen Mr. Arthur und seine Freunde auch ein paar Dollars haben.« »Er hat betont, daß es ihm nicht um Geld geht. Das habe ich Ihnen doch gesagt.« »Haben Sie das etwa geglaubt?« »Na schön, ich bin also der Volltrottel. Aber aus irgendeinem Grund habe ich ihm tatsächlich geglaubt. Und aus irgendeinem zweifellos genauso idiotischen Grund tue ich das immer noch.« Sie hatte erneut die Achseln gezuckt. »Dann haben Sie recht damit, daß Sie die Verabredung wahrnehmen. Mal sehen, was dabei herauskommt.« 221
Das war beim Frühstück gewesen. Bis zum Mittagessen hatte sich sein Vertrauen auf seine erste Einschätzung von Arthurs Absichten vollständig verflüchtigt. Während er im Café saß und verdrießlich Kaffee schlürfte, hatte er nur einen einzigen tröstlichen Gedanken: ganz gleich, was passierte, ganz gleich, was sie taten, weder Arthur noch einer von Arthurs Freunden würde für seine Mühe auch nur einen roten Heller sehen. Mittlerweile war es nach fünf. Das Café war zu drei Vierteln leer. Niemand, der auch nur entfernt so aussah, als habe er eine Nachricht zu überbringen, hatte sich ihnen genähert. George trank seinen Kaffee aus. »Na schön, Miss Kolin«, sagte er, »wir wollen zahlen und gehen.« Sie winkte dem Kellner. Als sein Wechselgeld kam, bemerkte George einen grauen, zusammengefalteten Zettel darunter. Er steckte ihn mit den Münzen in die Tasche. Draußen auf der Straße nahm er ihn heraus und entfaltete ihn. Die Nachricht war mit Bleistift in sorgfältiger Kinderhandschrift geschrieben: Ein Wagen mit der Zulassungsnummer 19907 wird um 20.00 Uhr vor dem Kino auf Sie warten. Wenn jemand wissen will, wo Sie hinfahren, dann unternehmen Sie eine Spazierfahrt, um frische Luft zu schnappen. Der Fahrer ist okay. Stellen Sie keine Fragen. Tun Sie, was er Ihnen sagt. Ziehen Sie bequeme Schuhe an. Arthur 222
Der Wagen war ein alter, offener Renault, den George, wie er sich erinnerte, schon einmal in der Stadt gesehen hatte. Seinerzeit war er hoch mit Möbeln beladen gewesen. Nun war er leer, und der Fahrer stand mit der Mütze in der Hand daneben und hielt ihnen mit ernstem Gesicht die Tür auf. Er war ein grimmiger, sehniger alter Mann mit langem, weißem Schnurrbart und einer Haut wie Leder. Er trug ein geflicktes Hemd und eine alte, gestreifte Hose, die von einem Stück Lichtkabel in der Taille festgehalten wurde. Dem Fond des Wagens war anzusehen, daß damit erst kürzlich nicht nur Möbel, sondern auch Gemüse transportiert worden war. Der Alte raffte eine Handvoll welkender Stengel zusammen und warf sie auf die Straße, ehe er einstieg und losfuhr. Bald hatten sie die Stadt verlassen und befanden sich auf einer Straße, die laut Schild nach Vevi führte, einer Bahnstation östlich von Florina. Es wurde dunkel, und der Alte schaltete einen einzigen Scheinwerfer ein. Weil er Benzin sparen wollte, machte er auf Gefällstrecken die Zündung aus und ließ den Motor erst wieder an, kurz bevor der Wagen zum Stillstand kam. Die Batterie war fast leer, und wenn der Motor nicht lief, trübte sich der Scheinwerfer so sehr, daß er nutzlos war. Mit dem Schwinden des letzten Tageslichts wurde jedes Gefälle zu einem haarsträubenden Sturz in die Schwärze. Zum Glück hatten sie keinen Gegenverkehr, doch nach einem besonders alptraumhaften Moment protestierte George. 223
»Miss Kolin, sagen Sie ihm, er soll bergab langsamer fahren oder den Motor laufen lassen, damit wir Licht haben. Er bringt uns noch um, wenn er nicht aufpaßt.« Der Fahrer drehte sich auf dem Sitz um, als er antwortete. »Er sagt, daß der Mond gleich aufgehen wird.« »Sagen Sie ihm, er soll nach vorn schauen!« »Er sagt, es besteht keine Gefahr. Er kennt die Straße ganz genau.« »Gut, gut. Sagen Sie nichts mehr. Hauptsache, er hat die Augen auf der Straße.« Sie waren fast eine Stunde unterwegs, und der Mond begann wie versprochen aufzugehen, als sie auf eine von Norden kommende Straße stießen. Zehn Minuten später bogen sie nach links ab, und es begann ein langer, stetiger Anstieg durch die Berge. Sie kamen an ein, zwei vereinzelten Scheunen aus Stein vorbei, dann wurde die Straße immer schlechter. Bald holperte und schlitterte der Wagen über den mit losen Kieseln und Steinen übersäten Untergrund. Zwei, drei Kilometer weiter bremste er plötzlich ab, vollführte einen Schlenker, um einem achsentiefen Schlagloch auszuweichen, und kam zum Stehen. Der Schlenker und das plötzliche Abbremsen hatten George gegen Miss Kolin geworfen. Einen Moment lang dachte er, der Wagen habe eine Panne, doch während er sich von Miss Kolin löste, sah er, daß der Fahrer neben der aufgehaltenen Tür stand und ihnen bedeutete, auszusteigen. 224
»Was soll das?« fragte George. Der Alte sagte etwas. »Er sagt, wir steigen hier aus«, übersetzte Miss Kolin. George blickte sich um. Die Straße war ein schmales Band, das über einen öden, mit Dornengesträuch bewachsenen Hang verlief. Im hellen Mondlicht wirkte das Ganze vollkommen trostlos. Aus dem Gesträuch drang der unablässige Chor der Zikaden. »Sagen Sie ihm, wir bleiben hier, bis er uns dahin bringt, wo er uns hinbringen soll.« Die Übersetzung rief einen Wortschwall hervor. »Er sagt, weiter kann er uns nicht bringen. Die Straße ist hier zu Ende. Wir müssen aussteigen und zu Fuß weitergehen. Auf der Straße weiter vorn wird uns jemand erwarten. Er muß hierbleiben. So lauten seine Anweisungen.« »Er hat doch gesagt, die Straße ist hier zu Ende.« »Wenn wir mit ihm kommen, wird er uns zeigen, daß er die Wahrheit sagt.« »Möchten Sie lieber hier warten, Miss Kolin?« »Nein, danke.« Sie stiegen aus und marschierten zu Fuß los. Der Alte ging unter Erklärungen und ausladenden dramatischen Gesten etwa zwanzig Meter weit vor ihnen her, dann blieb er stehen und zeigte mit dem Finger nach vorn. Sie hatten tatsächlich das Ende der Straße oder jedenfalls das Ende dieses Abschnittes erreicht. Irgendwann hatte hier ein Brückenbogen einen Ge225
birgsbach überspannt. Nun lagen ihre Überreste in einer tiefen, mit Felsblöcken übersäten Rinne, die der Bach in den Hang eingeschnitten hatte. »Er sagt, die Deutschen haben die Straße gesprengt und der Winterregen macht die Lücke von Jahr zu Jahr größer.« »Sollen wir etwa da hinüber?« »Ja. Die Straße geht auf der anderen Seite weiter, und dort erwartet uns jemand. Er bleibt beim Wagen.« »Wie weit müssen wir denn noch auf der anderen Seite?« »Das weiß er nicht.« »Der Rat von wegen bequeme Schuhe hätte mich warnen müssen. Na ja, wo wir schon mal hier sind, können wir genausogut weitergehen.« »Wie Sie wollen.« Das Bachbett war trocken, und sie fanden ohne große Mühe einen Weg über das Geröll und zwischen den Felsblöcken hindurch. Auf der anderen Seite hinaufzuklettern war allerdings weniger leicht, da die Rinne hier tiefer war. Die Nacht war warm, und George klebte das Hemd am Körper, bis er Miss Kolin auf die Straße heraufgeholfen hatte. Sie blieben einen Moment stehen, um Atem zu holen, und blickten zurück. Der Alte winkte und ging zu seinem Wagen. »Was meinen Sie, wie lange würden wir zu Fuß von hier nach Florina brauchen, Miss Kolin?« fragte George. 226
»Ich denke, er wird warten. Schließlich ist er noch nicht bezahlt worden.« »Ich habe ihn jedenfalls nicht gemietet.« »Er wird trotzdem damit rechnen, daß Sie ihn bezahlen.« »Das werden wir noch sehen. Jetzt tun wir besser, was er sagt.« Sie marschierten los. Bis auf das Zirpen der Zikaden und das Knirschen ihrer Schritte war kein Laut zu hören. Nur einmal vernahmen sie das schwache Geklingel einer fernen Schafglocke, aber das war alles. Sie waren einige Minuten lang stetig und schweigend gegangen, als Miss Kolin leise etwas sagte. »Da vorn auf der Straße ist jemand.« »Wo? Ich kann niemanden sehen.« »Bei den Büschen, zu denen wir gleich kommen. Er ist einen Moment lang aus dem Schatten getreten, und ich habe das Mondlicht auf seinem Gesicht gesehen.« George spürte, wie sich im Weitergehen seine Wadenmuskeln verkrampften. Er hielt den Blick auf die Büsche gerichtet. Dann sah er eine Bewegung im Schatten, und ein Mann trat auf die Straße. Es war Arthur, allerdings ein ganz anderer Arthur als der, mit dem George im Hotel gesprochen hatte. Er trug Breeches, ein am Hals offenes Buschhemd und eine Schirmmütze. Die spitzen Schuhe waren durch schwere, knöchelhohe Stiefel ersetzt worden. An dem breiten Ledergürtel um seine Taille hing ein Pistolenhalfter. 227
»‘n Abend«, sagte er, als sie bei ihm anlangten. »Hallo«, sagte George. »Miss Kolin, das ist Arthur.« »Freut mich, Sie kennenzulernen, Miss.« Sein Ton war bescheiden-respektvoll, aber George konnte sehen, wie die schlauen, unverschämten Augen sie taxierten. Miss Kolin nickte. »Guten Abend.« Ihre Feindseligkeit war deutlich herauszuhören. Arthur schürzte angesichts ihres Tons die Lippen. »Sie hatten doch hoffentlich keine Schwierigkeiten, hierherzukommen, Mr. Carey?« fragte er beflissen. Plötzlich glich er einem Gastgeber, der sich bei seinen Wochenendgästen für die Unzulänglichkeit der Eisenbahnverbindungen entschuldigt. »Nicht der Rede wert. Wird der Alte auf uns warten?« »Über den machen Sie sich mal keine Gedanken. Wollen wir?« »Klar. Wohin?« »Es ist nicht weit. Ich habe ein Fahrzeug. Bloß ein Stück die Straße hoch.« Er ging voran. Sie folgten schweigend. Etwa vierhundert Meter weiter endete die Straße erneut, diesmal aufgrund eines Erdrutsches vom darüberliegenden Hang, der sie auf einer Länge von etwa fünfzig Metern verschüttet hatte. Durch den Schutt war jedoch ein schmaler Pfad gebahnt worden, und diesen stolperten sie vorsichtig entlang, bis die Straße wiederauftauchte. Das heißt, George und Miss Ko228
lin stolperten; Arthur spazierte so sicher darüber hin, als befände er sich auf einem Bürgersteig. »Nur noch ein kurzes Stück«, sagte er. Sie gingen noch etwa vierhundert Meter weiter. Hier wuchsen Tamarisken am Hang, und das Mondlicht warf ihre verzerrten Schatten über die Straße. Dann verdichteten sich die Schatten, und Arthur verlangsamte seinen Schritt. An einer Stelle, die so breit war, daß ein Fahrzeug wenden konnte, stand ein kleiner lkw mit Plane. »Da wären wir, Kinder. Sie beide hüpfen hinten rein.« Er leuchtete im Reden mit einer Taschenlampe unter die Ladeklappe. »Sie zuerst, Miss. Aber vorsichtig. Schließlich wollen wir die Nylons nicht kaputtmachen, oder? Sehen Sie den Bügel da? Stellen Sie einfach den Fuß …« Er hielt inne, als Miss Kolin mühelos auf die Ladefläche des lkws kletterte. »Ich fahre nicht zum erstenmal in einem britischen Militärlastwagen«, sagte sie kalt. »Ach tatsächlich, Miss? Sieh an, sieh an. Na bestens, wie? Übrigens«, fuhr er fort, während George ihr folgte, »werde ich die Plane zumachen müssen. Das wird dann leider ein bißchen warm, aber wir haben’s ja nicht weit.« George stöhnte. »Muß das sein?« »Leider ja. Meine Kumpel haben es nicht so gern, wenn andere Leute wissen, wo sie sind. Sie verstehen – Sicherheit.« 229
»Na hoffentlich lohnt sich das Ganze wenigstens. Schön. Fahren wir.« George und Miss Kolin setzten sich auf zwei kistenförmige Vorrichtungen auf der Ladefläche, während ihr Begleiter die Segeltuchklappen festzurrte. Als er damit fertig war, hörten sie ihn einsteigen und den Motor anlassen. Der lkw setzte sich ruckelnd in Bewegung. Arthur war ein energischer Fahrer, und der Lastwagen bockte und schwankte heftig. Drinnen war es unmöglich, sitzen zu bleiben, und sie standen gekrümmt unter der Plane und hielten sich an den Metallstreben fest. Die Luft im Laderaum mischte sich bald mit Abgasen und war fast nicht zu atmen. George bekam verschwommen mit, daß der Lastwagen mehrere Haarnadelkurven durchfuhr, und er merkte, daß es steil bergauf ging, aber er verlor rasch jedes Richtungsgefühl. Nach mehr als zehn Minuten qualvollen Unbehagens dachte er schon, er würde Arthur zum Anhalten auffordern müssen, als der Wagen nach einer weiteren Kurve auf vergleichsweise glatten Untergrund gelangte und anhielt. Gleich darauf wurde die Plane hinten losgemacht, Mondlicht und Luft strömten herein, und Arthurs Gesicht erschien an der Ladeklappe. Er grinste. »Bißchen holprig, was?« »Ja.« Sie kletterten steifgliedrig vom Wagen und fanden sich auf dem mit Steinplatten belegten Hof eines kleinen Hauses wieder. Von dem Haus selbst 230
war nur noch eine verfallene Mauer und ein Haufen Schutt übrig. »Das waren die Jungs von der elas«, erklärte Arthur. »Die anderen hatten hier einen Stützpunkt. Wir gehen hier entlang.« Das verfallene Haus stand auf der Kuppe eines mit Pinien bewachsenen Hügels. Sie folgten Arthur einen Pfad entlang, der vom Haus aus durch die Bäume abwärts führte. Sie gingen etwa fünfzig Meter weit stumm über Kiefernnadeln, dann blieb Arthur stehen. »Warten Sie eine Sekunde«, sagte er. Sie warteten, während er weiterging. Es war sehr dunkel unter den Bäumen, und es roch kräftig nach Kiefernharz. Nach der Stickigkeit auf dem Lastwagen war die sanfte, kühle Luft herrlich. Aus der Dunkelheit vor ihnen drang leises Stimmengemurmel. »Haben Sie das gehört, Miss Kolin?« »Ja. Sie haben griechisch gesprochen, aber ich konnte nicht verstehen, was. Es hat sich angehört wie der Anruf durch einen Wachposten und die Antwort darauf.« »Was halten Sie von der ganzen Geschichte?« »Ich denke, wir hätten jemandem Bescheid geben sollen, wo wir hingehen.« »Wir haben doch gar nicht gewußt, wo wir hingehen, aber ich habe mein möglichstes getan. Falls wir nicht zurück sind, wenn das Zimmermädchen morgen früh bei mir saubermacht, wird sie einen Brief an den Geschäftsführer des Hotels auf mei231
nem Schreibtisch finden. Er enthält die Zulassungsnummer des Wagens, der uns hergebracht hat, und eine Erklärung für den Hauptmann.« »Sehr klug, Mr. Carey. Mir ist etwas aufgefallen …« Sie hielt inne. »Er kommt zurück.« Sie hatte ein sehr scharfes Gehör. Mehrere Sekunden vergingen, ehe George das leise Geraschel sich nähernder Schritte ausmachen konnte. Aus der Dunkelheit tauchte Arthur auf. »Okay«, sagte er. »Auf geht’s. Gleich werden wir’s auch ein bißchen heller haben.« Sie folgten ihm den Pfad hinab. Mittlerweile war er nicht mehr so steil. Dann, als er flach wurde, knipste Arthur eine Taschenlampe an, und George sah den Wachposten, der mit einem Gewehr unter dem Arm an einem Baum lehnte. Er war ein dünner Mann mittleren Alters in khakifarbener Drillichhose und abgerissenem Unterhemd. Er beobachtete sie scharf, als sie vorbeigingen. Sie hatten das Pinienwäldchen verlassen, und vor ihnen lag ein Haus. »Da unten war mal ein Dorf«, sagte Arthur. »Haben welche von den Jungs ausradiert. Alles platt bis auf unsere Unterkunft, und die haben wir ganz schön aufmöbeln müssen. War völlig verfallen. Hat irgendeinem armen Schwein von Abweichler gehört, dem sie die Kehle durchgeschnitten haben.« Nun war er wieder der Gastgeber, der stolz auf sein Haus war und wollte, daß seine Wochenendgäste seine Begeisterung teilten. 232
Es war ein zweistöckiges Gebäude mit verputzten Wänden und breiten, überstehenden Traufen. Die Fensterläden waren alle geschlossen. An der Tür stand ein weiterer Wachposten. Arthur sagte etwas zu ihm, und der Mann leuchtete ihnen mit einer Lampe ins Gesicht, ehe er Arthur zunickte und sie weiterwinkte. Arthur machte die Tür auf, und sie folgten ihm ins Haus. Sie gelangten in einen langen schmalen Flur mit einer Treppe und mehreren Türen. An einem Haken neben der Eingangstür hing eine Petroleumlampe. An der Decke war kein Putz mehr, an den Wänden nur noch sehr wenig. Das Ganze sah nach dem aus, was es war: ein durch eine Bombenexplosion oder einen Artillerietreffer beschädigtes und notdürftig repariertes Haus. »Da wären wir«, sagte Arthur; »Hauptquartier, Kasino und Vorzimmer in einem.« Er hatte die Tür zu einem Raum geöffnet, bei dem es sich offenbar um ein Eßzimmer handelte. Eine rohe Holzplatte auf Böcken wurde von Bänken flankiert. Auf der Platte waren Flaschen und Gläser, ein Häuflein Messer und Gabeln und eine zweite Petroleumlampe. In der Zimmerecke, auf dem Boden, standen leere Flaschen. »Niemand zu Hause«, sagte Arthur. »Ich könnte mir denken, daß Sie einen Schluck vertragen könnten, wie? Bedienen Sie sich. Das Örtchen ist gleich rechts übern Flur, falls jemand Bedarf hat. Ich bin gleich wieder da.« 233
Er ging hinaus und schloß die Tür hinter sich. Sie hörten ihn die Treppe hinaufpoltern. George inspizierte die Flaschen. Es gab griechischen Wein und Zwetschgenschnaps. Er sah Miss Kolin an. »Etwas zu trinken, Miss Kolin?« »Ja, bitte.« Er goß zwei Schnäpse ein. Sie hob ihr Glas, leerte es in einem Zug und hielt es ihm zum Nachfüllen hin. Er füllte es. »Ziemlich starkes Zeug, wie?« sagte er vorsichtig. »Das will ich hoffen.« »Tja, ich habe nicht damit gerechnet, zu so etwas wie einem militärischen Hauptquartier gebracht zu werden. Oder wofür halten Sie das?« »Ich habe da so eine Ahnung.« Sie zündete sich eine Zigarette an. »Sie erinnern sich doch noch an den Bankraub in Saloniki vor vier Tagen?« »Ja, ich erinnere mich. Wieso?« »Am nächsten Tag habe ich im Zug nach Florina den Zeitungsbericht darüber gelesen. Er enthielt eine genaue Beschreibung des Lastwagens, der dabei benutzt wurde.« »Und weiter?« »Es ist der Lastwagen, mit dem wir heute abend hierhergekommen sind.« »Was? Sie machen wohl Witze.« »Nein.« Sie nahm einen Schluck Schnaps. »Dann irren Sie sich. Von diesen britischen Ar234
meelastwagen muß es in Griechenland schließlich noch Dutzende, vielleicht Hunderte geben.« »Aber nicht welche mit Vorrichtungen für falsche Nummernschilder.« »Wovon reden Sie?« »Ich habe die Dinger gesehen, als er mir beim Einsteigen mit der Taschenlampe geleuchtet hat. Die falschen Nummernschilder lagen hinten im Lastwagen auf dem Boden. Als wir anhielten, habe ich sie so hingelegt, daß beim Öffnen der Plane das Mondlicht darauf fiel. Was ich von der Nummer lesen konnte, stimmt mit dem überein, was in der Zeitung stand.« »Sind Sie sich absolut sicher?« »Mit gefällt das genausowenig wie Ihnen, Mr. Carey.« Aber George fiel etwas ein, was Oberst Chrysanthos gesagt hatte: ›Sie sind gerissen und gefährlich, und die Polizei bekommt sie nicht zu fassen.‹ »Wenn diese Leute auch nur den leisesten Verdacht haben, daß wir etwas wissen …«, begann er. »Ja. Das könnte höchst unangenehm werden.« Sie hob ihr Glas zu einem weiteren Schluck und hielt dann inne. Man hörte Schritte die Treppe herunterkommen. George trank rasch seinen Schnaps aus und holte eine Zigarette hervor. Der gelehrte Richter, dessen Sekretär er gewesen war, hatte einmal gesagt, es sei unmöglich, über viele Jahre in der Rechtspflege tätig zu sein, ohne zu lernen, daß kein Fall, ganz gleich, 235
wie trocken er sich darstelle, gänzlich gegen die bedauerliche Tendenz der Wirklichkeit gefeit sei, Form und Ausmaße eines Melodramas anzunehmen. Damals hatte George höflich gelächelt und sich gefragt, ob er, wenn er einmal Richter war, wohl auch dazu neigen würde, solche halbgaren Verallgemeinerungen von sich zu geben. Jetzt fiel ihm das wieder ein. Die Tür ging auf. Der Mann, der den Raum betrat, war blond, mit breiter Brust, kräftigen Schultern und großen Händen. Er mochte zwischen dreißig und vierzig Jahre alt sein. Dank den kräftigen Wangen, dem entschlossenen Mund und den kühlen, wachsamen Augen wirkte das Gesicht markant. Er hielt sich sehr gerade, und das Buschhemd, das er trug, spannte sich über seiner Brust. Mit dem Revolvergürtel um die Taille sah er fast so aus, als trüge er Uniform. Sein Blick ging rasch von George zu Miss Kolin, während Arthur, der ihm gefolgt war, die Tür schloß und dann vorwärts hastete. »‘tschuldigung, daß ich Sie hab warten lassen«, sagte er. »Mr. Carey, das ist mein Chef. Er kann ein bißchen Englisch, ich hab’s ihm beigebracht, aber gehen Sie mit langen Wörtern sparsam um. Er weiß, wer Sie sind.« Der Neuankömmling schlug die Hacken zusammen und verbeugte sich kaum merklich. »Schirmer«, sagte er knapp. »Franz Schirmer. Ich glaube, Sie wollten mich sprechen.«
10
D
ie deutschen Streitkräfte, die sich im Oktober 1944 aus Griechenland zurückzogen, unterschieden sich an Zahl und Qualität sehr stark von den Kampftruppen, die etwas mehr als drei Jahre zuvor in das Land einmarschiert waren. Hatte die Zwölfte Armee des Generals von List mit ihren Elite-Panzerdivisionen und ihren militärischen Erfolgen während des Polenfeldzuges noch die unwiderstehliche Stärke der Wehrmacht verkörpert, so verkörperten die Besatzungskräfte, die sich nun auf den Nachhauseweg machten, solange ihnen noch ein Weg nach Hause offenstand, nicht weniger eindrucksvoll deren endgültige Erschöpfung. Die früher geübte Praxis, Fronttruppen Erholung zu gewähren, indem man sie zeitweise als Besatzungstruppen einsetzte, galt längst als Luxus und war aufgegeben worden. Die Nachschubdivision, die 1944 im Abschnitt Saloniki in Garnison lag, bestand zum größten Teil aus Männern, die aus dem einen oder anderen Grund als nicht kampfdiensttauglich galten: entkräftete Überlebende von der russischen Front, die Älteren, die Schwächlinge und diejenigen, die auf237
grund von Krankheit oder Verwundung nur beschränkt einsatzfähig waren. Für Feldwebel Schirmer hatte der Krieg an jenem Tag in Italien geendet, an dem er auf Befehl eines unerfahrenen Offiziers über bewaldetem Gelände abgesprungen war. Die soldatische Kameradschaft in einem Elitekorps hat so manchem Mann viel bedeutet. Feldwebel Schirmer hatte sie etwas vermittelt, was seine Erziehung ihm stets vorenthalten hatte – seinen Glauben an sich selbst als Mann. Die dem Unfall folgenden Monate im Lazarett, das Untersuchungsgericht, das Erholungsheim, die medizinischen Untersuchungen und seine Abkommandierung nach Griechenland waren das bittere Nachspiel der einzigen Zeit seines Lebens gewesen, in der er nach eigenem Empfinden so etwas wie Glück erlebt hatte. Oft hatte er sich gewünscht, der Ast, der ihm die Hüfte gebrochen hatte, hätte ihm die Brust durchbohrt und ihn getötet. Wäre das Vierundneunzigste Garnisonsregiment in Saloniki eine Einheit gewesen, auf die ein Soldat wie Feldwebel Schirmer, und sei es nur widerwillig, hätte stolz sein können, wäre zweifellos vieles ganz anders gekommen. Aber es war keine Einheit, auf die ein Mann mit Selbstachtung stolz sein konnte. Die Offiziere waren (mit wenigen Ausnahmen wie Leutnant Leubner) nicht zu gebrauchen, Offiziere von der Sorte, die ein Kommandant möglichst rasch wieder los wird und die den größten Teil ihrer Dienstzeit in Depots verbringt und auf ihre Verset238
zung wartet. Die Unteroffiziere waren (wiederum mit wenigen Ausnahmen) unfähig und korrupt. Die Mannschaften waren ein unzufriedener, verkommener Haufen von alten Soldaten, chronisch Kranken, Dummköpfen und Kleinkriminellen. Als der Feldwebel zu der Truppe gestoßen war, hatte man ihm gleich anfangs befohlen, sein Fallschirmjägerabzeichen zu entfernen. Das war seine Einführung in das Regiment gewesen, und im Laufe der Zeit hatte er gelernt, sich mit seiner Verachtung dafür zu trösten und moralisch aufzubauen. Der deutsche Rückzug aus Thrakien war eine schändliche Angelegenheit. Die für die Stabsarbeit zuständigen Etappenhengste hatten wenig Erfahrungen mit der Bewegung von Truppen im Feld und noch weniger darin, sie auf dem Marsch mit Nachschub zu versorgen. Einheiten wie das Vierundneunzigste Besatzungsregiment – und davon gab es mehr als eine – konnten kaum etwas tun, um diese Unzulänglichkeiten wettzumachen. Die Gewißheit, daß britische Kommandotruppen rasch von Süden her vorstießen, um den Rückzug zu stören, und daß bereits Gruppen von andartes angriffbereit in den Flanken lauerten, mag die Absetzbewegung beschleunigt haben, trug jedoch auch zur allgemeinen Verwirrung bei. Es waren somit eher Verkehrsprobleme als Phengaros’ brillante Taktik, die zu dem Überfall auf Feldwebel Schirmers Konvoi führten. Schirmer gehörte zu den letzten seines Re239
giments, die sich aus dem Abschnitt Saloniki zurückzogen. Mochte er sein Regiment auch verachten, so hinderte ihn das nicht daran, nach besten Kräften dafür zu sorgen, daß der Teil davon, den er befehligte, seine Befehle genauestens ausführte. Als Waffenausbilder hatte er keinen Zug zu führen und wurde dem Befehl eines Offiziers der Pioniere unterstellt, der eine besondere Einheit der Nachhut führte. Dieser Offizier war Leutnant Leubner, und man hatte ihn dazu abkommandiert, im Zuge der Absetzbewegung eine Reihe wichtiger Sprengungen durchzuführen. Der Feldwebel schätzte Leutnant Leubner, der in Italien eine Hand verloren hatte; er hatte das Gefühl, daß der Leutnant ihn verstand. Gemeinsam teilten sie den Trupp in zwei Abteilungen auf, deren eine dem Befehl des Feldwebels unterstellt wurde. Er trieb sich und seine Männer unbarmherzig an, und es gelang ihm, seinen Teil der Arbeit gemäß den Zeitvorgaben des Rückzugsbefehls zu erledigen. Während der Nacht des 23. Oktober belud seine Abteilung die lkws, die sie mitnehmen sollten, und verließ Saloniki. Alles verlief genau nach Plan. Seine Befehle lauteten, durch Vodena zu fahren, das Treibstofflager an der Straße nach Apsalos zu zerstören und dann bei der Brücke von Vodena zu Leutnant Leubner zu stoßen. Man war davon ausgegangen, daß die Verlegung der Sprengladungen für die Brücke die gemeinsamen Kräfte beider Abteilungen erforderte, wenn sie nach Zeitplan erfol240
gen sollte. Als Zeitpunkt der Wiedervereinigung beider Abteilungen war Sonnenaufgang festgesetzt worden. Beim ersten Morgenlicht jenes Tages befand sich Feldwebel Schirmer bei Iannitsa, auf etwas mehr als halber Strecke nach Vodena, und versuchte verzweifelt, sich an einer Kolonne von Panzertransportern vorbei die Durchfahrt zu erzwingen. Die Transporter hätten schon achtzig Kilometer weiter sein müssen, waren ihrerseits aber von einer Kolonne von Pferdefuhrwerken aufgehalten worden, die mit zwölf Stunden Verspätung von der Straße nach Naoussa gekommen waren. Der Feldwebel lag zwei Stunden hinter dem Zeitplan, als er durch Vodena kam. Wäre er pünktlich gewesen, hätten Phengaros’ Leute ihn um eine Stunde verfehlt. In der Nacht hatte es geregnet, und mit aufsteigender Sonne wurde die Luft feucht und stickig; außerdem hatte der Feldwebel seit dreißig Stunden nicht geschlafen. Dennoch fiel es ihm nicht schwer, wach zu bleiben, während er neben dem Fahrer des vorderen lkw saß. Die Maschinenpistole auf seinen Knien mahnte ihn zur notwendigen Wachsamkeit, und der dumpfe Schmerz in seiner überanstrengten Hüfte verhinderte, daß er eine allzu bequeme Sitzposition einnahm. Aber seine Erschöpfung zeigte sich auf andere Weise. Sein Blick, der ein Stück Hang über der Straßenbiegung absuchte, zu der sie hinauffuhren, verschwamm immer wieder, so daß er den Kopf schütteln mußte, ehe er wieder richtig se241
hen konnte; und seine Gedanken schweiften mit träumerischer Unlogik von den Problemen der vorliegenden Aufgabe und der möglicherweise prekären Lage von Leutnant Leubners Abteilung zu dem Angriff auf Eben-Emael, zu einem Mädchen, das er in Hannover gehabt hatte, und dann, voller Unbehagen, zu dem Moment in Saloniki vor achtundvierzig Stunden, als er einer in Tränen aufgelösten Kyra Lebewohl gesagt hatte. Weinende Frauen bereiteten dem Feldwebel stets Unbehagen. Nicht daß er, was Frauen anging, sentimental gewesen wäre; es war schlicht so, daß der Laut des Weinens jedesmal Unglück für ihn selbst zu verheißen schien. So etwa damals in Belgien, als die alte Frau geheult hatte, weil sie ihre Kuh getötet hatten. Zwei Tage später war er verwundet worden. Oder damals auf Kreta, als es zur Aufrechterhaltung der Disziplin erforderlich gewesen war, ein paar verheiratete Männer an die Wand zu stellen und zu erschießen. Einen Monat später, in Benghasi, war er an Dysenterie erkrankt. Oder damals in Italien, als ein paar von den Burschen sich mit einem jungen Mädchen vergnügt hatten. Zwei Tage vor seinem fatalen Absprung war das gewesen. Natürlich würde er sich niemals zu einem derart unvernünftigen und kindischen Aberglauben bekennen; aber falls er jemals heiratete, dann ein Mädchen, das niemals weinte, und wenn er sie nach Strich und Faden verprügelte. Sie konnte schreien, soviel sie wollte, sie konnte versuchen, ihn umzu242
bringen, wenn sie wollte und sich traute, aber sie sollte um Gottes willen nicht weinen. Das brachte Unglück. Es war das linke Vorderrad des lkw, das die Mine auslöste. Der Feldwebel spürte für den Bruchteil einer Sekunde, wie es den Wagen hochriß, ehe sein Kopf gegen das Dach der Fahrerkabine schlug. Dann war etwas Feuchtes in seinem Gesicht und ein dünnes, hohes Singen in seinen Ohren. Er lag mit dem Gesicht nach unten, und bis auf eine blinkende Lichtscheibe war alles dunkel. Etwas versetzte ihm einen heftigen Schlag in die Seite, aber er war zu müde, um aufzuschreien oder auch nur Schmerz zu empfinden. Er konnte Männerstimmen hören und wußte, daß sie Griechisch sprachen. Dann verklangen die Stimmen, und er begann durch die Luft auf die Bäume unten zuzustürzen und wehrte sich gegen die grausamen Äste, indem er die Knöchel aneinanderpreßte und die Füße durchstreckte, wie man es ihm auf der Fallschirmspringerschule beigebracht hatte. Die Bäume verschlangen ihn mit einem Seufzer, der von seinen eigenen Lippen zu kommen schien. Als er zum zweitenmal das Bewußtsein wiedererlangte, war anscheinend nichts Feuchtes mehr in seinem Gesicht, aber irgend etwas straffte dessen Haut. Die Lichtscheibe war immer noch da, aber sie blinkte nicht mehr. Jetzt wurde er gewahr, daß er die Arme über den Kopf gestreckt hatte, als wollte er einen Kopfsprung machen. Er spürte sein Herz 243
klopfen, und es trieb ihm den Schmerz bis in die Haarspitzen. Seine Beine fühlten sich warm an. Er bewegte die Finger, und sie gruben sich in Sand und Kiesel. Das Bewußtsein begann zurückzufluten. Irgend etwas stimmte nicht mit seinen Augenlidern, und er konnte nicht richtig sehen, aber er blickte weiter auf die Lichtscheibe und bewegte leicht den Kopf. Plötzlich ging ihm auf, daß die Scheibe ein kleiner, weißer Kiesel war, der auf einem Flecken Sonnenlicht lag. Dann fiel ihm ein, daß er sich in Griechenland befand und in einem lkw gesessen hatte, der auf eine Mine gefahren war. Mit Mühe wälzte er sich auf die Seite. Die Wucht der Explosion hatte den lkw umgestürzt und den Boden zu Kleinholz zerschmettert, aber die Hauptdruckwelle hatte die Fahrerkabine verfehlt. Der Feldwebel lag in einem ölgetränkten Durcheinander aus leeren Benzinkanistern und Schutt, das Gesicht in einer Pfütze von Blut, das aus seiner Kopfverletzung geströmt war. Mittlerweile war das Blut auf seinen Wangen und in seinen Augen geronnen. Das Wrack des lkws ragte über ihm auf und beschattete ihn fast völlig; nur seine Beine lagen in der Sonne. Bis auf das Zirpen der Zikaden und ein leises Tropfen von dem lkw war kein Laut zu hören. Er begann Arme und Beine zu bewegen. Er wußte zwar, daß er am Kopf verletzt war, kannte aber das Ausmaß seiner anderen Verletzungen nicht. Seine größte Sorge war, daß er sich erneut die Hüfte 244
gebrochen hatte. Für mehrere lange Sekunden konnte er an nichts anderes als das Röntgenbild denken, das der Chirurg ihm gezeigt hatte, das Bild von dem dicken Metallstift, den man ihm eingesetzt hatte, um den Hals des beschädigten Knochens zu stabilisieren. Wenn dieser Stift herausgebrochen war, war er erledigt. Er bewegte vorsichtig das Bein. Die Hüfte tat sehr weh, aber sie hatte auch schon vor der Explosion der Mine weh getan. Wenn er erschöpft war, tat sie immer weh. Er wurde kühner, zog das Bein an und setzte sich langsam auf. In diesem Augenblick bemerkte er, daß seine gesamte Ausrüstung verschwunden war. Er erinnerte sich an die griechischen Stimmen und an den Schlag, den er verspürt hatte, und ihm begann langsam aufzugehen, was passiert war. Sein Kopf pochte fürchterlich, aber die Hüfte schien in Ordnung zu sein. Er quälte sich auf die Knie. Gleich darauf mußte er sich übergeben. Die Anstrengung erschöpfte ihn, und er legte sich wieder hin, um auszuruhen. Ihm war klar, daß die Kopfverletzung möglicherweise schwerwiegend war. Dabei beunruhigte ihn weniger das viele Blut – er hatte schon viele Verletzungen der Kopfhaut gesehen und wußte, daß sie kräftig bluteten –, sondern die Möglichkeit einer inneren Blutung aufgrund der Gehirnerschütterung. Ob eine solche vorlag, würde er allerdings bald genug wissen, und er konnte ohnehin nichts daran ändern. Seine unmittelbare Aufgabe bestand darin, festzustellen, was mit dem Rest 245
der Abteilung passiert war, und nach Möglichkeit Schritte zu unternehmen, um die Situation zu meistern. Er bemühte sich erneut, auf die Beine zu kommen, und nach einer Weile gelang es ihm. Er blickte sich um. Seine Uhr war verschwunden, aber der Sonnenstand sagte ihm, daß seit der Explosion weniger als eine Stunde verstrichen war. Das Wrack des lkws lag quer über der Straße und blokkierte sie vollständig. Die Leiche des Fahrers war nirgendwo zu sehen. Er trat vorsichtig in die Straßenmitte und blickte die Steigung hinunter. Der zweite lkw hatte sich hundert Meter weiter schräg gestellt und war zum Stehen gekommen. Daneben lagen drei deutsche Soldaten auf der Straße. Dahinter konnte er eben noch die Plane der Fahrerkabine ausmachen, die zu dem dritten lkw gehörte. Langsam setzte er sich hügelab in Marsch, wobei er dann und wann stehenblieb, um wieder zu Kräften zu kommen. Die Sonne brannte, und die Fliegen umschwirrten seinen Kopf. Die Entfernung bis zum zweiten lkw erschien ihm gewaltig. Er hatte das Gefühl, sich gleich wieder übergeben zu müssen, und legte sich in den Schatten eines Busches, bis es ihm wieder besserging. Dann marschierte er weiter. Die Soldaten auf der Straße waren mausetot. Einem von ihnen, der so aussah, als wäre er zunächst durch eine Granatenexplosion verwundet worden, hatte man die Kehle durchgeschnitten. Sämtliche Waffen und Ausrüstungsgegenstände fehlten, aber 246
der Inhalt zweier Provianttaschen war auf dem Boden verstreut worden. Der lkw wies ein paar Einschußlöcher auf und war von Granatenexplosionen zerschrammt, schien ansonsten aber in Ordnung zu sein. Ein paar verrückte Momente lang erwog er, den Wagen zu wenden und nach Vodena zurückzufahren, aber die Straße war zum Wenden nicht breit genug, und selbst wenn sie es gewesen wäre, hätte er nicht die Kraft dazu gehabt. Er konnte den dritten lkw jetzt deutlich sehen und bei ihm weitere Tote. Einer hing mit grotesk baumelnden Armen seitlich heraus. Es konnte durchaus sein, daß seine ganze Abteilung gefallen war. Jedenfalls hatte es wenig Sinn, weiter nachzuforschen. Militärisch gesehen, hatte die Abteilung jedenfalls zu existieren aufgehört. Demzufolge durfte er sich um seine eigene Sicherheit kümmern. Er lehnte sich gegen den lkw, um erneut auszuruhen, und sah sich zufällig im Seitenspiegel. Überall – in seinem Haar, in seinen Augen, in seinem Gesicht – klebte geronnenes Blut; sein ganzer Kopf wirkte so unmenschlich, als wäre er zu Brei zerschmettert worden; es war ohne weiteres nachzuvollziehen, warum die andartes ihn für tot gehalten hatten. Sein Herz machte vor Angst einen plötzlichen Sprung und jagte ihm einen stechenden Schmerz in den Schädel. Die andartes waren zunächst einmal gegangen, aber es war mehr als wahrscheinlich, daß sie mit Fahrern für die beiden noch funktionieren247
den lkws zurückkommen würden. Es war sogar möglich, daß sie eine Wache zurückgelassen hatten und daß er in ebendiesem Moment vom Hang aus aufs Korn genommen wurde. Im selben Augenblick aber sagte ihm die Vernunft, daß wahrscheinlich doch keine Wache da war; und selbst wenn es eine gab, so hätte der Mann inzwischen reichlich Zeit zum Schießen gehabt, falls er gewollt hätte. Dennoch war es hier gefährlich. Ob die andartes zurückkehrten oder nicht, es würde nicht sehr lange dauern, bis die Bewohner der Umgegend sich zum Schauplatz wagen würden. Es gab immer noch vieles zu erbeuten: die Stiefel der Toten, die Benzinkanister, die lkw-Reifen, die Werkzeugkästen. Die andartes hatten kaum etwas mitgenommen. Er mußte sich rasch davonmachen. Ein, zwei Momente lang überlegte er, ob er versuchen sollte, zu Fuß das Treibstoffdepot zu erreichen, aber diesen Gedanken gab er rasch wieder auf. Selbst wenn er genug Kraft gehabt hätte, diese Entfernung zu bewältigen, war es so gut wie unmöglich, am hellichten Tag dorthin zu gelangen, ohne von den Einwohnern der Umgegend gesehen zu werden. In diesem Gebiet und zu dieser Zeit konnte ein einzelner deutscher Soldat, der verwundet und unbewaffnet war, von Glück reden, wenn er nicht gefoltert wurde, ehe die Frauen ihn steinigten. Die Straße nach Vodena zurück war noch gefährlicher. Er mußte somit auf die Dunkelheit warten; das gab ihm vielleicht auch Zeit, wieder zu Kräften zu 248
kommen; was er unmittelbar zu tun hatte, war also völlig klar; er mußte Wasser, etwas zu essen und ein Versteck finden. Später, falls er dann noch lebte, würde er entscheiden, was er als nächstes unternehmen würde. Die Feldflaschen waren allesamt verschwunden. Er zerrte einen leeren Benzinkanister aus dem lkw und ließ das Kühlwasser hineinlaufen. Als der Kanister halb voll war, wurde ihm bewußt, daß er mehr gar nicht tragen konnte. Es war noch reichlich Wasser im Kühler, und es war mittlerweile nicht mehr so heiß, daß man es nicht trinken konnte. Als er seinen Durst gelöscht hatte, tränkte er sein Taschentuch mit Wasser und wischte sich das Blut von Gesicht und Augen. Seine Kopfverletzung rührte er nicht an, damit sie nicht wieder zu bluten anfing. Als nächstes sah er sich nach etwas zu essen um. Die andartes hatten den Sack mit den Mundvorräten mitgenommen, aber er kannte die Gewohnheiten von Armeelastwagenfahrern und sah im Werkzeugkasten nach. Dort fand er zwei eiserne Rationen, ein paar Riegel Schokolade und den Mantel des Fahrers. Er steckte die Rationen und die Schokolade in die Manteltaschen und warf ihn sich über die Schulter. Dann nahm er den Kanister mit Wasser in die Hand und hinkte langsam wieder die Straße hinauf. Was sein Versteck anging, hatte er sich bereits entschieden. Er erinnerte sich, wie harmlos der Hang über der Straße gewirkt hatte, als er mit dem 249
lkws die Steigung heraufgekommen war, und wie gut er die Angreifer verborgen hatte. Ihn würde er ebenso verbergen. Er verließ die Straße und kletterte bergan. Er brauchte eine halbe Stunde, um hundert Meter weit zu klettern. Einmal blieb er, zu erschöpft, um sich zu rühren, fast zehn Minuten liegen, ehe er sich aufraffen konnte, mühevoll weiterzukriechen. Der Hang war sehr steil, und er mußte den schweren Benzinkanister hinter sich herziehen. Mehrmals überlegte er, ihn zurückzulassen und später wiederzukommen, um ihn zu holen, aber irgendein Instinkt mahnte ihn, daß Wasser im Augenblick wichtiger für ihn war, als etwas zu essen, und daß er nicht riskieren konnte, es zu verlieren. Er kroch weiter, bis er schließlich nicht mehr konnte und eine Zeitlang hilflos würgend dalag, außerstande, auch nur aus der Sonne zu kriechen. Auf seinem Gesicht ließen sich Fliegen nieder, ohne daß er sie hätte verscheuchen können. Nach einer Weile schlug er, von den Fliegen gequält, die Augen auf, um festzustellen, wo er war. Etwa einen Meter von ihm entfernt befand sich eine Gruppe von Dornensträuchern, zwischen denen eine Tamariske stand. Mit ungeheurer Anstrengung zerrte er den Wasserkanister in den Baumschatten und kroch dann mitsamt dem Mantel zwischen die Dornensträucher. Als letztes sah er irgendwo jenseits des Hügels, in Richtung Treibstofflager, eine dichte schwarze Rauchsäule aufsteigen. Dann ging ihm auf, 250
daß man ihm zumindest eine seiner Entscheidungen abgenommen hatte, und er legte sich mit dem Gesicht nach unten auf den Mantel und schlief ein. Es war dunkel, als er erwachte. Der Schmerz in seinem Kopf war qualvoll, und obwohl die Nacht warm war, zitterte er heftig. Er kroch zu dem Wasserkanister und zog ihn näher an sein Lager. Er wußte jetzt, daß er zu allem Übel auch noch einen Malariaanfall hatte, der seine Widerstandskräfte gegen eine mögliche Infektion der Kopfverletzung verringerte. Es könnte sein, daß er sterben würde; aber dieses Wissen beunruhigte ihn nicht. Er würde um sein Leben kämpfen, solange er dazu imstande war. Falls er unterlag, machte das auch nichts. Er hatte sein Bestes getan. Er lag fast vier Tage lang zwischen den Dornensträuchern. Die meiste Zeit befand er sich in einer Art Dämmerzustand, in dem er zwar verschwommen den Wechsel zwischen Dunkelheit und Licht, sonst aber kaum etwas außerhalb seiner selbst wahrnahm. Zuweilen war ihm in einem Winkel seines Bewußtseins klar, daß er delirierte und mit Leuten sprach, die gar nicht da waren; dann wieder verlor er sich in dem immer wiederkehrenden Alptraum des Sturzes durch die Bäume, der offenbar keine zwei Male auf gleiche Weise endete. Als er am dritten Tag aus tiefem Schlaf erwachte, stellte er fest, daß der Schmerz im Kopf nachgelassen hatte, daß er klar denken konnte und Hunger verspürte. Er aß einen Teil einer eisernen Ration 251
und inspizierte dann seinen Wasservorrat. Der Kanister war fast leer, doch für diesen Tag reichte es noch. Zum erstenmal, seit er den Hang hinaufgekrochen war, stand er auf. Er fühlte sich fürchterlich schwach, aber er zwang sich, sein Versteck zu verlassen und auf die Straße hinunterzublicken. Die zwei noch fahrtüchtigen lkws waren verschwunden, der zerstörte war zu Schirmers Erstaunen angezündet worden und ausgebrannt. Das verkohlte Wrack wirkte wie ein schwarzer Fleck auf dem Kalksteinschotter der Straße. Er hatte von diesem Freudenfeuer weder etwas gesehen noch gehört. Er ging in sein Versteck zurück und schlief wieder. Einmal, während der Nacht, erwachte er vom Brummen vieler Flugzeuge über ihm und wußte, daß das letzte Stadium des Rückzugs angebrochen war. Die Luftwaffe räumte den Flugplatz von Jidha. Er lag eine Zeitlang lauschend wach und kam sich sehr einsam vor, doch irgendwann schlief er wieder ein. Am nächsten Morgen fühlte er sich kräftiger und konnte sich auf die Suche nach Wasser machen. Er hielt sich von der Straße fern und fand etwa achthundert Meter bergab einen Bach, wo er sich wusch, nachdem er seine Trinkwasservorräte aufgefüllt hatte. Um an den Bach zu kommen, hatte er einen terrassenförmig angelegten Weinberg durchquert, und auf dem Rückweg lief er beinahe einem Mann und einer Frau, die dort arbeiteten, in die Arme. Er sah 252
sie jedoch gerade noch rechtzeitig, zog sich zurück und umging den Weinberg. Dabei kam er in die Nähe der Straße und fand die sieben frischen Gräber, die jeweils ein Stahlhelm und ein Steinhaufen zierte. An einem in den Boden getriebenen Pfosten war ein Zettel mit Nummer und Namen der hier Begrabenen befestigt, der darum bat, die Ruhestätte nicht zu stören. Er war von Leutnant Leubner unterschrieben. Feldwebel Schirmer war seltsam bewegt. Es war ihm kein einziges Mal in den Sinn gekommen, daß der Leutnant Zeit haben könnte, sich für das Schicksal der vermißten Abteilung zu interessieren. Zweifellos war er es gewesen, der den zerstörten lkw verbrannt und angeordnet hatte, die beiden anderen wegzufahren. Ein guter Offizier, der Leutnant. Er betrachtete erneut den Zettel. Sieben Tote. Das hieß, daß drei, darunter auch der fehlende Fahrer, gefangengenommen worden oder entkommen waren. Das Papier war bereits etwas zerfleddert und hing wahrscheinlich schon seit über zwei Tagen hier. Es war bitter zu wissen, daß hilfreiche Hände so nahe gewesen waren, während er versteckt und besinnungslos zwischen den Dornensträuchern gelegen hatte. Zum erstenmal seit der Explosion der Mine beschlich ihn Verzweiflung. Er schob sie ärgerlich von sich. Was hatte er für einen Grund zu verzweifeln? Etwa weil er nicht imstande war, wieder zum Vierundneunzigsten Besat253
zungsregiment zu stoßen, das mit eingeklemmtem Schwanz Richtung Vaterland stolperte? Weil niemand da war, den er um Befehle bitten konnte? Wie die Ausbilder in der Fallschirmspringerschule gelacht hätten! Er betrachtete erneut die Gräber. Er hatte weder Mütze noch Helm und konnte deshalb nicht salutieren. Er nahm Habachtstellung ein und schlug respektvoll die Hacken zusammen. Dann nahm er seinen Benzinkanister auf und begab sich zu dem Hang und den Dornensträuchern zurück. Nachdem er die Reste der ersten eisernen Ration gegessen hatte, legte er sich hin, um gründlich zu überlegen. Die Suche nach Wasser hatte ihn hinreichend erschöpft, um ihm klarzumachen, daß er noch immer sehr schwach war. Es würde mindestens noch vierundzwanzig Stunden dauern, bis er imstande war, sich in Marsch zu setzen. Was er noch zu essen hatte, ließ sich wahrscheinlich so lange strecken. Danach mußte er Proviant besorgen. Und was dann? Die deutschen Streitkräfte hatten Vodena wahrscheinlich schon vor mehr als zwei Tagen geräumt. Zu glauben, er könnte sie jetzt noch einholen, war müßig. Um das zu schaffen, würde er Hunderte von Kilometern unwegsames Gelände durchqueren müssen. Seine einzige Chance, ungesehen durchzukommen, bestünde darin, die Straßen zu meiden. Doch wenn er das täte, würden die langen, harten 254
Märsche ihn bald entkräften. Er konnte es natürlich mit der Eisenbahn probieren, aber die war mittlerweile fast sicher wieder in griechischer Hand. Seine Verzweiflung kehrte zurück, und diesmal ließ sie sich nicht so einfach abtun. Tatsache war nun einmal, daß er vernünftigerweise nirgendwohin gehen konnte. Er war vollständig von allem abgeschnitten, und das auf feindlichem Gebiet, wo Gefangennahme oder Aufgabe den Tod bedeuteten und ihm sämtliche Fluchtwege verschlossen waren. Das einzige, was ihm allem Anschein nach übrigblieb, war, unter dem Dornbusch weiterzuvegetieren wie ein Tier und zu stehlen, was er an Eßbarem auf den Feldern fand. Ein entflohener Kriegsgefangener wäre in einer besseren Lage; er hätte zumindest Zeit gehabt, sich auf das Wagnis vorzubereiten. Er, Schirmer, dagegen war relativ hilflos. Er hatte keine Zivilkleidung, kein Geld, keine Papiere, so gut wie keine Lebensmittel; außerdem litt er immer noch an den Nachwirkungen der Minenexplosion und an einem Malariaanfall. Er brauchte Zeit, um sich vollständig zu erholen, und Zeit zum Planen. Vor allem brauchte er jemanden, der ihm half, Ausweispapiere zu beschaffen. Kleidung und Geld konnte er vielleicht stehlen, aber Papiere zu stehlen und zu benutzen, die in einer Sprache gedruckt waren, die er nicht lesen konnte, wäre Dummheit. Und dann fiel ihm Kyra ein; Kyra, die so bitter geweint hatte, als er ihr hatte Lebewohl sagen müssen, Kyra, die ihn törichterweise angefleht hatte zu 255
desertieren; die einzige Freundin, die er in diesem feindlichen, tückischen Land besaß. Sie hatte ein kleines Fotogeschäft in Saloniki. Eines Tages hatte er das auffällige agfa-Schild vor ihrem Laden gesehen und war hineingegangen, um festzustellen, ob er hier einen Film für seine Kamera kaufen konnte. Sie hatte keinen auf Lager gehabt – Filme waren damals schwer zu bekommen –, aber er hatte sich zu ihr hingezogen gefühlt und war wiedergekommen, sooft er keinen Dienst hatte. Weil Entwicklungsarbeiten kaum anfielen, hatte sie, um mehr Geld zu verdienen, ein kleines, durch einen Vorhang abgeteiltes »Studio« eingerichtet, in dem sie Paß- und Ausweisfotos machte. Als vor Ort Militärausweise für die Besatzungstruppen ausgegeben worden waren, hatte er dem zuständigen Offizier seiner Einheit vorschlagen können, Kyra mit sämtlichen Fotoarbeiten zu beauftragen. Außerdem hatte er ihr stets etwas von der Truppenverpflegung mitgebracht. Sie wohnte mit ihrem Bruder in den zwei Räumen über dem Geschäft. Dieser allerdings war Nachtportier in einem Hotel, das von der Standortkommandantur mit Beschlag belegt worden war, und kam nur tagsüber nach Hause. Der Feldwebel hatte sehr bald die Erlaubnis beantragen können, auf Dauer außerhalb der Kaserne zu schlafen. Kyra war eine heißblütige junge Frau mit schlichten, einfach zu erfüllenden Bedürfnissen. Der Feldwebel war ebenso kraftvoll wie geschickt. Die Beziehung hatte sich als höchst zufriedenstellend erwiesen. 256
Nun ließ sie sich einem anderen Zweck dienstbar machen. Saloniki war vierundsiebzig Straßenkilometer entfernt. Das bedeutete, daß er mindestens hundert Kilometer zurücklegen mußte, um sich von den Städten und Dörfern fernzuhalten. Wenn er bei Tageslicht marschierte, würde er wahrscheinlich ungefähr vier Tage brauchen. Wenn er auf Nummer Sicher ging und nur nachts marschierte, würde es viel länger dauern. Er durfte seine Hüfte nicht zu stark beanspruchen. Außerdem mußte er auch die Zeit in Betracht ziehen, die er für die Nahrungsbeschaffung brauchen würde. Je eher er aufbrach, desto besser. Seine Stimmung hob sich. Nachdem er in der folgenden Nacht den Rest der eisernen Ration gegessen hatte, machte er sich auf den Weg, in der Tasche als Notfallration nur die Schokolade. Er brauchte acht Tage, um sein Ziel zu erreichen. Nachts zu marschieren hatte sich ohne Karte und Kompaß als zu schwierig erwiesen. Er hatte sich mehrfach verlaufen. Nach der dritten Nacht hatte er beschlossen, daß er das größere Risiko hinnehmen und tagsüber marschieren mußte. Es war einfacher gewesen, als er erwartet hatte. Selbst die Ebene bot reichlich Deckung, in deren Schutz er sich bewegen konnte, und außer in der Gegend von Iannitsa konnte er sich recht dicht an der Straße halten. Das größte Problem war die Nahrungsbeschaffung. Auf einem abgelegenen Gehöft hatte er ein paar Eier stehlen können, und an einem anderen Tag hatte er 257
eine verirrte Ziege gemolken; meistens aber lebte er von den Wildbeeren und Früchten, die er fand. Erst am Ende des siebten Tages empfand er seine Lage als so verzweifelt, daß er seine Schokolade aß. Gegen zehn Uhr morgens erreichte er die Vororte von Saloniki. Er befand sich in der Nähe der Eisenbahn, in einer Gegend, die günstige Versteckmöglichkeiten bot. Er beschloß, hier haltzumachen und bis zum Einbruch der Nacht zu warten, ehe er in die Stadt ging. Nun, da seine Reise fast zu Ende war, machte er sich am meisten über seine äußere Erscheinung Sorgen. Die Wunde an seinem Kopf verheilte gut und würde kaum Neugier hervorrufen. Der Stoppelbart, der ihm gewachsen war, gefiel ihm nicht, aber nur weil er unsoldatisch war; besonders auffallen würde er deswegen wohl nicht. Das Problem war seine Uniform. In deutscher Uniform durch die Straßen von Saloniki zu gehen hieße mittlerweile, Verhaftung oder Ermordung geradezu herauszufordern. Irgend etwas mußte geschehen. Er bewegte sich näher an die Gleise heran und ging daran entlang auf Erkundung. Schließlich fand er, was er gesucht hatte – die Hütte eines Streckenarbeiters. Sie war mit einem Vorhängeschloß gesichert, doch in der Nähe lagen ein paar schwere eiserne Schienenlager auf dem Boden, mit der er die Haspe zertrümmerte, durch die der Schloßbügel lief. Er hatte gehofft, in der Hütte einen Overall oder 258
so etwas wie einen Arbeitskittel zu finden, aber sie enthielt keinerlei Kleidungsstück. Allerdings fand sich darin, in ein Stück Zeitung eingewickelt, das Essen eines Arbeiters: ein Stück Brot, ein paar Oliven und eine halbe Flasche Wein. Er nahm es mit in sein Versteck und verschlang es gierig. Der Wein machte ihn benommen, und er schlief hinterher eine Weile. Als er aufwachte, fühlte er sich sehr erfrischt und begann erneut, über das Problem seiner Kleidung nachzudenken. Unter seiner Uniformjacke hatte er ein graues Baumwollunterhemd an. Wenn er die Uniformjacke ablegte und die Uniformhose mit Gürtel trug, würde er obenherum wie ein Hafenarbeiter aussehen. Nachts, wenn Farbe und Material der Hose nicht deutlich zu erkennen waren, würden ihn nur seine Knobelbecher verraten. Er versuchte, sie zu verbergen, indem er die Hosenbeine über die Stiefelschäfte hängen ließ, anstatt sie hineinzustecken. Das Ergebnis war nicht ganz zufriedenstellend, doch er beschloß, daß es hinreichte. Die Risiken, die er eingehen müßte, um Kleidung zu stehlen, waren vermutlich größer als das Risiko, daß seine Stiefel im Dunkeln erkannt wurden. Bisher hatte er Glück gehabt. Es wäre unsinnig, es in Sichtweite seines Ziels übermäßig zu strapazieren. Um acht Uhr war es völlig dunkel, und er machte sich auf den Weg in die Stadt. Als er sie erreichte, erlebte er eine unangenehme Überraschung. Die Viertel, die er durchqueren 259
mußte, waren strahlend hell erleuchtet. Die Bürger von Saloniki feierten ihre Befreiung von den Besatzungskräften und die Ankunft der »Mazedonischen Divisionsgruppe« der elas. Es war ein phantastisches Bild. Entlang dem Ufer hüpften und wiegten sich lange Schlangen schreiender, singender Menschen im Takt der Musik, die aus Bars und Cafés plärrte. Die Restaurants waren brechend voll. Kreischende Horden tanzten auf Tischen und Stühlen. Überall sah man Gruppen betrunkener andartes, viele davon Bulgaren, die unter wildem Gebrüll umhertorkelten, mit ihren Gewehren in die Luft schossen und Frauen aus den Bordellen holten, um auf der Straße mit ihnen zu tanzen. Dem Feldwebel, der jeden sich bietenden Schatten nutzte, kam die Stadt wie ein riesiger, orgiastischer Rummel vor. Kyras Laden lag in einer schmalen Straße in der Nähe der Eski Juma. Es gab dort weder Bars noch Cafés, und so war es relativ ruhig. Soweit die Ladenbesitzer über Rolläden verfügten, hatten sie sie vorsichtshalber heruntergelassen; andere hatten ihre Fenster mit Brettern vernagelt. Auf diese Weise waren auch Kyras Fenster geschützt, und der Laden selbst lag im Dunkeln; im Fenster darüber war jedoch Licht. Darüber war er erleichtert. Er hatte schon befürchtet, sie wäre womöglich weggegangen, um an dem wilden Treiben auf den Straßen teilzunehmen, und er müßte auf ihre Rückkehr warten. Daß sie zu Hause war, bedeutete außerdem, daß sie die allge260
meine Freude über die Wendung der Ereignisse nicht teilte. Das war von Vorteil. Er blickte sich vorsichtig um, ob seine Ankunft auch nicht von jemandem bemerkt worden war, der ihn womöglich vom Sehen kannte. Nachdem er sich in dieser Hinsicht beruhigt hatte, läutete er. Kurz darauf hörte er sie die Treppe herunterkommen und durch den Laden zur Tür gehen. Die Bretter verhinderten, daß er sie sah. Er hörte sie stehenbleiben, doch die Tür ging nicht auf. »Wer ist da?« fragte sie auf griechisch. »Franz.« »Allmächtiger Gott!« »Laß mich rein.« Er hörte sie mit den Riegeln hantieren, dann ging die Tür auf. Er trat ein, schloß rasch die Tür hinter sich und nahm sie in die Arme. Er spürte sie zittern, als er sie küßte, dann stieß sie ihn mit einem angstvollen Keuchen von sich. »Was machst du hier?« Er erzählte ihr, was ihm passiert war und was er vorhatte. »Aber du kannst nicht hierbleiben.« »Ich muß.« »Du kannst aber nicht.« »Wieso nicht, Liebste? Es ist nicht gefährlich.« »Man verdächtigt mich schon, weil ich einen Deutschen geliebt habe.« »Was können sie schon machen?« »Vielleicht werde ich verhaftet.« 261
»Ach was. Wenn sie jede Frau hier verhaften würden, die einen Deutschen geliebt hat, brauchten sie eine Armee, um sie zu bewachen.« »Bei mir liegt der Fall anders. Die andartes haben Niki verhaftet.« »Weshalb?« Niki war ihr Bruder. »Man wirft ihm vor, er hätte für die Deutschen spioniert und den Spitzel gemacht. Wenn er gestanden und andere beschuldigt hat, werden sie ihn umbringen.« »Die Schweine! Trotzdem, ich muß hierbleiben, Liebste.« »Du mußt dich stellen. Du wärst Kriegsgefangener.« »Von wegen. Die Kehle würden sie mir durchschneiden.« »Nein. Es gibt viele deutsche Soldaten hier. Deserteure. Ihnen wird kein Haar gekrümmt, wenn sie sagen, sie sind Sympathisanten.« »Du meinst wohl, wenn sie sagen, sie sind Kommunisten?« »Was spielt das für eine Rolle?« »Wirfst du mich etwa mit diesen Schweinen von Deserteuren in einen Topf?« »Natürlich nicht, Liebster. Ich möchte dich bloß retten.« »Gut. Als erstes brauche ich etwas zu essen. Dann ein Bett. Ich benutze heute nacht Nikis Zimmer. Zu was anderem als schlafen bin ich sowieso nicht imstande.« 262
»Aber du kannst nicht hierbleiben, Franz. Es geht nicht.« Sie begann zu schluchzen. Er packte sie an den Armen. »Keine Tränen, Liebste, und keine Widerrede. Verstanden? Ich gebe die Befehle. Wenn ich gegessen und ausgeruht habe, können wir miteinander reden. Jetzt kannst du mir zeigen, was es zu essen gibt.« Er hatte die Finger tief in ihre Armmuskeln gebohrt, und als sie zu weinen aufhörte, wußte er, daß er ihr nicht nur Angst gemacht, sondern auch weh getan hatte. So mußte es sein. Ungehorsam würde es vorläufig nicht mehr geben. Sie gingen in die Wohnung hinauf. Als sie ihn bei Licht sah, stieß sie einen Entsetzensschrei aus, doch er würgte weitere Wehklagen gereizt ab. »Ich habe Hunger«, sagte er. Sie richtete ihm eine Mahlzeit her und sah ihm dann beim Essen zu. Mittlerweile war sie schweigsam und in Gedanken versunken, aber er nahm sie kaum wahr. Er plante. Als erstes würde er schlafen, dann würde er sich um die Beschaffung von Zivilkleidung kümmern. Schade, daß ihr Bruder Niki so schmächtig war; seine Kleider waren ihm viel zu klein. Sie würde irgendwo einen gebrauchten Anzug kaufen müssen. Dann mußte sie genau feststellen, was für Papiere er brauchte, um sich frei bewegen zu können. Es gab natürlich die Sprachbarriere; aber die konnte er vielleicht umgehen, indem er sich als Bulgare oder Albaner ausgab; von diesem Gesindel lief mittlerweile ja wohl genügend herum. 263
Danach mußte er sich entscheiden, wo er hinging – ein heikles Problem. Es gab nicht mehr viele Länder, wo man einen Deutschen willkommen heißen und ihn bei der Repatriierung unterstützen würde. Da waren natürlich Spanien – er könnte auf dem Seeweg hinkommen – oder die Türkei … Doch der Kopf sank ihm auf die Brust, und seine Augen wollten nicht mehr offenbleiben. Er raffte sich soweit auf, daß er es bis ins Schlafzimmer schaffte. Am Bett drehte er sich um und blickte zurück. Kyra stand in der Tür und beobachtete ihn. Sie lächelte beruhigend. Er sank aufs Bett und schlief ein. Es war noch dunkel, und er konnte kaum mehr als zwei Stunden geschlafen haben, als er davon wach wurde, daß ihn jemand heftig am Arm schüttelte und er einen Stoß ins Kreuz bekam. Er wälzte sich herum und schlug die Augen auf. Zwei Männer mit Pistolen in der Hand schauten auf ihn herab. Sie trugen die rudimentären Uniformen, die er schon vor ein paar Stunden bei den durch die Straßen lärmenden andartes gesehen hatte. Jene allerdings waren stockbetrunken gewesen; diese hier waren stocknüchtern und sachlich. Es waren schlanke, mürrisch dreinschauende junge Männer mit modischen Gürteln und Armbinden. Vermutlich handelte es sich um andarte-Offiziere. Einer davon redete ihn mit scharfer Stimme auf deutsch an. »Aufstehen.« 264
Er gehorchte langsam und mußte dabei ein Schlafbedürfnis überwinden, das heftiger war als jedes Gefühl von Angst. Er hoffte, daß sie ihn rasch töteten, damit er Ruhe hatte. »Name?« »Schirmer.« »Dienstrang?« »Feldwebel. Wer sind Sie?« »Das werden Sie schon noch feststellen. Sie sagt, Sie wären Fallschirmjäger und Ausbilder. Stimmt das?« »Ja.« »Wo haben Sie Ihr Eisernes Kreuz bekommen?« Der Feldwebel war mittlerweile soweit wach, daß ihm die Notwendigkeit zu lügen klar war. »In Belgien«, sagte er. »Wollen Sie am Leben bleiben?« »Wer will das nicht.« »Faschisten. Sie sind in den Tod vernarrt, also bringen wir sie um. Wahre Demokraten wollen am Leben bleiben. Das stellen sie dadurch unter Beweis, daß sie mit ihren Klassengenossen gegen die Faschisten und die kapitalistisch-imperialistischen Aggressoren kämpfen.« »Wer sind diese Aggressoren?« »Reaktionäre und ihre angloamerikanischen Bosse.« »Von Politik verstehe ich nichts.« »Natürlich. Sie haben ja auch nie Gelegenheit gehabt, etwas darüber zu erfahren. Dabei ist es ganz 265
einfach. Faschisten sterben, wahre Demokraten bleiben am Leben. Sie können sich selbstverständlich frei entscheiden, was Sie sein wollen, aber da die Zeit knapp ist und wir noch viel zu tun haben, haben Sie nur zwanzig Sekunden, um sich die Sache zu überlegen. Üblicherweise gestehen wir nur zehn Sekunden zu, aber Sie sind Unteroffizier, ein erfahrener Soldat und ein wertvoller Ausbilder. Außerdem sind Sie kein Deserteur. Sie haben das Recht, gründlich zu überlegen, ehe Sie die heilige Verantwortung übernehmen, die man Ihnen anbietet.« »Und wenn ich die Rechte eines Kriegsgefangenen beanspruche?« »Sie sind kein Kriegsgefangener, Schirmer. Sie haben sich nicht ergeben. Sie befinden sich immer noch mitten im Gefecht. Im Augenblick sind Sie ein Feind Griechenlands, und« – er hob die Pistole – »wir haben viel zu rächen.« »Und wenn ich annehme?« »Wird man Ihnen umgehend Gelegenheit geben, Ihre politische Verläßlichkeit, Ihre Loyalität und Ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Die zwanzig Sekunden sind längst um. Was möchten Sie sagen?« Der Feldwebel zuckte die Achseln. »Ich nehme an.« »Dann grüßen Sie gefälligst«, sagte der andarte scharf. Einen Moment lang begann sich der rechte Arm des Feldwebels zu bewegen, und er sah, wie sich der 266
Finger des andarte um den Abzug krümmte. Er ballte die Linke zur Faust und hob sie über seinen Kopf. Der andarte lächelte dünn. »Sehr schön. Du kannst gleich mit uns kommen.« Er ging zur Zimmertür und machte sie auf. »Aber zuerst haben wir noch etwas anderes zu erledigen.« Er winkte Kyra ins Zimmer. Ihr Gang war steif, ihr Gesicht eine tränenüberströmte Maske der Angst. Sie sah den Feldwebel nicht an. »Diese Frau«, sagte der andarte mit einem Lächeln, »war so freundlich, uns mitzuteilen, daß du hier bist. Ihr Bruder war ein faschistischer Kollaborateur und Spion. Sie hat dich verraten, um uns davon zu überzeugen, daß sie den wahren demokratischen Geist besitzt. Was hältst du davon, Genosse Schirmer?« »Ich denke, sie ist eine faschistische Hure«, sagte der Feldwebel kurz angebunden. »Ausgezeichnet. Ganz meine Meinung. Du lernst schnell.« Der andarte sah seinen Begleiter an und nickte. Die Pistole des anderen fuhr hoch. Ehe Kyra schreien oder der Feldwebel auch nur daran denken konnte zu protestieren, waren drei Schüsse gefallen. Durch die Schockwelle löste sich ein Stückchen Putz von der Decke. Der Feldwebel spürte, wie es ihm auf die Schulter fiel, während er sah, wie das Mädchen von der Wucht der schweren Geschosse mit noch offenem Mund gegen die Wand geschleu267
dert wurde. Dann sank sie ohne einen Laut zu Boden. Der andarte-Offizier betrachtete sie einen Moment lang eingehend, dann nickte er erneut und ging aus dem Zimmer. Der Feldwebel folgte. Er wußte, daß er irgendwann, wenn er nicht mehr so müde und verwirrt war, Entsetzen über das eben Geschehene empfinden würde. Er hatte Kyra gemocht. Feldwebel Schirmer diente etwas mehr als vier Jahre lang in der Demokratischen Armee des Generals Markos. Nach dem Dezemberaufstand von 1944 und der Beförderung von Markos zum Oberbefehlshaber der Armee hatte man ihn nach Albanien geschickt. Dort war er Ausbilder in einem Lager gewesen, in dem die Guerillagruppen gedrillt wurden, die damals zur Vorbereitung auf den Feldzug von 1946 zu größeren Verbänden zusammengefaßt wurden. In diesem Lager hatte er Arthur kennengelernt. Arthur hatte zu einer britischen Spezialeinheit gehört, die ein deutsches Hauptquartier in Nordafrika überfallen hatte. Er war verwundet und gefangengenommen worden. Der deutsche Befehlshaber hatte sich über den allgemeinen Befehl hinweggesetzt, demzufolge gefangene Angehörige von Spezialeinheiten zu erschießen waren, und Arthur in einen Schub anderer britischer Gefangener gesteckt, die über Griechenland und Jugoslawien nach Deutschland transportiert werden sollten. In Jugoslawien 268
war Arthur geflüchtet und hatte bis Kriegsende bei den Partisanen Titos gekämpft. Er hatte es nicht eilig gehabt, nach England zurückzukehren, und war einer der Ausbilder gewesen, die Tito zu Markos’ Unterstützung abstellte. In Arthur fand der Feldwebel eine verwandte Seele. Sie waren beide Berufssoldaten und hatten beide als Unteroffiziere in Eliteeinheiten gedient. Keiner von beiden hatte gefühlsmäßige Bindungen zu seiner Heimat. Beide liebten den Soldatenberuf um seiner selbst willen. Außerdem teilten sie die gleiche Einstellung zu politischen Fragen. Während seiner Zeit bei den Partisanen hatte Arthur so viele marxistische Phrasen gehört, daß er eine Menge davon auswendig kannte. In Momenten der Anspannung oder der Langeweile betete er sie in einem fort und in rasender Geschwindigkeit herunter. Als der Feldwebel ihn das erste Mal so mitbekam, hatte er Arthur unter vier Augen darauf angesprochen. »Mir war das nicht klar, Corporal«, hatte er in dem unbeholfenen Mischmasch aus Griechisch, Englisch und Deutsch gesagt, in dem sie sich unterhielten; »ich hätte nicht gedacht, daß du ein Roter bist.« Arthur hatte gegrinst. »So? Ich bin einer der politisch zuverlässigsten Männer der ganzen Einheit.« »Tatsächlich?« »Tatsächlich. Beweise ich es nicht immer wieder? Was glaubst du, wie viele Parolen ich kenne. Ich kann reden wie ein Buch.« 269
»Aha.« »Ich weiß zwar nicht, was dieses Zeug von wegen dialektischer Materialismus heißt, aber bei der Bibel hab ich auch nie kapiert, worum es da eigentlich ging. In der Schule mußten wir immer Sachen aus der Bibel aufsagen. In Bibelkunde hab ich immer gute Noten gehabt. Und hier bin ich eben politisch zuverlässig.« »Glaubst du denn nicht an die Sache, für die wir kämpfen?« »Genausowenig wie du, Feldwebel. Das überlasse ich den Amateuren. Mir genügt das Soldatsein. Was soll ich mit einer Sache?« Der Feldwebel hatte nachdenklich genickt und auf die Ordensbänder an Arthurs Hemd geschaut. »Glaubst du, daß die Pläne unseres Generals Aussicht auf Erfolg haben, Corporal?« Zwar bekleideten sie beide in der Armee von Markos Offiziersrang, doch sie hatten beschlossen, diese Tatsache untereinander zu ignorieren. Sie waren Unteroffiziere in richtigen Armeen gewesen. »Vielleicht«, sagte Arthur. »Kommt drauf an, wie viele Fehler die anderen machen, so wie immer. Wieso? Woran denkst du, Feldwebel? An Beförderung?« Der Feldwebel hatte genickt. »Ja, Beförderung. Wenn diese Revolution Erfolg hätte, gäbe es möglicherweise ausgezeichnete Gelegenheiten für Männer, die imstande sind, sie zu ergreifen. Ich glaube, ich muß auch Schritte unternehmen, um politisch zuverlässig zu werden.« 270
Die Schritte, die er unternahm, hatten sich als wirkungsvoll erwiesen, und seine natürlichen Führungsqualitäten waren bald erkannt worden. 1947 befehligte er, mit Arthur als Stellvertreter, eine Brigade. Als die Armee von Markos sich 1949 aufzulösen begann, war diese Brigade eine derjenigen, die im Gebiet von Grammos bis zuletzt aushielten. Doch zu diesem Zeitpunkt wußten sie auch, daß der Aufstand vorüber war, und waren verbittert. Keiner von ihnen hatte je an die Sache geglaubt, für die sie so lange so zäh und geschickt gekämpft hatten. Aber daß sie von Tito und vom Moskauer Politbüro verraten worden war, hatten sie dennoch als infam empfunden. »›Setze dein Vertrauen nicht auf Fürsten‹«, hatte Arthur düster zitiert. »Wer sagt das?« hatte der Feldwebel gefragt. »Die Bibel. Nur sind das hier keine Fürsten, sondern Politiker.« »Alles eins.« Der Blick des Feldwebels hatte etwas Entrücktes angenommen. »Ich glaube, Corporal, in Zukunft müssen wir unser Vertrauen auf uns selbst setzen«, hatte er gesagt.
11
E
s war kurz nach Tagesanbruch, und die Berge über Florina zeichneten sich vor einem rosigen Schimmer am Himmel ab, als der alte Renault George und Miss Kolin vor dem Kino absetzte, wo er sie zehn Stunden zuvor abgeholt hatte. Auf Georges Anweisungen hin bezahlte Miss Kolin den Fahrer und vereinbarte mit ihm, daß er sie am Abend für die gleiche Fahrt wieder abholen sollte. Sie gingen schweigend in ihr Hotel. Auf seinem Zimmer angelangt, vernichtete George den Brief, den er vorsichtshalber für den Manager hinterlassen hatte, und machte sich daran, ein Telegramm an Mr. Sistrom aufzusetzen. anspruchsteller unter seltsamen umständen ausfindig gemacht stop identität über jeden vernünftigen zweifel erhaben stop komplizierte situation verhindert unmittelbares einfinden in kanzlei stop schicke heute ausführlichen bericht stop erbitte falls vorhanden umgehend bedingungen auslieferungsvertrag usa griechenland mit besonderer berücksichtigung bewaffneter raubüberfall. 272
Daran, dachte er grimmig, dürfte Mr. Sistrom ein Weilchen zu kauen haben. Er las es noch einmal durch, strich unnötige Präpositionen und Konjunktionen und übersetzte das Ganze dann in den Code, den sie für streng vertrauliche Mitteilungen vereinbart hatten. Als er damit fertig war, sah er auf die Uhr. Die Post öffnete erst in einer Stunde. Er würde Mr. Sistrom schreiben und den Brief gleichzeitig mit dem Telegramm aufgeben. Er seufzte. Es war eine anstrengende Nacht gewesen – auf mancherlei unerwartete Weise anstrengend. Als der Kaffee und die Brötchen kamen, die er im Restaurant bestellt hatte, machte er sich daran, seinen Bericht abzufassen. »In meinem letzten Schreiben«, begann er, »habe ich Ihnen von dem Beweismaterial berichtet, das mir Madame Vassiotis lieferte, und von meinem daraus resultierenden Entschluß, so rasch wie möglich nach Hause zurückzukehren. Seither hat sich, wie Sie meinem Telegramm entnommen haben dürften, das Bild vollkommen geändert. Ich wußte zwar, daß die von Madame Vassiotis in Gang gesetzten Nachforschungen allen möglichen Personen zu Ohren kommen würden, die von den Behörden aus dem einen oder anderen Grund als Kriminelle angesehen werden, aber ich konnte kaum damit rechnen, daß sie auch dem Mann, den wir gesucht haben, zur Kenntnis kommen würden. Ebendies aber geschah. Vor vierundzwanzig Stunden nahm ein Mann mit mir Kontakt auf, der behauptete, er habe Freunde, die Informationen über Schirmer lie273
fern könnten. In der Folge unternahmen Miss Kolin und ich eine sehr beschwerliche Fahrt zu einem geheimen Ziel irgendwo in den Bergen, in der Nähe der jugoslawischen Grenze. Dort angekommen, brachte man uns zu einem Haus und stellte uns einem Mann gegenüber, der behauptete, er sei Franz Schirmer. Nachdem ich den Zweck unseres Besuches erklärt hatte, stellte ich ihm verschiedene einschlägige Fragen, die er allesamt richtig beantwortete. Ich fragte ihn nach dem Hinterhalt bei Vodena und seinem seitherigen Schicksal. Er erzählte mir eine phantastische Geschichte.« George zögerte; dann löschte er das Wort ›phantastisch‹ – Mr. Sistrom mochte derlei Adjektive nicht – und tippte an seiner Stelle das Wort ›merkwürdig‹. Dabei war es phantastisch gewesen, dort im Licht der Petroleumlampe zu sitzen und dem Ururenkel des Helden von Preußisch-Eylau zuzuhören, wie er in seinem gebrochenen Englisch die Geschichte seiner Abenteuer in Griechenland erzählte. Er hatte langsam, zuweilen mit einem leisen Lächeln in den Mundwinkeln, gesprochen, die wachsamen grauen Augen stets forschend und taxierend auf seine Besucher gerichtet. Der Dragoner von Ansbach, dachte George, mußte ein ganz ähnlicher Typ von Mann gewesen sein. Wo andere sich dem Untergang ergäben, würden Männer wie diese beiden Schirmers stets ausharren und überleben. Der eine war verwundet worden, hatte sein Vertrauen auf Gott gesetzt, war desertiert und später zum wohlhabenden 274
Kaufmann geworden. Den anderen hatte man für tot liegengelassen, er hatte sein Vertrauen auf sich selbst gesetzt, seine fünf Sinne beisammengehalten und weitergekämpft. Was jedoch aus dem zweiten Unteroffizier Schirmer geworden war, das hatte dieser selbst gar nicht zu beantworten versucht. Sein Bericht von seinen Abenteuern hatte etwas unvermittelt mit der Abriegelung der jugoslawischen Grenze durch Tito und einer bitteren Tirade gegen die Winkelzüge der kommunistischen Politiker geendet, denen sich die Niederlage der MarkosArmee verdankte. Aber George hatte mittlerweile kaum noch Zweifel, was die späteren Betätigungen des Feldwebels anging. Sie waren einem alten Muster gefolgt. Wenn geschlagene Revolutionsarmeen sich auflösten, wurden die Soldaten, die aus politischen Gründen nicht heimzukehren wagten oder kein Heim hatten, zu dem sie zurückkehren konnten, zu Briganten. Und da ganz eindeutig weder der Feldwebel noch Arthur, um mit Oberst Chrysanthos zu sprechen, ein schlichter, verblendeter Fanatiker des Typs war, der sich ständig erwischen läßt, war die in Saloniki erzielte Ausbeute mit Sicherheit in ihre Taschen und die ihrer bewaffneten Helfer gewandert. Es war eine heikle Situation. Außerdem würde er, George, wenn er nicht verdächtig uninteressiert erscheinen wollte, die beiden auffordern müssen, ihre derzeitigen Lebensumstände auf ihre eigene Weise zu erklären. 275
Arthur hatte ihm dazu Gelegenheit gegeben. »Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß es sich für Sie lohnen würde, hierherzukommen, Mr. Carey?« sagte er triumphierend, als der Feldwebel geendet hatte. »Das haben Sie in der Tat, Arthur, und ich bin Ihnen sehr dankbar. Und jetzt verstehe ich natürlich auch den Grund für die ganze Geheimnistuerei.« Er sah den Feldwebel an. »Ich hatte keine Ahnung, daß die Kämpfe in diesem Gebiet noch andauern.« »So?« Der Feldwebel lehrte sein Glas und setzte es mit einem Knall ab. »Das liegt an der Zensur«, sagte er. »Die Regierung will die Wahrheit vor der Welt verbergen.« Arthur nickte gewichtig. »Richtig faschistischimperialistische Lakaien sind das«, sagte er. »Aber wir reden hier nicht über Politik, wie?« Der Feldwebel lächelte, während er Miss Kolin nachgoß. »Das interessiert die schöne Dame nicht.« Sie sagte kühl etwas auf deutsch, und sein Lächeln schwand. Einen Moment lang schien er seine Einschätzung von Miss Kolin zu überdenken; dann wandte er sich fröhlich an George. »Füllen wir unsere Gläser, und kommen wir zur Sache«, sagte er. »Ja, ein guter Gedanke«, sagte George. Er hatte ihnen den beruhigenden Eindruck vermittelt, daß er sich mit seinem Bild von ihnen als schlichten Revolutionären, die immer noch für eine verlorene Sache kämpften, zufriedengab. Das reichte. »Ich vermute, Sie wüßten gern ein bißchen mehr über die ganze 276
Geschichte, nicht wahr, Herr Feldwebel?« fügte er hinzu. »Allerdings.« George erzählte ihm die Geschichte des Falles von Anfang an. Eine Zeitlang hörte der Feldwebel höflich zu und unterbrach nur, um sich einen juristischen Begriff oder eine Formulierung erklären zu lassen, die er nicht verstand. Wenn Miss Kolin dergleichen ins Deutsche übersetzte, quittierte er diese Gefälligkeit jedesmal mit einem Nicken. Er wirkte fast gleichgültig, als beträfe ihn das, was er da zu hören bekam, im Grunde gar nicht. Erst als George zu der Rolle kam, die der Bericht über die Heldentaten des ersten Schirmer bei Eylau in dem Fall spielte, änderte sich seine Haltung. Plötzlich beugte er sich nach vorn über den Tisch und begann in scharfem Ton mit unvermittelten Fragen zu unterbrechen. »Franz Schirmer, sagen Sie? Er hatte den gleichen Namen und den gleichen Rang wie ich, der Alte?« »Ja. Und er war auch ungefähr im gleichen Alter wie Sie, als Sie über Kreta abgesprungen sind.« »Aha! Fahren Sie bitte fort.« George fuhr fort, aber nicht lange. »Wo ist er verwundet worden?« »Am Arm.« »Genau wie ich bei Eben-Emael.« »Nein, bei ihm war es ein Säbelhieb.« »Egal. Das läuft auf eins hinaus. Fahren Sie bitte fort.« 277
George erzählte weiter. Der Blick des Feldwebels war gespannt auf ihn gerichtet. Er unterbrach erneut. »Zu essen? Was hatte er zu essen?« »Ein paar erfrorene Kartoffeln, die er aus einer Scheune gestohlen hatte.« George lächelte. »Hören Sie, ich habe den kompletten Bericht über diese Ereignisse, den Franz Schirmers zweiter Sohn Hans verfaßt hat. Das ist der, der nach Amerika ausgewandert ist. Er hat das alles für seine Kinder aufgeschrieben, damit sie sehen, was für ein feiner Mann ihr Großvater war.« »Haben Sie ihn hier?« »Ich habe eine Kopie davon im Hotel in Florina.« »Kann ich sie sehen?« Mittlerweile brannte er vor Eifer. »Aber ja. Sie können sie auch haben. Wahrscheinlich bekommen Sie irgendwann auch das Original. Ich denke, daß Ihnen von Rechts wegen sämtliche Familienpapiere zustehen.« »Ja, richtig. Die Familienpapiere.« Er nickte nachdenklich. »Aber was Hans geschrieben hat, ist keineswegs die ganze Wahrheit. Es gibt da einiges, was Franz seinen Kindern nicht erzählt hat.« »So? Was denn?« Daraufhin erzählte George ihm von der Begegnung mit Maria, von Mr. Moretons Nachforschungen und wie er selbst in den Wehrmachtslisten in Potsdam die Wahrheit entdeckt hatte. Nun hörte der Feldwebel wieder zu, ohne zu un278
terbrechen, und als George geendet hatte, blieb er ein, zwei Momente lang stumm und hielt den Blick auf den Tisch vor ihm gesenkt. Als er schließlich aufsah, lag ein stilles Lächeln der Befriedigung auf seinem Gesicht. »Das war ein Mann«, sagte er zu Arthur. »Ein richtiger Kerl, keine Frage«, pflichtete Arthur nickend bei; »dazu noch der gleiche Name und Rang. Mal überlegen – Dragoner, das war doch berittene Infanterie, oder?« Aber der Feldwebel hatte sich wieder an George gewandt. »Und diese Maria, das ist meine Ururgroßmutter?« »Richtig. Marias erster Sohn Karl war Ihr Urgroßvater. Aber unser überzeugendster Beweis ergibt sich daraus, daß wir über den Namenswechsel Bescheid wissen. Amelia Schneiders Cousin ersten Grades war Ihr Großvater Friedrich, und er hat sie überlebt. Erinnern Sie sich noch an ihn?« Der Feldwebel nickte gedankenverloren. »Ja, ich erinnere mich.« »Rechtlich gesehen, hat er das Geld geerbt. Sie erben über Ihren Vater von ihm. Natürlich ist noch eine Menge zu tun, bis das alles geregelt werden kann. Möglicherweise muß Ihr Anspruch über ein deutsches oder vielleicht sogar ein Schweizer Gericht geltend gemacht werden. Vielleicht müssen Sie zuerst Schweizer Papiere beantragen. Ich weiß es nicht. Es kommt darauf an, auf welchen Standpunkt sich das Gericht in Pennsylvania stellt. Wir können 279
jedenfalls damit rechnen, daß der Staat Pennsylvania dagegen angehen wird. Und welchen Standpunkt der Treuhänder für Feindvermögen einnimmt, wissen wir auch noch nicht. Es wird auf jeden Fall kein Zuckerlecken. Aber ich denke, das macht Ihnen nichts aus, wie?« »Nein.« Aber er schien dem, was George sagte, nicht viel Aufmerksamkeit zu schenken. »In Ansbach bin ich nie gewesen«, sagte er langsam. »Tja, dazu werden Sie später noch reichlich Zeit haben, denke ich. Jetzt zur praktischen Seite der ganzen Geschichte. Meine Kanzlei ist Rechtsvertreterin des Nachlaßverwalters, deshalb können wir selbst Sie nicht vertreten. Sie müssen sich einen anderen Anwalt nehmen. Ich weiß nicht, ob Sie das Geld aufbringen können, das es kostet, den Fall durchzufechten. Die Kosten wären ziemlich hoch. Falls nein, könnten wir Ihnen eine gute Kanzlei empfehlen, die gegen Erfolgshonorar für Sie tätig würde. Das heißt, die Kanzlei bekäme einen bestimmten Prozentsatz von dem, was Sie dabei herausholen. Erklären Sie ihm das bitte alles, Miss Kolin.« Sie erklärte es. Er hörte geistesabwesend zu und nickte dann. »Sind Sie einverstanden?« fragte George. »Ja. Ich bin einverstanden. Machen Sie das alles so.« »Okay. Wie bald können Sie nach Amerika reisen?« George sah, wie Arthur ihn scharf anblickte. Jetzt würde es gleich Ärger geben. 280
Der Feldwebel runzelte die Stirn. »Amerika?« »Ja. Wir könnten zusammen reisen, wenn Sie wollen.« »Aber ich möchte gar nicht nach Amerika.« »Tja, wenn Sie Anspruch auf Ihr Erbe erheben wollen, wird Ihnen leider nichts anderes übrigbleiben.« George lächelte. »Ohne Sie läßt sich der Fall nicht durchfechten.« »Sie haben doch gesagt, Sie erledigen das alles.« »Ich habe gesagt, wir könnten Ihnen eine Kanzlei empfehlen, die Sie vertritt. Aber auch die kann den Fall nicht durchfechten, ohne den Anspruchsteller zu präsentieren. Man wird Ihre Identität beweisen müssen und so weiter. Die Anwälte des Staates und des Treuhänders für Feindvermögen werden Ihnen eine Menge Fragen stellen wollen.« »Was denn für Fragen?« »Alle möglichen Fragen. Wir dürfen uns da gar nichts vormachen. Sie werden wahrscheinlich über jeden Moment Ihres Lebens Rechenschaft ablegen müssen, besonders über die Zeit, nachdem Sie als vermißt gemeldet wurden.« »Damit ist die Sache gestorben«, sagte Arthur. George mißverstand diese Bemerkung absichtlich. »Ach, ich glaube nicht, daß der Feldwebel Anlaß hat, sich in diesem Punkt irgendwelche Sorgen zu machen«, sagte er. »Es handelt sich um eine rein inneramerikanische Rechtsangelegenheit. Daß er hier in einem Bürgerkrieg gekämpft hat, ist für Pennsyl281
vania von keinerlei Interesse. Bei der Beschaffung eines Visums könnte es ein paar Schwierigkeiten geben, aber ich denke, die ließen sich angesichts der besonderen Umstände überwinden. Die Griechen könnten ihm natürlich ein paar Knüppel zwischen die Beine werfen, wenn er danach hierher zurückkehren will, aber darüber hinaus können sie wenig machen. Es ist schließlich nicht so, daß er irgendein schweres Verbrechen begangen hat, für das er an die griechische Regierung ausgeliefert werden könnte, oder?« Er hielt inne. »Übersetzen Sie das mal lieber, Miss Kolin«, fügte er hinzu. Miss Kolin übersetzte. Als sie fertig war, herrschte spannungsgeladenes Schweigen. Der Feldwebel und Arthur starrten einander grimmig an. Schließlich wandte sich der Feldwebel wieder an George. »Wieviel war das gleich noch mal, dieses Geld?« »Tja, ich will ganz offen zu Ihnen sein. Solange ich mir nicht ganz sicher war, wer Sie sind, wollte ich Ihnen den Mund nicht wäßrig machen. Jetzt sollten Sie aber Bescheid wissen. Nach Abzug diverser Steuern haben Sie mit etwa einer halben Million Dollar zu rechnen.« »Mein lieber Mann!« sagte Arthur, und der Feldwebel fluchte heftig auf deutsch. »Natürlich nur, wenn Sie den Fall gewinnen. Der Staat ist auch hinter dem Geld her. Er wird zu beweisen versuchen, daß Sie ein Hochstapler sind, und Sie müssen imstande sein zu beweisen, daß Sie keiner sind.« 282
Der Feldwebel war ungeduldig aufgestanden und goß sich ein weiteres Glas Wein ein. George redete ohne Unterbrechung weiter. »Ich denke, das dürfte nicht schwierig sein, wenn man es richtig anpackt. Es gibt da allerhand Möglichkeiten. Wenn Ihnen zum Beispiel aus irgendeinem Grund einmal die Fingerabdrücke abgenommen worden wären – sagen wir, während Ihrer Zeit bei der Wehrmacht –, dann brauchten Sie sich überhaupt keine Gedanken mehr zu machen. Andererseits …« »Bitte!« Der Feldwebel hob die Hand. »Bitte, Mr. Carey, ich muß nachdenken.« »Aber ja«, sagte George. »Wie dumm von mir. Es muß ein ziemlicher Schock für Sie gewesen sein zu erfahren, daß Sie ein reicher Mann sind. Sie brauchen Zeit, um das zu verarbeiten.« Erneut trat Schweigen ein. Der Feldwebel sah Arthur an, und dann sahen beide Miss Kolin an, die mit ihrem Notizbuch unbeteiligt am Tisch saß. In ihrer Gegenwart konnten sie weder auf griechisch noch auf deutsch sagen, was sie auf dem Herzen hatten. Arthur zuckte die Achseln. Der Feldwebel seufzte und setzte sich wieder zu George. »Mr. Carey«, sagte er. »Ich kann nicht so unmittelbar entscheiden, was ich tun soll. Ich brauche Zeit. Es gibt da so vieles.« George nickte weise, als wäre ihm soeben das eigentliche Dilemma des Feldwebels klargeworden. »Aber ja. Ich hätte wissen müssen, daß diese Situation Sie, von anderen Schwierigkeiten einmal abge283
sehen, vor ein schwerwiegendes Problem der revolutionären Ethik stellt.« »Wie bitte?« Miss Kolin übersetzte rasch und mit leisem Spott, der George gar nicht gefiel. Aber der Feldwebel schien nichts davon zu bemerken. Er nickte geistesabwesend. »Ja, ja. So ist es. Ich brauche Zeit, um über vieles nachzudenken.« George fand es an der Zeit, sich etwas deutlicher auszudrücken. »Es gibt da einen Punkt, über den ich gern Klarheit hätte«, sagte er. »Das heißt, falls Sie nichts dagegen haben, mich ins Vertrauen zu ziehen.« »Ja? Was für ein Punkt?« »Sind Sie den griechischen Behörden unter Ihrem Namen bekannt?« »Passen Sie mal auf, Sie …«, begann Arthur warnend. Aber George unterbrach ihn. »Sparen Sie sich das, Arthur. Der Feldwebel muß es mir ja doch irgendwann sagen, wenn ich ihm von Nutzen sein soll. Das sehen Sie doch ein, nicht wahr, Herr Feldwebel?« Der Feldwebel überlegte einen Moment lang, dann nickte er. »Ja. Das ist eine gute Frage, Corporal. Seine Gründe leuchten mir ein. Mr. Carey, ich bin der Polizei unter anderem Namen bekannt.« »Na schön. Ich habe kein Interesse daran, der griechischen Polizei zu helfen. Ich bin mit der Regelung eines großen Nachlasses befaßt. Angenom284
men, wir könnten Ihr Alias ganz aus dem Verfahren heraushalten – und ich wüßte nicht, warum das nicht möglich sein sollte –, würde Ihnen das die Entscheidung erleichtern?« Die klugen Augen des Feldwebels waren unverwandt auf ihn gerichtet. »Wären von einem solchen Glückspilz keine Fotos in den Zeitungen, Mr. Carey?« »Ja sicher, die Titelseiten wären voll davon. Ach so, ich verstehe. Namen hin oder her, Sie meinen, die Tatsache, daß Sie in Griechenland waren, würde hierzulande auf jeden Fall Aufmerksamkeit erregen, und man könnte Sie anhand der Bilder identifizieren.« »So viele Leute kennen mein Gesicht«, sagte der Feldwebel entschuldigend. »Sie sehen also, ich muß nachdenken.« »Ja, das sehe ich«, sagte George. Er wußte jetzt, daß dem Feldwebel der Sachverhalt ebenso klar war wie ihm selbst. Falls der Raubüberfall oder die Raubüberfälle, an denen er sich beteiligt hatte, auslieferungswürdige Verbrechen waren, dann wäre jede Art von Publizität fatal für ihn. Zu denen, die sein Gesicht kannten, gehörten beispielsweise auch die Angestellten der Zweigstelle der Eurasischen Kreditbank in Saloniki. Dem Feldwebel war allerdings nicht klar, daß George den wahren Sachverhalt kannte. Zweifellos würde ein Tag kommen, an dem man ihn gefahrlos darüber aufklären konnte; vielleicht in Mr. Sistroms Büro. Vorderhand war Dis285
kretion angebracht. »Wie lange brauchen Sie zum Überlegen, Herr Feldwebel?« fragte er. »Bis morgen. Wenn Sie morgen abend wiederkommen, unterhalten wir uns weiter.« »Okay.« »Und meine Familienpapiere bringen Sie auch mit?« »Ja.« »Dann auf Wiedersehen.« »Auf Wiedersehen.« »Sie werden die Papiere nicht vergessen?« »Nein, ich werde sie nicht vergessen.« Arthur brachte sie zum lkw zurück. Auf dem Weg dorthin blieb er stumm. Es war offensichtlich, daß auch er viel zu überlegen hatte. Aber als sie wieder im lkw saßen und er gerade die Plane befestigen wollte, hielt er inne und lehnte sich an die Ladeklappe. »Mögen Sie den Feldwebel?« fragte er. »Er ist ein ziemlich eindrucksvoller Bursche, Sie müssen sehr an ihm hängen.« »Der beste Kumpel der Welt«, sagte Arthur knapp. »War nur so eine Frage. Es wäre mir gar nicht recht, wenn ihm irgendwas zustößt, falls Sie verstehen, was ich meine.« George kicherte. »Wären Sie gern der unbeliebteste Mann in Philadelphia, Arthur?« »Was?« »Genau das werde ich sein, wenn Franz Schirmer irgend etwas zustößt.« 286
»Oh, là, là! Dann will ich nichts gesagt haben.« »Schwamm drüber. Sagen Sie, wie wär’s, wenn Sie die Kurven diesmal beim Runterfahren ein bißchen langsamer nehmen?« »Okay, Kumpel. Sie haben das Sagen. Fahren wir also langsam.« Die Öffnung zwischen dem Fahrersitz und der Ladefläche wurde von einer Klappe verdeckt, und während der Fahrt hinunter zur Schlucht zündete George ein Streichholz an, damit Miss Kolin noch einmal einen Blick auf die falschen Nummernschilder werfen konnte. Sie betrachtete sie eingehend und nickte. George löschte ungeduldig das Streichholz. Sofern er überhaupt je die Hoffnung gehabt hatte, bei dem Feldwebel könnte es sich am Ende doch nur um einen harmlosen Eiferer vom Typ Phengaros handeln, hatte er sie längst aufgegeben. Es war abwegig, sich weiter an Strohhalme zu klammern. Arthur setzte sie an der Schlucht ab und versprach, sie am nächsten Abend an gleicher Stelle wieder abzuholen. Sie stolperten zum Wagen zurück, weckten den alten Mann und machten sich auf den Rückweg nach Florina. Obwohl es seit der Begegnung mit dem Feldwebel die erste Gelegenheit für sie war, sich unter vier Augen zu unterhalten, schwiegen sie beide mehrere Minuten lang. Dann endlich brach Miss Kolin das Schweigen. »Was haben Sie jetzt vor?« fragte sie. 287
»Der Kanzlei telegrafieren und um Instruktionen bitten.« »Die Polizei wollen Sie nicht informieren?« »Nicht, wenn mir die Kanzlei nicht ausdrücklich Anweisung dazu gibt. Ich bin mir ohnehin keineswegs sicher, daß wir ihnen mehr als vage Vermutungen mitzuteilen hätten.« »Ist das Ihre ehrliche Meinung?« »Miss Kolin, man hat mich nicht nach Europa geschickt, damit ich für die griechische Polizei den Spitzel spiele, sondern damit ich den rechtmäßigen Erben des Nachlasses Schneider-Johnson finde und in Philadelphia präsentiere. Und genau das tue ich. Was er hier ist, geht mich nichts an. Meinetwegen kann er Brigant, Bandit, Verbrecher, Handelsreisender oder der Metropolit von Saloniki sein. In Philadelphia ist er der rechtmäßige Erbe des Nachlasses Schneider-Johnson, und was er hier ist, berührt seinen Anspruch nicht im geringsten.« »Ich würde meinen, daß es seine Glaubwürdigkeit vor Gericht erheblich beeinträchtigt.« »Darüber soll sich sein Anwalt den Kopf zerbrechen, nicht ich, und er soll damit umgehen, wie er mag. Was machen Sie sich überhaupt Gedanken darum?« »Ich dachte, Sie glauben an Gerechtigkeit.« »Das tue ich auch. Deswegen geht Franz Schirmer auch nach Philadelphia, wenn ich ihn hinschaffen kann.« »Gerechtigkeit!« Sie lachte unangenehm. 288
George war bereits müde; nun begann er auch noch ärgerlich zu werden. »Hören Sie, Miss Kolin. Sie sind als Dolmetscherin engagiert, nicht als Rechtsberaterin oder als mein berufliches Gewissen. Wir wollen uns beide um unsere eigene Arbeit kümmern. Im Augenblick kommt es nur darauf an, daß dieser Mann, so unglaublich es auch erscheinen mag, Franz Schirmer ist.« »Er ist außerdem ein Deutscher der übelsten Sorte«, sagte sie mürrisch. »Was für eine Sorte er ist, interessiert mich nicht. Mich geht nur die Tatsache etwas an, daß er existiert.« Einen Moment lang herrschte Schweigen, und er meinte schon, die Auseinandersetzung sei beendet. Dann begann sie erneut zu lachen. »Ein eindrucksvoller Bursche, der Feldwebel!« sagte sie spöttisch. »Nun passen Sie mal auf, Miss Kolin«, begann er, »ich war sehr …« Aber sie hörte gar nicht mehr zu. »Dieses Schwein!« rief sie wütend aus. »Dieses dreckige Schwein!« George starrte sie an. Sie begann sich mit den Fäusten auf die Knie zu hämmern und wiederholte dabei immer wieder das Wort »Schwein«. »Miss Kolin. Meinen Sie nicht …« Sie fuhr ihn an. »Dieses Mädchen in Saloniki! Haben Sie gehört, was er getan hat?« 289
»Ich habe auch gehört, was sie getan hat.« »Nur aus Rache, nachdem er sie verführt hatte. Und wie viele hat er noch so behandelt?« »Ist das nicht ein bißchen albern?« Sie hörte ihn nicht. »Wie viele Opfer gibt es noch?« Ihre Stimme hob sich. »Es ist immer dasselbe mit diesen Bestien – sie morden und foltern und vergewaltigen, wo sie auch hinkommen. Was wissen die Amerikaner und die Briten schon von ihnen? Eure Armeen kämpfen nicht in ihrem eigenen Land. Fragen Sie die Franzosen nach den Deutschen auf ihren Straßen und in ihren Häusern. Fragen Sie die Polen und Russen, die Tschechen, die Jugoslawen. Diese Männer sind ein dreckiges Geschmeiß in den Ländern, die unter ihnen leiden. Dreck! Sie prügeln und foltern, prügeln und foltern, drücken mit ihrer Gewalt alles nieder, bis sie … bis sie …« Sie brach ab und starrte mit leerem Blick geradeaus, als hätte sie vergessen, was sie hatte sagen wollen. Dann plötzlich brach sie mit einem heftigen Weinkrampf zusammen. George saß so unerschütterlich da, wie seine Verlegenheit und das Schlingern des Wagens es zuließen, und versuchte, sich zu erinnern, wie viele Gläser er sie seit ihrer Abfahrt in Florina hatte trinken sehen. Es kam ihm so vor, als wäre ihr Glas kein einziges Mal leer gewesen, während sie sich im Hauptquartier des Feldwebels aufgehalten hatten, aber er konnte sich nicht genau erinnern. Wahrscheinlich hatte sie es immer wieder nachgefüllt. 290
Wenn das stimmte, dann mußte sie zusätzlich zu ihren Verdauungskognaks fast eine ganze Flasche Pflaumenschnaps intus haben. Er war zu beschäftigt gewesen, um sonderlich auf sie zu achten. Mittlerweile schluchzte sie leise vor sich hin. Der alte Mann, der fuhr, hatte sich nur ein einziges Mal umgesehen und dann kein Interesse mehr gezeigt. Vermutlich war er an außer Fassung geratende Frauen gewöhnt. George war es nicht. Sie tat ihm leid; aber er erinnerte sich auch an ihr Vergnügen an den Anekdoten von Oberst Chrysanthos, dem Mann, der wußte, ›wie man mit Deutschen umgeht‹. Nach einer Weile schlief sie ein, den in ihre Arme gebetteten Kopf an die Rückenlehne gelehnt. Der Himmel begann gerade hell zu werden, als sie aufwachte. Eine Zeitlang starrte sie auf die Straße, ohne von dem Wind Notiz zu nehmen, der ihr das Haar zerzauste; dann nahm sie eine Zigarette heraus und versuchte, ihr Feuerzeug in Gang zu setzen. Der Fahrtwind war zu stark dafür, und George, der bereits rauchte, reichte ihr seine Zigarette, damit sie ihre daran anzünden konnte. Sie bedankte sich in völlig normalem Ton. Sie kam mit keinem Wort auf ihren Ausbruch zurück. Zweifellos hatte sie ihn vergessen. Bei Miss Kolin, so hatte er mittlerweile befunden, war alles möglich. Er beendete seinen Bericht an Mr. Sistrom und steckte ihn in einen Umschlag, den er verschloß. Die Post, dachte er, dürfte mittlerweile offen sein. 291
Er nahm Bericht und Telegramm und ging nach unten. Er hatte Miss Kolin vor über einer Stunde allein gelassen, als sie auf ihr Zimmer gegangen war. Zu seinem Erstaunen sah er sie im Café sitzen, und auf dem Tisch vor ihr standen die Überreste eines Frühstücks. Sie hatte sich umgezogen und wirkte vollkommen ausgeschlafen. »Ich dachte, Sie wären zu Bett gegangen«, sagte er. »Sie haben gesagt, Sie wollten Ihrer Kanzlei telegrafieren. Ich habe gewartet, um das Telegramm zur Post zu bringen. Bei Telegrammen machen die dort ein ungeheures Getue. Es werden so selten welche aufgegeben. Ich dachte mir, Sie haben keine Lust, sich selber mit ihnen herumzuschlagen.« »Das ist sehr nett von Ihnen, Miss Kolin. Hier ist es. Meinen Bericht habe ich auch aufgesetzt. Würden Sie ihn bitte per Luftpost aufgeben?« »Natürlich.« Sie ließ für das Frühstück etwas Geld auf dem Tisch liegen und wollte gerade durch die Eingangshalle zur Straße gehen, als der Portier ihr nachkam und auf französisch etwas zu ihr sagte. George schnappte das Wort »téléphone« auf. Sie nickte dem Portier zu und lächelte George, wie dieser fand, fast verlegen an. »Mein Gespräch nach Paris«, sagte sie. »Ich hatte meinen Freunden telegrafiert, daß ich auf dem Weg nach Hause bin. Ich wollte ihnen sagen, daß ich nun 292
doch noch aufgehalten werde. Was meinen Sie, wie lange werden wir noch hier sein?« »Zwei, drei Tage, würde ich sagen.« Er wandte sich zum Gehen. »Ziemlich gute Leistung, in einer Stunde von hier nach Paris durchzukommen«, fügte er hinzu. »Ja.« Er sah, wie sie die Telefonzelle betrat und zu sprechen begann, während er nach oben in sein Zimmer zurückging, um zu schlafen. Um acht Uhr an diesem Abend trafen sie erneut den alten Mann mit dem Renault und machten sich auf ihre zweite Fahrt zum Hauptquartier des Feldwebels. George hatte den ganzen Tag unruhig geschlafen und fühlte sich deswegen noch viel erschöpfter. In der schwachen Hoffnung, es könnte vielleicht schon ein Antworttelegramm von Mr. Sistrom dasein, war er am Spätnachmittag aufgestanden und hinuntergegangen, um nachzufragen. Es war noch nichts gekommen. Er war enttäuscht, aber nicht überrascht gewesen. Mr. Sistrom würde einiges zu überlegen und einige Nachforschungen anzustellen haben, ehe er sinnvoll antworten konnte. Miss Kolin war außer Haus gewesen, und als er nun neben ihr im Wagen saß, fiel ihm auf, daß die Lederhandtasche, die sie an einem Schulterriemen trug, praller wirkte als sonst. Er kam zu dem Schluß, daß sie sich eine Flasche Schnaps gekauft hatte, um sich während der Fahrt damit zu stärken. Er hoffte mit einem gewissen Un293
behagen, daß sie ihr nicht allzu heftig zusprechen würde. Arthur wartete an derselben Stelle auf sie und ließ als Vorsichtsmaßnahme wie gehabt die Plane herunter. Es war noch wärmer als in der Nacht zuvor, und George protestierte. »Ist das denn überhaupt noch nötig?« »Tut mir leid, Kumpel. Muß sein.« »Es ist eine kluge Vorsichtsmaßnahme«, sagte Miss Kolin vollkommen unerwartet. »Ja, ganz recht, Miss.« Arthur war anscheinend ebenso überrascht wie George. »Haben Sie dem Feldwebel seine Papiere mitgebracht, Mr. Carey?« »Ja.« »Gut. Er hat sich schon Sorgen gemacht, daß Sie’s vielleicht vergessen. Kann’s gar nicht abwarten, mehr über seinen Namensvetter zu erfahren.« »Ich habe auch einen Abzug von einem alten Foto von ihm mitgebracht.« »Sie werden einen Orden kriegen.« »Wie hat er sich entschieden?« »Ich weiß nicht. Gestern nacht, nachdem Sie fort waren, haben wir uns noch unterhalten, aber … egal, reden Sie selbst mit ihm. Na denn! Alles fertig? Ich werd’s ruhig angehen lassen.« Sie fuhren erneut die gewundene Schotterstraße zu dem verfallenen Haus hinauf, wo sie wieder die gleiche Prozedur über sich ergehen lassen mußten. Diesmal jedoch hatten George und Miss Kolin nichts zueinander zu sagen, während sie zwischen 294
den Pinien darauf warteten, daß Arthur den Posten von ihrem Kommen unterrichtete. Arthur kehrte zurück und führte sie zum Haus. Der Feldwebel begrüßte sie im Flur, indem er George die Hand schüttelte und vor Miss Kolin die Hacken zusammenschlug. Er lächelte, wirkte jedoch innerlich angespannt, als sei er über ihre guten Absichten im Zweifel. Miss Kolin, so stellte George erleichtert fest, legte ihre übliche Teilnahmslosigkeit an den Tag. Der Feldwebel führte sie ins Eßzimmer, goß etwas zu trinken ein und beäugte Georges Aktentasche. »Haben Sie die Papiere mitgebracht?« »Aber ja.« George öffnete die Aktentasche. »Ah!« »Und ein Foto des Dragoners«, fügte George hinzu. »Wirklich?« »Alles hier drin.« George nahm einen Ordner heraus, den er aus Philadelphia mitgebracht hatte. Er enthielt Fotokopien oder Fotografien sämtlicher wichtiger Dokumente des Falls. »Der Corporal hatte keine Zeit mehr, die interessanten Sachen zu lesen, als er mein Zimmer durchsucht hat«, fügte er mit einem Grinsen hinzu. »Touché«, sagte Arthur ungerührt. Der Feldwebel setzte sich an den Tisch, und seine Augen leuchteten wie in Erwartung eines ambrosischen Mahls. George legte die Dokumente nacheinander vor ihn hin und erklärte jeweils deren Her295
kunft und Bedeutung. Der Feldwebel nickte bei jeder Erklärung verständig oder wandte sich zwecks Orientierung an Miss Kolin; aber George erkannte rasch, daß er sich im Grunde genommen nur für ganz bestimmte Dokumente interessierte – diejenigen, die unmittelbar den ersten Franz Schirmer betrafen. Selbst ein Foto von Martin Schneider, dem Limonadenmagnaten, der das Vermögen angehäuft hatte, das der Feldwebel womöglich erben würde, entlockte ihm nicht mehr als einen höflichen Ausruf. Die Fotokopien von Hans Schneiders Bericht dagegen sowie die Kirchenbucheinträge über die Heirat von Franz und die Taufe von Karl studierte er eingehend und las sich den deutschen Text laut vor. Mit dem Foto des alten Franz ging er um, als handelte es sich um eine Reliquie. Er starrte es lange Zeit an, ohne ein Wort zu sagen; dann wandte er sich an Arthur. »Was meinst du, Corporal?« sagte er ruhig. »Sehe ich ihm nicht ähnlich?« »Man braucht sich nur den Bart wegzudenken, und er ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten«, pflichtete Arthur bei. Und für jemanden, der das Verwandtschaftsverhältnis kannte, bestand in der Tat eine starke Ähnlichkeit zwischen den beiden Schirmers. Da war die gleiche markante Kraft in den Gesichtern, die gleiche Entschlossenheit um die Mundpartie, die gleiche aufrechte Haltung, während die großen Hände, die auf der Daguerrotypie die Stuhllehnen gepackt hielten, und diejenigen, die das Foto davon hielten, 296
ohne weiteres zu ein und demselben Mann hätten gehören können. Es klopfte an der Tür, und der Posten steckte den Kopf herein. Er winkte Arthur zu sich. Arthur seufzte ungeduldig. »Ich sehe mal lieber nach, was er will«, sagte er, ging hinaus und schloß die Tür hinter sich. Der Feldwebel achtete gar nicht darauf. Mittlerweile lächelte er über Hans Schneiders Bericht von Eylau und die Fotokopie einer Seite aus dem Kriegstagebuch der Dragoner, die George daneben gelegt hatte und auf der es um Franz Schirmers Fahnenflucht ging. Dieser alte Akt von Fahnenflucht schien ihm besonderes Vergnügen zu bereiten. Von Zeit zu Zeit warf er abermals einen Blick auf die Fotografie des Alten. Daß der Feldwebel selbst nicht nach Deutschland zurückgekehrt war, als sich Gelegenheit dazu bot (er hätte eine der Amnestien nutzen können), stellte, so vermutete George, wohl auch eine Art Fahnenflucht dar. Was dem Feldwebel nun solche Freude machte, war vielleicht die Mitteilung aus der Vergangenheit, daß Sünder, entgegen seinem Kindheitsglauben, durchaus nicht immer bei Teufeln hausen müssen und daß Gesetzlose und Deserteure, nicht anders als Märchenprinzen, bis an ihr selig Ende fortleben können. »Haben Sie sich schon entschieden, was Sie machen werden?« fragte George. Der Feldwebel blickte auf und nickte. »Ja, ich 297
glaube schon, Mr. Carey. Aber zuerst möchte ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen.« »Ich werde mich bemühen, sie nach …«, begann George. Aber er sollte nie erfahren, wie die Fragen des Feldwebels lauteten. In diesem Moment nämlich wurde die Tür aufgerissen, und Arthur kam ins Zimmer zurück. Er knallte die Tür hinter sich zu, kam zum Tisch herüber und sah George und Miss Kolin grimmig an. Sein Gesicht war vor Wut verkniffen und grau. Plötzlich warf er zwei kleine hellgelbe Röhrchen vor ihnen auf den Tisch. »Na schön«, sagte er. »Wer von euch beiden war’s? Oder wart ihr’s beide?« Die Röhrchen waren knapp vier Zentimeter lang und einen Zentimeter dick. Sie sahen aus, als wären sie von einem Stück Bambus abgeschnitten und dann gefärbt worden. Die drei um den Tisch starrten sie an, dann kehrte ihr Blick zu Arthur zurück. »Was soll das?« blaffte der Feldwebel. Arthur brach in einen wütenden griechischen Wortschwall aus. George warf einen Blick auf Miss Kolin. Ihr Gesicht war immer noch gleichmütig, aber sie war sehr blaß geworden. Dann verstummte Arthur, und es trat Schweigen ein. Der Feldwebel hob eines der Röhrchen auf, und sein Blick ging von ihm zu George und Miss Kolin. Seine Gesichtsmuskeln spannten sich an. Er nickte Arthur zu. 298
»Erklär es Mr. Carey.« »Als ob er’s nicht selber wüßte!« Arthur preßte die Lippen zusammen. »Na schön. Jemand hat mit den Dingern eine Spur von der Schlucht bis hierher gelegt. Ungefähr alle fünfzig Meter eins, damit uns jemand folgen kann. Einer von den Jungs, der mit einer Lampe raufkam, hat sie gefunden.« Der Feldwebel sagte etwas auf deutsch. Arthur nickte. »Bevor ich hierhergekommen bin, habe ich die anderen losgeschickt, damit sie alle einsammeln.« Er sah George an. »Irgendeine Ahnung, wer sie ausgelegt haben könnte, Mr. Carey? Eins davon war zwischen Plane und Karosserie des lkws eingeklemmt, also versuchen Sie erst gar nicht, sich dumm zu stellen.« »Dumm oder nicht«, sagte George ruhig. »Ich weiß nichts davon. Was ist das überhaupt?« Der Feldwebel stand langsam auf. George konnte den Puls an seinem Hals sehen, als er Georges Aktentasche zu sich heranzog und hineinsah. Dann schloß er sie. »Vielleicht sollte man mal die Dame fragen«, sagte er. Miss Kolin saß stocksteif da und schaute starr geradeaus. Plötzlich griff er nach unten und hob ihre Handtasche auf, die neben ihrem Stuhl auf dem Boden stand. »Sie erlauben?« sagte er, schob die Hand hinein und zog ein Gewirr dünner Schnur heraus. Er zog langsam an der Schnur. Ein gelbes Röhr299
chen kam zum Vorschein, dann noch eins, dann eine ganze Handvoll, rote und blaue wie gelbe. Es waren Holzperlenschnüre, wie man sie benutzt, um Perlenschnurvorhänge zu machen. George wußte jetzt, daß ihre Handtasche nicht von einer Schnapsflasche so prall gewesen war. Ihm begann schlecht zu werden. »So!« Der Feldwebel warf die Perlen auf den Tisch. »Haben Sie davon gewußt, Mr. Carey?« »Nein.« »Das stimmt«, warf Arthur plötzlich ein. »Es war unsere kleine Unnahbare hier, die darauf bestanden hat, daß die Plane runtergelassen wird. Wollte nicht, daß er sieht, was sie vorhat.« »Herrgott noch mal, Miss Kolin!« sagte George wütend. »Was glauben Sie denn, was das hier ist?« Sie stand entschlossen auf, als wollte sie auf einer öffentlichen Versammlung ein Mißtrauensvotum abgeben, und wandte sich an George. Arthur und den Feldwebel würdigte sie keines Blickes. »Ich muß Ihnen wohl erklären, Mr. Carey«, sagte sie kalt, »daß ich es im Interesse der Gerechtigkeit und angesichts Ihrer Weigerung, selbst irgendwelche Schritte in dieser Angelegenheit zu unternehmen, für meine Pflicht gehalten habe, Oberst Chrysanthos in Saloniki anzurufen und ihm in Ihrem Namen mitzuteilen, daß die Männer, die die Eurasische Kreditbank in Saloniki ausgeraubt haben, hier sind. Auf seine Anweisung habe ich die Strecke von der Schlucht an markiert, so daß seine Truppen …« 300
Die Faust des Feldwebels traf sie voll auf den Mund, und sie krachte in die Ecke des Zimmers, wo die leeren Flaschen standen. George sprang auf. Im gleichen Moment fuhr ihm schmerzhaft der Lauf von Arthurs Pistole in die Seite. »Keine Bewegung, Freundchen, sonst tun Sie sich weh«, sagte Arthur. »Sie hat es so haben wollen, und jetzt kriegt sie’s.« Miss Kolin lag auf den Knien, aus ihrer aufgeschlagenen Lippe tropfte Blut. Sie sahen ihr zu, wie sie sich langsam aufrichtete. Plötzlich griff sie nach einer Flasche und schleuderte sie nach dem Feldwebel. Er rührte sich nicht. Die Flasche verfehlte ihn um ein paar Zentimeter und zerklirrte an der gegenüberliegenden Wand. Schirmer trat vor und schlug sie mit dem Handrücken kräftig ins Gesicht. Sie ging erneut zu Boden. Sie hatte keinen Laut von sich gegeben und machte auch jetzt keinen Mucks. Kurz darauf begann sie sich erneut aufzurappeln. »Ich sehe mir das nicht länger an«, sagte George wütend und machte eine Bewegung. Die Pistole bohrte sich in seine Seite. »Lassen Sie das, Kumpel, sonst kriegen Sie eine Kugel in die Niere. Das geht Sie nichts an, also halten Sie die Klappe!« Miss Kolin griff erneut nach einer Flasche. Mittlerweile lief ihr das Blut aus der Nase. Wieder fixierte sie den Feldwebel. 301
»Du Schuft!« fauchte sie giftig und stürzte sich auf ihn. Er fegte die Flasche beiseite und schlug sie erneut mit der Faust ins Gesicht. Als sie diesmal zu Boden fiel, versuchte sie nicht wieder aufzustehen, sondern blieb keuchend liegen. Der Feldwebel ging zur Tür und machte sie auf. Davor wartete der Posten, der Arthur geholt hatte. Der Feldwebel winkte ihn herein, deutete auf Miss Kolin und gab auf griechisch einen Befehl. Der Mann grinste und hängte sich sein Gewehr über den Rücken. Dann ging er zu Miss Kolin hinüber und zerrte sie hoch. Sie stand schwankend da und wischte sich mit der Hand das Blut vom Gesicht. Er packte sie am Arm und sagte etwas zu ihr. Ohne ein Wort und ohne einen Blick für einen der Anwesenden setzte sie sich Richtung Tür in Bewegung. »Miss Kolin …« George ging auf sie zu. Sie nahm keine Notiz von ihm. Der Posten stieß ihn beiseite und folgte Miss Kolin aus dem Zimmer. Die Tür ging zu. George wurde ganz übel, und er wandte sich zitternd dem Feldwebel zu. »Immer mit der Ruhe, Kumpel«, sagte Arthur. »Markieren Sie bloß nicht den heldenhaften Retter. Das zieht hier nicht.« »Wohin bringt man sie?« fragte George. Der Feldwebel leckte sich das Blut von einem Finger. Er warf George einen flüchtigen Blick zu, 302
setzte sich dann an den Tisch und nahm den Paß aus Miss Kolins Handtasche. »Maria Kolin«, meinte er. »Französin.« »Ich habe gefragt, wohin man sie bringt.« Arthur stand immer noch neben ihm. »An Ihrer Stelle würde ich hier keine große Lippe riskieren, Mr. Carey«, riet er. »Immerhin haben Sie sie hierhergebracht.« Der Feldwebel studierte den Paß. »Geboren in Belgrad«, sagte er. »Slawin.« Er klappte den Paß mit einem Knall zu. »Und jetzt unterhalten wir uns ein bißchen.« George blieb stumm. Der Blick des Feldwebels ruhte auf ihm. »Wie haben Sie das herausgekriegt, Mr. Carey?« George zögerte. »Machen Sie den Mund auf, Kumpel, aber ein bißchen plötzlich.« »Der lkw, in dem der Corporal uns hergebracht hat – der hatte Vorrichtungen für falsche Nummernschilder, und die Nummernschilder lagen auf der Ladefläche. Es waren dieselben Nummern wie die, von denen in den Zeitungen die Rede war.« Arthur fluchte. Der Feldwebel nickte knapp. »So! Haben Sie das gestern abend schon gewußt?« »Ja.« »Aber Sie sind heute nicht zur Polizei gegangen?« »Ich habe lediglich ein verschlüsseltes Telegramm an meine Kanzlei geschickt, in dem ich darum gebe303
ten habe, festzustellen, was der Auslieferungsvertrag zwischen Amerika und Griechenland über bewaffneten Raubüberfall sagt.« »Wie bitte?« Arthur erklärte es auf griechisch. Der Feldwebel nickte. »Das war gut. Hat sie gewußt, daß Sie das getan haben?« »Ja.« »Warum erzählt sie’s dann Chrysanthos?« »Sie mag die Deutschen nicht.« »Ach ja?« George richtete den Blick angelegentlich auf die Hände des Feldwebels. »Ich kann es ihr nachfühlen.« »Immer mit der Ruhe, Kumpel.« Der Feldwebel lächelte rätselhaft. »Sie können es ihr nachfühlen? Das glaube ich nicht.« Der Posten kam herein, gab dem Feldwebel mit einer kurzen Erklärung einen Schlüssel und ging wieder hinaus. Der Feldwebel steckte den Schlüssel in die Tasche und goß sich ein Glas Pflaumenschnaps ein. »Und jetzt«, sagte er, »müssen wir überlegen, was zu tun ist. Ihre kleine Freundin ist oben in einem Zimmer sicher untergebracht. Ich denke, wir müssen Sie auch bitten, hierzubleiben, Mr. Carey. Nicht, daß ich Ihnen nicht vertraue, aber im Augenblick haben Sie, weil Sie nichts begreifen, das Gefühl, Sie müßten den Corporal und mich vernichten. In zwei Tagen vielleicht, wenn der Corporal und ich unsere 304
Angelegenheiten endgültig geregelt haben, dürfen Sie gehen.« »Haben Sie vor, mich gewaltsam hier festzuhalten?« »Nur wenn Sie nicht so klug sind, aus freien Stücken hierzubleiben.« »Haben Sie etwa vergessen, weshalb ich hier bin?« »Nein. In zwei Tagen teile ich Ihnen meine Entscheidung mit, Mr. Carey. Bis dahin bleiben Sie hier.« »Und wenn ich Ihnen nun sage, daß Sie genausoviel Aussicht haben, den Nachlaß zu erben, wie der Posten da draußen, wenn Sie Miss Kolin und mich nicht augenblicklich freilassen?« »Da wird Ihre Kanzlei in Amerika aber sehr traurig sein. Arthur hat mir alles erklärt.« George spürte, wie er rot wurde. »Ist Ihnen eigentlich schon einmal der Gedanke gekommen, daß Oberst Chrysanthos, ob mit oder ohne Spur, nicht mehr lange brauchen wird, diesen Ort hier zu finden? In zwei, drei Stunden können Sie schon von griechischen Truppen umzingelt sein.« Arthur lachte. Der Feldwebel lächelte grimmig. »Wenn es so ist, Mr. Carey, wird Chrysanthos Ärger mit seiner Regierung bekommen. Aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Wenn dieser böse Oberst kommt, werden wir Sie beschützen. Ein Glas Wein? Nein? Schnaps? Auch nicht? Dann wird der Corporal Ihnen jetzt zeigen, wo Sie schla305
fen können, Sie sind bestimmt müde. Gute Nacht.« Er entließ ihn mit einem Nicken und vertiefte sich wieder in die Fotokopien, wobei er die, die ihn besonders interessierten, auf einen gesonderten Stapel legte. »Hier entlang, Kumpel.« »Einen Moment. Was ist mit Miss Kolin, Herr Feldwebel?« Der Feldwebel blickte nicht auf. »Um die müssen Sie sich keine Sorgen machen, Mr. Carey. Gute Nacht.« Arthur ging voran; George folgte ihm; die Wache bildete die Nachhut. Sie gingen nach oben in ein heruntergekommenes Zimmer mit einer Strohmatratze auf den Dielen und einem Eimer in der Ecke. Die Wache brachte eine Petroleumlampe. »Es ist nur für ein paar Nächte, Mr. Carey«, sagte Arthur – der Empfangschef, der sich bei einem geschätzten Gast entschuldigt, der unerwartet eingetroffen ist. »Sie werden feststellen, daß der Strohsack ziemlich sauber ist. Der Feldwebel legt großen Wert auf Hygiene.« »Wo ist Miss Kolin?« »Nebenan.« Er zeigte mit dem Daumen in die entsprechende Richtung. »Aber machen Sie sich ihretwegen keine Sorgen. Sie hat ein besseres Zimmer als das hier.« »Was hat der Feldwebel gemeint, als er sagte, Chrysanthos würde Ärger mit der Regierung bekommen?« 306
»Falls er uns zu umzingeln versucht? Tja, die griechische Grenze ist fast einen Kilometer von hier entfernt. Wir sind auf jugoslawischem Boden. Ich dachte, das hätten Sie längst erraten.« George verdaute diese beunruhigende Nachricht, während Arthur den Lampendocht regulierte. »Und was ist mit den Grenzpatrouillen?« Arthur hängte die Lampe an einen Haken, der aus der Wand ragte. »Sie wollen zuviel wissen, Kumpel.« Er ging zur Tür. »Die Tür hat kein Schloß, aber falls Sie dran denken schlafzuwandeln, draußen steht ein putzmunterer Posten, und er hat einen nervösen Zeigefinger. Kapiert?« »Ja.« »Ich sage Ihnen Bescheid, wenn’s Frühstück gibt. Träumen Sie süß.« Es war etwa eine Stunde vergangen, als George den Feldwebel heraufkommen und etwas zu dem Posten sagen hörte. Der Posten antwortete kurz. Ein, zwei Augenblicke später hörte George, wie ein Schlüssel in das Türschloß des Zimmers nebenan eingeführt wurde – des Zimmers, in dem sich laut Arthur Miss Kolin befand. In der Vorstellung, sie beschützen zu müssen, fuhr George von der Matratze hoch, auf der er gelegen hatte, und ging zur Tür. Er machte sie nicht sofort auf. Er hörte Miss Kolins Stimme, dann die des Feldwebels. Es trat kurzes Schweigen ein, dann hör307
te er das Geräusch der sich schließenden Tür. Erneut drehte sich der Schlüssel im Schloß. Eine Zeitlang dachte er, der Feldwebel sei gegangen, und verfügte sich wieder in die Ecke, in der seine Matratze lag. Dann hörte er erneut die Stimme des Feldwebels und ihre. Sie sprachen auf deutsch miteinander. Er ging zur Wand und lauschte. Ihre Stimmen klangen merkwürdig nach Plauderton. George verspürte ein seltsames Unbehagen, und sein Herzschlag beschleunigte sich. Mittlerweile waren die Stimmen verstummt, aber bald darauf begannen sie von neuem, und zwar leise, als wollten die Sprecher nicht belauscht werden. Dann war es lange Zeit still. Er legte sich wieder auf die Matratze. Minuten vergingen; dann hörte er Miss Kolin in die Stille hinein einen durchdringenden, leidenschaftlichen Schrei ausstoßen. Er rührte sich nicht. Nach einer Weile war wieder leises Stimmengemurmel zu hören. Dann nichts mehr. Zum erstenmal in dieser Nacht nahm er das Geräusch der Zikaden vor seinem Fenster wahr. Endlich begann er Miss Kolin zu verstehen.
12
G
eorge wurde zwei Tage und drei Nächte lang im Hauptquartier des Feldwebels festgehal-
ten. Am ersten Tag verließ der Feldwebel das Haus kurz nach Tagesanbruch und kehrte erst zurück, als es schon dunkel war. George verbrachte den Tag in dem Zimmer im Erdgeschoß und nahm dort auch mit Arthur seine Mahlzeiten ein. Er bekam weder den Feldwebel noch Miss Kolin zu Gesicht. Nach der ersten Nacht wurde sie in ein anderes Zimmer in einem Anbau verlegt, und eine der Wachen brachte ihr dort das Essen. Als George fragte, ob er sie sehen könne, schüttelte Arthur den Kopf. »Tut mir leid, Kumpel. Geht nicht.« »Was ist mit ihr passiert?« »Dreimal dürfen Sie raten.« »Ich will sie sehen.« Arthur zuckte die Achseln. »Mir ist es egal, ob Sie sie sehen oder nicht. Es ist nur so, daß sie keine Lust hat, Sie zu sehen.« »Fehlt ihr auch nichts?« »Quietschfidel ist sie.« Er grinste. »Aufgeschlagene Lippe natürlich und ein, zwei blaue Flecken, 309
aber sie strahlt wie eine Braut. Sie würden sie nicht wiedererkennen.« »Wie lange soll das eigentlich noch so gehen?« »Bin ich überfragt. Ich würde sagen, es hat gerade erst angefangen.« »Aber das ist doch abwegig, nach allem, was passiert ist.« Arthur sah ihn ziemlich belustigt an. »Ich glaube, Sie haben eine behütete Kindheit gehabt. Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie hat es so haben wollen, oder? Tja, und nun hat sie’s gekriegt und dazu noch auf sehr nette Art. Ich hab noch nie erlebt, daß der Feldwebel sich so in eine verguckt hat.« »Verguckt!« George wurde wütend. »Ich gehe jede Wette ein, daß sie noch Jungfrau war«, sinnierte Arthur, »oder jedenfalls so gut wie.« »Herr des Himmels!« »Was ist denn mit Ihnen los, Kumpel? Die Trauben zu sauer?« »Ich glaube nicht, daß es viel Sinn hat, darüber zu diskutieren. Ist Oberst Chrysanthos aufgetaucht?« »Der Sheriff und seine Leute, meinen Sie? Klar. Die sitzen gleich hinter der Grenze auf ihrem Hintern, machen ein dummes Gesicht und warten drauf, daß irgendwas passiert.« »Vielleicht warten Sie auch darauf, daß Miss Kolin und ich auftauchen. Angenommen, die amerikanische Gesandtschaft wird eingeschaltet und fängt an, sich in Belgrad zu beschweren. Könnte ein bißchen unangenehm für Sie werden, oder?« 310
»Ehe die sich auch nur darüber verständigt haben, ob sie etwas unternehmen wollen, werden Sie längst zurück sein. Und wenn Sie dann zurück sind, werden Sie noch mal darüber nachdenken, was für einen Aufstand Ihre Kanzlei wegen des Feldwebels veranstalten wird, und Sie werden sagen, daß alles ein Irrtum war.« »Das haben Sie sich ja hübsch ausgedacht. Ich weiß gar nicht, weshalb Sie sich dann so aufregen mußten.« »Nein? Tja, erst mal haben Sie den armen alten Kerl verhaftet, der euch gefahren hat. Nicht besonders lustig, oder?« »Woher wissen Sie das?« »Das haben wir heute morgen aus Florina erfahren.« »Wie denn?« »Stellen Sie keine Fragen, dann kriegen Sie auch keine Lügen zu hören. Eines kann ich Ihnen allerdings sagen. Die Komitadschis sind schon seit über fünfzig Jahren in diesen Bergen zu Hause. Es gibt in dieser Gegend nur wenig, womit Sie nicht davonkommen, wenn Sie sich auskennen. Vergessen Sie nicht, daß das auf beiden Seiten der Grenze Mazedonier sind. Wenn es um Kleinkram wie die Geschichte hier geht, haben die Jungs von Chrysanthos nicht den Hauch einer Chance.« »Was passiert mit dem Fahrer?« »Das kommt drauf an. Er ist ein alter Komitadschi, also wird er nicht sagen, von wem er seine Be311
fehle hat, ganz gleich, was sie mit ihm machen. Aber unangenehm ist es schon. Er ist nämlich nicht der einzige in Florina. Da ist zum Beispiel die alte Ma Vassiotis. Vielleicht werden sie sich die mal vornehmen. Wissen Sie, wenn der Feldwebel hier nicht einiges auf den Kopf gestellt hätte, würde ich am liebsten rauf gehen und Ihrer Miss Dingsbums selber eine Abreibung verpassen.« »Angenommen, ich würde Chrysanthos sagen, ich hätte das Auto gemietet und dem Alten gesagt, wo er hinfahren soll?« »Vielleicht würde er Ihnen das sogar abnehmen. Aber woher haben Sie gewußt, wo Sie hinfahren müssen?« »Ich würde sagen, daß Sie’s mir gesagt haben.« Arthur lachte. »Ein richtiger Anwalt sind Sie, was?« »Würde Ihnen das was ausmachen?« »Nicht das geringste.« »Dann ist ja alles okay.« Arthur war damit beschäftigt, eine Pistole zu reinigen. George sah ihm eine Weile schweigend zu. Schließlich sagte er: »Angenommen, die Frage, ob der Feldwebel nach Amerika geht, hätte sich gar nicht gestellt. Hätten Sie dann trotzdem mit Ihrer Masche weitergemacht?« Arthur blickte auf, dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Ich denke, damit sind wir so ziemlich fertig.« »Weil Sie das große Ding abgezogen haben?« 312
»Vielleicht. Ist sowieso Zeit, unsere Zelte abzubrechen.« Er beugte sich wieder über die Pistole. »Reichlich Kohle auf die Seite gelegt?« fragte George nach einer Weile. Verblüfft blickte Arthur auf. »Ich hab noch nie jemand kennengelernt, der so schlechte Manieren hat«, sagte er. »Nun hören Sie schon auf, Arthur.« Aber Arthur war aufrichtig empört. »Wie würde es Ihnen gefallen, wenn ich Sie frage, wieviel Geld Sie auf der Bank haben?« fragte er empört. »Na schön. Dann verraten Sie mir etwas anderes. Wie hat das Ganze eigentlich angefangen? Der Feldwebel hat sich da sehr bedeckt gehalten. Was ist am Ende aus der Markos-Brigade geworden, die Sie beide befehligt haben?« Arthur schüttelte bekümmert den Kopf. »Sie können einem wirklich ein Loch in den Bauch fragen. Liegt wohl daran, daß Sie Anwalt sind.« »Ich bin nun mal sehr wißbegierig.« »Ein richtiger kleiner Naseweis, hätte meine Mutter gesagt.« »Sie vergessen, daß ich im Augenblick der Rechtsberater des Feldwebels bin. Zwischen einem Mann und seinem Rechtsberater sollte es keine Geheimnisse geben.« Arthur gab eine Obszönität von sich und machte sich wieder an seine Reinigungsarbeit. Aber am folgenden Abend kam er von sich aus auf das Thema zurück. George hatte noch immer 313
nichts von dem Feldwebel oder Miss Kolin gesehen, und ihm kam allmählich ein Verdacht. Er begann erneut Fragen zu stellen. »Um welche Zeit kommt der Feldwebel heute zurück?« »Keine Ahnung, Kumpel. Wenn er wieder da ist, denke ich.« Arthur las eine Belgrader Zeitung, die im Laufe des Tages auf geheimnisvolle Weise eingetroffen war. Nun warf er sie angewidert hin. »Ein Haufen Unsinn in dem Blatt«, sagte er. »Haben Sie mal die News of the World gelesen? Eine Londoner Zeitung ist das.« »Nein, die kenne ich nicht. Ist der Feldwebel heute in Griechenland oder in Albanien?« »Albanien?« Arthur lachte, aber als George den Mund aufmachte, um eine weitere Frage zu stellen, fuhr er fort: »Sie haben gefragt, wie es uns ergangen ist, nachdem wir den Kampf eingestellt hatten. Wir waren damals in der Nähe der albanischen Grenze.« »Ach ja?« Arthur nickte erinnerungsselig. »Wenn Sie mal Gelegenheit dazu haben, müssen Sie sich unbedingt den Berg Grammos ansehen«, sagte er. »Wunderbare Landschaft da oben.« Das Grammos-Massiv war eines der ersten Bollwerke der Markos-Armee gewesen; es sollte auch eines ihrer letzten sein. Wochenlang hatte sich die Lage der Brigade in dem Gebiet stetig verschlechtert. Das Rinnsal von 314
Deserteuren war zum Strom angewachsen. Es kam ein Tag im Oktober, an dem wichtige Beschlüsse gefaßt werden mußten. Der Feldwebel war seit über vierzehn Stunden auf den Beinen, und seine Hüfte schmerzte ihn, als er endlich Befehl zum Biwakieren gab. Später griff der Befehlshaber eines Vorpostens zwei Deserteure aus einem anderen Bataillon auf und überstellte sie an das Brigadehauptquartier, damit man dort über sie entschied. Der Feldwebel betrachtete die beiden Männer nachdenklich und gab dann Befehl, sie zu erschießen. Nachdem man sie abgeführt hatte, goß er sich ein Glas Wein ein und bedeutete Arthur mit einem Nicken, das gleiche zu tun. Sie tranken schweigend ihren Wein. Dann füllte der Feldwebel die Gläser nach. »Kommt es dir nicht auch so vor, Corporal«, sagte er, »als hätten diese beiden Männer ihrem Brigadekommandanten und seinem Stellvertreter möglicherweise ein gutes Beispiel gegeben?« Arthur nickte. »Das kommt mir schon seit Tagen so vor. Es besteht nicht mehr die geringste Hoffnung.« »Ja. Wir können bestenfalls darauf hoffen, daß sie uns verhungern lassen.« »Sie fangen bereits damit an.« »Ich habe keine Lust, zum Märtyrer der Revolution zu werden.« »Ich auch nicht. Wir haben unsere Arbeit, so gut 315
wir können, getan, Feldwebel, und noch ein bißchen was drüber raus. Und wir haben den Glauben nicht verloren. Das können die Schweine an der Spitze nicht von sich behaupten.« »›Setz dein Vertrauen nicht auf Fürsten.‹ Du siehst, ich habe es mir gemerkt. Ich glaube, es ist an der Zeit, daß wir uns selbständig machen.« »Wann gehen wir?« »Morgen nacht wäre nicht zu früh.« »Wenn sie merken, daß wir beide weg sind, wirst du von den anderen nur noch die Staubwolke sehen. Ich frag mich, wie viele wohl durchkommen.« »Die, die immer durchkommen, die Komitadschi-Typen. Sie werden sich in ihren Bergen verstecken, so wie sie’s seit jeher gemacht haben. Sie werden dasein, wenn wir sie brauchen.« Arthur war verblüfft. »Wenn wir sie brauchen? Gerade hast du doch was von Selbständigkeit gesagt.« Der Feldwebel füllte sich erneut sein Glas, ehe er Antwort gab. »Ich habe nachgedacht, Corporal«, sagte er schließlich, »und ich habe einen Plan. Die Politiker haben uns nur benutzt. Nun werden wir sie benutzen.« Er stand auf und humpelte zu seinem Tornister, um die Blechschachtel zu holen, in der er seine Zigarren aufbewahrte. Arthur betrachtete ihn mit einem Gefühl, das der Liebe, wie er wußte, sehr ähnlich war. Er empfand tiefen Respekt vor den planerischen Fähigkeiten 316
seines Freundes. Diesem harten, wuchtigen Schädel entsprangen manchmal die überraschendsten Gedanken. »Und wie benutzen wir sie?« fragte er. »Die Idee ist mir vor mehreren Wochen gekommen«, sagte der Feldwebel. »Ich habe an die Geschichte der Partei gedacht, die wir einmal haben lesen müssen. Erinnerst du dich noch?« »Na klar. Ich hab meine gelesen, ohne die Seiten aufzuschneiden.« Der Feldwebel lächelte. »Da sind dir ein paar wichtige Sachen entgangen, Corporal. Ich gebe dir meine Ausgabe zum Lesen.« Er zündete sich genüßlich eine Zigarre an. »Ich halte es für durchaus möglich, daß aus uns einfachen Soldaten vielleicht bald richtige Glücksritter werden.« »Es war ein Klacks«, sagte Arthur. »Der Feldwebel hatte sich eine Liste sämtlicher heimlicher Parteimitglieder und Sympathisanten im Gebiet von Saloniki beschafft, und wir haben uns diejenigen rausgepickt, die in Banken oder in der Verwaltung von Firmen mit dicker Lohnliste arbeiteten. Die haben wir dann angesprochen und ihnen die große Chance gegeben, der Partei in der Stunde der Not zu dienen, so wie es laut Buch die alten Bolschis gemacht haben. Wenn sie mißtrauisch wurden, konnten wir immer sagen, wir würden sie verpfeifen, aber wir hatten in der Beziehung nie Schwierigkeiten. Ich sage Ihnen, bei jedem einzelnen Ding, das wir gedreht 317
haben, hatten wir drinnen einen Mann oder eine Frau, die uns um der Ehre und des Ruhms der Partei willen geholfen haben.« Er lachte verächtlich. »Fliegen auf dem Mist, vereinigt euch! Sie konnten es gar nicht abwarten, die Leute, für die sie arbeiteten, reinzulegen. Manche würden ihre eigene Mutter foltern, wenn die Partei es von ihnen verlangt, und zwar mit dem größten Vergnügen. ›Ja, Genosse. Aber sicher, Genosse. Ich helfe doch gern, Genosse!‹ Richtig schlecht ist mir manchmal davon geworden«, fügte er selbstgerecht hinzu. »Trotzdem sind Sie ja ganz gut dabei gefahren, oder?« »Vielleicht, aber ich mag es trotzdem nicht, wenn einer die Hand beißt, die ihn füttert.« »Aber einige dieser Leute muß es ganz schön viel Mut gekostet haben, für ihre Überzeugungen so weit zu gehen, daß sie Ihnen halfen.« »Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte Arthur säuerlich. »Wenn Sie mich fragen, dann haben diese politischen Überzeugungen, die es rechtfertigen, daß man andere mit schmutzigen Tricks hintergeht, etwas ziemlich Verlogenes.« »Sie sind ja ein richtiger Moralist, Arthur. Was ist denn mit den Tricks, zu denen Sie gegriffen haben?« »Ich mache mich nicht besser, als ich bin. Ich kann nur diese falschen Fuffziger nicht ausstehen. Sie müßten mal mit einigen davon reden. Schlau. Wissen auf alles eine Antwort. Beweisen einem alles, was man will. Die Sorte, die man garantiert 318
nicht dabeihaben will, wenn man auf Patrouille geht, weil die, wenn es brenzlig wird, als erste einen Vorwand suchen, die Hände in die Tasche zu stekken und heimzugehen.« »Ist der Feldwebel, was diese Dinge angeht, der gleichen Ansicht?« »Der?« Arthur lachte. »Nein. Den juckt das nicht. Sehen Sie, ich glaube, es gibt alle möglichen Arten von Menschen. Er nicht. Er glaubt, daß es nur zwei Arten gibt – die, die man gern dabeihätte, wenn es hart auf hart geht, und die, die man um keinen Preis dabeihaben will.« Er lächelte verschlagen und fügte hinzu: »Und er ist mit seinem Urteil ganz schnell fertig.« George zündete sich seine letzte Zigarette an und betrachtete Arthur einen Moment lang nachdenklich. Der Verdacht wurde mit einmal zur Gewißheit. Er zerknüllte das leere Päckchen und warf es auf den Tisch. »Wo sind sie, Arthur?« fragte er. »Wo ist wer?« Arthurs Gesicht war die reine Unschuld. »Was soll das denn, Arthur! Lassen Sie doch die Spielchen. Gestern abend waren die beiden noch hier, das weiß ich, weil ich den Feldwebel gegen Mitternacht habe zurückkommen und mit Ihnen reden hören. Aber heute morgen war weder er noch Miss Kolin da. Jedenfalls habe ich ihn nicht gesehen, und ihr hat man nichts zu essen raufgebracht. Also, wo sind sie?« 319
»Weiß ich nicht.« »Überlegen Sie noch mal.« »Ich weiß es nicht, Mr. Carey, ganz ehrlich.« »Ist er endgültig gegangen?« Arthur zögerte und zuckte dann die Achseln. »Ja.« George nickte. Er hatte es zwar schon vermutet, aber nun, da er Gewißheit hatte, war die Neuigkeit doch ein Schlag. »Wozu werde ich dann noch hier festgehalten?« fragte er. »Er braucht Zeit, um wegzukommen.« »Weg von mir?« »Nein, weg aus diesem Land.« Arthur beugte sich mit ernstem Gesicht vor. »Sehen Sie, angenommen, Sie gehen zurück und Chrysanthos rückt Ihnen auf die Pelle und Sie plaudern aus, daß der Feldwebel auf der Flucht ist. Ich behaupte gar nicht, daß Sie’s absichtlich täten, aber der Kerl ist gerissen. Sie verstehen sicher, daß das unangenehm wäre.« »Ja, das verstehe ich. Er hatte sich also schon entschieden, was er machen wollte. Ich finde, er hätte es mir sagen können.« »Er hat mich darum gebeten, Mr. Carey. Ich wollte bis nach dem Abendessen warten, bloß um sicherzugehen, aber Sie können’s genausogut schon jetzt erfahren. Sehen Sie, es war nicht mehr viel Zeit. Wir sind schon seit Tagen zum Abgang bereit. Gestern hat er die letzten Regelungen getroffen, und er ist bloß noch mal zurückgekommen, um sie zu fragen, ob sie mitwill.« 320
»Und sie wollte?« »Mit Begeisterung. Kann einfach die Finger nicht von ihm lassen. Das ist mir eine.« »Hat er keine Angst, daß sie noch mal versuchen wird, ihn dranzukriegen?« Arthur lachte. »Seien Sie nicht albern, Kumpel. Die hat ihr ganzes Leben lang auf so einen Mann gewartet.« »Ich verstehe es immer noch nicht.« »Sie sind wohl eher wie ich«, sagte Arthur tröstend. »Ich mag’s auch lieber ein bißchen ruhiger. Aber was das Geld angeht …« »Richtig, das Geld.« »Wir haben darüber geredet, er und ich, Mr. Carey, und wir sind zu einem Schluß gekommen. Er hätte es unmöglich beanspruchen können. Das verstehen Sie doch, oder? Sie haben von Auslieferung und so weiter geredet, aber darauf kommt es gar nicht an. Auslieferung hin oder her, es wäre alles herausgekommen. Und das wäre nicht gut. Er will unter neuem Namen ein neues Leben anfangen und das alles hinter sich lassen. Er hat zwar keine halbe Million Dollar oder so was, aber er hat genug, um klarzukommen. Wenn er das Geld beanspruchen würde, wäre er ein Gezeichneter. Das wissen Sie genausogut wie ich.« »Das hätte er mir auch schon beim ersten Mal sagen können.« »Er wollte nur seine Familienpapiere, Mr. Carey. Das können Sie ihm nicht verdenken.« 321
»Also hat er mich einfach nur hingehalten, damit ich keine Schwierigkeiten mache. Verstehe.« George seufzte. »Na schön. Wie lautet denn sein neuer Name? Schneider?« »Nun seien Sie doch nicht gleich vergrätzt, Kumpel. Er mag Sie, und er ist Ihnen sehr dankbar.« Nach ein, zwei Momenten blickte George auf. »Und was ist mit Ihnen?« »Mit mir? Och, ich schaff’s schon, so nach und nach. Für mich ist es leichter, ich bin schließlich Brite. Ich kann sonstwohin gehen. Vielleicht schließe ich mich sogar wieder dem Feldwebel an, wenn mir danach ist.« »Dann wissen Sie also doch, wo er hinwill?« »Ja, aber nicht, wie er dorthin kommt. Vielleicht ist er genau in diesem Moment auf einem Schiff in Saloniki, was weiß ich. Keine Ahnung. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.« »Sie sind also nur noch hier, um sich um mich zu kümmern. Stimmt’s?« »Na ja, ich muß auch noch die Jungs auszahlen und überhaupt ein bißchen aufräumen. Ich bin sozusagen der Adjutant.« Es trat Schweigen ein. Er schaute sich trübsinnig im Zimmer um. Sein Blick traf den von George. Er versuchte – ausnahmsweise einmal ohne Erfolg – zu grinsen. »Ich sag Ihnen was, Kumpel. Jetzt, wo der Feldwebel weg ist und alles, sind wir beide, denk ich, ein bißchen deprimiert. Wir haben mal ein paar Flaschen deutschen Wein ergattert. Sie für besondere 322
Gelegenheiten aufgehoben, so wie gestern abend. Wie wär’s, wenn wir beide uns jetzt eine zu Gemüte führen?« Die Sonne schien, als George am folgenden Morgen aufwachte. Ein Blick auf seine Uhr verriet ihm, daß es acht war. An den vorangegangenen Tagen hatte Arthur ihn mit viel militärischem Getöse jeweils um sieben geweckt. Er lauschte. Im Haus war es ganz still, und die Zikaden draußen kamen ihm sehr laut vor. Er ging zur Zimmertür und machte sie auf. Es stand kein Posten mehr davor. Die »Jungs« waren offensichtlich ausgezahlt worden. Er ging nach unten. In dem Zimmer, in dem sie ihre Mahlzeiten zu sich genommen hatten, hatte Arthur einen Zettel und einen Brief für ihn dagelassen. George las zuerst den Zettel. Tja, Kumpel, ich hoffe, Sie haben keinen allzu schlimmen Kater. Hier ist ein Brief, den Feldwebel Schirmer für Sie dagelassen hat, ehe er gegangen ist. Tut mir leid, daß ich Ihnen heute morgen meinen Rasierer nicht leihen kann, aber es ist der einzige, den ich habe. Wenn Sie in die gute alte Zivilisation zurückkehren wollen, dann gehen Sie einfach zwischen den Bäumen durch an der Stelle vorbei, wo wir den lkw geparkt haben, und nehmen dann die rechte Abzweigung. Sie können es 323
gar nicht verfehlen. Es ist ungefähr anderthalb Kilometer von hier. Auf dieser Seite wird Sie niemand behelligen. Vergessen Sie nicht, für den alten Fahrer Ihr Bestes zu tun. War nett, Sie kennenzulernen. Alles Gute, Arthur Der Brief des Feldwebels war in Miss Kolins eckiger Handschrift geschrieben. Lieber Mr. Carey, ich habe Maria gebeten, dies für mich zu schreiben, damit die Bedeutung dessen, was ich empfinde, in Ihrer Sprache angemessen ausgedrückt und damit klar wird. Zuerst möchte ich mich dafür entschuldigen, daß ich Sie unhöflicherweise so plötzlich verlassen habe, ohne mich von Ihnen zu verabschieden. Wenn Sie dies lesen, wird Ihnen der Corporal zweifellos schon die Lage erklärt haben und auch die Gründe für meine Entscheidung, nicht mit Ihnen nach Amerika zu fahren. Ich hoffe, Sie werden das verstehen. Auch für mich war das natürlich eine Enttäuschung, denn ich wollte Ihr Land schon immer einmal kennenlernen. Vielleicht wird es ja eines Tages möglich sein. Und nun erlauben Sie mir, Ihnen und Ihren Auftraggebern meinen Dank auszudrücken. Maria hat mir von Ihrer Beharrlichkeit und Ent324
schlossenheit erzählt, einen Mann ausfindig zu machen, den Sie aus vielen Gründen für tot halten mußten. Es ist gut, wenn man imstande ist, ein wenig weiter zu gehen, während die weniger Couragierten beim ersten Hindernis kehrtmachen. Es tut mir leid, daß Sie dafür keinen wertvolleren Lohn als meine Dankbarkeit erhalten. Diese aber biete ich Ihnen von ganzem Herzen, mein Freund. Ich hätte das viele Geld gern genommen, wenn es möglich gewesen wäre, aber ich bin nicht weniger froh darüber, daß ich nun die Dokumente besitze, die Sie mir gebracht haben. An das Geld kann ich ohne große Emotionen denken. Es ist eine große Summe, aber ich finde, sie hat nichts mit mir zu tun. Sie wurde in Amerika von einem Amerikaner verdient. Falls es keinen anderen Erben als mich gibt, finde ich es deshalb nur gerecht, daß das Geld an den Staat Pennsylvania fällt. Mein wahres Erbe ist das Wissen um meine Herkunft und mich selbst, das Sie mir gebracht haben. So vieles hat sich verändert, und Eylau ist lange her, doch über die Jahre hinweg greift Hand nach Hand, und wir sind eins. Die Unsterblichkeit eines Menschen liegt in seinen Kindern. Ich hoffe, ich werde viele haben. Vielleicht wird Maria sie zur Welt bringen. Sie sagt, daß sie es möchte. Der Corporal hat mir erzählt, daß Sie so freundlich sein wollen, ein gutes Wort für den verhafteten Fahrer einzulegen. Maria bittet dar325
um, daß Sie ihm, wenn möglich, ihre Schreibmaschine und die anderen Sachen geben, die sie in Florina zurückgelassen hat, damit er sie zu Geld machen kann. Er heißt Douchko. Sie übermittelt Ihnen ebenfalls ihre Entschuldigung und ihren Dank. So bleibt mir nur noch, mein Freund, Ihnen noch einmal zu danken und für Ihr weiteres Leben alles Gute zu wünschen. Ich hoffe, wir begegnen uns wieder einmal. Mit besten Grüßen Franz Schirmer Unterschrieben hatte er selbst, in einer sehr ordentlichen und klaren Handschrift. George steckte die Briefe ein, holte seine Aktentasche aus seinem Zimmer und spazierte zwischen den Pinien hindurch bergan. Es war ein schöner, frischer Morgen, und die Luft war gut. Er begann darüber nachzudenken, was er Oberst Chrysanthos würde sagen müssen. Der Oberst würde nicht sehr erbaut sein und Mr. Sistrom ebensowenig. Die ganze Situation war in der Tat höchst unerfreulich. Deshalb fragte sich George auch, weshalb er in einem fort vor sich hin lachte, während er auf die Grenze zumarschierte.