R. Hänsel x O. Sticher Pharmakognosie – Phytopharmazie
R. Hänsel xO. Sticher (Hrsg.)
Pharmakognosie – Phytopharmazi...
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R. Hänsel x O. Sticher Pharmakognosie – Phytopharmazie
R. Hänsel xO. Sticher (Hrsg.)
Pharmakognosie – Phytopharmazie Mitbegründet von E. Steinegger
8., überarbeitete und aktualisierte Auflage Mit 743 Abbildungen und 191 Tabellen
123
Professor Dr. Rudolf Hänsel Früher: Institut für Pharmakognosie und Phytochemie der Freien Universität Berlin Jetzt privat: Westpreußenstraße 71, D-81927 München Professor Dr. Dr. h.c. Otto Sticher Früher: ETH Zürich, Institut für Pharmazeutische Wissenschaften Jetzt privat: Lebernhöhe 22, CH-8123 Ebmatingen
Umschlag: Das Umschlagbild zeigt Taxus baccata L. Mit freundlicher Genehmigung Prof. Dr. Wilhelm Barthlott, Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn, Botanisches Institut, Meckenheimer Allee 170, 53115 Bonn
ISBN-10 3-540-26508-2 ISBN-13 978-3-540-26508-5 8. Auflage Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikrover filmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag Ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2007 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten waren und daher von jedermann benutzt werden durften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewahr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Dr. Rolf Lange und Dr. Thomas Mager, Heidelberg Redaktion: Susanne Friedrichsen und Christine Lodge, Heidelberg Umschlaggestaltung: deblik Berlin Satz: Fotosatz-Service Köhler GmbH, Würzburg Druck und Bindearbeiten: Stürtz GmbH, Würzburg Gedruckt auf säurefreiem Papier
SPIN: 10971277
19/2119 - 5 4 3 2 1 0
Vorwort zur achten Auflage Das Werk „Pharmakognosie – Phytopharmazie“ vermittelt die wissenschatlichen Grundlagen für eine Spezialitätenkunde der Arzneimittel biogener Herkunt, insbesondere für die Phytopharmaka. Es handelt sich um ein multidisziplinäres Werk basierend auf Teilgebieten der Biologie, bioorganischen Chemie, Biochemie und Pharmakologie. Das Buch hält an dem Ziel fest, die küntigen Apotheker und Apothekerinnen zu kompetenten Fachpersonen auf dem Gebiet der Phytopharmaka auszubilden. Schwerpunkte der Stofauswahl sind folglich Phytochemie und Phytopharmakologie. Die achte Aulage hat ein vollständig neues Konzept. Neben den schon bisher für das Fachgebiet wichtigen phytochemischen Grundlagen (Kapitel 1–4) und der Einzeldarstellung wichtiger Stofgruppen (Kapitel 18–27) enthält das Buch eine ganze Reihe von Kapiteln zu pharmazeutischen Aspekten (Kapitel 5–11) sowie zu Problemen der Anwendung planzlicher Arzneimittel (Kapitel 12–17). Teile des früheren Kapitels 9 (7. Aulage) sind dabei zu eigenen Kapiteln erweitert worden. Im Weiteren hat das Buch ein neues Layout sowie ein größeres Format erhalten. Dabei sind besonders erwähnenswert ein zweispaltiger Druck, ferner Einleitungen zu den einzelnen Kapiteln, Infoboxen, Kernaussagen und Schlüsselbegrife. Die neue Darstellung bringt dem Leser zusätzliche Informationen und Erklärungen sowie eine bedeutend bessere Übersicht über die behandelten Teilgebiete der Pharmazeutischen Biologie. Die folgenden neuen Kapitel seien hervorgehoben: x Prinzipien des Sekundärstofwechsels; x Einführung in die Analytik sekundärer Planzenstofe; x Grundzüge der Biosynthese sekundärer Planzenstofe; x Biologische und chemische Screening-Methoden für Planzenextrakte; x Moderne Bioassay-Methoden; x Das medizinische Potential von Planzenstofen; x Glykosaminoglykane einschl. Heparin; x Abnorme Pharmakawirkungen durch genetische Ursachen;
x Überempindlichkeitsreaktionen beim Umgang mit x x x x
Drogen und bei der Anwendung planzlicher Arzneimittel; Plazebos und Plazebowirkungen; Sekundäre Planzenstofe in Nahrungsergänzungsmitteln; Drogen der traditionellen chinesischen Medizin (TCM); Aromatherapie.
Auf dem Gebiet der phytochemischen Analytik, insbesondere auf dem Gebiet der chromatographischen Methoden, haben sich Apotheker und Pharmakognosten – erinnert sei an Egon Stahl (1924–1986) – international proiliert. In der pharmazeutischen Industrie ist der/die Pharmazeut/in seit jeher als Analytiker/in gefragt. Aber auch in der Oizin sind die pharmazeutischen Qualitätsdaten für eine kompetente Beratung unerlässlich. Der Analytik wurde daher ein großes Gewicht eingeräumt. Neben der Behandlung allgemeiner Fragen der pharmazeutischen Qualität – von der Droge über die Extraktherstellung bis zum Fertigarzneimittel (Kapitel 8–10) – werden in Kapitel 2 eine Einführung in die Analytik sekundärer Planzenstofe anhand ausgewählter Beispiele und in Kapitel 5 Screening-Methoden zur Suche neuer bioaktiver Naturstofe beschrieben. Daneben werden innerhalb der einzelnen Arzneidrogenkapitel in bisheriger bewährter Weise die wichtigsten analytischen Methoden der Prüfung auf Identität, Reinheit und der Gehaltsbestimmung behandelt (nachgeführt bis einschließlich Nachtrag 5.5 der PhEur). Für die Beratungskompetenz des Apothekers und der Apothekerin sind die Kenntnisse über Anwendung und therapeutischen Nutzen planzlicher Arzneimittel von besonderer Bedeutung. Vielfach handelt es sich bei den beschriebenen Arzneidrogen um Arzneistofe, zu denen die Lehrbücher der Pharmakologie und der herapie keine Auskünte geben, sodass sich Apotheker und Apothekerinnen sowie an der Phytotherapie interessierte Ärzte und Ärztinnen, auf wissenschatlich nicht immer verlässliche Informationsquellen stützen müssen. Das vorliegende
VI
Vorwort zur achten Auflage
Buch schließt hier eine Lücke und bringt nicht nur bei den Drogeneinzelbesprechungen pharmakologische Informationen sondern geht auch in weiteren Kapiteln aus rational-naturwissenschatlicher Sicht den Problemkreis der Wirkung komplementärer herapien wie der Phytound Aromatherapie sowie der TCM an. Der/die ungeübte Student/in dürte von den klinischen Studien und den experimentell-pharmakologischen Untersuchungsergebnissen, die zu Arzneidrogen vorliegen, beeindruckt sein, sich aber vermutlich fragen, weshalb die Phytopharmaka trotz so viel Wissenschat nur partiell Teil des Arzneischatzes der naturwissenschatlich-orientierten Medizin sind. Das Nachdenken über diese Nichtakzeptanz wissenschatlicher Ergebnisse kann dem Benutzer des Lehrbuches vielleicht zu einer fundamentalen Erkenntnis verhelfen: Nicht das Experiment per se entscheidet über Wissenschatlichkeit oder Unwissenschatlichkeit eines Sachverhaltes, sondern erst die Interpretation des Einzelergebnisses im Rahmen eines größeren Kontextes. Jedes kleine Naturstofmolekül hat, wenn es nur in hinreichender Konzentration zur Einwirkung gelangt, auf ein makromolekulares System – Rezeptoren, Ionenkanäle, Enzyme, Carriermoleküle – irgendeine Wirkung. Wer experimentiert, der wird somit auf molekularer und zellulärer Ebene Efekte inden. Leicht lassen sich von hier ausgehend putative Wirksamkeiten ableiten. Ob aber der nachgewiesene Efekt therapeutisch tatsächlich relevant ist, darauf allein kommt es an, also auf der kritischen Interpretation des Versuches. Meist belegen bereits die Dosisrelationen die Irrelevanz der Versuche. In anderen Fällen machen die pharmakokinetischen Eigenschaten einer postulierten Wirksubstanz therapeutische Efekte am Menschen unwahrscheinlich. Im Weiteren entsprechen die mit Phytopharmaka durchgeführten klinischen Studien vielfach in ihrem Studiendesign nicht den heutigen Anforderungen, d. h. sie wurden nicht nach den Normen der Good Clinical Practice (GCP) durchgeführt. An zahlreichen Stellen beziehen wir über die bloße Information hinaus unmittelbar Stellung. Den Studierenden soll rechtzeitig bewusst werden: Anders als Chemie und Physik ist die Arzneitherapie keine reine Wissenschat, denn nicht selten haben wissenschatliche Untersuchungen rein dienende Funktion, wie z. B. die, eine vorgefasste Meinung zu bestätigen, für ein Produkt die Zulassung zu erhalten oder einfach für ein Produkt zu werben. Bedauerlicherweise befassen sich unabhängige Universitätsinstitute nur selten mit der Untersuchung von
Phytopharmaka mit dem Ergebnis, dass Bias-verdächtige Publikationen viel zu selten von unabhängiger Seite nachgeprüt werden. Hinzugefügt sei, dass diese Situation nicht etwa nur für planzliche Arzneimittel zutrit, sondern auch für eine ganze Reihe synthetische Arzneimittel. Die Wirkung vieler Phytopharmaka wird kontrovers diskutiert. Beispiele dazu sind Präparate von Baldrian, Mönchspfefer, Teufelskralle, Arnika, Mutterkraut, Cimicifuga, Ginseng, Weidenrinde, etc. Auf diese Situation wird am Ende einzelner Kapitel mit einem Hinweis aufmerksam gemacht. In Kapitel 14 werden bei der Besprechung des Plazebophänomens die meisten Phytopharmaka den Arzneimitteln mit plazeboäquivalenten Wirkungen zugeordnet – eine Ansicht, die vermutlich nicht von allen Lesern geteilt werden wird. Wir hofen, dass der Versuch einer Wissensvermittlung im Sinne einer evidenzbasierten herapie positiv aufgenommen wird. Der Fließtext des Buches ist durch viele Tabellen und Abbildungen aufgelockert. In der Regel wird der in der Abbildung dargestellte Sachverhalt in einer ausführlichen Legende beschrieben. Abbildung und die zu ihrem Verständnis notwendige Legende ermöglichen eine rasche Kurzinformation unabhängig vom laufenden Text. Bisweilen enthalten sie Einzelheiten, die im Fließtext nicht erwähnt sind: Text und Legenden sollen daher mit gleicher Aufmerksamkeit gelesen werden. Neu in der achten Aulage ist ein Anhang mit einer Übersicht über Ordnungen und Familien im System der Spermatophyten. Der dabei verwendete Code erscheint im ganzen Buch jeweils hinter dem Familiennamen in eckiger Klammer. Hinsichtlich der Wiedergabe von Artnamen folgen wir dem Beispiel der Arzneibücher und nennen ergänzend zur binären Nomenklatur den Namen des Autors (meist als Namenskürzel), der die betrefende Planzenart zuerst beschrieben hat. Grundlage dazu ist der Kew Index, nach dem sich auch die PhEur richtet. Wir denken, die botanischen Erstbenenner verdienen es, dass ihr voller Name bekannt wird. Ein Anhang bringt daher die Aulösung der Namenskürzel, ergänzt durch kurze biographische Angaben. Jedes Kapitel enthält Literaturhinweise, die ohne Anspruch auf Vollständigkeit und ohne Berücksichtigung von Prioritäten, es dem interessierten Leser ermöglichen, die Darstellung der Autoren zu überprüfen. Die Autoren hofen, dass es gelungen ist, trotz der Stoffülle und trotz des heterogenen Charakters des Lehrstofes, ein Buch zu schreiben, das die Zeit des Lesens und Studierens lohnt. Wir wünschen uns kritische Benützer des Lehrbuches und
Vorwort zur achten Auflage
erhofen dementsprechend um Rückmeldungen von Verbesserungsvorschlägen bzw. Formel- oder Textfehlern. Unser besonderer Dank gilt Margarete Hänsel (München) sowie Miriam Sticher (Zürich) für ihre Geduld und tatkrätige Unterstützung während der Bearbeitung des Buches sowie vielen Kolleginnen und Kollegen für München und Zürich, im September 2006
wertvolle Hinweise. Namentlich genannt seien Frau Dr. med. Margit Heier (München), Professor Dr. med. homas R. Weihrauch (Wuppertal), Dr. Jürg Gertsch (Zürich) sowie die Professoren Dr. Jörg Heilmann (Regensburg), Dr. Adolf Nahrstedt (Münster) und Dr. Guido Pauli (Chicago). Rudolf Hänsel und Otto Sticher
VII
Inhaltsverzeichnis Phytochemische Grundlagen . . . .
1
Prinzipien des Sekundärstofwechsels W. Kreis 1.1 Ana-, Kata- und Amphibolismus . . . 1.2 Primär- und Sekundärstofwechsel . . 1.3 Zusammenhang zwischen Primärund Sekundärstofwechsel . . . . . . . 1.4 Auklärung von Biosynthesewegen . . 1.4.1 Tracer- oder Isotopentechnik . . . . . . 1.4.2 Enzymatische Methoden. . . . . . . . . 1.4.3 Genetische und molekulargenetische Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
A 1
Einführung in die Analytik sekundärer Planzeninhaltsstofe anhand ausgewählter Beispiele . . . . . . . . . . . J. Heilmann 2.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Aufarbeitung und Extraktion . . . . . 2.3 Chromatographische Trennung und Isolierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Dünnschichtchromatographie und Fließmitteloptimierung . . . . . . . . . 2.3.2 Säulenchromatographie . . . . . . . . . 2.3.3 MPLC und HPLC . . . . . . . . . . . . 2.4 Strukturauklärung und Substanzcharakterisierung . . . . . . . . . . . . 2.4.1 NMR-Spektroskopie . . . . . . . . . . . 2.4.2 Massenspektrometrie . . . . . . . . . . 2.4.3 Ultraviolettspektroskopie (UV-Spektroskopie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4 5 8 18 18 21 25 30
2
3
3.1
Biosynthese planzlicher Sekundärstofe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . R. Lukačin, U. Matern Grundlegende Methoden zur Auklärung von Biosynthesewegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31 32 34 35 35 40 40 43 43 50 55 59
61
62
3.1.1 Isotopentechnik . . . . . . 3.1.2 Enzymatische Methoden. 3.1.3 Genetische Methoden . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Planzenstofen . . . . . . . . . . . . . R. Hänsel 4.1 Änderungen im Sekundärstofgehalt während der Ontogenese . . . . . . . . 4.2 Diurnale Schwankungen, Fließgleichgewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Oxidative Veränderungen an sekundären Planzenstofen . . . . . . 4.3.1 An katabolischen Reaktionen beteiligte Enzyme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Abbau phenolischer Planzenstofe . . . 4.3.3 Oxidative Modiikation der Quassinoide . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Oxidative Modiikation der Limonoide . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.5 Phytoecdysone: Oxidative Modiikationen in der Cholesterinreihe . . . . . 4.4 Sekretion und Speicherung von Sekundärstofen . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Gewebe- und segmentspeziische Akkumulation. . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Speicherung in Kompartimenten innerhalb der Zelle . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3 Vacuole als Speicherkompartiment . . 4.4.4 Transportvorgänge an Tonoplasten . . 4.4.5 Sekretion in Zellwand und periplasmatischem Raum. . . . . . 4.4.6 Innergewebliche Sekret- und Akkumulationsstrukturen . . . . . . . . . . . 4.4.7 Exotrope Sekretion und deren morphologische Strukturen . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
62 69 73 77
4
79
80 82 82 83 88 90 91 91 95 96 96 97 98 99 99 105 109
X
Inhaltsverzeichnis
B
Pharmazeutische Aspekte . . . . . .
Biologische und chemische Screening-Methoden für Planzenextrakte . . . . . . . . . . . . . . . . . K. Hostettmann, A. Marston, E. Ferreira Queiroz 5.1 Biologische Screening-Methoden . . 5.1.1 DC-Bioautographie. . . . . . . . . . . 5.1.2 HPLC-online-Bioassay . . . . . . . . . 5.2 Chemische Screening-Methoden . . 5.2.1 LC/UV . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 LC/MS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 LC/NMR . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Beispiele für chemisches OnlineScreening . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . .
111
5
6 6.1 6.2
6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.3
6.4 6.4.1 6.4.2 6.4.3 6.5 6.5.1 6.5.2 6.5.3 6.6 6.7
.
113
. . . . . . .
114 115 116 118 118 118 120
. . .
120 123 124
Moderne Bioassay-Methoden . . . . . J. Heilmann Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . Testsysteme mit Bezug zur Entzündungshemmung (Phospholipase-, Cyclooxygenase- und Lipoxygenasehemmung) . . . . . . . . . . . . . . . . Phospholipase-A2-Hemmung . . . . . Cyclooxygenasehemmung . . . . . . . . Lipoxygenasehemmung . . . . . . . . . Messung von Radikalfängereigenschaten und antioxidativen Eigenschaten . . . . . . . . . . . . . . . Messung der Beeinlussung von mRNA-Spiegeln . . . . . . . . . . . . . Testsysteme auf der Basis von Reportergenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Real-time-RT-PCR . . . . . . . . . . . . Microarrays (Gen-Chips) . . . . . . . . Testsysteme mit Bezug zur Bekämpfung von Tumoren . . . . . . . . . . . . Messung der metabolischen Aktivität Inkorporationsassays . . . . . . . . . . . Bestimmung von Zellvitalität und Zelltod (Apoptose und Nekrose) . . . . . . Testsysteme mit Bezug zur Bekämpfung von Plasmodien . . . Testsysteme zur Bestimmung der Permeabilität . . . . . . . . . . . . . . .
125 127
129 130 130 131
6.8
Testsysteme mit Bezug zur Metabolisierung . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das medizinische Potential von Planzenstofen . . . . . . . . . . . . . R. Hänsel, h. Dingermann 7.1 In unveränderter Form genutzte Planzenstofe. . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Planzliche Sekundärstofe als Ideengeber (Leitstofe) für Arzneistofe . . 7.2.1 Verbesserung bekannter Strukturen . . 7.2.2 Auswertung ethnomedizinischer Beobachtungen . . . . . . . . . . . . . . 7.2.3 Auswertung von Gitwirkungen am Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.4 Gitwirkungen auf Tiere als Primäranregung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.5 Planzenphysiologische Beobachtungen als Primäranregung: Entdeckung der Indolylessigsäure als Pharmakophor 7.3 Planzliche Einzelstofe als Rohstofquelle für Arzneimittel . . . . . . . . . 7.4 Planzenstofe als Wirkstofe – Die wichtige Unterscheidung von Wirkstof und Arzneistof . . . . . . . 7.5 Planzenstofe im Vergleich mit synthetischen Stofen . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
8 132 133 133 134 136
144 148
8.1 8.1.1 8.1.2 8.2
136 137 138
8.2.1
138 141
8.2.3 8.2.4 8.2.5
142
8.3
8.2.2
Planzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen . . . . R. Hänsel, E. Spieß Pharmakognostische Grundlagen . . Grundbegrife . . . . . . . . . . . . . . . Strukturierte Drogen und deren . . . . morphologische Kennzeichnung . . . . Pharmazeutische Qualität planzlicher Arzneidrogen . . . . . . . . . . . . . . Hauptfaktoren, die die Qualität bestimmen . . . . . . . . . . . . . . . . Qualitätsanforderungen nach Arzneibuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lagerung von Drogen . . . . . . . . . . Kontamination . . . . . . . . . . . . . . Spezielle Probleme des Qualitätsnachweises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Planzliche Arzneizubereitungen . . .
151
154 157 157 162 164 171
180 181
183 185 187
189 190 190 191 194 195 196 205 206 217 218
XI
Inhaltsverzeichnis
8.3.1 8.3.2 8.3.3
Zubereitungen aus Frischplanzen Teedrogen und Teegemische . . . Einfache nichtwässrige Drogenauszüge . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . 9
9.1 9.1.1 9.1.2 9.1.3 9.1.4 9.1.5 9.1.6 9.1.7 9.1.8 9.1.9 9.2 9.2.1 9.2.2 9.2.3 9.2.4 9.2.5 9.2.6 9.3
9.3.1 9.3.2 9.3.3 9.3.4 9.4 9.4.1 9.4.2 9.4.3
. . . . . .
218 219
. . . . . . . . .
221 223 223
Trockenextrakte als Arzneistof: Herstellung, Qualitätsprüfung . . . . M. Veit Begrifserklärungen und Deinitionen . . . . . . . . . . . . . . . Leitsubstanzen („analytical marker“) Pharmazeutisch relevante Inhaltsstofe („active marker“) . . . . . . . . . . . . . Wirkstofe („active substance, active pharmaceutical ingredient“) . . . Fingerprint . . . . . . . . . . . . . . . . Referenzsubstanzen . . . . . . . . . . . Inprozesskontrollen . . . . . . . . . . . Speziikation . . . . . . . . . . . . . . . Droge-Extrakt-Verhältnis . . . . . . . . Validierung von Prüfverfahren . . . . . Herstellung von Trockenextrakten . . Typen von Extrakten . . . . . . . . . . . Grundzüge der Herstellung . . . . . . . Planzliche Extraktivstofe . . . . . . . . Variable Zusammensetzung von Trockenextrakten . . . . . . . . . . . . . Extraktzubereitungen: Instanttees und Granulattees . . . . . . . . . . . . . . . . Sonderformen der Extraktzubereitungen . . . . . . . . . . . . . . . Einteilung von Trockenextrakten: standardisierte, quantiizierte und andere Extrakte. . . . . . . . . . . . . . Standardisierung auf pharmazeutisch relevante Inhaltsstofe . . . . . . . . . . Quantiizierung auf pharmazeutisch relevante Inhaltsstofe . . . . . . . . . . Extrakte, die ausschließlich über den Herstellungsprozess deiniert sind . . . Lagerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Qualitätsprüfung von Trockenextrakten . . . . . . . . . . . . . . . . . Identitätsprüfung . . . . . . . . . . . . . Reinheitsprüfungen. . . . . . . . . . . . Prüfung auf Lösungsmittelrückstände
225
226 226 226 227 227 227 227 228 228 229 231 231 231 234 236 238 239
240
9.4.4
Prüfung auf Alatoxine und andere Mykotoxine . . . . . . . . . . . . . . . 9.4.5 Prüfung auf Schwermetalle . . . . . . 9.4.6 Prüfung auf Pestizidrückstände . . . 9.4.7 Bestimmung der mikrobiologischen Reinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4.8 Prüfung auf sonstige Kontaminanten 9.4.9 Gehaltsbestimmung . . . . . . . . . . 9.4.10 Stabilitätsuntersuchungen . . . . . . . 9.4.11 Sonstige Prüfungen . . . . . . . . . . 9.5 Speziikation von Extrakten . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . .
. . .
247 247 248
.
248 249 249 253 254 254 258 259
. . . . . .
Planzliche Fertigarzneimittel . . . . M. Veit 10.1 Arzneiformen . . . . . . . . . . . . . . 10.1.1 Arzneiformen und Applikationsarten . 10.1.2 Herstellung lüssiger Arzneizubereitungen aus Trockenextrakten . . 10.1.3 Herstellung fester Arzneiformen aus Trockenextrakten . . . . . . . . . . . . . 10.1.4 Planzliche Parenteralia . . . . . . . . . 10.1.5 Validierung der Herstellung (Prozessvalidierung) . . . . . . . . . . . 10.2 Qualitätssicherung von Fertigarzneimitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.1 Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.2 Reinheitsprüfungen . . . . . . . . . . . 10.2.3 Gehaltsprüfungen . . . . . . . . . . . . 10.2.4 Weitere Prüfungen . . . . . . . . . . . . 10.2.5 Haltbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.6 Wirkstoffreigabe (Dissolution-Test) . . 10.2.7 Vergleichbarkeit von planzlichen Fertigarzneimitteln . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . 10
261 262 264 265 265 265 266 266 269 270 271 271 272 275 276 283 283
241 11 242 243 243 243 243 244 247
11.1 11.1.1 11.1.2 11.2
Enzyme bei der Gewinnung von Drogen und der Herstellung von Phytopharmaka . . . . . . . . . . . . W. Kreis Fermentation . . . . . . . . . . . . . . Substratveränderungen durch zelleigene Enzyme . . . . . . . . . . . . . Fermentation als Aubereitung planzlicher Produkte. . . . . . . . . . Nacherntephysiologie und Verderb .
.
285
.
286
.
286
. .
288 289
XII
Inhaltsverzeichnis
11.3
Enzymatischer Abbau von Inhaltsstofen während der Herstellung von Phytopharmaka . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
C
Praxis und Probleme der Anwendung pflanzlicher Arzneimittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Abnorme Phytopharmakawirkungen durch genetische Ursachen . . . . . . R. Hänsel 12.1 Glucose-6-Phosphat-DehydrogenaseMangel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1.1 Favismusfaktoren . . . . . . . . . . . . . 12.1.2 Weitere Naturprodukte, die bei Glc-6PDG-Mangel vorsichtig anzuwenden sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Polymorphismus von Biotransformationsenzymen . . . 12.2.1 Cytochrom-P450-Polymorphismus . . 12.2.2 N-Acetyltransferasepolymorphismus: Beispiel für einen Phase-II-Polymorphismus . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3 Nahrungsmittelidiosynkrasien: Rote Beete und Spargel . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . .
13.4
290 291
293
12
13
13.1 13.1.1 13.1.2 13.1.3 13.2
13.3 13.3.1 13.3.2
Überempindlichkeitsreaktionen beim Umgang mit Drogen und bei der Anwendung lanzlicher Arzneimittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . R. Hänsel und A. Vollmar Begrife: Idiosynkrasie, Allergie und Pseudoallergie . . . . . . . . . . . . . . Idiosynkrasie . . . . . . . . . . . . . . . Allergie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pseudoallergien . . . . . . . . . . . . . . Mit dem Autreten welcher allergischen Erkrankungen ist beim Umgang mit Drogen und Phytopharmaka zu rechnen? . . . . . . . . . Welche Hinweise gibt es auf Vorliegen einer Arzneimittelallergie? . . . . . . . Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . Allergiediagnostik . . . . . . . . . . . .
295
296 296
298 299 300
301 302 305 305
Was versteht man unter Sensibilisierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.4.1 Sensibilisierung im Falle IgE-bedingter Allergien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.4.2 Sensibilisierungsphase der allergischen Spättypreaktion . . . . . . . . . . . . . . 13.5 Arzneimittelallergische Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5.1 Heuschnupfen (allergische Rhinokonjunktivitis) . . . . . . . . . . . . . . 13.5.2 Allergisches Asthma bronchiale . . . . 13.5.3 Gastrointestinale Allergien . . . . . . . 13.5.4 Allergische Kontaktdermatitis: Beispiel für eine Typ-IV-Reaktion nach Gell und Coomb . . . . . . . . . . . . . . . . 13.6 Allergenquellen . . . . . . . . . . . . . 13.6.1 Deinitionen . . . . . . . . . . . . . . . 13.6.2 Inhalationsallergene . . . . . . . . . . . 13.6.3 Allergene in Nahrungs- und Genussmitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.6.4 Kontaktallergene . . . . . . . . . . . . . Anhang: Wichtige Begrife der Immunologie und Allergologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . 14
14.1 14.2 307 14.3 308 308 308 310
14.4 14.5 14.6 14.7
310 311 311 312
14.7.1 14.7.2
Plazebos und Plazebowirkungen: theoretische Konzepte und experimentelle Befunde . . . . . . . . R. Hänsel Plazebo – das umstrittene Medikament . . . . . . . . . . . . . . . Erste Annäherung an das hema anhand eines konkreten Beispiels . . Einseitige Deinition des Plazebobegrifs . . . . . . . . . . . . . . . . . . Plazeboefekte als unspeziische Efekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychophysische Wechselwirkungen: Basis für Plazeboefekte. . . . . . . . . Plazeboartefakte (falsche Plazeboefekte) . . . . . . . . . Nachweis einer pharmakodynamischen Wirkungskomponente nur durch Vergleich von Kollektiven möglich . . Reine Plazebos . . . . . . . . . . . . . . Plazebo im Vergleich zu Nichtbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . .
312 312 314 317 317 317 319
319 320 320 321 322 223 324 338 338
339
341 342 343 344 345 346
350 350 350
XIII
Inhaltsverzeichnis
14.7.3 14.7.4 14.8 14.8.1
14.8.2
14.9 14.9.1 14.9.2 14.9.3 14.9.4 14.10 14.10.1 14.10.2 14.11
14.11.1 14.11.2 14.11.3 14.11.4 14.11.5 14.12 14.12.1 14.12.2 14.12.3 14.12.4 14.12.5 14.12.6 14.12.7 14.12.8
Plazeboäquivalente Arzneimittel (unreine Plazebos) . . . . . . . . . . . . Unberechtigter Glaube an Wirkungsmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . Besondere herapierichtungen und das Plazeboproblem . . . . . . . . Medikamente der besonderen herapierichtungen gelten als glaubensbasiert . . . . . . . . . . . . . Kritik an der kontrollierten klinischen Studie als alleinigem Maß der Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Plazeboefekt: Vorstellungen zum Wirkungsmechanismus . . . . . Bedingte Relexe (Konditionierung) . . Erwartungshaltung . . . . . . . . . . . . Suggestion (Instruktion, Präparatesuggestion) . . . Widerspiegelung von Plazeboefekten auf biochemischer Ebene . . . . . . . . Äußere Einlüsse auf die Plazebowirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Iatroplazebogenese: Der Arzt als Plazebo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beitrag von Arzneiform und Sensorik zum Plazebophänomen . . . . . . . . . Einsatz von Plazebos: Reine Plazebos und plazeboäquivalente Arzneimittel in verschiedenen herapierichtungen Plazeboäquivalente Arzneimittel in der internistischen Medizin. . . . . . Anthroposophische Arzneitherapie . . Arzneimittel der Homöopathie . . . . . Die Arzneimittel der Phytotherapie . . Traditionelle chinesische Medizin . . . Indikationen für plazeboäquivalente Arzneimittel . . . . . . . . . . . . . . . Adjuvant bei Krankheiten ohne langfristig erfolgreiche herapie . . . . Zur Behandlung funktioneller (somatoformer) Störungen . . . . . . . . . . . . Beindlichkeitsstörungen . . . . . . . . Nervöse Herzbeschwerden . . . . . . . Funktionelle Beschwerden im gastrointestinalen Bereich. . . . . . . . . . . . Reizdarmsyndrom (Colon irritabile) Prämenstruelles Syndrom . . . . . . . . Klimakterisches Syndrom . . . . . . . .
351 351
Unerwünschte Plazebowirkungen . Biologische Bedeutung des Plazeboefekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . .
14.13 14.14
.
377
. . .
379 380 384
352 15 352 15.1 354 356 356 357 358 359
15.1.1 15.1.2 15.1.3 15.1.4 15.2 15.3 15.3.1
360 360
15.3.2 15.4
361
15.4.1
361 362 363 364 365 370
15.4.2 15.4.3 15.4.4 15.4.5 15.4.6 15.4.7
371
15.4.8
371
15.4.9
372 373 373
15.4.10
15.5 374 374 375 376
15.5.1 15.5.2 15.5.3
Sekundäre Planzenstofe in Nahrungsergänzungsmitteln . . . . . . . . . . . R. Hänsel Sekundäre Planzenstofe in Nahrungsergänzungsmitteln: Probleme des Wirksamkeitsnachweises . . . . . . . . Begrife, Allgemeines . . . . . . . . . . Realistische Heilversprechen? . . . . . . Grenzen retrospektiver Korrelationsstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überbewertung von Laborstudien . . . Rotwein und seine schützenden Phenole . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soja und Sojaprodukte . . . . . . . . . Botanische Herkunt und Inhaltsstofe der Sojabohne . . . . . . . . . . . . . . . Einzelne Sojaprodukte . . . . . . . . . . Antioxidative Wirkung sekundärer Planzenstofe. . . . . . . . . . . . . . . Oxidativer Stress: biologische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktive Sauerstofspezies (ROS) . . . . Biologische Quellen für ROS . . . . . . Biologische Wirkungen von ROS . . . . Antioxidative Schutzmechanismen gegen ROS . . . . . . . . . . . . . . . . . Biochemische Marker für oxidativen Stress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rolle von ROS bei der Entstehung von Krankheiten . . . . . . . . . . . . . Mehrfach ungesättigte Fettsäuren und oxidativer Stress . . . . . . . . . . . . . Wirkt Knoblauch antiarteriosklerotisch und krebshemmend? . . . . . . . . . . . Selenverbindungen in Planzen: antioxidativ und antikanzerogen wirkend . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ascorbinsäure (Vitamin C): das wasserlösliche Antioxidans . . . . Chemische Struktur und Eigenschaten Vorkommen . . . . . . . . . . . . . . . . Pharmakokinetik . . . . . . . . . . . . .
385
386 386 387 388 388 390 391 392 395 397 397 398 400 401 402 405 405 410 412
417 420 420 420 422
XIV
Inhaltsverzeichnis
15.5.4
Biochemische Bedeutung der Ascorbinsäure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.5.5 Ascorbinsäure als Nahrungsergänzungsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . 16
16.1
16.2 16.3 16.4 16.5 16.6 16.7 16.8 16.8.1 16.8.2 16.9 16.10 16.10.1 16.10.2 16.10.3 16.10.4 16.11 16.12
16.13 16.13.1 16.13.2 16.13.3 16.13.4 16.13.5 16.13.6 16.13.7 16.14
Drogen der Traditionellen Chinesischen Medizin in westlichen Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Stöger Die traditionelle chinesische Medizin (TCM) und ihre Akzeptanz in westlichen Ländern . . . . . . . . . . . . . . Beindlichkeitsstörungen als Domäne der TCM . . . . . . . . . . . . . . . . . Die TCM: der andere Denkstil erschwert das Verständnis . . . . . . . Die Relevanz des theoretischen Überbaus . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Yin-Yang-Lehre . . . . . . . . . . . Die Fünf-Wandlungsphasen-Lehre (wuxing) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Qi und Xue . . . . . . . . . . . . . . . . Pathogenese. . . . . . . . . . . . . . . . Äußere Ursachen . . . . . . . . . . . . . Innere Ursachen . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . Die acht diagnostischen Leitkriterien (bagang) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Yin und Yang . . . . . . . . . . . . . . . Inneres und Oberläche . . . . . . . . . Kälte und Hitze . . . . . . . . . . . . . . Leere und Fülle . . . . . . . . . . . . . . Diferentialdiagnose. . . . . . . . . . . herapeutische Umsetzung des Befundes – die therapeutischen Verfahren (zhifa) . . . . . . . . . . . . . Arzneimittelwirkungen . . . . . . . . . Das Temperaturverhalten (qi) . . . . . . Die Geschmacksrichtung (wei) . . . . . Der Funktionskreisbezug (guijing) . . . Wirkungsstärke, Toxizität (duxing) . . . Wirkungsdeinition (yingyong zhuzhi) Dosierung . . . . . . . . . . . . . . . . . Inkompatibilitäten, Anwendung in der Schwangerschat . . . . . . . . . . Pharmazeutische Drogenaubereitung
422 425 428 430
431
433 433 434 435 436 437 439 439 439 440 440 441 441 442 442 442 443
443 443 445 445 445 445 447 447 447 447
16.14.1 16.14.2
Wirkungsinerte Aubereitungsverfahren Wirkungsrelevante, traditionelle Vorbehandlungsverfahren . . . . . . . . 16.15 Rezepturen . . . . . . . . . . . . . . . . 16.16 Verarbeitung zu Arzneiformen . . . . 16.16.1 Dekokte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.16.2 Traditionelle Fertigarzneimittel . . . . . 16.16.3 Neuzeitliche Extraktzubereitungen . . . 16.16.4 Zubereitungen für die äußerliche Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . 16.17 Das Potential der chinesischen Arzneidrogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.18 Sicherheitsaspekte . . . . . . . . . . . . 16.18.1 Verwechslungen chinesischer Arzneidrogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.18.2 Kontamination mit Schwermetallen . . 16.19 Verfügbarkeit von TCM-Drogen in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . Aromatherapie: Biologische und psychodynamische Wirkungen von Aromastofen . . . . . . . . . . . . R. Hänsel 17.1 Einschränkung des hemas: Abgrenzung zur esoterischen Aromatherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.2 Biologische Bedeutung des Riechens 17.3 Psychodynamische Wirkungen von Gerüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.4 Weitere Wirkungen ätherischer Öle via Osmorezeptoren . . . . . . . . . . . 17.5 Wirkungen über das trigeminale System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.6 Zurück zur Aromatherapie. . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
448 448 449 450 450 450 451 451 451 452 452 453 454 456 461 461
17
D
18
18.1 18.2
Einzeldarstellung wichtiger Stoffgruppen . . . . . . . . Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide . . . . . . W. Blaschek, S. Alban Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . Deinition der Kohlenhydrate . . . . .
463
464 465 467 468 469 469 470
473
475 477 477
XV
Inhaltsverzeichnis
18.3 18.3.1 18.3.2 18.4 18.4.1 18.4.2 18.4.3 18.4.4 18.4.5 18.4.6 18.4.7 18.4.8 18.4.9 18.4.10 18.5 18.5.1 18.5.2 18.5.3 18.6 18.7 18.8 18.8.1 18.8.2 18.9 18.9.1 18.9.2 18.9.3 18.9.4 18.9.5 18.9.6 18.9.7 18.9.8 18.10 18.11 18.11.1 18.11.2 18.11.3
Klassiizierung von Kohlenhydraten Monosaccharide . . . . . . . . . . . . . Di- und Oligosaccharide . . . . . . . . Strukturprinzipien von Monosacchariden . . . . . . . . . . . . . . . . Aldosen und Ketosen . . . . . . . . . . Halbacetalbildung. . . . . . . . . . . . . Nomenklatur und Darstellung . . . . . Aldonsäuren, Uronsäuren und Aldarsäuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aminozucker und Acetyl-Aminozucker Deoxy-Zucker . . . . . . . . . . . . . . Zuckeralkohole: Alditole . . . . . . . . Cyclitole . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zuckerester: phosphorylierte und sulfatierte Monosaccharide. . . . . Besondere Monosaccharide . . . . . . . Strukturprinzipien von Oligosacchariden . . . . . . . . . . . . . . . . Vollacetalbildung und O-glykosidische Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . N-glykosidische und C-glykosylische Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Di- und Oligosaccharide . . . . . . . . Organoleptische Eigenschaten von Kohlenhydraten . . . . . . . . . . Kohlenhydrate im Stofwechsel . . . . Analytik von Kohlenhydraten . . . . . Nachweisreaktionen für Kohlenhydrate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturauklärung von Kohlenhydraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pharmazeutisch bedeutsame Monosaccharide . . . . . . . . . . . . . Xylose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glucose . . . . . . . . . . . . . . . . . . Galactose . . . . . . . . . . . . . . . . . Fructose . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sorbitol . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mannitol . . . . . . . . . . . . . . . . . . Xylitol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Myo-Inositol . . . . . . . . . . . . . . . Honig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pharmazeutisch bedeutsame Oligosaccharide . . . . . . . . . . . . . . . . Saccharose . . . . . . . . . . . . . . . . Lactose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lactulose . . . . . . . . . . . . . . . . .
478 478 478 479 479 480 481 483 485 486 487 487 488 488 488 488 489 491 493 496 498 498 498 500 500 500 501 502 503 504 504 505 505 507 507 508 509
18.11.4 Lactitol 18.11.5 Maltose 18.11.6 Isomalt 18.11.7 Maltitol Literatur . . . . . 19
19.1 19.1.1 19.1.2 19.1.3 19.1.4 19.2 19.2.1 19.2.2 19.2.3 19.2.4 19.2.5 19.2.6 19.2.7 19.2.8 19.2.9 19.2.10 19.2.11 19.3 19.3.1 19.3.2 19.3.3 19.4 19.4.1 19.4.2 19.4.3 19.4.4 19.4.5 19.4.6 19.4.7 19.4.8 19.4.9 19.4.10 19.4.11 19.4.12 19.4.13 19.5
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen . . . . . . . S. Alban, W. Blaschek Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eigenschaten . . . . . . . . . . . . . . . Abbau von Polysacchariden . . . . . . . Vorkommen und Funktionen . . . . . . Isolierte planzliche Polysaccharide und wichtige Derivate . . . . . . . . . Cellulose . . . . . . . . . . . . . . . . . . Natürliche Cellulosepräparate . . . . . Modiizierte Cellulosen . . . . . . . . . Verbandstofe auf Cellulose-Basis . . . Cellulosederivate . . . . . . . . . . . . . Stärke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modiizierte Stärken . . . . . . . . . . . Stärkederivate . . . . . . . . . . . . . . . Fructane . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pektine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang: Ballaststofe . . . . . . . . . . . Planzliche Gummen . . . . . . . . . . Arabisches Gummi . . . . . . . . . . . . Tragant . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karaya-Gummi . . . . . . . . . . . . . . Polysacchariddrogen/Schleimdrogen Charakteristika, Qualitätsprüfung und Anwendungsgebiete . . . . . . . . . . . Bockshornsamen . . . . . . . . . . . . . Eibischwurzel und -blätter . . . . . . . Flohsamen, Indische Flohsamen und -schalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Guar und Guargalactomannan . . . . . Hulattichblätter . . . . . . . . . . . . . Isländisches Moos/Isländische Flechte Johannisbrotkernmehl . . . . . . . . . . Leinsamen . . . . . . . . . . . . . . . . . Lindenblüten . . . . . . . . . . . . . . . Malvenblüten und -blätter . . . . . . . . Spitzwegerichblätter . . . . . . . . . . . Wollblumen/Königskerzenblüten . . . Bakterienpolysaccharide . . . . . . . .
510 510 511 512 513
515 517 517 521 524 526 528 529 531 533 534 535 539 548 552 554 555 559 570 571 573 576 579 579 584 586 589 592 594 595 598 600 602 603 604 605 607
XVI
Inhaltsverzeichnis
19.5.1
Bakterielle Zellwand-, Kapsel- und Exopolysaccharide . . . . . . . . . . . . 19.5.2 Dextrane . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.5.3 Xanthan . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.5.4 Beispiele weiterer Exopolysaccharide . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.6 Pilzpolysaccharide . . . . . . . . . . . 19.6.1 Pullulan . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.6.2 Pilzglucane in der adjuvanten Tumortherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.6.3 Zellwandglykane in der Pathogenese von Mykosen . . . . . . . . . . . . . . . 19.7 Algenpolysaccharide . . . . . . . . . . 19.7.1 Allgemeines zu Algen und Algenpolysacchariden . . . . . . . . . . . . . . . . 19.7.2 Alginsäure und Alginate . . . . . . . . . 19.7.3 Agar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.7.4 Carrageen und Carrageenane . . . . . . 19.7.5 Furcelleran . . . . . . . . . . . . . . . . 19.7.6 Weitere sulfatierte Polysaccharide marinen Ursprungs . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane . . . . . S. Alban 20.1 Aminoglykane . . . . . . . . . . . . 20.1.1 Chitin und Chitosan . . . . . . . . . 20.1.2 Modiizierte Chitosane . . . . . . . 20.2 Glykosaminoglykane . . . . . . . . 20.2.1 Proteoglykane und Glykosaminoglykane der Vertebraten . . . . . . . 20.2.2 Hyaluronsäure . . . . . . . . . . . . 20.2.3 Keratansulfat . . . . . . . . . . . . . 20.2.4 Chondroitinsulfat . . . . . . . . . . 20.2.5 Dermatansulfat . . . . . . . . . . . . 20.2.6 Heparansulfat . . . . . . . . . . . . . 20.2.7 Heparin . . . . . . . . . . . . . . . . 20.2.8 Niedermolekulare Heparine . . . . 20.2.9 „Heparinoide“ . . . . . . . . . . . . 20.2.10 Anhang: Fondaparinux, ein synthetisches Pentasaccharid . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . .
21 607 612 615 618 620 621
21.1
622
21.3
625 628
21.4 21.5 21.6 21.7 21.8 21.9
629 632 638 642 647 648 651 653
20
21.2
21.10 21.11
22 . .
655
. . . .
656 656 661 663
. . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . .
664 671 673 675 677 680 682 691 696
. . . . . .
697 703 703
22.1 22.1.1 22.1.2 22.1.3 22.1.4 22.1.5 22.2 22.2.1 22.2.2 22.2.3 22.2.4 22.2.5 22.2.6 22.2.7 22.2.8 22.2.9 22.2.10
Planzliche Lectine: Vorkommen, Eigenschaten, Analytik und Bewertung ihrer immunmodulatorischen Aktivität . . . . . . . . . . . . . H. Rüdiger, R. Hänsel und H.-J. Gabius Kohlenhydrate als vielseitige Informationsträger . . . . . . . . . . . Lectine als Bindungspartner für zelluläre Glykane . . . . . . . . . . . . Weite Verbreitung planzlicher Lectine . . . . . . . . . . . . . . . . . . Planzliche Lectine als Gite . . . . . . Isolierung von Lectinen . . . . . . . . Funktionen planzlicher Lectine . . . Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . Analytik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Immunmodulation durch planzliche Lectine . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der „Immunstimulation“ zur Ambivalenz der Immunmodulation Risikopotential der lectinbezogenen Mistelanwendung . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . Lipide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . R. Hänsel Fettsäuren . . . . . . . . . . . . . . . . . Nomenklatur, Einteilung . . . . . . . . Weit verbreitete Fettsäuren . . . . . . . Fettsäuren mit ungewöhnlicher Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biosynthese von Fettsäuren . . . . . . . Eicosanoide . . . . . . . . . . . . . . . . Triacylglyceride (Fette und Öle) . . . . Nomenklatur, chemischer Aubau . . . Schmelzverhalten, einige chemische Eigenschaten . . . . . . . . . . . . . . . Prüfung auf Identität und Reinheit . . . Chemische Kennzahlen . . . . . . . . . Farbreaktionen . . . . . . . . . . . . . . Begleitstofe in Fetten und Ölen . . . . Biosynthese von Triacylglyceriden; Fettspeicherung . . . . . . . . . . . . . . Technische Gewinnung von Fetten und Ölen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verwendung in Pharmazie und Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . Planzliche Fette und Öle. . . . . . . . .
705
706 709 713 718 720 723 725 727 729 730 733 735 739 740 740 741 744 747 752 757 757 757 759 760 761 763 766 768 769 770
XVII
Inhaltsverzeichnis
Phospholipide . . . . . . . . . . . . . . Phosphoglyceride (Phosphatidylsäurederivate) . . . . . . 22.3.2 Sojabohnenlecithin . . . . . . . . . . . . 22.3.3 Etherphospholipide. . . . . . . . . . . . 22.4 Glykolipide . . . . . . . . . . . . . . . . 22.4.1 Glyceroglykolipide . . . . . . . . . . . . 22.4.2 Sphingolipide . . . . . . . . . . . . . . . 22.5 Beteiligung von Lipiden am Aubau von Membranen . . . . . . . . . . . . . 22.5.1 Einheitliches Bauprinzip biologischer Membranen . . . . . . . . . . . . . . . . 22.5.2 Unterschiede in der Zusammensetzung 22.5.3 Oxidative Schädigung von Membranlipiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.6 Lipopolysaccharide . . . . . . . . . . . 22.6.1 Vorkommen . . . . . . . . . . . . . . . . 22.6.2 Chemischer Aubau. . . . . . . . . . . . 22.6.3 Biologische Wirkungen von LPS bzw. von Endotoxinen . . . . . . . . . . . . . 22.7 Wachse und wachsähnliche Stofe . . 22.7.1 Deinitionen, Übersicht . . . . . . . . . 22.7.2 Carnaubawachs . . . . . . . . . . . . . . 22.7.3 Jojobaöl . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.7.4 Blütenwachse . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.3 22.3.1
23 23.1
23.2
23.3 23.3.1 23.3.2 23.3.3 23.3.4 23.4 23.4.1 23.4.2 23.4.3
Isoprenoide als Inhaltsstofe . . . . . . O. Sticher Terminologie, Isoprenregel, Biosynthese, Einteilung, Vorkommen und biologische Funktion . . . . . . . Mono- und Sesquiterpene, die in ätherischen Ölen vorkommen ( > Kap. 25) . . . . . . . . . . . . . . . . Iridoide . . . . . . . . . . . . . . . . . . Terminologie, Biosynthese, Unterteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Iridoidglykoside . . . . . . . . . . . . . Secoiridoidglykoside . . . . . . . . . . . Nichtglykosidische Iridoide . . . . . . . Sesquiterpene. . . . . . . . . . . . . . . Häuig vorkommende Strukturvarianten, Einteilung, Vorkommen . . . . . . . . . Biologische Aktivitäten von Sesquiterpenen – Wirkungsmechanismen . . Sesquiterpene als Reinstofe und Inhaltsstofe planzlicher Arzneidrogen . . . .
784
801 803 803 805 805 806 807
Diterpene . . . . . . . . . . . . . . . . . Einige häuige Strukturtypen, biologische Aktivitäten, Vorkommen 23.5.2 Beispiele biologisch aktiver Diterpene . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.5.3 Diterpene als Inhaltsstofe planzlicher Arzneidrogen . . . . . . . . . . . . . . . 23.6 Triterpene einschließlich Steroide ( > Kap. 24) . . . . . . . . . . . . . . . . 23.7 Tetraterpene: Carotinoide und biochemisch verwandte Planzenstofe . . 23.7.1 Chemischer Aubau, Einteilung, Nomenklatur . . . . . . . . . . . . . . . 23.7.2 Physikalische und chemische Eigenschaten, Stabilität . . . . . . . . . 23.7.3 Analytische Kennzeichnung . . . . . . 23.7.4 Vorkommen, Lokalisation. Hinweise auf Carotinoidführung in Arzneidrogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.7.5 Biosynthese der Carotinoide. . . . . . . 23.7.6 Schicksal der Carotinoide im Säugetierorganismus . . . . . . . . . . . . . . . . 23.7.7 Wirkungen und Anwendungsgebiete 23.7.8 Apocarotinoide und andere Carotinoidabbauprodukte . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
809
24
784 787 787 789 790 790 791 791 793 794 800 800 800
23.5 23.5.1
24.1 810
815 815 815 817 832 838 847 847 850 855
24.2 24.3 24.4 24.5 24.5.1 24.5.2 24.5.3 24.5.4 24.5.5 24.5.6 24.6 24.6.1 24.6.2 24.6.3 24.6.4
Triterpene einschließlich Steroide . . O. Sticher Übersicht über die pharmazeutisch interessierenden Stofgruppen . . . . Allgemeine Nachweisreaktionen . . . Squalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phytosterole (Phytosterine) . . . . . . Triterpene verschiedener Struktur . . Cucurbitacine . . . . . . . . . . . . . . . Cimicifuga-Triterpene . . . . . . . . . . Quassinoide . . . . . . . . . . . . . . . . Boswelliasäuren . . . . . . . . . . . . . . Betulinsäure . . . . . . . . . . . . . . . . Ringelblumenblüten . . . . . . . . . . . Saponine. . . . . . . . . . . . . . . . . . Begrifsbestimmung . . . . . . . . . . . Vorkommen, chemische und physikalische Eigenschaten, Einteilung . . . Analytik von Saponindrogen . . . . . . Saponine als Hämolysegite, hämolytischer Index, Strukturspeziität . . .
882 882 885 889 892 892 892 892 896
896 899 899 900 903 908 915
916 916 920 920 927 927 930 934 935 938 940 943 943 943 944 946
XVIII
Inhaltsverzeichnis
24.6.5
Metabolismus, Pharmakokinetik und Toxikologie der Saponine . . . . . 24.6.6 Wirkungen der Saponine . . . . . . . . 24.6.7 Arzneidrogen mit Saponinen . . . . . . 24.6.8 Triterpensaponine . . . . . . . . . . . . 24.6.9 Steroidsaponine . . . . . . . . . . . . . . 24.7 Herzwirksame Steroide . . . . . . . . . 24.7.1 Begrifsbestimmung, Geschichtliches . 24.7.2 Aubau der herzwirksamen Steroidglykoside . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.7.3 Einige chemische Eigenschaten, Farbreaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.7.4 Verbreitung im Planzenreich, verwendete Extrakte/Reinstofe . . . . . 24.7.5 Pharmakokinetik und Metabolismus 24.7.6 Wirkungen auf biochemischer Ebene und Anwendungsgebiete . . . . . . . . . 24.7.7 Analytische Kennzeichnung . . . . . . . 24.7.8 Digitalis lanata und Lanataglykoside . . 24.7.9 Digitalis purpurea und Purpureaglykoside. . . . . . . . . . 24.7.10 Strophanthin und andere Reinglykoside mit großer Abklingquote. . . . . . . . . 24.7.11 Weitere Drogen mit herzwirksamen Steroiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.8 Verschiedene Substanzen mit einem Steroidgerüst . . . . . . . . 24.8.1 Uzarawurzel . . . . . . . . . . . . . . . . 24.8.2 Condurango- oder Kondurangorinde Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
25.1 25.1.1 25.1.2 25.1.3 25.1.4 25.1.5 25.1.6 25.1.7 25.1.8 25.2 25.2.1 25.2.2
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten . . . . . . O. Sticher Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . Natürliche und künstliche Öle. . . . . . Terpentinfreie Öle, naturbelassene Öle Extraktionsöle . . . . . . . . . . . . . . Extrakte aus Ätherischöldrogen . . . . Blütenwässer, Blütenwasseröle, aromatische Wässer. . . . . . . . . . . . Aromastofe . . . . . . . . . . . . . . . . Parfüms . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorkommen . . . . . . . . . . . . . . . . Eigenschaten . . . . . . . . . . . . . . . Einige physikalische und organoleptische Eigenschaten. . . . . . . . . . Chemische Zusammensetzung . . . . .
948 949 951 951 980 989 989 990 992 996 996 998 1000 1001 1005
25.2.3 25.2.4 25.2.5 25.3 25.3.1
25.3.2 25.3.3 25.3.4 25.3.5 25.3.6 25.3.7 25.3.8 25.4 25.4.1 25.4.2 25.4.3 25.5 25.5.1 25.5.2
1007 25.5.3 1008 25.5.4 1013 1013 1014 1017
25.5.5 25.6 25.6.1
1023 1025 1025 1025 1025 1026 1026 1026 1027 1028 1028 1028 1029
25.6.2 25.6.3 25.6.4 25.6.5 25.6.6 25.6.7 25.7 25.8 25.8.1 25.8.2 25.8.3 25.8.4
Qualitätskontrolle . . . . . . . . . . . . Hinweise zur Lagerung und Aubewahrung . . . . . . . . . . . . . . Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . Gewürze . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewürze, Gewürzmischungen, Gewürzzubereitungen, gesundheitliche Aspekte des Würzens . . . . . . . . . . . . . . . . Galgant . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingwerwurzelstock . . . . . . . . . . . . Koriander . . . . . . . . . . . . . . . . . Majoran . . . . . . . . . . . . . . . . . . Piment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vanille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zimtrinde . . . . . . . . . . . . . . . . . Stomachika, Cholagoga, Carminativa Stomachika . . . . . . . . . . . . . . . . Cholagoga . . . . . . . . . . . . . . . . . Carminativa . . . . . . . . . . . . . . . . Ätherische Öle als Expektoranzien . . Vorstellungen zur Wirkweise . . . . . . Ätherische Öle, die bevorzugt inhalativ angewendet werden. . . . . . . . . . . . Bevorzugt systemisch oder relektorisch wirkende ätherische Öle . . . . . . . . . Ätherische Öle in Arzneiformen zum Lutschen . . . . . . . . . . . . . . . Ätherischöldrogen als Bestandteile von Brusttees . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ätherische Öle zur Mundplege und zum Gurgeln . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeines über Mundsprays, Mundwässer und Gurgelwässer (Gargarismen) . . . . . . . . . . . . . . Ätherische Öle aus Mentha-Arten . . . Salbei und Salbeiöl . . . . . . . . . . . . hymianöl und hymol . . . . . . . . . Wintergrünöl . . . . . . . . . . . . . . . Myrrhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Benzoe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ätherische Öle in Rhinologika . . . . Ätherische Öle als Zusatz zu Externa Übersicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . Hyperämisierende Einreibungen . . . . Juckreizstillende Mittel (Antipruriginosa) . . . . . . . . . . . . Mittel zur Durchblutung der Kophaut . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1036 1040 1040 1044
1044 1045 1046 1050 1051 1053 1053 1054 1057 1057 1069 1078 1097 1097 1098 1105 1110 1111 1113
1113 1114 1118 1120 1121 1122 1123 1125 1125 1125 1125 1128 1131
XIX
Inhaltsverzeichnis
25.8.5 25.8.6
Antiseptika und Antiphlogistika . . . . Anhang: Nelkenöl und Eugenol in der konservierenden Zahnheilkunde . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1132
Phenolische Verbindungen . . . . . . . O. Sticher Allgemeine Einführung . . . . . . . . Deinition, Eigenschaten . . . . . . . . Dünnschichtchromatographie (DC), Farbreaktionen . . . . . . . . . . . . . . Biosynthetische Einordnung. . . . . . . Oxidative Kupplung von Phenolen . . . Enzymatische Bräunungsreaktionen . . Toxikologische Eigenschaten . . . . . . Phenolcarbonsäuren und Derivate . . Freie Phenolcarbonsäuren . . . . . . . . Ester mit anderen Säuren . . . . . . . . An Zucker glykosidisch gebundene Phenolcarbonsäuren . . . . . . . . . . . Einfache Phenolglykoside – Bärentraubenblätter . . . . . . . . . . . . . . . Cumarine . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Merkmale . . . . . . . . . . Hinweise zur Analytik . . . . . . . . . . Beispiele für Cumarine als analytische Leitstofe . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . Lichtsensibilisierende Cumarine . . . . Cumarin, Cumarindrogen . . . . . . . Ammi-visnaga-Früchte . . . . . . . . . Lignane . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . Lignane als analytische Leitstofe . . . . Kubeben . . . . . . . . . . . . . . . . . . Taigawurzel . . . . . . . . . . . . . . . . Podophyllin . . . . . . . . . . . . . . . . Indisches Podophyllin . . . . . . . . . . Guajakharz. . . . . . . . . . . . . . . . . Larrea-tridentata-Kraut . . . . . . . . . Flavonoide . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichtliche Einleitung . . . . . . . . Bauprinzip, Einteilung . . . . . . . . . . Chalkone . . . . . . . . . . . . . . . . . Flavanone . . . . . . . . . . . . . . . . . Flavone und Flavonole . . . . . . . . . . Anthocyane . . . . . . . . . . . . . . . . Proanthocyanidine . . . . . . . . . . . .
1141
26 26.1 26.1.1 26.1.2 26.1.3 26.1.4 26.1.5 26.1.6 26.2 26.2.1 26.2.2 26.2.3 26.2.4 26.3 26.3.1 26.3.2 26.3.3 26.3.4 26.3.5 26.3.6 26.3.7 26.4 26.4.1 26.4.2 26.4.3 26.4.4 26.4.5 26.4.6 26.4.7 26.4.8 26.5 26.5.1 26.5.2 26.5.3 26.5.4 26.5.5 26.5.6 26.5.7
1133 1135
1143 1143 1143 1145 1145 1145 1145 1150 1150 1155 1161 1162 1165 1165 1166 1166 1168 1169 1171 1176 1178 1178 1178 1178 1181 1184 1185 1186 1187 1188 1188 1188 1188 1192 1193 1199 1201
26.5.8 26.5.9
Wirkungen der Flavonoide . . . . . . . Bioverfügbarkeit, Metabolismus und Pharmakokinetik . . . . . . . . . . . . . 26.5.10 Flavonoiddrogen . . . . . . . . . . . . . 26.6 Kava-Kava. . . . . . . . . . . . . . . . . 26.7 Cannabinoide. . . . . . . . . . . . . . . 26.8 Gerbstofe . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.8.1 Catechingerbstofe (kondensierte Proanthocyanidine) . . . . . . . . . . . . . 26.8.2 Hydrolysierbare Gerbstofe (Gallotannine). . . . . . . . . . . . . . . 26.8.3 Anwendung der Gerbstofdrogen und Wirkungen der Gerbstofe . . . . . . . . 26.8.4 Bioverfügbarkeit und Toxikologie von Gerbstofen . . . . . . . . . . . . . . . . 26.8.5 Gerbstofdrogen und Reinstofe . . . . 26.9 Anthranoide . . . . . . . . . . . . . . . 26.9.1 Einleitung, Begrife . . . . . . . . . . . . 26.9.2 Chemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.9.3 Metabolismus und Pharmakokinetik . 26.9.4 Wirkweise . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.9.5 Anwendung, Risiken und unerwünschte Wirkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . 26.9.6 Faulbaumrinde . . . . . . . . . . . . . . 26.9.7 Kreuzdornbeeren . . . . . . . . . . . . . 26.9.8 Sennesblätter und Sennesfrüchte . . . . 26.9.9 Aloe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.9.10 Cascararinde. . . . . . . . . . . . . . . . 26.9.11 Rhabarberwurzel . . . . . . . . . . . . . 26.10 Johanniskraut. . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 27.1 27.1.1 27.1.2 27.1.3 27.1.4 27.1.5 27.1.6 27.1.7 27.2 27.3 27.4 27.4.1 27.4.2
Alkaloide . . . . . . . . . . . . . . . Rudolf Hänsel und Heinz Pertz Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . Was sind Alkaloide? . . . . . . . . . Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . Vorkommen . . . . . . . . . . . . . . Stofwechselphysiologische Aspekte Biochemisch-ökologische Aspekte . Bedeutung für die Arzneimittelforschung . . . . . . . . . . . . . . . Pharmazeutische Aspekte . . . . . . Chinolizidinalkaloide . . . . . . . . Pyrrolizidinalkaloide . . . . . . . . Tropanalkaloide . . . . . . . . . . . Chemischer Aubau, Vorkommen . Biosynthese . . . . . . . . . . . . . .
1205 1208 1213 1241 1244 1249 1249 1253 1254 1256 1257 1269 1269 1270 1277 1278 1281 1283 1284 1285 1288 1292 1294 1296 1306
. .
1315
. . . . . .
. . . . . .
1318 1318 1318 1320 1322 1325
. . . . . . .
. . . . . . .
1326 1331 1338 1340 1346 1347 1347
XX
Inhaltsverzeichnis
27.4.3 27.4.4 27.4.5 27.5 27.5.1 27.5.2 27.5.3 27.5.4 27.6 27.6.1 27.6.2 27.6.3 27.6.4 27.7 27.7.1 27.7.2 27.8 27.9 27.10 27.10.1 27.10.2 27.10.3 27.10.4 27.10.5 27.10.6 27.10.7 27.10.8 27.10.9 27.10.10 27.10.11 27.11 27.11.1 27.11.2 27.11.3 27.11.4 27.11.5 27.11.6 27.11.7 27.11.8 27.11.9 27.11.10 27.11.11 27.11.12
Drogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinalkaloide . . . . . . . . . . . . . . . Calystegine und andere Polyhydroxyalkaloide . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nicotianaalkaloide. . . . . . . . . . . . Chemie und Biochemie . . . . . . . . . Tabak und Tabakplanzen . . . . . . . . Tabak und Gesundheitsrisiken durch Tabakrauch . . . . . . . . . . . . . . . . Ökobiochemie . . . . . . . . . . . . . . Benzylisochinolinalkaloide . . . . . . Phytochemie: Untergruppen und deren biogenetische Beziehungen . . . . . . . Opium und Opiumalkaloide . . . . . . Drogen mit Protoberberin-Akaloiden Phthalidisochinolin-Alkaloide . . . . . Ipecacuanha-Alkaloide . . . . . . . . . Ipecacuanhawurzel und Zubereitungen Emetin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lycorin und Galanthamin . . . . . . . Colchicin . . . . . . . . . . . . . . . . . Mutterkorn und Ergolinalkaloide . . Geschichtliches . . . . . . . . . . . . . . Secale cornutum . . . . . . . . . . . . . Inhaltsstofe . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeines zu Wirkungen der Mutterkornalkaloide . . . . . . . . . . . . . . . Ergometrin (Ergobasin, Ergonovin) . . Ergotamin . . . . . . . . . . . . . . . . . Toxische Wirkungen des Mutterkorns Saprophytische Kultur von ClavicepsArten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biosynthesestudien . . . . . . . . . . . . Lysergsäureamide in höheren Planzen Hinweise zur Analytik . . . . . . . . . . Monoterpenoide Indolalkaloide . . . Chemischer Aubau . . . . . . . . . . . Sensorische Eigenschaten . . . . . . . . Verbreitung im Planzenreich . . . . . . Biosynthese . . . . . . . . . . . . . . . . Yohimbin . . . . . . . . . . . . . . . . . Rauwoliaalkaloide . . . . . . . . . . . . Catharanthusalkaloide . . . . . . . . . . Camptothecin . . . . . . . . . . . . . . . Ellipticin . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strychnin und Brucin . . . . . . . . . . C-Toxiferin und Calebassen-Curare . . Chinarinde und Cinchonaalkaloide . .
1349 1355 1359 1362 1362 1364 1365 1367 1368 1368 1377 1386 1388 1390 1390 1393 1395 1397 1403 1403 1403 1404 1406 1407 1408 1409 1410 1411 1411 1411 1415 1416 1416 1416 1418 1418 1420 1424 1426 1428 1430 1432 1434
. . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . .
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1442 1444 1445 1445 1446 1446 1449 1453 1453 1454 1455 1456 1459 1462 1463 1463
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1464 1465 1466 1468 1468
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1471 1471 1476 1477 1478 1485 1487 1488 1492
Das System der Spermatophyta: Übersicht über Ordnungen und Familien . . .
1495
Abkürzungen der Botanikernamen (Autoren der Planzennamen) . . . . . . . . . .
1505
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1515
Artnamenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1561
27.12 27.13 27.13.1 27.13.2 27.13.3 27.13.4 27.13.5 27.13.6 27.13.7 27.13.8 27.13.9 27.13.10 27.13.11 27.13.12 27.13.13 27.13.14 27.13.15
Jaborandiblätter und Pilocarpin Purinalkaloide . . . . . . . . . . . Einschränkung des hemas . . . . Vorkommen . . . . . . . . . . . . . Biosynthetische Einordnung . . . Analytik . . . . . . . . . . . . . . . Wirkungen der Methylxanthine . Ökobiochemie . . . . . . . . . . . Cofeindrogen als Genussmittel . Kolasamen (Kolanuss) . . . . . . . Guarana (Guaranasamen) . . . . . Kafee . . . . . . . . . . . . . . . . Schwarzer und grüner Tee . . . . . Mate (Mateblätter) . . . . . . . . . Yoco . . . . . . . . . . . . . . . . . Kakaobohnen, Kakaoschalen . . . Cofeinhaltige Getränke und Limonaden. . . . . . . . . . . . . . 27.14 Terpenoide Alkaloide . . . . . . . 27.14.1 Aconitin und Pseudoaconitin . . . 27.14.2 Ryanodin. . . . . . . . . . . . . . . 27.14.3 Taxol (Paclitaxel) . . . . . . . . . . 27.15 Alkaloide mit exozyklisch angeordnetem Stickstof . . . . . . . . 27.15.1 Ephedrakraut und Ephedrin . . . 27.15.2 Kat (Kath) . . . . . . . . . . . . . . 27.15.3 Peyotl und Mescalin . . . . . . . . 27.15.4 Paprika und Capsaicinoide . . . . 27.15.5 Piper-Alkaloide . . . . . . . . . . . 27.15.6 heanin . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . .
E
Anhänge
Autorenverzeichnis Prof. Dr. Susanne Alban Pharmazeutisches Institut Abteilung Pharmazeutische Biologie Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Gutenbergstr. 76 24118 Kiel
Prof. Dr. Kurt Hostettmann Laboratoire de Pharmacognosie et de Phytochimie Section des Sciences Pharmaceutiques Université de Genève Quai Ernest-Ansermet 30 CH-1211 Genève 4
Prof. Dr. Wolfgang Blaschek Pharmazeutisches Institut Lehrstuhl für Pharmazeutische Biologie Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Gutenbergstr. 76 24118 Kiel
Dr. Andrew Marston Laboratoire de Pharmacognosie et de Phytochimie Section des Sciences Pharmaceutiques Université de Genève Quai Ernest-Ansermet 30 CH-1211 Genève 4
Prof. Dr. Theodor Dingermann Institut für Pharmazeutische Biologie Universität Frankfurt Marie-Curie-Str. 9 60439 Frankfurt
Prof. Dr. Wolfgang Kreis Institut für Botanik und Pharmazeutische Biologie Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Staudtstraße 5 91058 Erlangen
Prof. Dr. Hans-Joachim Gabius Institut für Physiologische Chemie Tierärztliche Fakultät Ludwig-Maximilians-Universität Veterinärstr. 13 80539 München
Dr. Richard Lukačin Chromsystems Instruments & Chemicals GmbH Heimburg-Str. 3 81243 München
Prof. Dr. Rudolf Hänsel Westpreußenstraße 71 81927 München
Prof. Dr. Ulrich Matern Institut für Pharmazeutische Biologie Philipps-Universität Marburg Deutschhausstraße 17A 35032 Marburg.
Prof. Dr. Jörg Heilmann Institut für Pharmazie Lehrstuhl Pharmazeutische Biologie Universität Regensburg Universitätsstraße 31 93053 Regensburg
Prof. Dr. Heinz H. Pertz Institut für Pharmazie Fachbereich Biologie, Chemie, Pharmazie Freie Universität Berlin Königin-Luise-Str. 2+4 14195 Berlin
XXII
Autorenverzeichnis
Prof. Dr. Harold Rüdiger Institut für Pharmazie und Lebensmittelchemie Universität Würzburg Am Hubland 97074 Würzburg Edda Spieß Erbstetter Straße 23 70374 Stuttgart Prof. Dr. Otto Sticher Lebernhöhe 22 CH-8123 Ebmatingen Erich A. Stöger Apotheker Bischoff-Hartl-Straße 8 83410 Lauffen
PD Dr. Markus Veit Westendstr. 17 86916 Kaufering Prof. Dr. rer. nat. Angelika Vollmar Institut für Pharmazeutische Biologie Zentrum für Pharmaforschung Butenandtstr. 5–13 81377 München Dr. Ilse Zündorf Johann Wolfgang Goethe-Universität Institut für Pharmazeutische Biologie Biozentrum Marie-Curie-Str. 9 60439 Frankfurt
Abkürzungsverzeichnis Im Abkürzungsverzeichnis sind folgende Abkürzungen aufgeführt: x Allgemeine Abkürzungen, x Abkürzungen analytischer Methoden, x Medizinische Abkürzungen, x Molekularbiologische Abkürzungen. Abkürzungen von Substanznamen sind nur in Einzelfällen aufgeführt. [D]D20 14C A
A Å AA AACC AACT AAS
Abb. ABC Ac AC ACE AChE (s. auch CHE) Ac-MVA-Weg (s. auch MEV) ACP ACS
Optische Drehung radioaktives Kohlenstoisotop als Suix hinter Symbolen für Zucker: Abkürzung für Säure (engl.: „acid“), z. B. GlcA = Glucuronsäure Absorption Ångström(einheit), 1 Å = 10–10 m „ascorbinic acid“, Ascorbat American Association of Cereal Chemists Acetoacetyl-CoA-thiolase „atomic absorption spectroscopy (spectrometry)“, Atomabsorptionsspektroskopie (-spektrometrie) Abbildung „ATP-binding cassette“ Acetyl Adenylatcyclase „angiotensin converting enzyme“, Angiotensinkonversionsenzym Acetylcholinesterase klassischer Acetat-MevalonatBiosyntheseweg (von „acetyl mevalonic acid“) „acyl carrier protein“, Acylcarrierprotein „acute coronary syndrom“, akutes Koronarsyndrom
ACT ACTH ADAS ADI ADP ADPG ADPR AES AGP AIDS
AK ALD AMD AMG AMP AP-1 Apaf-1 APC (APZ)
APCI APP aPTT AR Ara Arg Asn Asp ASS AT ATBC ATCC
„artemisinin combination therapy“ adrenokortikotropes Hormon „Alzheimer’s disease assessment scale“ „acceptable daily intake“ Adenosindiphosphat Adenosindiphosphatglucose Adenosindiphosphat-Ribose Atomemissionsspektralanalyse Arabinogalactan-Protein „acquired immunodeiciency syndrome“, erworbenes Immundefekt-, Immunmangel- oder Immunschwächesyndrom Antikörper Adrenoleukodystrophie altersbedingte Makuladegeneration Arzneimittelgesetz Adenosin-5ʹ-monophosphat „activator protein 1“, AktivatorProtein-1 [Transkriptionsfaktor] „apoptotic protease activating factor 1“ „antigen presenting cells“, Antigen präsentierende Zellen; APC auch für aktiviertes Protein „atmospheric pressure chemical ionization“ „amyloid precursor protein“ aktivierte partielle hromboplastinzeit Adenosinrezeptoren Arabinose Arginin Asparagin Asparaginsäure Acetylsalicylsäure Antithrombin D-Tocopherol-E-Carotene Prevention Study American Type Culture Collection
XXIV
Abkürzungsverzeichnis
ATP ATPase AUC
AZM BAH BAN BASYC BAz Bax BCG Bcl-2 Bcl-xL BfArM Bid BNaC BP BPH BRM BRS Bq BSE
Bz ºC C5a cADPR Caf CAM cAMP CARET
Adenosintriphosphat Adenosintriphosphatase „area under the plasma concentration time curve“, Fläche unter der Plasmakonzentrationszeitkurve Auszugsmittel Bundesfachverband der Arzneimittel-Hersteller „British approved name“ „bacterial synthesized cellulose“ Bundesanzeiger, herausgegeben vom Bundesminister für Justiz proapoptotisches Protein der Bcl-2Familie Bacillus Calmette-Guérin antiapoptotisches Protein der Bcl-2Familie antiapoptotisches Protein der Bcl-2Familie Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte proapoptotisches Protein der Bcl-2Familie „brain Na-channels“, Amiloridsensitive Na-Kanäle British Pharmacopoeia, Her Majesty’s Stationary Oice, London benigne Prostatahyperplasie (syn. Prostatahypertrophie) „biological response modiiers“ biologische Referenzsubstanz Becquerel; SI-Einheit der Radioaktivität „bovine spongiforme encephalopathie“, bovine spongiforme Enzephalopathie [Rinderwahnsinn] Benzoyl (Grad) Celsius; Maßeinheit für Temperatur Komplementfaktor zyklische AdenosindiphosphatRibose (E)-Cafeoyl „cell adhesion molecules“, Zelladhäsionsmoleküle zyklisches Adenosinmonophosphat E-Carotene and Retinol Eicacy Trial
CB CBG CD CDP cdks CE CF c-fos (c-Fos) CFTR CGI
cGMP CGRP CGTase CHD CHE (s. auch AChE) CHI CHS Ci CI Cinn c-jun (c-Jun) Cmax CMK CMP CMR CMS cpm c-myc CNV
CPMP
CoA-SH COSY CoV COX CPR
Cannabinoidrezeptoren cystolische E-Glucosidase „cluster of diferentiation“ Cytidindiphosphat Cyclinabhängige Kinasen „capillary electrophoresis“, Kapillarelektrophorese „continuous low“ Proonkogen [Transkriptionsfaktor] „cystic ibrosis transmembrane conductance regulator“ „clinical global impression“ [Nutzen-Risiko-Bewertung der Behandlung] zyklisches Guanosinmonophosphat „calcitonin gene-related peptide“ Cyclodextringlykosyltransferase „coronary heart disease“ Cholinesterase Chalkonlavonisomerase Chalkonsynthase Curie [wird heute in Bq angegeben] chemische Ionisation (E)-Cinnamoyl Proonkogen [Transkriptionsfaktor] maximaler Plasmaspiegel CDP-Me-Kinase Cytidinmonophosphat „cold and menthol sensitive receptor“ CDP-Me-Synthase „counts per minute“, Impulse pro Minute Proonkogen [Transkriptionsfaktor] „contingent negative variation“ [Sonderform der Elektroenzephalographie] Committee for Proprietary Medicinal Products, wissenschatlicher Beirat der Europäischen Arzneimittelbehörde Coenzym A „correlated spectroscopy“ Coronarviren Cyclooxygenase NADPH-Cytochrom P450-Oxidoreduktase
Abkürzungsverzeichnis
CR CRH CRS CS
CSE CT CTZ CVI CYP Cys G 20 d20 DA (Da) d
DAB
DAC
DAD DAT DB DBÄ DC (s. auch TLC) DCI DEPT DEV DFR DG DGDG DGE DHFR DHPR
„conditioned reaction“, bedingte bzw. konditionierte Reaktion „corticotropin releasing hormon“ chemische Referenzsubstanz „conditioned stimulus“, konditionierter Reiz; auch für Chondroitinsulfat Cholesterol-Synthese-Enzym „threshold cycle“ Chemorezeptortriggerzone chronische venöse Insuizienz Cytochrom P450 Cystein chemische Verschiebung Relative Dichte Dalton [Atommasseneinheit] Kennzeichnet als Vorsatz die Konigurationen am asymmetrischen C-Atom einer in Fischer-Projektion wiedergegebenen Verbindung Deutsches Arzneibuch, Deutscher Apotheker Verlag, Stuttgart, GoviVerlag, Pharmazeutischer Verlag GmbH, Eschborn Deutscher-Arzneimittel-Codex, Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände, Govi-Verlag, Pharmazeutischer Verlag GmbH, Eschborn, Deutscher Apotheker Verlag, Stuttgart Diodenarray-Detektor Demenz vom Alzheimer-Typ „degree of branching“ Doppelbindungsäquivalente Dünnschichtchromatogramm, Dünnschichtchromatographie, dünnschichtchromatographisch direkte chemische Ionisation „distortionless enhancement by polarisation transfer“ Droge-Extrakt-Verhältnis Dihydrolavonolreduktase Dehydrogenase Digalactosyldiacylglycerol Deutsche Gesellschat für Ernährung Dihydrofolatreduktase Dihydropyridinrezeptor
5ʹ-DI DIC Dig (s. auch Dox) Di-OH-Bz DMAPP DNA DOPA DOX Dox (s. auch Dig) DOZ DP
5ʹ-Monodeiodinase disseminierte intravasale Gerinnung (Koagulation) Digitoxose Protocatechuoyl Dimethylallyldiphosphat Desoxyribonucleinsäure 3,4-Dihydroxyphenylalanin 1-Desoxy-d-Xylulose Digitoxose
Desoxyzucker „degree of polymerisation“, Polymerisationsgrad DPP „diferential pulse polarography“ DQF „double quantum iltered“ DS „degree of sulfatation“, Sulfatierungsgrad; auch für Substitutionsgrad und für Dermatansulfat DSM „diagnostic and statistical manual of mental disorders“ [American Psychiatric Association] Dte Digitalose DVT „deep vein thrombosis“, tiefe Venenthrombose DXP/MEP-Weg Nicht-Mevalonat-Biosyntheseweg (auch MEP) (von 1-Deoxy-d-xylulose-5phosphat/2C-Methylerythritol-4phosphat) DXR DXP-Reduktoisomerase DxS Dextransulfat DXS DXP-Synthase EBM „evidence-based medicine“, evidenzbasierte Medizin EBV Epstein-Barr-Virus EC Enzyme Commission; auch für Enzymkodex ECP „eosinophil cationic protein“, eosinophiles kationisches Protein „efective dose“, Efektivdosis. Die ED50 statistisch ermittelte Menge einer Substanz, die nach Verabreichung in der vorgeschriebenen Weise bei der Hälte der Versuchstiere eine bestimmte Wirkung hervorrut EDN Eosinophilen-deriviertes Neurotoxin
XXV
XXVI
Abkürzungsverzeichnis
EDQM EEG EF EGCG EGF(R) Egr-1 EI EKZ ELLA ELISA ELSD
EMEA
EMS EPL EPO EPSP EPX ER ERK ES ESCOP ESI ESR Extr. Extr. l. EZM f F FAB FACS FAD FADD
European Directorate for the Quality of Medicine Elektroenzephalogramm, Elektroenzephalographie Elongationsfaktor Epigallocatechin-3-O-gallat „epidermal growth factor (receptor)“ „early growth response-1“ [Transkriptionsfaktor] Elektronenstoß-Ionisation extrakorporaler Kreislauf (extrakorporale Zirkulation) „enzyme-linked lectin-binding assay“ „enzyme-linked immunosorbent assay“ „evaporative light scattering detector“, Verdampfungs-LichtstreuDetektor European Medicines Evaluation Agency, Europäische Zulassungsbehörde eosinophiles Myalgiesyndrom essentielle Phospholipide „eosinophil peroxidase“ exzitatorisches postsynaptisches Potential eosinophiles Protein X endoplasmatisches Retikulum; auch für Östrogen-Rezeptor „extracellular signal-regulated kinase“ Elektrospray European Scientiic Cooperation of Phytotherapy Elektrospray-Ionisation ElektronenspinresonanzSpektrometrie Extractum, Extrakt Extractum luidum, Flüssigextrakt extrazelluläre Matrix als Suix: Furanose Faktor „fast atom bombardment“ „luorescence activated cell sorting“, luoreszenzaktivierte Zellanalyse Flavinadenindinukleotid „fas-associated death domain“
FDA FGF FHT (F3H) FKS FLS fMLP fMRT FNS (FS) Fru FSH Fuc GA
GÄ GABA GACP GAPDH GAG Gal J-GT GAP GBG GC (s. auch GLC) GCP GDP GERRI GFC GGPP GH GLC Glc Glc-6-P Glc-6-DPG Gln Glu Gly GM-CSF (GMCSF)
Food and Drug Administration „ibroblast growth factor“ Flavanon 3E-Hydroxylase fötales Kälberserum Flavonolsynthase Formyl-methionyl-leucyl-phenylalanin funktionelle Magnetenzephalographie Flavonsynthase Fructose Follikel-stimulierendes Hormon Fucose „glycyrrhetic acid“, Glycyrrhetinsäure; auch „gibberellinic acids, “Gibberelline Glucoseäquivalent J-Aminobuttersäure „good agricultural and collection practice“ Glycerinaldehyd-3-phosphatDehydrogenase Glykosaminglykane Galactose J-Glutamyltransferase „good agricultural practice“ cytosolische E-Glucosidase Gaschromatogramm, Gaschromatographie, gaschromatographisch „good clinical practice“ Guanosindiphosphat „geriatric evaluation by relative’s rating instrument“ „gel iltration chromatography“ Geranylgeranyldiphosphat „growth hormone“, Wachstumshormon „gas liquid chromatography“ Glucose Glucose-6-phosphat Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase Glutamin Glutaminsäure; in einzelnen Kapiteln für Glucuronsäure Glycin „granulocyte macrophage colony stimulating factor“ [Zytokin]
Abkürzungsverzeichnis
GMG GMP
GnRH GPC GPI GPT GRAS GSH GSSG GTP GZ h HA HAB
HAMA
HAMD
HC HCV H6D HDL HDS HeLa-Zellen
Helv
HER-2 HET-CAM
HETE H.I. His
GesundheitssystemModernisierungsgesetz „good manufacturing practice“ [WHO-Richtlinien]; auch für Guanosin-5’-monophosphat Gondadotropin-Releasing-Hormon „gel permeation chromatography“, Gelpermeationschromatographie Glykosylphosphatidylinositol Glutamattransaminase „generally recommended as safe“ reduziertes Glutathion oxidiertes Glutathion Guanosintriphosphat Glycyrrhizinsäure Stunde „hyaluronic acid“, Hyaluronsäure Homöopathisches Arzneibuch, Deutscher Apotheker Verlag, Stuttgart, Govi-Verlag, Frankfurt/ Main „Hamilton anxiety scale“. Hamilton Angst-Skala [Bewertung von Angstzuständen] „Hamilton rating scale for depression“, Hamilton DepressionsSkala [Bewertung von Depressionen] „heparin cofactor“ Hepatitis C Virus Hyoscyamin-6-dioxygenase „high density lipoproteins“, Lipoproteine hoher Dichte HMBPP-Synthase „human epithelial cervical carcinoma cells“ [Zellen einer etablierten Carcinoma-Zellinie einer Frau Henrietta Lacks] Pharmacopoea Helvetica, Eidgenössische Drucksachen- und Materialzentrale, Bern HER-2 Neuonkogen „hen’s egg chorioallantoic membrane test“, Hühnerei-Test an der Chorion Allantois Membran Hydroxyeicosatetraensäure hämolytische Aktivität Histidin
HIT HIV
HLA HLB HLE HMBC HMBPP HMG-CoA HMGR HMGS HMP HO-Bz HPA
HPETE HPLC
HPTLC
HRT HS HSCCC HSQC HSV 5-HT HVL HWZ IA IBS IC50
ICAM-1 ICBN
Heparin-induzierte hrombozytopenie „human immunodeiciency virus“, humanes Immundeizienzvirus humane Leukozytenantigene „hydrophil-lipophil balance“ humane Leukozytenelastase „heteronuclear multiple bond correlation” Hydroxymethylbutenyl-4-diphosphat Hydroxymethylglutaryl-CoA HMG-CoA-Reduktase HMG-CoA-Synthase „herbal medicinal products“ p-Hydroxybenzoyl „hypothalamic-pituitary-adrenal”, Hypothalamus-Hypophyse-Nebennierenrinde Hydroxyperoxyeicosatetraensäure „high performance liquid chromatography, Hochleistungslüssigkeitschromatographie „high performance thin layer chromatography, Hochleistungsdünnschichtchromatographie „hormone replacement therapy“ Heparansulfat „high-speed countercurrent chromatography“ „heteronuclear single quantum coherence“ Herpes-simplex-Virus 5-Hydroxytryptamin (Serotonin) Hpophysenvorderlappen Halbwertszeit instabile Angina pectoris „irritable bowel syndrom“, Reizdarmsyndrom „inhibitory concentration“. Die statistisch ermittelte Konzentration einer Substanz, die eine Hemmung von 50% verursacht „intercellular adhesion molecule 1“, interzelluläres Ädhäsionsmolekül 1 Internationaler Code der botanischen Nomenklatur
XXVII
XXVIII
Abkürzungsverzeichnis
ICD
„international classiication of diseases“ [WHO] ICH International Conference on Harmonization, Internationale Harmonisierungskonferenz ID Säuleninnendurchmesser IDS IPP/DMAPP-Synthase I.E. Internationale Einheit IEC „ion exchange chromatography“, Ionenaustauschchromatographie IFN Interferon Ig Immunglobulin INB Inhibitor von NF-NB IKK INB-Kinasekomplex IL Interleukin Ile Isoleucin i.m. intramuskulär IMP Inosin-5ʹ-monophosphat INADEQUATE „incredible natural abundance double quantum transfer“ INN „international nonproprietary name“, internationaler Freiname iNOS „inducible nitric oxid synthase“, induzierbare Nitroxidsynthase i.p. intraperitoneal IPP Isopentenyldiphosphat IPSP inhibitorisches postsynaptisches Potential IR Infrarot IRMS „isotope ratio mass spectrometry“, Isotopenverhältnisspektrometrie ISF Isolavonsynthase ISO International Standard Organization itol als Suix für Zuckeralkohole IUPAC International Union of Pure and Applied Chemistry i.v. intravenös IZ Iodzahl J Kopplungskonstante Jak Januskinase JNK „c-jun N-terminal kinase“ Kap. Kapitel kDA Kilodalton KG Körpergewicht KI Kristallinitätsindex kGy Kilogray KHK Koronare Herzerkrankung KS Keratansulfat
KSHV Kt KUVA
l
l O LAR LBR LC
LD50
LDH LDL LDOX LDPP LE LH LMBG LOX LPH LPS LSD LT Lys m P m/m m/V MAC (MAK)
„Karposi sarcoma-associated herpes virus“ Karat herapie mit Khellin (K) plus langwelligem ultravioletten Licht (UVA) Kennzeichnet als Vorsatz die Koniguration am asymmetrischen C-Atom einer in Fischer-Projektion wiedergegebenen Verbindung Liter Wellenlänge Leukoanthocyanidinreduktase Liebermann-Burchard-Reaktion „liquid chromatography“, Flüssigkeitschromatographie; auch für „Langerhans cells“, Langerhans-Zellen „lethal dose“, mittlere lethale Dosis. Die statistisch ermittelte Menge einer Substanz, die nach Verabreichung in der vorgeschriebenen Weise den Tod der Hälte der Versuchstiere innerhalb einer bestimmten Zeit herbeiführt Lactatdehydrogenase „low density lipoproteins“, Lipoproteine niedriger Dichte Leukanthocyanidindioxogenase Labdadienyldiphosphat Lungenembolie „luteinizing hormone“, luteinierendes Hormon Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz Lipoxygenase Lactase-Phlorizinhydrolase Lipopolysaccharide Lysergsäurediethylamid Leukotrien Lysin meta Symbol für das Präix Mikro (10–6) Masse in Masse [Konzentrationsangabe] Masse in Volumen [Konzentrationsangabe] „membrane attack complex“, membranangreifender Komplement-
Abkürzungsverzeichnis
MAGL MALDI MAO MAPK MBP MCCh MCI MCS MDHA MDO MDR MEG MEKK MEP-Weg (s. auch DXP/MEP) meso
MEV-Weg (s. auch Ac-MVA) MG MGDG MHC
MHK MI
min MIP MMP MPLC
komplex; MAC auch für „macrophage antigen“ Monoacylglycerollipase „matrix-assisted laser chemical ionization“ Monoaminooxidase „mitogen-activated protein kinase“, mitogenaktivierte Proteinkinase „major basic protein“ mikrokristallines Chitosan „mild cognitive impairment“ „multiple chemical sensitivity“; auch Me-cPP-Synthase Monodehydroascorbatradikal „membrane-derived oligosaccharide“ „multi-drug resistance“ Magnetenzephalographie Kinase des INB Kinasekomplexes 2-Methylerithrolphosphat-Weg
Präix zur Kennzeichnung organischer Verbindungen mit symmetrischer Molekülform und kompensierten Asymmetriezentren, d. h. optisch inaktive Moleküle klassischer Acetat-MevalonatBiosyntheseweg Molekulargewicht [heute relative Molekülmasse Mr] Monogalactosyldiacylglycerol „major histocompatibility complex“, Haupthistokompatibilitätskomplex; auch für MHC-Antigene minimale Hemmkonzentration he Merk Index, an encyclopedia of chemicals, drugs und biologicals, Budavari (ed), Merck Laboratories, Whitehouse Station, NJ Minute „macrophage inlammatory protein“ „matrix metalloproteinase“, MatrixMetalloproteinase „medium pressure liquid chromatography“, Mitteldrucklüssigkeitschromatographie
MPO Mr MRS MRT MS
MT MTOC
MVA MVK nD20 N NAc
NAD NAD-H
NADP NADP-H
NAT NCCAM
NF-AT NF-NB NEL NIK NIR NK NMH NMR
Myeloperoxidasesystem; auch für Methylputrescinoxidase relative Molekülmasse „menopause rating scale“ Magnetresonanztomographie; auch für mittlere Verweildauer Massenspektrum, Massenspektrometrie; auch für multiple Sklerose Mikrotubulus „microtubule organizing center“, mikrotubuläres Organisationszentrum „mevalonic acid“, Mevalonsäure Mevalonat-Kinase Brechungsindex als Suix für Aminozucker (z. B. GlcN = Glucosamin) als Suix für acetylierte Aminozucker (z. B. GalNAc = N-Acetyl-Galactosamin) Nicotinamid-adenin-dinukleotid Nicotinamid-adenin-dinukleotid (NADH) (reduzierte Form) Nicotinamid-adenin-dinukleotidphosphat Nicotinamid-adenin-dinukleotid(NADPH) phosphat (reduzierte Form) N-Acetyltransferase National Center for Complimentary and Alternative Medicine; Nationales Zentrum für komplimentäre und alternative Medizin der USA „nuclear factor of activated T cells“ [Transkriptionsfaktor] „nuclear factor NB“ [Transkriptionsfaktor] „no efect level“ „NF-NB-inducing kinase“ [Kinase des INB Kinasekomplexes] nahes Infrarot natürliche Killerzellen niedermolekulare Heparine „nuclear magnetic resonance“, Kernmagnetische Resonanz, Kernspinresonanz
XXIX
XXX
Abkürzungsverzeichnis
NNRTI NNT NO NOE NOESY Nramp NRTI NSAIDs
NSTEMI
NYHA o ÖAB
ODC OHZ OPC OPLC
Orn p PA PAF PAL
PAMP pAVK PARP PBMC
nichtnukleosidische ReverseTranskriptase-Inhibitoren „number needed to treat“ „nitric oxide“, Stickstofmonoxid „nuclear Overhauser efect“, KernOverhauser-Efekt „nuclear Overhauser enhancement and exchange spectroscopy“ natürliches resistenzassoziiertes Makrophagenprotein nukleosidische ReverseTranskriptase-Inhibitoren „non steroidal anti-inlammatory drugs“, nichtsteroidale Antiphlogistika „non ST elevation myocardial infarction, Myokardinfarkt ohne ST-Streckenerhebungen New York Heart Association ortho Österreichisches Arzneibuch, Verlag der Österreichischen Staatsdruckerei, Wien Ornithindecarboxylase Hydroxylzahl oligomere Proanthocyanidine „over pressure layer chromatography“, Überdruckschichtchromatographie Ornithin Als Präix: para, als Suix: Pyranoseform Pyrrolizidinalkaloide; auch für Proanthocyanidine verwendet „platelet activating factor“, Plättchenaggregationsfaktor Phenylalanin AmmoniumLyase, Phenylalanin-AmmoniakLyase pathogenassoziierte Molekularmuster periphere arterielle Verschlusskrankheit Poly(ADP-ribose)polymerase [Caspase-Substrat] „human peripheral blood mononuclear cells“, humane periphere mononukleare Blutzellen
PC PCI
PCR p-Cum PDE PEP PET PF PI3K PG PGHS P-gp pH Phe PhEur
Pi PMD PMK PK PL PMA PMNL
PMS PMT p.o. POD POMS
Papierchromatographie; auch für Phosphatidylcholin „percutaneous coronary intervention“, perkutane koronare Intervention [Herzkatheterisierung] „polymerase chain reaction“, Polymerasekettenreaktion p-(E)-Cumaroyl Phosphodiesterase Phosphoenolpyruvat „positron emission tomography“, Positronenemissionstomographie „platelet factor“ Phosphatidylinositol-3-kinase Prostaglandine; auch für Proteoglykane verwendet Prostaglandin-H2-Synthasen P-Glykoprotein negativer dekadischer Logarithmus der Wasserstoionenkonzentration Phenylalanin European Pharmacopoeia, Council of Europe, Strasbourg (englische Originalausgabe) bzw. Europäische Pharmakopöe, Deutsche/Schweizer Ausgabe, Deutscher Apotheker Verlag, Stuttgart. Mit wenigen Ausnahmen sind die 5. Ausgabe 2005 und Nachträge der 5. Ausgabe zitiert anorganisches Phosphat Phosphomevalonat-Decarboxylase Phosphomevalonat-Kinase Proteinkinase Phospholipase; auch für Phospholipide „phorbol myristate acetate“ „polymorphonuclear leukocytes“, polymorphkernige neutrophile Leukozyten prämenstruelles Syndrom Putescin-N-methyltransferase per os, peroral Peroxidasen „proile of mood scale“ [Selbstbeurteilungsskala zur Erfassung wechselnder Stimmungszustände]
Abkürzungsverzeichnis
PONV
POZ PPC PPi ppm PPT PPW Pro PS PSE PTCA
PTK PUVA
PXR R R rac. RANTES RAR RCT
Rf
RFA Rha RHmVO RIA RIP RNA RNS
„postoperative nausea and vomiting“, Erbrechen in der postoperativen Phase Peroxidzahl polymere Proanthocyanidine anorganisches Diphosphat „parts per million“ partielle hromboplastinzeit Pentosephosphatweg Prolin Phytosterole; auch für Polysaccharide verwendet Phytosterol-/Stanolester „percutaneous transluminal coronary angioplasty“, perkutane transluminale koronare Angioplastie Proteintyrosinkinase herapie mit Psoralen (P) plus langwelligem ultravioletten Licht (UVA) Pregnan-X-Rezeptor Symbol für einen unbestimmten organischen Rest Symbol zur Festlegung der absoluten Koniguration Racemisch [Racemat, Enantiomerengemisch] „regulated on activation, normal T-cell expressed and secreted“ „retinoic acid receptor“, Retinoidrezeptor „randomized clinical trial“, randomisierte plazebokontrollierte Doppelblindstudie „retention factor“, Rf-Wert. In der Chromatographie der Quotient aus Laufstrecke der Substanz zur Laufstrecke der mobilen Phase Röntgenluoreszenzanalyse Rhamnose RückstandshöchstmengenVerordnung „radioimmunosorbent assay“ [zur Immunoisotopendiagnostik] ribosomeninaktivierende Proteine Ribonucleinsäure „reactive nitrogen species“, reaktive Stickstofspezies
ROESY ROS RP Rst
RT RTM Rul RXR RyR2 S s SALT SAR SARS
SC s.c. SCP Schmp Ser SERCA SERM
SGLT-1
SH SIRA SIRS SL s.l.
„rotating frame nuclear Overhauser efect spectroscopy“ „reactive oxygen species“, Reaktive Sauerstofspezies „reversed phase“ In der Chromatographie der Quotient aus Laufstrecke der Substanz zur Laufstrecke einer Referenzsubstanz „reverse transcriptase“, Reverse Transkriptase „regression towards the mean“, Regression zum Mittelwert Ribulose „retinoid X receptor“, Retinoidrezeptor Ryanodinrezeptor Symbol zur Festlegung der absoluten Koniguration Sekunde „skin-associated lymphoid tissue“, hautassoziiertes Immunsystem „structure-activity relationship“ „severe acute respiratory syndrome”, schweres akutes Atemwegssyndrom Säulenchromatographie subkutan „single cell protein“ Schmelzpunkt Serin „sarco-endoplasmatic reticulum Ca2-ATPase“ „selective estrogen receptor modulator“, selektiver Östrogenrezeptormodulator „sodium glucose transporter 1“, natriumabhängiger Glucosetransporter-1 Sulhydrylgruppe „stable isotope ratio analysis“ systemisches inlammatorisches Response-Syndrom Sesquiterpenlacton; auch für Sulfolipid „sensu latiore“, im weiten oder weiteren Sinn. In der Taxonomie so viel wie Sammelart
XXXI
XXXII
Abkürzungsverzeichnis
SMase SNIF SOD SPiNEM SR SRS SSHA SSRI
STAT STEMI
SZ t1/2 TCA TCM TEER
TF TFPI TGF
TH THC TLC hr Tinct. tmax TMS TNF TOCSY TPA TR I TR II tRNA TRP Trp (s. auch Try)
Sphingomyelinase „site speciic natural isotope fractionation“ Superoxiddismutase sekundäre Planzenstofe in Nahrungsergänzungsmitteln Sarkoplasmatisches Retikulum „slow reactive substance“ „semisynthetic heparin analogue“ „selective serotonin reuptake inhibitors“, selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer „signal transducer and activator of transcription“ „ST elevation myocardial infarction“, Myokardinfarkt mit ST-Streckenerhebungen Säurezahl Eliminationshalbwertszeit Tricarbonsäurezyklus Traditionelle Chinesische Medizin „transepithelial electrical resistance“, transepithelialer elektrischer Widerstand „tissue factor“, Gewebefaktor „tissue factor pathway inhibitor“ „ransforming (tumor) growth factor“, transformierender Wachstumsfaktor T-Helferzellen Tetrahydrocannabinol „thin layer chromatography“ hreonin Tinctura, Tinktur Zeit bis zum Erreichen von Cmax Tetramethylsilan „tumor necrosis factor“, Tumornekrosefaktor „total correlation spectroscopy“ 12-O-Tetradecanoylphorbol-13Acetat tropinbildende Tropinonreduktase pseudotropinbildende Tropinonreduktase transfer-RNA „transient receptor potential“ Tryptophan
TSE TSH
TSP Try (s. auch Trp) TX Tyr UDP(G) UE UFH USP
UR US UTP UV UV 254 (365) nm Van VEGF(R)
VIP VLC
V/V (v/v) Val var. VLDL
VR VTA VTE VZ
„transmissible spongiforme encephalopathies“ „thyreoid-stimulating hormone“, thyreotropes Hormon des Hypophysenvorderlappens hermospray Tryptophan Tromboxane Tyrosin Uridindiphosphat (-glucose) Untereinheit unfraktioniertes Heparin he United States Pharmacopeia, he United States Pharmacopeial Convention, Inc. Rockville, MD „unconditioned reaction“, unkonditionierte Reaktion „unconditioned stimulus“, unkonditionierter Reiz) Uridintriphosphat Ultraviolett [visuell nicht mehr wahrnehmbares Licht] ultraviolettes Licht bei einer Wellenlänge von 254 (365) nm Vanilloyl „vascular endothelial cell growth factor (receptor)“, vaskularer endothelialer Wachstumsfaktor (-rezeptor) Vasoaktives intestinales Polypeptid „vacuum liquid chromatography“, Vakuum-Flüssigkeitschromatographie Volumen in Volumen [Konzentrationsangabe] Valin Varietät „very low density lipoproteins“, Lipoproteine sehr niedriger Dichte Vanilloidrezeptor ventrales Tegmentum „venous thromboembolism“, venöse hromboembolien Verseifungszahl
Abkürzungsverzeichnis
WHO WOMACIndex
World Health Organization, Weltgesundheitsorganisation Western Ontario Mac Master University-Index [OsteoarthritisIndex; Schmerzskala]
XMP Xyl ZNS ZP ZZR
Xanthosin-5ʹ-monophosphat Xylose Zentralnervensystem Zwischenprodukte Zlatkis-Zak-Reaktion
XXXIII
A A Phytochemische Grundlagen 1
Prinzipien des Sekundärstoffwechsels
–3
2
Einführung in die Analytik sekundärer Pflanzenstoffe anhand ausgewählter Beispiele – 31
3
Grundzüge der Biosynthese sekundärer Pflanzenstoffe – 61
4
Postbiosynthetische Umsetzung und Akkumulation sekundärer Pflanzenstoffe – 79
1 1 Prinzipien des Sekundärstoffwechsels W. Kreis 1.1
Ana-, Kata- und Amphibolismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4
1.2
Primär- und Sekundärstofwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
1.3
Zusammenhang zwischen Primär- und Sekundärstofwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8
1.4
Auklärung von Biosynthesewegen . . . . . . . . . . . 1.4.1 Tracer- oder Isotopentechnik . . . . . . . . . . . 1.4.2 Enzymatische Methoden . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3 Genetische und molekulargenetische Methoden
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18 18 21 25
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30
4
1
Prinzipien des Sekundärstoffwechsels
1.1 Ana-, Kata- und Amphibolismus > Einleitung Pflanzen und Mikroorganismen produzieren eine zunächst unüberschaubar anmutende Vielfalt von Naturstoffen, deren Bedeutung für die Produzenten selbst nicht offensichtlich ist, da diese Verbindungen für einen funktionierenden Zellstoffwechsel sowie Zellwachstum und -teilung nicht notwendig sind. Man fasst diese Metaboliten, zu denen auch die Mehrzahl der pharmazeutisch genutzten Pflanzenstoffe zählt, als sekundäre Naturstoffe zusammen und stellt sie den ubiquitär vorkommenden Produkten des Primärstoffwechsels, wie z. B. Aminosäuren, Zuckern, Nukleotiden, Vitaminen und Fettsäuren, gegenüber. Während die Biosynthesewege des Primärstoffwechsels, die zu den Bausteinen der Proteine, Nucleinsäuren, Kohlenhydrate und Fette führen, in fast allen Organismen vorhanden und in sehr ähnlicher Weise ausgebildet sind, bleiben bestimmte Wege des Sekundärstoffwechsels häufig auf wenige Taxa beschränkt. Alle Sekundärstoffe lassen sich aus Bausteinen des Primärstoffwechsels herleiten. Die Grundgerüste einiger Aminosäuren findet man in den Alkaloiden wieder, Essigsäure wird über Mevalonsäure bzw. Malonsäure zur Synthese von Terpenoiden bzw. Polyketiden verwendet. Man kann die Bildung sehr vieler Sekundärstoffe auf drei biosynthetische Prinzipien, nämlich die Isopren-, die Acetat- und die Aminosäureregel zurück führen. Mit der biosynthetischen Sichtweise lässt sich die Vielfalt der Produkte des Sekundärstoffwechsels besser ordnen und verstehen als durch die rein strukturchemische Betrachtung. Die exakte Zuordnung eines bestimmten Sekundärstoffes zu einer bestimmten Stoffgruppe erfordert unter Umständen die genaue Kenntnis des Biosyntheseweges. Solche Biosynthesewege, die Ausschnitte eines kompliziert verflochtenen metabolischen Netzwerks darstellen, können mit Hilfe von chemischen und spektroskopischen Verfahren unter Verwendung radioaktiver oder schwerer Isotope aufgeklärt werden. Außerdem werden biochemische, genetische und molekulargenetische Methoden genutzt.
Unter Stofwechsel oder Metabolismus versteht man die Gesamtheit der in einem lebenden Organismus ablaufenden chemischen Reaktionen. Man unterscheidet drei Stofwechselbereiche: den Anabolismus, den Katabolismus und den Amphibolismus. Anabolismus. Der Anabolismus (Assimilation) umfasst
die pauschal endergonen Prozesse, die für den Aubau energiereicher Substanzen aus den energieärmeren verantwortlich sind; der Katabolismus (Dissimilation) umfasst die pauschal exergonen Prozesse, d. h. die Abbauprozesse des Stofwechsels. Der Anabolismus ist der divergierende Stofwechselzweig; letztlich entsteht aus CO2 , H2O und NH3 die gesamte Vielfalt der Biomoleküle. Katabolimus. Der Katabolismus ist der konvergierende Stofwechselzweig: Die vielfältigen Biomoleküle werden in einfache Stofe, letztlich bis zu CO2 , H2O und NH3 zerlegt. Zwar sind auf bestimmte Strecken hin Anabolismus und Katabolismus durch reversible Reaktionen miteinander verknüpt, doch verlaufen die abbauenden und die ihnen jeweils korrespondierenden aubauenden Stofwechselprozesse in der Zelle räumlich voneinander getrennt ab; auch die durchlaufenen Reaktionsketten sind in der Regel nicht identisch. Amphibolismus. Unter Amphibolismus (griech.: amphi
[auf beiden Seiten, doppelt]) versteht man Phasen des Ineinanderumsetzens (Interkonversion) von Stofwechselprodukten als Kreuzungsbereich zwischen abbauenden und aubauenden Reaktionsketten und/oder Reaktionszyklen. Das typische Beispiel eines amphibolen Stofwechselweges ist bei grünen Planzen und anderen aeroben Organismen der Citratzyklus (Tricarbonsäurezyklus): So ist z. B. Acetyl-SCoA (Acetylcoenzym A) ein gemeinsames Zwischenprodukt des Abbaus von Fetten, Kohlenhydraten und von Aminosäuren. Acetyl-SCoA kann entweder – in Verbindung mit der Atmungskette – weiter zur Energiegewinnung abgebaut oder aber als Substrat für die Synthese zahlreicher Substanzen ( > Tabelle 1.1) herangezogen werden. Wenn Acetyl-SCoA oder andere Zwischenstufen des Citratstofwechsels (z. B. Pyruvat, SuccinylSCoA) für die Verwendung als biosynthetische Vorstufen entnommen werden, würde der Zyklus an Zwischenstufen verarmen und käme schließlich zum Erliegen, wenn nicht durch so genannte anaplerotische (griech.: anaplerein
1.2 Primär- und Sekundärstoffwechsel
1
. Tabelle 1.1 Wichtige Stoffwechselwege des Grundstoffwechsels Stoffwechsel
Anabol: Biosynthesen
Katabol: Abbau
Kohlenhydrate
Photosynthese, Calvin-Zyklus, C4-SäureZyklus, Gluconeogenese
Hydrolytische Spaltung der Kohlenhydrate, Glykolyse, Pentosephosphatzyklus
Fette
Lipidsynthese: Fettsäure-Synthase-Komplex, Acylglyceride, Phospholipide, Glykolipide, Carotinoide, Sterole
Hydrolytische Spaltung der Fette, β-Oxidation der Fettsäuren
Proteine
Biosynthese der Aminosäuren und Proteine (Translation)
Hydrolytische Spaltung der Proteine, Abbau und Umbau der Aminosäuren (Decarboxylierung, Desaminierung, Transaminierung)
Acetylcoenzym A
Kohlenhydrate, Fettsäuren, Aminosäuren, Ketogenese, Terpene, Steroide
Citratzyklus, Atmungskette, Glyoxylatzyklus
Nucleinsäuren
Biosynthese von Purin- und Pyrimidinnukleotiden, von RNA, Replikation von DNA, Bildung von Flavinen und Pteridinen aus GTP
DNA- und RNA-Spaltung
[aufüllen]) Prozesse diese Zwischenprodukte ersetzt würden. Lipidmobilisierung und Einschleusen von AcetylSCoA sei als Beispiel einer anaplerotischen Reaktion genannt.
1.2 Primär- und Sekundärstoffwechsel Primärstoffwechsel. Der Primärstofwechsel dient in ers-
ter Linie der Erhaltung des Lebens und der Vermehrung. Im Primärstofwechsel (syn.: Grundstofwechsel) von Planzen, Tier und Mensch sowie von prokaryotischen Mikroorganismen zeigt sich große Übereinstimmung. Die Einheit lebender Materie zeigt sich vor allem im Folgenden: 1. Der genetische Code ist für alle Organismen derselbe: Die Zuordnung der jeweiligen Nukleotidtriplets zu bestimmten Aminosäuren ist für alle Organismen, vom Bakteriophagen bis zum Menschen, die gleiche. Der genetische Code ist aber „degeneriert“, d. h. für identische Aminosäuren codieren unterschiedliche Nukleotidtriplets. Tatsächlich nutzen die unterschiedlichen Organismen bestimmte Kodons bevorzugt („codon usage“). Dies ist bei der Übersetzung von Proteinsequenzen in Nucleinsäuresequenzen (z. B. zur Herstellung von Oligonukleotid-Primern im Rahmen molekularbiologischer Ansätze zum Verständnis des Sekundärstofwechsels) zu berücksichtigen.
2. Alle Zellen benützen zur Energiespeicherung und zum Energietransfer Phosphate, besonders ATP. 3. Alle Zellen synthetisieren und speichern ähnliche Stofe – Fette, Kohlenhydrate und Proteine –, wobei sie ähnliche Stofwechselwege benützen. Die Stofe werden katabolisch in den meisten Zellen auf ähnliche Weise abgebaut. 4. Die Stofwechselreaktionen werden durch bestimmte Proteine, die Enzyme, katalysiert. Proteine ähnlicher Funktion zeigen organismenunabhängig häuig ähnliche dreidimensionale Strukturen sowie ähnliche Aminosäuresequenzen. Dies ist die Grundlage vieler molekularbiologischer Ansätze zur Auklärung von Biosynthesewegen ( > Kap. 1.4). 5. Es existiert eine beschränkte Zahl ubiquitär (überall vorkommender) niedermolekularer Verbindungen, von denen lebenswichtige Stofwechselprozesse abhängen. Dazu zählen bestimmte Kofaktoren von Enzymsystemen (hiamin, Nicotinsäureamid, Flavine, Hämine, Pyridoxal, Panthotensäure).
! Kernaussage
Der Primärstoffwechsel umfasst alle Stoffe und Prozesse, die für Wachstum und Entwicklung des Individuums unentbehrlich sind. Gekennzeichnet ist der Primärstoffwechsel dadurch, dass er universell und einheitlich ist und sich auch unter evolutionären Einflüssen wenig verändert hat.
5
6
1
Prinzipien des Sekundärstoffwechsels
Sekundärstoffwechsel. Dem Grund- oder Primärstofwechsel stellt man den Sekundärstofwechsel (spezieller Stofwechsel) gegenüber, bei dem nicht die Gemeinsamkeiten, sondern gerade die Unterschiede im Stofwechsel der verschiedenen Organismentypen vergleichend gegenüber gestellt werden. Der Sekundärstofwechsel ist sehr variabel ausgeprägt. Viele Gene des Sekundärstofwechsels haben sich möglicherweise durch Genduplizierungen und anschließende Mutation oder Neuorganisation aus Genen des Primärstofwechsels entwickelt. Besonders einsichtig ist dieses Prinzip bei der Erklärung der strukturellen und mechanistischen Ähnlichkeit der mikrobiellen Polyketidsynthasen mit der Fettsäuresynthase. Bei Mikroorganismen liegen Biosynthesegene häuig als so genannte Gencluster vor, d. h. die einzelnen Enzyme einer bestimmten Biosynthese werden von Genen codiert, die in enger Nachbarschat zueinander liegen und teilweise gemeinsame regulatorische Elemente besitzen. Stofwechselwege darf man sich nicht als zweidimensionale Strecken vorstellen, die von A über B nach C und schließlich zum Produkt P führen, sondern eher als multidimensionale metabolische Netze („metabolic grid“). Zwischenprodukte eines Stofwechselweges können daher vielfältig genutzt und verbaut werden. Andrerseits können Bausteine aus anderen Stofwechselnetzen eingespeist werden. Dies ist zu berücksichtigen, wenn Stofwechselwege mit Hilfe molekularbiologischer Techniken modiiziert werden sollen („metabolic engineering“, > Kap. 1.4).
! Kernaussage
Der Sekundärstoffwechsel umfasst alle Stoffe und Prozesse, deren Funktionen allenfalls die Wechselbeziehungen des Individuums mit seiner Umwelt betreffen können. Der Sekundärstoffwechsel ist entbehrlich für Wachstum und Entwicklung des isoliert betrachteten Individuums, jedoch unentbehrlich für die Existenz und den Fortbestand der Art in ihrer Umwelt.
Produkte des Sekundärstoffwechsels. Produkte des Sekundärstofwechsels nennt man sekundäre Naturstofe. Der Zusatz „sekundär“ impliziert, dass diese Produkte aus bekannten und ubiquitären Metaboliten des Primärstofwechsels gebildet werden. Obwohl eine didaktische Trennung zwischen Primär- und Sekundärstofwechsel
üblich ist, sollte man eingestehen, dass eine allzu strikte Trennung der Betrachtung von primären und vermeintlich sekundären Stofwechselprodukten biologisch und physiologisch wenig sinnvoll ist. Phytosterole sind Produkte des Primärstofwechsels, während nur geringfügig modiizierte Derivate der Phytosterole als Steroidsaponine den Sekundärstofen zugeordnet werden. Die Ansicht, ob es sich bei einer bestimmten Substanz um einen Primär- oder Sekundärstof handelt, kann sich mit der Zeit auch ändern. So wurde die Shikimisäure ursprünglich als ein sekundärer Naturstof (isoliert aus Shikimi (jap.), dem Gitigen Sternanis Illicium religiosum Siebold & Zucc.) angesprochen, bevor sich herausstellte, dass sie ein wichtiges Zwischenprodukt in der Biosynthese der aromatischen Aminosäuren darstellt. Ester der Salicylsäure und Jasmonsäure, ursprünglich als Komponenten ätherischer Öle beschrieben, wurden mittlerweile als wichtige Signalmoleküle in Planzen erkannt. Sekundäre Naturstofe sind durch die folgenden Merkmale gekennzeichnet: 1. Sie sind nicht allgemein verbreitet, sondern kommen jeweils in nur einigen Organismengruppen vor. Die Palette an sekundären Naturstofen ist von Spezies zu Spezies verschieden. Einige sind innerhalb der Angiospermen auch nahezu ubiquitär anzutrefen, wie einige Phenolcarbonsäuren oder Purinalalkaloide. 2. Sekundärstofe besitzen häuig eine große Variabilität ihrer Struktur. So treten sie in der Regel in Form einer ganzen Palette nahe verwandter Strukturen auf. Dabei müssen strukturähnliche Verbindungen oder Verbindungen mit gleichartigen Bauprinzipien nicht identische biologische Eigenschaten besitzen; manche haben möglicherweise gar keinen Nutzen. Dies ist ein Grund dafür, weshalb der Sekundärstofwechsel gelegentlich auch als „Spielwiese der Evolution“ betrachtet wird. 3. Sekundäre Planzenstofe werden vielfach nur während ganz bestimmter Entwicklungsstadien der Planze gebildet. Folglich ändert sich der Gehalt an bestimmten Sekundärstofen im Verlauf der Individualentwicklung (ontogenetische Variabilität). Beispielsweise enthalten die Blätter junger Pfeferminzplanzen ein menthonreiches, aber mentholarmes ätherisches Öl; gegen Blühbeginn dreht sich das Verhältnis Menthon zu Menthol um. Oder: Die jungen Früchte der Tomatenplanze sind alkaloidreich; in dem Maße wie
1.2 Primär- und Sekundärstoffwechsel
die Frucht zur Reife gelangt, werden die Alkaloide abgebaut, bis die reifen Tomaten nur noch Spuren an Tomatin enthalten. Auch in anderen Fällen ist das Autreten von Planzeninhaltsstofen kein permanentes Merkmal. Bestimmte sekundäre Planzenstofe wie die sog. Phytoalexine (griech.: phyton [Planze]; alexein [schützen]) werden nur synthetisiert, wenn die Planze mit einem mikrobiellen Schädling in Kontakt kommt. Wiederum andere Planzenarten nehmen, wenn im Boden vorhanden, von Bodenpilzen produzierte Produkte auf, wandeln sie chemisch ab und speichern sie in ihren Blättern (Beispiel: die Trichothecene der Baccharis-Arten). Mit der Erforschung der biochemischen Anpassung von Planzen an die
1
Umwelt befasst sich die ökologische Biochemie (Schlee 1992; Harborne 2002). 4. Bei höheren Planzen werden sekundäre Planzenstoffe nach ihrer Bildung in der Regel an ganz bestimmten Stellen abgelagert und gespeichert: lipidlösliche Produkte in besonderen Drüsenhaaren, Ölzellen, Ölräumen oder Chromoplasten, wasserlösliche Sekundärstofe (Glykoside, Alkaloidsalze) in Vakuolen ot spezialisierter Zellen (z. B. den Latexvesikeln milchsatführender Planzen). 5. Syntheseort und Speicherort der sekundären Naturstofe sind häuig nicht identisch. 6. Die Fähigkeit, bestimmte Sekundärmetabolite zu bilden, kann durch Mutation gewonnen werden oder verloren gehen (chemische Variabilität).
Biopolymere
. Abb. 1.1 Proteine
Nucleinsäuren
Nukleotide
Primär - oder Grundstoffwechsel
Aminosäuremeta bolismus
Kohlenhydrate
Lipide
Glycerol
Zucker metabolismus
Fettsäure metabo lismus
Pyruvat 1-Desoxyxylulose Acetyl- CoA Shikimat
Mevalonat 4
TCA
sekundäre Naturstoffe
Phenylpropankörper
5
Isopentenyl diphosphat
2
3
Lignin Flavonoide
Polyketide
Terpenoide
1
Alkaloide
Aminosäure derivate
organische Säuren
Zuckerderivate
Biosynthetische Beziehungen zwischen Primär- und Sekundärstoffwechsel. Wege der Bildung sekundärer Pflanzenstoffe. Beide Naturstoffklassen leiten sich von identischen Präkursoren ab (mod. nach Schlee 1992). 1 Aminosäureweg; 2 Shikimisäureweg (Aromatenbiosynthese); 3 Polyketidweg; 4 Mevalonsäureweg; 5 Methylerythritolphosphatweg; TCA Tricarbonsäurezyklus
7
8
1
Prinzipien des Sekundärstoffwechsels
. Tabelle 1.2 Stofflicher Zusammenhang zwischen Grund- und Sekundärstoffwechsel (nach Luckner 1984, leicht verändert) Verbindung des Grundstoffwechsels Zucker (insbesondere D-Erythrose, D-Ribose, D-Glucose
Sekundäre Naturstoffe Anormale Zucker (Amino- und Desoxyzucker, methylierte Zucker, Zucker mit verzweigter C-Kette), Oxidationsprodukte (Uronsäuren, Aldonsäuren, Ascorbinsäure), Reduktionsprodukte (Zuckeralkohole, Cyclitole, Streptidin)
Metabolite von Glykolyse und Citratzyklus (besonders Fructose-6-phosphat, Glycerinaldehyd-3-phosphat, Phosphoenolpyruvat)
Pyridoxylderivate, Milchsäure, Glycerol, C3-Teil im Chorismat
Acetylcoenzym A
Ungewöhnliche Fettsäuren, Eicosanoide, Fettsäurederivate (n-Alkane, Acetylenderivate), Polyketide, Anthranoide, Tetracycline, Griseofulvin, Phenolcarbonsäuren aus Pilzen und Flechten, Pyridinderivate
Isopentenyl-diphosphat
Monoterpene, Sesquiterpene, Diterpene, tetra- und pentacyclische Triterpene, Steroide, Carotinoide und Xanthophylle
Shikimat
Naphthochinone, Anthranoide (Alizarintyp), Phenazine, Chinolin- und Chinazolinalkaloide
Aliphatische Aminosäuren
Amine, methylierte Aminosäuren, Hydroxamsäuren, cyanogene Glykoside, Glucosinolate, Betaine, Alkaloide (insbesondere Tropan- und Pyrrolizidinalkaloide), Konjugate mit Glycin, Glutamin, Ornithin, S-Alkylcysteinderivate, Lauchöle, Diketopiperazine, Peptide (z. B. Penicilline)
L-Phenylalanin, L-Tyrosin
L-DOPA und Indolalkaloide, Phenylalkylamine, Isochinolinalkaloide,
Melanine, Betalaine, Zimtsäuren, Cumarine, Lignane, Stilbene, Flavonoide, Hydrochinonderivate L-Tryptophan
Anthranilsäure, Chinolin-, Acridin- und Benzodiazepinalkaloide, Nikotinsäurederivate, Ergolinalkaloide, Carbolinalkaloide, Cinchonaalkaloide
Purine
Methylierte Purine, Purinantibiotika, Pteridine, Benzopteridine, Pyrrolopyrimidine
1.3 Zusammenhang zwischen Primär- und Sekundärstoffwechsel Die Bausteine für die biogenetischen Stofwechselprozesse sind einfache Metabolite des amphibolen Stofwechsels ( > Kap. 1.1). Sie stammen v. a. aus der Glykolyse, dem Citrat- und dem Pentosephosphatzyklus. Es handelt sich um Carbonsäuren (Acetat, Pyruvat, 2-Oxoglutarat) und um verschiedene Zucker (Triosen, Erythrosephosphat). Die Untersuchung der Biogenesewege sowohl von essentiellen Zellbestandteilen als auch von sekundären Planzenstofen führt auf Intermediärmetabolite als gemeinsame Bauelemente ( > Abb. 1.1). > Tabelle 1.2 zeigt Beispiele für Metabolite, die sowohl am Aubau primärer als auch sekundärer Planzenstofe beteiligt sind.
Infobox Herkunft weiterer Synthesebausteine. C1-Bausteine, deren Bedeutung besonders hervorgehoben werden soll, stellen sowohl im Primär- als auch im Sekundärstoffwechsel häufige und wichtige Elemente für Biosynthesen dar. Sie kommen in allen denkbaren Oxidationsstufen vor, als Methyl-, Hydroxymethyl-, Formyl- und Carboxylgruppen ( > Abb. 1.2). Im Mittelpunkt der C1-Kohlenstoffübertragung stehen Enzyme mit Folsäure als Coenzym. Träger der C1-Kohlenstoffgruppen sind die N-Atome in Position N-5 bzw. N-10 des Pteridylrestes. Durch Dehydrogenase-Reaktionen können die C1-Reste in die unterschiedlichen Oxidationsstufen übergehen und als Methyl-, Formyl- oder Carboxylgruppe auf andere Moleküle übertragen werden
6
1.3 Zusammenhang zwischen Primär- und Sekundärstoffwechsel
Sekundäre Naturstoffe. Sekundäre Naturstofe werden nach biosynthetischen Gesichtspunkten geordnet. Die Gesamtzahl der bisher allein aus höheren Planzen isolierten Sekundärmetabolite umfasst etwa 60.000 deinierte chemische Strukturen. Da nur eine begrenzte Zahl von Molekülbausteinen zur Synthese verwendet wird, lassen sich diese vielen Sekundärprodukte zu wenigen Stofgruppen zusammen fassen. > Abbildung 1.5 bringt eine Übersicht über die aus pharmazeutischer Sicht wichtigen Gruppen von Sekundärstofen. Das Ordnen einer Mannigfaltigkeit im Hinblick auf Ähnlichkeiten und Unterschiede ist für die wissenschatliche Vorgehensweise generell kennzeichnend. In den Strukturformeln der Naturstofe sind die Ergebnisse phytochemischer Untersuchungen kompakt zusammengefasst. Das Ordnen dieser Formeln nach strukturellen Ähnlichkeiten unter Berücksichtigung biogenetischer Aspekte führt zu einem „Stammbaum“ der Sekundärstofe. Zu den ältesten Ordnungsprinzipen zählen die Acetatregel und die Isoprenregel. Auch die Herkunt der ot komplex aufgebauten Alkaloide konnte schon
( > Abb. 1.3). Die Methylgruppe wird in der Regel nicht direkt von der Methylfolsäure auf ein anderes Substrat übertragen, vielmehr ist S-Adenosylmethionin dazwischen geschaltet. S-Adenosylmethionin fungiert als der unmittelbare Methyldonator. Methyl kann dabei auf O-, N-, Sund C-Atome übertragen werden. Eine weit verbreitete derartige Methylierungsreaktion ist die Erweiterung der Seitenkette von Cholesterol bzw. Cycloartenol zu den für höhere Pflanzen typischen ethylsubstituierten Phytosterolen ( > Abb. 1.4). Stickstoff kann durch Prozesse übertragen werden, die der Transaminierung von Aminosäuren ähneln; hierbei dient Pyridoxalphosphat als Coenzym. Außerdem ist die Knüpfung eines primären oder sekundären Amins an eine Aldehydfunktion möglich. Auch Reduktionsäquivalente (z. B. NADPH+H+), ATP und Zuckernukleotide (z. B. UDP-Glucose) werden aus dem Primärstoffwechsel beigesteuert und machen die Biosynthese von Sekundärmetaboliten erst möglich.
. Abb. 1.2
O H
CH4 Methan
H3C
X
an O, N, S oder C gebundene Methylgruppen
O
C
H H
C OH
Formaldehyd
Ameisensäure
CO 2 Kohlendioxid
O CH2OH
C H
Hydroxymethylgruppe
CH2
Formylgruppe
C H
Methylengruppe
Methenylgruppe NH C H Formiminogruppe C
1
O
Kohlenmonoxid
Im Primär- und Sekundärstoffwechsel auftretende C1-Bausteine, geordnet nach ihrem Oxidationswert
9
10
1
Prinzipien des Sekundärstoffwechsels
. Abb. 1.3
Übersicht über den Teil des C1-Stoffwechsels, der auf der Ebene der THF-Derivate abläuft. Die Hydroxymethylgruppe des Serins ist die Hauptquelle für C1-Bausteine; sie wird als Formaldehydäquivalent auf THF unter Bildung von 5,10-MethylenTHF übertragen. Dieses auch als „aktivierter Formaldehyd“ bezeichnete Stoffwechselprodukt kann unter dem Einfluss von Dehydrogenasen sowohl dehydriert als auch hydriert werden
früh auf eine „Aminosäureregel“ zurück geführt werden.
! Kernaussage
Die Produkte des Sekundärstoffwechsels nennt man sekundäre Naturstoffe. Der chemische Aufbau der meisten sekundären Naturstoffe folgt bestimmten biogenetischen Regeln: Der Acetatregel, der Isoprenregel oder der Aminosäureregel.
Polyketide. Für alle Polyketide gilt die Acetatregel. Die
Acetatregel, 1907 von J. N. Collie konzipiert, besagt, dass Naturstofe mit alternierenden (metaständigen) Sauerstoffunktionen eine zusammengehörige Gruppe von Naturstofen bildet, die dadurch ausgezeichnet sind, dass man sie sich formal als aus mehreren Acetatbausteinen aufgebaut denken kann ( > Abb. 1.6). In Analogie zu der Leichtigkeit, mit der sich bei organischen Synthesen aus
ofenkettigen Di- oder Triketoverbindungen (Acetessigester, Diacetylaceton u. a.) Aromaten vom Typus der Orsellinsäure oder hydroxylierter Naphthalinderivate bilden, sollten solche Reaktionen, so die Vorstellung, auch in lebenden Zellen einfach realisierbar sein. Zu den Naturstoffen, die man sich aus C2-Bruchstücken entstanden denken kann, gehören nicht nur einfache Resorcin- und Phloroglucinderivate, sondern auch Alatoxine, Anthranoide, Griseofulvin, Makrolide, Tetracycline, Xanthone u. a. Man bezeichnet sie als Acetogenine oder als Polyketide und unterteilt sie nach der Zahl (n) von C2-Bausteinen im Molekül als Triketide (n = 3), Tetraketide (n = 4), Pentaketide (n = 5) usw. Die Variationsmöglichkeit ist aber nicht allein durch die Kettenlänge (bis n >20) gegeben: Hinzu kommen unterschiedliche Kettenfaltungen vor der Kondensation zu zyklischen Verbindungen, Variationen bei den Reduktionsschritten, Methylierungen, Substitution durch Isopentenylgruppen, Glykosylierung und Umlagerungen. Außerdem können unterschiedliche „Startercarbonsäu-
1
1.3 Zusammenhang zwischen Primär- und Sekundärstoffwechsel
. Abb. 1.4
NH2 N
CH3 HOOC
S
N
+
O
N
N
NH2
HO
OH
S-Adenosylmethionin CH3 CH2 S CH3
+
CH2
CH2 S
S-Adenosylmethionin
CH3
CH2
S-Adenosylhomocystein
CH3
CH3
H
+
C CH3
R
R
CH3
C8-Seitenkette eines C27-Steroids
CH3
+
H CH3
CH3
R
H
S-Adenosylhomocystein
CH3 CH3
C10-Seitenkette eines C29-Steroids (Typus Sitosterol)
S-Adenosylmethionin
CH3
CH3
R
CH3 CH2
C9-Seitenkette eines C28-Steroids (Typus Ergosterol)
Beispiel für eine Methylierung eines pflanzlichen Sekundärprodukts: die Bildung von C29-Sterolen (Typus Sitosterol) aus C27-Sterolen (Typus Cholesterol). Die Methylgruppe wird als Methylkation (= „aktives Methyl“) von S-Adenosylmethionin als Methyldonator übernommen. Die S-Methylgruppe des Donatormoleküls stammt ihrerseits aus 5-MethylTHF ( >Abb. 1.3)
ren“ in Form ihrer SCoA-Ester zur Bildung der vielgestaltigen Polyketide genutzt werden ( > Abb. 1.7). So bekommen strukturell so unterschiedliche Verbindungen wie die Flavonoide, Stilbene, Acridonalkaloide, Hopfenbitterstoffe und Xanthone einen gemeinsamen biogenetischen Nenner. Es ist sogar möglich, durch ortsgerichtete Mutagenese („site-directed mutagenesis“, > Kap. 1.4) eine Acridon-Synthase (Endprodukt: Acridon-Alkaloide) durch Austausch von nur 3 Aminosäuren so zu manipulieren, dass sie funktionell zur Chalkonsynthase (Endprodukt: Flavonoide) wird (Lukačin et al. 2001). Terpenoide. Für alle Terpenoide gilt die Isoprenregel. Auch die Isoprenregel basiert auf Beobachtungen aus der organischen Chemie. Als Erstem iel P.E.M. Berthelot
(1860) auf, dass die meisten der damals bekannten Terpene periodisch aus verzweigten C5-Einheiten aufgebaut sind. O. Wallach (1885) vertiete diese Beobachtungen und klassiizierte die Terpene auf der Basis von C5-Einheiten. Als „biogenetische Isoprenregel“ formulierte sie Ruzicka (1953) wie folgt: Bestimmte azyklische Terpene können nach ionischen oder radikalischen Mechanismen kondensieren, sodass alle natürlich vorkommenden Mono-, Sesqui- und Diterpene sowie im Falle von Squalen als azyklische Vorläufer auch die Triterpene und Steroide abgeleitet werden können (Näheres dazu vgl. > Kap. 23.1). Baustein aller natürlich vorkommenden Terpene ist Isopentenyldiphosphat (IPP) als „aktives Isopren“, das im Gleichgewicht mit dem isomeren Dimethylallyldiphosphat (DMAPP) steht. Die Kondensationsreaktionen der
11
12
1
Prinzipien des Sekundärstoffwechsels
. Abb. 1.5
Terpene verlaufen somit unter Beteiligung von Phosphat, anders als die klassischen Kondensationsreaktionen (z. B. Aldol-Addition oder Claisen-Kondensation).
Hemiterpen-Bausteine Monoterpene
1-Desoxy-Xylulose
Diterpene
Mevalonat
Tetraterpene
Terpenoid-Biosynthese. Es gibt zwei Wege der Terpeno-
Sesquiterpene
id-Biosynthese. Bis vor wenigen Jahren nahm man an, dass in höheren Planzen die zwei Schlüsselverbindungen IPP und DMAPP grundsätzlich über Mevalonsäure durch die Kondensation von drei Molekülen Acetyl-SCoA und anschließender Decarboxylierung gebildet werden. Heute weiß man, dass es einen alternativen Biosyntheseweg der Isopren-Bausteine gibt, der – ausgehend von Glucose – über die Zwischenstufen 1-Desoxy-d-Xylulose (DOX) und 2-Methylerythritolphosphat (MEP) führt (Lichtenthaler et al. 1997). Dieser MEP-Weg (syn.: GAP-Pyruvat-Weg, DOX-Weg) wird in Plastiden beschritten. Über ihn werden sowohl Hemiterpen-Bausteine angeliefert als auch Monoterpene, Diterpene und Tetraterpene synthetisiert ( > Abb. 1.5). Neben Markierungsexperimenten mit 13C-markierten Vorstufen ( > Kap. 1.4) war es die Beobachtung, dass Statine die Bildung von Monoterpenen
Triterpene, Steroide Polyketide Polyacetylene
Acetyl-SCoA
Flavonoide, Stilbene Phenylpropane Phanolcarbonsäuren
Zimtsäure
Cumarine Amine Alkaloide Aminosäuren
Cyanglykoside Glucosinolate
Wichtige Klassen sekundärer Pflanzenstoffe und ihre biogenetische Herkunft
. Abb. 1.6
O
OH
CH3
CH3
O
O
O
OH
COOH O
O
HO
O
O
Alternariol (Pilzprodukt) O
O
O COOH
O
O
O
OH O
CH3 −CO2
HO
OH O
OH
Phloroglucin
OH
O
OH
OH
COOH
HO
OH Resorcin
CH3
HO H
H
C16-Anthron (in Pilzen)
CH3
HO H
H
C15-Anthron (in höheren Pflanzen)
Beispiel für den formalen Ausbau von Pflanzenstoffen – hier Anthranoiden – nach der Acetatregel
1.3 Zusammenhang zwischen Primär- und Sekundärstoffwechsel
1
. Abb. 1.7
Biogenetischer Zusammenhang der verschiedenen Polyketide mit Strukturbeispielen. Am oberen Rand sind die jeweiligen „Startersäulen“ dargestellt
13
14
1
Prinzipien des Sekundärstoffwechsels
. Abb. 1.8
Mevalonat-Weg (MEV-Weg) und 2-Methylerythritolphosphat-Weg (MEP-Weg) der IPP- und DMAPP-Biosynthese. Nur der MEV-Weg kann durch den HMG-CoA-Reduktase-Inhibitor Mevastatin gehemmt werden
nicht beeinlussten, die die Existenz eines alternativen Terpenoid-Wegs nahe legten. Statine sind Hemmstofe der HMG-CoA-Reduktase, einem zentralen Enzym des Mevalonat-Wegs, das die Bildung der Mevalonsäure aus 3Hydroxy-3-methylglutaryl-CoA katalysiert ( > Abb. 1.8). Alkaloide. Für die meisten Alkaloide gilt die Aminosäure-
regel. Sie geht auf den Hinweis von E. Winterstein und G. Trier im Jahre 1910 zurück, der besagt, dass alle (echten) Alkaloide ihrer Struktur nach Derivate von Aminosäuren sein müssten. Die Aminogruppe der Aminosäure liefert demnach den heterozyklisch gebundenen Stickstof eines Alkaloids. Alkaloidogene Aminosäuren im engeren Sinn sind: Ornithin, Arginin, Lysin, Phenylalanin, Tyrosin und Tryptophan. Durch initiale Decarboxylierung zum entsprechenden biogenen Amin werden die Aminosäuren in die Alkaloid-Biosynthese eingespeist. Diese biogenetische Klammer hält die ansonsten sehr heterogene und strukturell vielfältige Gruppe sekundärer Planzenstofe zusammen. Allerdings folgen nicht alle Alkaloide dieser Biosyntheseregel (z. B. Acridon-, Steroid-, Imidazol-, Purin-Alkaloide). Bezüglich der Biosynthese von Aminosäuren haben sich besondere Regulationsmechanismen herausgebildet, die es ermöglichen, zwischen der Belieferung der Proteinbiosynthese und einer Alkaloidbiosynthese zu diskrimi-
nieren. Hierzu zwei Beispiele: Acridon-Alkaloide (Sekundärstof ) und Tryptophan (Primärstof ) haben bis zur Anthranilsäure gemeinsame biogenetische Vorstufen. Die Bildung von Acridon-Alkaloiden kann bei einigen Planzen durch exogene Reize induziert werden. Dazu wird ein Anthranilat-Synthase-Gen aktiviert, das für die Tryptophan-Biosynthese nicht notwendig ist. Ähnliches gilt für die Bildung von Alkaloiden, die sich von Tyrosin bzw. Phenylalanin ableiten lassen: Hierfür sind zusätzliche Chorismat-Mutase-Gene1 mit eigenständiger Regulation ihrer Expression notwendig. Alle drei aromatischen Aminosäuren (Tryptophan, Tyrosin, Phenylalanin) werden in den Plastiden gebildet. Daher sind auch die beteiligten Enzyme in den Plastiden zu inden. Es gibt aber auch eine cytosolische Chorismat-Mutase, was für die Biosynthese von Phenylalanin und Tyrosin bzw. deren Derivate ein von den Plastiden unabhängiges Reaktionskompartiment schat. Phenylpropanoide und Phenole. Phenylpropanoide und viele Phenole entstehen über den Shikimisäureweg. Planzen können auf allen der bisher skizzierten Biosynthese1
Die Chorisminsäure – von altgriech.: chôrisma [getrennt] – ist das Intermediat des Shikimisäureweges, an dem sich die Wege zu den aromatischen Aminosäuren Tyrosin und Phenylalanin einerseits und Tryptophan andrerseits trennen.
1
1.3 Zusammenhang zwischen Primär- und Sekundärstoffwechsel
. Abb. 1.9
. Abb. 1.10 COOH
O
C3
C6 C3
Prephensäure
C1
HOOC
C3
COOH
C4 OH
NH2
R1
Prephensäure
R2
O P
I C3
H2C
COOH
Phosphoenolbrenztraubensäure CHO
OH
H ≡
P OCH2
O
H
OH
H
OH
OH
CH2OP
COOH C6 C3 R1 R2
C4 Erythrose-4-phosphat
Prephensäure, eine hydroaromatische Säure, stellt den Knotenpunkt im Stoffwechsel aller jener Naturstoffe dar, die einen aromatischen Ring im Molekül enthalten, ausgenommen jene Aromaten, die Polyketide oder Terpenoide darstellen. Prephensäure ist aus 10 Kohlenstoffatomen aufgebaut: Als Bauelement fungieren 2 Moleküle Brenztraubensäure und 1 Molekül eines C4-Zuckers, der Erythrose
wege phenolische Substanzen bilden. Die wenigen phenolischen Terpenoide (z. B. hymol, Carvacrol) sind leicht an ihrer Isoprenstruktur zu erkennen, phenolische Polyketide an der meta-ständigen Anordnung von Hydroxylgruppen. Die phenolischen Alkaloide (z. B. Morphin, Cephaelin) leiten sich in der Regel vom Tyrosin ab. Nicht unmittelbar an ihrer Strukturformel ablesbar ist die gemeinsame Herkunt der aromatischen und phenolischen Zimtsäuren, der Gallussäure, der Phenolcarbonsäuren (z. B. Salicylsäure) und einfachen Phenole (z. B. Arbutin). Sie entstehen alle über den Shikimisäureweg, leiten sich also wie die aromatischen Aminosäuren aus Zuckern ab ( > Abb. 1.9). Außer der Gallussäure werden vermutlich alle Stofe dieser Gruppe aus Phenylalanin oder – sehr viel seltener – aus Tyrosin gebildet. Ein wichtiges Enzym des Sekundärstofwechsels, die Phenylalanin-AmmoniakLyase, katalysiert die oxidative Desaminierung des Phe-
II R1
R2
H OH OH
H H OH
I
II
Phenylalanin Tyrosin DOPA
Zimtsäure Cumarsäure Kaffeesäure
Herkunft der C6-C3-Bausteine. Prephensäure verliert im Verlauf ihrer Umwandlung zu den aromatischen Aminosäuren ein C1-Element in Form von CO2. Aus den aromatischen Aminosäuren entstehen die Zimtsäuren, die einfachsten Vertreter der Phenylpropanoide. Stereochemie nicht berücksichtigt
nylalanins zur Zimtsäure. Das resultierende C6-C3-Bauelement ( > Abb. 1.10) ist charakteristisch für die Gruppe der Phenylpropanoide, zu denen die Zimtsäuren selbst, die Cumarine und auch die Lignane zählen. Sie stellen eine außerordentlich umfangreiche Gruppe von planzlichen Naturstofen dar. Durch oxidativen Abbau der Seitenkette der Zimtsäuren entstehen die Phenolcarbonsäuren und einfachen Phenole. Sekundäre Pflanzenstoffen mit gemischtem Bautyp.
Verschiedene Bauelemente können zu sekundären Planzenstofen mit gemischtem Bautyp zusammengefügt wer-
15
16
1
Prinzipien des Sekundärstoffwechsels
. Abb. 1.11 H3C
CH3
CH3 OH
H3C
CH3
H3C
CH3
O
H3C
O O
Anisoxid C6 − C3 + C5
OH
H3C CH3
CH3
CH3
CH3 H3C
CH3
O
Lupulon (u.a. Hopfenwirkstoffe) 3 • C 2 + 4 • C5
Foeniculin C6 − C3 + C5 O
H3C
H3C
OH
H3C
O
H3C
HO
O
CH3
CH3
O
n-C5H11
O CH3
HO HO
O
O
C6 − C3 + C5 (C 14-Furanocumarin)
C6 − C3 + C5
O
OH CH3
O CH3 H3C C-Skelett der Cannabiswirkstoffe 6 • C2 + 2 • C5
Bergamottin 1 • C 6 − C3 + 2 • C 5 + C 2 CH2 H3C
O
O
OH
C1-Baustein
H3C
O
O
4
HO 1
H3C
O
O
CH3
O OCH3 OCH3 Rotenon C6 − C3 − C6 + C5 + Extra-C1
Visamminol 5 • C2 + 1 • C5
O H3C
O H3C
OH
Essigsäure
OH
C6 − C3 =
C5 =
C2 =
CH2
H3C Isopenten
HO p-Cumarsäure
1.3 Zusammenhang zwischen Primär- und Sekundärstoffwechsel
. Abb. 1.12
1
C1-Pool O
CH3 N
N H
O
Cyclopeptin
O
O OH
OH NH2
NH2
Phenylalanin
Anthranilsäure
*CH3 6
CH 3
H3*CO
O O
O
*CH3 H2N
O O
O
O
CH3
N H OH
CH3
OH OH
V Novobiocin
Weitere Beispiele zur vergleichenden Betrachtung von Sekundärstoffen. Obere Hälfte: Das Cyclopeptin mit dem Benzodiazepingerüst lässt den Aufbau aus Anthranilsäure und Phenylalanin erkennen. Für Mikroorganismen ist dieser biogenetische Aufbau durch In-vivo-Experimente gesichert, nicht aber für höhere Pflanzen. In einigen höheren Pflanzen wurden die Benzodiazepine Diazepam und Lorazepam in geringen Mengen gefunden (ng-Bereich). Untere Hälfte: Novobiocin baut sich wie folgt auf: I = 6-Desoxy-gulose, II = Phenylalanin (Tyrosin), III = C6-C1-Baustein, IV = C5-Baustein, V = Carbaminat (CO2 + NH3). Ferner sind im Molekül 3 C1-Bausteine (Methyl) enthalten (durch * gekennzeichnet)
9 Vergleichende Betrachtung von Strukturformeln sekundärer Pflanzenstoffe. Drei Bausteine führen zu jeweils unterschiedlichen Molekülstrukturen. Das C2-Element des Bergamottins entsteht nicht aus Acetat, sondern durch oxidative Eliminierung eines C4-Körpers aus einem C5-Baustein. Der Molekülvergleich bedarf der Verifizierung durch Biogenesestudien
17
18
1
Prinzipien des Sekundärstoffwechsels
den. Eine verhältnismäßig kleine Zahl von Bauelementen führt durch unterschiedliche Verknüpfung dieser Bausteine zu einer großen Vielfalt von Naturstofen. An Bausteinen wurden bisher vorgestellt: C1-, C2-, C5- und C6C3-Körper sowie die Aminosäuren. Konstitutionsformeln von Naturstofen enthalten somit Informationen über die sie aubauenden einfachen Bausteine. Die > Abbildungen 1.11 und 1.12 zeigen, dass es möglich ist, komplizierte Naturstofstrukturen gedanklich in Bauelemente zu zerlegen. Dieses „Lesen“ von Strukturformeln, zusammen mit dem Durchmustern von Formeln nach Ähnlichkeiten und Unterschieden, dient dem didaktischen Ziel, in der Vielzahl von Strukturen ein ordnendes Prinzip zu erkennen. Wo immer es angezeigt erscheint, wird im vorliegenden Werk von diesem didaktischen Prinzip des Molekülvergleichs Gebrauch gemacht.
! Kernaussage
Die sekundären Naturstoffe lassen sich nach biogenetischen Gesichtspunkten in Polyketide, Terpenoide, Alkaloide, Phenylpropanoide und Naturstoffe mit gemischtem Bautyp gliedern. Auch in komplexen Strukturen sind die biogenetischen Bauelemente erkennbar.
1.4 Aufklärung von Biosynthesewegen Bei der Auklärung von Biosynthesewegen geht es um folgende Problemkreise: x das Zwischenprodukt des Primärstofwechsels zu identiizieren, aus dem das Sekundärprodukt gebildet wird, x die Zwischenprodukte (Präkursoren) zu identiizieren, die zwischen Primär- und Sekundärprodukt liegen, d. h. die vollständige Reaktionskette (Biosynthesesequenz) zu entschlüsseln, x die an den Umsetzungen beteiligten enzymatischen Reaktionen und Reaktionsmechanismen zu beschreiben. Die zur Auklärung von Bildungswegen herangezogenen Methoden sind: x Tracertechniken, x enzymatische Methoden, x genetische und molekulargenetische Methoden.
1.4.1 Tracer- oder Isotopentechnik Tracer (engl.: to trace [einer Spur folgen]) sind Substanzen, die mit einer gegebenen Substanz gemischt werden, mit dem Ziel, die Verteilung oder Lokalisation einer bestimmten Substanz qualitativ zu ermitteln. Den Vorgang selbst bezeichnet man auch als Markieren. Chemische Tracer haben gleiche oder zumindest fast gleiche chemische Eigenschaten wie die markierte Substanz, mit der sie homogen mischbar sind. Markieren lassen sich Substanzen entweder durch stabile Isotope oder durch Radioisotope. Besondere Bedeutung haben in der Biosyntheseforschung die stabilen Isotope 2H (Deuterium), 15N, 18O, 13C sowie die radioaktiven Isotope (Radionuklide) 14C, 3H (Tritium) und 32P. Durch stabile Isotope markierte Substanzen können am besten massenspektrometrisch, aber auch NMR-spektrometrisch gemessen werden. Radioaktiv markierte Stofe werden vorzugsweise mittels Autoradiographie, Szintillationsmessung und Radiochromatographie geortet bzw. gemessen. Einfache Tracerexperimente. Einfache Tracerexperimen-
te belegen die Verwendung eines bestimmten Bauelements. Zur Auklärung der Biosynthese müssen die markierten Präkursoren in den Stokreislauf der Planze eingeschleust werden, wozu verschiedene Techniken entwickelt wurden. Bei Mikroorganismen ist dieses Einschleusen einfach, indem man die Präkursoren dem Nährmedium zusetzt. Bei höheren Planzen kommen die folgenden Applikationsmöglichkeiten in Betracht: Injizieren in hohle Stängel, Einstellen der Planze mit der Wurzel in eine Nährlösung samt Präkursor, Sprühen auf das Blatt und Aufsaugen über Dochte, die in bestimmte Organe eingestochen werden. Vermieden werden muss, dass durch zu intensives „Zufüttern“ markierter Substanzen der normale Ablauf des Stofwechsels gestört wird. Häuig werden Untersuchungen an planzlichen Zellkulturen durchgeführt; ähnlich wie bei Mikroorganismen können hier die Präkursoren dem Nährmedium zugesetzt werden. Zur Auklärung der Biosynthese müssen sodann die gewünschten Endprodukte isoliert werden, und es muss vor allen Dingen durch geeignete Methoden festgestellt werden, welche Atome des Sekundärprodukts die Markierung tragen. Die qualitative Feststellung, dass das Endprodukt markiert ist, bedeutet für sich allein keine Gewähr dafür, dass die markierte Substanz Teil des unmittelbaren Biosynthesewegs ist. Die „zugefütterte“ Substanz könnte auch, in den allgemeinen Stofwechsel eingeschleust, erst
1.4 Aufklärung von Biosynthesewegen
1
. Abb. 1.13 2
HO
*
COOH
H3CO
*
Biosynthese
NH2
N H3CO
*
D,L-Tyrosin-[2−14C]
OCH3
OCH3 Papaverin 1) Isolierung 2) Chemischer Abbau über mehrere Stufen
H3CO
* CH2 * COOH
H3CO Hydrierung
* CO 2
SchmidtAbbau (HN3)
H3CO
H3CO
* CH3 * COOH
Ozonierung
H3CO
CHO
+
+ H3CO
* HCHO
* COOH
Am C-2 radioaktiv markiertes Tyrosin liefert nach kontrolliertem chemischen Abbau sowohl markiertes CO2 als auch markierten Formaldehyd. Daraus lässt sich schließen, dass 2 Moleküle Tyrosin am Aufbau des Papaverins beteiligt sind. Darüber hinaus liefert der Abbau die Information, dass die C-2 Atome des Tyrosins in die Positionen C-1 und C-3 des Papaverins eingebaut werden
in Form von Abbauprodukten in das fragliche Endprodukt eingebaut werden. Man war früher darauf angewiesen, das Endprodukt chemisch abzubauen und die Isotopenzusammensetzung der für die jeweilige Fragestellung wichtigen Molekülteile oder Atome zu ermitteln. Ein Beispiel für diese Art des Vorgehens bringt > Abb. 1.13. Pulse-Chase-Experimente. Pulse-Chase-Experimente
geben Auskunt über Zwischenprodukte der Biosynthese. Die Markierung einer einzelnen Vorstufe und die Analyse des Endprodukts geben keine Aufschlüsse über die durchlaufenen Zwischenstufen, d. h. über die Biosynthesesequenz. Mittels Autoradiographie und Analysen in zeitlichem Abstand lassen sich Zwischenstufen der Biosynthese festlegen. Das Vorbild für ein derartiges Vorgehen ist die Erforschung der CO2-Fixierung im reduktiven Pentosephosphatzyklus (Calvin-Zyklus). Suspensionen von Grünalgen (Chlorella spec.) wurden mit 14CO2 versorgt. In un-
terschiedlichen Zeitabständen wurden Algenproben extrahiert; der Extrakt wurde papierchromatographisch aufgetrennt, wobei die Substanzzonen autoradiographisch geortet wurden. Es zeigte sich, dass das früheste fassbare Produkt der CO2-Fixierung das 3-Phosphoglycerat ist. Nach 1 s Einbauzeit entfallen über 70% der Radioaktivität auf diese Verbindung, die sich rasch auf immer mehr Verbindungen überträgt. Bereits nach weiteren 30 s sind mehr als 20 Substanzen markiert, darunter mehrere Zucker. Nach diesem Modell sind zahlreiche Sequenzen von Sekundärstof-Biosynthesen aufgeklärt worden, beispielsweise in Mentha × piperita die zeitliche Sequenz: 14CO2 o Piperiton o Menthon o Menthol. Schwere Isotope. Die Forschung bedient sich heute aller-
dings vorzugsweise der Markierung durch stabile Isotope. Der Einbau schwerer Isotopen wird über Massenspektrometrie nachgewiesen. Stabile Isotope stehen in stark
19
20
1
Prinzipien des Sekundärstoffwechsels
. Abb. 1.14 10
CH3 CH3
8
9
H
CH3 5
1 3
2
H
4
H
7
6
H H
Hα
Hβ
α - Pinen 4
10 9
6 7 8
3 5
a 45
40
35
30
25
20
[ppm]
100-MHz-13C-Spektrum von α-Pinen in CDCl3 (ohne sp2-Alken-Signale). Im Erscheinungsbild fällt auf, dass die Signale – anders als bei Protonenspektren – aufgrund der Breitbandentkopplung der Protonen nicht aufgespalten sind. 13C-13CKopplungen werden nicht sichtbar, da die Wahrscheinlichkeit, dass gerade zwei 13C-Kerne benachbart sind, die dann miteinander koppeln, sehr gering ist. Erst nach künstlicher Anreicherung von 13C-Isotopen und Einbau in Verbindungen werden Kopplungen sichtbar
angereicherter Form, nahe 100%, zur Verfügung. Bestimmt werden können massenspektrometrisch die Isotopenverhältnisse 2H/1H, 13C/12C und 18O/16O. Als Isotopenverhältnis wird immer das Verhältnis von Nebenisotop zu Hauptisotop berechnet. Der Einbau einer 18Omarkierten Vorstufe zeigt sich im erhöhten M+2-Peak im Massenspektrum des Sekundärprodukts an. Das Fragmentierungsmuster lässt darüber hinaus Schlüsse auf die Lokalisation des markierten Sauerstofs zu. Auf diese Art wurde z. B. nachgewiesen, dass die Epoxidierung von Hyoscyamin zu Scopolamin nicht über 6,7-Dehydrohyoscyamin laufen kann, weil nämlich der Sauerstof der Zwi-
schenstufe 6-Hydroxyhyoscyamin im Epoxid erhalten bleibt. Mit Hilfe der 13Clokalisiert man Kernresonanz-Spektroskopie Synthesebausteine. Durch die Entwicklung der HochfeldNMR-Geräte wurde die 13C-Tracertechnik zu einem sehr leistungsfähigen Verfahren der Biosyntheseforschung ausgebaut. Ein 13C-NMR-Spektrum ist im Vergleich zu einem 1H-NMR-Spektrum einfach gebaut, weil 13C-13C-Kopplungen aufgrund der geringen Wahrscheinlichkeit benachbarter 13C-Isotope nicht beobachtet wer13C-Kernresonanz-Spektroskopie.
(13C-NMR)
1.4 Aufklärung von Biosynthesewegen
. Abb. 1.15 [1,2 - C2 ] Acetat (im
13
erkennbar sind. Wird eine Bindung einmal gesprengt, verschwindet das Dublett und wird durch ein verstärktes (erhöhtes) Singulettsignal ersetzt ( > Abb. 1.15). Beim Einbau von doppelt markiertem Acetat in Mevalonat erscheinen sämtliche Signale für die 6 C-Atome als Dubletts. Beim Fortschreiten der Biosynthese zum Farnesol zeigen sich im 13C-NMR-Spektrum 3 Singuletts, die vom C-2 des Mevalonats stammen ( > Abb. 1.16).
C - NMR 2 Dubletts)
Biosyntheseexperiment
Sekundärprodukt isolieren
13
C - NMR - Spektrum aufnehmen
Dubletts: bedeutet Einbau von intaktem Acetat
1.4.2 Enzymatische Methoden
Signalverstärkung von Singuletts: bedeutet Einbau nach Spaltung der C - C -Bindung
Biosyntheseenzyme. Eine weitere Möglichkeit der Erfor-
Schema zur Auswertung von 13C-NMR-Spektren nach Inkorporation von doppelt 13C-markiertem Acetat
schung von Biosynthesewegen ist die Nutzung zellfreier Extrakte, speziell der Isolierung von Enzymen und der Ermittlung ihrer kinetischen Eigenschaten durch Umsetzung mit Intermediaten der Biogenese. Um Reaktionen in vitro nachvollziehen zu können, besteht der schwierigste Schritt darin, die betrefenden Enzyme des Sekundärstof wechsels anzureichern und – wenn möglich – sie bis zur Homogenität zu reinigen. Aus Organen ausdiferenzierter Planzen lassen sich die entsprechenden Enzyme häuig nicht gewinnen, weil sie zum einen in sehr niedriger Konzentration vorliegen und zum anderen beim Extrahieren durch Tannine und andere Phenole inaktiviert werden können. Durch geeignete Behandlung, z. B. mit unlöslichem Polyvinylpolypyrrolidon kann man diese störenden Substanzen aber auch binden und dadurch die Enzymaktivität erhalten. Besonders gut zur Isolierung von Enzymen sind planzliche Zell- oder Gewebekulturen geeignet ( > folgende Infobox). Allerdings produzieren Zellkulturen bei weitem nicht alle jene sekundären Planzenstofe, die in der Ganzplanze vorkommen und dementsprechend
den ( > Abb. 1.14). Ob ein 13C-markierter Präkursor in ein Sekundärprodukt eingebaut wurde und an welcher Stelle, gibt sich in einfacher Weise durch eine Verstärkung der betrefenden Signale zu erkennen. Noch wesentlich leistungsfähiger wird die 13C-NMR-Technik, wenn doppelt markierte Präkursoren eingesetzt werden, beispielsweise [1,2–13C2]-Acetat. In dieser Verbindung liegen die 13CIsotope benachbart, was sich an der Aufspaltung der Signale in Dubletts zu erkennen gibt. Bei der Verfütterung des doppelt markierten Acetats wird das markierte mit dem planzeneigenen Acetat vermischt. Die Menge an markiertem Acetat ist gering im Vergleich zum Acetat, das der planzliche Stofwechsel genuin beisteuert, mit dem Ergebnis, dass das markierte Acetat statistisch verteilt in den Sekundärstofmolekülen autritt. Das wiederum gibt sich im 13C-NMR-Spektrum daran zu erkennen, dass die beiden Dubletts des markierten Acetats im Sekundärprodukt . Abb. 1.16
CH3
3'
HO
CH3
CH3− COO − Na 13
+
4
2
5
1
O
•
•
3 13
1
CH3
O H3C
•CH
3
OPP
In-vivo-Markierung von Mevalonsäure und Farnesyldiphosphat durch Zufuhr von [1,2-13C2] Acetat. In der Mevalonsäure erscheinen im 13C-NMR-Spektrum 3 Dubletts entsprechend einer 13C-13C-Kopplung zwischen den C-Atomen 1 und 2, 3 und 3’ sowie 4 und 5. Die 13C-NMR-Signale der mit dem Punkt versehenen C-Atome geben sich als verstärkte Singuletts zu erkennen
21
22
1
Prinzipien des Sekundärstoffwechsels
Infobox In-vitro-Kultur von Zellen höherer Pflanzen. Pflanzliche Zellsuspensionskulturen werden vorrangig aus Kalluskulturen angelegt (lat.: „callus“ [Schwiele, Schwarte]). Bringt man aus Organteilen herausgeschnittenes Gewebe, sog. Explantate, unter sterilen Bedingungen auf einen geeigneten Nährboden, so bildet sich an den Schnittstellen ein Wundgewebe: Durch Proliferation bildet sich aus meristematischen oder meristematisch gewordenen Bereichen eine amorphe Masse wenig differenzierter, stark wuchernder Zellen, eben der Kallus. Als Explantate eignen sind Gewebestücke mit Meristemen wie Knospen, Wurzelspitzen, Knotenbereiche des Sprosses oder keimende Samen. Stark proliferierendes Kallusgewebe wird nur dann gebildet, wenn dem Nährmedium Phytohormone (besonders Auxine und Cytokinine) zugefügt werden. Zellteilungs- und wachstumsfördernd sind außerdem komplexe organische Zusätze wie Kokosnussmilch (flüssiges Endosperm), Hefeextrakt oder Caseinhydrolysat. Das Kallusgewebe lässt sich durch Subkultivierung auf frischen Nährmedien beliebig lange weiter erhalten. Überführt man Kallus in flüssiges Nährmedium, löst sich die Masse unter Schütteln zu kleinen Zellaggregaten auf. Man spricht jetzt von einer Suspensionskultur. Diese ist nicht nur eine geeignete Quelle für Enzyme, man kann auch sehr einfach Tracerexperimente durchführen, weil die gefütterten Substanzen sehr effizient in die Zellen aufgenommen werden können. Ähnlich wie Mikroorganismen lassen sich Zellsuspensionskulturen auch in großvolumigen Bioreaktoren vermehren. Man versucht dabei, pflanzliche Zellkulturen in Analogie zur Produktion von Antibiotika technisch zur Sekundärstoffproduktion einzusetzen. Aller-
werden auch nicht alle Enzyme in diesen Zellen oder Geweben zu inden sein. Manche Enzyme benötigen zudem „Helferproteine“, wie es z. B. für den initialen Schritt der Lignanbildung nachgewiesen werden konnte. Fügt man das Helferprotein dem gereinigten Enzym zu, erfüllt dies seine biosynthetische Aufgabe auch in vitro korrekt. Trotz dieser Einschränkungen ist es aber gelungen, zahlreiche Biosyntheseschritte im Reagenzglas ablaufen zu lassen sowie die betrefenden Enzyme anzureichern und zu charakterisieren. Als Beispiel zeigt > Abb. 1.17 einen wichtigen Teilschritt der Berberin-Biosynthese, nämlich die oxidative Veränderung einer N-Methylgruppe, wobei letztlich das tetrazyklische Ringsystem der Protoberberinalkaloide entsteht.
dings ist dies bisher nur in wenigen Fällen überzeugend gelungen. Jede Zelle einer Suspensionskultur trägt die gesamte genetische Information zur Biosynthese der der Spezies eigentümlichen Sekundärprodukte. Es muss jedoch für jeden Einzelfall experimentell geprüft werden, ob unter den Bedingungen der Zellkultur die betreffenden Stoffe gebildet und akkumuliert werden. Mit dem Verlust der morphologischen Differenzierung ist nämlich nicht selten der Verlust der chemischen Spezialisierung korreliert. Hinsichtlich der Biosynthesefähigkeit lassen sich bei Zellkulturen drei Kategorien unterscheiden (Dougall 1981): x Die Biosynthese läuft in der Zellkultur in gleicher Weise wie in der Ganzpflanze ab. Dies trifft für viele Phenylpropane und einige Alkaloide (z. B. Berberin) zu. Nur in solchen Fällen kann die gesamte Biosynthese in der Zellkultur aufgeklärt werden. x Der Sekundärstoff wird in Zellkulturen nicht gebildet. Beispiel dafür sind Zellkulturen von Catharanthus roseus, die nicht imstande sind, die therapeutisch wichtigen Alkaloide Vinblastin und Vincristin zu biosynthetisieren. x Zwar läuft in der Zellkultur nicht die gesamte Biosynthesesequenz ab, doch können Teilreaktionen nachvollzogen werden. Beispielsweise wird in Zellkulturen von Papaver somniferum kein Morphin biosynthetisiert, doch gelingt es, die Morphinvorstufe (-)-Codeinon in (-)-Codein zu transformieren. Zellkulturen von Digitalis lanata sind in der Lage, Digitoxin und seine Derivate in Position C-12E selektiv zu hydroxylieren. So kann aus E-Methyldigitoxin der Arzneistoff Methyldigoxin hergestellt werden.
Enzymkomplexe. Enzyme können in Komplexen zusammengefasst sein und Zwischenprodukte können von Enzym zu Enzym „weitergereicht“ werden. Bisher lässt sich nicht jeder Einzelschritt einer Biosynthese für sich isoliert im Reagenzglas nachstellen. Einige Enzyme sind so fest an Membranen oder andere Zellstrukturen gebunden, dass sie einerseits schlecht von diesen Strukturen abgetrennt werden können und andererseits diese Strukturen sogar für ihre Aktivität brauchen. Mit den Methoden der Molekulargenetik ( > weiter unten) gelingt es aber mittlerweile auch, Enzyme, z. B. Cytochrom-abhängige Monooxygenasen, zu sequenzieren und ihre Funktionalität und Speziität zu prüfen, obwohl man sie mit den klassischen Methoden der Proteinreinigung nicht isolieren kann.
1.4 Aufklärung von Biosynthesewegen
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. Abb. 1.17 H3CO
H3CO O2
N HO H
+
N
CH3
CH2
HO H OH
OH
H2O 2
OCH3
OCH3
(S)-Reticulin
H3CO N HO H OH
OCH3 (S)-Scoulerin
Beispiel einer enzymatischen Umwandlung durch zellfreie Extrakte. Die Bildung der „Berberinbrücke“ erfolgt oxidativ, wobei pro Mol eingesetztem (S-)-Reticulin 1 Mol O2 verbraucht wird. Das diese Reaktion katalysierende Enzym wurde aus Zellkulturen von Berberis beaniana SCHNEID. angereichert, es kommt aber auch in ausdifferenzierten Berberis-Pflanzen vor. Es hat ein Molekulargewicht von ca. 50 kDa und ein Temperaturoptimum bei 45 °C (Zenk 1985)
In vivo wird das naszierende Produkt unter Umständen wie in einer Kette von Enzym zu Enzym weiter gereicht („metabolite channeling“). Diese Situation ist in vitro schwierig nachzuahmen, für die Enzymreaktion aber möglicherweise entscheidend. Die Schwierigkeit, einzelne Enzyme zu isolieren, erklärt sich also teilweise durch ihre räumliche Anordnung in der Zelle und ihre Abhängigkeit von der Anwesenheit anderer Strukturen ( > Abb. 1.18). Von einigen Enzymen weiß man, dass sie zu ganzen Aggregaten („Multienzymkomplexen“) zusammen gefasst sind, die funktionelle Einheiten darstellen und nach dem Autrennen anders funktionieren als in der lebenden Zelle oder völlig inaktiv sind. Daneben gibt es noch Enzyme, die aus nur einem Protein bestehen, das aber zwei oder mehrere katalytische Zentren aufweist. Man bezeichnet sie als multifunktionelle Proteine. Beispiele für Reaktionssequenzen, die an Enzymkomplexen ablaufen, sind:
x x x x
die E-Oxidation der Fettsäuren ( > Abb. 1.19), die Aromatenbiosynthese, die Tryptophanbiosynthese, die Flavanon- und die Stilbenbiosynthese (Luckner 1990; Staford 1981).
Das räumliche Zusammenrücken (Aggregieren) funktionell zusammengehöriger Enzyme zu Multienzymkomplexen bewirkt die Bildung eines Mikrokompartiments, d. h. eines gegenüber dem übrigen Zellraum abgeschlossenen Reaktionsraumes, was ein sehr eizientes Umsetzen der Metabolite sowie den ungestörten Reaktionsluss in eine einzige Richtung gewährleistet. Die Reaktionskette läut nach dem „Fließbandprinzip“ ab, d. h. ohne Ablösung der umgesetzten Substrate nach jedem Teilschritt. Der Prototyp eines derartigen Reaktionsverlaufs ist der Ablauf der Fettsäurebiosynthese am Multienzymkomplex der Fettsäuresynthase, einem Mikrokompartiment, das „mit Ace-
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Prinzipien des Sekundärstoffwechsels
. Abb. 1.18 A B C D E Ausgangs Endprodukt substanz E1 E2 E3 E4 E5 E6
E7
Endprodukt
E6
E2 E1
Ausgangs substanz
Das Produkt der einen Enzymreaktion ist Substrat für die nächste Reaktion. A - E sind diffundierende Zwischenprodukte 2 Multienzymkomplex (Fettsäuresynthese) Reaktionskette für Zwischenprodukte nicht frei zugänglich
E3
E5
1 Frei im Plasma (Glykolyse)
E4 Ausgangs substanz E1 E2 E3 E4 E5
3 Membrangebunden (Atmungskette) Die Enzyme können nicht einzeln von der Membran gelöst und isoliert werden
A B C D Endprodukt
Typen räumlicher Anordnung von Enzymen in der Zelle (aus Herder Lexikon der Biochemie und Molekularbiologie, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg Berlin New York, 1995). Kennzeichnend für Multienzymkomplexe, die aggregiert (2) oder an Membranen gebunden (3) vorliegen können, ist es, dass die Zwischenprodukte einer Reaktionskette nicht frei zugänglich sind, d. h., sie sind nicht nachweisbar. Auch können von außen zugeführte Zwischenprodukte nicht als Substrat für die Enzyme dienen. Wenn in einer Biosynthesekette die Zwischenprodukte nie in das Lösungsmittel freigesetzt, sondern von Enzym zu Enzym weitergeschleust werden, spricht man von einem „Fließbandprinzip“ oder von einer „kanalisierten Weitergabe (engl.: channeling). Ein „channeling“, das an der Membran des endoplasmatischen Reticulums abläuft, ist der direkte Übergang von Phenylalanin in p-Cumarsäure (s. Abb. 1.20)
tyl-SCoA, Malonyl-SCoA und NADP-H gefüttert wird und Stearoyl-SCoA ausspuckt“ (Kindl 1994). Dieses „Fließbandprinzip“ bietet den Vorteil, dass die Zwischenstufen einer Reaktionskette nicht in einer bestimmten Mindestkonzentration vorliegen müssen, um durch Difusion die Enzym-Substrat-Bindung in zeitlich vertretbarer Abfolge zu sichern. Ein einzelnes Substratmolekül pro Teilenzym reicht aus, um die Reaktionsfolge in Gang zu halten, was für die Zelle höchst ökonomisch ist: Bei kleinsten stationären Konzentrationen lassen sich große Stofumsätze erzielen ( > Abb. 1.20).
Spezifische Hemmung von Enzymen. Mit geeigneten, genügend speziischen Inhibitoren lassen sich einzelne Biosyntheseschritte gezielt auf der Ebene der Enzyme inhibieren. Die selektive Hemmung des Mevalonat-Wegs der Terpenoidbildung durch Statine wurde weiter oben bereits dargestellt ( > Kap. 1.3). Selektive Inhibitoren der Ornithin-Decarboxylase einerseits und der Arginin-Decarboxylase andrerseits wurden eingesetzt, um den Hauptweg der Tropanalkaloid-Biosynthese zu inden. Dieser scheint zumindest in Datura stramonium nicht über die direkte Decarboxlierung von Ornithin zu Putrescin zu führen, sondern über Arginin und Agmatin ( > Abb. 1.21).
1.4 Aufklärung von Biosynthesewegen
1
. Abb. 1.19 CH
CH CH
CH2
C O
OH
HYDRATASE
CH2
DEHYDROGENASE
EPIMERASE
ISOMERASE
Schema zur Verdeutlichung des Begriffes „multifunktionelles Protein“ am Beispiel der Enzyme der β-Oxidation von Fettsäuren (aus Kindl 1994). Ein einziges Protein hat mehr als nur 1 katalytisches Zentrum. Hinweis: Von einem multifunktionellen Protein zu unterscheiden ist ein Multienzymkomplex, der aus mehreren assoziierten Enzymen (einem Enzymaggregat) besteht . Abb. 1.20 COOH H
COOH
NH2
COOH
H
H
H H
H
H Hydroxylase
PAL
L-Phenylalanin
Zimtsäure
weitere Sekundärstoffe
OH p-Cumarsäure
Trotz hoher Umsätze von L-Phenylalanin zu p-Cumarsäure kommt Zimtsäure nur in sehr geringen Konzentrationen in der Zelle vor. Das Zwischenprodukt Zimtsäure wird an einem Enzymkomplex sofort weitergereicht, um hydroxyliert zu werden, Beispiel für einen Vorgang, der nach dem „Fließbandprinzip“ abläuft („channeling“). PAL Phenylalaninammoniumlyase. Die Zimtsäurehydroxylyase arbeitet in einem Komplex mit PAL zusammen, stellt aber bereits selbst einen Enzymkomplex mit der NADPH-Cyt-P450-Oxidoreduktase dar (Kindl 1994)
1.4.3 Genetische und molekulargenetische Methoden Zu den genetischen und molekulargenetischen Methoden gehören alle Techniken, bei denen das Erbmaterial mehr oder weniger gezielt verändert wird. Dazu zählen die klassischen Kreuzungsexperimente und die ungerichtete Mutagenese unter Einsatz von Strahlung oder mutagenen
Substanzen, aber auch die modernen Ansätze der gerichteten, punktgenauen In-vitro-Mutagenese und dem horizontalen, also über Artgrenzen hinweg erfolgenden Gentransfer. Kreuzungsexperimente. In Kreuzungsexperimenten
wird das biosynthetische Potential der Kreuzungspartner kombiniert. Durch Kreuzungsexperimente und Akku-
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Prinzipien des Sekundärstoffwechsels
. Abb. 1.21
Durch die spezifische Inhibierung der Ornithindecarboxylase (DFMO, α-Difluormetyhlornithin) einerseits bzw. der Arginindecarboxylase (DFMA, α-Difluormethylarginin) andrerseits konnte gezeigt werden, dass der bevorzugte Weg der Tropanalkaloid-Biosynthese in Datura stramonium L. über Arginin und Agmatin läuft (Robins et al. 1991)
mulatanalyse lassen sich in einigen Fällen Rückschlüsse auf Biosyntheseschritte ziehen. Mittels dieser Methode wurde beispielsweise gefunden, dass in Papaver-Arten Codein nicht durch Methylierung aus Morphin entsteht, sondern dass der letzte Biosyntheseschritt in einer Entmethylierung besteht ( > Abb. 1.22). Von Papaver bracteatum lindl. ist eine Form bekannt, die viel hebain und praktisch kein Codein und Morphin enthält, während Papaver somniferum sowohl Morphin als auch Codein führt. Beide Arten wurden gekreuzt mit dem Ergebnis, dass im Bastard neben wenig hebain erhebliche Mengen an Morphin gefunden wurden. Dieses Versuchsergebnis wurde wie folgt interpretiert: Die genetische
Konstitution der thebainreichen Mutante von P. bracteatum erlaubt zwar die Synthese von hebain, doch fehlen die Gene zum Aubau der demethylierenden Enzyme; P. somniferum verfügt über diese Gene und steuert sie dem Bastard bei. Idiotrophe Mutanten. Idiotrophe Mutanten lassen Bio-
synthesewege und Zwischenstufen erkennen. Genetische Methoden der Auklärung von Biosynthesewegen sind v. a. für Sekundärstofe in Mikroorganismen angewendet worden. Zu diesen Methoden zählt die Identiikation von Biosynthesesequenzen durch idiotrophe Mutanten. Idiotrophe Mutanten beziehen sich auf den Sekundärstof-
. Abb. 1.22 H3CO
H3CO
HO
O-Methyloxidase O
O N
O
CH3
N
Thebain
N
CH3
HO
HO
H3CO
CH3
Codein
Morphin
Als Ergebnis einer induzierten Mutation akkumuliert eine Mutante von Papaver bracteatum über 95% der Gesamtalkaloide in Form von Thebain. Der Biosyntheseweg bis zum Thebain ist noch möglich, die Gene bzw. Enzyme für die weitere Umwandlung aber sind blockiert. Durch Einkreuzen von P. somniferum erhalten die Hybride die Fähigkeit, Thebain zu entmethylieren, erkennbar daran, dass nunmehr wenig Thebain akkumuliert wird
1
1.4 Aufklärung von Biosynthesewegen
. Abb. 1.23
. Abb. 1.24 G2
G1
Enzym 1 A
Enzym 2 B
G4
G3
Mutante X
Mutante Y
A
A
A
B
B
B
C
C
C
D
D
D
Enzym 4
Enzym 3 C
WILDSTAMM
D
Produkt
Normalform (Wildform)
G2 mutiert
G1
kein Enzym 2
Enzym 1 A
B
Biosynthese unterbrochen
Genetische Blockierung in einer auxotrophen Mutante durch Ausfall des Enzyms E2. Rückschlüsse auf die Konstitution der Zwischenstufen B und C ergeben sich a) aus der Anhäufung des Zwischenproduktes B und b) durch Normalisierung nach künstlicher Zufuhr (Supplementierung) der Substanz C zur Nährlösung. Die Methode geht von der Voraussetzung aus, dass jedes Gen G2 bis G4 für einen spezifischen Reaktionsschritt verantwortlich ist
wechsel und bilden eine Art Pendant zu den auxotrophen Mutanten des Primärstofwechsels, mit dem Unterschied, dass Letztere durch so genannte Komplementierungsexperimente ( > unten) sehr viel einfacher identiiziert und isoliert werden können als die idiotrophen Mutanten, deren Überlebensfähigkeit ja durch die Mutation nicht beeinträchtigt ist. Auxotrophe Mutanten (oder Defektmutanten) haben durch Mutation die Fähigkeit zur Synthese eines oder mehrerer primärer Stofwechselprodukte verloren ( > Abb. 1.23). Um auxotrophe Mutanten am Leben zu erhalten, muss dem Nährmedium der fehlende Stof zugesetzt werden, daher die Bezeichnung „auxotroph“ von griech.: auxe [Zuwachs, Vergrößerung] und trophein [ernähren], das übliche Nährmedium muss um einen weiteren Stof ergänzt werden. Idiotrophe Mutanten (griech.: idios [eigen, selbst]) sind hinsichtlich der Ernährungsansprüche unverändert (selbst), ihr Wachstum ist uneingeschränkt, sie haben aber durch Mutation die Fähigkeit zur Biosynthese eines oder mehrerer Sekundärstofe verloren. Würde man von außen den Stof zusetzen, der hinter einem blockierten Biosyntheseschritt liegt, so würde natürlich, ganz in Analogie zu den auxotrophen Mutanten, die
Sekundärprodukt
Anreicherung von A
Anreicherung von B
Mutante X
Mutante Y gemeinsame Kultur
Sekundärprodukt
Analyse eines Biosyntheseweges bei Mikroorganismen durch idiotrophe Blockmutanten. Komplementierung einer frühen Blockmutante X durch Metabolit B als Produkt einer Blockmutante Y mit späterer Unterbrechung im Syntheseweg (nach Gräfe 1992). Durch Einbeziehung weiterer Mutanten lässt sich die ganze Biosynthesesequenz ermitteln
Biosynthese weiterlaufen. In der Regel sind diese Zwischenprodukte nicht bekannt: Zur Komplementierung zieht man sekretierte Produkte von idiotrophen Stämmen heran, deren Biosynthese an einer späteren Stelle blockiert ist ( > Abb. 1.24). Dieses Prinzip wird als Kosynthese bezeichnet (McCormick et al. 1960). Bei der Identiizierung der verschiedenen Zwischenprodukte, die jeweils vor dem blockierten Enzym (fehlendes oder funktionsuntüchtiges Enzym) liegen, lässt sich die Reihenfolge der einzelnen Biosyntheseschritte nach und nach aufrollen – eine gelegentlich sehr mühsame Aufgabe, wenn z. B. über 80 verschiedene Blockmutanten induziert und isoliert werden müssen (Gräfe 1992). Idiotrophe Blockmutanten wurden bisher charakterisiert als vermehrungsfähige Mutanten, bei denen der Bio-
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Prinzipien des Sekundärstoffwechsels
syntheseweg eines Sekundärproduktes an einer oder an mehreren Stellen infolge fehlender Enzymaktivität unterbrochen ist. Daneben gibt es zwei weitere Blockadetypen: 1. Die Synthese essentieller Kofaktoren, die zur Biosynthese gebraucht werden, kann blockiert sein. 2. Es können regulatorische Gene ausfallen, die im Normalfall den Gesamtbiosyntheseweg einschalten. Kombinatorische Biosynthese. Kombinatorische Bio-
synthese erlaubt gezielte Veränderungen von Biosynthesewegen. Die Kosynthese im deinierten Sinne ( > oben) ist zu unterscheiden von der kombinatorischen Biosynthese (Hybridbiosynthese). Diese basiert auf der Anwendung molekulargenetischer Methoden zur Übertragung von Genen („Klonierung“), die für bestimmte Biosyntheseschritte notwendig sind und aus einem Spenderorganismus in einen Empfänger mit Hilfe geeigneter Vektoren (z. B. bakterielle Plasmide, Viren) übertragen und dort exprimiert werden. Es können auch mehrere Gene übertragen werden. Ziel der genetischen Transformation ist in diesem Falle nicht die Herstellung eines rekombinanten
Proteins, sondern die Integration des durch Genexpression gebildeten Proteins in den anabolen oder amphibolen Stofwechsel. In Mikroorganismen, wo die Biosynthesegene für bestimmte Stofe (z. B. Polyketide) häuig „geclustert“ vorkommen ( > Kap. 1.2), ist die genetische Manipulation des Biosyntheseweges relativ einfach. Zusätzlich können Biosynthesegene modular organisiert sein. Das bedeutet, dass bestimmte Gene oder Gengruppen als funktionelle Blocks zusammen gefasst sind. So gelingt es mittlerweile, Gene und Genfragmente ganz unterschiedlicher Organismen zu kombinieren ( > Abb. 1.25). Neben der Möglichkeit, zusätzliche Gene oder ganze Biosynthesemodule einzufügen, ergibt sich so die Möglichkeit, bestimmte Gene durch ortsgerichtete Mutagenese („site-directed mutagenesis“) so zu verändern, dass Enzyme mit veränderten katalytischen Eigenschaten entstehen. Dazu nutzt man unterschiedliche Techniken (z. B. PolymeraseKettenreaktion) mit deren Hilfe in vitro in klonierter DNA deinierte Mutationen erzeugt werden können. Durch Übertragung fremder Gene in antibiotikaproduzierende Mikroorganismenstämme ist es in einigen Fällen gelungen, neue Produktvarianten zu erhalten (Gräfe 1992).
. Abb. 1.25
Kombinatorische Biosynthese und „metabolic engineering“ bei der Hefe Saccharomyces cerevisiae. Folgende Gene wurden in die Hefe übertragen: ∆7-Reduktase (aus dem Genom der Ackerschmalwand), CYP11A1 (aus dem Genom des Rindes) und 3β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase (aus dem menschlichen Genom). Zur Umgehung von Ergosterol wurde außerdem das hefeeigene Gen ∆22-Desaturase inaktiviert. Ergosta-5,7,22,24(28)-tetraen-3β-ol ist nämlich auch ein Substrat der ∆7-Reduktase (Duport et al. 1998)
1.4 Aufklärung von Biosynthesewegen
! Kernaussage
Für die erfolgreiche Ordnung der sekundären Naturstoffe nach biogenetischen Prinzipien ist es notwendig, die Biosynthesewege, auf denen die verschiedenen Stoffe bzw. Stoffgruppen gebildet werden, aufzuklären. Mit Hilfe von Isotopen lassen sich synthetisierte Stoffe markieren; die Markierung kann durch Strahlungsmessung (radioaktive Isotopen), Massenspektrometrie oder Kernresonanzspektroskopie (schwere stabile Isotopen) nachgewiesen und lokalisiert werden. An der Biosynthese beteiligte Enzyme
und Gene werden mit Hilfe biochemischer und molekulargenetischer Methoden isoliert und charakterisiert. Durch gerichtete oder ungerichtete Mutagenese lassen sich bestimmte Biosynthesegene ausschalten oder verändern. Durch Kreuzungsexperimente und Gentransfer können Biosynthesewege ergänzt oder komplementiert werden. Pflanzliche Zellsuspensionskulturen sind für Biosynthesestudien besonders gut geeignet, weil sie in großen Mengen ähnlich wie Mikroorganismen gezüchtet werden können.
6 Schlüsselbegriffe 1-Desoxy-D-Xylulose (DOX) 13C-Kernresonanz-Spektroskopie (13C-NMR) 2-Methylerythritolphosphat (MEP) 3-Hydroxy-3-methylglutaryl-CoA Acetatregel Acetylcoenzym A Alkaloide Aminosäureregel Amphibolismus Anabolismus ATP Auxotrophe Mutanten C1-Bausteine C2-Bausteine C5-Bausteine Chorisminsäure Citrat-Zyklus Codon usage Dimethylallyldiphosphat (DMAPP) Enzyminhibitoren Enzyme Enzymkomplexe
1
Enzymreinigung Evolution Gen-Cluster Genduplizierung Genetischer Code Glykolyse Idiotrophe Mutanten Isopentenyldiphosphat (IPP) Isoprenregel Katabolismus Kombinatorische Biosynthese Lysin Massenspektrometrie Metabolic engineering Metabolisches Netz Metabolite channelling Mutagenese Mutationen Naturstoffe Ontogenetische Variabilität Ornithin Ortsgerichtete Mutagenese Pentosephosphat-Zyklus
Pflanzliche Zellsuspensionskultur Phenylalanin Phenylpropane Phytoalexine Polyketide Primärstoffwechsel Pulse-Chase-Experiment Pyridoxalphosphat Radioaktive Isotopen S-Adenosylmethionin Schwere Isotopen Sekundäre Naturstoffe Sekundärstoffe Sekundärstoffwechsel Shikimisäureweg Terpenoide Tracertechnik Transaminierung Tryptophan Tyrosin Zuckernukleotide
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Prinzipien des Sekundärstoffwechsels
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2 2 Einführung in die Analytik sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe anhand ausgewählter Beispiele J. Heilmann 2.1
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2.2
Aufarbeitung und Extraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
34
2.3
Chromatographische Trennung und Isolierung . . . . . . . . . . . 2.3.1 Dünnschichtchromatographie und Fließmitteloptimierung 2.3.2 Säulenchromatographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 MPLC und HPLC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.4
Strukturauklärung und Substanzcharakterisierung 2.4.1 NMR-Spektroskopie . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Massenspektrometrie . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Ultraviolettspektroskopie (UV-Spektroskopie)
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35 35 40 40
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43 43 50 55
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einführung in die Analytik sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe anhand ausgewählter Beispiele
> Einleitung Bei einer Betrachtung der Analytik von sekundären Pflanzeninhaltsstoffen kann man auf den ersten Blick den Eindruck gewinnen, dass sich die dort angewendeten analytischen Methoden nicht wesentlich von denen anderer Fachrichtungen unterscheiden. Ebenso wie in der organischen oder pharmazeutischen Chemie sind die Dünnschichtchromatographie (DC), die Chromatographie mittels einer offenen Säule (SC) sowie die Hochdruckflüssig- bzw. Hochleistungsflüssigkeitschromatographie (HPLC) unentbehrliche Methoden zur Isolierung und Reinigung einer Substanz. Ebenso verhält es sich mit den zur Strukturaufklärung bzw. Substanzcharakterisierung eingesetzten Techniken. Zentrale Methoden der Strukturaufklärung sind die Ultraviolett-Spektroskopie (UV), die Massenspektrometrie (MS), die Kernresonanzspektroskopie (NMR) und die Röntgenstrukturanalyse. Bei der Substanzcharakterisierung sind neben der Elementaranalyse, die Bestimmung der optischen Drehung (Polarimetrie) und die Bestimmung des Schmelzpunktes zu nennen. Bei näherer Betrachtung fallen jedoch zahlreiche Besonderheiten auf, die in ihrer Summe zu einer eigenen Identität des Fachgebietes Analytik sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe führen. Diese Besonderheiten basieren wesentlich auf der Herkunft, der Qualität und der Beschaffenheit des in der Regel sehr komplex zusammengesetzten Untersuchungsmaterials. Ganz besonders deutlich wird dies am Beispiel der Gehaltsbestimmungen im Bereich der Qualitätskontrolle und -sicherung von pflanzlichen Extrakten. Sie werden in Anlehnung an das Europäische Arzneibuch in standardisierte, quantifizierte und andere Extrakte eingeteilt (Franz 2002). Der Begriff „standardisiert“ fasst Extrakte zusammen, für die bekannt ist, auf welche Inhaltsstoffe die therapeutische Wirkung zurückgeht (z. B. bei Sennesblättern) und die Gehaltsbestimmung wird entsprechend darauf ausgerichtet. Bei quantifizierten Extrakten wird der therapeutische Effekt nicht von einer einzelnen Substanz (bzw. -klasse) bestimmt, sondern von mehreren. Für diese „wirksamkeitsmitbestimmenden“ Inhaltsstoffe wird ein definierter Gehaltsbereich eingestellt (z. B. bei Extrakten aus Johanniskraut). Als „andere Extrakte“ werden diejenigen bezeichnet, die eine nachgewiesene klinische Wirksamkeit besitzen, jedoch kei-
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ne der enthaltenen Inhaltsstoffklassen direkt mit dieser Wirkung in Zusammenhang gebracht werden kann (z. B. bei der Baldrianwurzel). Die Qualitätssicherung eines solchen Extrakts kann nur über den Herstellungsprozess erfolgen und man behilft sich mit der Quantifizierung einer Leitsubstanz. Es ist daher nicht die Absicht dieses Kapitels, die theoretischen Grundlagen der verschiedenen chromatographischen und spektroskopischen Verfahren im Detail herauszuarbeiten. Hier sei auf bereits vorhandene Lehrbücher und Literatur (wie z. B. von Hesse et al. 2005; Adam u. Becker 2000; Neugebauer et al. 2001) verwiesen. Vielmehr sollen spezifisch pharmazeutisch-biologische Frage- und Problemstellungen an ausgewählten Beispielen aufgezeigt sowie Strategien und praktische Hinweise zur deren Lösung gegeben werden.
2.1 Allgemeines Wie im Kapitel „Moderne Bioassay-Methoden“ (Kap. 6) erläutert, leistet die Pharmazeutische Biologie mit der Aufindung, Isolierung und Charakterisierung von biologisch aktiven Sekundärstofen aus lebenden Organismen (Planzen, Mikroorganismen) einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung von neuen Leitstrukturen. Das Planzenmaterial kann in der Regel nicht direkt einer Analyse zugeführt werden, sondern muss zunächst geschnitten bzw. zerkleinert und danach extrahiert werden. Die enthaltenen Extrakte können zum einen mittels aufeinander folgender säulenchromatographischer Verfahren an verschiedenen stationären Phasen aufgetrennt werden. Die Auswahl einer sinnvollen Methode und einer geeigneten stationären Phase ist dabei wesentlich von der Art und der Menge des vorhandenen Extrakts abhängig ( > Abb. 2.1). Führt die Verwendung von ofenen Säulen oder das Anlegen eines leichten Drucks (bzw. Vakuums) noch nicht zur Isolierung von Reinsubstanzen, so kommen mit abnehmender Komplexizität und kleiner werdenden Fraktionen auch leistungsfähigere Methoden wie die MPLC (Mitteldrucklüssigkeitschromatographie) und die (präparative bzw. semipräparative) HPLC zum Einsatz. Eine andere Möglichkeit, komplexe Extrakte aufzuarbeiten, beruht in der Anwendung von Verteilungs- und Ausschüttelvorgängen (Flüssig/Flüssig-Verteilungen), die auch automatisiert ablaufen können („high-speed countercurrent chromato-
2.1 Allgemeines
2
. Abb. 2.1
Isolierung der Hauptinhaltsstoffe (Lignane) aus einem lipophilen Extrakt der oberirdischen Teile von Phyllanthus piscatorum (Euphorbiaceae). Die Aufarbeitung erfolgt zunächst mittels VLC, an die sich offene Säulen- und HPLC-Verfahren zur Isolierung bzw. Endreinigung anschließen. VLC Vakuum-Flüssig-Chromatographie, DCM Dichlormethan
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Einführung in die Analytik sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe anhand ausgewählter Beispiele
graphy“, HSCCC). Beide Strategien, die Anwendung von Säulenchromatographie oder Verteilungsverfahren, können auch miteinander kombiniert werden. Zur Beurteilung des Trennerfolgs und der Analyse von entstandenen Fraktionen wird fast immer die DC eingesetzt. Mit Hilfe verschiedener speziischer und unspeziischer Sprühreagenzien können auch erste Strukturinformationen erhalten werden. Infobox Präparative und semipräparative Methoden. Eine Methode wird als präparativ bezeichnet, wenn sie die Isolierung und Reinigung einer Substanz zum Ziel hat. Semipräparative Methoden haben das gleiche Ziel, jedoch sind die dafür gewählten Bedingungen, wie z. B. Säulengröße oder Flussrate, zum Teil eher analytischer Natur. Die isolierten Substanzmengen liegen bei semipräparativen Methoden etwa im Bereich von 0,1–10 mg.
Unter den Methoden zur Strukturauklärung einer isolierten Verbindung hat neben der NMR-Spektroskopie auch die Massenspektrometrie eine herausragende Bedeutung erlangt. In den letzten Jahren ist die Kopplung dieser beiden Verfahren mit der HPLC immer wichtiger geworden, da sie auch die Identiizierung von sehr kleinen Substanzmengen in einem komplexen Gemisch ohne vorherige Isolierung erlaubt. Die HPLC/MS und HPLC/NMRKopplungen sollen im folgenden Kapitel jedoch ausgeklammert werden, da sie eine besonders wichtige Rolle bei verschiedenen Screening-Methoden spielen und entsprechend im Kap. 5 besprochen werden. Es muss jedoch an dieser Stelle explizit darauf hingewiesen werden, dass diese modernen Techniken nicht die Isolierung einer Substanz ersetzen sollen. Vielmehr kann die aufwendige Isolierung bereits bekannter Naturstofe vermieden und die Auindung von neuartigen Strukturen wesentlich erleichtert werden. Zur Durchführung einer pharmakologischen Testung ist die saubere Isolierung und physikalisch-chemische Charakterisierung einer Verbindung nach wie vor ein nicht umgehbares Muss. Ein weiteres großes Aufgabengebiet der Pharmazeutischen Biologie ist die Sicherung der Qualität von Arzneiplanzen und der verschiedensten daraus gewonnenen Zubereitungen. Für zahlreiche Drogen, Extrakte und Naturstofe werden die Standards zur Qualitätssicherung vom Europäischen bzw. Deutschen Arzneibuch durch die Erstellung von Monographien festgelegt. Mit Hilfe ver-
schiedener Verfahren, wie der Mikroskopie, der klassischen DC, der Hochleistungsdünnschichtchromatographie („high performance thin layer chromatography“, HPTLC), der Gaschromatographie (GC) und der HPLC werden die Anforderungen für die Identität, die Reinheit und den Gehalt einer Droge (bzw. einer entsprechenden Zubereitung) überprüt. Bei den Gehaltsbestimmungen muss dabei prinzipiell zwischen der Bestimmung eines Gesamtgehalts und der Gehaltsbestimmung für eine einzelne Verbindung unterschieden werden. Bei einer Gesamtgehaltsbestimmung, die u. a. typisch für Flavonoid-, aber auch für Gerbstof- und Anthranoiddrogen ist, werden verschiedene Verbindungen, die eine gleichartige oder gleichartig reagierende Partialstruktur besitzen, über eine Gruppenreaktion gemeinsam erfasst. Bei der getrennten quantitativen Bestimmung einer oder auch mehrerer deinierter Verbindungen nebeneinander, muss der Bestimmung eine geeignete Trennmethode mit Hilfe einer chromatographischen Methode vorangehen. Dieser Bereich, der neben den Gehaltsbestimmungen auch die quantitativen Reinheits- und Stabilitätsprüfungen umfasst, ist eine fast absolute Domäne der gekoppelten Verfahren wie z. B. der HPLC/UV-, HPLC/MS-, GC/MS- oder HPTLC/Scanner-Kopplungen. Da in einer Droge bzw. der entsprechenden Zubereitung ein sehr komplexes Gemisch von Substanzen vorliegt, ergeben sich für die Identitäts- und Reinheitsprüfung sowie für die Gehaltsbestimmung außerordentliche Herausforderungen, die so in anderen Fachgebieten nicht existieren.
2.2 Aufarbeitung und Extraktion Die Isolierung von Sekundärstofen aus Planzen beginnt in der Regel mit der schonenden Trocknung des Ausgangsmaterials (30–40 °C). Nach einem Zerkleinerungsschritt werden die niedermolekularen Inhaltsstofe durch fraktionierte Extraktion mit einer eluotropen Lösungsmittelreihe, d. h. in Richtung steigender Elutionswirkung geordnet, von den polymeren Trägersubstanzen (Cellulose, Lignin usw.) abgetrennt. Um eine efektive Extraktion zu gewährleisten, muss das Material eine bestimmte Korngröße aufweisen, wobei eine geringe Korngröße (und Wärme) maßgeblich die Extraktion fördert. Mahlvorgänge zur Zerkleinerung und Homogenisierung des Probenmaterials sind aber in der Regel zeitaufwendig und belasten die Probe thermisch wie mechanisch, sodass die Körnung stets nur so fein wie nötig gewählt werden sollte. Dies
2.3 Chromatographische Trennung und Isolierung
trit besonders für verholzte (= harte) Planzenteile wie Rhizome, Wurzeln oder Rinden zu, die insbesondere bei der Verwendung einer kleineren bzw. weniger leistungsstarken Mühle einer Vorzerkleinerung bedürfen. Zur Einstellung des gewünschten Korngrößenbereichs dient ein in die Mühle integrierter Siebeinsatz, wobei für Naturstofextraktionen eine mittlere Körnung von 0,34,0 mm üblicherweise genügt. Im Europäischen und Deutschen Arzneibuch wird der Zerkleinerungsgrad einer Droge durch eine Siebnummer deiniert, die die lichte Maschenweite in Mikrometern bezeichnet. Zur Durchführung der in den Monographien vorgeschriebenen Untersuchungen werden bei Drogen häuig die Siebe 180 und 355 verwendet. Von Sonderfällen abgesehen, muss bei der Extraktion zwischen folgenden vier Arbeitstechniken diferenziert werden: 1) Mazeration, 2) Digestion, 3) Perkolation und 4) Soxhlet-Extraktion. Mazeration und Perkolation laufen unter Raumtemperatur ab, Digestion und Soxhlet-Extraktion hingegen bei 40–50 °C. Andererseits spielen sich 1) und 2) jeweils in stehendem, 3) und 4) aber in ließendem Lösungsmittel ab. Zur Extraktion können generell nicht nur Lösungsmittel, sondern auch überkritische Gase, insbesondere CO2, verwendet werden. Für phytochemische Untersuchungen stellt die Perkolation mit ihren Vorzügen, d. h. erschöpfende Extraktion (ständiger Austausch von gesättigtem gegen frisches Lösungsmittel) unter Schonung der Inhaltsstofe bei Raumtemperatur und apparativ einfacher Durchführung, im Allgemeinen die Methode der Wahl dar. Zu diesem Zweck wird das – zur Äquilibrierung der Durchlussrate – mit Seesand ausgiebig gemischte und in Lösungsmittel vorgequollene Drogenpulver langsam bei einer Abtropfgeschwindigkeit von 25 ml pro Minute (für >500 g Arzneidroge) so vollständig wie möglich unter DC-Kontrolle extrahiert. Im Verlauf einer mehrtägigen Extraktion wird über Nacht der Auslauf verschlossen und die Droge somit mazeriert. Ferner ist zu beachten, dass sich eine 100%ige Extraktion prinzipiell aufgrund ständig neu entstehender Konzentrationsgleichgewichte ausschließt und das Perkolationsverfahren somit nur bis zu einem bestimmten Grad ökonomisch fortgeführt werden kann und soll. Die hermolabilität zahlreicher Naturstofe erfordert das Einengen von Extrakten unter schonenden Bedingun-
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gen und zugleich geringem Zeitbedarf. Als Apparatur der Wahl haben sich Vakuum-Rotationsverdampfer bewährt, da durch ständiges Drehen des maximal halbvollen Kolbens der dünne Extraktilm an der Gefäßinnenwand ein rasches Verdampfen des Lösungsmittels ohne lokale Überhitzung ermöglicht.
2.3 Chromatographische Trennung und Isolierung 2.3.1 Dünnschichtchromatographie und Fließmitteloptimierung Bei diesem Trennverfahren beindet sich eine dünne, aus feinkörnigem Material bestehende stationäre Phase auf einer Trägerplatte aus Glas oder Metall. Der entscheidende Vorteil dieser Methode liegt im geringen apparativen Aufwand und Zeitbedarf neben minimalem Verbrauch an Untersuchungsmaterial. Die zur DC geeignete Anordnung umfasst zunächst die vollständig (!) gelöste Probe in punkt- oder strichförmiger Autragung (Abstand zum unteren Rand: 10–15 mm, Abstand zu den Seitenrändern 10 mm, Abstand untereinander ~10 mm). Bei der DCTrennung von Extrakten (= Vielstofgemischen) erhält man mit einer bandenförmigen Applikation ein einheitlicheres und übersichtlicheres Chromatogramm. Nach Einstellen der Platte oder Folie in eine dicht schließende Kammer mit geeignetem Fließmittel wandert dieses über Kapillarkräte in der Sorptionsschicht nach oben, wobei die Trennung der im Startleck enthaltenen Komponenten entsprechend ihren chromatographischen Eigenschaten erfolgt. Sehr häuig wird Kieselgel als stationäre Phase verwendet. Es ermöglicht die Trennung von Substanzen unter den Bedingungen der Adsorptions- und Verteilungschromatographie. Das Kieselgel ist häuig mit einem anorganischen Lumineszenzindikator belegt. Bei einer Bestrahlung mit Licht der Wellenlänge 254 nm können so direkt Substanzzonen identiiziert werden, die auf Grund von Absorptionsvorgängen ( > UV-Spektroskopie) zu einer Löschung auf der Platte führen. Das Fließmittel sollte von seiner Polarität so ausgewählt werden, dass die in der Analyse enthaltenden Substanzen Rf-Werte zwischen ~0,2–0,8 zeigen. Bei Verbindungen, die auf Grund ihrer Basizität oder Azidität zur Dissoziation neigen, empiehlt sich der Zusatz von Fließmittelkomponenten, die die Dissoziation zurückdrängen, da es sonst zum Tailing (= Schwanzbil-
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36
2
Einführung in die Analytik sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe anhand ausgewählter Beispiele
. Abb. 2.2
366
Vergleich der konventionellen DC mit der HPTLC am Beispiel des Citronenöls (PhEur). Als Fließmittel wurde Ethylacetat– Toluol (15 : 85) gewählt. Detektion: UV 254 und 366 nm. Als Referenzsubstanzen wurden Citropten (10 mg/10 ml) und Citral (50 µl/10 ml) gewählt. Sowohl bei DC als auch bei der HPTLC sind auf Bahn 1 und 3 die Untersuchungslösungen und auf der Bahn 2 die Referenzlösungen aufgetragen. Die Bandenbreite bei der DC lag bei 2 cm (je 10 µl Untersuchungs- bzw. Referenzlösungen), bei der HPTLC dagegen bei 1 cm (Untersuchungslösung 1 und 3: 2 und 3 µl, Referenzlösung: 5 µl). Das mit der HPTLC erhaltene Bandenmuster entspricht der Beschreibung nach dem Arzneibuch, sodass ein Identitätsnachweis mittels HPTLC eindeutig möglich ist. Insgesamt liegen die Rf -Werte bei der HPTLC (Citral: 0,54 vs. 0,46; Citropten: 0,39 vs. 0,31) etwas höher, die Entwicklungszeit ist um knapp 30 Minuten verkürzt und das Auftragevolumen konnte reduziert werden. Laufstrecke: 15 cm DC, 7,5 cm HPTLC (mit freundlicher Erlaubnis von Prof. Dr. G. Franz, Regensburg)
2.3 Chromatographische Trennung und Isolierung
dung) kommt. Bei sauren Verbindungen wie z. B. Phenolen (Flavonoide, Kafeesäurederivate) eignet sich der Zusatz von Essigsäure und/oder Ameisensäure (ein typisches Fließmittel für Flavonoidglykoside ist: Ethylacetat Ameisensäure–Essigsäure–Wasser 100 : 11 : 11 : 27); bei basischen Verbindungen wie z. B. Alkaloiden verwendet man gerne Ammoniakwasser. Kieselgel kann durch die kovalente Bindung von Alkylgruppen, Alkylamino- oder Alkylcyanogruppen modiiziert werden, wodurch sich eine wesentliche Veränderung der Trenneigenschaten ergeben kann. Sehr häuig werden Alkylgruppen mit einer Kettenlänge von 8 oder 18 Kohlenstofatomen verwendet. Es entsteht RP-(„reversed phase“-)8 bzw. -18Material. Als Fließmittel für diese stationären Phasen bieten sich Methanol-Wasser- bzw. Acetonitril-WasserGemische an. Die HPTLC stellt hinsichtlich des Trennvermögens, des Materialverbrauchs (u. a. geringere Fließmittelmengen) und des Zeitbedarfs eine Verbesserung der klassischen DC dar ( > Abb. 2.2). Die stationäre Phase liegt auf einem Glasträger und ist mit Schichtdicken von 0,1– 0,2 mm dünner aufgetragen als bei konventionellen analytischen DC-Platten (0,2–0,25 mm). Daneben unterscheiden sich DC und HPTLC hinsichtlich Korngrößenverteilung und mittlerer Korngröße. Zur Herstellung von HPTLC-Platten werden mittlere Korngrößen um die 6 µm (15 µm bei DC) bei gleichzeitig sehr einheitlicher Korngrößenverteilung verwendet. Dies führt zu einer Verbesserung der Trennleistung bei gleichzeitig geringerer Trennstrecke. Dies macht sich durch eine verbesserte Auflösung neben geringerer Bandenverbreiterung bemerkbar. Eine besonders gute Aulösung erhält man im Rf-Bereich zwischen 0,3 bis 0,4. Das Autragevolumen für die HPTLC liegt bei etwa 10–30% des für die klassische DC vorgeschriebenen Volumens. Die Entwicklung erfolgt idealerweise über eine Trennstrecke von 6 cm. Bei der HPTLC liegt die Entwicklungszeit etwa bei der Hälte der Zeit, die man für die Entwicklung der DC benötigen würde. Ein weiterer, durchaus wichtiger Kostenfaktor sind die nach Arzneibuch vorgesehenen, zuweilen relativ teuren Referenzsubstanzen. Dies kann durch die Einführung der HPTLC ebenfalls reduziert werden. Auch im Bereich der quantitativen Bestimmungen hat die Einführung der HPTLC wesentliche Fortschritte erbracht. Über die Kopplung mit einem DC-Scanner (densitometrische Bestimmung) sind für Extrakte leistungsfähige Trennungen und daran anschließende Gehaltsbestimmungen etabliert worden (Oberthür et al. 2004), die
2
den äquivalenten HPLC-Methoden nicht oder nur wenig nachstehen (Günther u. Schmidt 2004). In der Naturstofchemie verwendet man die DC vor allem als analytisches, aber auch als präparatives Verfahren. Analytische Problemstellungen sind beispielsweise die Optimierung von Fließ- und Extraktionsmittel, die Kontrolle von Fraktionen und Unterfraktionen bei Trennprozessen, die Identitäts-, Stabilitäts- und Reinheitsprüfung von Drogen (beispielsweise durch Fingerprint-Chromatogramme), die Identiizierung von bekannten Substanzen sowie die Gehaltsbestimmung. Bei analytischen Fragestellungen werden in der Regel Substanzmengen von 1–10 µg aufgetragen. Die präparative Dünnschichtchromatographie basiert auf dem Trennprotokoll des analytischen Ansatzes und dient zur raschen Isolierung kleiner Substanzmengen im Milligrammbereich. Mit konventionellen analytischen DC-Platten können auch in semipräparativem Maßstab Substanzen getrennt und isoliert werden. Für die präparative Trennung empiehlt sich die Verwendung von Platten mit einer Schichtdicke von 1–2 mm. Zur Durchführung wird das Substanzgemisch in einem möglichst lüchtigen Lösungsmittel vollständig gelöst und am Start in einer schmalen Bande über die gesamte Breite der Platte aufgetragen ( > Abb. 2.3). Nach der Entwicklung wird die Substanz lokalisiert und (nach dem Abkratzen oder Ausschneiden der entsprechenden Zone) mit einem geeigneten Lösungsmittel desorbiert. In der Regel werden bei der Verwendung von Kieselgel-Platten aber auch Bestandteile der stationären Phase mit gelöst, die die Aufnahme sauberer NMR- und MS-Spektren behindern. Infobox Rf -Wert. Der Rf -Wert oder Retentionsfaktor berechnet sich aus dem Quotienten aus der Entfernung von Start und der Substanzzone (Zähler) und der Entfernung von Start und der Front der mobilen Phase (Nenner). Er besitzt keine Dimension und nimmt Werte zwischen 0 (Substanz verbleibt am Start) und 1 (Substanz wandert mit der Front der mobilen Phase) an. Fingerprint. Mit einem Fingerprint-Chromatogramm wird geprüft, ob zwei zu untersuchende Proben das gleiche Inhaltsstoffsmuster (Fingerprint) aufweisen. Dies ist beispielsweise bei der Reinheitsprüfung von Phytopharmaka von erheblicher Bedeutung. Da vielfach der
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2
Einführung in die Analytik sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe anhand ausgewählter Beispiele
gesamte Extrakt als Wirkstoff aufgefasst wird, gilt es nicht als ausreichend, nur die Stabilität einiger Substanzen mit bekannter therapeutischer Aktivität nachzuweisen. Vielmehr müssen auch andere Substanzen im Extrakt konstant bleiben. Mit einer Analyse des Fingerprints kann überprüft werden, ob sich das Inhaltsstoffsmuster auch nach bestimmten Lagerungsfristen nicht wesentlich verändert hat.
Der Erfolg einer jeden chromatographischen Trennung wird wesentlich von der sorgfältigen Auswahl des Fließmittels mit bestimmt. Die Auswahl kann rein empirisch, in Anlehnung an Literaturangaben oder auch systematisch „ab initio“ erfolgen. Eine systematische Optimierung eines Fließmittels, sei es zur Verwendung für die DC oder SC, lässt sich dünnschichtchromatographisch mit Hilfe des „PRISMA“-Modells erreichen (Nyiredy . Abb. 2.3
Schematische Darstellung einer präparativen DC, wobei die einzelnen Zonen jeweils einer Substanz entsprechen. Die Substanzen 1 und 2 sind überlagert und können nicht als Reinsubstanzen gewonnen werden. Bei den Substanzen 4 und 5 handelt es sich um Minorkomponenten. Bei solchen Verbindungen reicht häufig die isolierbare Menge nicht für eine Strukturaufklärung aus. Substanz 3 ist die Hauptkomponente und nicht durch andere Substanzzonen überlagert. Zu ihrer Gewinnung wird die stationäre Phase in dieser Zone abgekratzt und die Verbindung mit Hilfe eines geeigneten Lösungsmittels desorbiert
et al. 1985). Die Optimierung geht von der Einteilung gebräuchlicher Lösungsmittel in Selektivitätsgruppen ( > Tabelle 2.1) aus, unter Berücksichtigung der jeweiligen Eigenschaten als Protonenakzeptor, -donator und/ oder Dipol. Innerhalb einer Selektivitätsgruppe herrschen trotz unterschiedlicher Lösungsmittelstärken (Si) ähnliche chromatographische Merkmale vor, wobei sich die Lösungsmittelstärke ST einer Mehrkomponentenphase mit . Tabelle 2.1 Gebräuchliche Lösungsmittel zur Optimierung einer DC-Trennung Gruppe
Lösungsmittel
Lösungsmittelstärke (Si)
n-Hexan
0,1
I
n-Butylether Isopropylether Methyl-tert-butylether Diethylether
2,1 2,4 2,7 2,8
II
n-Butanol Isopropylalkohola n-Propanol Ethanol Methanol
3,9 3,9 4,0 4,3 5,1
III
Tetrahydrofuran Pyridin Methoxyethanol Dimethylformamid
4,0 5,3 5,5 6,4
IV
Essigsäureb Formamid
6,0 9,6
V
Dichlormethan Ethylenchlorid
3,1 3,5
VI
Essigsäureethylester Methylethylketon Dioxan Aceton Acetonitril
4,4 4,7 4,8 5,1 5,8
VII
Toluol Benzol Nitrobenzol
2,4 2,7 4,4
VIII
Trichlormethan Nitromethan Wasser
a b
4,1 6,0 10,2
nicht „Isopropanol“, da ein Alkan „Isopropan“ nicht existiert! Zusatz als Modifikator zu 0,5% (v/v).
2.3 Chromatographische Trennung und Isolierung
dem Volumenbruch \L pro Lösungsmittel wie folgt berechnet: n
ST = ∑ i = 1 Si ψi
(1)
wobei Si die Lösungsmittelstärke eines Lösungsmittels, ST die Lösungsmittelstärke einer Mehrkomponentenphase und ψi der Volumenbruch pro Lösungsmittel darstellt. Si beziehungsweise ST bestimmen dabei maßgeblich die Retentionszeit und somit den Rf -Wert für aufzutrennende Komponenten. Bei „PRISMA“ handelt es um ein geometrisches Modell ( > Abb. 2.4) zur Beschreibung aller beliebigen quaternären (Innenraum), ternären (Seitenlächen) und binären (Kanten) Lösungsmittelgemische unter vertikaler Autragung der Lösungsmittelstärken (Kantenhöhe) und horizontaler Darstellung der Fließmittelselektivität (Mischungspunkte im gleichseitigen Dreieck). Zur Entfernung des oberen, irregulären Teils schneidet man das Prisma auf der Höhe der kürzesten Kante, in diesem Fall für die Lösungsmittelstärken ST (2) = ST (3), parallel zur Grundläche ab, indem gemäß obiger Gleichung ST (1) durch Zu-
2
mischen benötigter Volumenanteile von n-Hexan auf das Niveau der beiden anderen, unverdünnten Elutionsmittel (ST (2/3) = S2/3) gesenkt wird. So muss beispielsweise zur Halbierung von ST (1) der Anteil an n-Hexan, eines weitgehend inerten Lösungsmittels von vernachlässigbarer Stärke (S = 0,1), 50% (v/v) betragen. Zu Beginn der „PRISMA“-Optimierung prüt man konkret mindestens zwei der in > Tabelle 2.1 genannten Lösungsmittel pro Gruppe in unverdünnter Form auf ihre Eignung zur Separation vorliegender Fraktionen, wobei Wasser sowie Essigsäure als Modiikatoren für stark polare Komponenten nur verdünnt zum Einsatz kommen. Die Beurteilung der Trenneigenschaten hat im Rf -Bereich von 0,20,8 zu erfolgen (bei Übertragung auf eine SC-Trennung besser nur im Rf -Bereich 0,20,5), unter eventueller Korrektur durch n-Hexan, womit die jeweiligen Elutionsmittel unbegrenzt mischbar sein müssen. Auf DC-Folien können diese Untersuchungen rasch und ökonomisch mit je 10 ml Fließmittelgemisch durchgeführt werden. Nach Auswahl der drei am besten geeigneten Elutionsmittel gemäß maximaler Anzahl an getrennten Substanzen bei größtmöglichen ∆Rf-Werten konstruiert man durch An-
. Abb. 2.4a,b
a
b Das Prisma Modell (verändert nach Nyiredy et al. 1985). a Angleichung der Lösungsmittelstärken; b Kombination der mobilen Phase
39
40
2
Einführung in die Analytik sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe anhand ausgewählter Beispiele
gleichen der Lösungsmittelstärken – in Orientierung an der schwächsten Komponente – den regulären Teil des Prismas. Für die Ermittlung der besten LösungsmittelKombination wird die Dreiecksläche primär anhand der Eck- und Mittelpunktskoordinaten (811, 181, 118, 433) abgetastet. Sofern nötig, lässt sich auch die Lösungsmittelstärke der Gesamtmischung unter Beibehaltung der gewählten Selektivität mit n-Hexan erniedrigen. Sollte bei besonders schwierigen Trennproblemen für unpolare Gemische dieses Prozedere nicht zum Erfolg führen, so konstruiert man ein neues reguläres Prisma mit weiteren geeigneten Fließmitteln, überprüt andere Kombinationskoordinaten oder reduziert die Zahl der Elutionskomponenten auf zwei. Im Falle entsprechender Probleme mit polaren Gemischen setzt man wiederum zuerst weitere geeignete Fließmittel ein, weicht anschließend in den irregulären Teil des Prismas aus, prüt andere Selektivitätspunkte oder verringert die Zahl der in Frage kommenden Fließmittel auf zwei (Nyiredy et al. 1985, 1988).
2.3.2 Säulenchromatographie Phytochemisch zieht man die klassische oder ofene SC als Trenn- und Reinigungsverfahren im kleinen wie großen Maßstab am häuigsten heran. Die stationäre Phase beindet sich eingeschlossen in einem nach unten verjüngten Glasrohr. Die mobile Phase transportiert das zu trennende Substanzgemisch bei unterschiedlich starker Retention der Einzelkomponenten durch die Säule. Als wichtigste Trennprinzipien kommen Adsorptions-, Gel-, Ionenaustausch- und Verteilungschromatographie in Frage. Optimale Trennungen mit Hilfe der SC setzen stationäre Phasen in möglichst kleiner und gleichmäßiger Körnung, eine gleichmäßige Säulenfüllung und eine geeignete Fließgeschwindigkeit voraus ( > van Deemter Gleichung; Rücker et al. 2001). Für die SC mit Kieselgel als stationärer Phase wird in der Regel Material mit einem Durchmesser von 63–200 µm verwendet, da mit kleiner werdendem Partikeldurchmesser der Widerstand gegenüber der mobilen Phase zu stark wächst und die Tropfgeschwindigkeit sehr gering wird. Bei einer Trennung mittels SC gilt die grobe Faustregel, dass ein Teil des zu trennenden Substanzgemisches die hundert- bis fünhundertfache Menge an stationärer Phase und die fünhundert- bis füntausendfache an mobiler Phase erfordert. Zum Autragen auf die Säule wird die Fraktion entweder vorher in möglichst wenig Fließmittel gelöst und lüssig aufgetragen oder an möglichst
wenig stationärer Phase adsorbiert und vorsichtig auf die eingeschlämmte Säule gestreut. Zur Grobtrennung von Rohextrakten wird die Vakuumlüssigkeitschromatographie (VLC) eingesetzt. Das Substanzgemisch wird an eine möglichst kleine Menge der stationären Phase adsorbiert auf die (trockene) Säule aufgegeben und das Fließmittel mit Hilfe von Unterdruck (Wasserstrahlpumpe) durch die Säule gesaugt. Im Vergleich zur SC kann mit kleineren Korngrößen (30–70 µm) und einer erheblich höheren Beladung der Säule mit Probenmaterial gearbeitet werden (maximal 1:10, normalerweise ~1:25). Als Fließmittel werden in der Regel Stufengradienten, beispielsweise längs einer eluotropen Reihe, verwendet.
2.3.3 MPLC und HPLC Während es sich bei der MPLC um ein typisches präparatives Verfahren handelt (Çalis et al. 2002), lässt sich die HPLC unter Variation der Säulengröße und der Flussrate sowohl als analytisches wie auch als präparatives Verfahren einsetzen. Bei der MPLC werden stationäre Phasen mit Partikeldurchmessern von 15–40 µm (bezogen auf Kieselgel oder RP Material) eingesetzt. Die Säulen bestehen aus druckfestem Glas, sodass mit einem Druck von maximal etwa 30–40 bar gearbeitet werden kann. Die Säulendimensionen sowie die entsprechenden Flussraten und trennbaren Fraktionsgrößen können sehr variabel gewählt werden (Länge: Zentimeter bis Meter, Durchmesser: Millimeter bis mehrere Zentimeter). Die HPLC ist eines der am weitesten verbreiteten chromatographischen Verfahren zur Trennung von Substanzgemischen. Die mit der HPLC erzielbare hohe Trennleistung ist dafür nur ein Grund (die an einer HPLC-Säule mit einer Länge von 10 cm und einem Partikeldurchmesser von 5 µm erzielbare Trennstufenzahl liegt zwischen ~4000 und 10.000 und damit mindestens um den Faktor 10 über den mit der DC erreichbaren Werten). Des Weiteren kann neben der hohen Variabilität der stationären (Partikelgröße, Modiikation, Form) und mobilen (Lösungsmittelgradient) Phase die HPLC mit verschiedenen Detektoren gekoppelt werden, sodass für nahezu jede Substanz nicht nur eine geeignete Trennung, sondern auch gleichzeitig die entsprechende Detektion und bei ausreichender Empindlichkeit auch eine Möglichkeit zur Quantiizierung gefunden werden kann. Unter den verwendeten Detektoren (Fluoreszenz-, Leitfähigkeits-, UV/VIS-, Brechungsindex- u. a.), ist bis heute der UV-DAD der gebräuchlichste.
2.3 Chromatographische Trennung und Isolierung
2
. Abb. 2.5a,b
a
b Verschiedene Detektoren liefern für die gleiche Analyse nicht immer das gleiche Ergebnis. Dargestellt ist das Chromatogramm eines Ethylacetat-Extrakts von Crataegus-Blättern und Blüten a gekoppelt mit einem UV-DAD Detektor (Wellenlänge 280 nm) und b gekoppelt mit elektrochemischer Detektion. Gleiche Ziffern bedeuten identische Substanzen. Es entstehen zwar ähnliche Chromatogramme, jedoch liegen in quantitativer Hinsicht deutliche Unterschiede vor. Beispielsweise existieren UV-inaktive Verbindungen, die aber elektrochemisch detektiert werden können. Auch das Verhältnis der Peakflächen zueinander ist unterschiedlich. Die Auswahl der am besten geeigneten Methode erfordert eine entsprechend aufwendige Überprüfung der Selektivität, Richtigkeit, Linearität und Präzision der Methode (aus Rohr 1999)
Wie aus > Abb. 2.5 deutlich wird, muss auch für die Auswahl eines geeigneten Detektors große Sorgfalt aufgewendet werden. Auf dem Gebiet der Leitstruktursuche arbeiten besonders leistungsfähige Systeme mit hintereinander geschalteten Detektoren (HPLC-UV/MS, HPLC-UV/ NMR) und ermöglichen damit eine weitestgehende Strukturauklärung im Gemisch ( > Kap. 5; Literatur bei Bringmann u. Lang 2003, Wolfender et al. 2005). Auf Grund der in der Regel geringen Probenmenge kommen „echte“ präparative HPLC-Verfahren bei der Isolierung von sekundä-
ren Planzeninhaltsstofen eher selten zum Einsatz, da der hohe Verbrauch an Lösungsmittel (bis zu mehreren 100 ml/min) und die Anschafung einer präparativen HPLC-Säule (Säuleninnendurchmesser (ID) 5–15 cm; der ID einer analytischen Säule liegt bei ~1–4,6 mm) auch eine ökonomische Frage darstellt. Vielfach behilt man sich mit semipräparativen Verfahren, wobei man entweder mit semipräparativen (Fließgeschwindigkeiten bis ~25 ml/min) oder analytischen Anlagen (Fließgeschwindigkeiten bis 10 ml/min) arbeitet und unter Verwendung einer größe-
41
42
2
Einführung in die Analytik sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe anhand ausgewählter Beispiele
. Abb. 2.6
a
b HPLC-Chromatogram (UV-DAD, 280 nm) eines Ethylacetat-Extrakts nach (a) und vor einer Festphasenextraktion (b) mit einer Sep-Pak® tC18-Kartusche. Gleiche Ziffern bedeuten identische Substanzen (aus Rohr 1999)
ren analytischen HPLC-Säule mehrmals hintereinander ein Aliquot der Probe einspritzt (Winkelmann et al. 2000). Hinter dem Detektor (in der Regel ein UV-DAD) werden dann die interessierenden Peaks in separaten Kolben gesammelt. Werden für die präparative Säulenchromatographie, sei es ofene Säulen, MPLC oder HPLC, Säuren oder Basen im Fließmittel benötigt, so ist die Verwendung von lüchtigen Verbindungen, die mit dem Einrotieren des Lösungsmittels ebenfalls verdampfen, solchen Verbindungen vorzuziehen, die in der Probe verbleiben. Eine Säure, die sich gut für präparative Zwecke verwenden lässt, ist die Triluoressigsäure (CF3COOH, ~0,5%; Winkelmann et al. 2000).
Auch beim Einsatz einer so leistungsfähigen Methode wie der HPLC ist die Probenvorbereitung bzw. -säuberung, das so genannte „sample clean up“ von entscheidender Bedeutung, um ein ausreichend aufgelöstes Chromatogramm zu erhalten. Erst die selektive Abtrennung der störenden Begleitstofe ermöglicht eine brauchbare qualitative (Fingerprint) oder quantitative HPLCAnalytik ohne Überlagerungen. Die gebräuchlichsten Methoden zur Probenvorbereitung sind die Flüssig-Flüssig-Verteilung (z. B. zur Entfernung von Lipiden und Chlorophyll aus einer Probe) oder die Festphasenextraktion (z. B. mit C18-Kartuschen oder einer anderen stationären Phase). > Abbildung 2.6 zeigt den Unterschied
2.4 Strukturaufklärung und Substanzcharakterisierung
eines HPLC-Chromatogramms vor und nach einer Festphasenextraktion.
2.4 Strukturaufklärung und Substanzcharakterisierung Mit der Entwicklung von hochleistungsfähigen spektroskopischen und spektrometrischen Verfahren, insbesondere der NMR und der MS, ist es heute möglich geworden, im unteren Milligrammbereich (und darunter) isolierte Naturstofe in ihrer Struktur aufzuklären. Die zugrunde liegende Strategie kombinierter Messverfahren lässt sich dabei in die folgenden Schritte gliedern: 1. Ermittlung der Molekularformel mit Hilfe der eindimensionalen NMR-Spektroskopie, 1H- und 13C-Spektren sowie einer geeigneten MS-Methode; Berechnung der Doppelbindungsäquivalente, von denen jedes einer Doppelbindung oder einem Ring entspricht ( > Gleichung 2). 2. Bestimmung und Absicherung der Konnektivitäten mit Hilfe der zweidimensionalen NMR, homonukleare und heteronukleare Spektren, und der MS. 3. Bestimmung der relativen/absoluten Stereochemie durch NOE-Daten und Röntgenstrukturanalyse sowie 4. Bestimmung der wichtigsten Kenndaten zur eindeutigen Charakterisierung einer Substanz, wie den Schmelzpunkt, die optische Drehung und die UVDaten. (2n + 2) – x DBÄ = 00 2
(2)
Die Doppelbindungsäquivalente (DBÄ: Ringe, Doppelbindungen) in einem Molekül lassen sich auf der Basis ihrer Valenzen berechnen. Bei einer Verbindung, die nur C, H, O, N, S oder Halogene enthält, wird der Sauerstof und zweibindiger Schwefel aus der Formel entfernt, Halogene durch Wasserstof und dreibindiger Stickstof durch CH ersetzt. Man erhält eine Summenformel CnHx, die mit dem gesättigten CnH2n+2 verglichen wird. Für zahlreiche Naturstofe sind in der Literatur 1H und 13C-NMR Daten publiziert, sodass die Struktur von isolierten (und bereits bekannten) Verbindungen häuig bereits anhand der eindimensionalen NMR-Spektren, dem MS-Spektrum und der chemisch-physikalischen Daten identiiziert werden kann. Da NMR-Messkapazitäten nicht unbegrenzt zur Verfügung stehen, empiehlt es sich,
2
beim Messen der verschiedenen Spektrenarten gemäß dem Grundsatz „So viel wie nötig, so wenig wie möglich“ zu verfahren. Beschätigt man sich erstmals mit einer Substanzklasse, so ist es sehr hilfreich, auch bei einer bekannten Verbindung sämtliche Spektren zu messen, um sich mit den Besonderheiten vertraut zu machen. Darüber hinaus ist es hilfreich, möglichst viele Informationen aus dem Verhalten der Substanz bei der Isolierung zu erhalten (Polarität, Detektionsverhalten, verwendete Fließmittel usw.).
2.4.1 NMR-Spektroskopie Besitzt ein Atomkern ein magnetisches Moment (µ) z 0, so ist die Voraussetzung zur Durchführung von Kernresonanz-(NMR-)Experimenten mit dieser Kernsorte erfüllt. Für die Strukturauklärung von Naturstofen sind die Isotope 1H und 13C von besonderer Bedeutung. Zur Messung von NMR-Spektren wird die Probe zunächst in deuteriertem Lösungsmittel aufgenommen, in ein Röhrchen gefüllt und im NMR-Spektrometer in ein homogenes Magnetfeld eingebracht. Dabei sollten in der Probe weder ungelöste Bestandteile, noch Schwebeteilchen oder gar Kieselgel zu inden sein, da diese die Homogenität des Magnetfeldes beeinträchtigen und die Qualität des Spektrums deutlich verschlechtern können. Das NMR-Röhrchen beindet sich im Spektrometer in permanenter Rotation, um vorhandene horizontale Inhomogenitäten des Magnetfeldes zu beseitigen. Es ist daher ebenfalls besser, auf Klebestreifen oder direkt am NMR-Röhrchen angebrachte Aukleber zu verzichten. Mit Hilfe eines Hochfrequenzsenders werden durch eine spezielle Abfolge von Impulsen, der so genannte Puls, alle Kerne einer Kernsorte angeregt. Nach der Anregung fallen die Kerne wieder in den durch das Magnetfeld vorgegebenen Gleichgewichtszustand zurück (Relaxation), bis sie durch den nächsten folgenden Puls wieder angeregt werden. In einer Empfängerspule wird ein Abfall der durch den Impuls zusätzlich aufgetretenen Magnetisierung (FID, „free induction decay“) aufgezeichnet. Das NMR-Spektrum entsteht durch Fourier-Transformation der im Verlauf der gesamten Messung akkumulierten FIDs. Während die Dauer des Pulses im Bereich von Mikrosekunden liegt, muss zwischen den einzelnen Pulsen eine Pause im Sekundenbereich liegen, damit die Kerne wieder relaxieren können. Das efektive Magnetfeld, in dem sich ein Kern beindet, ist abhängig von der Kernumgebung und variiert von
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44
2
Einführung in die Analytik sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe anhand ausgewählter Beispiele
. Abb. 2.7
Feinstruktur von (aromatischen) Protonensignalen am Beispiel eines Flavonoids. Die Aufnahme erfolgte in DMSO-d6 (300 MHz) und das in einer Wasserstoffbrücke eingebundene Proton der Hydroxylgruppe an C-5 (OH) kommt als Singulett (s) zur Resonanz (keine Kopplungspartner, Verschiebung ins tiefe Feld). Die Protonen an 6 und 8 koppeln miteinander und erscheinen entsprechend als Dublett (d). Die Kopplungskonstante ist klein (J = 1,7 Hz, „Metakopplung“), sodass die Signalaufspaltung bei einem 300-MHz-Gerät nur schwach erkennbar ist. Proton 5’ koppelt mit dem benachbarten H-6’ jedoch nicht mit H-2’ und erscheint als Dublett (d) mit einer mittelgroßen Kopplungskonstante (J = 8,5 Hz). H-6’ koppelt mit H-2’ („Metakopplung“) und H-5’ („Orthokopplung“) und erscheint als Dublett vom Dublett (dd). H-2’ kommt entsprechend als Dublett zur Resonanz
Kernsorte zu Kernsorte. Die Abweichung vom äußeren Magnetfeld wird wesentlich von einer Abschirmung des Kerns durch eigene oder benachbarte Elektronen, magnetische Anisotropie von Bindungen und sterische Efekte bestimmt. Funktionelle Gruppen können durch induktive und/oder mesomere Efekte die Elektronendichte um einen Kern erhöhen oder erniedrigen und führen so zu einer veränderten Abschirmung. Die Stärke der Abschirmung wird durch die dimensionslose Abschirmkonstante V beschrieben, die auch in die Gleichung zur Berechnung der Resonanzbedingung für einen Kern eingeht (Hesse et al. 2005; Friebolin 1999). Die Lage, bei der eine Kernspezies zur Resonanz kommt, wird relativ zur Referenzverbindung Tetramethylsilan [TMS, Si(CH3)4] als chemische Verschiebung δ (in ppm) ausgedrückt. Die chemischen Verschiebungen fast aller Naturstofe können bei den 1H-Resonanzen mit einer etwa bis 14 ppm, bei den 13C-Resonanzen mit einer bis etwa 220 ppm reichenden Skala beschrieben werden. Mit zunehmender Entschirmung eines Kerns (sog. Tiefeldverschiebung) ist die Lage eines Signals zu höheren δ-Werten verschoben. Der umgekehrte Efekt (Erhöhung der Elektronendichte um einen Kern) wird als Hochfeldverschiebung bezeichnet. Die Referenzierung eines zu messenden Spektrums bzw. Festlegung des Nullpunktes kann zum einen direkt über eine Zugabe der Referenzsubstanz TMS erfolgen (δ = 0). Damit das Referenzsignal nicht zu intensitätsstark
wird, entnimmt man nur eine Probe aus dem Dampfraum über dem TMS oder gibt vorab einige Tropfen in das Vorratsgefäß mit deuteriertem Lösungsmittel. Eine andere Möglichkeit beruht auf dem stets unter 100% (beispielsweise bei 99,9 oder 99,99%) liegenden Deuterierungsgrad eines Lösungsmittels, die auch eine Referenzierung über die Restsignale von undeuteriertem Lösungsmittel (z. B. CHCl3 in CDCl3) erlaubt. Auf eine TMS-Zugabe kann bei dieser Methode verzichtet werden, jedoch kann es hier zu kleinen Ungenauigkeiten bei den δ-Werten kommen. Die Interpretation eines NMR-Spektrums erfolgt anhand der Parameter Signallage (im 1H- und 13C-NMR), -intensität, -breite und -feinstruktur (hauptsächlich 1H-NMR, > Abb. 2.7). Es hat sich in den meisten Publikationen eingebürgert, die 1H-NMR und 13C-NMR Daten mit einer Genauigkeit von nur einer Dezimalen anzugeben. Dabei können zwei Signale, die in einer Tabelle den gleichen Wert erhalten haben, im entsprechenden Spektrum klar voneinander separiert seien. Zur reproduzierbaren Angabe von NMR-Daten werden in wissenschatlichen Arbeiten zusammen mit den δ-Werten das verwendete Lösungsmittel, die Messtemperatur, die Methode zur Referenzierung und die Angabe der Betriebsfrequenz aufgeführt. Im Bereich der NMR-Spektroskopie von niedermolekularen Naturstofen (MG Abb. 2.7). Die Kopplungskonstante (in Hz) wird mit einer zunehmenden Zahl von Bindungen, die zwischen zwei Atomen liegen, kleiner. Im Fall von starren
2
Gerüsten (z. B. bei Ringen) hängt J auch vom Diederwinkel (Torsionswinkel) zwischen den Spin-Spin-gekoppelten Protonen ab und erlaubt so Rückschlüsse auf die geometrische Anordnung. Die Abhängigkeit der 3J (= vicinalen Kopplungskonstante) vom Diederwinkel wird in der Karplus-Kurve deutlich. Mit ihrer Hilfe lässt sich näherungsweise vorhersagen, in welchem Bereich eine Kopplungskonstante bei vorgegebenem Torsionswinkel zu erwarten ist. Die Größe der meisten im Naturstobereich beobachtbaren Kopplungskonstanten liegt zwischen ~16 (transDoppelbindungen) und 0,6 Hz (Fernkopplungen über mehr als 3 Bindungen). Soll die Signallage (δ, chemische Verschiebung) für ein Proton angeben werden, so wählt man dafür in der Regel den Signalschwerpunkt. In zahlreichen Publikationen indet sich aber auch der Bereich angegeben, in dem alle Linien des Signals enthalten sind. Bei der Analyse von Kopplungsmustern ist zu beachten, dass eine Kopplung von magnetisch äquivalenten Kernen nicht im Spektrum sichtbar ist. Lässt sich ein Kopplungsmuster eines Signals nicht eindeutig charakterisieren, so wird es als Multiplet (Abkürzung: m) bezeichnet. Ein unklares Kopplungsmuster kann auf Grund von Überlagerungen entstehen (Kennzeichnung: m*), aber auch durch das Vorliegen eines Spektrums höherer Ordnung (Kennzeichnung: m). Die Fläche unter einem 1H-NMR-Signal ist direkt proportional zur Anzahl absorbierender Protonen und ermöglicht über die Integration der Fläche die Bestimmung der relativen Zahl von Protonen, die dieses Signal erzeugen. Im Verlauf einer Integration kann der kleinste durchführbare Schritt von nicht weniger als einem Proton stammen. Es empiehlt sich, für die Integration ein freies Signal ohne Überlagerungen auszuwählen. Bei hochsymmetrischen Verbindungen kann das kleinste Signal auch für mehrere Protonen integrieren. Bei der Auswahl des Lösungsmittels spielt nicht nur die Lipophilie oder Hydrophilie der Substanz eine wichtige Rolle. In einem protischen Lösungsmittel (z. B. CD3OD) kommt es zum Austausch von labilen Protonen gegen Deuterium (beispielsweise an OH und NH-Gruppen), wobei Protonensignale verloren gehen können. Dies lässt sich u. a. bei Wasserstobrücken von Flavonoiden, Anthranoiden oder Phloroglucinolderivaten beobachten, die in CDCl3 oder DMSO-d6, nicht jedoch in MeOD als mehr oder weniger scharfe Singuletts >11 ppm zu beobachten sind (Winkelmann 2001). Bei anderen Verbindungen (z. B. Glykosiden) können bei der Verwendung von protischen Lösungsmitteln andere (einfachere) Kopplungs-
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46
2
Einführung in die Analytik sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe anhand ausgewählter Beispiele
. Abb. 2.8a,b
a
b
Separierung zweier Protonensignale durch den Wechsel des Lösungsmittels. a In CDCl3 überlagern sich die Signale beider Protonen, während durch die Aufnahme in C6D6 eine klare Trennung zu erzielen ist. Dies ist nicht nur für die Erkennung der Feinstruktur, sondern auch für die Zuordnung der dargestellten Kreuzsignale in einem 2DSpektrum wesentlich. Durch die Separierung der beiden Protonensignale in b können die Kreuzsignale eindeutig zugeordnet werden. In a lassen sich die Korrelationen zu anderen Protonen nicht eindeutig bestimmen
muster entstehen als bei der Verwendung von aprotischen. Ein solcher Austausch kann auch gezielt vorgenommen werden, indem man die Verbindung kurz mit D2O schüttelt. Erschweren deutliche Überlagerungen im Spektrum die Interpretation, so sollte man auch einen Wechsel des Lösungsmittels in Betracht ziehen. Besonders deutliche Signalverschiebungen können bei einem Wechsel von aliphatischen zu aromatischen Lösungsmitteln (bzw. umgekehrt) beobachtet werden, da deuteriertes Pyridin oder Benzol ausgeprägte Anisotropieefekte aufweisen ( > Abb. 2.8). Die geringe Häuigkeit (1,1%) des 13C-Nuklids bedingt, dass eine Kopplung von zwei benachbarten 13CKernen in der Routine-13C-NMR nicht sichtbar ist. Jedes C-Atom erscheint im Spektrum als scharfes Singulett, da eine Kopplung mit 1H-Kernen (die normalerweise anhand einer Signalaufspaltung bemerkbar würde) routinemäßig mit einer 1H-Breitband-Entkopplung unterdrückt wird
13C-NMR.
( > Abb. 2.9). Die Aufnahmezeit für ein 13C-Spektrum ist um ein Vielfaches länger als für ein 1H-Spektrum, da das magnetische Moment des 13C-Nuklids im Vergleich zum 1H-Kern bei einem Viertel und gleichzeitig die natürliche Häuigkeit von 1H bei fast 99,99% liegt. Für eine Probe von 5 mg Substanz (in einem Volumen von 500 µl) mit einem Molekulargewicht von etwa 500 muss an einem 300-MHzSpektrometer etwa 6–9 Stunden gepulst werden, um ein brauchbares 13C-Spektrum zu erhalten. Im Gegensatz zu den 1H-NMR-Spektren sind die entsprechenden 13C-Signale nicht ohne weiteres integrierbar, da die Intensität des Signals zum einen entscheidend von der sehr unterschiedlichen Relaxationszeit verschieden hybridisierter C-Atome abhängig ist. Insbesondere quartäre C-Atome zeigen eine langsame Relaxation, sodass sie noch nicht in den Gleichgewichtszustand zurückgekehrt (relaxiert) sind, wenn der nächste Puls zu einer erneuten Anregung führt. Sie sind daher ot nur als sehr schwache Signale im Spektrum zu erkennen ( > Abb. 2.9). Zum anderen wird auf Grund der 1H-Breitbandentkopplung ein heteronukleärer Kern-Overhauser-Efekt (NOE) beobachtet, der zu einer Intensitätserhöhung von protonentragenden C-Atomen führt. Daher würde auch eine deutliche Verlängerung der Zeit zwischen den Pulsen immer noch zu vergleichsweise kleineren Signalen bei den quartären Kohlenstofen führen. Zuverlässig integrierbare 13C-Signale erhält man entweder durch den Zusatz von paramagnetischen Relaxationsreagenzien (Chrom- und Eisenacetylacetonaten) oder mit Hilfe eines 13C-Inverse-Gated-Decoupling-Experiments ( > Abb. 2.10). Im Verlauf dieses Experiments bleibt die 1H-Breitbandentkopplung nur für die Dauer des Beobachtungspuls und der Datenaufnahme eingeschaltet, sodass die 1H,13C-Kopplung aufgehoben wird, sich in dieser kurzen Zeit aber kein NOE aubauen kann. Bedingt durch die 1H-Breitbandentkopplung wird das 13C-NMR-Spektrum zwar einfacher, es geht aber die Information zur Multiplizität der Kohlenstofatome verloren. Diese Information lässt sich mit Hilfe der DEPT-(„disortionless enhancement by polarization transfer“-)13CExperimente wiedergewinnen. In den mit Impulswinkeln von 135° (DEPT 135) und 90° (DEPT 90) aufgenommenen Teilspektren können CH3, CH2, CH und quartäre Kohlenstofatome voneinander unterschieden werden. Im DEPT 135 erscheinen CH3- und CH-Gruppen in der positiven Phase, während die CH2-Gruppen als negative Signale sichtbar sind. Im DEPT 90 liefern dagegen nur die CH-Gruppen Signale (positive Phase). Quartäre Signale sind in beiden DEPT-Experimenten nicht sichtbar
2
2.4 Strukturaufklärung und Substanzcharakterisierung
. Abb. 2.9
13C, DEPT-135- und DEPT-90-Spektren (125 MHz, 295 K) von Aculeatin A (isoliert aus den Rhizomen von Amomum aculea-
tum, Heilmann et al. 2000) in CDCl3. Die Bezifferung der Signale nimmt Bezug auf die Nummerierung des Kohlenstoffskeletts von Aculeatin A . Abb. 2.10
OH OCH3 8
HO
1 O
9
7 6
4' 2
1' 3
10
5
4
2'
3'
OH
OH
OH
2'/6'
3'/5' 1'
4'
OCH3
10 2
7 5
4
9 6
160
3
140
120
100
8
80
60
40
ppm
13C-Inverse-gated-Spektrum von Ourateacatechin (aus Ankli 2000) gemessen in MeOD/Pyridin-d (125 MHz, 295 K). 5
Über den Signalen sind die Integrale der Flächen dargestellt. Es wird deutlich, dass die Signale der quartären Kohlenstoffe annähernd gleich intensiv sind wie diejenigen der protonentragenden
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2
Einführung in die Analytik sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe anhand ausgewählter Beispiele
( > Abb. 2.9). Das DEPT ist sensitiver als das 13C-Experiment (Polarisationstransfer durch 1J-(C,H)-Kopplungen), sodass nur etwa die Hälte der Zeit benötigt wird, um ein auswertbares Spektrum zu erhalten.
. Abb. 2.11
Infobox NOE („nuclear Overhauser effect“, Kern-OverhauserEffekt). Der NOE beruht auf einer direkten Wechselwirkung von zwei Kernen durch den Raum. Führt man eine Veränderung der durch das Boltzmann-Gleichgewicht vorgegebenen Spin-Populationen herbei (z. B. durch einen Puls), so resultiert daraus auch für einen räumlich benachbarten Kern eine Störung des Gleichgewichts.
Zweidimensionale (2D) Techniken Mit Hilfe von zweidimensionalen, korrelierten NMR-Experimenten lassen sich chemische Verschiebungen und Kopplungskonstanten sowie unterschiedliche chemische Verschiebungen von Kernen derselben Art (homonukleare 2D: 1H,1H, aber auch 13C,13C bei einem INADEQUATE) oder verschiedener Art (heteronukleare 2D: 1H,13C) auf zwei orthogonalen Achsen unabhängig darstellen, während gleichzeitig in einem Konturendiagramm, die miteinander koppelnden Kerne an Hand von Kreuzungspunkten, den Cross-Peaks, erkannt werden können ( > Abb. 2.11). 1H,1H-COSY, 1H,1H-TOCSY, 1H,13C-HSQC, 1H,13C-HMBC
und INADEQUATE. Im Konturdiagramm eines 1H,1H-
COSY-Experiments sind für das ganze Molekül die Kopplungen zwischen Protonen als Kreuzsignale erkennbar ( > Abb. 2.11). Das gebräuchlichste Experiment ist das DQF-(„double quantum iltered“-)1H,1H-COSY-90, bei dem fast alle Signale in Absorption erscheinen und ein 90°-Puls verwendet wird. Bei einem 1H,1H-TOCSY („total correlation spectroscopy“) entstehen Kreuzsignale für die Protonen eines gemeinsamen Spin-Systems. Dies ist insbesondere nützlich bei Naturstofen, die mehrere Zucker (mit den entsprechend überlagerten Signalen) enthalten, da jedes Monosaccharid ein eigenes Spin-System bildet. In einem 1H,13C-HSQC-(„heteronuclear single quantum coherence“-)Spektrum werden die Korrelationen zwischen direkt gebundenen Kohlenstof- und Wasserstofatomen sichtbar. Ganz besonders nützlich für komplexe Natur-
Ausschnitt eines 1H,1H-COSY-Spektrums (600 MHz, 295 K in CDCl3) von Ialibinon A, einem aus Hypericum papuanum isolierten Acylphloroglucinol-Derivat (Winkelmann 2001). Gekennzeichnet ist die Kopplung von H-2’’ mit den beiden Methylgruppen H3–3’’ und H3–4’’, die die gleiche chemische Verschiebung und die gleiche Kopplungskonstante besitzen. Ebenfalls erkennbar sind für die gleichen Protonen die Kopplungen des ebenfalls (als Minorkomponente) in der Lösung vorliegenden Tautomers. In dieser Verbindung zeigen die Methylgruppen die gleiche Signalaufspaltung, jedoch eine unterschiedliche chemische Verschiebung
stofe mit verschiedenen Spin-Systemen (wie beispielsweise bei Triterpen- oder Steroidglykosiden) ist das HSQC/TOCSY-Experiment, das die Vorteile beider Methoden miteinander kombiniert. Im 1H,13C-HMBC werden 2J-(C,H)- und 3J-(C,H)-Kopplungen detektiert (so genannte Long-range-Kopplungen). Ist dabei ein quartäres C-Atom involviert, so werden auch 4J-(C,H)-Kopplungen sichtbar ( > Abb. 2.12). Mit Hilfe eines HMBC-Expe-
2.4 Strukturaufklärung und Substanzcharakterisierung
2
. Abb. 2.12
1H,13C-HMBC-Spektrum (300 MHz in MeOD, 295 K) des Cumarinderivats Aesculetin. Es wird deutlich, dass nicht nur die
typischen 2J-(C-6, H-5), sondern, bedingt durch die zahlreichen quartären C-Atome, auch 3J-(C-4, H-5 oder C-7, H-5) und (schwache) 4J- (C-8, H-5)Kopplungen als Kreuzsignale sichtbar sind
riments können die ermittelten Teilstrukturen eines Moleküls miteinander verknüpt werden. Gleichzeitig ist das Experiment eine interessante Möglichkeit, um die 13C-Verschiebungen von (quartären) Kohlenstofatomen zu ermitteln, wenn die zur Verfügung stehende Probenmenge kein 13C-Experiment erlaubt (größere Empindlichkeit des 1H-gegenüber dem 13C-Kern). Mit einem INADEQUATE („incredible natural abundance double quantum transfer experiment“) lassen sich 13C,13C-Kopplungen sichtbar machen und so kann das Kohlenstofskelett einer Verbindung eindeutig detektiert werden ( > Abb. 2.13). Es ist im Naturstobereich jedoch nur selten zu inden, da sehr hohe Substanzkonzentrationen und lange Messzeiten benötigt werden (Faustregel: Pro 100 Masseneinheiten werden mindestens 20 mg Substanz benötigt; eine solche Menge steht für isolierte Naturstofe nur selten zur Verfügung). 1H,1H-NOESY und -ROESY. Im
Vergleich zu den oben besprochenen zweidimensionalen Experimenten, bei denen die Korrelationen der Signale auf der Konnektivität über Bindungen beruhen, nutzt man bei NOESY-(„nuclear
Overhauser enhancement and exchange spectroscopy“-) und ROESY-(„rotating frame nuclear Overhauser efect spectroscopy“-)Aufnahmen die Wechselwirkung von zwei Protonen durch den Raum. Kreuzsignale zeigen die räumliche Nachbarschat von Kernen an, wodurch entscheidende Informationen zur Ermittlung von Molekülkonformationen, Ringverknüpfungen sowie zur Stellung von Substituenten erhalten werden. Problematisch ist dabei, dass der Abstand zwischen zwei Kernen in der sechsten Potenz in die Intensität eines NOE eingeht, sodass bereits bei einer geringen Vergrößerung des räumlichen Abstands ein NOE deutlich kleiner wird. Der maximale Abstand zwischen zwei Wasserstofatomen, für den im Allgemeinen ein NOE noch gemessen werden kann, liegt bei Abb. 2.14). Eine Ionisierung, d. h. die Erzeugung von geladenen Teilchen, kann beispielsweise durch den Beschuss mit energiereichen Elektronen (Elektronenstoß-Ionisation, EI), mit einem Reaktandgas (chemische Ionisation, CI) oder durch das Verdampfen eines Sprühnebels von Substanz und Lösungsmittel erfolgen (Elektrospray-Ionisation,
EI-Massenspektren (70 eV) von Apigenin (a) und Aculeatin A (b). Beim Flavonoid Apigenin (MG 270) bildet das Molekülion den Basispeak. Neben dem Molekülion treten nur noch Fragmente von geringer Intensität auf. Das Fragment bei m/z 153 kann dem A-Ring des Apigenins zugeordnet werden. Im Fall des Aculeatin A (MG 418) fehlt dagegen das Molekülion vollständig und das erste sichtbare Ion ist [M – H2O]+ bei m/z 400. [Ich danke Herrn J. Kiermaier (Zentrale Analytik der Universität Regensburg, NWF IV) herzlich für die Aufnahme des EI-Massenspektrums von Apigenin]
7
2
2.4 Strukturaufklärung und Substanzcharakterisierung
. Abb. 2.14a,b
a
b
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2
Einführung in die Analytik sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe anhand ausgewählter Beispiele
. Abb. 2.15
High-resolution-(HR-)EI-Massenspektrum eines aus Warionia saharae (Asteraceae, Hilmi 2002) isolierten Sesquiterpenlactons. Die exakte Masse (berechnet auf vier Dezimalen) der Verbindung mit der Summenformel C15H18O4 liegt bei 262,1205 (gemessen wurden 262,1201)
ESI). Abhängig von der Art der Ionisierung können Fragmente der ursprünglichen Verbindung (dominierend bei einer harten Ionisierung, bei der eine hohe Energie eingesetzt wird), Molekülionen oder Molekülionenaddukte (dominierend bei einer weichen Ionisierung) entstehen. Bei der Wahl der Ionisierungsmethode ist generell zu unterscheiden, ob es sich um eine verdampbare oder schwer bzw. nicht verdampbare Substanz handelt. Für gut verdampbare Proben werden die EI oder die CI verwendet. Bei schwer oder nicht verdampbaren Proben (dies sind z. B. nahezu alle Glykoside) sind für den Naturstobereich die „atmospheric pressure chemical ionization“ (APCI), die direkte chemische Ionisation (DCI), die ESI und die „matrix-assisted laser chemical ionization“ (MALDI) zu nennen. Deutlich an Bedeutung verloren hat das FastAtom-Bombardment (FAB), da es als sehr „schmutzige“ Methode gilt. Beim Einbringen der Probe in das Massenspektrometer sind zwei Systeme zu unterscheiden, der Gaseinlass und der Direkteinlass (D als Präix vor der Abkürzung für die Ionisierungsmethode, z. B. beim DEI). Im Vergleich wird beim Gaseinlass eine größere Menge an Substanz benötigt (Gaseinlass: 0,1–1 mg, Direkteinlass: 0,001–0,1 mg; Hesse et al. 2005). Da die meisten Elemente in organischen Verbindungen als Isotopengemische vorliegen, erhält man für die (Molekül)Ionen nicht ein einzelnes Signal, sondern eine Signalverteilung, die bei der EI auch die Isotopenverhältnisse annährend korrekt wiedergibt. Neben der Bestimmung der relativen Molekülmasse in Massenspektrometern mit niedriger Aulösung hat die Messung von hochaufgelösten Massenspektren zur Bestimmung der exakten Molekülmasse eine zunehmende
Bedeutung erlangt, da sich darüber die elementare Zusammensetzung einer Substanz bestimmen lässt ( > Abb. 2.15). Für ein hochaufgelöstes Massenspektrum wird in einschlägigen Fachjournalen eine relative Massengenauigkeit von ~5 ppm gewünscht (ppm: (gemessene Masse – exakter Masse) u 106/exakte Masse. Cave: Ein ppm-Wert ist entsprechend abhängig von der Molekülmasse). Bei der massenspektrometrischen Untersuchung von Alkaloiden und anderen Verbindungen, die Stickstofatome enthalten (z. B. cyanogene Glykoside oder Senfölglykoside), ist die „Stickstofregel“ von Interesse. Gemäß dieser Regel ist die Molmasse eines Molekülions geradzahlig, wenn die Substanz entweder keine oder eine gerade Anzahl von Stickstofatomen enthält. Eine ungerade Anzahl von Stickstofatomen bedingt dagegen eine ungerade Anzahl von Masseneinheiten in der Molekülmasse. Infobox Relative und exakte Molekülmasse. Die relative Molekülmasse berechnet sich aus den Mittelwerten der exakten Massen der natürlich vorkommenden Isotope und ihrer Häufigkeiten, die exakte Molekülmasse berücksichtigt nur die Masse des jeweils häufigsten Isotops (daher auch monoisotopische Masse). Nominale Molekülmasse. Die Ermittlung der monoisotopischen Masse liefert für Atome nur annähernd ganze Zahlen. Die nominale Molekülmasse setzt sich aus den auf die nächste ganze Zahl gerundeten monoisotopischen Atommassen zusammen.
2.4 Strukturaufklärung und Substanzcharakterisierung
Elektronenstoß-Ionisation (EI) Die Fragmentierung von organischen Molekülen bei der EI erfolgt durch Beschuss mit energiereichen Elektronen (sehr häuig 70 eV). Es entstehen zunächst radikalische Kationen vom Typ M+x, die sich, auf Grund eines hohen inneren Energiegehalts, zu stabileren Molekülen umlagern oder zu Fragmenten [M – R]+ zerfallen. Bedingt durch die hohe eingesetzte Energie sind die Fragmentierungen in der Regel dominierend und die entstehenden Molekülionen [M]+ oder durch Anlagerung eines Protons entstehenden [M + H]+-Ionen können sehr intensitätsschwach werden ( > Abb. 2.14). Die Art der Fragmentierung hängt wesentlich von der Anwesenheit bestimmter funktioneller Gruppen ab und verläut unter konstanten Bedingungen immer gleich. Entsprechend können wichtige Strukturinformationen aus der Fragmentierung erhalten werden. Eine Übersicht zu den Hauptfragmentierungsreaktionen, wie die Benzyl-Spaltung, die McLaferty-Umlagerung, die D-Spaltung oder die Retro-Diels-Alder-Reaktion sowie ausführliche Erläuterungen dazu inden sich bei Hesse et al. (2005) oder Budzikiewicz u. Schäfer (2005). Im Bereich der Naturstofchemie ist die EI-MS das Standardverfahren für verdampbare Verbindungen bis zu einem MG von ~1000. Wichtige Schwerpunkte liegen u. a. auf der Strukturauklärung von terpenoiden Verbindungen, (lipophilen) Flavonoidaglykonen, Pyrrolizidinalkaloiden und im Rahmen der gesamten Analytik von ätherischen Ölen. Eine der gebräuchlichsten Methoden zur Identiizierung der Komponenten in einem ätherischen Öl besteht in der Kopplung von Gaschromatographie (GC) und EI-MS (Literatur bei Marriot et al. 2001). Im Rahmen dieses Verfahrens wird das ätherische Öl zunächst mit Hilfe einer dem Trennproblem angepassten Kapillarsäule aufgetrennt und dann in ein mit dem GC gekoppelten Massenspektrometer geleitet. Die Identiizierung erfolgt dabei über die Parameter Retentionszeit und Fragmentierung, die beide mit den Daten aus einer Bibliothek authentischer Vergleichssubstanzen verglichen wird (Kordali et al. 2005; Skaltsa et al. 2003). Werden für Flavonoidaglykone Massenspektren im EI-Modus aufgenommen ( > Abb. 2.14), so erhält man neben einem Molekül-Ionenpeak hoher Intensität eine charakteristische Fragmentierung, die wichtige Aufschlüsse zur Struktur dieser Verbindungen erlaubt. Die Abspaltung von H2O [M – 18]+, Methylgruppen [M – 15]+, Methyl- + CO-Gruppen [M – 43]+ sowie der Zerfall in A- und B-Ringfragmente erfolgt in Abhängigkeit von der vorliegenden Flavonoidklasse bzw. ihrer Substitution
2
(Flavone, Flavonole bzw. deren 6- oder 8-methoxylierte Derivate) in unterschiedlichem Ausmaß (Goudard et al. 1978; Mabry u. Markham 1975). Liegen komplexe Gemische von Flavonoidaglykonen vor, so besteht auch hier die Möglichkeit, mittels einer GC/MS-Kopplung eine Identiizierung vorzunehmen, ohne dass die Einzelkomponenten isoliert werden müssen (Schmidt et al. 1994). Auch zur Identiizierung von komplexen Gemischen von Pyrrolizidin-Alkaloiden ist die GC/MS die Methode der Wahl (Jenett-Siems et al. 2005).
Direkte chemische Ionisation (DCI) Die chemische Ionisation arbeitet mit einem Reaktandgas, das zunächst durch Elektronen ionisiert wird und durch eine nachfolgende Reaktion mit weiteren Gasmolekülen stabile Ionen bildet. Diese übertragen entweder ein Proton auf das zu untersuchende Molekül [M + H]+ oder bilden damit ein Addukt (z. B. [M + NH4]+ bei der Verwendung von Ammoniak). Eine Fragmentierung wird bei diesem Verfahren deutlich zurückgedrängt, sie ist jedoch abhängig vom verwendeten Reaktandgas. Je weniger exotherm die Übertragung des Protons erfolgt (d. h. je größer die Protonenainität des Gases ist), desto weicher ist das Verfahren und umso geringer die Fragmentierung. Unter den gängigen Reaktandgasen ist Wasserstof das härteste Gas, während mit Ammoniak die weichste Ionisierung erzielt wird. Bei der DCI wird die gelöste Substanz auf eine Drahtschlaufe gebracht und das Lösungsmittel verdampt. Nach dem Einbringen ins Vakuum wird die Schlaufe erwärmt und die Substanz in die Gasphase gebracht. Dieses Verfahren ermöglicht die MS-Analyse auch schwer verdampbarer Glykoside ( > Abb. 2.16). Die DCI kann auch in einem negativen Modus betrieben werden, da durch das Einfangen von Elektronen auch negativ geladene Ionen entstehen.
Elektrospray-Ionisation (ESI) Bei diesem Verfahren wird mittels einer Kapillare eine Lösung der Substanz in ein elektrisches Feld versprüht, wobei es zu einer feinen Zerstäubung und zur Ionisierung der Verbindung kommt. Die entstandenen Tröpfchen enthalten Ionen und verkleinern sich zunehmend, bis sämtliches Lösungsmittel verdampt ist und die Ionen in die Gasphase überführt werden. Das Verfahren ist ideal für die Unter-
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Einführung in die Analytik sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe anhand ausgewählter Beispiele
. Abb. 2.16a,b
a
b DCI-Spektren des Flavonoidglykosids Patuletin-7-O-glucosid (C22H22O13, MG 494; 6-Methoxyderivat von Quercetin-7-Oglucosid) im negativen (a) und positiven Modus (b). Unter Verwendung von Ammoniak als Reaktandgas (weiche Ionisierung) dominieren als negative Ionen [Aglykon]– und [M]–, bei den positiven Ionen [Hexose – H2O + NH4]+, [Aglykon + H]+ und [M + H]+. Es lassen sich aus beiden Spektren sowohl Informationen über den Zucker wie auch über das Aglykon erhalten
2.4 Strukturaufklärung und Substanzcharakterisierung
suchung von glykosidischen Sekundärstofen mit längeren Zuckerketten geeignet ( > Abb. 2.17), da neben [M + H]+Ionen unter geeigneten Bedingungen auch eine sukzessive Abspaltung der Zucker bis hinunter zum Aglykon beobachtet werden kann (Broberg et al. 2004). Bei der ESI-MSMessung kann ebenso wie beim DCI auch im negativen Modus gemessen werden, wobei häuig intensitätsstarke [M – H]–-Peaks detektiert werden können. Dem ESI-Verfahren sehr ähnlich ist die APCI, wobei das Lösungsmittel hier zuerst verdampt und dann der Analyt an einer Metallnadel ionisiert wird. Beide Verfahren sind auch für eine Kopplung mit der HPLC geeignet (Li et al. 2005; Ma et al. 2005).
2
2.4.3 Ultraviolettspektroskopie (UV-Spektroskopie) Nach dem Durchgang eines Lichtstrahls durch eine Substanzlösung kann seine Intensität beim Austritt in Folge von Absorption vermindert sein. Im Bereich des sichtbaren (400–700 nm) und des ultravioletten Lichts (10– 200 nm fernes UV, 200–400 nm nahes UV) können durch die Absorption von Photonen (Lichtquanten) Valenzelektronen zunächst angeregt werden und dann wieder in den Grundzustand zurückfallen. Strukturelemente, die durch eine Anregung von V-, S- und n-Elektronen zu einer Absorption von UV-Strahlen führen, werden als Chromo-
. Abb. 2.17a,b
a ESI-Spektren des herzwirksamen Steroidglykosids Lanatosid C im positiven (a) und negativen Modus (b). Unter Zusatz von MeOH und NH4-Acetat wird zunächst das Molekülion erzeugt und dann im zweiten Quadrupol mit Argon als Stoßgas weiter fragmentiert. Sich ergänzend liefern die beiden Modi Informationen über die sequentielle Abspaltung der Acetylgruppe, der endständigen Glucose, der Digitoxosen und dem Molekulargewicht des Aglykons. Die zusätzlich zu beobachtenden Eliminationen von m/z 18 sind typisch für die Abspaltung von Wasser (aus den Zuckern). [Ich danke Herrn J. Kiermaier (Zentrale Analytik der Universität Regensburg, NWF IV) herzlich für die Aufnahme der ESI-Massenspektren]
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2
Einführung in die Analytik sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe anhand ausgewählter Beispiele
. Abb. 2.17b
b
phore bezeichnet. Von besonderem Interesse sind miteinander verbundene (konjugierte) Chromophore organischer Moleküle, die ot zu Absorptionen im nahen UVsowie im Bereich des sichtbaren Licht führen. Sie enthalten neben konjugierten Doppel- bzw. Dreifachbindungen und aromatischen Systemen (S-Elektronen), auch daran gebundene Atome und Atomgruppen mit nichtbindenden Elektronenpaaren (n-Elektronen). Bei sekundären Planzeninhaltsstofen sind dies sehr häuig Hydroxyl-, Carbonyl- oder Aminogruppen. Die Erweiterung eines Chromophors führt zu einer mehr oder weniger starken Verschiebung der Absorptionsbanden in den langwelligeren Bereich (bathochromer Efekt). Ein UV-Spektrum einer Substanz wird erhalten, indem gemäß des Bougier-Lambert-Beer-Gesetzes ( > Gleichung 3) für jede Wellenlänge O die Absorption A und der molare Absorptionskoeizient H bestimmt wird. Dieser berechnet sich durch Umformung der Gleichung a) aus der Absorption A (keine Dimension), der molaren Pro-
benkonzentration c (mol u l–1) und der Küvetten-Schichtdicke d (cm), wobei ein linearer Zusammenhang nur bei verdünnten Proben (EO d0,7) gilt: a) A = εcd AO b) εO = 4 cd
(3)
mit der Absorption A (bzw. AO), dem molaren Absorptionskoeizienten ε (bzw. εO, in l u cm–1 u mol–1) und der Konzentration c (mol u l–1) sowie der Schichtdicke d (cm). Die Aufnahme von UV-Spektren erfolgt gewöhnlich in optisch reinen Lösungsmitteln, wobei in einem Bereich von 180–400 nm Küvetten aus Quarzglas erforderlich sind. Es ist darauf zu achten, dass die verwendeten Lösungsmittel im angestrebten Messbereich keine Eigenabsorption aufweisen. Wasser und Acetonitril können oberhalb von 200 nm, Methanol oberhalb von 210 nm und Chloroform oberhalb von 240 nm verwendet werden.
2
2.4 Strukturaufklärung und Substanzcharakterisierung
. Abb. 2.18
. Abb. 2.19
O
60 000
50 000
40 000
OH
OH
OH
OH
1
588 nm Hypericin 546 nm Hypericin 470 nm Hypericin 589 nm Pseudohypericin 546 nm Pseudohypericin 473 nm Pseudohypericin
HO HO OH
ε
OH
O 1
6
30 000
O OH
20 000
OH 10 000 6
0 20%
OH 40%
60%
80%
100%
%MeOH
Dargestellt sind die Werte für den molaren Absorptionskoeffizienten ε von Hypericin und Pseudohypericin in Abhängigkeit vom Wassergehalt des zum Lösen verwendeten Methanol-Wasser-Gemisches und gemessen bei verschiedenen Wellenlängen (Konzentration: jeweils 8 × 10–6 mol/l) (aus Wirz 2000; Wirz et al. 2001)
Die wichtigsten Einsatzgebiete der UV-Spektroskopie sind die Detektion und Quantiizierung von Substanzen oder Substanzgemischen. Ihr Einsatz erfolgt dabei vielfach in Kombination mit einer leistungsfähigen chromatographischen Methode wie der HPLC oder der MPLC ( > entsprechendes Kapitel). Des Weiteren indet die UV-Spektroskopie Anwendung bei der Charakterisierung einer isolierten Verbindung. Wichtige Kenngrößen für ein Molekül sind die Absorptionsmaxima Omax und, bezogen auf eine bestimmte Wellenlänge O (in der Regel ist dies auch Omax), der molare Absorptionskoeizient HO bzw. HOmax (l u mol–1 u cm–1). Es sollte in jedem Fall beachtet werden, dass bei einigen Substanzen, die Wahl des Lösungsmittels erheblichen Einluss auf die Charakteristika eines UV-Spektrums hat. Ein interessantes Beispiel aus dem Bereich der Naturstofe ist das Hypericin ( > Abb. 2.18, Wirz et al. 2001), da zahlreiche Umstände zu einem heterogenen Bild der publizierten UV-Daten beitragen. Je nach gewähltem Lösungsmittel, gewählter Konzentration bzw. Temperatur ändern sich durch die Bildung von intermolekularen Assoziaten, unterschiedlichen Tautomeren, Ionisation oder verschiede-
OH
O
Bildung von intermolekularen Wasserstoffbrücken zwischen den 1,6-Dioxo-Tautomeren des Hypericins führt zur Entstehung von Homoassoziaten (aus Wirz 2000)
nen vorliegenden Konformationen die Intensität und die Lage der Absorptionsbanden. So bilden sich z. B. in Gegenwart steigender Wasseranteile in Ethanol-Wasser- oder DMSO-Wasser-Gemischen an Stelle der monomolekularen Lösungen vermehrt Homoassoziate, in denen Hypericin-Moleküle über Wasserstobrücken verbunden sind ( > Abb. 2.19). Dies führt für das Hypericin auch zum Vorliegen sehr heterogener Daten bei Gehaltsbestimmungen, die auf UV-spektroskopischen Verfahren beruhen (Literatur bei Wirz 2000). Ein wichtiges Einsatzgebiet der UV/VIS-Spektroskopie im europäischen Arzneibuch (PhEur 5) ist die Bestimmung von Gesamtgehalten, d. h. die gemeinsame Quantiizierung einer Gruppe von gleichartig reagierenden Sekundärstofen. Unabhängig von der Stoklasse ist das prinzipielle Vorgehen recht ähnlich. Mit einem geeigneten Lösungsmittel wird die Substanzgruppe zunächst möglichst quantitativ aus der Droge extrahiert und beispielsweise durch Flüssig-Flüssig-Verteilungen weiter angereichert. Zur Quantiizierung muss für die gesamte Gruppe ein gemeinsames Strukturelement gefunden werden, das in einer einheitlichen Reaktion umgesetzt wird. Dieses Strukturelement muss in einigen Fällen erst „freigelegt“ werden, sodass im Rahmen der Aufarbeitung ot noch eine weitere Reaktion enthalten ist, die es für alle Verbindungen erzeugt (z. B. die Bildung von Formaldehyd aus Methylendioxygruppen bei den Schöllkraut-Alkaloiden).
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Einführung in die Analytik sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe anhand ausgewählter Beispiele
Wichtige Beispiele für Gesamtgehaltsbestimmungen auf der Basis photometrischer Bestimmungen sind (neben anderen) die Quantiizierung von Flavonoiden (PhEur 5: z. B. Birkenblätter, Echtes Goldrutenkraut und Holunderblüten), Anthranoiden (PhEur 5: z. B. Curaçao- bzw. KapAloe, Faulbaumrinde und Sennesblätter), Gerbstofen (PhEur 5: z. B. Blutweiderichkraut, Eichenrinde und Hamamelisblätter) und Alkaloiden (PhEur 5: z. B. Chinarinde und Schöllkraut). Zur Berechnung des prozentualen Gehaltes wird dabei auf die speziische Absorption einer einzelnen Substanz zurückgegrifen.
! Kernaussagen
Die vielfältigen und komplexen Problemstellungen im Bereich der Analytik von sekundären Pflanzeninhaltsstoffen haben zur Integration einer großen Palette von chromatographischen, spektroskopischen und spektrometrischen Methoden in diesem Fachgebiet geführt. Zur Isolierung pflanzlicher Sekundärstoffe bedient man sich zunächst eines geeigneten Verfahrens zur Extraktion (Mazeration, Perkolation, Soxhlet, überkritisches CO2), dem eine Auftrennung des Extraktes folgt. Dazu stehen neben verschiedenen säulenchromatographischen Methoden (SC, VLC) auch Verfahren zur Verfügung, die auf einer Flüssig-Flüssig-Verteilung beruhen. Die für die Trennung ausgewählte Strategie ist u. a. von der anvisierten Substanzklasse sowie von der Art (polar, unpolar) und der Menge des Extrakts abhängig. Eine zentrale Rolle nimmt dabei auch die DC ein, da mit ihrer Hilfe nicht nur die Fließmittel für die SC optimiert werden können, sondern auch der Erfolg einer Extraktion oder Trennung überprüfbar ist. Die endgültige Isolierung bzw. Reinigung einer Substanz (Reinheit im Idealfall t99%) kann in der Regel spätestens auf Basis eines MPLC- oder HPLC-Einsatzes erreicht werden. Der Isolierung schließt sich zum einen die Strukturaufklärung, zum anderen die Charakterisierung der gewonnenen Substanz an. Dominierende Methoden der Strukturaufklärung sind die MS und die NMR-Spektroskopie. Bedingt durch verschiedene Ionisierungstechniken (EI, DCI, ESI, APCI und MALDI) sind nahezu alle sekundären Pflanzeninhaltsstoffe einer massenspektrometrischen Analyse zugänglich. In der NMRSpektroskopie kommen neben den 1D-Spektren auch zahlreiche 2D-Verfahren (COSY, HSQC, HMBC, ROESY) im Routinebetrieb zum Einsatz wobei manchmal die geringe isolierte Substanzmenge der Strukturaufklärung eine
Im Bereich der Strukturauklärung ist die UV-Spektroskopie heute deutlich hinter der MS und der NMR zurückgetreten. Für einige Substanzklassen, wie z. B. bei den Flavonoiden, kann sie jedoch nützliche Hinweise, insbesondere durch den Einsatz von Verschiebungsreagenzien, liefern (Markham 1982). Diagnostische Hinweise sind hier die Lage von Absorptionsmaxima sowie die Intensität und die Feinstruktur (z. B. das Autreten von Schultern) einer Bande.
nicht mehr überschreitbare Grenze setzt. Eine wichtige Ergänzung zur Substanzisolierung steht mit den verschiedenen Kopplungstechniken zur Verfügung, bei denen insbesondere die GC/MS, die HPLC/MS (Ndjoko et al. 2000) und die HPLC/NMR (Literatur bei Wolfender et al. 2005) von erheblicher Bedeutung sind. Weitere wichtige Aufgabenfelder phytochemischer Analytik sind die Reinheitsprüfung und Gehaltsbestimmung von einzelnen Naturstoffen und Extrakten. Zur qualitativen Analyse von Stoffgemischen ist neben der HPLC nach wie vor die DC-Analyse eine der wichtigsten Verfahren, die auch bei der Fingerprint-Analyse eines Extrakts wertvolle Hinweise liefert. Als leistungsfähigere Alternative zur DC ist die HPTLC etabliert worden, die auch den Eingang in die Arzneibücher geschafft hat (vgl. PhEur 5.4, Kap. 2.2.27). Auch wenn mit der HPTLC und der Kopplung an einen DC-Scanner, die Möglichkeit zur Etablierung von leistungsfähigen Gehaltsbestimmungen gegeben ist, so ist auf dem Gebiet der quantitativen Analyse von Extrakten bei Reinheitsprüfungen und Gehaltsbestimmungen die HPLC gekoppelt mit einem UV-/ UV-Dioden-Array-Detektor das eindeutig dominierende Verfahren. Neben der Auftrennung eines Substanzgemisches und der quantitativen Bestimmung einzelner Substanzen ist auch die Gesamtgehaltsbestimmung einer ganzen Stoffgruppe noch immer von erheblicher Bedeutung. Die Quantifizierung erfolgt dabei über ein gemeinsames Strukturelement, das die Reaktion ermöglicht und das alle Vertreter dieser Stoffgruppe aufweisen. Beispiele dafür sind die photometrische Bestimmung nach einer Komplexierung von Flavonoiden mit Aluminiumchlorid oder von Anthranoiden mit Magnesiumacetat in der BornträgerReaktion. Damit die Quantifizierung nicht gestört wird, geht ihr eine sorgfältige Anreicherung und Abtrennung von Begleitsubstanzen voran.
Literatur
2
Schlüsselbegriffe Analytische Verfahren Chemische Verschiebung DC Detektoren Eindimensionale NMR (1HDEPT, „inverse-gated“) Extraktion Extrakte Fingerprint Fließmitteloptimierung Gekoppelte Verfahren Gesamtgehaltsbestimmung
13C-NMR,
HPLC HPTLC Isolierungsverfahren Kieselgel Massenspektrometrie Mobile Phasen MPLC Multiplizität NMR-Spektroskopie NOE Perkolation Präparative Verfahren
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Prisma-Modell Qualitätssicherung Reinheit Säulenchromatographie Stabilität Stationäre Phase Strukturaufklärung UV-Spektroskopie VLC Zerkleinerung von Drogen Zweidimensionale NMR (COSY, HSQC, HMBC, TOCSY und ROESY)
taxon subgenus Quamoclit, section Mina. Phytochemistry 66: 223–231 Kim HK, Choi YH, Luijendijk TJ et al. (2004) Comparison of extraction methods for secologanin and the quantitative analysis of secologanin from Symphoricarpos albus using 1H-NMR. Phytochem Anal 15: 257–261 Kordali S, Cakir A, Mavi A et al. (2005) Screening of chemical composition and antifungal and antioxidant activities of the essential oils from three Turkish Artemisia species. J Agric Food Chem 53: 1408– 1416 Li B, Abliz Z, Tang M et al. (2006) Rapid structural characterization of triterpenoid saponins in crude extract from Symplocos chinensis using liquid chromatography combined with electrospray ionization tandem mass spectrometry. J Chromatogr A 1101: 53–62 Li CY, Lin CH, Wu CC et al. (2004) Efficient 1H nuclear magnetic resonance method for improved quality control analyses of Ginkgo constituents. J Agric Food Chem 52: 3721–3725 Ma XQ, Liang XM, Xu Q et al. (2005) Identification of ginsenosides in roots of Panax ginseng by HPLC-APCI/MS. Phytochem Anal 16: 181–187 Mabry TJ, Markham KR (1975) Mass spectrometry of flavonoids. In: Harborne JB, Mabry TJ, Mabry H (Hrsg) The flavonoids. Chapman and Hall, London Markham KR (1982) Techniques of flavonoid identification. Academic Press, London New York Marriot PJ, Shellie R, Cornwell C (2001) Gas chromatographic technologies for the analysis of essential oils. J Chromatogr A 936: 1–22 Ndjoko K, Wolfender JL, Hostettmann K (2000) Determination of trace amounts of ginkgolic acids in Ginkgo biloba L. leaf extracts and phytopharmaceuticals by liquid chromatography–electrospray mass spectrometry. J Chromatogr B Biomed Sci Appl 744: 249– 255 Nyiredy S, Dallenbach-Tölke K, Sticher O (1988) The „PRISMA” optimization system in planar chromatography. J Planar Chromatogr 1: 336–342 Nyiredy S, Erdelmeier CAJ, Meier B et al. (1985) „PRISMA”: Ein Modell zur Optimierung der mobilen Phase in der Dünnschichtchromatographie, vorgestellt anhand verschiedener Naturstofftrennungen. Planta Med 3: 241–246
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2
Einführung in die Analytik sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe anhand ausgewählter Beispiele
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3 3 Biosynthese pflanzlicher Sekundärstoffe R. Lukain, U. Matern . . . .
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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3.1
Grundlegende Methoden zur Auklärung von Biosynthesewegen 3.1.1 Isotopentechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Enzymatische Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Genetische Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3
Biosynthese pflanzlicher Sekundärstoffe
> Einleitung Ein wesentlicher Teilbereich der Pharmakognosie und Phytopharmazie (Lehre von biogenen Arzneimitteln) beschäftigt sich mit der Erforschung von Biosynthesen tierischer, mikrobieller und insbesondere pflanzlicher Wirkstoffe. Im Vordergrund steht dabei die Identifizierung der Ausgangs- und Zwischenprodukte (Intermediate) der vollständigen Biosynthesesequenzen. An die analytischen Untersuchungen schließt sich üblicherweise die Beschreibung der Enzyme an, die die einzelnen Umsetzungen katalysieren. Dazu werden die Enzyme möglichst chromatographisch gereinigt und dann biochemisch und molekular charakterisiert. Die Ermittlung von Partialsequenzen der Enzympolypeptide kann zur Klonierung der entsprechenden cDNS genutzt werden. Die Überführung von einzelnen, vollständigen cDNSn in Expressionsvektoren und die Expression der funktionalen rekombinanten Enzyme in einem heterologen System beweist letztlich die Identität des jeweiligen Enzyms. Die Expression größerer Mengen der rekombinanten Enzyme eröffnet zudem die Möglichkeit, die Reaktionsmechanismen und die räumlichen Strukturen der Enzyme zu studieren.
3.1 Grundlegende Methoden zur Aufklärung von Biosynthesewegen Zu den grundlegenden Methoden, die zur Auklärung von Biosynthesewegen eingesetzt werden, gehören die Fütterung von markierten Vorstufen (Isotopentechnik), die Messung einzelner Enzymreaktionen in vitro und der Einsatz von Mutanten.
3.1.1 Isotopentechnik Die Einführung der Isotopen-, Tracer- oder Indikatortechnik in die biochemische Forschung durch G. von Hevesy im Jahre 1913 ermöglichte es erstmals, komplexe Biosynthesevorgänge in verschiedenen Organismen genau zu verfolgen. Der Vorteil dieser Technik beruht, bei geeigneter Wahl der isotopenmarkierten Vorstufe, auf der selektiven Markierung von Intermediaten und Produkten
ohne grundlegende Änderung ihrer chemischen Eigenschaten. Elemente werden durch ihre Ordnungszahl deiniert. Diese ergibt sich aus der Anzahl der Protonen im Kern. Der positiven Kernladung steht die negative Ladung der Elektronen in der Elektronenhülle gegenüber. Weiterer Bestandteil des Atomkerns sind die Neutronen, beide Kernbestandteile werden als Nukleonen bezeichnet. Die Anzahl der Neutronen innerhalb eines Atomkerns kann bei gleichbleibender Protonenzahl und somit gleicher Ordnungszahl diferieren, sodass verschiedene Massen eines Elements, die Isotope, resultieren. Da Isotope die gleiche Anzahl an Elektronen besitzen, ist ihr chemisches Verhalten weitestgehend identisch.
! Kernaussage
Isotope eines Elements unterscheiden sich voneinander durch die Zahl der Neutronen und somit in ihrer Kernmasse.
Ein großer Vorteil der Tracertechnik liegt in der Möglichkeit, die Mengen der markierten Verbindungen über die Zeit zu verfolgen. So ist man in der Lage, die Aufnahme und Verteilung bzw. metabolische Umsatzraten, Translokations- und Akkumulationsvorgänge, Pool-Bestimmungen oder die Verweildauer eines Stofes innerhalb eines Organismus genauestens festzustellen. Darüber hinaus lassen sich unter geeigneten experimentellen Bedingungen das Ausmaß und die Geschwindigkeit der Neubildung von Stofen direkt verfolgen. In biochemischer Hinsicht mündet die Anwendung der Isotopentechnik in der Auklärung von Biosynthesewegen. Dabei geht es um die Identiizierung von Produkten des Intermediärstofwechsels, um die Gleichgewichtsbeziehung zwischen den einzelnen Stofen, die an den chemischen Umwandlungen beteiligt sind und um die Frage nach dem kinetischen Verlauf dieser Reaktionen. So lässt sich relativ leicht ermitteln, ob eine Verbindung Vorstufe (Präkursor) oder Produkt einer Reaktion ist, welche Stofwechselwege bei der Metabolisierung überwiegend beschritten werden oder aber welcher Reaktionsmechanismus einer gegebenen biologischen Umwandlung zugrunde liegt. Unter methodischen Gesichtspunkten ist die Unterscheidung von stabilen und instabilen (radioaktiven) Isotopen notwendig. Beispielsweise stellt der in der Natur vorkommende Sauerstof ein Gemisch aus drei stabilen
3.1 Grundlegende Methoden zur Aufklärung von Biosynthesewegen
Isotopen dar; er besteht zu 99,759% aus 16O, zu 0,0374% aus 17O und zu 0,2036% aus 18O. Alle Isotope des Sauerstofs enthalten also 8 Protonen, unterscheiden sich aber dadurch, dass sie 8, 9 oder 10 Neutronen besitzen. Messtechnisch besonders relevant ist auch das stabile Isotop 13C, das zu 1,108% im Kohlenstof unserer natürlichen Umgebung enthalten ist und wie das Isotop 2H (Deuterium) oder 15N einen Kernspin aufweist. Im Gegensatz zu diesen Isotopen zeichnen sich die radioaktiven Isotope durch ihre Instabilität aus. Das Phänomen der Radioaktivität (Kernstrahlung) wurde zufällig von dem französischen Physiker H.A. Becquerel (1852–1908) beobachtet, der die Schwärzung einer fotograischen Schicht durch Pechblende nachwies. Kurz darauf wurde das Element Uran als Quelle der Strahlung in diesem Mineral identiiziert, und M. Curie (1867–1934) und P. Curie (1859–1906) entdeckten Polonium und Radium, das ein weitaus größeres Strahlungsvermögen hat. Radium ist ein Erdalkalimetall, das eine gewisse Ähnlichkeit zum Barium aufweist und in der Pechblende nur in ganz geringer Menge vorkommt.
! Kernaussage
Die Eigenschaft eines Elements, Strahlung zu emittieren, wird als natürliche Radioaktivität bezeichnet.
Die Strahlung eines natürlichen Isotops beruht auf der Instabilität seines Atomkerns, der mit einer speziischen Zerfallszeit zu einem neuen Atom zerfällt, das meist wieder radioaktiv und instabil ist. Um die mittlere Lebensdauer eines radioaktiven Isotops zu beschreiben, wird die physikalische Halbwertszeit angegeben, die der Zeit entspricht, nach der die Hälte einer ursprünglich vorhandene Anzahl von radioaktiven Kernen zerfallen ist. Im Falle von 14C beträgt die Halbwertszeit 5730 Jahre. Diese muss deutlich von der so genannten biologischen Halbwertszeit unterschieden werden, die den Verbleib eines inkorporierten Radionuklids im Organismus beschreibt. Die biologische Halbwertszeit, die im Bereich von einigen Wochen bis Monaten liegt, ist stark von der Art der inkorporierten Verbindung und des untersuchten Organs abhängig. Die beim radioaktiven Zerfall freiwerdende Energie wird in Form dreier verschiedener Strahlungsarten ausgesandt: x α-Strahlung: Aus dem Atomkern wird beim Zerfall ein α-Teilchen (Heliumkern) freigesetzt.
3
x β-Strahlung: Der instabile Atomkern sendet entweder ein negatives Elektron (Negatron, β–) oder ein Positron (β+) aus. x γ-Strahlung: eine der Röntgenstrahlung analoge elektromagnetische Wellenstrahlung, aber von kürzerer Wellenlänge. Die Radioaktivität eines Radionuklids wird gemessen als Anzahl der Zerfälle pro Sekunde in Becquerel (Bq; die früher übliche Einheit von einem Curie, Ci, entspricht 3,7 u 1010 Bq). In der Praxis wichtiger ist die speziische Radioaktivität einer Verbindung, die als Radioaktivität pro mol (Bq/mol) angegeben wird. Für die aktuelle Forschung relevant sind insbesondere die Radioisotope 3H (Tritium), 14C, 32P, und 35S, die durch Neutronenbeschuss geeigneter Ausgangsverbindungen künstlich hergestellt werden. Der Beschuss führt in allen Fällen zur instabilen Anordnung der Nukleonen im Kern, ein Neutron zerfällt unter Aussendung eines Elektrons (β-Strahlung) zu einem Proton, wobei ein neues Element mit gleicher Masse, aber nächst höherer Ordnungszahl (3H1 zu 3He2 ; 14C6 zu 14N7 ; 32P15 zu 32S16 und 35S16 zu 35Cl17) entsteht. > Tabelle 3.1 gibt einen Überblick über die im Labor am häuigsten verwendeten Isotope. Beim Einsatz von stabilen oder radioaktiven Isotopen sind unterschiedliche Vor- und Nachteile zu beachten. Stabile Isotope sind, wie der Name bereits sagt „sehr stabil“, d. h. der Verbleib kann auch nach längeren Zeiträumen gemessen werden. Bei Fütterung stark angereicherter Vorstufen ist es eventuell sogar möglich, Folgeprodukte auf Grund ihrer Dichte zu unterscheiden; beispielsweise wurde die Neusynthese von Enzymen durch Einbau von 15N-markierten Aminosäuren verfolgt. Andererseits kann der Kernspin von z. B. 13C zur Strukturanalyse durch Kernresonanzmessungen genutzt werden. Zudem sind stabile Isotope relativ unschädlich, wenn sie nicht in zu hoher Konzentration angewendet werden. Die Markierung von Verbindungen mit stabilen Isotopen kann allerdings im Vergleich zur unmarkierten Kontrolle zu unterschiedlichen Reaktionskinetiken in vitro führen, und einige Enzyme können sogar Isotope in gewissem Umfang diskrimieren. Darüber hinaus ist der Nachweis der stabil markierten Metabolite meist aufwendig, da sie abgetrennt und durch Massenspektrometrie oder Kernresonanz bestimmt werden müssen. Allerdings liefern diese Methoden, insbesondere die Kernresonanzmessung, über den qualitativen Nachweis hinaus auch strukturelle Informationen. Im Gegensatz dazu lassen sich radioaktiv markierte Verbindun-
63
64
3
Biosynthese pflanzlicher Sekundärstoffe
. Tabelle 3.1 In der biologischen Forschung häufig verwendete Isotope Element
Stabiles Isotop
Radioaktives Isotop
Halbwertszeit (physikalisch)
Strahlung
Maximale Reichweite der β−-Partikel in
Wasserstoff
2H(D)
–
–
–
Wasserstoff
–
3H(T)
12,26 Jahre
β, sehr weich
Kohlenstoff
13C
–
–
–
–
–
14C
5736 Jahre
β−
24
0,028
Stickstoff
15N
–
–
–
–
–
Sauerstoff
18O
–
–
–
–
–
Schwefel
35S
87,1 Tage
β−
26
0,32
Phosphor
32P
14,3 Tage
β−
790
0,8
Phosphor
33P
25,4 Tage
β−
49
0,6
Iod
125I
60,0 Tage
γ
–
–
Iod
131I
8,1 Tage
β
Luft (cm)
Kohlenstoff
gen relativ einfach und sehr empindlich nachweisen. Die Intensität der radioaktiven Strahlung kann mit verschiedenen Messverfahren verfolgt werden, wobei sogar die unterschiedliche Energiedichte der emittierten Strahlung bei Doppelmarkierung mit verschiedenen Isotopen unterschieden werden kann. Technisch wird die Strahlung durch ihre ionisierende Wirkung auf ein Zählgas (GeigerMüller-Zählrohr), die Anregung von Substanzen zur Emission von Photonen (Szintillationszählung), die Zersetzung lichtempindlicher Emulsionen (Autoradiographie) oder die Anregung von Übergangsmetallen in einer festen Matrix (Bio-Imager) erfasst. Die Zeit, in der die Hälte der Ausgangsmenge des Isotops zerfällt (physikalische Halbwertszeit), variiert von ca. 14,2 Tagen für 32P bis zu 5730 Jahren für 14C und reicht in jedem Falle für übliche Messungen aus. Als schwerwiegender Nachteil kann die Strahlenwirkung radioaktiver Isotope auf das menschliche Gewebe gesehen werden. Allerdings ist die Reichweite der β-Strahlung der genannten künstlichen Radioisotope bereits in Lut relativ gering. Deshalb ist das Arbeiten mit radioaktiven Stofen nicht so gefährlich wie häuig angenommen. Dennoch sollte dabei nie leichtfertig ofen hantiert werden; die üblichen Schutzmaßnahmen, wie die Verwendung von Schutzschilden oder das Einhalten des größtmöglichen Abstands (die Strahlungsintensität sinkt mit dem Quadrat der Entfernung), müssen beachtet werden.
–
+γ
Wasser (cm) –
0,6
0,0006
165
Die Bedeutung stabiler Isotope beim Nachweis von Biosyntheseprodukten Etwa 300 stabile, nichtstrahlende Isotope sind bekannt, und einige davon inden Verwendung in der biologischen, medizinischen und pharmazeutischen Forschung. Darunter haben 18O und 15N Bedeutung, weil von diesen Elementen keine radioaktiven Isotope existieren, während 2H (Deuterium, schwerer Wasserstof ) und 13C häuig für Untersuchungen zur Stereospeziität von Enzymreaktionen bzw. wegen des Kernspins verwendet werden. Diese stabilen Isotope stehen heute in hoch angereicherter Form (ca. 100%) zur Verfügung, was ihre Nützlichkeit für die Aufklärung von Biosynthesewegen im Zusammenhang mit den modernen spektroskopischen Möglichkeiten sehr fördert. Dabei wird in der Regel das Isotopenverhältnis von Haupt- zu Nebenisotopen verfolgt (1H/2H, 13C/14C, 14N/15N oder 16O/18O), das sich massenspektrometrisch bestimmen lässt. Massenspektrometrie. Der Massenspektrograph, der be-
reits 1919 von F.W. Aston konstruiert wurde, besteht im Grunde aus einer Ionenquelle zur Erzeugung von Molekülionen, einem Analysator zur Trennung der Ionen nach m/z (Ionenmasse zu Ladungsverhältnis) und einem Detektor, zur Erfassung der Messdaten. Der Aubau entspricht dem Messprinzip, das die zu untersuchenden Sub-
3.1 Grundlegende Methoden zur Aufklärung von Biosynthesewegen
stanzen mit verschiedenen Techniken (thermisch, durch elektrische Felder oder durch Beschuss mit Elektronen, Ionen oder Photonen) in positive Ionen überführt und diese analysiert. Dabei kann es sich um einzelne ionisierte Atome, ionisierte Moleküle und deren Bruchstücke oder Assoziate handeln. Diese Ionen werden im magnetischen Feld nach Masse und Ladung getrennt und mittels eines Registriersystems in ihrer Häuigkeit erfasst. Ionen gleicher Summenformel, aber verschiedener Isotopenmassen werden so gleichzeitig erfasst, wodurch ein charakteristisches Isotopenmuster entsteht. Neben der Masse des eigentlichen Molekülions (M+) inden sich dabei auch die der schweren Isotope (z. B. M+1 oder M+2), wobei je nach Messbedingungen auch ein [M + H]+ autreten kann. Die Massenspektrometrie mit hoher Aulösung (4 Dezimalen hinter dem Komma) verrät die exakte Zusammensetzung der einzelnen Ionen. Die Veränderung des Isotopenmusters einer Verbindung kann so zur Untersuchung eines Biosyntheseweges genutzt werden. Der Einbau einer markierten Vorstufe äußert sich in der Erhöhung des jeweiligen Signals (z. B. M+2-Signal bei 18O). Darüber hinaus kann aus den übrigen Ionen, die direkt oder mehrstuig durch Fragmentation entstanden sind, auf die Lokalisation der markierten Vorstufe im Produkt geschlossen werden. Für die Interpretation von Massenspektren ist die Analyse solcher Zerfallsschemata nicht unerheblich. Eine besondere Bedeutung hat die moderne Isotopenverhältnismassenspektrometrie (IRMS, „isotope ratio mass spectrometry“, oder SIRA, „stable isotope ratio analysis“) in weiten Bereichen der Analytik erlangt. Hier wird die Probe vollständig verbrannt und das 12C/13C-Verhältnis im resultierenden CO2 durch GC-IRMS gemessen. Die Messungen stützen sich auf die Kenntnis, dass die unter „Anwendung der Isotopentechnik“ besprochene Ribulosebisphosphat-Carboxylase/Oxygenase bei der CO2-Fixierung 12CO2 von 13CO2 unterscheiden kann. Es handelt sich zudem um ein allosterisches Enzym, das durch unterschiedlichen CO2-Partialdruck moduliert wird, sodass sich der 12CO2/13CO2-Quotient (die Molekularionen m/z 44 für 12CO2 und m/z 45 für 13CO2 können mit einer Präzision bis 0,0002% bestimmt werden) der Fixierung in den so genannten C4-Planzen (höherer CO2-Partialdruck) und C3-Planzen unterscheidet. Auf diesem Weg wurde z. B. Wein auf Zusatz von Rohrzucker oder echtes Kamillenöl auf Verfälschung geprüt (Carle 1996). Eine gewisse Brisanz ergibt sich für die Doping-Kontrolle, weil nun auch die verbotene Einnahme von körperidentischen Steroidhormonen, wie Testosteron, Dihydrotestosteron
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oder Dehydroepiandrosteron, möglich wird. Kommerziell werden Steroidhormone aus planzlichen Vorstufen synthetisiert, die ein anderes 12C/13C-Verhältnis aufweisen als die körpereigenen Hormone (Ueki u. Okano 1999). NMR-Spektroskopie. Ein weiteres sehr leistungsfähiges
Verfahren der modernen Biosyntheseforschung, das die Markierung mit stabilen Isotopen nutzt, ist die Kernresonanzspektroskopie, kurz NMR-Spektroskopie („nuclear magnetic resonance“). Diese Technik misst den so genannten Kernspin einiger Atomkerne, insbesondere 1H und 13C, die ein magnetisches Moment besitzen. Magnetische Atomkerne besitzen eine ungerade Anzahl an Neutronen oder Protonen. Die Messungen werden in einem starken Magnetfeld ausgeführt, das die Moleküle zunächst ausrichtet. Zusätzlich eingestrahlte Radiowellenpulse (elektromagnetische Strahlung) werden absorbiert und führen zur Anregung der magnetischen Kerne, die dadurch ihre Orientierung im angelegten Magnetfeld ändern. Nachdem der Impuls abgeklungen ist, fällt der Spin der Kerne in den Ruhezustand zurück (Relaxation). Bei dieser Veränderung des Kernspin-Zustandes wird die zuvor absorbierte Anregungsenergie wieder frei, das Signal wird mit Radiowellendetektoren registriert und durch mathematische Umformung in ein NMR-Spektrum übersetzt, in dem die jeweiligen Resonanzfrequenzen relativ zu einer Standardfrequenz (chemische Verschiebung) aufgelöst sind. Neben der 1H-NMR-Spektroskopie hat die 13CNMR-Spektroskopie für die Strukturauklärung von Naturstofmolekülen große Bedeutung erlangt, da schon der natürliche 13C-Gehalt organischer Verbindungen (1,108%) für strukturelle Messungen ausreicht. Dabei treten wegen der relativ niedrigen Prozentzahl kaum 13C/13C-Kopplungen auf (geringe Wahrscheinlichkeit für direkt benachbarte 13C-Kerne), und die Kopplung mit 1H-Kernen kann technisch ausgeblendet werden (1H-Breitbandentkopplung). Mit dieser Methode kann die Zahl der Kohlenstofatome einer Substanz und die chemische Umgebung der einzelnen Kerne erfasst werden. Der Informationswert von 13C-NMR-Spektren wird im Vergleich zu 1H-NMRSpektren höher eingeschätzt, weil signiikant größere Unterschiede in der chemischen Verschiebung der Resonanzen autreten und sich die Auswirkungen von Substituenten auf die chemische Verschiebung ot additiv verhalten. Ohne Breitbandentkopplung sind zudem vielfache 13C/1HNah- und Fernkopplungen möglich, die zu komplexen Spektren mit größerer Aussagekrat führen. Allerdings ist die Empindlichkeit der 13C-NMR-Spektroskopie im Ver-
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3
Biosynthese pflanzlicher Sekundärstoffe
gleich zur 1H-NMR-Spektroskopie geringer, was eventuell durch Einsatz von 13C-angereicherten Vorstufen ausgeglichen werden kann.
. Abb. 3.1
! Kernaussage
Die Leistungsfähigkeit der 13C-NMR-Spektroskopie kann durch Verwendung angereicherter Vorstufen erhöht werden.
In Fütterungsexperimenten kann das Schicksal einer Vorstufe, die unmittelbar benachbarte 13C-Isotope enthält, spektroskopisch verfolgt werden, da die Resonanzen im 13C-NMR-Spektrum für jedes dieser Isotope aufspalten (magnetische Kopplung). Wird die Verbindung so metabolisiert, dass einzelne 13C/13C-Bindungen gespalten werden, dann verringert sich die Multiplizität der Resonanzsignale unter gleichzeitiger Verstärkung der Signale. So führte der Einbau von [U-13C]Pyruvat in Bakterien zu der Erkenntnis, dass C2 und C3 dieser Vorstufe die Kohlenstofatome 3 und 4 von Isopentenyldiphosphat auf dem Weg zu den Hopanoiden bilden müssen ( > Abb. 3.1a; Eisenreich et al. 2001). Allerdings können solche Messungen sehr anspruchsvoll sein, insbesondere wenn die Einbauraten niedrig sind. Beispielsweise wurde durch Einbau von [U-13C]Glucose in Mischung mit unmarkierter Glucose die Biosynthese von Gallussäure in Blättern von Rhus typhina (Essigbaum) studiert. Formal könnte sich die Gallussäure aus einem frühen Intermediat des Shikimatweges oder aus 4-Hydroxyphenylpyruvat unter Verkürzung der Seitenkette ableiten, womit das Carboxylat der Gallussäure C1 oder C3 von Pyruvat zuzuordnen wäre. Mit der ge-
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4
3
3
a
a Einbau von 13C-markiertem Pyruvat in Hopanoide. 7 Bakterien synthetisieren Isopentenyldiphosphat (IPP) im Gleichgewicht mit Dimethylallyldiphosphat als Vorstufen 3 der Hopanoide aus Pyruvat und Glycerinaldehyd-3-phosphat. Nur C3 und C4 im IPP leiten sich aus Pyruvat ab (C2 und C3). b Relativer Einbau von 13C aus [U-13C]Glucose in das Gallussäure-Carboxyl in Rhus typhina im Vergleich zum β-Kohlenstoff von L-Phenylalanin. Der erheblich geringere Einbau in das Gallussäure-Carboxyl (2,9% gegenüber 23,4% im β-Kohlenstoff von L-Phenylalanin) zeigt, dass Gallussäure nicht aus Phenylpropanen (L-Phenylalanin, L-Tyrosin oder 4-Hydroxyphenylpyruvat) unter Verkürzung der Seitenkette entsteht, sondern aus einer früheren b Stufe des Shikimatweges abgeleitet wird
HOPANOIDE
c
Prephenat
L
3.1 Grundlegende Methoden zur Aufklärung von Biosynthesewegen
sicherten Kenntnis, dass das β-Kohlenstofatom in Phenylalanin oder Tyrosin aus C3 von Pyruvat stammt, konnten die Einbauraten in das Gallussäure-Carboxyl mit denjenigen im β-Kohlenstof von Tyrosin oder Phenylalanin aus derselben Planze verglichen werden ( > Abb. 3.1b). Dazu war es allerdings erforderlich, einige Metabolite, z. B. Tyrosin, chemisch abzubauen und den Markierungsgrad für die einzelnen Kohlenstofatome zu ermitteln. Diese „retrobiosynthetische“ Studie erlaubte den Schluss, dass sich Gallussäure nicht von Phenylpropanen (z. B. 4-Hydroxyphenylpyruvat oder Tyrosin), sondern aus einer frühen Stufe des Shikimatweges ableitet (Werner et al. 1997).
Applikationstechniken zur Aufnahme von Isotopen Zur Auklärung von Biosynthesewegen müssen die isotopenmarkierten Verbindungen in den Stokreislauf von Planzen oder Mikroorganismen eingeschleust werden. Hierfür wurde eine Reihe von Methoden entwickelt. Welche dieser Techniken zum Einsatz kommt, wird durch das vorliegende Versuchsmaterial und die zu bearbeitende experimentelle Fragestellung entschieden. Außerdem sollte bei der Auswahl darauf geachtet werden, dass das „intensive Einschleusen“ markierter Verbindungen das normale Stof wechselgeschehen des zu untersuchenden Organismus nicht übermäßig beeinträchtigt. Die folgenden Applikationstechniken sind üblich: 1. Aufnahme der markierten Verbindung über den Transpirationsstrom: a) Aufsaugen (Aufnahme der markierten Verbindungen über Wundlächen oder in natürlicher Weise über die Wurzel intakter Planzen, z. B. Keimlinge) b) Aufsprühen (Methode nur bei großen Blättern geeignet) oder in einer Matrix aubringen (im Englischen als „wick-feeding“ bezeichnet) c) Dochtverfahren (hierbei erfolgt die Aufnahme durch einen Docht, der von der Planze zur Applikationslösung führt). 2. Injektionsverfahren: Hierbei wird die Lösung des markierten Stofs (Präkursor) mit einer Spritze in das Versuchsmaterial oder den Versuchsorganismus injiziert (z. B. in den hohlen Stängel einer Planze).
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3. Applikation gasförmiger Stofe: Zur Aufnahme gasförmiger Verbindungen (z. B. 14CO ) werden intakte Planzen oder Planzenorgane 2 in so genannte Assimilationskammern platziert. Dabei handelt es sich um ein abgeschlossenes System. 4. Aufnahme über Vakuuminiltration: Zunächst wird das Untersuchungsmaterial, wie z. B. Wurzeln, Samen oder Blätter, in der Lösung der markierten Verbindung in einem Exsikkator unter mildes Vakuum gesetzt, um die Lut aus dem Gewebe zu entfernen. Nach Evakuierung dringt die Lösung auf Grund der nachfolgenden Entspannungsphase durch Spaltöfnungen oder Wundlächen in das zu untersuchende Objekt ein. 5. Replacement-Methodik: Zur Untersuchung von planzlichen Zellkulturen oder Mikroorganismen wird dem jeweiligen Nährmedium die markierte Verbindung in Form einer Lösung zugesetzt.
Anwendung der Isotopentechnik Aufklärung eines Schrittes aus der Flavonoidbiosynthese. Anhand eines Beispiels aus der Flavonoidbiosyn-
these soll das Vorgehen zur mechanistischen Klärung eines Biosyntheseschritts näher erläutert werden. Im Jahre 1964 wurde postuliert, dass Chalkone Vorstufen von Dihydrolavonolen sein könnten, und im daraufolgenden Jahr konnte dieses Postulat durch gezielte Tracerexperimente untermauert werden (Grisebach u. Kellner 1965). Folgt man chemischen Modellreaktionen, könnten formal verschiedene Wege vom Chalkon zum Dihydrolavonol führen ( > Abb. 3.2), d. h. 1. ein Ringschluss zum Flavanon gefolgt von der 3β-Hydroxylierung, 2. die Oxidation zum Chalkonepoxid mit nachfolgender Öfnung zum Dihydrolavonol, 3. eine sequentielle Umsetzung zum Flavanon und Oxidation zum Flavon, das dann 3-hydroxyliert und anschließend reduziert wird, oder 4. das intermediär entstandene Flavon wird hydrolytisch zum Dihydrolavonol umgesetzt. Die zitierten Untersuchungen untermauerten einen Reaktionsmechanismus nach (1), durch den 3-Hydroxylavanone (Dihydrolavonole) durch stereospeziische 3β-Oxydation des J-Pyronringes (C-Ring des Flavonoids;
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3
Biosynthese pflanzlicher Sekundärstoffe
. Abb. 3.2
Schematische Möglichkeiten zur Biosynthese von Taxifolin aus Tetrahydroxychalkon. Nach Fütterung von [β-14C,β-3H]Tetrahydroxychalkonglucosid an Chamaecyparis obtusa wurde [2–14C,2–3H]Taxifolinxylosid unter Erhalt der relativen Markierung (14C:3H im Verhältnis 1:2,1) isoliert. Das Ergebnis schließt die Wege 3 und 4 aus, Weg 2 wurde später ausgeschlossen > Abb. 3.2) entstehen. Zum Beweis wurde 4,2ʹ,4ʹ,6ʹ-Tetrahydroxy-[β-3H, β-14C]chalkon-2ʹ-glucosid (Markierungsverhältnis 2,3:1) hergestellt und über die 2–3 cm langen Blattrispen an die Scheinzypresse (Chamaecyparis obtusa) gefüttert, die relativ große Mengen eines Dihydrolavonols (Taxifolin-3-xylosid syn. Dihydroquercetin-3-xylosid) produziert. In diesen Versuchen diente das 14C-Isotop lediglich als interne Bezugsgröße für den jeweiligen 3H-Gehalt. Falls das Dihydrolavonol über Weg 3 oder 4 gebildet würde, hätte das Tritium verloren gehen müssen. Nach 4tägiger Versuchsdauer unter Belichtung wurde das Blattmaterial aufgearbeitet und das Taxifolin-3-xylosid aus dem hydrophilen Anteil des Extraktes isoliert. Die Analyse zeigte ein 14C:3H-Verhältnis im Produkt von 1:2,1, was dem des eingesetzten Chalkonglucosids in etwa entsprach und den entscheidenden Hinweis für die Biosynthese über Weg 1 oder 2 gab. Welcher dieser beiden Wege beschritten wird, ließ sich aus dieser Studie noch nicht ableiten. Erst einige Jahre später konnte die direkte Hydroxylierung vom Flavanon zum Dihydrolavonol in Blüten eines deinierten Genotyps von Matthiola incana (Levkoje) bestätigt werden ( > Abschn. 3.1.2). Der qualitative Nachweis der Markierung in einem Endprodukt nach Fütterung eines markierten Präkursors beweist allein nicht, dass der Präkursor die unmittelbare Vorstufe darstellt. Es ist möglich, dass die Vorstufe zunächst metabolisiert wird und die Markierung mittelbar in das Endprodukt gelangt. Das Ausmaß der Metabolisierung kann stark von der Art des Präkursors abhängen und
auch hier eine genaue Analyse der Isotopenzusammensetzung des Produkts nach chemischem Abbau erforderlich machen. Pulsmarkierungen mit 14CO2. Zur Auklärung von Bio-
synthesesequenzen können kinetische Untersuchungen erforderlich sein, in denen der autoradiographische Nachweis von markierten Produkten über verschieden lange Zeiträume geführt wird. Ein eindrucksvolles Beispiel lieferten die Untersuchungen, die M. Calvin ab 1945 zum Einbau von CO2 in Kohlenhydrate im Verlauf der Dunkelreaktion der Photosynthese durchführte. Eine Suspension der Grünalge Chlorella, die in einfacher Weise dauerhat in Kultur gehalten werden kann, wurde mit 14CO2 begast, das mittels Phosphorsäure aus Ba14CO3 freigesetzt werden kann. Danach wurde die Suspension kurzfristig belichtet, die Algen zu verschiedenen Zeitpunkten durch Zugabe von Ethanol abgetötet und die radioaktiv markierten Produkte durch zweidimensionale Papierchromatographie aufgetrennt. Die Ergebnisse der autoradiographischen Auswertung mit Hilfe von Photoilmen waren zunächst verwirrend, da bereits nach 60-sekündiger Bestrahlung zahlreiche markierte Verbindungen nachzuweisen, aber kaum zuzuordnen waren. Schließlich führte die verkürzte Bestrahlung zum Erfolg, da nach 5 Sekunden nur ein Produkt nachgewiesen und als 3-Phosphoglycerat identiiziert werden konnte. Es wurde zunächst vermutet, dass es sich dabei um das erste Produkt der CO2-Fixierung in den Algen handelt und ein Akzeptormolekül aus zwei C-Atomen
3.1 Grundlegende Methoden zur Aufklärung von Biosynthesewegen
3
. Abb. 3.3
Fixierung von 14CO2 im reduktiven Pentosephosphatzyklus (Calvin-Zyklus). Die Markierung aus 14CO2 wurde im 3-Phosphoglycerat nachgewiesen
beteiligt ist. Diese Annahme war – wie wir heute wissen – falsch, da die Reaktionsfolge viel komplexer ist und das 3-Phosphoglycerat erst nach hydrolytischer Spaltung einer intermediären C6-Verbindung aus der Fixierung von CO2 an Ribulose-1,5-bisphosphat durch die Ribulosebisphosphat-Carboxylase/Oxygenase entsteht ( > Abb. 3.3). In weiteren kinetischen Studien wurden schließlich alle Zwischenprodukte der Photoassimilation (reduktiver Pentosephosphatzyklus) identiiziert. Die Anordnung der Versuche hatte Modellcharakter und wurde auch zur Auklärung zahlreicher Biosynthesewege des Sekundärstofwechsels in Planzen eingesetzt. So konnte in Mentha × piperita die Bildung des Menthols aus 14CO2 über die Zwischenstufen Piperiton und Menthon nachgewiesen werden.
3.1.2 Enzymatische Methoden Eine weitere Möglichkeit zur Untersuchung von Biosynthesewegen eröfnet sich mit In-vitro-Studien der beteiligten Enzyme, die angereichert und kinetisch analysiert werden können. Allerdings muss zu Beginn solcher Arbeiten der Verlauf der zu untersuchenden Biosynthesesequenz wenigstens annähernd bekannt sein. Hierfür eignen sich die unter Abschnitt 3.1.1 beschriebenen Vorstufenexperimente. Für die In-vitro-Untersuchungen einzelner Enzyme müssen zunächst einige Voraussetzungen erfüllt sein: 1. Das natürliche Substrat für die enzymatische Reaktion sollte in ausreichender Menge vorhanden sein; die Parameter für die Auswertung müssen festgelegt werden (z. B. photometrisch, chromatographisch oder autoradiographisch). 2. Die zu untersuchende Umsetzung sollte tatsächlich enzymatisch verlaufen. Dies kann durch einen einfachen Vortest geprüt werden, z. B. in Form einer
„Kochprobe“ (Denaturierung des Proteins durch Erwärmung auf 95 °C für 5 min). Danach sollte keine Enzymaktivität mehr nachzuweisen sein. 3. Das Ausgangsmaterial, aus dem das jeweilige Enzym angereichert werden soll, muss in ausreichender Menge zur Verfügung stehen. In vielen Fällen ist es gelungen, Biosyntheseabläufe durch Anreicherung und Charakterisierung der beteiligten Enzyme zu beschreiben und letztlich auch mechanistisch aufzuklären.
Anreicherung von Enzymen aus Pflanzenorganen Die Vorgehensweise lässt sich am Beispiel der bereits zitierten Hydroxylierung von Flavanonen zu Dihydrolavonolen ( > unter „Anwendung der Isotopentechnik“) erläutern. Obwohl die durch Einbau von Isotopen nachgewiesene Hydroxylierung des Flavanons zum Dihydrolavonol mit Hilfe permeabilisierter Zellkulturen von Haplopappus gracilis 1975 bestätigt werden konnte, war der enzymatische Ablauf bis Ende der 1970er-Jahre noch nicht verstanden. Dies gelang erst 1980 im Rahmen der Untersuchungen zur Biosynthese von Anthocyanen mit einer weißblühenden Mutante von Matthiola incana. Zellfreie Extrakte der Petalen katalysierten die gewünschte Hydroxylierung ( > Abb. 3.4) in Abhängigkeit von 2-Oxoglutarat, O2, Fe2+ und Ascorbat. Diese Kofaktorabhängigkeit ist charakteristisch für eine Klasse von Dioxygenasen. Kurz darauf wurde die Hydroxylierung auch mit Extrakten aus PetersilieZellkulturen beschrieben und das beteiligte Enzym als Flavanon 3β-Hydroxylase („FHT“) vorläuig charakterisiert (Britsch et al. 1981). Schließlich wurde das Enzym aus Kronblättern einer rotblütigen Mutante von Petunia hybrida gereinigt. Die Wahl des Ausgangsgewebes, das die
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Biosynthese pflanzlicher Sekundärstoffe
. Abb. 3.4
Hydroxylierung von 2S-Flavanonen zu 2R,3R-Dihydroflavonolen durch die Flavanon 3β-Hydroxylase (FHT). Das Enzym wurde aus Blüten der Petunie gereinigt und katalysiert in vitro stereospezifisch die Hydroxylierung in Gegenwart von molekularem Sauerstoff, zweiwertigem Eisen, Ascorbat und 2-Oxoglutarat
höchste speziische Enzymaktivität zeigte, war entscheidend, weil das Enzym in rohen Extrakten äußerst labil gegenüber Oxidation und proteolytischem Abbau war. Trotz dieser Schwierigkeiten konnte die FHT aus 2,7 kg Blütengewebe über sieben Stufen zur apparenten Homogenität gereinigt werden, allerdings mit geringer Ausbeute von nur wenigen 100 µg. Diese Menge genügte jedoch zur Bestimmung der kinetischen Parameter für die Umwandlung von Flavanonen zu Dihydrolavonolen und zur Ermittlung von Partialsequenzen des Polypeptids für die nachfolgende cDNS-Klonierung. Die Klonierung erlaubte schließlich die funktionale Expression von größeren Mengen des rekombinanten Enzyms in E. coli, das zudem in einer optimierten Reinigungsprozedur rasch zu reinigen war (Lukačin et al. 2000). Die Reinigung der FHT aus Petunienblüten bildet eines der wenigen Beispiele für die Isolierung eines Sekundärstofwechselenzyms aus diferenziertem planzlichen Gewebe. Dies ist aus verschiedenen Gründen ot kaum möglich, z. B. weil die Enzyme in sehr geringer Konzentration bzw. abhängig vom Entwicklungszustand der Zellen exprimiert oder während der Isolierung durch endogene Begleitstofe wie Phenole, Tannine usw. gehemmt und inaktiviert werden. In vielen Fällen haben sich deshalb Zellsuspensionskulturen der betrefenden Planzen für enzymatische Untersuchungen bewährt. Solche Zellkulturen können aus verwundetem planzlichen Gewebe über Kalluskulturen auf Agar-Nährböden und unter Zusatz von Hormonen entwickelt werden ( > unten). Die Zellen in Zellsuspensionskulturen repräsentieren ein junges Wachstumsstadium, da z. B. unter Belichtung die Biosynthese von Flavonoiden induziert werden kann, wie dies auch in einem sehr frühen Entwicklungsstadium in der Planze (z. B. beginnende Entfaltung von Blattknospen) beobachtet wird. Es ist aber auch möglich, dass Zellkultu-
ren nicht die gewünschten Sekundärmetabolite produzieren. In solchen Fällen gelingt es gelegentlich, die Synthese durch Zugabe bestimmter Stofe (Sucrose, Hefeextrakt, Zellwandbestandteilen von Pilzen, Schwermetalle, Methyljasmonat u. a.) zu induzieren.
Anreicherung aus pflanzlichen Zellsuspensionskulturen Die besondere Bedeutung planzlicher Zellkulturen für enzymatische Untersuchungen lässt sich am Beispiel der Flavonsynthase erläutern. Flavone zeichnen sich innerhalb der Flavonoide durch den Oxidationszustand des C-Ringes (J-Pyron) aus und sind Hauptinhaltsstofe in Planzen der Apiaceen. In Rohextrakten aus sehr jungen Keimlingen der Petersilie wurde bereits 1975 eine Aktivität beobachtet, die Naringenin (Flavanon) zu Apigenin (Flavon) umsetzt und molekularen Sauerstof sowie Eisensalze erforderte. Später wurde das beteiligte Enzym als 2-Oxoglutarat-abhängige Dioxygenase erkannt und als Flavonsynthase I („FNS I“) bezeichnet ( > Abb. 3.5). Die Reinigung dieses Enzyms aus Keimlingen war wegen der inherenten Labilität und der geringen Mengen aussichtslos. Später stellte sich aber heraus, dass lichtinduzierte Zellsuspensionskulturen wesentlich besser für diesen Zweck geeignet sind. Aus 2,3 kg lichtinduzierten Petersilienzellen konnten schließlich 450 µg der FNS I gereinigt und das Enzym biochemisch charakterisiert werden (Lukačin et al. 2001).
! Kernaussage
Multienzymkomplexe erschweren die Anreicherung von Enzymen.
3.1 Grundlegende Methoden zur Aufklärung von Biosynthesewegen
3
. Abb. 3.5
Oxidation von Flavanonen zu Flavonen durch die Flavonsynthase I (FNS I). Das Enzym, das aus belichteten Zellsuspensionskulturen der Petersilie gereinigt und als lösliche 2-Oxoglutarat-abhängige Dioxygenase klassifiziert wurde, ist bisher nur in Arten der Apiaceae nachgewiesen worden
Die zitierten Enzyme aus dem Flavonoid-Stofwechsel (FHT, FNS I), katalysieren einzelne Schritte in einer Biosynthesesequenz und können individuell in vitro studiert werden. Dies gilt nicht generell für alle Biosynthesesequenzen, die beispielsweise auch in Multienzymkomplexen oder an Membranen ablaufen und experimentell unzugänglich sein können ( > Abb. 3.6). Multienzymkom-
plexe stellen funktionelle Einheiten dar, deren Einzelenzyme sich nach Ablösung aus einem Verband in ihren katalytischen Eigenschaten deutlich ändern könnten. Ein bekanntes Beispiel dafür ist die Fettsäurensynthase, die aus verschiedenen Einzelenzymen und einem Acyl-CarrierProtein aufgebaut ist und an der sämtliche Teilreaktionen der Fettsäurenbiosynthese ablaufen ( > Abb. 3.6). Auch
. Abb. 3.6
Mögliche Anordnungen von Enzymen einer mehrstufigen Biosynthese in der Zelle. Die Enzyme können als lösliche Einzelenzyme im Zytoplasma aktiv oder als Multienzymkomplexe im Zytoplasma bzw. entlang einer Membran angeordnet sein. Ein Vorteil von Multienzymkomplexen liegt darin, dass die Biosynthesesequenz vom Ausgangssubstrat bis zum Endprodukt ohne Dissoziation oder Verlust von Zwischenprodukten (ZP) abläuft. Dies ermöglicht eine effiziente Biosynthese auch bei geringer Substratkonzentration
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Biosynthese pflanzlicher Sekundärstoffe
. Abb. 3.7
Umsetzung von L-Phenylalanin zu 4-Cumaroyl-CoA im generellen Phenylpropanstoffwechsel. Es wird angenommen, dass die Enzyme (Phenylalanin-Ammoniak-Lyase, „PAL“; Zimtsäure 4-Hydroxylase, „C4H“ zusammen mit NADPH-Cytochrom P450-Oxidoreduktase, „CPR“, und eventuell 4-Cumarat:CoA-Ligase, „4CL“) in einem Enzymkomplex assoziiert vorliegen, der am endoplasmatischen Retikulum lokalisiert sein muss. In dieser Anordnung würde 4-Cumarsäure bzw. 4-CumaroylCoA auch bei geringen Konzentrationen von L-Phenylalanin entstehen
die Biosynthese der Flavonoide soll nach Modellvorstellungen an einem im Zytoplasma lokalisierten Multienzymkomplex verlaufen, der allerdings nur relativ lose assoziiert sein kann. Erste experimentelle Hinweise deuten auf diesen Sachverhalt hin, aber eine genaue Klärung steht noch aus. Die Aggregation funktionell zusammengehöriger Enzyme zu großen Komplexen in der lebenden Zelle (in situ) ist vergleichbar mit der Ausbildung eines Mikrokompartiments, durch das ein vom übrigen Zytoplasma abgeschlossener Reaktionsraum entsteht, der die eiziente Umsetzung von Substraten und Intermediaten bis zum Endprodukt gewährleistet. Die Zwischenprodukte entstehen analog einem Fließbandprinzip, das auch „channeling“ genannt wird, und es müssen keine Mindestkonzentrationen der jeweiligen Intermediate vorliegen, um durch Difusion die Enzym-Substrat-Bindung in zeitlich vertretbarer Abfolge zu sichern. Folgt man diesem Prinzip, so reicht bereits ein Substratmolekül pro Teilenzym aus, um die Reaktionsfolge in Gang zu halten. Nach diesem Prinzip würde in der Zelle äußerst efektiv gearbeitet, da kein Zwischenprodukt verloren geht und selbst bei geringen Substratkonzentrationen große Mengen an Endprodukten gebildet werden können. Ein Beispiel liefert die enge Assoziation von Einzelenzymen des generellen Phenylpropanweges, der von l-Phenylalanin über trans-Zimtsäure zu 4-Cumaroyl-CoA führt ( > Abb. 3.7). Experimentelle Evidenzen sprechen für einen an der Membran des endoplasmatischen Retikulums lokalisierten Komplex der löslichen Phenylalanin-Ammoniak-Lyase, der membrangebundenen Zimtsäure 4-Hydroxylase und eventuell der löslichen 4-Cumarat:CoA-Ligase. Genauere Untersuchungen zu
diesem Phänomen des „channeling“ liegen jedoch auch hier nicht vor. Infobox Zellsuspensionskulturen höherer Pflanzen. Seit die Technik zur Suspensionskultur von Pflanzenzellen entwickelt wurde (vor etwa 50 Jahren) wird versucht, die beliebige Vermehrung und die spezifischen Stoffwechselleistungen der Zellen zu nutzen. Kultivierte Pflanzenzellen produzieren im Vergleich zur differenzierten Pflanze allerdings häufig weniger oder in der Zusammensetzung modifizierte Sekundärmetabolite. Die Gründe sind nicht immer offensichtlich. Obwohl jede Zelle die volle Erbinformation zur Biosynthese der ihr eigenen Sekundärstoffe trägt, könnten die Kulturbedingungen zur Repression einzelner Synthesegene führen. Außerdem ist es möglich, dass die Syntheseleistung einer Zellkultur nach Jahren der Kultivierung nachlässt. Nur im günstigen Falle läuft die Biosynthese von Sekundärmetaboliten in der Zellkultur mit ähnlicher oder gleicher Effizienz ab wie in der differenzierten Ursprungspflanze. Diese Bedingungen erlauben schließlich die Charakterisierung von Enzymen aus relevanten Biosynthesewegen. Nur in wenigen Fällen akkumulieren die Zellkulturen größere Mengen an Sekundärmetaboliten als die differenzierte Pflanze, wie beispielsweise Lithospermum erythrorhizon das Shikonin, Panax ginseng die Ginsenoside oder Thalictrum minor das Berberin. Außerdem bieten sich Zellkulturen besonders dann zur Nutzung an, wenn die Pflanze sehr langsam wächst oder selten und in ihrem Bestand gefährdet ist (wie Lithospermum erythrorhi-
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3.1 Grundlegende Methoden zur Aufklärung von Biosynthesewegen
3
3.1.3 Genetische Methoden zon). Pflanzenzellen werden aber nicht nur zur Produktion von bekannten Naturstoffen eingesetzt, sondern auch zur klonalen Massenvermehrung oder Züchtung wichtiger Nutzpflanzen. Darüber hinaus werden sie inzwischen auch in transformierter Form zur biotechnologischen Gewinnung von Antikörpern oder anderen nützlichen Proteinen verwendet.
Unter den „genetischen Methoden“, die zur Auklärung von Biosynthesewegen angewendet werden, versteht man vornehmlich die Mutantentechnik, die besonders bei der Untersuchung von Stofwechselleistungen in Mikroorganismen eine bedeutende Rolle spielt.
Mutantentechnik Anlage einer Pflanzenzellkultur Werden Zellen eukaryotischer Vielzeller in künstlichen Medien kultiviert, dann spricht man von einer Zellkultur. Vergleichbar der tierischen Zellkultur können auch Zellen aus planzlichen Gewebeverbänden isoliert in speziellen Gefäßen propagiert werden. Man beginnt üblicherweise mit auf Agar explantierten Organstücken, wie z. B. Wurzelspitzen, Knospen, Blatt- und Markstückchen, Stängelscheibchen oder keimende Samen, die an den Wundlächen Wucherungen entdiferenzierter Zellen als so genannte Kalli (lat.: callus [Schwarte, Schwiele]) bilden. Die Kallusbildung erfordert in den meisten Fällen zusätzlich die Anwesenheit von Phytohormonen (Auxine, Cytokinine oder Gibberelline). Die Einzelzellen erhält man aus dem Kallus durch mechanisches Schütteln der Gewebekomplexe oder durch enzymatischen Abbau der Zellwände in einem isoosmotischen Medium. Es entsteht dann eine so genannte Protoplastenkultur, wobei eine solche Kultur die Zellwände wieder regenerieren kann. Kalli zerfallen meist nicht zu Einzelzellen, sondern zu kleinen Zellverbänden oder Zellklumpen, die zur Propagierung besser geeignet sind. Da planzliche Zellkulturen in ihren Ansprüchen eher heterotrophen Organismen gleichen, kann ihre Vermehrung oder Kultivierung nur durch Zuführung von geeigneten Nährstofen erfolgen. Die hierfür gebräuchlichen Medien müssen neben bestimmten Mineralien und Vitaminen eine geeignete Kohlenstofquelle, z. B. Saccharose, enthalten. Sowohl das Kallusgewebe als auch die Planzenzellkultur lassen sich beliebig lange weiterzüchten, sofern sie, oder Teile davon, in gewissen Zeitintervallen („Kallus“ jede 4 Wochen, „Zellen“ etwa alle 5–7 Tage) auf frisches Nährmedium überimpt werden (Dauerzelllinien).
Wildstämme von Mikroorganismen, z. B. Escherichia coli oder Saccharomyces cerevisiae, benötigen zum Wachstum lediglich ein gepufertes Mineralsalzmedium, das außer einer einfachen Energie- und Kohlenstofquelle (Glucose) keine weiteren organischen Verbindungen enthalten muss. Das resultiert aus der umfassenden Ausstattung zur Eigensynthese aller erforderlichen organischen Moleküle. Verliert nun ein solcher Organismus aufgrund einer Mutation die Fähigkeit zur Synthese eines essentiellen Zellbausteins (Aminosäure oder Vitamin), so ist er normalerweise nicht mehr vermehrungsfähig, es sei denn, der fehlende Baustein wäre im Nährmedium vorhanden. Diesen als Defektoder Mangelmutanten bzw. auch als „auxotrophe“ Mutanten (abgeleitet von griech.: auxé [Vergrößerung bzw. Zuwachs] und trophein [ernähren]) bezeichneten Mikroorganismen fehlt ein erforderliches Enzym, weil es entweder nicht mehr oder in inaktiver Form synthetisiert wird (Gendefekt). In beiden Fällen entstehen so genannte Blockmutanten. Je nach Lage des genetischen Blocks, wachsen Mangelmutanten nicht nur bei Supplementation mit dem Endprodukt der unterbrochenen Biosynthesekette, sondern auch mit Zwischenprodukten, die direkt hinter der Unterbrechung liegen ( > Abb. 3.8). In der Regel sind die Zwischenprodukte nicht bekannt. Auxotrophe Mutanten reichern aber die nicht mehr weiter verarbeiteten Intermediate an, und die genaue Analyse der Produktzusammensetzung im Medium erlaubt Rückschlüsse auf die Stofwechselleistung des betrefenden Organismus. Darüber hinaus lässt sich mit Hilfe der Supplementation die Lage des genetischen Blocks erkennen. In einigen Fällen ermöglicht das im Nährmedium akkumulierende Zwischenprodukt anderen Mangelmutanten, die ihren genetischen Block an einer früheren Stelle in der gleichen Biosynthesesequenz haben, das Wachstum. Hier spricht man von der so genannten „Kreuzfütterung“ ( > Abb. 3.9). Wesentlich komplexer wird es, wenn sich der genetische Block innerhalb einer verzweigten Biosynthesekette bein-
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3
Biosynthese pflanzlicher Sekundärstoffe
. Abb. 3.8
Schematische Auswirkung einer auxotrophen Mutation im Gen 3 eines beliebigen linearen Biosyntheseweges. Enzym 3 wird nicht mehr synthetisiert, das Zwischenprodukt C kann nicht zu D umgesetzt werden und akkumuliert im Nährmedium. Bei Zugabe von Metabolit D oder E ins Nährmedium (Supplementation) wird das Endprodukt wieder gebildet. Damit muss C die Vorstufe von D und E sein. Die Interpretation stützt sich auf die „Ein-Gen-Ein-Enzym“-Hypothese nach Beadle, Tatum und Horowitz, wonach jedes Gen nur die Synthese einer einzigen Art von Enzymen kontrolliert, und bezieht sich nur auf die primäre Wirkung von Genen (dennoch kann die Mutation Auswirkungen auf mehrere phänotypische Merkmale des Organismus haben; andererseits kann das Gen auch nur einen Teil eines Enzyms, eine Untereinheit, codieren) . Abb. 3.9
Schematische Auswirkung einer „Kreuzfütterung“. Die Mutanten 1 und 2 sind nicht in der Lage, aus dem Substrat A das Endprodukt D zu bilden. Der Gendefekt in Mutante 1 kann aber durch Komplementation des fehlenden Zwischenproduktes C aus Mutante 2 ausgeglichen werden. Die Analyse weiterer Blockmutanten kann zur Aufklärung der gesamten Biosynthesesequenz führen
3.1 Grundlegende Methoden zur Aufklärung von Biosynthesewegen
. Abb. 3.10
Polyauxotrophie bei Block innerhalb einer verzweigten Biosynthesekette. Wenn die Bildung von Homoserin unterbleibt, entsteht ein Bedürfnis für die Aminosäuren Threonin und Methionin, und das Wachstum der doppelt betroffenen Mutante bleibt aus
det und die auxotrophen Mutanten mehrere organische Stofe zum Wachstum benötigen (Polyauxotrophie) ( > Abb. 3.10). Auch können sich die Defekte von Mangelmutanten auf die Synthese anderer essentieller Kofaktoren der jeweiligen zu untersuchenden Biosynthese beziehen, sodass aus einer fehlenden Syntheseleistung nicht unmittelbar auf das geblockte Gen geschlossen werden kann. So läut die Flavonoidbiosynthese der Planzen nur in Anwesenheit von 2-Oxoglutarat ab. Folglich würden in Abwesenheit des Kosubstrats keine Flavonoide gebildet werden und die Synthese der Naturstofe erscheint blockiert. Ähnliches gilt, wenn regulatorische Gene von einem Defekt betrofen sind.
Idiotrophe Mutanten Im Gegensatz zu den auxotrophen Mutanten, die einen Mangel im Primärstofwechsel kennzeichnen, spricht
3
man von idiotrophen Mutanten (griech.: idios [selbst, eigen]), wenn sich die Organismen bezüglich ihrer Nährstofansprüche zwar unverändert zeigen, aber die Synthese eines Sekundärmetaboliten, infolge fehlender Enzymaktivitäten, unterbrochen ist. Mit den oben geschilderten Methoden (Supplementierung und Kreuzfütterung) und angemessener Analyse lassen sich auch hier die einzelnen Schritte einer Biosynthesesequenz identiizieren. Allerdings ist dafür in vielen Fällen ein hoher zeitlicher und experimenteller Aufwand erforderlich. Die Analyse von Mutanten hat primär Bedeutung im Bereich der Mikroorganismen erlangt, weil hier die Mutanten leichter zugänglich sind. Dennoch gibt es auch einige Beispiele aus dem planzlichen Sekundärstofwechsel, die sich hauptsächlich aus der züchterischen Farbselektion von Blütenplanzen ergeben haben. So haben idiotrophe Blockmutanten in der Vergangenheit u. a. wichtige Dienste bei der Auklärung der Anthocyanidin-Biosynthese geleistet. Beispielsweise konnte auf diesem Weg gezeigt werden, dass Leukoanthocyanidine (Flavan-3,4-diole) Zwischenprodukte der Anthocyanbildung in Blüten von Matthiola incana sind (Heller et al. 1985). Dazu wurden farblose Blüten einer genetisch deinierten Linie von Matthiola incana (Linie 17) mit verschiedenen möglichen Vorstufen der Anthocyanidine supplementiert, wobei nur die Zugabe von Leukoanthocyanidinen zur Pigmentierung der Blüten führte. Aus zuvor durchgeführten Tracerexperimenten und dem Erscheinungsbild der Blütenfarbe wurde geschlossen, dass die Linie 17 eine Blockmutante ist, bei der die enzymatische Reduktion der Dihydrolavonole zu den entsprechenden Flavan-3,4-diolen unterbleibt ( > Abb. 3.11).
. Abb. 3.11
Matthiola incana
cis cis
Supplementation von 3,4-cis-Leukoanthocyanidinen als Vorstufen von Anthocyanidinen. Anthocyanidine leiten sich von 2R,3R-Dihydroflavonolen ab. Die Fütterung von 2R,3R-Dihydroflavonolen an Blüten der weißblütigen Matthiola incana-Mutante, Linie 17, führte nicht zur Pigmentierung, wohingegen die Fütterung von 3,4-cis-Leukoanthocyanidinen die Blüten rot färbte. Daraus folgt, dass 2R,3R-Dihydroflavonole Vorstufen der 3,4-cis-Leukoanthocyanidine sind
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76
3
Biosynthese pflanzlicher Sekundärstoffe
Kombination von Mutantentechnik und Kreuzungsexperiment Schließlich lassen sich Biosynthesewege noch durch ein anderes Verfahren auklären. Hierbei erzeugt man künstlich Mutanten von höheren Planzen, die in der Biosynthese eines Sekundärstofes blockiert sind. In einigen wenigen
! Kernaussagen
Die Aufklärung von Biosynthesen pflanzlicher oder mikrobieller Sekundärstoffe ist ein wesentlicher Teilbereich der Pharmazeutischen Biologie. Zur Identifizierung der einzelnen Syntheseschritte werden verschiedene Techniken angewendet: 1. Isotopentechnik: Grundlage ist die Markierung von Metaboliten durch Einbau von Vorstufen, die mit radioaktiven oder stabilen Isotopen markiert sind. Der Verbleib der markierten Atome in den Stoffwechselprodukten eines Organismus wird mit unterschiedlichen Methoden, wie Autoradiographie, NMR- oder Massenspektrometrie, verfolgt. 2. Methoden der Enzymologie: Enzymatische Untersuchungen finden vor allem dann Anwendung, wenn aus Vorversuchen (Isotopentechnik) der Ablauf einer Biosynthese prinzipiell bekannt ist. Ohne Kenntnis der Biosyntheseschritte ist die Verwendung dieser Methode nicht zu empfehlen. Die entsprechenden Enzyme werden üblicherweise chro-
Fällen lassen sich dann durch Analyse des Produktmusters solcher Mutanten im Vergleich zu dem des Wildtyps und in Kombination mit Kreuzungsexperimenten gezielte Rückschlüsse auf Biosyntheseschritte ziehen. So konnte beispielsweise ermittelt werden, dass Codein in PapaverArten nicht durch Methylierung aus Morphin entsteht, sondern durch Demethylierung aus hebain.
matographisch aufgereinigt und biochemisch charakterisiert. 3. Methoden der Genetik: Erforderlich ist der Rückgriff auf Mutanten. Diese werden entweder isoliert oder selbst künstlich erzeugt. Die durch Mutationen veränderte Merkmalsausprägung wird dann zur Identifizierung einzelner Biosyntheseschritte herangezogen. Die drei hier vorgestellten Techniken können aber nicht jede für sich isoliert betrachtet werden. Nur die Kombination führt letztlich zur Identifizierung eines Biosyntheseweges und der daran beteiligten Enzyme. Die Mengen der einzelnen Enzyme, die an der Biosynthese von Sekundärmetaboliten im pflanzlichen Gewebe beteiligt sind, sind in der Regel gering. Die Isolierung der entsprechenden Gene und ihre Expression in heterologen Systemen (z. B. in Bakterien oder Hefen) ermöglichen aber die präparative Gewinnung. Die rekombinanten Enzyme können so zur Produktion pharmazeutisch relevanter Sekundärprodukte eingesetzt werden.
Literatur
3
Schlüsselbegriffe Atomkern Applikation von Isotopen Auxotrophie Becquerel Biochemische Enzymcharakterisierung Biochemische Forschung Biologische Halbwertszeit Biosynthese von Sekundärstoffen Calvin-Zyklus Channeling Curie Dauerzelllinien Endoplasmatisches Retikulum Enzymatische Methoden Enzymmechanismus Fettsäuresynthasekomplex Flavonoidbiosynthese Fragmentierung
Genetische Methoden Genetischer Block Gewebeverband Idiotrophie Intermediärstoffwechsel Isotopen Kallus Kernladung Kohlenstoffquelle Kreuzungsexperimente Massenspektrometrie Molekülion Multienzymkomplexe Mutantentechnik Nährmedium Neutronen NMR-Spektroskopie Phenylpropanstoffwechsel
Literatur Britsch L, Heller W, Grisebach H (1981) Conversion of flavanone to flavone, dihydroflavonol and flavonol with enzyme system from cell cultures of parsley. Z Naturforsch 36c: 742–750 Carle R (1996) Kamillenöl Gewinnung und Qualitätsbeurteilung. Deutsche Apotheker Zeitung 136: 2165–2176 Eisenreich W, Rohdich F, Bacher A (2001) Deoxyxylulose phosphate pathway to terpenoids. Trends Plant Science 6: 78–84 Grisebach H, Kellner S (1965) Untersuchungen zum Mechanismus der Umwandlung von 4,2’,4’,6’-Tetrahydroxychalkon in Taxifolin in Chamaecyparis obtusa. Z Naturforsch 20b: 446–450 Heller W, Britsch L, Forkmann G, Grisebach H (1985) Leucoanthocyanidins as intermediates in anthocyanidin biodynthesis in flowers of Matthiola incana R Br Planta 163: 191–196
3-Phosphoglycerat Physikalische Halbwertszeit Phytohormone Präkursor Proteinreinigung Protonen Protoplastenkultur Pulsmarkierung Radioaktivität Retrobiosynthetisch Rubisco Stabile Isotopen α-, β-, γ-Strahlung Supplementation Tracertechnik Wildstamm Zellkulturen Zwischenprodukt
Lukačin R, Gröning I, Schiltz E, Britsch L, Matern U (2000) Purification of recombinant flavanone 3β-hydroxylase from Petunia hybrida and assignment of the primary site of proteolytic degradation. Arch Biochem Biophys 375: 364–370 Lukačin R, Matern U, Junghanns KT, Heskamp M-L, Britsch L, Forkmann G, Martens S (2001) Purification and antigenicity of flavone synthase I from irradiated parsley cells. Arch Biochem Biophys 393: 177–183 Ueki M, Okano M (1999) Analysis of exogenous dehydroepiandrosterone excretion in urine by gas chromatography/combustion/isotope ratio mass spectrometry. Rapid Commun Mass Spectrom 13: 2237–2243 Werner I, Bacher A, Eisenreich W (1997) Retrobiosynthetic NMR Studies with 13C-Labeled Glucose. Formation of gallic acid in plants and fungi. J Biol Chem 272: 25474–25482
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4 4 Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Pflanzenstoffen R. Hänsel 4.1
Änderungen im Sekundärstofgehalt während der Ontogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4.2
Diurnale Schwankungen, Fließgleichgewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
82
4.3
Oxidative Veränderungen an sekundären Planzenstofen . . . . . . . . 4.3.1 An katabolischen Reaktionen beteiligte Enzyme . . . . . . . . . . . 4.3.2 Abbau phenolischer Planzenstofe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Oxidative Modiikation der Quassinoide . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Oxidative Modiikation der Limonoide . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.5 Phytoecdysone: Oxidative Modiikationen in der Cholesterinreihe
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82 83 88 90 91 91
4.4
Sekretion und Speicherung von Sekundärstofen . . . . . . . . . . 4.4.1 Gewebe- und segmentspeziische Akkumulation . . . . . . . 4.4.2 Speicherung in Kompartimenten innerhalb der Zelle . . . . 4.4.3 Vacuole als Speicherkompartiment . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.4 Transportvorgänge an Tonoplasten . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.5 Sekretion in Zellwand und periplasmatischem Raum . . . . 4.4.6 Innergewebliche Sekret- und Akkumulationsstrukturen . . 4.4.7 Exotrope Sekretion und deren morphologische Strukturen .
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. 95 . 96 . 96 . 97 . 98 . 99 . 99 . 105
. . . . . . . .
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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
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4
Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Pflanzenstoffen
> Einleitung Im vorangegangenen Kapitel wurde der Aufbau sekundärer Pflanzenstoffe geschildert. Von der chemischen Synthese unterscheidet sich die Biosynthese dahingehend, dass das biosynthetisierte Produkt kein statisches Produkt ist, sondern Teilnehmer am Gesamtstoffwechsel der Pflanze bleibt und ständig ab- und wieder neu aufgebaut wird, d. h. es befindet sich in einem dynamischen Gleichgewicht. Wenn der Chemiker ein Pflanzenorgan erntet, trocknet und analysiert, dann gibt das Analysenergebnis einen eingefrorenen Momentanzustand wieder. Das Analysenergebnis hängt davon ab, in welchem Entwicklungsstadium sich das Organ befindet, ja selbst davon, zu welcher Tageszeit „die Analysenprobe“ entnommen wurde. Auf diese Phänomene der ontogenetischen Variabilität und der diurnalen Wirkstoffschwankungen wird im Abschnitt 4.1 eingegangen. Der Abbau, dem sekundäre Pflanzenstoffe unterliegen, stellt chemisch gesehen eine wohlgeordnete „Verbrennung“ dar. Die Pflanzenstoffe werden enzymatisch mit immer mehr Sauerstoffunktionen beladen, um schließlich als CO2 ausgeschieden zu werden, es sei denn, dass sie zuvor in den Stoffwechsel neu eingeschleust werden. Informationen über Enzyme der Oxidation und Beispiele für oxidativ veränderter Sekundärstoffe bringen die Abschnitte 4.2 und 4.3. Sekundäre Pflanzenstoffe verteilen sich keineswegs gleichmäßig über alle Zellen, Gewebe und Organe einer Pflanze, vielmehr werden sie in höchst unterschiedlichen Strukturen gespeichert. Über die unterschiedlichen Akkumulationsmöglichkeiten sekundärer Pflanzenstoffe informiert Abschnitt 4.4.
4.1 Änderungen im Sekundärstoffgehalt während der Ontogenese Ontogenese ist ein Terminus, der sich auf die Entwicklung der Einzelindividuen bezieht. Samenkeimung und Blütenbildung sind die kardinalen Einschnitte bei den Angiospermen. Die Tatsache, dass sich das Inhaltsstofspektrum von Blatt, Spross, Wurzel und Rhizom im Verlauf einer Vegetationsperiode ändert, ist ein deutlicher Hinweis auf den dynamischen Stofwechsel (Aubau, Speicherung, Mobilisierung, Abbau) von Sekundärstofen. Die stoli-
chen Änderungen äußern sich in ot großen Schwankungen in Gehalten an Inhaltsstofen, vor allem im Stadium der Seneszenz und bei Früchten im Verlaufe der Fruchtreifung. Einige Beispiele für Änderungen im Wirkstoffgehalt.
Der Gehalt an Primulaverin, dem Xyloglucosid des Gentisinsäuremethylesters, sinkt in der Primula-elatior-Wurzel von 1,6% im März auf 0,2% im Juni. Analoge Gehaltsschwankungen, die innerhalb einer ganzen Zehnerpotenz liegen, zeigen die Phenolglykoside in Salix purpurea. Der Alkaloidgehalt in Catharanthus roseus ist 3 Wochen nach dem Auskeimen der Planzen am höchsten, er beginnt nach diesem Zeitpunkt auf nahezu Null abzusinken und erreicht nach weiteren 8 Wochen erneut einen Maximalwert (Barz u. Köster 1981). Bei den Tropanalkaloide-führenden Arten der Nachtschattengewächse (Solanaceae [IIB24A]) wurden übereinstimmend Verschiebungen des Verhältnisses Hyoscyamin zu Scopolamin gefunden. Datura stramonium und Atropa belladonna führen in jugendlichen Stadien als Hauptalkaloid Scopolamin und als Nebenalkaloid Hyoscyamin. Mit fortschreitender Entwicklung nimmt Hyoscyamin allmählich überhand, bis es etwa zur Blütezeit als Hauptalkaloid vorliegt. Blätter weisen zum Zeitpunkt des Blühens oder kurz vorher einen Maximalgehalt an Sekundärstofen auf. Mit der Blüte ist eine Umstimmung der gesamten Stofwechsellage verbunden, die sich in einem Absinken an Sekundärprodukten zeigt. Ein Beispiel: Im Pfeferminzblatt Mentha × piperita ist der Gehalt an ätherischem Öl bei Blühbeginn am höchsten; zugleich beginnt sich dessen Zusammensetzung zu ändern ( > Abb. 4.1). Physiologische Untersuchungen dieser Art bestätigen im Allgemeinen die alte Erfahrungsregel, Blattdrogen möglichst kurz vor oder während der Blütezeit zu ernten. Änderungen bei der Fruchtreife: Beispiel Tomate. Dass
Änderungen vor sich gehen, ist sehr augenfällig: die Früchte werden weich, ändern ihre Farbe von Grün nach Rot und entwickeln ein typisches Aroma. Diese Phänomene sind von sehr komplexen Änderungen im Stofwechsel begleitet, der sich bei der Tomate in einem Anstieg der Atmung äußert, der bis nach der Ernte anhält. Der Planzenphysiologe spricht von einem klimakterischen Atmungsanstieg und er unterscheidet klimakterische (Tomate, Banane, Apfel, Pirsich) von nichtklimakterischen Früchten (Ananas, Melone, Weintraube, Apfelsine). Zwar werden
4.1 Änderungen im Sekundärstoffgehalt während der Ontogenese
4
. Abb. 4.1 ätherisches Öl (Gesamtgehalt)
7
CH3
6 O
[µmol / Blatt]
5
H3C
CH3
CH3
(–)- Menthon
4
OH H 3C
3
CH3
(–)- Menthol
2
1
0
0
2
4
6
Blühbeginn
8
10
12 [ Wochen]
volle Blüte
Die Zusammensetzung des ätherischen Öles in Pfefferminzblättern ist eine Funktion der Blattentwicklung. Das Verhältnis von Menthol zu Menthon kehrt sich während der Blütezeit um (nach Croteau u. Martinkus 1979) . Abb.4.2
Die Tomatenfrucht gehört zu den Früchten mit einem so genannten klimakterischen Atmungsanstieg. Abbauende Reaktionen führen mit einsetzender Fruchtreife zu einer ergiebigen CO2-Produktion. Im Verlauf des Reifevorganges wird auch das giftige Glykoalkaloid Tomatin, man nimmt an bis zu CO2, abgebaut;. Gefasst werden konnte als Zwischenstufe ein C21-Steroid vom Typus der Pregnenolone (Heftmann u. Schwimmer 1972)
81
82
4
Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Pflanzenstoffen
die Ursachen für den Anstieg der CO2-Produktion noch nicht voll verstanden, ein wesentlicher Faktor dürte jedoch das Überhandnehmen abbauender (katabolischer) Stofwechselreaktionen sein. Im Falle der Tomaten erfolgt u. a. auch ein Abbau der toxischen Steroidalkaloide vom Typus des Tomatins ( > Abb. 4.2). Mittels 14C-Tomatin wurde nachgewiesen, dass der Abbau über Pregnenolon verläut (Hetmann u. Schwimmer 1972). Unreife Früchte vieler Solanum-Arten enthalten das dem Tomatidin eng verwandte Steroidalkaloid Solasonin. Solasonin beansprucht technisches Interesse als Rohstof zur Partialsynthese von Steroidhormonen. Sofort nach der Ernte der unreifen Früchte beginnt, wie beim Tomatin gezeigt ( > Abb. 4.2), der Abbau, was die technische Ausbeute an Solasodin mindert.
4.2 Diurnale Schwankungen, Fließgleichgewicht Das Angebot an Intermediärprodukten des Primärstofwechsels ändert sich als direkte Folge des üblichen tagesperiodischen Licht-Dunkel-Wechsels. Wenn Sekundärstofe keine aus dem Stofwechselkreislauf für immer ausgeschiedene Produkte darstellen, so darf man erwarten, dass korrelativ zum Primärstofwechsel diurnale Schwankungen im Sekundärstofwechsel beobachtet werden. Monoterpene, die in Drüsenköpfchen abgelagert sind, ändern dieser Vorhersage gemäß luktuierend ihre Konzentrationen: Tagsüber nimmt die Konzentration zu, mit beginnender Dunkelheit nimmt sie rasch ab (Croteau 1981). Die Monoterpene werden, zumindest partiell, nach Einsetzen der Dunkelheit, wieder in den Primärstofwechsel eingeschleust. Analoge diurnale Fluktuationen sind auch bei Papaver somniferum bezüglich des Morphingehaltes beobachtet worden (Waller u. Nowacki 1978). In anderen Fällen bleibt der Gehalt an Sekundärstofen ziemlich konstant, aber nicht notwendigerweise deshalb, weil diese Sekundärstofe aus dem aktiven Stofwechselgeschehen ausgeschieden wären: Mittels der Isotopentechnik konnte an mehreren Beispielen gezeigt werden, dass ein Fließgleichgewicht („steady state“) vorliegt, d. h. die Menge an neu synthetisierten und an katabolisierten Sekundärprodukten halten sich die Waage. Bei einem im Fließgleichgewicht beindlichen System interessieren nicht nur die stationären Konzentrationen (die „Poolgrößen“), wissenswert ist vor allem, wie schnell die Reaktanten umgesetzt werden. Die Halbwertszeiten konnten in einigen Fällen
bestimmt werden: Sie liegen bei Ricinin bei 4 h, Dhurrin 10 h, Morphin 7,5 h, Chlorogensäure 20 h und im Bereich von Tagen (7–12 Tage) bei den Flavonolglykosiden in den Blättern von Cicer arietinum (Luckner 1984).
4.3 Oxidative Veränderungen an sekundären Pflanzenstoffen Die ersten fassbaren Stufen der Biosynthese von Sekundärstofen sind vergleichsweise lipophile, sauerstofarme Verbindungen. Sie kommen im Planzenreich in nur wenigen Varianten vor und in der Einzelplanze in meist geringer Konzentration. Dem gegenüber steht eine überaus große Fülle an Sekundärstofen, die oxidierte Varianten der lipophilen Vorstufen darstellen. Ofensichtlich verfügen Planzen über Enzyme, die imstande sind, in Sekundärprodukte O-Funktionen einzuführen und sie u. U. bis zu CO2 abzubauen. Die allgemeine Richtung des Sekundärstofwechsels lässt sich als eine Reaktionskette von katabolischen Prozessen, als eine regulierte stufenweise „Verbrennung“ charakterisieren ( > Abb. 4.3). Dass Sekundärstofe zeitlichen Veränderungen unterliegen, zeigt sich sinnfällig an der Herbstfärbung und an den Veränderungen während der Fruchtreifung. Der Abbau des Chlorophylls erfolgt stufenweise. Zunächst wird die Bindung zwischen dem lipophilen Phytylrest, mit dem das Molekül in der Membran verankert ist, und dem farbigen Porphyrinring gelöst. Aus dem nun besser wasserlöslichen Restmolekül spaltet ein Enzym das Magnesium heraus, das in Stamm und Wurzeln transportiert und dort gespeichert wird. Der entscheidende Schritt, der aus einem farbigen ein farbloses Molekül macht, besteht in einer oxygenolytischen Spaltung – unter dem Einluss einer Oxygenase – indem der Chlorin-Makroring (2,3-Dihydroporphyrin) zu einem linearen Tetrapyrrolderivat geöfnet wird (Hörtensteiner et al. 1998; Oberhuber et al. 2003). Auch bei reifenden Früchten ist der Farbwechsel auffallend, der ebenfalls durch Abbau des Chlorophylls zustande kommt, aber zugleich von der Neusynthese von Carotinoiden oder Anthocyanen begleitet ist. Die in unreifen Früchten von Solanum- und Lycopersicon-Arten vorkommenden Steroidalkaloide verschwinden während der Reife, erst dadurch werden die reifen Früchte genießbar. Erwähnenswert ist auch die Bildung von Ascorbinsäure, die in vielen Früchten während der Reifung abläut.
4.3 Oxidative Veränderungen an sekundären Pflanzenstoffen
. Abb. 4.3
4
CO2 Photosynthese
Primärstoffwechsel Bausteine des Primärstoffwechsels Biosynthese
lipophile Sekundärstoffe
Speicherung Mobilisierung, weitere Umsetzung
weitere Umsetzungen
polare Sekundärstoffe
Speicherung
Abbau
Polymerisation
CO2
Lignine, Suberine, Melanine, Phlobaphene, Sporopollenine
Stark vereinfachtes Schema zum Sekundärstoffwechsel. Erste Biosyntheseprodukte sind lipophile Sekundärstoffe, die vorübergehend gespeichert oder die unmittelbar weiter enzymatisch umgesetzt werden, sodass modifizierte, in der Regel stärker polare Sekundärstoffe entstehen. Auch sie unterliegen weiteren Umwandlungen: sie können vorübergehend gespeichert werden, andere werden bis zu Atmungssubstraten und CO2 abgebaut, wiederum andere werden als Polymerisate für Dauer festgelegt
4.3.1 An katabolischen Reaktionen beteiligte Enzyme Im Bereich des Sekundärstofwechsels herrscht in Bezug auf Aubau, Umbau und Abbau ähnliche Dynamik wie im Grundstofwechsel. Wir richten im Folgenden das Augenmerk auf abbauende Prozesse. Diese sind im Wesentlichen oxidativer Natur und bestimmen das weitere Schicksal des Sekundärstofes: Abbau zu Primärmetaboliten und Wiedereinschleusung in den Primärstofwechsel, Polymerisation zu unlöslichen Produkten mit endgültiger Ausscheidung aus dem Stofwechsel („echte Exkrete“), Transformation zu O-reichen Sekundärstofen oder zu polyfunktionellen, reaktionsfähigen Verbindungen, die sich spontan zu labileren Produkten umlagern. An diesen oxidativen Veränderungen von Substraten des Sekundärstofwechsels sind u. a. die folgenden Enzyme beteiligt: Oxygenasen, Oxidasen und Peroxidasen ( > Abb. 4.4).
Oxygenasen. Oxygenasen werden in Monooxygenasen
und in Dioxygenasen unterteilt. Monooxygenasen spalten molekularen Sauerstof (O2) und übertragen 1 Sauerstofatom auf das Substrat, das andere wird zu Wasser reduziert. Das O-Atom wird entweder in C-H-Bindungen eingeschoben ( > Abb. 4.5) oder an Doppelbindungen und freie Elektronenpaare addiert ( > Abb. 4.6). Dioxygenasen hingegen inserieren beide O-Atome des molekularen Sauerstofs. Beispiele: Die Ringspaltung im Tryptophan durch die Tryptophan-2,3-dioxygenase ( > Abb. 4.7) oder von Catechinderivaten durch Catecholoxygenasen ( > Abb. 4.8). Oxidasen. Zum Unterschied von den Oxygenasen führen
die Oxidasen keinen Sauerstof in das Substratmolekül ein. Oxidasen katalysieren den Transfer von Elektronen vom Substrat auf molekularen Sauerstof, unter Bildung von reduzierten Sauerstofspezies, wie Superoxidanionen, Peroxid oder Wasser. Oxidasen sind vornehmlich Enzyme des Primärstofwechsels, erinnert sei an die Funktion der Cytochrom-c-Oxidase als Endglied der mitochondrialen
83
84
4
Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Pflanzenstoffen
. Abb. 4.4 S
+
S
+ O
O
O
S
O
Dioxygenase
O O + NADP-H + H
+
+ NADP
S
+
Monooxygenase
+ H2O
OH 2 (Cu
2+
+
)-Enzym
2 (Cu )-Enzym
H S
S H z. B.
•
+ 2H
+ 2H
a)
S
b) 2
S
+ H S
+ HO
2
OH
H S
•
Oxidase
+
O
O
OH
+
O
O
OH
•
S
•
+ 2 H2O
Peroxidase
S
Übersicht über Oxygenasen, Oxidasen und Peroxidasen. S Substratmolekül
. Abb. 4.5 O2 R
O
NADP-H + H
+
NADP
+
NADP-H + H
+
CH3
R H2O
O2
R1 N R2
CH3 H2O
NADP
+
O
CH2 O
H
N
CH2 O
H
R1
OH + HCHO
R
R1
R2
N
H + HCHO
R2
Oxidative Entmethylierung, eingeleitet durch Monooxygenasen. Die enzymatisch gebildeten Hydroxyderivate können spontan Formaldehyd abspalten. Experimentell konnte das Hydroxyzwischenprodukt bisher in freier Form nicht aufgefunden werden, doch konnte seine Existenz indirekt bewiesen werden, indem es durch Bindung an Zucker abgefangen und damit stabilisiert wurde (Luckner 1984). In zahlreichen Alkaloiden stammt der sog. „Extra-C1-Baustein“ aus dem latenten Formaldehyd des enzymatisch oxidierten N-Methylderivates. Beispiel: Reticulin o Protoberberinalkaloide
Atmungskette. Im Zusammenhang mit katabolen Stofwechselreaktionen interessieren bestimmte Phenolasen, die sich durch die Eigenschat auszeichnen, dass Oxygenasefunktion – Übertragung von molekularem Sauerstof – und Oxidasefunktion – Übertragung von Elektronen bzw. von Wasserstof – miteinander verkoppelt sind ( > Abb. 4.9). Phenoloxidasen sind in der Natur weit ver-
breitet. Bei Planzen verursachen sie das Nachdunkeln von Schnittlächen, bestens bekannt von Kartofeln, Äpfeln und Pilzen. Peroxidasen. Sie verwenden Wasserstofperoxid (H2O2)
oder organische Peroxide als Oxidationsmittel, um Substrate unter Bildung von Wasser bzw. Alkoholen zu reduzie-
4.3 Oxidative Veränderungen an sekundären Pflanzenstoffen
4
. Abb. 4.6 COOH +
O
Hydroxylase
Tetrahydropteridin
+
O
Zimtsäure COOH Dihydropteridin
+
+
H2O
HO p-Cumarsäure
Die Hydroxylierung durch Monooxygenasen (= mischfunktionelle Oxygenasen) ist dadurch charakterisiert, dass sie unter Verbrauch von Reduktionsäquivalenten stattfindet, wobei ein Atom des Luftsauerstoffs im Substrat, das andere im Wasser erscheint . Abb. 4.7 O2
COOH
COOH
3 2
N
H
O
Tryptophan-2,3-Oxygenase
NH2
N
H
H
H
O
NH2
Tryptophan O
COOH NH2
O N
H
H N-Formylkynurenin
Der Abbau bzw. Umbau der Aminosäure Tryptophan (Trp) beginnt mit dem Angriff der Tryptophan-2,3-Dioxygenase (TrpPyrrolase) unter Bildung von N-Formylkynurenin. Als Dioxygenase (O2-Transferase) katalysiert das Enzym den Einbau aller beiden O-Atome des Luftsauerstoffs in den Pyrrolring des Trp-Moleküls. Man kann sich die Reaktion verständlich machen, indem man die Bildung eines peroxidischen Zwischenproduktes annimmt, das spontan unter Ringöffnung zerfällt . Abb. 4.8.a–c OH
HO
R Oxygenasen
a)
OH 1,2-Oxygenasen O2, –4e
b) OH OH
OH
O R
COOH COR
COOH COOH OH
2,3-Oxygenasen O2, –4e
c)
O
COOH CHO
O COOH CHO
Aromatische Ringe werden durch die verschiedenen Oxygenasen in unterschiedlicher Weise gesprengt (a,b). Die durch die 2,3-Catecholoxygenase katalysierte Reaktion (c) ist in der Alkaloidchemie als „Extradiolspaltung“ bekannt (Butt u. Lamb 1981)
85
86
4
Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Pflanzenstoffen
. Abb. 4.9 R
Cytochrom-P450-abhängige Monooxygenasen und Epoxidhydrolasen. Bei den Monooxygenasen erfolgt die
R
R O2
Aktivierung des molekularen Sauerstofs entweder durch das Cytochrom-P450-System oder durch Flavinenzyme. Die Bezeichnung Cytochrom P450 leitet sich von der Eigenschat her, dass die reduzierte Form des Enzyms mit einem Fe2+-Atom im aktiven Zentrum mit Kohlenstofmonoxid einen Komplex bildet, dessen maximale UV-Absorption bei 450 nm liegt. Das Cytochrom-P450-System ist allgemein verbreitet und kommt sowohl in tierischen als auch planzlichen Organismen im endoplasmatischen Retikulum lokalisiert vor. Die Analyse solubilisierter Cytochrom-P450-Enzyme hat erbracht, dass es sich um kein einheitliches Enzym handelt; es existieren viele Formen mit unterschiedlichen Substratspeziitäten. Die CytochromP450-Enzyme haben eine breite Substratspeziität und inserieren Sauerstof in Alkane und Alkenderivate sowie in aromatische Ringe. Bei der Einführung von Sauerstof in Alkene und Aromaten treten Epoxide als Zwischenstufen auf, die weiteren Veränderungen unterliegen. Im tierischen Organismus ist dem mikrosomalen Cytochrom-P450-Enzymsystem die Epoxidhydrolase benachbart. Dieses Enzym katalysiert die Hydrolyse von aromatischen und aliphatischen Epoxiden zu den entsprechenden threo- bzw. trans-Diolen. Beide Enzyme sind bei der Entgitung dem
spontan
½O2
OH H2
O
OH
OH
O
1
2
3
Die im Pflanzenreich weit verbreitete Phenoloxidase, auch als Polyphenoloxidase bezeichnet, ist ein Enzym, von dem zwei Reaktionsschritte katalysiert werden: die Hydroxylierung eines Monophenols zum o-Diphenol (1o2) und dessen weitere Oxidation zum o-Chinon (2o3). Der Reaktionsschritt (2o3) liefert formal die beiden Reduktionsäquivalente zur Bildung von H2O aus molekularem Sauerstoff. Da die Chinone spontan zu dunkel gefärbten Produkten polymerisieren, wird die Phenoloxidasereaktion auch als enzymatische Bräunungsreaktion bezeichnet
ren. Peroxidasen sind wenig substratspeziisch. Sie katalysieren Reaktionen, die kataboler Natur sind – beispielsweise den Abbau von Flavonen ( > Abb. 4.10 und Abb. 4.11) – sodann aber auch Biosynthesereaktionen. Insbesondere fungieren sie als Agenzien für die Verknüpfung zwischen aromatischen Ringen (oxidative Kupplung > Kap. 26.1.4). . Abb. 4.10
3'
OH
B
O
HO
OR
OR 3'
HO
O
POD H2O2
A
OH
A
H
OH OH
B
OH
OH
O H2O2
O
POD
OR OH
HO
OH +
A COOH
B HOOC
OH
CO2 aus Ring A und Ring B
Peroxidasen (POD) bauen Flavonole zu Phenolcarbonsäuren ab (Barz u. Hösel 1978)
OH
4
4.3 Oxidative Veränderungen an sekundären Pflanzenstoffen
. Abb. 4.11
Oxidation
OH OH
Glc
O
O
Glc
O
O
POD H2O2
2
7
OH
H
OH + HO
OH
O
OH
Flavanon-7-glucosid
O
Chromon-7-glucosid
2-Hydroxy-hydrochinon
Flavanone, deren Hydroxylgruppe an C-7 durch Glykosidierung oder Methylierung verschlossen ist, werden durch Peroxidasen (POD) zu Chromonen und Hydrochinonderivaten abgebaut (Janistyn u. Stocker 1976)
. Abb. 4.12
Linolsäure 18:2 (9,12) HS-CoA O SCoA
H3C Monooxygenase (ω-Hydroxylierung) O HO
SCoA Monoxygenase (Epoxidierung) O
O
O
HO
SCoA Epoxidhydrolase OH
OH
HO
O SCoA
18
OH
OH
9,10,12,13,18-Pentahydroxystearinsäure Dehydrogenase
O 18
Rest wie Formel zuvor
Einbau in Suberin und Cutin
OH
Monomere Hauptbestandteile des Suberins sind Ester von Di- bis Pentahydroxyfettsäuren mit langkettigen Alkoholen (>20). Die Hydroxyfettsäuren leiten sich überwiegend von der Stearinsäure ab. Die Abbildung zeigt die bisher wahrscheinlichste, auf Experimente gestützte Biosynthese der C18-Familie (Kolattukudy et al. 1977). Vor der Polymerisierung (Suberinisierung) wird der Hauptteil der ω-Hydroxyfettsäuren zu den entsprechenden Dicarbonsäuren dehydriert
87
88
4
Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Pflanzenstoffen
. Abb. 4.13 H
R1
H
R2
+
NADP-H, O2 Monooxygenase
CH3 H
O
H
R1
H
Methyltransferase
OCH3
H
OCH3
R1
R2
R2
R2
R1
H +
H
Z-Alken
Methoxyalken
H2O, Epoxidhydrolase
R1
H HO H
R1 HO
≡
HO
H
H
R2
OH R2
threo-Diol
Folgereaktionen der nach Einwirkung von Monooxygenasen gebildeten Epoxide. Der Epoxidring kann sich durch Angriff eines elektrophilen Agens öffnen; das kationische Zwischenprodukt stabilisiert sich durch Abspaltung eines Protons. Nach diesem Formalismus zyklisiert Squalen-2,3-epoxid (2,3-Oxidosqualen) zu tetra- und pentazyklischen Triterpenen. Enzymatisch bildet sich unter dem Einfluss der Epoxidhydrolase das dem Epoxid entsprechende threo-Diol
tierischen Organismus fremder Substanzen (xenobiotischer Verbindungen planzlicher oder synthetischer Herkunt) wichtig. Die Hydroxylierung erhöht die Löslichkeit lipophiler Xenobiotika und erleichtert ihre Ausscheidung. Ein vergleichbares Ineinandergreifen von CytochromP450-Enzymen und Epoxidhydrolasen indet sich, evolutiv gesehen, bereits bei grünen Planzen voll entwickelt, und zwar bei der Bildung des Baumaterials für die Kutinisierung (Suberinisierung). Ausgehend von in der Regel ungesättigten C18-Fettsäuren werden Di- bis Pentahydroxyfettsäuren gebildet, die nach Veresterung mit höheren Alkoholen die monomeren Bausteine der wasserundurchlässigen Biopolymere Cutin bzw. Suberin darstellen ( > Abb. 4.12). Im Primärstofwechsel ist die Epoxidierung durch eine NADP-H-abhängige Monooxygenase funktionell verknüpt mit der Aktivität weiterer Enzyme wie beispielsweise der Wirkung von 2,3-Oxidosqualen-Cyclasen, die zum Aubau von Steroiden und zyklischen Triterpenen führen ( > Kap. 24.3). Der Umbau und Abbau sekundärer Planzenstofe beginnt analog mit der Epoxidierung einer Doppelbindung. Häuig wird der Epoxidring durch den Angrif eines Methyldonators unter Bildung entsprechender Methoxyderivate geöfnet ( > Abb. 4.13). Das durch den elektrophilen Angrif entstehende Kation stabilisiert sich unter Abspaltung eines Protons, nicht selten erst nach intramolekularen Umlagerungen. Beispiel: Die in bestimm-
ten Piper-Arten vorkommenden Piperolide kann man sich über Epoxidierung der 5,6-Doppelbindung und Ringverengung aus sauerstofärmeren Vorstufen entstanden denken ( > Abb. 4.14).
4.3.2 Abbau phenolischer Pflanzenstoffe Ein einfacher oxidativer Abbauschritt besteht in der Verkürzung der C3-Seitenkette von Zimtsäuren um 2 C-Atome. Für diese Herkunt der Benzoesäurederivate aus Zimtsäuren spricht das Autreten analoger Substitutionsmuster. Sehr wahrscheinlich verläut die Abspaltung der C2-Kette analog der bekannten α-Oxidation von Fettsäuren ( > Abb. 4.15). Einschränkend sei hinzugefügt, dass es bisher nicht gelungen ist, an Coenzym A gebundene Zimtsäuren experimentell nachzuweisen. C6-C1-Phenolcarbonsäuren entstehen sodann beim Abbau von Flavonolen und zwar unter der Einwirkung von Peroxidasen ( > Abb. 4.10). Hydroxylavanone werden enzymatisch hingegen zu Chromonen und Hydrochinonderivaten abgebaut ( > Abb. 4.11). Dioxygenasen attackieren, wie bereits gezeigt ( > Abb. 4.8), den Benzolring direkt. Aus l-DOPA bilden sich abhängig von der Ringöfnungsstelle und der Art der Rezyklisierung, Stizolobinsäure oder Betalaminsäure ( > Abb. 4.16). Die Betalaminsäure ist die Muttersubstanz der Betalaine ( > Infobox).
4.3 Oxidative Veränderungen an sekundären Pflanzenstoffen
4
. Abb. 4.14 OCH3
OCH3
OCH3
H3CO
5
H
O
6
O
O
2 Desmethoxyangonin
1 Kavain OCH3
O
OH
H3CO 5 Epoxypiperolid
4 Piperolid
CH3
O b
H
O O
H3CO
a
OCH3
O O
O
3 5-Methoxy-2
OCH3
O
+
O
O
O OH H3CO 6 threo-Piperoliddiol
OCH3
a
O
O
a
Piperolide
b
5-Hydroxy-Yangonine
Einige vom Kavain (1) sich ableitende Inhaltsstoffe von Piper sanctum und Piper methysticum, angeordnet nach ihrem Oxidationsgrad (1o6). Das Inhaltsstoffspektrum stellt sich dar, als lägen Moleküle eines katabolen Abbaus vor, eingeleitet durch Epoxidierung des Yangoninderivates 2 in Position 5,6
Infobox Betalaine. Die Betalaine sind eine Gruppe von zellsaftlöslichen, stickstoffhaltigen Pflanzenfarbstoffen, die als chromophore Gruppe das 1,7-Diazaheptamethinium-System enthalten und damit natürliche Vertreter der Polymethinfarbstoffe darstellen ( > Abb. 4.17). Unterteilt werden die Betalaine in die rotviolett gefärbten Betacyane und die gelben Betaxanthine. Die Betacyane bestehen aus einem 5,6Dihydroxydihydroindol-2-carbonsäure-Teil (Cyclo-DOPA), der mit einer Dihydropyridin-2,6-dicarbonsäure-Einheit (Betalaminsäure) verbunden ist, z. B. Betanin, ein Betanidin5-O-glucosid, oder Amaranthin, ein Betanidin-5-O-(glucuronid)-glucosid. Betaxanthine sind nicht glykosidiert. Bei ihnen sind statt des Dihydroindolringes der Prolinrest
(Indicaxanthin aus Opuntia ficus-indica MILLER) bzw. andere Aminosäuren oder Amine wie Glutaminsäure, Glutamin, Methioninsulfat, Asparaginsäure oder Tyramin mit Betalaminsäure verknüpft. Betalaine kommen ausschließlich bei bestimmten Familien der Caryophyllales [IIB3] vor. Pflanzenarten, die Betalainfarbstoffe führen, enthalten keine Anthocyanpigmente: Anthocyan- und Betalainbildung schließen sich wechselseitig aus. Allerdings kommen die mit den Anthocyanen biosynthetisch eng verwandten Flavone (Typus Quercetin) auch in den Betalainpflanzen vor. Somit ist die Fähigkeit zum Aufbau des C15-Flavonoidgerüstes vorhanden, es ist lediglich die Ausbildung der Anthocyane blockiert.
89
90
4
Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Pflanzenstoffen
. Abb. 4.15 O
OH H2O
R1
O
R1
SCoA
R2
SCoA
R2 NAD
+
+
H, NAD O
O R1
SCoA
CH3CO
H
SCoA
SCoA
R1
H O SCoA
R2
R2 H2O H
R1
SCoA
CHO
H2O, + NAD
+
H, NAD
H
R1
COOH
R2
R2
z. B. : R1 = OCH3, R2 = OH: Vanillin
z. B.: R1 = R2 = H: Benzoesäure R1 = H, R2 = OH: p-Hydroxybenzoesäure R1 = OCH3, R2 = OH: Vanillinsäure
C6-C1-Verbindungen vom Typus des Vanillins und der Benzoesäure entstehen vermutlich aus Zimtsäuren in einem der βOxidation der Fettsäuren vergleichbaren Prozess. Daneben gibt es aber einen zweiten, direkten Weg zu C6-C1-Säuren, der nicht über Zimtsäuren führt, sondern von der Shikimisäure abzweigt
4.3.3 Oxidative Modifikation der Quassinoide Die Quassinoide sind sauerstofreiche trizyklische Planzenstofe, die biogenetisch durch oxidativen Abbau aus trizyklischen Triterpenen (C30) entstanden sind. Das Grundgerüst der Quassinoide besteht aus 20 Kohlenstofatomen, sodass 10C-Atome abgebaut werden (Decanortriterpene). Daneben gibt es C25-Quassinoide (Pentanortriterpene). Einige wenige Quassinoide enthalten nur mehr einen Restbestand aus 10- oder 18C-Atomen (Undecanortriterpene bzw. Dodecanortriterpene). Die Quassinoide sind in ihrer Verbreitung auf die Simaroubaceae [IIB18f] beschränkt. Die meisten Quassinoide schmecken intensiv bitter; Quassin und Neoquassin ( > Abb. 4.18) sind die Planzenstofe mit den höchsten Bitterwerten. Viele Quassinoide besitzen fraßhemmende, antivirale, anthelmintische, insektizide und amöbizide Wirkungen. Besonders gut untersucht sind die Quassinoide des aus China
stammenden Götterbaumes, Ailanthus altissima (Mill.) Swingle, aus dessen Rinde u. a. Ailanthon und Glaucorubinon isoliert wurden, die beide auf Entamoeba histolytica sowie auf chloroquinresistente Formen von Plasmodium falciparum hemmend wirken. Insektizid wirken auch die Quassinoide des Bitterholzes. Das Bitterholz, Quassiae lignum, stammt von dem in Surinam heimischen QuassiaBaum, Quassia amara L. Die Droge enthält 0,1–0,2% Quassinoide mit Quassin ( > Abb. 4.18) als Hauptkomponente. Die Quassinfraktion kann als Spritzmittel gegen Fliegen, Blattläuse und Raupen verwendet werden. Eine Paralleldroge, die ebenfalls Quassiaholz (Jamaika-Quassiaholz) liefert, stammt von Picrasma excelsa (Swartz) Planch. Hinweis. Das Quassin des Handels ist ein Gemisch aus Quassin, Neoquassin, Isoquassin und 18-Hydroxyquassin. Es ist ein im Lebensmittelbereich verwendeter Bitterstof. Nach der Aromenverordnung dürfen Trinkbranntweine bis zu 50 mg/l als Zusatz enthalten.
4.3 Oxidative Veränderungen an sekundären Pflanzenstoffen
4
COOH
. Abb. 4.16 H2N
COOH
O
H2N
COOH
Stizolobsäure
COOH
OHC
OHC HOOC
H2N
O
OH
HOOC
N H
OH
COOH
Betalaminsäure
OH COOH
L-DOPA
HOOC
NH2
H2N CHO COOH OH
O
O
COOH
Stizolobinsäure
Oxidative Ringspaltung von L-DOPA durch eine Dioxygenase und Rezyklisierung
4.3.4 Oxidative Modifikation der Limonoide Ähnlich wie die Quassiarinde der Simaroubaceae stellen auch die Limonoide oxidativ veränderte, katabolische Derivate tetrazyklischer Triterpene dar ( > Abb. 4.19). Das charakteristische Kohlenstofskelett der Limonoide entsteht x durch oxidative Modiizierung der Seitenkette des C30Steroids unter Ausbildung eines β-substituierten Furanringes unter Abspaltung eines C4-Restes, x durch Sprengung eines carbozyklischen Ringes unter Bildung ofenkettiger Derivate (Beispiel: Obacunonsäure) oder von Lactonen (Beispiel: Nomilin). In der synthetischen Chemie hat die oxidative Sprengung eines Ringketons unter Lactonbildung ein Analogon in der Keton- o Ester-Oxidation nach Baeyer-Villiger. Limonoide sind charakteristische Inhaltsstofe von Planzen aus den Familien der Rutaceae [IIB18d] und der Meliaceae [IIB18c]. Viele Vertreter weisen einen bitteren Ge-
schmack auf. Limonin ( > Abb. 4.19) beispielsweise ist der Bitterstof in Samen, Sat und Fruchtleisch von Apfelsine und Grapefruit. Die Limonoide sind bemerkenswerte Fraßabwehrstofe. Am eingehendsten untersucht ist das Azadirachtin ( > Abb. 4.20), ein systemisch wirkendes Fraßabschreckungsmittel für Insekten. Es hat Antiecdysonwirkung und verursacht Wachstumsstörungen im Larvenstadium der Tiere. Es wird als „biologisches Schädlingsbekämpfungsmittel“ kommerziell eingesetzt.
4.3.5 Phytoecdysone: Oxidative Modifikationen in der Cholesterinreihe Phytoecdysone sind stark hydroxylierte Steroide mit variabler Seitenkettenlänge, entsprechend einer Verwandtschat zum Cholesterin (C27-Steroid, C8-Seitenkette), Ergosterin (C28-Steroid, C9-Seitenkette) oder Sitosterin (C29Steroid, C10-Seitenkette). Ein weiteres charakteristisches
91
92
4
Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Pflanzenstoffen
. Abb. 4.17 3
2'
HO
1'
2
HO
H
HO
3'
H
4'
HO
6'
H2N
COOH
N H
HO
5'
L-(S)-DOPA
H +
COOH
N
HO
COOH
(S)-Cyclo-DOPA 5'
OHC
6'
HOOC
1' 2'
3
HOOC
3'
2
N H
H
4'
COOH
N H
H Betanidin
COOH
H
(S)-Betalaminsäure +
N
COOH
H N H
COOH HOOC
L-Prolin
H
N H
COOH
Indicaxanthin H R
R
R
H +
N
N
R
R
H
R
R
+
R
N
N
R
R
H
Betalainchromophor als pentasubstituiertes 1,7-Diazaheptamethinsystem
Biosynthese von Betalainen. Die Betalaine sind Immoniumderivate der Betalaminsäure. Die Biosynthese verläuft von L-DOPA ausgehend, das einerseits zu Cyclo-DOPA zyklisiert, andererseits nach Extradiolspaltung ( > Abb. 4.8 [2,3 Catecholoxygenase]) zur Betalaminsäure rezyklisiert. Kondensation von Betalaminsäure mit Cyclo-DOPA führt zu den rotgefärbten Betanidinen, das sind die Glykoside und Acylglucoside des Betanidins (λmax = 573 nm). Erfolgt die Kondensation der Betalaminsäure mit einer Aminosäure oder einem biogenen Amin, so entstehen Betalaine mit einem verkürzten Chromophor. Indicaxanthin ist ein Vertreter der gelb gefärbten Betaxanthine (λmax = 477 nm)
Merkmal ist das 14D-Hydroxy-7-en-6-on-System, das Basis eines spektralphotometrischen Nachweises für Phytoecdysone ist ( > Abb. 4.21). Ecdyson (Synonym: D-Ecdyson) selbst ist ein C27-Steroidhormon, das bei Insekten die Häutung der Raupe zur Puppe und der Puppe zum Schmetterling bewirkt. Als Hormon wird es von den Tieren in nur geringen Mengen gebildet: Seidenspinnerraupen enthalten es in einer Konzentration von 5–10–6 Prozent. Planzen hingegen speichern Ecdysone nicht selten in etwa der 10.000fach höheren Konzentration.
Die Akkumulation von Phytoecdysonen wird als ein ökobiochemisches Moment in dem andauernden koevolutionären Prozess zwischen Planzen und Insekten betrachtet. Zwar können die meisten Insekten oral aufgenommene Phytoecdysone entgiten, doch hat die Planze dagegen die Strategie der Ausbildung unterschiedlicher Strukturvarianten entwickelt, deren Inaktivierung erschwert ist. So ist beispielsweise das insekteneigene D-Ecdyson bereis 7 h nach der Verfütterung inaktiviert, Cyasteron aus Palmfarn hingegen erst nach 32 h. Wahrschein-
4.3 Oxidative Veränderungen an sekundären Pflanzenstoffen
. Abb. 4.18
OCH3
OCH3 CH3
O
O
CH3
H3CO
O
CH3
CH3
O
H3CO
CH3
CH3 H
H
CH3
H
O
H
4
O CH3
H
Quassin
H H
O
OH
Neoquassin
C8 H3C
CH3
C8
O
CH3 CH3 CH3
•
O
CH3
Oxidative Veränderungen
•
CH3
O
CH3 OH
H3C
CH3
H3C
COOH C30−Seco-Tirucallol-Typ
C30−Tirucallol-Typ
Oxidation
OH O
CH3
O
A
CH3 B
C8 CH3
O
C9
CH3 C
O
CO2
O CH3
CH3
•
O CH3
O
OH
•
COOH
OH H3C
COOH
C20−Simarubalid-Typ
Quassin und Neoquassin, die Bitterstoffe des Quassiaholzes, sind Vertreter der sog. Simarubalide, das sind C20-Lactone mit zahlreichen O-Funktionen im Molekül. Biosynthetische Untersuchungen führten zu dem Ergebnis, dass die Simarubalide aus tetrazyklischen Triterpenen durch oxidative Veränderungen entstehen. Das Schema zeigt die formal-biogenetischen Beziehungen. Wichtigstes Zwischenprodukt ist ein Secotriterpen. Retroaldolspaltung führt zur Absprengung eines C9-Restes; Aufspaltung des Lactons im Seco-Tircucallol ermöglicht eine Rezyklisierung zum typischen Lactonring C der Simarubalide. Das Symbol x soll die Orientierung beim Verfolgen der Oxidationssequenzen erleichtern
93
94
4
Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Pflanzenstoffen
. Abb. 4.19 CH3
H3C
CH3
H3C CH3
CH3
CH3
CH3
O
CH3
CH3
CH3 CH3
CH3 CH3
HO H3C
CH3 Tetrazyklisches Triterpen C30H50O
Squalenepoxid
O
O
CH3
CH3 OH CH3 O
O
O O
OAc CH3
O
CH3
O O
O
H3C
O CH3 Nomilin
Deacetylnomilin O
O
CH3 CH3
CH3 O
CH3
O O
CH3 O
O
HOOC
HO
Obacunon
O
CH3 O
H3C
O CH3
H3C
O
O
CH3
H3C
O
CH3
O
O CH3 Obacunonsäure
O 17
O
CH3 O
3 2
H O
4
H3C
O
CH3
1
15
H
5
H
O O
16
O
H
CH3
Limonin C26H30O8
Die Limonoide stellen oxidativ veränderte Kataboliten tetrazyklischer Triperpene dar. Der angegebene Mechanismus des Abbaus ist aufgrund der aufgefundenen Zwischenverbindungen als wahrscheinlich anzusehen
4
4.4 Sekretion und Speicherung von Sekundärstoffen
. Abb. 4.20 O H3CO
OH
OO
H3C O H3C
H
O
CH3 O
O
CH3
O CH3
O
OH
H
4.4 Sekretion und Speicherung von Sekundärstoffen
OH
H
H3CO
lich genügen bereits geringfügige Auswirkungen auf die Metamorphose oder die Fortplanzung, um die Widerstandskrat des Schädlings herabzusetzen und das Überleben der Planzenspezies zu ermöglichen.
H
O
O
Sekundärstofe werden synthetisiert, sie werden in andere Gewebe transportiert, vorübergehend gespeichert und letztlich an die Umwelt abgegeben. Die Abgabe an die Umwelt erfolgt bei der Autolyse von Zellen, bei lüchtigen Stofen durch Verdunsten, bei polaren Stofen durch Auswaschen und schließlich durch den herbstlichen Blattfall sowie beim Absterben der ganzen Planze. Der folgende Abschnitt befasst sich mit der Akkumulation von Sekundärstofen. Speicherung von Sekundärstofen hat man lange Zeit als eine Art von Ablagern der für die Planze unnützen Produkte gesehen: Man sprach von Exkretion.
Azadirachtin, C35H44O16
Azadirachtin ist ein Limonoid, das im indischen Neembaum, Antelaea azadirachta (L.) Adelbert (Synonym: Azadirachta indica Juss.; Familie Meliaceae [IIB18c]), vorkommt. Es ist ein sehr wirksames, systemisch wirkendes Fraßabschreckungsmittel für Insekten, das für Säugetiere nicht toxisch ist
. Abb. 4.21
H3C R
H3C
OH 22
CH3
25
CH3
H3C
OH
CH3
CH3 CH3
HO
14
H
3
HO
H
O
OH
O OH
CH3
CH3
HO
OH
H HO
H
O
OH
O
R = H : α-Ecdyson, C27H44O6 R = OH : β-Ecdyson, C27H44O7
Cyasteron, C29H44O8 H3C
21
H3C CH3
H
26 22
20
25
24
CH3
H3C
H
H
CH3
CH3
23 27
CH3
CH3
H C8-Seitenkette des Cholesterins
H C10-Seitenkette der Sitosterine
Ecdysone sind Derivate des Cholesterins (C27) oder des Sitosterins (C29), deren Seitenkette oxidativ verändert ist. Weitere Eigentümlichkeiten des Molekülbaus sind: Ringe A/B sind cis-verknüpft, 2 β-ständige sekundäre alkoholische Gruppen in den Positionen C-2 und C-3; α-OH am C-14, sodass die Ringe C/D trans-verknüpft sind; und schließlich das 7-en-6-onSystem
95
96
4
Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Pflanzenstoffen
Als man dann Funktionen bestimmter Sekundärstofe kennen lernte, diferenzierte man in Exkrete und Sekrete. Exkrete sieht man als Sekundärstofe an, die als Ballastoder Schadstofe von den Zellen abgegeben werden; Sekrete sind von Planzen abgegebene Stofe, die eine ökologische Funktion haben. Diese aus der Zoologie übernommene Trennung von Exkreten und Sekreten ist in der Botanik schwer durchführbar: Ein und derselbe Stof kann bei der einen Art eine erkennbare Funktion haben, bei der anderen Art aber – scheinbar – funktionslos sein. Die Biochemie und Physiologie der Akkumulation von Sekundärstofen hat zahlreiche Aspekte, von denen genannt seien: Korrelation der Stofspeicherung mit der Zell- und Gewebediferenzierung, Adaptation an sich ändernde Umweltbedingungen oder biochemische Wechselwirkungen mit anderen Lebewesen (Harborne 1995; Roshchina u. Roshchina 1993; Schlee 1992). Die folgende Übersicht beschränkt sich auf den topographischen Aspekt: Wo in Zellen, Organen oder spezialisierten Strukturen (d. h. Drüsenzellen und Gewebe) sind Sekundärstofe gespeichert? Welche Art von Sekundärstofen wird in welchen Kompartimenten gespeichert?
4.4.1 Gewebe- und segmentspezifische Akkumulation Innerhalb eines Organs sind die Sekundärstofe nicht in allen Geweben gleichmäßig verteilt. Beispielsweise sind innerhalb der Pseudanthien der Kamille, Matricaria recutita L., Proazulene in bestimmten Geweben der Blüten akkumuliert, Polyine fehlen, wohingegen die Blütenstandsböden reich an Polyinen und frei von Proazulenen sind. Flavonolglykoside sind bei zahlreichen Arten in den Zellen der oberen Blattepidermis angereichert, Anthocyanglykoside in denen der unteren. Flavonole absorbieren UV-B-Strahlen und bilden auf diese Weise einen wirksamen Schutzilter für das Assimilationsparenchym. Die Speicherung von Anthranoiden beschränkt sich bei Morinda citrifolia L. auf das Wurzelsystem, doch verteilen sie sich nicht gleichmäßig innerhalb des Organs, sondern akkumulieren in der Wurzelrinde. Ähnlich verhält es sich mit der Ipecacuanhawurzel. Die Alkaloide inden sich hauptsächlich in der Rindenschicht, nicht im Holzkörper, der folglich für die technische Alkaloidextraktion minderwertig ist. Bei Samen sind toxische Substanzen ot im Sa-
menmantel konzentriert, wie z. B. beim Kreuzstrauch (Baccharis megapotamica Spreng.). Sie schützen den Samen so vor Insektenangrifen und mikrobiellen Infektionen. Bei den Früchten der Paranuss-Arten ist es hingegen gerade der innerste Teil der Frucht, der Samenkern, in dem die cyanogenen Glykoside lokalisiert sind. Beim Gemeinen Greis- oder Kreuzkraut, Senecio vulgaris L., enthalten die Epidermiszellen des Stängels 10-mal mehr Pyrrolizidin-Alkaloide als die übrigen Zellen. Selbst chemisch nahe verwandte Inhaltsstofe können innerhalb eines Organs unterschiedlich verteilt sein, wie das Beispiel der beiden Isolavone Biochanin A (5,7-Dihydroxy-4ʹ-methoxyisolavon) und dessen 5-Desoxyderivat Formononetin (7-Hydroxy-4ʹ-methoxyisolavon) zeigt. Biochanin A wird hauptsächlich in der Rhizodermis (griech.: rhíza [Wurzel]; dérma [Haut]) lokalisiert, Formononetin hingegen ziemlich gleichmäßig über das gesamte Wurzelgewebe verteilt. Eine segmentspeziische Akkumulation innerhalb eines Blattes wurde für Digoxin im Digitalis-lanata-Blatt nachgewiesen. Das Gewebe entlang des Mittelnervs und das der unteren Blattregionen sind glykosidarm, wohingegen das Parenchym des distalen Blattdrittels und der marginalen Blattregionen hohe Digoxinkonzentrationen aufweist (Weiler u. Zenk 1976). Am ofenkundigsten ist die segmentspeziische Akkumulation bei vielen Blütenblättern, insbesondere denen, die Farbmale (Satmale) aufweisen, das sind Farbzeichnungen, die durch unterschiedliche Verteilung von Anthocyanen, Flavonen und Carotinoiden zustande kommen; ihr Zweck ist es, bestäubende Insekten zum Blütenzentrum hinzuleiten, wo sich Nektar, Staubblätter und Grifel beinden.
4.4.2 Speicherung in Kompartimenten innerhalb der Zelle Hydrophobe Sekundärstofe werden in den Chromoplasten gespeichert, hydrophile bevorzugt in Vacuolen. Sekundärstofe unterschiedlicher Polarität können in periplasmatischen (extraplasmatischen) Bezirken und in der Zellwand abgelagert werden. Chromoplasten (griech.: chróma [Farbe]; plastós [geformt]) sind Plastiden, die kein Chlorophyll enthalten und daher photosynthetisch inaktiv sind, in denen aber Carotinoide und Xanthophylle akkumuliert sind und die daher gelb, orange oder rot gefärbt sind. Sie inden sich besonders in Blütenblättern (Forsythien) und Früchten
4.4 Sekretion und Speicherung von Sekundärstoffen
(Tomaten, Hagebutten, Zitrone, Orange), seltener in unterirdischen Organen (Möhre). In gefärbten Blütenblättern und unreifen Früchten entstehen die Chromoplasten durch Umwandlung aus Chloroplasten, ein Vorgang, der mit der Zerstörung von hylakoiden einhergeht, wohingegen die Plastoglobuli, in denen die Carotinoide akkumuliert sind, sowohl der Zahl als auch dem Volumen nach zunehmen. Es indet eine Neusynthese von Carotinoiden statt. In den Mohrrüben (Möhren) werden die Plastiden von vornherein als Chromoplasten angelegt. Wiederum anders ist die Situation in herbstlichen Laubblättern: Als Ergebnis einer gelenkten Autolyse werden in den Chloroplasten Chlorophylle, neben Fetten und Eiweiß, abgebaut, die Carotinoide bleiben zurück, womit sich der Farbwechsel erklärt. Eine Neusynthese von Carotinoiden indet nicht statt. Die Zellen des Herbstblattes sind auf Katabolismus eingestellt: Da es sich bei den „Chromoplasten“ des Herbstblattes um Chloroplasten im Altersstadium handelt, ist für sie die Bezeichnung Gerontoplasten (griech.: géron [alt]) vorgeschlagen worden (Sitte et al. 1980). Sowohl in Chromoplasten wie in Gerontoplasten kommen Xanthophylle (Carotinoide mit OH-Gruppen) mit Fettsäuren verestert vor. Diese auch als „Sekundärcarotinoide“ bezeichneten Xanthophylle fehlen in (zur Photosynthese) funktionstüchtigen Chloroplasten. Die Feinstruktur der Chromoplasten variiert stark. Es galt, evolutiv das Problem zu lösen, wie die hydrophoben (lipophilen) Carotinoide in einem hydrophilen Stroma verteilt gehalten werden können. In den Gerontoplasten, aber auch häuig in Chromoplasten, kommen sog. Plastoglobuli, das sind Lipidtropfen, vor, kugelige Gebilde, in deren unpolarem Inneren die Pigmente konzentriert sind. Sodann können die Carotinoidpigmente als fädige (nematische) Flüssigkristalle vorliegen, die von einem Mantel aus amphipolaren Strukturlipiden und einem Strukturprotein umhüllt sind. In elektronenmikroskopischen Querschnittbildern ähneln sie gebündelten Röhren (Tubuli) beispielsweise bei Blüten von Chelidonium majus und Tropaeolum-Arten. Wiederum in anderen Fällen sind Pigmentpartikel in Membranen eingehüllt und erscheinen als Membrankonvolute (z. B. bei gelbblütigen Narzissen) oder als membranumschlossene Carotinoidkristalle (z. B. in der Wurzel von Daucus carota L.) (Sitte et al. 1980; Mohr u. Schopfer 1992).
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4.4.3 Vacuole als Speicherkompartiment Alle metabolisch aktiven planzlichen Zellen besitzen mehr oder weniger große Vacuolen. In voll entwickelten Organen kann die große Zentralvacuole bis zu 90% des Zellvolumens ausfüllen. In Vacuolen werden Metabolite zwischengelagert, allerdings für sehr unterschiedlich lange Zeiträume. Es herrscht eine ausgesprochene Spezialisierung: von Planzenart zu Planzenart, von Organ zu Organ und selbst innerhalb eines Gewebes. Zunächst einmal ist die Vacuole ein Speicherraum für Primärmetabolite und Ionen. Osmotisch wirksame anorganische Ionen, einfache Carbonsäuren (Äpfel-, Zitronen- und Oxalsäure), Aminosäuren und Zucker dienen der Turgorregulation. Malat wird beim diurnalen Säuremetabolismus der Crassulaceae nachts als CO2-Speicher deponiert, woraus tagsüber wieder CO2 für die Photosynthese freigesetzt wird. In spezialisierten Speichergeweben werden Saccharose, Fructose und Speicherproteine ebenfalls nur in Vacuolen deponiert. Für die Saccharoseakkumulation sind Zuckerrohr und Zuckerrübe bekannt. Fructane, nach Saccharose und Stärke die wichtigsten Kohlenhydratspeicher, sind leicht wasserlösliche, nichtreduzierende Polyfructosylsaccharosen, die als Speichersubstanzen in überdauernden Knollen, Rüben und Rhizomen, z. B. in Topinambur, Alant und Cichorium-Arten, vorkommen. Proteinspeichervacuolen werden bei der Samenreife in den Zellen von Karyopsen (Poaceae) oder den Speichercotyledonen von Hülsenfrüchtlern (Fabaceae) gebildet. Man bezeichnet sie meist als Aleuronkörner. Was die Sekundärstofe anbelangt, so können nahezu alle Stofgruppen in Vacuolen gespeichert werden, jedoch ausschließlich als polare und damit wasserlösliche Derivate. Erwähnt seien: x Anthocyan-, Flavonoid- und Cumaringlykoside, x Phenole, insbesondere Tannine, x Alkaloide, meist als Salze, x Triterpenglykoside, darunter Saponine und Cardenolidglykoside, x Proteine, darunter lytische Enzyme, Proteinaseinhibitoren und Lectine. In den Vacuolen vieler Zellen inden sich Kristalle von Calciumoxalat in unterschiedlichsten Kristallformen: als Raphiden (griech.: raphis [Nadel]), das sind Bündel von nadelförmigen Kristallen, als Drusen, als Kristallsand und als tetragonale Solitärkristalle.
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Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Pflanzenstoffen
4.4.4 Transportvorgänge an Tonoplasten Der Tonoplast bildet die Barriere zwischen dem Lipidraum im Zytoplasma und dem wässrigen Vacuolenraum. Für die zahlreichen Leistungen und Funktionen der Vacuolen existieren entsprechend viele Mechanismen der Stofverschiebung, die nicht alle besprochen werden können; hier sei auf Übersichtsarbeiten verwiesen (Wink 1993). Auf Akkumulationen, die nach Art einer Falle wirken, wird im Folgenden eingegangen. Angenommen, Substanzmoleküle gelangen durch Difusion oder mittels passiven Transports via Tonoplast aus dem Plasma- in das Vacuolenkompartiment. Die
Transportbewegung kommt zum Stillstand, sobald zu beiden Seiten des Tonoplasten gleiche Konzentrationen herrschen. Nimmt man nun an, ein Molekül, das den Vacuolenraum erreicht, würde ausgefällt oder anderweitig gebunden werden und somit aus dem Gleichgewicht herausgenommen, so können weiterhin Moleküle transportiert werden, so lange bis auf beiden Seiten die Zahl der „freien Moleküle“ gleich ist. Überschüssiges Calcium, so lässt sich vermuten, kann im Vacuolenraum als schwer lösliches Oxalat abgefangen und ixiert werden. Die Fixierung einer Spezies im Vacuolenraum kann sodann in einer Protonierung bestehen, wozu es einen Modellversuch gibt ( > Abb. 4.22). Auch für die Alkaloidakkumulation wird
. Abb. 4.22
H 3C
N
N
CH3
N
NH2
N H 3C
CH3
N
+
N H
CH3 NH2
CH3
B
A
Molekül
Ion
Ionenfallenmodell nach Sitte: Akkumulation von Neutralrot in der Vacuole einer Pflanzenzelle. Neutralrot hat die chemische Eigenschaft eines Säure-Base-Indikators mit Farbumschlag im pH-Wertbereich 6,8–8,0, d. h. bei pH-Werten >8,0 überwiegen Neutralmoleküle der Sorte A, bei pH-Werten unter Ölzellen, S. 99). Sodann ist auch von Phenolen bekannt, dass sie sich in periplasmatischen Bezirken anreichern können. In keimenden Samen von Brassica-Arten bilden bestimmte Phenole ofensichtlich eine Barriere der Zelle gegen Infektion (Zobel 1989).
4.4.6 Innergewebliche Sekret- und Akkumulationsstrukturen Auf Speicherung spezialisierte Einzelzellen; Idioblasten Idioblasten. In bestimmten parenchymatischen Geweben
sind alle Zellen fähig, Sekundärprodukte zu synthetisieren und zu speichern. In anderen Geweben hingegen gibt es Zellen, die auf die Speicherung spezialisiert sind. Sie unterscheiden sich unter dem Mikroskop von den umliegenden Zellen durch ihre Größe und histochemisch durch ihren Inhalt. Man nennt sie Idioblasten (griech.: idios [eigen, einzeln]; blastós [Gebilde]). Idioblasten ist ein morphologischer, kein physiologischer Terminus, insbesondere sind mit der Verwendung des Begrifes keine Aussagen über den Sekretionsmechanismus verknüpt. Es gibt sowohl Idioblasten mit lipophilen als auch mit polaren Inhaltsstofen. Selbst Zellen, die keine Akkumulationsfunktion haben, wie die Sklereiden (griech.: sklerós [hart]), zählen zu den Idioblasten, wenn sie isoliert in andersartigem Gewebe autreten. Ölzellen. Es liegen Einzelzellen vor. Der Inhalt, ätheri-
sches Öl, ist von einer besonderen Hülle umgeben, die der Zellwand ansitzt. Zur Genese: Die im Plasmaraum der Zelle synthetisierten lipophilen Terpenoide und Phenylpropanoide sammeln sich in periplasmatischen Bezirken, einer „extraplasmatischen Tasche“ (Ölbeutel) an, die der Zellwand ansitzt. Die Tasche erfüllt allmählich den ganzen
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Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Pflanzenstoffen
. Abb. 4.23 le
. Abb. 4.24 ge
ö
p
i
i
i i
a Querschnitt durch den Rand eines Kronblattes der Lindenblüte (Tilia cordata MILL.): neben Idioblasten mit Oxalatdrusen eine Schleimidioblaste a zeigend (aus Gilg et al. 1927)
Acorus-calamus-Rhizom. Querschnitt durch ein Gefäßbündel des Zentralzylinders. le Siebteil, ge Gefäßteil, i Interzellularräume, ö Ölzellen (Ölidioblasten), p Parenchymzellen, die meisten mit winzigen Stärkekörnern gefüllt, andere – besonders um die Ölzellen herum – färben sich mit Vanillin-Salzsäure-Reagenz prächtig rot an (Catechingerbstoffidioblasten sind im ungefärbten Präparat nicht als solche kenntlich). Vergrößerung 1:175 (aus Gilg et al. 1927)
Zellraum. Das Plasma stirbt ab. Ölzellen sind typisch für Arten der Acoraceae, Lauraceae, Piperaceae und Zingiberaceae. Idioblasten mit Tanninen. Tannine können in Idioblasten in Mengen gespeichert werden, sodass sie unter dem Mikroskop als „Gerbstoballen“ zu erkennen sind, z. B. im Querschnitt der Eichenrinde als im Parenchym verstreute dünnwandige Zellen, die einen dichten, tief gelbbraunen Inhalt führen. In anderen Geweben geben sich Tannineführende Idioblasten erst nach Anfärbung zu erkennen. Als Beispiel sei auf > Abb. 4.23 verwiesen, die einen Querschnitt durch den Kalmus, Calami rhizoma zeigt. Die Droge enthält zwei unterschiedlich spezialisierte Idioblasten: neben den Gerbstofzellen noch zahlreiche Ölzellen. Tannine können schließlich in schlauchartigen Zellen, den Gerbstofschläuchen, gespeichert werden, beispielsweise bei Vertretern der Wolfsmilchgewächse (Euphorbiaceae [IIB12c]).
Idioblasten mit weiteren Sekundärstoffen. Für sehr unterschiedliche Stofgruppen wurde gefunden, dass sie in Idioblasten selektiv gespeichert werden können. Zu erwähnen sind zunächst die Schleimzellen. Sie zeichnen sich durch ihre Größe aus und dadurch, dass ihr Zelllumen extrem eingeengt ist, ähnlich wie das bei den Sklereiden der Fall ist. Meist wird der Schleim in den freien Zellraum zwischen Zellwand und Plasmalumen sezerniert. Volumen von Zytoplasma und Vacuole werden zunehmend zurückgedrängt, so lange bis die Zelle abstirbt. Schleimidioblasten dieser Art kommen in vielen Arten der Cactaceae, Crassulaceae und Orchidaceae vor. Bekannt für den Pharmazeuten sind die Schleimzellen der Althaea-, Malva- und Tilia-Arten ( > Abb. 4.24). Von den Schleimidioblasten zu unterscheiden sind die schleimsezernierenden Epidermiszellen, wie sie für Blätter sehr vieler zweikeimblättriger Planzen kennzeichnend sind. Morphologisch-anatomisch weichen sie von den übrigen Epidermiszellen nicht ab, sondern lediglich physiologisch durch die Fähigkeit zur Schleimabsonderung. Zu den Idioblasten zählen auch die Myrosinzellen (griech.: mýron [Balsam]), schlauchförmige Idioblasten, die in getrennten Zellkompartimenten Myrosinase (eine hioglucosidhydrolase) und Glucosinolate enthalten (Pihakaski u. Iversen 1976). Auch Steroidglykoside und Saponine können bei einigen Arten in Idioblasten gespeichert werden. Bei Dioscorea-Arten sind Teilmengen der Epidermiszellen beider Blattseiten als idioblastische Saponinspeicher ausgebildet (Roshchina u. Roshchina 1993).
4.4 Sekretion und Speicherung von Sekundärstoffen
. Abb. 4.25
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Milchröhren
sp ep p
g cr
a
m gfb
Querschnitte durch die Randpartie eines Blattes von Aloe succotrina ALL. mit den Aloin-führenden Zellen a. Weitere Abkürzungen: sp Spaltöffnungen, ep Epidermiszellen, p und g Assimilationsgewebe, m schleimhaltiges Mark, cr Raphidenzellen, gfb Gefäßbündel
Anthranoide werden in Aloe-Arten in Zellen gespeichert, die in Gruppen halbkreisförmig die Gefäßbündel umgeben ( > Abb. 4.25). Auch Alkaloide können in Idioblasten gespeichert werden. Beispiele dafür sind die Acridonalkaloide in Wurzeln und Suspensionskulturen von Ruta graveolens (Eilert et al. 1986) und die Benzophenanthridinalkaloide im Rhizom von Sanguinaria canadensis L. Letzteres Beispiel ist insofern bemerkenswert, als es zeigt, dass Alkaloide in isodiametrischen Idioblasten, in anderen Organen derselben Planze aber in Milchsatschläuchen gespeichert werden. Im Rhizom von Sanguinaria canadensis L. kommen isodiametrisch gebaute, Alkaloideführende Zellen vor; die Alkaloide sind in einer großen Zentralvacuole lokalisiert (Literatur bei Wiermann 1981).
Milchröhren oder Milchschläuche sind Sekretbehälter, die von einer milchigen Flüssigkeit, auch als Latex bezeichnet, erfüllt sind. Bei Verletzung milchsatführender Planzenorgane ließt der Inhalt ot mit beträchtlicher Geschwindigkeit aus, ein Zeichen dafür, dass der Milchsat wegen der Turgeszenz der Milchröhren und der sie umgebenden Zellen unter Druck steht. Vom Melonenbaum, Carica papaya L., wird berichtet, dass bei oberlächlichem Anritzen des Stammes oder der Blattstiele Latex geradezu herausspritzen kann. Gelangt ein Spritzer ins Auge, kann ein unheilbarer Defekt die Folge sein (Brücher 1977). Bei Chelidonium majus L. entwickeln sich Milchröhren aus Primordialzellen, die deutlich sichtbar zwischen den Parenchymzellen junger Blätter zu erkennen sind. Die weitere Diferenzierung besteht darin, dass die Zahl an Vacuolen zunimmt, doch verschmelzen in der Regel die kleinen Vacuolen nicht zu einer einzigen Vacuole; Protoplasma und Zellorganellen werden an die Zellwände abgedrängt; in späteren Entwicklungsstadien werden die Organellen abgebaut. Die Funktionsfähigkeit einer Milchröhre als sekretorische Zelle ist von Planzenart zu Planzenart unterschiedlich, die Lebenszeit von Milchröhren ist in jedem Fall kürzer als die der Gesamtplanze. Zur Entwicklung von Milchröhren kommt es auf zweierlei Weise: x durch Zellverschmelzung unter Aulösung ursprünglich vorhandener Querwände (gegliederte Milchröhren), x durch Ausbildung von Rieseneinzelzellen, die das Parenchym durchwuchern (ungegliederte Milchröhren). Gegliederte Milchröhren bilden im Endzustand ein durch zahlreiche Querverbindungen ausgezeichnetes Röhrensystem. Milchröhren dieser Art sind bei den Papaveraceae [IIB1c] verbreitet: Papaver somniferum mit weißem, Chelidonium majus mit gelbem und Sanguinaria oicinalis mit rotem Latex. Weiterhin inden sie sich bei bestimmten Korbblütlern (Asteraceae [IIB28b]), insbesondere bei Lactuca- (Lattich) und Taraxacum-Arten (Löwenzahn; > Abb. 4.26). Auch Melonenbaumgewächse (Caricaceae) besitzen gegliederte Milchröhren, darunter der oben erwähnte Melonenbaum, ferner einige Vertreter der Wolfsmilchgewächse (Euphorbiaceae), darunter der Kautschukbaum, Hevea brasiliensis Muell. Arg. Den gegliederten Milchröhren stehen die ungegliederten Milchröhren gegenüber, die ihren Namen deshalb führen, weil sie nicht aus der Fusion zahlreicher Zellen her-
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Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Pflanzenstoffen
. Abb. 4.26
B
l obl rp l
m sb
a
sb m
c g hp
b a Tangentialer Längsschnitt durch die Innenrinde von Taraxaci radix, den Verlauf der Milchsaftschläuche (1) zeigend. b Querschnitt durch die Wurzel, um die Lokalisation der Milchsaftschläuche innerhalb der Wurzel zu illustrieren. Die Milchsaftschläuche (m) begleiten die Siebstränge (sb). Weitere Abbkürzungen: obl obliterierte Siebstränge, rp Rindenparenchym der sekundären Rinde, c Kambium, g Gefäße, hp Holzparenchym (aus Gilg et al. 1927)
vorgehen, sondern Entwicklungen aus idioblastenartigen Einzelzellen darstellen. Diese idioblastischen „Mutterzellen“ sind schon im Keimling nachweisbar, um sich im selben Maße wie der gesamte Vegetationskörper zu verlängern. Die einzelne Milchröhre kann sich verzweigen, doch enden alle Fortsätze blind, d. h. es kommt zu keiner Verbindung zwischen 2 oder mehreren Milchröhren einer Planze. Ungegliederte Milchröhren stellen Rieseneinzelzellen dar, die bei Bäumen Meterlängen erreichen können. Entsprechende Milchröhren indet man z. B. beim Feigenbaum (Ficus carica L.; Moraceae [IIBc] und beim Oleander (Nerium oleander L; Apocynaceae [IIBc]. In der Regel zeigt der aus Milchröhren ausließende Sat ein milchiges Aussehen, doch gibt es Ausnahmen, so bei zahlreichen Hundsgitgewächsen (Apocynaceae), deren „Milchsat“ transparent ist. Das milchige Aussehen beruht darauf, dass lipophile Stofe – Polyisoprenkohlenwasserstofe, Triterpene, Sterole, Fettsäuren, Carotinoide, Phospholipide u. a. – in Wasser (50–82%) emulgiert vorliegen, wobei Eiweißstofe als Schutzkolloide dienen. Polyisoprene ( > Abb. 4.27) treten häuig als Inhaltsstofe planzlicher Milchsäte auf. Technische Bedeutung haben Kautschuk, Guttapercha, Balata und Chicle.
Während einige tropische Vertreter der Wolfsmilchgewächse (Euphorbiaceae [IIB12c]) Polyisoprene führen, enthalten die Milchsäte der in gemäßigten Zonen wachsenden Euphorbia-Arten vielfach Triterpene, insbesondere Euphol, und Sitosterol. Ansonsten wurde im Milchsat von Wolfsmilchgewächsen eine breite Palette von Stofen gefunden: u. a. Lectine, antimikrobiell wirksame Proteine und Calmodulin. Im Latex von Euphorbia lathyris entfällt 7,5% des Trockengewichts auf Calcium, das wahrscheinlich durch Bindung an Calmodulin entgitet wird. Auf die zahlreichen weiteren Funktionen dieses Proteins kann nicht eingegangen werden. Wechselnd von Art zu Art kommen in Milchsäten die unterschiedlichsten Enzyme vor, werden doch viele Sekundärstofe, die im Latex gefunden werden, in den Plasmiden oder im Zytoplasmaraum der Milchröhren synthetisiert. Daneben wurden Enzyme gefunden, die nicht am Aubau planzeneigener Stofe beteiligt sind, beispielsweise Acetylcholinesterase, Hydrolasen, saure Phosphatasen oder Proteasen. Erwähnt sei das Papain, eine im Milchsat von Carica papaya L. (Caricaeae [IIB15c]) vorkommende Proteinase. Der eingetrocknete und gereinigte Milchsat bildet das Handelsprodukt Papain.
4.4 Sekretion und Speicherung von Sekundärstoffen
4
. Abb. 4.27 a) cis-1,4 = all-Z H3C
H3C
H3C
HeveaKautschuk b) trans-1,4 = all-E CH3
CH3
CH3 Balata Guttapercha
Polyisoprene, die als Bestandteil von pflanzlichen Milchsäften auftreten
An basischen Stofen können in Milchröhren Amine, u. a. Dopamin, und Alkaloide angereichert vorkommen. Das bekannteste Beispiel bietet Opium; es stellt den eingetrockneten Milchsat des Pericarps der unreifen Fruchtkapsel des Schlafmohns dar ( > Kap. 27.6.2). Infobox Ökobiochemische Aspekte der Milchsaftbildung. In über 12.000 Pflanzenarten wurden bisher Milchsaftröhren nachgewiesen. Der evolutive Vorteil der Milchsaftführung dürfte darin bestehen, die Pflanzen vor Herbivorie zu schützen, insbesondere dann, wenn die Milchsäfte bitter schmeckende und toxische Prinzipien enthalten. Bei Vertretern der Apocynaceae und Asclepiadaceae sind es Substanzen vom Typus herzwirksamer Glykoside, bei denen der artenreichen Euphorbiaceae (Wolfsmilchgewächse), Diterpene vom Typus der Phorbolester, die bei Säugetieren Hautreizungen hervorrufen und bei systemischer Zufuhr hoch toxisch sind. Viele Phorbolderivate (Tigliane) wirken tumorpromovierend, eine Wirkung, die aber wohl wegen ihrer langen Lagphase am akuten Deterrenseffekt kaum beteiligt sein kann. Auch auf Insekten wirken Phorbolderivate akut toxisch. Zur Insektenabwehr dürfte auch die Klebrigkeit von Milchsäften beitragen. Miniermotten z. B. vermeiden es, von Vertretern der Cichorieae zu fressen. Dass die Wegwarte, Cichorium intybus L., bemerkenswert wenig von Schadinsekten befallen wird, könnte ebenfalls mit den Latexbestandteilen Lactupikrin und 8-Desoxylactucin zu tun haben (Harborne 1995).
Sekretgänge und Sekretbehälter Es gibt keine eindeutige Sprachregelung: Anstelle von Sekretbehältern spricht man auch von Ölbehältern, Ölräumen und Exkretbehältern; Sekretgänge werden auch als Exkretgänge, Ölgänge, Ölkanäle und – eingeengt auf die Umbelliferenfrüchte – als Ölstriemen bezeichnet. Bei der Benennung überlagern sich physiologische Gesichtspunkte (Sekret, Exkret), morphologisch-anatomische Gesichtspunkte (Behälter, Gänge, Kanäle, Räume) mit historischen Inhaltsstobezeichnungen (Harze, Öle). Es gibt die mannigfachsten Überschneidungen. Lang gestreckte Gebilde können Latex, Harze oder Schleime enthalten. Harze, Schleime und Öle können aber auch in kugeligen Räumen gespeichert vorliegen. Noch mehr erschwert wird eine übersichtliche Gliederung durch den folgenden Umstand: Sekrete und Strukturen können physiologischer Natur sein, sie können aber auch das Ergebnis pathologischer Prozesse sein, d. h. erst nach Verletzung von Planzenorganen autreten oder nach Parasitenbefall. Die folgende Darstellung beschränkt sich auf die Beschreibung von Sekretbehältern und Sekretgängen, die lipophile Sekundärstofe in nichtemulgierter Form (Unterschied zu hydrophoben Stofen in Latexform) enthalten. Um diese Einschränkung zu kennzeichnen, wird anstelle von Sekreten (bzw. Exkreten) von Ölen und Harzen gesprochen. Öl steht im vorliegenden Zusammenhang als Abkürzung für ätherisches Öl, eine Sammelbezeichnung für ein komplexes Gemisch von mehr oder weniger lüchtigen, lipophilen Sekundärstofen: von Mono-, Sesquiund Diterpenen mit lipophilen Flavonen, Cumarinen, Benzofuranen u. a. Ist der Anteil leicht lüchtiger Stofe gering oder fehlt er ganz, spricht man von Harzen: Aus den
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Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Pflanzenstoffen
. Abb. 4.28 c ep
stä o
p1
rp ve
o
ca
p2 ge g
Schizogene (links) und lysigene Ölbehälter (rechts) im Vergleich. Die linke Abbildung zeigt einen mikroskopischen Querschnitt (Teilausschnitt) durch die Pimpinellwurzel (Pimpinella-saxifraga-Wurzel [Apiaceae]). Man erkennt am Ölbehälter o deutlich sezernierende Zellen, die den Interzellularraum auskleiden. Die rechte Abbildung mit einem Querschnittsbild (Teilausschnitt) durch die Gewürznelken (Hypanthium der Caryophylli flos von Syzygium aromaticum [Myrtaceae]) weist Ölräume o auf, die am Rand des Interzellularraums Zellwandreste erkennen lassen. Vergrößerung ca. 250fach (nach Gilg et al. 1927)
Ölbehältern und Ölgängen werden Harzbehälter und Harzgänge. Bei den Ölbehältern und Ölgängen handelt es sich um interzelluläre Akkumulationsräume (Sekret-/Exkreträume). Dabei stellen die Ölbehälter große, kugelige Hohlräume dar, die Ölgänge lang gestreckte, zylindrische Kanäle. Ihrer Entstehung nach plegt man Ölbehälter und Ölgänge in 2 Gruppen einzuteilen. Schizogene Ölbehälter und Ölgänge. Als schizogen (griech.: schízein [spalten]; gennáo [erzeugen]) bezeichnet man die Bildung von Hohl- oder Sekreträumen durch Auseinanderweichen von Zellen. Dazu muss die Mittellamelle aufgelöst werden. Diese Aulösung der Mittellamellen erfolgt in jungen Parenchymzellen, wodurch sich ein Spalt eröfnet, der sich mit dem Heranwachsen der Zellen zu einem Hohlraum vergrößert. Die den Hohlraum begrenzenden Zellen wandeln sich durch Radialteilung in ein kleinzelliges Epithel um, das nach innen lipophile Substanzen ausscheidet ( > Abb. 4.28). Schizogenen Ursprungs sind die Ölstriemen der Umbelliferenfrüchte, die Harzgänge in den Nadeln und im Holz der Pinaceae und die Ölbehälter des Johanniskrauts. Auch die Vertreter der Asteroideae (Unterfamilie der Asteraceae) enthalten in ihren Geweben schizogene Ölräume. Von pharmakognostischem Interesse sind die schizogenen Ölgänge im Blütenboden der Kamillenblüten, Matricariae los, mit einem ätherischen Öl, das erheblich von dem der Drüsenschup-
pen abweicht, insbesondere durch das Fehlen von Azulenbildnern. Lysigene Ölbehälter und Ölgänge. Als lysigen (griech.: lýein [aulösen]; gennáo [erzeugen]) bezeichnet man die Entstehung von Hohl- oder Sekreträumen durch Aulösung von Zellen. In einem parenchymatischen Gewebe bildet eine Zelle durch fortgesetzte Teilung einen zartwandigen Zellverband. In dem Maße, wie diese Zellen lipophile Exkrete/Sekrete sezernieren, lösen sich die Zellen, beginnend im Zentrum des Komplexes, auf. Der Aulöseprozess schreitet fort und kann zu Räumen von makroskopischen Ausmaßen führen, beispielsweise in Orangenschalen. Es hinterbleibt ein mit lipophilen Sekreten ausgefüllter Raum, der von Plasmaresten und Membranfetzen durchsetzt ist. Lysigenen Ursprungs sind die Ölbehälter der Rutaceae mit dem Pomeranzenblatt, den Orangenblüten, den Jaborandi- und den Buccoblättern, ferner die Ölräume bei Gossypium-Arten (Malvaceae [IIB16b]), in denen das toxische Gossypol gespeichert wird. Hinweis. Neben den schizogenen und lysigenen Ölbehältern kennt die Literatur eine 3. Gruppe: die schizolysigenen Ölbehälter. Schizolysigene Behälter entsprechen weitgehend den lysigenen Ölbehältern, doch geht während ihrer Bildung der Aulösung der Zellwände die Bildung eines Interzellularraumes voraus. Nach Buvat
4.4 Sekretion und Speicherung von Sekundärstoffen
(1989) sind schizolysigene Ölbehälter für die Rautengewächse (Rutaceae) charakteristisch. Im Endzustand lassen sich Ölbehälter lysigener und schizolysigener Genese mikroskopisch nicht auseinanderhalten, sodass – in Übereinstimmung mit der neueren Literatur (Stahl-Biskup u. Reichling 2003) – diese Diferenzierung für wenig bedeutsam angesehen wird.
4.4.7 Exotrope Sekretion und deren morphologische Strukturen In diesem Abschnitt sind Sekrete zusammengefasst, die nahe der Oberläche von Planzen lokalisiert sind. Sie haben in der Regel physiologische und/oder ökologische Funktionen.
Drüsenhaare
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amöboiden Plastiden und dem großen Zellkern auf. Die Ausgestaltung der Drüsenhaare ist artspeziisch und stellt daher ein gutes diagnostisches Merkmal bei der Drogenerkennung dar. Tollkirschenblätter z. B. tragen kurzgestielte Drüsenhaare mit vielzelligem Kopf und daneben noch kurz- und langgestielte Drüsenhaare mit einzelligem Kopf. Für Labiaten (Lamiaceen) sind die sog. Labiatendrüsenschuppen charakteristisch. Sie werden zu Beginn ihres Entwicklungsstadiums als kleine Köpfchenhaare mit scheibenförmiger Stielzelle und 1-, 2-, 4-, 8- oder 12-zelligen Köpfchen angelegt. In dem Maße, wie ätherisches Öl produziert wird, wird die Cuticula von der Außenwand der Zelle(n) abgehoben und überspannt als mit Öl gefüllte Blase die Köpfchenzellen ( > Abb. 4.29). Das zarte Häutchen der Cuticula kann schließlich platzen und das ätherische Öl freisetzen. Neben den Drüsenschuppen kommen bei den Labiaten auch gestielte Drüsenhaare vor. Die Compositendrüsenschuppen ( > Abb. 4.29) bestehen aus einer zwei Epidermiszellen aufsitzenden, aufrechten, 3- bis 5-etagigen Zellscheibe, die sich aus zwei seitlich miteinander verwachsenen Reihen von Zellen zusammensetzt.
Drüsenhaare und Trichome (Haare) mit Sekretionsfunktion (Drüsenfunktion), äußerlich, unter dem Mikroskop, erkenntlich an der vergrößerten Endzelle oder an einem mehrzelligen Köpfchen am Ende. Im einfachsten Fall besteht ein Drüsenhaar aus einer einzigen Stielzelle und nur einer vergrößerten sezernierenden Endzelle. Elektronenmikroskopisch fällt die Endzelle durch Reichtum an
Hinweis. Die Korbblütler (Asteraceae) speichern ätherisches Öl außer in Drüsenschuppen auch in schizogenen Ölgängen. Die stoliche Zusammensetzung der Öle in den beiden Speichern ist unterschiedlich. So sind die
. Abb. 4.29
c
cut dr
a b
stz f 0
a
50
c
100 µ
b
c
a Eine zwölfzellige, in die Blattfläche eingesenkte Labiatendrüsenschuppe in Seitenansicht. f Fußzelle, stz Stielzelle, dr Drüsenzellen, cut das von den Drüsenzellen abgeschiedene Sekret (ätherisches Öl) hat die Cuticula blasenartig abgehoben (aus Staesche 1970). b Fruchtknotenwand der Arnikablüte (Arnicae flos) im Längsschnitt. a Zwillingshaare, b Compositendrüsenschuppe, c Epidermis. Die Phytomelanschicht (dunkle Zonen) tritt deutlich hervor (aus Gilg et al. 1927). c Drüsenhaar vom Wiesensalbei (Salvia pratensis) mit blasenartig abgehobener Cuticula c; überproportional im Vergleich zu a und b vergrößert. Maßstab zum Original nicht angegeben (aus Troll 1973)
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Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Pflanzenstoffen
Drüsenschuppen bei der Kamille (Matricariae los) und bei der Schafgarbe (Millefolii herba) alleiniger Speicherort für Matricin (Proazulen). Hinzu kommen organspeziische Verteilungen: Bei der Kamille führen nur die Drüsenköpfchen der Blütenstände Matricin (Reichling et al. 1984). Der Durchmesser der verschiedenen Drüsenhaare, die bei höheren Planzen gefunden werden, variiert im Bereich 15–115 µm; die Sekretmenge pro Drüsenhaar liegt im Bereich von 0,2–2,4 µg. Es gibt wenig Studien dazu, wie viel lüchtige Substanzen die einzelnen Planzenarten freisetzen. Beim Walnussbaum, Juglans regia L., sollen es, bezogen auf 100 g Blattmasse (Trockengewicht) 1,87–2,16 mg/h sein, bei Pinus nigra ssp. pallasiana 1,30–1,50 mg/h. Pro 1 ha Wald sollen innerhalb von 24 h 2 kg lüchtige Stofe frei werden (Roshchina u. Roshchina 1993). Höhere Planzen sollen pro Jahr insgesamt 108 Tonnen Terpenoide und „nichtoxidierte Kohlenwasserstofe“ in die Biosphäre freisetzen (Went 1960). Dass aus Sekreträumen, die im Inneren von Geweben liegen, ätherisches Öl in die Umwelt gelangt, zeigt das bekannte Beispiel des Diptams, Dictamus albus L. Die Fruchtstände setzen ätherisches Öl in einer Konzentration frei, die die Planze an heißen und windstillen Tagen in eine Terpenwolke hüllt, die sich entzünden lässt.
Blattharze und mehlige Überzüge Die verschiedenartig ausgebildeten Drüsenhaare auf Blättern und Stängeln scheiden in dem Raum zwischen Außenwand und Cuticula ätherisches Öl ab, das, besonders bei heißem Wetter, verdunsten kann. Bei vielen Arten besteht die Menge des Sekrets jedoch nicht aus leicht lüchtigen Sekundärstofen, sondern aus nichtlüchtigen Verbindungen, die dann als harziger Blattbelag in Erscheinung treten. Die Harze stellen ein Vielstofgemisch dar, das den unterschiedlichsten Stofgruppen angehören kann. Eine Eigenschat aber ist allen Harzbestandteilen gemeinsam: Es handelt sich stets um hydrophobe (lipophile) Sekundärstofe. Das Harz beindet sich zunächst, wie das für ätherische Öle beschrieben wurde, zwischen Außenwand des Drüsenköpfchens und der Cuticula. Wenn immer mehr Harz ausgeschieden wird, platzt unter dem Überdruck die Cuticula, und Harz breitet sich über die Blattoberläche aus, Teile können sich u. U. auch im Cuticulawachs der Epidermiszellen lösen. Außer durch Drü-
sen können lipophile Sekundärstofe direkt von den Epidermiszellen durch die Cuticula nach außen gelangen. Die ausgeschiedenen Mengen sind manchmal beträchtlich: Bei Baccharis-Arten (Asteraceae [IIB29b]) sind es, bezogen auf die Blatttrockensubstanz 3–14%, bei Larrea divaricata Cav. (Zygophyllaceae [IIB6b]), dem Kreosotstrauch, 10–15% und bei Flourensia resinosa (Asteraceae [IIB29b]) sogar 28% (Wollenweber 1989). Harzige Epicutarausscheidungen sind außerordentlich weit verbreitet. Pharmazeutisches Interesse besitzt das als Haschisch bezeichnete Harz von Cannabis sativa L. Das Harz besteht hauptsächlich aus Cannabinoiden (Näheres > Abschnitt 26.7). Die Cannabinoide werden zunächst in den subcuticularen Zonen der Drüsenköpfchen gespeichert, wo sie mehr als 90% der Ablagerung ausmachen. Sobald die Blüte einsetzt, wird zunehmend mehr Harz produziert und ausgeschieden, das schließlich als klebriger Überzug, v. a. im Bereich der Triebspitzen weiblicher Planzen, in Erscheinung tritt. Neben den Cannabinoiden werden von der Haschischplanze lüchtige Terpene (ätherisches Öl) sezerniert. Die in der Rauschgitfahndung eingesetzten Haschischhunde sprechen nicht auf die mengenmäßig dominierenden Cannabinoide an, sondern auf Caryophyllenepoxid als bevorzugte Leitkomponente (Kunde 1974). Anstelle harzigklebriger Überzüge treten bei bestimmten Planzen mehlartige Überzüge auf. Die Mehlprimel, Primula farinosa L., verdankt dieser Eigenart ihren Namen.
Knospensekret Die Knospen der einheimischen Laubbäume, die nach winterlicher Ruhe im Frühjahr neue Triebe entwickeln, werden im Allgemeinen schon im Herbst angelegt. Ohne besondere Schutzeinrichtungen würden sie der Nässe und Kälte des Winters erliegen. Zu den Schutzeinrichtungen zählen besondere Hüllorgane, die bei einigen Arten noch durch „Leimausscheidungen“ miteinander verklebt sind und das Innere der Knospe nach außen hin vollkommen abdichten. Knospensekrete können auf verschiedene Weise gebildet werden: bei Pappeln durch ein sezernierendes Epithel (einschichtiges Drüsengewebe) auf der Innenseite der Knospenschuppen, bei Birken, Erlen, Rosskastanien durch mehrzellige Drüsenköpfchen, bei der Platane durch einzellige, gestielte Drüsen (Wollenweber 1989). Qualita-
4.4 Sekretion und Speicherung von Sekundärstoffen
tive und quantitative Gesamtanalysen fehlen bisher, doch wurden zahlreiche lipophile Zimtsäureester, Stilbene, Phenylpropane und Flavone identiiziert. Das Knospensekret wird im Frühjahr von Bienen gesammelt: Viele der im Sekret vorkommenden Stofe inden sich unverändert im sog. Propolis wieder.
Duft- und Aromastoffe aus nichtspezialisierten Zellen Flüchtige Stofe werden von den meisten höheren Planzen gebildet. In vielen Fällen ist die Produktion aber so beschränkt, dass keine spezialisierten Speicher ausgebildet werden. Viele Blütenblätter enthalten im Zytoplasma ihrer Epidermiszellen Tröpfchen lipophiler Stofe, die, kenntlich am Geruch, in die Umwelt freigesetzt werden. Bestimmte als Dutfelder bezeichnete Blütenblätter zeichnen sich dadurch aus, dass deren Epidermiszellen durchlässiger (poröser) sind; durch die Cuticula können die lipophilen Stofe hindurchdifundieren. Für diese Existenz von Dutfeldern spricht, dass sie sich mit dem Vitalfarbstof Neutralrot nach einer bestimmten Inkubationszeit stark anfärben (Heß 1990). Der Farbstof dringt in umgekehrter Richtung ein, in der die lipophilen lüchtigen Stofe Wände und Cuticula verlassen. Blütenbereiche ohne Dutstofabsonderung nehmen Neutralrot nicht oder kaum auf. Die lüchtigen Blütendüte von Rosen, Veilchen, Jasminblüten usw. beruhen auf den unterschiedlichsten aliphatischen und aromatischen Substanzen. Eine Auswahl davon zeigt > Abb. 4.30. Der Blütendut spielt bei Angiospermen die Rolle eines Lockstofes für bestäubende Insekten. Bienen z. B. reagieren auf Dutnoten, die auch der Mensch als angenehm empindet. Daneben gibt es Planzenarten, deren Blüten ausgesprochen unangenehm riechen. Unangenehme Gerüche stellen eine Art chemische Mimikry dar (Harborne 1995): Die Gerüche von verwesendem Eiweiß oder von Fäkalien werden produziert, um Aasliegen anzulocken. Die planzlichen Stinkstofe sind aliphatische Amine mit ihrem Geruch nach verdorbenem Fisch, Diamine mit ihrem Geruch nach verwesendem Eiweiß und die nach Fäkalien riechenden heterozyklischen Verbindungen Indol und Skatol ( > Abb. 4.31). Zu den Planzenarten mit unangenehm riechenden Blüten gehören v. a. viele Araceen, darunter Amorphophallus titanum Becc. (Stinkende Titanenwurz), Arum maculatum L.
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(Aronstab) und Symplocarpus foetidus (L.) Nutt. („Skunk cabbage“), und Apiaceen, darunter Heracleum sphondylium L. (Bärenklau). Von einheimischen Planzen sind zu nennen Helleborus foetidus L. (stinkende Nieswurz) und Crataegus laevigata (Poir.) DC. (Weißdorn). Ebenso wenig wie den Dutstofen der Blüten lassen sich auch den Aromastofen zahlreicher Früchte keine spezialisierten Sekretionsstrukturen zuordnen. Vermutlich gelangen die Aromastofe auf ähnlichem Weg in die Außenwelt, wie das von vielen Blättern, Blüten und Früchten gebildete Ethylen, ein gasförmiges, lipophiles Sekret, das als Phytohormon fungiert. Ethylen wird laufend biosynthetisiert, ohne dass es entsprechend laufend abgebaut würde; es wird vielmehr unverändert aus der Planze durch Abgabe an die Außenwelt entfernt, wobei Difusionsvorgänge wesentlich beteiligt sein dürten. Über die ökologische Bedeutung der von Früchten freigesetzten Geruchsstofe liegen kaum Untersuchungen vor. Wenn das Obst in der Ernährung des Menschen einen hohen Stellenwert einnimmt, so tragen Aromastofe ganz entscheidend dazu bei: Bei der Banane ist Isopentenylacetat der charakteristische Aromaträger, bei Äpfeln 2-transund 3-cis-Hexenal oder bei der Himbeere das „HimbeerKeton“ 1-(p-Hydroxyphenyl)-3-butanon, wobei jeweils ein ganzes Bukett von Begleitstofen den Hauptdutträger unterstützt. Am Erdbeeraroma sind 4-Hydroxy-2,5-dimethyl-3(2H)-furanon, Essigsäure und (Z)-3-Hexenal beteiligt. Dass Früchte höchst unangenehm riechen können, zeigt sich beim Ginkgobaum (Ginkgo biloba L.), wenn im Herbst die „Früchte“ vom Baum fallen. Bei den „Früchten“ handelt es sich um die Samenanlagen, deren äußere Schicht des Integuments, die Sarcotesta, zu einer harzig-leischigen Außenschicht geworden ist (Melzheimer 1992). Im reifen Zustand verströmt diese Schicht einen widerlichen Geruch nach Buttersäure. Eine von den Europäern als „Stinkfrucht“ bezeichnete Frucht, die Durianfrucht, wird in Ostasien als Delikatesse angesehen und gegessen. Die Stammplanze ist Durio zibethinus Mur., ein bis 20 m hoher Baum aus der Familie der Bombacaceae. Der unangenehme Geruch beruht auf lüchtigen Inhaltsstofen mit Schwefel im Molekül, darunter Schwefelwasserstof und Diethyldisulid.
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Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Pflanzenstoffen
. Abb. 4.30 H3C
CH3
O
CH3 CH3
OH
CH3
CH3
O
β-Damascenon
CH3
(−)-Rosenoxid
2-Phenylethanol
in Rosenblüten CH3
R
COOH
O CH3
CH3 NH2
O
O
Jasmon
(−)-Methyljasmonsäure
R = CH3, R = OCH3 in CastanopsisBlüten
in Jasminblüten O R3
CH3
R2
H3C
O
CH3
CH3
OH
CH3
R1 R1
R2
R3
H
H
CH3
H
CH3
H
CH3
H
H
β-Ionon in Veilchenblüten
in Mimosenblüten
Strukturen einiger Duftstoffe von Blüten . Abb. 4.31 Monoamine CH3NH2 CH3CH2NH2 CH3(CH2)2NH2 CH3(CH2)3NH2 CH3(CH2)4NH2 CH3(CH2)5NH2
Methylamin Ethylamin Propylamin Butylamin Amylamin Hexylamin
R
N H R = H: Indol R = CH3: Skatol
Diamine NH2−(CH2)4−NH2 NH2−(CH2)5−NH2
Indole
Putrescin Cadaverin
Von Blüten freigesetzte Stoffe mit für den Menschen unangenehmer Geruchsnote. Stets liegen komplizierte Gemische vor; jede Pflanzenart produziert ihre eigene Mischung als Signal für ganz bestimmte Insektenarten
Literatur
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Schlüsselbegriffe Akkumulation (von Sekundärstoffen) Betalaine Chlorophyllabbau Chromoplasten Cytochrom P450 Diurnale Schwankungen Drüsenhaare Ecdysone Exkrete (pflanzliche) Fließgleichgewicht Harze katabole Prozesse
Knospensekrete Idioblasten Kutinbildung Limonoide Milchöhren Milchschläuche Myrosinzellen Ölbehälter Ölgänge Ölzellen Ontogenese Oxidasen
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Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Pflanzenstoffen
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B B Pharmazeutische Aspekte 5 Biologische und chemische Screening-Methoden für Pflanzenextrakte – 113 6
Moderne Bioassay-Methoden
– 125
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Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen – 189
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Trockenextrakte
– 225
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Pflanzliche Fertigarzneimittel
– 261
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Enzyme bei der Gewinnung von Drogen – 285
– 151
5 5 Biologische und chemische Screening-Methoden für Pflanzenextrakte K. Hostettmann, A. Marston, E. Ferreira Queiroz 5.1
Biologische Screening-Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 5.1.1 DC-Bioautographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 5.1.2 HPLC-online-Bioassay . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
5.2
Chemische Screening-Methoden . . . . . . . . . . 5.2.1 LC/UV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 LC/MS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 LC/NMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Beispiele für chemisches Online-Screening
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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
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Biologische und chemische Screening-Methoden für Pflanzenextrakte
> Einleitung Biologisches und chemisches Screening gehört heute zu den täglich verwendeten Routinearbeiten des Phytochemikers bei der Suche nach neuen bioaktiven Naturstoffen. Das folgende Kapitel beschreibt das einfache und schnelle biologische Screening von Extrakten und daraus isolierten Reinsubstanzen. Beispiele sind DC-Bioautographie und HPLC-online-Bioassay zur Auffindung von antimikrobiell, antimykotisch und antioxidativ wirkenden Naturstoffen sowie zur Entdeckung von Radikalfängern und neuen Enzyminhibitoren. Zum Nachweis von Pflanzeninhaltsstoffen sowie zur Trennung von komplexen Naturstoffgemischen in Extrakten werden heute in erster Linie chromatographische Methoden in Kombination mit spektrometrischen [Massenspektrometrie (MS)] bzw. spektroskopischen [UV-Dioden-Array-Detektion, Kernresonanzspektroskopie (NMR)] Methoden verwendet. Die am meisten verwendeten Kopplungen der HPLC (LC) mit UV, MS und NMR werden näher beschrieben und anhand neuer Beispiele aus der Naturstoffforschung erläutert.
Um neue Wirkstofe in Planzen zu entdecken, müssen Extrakte auf das Vorhandensein neuer Verbindungen und ihrer biologischen Wirkung untersucht werden. Neue Verbindungen werden anschließend isoliert, damit Material zur Strukturauklärung und für weitere biologische und . Abb. 5.1
Die Isolierung reiner Verbindungen aus Pflanzen
toxikologische Tests zur Verfügung steht ( > Abb. 5.1). Der Weg von der Gesamtplanze bis zu ihren reinen Inhaltstoffen ist lang. Die Arbeiten können Wochen bis Jahre in Anspruch nehmen.
5.1 Biologische Screening-Methoden Wenn eine Planze zur Ermittlung der Wirkstofe untersucht wird, ist es unmöglich, alle Inhaltsstofe zu isolieren. Von den Hunderten oder sogar Tausenden unterschiedlicher Substanzen ist nur eine oder sind nur einige verantwortlich für die therapeutische Wirksamkeit (oder die toxische Wirkung, falls es darauf ankommt). Deshalb müssen zum Nachweis der Wirksubstanz(en) in Planzenextrakten oder in einzelnen Fraktionen, die bei der Aufarbeitung des Planzenmaterials zum reinen Wirkstof anfallen, relativ einfache biologische oder pharmakologische Tests zur Verfügung stehen (Hostettmann 1991). Solche Tests müssen sehr empindlich sein, weil die Wirkstofe in der Planze ot nur in kleinen Konzentrationen vorliegen. Sie müssen auch für das verfolgte Ziel, d. h. für die zu untersuchende Wirkung, speziisch sein. Die Objekte („targets“) biologischer Tests können in sechs Gruppen eingeteilt werden: x niedere Organismen: Mikroorganismen (Bakterien, Pilze, Viren); x wirbellose Organismen: Insekten, Krebstiere, Weichtiere; x isolierte subzelluläre Systeme: Enzyme, Rezeptoren; x Kulturen tierischer oder menschlicher Zellen;
5.1 Biologische Screening-Methoden
x isolierte Organe von Wirbeltieren; x lebende Tiere. Bei der Untersuchung einer antimykotischen, antiviralen oder antibakteriellen Wirkung ist das Vorgehen relativ einfach: ein Planzenextrakt oder eine isolierte Substanz wird in Kontakt mit humanen pathogenen Pilzen oder Bakterien gebracht. Dabei wird nur die Hemmung des Sporenwachstums oder das Absterben der Sporen bzw. die Hemmung des Bakterien- oder Virenwachstums beobachtet. Bestimmte Planzen weisen Insekten vertreibende oder insektizide Eigenschaten auf, während andere gegen Insektenlarven oder Weichtiere (Molluskizide) wirken. Screening-Tests auf diese Wirkung gegen wirbellose Organismen sind einfach durchzuführen. Insektizid oder larvizid wirksame Planzenextrakte können bei der Vorbeugung von tropischen Parasitenerkrankungen, die durch Mücken übertragen werden, wie Malaria oder Gelbieber, von großer Bedeutung sein. Molluskizid wirksame Planzenextrakte können die Verbreitung der Schistosomiasis (Bilharziose) stoppen, eine Parasitose mit einem Weichtier (Süßwasserschnecke) als Zwischenwirt, von der in Ländern der Dritten Welt über 250 Millionen Menschen befallen sind. Spektakuläre Fortschritte der letzten zwei Dekaden in der Zell- und Molekularbiologie ermöglichen heute unzählige biologische und pharmakologische Bioassays zum Nachweis von Wirkungsmechanismen von Substanzen. Wenn die Ursache einer Erkrankung bekannt ist, kann man direkt die Rezeptoren oder Enzyme hemmen bzw. induzieren, die an der Ätiologie der Krankheit beteiligt sind. So sind Substanzen, die die an Entzündungsprozessen beteiligten Enzyme Cyclooxygenase oder 5-Lipoxygenase hemmen, bei der Suche nach neuen antiphlogistischen Wirkstofen von großem Nutzen. Im Kampf gegen Krebs sind Inhibitoren der Enzyme Topoisomerase I und II, Proteinkinase C sowie Stofe, die die Polymerisierung von Tubulin beeinlussen, Ziele dieser Tests. Bei benigner Prostatahyperplasie (BPH), die häuig bei älteren Männern autritt, sind Hemmstofe von Enzymen, die den Testosteronspiegel modiizieren (5α-Reduktase, Aromatase), von großer Bedeutung. Zur Behandlung von Depressionen wird nach selektiven Inhibitoren von Enzymen gesucht (z. B. Monoaminooxidasehemmer), die den oxidativen Abbau von Monoaminen blockieren. Bei den angesprochenen Tests handelt sich um In-vitro-Tests mit Enzymen menschlichen oder tierischen Ursprungs.
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Enzymatische Tests sind in der Regel sehr speziisch und empindlich. Bei Reihenuntersuchungen großer Probenmengen sind sie von besonderem Nutzen. Die Versuche sind ot relativ einfach und benötigen nur geringe Materialmengen. Andere In-vitro-Tests erfolgen mit Zellkulturen. In der Krebsforschung sind diese von großer Bedeutung. Einer der grundlegenden Tests verfolgt den Zweck, zytotoxische Moleküle oder Wachstumsinhibitoren für Tumorzellen menschlicher Herkunt zu inden. Manchmal werden anstelle von Tests mit Zellkulturen solche mit isolierten Tierorganen durchgeführt. Pharmakologische Modelle wie das perfundierte Froschherz werden in der Untersuchung von herzwirksamen Glykosiden eingesetzt. Andere Tests erfolgen beispielsweise mit der perfundierten Leber, dem Meerschweinchenherz oder isolierten Hühnervenen. Die Informationen, die mit diesen Tests gewonnen werden, sind ot hilfreich, geben aber kaum Aufschluss über die Wirkweise der Probe und können nicht auf den Menschen übertragen werden. Bioassays der Zell- und Molekularbiologie werden in Kap. 6 behandelt.
5.1.1 DC-Bioautographie Bei diesem Verfahren wird die Dünnschichtchromatographie (DC) in Kombination mit einem Bioassay in situ angewandt, sodass aktive Inhaltsstofe in einem Planzenextrakt lokalisiert werden können. Sporenbildende Pilze wie Aspergillus, Penicillium und Cladosporium spp. können alle als Zielorganismen eingesetzt werden, weil sie für bioautographische Verfahren geeignet sind. Nach der Autrennung der Substanzen und der Trocknung des DC-Lösungsmittels werden die Platten mit einer Mischung von Mikroorganismen und Nährmedium besprüht ( > Abb. 5.2). Anschließend werden sie in feuchter Atmosphäre inkubiert. Bereiche der Inhibition erscheinen dort, wo das Pilzwachstum durch die aktiven Inhaltsstofe des Planzenextrakts verhindert wird. Die Bioautographie mit Cladosporium cucumerinum wird schon seit längerer Zeit erfolgreich eingesetzt (Homans u. Fuchs 1970). Da mit Hefepilzen wie Candida albicans eine direkte Bioautographie nicht möglich ist, wurde ein einfacher und schneller Agar-Overlay-Assay entwickelt (Rahalison et al. 1991). Bei diesem Kontakt-Bioautographieverfahren werden über einen Difusionsprozess die aktiven Verbindungen aus der stationären Phase in die Agarschicht (die
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Biologische und chemische Screening-Methoden für Pflanzenextrakte
. Abb. 5.2
Direkte antimykotische DC-Bioautographie mit dem pflanzenpathogenen Pilz Cladosporium cucumerinum. Nach der Auftrennung der Substanzen und der Trocknung des DC-Lösungsmittels wird die Platte mit einer Mischung aus dem Mikroorganismus und dem Nährmedium besprüht und anschließend inkubiert. Bereiche der Inhibition erscheinen dort, wo das Pilzwachstum durch die aktiven Inhaltsstoffe des Pflanzenextrakts verhindert wird
den Mikroorganismus enthält) übertragen. Nach der Inkubation wird die Platte mit Methylthiazolyltetrazoliumchlorid (MTT) besprüht, das vom Pilz zu einem MTTFormazanfarbstof umgewandelt wird. Die Inhibitionsbereiche werden als helle Flecken auf rotem Untergrund sichtbar. Die DC-Bioautographie kann auch für die Entdeckung von antioxidativen Aktivitäten und von Radikalfängern eingesetzt werden. Für Radikalfänger wird die DC-Platte mit einer methanolischen Lösung des stabilen 2,2ʹ-Diphenyl-1-picrylhydrazyl-Radikal (DPPH) besprüht. Auf der Platte erscheint die violette Farbe des DPPH. Nur in den Regionen, wo sich Radikalfänger beinden, ist keine . Abb. 5.3
violette Farbe vorhanden, sondern gelb-weiße Flecken ( > Abb. 5.3). Eine andere Alternative ist die Anwendung der DCBioautographie für die Entdeckung neuer Enzyminhibitoren. Die Methode ist z. B. für die Cholinesterasehemmer geeignet. Die Cholinesterasen spielen nach heutiger Kenntnis eine Rolle bei der Entstehung der AlzheimerKrankheit, und die Hemmung dieser Enzyme zeigt einen Efekt im Sinne einer Progressionsverzögerung der Symptome der Krankheit (vgl. dazu Kap. 26.5.10.5, Infobox Demenz). Bei der DC-Methode wird ein Substrat, α-Naphtyl-Acetat, durch das Enzym in α-Naphtol umgewandelt ( > Abb. 5.4). Das α-Naphtol gibt mit Echtblausalz B einen Diazo-Farbstof. Die violette Farbe dieses Farbstofs bildet einen Hintergrund auf der DC-Platte. Hemmer des Enzyms hindern die Bildung des α-Naphtols und führen zu weißen Flecken auf der DC-Platte (Marston et al. 2002) ( > Abb. 5.5).
5.1.2 HPLC-online-Bioassay
DC-Bioautographie für die Entdeckung von Radikalfängern. Die Platte wird mit einer 0,2% Lösung von DPPH in Methanol besprüht. Radikalfänger erscheinen als gelbweiße Flecken auf einem violetten Hintergrund
Um ein rasches Screening von Planzenextrakten zu erreichen, ist die Kopplung der HPLC mit einem Bioassay möglich. Mit dieser Methode können komplexe Mischungen in kürzester Zeit analysiert werden. Ein Beispiel ist die Kopplung der HPLC mit dem DPPH-Verfahren für das Screening für Radikalfänger (Koleva et al. 2000). Die Probe wird über eine HPLC-Säule getrennt und die Komponenten werden mittels UV-Detektor nachgewiesen ( > Abb. 5.6). Gleichzeitig wird ein Teil vom Eluens aufgesplittet und mit einer DPPH-Lösung reagieren gelassen. Radikalfänger werden als negative Peaks bei 517 nm detektiert. Dabei ist es möglich, eine Aktivität direkt mit
5.1 Biologische Screening-Methoden
. Abb. 5.4
Reaktion von α-Naphtyl-Acetat mit Acetylcholinesterase (AChE) und Bildung eines Diazo-Farbstoffs aus α-Naphtol . Abb. 5.5
DC-Bioautographie für Acetylcholinesterase-Hemmer. Aktive Substanzen erscheinen als weiße Flecken
. Abb. 5.6
HPLC-DPPH Nachweis von Radikalfängern in einem Gemisch
5
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Biologische und chemische Screening-Methoden für Pflanzenextrakte
einem Peak im Chromatogramm nachzuweisen. Ebenfalls kann eine Quantiizierung erreicht werden.
5.2 Chemische Screening-Methoden Bei der Suche nach aktiven planzlichen Metaboliten ist das biologische Screening, gefolgt von wirkungsorientierter Fraktionierung („bioassay-guided fractionation“), das Standardverfahren. Bioassays dienen auch als Leitlinie während des Isolierungsprozesses. Allerdings ist die Anzahl der verfügbaren Tests beschränkt und die Bioassays sagen nichts über die klinische Wirksamkeit aus. Die Strategie der aktivitätsgeleiteten Fraktionierung endet ot mit der Isolierung schon bekannter Stofwechselprodukte. Das chemische Screening planzlicher Rohextrakte stellt deshalb einen eizienten ergänzenden Ansatz dar, der die Lokalisierung und die gezielte Isolierung neuer bzw. neuartiger Inhaltsstofe mit potentieller Wirksamkeit ermöglicht. Dieses Verfahren erlaubt auch die Erkennung bekannter Metaboliten in der frühesten Phase der Trennung, wodurch die kostspielige und Zeit raubende Isolierung ubiquitärer Inhaltsstofe vermieden wird (Dereplikation). Das Potential der Strategie des chemischen Screenings wurde durch die Entwicklung von gekoppelten Verfahren beträchtlich vergrößert. Diese ermöglichen eine eiziente Trennung von Metaboliten und liefern parallel dazu „online“ wertvolle strukturelle Informationen (Hostettmann et al. 1997). Die HPLC wird in der Phytochemie routinemäßig zur „Steuerung“ der präparativen Isolierung von Naturstofen und zur Kontrolle der endgültigen Reinheit der isolierten Verbindungen eingesetzt. Die HPLC ist das am besten geeig-
nete Verfahren für eine eiziente Trennung planzlicher Rohextrakte und kann mit verschiedenen spektroskopischen Nachweismethoden kombiniert werden. Auf diese Weise lassen sich mit nur wenigen Mikrogramm Probematerial große Mengen struktureller Informationen über die Inhaltsstofe eines Planzenextraktes gewinnen.
5.2.1 LC/UV HPLC gekoppelt mit einem UV-Dioden-Array-Detektor (LC/UV) ( > Abb. 5.7) wird schon seit über zwanzig Jahren von Phytochemikern zum Screening von Planzenextrakten eingesetzt und ist in vielen Laboratorien ein übliches Verfahren geworden. Die UV-Spektren von Naturstofen liefern wertvolle Informationen über die Art der Inhaltsstofe und, wie bei den Polyphenolen, über das Oxidationsmuster. Neue Instrumente ermöglichen die Erfassung der UV-Spektren von Bezugsverbindungen in Datenbanken. Damit kann bei der Prüfung auf bekannte Inhaltsstofe ein automatischer Datenvergleich mit dem Computer durchgeführt werden. Neben der LC/UV-Kopplung wurde in neuerer Zeit die HPLC in Kombination mit der Massenspektrometrie (LC/MS) und mit der Kernresonanzspektroskopie (LC/ NMR) eingeführt.
5.2.2 LC/MS Derzeit ist die MS eines der empindlichsten Verfahren zur molekularen Analyse. Weiterhin kann sie Informationen
. Abb. 5.7
Chemisches Screening mit simultanen LC/UV, LC/MS und LC/NMR-Analysen
5.2 Chemische Screening-Methoden
über das Molekulargewicht wie auch über die Struktur des zu analysierenden Stofes liefern. Aufgrund der hervorragenden Massentrennung kann auch eine sehr gute Selektivität erreicht werden. Die Kopplung von LC und MS ist nicht einfach, da die üblichen Betriebsbedingungen eines Massenspektrometers (Hochvakuum, hohe Temperatur, Analyse in der Gasphase und geringe Flussrate) denjenigen der HPLC genau entgegengesetzt sind, nämlich Analyse in der Flüssigphase, hoher Druck, hohe Flussrate und relativ niedrige Temperatur. Wegen der grundlegenden Gegensätze von HPLC und MS ist eine Online-Kopplung dieser Verfahren schwierig. Es wurden deshalb verschiedene LC-MS-Interfaces (Verbindungsglieder zwischen den Systemen, vgl. Infobox „Interfaces in der HPLC/MSKopplung“) konzipiert, um diese Probleme zu überwin-
5
den. Jede der Kopplungsmöglichkeiten hat ihre speziischen Eigenschaten und Anwendungsbereiche. Mehrere davon eignen sich zur Analyse planzlicher Sekundärstofe. Für das HPLC-Screening von planzlichen Rohextrakten werden vier Schnittstellen eingesetzt, nämlich „atmospheric pressure chemical ionization“ (APCI), hermospray (TSP), Durchluss-FAB (CF-FAB) und Electrospray (ES) (Wolfender et al. 1995). Sie decken die Ionisierung relativ kleiner nichtpolarer Stofe (MG ~200, z. B. Aglykone) bis hin zu hoch polaren Molekülen (MG ~2000, z. B. Glykoside) ab. LC/APCI-MS ermöglicht eine ausreichende Ionisierung mäßig polarer Inhaltsstofe wie Polyphenole oder Terpenoide. Bei größeren polaren Molekülen wie Saponinen (MG >800) ist ES das Verfahren der Wahl.
Infobox: Interfaces in der HPLC/MS-Kopplung Thermospray(TSP)-Interface. Die mobile Phase wird durch Erhitzen verdampft und vernebelt und erzeugt dabei einen Dampfstrahl, der feine Tröpfchen oder Partikel enthält. Ein Teil des in der Ionenquelle erzeugten Dampfes und der Ionen wird in das Vakuumsystem des Massenspektrometers überführt, während der Rest des Dampfes von einer mechanischen Pumpe abgesaugt wird. Um die Ionisation zu verbessern, wird ein Puffer, z. B. Ammoniumacetat, zugegeben. Für Naturstoffe liefert TSP ähnliche Spektren wie diejenigen, die durch chemische Ionisation mit NH3 als Reaktantgas erhalten werden. Atmospheric Pressure Chemical Ionization-(APCI-)Interface. APCI läuft, wie ES, unter Atmosphärendruck ab. Nach der Verdampfung der mobilen Phase in einer Kapillare, wird der Dampfstrahl durch eine beheizte Keramik (300–400 °C) geführt und anschließend über eine Corona-Entladungsnadel geführt, wobei Lösungsmittelmoleküle ionisiert werden. Diese wiederum ionisieren die Analytmoleküle, die dann ins Vakuum überführt werden. Die Methode ist auch für weniger polare Analyten geeignet. Es treten vermehrt Fragmentionen als bei der ES-Ionisation auf.
Continuous-flow-FAB-(CF-FAB-)Interface. Die mobile Phase wird mit Hilfe einer Kapillare direkt in die Ionenquelle des Massenspektrometers überführt. Die Kapillare endet an der Metallspitze, die wie beim statischen FAB („fast atom bombardment“) von Xenonatomen beschossen wird. Bevor die Probe ins Interface gelangt, wird eine Lösungsmittelmischung, die eine nichtflüchtige Matrix, z. B. Glycerol (2– 10%), enthält, beigegeben. Die Flussrate der Probe beträgt 5–10 µl/min. Dank der niedrigen Flussrate ist kein zusätzliches Pumpensystem für die MS-Analyse notwendig. Electrospray-(ES-)Interface. Durch ein hohes Potential werden geladene Tröpfen erzeugt. Im Gegensatz zu TSP oder CF-FAB, bei denen sich die Ionenquelle im Vakuumbereich des Massenspektrometers befindet, bleibt die Ionenquelle beim ES unter Atmosphärendruck. Die Probelösungen werden durch eine Injektionsnadel mit einer Flussrate von 5–20 µl/min in die Verdampfungskammer überführt. Der Laufmitteldampf wird durch ein Gasbad weggeführt, während die ionisierten Substanzen zu einer Transferkapillare gelangen und durch einen Überschallstrom in die erste Vakuumkammer des MS-Analysators transportiert werden. Die Vernebelung kann auch pneumatisch unterstützt werden, was eine Flussrate von bis zu 1 ml/min erlaubt.
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Biologische und chemische Screening-Methoden für Pflanzenextrakte
5.2.3 LC/NMR LC/NMR ist zwar schon seit zwanzig Jahren bekannt, hat sich aber vor allem wegen seiner unzureichenden Empindlichkeit noch nicht allgemein durchgesetzt. Aber die Fortschritte jüngeren Datums im Bereich der Impulsfeldgradienten und der Verringerung der Lösungsmittelmenge, die Verbesserung in der Sondentechnik und der Bau von Hochfeldmagneten haben diesem Verfahren einen neuen Impuls gegeben. LC-NMR bietet ein gutes Potential für die Online-Bestimmung der Struktur von Naturstofen in Planzenextrakten, d. h. ohne sie isolieren zu müssen.
Die Kernresonanzspektroskopie ist bei weitem das leistungsfähigste Spektroskopieverfahren zur Ermittlung detaillierter Informationen über die Struktur organischer Verbindungen in Lösung.
5.2.4 Beispiele für chemisches Online-Screening Ein Beispiel ist die Online-Identiizierung bioaktiver Substanzen aus der afrikanischen Planze Blumea gariepina (Asteraceae [IIB28b]). Der Dichlormethan-Extrakt der
. Abb. 5.8a–c
a
b
c Chemisches Screening eines CH2Cl2-Extrakts aus Blumea gariepina. a LC/UV (50 µg Extrakt); b LC/UV Steuerung der LC/1HNMR-Analyse (10 mg Extrakt); c Aktivitäten der Fraktionen gegen Acetylcholinesterase und Cladosporium cucumerinum
5.2 Chemische Screening-Methoden
5
. Abb. 5.9
Inhaltsstoffe von Blumea gariepina, identifiziert mittels LC/UV/MS und LC/NMR. 1: 5,7,2’,5’-Tetrahydroxy-3,4’-dimethoxyflavon; 2: 5’-Acetoxy-5,7,2’-trihydroxy-3,4’-dimethoxyflavon; 3: 3’,5,7-Trihydroxy-3,4’-dimethoxyflavon; 4: 2-Methyl-5-hydroxyacetylthymol (vorgeschlagen); 5: 2-Hydroxyacetylthymol; 6: 5-Hydroxyacetylthymol; 7: Thymol; 8: Acetylthymol
oberirdischen Planzenteile zeigte eine Hemmung der Acetylcholinesterase (AChE) und eine Aktivität gegen Cladosporium cucumerinum. Eine LC/UV-Trennung des Extrakts zeigte 8 Peaks, die als Flavonoide oder Phenole zugeordnet werden konnten ( > Abb. 5.8a). Zusätzliche Information ergab eine LC/APCI-MSn-Trennung. Anschließend wurde eine On-low-LC/1H-NMR-Analyse durchgeführt. Um genügend Probe (10 mg) einspritzen zu können, wurde eine C-18-Säule (8 mm Durchmesser) angewendet. Bei einem Durchluss von 1 ml/min (CH3CN–D2O als Lösungsmittel) konnte eine ausreichende Aulösung erreicht werden ( > Abb. 5.8b). Während der LC-Trennung wurden die NMR-Spektren der Peaks aufgenommen. Gleichzeitig wurden Fraktionen in Eppendorf-Röhrchen gesammelt (LC-Mikrofraktionierung). Nach dem Abdampfen des Lösungsmittels konnten Bioassays (AChE-Hemmung und C. cucumerinum) durchgeführt werden. Die aktiven Peaks sind in > Abb. 5.8c zu sehen. Die Interpretation der NMRSpektren (mit Hilfe von so genannten „Shit-Reagenzien“ in der Online-LC/UV Analyse) zeigte die Anwesenheit von 3 Flavonolen und 5 hymolderivaten im Extrakt ( > Abb. 5.9) (Queiroz et al. 2005).
. Abb. 5.10a–c
a
b
Chemisches Screening eines CH2Cl2-Extrakts aus Erythrina 7 vogelii. a LC/UV (50 µg Extrakt); b LC/UV Steuerung der LC/1H-NMR-Analyse (10,5 mg Extrakt); c Aktivitäten der Fraktionen gegen Cladosporium cucumerinum (LC-Mikrofraktionierung). Miconazol wird als Referenzsubstanz c verwendet. Nach einer Retentionszeit von 8,3 Stunden eluiert eine unbekannte fungizide Substanz
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Biologische und chemische Screening-Methoden für Pflanzenextrakte
. Abb. 5.11
Online-UV- und 1H-NMR-Spektren von zwei Inhaltsstoffen aus Erythrina vogelii
. Abb. 5.12
Inhaltsstoffe von Erythrina vogelii, identifiziert mittels LC/UV/MS und LC/NMR. 1: Isowighteon; 2: Vogelin B; 3: Vogelin A; 4: Vogelin D; 5: Isoderon; 6: Vogelin C; 7: Isolupalbigenin; 8: 6,8-Diprenylgenistein
Literatur
Erythrina vogelii (Fabaceae [IIB9a]), ein Baum von der Elfenbeinküste, wurde untersucht, weil die Wurzel antimykotisch wirksame Verbindungen enthält. Ein Dichlormethanextrakt der Wurzel wurde mit LC/1H-NMR, Hochaulösung LC/APCI-Q-TOF/MS/MS und LC/UV (mit „Shit-Reagenzien“) analysiert, um die Strukturaufklärung der aktiven Verbindungen online zu erreichen. LC/UV zeigte ein Dutzend Peaks ( > Abb. 5.10a). LC/ APCI-MS/MS gab Hinweise über die Molekulargewichte und Fragmentierungen dieser Substanzen. Mit Hilfe von LC/Q-TOF/MS Experimenten war es möglich, die Strukturformel abzuleiten. Diese Ergebnisse deuteten auf Isolavone oder Isolavanone. Um weitere Daten zu erhalten, wurde eine On-low-LC/1H-NMR-Analyse durchgeführt. Eine Probemenge von 10,5 mg wurde auf einer C-18Säule (8 mm Durchmesser) getrennt. Bei einem Durchluss von 0,1 ml/min (CH3CN–D2O als Lösungsmittel) konnte eine ausreichende Aulösung in einer Laufzeit von 18 Stunden erreicht werden ( > Abb. 5.10b). Aktivitäten gegen den planzenpathogenen Pilz C. cucumerinum wurden durch eine LC-Mikrofraktionierung nachgewiesen ( > Abb. 5.10c). Dabei wurden Aktivitäten in 5 Fraktionen gefunden. Das Oxidationsmuster konnte durch LC/UV mit „Shit-Reagenzien“ (AlCl3 und NaOAc) festgestellt werden ( > Abb. 5.11). Die endgültige Strukturauklärung konnte mit On-low-LC/1H-NMR-Analysen (für die
5
Verbindungen 1 und 3 in > Abb. 5.11 dargestellt) erzielt werden. Damit konnten die Strukturen von 5 Isolavonen und 3 Isolavanonen aufgeklärt werden ( > Abb. 5.12) (Queiroz et al. 2002).
! Kernaussagen
Die schnelle Entdeckung biologisch aktiver Naturstoffe spielt eine entscheidende Rolle in der phytochemischen Untersuchung von Pflanzenextrakten. Biologische Prüfung, DC- und HPLC-Analysen (DC-Bioautographie und HPLC-online-Bioassay) werden gleichzeitig eingesetzt, um ein rationelles Screening der Extrakte durchzuführen. Die Kopplung der HPLC (LC) mit spektroskopischen/spektrometrischen Methoden wie der Dioden-Array-Detektion (LC/UV) und der Massenspektrometrie (LC/MS) liefert erhebliche Strukturinformationen über Inhaltsstoffe von Pflanzenextrakten, ohne dass diese isoliert werden müssen. Die Kopplung der HPLC mit der Kernresonanzspektroskopie (LC/NMR) stellt eine wesentliche Ergänzung des LC/ MS/UV-Screenings dar. Mit Hilfe dieser Methoden wird die wiederholte Aufreinigung längst bekannter Naturstoffe vermieden und die gezielte Isolierung neuer bzw. neuartiger Substanzen mit interessanten biologischen oder chemischen Eigenschaften ermöglicht.
Schlüsselbegriffe Acetylcholinesteraseinhibitoren Biologische Screening-Methoden Blumea gariepina Chemische Screening-Methoden
Cladosporium cucumerinum DC-Bioautographie Erythrina vogelii HPLC-online-Bioassay
Literatur Homans AL, Fuchs A (1970) Direct bioautography on thin layer chromatograms as a method for detecting fungitoxic substances. J Chromatogr 51: 327–329 Hostettmann K (1991) Methods in plant biochemistry, vol. 6. Assays for bioactivity. Academic Press, London Hostettmann K, Wolfender JL, Rodriguez S (1997) Rapid detection and subsequent isolation of bioactive constituents of crude plant extracts. Planta Med 63: 2–10 Koleva II, Niederländer HAG, van Beek TA (2000) An on-line HPLC method for detection of radical scavenging compounds in complex mixtures. Anal Chem 72: 2323–2328 Marston A, Kissling J, Hostettmann K (2002) A rapid TLC bioautographic method for the detection of acetylcholinesterase and butyrylcholinesterase inhibitors in plants. Phytochem Anal 13: 51–54
LC-Mikrofraktionierung LC/UV-, LC/MS- und LC/NMR-Analysen Radikalfänger Targets für Bioassays
Queiroz EF, Ioset JR, Ndjoko K, Guntern A, Foggin CM, Hostettmann K (2005) On-line identification of the bioactive compounds from Blumea gariepina by LC/UV/MS and LC/UV/NMR, combined with LC/micro-fractionation. Phytochem Anal 16: 166–174 Queiroz EF, Wolfender JL, Atindehou K, Traore D, Hostettmann K (2002) On-line identification of the antifungal constituents of Erythrina vogelii by liquid chromatography with tandem mass spectrometry, ultraviolet absorbance detection and nuclear magnetic resonance spectrometry combined with liquid chromatographic micro-fractionation. J Chromatogr A 974: 123–134 Rahalison L, Hamburger M, Hostettmann K, Monod M, Frenk E (1991) A bioautographic agar overlay method for the detection of antifungal compounds from higher plants. Phytochem Anal 2: 199– 203 Wolfender JL, Rodriguez S, Hostettmann K, Wagner-Redeker W (1995) Comparison of liquid chromatography-electrospray, atmospheric
123
124
5
Biologische und chemische Screening-Methoden für Pflanzenextrakte
pressure chemical ionization, thermospray and continuous-flow fast atom bombardment mass spectrometry for the determination of secondary metabolites in crude plant extracts. J Mass Spectrom & Rapid Commun Mass Spectrom S35–46
Weiterführende Literatur Atta-ur-Rahman, Choudhury MI (2002) Bioassay techniques for drug development. CRC Press, Baton Rouge
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6 6 Moderne Bioassay-Methoden J. Heilmann 6.1
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
6.2
Testsysteme mit Bezug zur Entzündungshemmung (Phospholipase-, Cyclooxygenaseund Lipoxygenasehemmung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Phospholipase-A2-Hemmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Cyclooxygenasehemmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Lipoxygenasehemmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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. . . .
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. . . .
129 130 130 131
6.3
Messung von Radikalfängereigenschaten und antioxidativen Eigenschaten . . . . . . . . . . . 132
6.4
Messung der Beeinlussung von mRNA-Spiegeln . . 6.4.1 Testsysteme auf der Basis von Reportergenen . 6.4.2 Real-time-RT-PCR . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.3 Microarrays (Gen-Chips) . . . . . . . . . . . .
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133 133 134 136
6.5
Testsysteme mit Bezug zur Bekämpfung von Tumoren . . . . . . . . . . 6.5.1 Messung der metabolischen Aktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.2 Inkorporationsassays . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.3 Bestimmung von Zellvitalität und Zelltod (Apoptose und Nekrose)
. . . .
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136 137 138 138
6.6
Testsysteme mit Bezug zur Bekämpfung von Plasmodien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
6.7
Testsysteme zur Bestimmung der Permeabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
6.8
Testsysteme mit Bezug zur Metabolisierung
. . . .
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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
126
6
Moderne Bioassay-Methoden
> Einleitung Versucht man sich in der retrospektiven Betrachtung phytochemischer Publikationen der letzten zwei Jahrzehnte, so fällt auf, dass es in diesem Bereich in wenigen Jahren zu einer unübersehbaren Verschiebung des wissenschaftlichen Schwerpunktes gekommen ist. Während sich noch vor gut zehn Jahren ein großer Anteil phytochemischer Arbeiten ausschließlich mit der Isolierung, Strukturaufklärung sowie der physikalischen und chemischen Charakterisierung von pflanzlichen Sekundärstoffen beschäftigt hat, so finden sich in der Mehrzahl der heutigen Publikationen auch umfangreiche Daten zu den biologischen und pharmakologischen Eigenschaften der isolierten Verbindungen. Dieser Trend ist inzwischen soweit fortgeschritten, dass die zunehmende Schwierigkeit rein phytochemische Arbeiten in Zeitschriften mit höherem Impact Factor zu platzieren unübersehbar ist. Die Frage der Reviewer nach den biologischen und pharmakologischen Eigenschaften einer isolierten Substanz ist hier in vielen Beurteilungen Kernpunkt der Kritik.
Der Fortschritt in den Methoden der Biochemie, der Zellund Molekularbiologie sowie neue wissenschatliche Denkansätze zur Untersuchung des Proteoms und Genoms („Proteomics“ und „Genomics“) haben zur Entwicklung einer fast unübersehbaren Anzahl von neuen Testsystemen geführt, die in die Suche nach neuen Naturstofen integriert worden sind (vgl. Kap. 5). Der mit der Einführung der kombinatorischen Chemie geäußerte Verdacht, dass Naturstofe zuküntig bei der Leitstruktursuche (Auindung von neuen Leitstrukturen: „lead identiication“) und -optimierung nur eine geringe Rolle spielen könnten, hat sich nicht bestätigt. Heute sind sich zunehmend mehr Autoren darüber einig, dass im Rahmen der Neuentwicklung von Arzneistofen nicht auf Naturstofe verzichtet werden kann (Koehn u. Carter 2005). Ihre Strukturvielfalt (Strukturdiversität), die insbesondere deutlich wird an den zahlreichen verschiedenen Kohlenstofskeletten der terpenoiden Verbindungen und der Alkaloide (vgl. Kap. 23–25 und 27), wird von der Synthesechemie ot nicht erreicht, sodass sich beide Arbeitsgebiete im Bereich der Wirkstofsuche ideal ergänzen ( > Abb. 6.1). Die möglichst frühe Integration von Bioassays in den Screening-Prozess ermöglicht es, auch in einer komplexen
Matrix vorkommende bioaktive Substanzen zu detektieren und zu isolieren (vgl. Kap. 5). Darüber hinaus konnten für zahlreiche in der traditionellen Medizin erfolgreich verwendete Planzen, wie z. B. bei Arnica montana und Echinacea-Arten, durch die Entwicklung von modernen Bioassays erstmals mögliche rationale Erklärungen für die Wirkung ihrer Extrakte oder Inhaltsstofe gefunden werden (Lyss et al. 1998; Gertsch et al. 2003, 2004). Für zahlreiche Naturstofe und Extrakte, deren pharmakologische Wirkung man zu kennen glaubte, konnte auch bedingt durch die Vielfalt der Bioassays erst die Mannigfaltigkeit ihrer Wirkungen aufgeklärt werden. Ein gutes Beispiel ist hier das Curcumin (aus Curcuma-Arten). Die Verbindung gilt als eine der am intensivsten untersuchten Naturstofe und trotzdem werden fast wöchentlich neue Erkenntnisse publiziert (Literatur bei Duvoix et al. 2005). In diesem Zusammenhang wurde auch der Begrif des „broadband proilings“ eingeführt, das auf eine möglichst umfassende pharmakologische Charakterisierung von Naturstofen Bezug nimmt. Vice versa proitiert jedoch auch die Zell- und Molekularbiologie von der Phytochemie, da gleichzeitig zahlreiche Naturstofe als unverzichtbare Werkzeuge zur Aufklärung zellulärer Wirkungsmechanismen benötigt werden und damit auch zur Auindung von neuen Zielstrukturen („Target identiication“) beitragen. Die Entwicklung von Strategien mit einem multidisziplinären Denkansatz ist in vielerlei Hinsicht positiv zu sehen, da eine gegenseitige Befruchtung von Molekularbiologie und Phytochemie nicht zu übersehen ist. Es sei aber erlaubt darauf hinzuweisen, dass es im Verlauf der zunehmenden Verknüpfung der Phytochemie mit molekularen Aspekten nicht zu einer Verdrängung klassischer phytochemischer Arbeitsweisen kommen darf. Es sei hier nur auf die Bedeutung der Isolierung von Sekundärstofen für die systematische Einordnung der Organismen verwiesen (Chemotaxonomie). Darüber hinaus sollte von modernen Naturwissenschatlern, denen es auf Grund der Wissensexplosion und der heute erzwungenen Spezialisierung nicht mehr möglich ist, zu Universalwissenschatlern von der Größe eines Alexander von Humboldts oder eines Gottfried Wilhelm Freiherr von Leibniz zu werden, die Frage nach dem Wert von Wissen, das aus heuristischen Motiven erworben worden ist, nicht einfach unbeantwortet beiseite geschoben oder sogar negiert werden. Wer kann heute abschätzen, was eine morgen isolierte Substanz übermorgen wert ist.
6.1 Allgemeines
6
. Abb. 6.1
Übersicht zu den verschiedenen Stufen der Arzneistoffsuche
Infobox Impact Factor. Der Impact Factor ist ein Maß für die Häufigkeit, mit der der „durchschnittliche Artikel“ eines Journals in einem bestimmten Jahr zitiert wird. Er wird zur jährlichen Evaluierung der relativen Bedeutung eines Journals herangezogen, ist aber nur dann ein leidlich objektives Kriterium, wenn der Vergleich mit anderen Journalen desselben Sachgebietes und derselben Ausrichtung vorgenommen wird.
6.1 Allgemeines Die ungeheure Vielzahl von Bioassays macht die Auindung eines einheitlich anwendbaren Ordnungsprinzips und damit eine Gliederung nicht einfach. Regelmäßig beschrittene Wege sind zum einen die Strukturierung gemäß der angewendeten Technik oder zum anderen eine Gliederung, die sich an den zu messenden pharmakologischen Efekt anlehnt. Eine dritte Möglichkeit besteht in der Gliederung auf Grund der verwendeten Organismen. Da die
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Moderne Bioassay-Methoden
gleiche Technik (z. B. die Polymerasekettenreaktion) ot in unterschiedlichen Feldern und verschiedenen Zellen angewendet werden kann, ist eine strikte Trennung der drei Wege kaum durchzuhalten. Es erscheint daher sinnvoll, die in Kap. 5.1 vorgestellte Grobgliederung biologischer Tests, die auf den verwendeten Objekten beruht, zunächst zu übernehmen und dann eine Feingliederung je nach Bedarf über die verwendete Technik oder den zu beobachtenden Efekt vorzunehmen. Die vorliegenden Kapitel werden sich im Wesentlichen auf die Besprechung von zellulären Systemen beschränken (In-vitro- und Ex-vivoSysteme), da die Darstellung von Bioassays unter Verwendung von niedrigen Organismen, Wirbellosen, isolierten Organen und lebenden Tieren den Rahmen vollkommen sprengen würde. Auf die Arbeit mit subzellulären Strukturen (Rezeptoren und Enzyme) wird vereinzelt eingegangen. Infobox In-vitro- und Ex-vivo-Systeme. In vitro ist eine Bezeichnung für Experimente, die unter künstlichen Bedingungen („im Reagenzglas“) durchgeführt werden. Typische Beispiele für In-vitro-Systeme sind unsterbliche Tumorzelllinien oder subzelluläre Strukturen. Bei Ex-vivo-Systemen werden Zellen oder Gewebe einem Organismus entnommen, die Testungen aber rasch und unter möglichst physiologischen Bedingungen durchgeführt. Auch für Experimente, die in vivo durchgeführt, aber in vitro analysiert worden sind, findet man den Begriff ex vivo. Ein typisches Ex-vivo-System sind aus Blut isolierte polymorphkernige Leukozyten.
Die Suche nach pharmakologisch interessanten Substanzen in Extrakten, d. h. in komplexen Naturstofgemischen, ist in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung. Sie wird nur dann zur Isolierung von viel versprechenden neuen Leitstrukturen und Arzneistofen führen, wenn sowohl die Testsysteme als auch die Suchstrategie selbst an die besonderen Bedingungen der Naturstofchemie angepasst sind. Die frühzeitige Integration eines Bioassays in den Isolierungsprozess macht es zunächst erforderlich, dass auch in geringen Konzentrationen vorhandene bioaktive Substanzen in einem Gemisch nicht aktiver Verbindungen detektierbar sein müssen. Gleichzeitig dürfen vorhandene Begleitstofe, auch wenn sie in hohen Konzentrationen vorliegen, keine falsch-positive Reaktion hervorrufen. Ein typisches Beispiel dafür sind die in zahlreichen Testsyste-
men durch Gerbstofe (Okuda 2005) oder Abbauprodukte von Chlorophyll hervorgerufenen Efekte (Heinrich et al. 2001). Dies bedingt eine Suchstrategie mit einer eizienten, aber speziischen Abtrennung dieser Substanzen, wobei keine anderen Verbindungen verloren gehen dürfen. Ein weiterer beachtenswerter Punkt besteht darin, dass die in einem Testsystem gemessene Aktivität nicht immer mit der eigentlichen Aktivität an der Zielstruktur korreliert ist. Glykosidische Verbindungen zeigen in zellulären Systemen auch deswegen eine niedrige Aktivität (und werden entsprechend diskriminiert), da sie auf Grund ihrer Hydrophilie nicht in der Lage sind, in einer bestimmten Zeit die Zellmembran zu passieren und so die Zielstruktur nicht erreicht werden kann. Bei lipophilen Verbindungen sind dagegen Schwierigkeiten mit der Löslichkeit im wässrigen Medium keine Seltenheit. Daher ist für die Ermittlung valider pharmakologischer Daten in Bioassays auch eine gesicherte Analytik für die zu untersuchenden Substanzen eine „conditio sine qua non“. Aus dem Bereich der Naturstofe ist das Hypericin (aus Hypericum perforatum) ein klassisches Beispiel für die Bedeutung einer guten Analytik, da das Löslichkeitsverhalten und die Quantiizierung dieser Substanz erhebliche Probleme aufwerfen und dies zu einer dramatischen Beeinlussung der pharmakologischen Ergebnisse führt (Wirz 2000). Die pharmakologische Untersuchung von Extrakten und das in Kap. 5 beschriebene Verfahren der bioaktivitätsgeleiteten Fraktionierung ist heute eines der wichtigsten Verfahren zur Isolierung von bioaktiven Naturstofen, es wirt jedoch auch zwei generelle Probleme auf. Zum einen stellt sich die Frage nach der Bewertung der in einem Testsystem gemessenen Aktivität. Wann ist eine Fraktion sehr aktiv, aktiv oder nicht aktiv und bei welcher biologischen Aktivität wird sie weiter fraktioniert? Legt man den Grenzwert („Cut“) zu niedrig, so besteht die Möglichkeit, dass Substanzen, die als Leitstrukturen dienen könnten, verpasst werden. Wird der Grenzwert zu hoch angesetzt, ist die Gefahr groß, dass man auch zahlreiche Verbindungen isoliert, deren biologische Aktivität vernachlässigbar ist. Zum anderen besteht die Erwartung, dass im Rahmen der weiteren Aufreinigung und Fraktionierung die entstehenden Fraktionen eine immer höhere Bioaktivität aufweisen, bis man letztendlich zu einer sehr stark wirksamen Einzelsubstanz kommt. Interessanterweise ist aber nicht selten zu beobachten, dass die hohe Aktivität des Ausgangsextrakts in den nachfolgenden Fraktionen abnimmt und man zu mehreren Verbindungen mittlerer Aktivität kommt. Die Gründe dafür sind komplex und vielfach auch
6.2 Testsysteme mit Bezug zur Entzündungshemmung
. Abb. 6.2
Die Untersuchung zur zeitabhängigen Zytotoxizität von Hypericin verdeutlicht den Einfluss von unterschiedlichen Messzeiten auf das Ergebnis. Aufgetragen ist die Lebensfähigkeit von Tumorzellen (hier T-Helferzellen) in Abhängigkeit von der eingesetzten Substanzmenge für drei verschiedene Messzeiten (Raute: 6 Stunden; Quadrat: 24 Stunden; Dreieck: 48 Stunden). Mit zunehmender Versuchsdauer steigt die Zytotoxizität der Verbindung deutlich an
noch nicht im Detail untersucht. Sie können in synergistischen oder additiven Efekten innerhalb der Substanzen eines Extrakts ebenso ihre Ursache haben, wie im verbesserten Transport durch Zellmembranen, Lösungsvermittlung (Butterweck et al. 2003) oder verringerter Metabolisierung. In-vitro- und Ex-vivo-Testsysteme sind unverzichtbare Werkzeuge bei der Suche nach und der Charakterisierung von Arzneistofen. Es ist aber bedeutsam, die pharmakologische und klinische Relevanz der ermittelten Daten mit Augenmaß und Realismus zu bewerten. Hier ist auch kein Unterschied zwischen Naturstofen und synthetisch gewonnenen Substanzen zu sehen. In-vitro und Exvivo-Tests sind immer mehr oder weniger reduzierte Modellsysteme, die Erklärungen für die Wirkung einer Substanz liefern, aber nicht eins zu eins auf In-vivo-Bedingungen übertragen werden können. In diesem Zusammenhang ist auch zu bemängeln, dass die Versuchsbedingungen selbst konzeptionell ähnlicher Testsysteme so uneinheitlich gewählt sind, dass bereits eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse auf der In-vitro-Ebene de facto nicht gegeben ist. Variationen in der Zellzahl, der Versuchsdauer ( > Abb. 6.2) und der Detektionsparameter, um nur die wichtigsten Variabeln zu nennen, haben dazu geführt, dass für dieselbe Substanz zahlreiche quantitativ wie qua-
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litativ vollkommen voneinander abweichende Daten vorliegen können, deren Einordnung vielfach nicht einfach ist. Prominentes Beispiel ist die für das Sesquiterpenlacton Parthenolid beschriebene Beeinlussung des MikrotubuliTubulin-Gleichgewichtes (Miglietta et al. 2004). Dieser Befund konnte in anderen Laboratorien nicht nachvollzogen werden (Gertsch, persönliche Mitteilung). Eine weitere Facette der gleichen Problematik besteht darin, dass zahlreiche Naturstofe als speziische Inhibitoren oder Aktivatoren von biologisch bedeutsamen Proteinen oder von Stofwechselprozessen bezeichnet werden. Dies ist ot nicht zutrefend und zum einen der Tatsache geschuldet, dass diese Verbindungen nur unzureichend pharmakologisch charakterisiert sind. Zum anderen wird auch nicht selten eine Speziität postuliert, die aus den in der Literatur vorliegenden Daten nicht ableitbar ist. Vergleichsweise wenig ist über die Art und den Umfang der Metabolisierung und Resorption von Extrakten und Naturstofen bekannt. Ein sich daraus ableitendes konzeptionelles Deizit besteht in der fehlenden oder unvollständigen pharmakologischen Charakterisierung der tatsächlich am Wirkort ankommenden Metabolite. In diesem Zusammenhang sei insbesondere auf die Klasse der Flavonoide verwiesen, die nach oraler Aufnahme eine vielgestaltige Metabolisierung erfahren. Während jedoch die biologischen Aktivitäten der Ausgangsverbindungen, wie diejenigen des Quercetins, zum Teil extensiv untersucht sind, indet man zu den Metaboliten (Phenylcarbonsäure-Derivate oder Quercetinglucuronide) ot nur wenige Informationen.
6.2 Testsysteme mit Bezug zur Entzündungshemmung (Phospholipase-, Cyclooxygenaseund Lipoxygenasehemmung) Phospholipase (PL), Cyclooxygenase (COX) und Lipoxygenase (LOX) sind Enzyme des Arachidonsäurestofwechsels. Die Substrate dieser Enzyme sind ungesättigte Fettsäuren, insbesondere die Arachidonsäure, die in den Zellen zum größten Teil in Membranphospholipiden gebunden vorliegen. Die Freisetzung erfolgt durch die cytosolische Phospholipase A2 (PLA2) oder auf einem alternativen Weg mittels Phospholipase C und Diacylglyceridlipase in zwei Schritten. Durch die Aktivität der Cyclooxygenasen (synonym auch Prostaglandin-H2-Synthasen, PGHS) entstehen aus der Arachidonsäure Prostaglandine und
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hromboxane. Die Lipoxygenasen (5-, 12- und 15-LOX) setzen die Arachidonsäure zu Hydroxy- und Hydroperoxytetraensäuren sowie zu Leukotrienen um (Literatur und Übersicht zum Eicosanoidstofwechsel bei Funk 2001).
6.2.1 Phospholipase-A2-Hemmung Die Hemmung der enzymatischen Aktivität der PLA2 führt zu einer verminderten Freisetzung von Arachidonsäure aus den Membranen und damit zu einer verringerten Bildung von Entzündungsmediatoren auf dem Cyclooxygenase- und Lipoxygenaseweg. Entsprechend einfach gestaltet sich daraus das Grundprinzip der PLA2-Testsysteme. Dem als Esterase wirksamen Enzym wird ein geeignetes Substrat z. B. ein Phospholipid angeboten und die Hydrolyse der Esterbindung (= Freisetzung der Fettsäure) wird quantiiziert. Die Situation wird dadurch deutlich komplexer, dass es beim Menschen zahlreiche verschiedene Phospholipasen gibt. Unter diesen muss zwischen den sekretorischen (sPLA2) und den cytoplasmatischen (cPLA2) Phospholipasen A2 unterschieden werden. Die bisher vorliegenden pharmakologischen Daten deuten darauf hin, dass die cPLA2 im Entzündungsgeschehen die bedeutendere Rolle spielen. Zunehmend unübersichtlich wird die Situation durch die Verwendung von zellulären Testsystemen und reinen Enzymassays sowie durch die unterschiedlichen Detektionsverfahren. Die gereinigten Enzyme können entweder über Isolierung aus Zellen oder rekombinant gewonnen werden. Werden intakte Zellen, beispielsweise hrombozyten verwendet, so müssen noch Stimuli [Formyl-methionyl-leucyl-phenylalanin (fMLP), Zymosan oder andere] zur Aktivierung des Enzyms hinzugegeben werden. Die Quantiizierung kann entweder über radioaktiv- oder luoreszenzmarkierte Substrate sowie nach HPLC-Autrennung mit UV-Detektion erfolgen (Schmitt u. Lehr 2004; dort auch Literatur). Auch wenn bereits planzliche Sekundärstofe gefunden worden sind, die eine Hemmung der PLA2 zeigen, so ist die Suche nach wirklich potenten PLA2-Inhibitoren aus Planzen bisher erfolglos geblieben.
6.2.2 Cyclooxygenasehemmung Die Umsetzung der Arachidonsäure durch die COX liefert nach der Cyclooxygenasereaktion zunächst PGG2, dann nach der Peroxidasereaktion PGH2 als primäre Metaboli-
ten. Weitere Reaktionen führen zu zahlreichen abgeleiteten Derivaten (u. a. PGE, PGF, PGI und hromboxane), die nicht nur im Rahmen des Entzündungsgeschehens eine sehr vielfältige Bedeutung besitzen. Die Aktivität von COX-Hemmstofen wird in den vorliegenden In-vitro-Assays über die verminderte Bildung der aus Arachidonsäure entstehenden Metabolite bestimmt. Dabei hat sich die Quantiizierung von PGE2 als das wichtigste Prinzip zur Aktivitätsbestimmung herauskristallisiert. Zunächst wird in einem Kontrollversuch die nach der Aktivierung einer deinierten COX-Präparation entstehende Menge an PGE2 ermittelt. Im Vergleich dazu wird im zweiten Schritt die Testsubstanz mit der COX-Präparation inkubiert und das gebildete PGE2 bestimmt. Können in Abhängigkeit von den Testbedingungen neben PGE2 noch signiikante Mengen anderer Eicosanoide entstehen, so geht der Bestimmung eine Autrennung mittels HPLC voran. Die Kopplung mit einem UV- oder UV-Dioden-Array-Detektor ermöglicht die photometrische Bestimmung von PGE2. Daneben ist auch der Einsatz radioaktiver, 1–14Cmarkierter Arachidonsäure als Substrat für die COX verwirklicht, wobei mittels HPLC und Radioaktivitätsdetektor das 14C-markierte PGE2 bestimmt wird ( > Abb. 6.3). Alternativen zu diesen Methoden bestehen im Einsatz von Enzym- und Radioimmunoassays, die aber andere Testbedingungen benötigen. Die Heterogenität der In-vitro-Testsysteme zur Bestimmung von COX-Hemmung ergibt sich nicht nur aus den verschiedenen Möglichkeiten zur quantitativen Bestimmung von PGE2, sondern auch aus den verschiedenen für die Gewinnung der COX-genutzten Präparationen. In der Literatur sind Testsysteme mit intakten Zellen, Mikrosomen oder gereinigtem Enzym beschrieben, die teils humanen Ursprungs sind, teils aber auch von Schafen oder anderen Tieren stammen (Danz et al. 2002; Norreen et al. 1998; Reininger 2001, dort auch Literatur). Weitere Unterschiede ergeben sich aus der Verwendung von verschiedenen Kofaktoren oder Stimulanzien, die notwendig sind, um die COX zu aktivieren. Umso wichtiger ist es, eine besondere Sorgfalt bei der Auswahl der Positivkontrollen walten zu lassen, um eine gewisse Vergleichbarkeit der Ergebnisse zu gewährleisten. Häuig werden als Kontrolle die nichtsteroidalen Antiphlogistika Diclofenac und Indometacin ausgewählt. Bis heute sind zwar zahlreiche Naturstofe beschrieben, die eine signiikante Hemmung der COX aufweisen, jedoch inden sich darunter keine hochpotenten Verbindungen.
6.2 Testsysteme mit Bezug zur Entzündungshemmung
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. Abb. 6.3
Die Umsetzung der Arachidonsäure durch die COX liefert zunächst die beiden Metabolite PGG2 und PGH2. Daraus gehen weitere Folgeprodukte wie das PGE2 hervor. Nach der Durchführung eines Cyclooxygenase-Assays können die entstandenen Metaboliten und die Reste des im Überschuss zugesetzten Substrats Arachidonsäure mittels HPLC getrennt und durch Kopplung mit einem UV- oder Radioaktivitätsdetektor quantifiziert werden. Das Chromatogramm zeigt eine Auftrennung an RP-18-Material unter Verwendung eines Fließmittels aus Methanol-Wasser-Phosphorsäure
6.2.3 Lipoxygenasehemmung Die Umsetzung der Arachidonsäure durch Lipoxygenasen führt im ersten Schritt unter Anlagerung von Sauerstof zur Bildung von Hydroperoxyeicosatetraensäuren (HPETEs). Im zweiten Schritt werden durch die 12- und 15-LOX die entsprechenden 12- und 15-Hydroxyeicosatetraensäuren (HETEs), durch die 5-LOX Leukotrien (LT) A4 und 5-Hydroxyeicosatetraensäure gebildet. In Neutrophilen und Makrophagen wird das instabile LTA4 zu LTB4 umgesetzt, während in Eosinophilen und Mastzellen eine Kopplung mit Glutathion erfolgt, wobei LTC4 entsteht. Das Schlüsselenzym für die Bildung der Leukotriene stellt die 5-LOX dar, die entsprechend häuig für den Aubau von Bioassays herangezogen wird. Im Vergleich zu den COX-Bioassays ist die Situation für die korrespondieren LOX-Bioassays etwas weniger komplex. Dies kann zum einen darauf zurückgeführt werden, dass die Handhabung des isolierten Enzyms erheblich schwieriger ist und ent-
sprechend bevorzugt zelluläre Bioassays eingesetzt werden. Zum anderen wird Lipoxygenaseaktivität in einer geringeren Zahl von Zelltypen gefunden (z. B. in Neutrophilen, Eosinophilen, hrombozyten und Makrophagen). Die in der Literatur beschriebenen Testsysteme nutzen insbesondere Neutrophile, die jedoch von verschiedenen Tieren (Schweine, Rinder) oder vom Menschen stammen können (Schweizer et al. 2000; Paulus 2002, dort auch Literatur). Zur Quantiizierung werden entweder LTB4 oder die HETEs herangezogen. Es stehen hier die gleichen Detektionsarten wie bei der Bestimmung der Cyclooxygenase-Metaboliten zur Verfügung (UV- und Radioaktivitätsdetektion nach HPLC-Trennung oder die Anwendung von Enzym- und Radioimmunoassays). Der Einsatz von 5-LOX-Bioassays hat zur Isolierung zahlreicher planzlicher Sekundärstofe geführt, die sich als potente Hemmstofe der 5-LOX erwiesen haben (Literatur bei Schneider u. Bucar 2005). Eine große Anzahl dieser Verbindungen wirkt als unspeziische Redox-Inhibitoren, d. h. sie redu-
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zieren das Fe3+ im aktiven Zentrum zu Fe2+, sodass das Enzym im inaktiven Zustand verbleibt. Zu diesen Verbindungen gehören Chinone (Resch et al. 1998) oder typische Antioxidanzien wie Flavonoide und Kafeesäurederivate mit Catecholstruktur (Lobitz et al. 1998). Potente NonRedox-Inhibitoren sind das Lignan Justicidin E (herien et al. 1993) und die Triterpensäure 3-Acetyl-11-ketoβ-boswelliasäure (aus verschiedenen Boswellia-Arten; Safayhi et al. 1992).
6.3 Messung von Radikalfängereigenschaften und antioxidativen Eigenschaften Die Bildung von freien Radikalen beruht auf einer wichtigen physiologischen bzw. pathophysiologischen Abwehrreaktion des Körpers. Hierzu gehört die Produktion von reaktiven Sauerstofspezies, insbesondere von Sauerstofradikalen, wie dem Superoxid-Radikal-Anion (O2·–) und das Hydroxyl-Radikal (OH·–), sowie von reaktiven Stickstofverbindungen mit dem Stickstofmonoxid (NO·) als wichtigstem Vertreter. Die Bildung von Sauerstofradikalen im Rahmen von Entzündungsreaktionen wird getragen von Monozyten, Makrophagen und polymorphkernigen Leukozyten. Dabei wird die physiologisch niedrige Produktion von Sauerstofradikalen nach der Aktivierung um mehr als das 10fache gesteigert („oxidative burst“), wobei das durch eine membranständige NADPH-Oxidase gebildete O2·– ins extrazelluläre Milieu abgegeben wird. Die Aktivierung der Radikalproduktion kann nicht nur durch opsonisierte Bakterien, sondern ebenfalls durch eine Vielzahl endogener oder exogener Substanzen angeregt werden (Literatur bei Baggiolini et al. 1993). Dazu gehört der Proteinkinase-C Aktivator Phorbolmyristatacetat (PMA) oder bakterielle Peptide wie das fMLP. Es liegt daher auf der Hand, zum Aubau eines Testsystems zur Überprüfung der antioxidativen Aktivität die verantwortlichen Zellen wie z. B. die polymorphkernigen Leukozyten aus menschlichem Blut zu isolieren und diese dann mit geeigneten Stimuli zur Radikalproduktion, d. h. zum „oxidative burst“ anzuregen. Durch Inkubation der Testsubstanzen mit den polymorphkernigen Leukozyten lässt sich die Verminderung der Produktion an reaktiven Sauerstofspezies gegenüber einer unbehandelten Kontrolle mittels Chemilumineszenzmessung bestimmen. Als häuigste Aktivatoren werden dabei fMLP, opsonisiertes Zymosan und PMA verwendet. Es ist zu beachten, dass
je nach aktivierender Substanz unterschiedliche Kinetiken der Radikalbildung zu beobachten sind, worauf durch unterschiedlich lange Messzeiten eingegangen wird ( > Abb. 6.4). Der beobachtete Gesamtefekt einer Substanz setzt sich dabei aus verschiedenen Teilefekten zusammen. Er kann zum einen auf dem direkten Abfangen von Radikalen („radical scavenger activity“), aber auch auf der Hemmung von Enzymen, z. B. der NADPH-Oxidase, aber auch der Myeloperoxidase beruhen, die in die Produktion der Radikale involviert sind. Um den genauen Mechanismus zu ermitteln, muss auch dieses zelluläre System mit den entsprechenden Enzymassays ergänzt werden. Viel genutzte Beispiele dafür sind verschiedene Modelle des Xanthinoxidase-/Xanthin- bzw. /Hypoxanthin-Systems (Heilmann et al. 2003; Literatur bei Udilova 1999), das zur Messung von Radikalfängereigenschaten gegenüber O2·– verwendet wird, oder die Messung der Myeloperoxidaseaktivität (Auchere u. Capeillere-Blandin 1999; dort auch weitere Literatur). Aus dem Gebiet der Naturstofe existieren vor allem für Kafeesäurederivate und Flavonoide umfangreiche Untersuchungen zu Radikalfängereigenschaften und der antioxidativen Aktivität. Unter den Flavonoiden zeigen insbesondere Quercetin und Quercetinglykoside in diesen Testsystemen eine hohe Aktivität, die im unteren mikromolaren Bereich liegt (Limasset et al. 1993; Heilmann et al. 2000). Wie aus den obigen Ausführungen deutlich wird sind die Begrife Radikalfängereigenschaten und antioxidative Aktivität nicht synonym zu gebrauchen. Während der Begrif Radikalfang auf die direkte Reaktion mit allen Radikalen Bezug nimmt, versteht man unter der antioxidativen Aktivität einer Verbindung die reduzierte Bildung (durch Enzymhemmung) und/oder die direkte Reaktion mit reaktiven Sauerstofspezies. Beschreibungen und Literatur zu weiteren grundsätzlichen Messtechniken und Methoden zur Bestimmung der Radikalproduktion beim „oxidative burst“ inden sich bei Dahlgren u. Karlsson (1999). Substanzen, die als Antioxidanzien oder Radikalfänger wirken, können zum einen eine antiinlammatorische Aktivität entfalten, besitzen zum anderen aber auch eine erhebliche Bedeutung bei der Chemoprävention, da Radikale wesentlich an der Entstehung von Tumoren beteiligt sein können.
6.4 Messung der Beeinflussung von mRNA-Spiegeln
. Abb. 6.4a,b
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6.4 Messung der Beeinflussung von mRNA-Spiegeln 6.4.1 Testsysteme auf der Basis von Reportergenen
a
b Polymorphkernige Leukozyten können durch verschiedene Stimuli zur Produktion von Sauerstoffradikalen angeregt werden. Die Kinetiken wie auch die Menge der entstehenden Radikale unterscheiden sich dabei deutlich. Aufgetragen sind die „counts per minute“ (cpm) gegen die Zeit. a zeigt die Reaktion von isolierten polymorphkernigen Leukozyten nach Stimulation mittels fMLP für einen Blindwert und unter dem Einfluss von einer steigenden Konzentration eines Radikalfängers. Nach einem raschen Anstieg in den ersten 2 Minuten fällt unter dem Einfluss von fMLP die Radikalproduktion rasch wieder ab. b zeigt die Reaktion der gleichen Anzahl von Leukozyten (ebenfalls für einen Blindwert und für drei verschiedene Konzentrationen eines Radikalfängers) nach der Anregung mit opsonisiertem Zymosan. Die Produktion von Radikalen steigt hier langsam auf einen deutlich höheren Wert an und fällt im Verlauf von 30 Minuten dann langsam wieder ab
Unter Reportergenen versteht man Gene oder Genfragmente, die mit anderen Genen oder regulatorischen Einheiten (Promotoren) gekoppelt werden, um die Aktivität dieser Einheiten sichtbar zu machen. Das Reportergen codiert für ein leicht identiizierbares Protein, sehr häuig eine Luciferase, und beindet sich unter der Kontrolle der regulatorischen Sequenz. Zum Aubau eines Testsystems wird zunächst die ausgewählte Zelllinie mit dem Reportergen und der zu untersuchenden Promotoreinheit stabil transiziert. Ein nach der Zugabe der Substanzen zugesetzter Stimulus (z. B. PMA) aktiviert eine verstärkte Promotoraktivität und nach deinierter Inkubationszeit kann über die Menge der entstandenen Luciferase auf die Aktivität der regulatorischen Einheit geschlossen werden ( > Abb. 6.5). Die Quantiizierung erfolgt bei Verwendung der Leuchtkäfer-Luciferase nach Zusatz von Luciferin (Substrat) über eine Biolumineszenzreaktion ( > Abb. 6.6). In der Literatur sind zahlreiche Beispiele für die Aktivität von Naturstofen auf Promotoren beschrieben, die proinlammatorischen Faktoren zugehörig sind (Keiss et al. 2003; Takada u. Aggarwal 2003). Infobox Lumineszenz. Bei der Lumineszenz gibt ein System Energie über die kalte Aussendung von Licht ab, während es von einem angeregten Zustand in den Grundzustand übergeht. Zunächst werden dabei Elektronen angeregt und in ein höheres Energieniveau angehoben. Unter Lichtemission fallen sie dann wieder in den Grundzustand zurück. Biolumineszenz. Werden die Lumineszenzreaktionen in lebenden Organismen erzeugt, so spricht man von Biolumineszenz. Eine große Bedeutung für Reportergenkonstrukte hat die vom amerikanischen Leuchtkäfer („firefly“) Photinus pyralis stammende Luciferase (Firefly-Luciferase). Chemi-(Chemo-)lumineszenz. Bei der Chemilumineszenz stammt die Anregungsenergie aus einer vorgeschalteten chemischen Reaktion.
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Moderne Bioassay-Methoden
. Abb. 6.5
. Abb. 6.6
Übersicht zur Funktionsweise eines Reportergen-Assays. Zunächst wird ein Luciferasegen dem zu untersuchenden Promotor nachgeschaltet und stabil in Zellen eingebaut. Ein geeigneter Stimulus bewirkt eine erhöhte Promotoraktivität und das nachgeschaltete Luciferasegen wird verstärkt exprimiert. Nach der Transkription und Translation kann die erhöhte Luciferaseaktivität über eine Biolumineszenzreaktion detektiert werden
6.4.2 Real-time-RT-PCR Geht man davon aus, dass die in einer Zelle vorhandene Menge an mRNA von der Aktivität des korrespondierenden Gens abhängig ist, so lässt sich vice versa über die quantitative Erfassung der Veränderungen in den mRNASpiegeln ein Rückschluss auf die Aktivität des entsprechenden Gens vornehmen. Als ein etabliertes Verfahren zur Bestimmung der mRNA-Mengenverhältnisse gilt die RT-PCR (Reverse-Transkriptase-Polymerasekettenreaktion). Sie ist insbesondere dann die Methode der Wahl, wenn kleine Probengrößen vorliegen, d. h. die mRNA nur in geringer Menge exprimiert wird. Im Vergleich zur Vermehrung von DNA-Matrizen mit der herkömmlichen PCR, werden in der RT-PCR RNA-Moleküle vervielfältigt, indem man sie zunächst mit Hilfe der Reversen Transkriptase in die cDNA umschreibt und dann die PCR nach dem herkömmlichen Schema ablaufen lässt. Die Intensität der nach einer Gelelektrophorese mit Agarose entstehenden Banden erlaubt Rückschlüsse auf die ursprünglich vorliegende mRNA-Menge. Zum einen können die Banden im Verhältnis zueinander verglichen werden, zum anderen kann eine Quantiizierung durch den Vergleich mit Kontrollen erfolgen, die durch eine PCR mit einer deinierten
Ablauf einer Luciferasereaktion. Die Firefly-Luciferase katalysiert die Bildung von Oxyluciferin aus Luciferin in Anwesenheit von Magnesium, ATP und O2. Zunächst wird ein Zwischenprodukt aus Luciferin und AMP gebildet, das unter dem Einfluss von O2 decarboxyliert und wieder gespalten wird. Gleichzeitig wird ein Photon bei 562 nm emittiert. Die Quantenausbeute der Reaktion liegt bei etwa 90%
Menge DNA gewonnen worden sind. Ein wesentlicher Fortschritt in der RT-PCR-Technologie hat sich durch die Real-time-RT-PCR ergeben. Sie stellt ein Verfahren dar, in dem in einem System die Ampliikation sowie die direkte Detektion und Quantiizierung der Akkumulation des PCR-Produktes möglich ist. Die quantitative Echtzeitanalyse („real time“) der PCR ist über die Messung von laserinduzierten Fluoreszenzsignalen realisierbar. Um dies zu verwirklichen, wird neben den speziischen Primern auch eine sequenzspeziische Probe dem PCR-Ansatz zugefügt, die an eine Gensequenz zwischen den beiden Primern bindet. Diese ist am 3ʹ-Ende mit einem Quencherfarbstof und am 5ʹ-Ende mit einem luoreszierenden Reporterfarbstof markiert. Solange die Probe (oder Sonde)
6.4 Messung der Beeinflussung von mRNA-Spiegeln
6
. Abb. 6.7 Forward Primer 5' 3'
Quencher 5' 3' Reverse Primer
5'
Reporter
Die Probe (Oligonukleotid, Quencher und Reporterfarbstoff) lagert sich spezifisch zwischen den Primern an die DNA an.
5' 3' 5'
5'
5' 3'
Die Taq-Polymerase verdrängt und zerschneidet die TaqMan-Probe. Ein Fluoreszenzsignal erscheint, da der Reporterfarbstoff vom Quencher getrennt wird.
Messung der Fluoreszenzintensität während der PCR!! DNA-Synthese ist beendet und der DNA-Strang dupliziert 3' 5'
5' 5'
5' 3'
Neustart des Prozesses im nächsten Zyklus (Denaturierung, Hybridisierung usw.)
Schema zur Funktionsweise der Real-time-PCR unter Verwendung eines Taqman®-Systems
intakt ist, wird bei einer Anregung durch einen ArgonLaser die Fluoreszenzemission des Reporterfarbstofs durch die räumliche Nähe zum Quencher unterdrückt [die Energie des Reporterfarbstofes (R) auf den Quencherfarbstof (Q) übertragen und nur dieser emittiert Licht]. Während der PCR-Reaktion wird die hybridisierte DNA-Sonde durch die 5ʹ-3ʹ-Exonukleaseaktivität der Polymerase zerschnitten. Der Reporterfarbstof kann das Fluoreszenzlicht nun emittieren, da durch die Hydrolyse der Sonde Reporter und Quencher voneinander getrennt sind (fehlender Energietransfer). Eine Hydrolyse der Sonde durch die 5ʹ-3ʹ-Exonukleaseaktivität kann nur dann erfolgen, wenn es zu einer sequenzspeziischen Hybridisierung zwischen Sonde und Zielsequenz kommt ( > Abb. 6.7). Entsprechend der Ampliikation des speziischen PCR-Fragments steigt das Fluoreszenzsignal an. Dabei ist die Fluoreszenzzunahme dem Zuwachs an PCRAmpliikat direkt proportional. Die Auswertung der Analyse erfolgt über den so genannten CT-Wert („threshold cycle“). Der CT-Wert drückt die Zyklenzahl aus, bei der
zum ersten Mal ein Anstieg der Reporterluoreszenz über das Grundrauschen ermittelt wird. Die Real-time-RTPCR ist sehr vielseitig einsetzbar, da die mRNA-Spiegel der verschiedensten Proteine (Zytokine, Transkriptionsfaktoren und viele mehr) analysierbar sind. Entsprechend lassen sich mit dieser Technologie Testsysteme entwickeln, die einen Bezug zu den verschiedensten Gebieten haben, wie zum Beispiel zum Entzündungsgeschehen oder zur Entstehung von Tumoren (Literatur bei Mocellin et al. 2003). Je nach vorliegender Problemstellung kann es notwendig sein, die Ergebnisse aus der quantitativen Realtime-PCR zu normalisieren. Eine häuig angewandte Methode ist die Normalisierung gegenüber einem Referenzgen. Die Ergebnisse werden dabei relativ zu einem möglichst konstant exprimierten (!) Referenzgen ausgedrückt, dessen Expression parallel zum Zielgen in derselben Probe gemessen wird. Besonders häuig werden so genannte „House-Keeping“-Gene, wie diejenigen von GAPDH und β-Actin, zur Normalisierung herangezogen (Literatur bei Giuletti et al. 2001). Die Methode ist jedoch
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nicht unproblematisch, da beispielsweise die Expression dieser Gene aktiv reguliert sein kann. Es sollte daher immer nachgewiesen werden, ob sich das ausgewählte Gen zur Normalisierung eignet.
6.4.3 Microarrays (Gen-Chips) Mit Hilfe der Microarray-Technologie ist es möglich, die Expression zahlreicher Gene parallel nebeneinander zu analysieren. Dazu wird auf einer festen Matrix (Glas oder Nylon/Nitrocellulose) eine bestimmte Anzahl von Erkennungsmolekülen (Sonden oder Probes) immobilisiert. Diese Sonden können aus cDNA (500–5000 Basen) oder aus Oligonukleotiden (15–90 Basen) bestehen („oligonucleotide arrays“) und hybridisieren mit der luoreszenzmarkierten RNA (dem Analyt oder der Probe). Die Speziität eines einzelnen Oligonukleotids ist jedoch nicht ausreichend, um eine hochspeziische Hybridisierung der korrespondierenden RNA zu gewährleisten. Für jedes zu analysierende Gen wird daher bei Oligonucleotid-Arrays ein Sondensatz aus verschiedenen Oligonukleotiden auf dem Chip ixiert. Die Intensität des detektierbaren Signals steigt mit der Menge der an der Sonde gebunden Probe an. Entsprechend können nur relative Transkriptionsniveaus miteinander verglichen werden. Die Fluoreszenzmessungen werden mit einem konfokalen Laser-Scanning-Fluoreszenzmikroskop oder speziellen Fluoreszenz-Scannern vorgenommen. Heute existiert eine große Palette von verschiedenen Microarrays, die es ermöglichen, mehrere tausend Gene nebeneinander zu analysieren. Die dabei anfallenden Datenmengen sind kaum zu überschauen. Ihre eiziente und korrekte Auswertung und Verarbeitung erfordern fundierte Kenntnisse auf dem Gebiet der Bioinformatik. Wesentlich praktikabler sind kleinere Microassays, die sich auf Gene in einem bestimmten Funktions- oder Regulationsbereich fokussieren (Tumore, Entzündungen, Stofwechselerkrankungen und viele mehr). Die unterschiedliche Herstellung, Probenaufarbeitung und andere methodische Probleme können auch bei der MicroarrayTechnologie manchmal zu schwer reproduzierbaren Ergebnissen führen. Eine akzeptierte Strategie, um verlässliche Daten zur Expression von Genen zu erhalten, ist die Kombination der Chip-Technologie mit der Real-timePCR. Dabei wird zunächst mit Hilfe eines Microarrays der Einluss der zu untersuchenden Substanz auf die Expressionslevel verschiedener Gene im Überblick analysiert und im nächsten Schritt die Veränderungen bei einzelnen,
besonders interessanten Genen mittels Real-time-RT-PCR exakt analysiert. Die in der Naturstofforschung mit Hilfe der Realtime-PCR und der Microarrays bearbeiteten Fragestellungen unterscheiden sich kaum von denen anderer Bereiche der Arzneistofsuche. Obgleich beide Techniken noch relativ jung sind, haben bereits zahlreiche Publikationen die Beeinlussung der Genexpression durch Naturstofe und Extrakte thematisiert. Prominente Beispiele dazu sind die Untersuchungen zu Epigallocatechin-3-O-gallat, dem pharmakologisch vermutlich wichtigsten Polyphenol aus grünem Tee, und dem Diferuloylmethanderivat Curcumin. Für beide Verbindungen ist die günstige Beeinlussung der mRNA-Spiegel tumorrelevanter Faktoren beschrieben worden (Lin et al. 2005; Chen et al. 2004). Für Epigallocatechin-3-O-gallat ist darüber hinaus auch die reduzierte Expression proinlammatorischer Gene bekannt (Porath et al. 2005). Wichtige Aspekte sind, insbesondere vor dem Hintergrund von Struktur-WirkungsBeziehungen, die selektive Beeinlussung der Genexpression oder auch Veränderungen der Expression als Funktion der Zeit (kinetische Fragestellungen). Von großem Interesse sind diese Methodiken auch für das Screening von Planzen (Gertsch et al. 2002) und die Untersuchungen von Arzneiplanzen, die in der traditionellen Medizin bereits längere Zeit erfolgreich verwendet werden, deren Wirkprinzip aber bisher noch nicht oder nur unzureichend bekannt ist. Sie können aus einem neuen Blickwinkel heraus bearbeitet werden, um die molekularen Ursachen ihrer Wirkung exakter zu ergründen. Beispiele hierfür sind die Reduktion der mRNA-Spiegel von proinlammatorisch wirksamen Faktoren durch Capsaicin (aus Capsicum annuum; Gertsch et al. 2002) und Chamissonolid (aus Arnica-Arten; Gertsch et al. 2003).
6.5 Testsysteme mit Bezug zur Bekämpfung von Tumoren Zahlreiche Testsysteme, die eingesetzt werden, um Verbindungen zur herapie von Tumorerkrankungen zu inden, tragen die Bezeichnung Zytotoxizitäts-, Viabilitätsoder Proliferations-Assay. Auch wenn sich die Begrife etabliert haben, so müssen sie doch als etwas unglücklich bezeichnet werden. Deiniert man zytotoxische Verbindungen als Zellgite, die Zellfunktionen zum Erliegen bringen, und Viabilität als die Lebens- bzw. Überlebensfähigkeit von Zellen, so ergibt sich eine entsprechend gro-
6.5 Testsysteme mit Bezug zur Bekämpfung von Tumoren
ße Schnittmenge zwischen beiden Begrifen und die Differenzierung ist schwierig. Unter Proliferation ist die Vermehrung von Zellen, hier insbesondere Tumorzellen, zu verstehen, sodass eine eindeutige Abgrenzung der entsprechenden Testverfahren möglich sein sollte. Diese ist aber nicht immer vollzogen, da bei einigen Detektionsverfahren, wie zum Beispiel bei der Messung der metabolischen Aktivität, der ermittelte Efekt nicht einem einzelnen Mechanismus zuzuordnen ist, sondern sich als Summe von Zytotoxizität und Hemmung der Proliferation präsentiert. Bei einer Einteilung und Bezeichnung der Testsysteme sollte daher besser auf das tatsächliche Messverfahren Bezug genommen werden. Die Etablierung eines solchen Bioassays beginnt man zunächst mit der in Kulturnahme und Züchtung einer bestimmten Tumorzelllinie. Dazu müssen nicht nur das entsprechende Medium, sondern auch die für das Wachstum der Zellen notwendigen Zusätze, wie Salze, Zucker und Aminosäuren, gefunden werden. Daneben ist die Zugabe von Antibiotika und antifungal wirksamen Substanzen in Erwägung zu ziehen. Eine gute Hilfe für die Kultivierung sind die von der American Type Culture Collection (ATCC) für zahlreiche Zelllinien zusammengestellten Richtlinien. Die Wachstumsgeschwindigkeit der Zellen kann wesentlich über die Menge an fötalem Kälberserum (FKS) gesteuert werden. Zum Aubau eines Bioassays sollten nur Tumorzellen verwendet werden, die eindeutig als solche charakterisiert und nicht mit anderen Zellen verunreinigt sind. Insgesamt sind optimale Kulturbedingungen sicherzustellen, damit es während der Durchführung des Tests nicht zur Beeinträchtigung des Wachstums oder der Viabilität der Zellen kommt. Bis heute sind zahlreiche Naturstofe mit einer hohen Aktivität gegenüber den verschiedensten Tumorzellen gefunden worden. Dazu gehören insbesondere Verbindungen, die zu den Alkaloiden (Literatur bei Cozzi et al. 2004), Lignanen (Literatur bei Gordaliza et al. 2004) und Sesquiterpenlactonen (Literatur bei Schmidt 1999) zu zählen sind. Auf Grund der beschränkten Aussagekrat eines einzelnen In-vitro-Assays, sind zahlreiche Arbeitsgruppen dazu übergegangen, die Aktivität einer Substanz gegenüber einer ganzen Serie von Zelllinien zu testen (Bestimmung der diferentiellen Zytotoxizität). Mit Hilfe einer solchen Strategie können wichtige Hinweise darüber gewonnen werden, ob es sich um eine unspeziische oder speziische Toxizität gegenüber Tumorzellen handelt. Werden in dieses Screening auch Zelltypen integriert, in denen bestimmte Stofwechselwege verstärkt ablaufen
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oder fehlen, so lassen sich auch wesentliche Rückschlüsse auf den möglichen Wirkungsmechanismus ziehen. Diese werden mittels Testsystemen erhärtet, die zur Auindung der möglichen biologischen Zielstrukturen dienen. Für Naturstofe sind die Hemmung der Topoisomerasen I und II, Störung des Tubulin/Mikrotubuli-Gleichgewichtes, Interkalation in die DNA oder deren Alkylierung sowie der Angrif an elektronenreichen Positionen essentieller Proteine häuig beobachtete Mechanismen (Literatur bei Srivastava et al. 2005). Weitere interessante Targets scheinen die Matrix-Metalloproteinasen (MMPs), Aminopeptidase N, Tyrosinkinase oder die Farnesyltransferase zu sein (Literatur bei Li u. Xu 2005). Einige Naturstofe und deren Abkömmlinge wie Paclitaxel (aus Taxus-Arten) und Camptothecin (aus Camptotheca accuminata) gehören zu den wichtigsten Arzneistofen im Kampf gegen den Krebs.
6.5.1 Messung der metabolischen Aktivität Das Messprinzip bei diesen Tests beruht auf der Reduktion von verschiedenen Tetrazoliumsalzen zu Formazanen, die durch Übertragung von Elektronen in Mitochondrien von metabolisch aktiven Zellen gebildet werden. Sie werden von der Succinat-Reduktase, die ein Enzymkomplex der Atmungskette darstellt, als Substrat akzeptiert. Die am häuigsten verwendeten Verbindungen sind 3-(4,5-Dimethyl-2-thiazolyl)-2,5-diphenyl-2H-tetrazoliumbromid (MTT), 2,3-Di-(2-methoxy-4-nitro-5-sulfophenyl)-2Htetrazolium-5-carboxanilid (XTT) und 2-(4-Iodophenyl)3-(4-nitrophenyl)-5-(2,4-disulfophenyl)-2H-tetrazolium (WST-1). Im Verlauf einer 48 oder 72 Stunden dauernden Inkubation der Zellen mit den Testsubstanzen, werden die Tetrazoliumsalze in den letzten 1–4 Stunden zugesetzt. Bei der Verwendung von MTT entsteht ein wasserunlösliches, bei XTT und WST-1 ein wasserlösliches Formazan, das photometrisch vermessen werden kann ( > Abb. 6.8). Der bereits 1983 eingeführte, recht kostengünstige MTT-Assay (Mosmann 1983) erfordert entsprechend die Solubilisierung des Farbstofs (z. B. mit Natriumdodecylsulfatlösung 10%, SDS) vor der Vermessung. Es ist leicht ersichtlich, dass die Menge an produziertem Farbstof sowohl von der Anzahl der Zellen (Bezug zur Proliferation) wie auch von ihrer Vitalität (Bezug zur Viabilität) abhängig ist. Darüber hinaus sind auch Interaktionen mit der Succinat-Reduktase denkbar. Die Messung mit MTT, aber vermutlich auch mit den anderen Tetrazo-
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Moderne Bioassay-Methoden
. Abb. 6.8
6.5.2 Inkorporationsassays In den Inkorporationsassays wird die im Verlauf einer Zellvermehrung stattindende Neusynthese von DNA und der damit verbundene Einbau von Basen zur Messung einer antiproliferativen Wirkung genutzt. Zur Quantiizierung können radioaktive („heiße“ Testsysteme) und nichtradioaktive Basen („kalte“ Testsysteme) verwendet werden. Ein typisches „kaltes“ Testsystem ist der BrdU-(5Bromo-2ʹ-desoxyuridin-)Bioassay. Nach einer Inkubationsphase wird dem Testansatz brommarkiertes Desoxyuridin zugesetzt und die proliferierenden Zellen bauen an Stelle von hymidin nun Nukleotide mit dem Pyrimidinderivat 5-Bromo-2ʹ-desoxyuridin in die DNA ein. An den Abbruch der Reaktion schließt sich die Denaturierung der DNA und die Zugabe von Peroxidase-gekoppelten BrdUAntikörpern an. Die entstehenden Immunkomplexe und damit die Menge an eingebautem BrdU können mit Hilfe einer Substratlösung photometrisch bestimmt werden. Die Kopplung der BrdU-Antikörper mit luoreszierenden Farbstofen ist ebenfalls möglich. Zur Erfassung des Einbaus von radioaktiv markierten DNA-Basen stehen Messverfahren zur Verfügung, die auf der Inkorporation von [3H]-hymidin und [3H]-Uridin beruhen.
Messung der metabolischen Aktivität von Zellen mittels 3-(4,5-Dimethyl-2-thiazolyl)-2,5-diphenyl-2H-tetrazoliumbromid (MTT). Der gelbe Farbstoff wird durch mitochondriale und im Zytoplasma vorhandene Dehydrogenasen zu einem blauen, wasserunlöslichen Formazan umgesetzt. Nach der Zugabe von SDS-Lösung (meist nach dem Absaugen des Mediums) kann die optische Dichte der Lösung bei 540 bzw. 570 nm bestimmt werden. Bei der Verwendung von XTT und WST-1 entsteht ein wasserlöslicher Farbstoff, der bei einer Wellenlänge von 450 nm detektiert wird
liumverbindungen, kann gestört werden durch Substanzen, die sich auf Grund ihres Redoxpotentiales selbst an der Reaktion mit MTT beteiligen (Bruggisser et al. 2002). Es ist daher empfehlenswert die metabolischen Assays mit einem weiteren Testsystem zu kombinieren, in dem eine Zellzahlbestimmung durchgeführt wird. Zahlreiche Ergebnisse deuten darauhin, dass der Bildung von Formazanen nicht nur in den Mitochondrien, sondern auch im Zytoplasma abläut, sodass dieses Messprinzip streng genommen nicht nur auf die mitochondriale Aktivität Bezug nimmt.
6.5.3 Bestimmung von Zellvitalität und Zelltod (Apoptose und Nekrose) Die einfachste Methode zur Bestimmung der Lebensfähigkeit von Zellen besteht in der Färbung mit Trypan-Blau ( > Abb. 6.9). Dieser Farbstof kann durch eine geschädigte Zellmembran in das Zytoplasma eindringen, sodass nicht vitale Zellen blau angefärbt werden. Die Bestimmung der Lactatdehydrogenase (LDH) im umgebenden Medium wird ebenfalls als Maß für die Vitalität von Zellen und zur Bestimmung der Zytotoxizität einer Substanz herangezogen. LDH ist in vitalen Zellen hauptsächlich im Zytoplasma lokalisiert, wohingegen im Medium nur eine niedrige Aktivität dieses Enzyms messbar ist. Eine Schädigung der Zellmembran führt zu einer verstärkten Freisetzung von zytoplasmatischen Bestandteilen und damit auch zu einer Anreicherung der LDH im Medium. Die Aktivität der LDH kann mit Hilfe von NADH als Substrat photometrisch bestimmt werden ( > Abb. 6.10). In den letzten Jahren ist die Durchlusszytometrie zu einer der wichtigsten Techniken zur Bestimmung von (molekularen) Zelleigenschaten geworden. Die luores-
6.5 Testsysteme mit Bezug zur Bekämpfung von Tumoren
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. Abb. 6.9
Trypanblau ist ein saurer Farbstoff, der als Anion an Zellproteine bindet. Oft wird eine 0,4%ige (m/V) Lösung verwendet, die mit der Zellsuspension kurz gemischt wird. Das Trypanblau dringt durch defekte Zellmembranen in die toten Zellen ein und färbt sie tiefblau an. Lebende Zellen werden dagegen nicht gefärbt. Trypanblau wirkt selbst zytotoxisch, sodass bei zu langer Einwirkzeit eine erhöhte Zahl von toten Zellen zu beobachten ist . Abb. 6.10a,b
a
b Unter Zusatz von Pyruvat und NADH kann die Aktivität der Lactatdehydrogenase im Überstand photometrisch bei 340 nm über die Abnahme der NADH-Konzentration direkt bestimmt werden (a). Bei manchen der im Handel befindlichen „Kits“ wird dagegen Lactat und NAD+ zum Testansatz gegeben und das entstehende NADH + H+ von einem Enzym zur Bildung von Formazanen aus Tetrazoliumverbindungen genutzt (b)
zenzaktivierte Zellanalyse („luorescence activated cell sorting“, FACS) arbeitet mit Hilfe von Fluoreszenzfarbstofen, die gekoppelt an Antikörper oder andere Moleküle, speziische Strukturen und Merkmale in einer Zelle bzw. in einer Zellpopulation kennzeichnen können ( > Abb. 6.11). Bei der Analyse von zytotoxischen Naturstofen spielt die FACS-Analyse z. B. zur Charakterisierung von apoptotischen Vorgängen bzw. bei der Diferenzierung zwischen Apoptose (programmierter Zelltod) und Nekrose eine wichtige Rolle. Faktoren wie Zellgröße und Zellgranularität, die Hinweise auf apoptotische Vorgänge liefern, sind mittels Durchlusszytometrie bereits durch Streulichtmessungen erkennbar. Die Größe der Zellen beeinlusst vor allem das Vorwärtsstreulicht („forward light scatter“), während das Seitwärtsstreulicht („side light scatter“) auch sehr stark von der Granularität der Zellen abhängt. Markiert man darüber hinaus die zu untersuchende Zellpopulation mit Propidiumiodid (PI) und einem mit Annexin V gekoppelten Farbstof, so geben sich nekrotische Zellen in einer FACS-Analyse als PI-positiv und Annexin-V positiv, apoptotische Zellen als PI-negativ und Annexin-positiv, und lebende Zellen als PI- und AnnexinV-negativ zu erkennen. Bei PI handelt es sich um einen DNA-Farbstof, der aber nur in die Zelle eindringen kann, wenn sie nekrotisch geschädigt ist. Annexin V ist ein Protein mit einer hohen Ainität für Phosphorylserin. Dieses
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Moderne Bioassay-Methoden
. Abb. 6.11
Eine Zellsuspension wird zunächst mit einem Farbstoff versetzt, der an einen spezifischen Antikörper gekoppelt ist. Der Antikörper bindet in den Zellen an das entsprechende Antigen, soweit es dort vorhanden ist. Die Zellen werden als Strom durch eine vibrierende Düse geführt, wodurch es hinter der Düse zu einer Tropfenbildung kommt. Kurz bevor der Strom bricht und die Tropfen entstehen, passiert er einen Laser und die Markierung der Zellen führt zu einer Fluoreszenz, die in einer Photozelle detektiert wird. Neben der Fluoreszenz wird auch die Lichtstreuung („scatter“) durch die Zellen detektiert. Jede Zelle wird dabei einzeln detektiert. Sie muss im Zentrum des Laserstrahls fokussiert werden, was durch einen Hüllstrom („sheath fluid“) gelingt, in den die Probenflüssigkeit injiziert wird und der die Zellen mitführt (hydrodynamische Fokussierung). Die der Detektion nachfolgende Sortierung gelingt, da jeder entstehende Tropfen mit einer markierten Zelle eine elektrische Ladung erhält. In einem hinter der Düse angelegten Feld werden die geladenen Tropfen, je nach ihrer Ladung abgelenkt, während unmarkierte und nichtgeladene keine Ablenkung erfahren
ist normalerweise an der Innenseite der Membran lokalisiert, wird jedoch im Verlauf der Apoptose an die Membranaußenseite verlagert und kann dort an das Annexin V binden. Nekrotische Zellen färben sich jedoch ebenfalls, da die Membran bereits so stark geschädigt ist, dass Annexin V sie passieren kann. Daneben können mittels DNAFarbstofen wie PI auch Zellzyklusanalysen durchgeführt werden, da sich der DNA-Gehalt während der verschiedenen Phasen des Zellzyklus ändert und PI in einem stöchiometrisch konstanten Verhältnis in die DNA eingelagert wird.
Hat die Zelle das Signal für den Start des programmierten Zelltods erhalten, so werden festgelegte Signalwege durchlaufen, die wesentlich von der Aktivierung von Caspasen getragen werden. Diese gehören zur Familie der Cysteinyl-Proteasen und zerschneiden Proteine speziisch hinter Asparaginsäure. Caspasen liegen zunächst als inaktive Procaspasen vor und erhalten erst nach einer Proteolyse und Dimerisierung ihre enzymatische Aktivität. Dabei sind sie in der Lage, sich gegenseitig zu aktivieren und bilden eine Kaskade, die letztlich in den Tod der Zelle mündet. Im Verlauf dieser sehr komplexen Kaskade kann
6.6 Testsysteme mit Bezug zur Bekämpfung von Plasmodien
zwischen Initiatorcaspasen (Caspasen 8 und 9) und Efektorcaspasen wie die Caspasen 3, 6 und 7 unterschieden werden. Initiatorcaspasen stehen am Anfang des Signalweges und werden durch extrinsische und intrinsische Signale aktiviert. Dies kann über die Aktivierung von Todesrezeptoren (extrinsisch) wie auch über die Schädigung der Mitochondrien (intrinsisch und extrinsisch) und Freisetzung von Cytochrom C erfolgen (vgl. dazu auch > Abb. 24.15). Substrate der aktivierten Initiatorcaspasen sind die Efektorprocaspasen, die nun ihrerseits durch die Spaltung aktiviert werden. Die entstandenen Efektorcaspasen zerlegen Substrate, die essentiell für das Überleben der Zelle sind, und führen damit den Zelltod herbei. Sie werden auch als die Exekutoren der Apoptose bezeichnet. Durch die Caspasen wird mittelbar auch die Zerstörung der DNA eingeleitet, da durch die proteolytische Spaltung ihres Inhibitors auch eine DNase aktiv wird. Die Zerschneidung der DNA erzeugt Fragmente, deren Größe jeweils ein Vielfaches von 180 Bp (Windung der DNA um ein Histon) beträgt. Im Agarosegel können diese Fragmente aufgetrennt werden und geben ein charakteristisches regelmäßiges Leitermuster. Das Vorhandensein der so genannten DNA-Leiter ist ein wichtiger Nachweis für den apoptotischen Zelltod. Eine umfangreiche Übersicht zur Apoptose (inklusive Literaturangaben), die hier in ihrem Ablauf nur angedeutet worden ist und bei der noch zahlreiche weitere Proteine beteiligt sind, indet sich bei Kim et al. (2005). Die Bedeutung der Caspasen im Rahmen des programmierten Zelltods hat dazu geführt, dass zur Charakterisierung der Apoptose sehr ot auch Tests zu ihrer Aktivierung herangezogen werden. Dazu wird zunächst eine deinierte Anzahl von Zellen mit der Lösung der zu untersuchenden Substanz inkubiert. Im nächsten Schritt werden die Zellen vom Medium abgetrennt und lysiert. Der nach erneuter Zentrifugation entstandene Überstand wird entnommen und mit einem (luoreszenz-)markierten Substrat der Caspasen versetzt. Durch deren proteolytische Aktivität wird der (Fluoreszenz-)Farbstof abgespalten und detektierbar (Messung im Photometer oder Fluorometer). Eine weitere Möglichkeit ist die Kopplung des Substrats mit einer Substanz, die nach der Spaltung von einer Luciferase umgesetzt werden kann (Messung im Luminometer). Zum Vergleich wird sowohl ein Nullwert als auch eine Kontrolle (unbehandelte oder nur mit der entsprechenden Lösungsmittelkonzentration behandelte Zellen) bestimmt. Die Aktivität einer speziischen Caspase kann durch Zugabe eines speziischen Substrates und/oder
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durch speziische Inhibition der nicht relevanten Caspasen erreicht werden. In den letzten Jahren sind zahlreiche Arbeiten über die Induktion der Apoptose durch Naturstofe publiziert worden. Unter den planzlichen Sekundärstofen haben hier insbesondere phenolische Verbindungen wie Flavonoide, Curcuminoide (Literatur bei Karunagaran et al. 2005) und Resveratrol (Literatur bei Ulrich et al. 2005) ein großes Interesse gefunden. Zahlreiche Arbeiten existieren aber auch über terpenoide Verbindungen wie die Sesquiterpenlactone (Literatur bei Zhang et al. 2005). Aus dieser Stofklasse liegen aufschlussreiche Arbeiten über das Parthenolid (aus Tanacetum parthenium; Guzman et al. 2005) und die Helenanolide aus Arnica-Arten (Dirsch et al. 2001a,b; Gertsch et al. 2003) vor.
6.6 Testsysteme mit Bezug zur Bekämpfung von Plasmodien Die erythrozytären Formen von Plasmodium falciparum, dem Erreger der Malaria tropica, können unter Verwendung von Medien, die rote Blutkörperchen enthalten, kontinuierlich in Kultur genommen werden. Die Parasitämie, das ist die prozentuale Anzahl von mit Plasmodien inizierten Erythrozyten liegt in diesen Kulturen bei etwa 5–10%. Ähnlich wie bei den Tumorzellen ( > Inkorporationsassay) kann auch die Replikations- und Transkriptionstätigkeit der Parasitenzellen als ein Maß für das Wachstum (einschließlich der Vermehrung) genutzt werden. Mit Plasmodien inizierte humane Erythrozyten werden in Mikrotiterplatten der Testsubstanz ausgesetzt, vorinkubiert und nach Zugabe von [3H]-Hypoxanthin nochmals inkubiert. An Hand der Inkorporationsrate des markierten Hypoxanthins in die parasitären Nucleinsäuren kann dann die hemmende Wirkung der Testsubstanz auf das Wachstum bestimmt werden. Besondere Vorsicht ist hier geboten, wenn Substanzen untersucht werden, die eine hohe Zytotoxizität gegenüber Erythrozyten aufweisen. Bei einer Schädigung der Erythrozyten sind die Plasmodien ebenfalls nicht mehr in der Lage sich zu vermehren und es werden nur scheinbar hohe antiplasmodiale Aktivitäten gemessen. Es empiehlt sich daher immer, in einer Kontrolle auch die fehlende Zytotoxizität der Verbindung nachzuweisen. Über die Analyse von speziischen Stofwechselwegen und Zellfunktionen konnten in Plasmodien Targets (= biologische Ziele) identiiziert werden, die sich zur Bekämpfung des Erregers nutzen lassen. Als
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Moderne Bioassay-Methoden
mögliche Angrifsorte werden u. a. der Folsäurestofwechsel, die Mevalonat-unabhängige Isoprenoidsynthese oder die Metabolisierung des Häms angesehen (Literatur und Übersicht bei Wiesner et al. 2003). Letztere Möglichkeit soll im Folgenden kurz erläutert werden. Die Infektion mit Plasmodien geht mit dem Befall und der Zerstörung von Erythrozyten einher. Die Erreger bauen dabei mittels Proteasen das Hämoglobin ab, um daraus ihre essentiellen Aminosäuren zu gewinnen. Das freigesetzte Häm ist jedoch für den Parasiten toxisch und muss metabolisiert werden. Zur Entgitung stehen neben der Polymerisation von Ferriprotoporphyrin IX zu Hämozoin (Malariapigment), ein oxidativer Abbau sowie auch ein Glutathionabhängiger Stofwechselweg zur Verfügung. Gelingt es, die Detoxiizierung des Häms zu verhindern, so vergitet sich der Parasit selbst. Gelingt die Hemmung der für den Hämoglobinabbau notwendigen Proteasen, so stehen ihm nicht die notwendigen Aminosäuren zur Verfügung. Entsprechend wurden Testsysteme aufgebaut, in denen nach Inhibitoren der Plasmodien-speziischen Proteasen, der Hämpolymerisation oder des Glutathion-abhängigen Abbaus gesucht werden kann (Desai et al. 2004; Frölich et al. 2005).
6.7 Testsysteme zur Bestimmung der Permeabilität Auf dem Weg vom Applikations- zum Wirkort muss eine Substanz zahlreiche Barrieren passieren. Je nach Art der Applikation sind dies die Haut, Schleimhäute, das Epithel des Gastrointestinaltrakts oder die Blut-HirnSchranke. Diese Barrieren weisen eine unterschiedliche Dicke und verschiedene Eigenschaten auf, sodass sich
Transportvorgänge nicht nur hinsichtlich der Geschwindigkeit, sondern auch ganz grundsätzlich unterscheiden können. Dies begründet sich wesentlich auf der Existenz von aktiven Transportern, die für einen verstärkten Hineintransport, aber auch für das Ausschleusen von Substanzen (z. B. durch P-Glykoprotein, P-gp) verantwortlich sein können. Darüber hinaus sind an den Membranen auch Metabolisierungsvorgänge, beispielsweise durch Enzyme der Cytochrom-P450-Familie (CYPs), möglich. Zelluläre In-vitro-Systeme können ein gutes Modell für diese Barrieren sein, wenn sie hinsichtlich Morphologie, Transporter- und Enzymausstattung die In-vivo-Situation möglichst vollständig repräsentieren können. Da die perorale Gabe von Arzneistofen die bedeutsamste Applikationsform darstellt, kommt dem Dünndarm eine besondere Bedeutung als Resorptionsort zu. Ein besonders verbreitetes Modell zur Untersuchung intestinaler Resorptionsvorgänge ist die Caco-2-Zelllinie (Artursson 1990), sodass es sinnvoll erscheint, an dieser Stelle die Vorgehensweise für die Herstellung eines zellulären Permeationsmodells exemplarisch darzustellen ( > Abb. 6.12). Die Caco-2-Zelllinie stammt von einem Kolonkarzinom ab, das unter geeigneten Kulturbedingungen ein einschichtiges Epithel bildet und im ausdiferenzierten Zustand zahlreiche wichtige Eigenschaten des Dünndarmepithels zeigt. Es sei jedoch angemerkt, dass diesen Zellen die typische Mukusschicht der Dünndarmmukosa fehlt. Zu Beginn werden die in der Kultur adhärenten Caco-2-Zellen von der Wand und voneinander gelöst und eine bestimmte Anzahl auf einer Membran ausgesät. Im Verlauf von 19–22 Tagen bildet sich eine geschlossene, einschichtige Zellmembran. Vor und nach einem Transportexperiment muss die Integrität einer ver-
. Abb. 6.12
Schematischer Versuchsaufbau für ein Permeationsmodell mit adhärierenden Zellen, die auf einer Filtermembran mit definierter Porengröße eine einschichtige Zellmembran (Monolayer) bilden
6.7 Testsysteme zur Bestimmung der Permeabilität
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. Abb. 6.13a–c
a
b
c Calcein-AM ist ein lipophiler Ester, der rasch durch die Zellmembran penetriert. In der Zelle ist die Verbindung ein Substrat von verschiedenen Esterasen und wird zu Calcein umgesetzt (a). Calcein selbst ist zu hydrophil, um die Zelle wieder zu verlassen, sodass über das akkumulierende Calcein, die Zunahme der intrazellulären Fluoreszenz gemessen werden kann. Gleichzeitig ist Calcein-AM auch ein Substrat von P-Glykoproteinen, die es wieder aus den Zellen herausschleusen, bevor es von Esterasen umgesetzt werden kann (b). In diesen Zellen akkumuliert es nur dann intrazellulär, wenn ein P-Glykoprotein-Inhibitor hinzugesetzt wird (c)
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Moderne Bioassay-Methoden
wendeten Membran nachgewiesen werden. Dies erfolgt z. B. durch die Messung des transepithelialen elektrischen Widerstands (TEER), der einen Kontrollwert nicht unterschreiten darf. Mit der Messung der TEER-Werte wird bereits in den letzten Tagen vor dem Versuch begonnen, da sie zu Versuchsbeginn idealerweise einen stabilen Plateaubereich erreichen sollen. Eine zusätzliche Kontrolle ist über Verbindungen möglich, die eine Membran nur im geschädigten Zustand oder durch undichte „tight junctions“ passieren können. Verwendet wird nach einem Experiment beispielsweise 14C-markiertes Mannitol, dessen Konzentration auf der basalen (Akzeptor) und apikalen (Donor) Seite mit einem Szintillationszähler bestimmt werden kann. Eine weitere Möglichkeit ist die Verwendung von Fluorescein-Na und die photometrische Quantiizierung. Zur Durchführung des Transportversuchs wird die Substanzlösung zunächst in das apikale Kompartiment pipettiert. Nach festgelegten Zeitintervallen wird auf der basalen Seite ein deiniertes Volumen entnommen und die Substanzkonzentrationen bestimmt. Diese einfacheren Experimente können auch modiiziert werden, um aktive und passive Transportvorgänge von einander zu unterscheiden. Dazu können metabolische Inhibitoren zugegeben werden, die die Bildung von ATP unterbinden und selektiv die vorhandenen aktiven Transportsysteme verlangsamen oder ausschalten können. Auch ein entzündeter Status des Epithels kann durch die Zugabe von PMA oder Lipopolysacchariden (LPS) simuliert werden. Die Blut-Hirn-Schranke („blood–brain barrier“) stellt eine, morphologisch wie metabolisch, besonders „dichte“ und komplexe Barriere für Arzneistofe dar. Die wichtigsten In-vitro-Modelle für die Blut-Hirn-Schranke sind aus verschiedenen Lebewesen isolierte zerebrale Kapillarendothelzellen (aus Primärkulturen oder Zelllinien), die als Mono- oder Kokultur mit Astrozyten gezüchtet werden. Die Simulation von Transportprozessen an der Blut-HirnSchranke ist ein wichtiger Schritt bei der Suche nach herapieoptionen für die Alzheimer-Erkrankung, Hirntumore oder Meningitiden, da eine genügend hohe Konzentration des Arzneistofs diese Barriere passieren muss. Dies ist nicht nur durch die dort lokalisierten metabolisierenden Enzyme, sondern auch durch die P-Glykoproteine ein gravierendes Problem, da Letztere ein breites Substratspektrum besitzen und die aufgenommenen Substanzen wieder zurücktransportieren können. Entsprechend wird auch intensiv nach Verbindungen gesucht, die bei Koapplikation diese Transportmechanismen inhibieren können. Die Testung von Verbindungen mit P-gp inhibieren-
der Wirkung erfolgt entweder in subzellulären Strukturen oder in P-gp überexprimierenden Tumorzellen. Dazu wird beispielsweise die Aktivität von Zytostatika unter dem Einluss von möglichen P-gp-Inhibitoren bestimmt oder der Calcein-AM-Assay angewendet ( > Abb. 6.13).
6.8 Testsysteme mit Bezug zur Metabolisierung Für den Phase-I-Metabolismus spielen die mischfunktionellen Monooxygenasen aus der Cytochrom-P450-Familie (CYPs) eine entscheidende Rolle. Es handelt sich um membranständige Hämproteine, die auf der cytosolischen Seite des endoplasmatischen Retikulums lokalisiert sind. Durch die Einführung von funktionellen Gruppen erhöhen sie die Hydrophilie unpolarer Verbindungen und erleichtern damit die renale Ausscheidung. In der Regel sind die entstehenden Metabolite auch pharmakologisch weniger aktiv, sodass den CYPs auch eine wichtige Bedeutung bei der Detoxiizierung zukommt. Man geht davon aus, dass mehr als 90% des im Körper vorhandenen Cytochrom-P450-Gehaltes in der Leber lokalisiert ist. Die Cytochrom-P450-Enzyme, von denen im Menschen bisher mehr als 30 Isoformen gefunden worden sind, werden basierend auf Homologien in ihrer Primärstruktur in Familien und Unterfamilien eingeteilt. Zu den wichtigsten an der Arzneistofmetabolisierung beteiligten CYPs gehören die Genfamilien CYP1, CYP2 und CYP3. Unter diesen hat CYP3A4 ein besonderes Interesse gefunden, da es an der Biotransformation zahlreicher Arzneistofe beteiligt ist. Die Metabolisierung einer Verbindung kann auch über Phase-II-Reaktionen folgen. Es handelt sich dabei um Konjugationsreaktionen in deren Verlauf Transferasen sehr polare Moleküle wie die Glucuronsäure (UDP-Glucuronosyltransferase), Glutathion (Glutathion-S-transferase) oder ein Sulfatrest (Sulfotransferase) auf die funktionelle Gruppe eines Substrats übertragen werden. Häuig geht die Phase-I-Reaktion einer solchen Konjugation voran, um die entsprechende funktionelle Gruppe zu erzeugen. Eine gute Möglichkeit zur Untersuchung von Biotransformationsvorgängen, Interaktionen und Induktionsvorgängen sowie zur Bestimmung von hepatotoxischen und zytotoxischen Eigenschaten ist die Verwendung von (humanen) Hepatozyten. Obwohl ihre Gewinnung als ebenso aufwendig wie kostspielig gilt, werden sie u. a. auf Grund von guten In-vivo-/In-vitro-Korrelationen
6.8 Testsysteme mit Bezug zur Metabolisierung
in einem frühen Stadium der Arzneimittelforschung eingesetzt (Literatur bei Fröhlich 2004). Bedingt durch Speziesunterschiede im Rahmen von Biotransformationen gilt der Einsatz humaner Zellen als Methode der Wahl. Es werden jedoch auch von Ratten und Schweinen isolierte Hepatozyten verwendet, da gesundes humanes Lebergewebe nicht ausreichend verfügbar ist. Die Kultivierung erfolgt in Monolayern und Sandwich-Modellen, da die Lebensfähigkeit von suspendierten Hepatozyten im Bereich von wenigen Stunden liegt. Die metabolische Aktivität der in den Hepatozyten, aber auch in Mikrosomen vorhandenen Enzyme kann durch die Zugabe von speziischen Substraten selektiv quantiiziert werden (Markerreaktionen). Als Markerreaktion für die Aktivität der humanen CYP3A4
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gilt die Einführung einer Hydroxylgruppe im Testosteron an 6β-Position (Rendic u. Di Carlo 1997, > Abb. 6.14). Eine häuig verwendete Reaktion zur Bestimmung der Aktivität von Enzymen, die Glucuronsäure und Sulfat übertragen, beruht auf der Umsetzung von 4-Nitrophenol (Szotakova et al. 2004; > Abb. 6.14). Neben zellulären Testsystemen spielen bei Untersuchungen zur Biotransformation aber auch Mikrosomenpräparationen und gereinigte oder rekombinant gewonnene Enzyme eine wichtige Rolle. Wie wichtig und gleichzeitig auch problematisch Invitro-Untersuchungen zur Biotransformation auch für Naturstofe sind, ist eigentlich erst mit den Arbeiten über Extrakte aus dem Johanniskraut (Hypericum perforatum)
. Abb. 6.14a–c
a
b
c Markerreaktionen für metabolisierende Enzyme. a Für die humane CYP3A4 und die porcine CYP3A29 gilt die 6β-Hydroxylierung von Testosteron als Markerreaktion. b,c Für die Aktivitätsbestimmung von Glucuronyl- und Sulfotransferasen kann die Glucuronidierung und Sulfatierung von 4-Nitrophenol herangezogen werden
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Moderne Bioassay-Methoden
deutlich geworden. In den Mittelpunkt sind dabei vor allem Untersuchungen gerückt, die sich mit der Induktion und Inhibition von CYPs beschätigen. Nach der Anwendung von Johanniskrautextrakten kann es auf Grund einer (in vivo!) Induktion von CYP3A4 und P-gp zu einem klinisch relevanten Abfall der Blutspiegel von Cyclosporin und Indinavir kommen, die über Cytochrom-P450-Enzyme metabolisiert werden (vgl. dazu auch Kap. 26.10 und >Tabelle 26.18). An Hand der bisher vorliegenden Daten lässt sich dieser Efekt hauptsächlich auf das Phloroglucinderivat Hyperforin zurückführen. Für Hyperforin ist in vitro eine verstärkte Expression von CYP3A4 nachgewiesen, die auf der Ainität zum nukleären PregnanX-Rezeptor beruht (Moore et al. 2000). Gleichzeitig ist für Hyperforin und Hypericin, aber auch eine potente In-vitro-Inhibition von CYP3A4 beschrieben (Obach 2000), die sich aber klinisch nicht ausprägt. Ein unklares Bild bezüglich der In-vitro-Ergebnisse an CYPs und Hepatozyten ergibt sich beim Rauschpfefer (Piper methysticum, Kava-Kava). Kava- bzw. Kavain-haltige Arzneispezialitäten sind auf Grund einer negativen Nutzen-Risiko-Analyse durch das BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) seit 2002 nicht mehr auf dem deutschen Markt zu inden, wobei der Verdacht auf Hepatotoxizität geäußert worden ist (vgl. dazu auch Kap. 26.6). Ohne an dieser Stelle auf die sehr kontrovers diskutierten In-vivo-Daten einzugehen, ist festzuhalten, dass die in Hepatozyten und Enzymassays gewonnen Invitro-Daten ebenso heterogen wie unvollständig sind und noch keinen gesicherten Rückschluss auf eine Hepatotoxizität erlauben. Während beispielsweise in Untersuchungen mit rekombinant gewonnenen CYPs für die Kava-Lactone Methysticin, Desmethoxyyangonin und Yangonin eine signiikante Inhibition beobachtet werden konnte (Zou et al. 2004), wurde von Ma et al. 2004 für Desmethoxyyangonin and Dihydromethysticin in Rattenhepatozyten eine Expressionserhöhung von CYP3A23 beschrieben. Seit 2004 liegt unter Umsetzung einer EU-Richtlinie von Sei-
! Kernaussagen
Auf Grund ihrer großen Strukturvielfalt kann bei der Suche nach neuen Arzneistoffen und Leitstrukturen nicht auf Naturstoffe verzichtet werden. Die Auffindung und Gewinnung von biologisch aktiven Verbindungen, die in Pflanzen, Moosen, Pilzen und anderen Organismen vorkommen, wird durch die frühzeitige Eingliederung
6
ten des BfArM ein Entwurf zur Bewertung von möglichen pharmakokinetischen Arzneimittelinteraktionen mit Phytopharmaka vor. In diesem Papier ist vorgesehen, dass anhand der dem Institut vorgelegten Unterlagen (z. B. in Form einer Literaturübersicht) der Einluss eines Phytopharmakons auf Transportproteine, speziell P-Glykoprotein und die Aktivität des Cytochrom-P450-Systems, insbesondere CYP3A4, 2D6, 2C9, 1A2 und 2C19 deutlich werden soll. Inzwischen liegen für zahlreiche Naturstofe und Phytopharmaka In-vitro-Daten über eine Induktion oder Inhibition von CYPs vor. Es sei aber, auf Grund der oben aufgeführten Beispiele ein maßvoller Umgang mit diesen Ergebnissen empfohlen, da zahlreiche Gewürze und Genussmittel des täglichen Gebrauchs denen gesundheitsfördernde Aspekte zu geschrieben werden, z. B. schwarzer Tee, in vitro ebenfalls signiikante Induktionen hervorrufen können. Die Vielseitigkeit von Testsystemen, basierend auf Enzymen, die im Verlauf von Biotransformationen eine wichtige Rolle spielen, wird ebenfalls daran deutlich, dass sie auch als In-vitro-Assays zur Auindung von chemopräventiv wirksamen Substanzen eingesetzt werden. Im Rahmen der Chemoprävention versucht man, entweder der Krebsentstehung vorzubeugen, d. h. sie zu verhindern, oder sie zu verlangsamen oder sogar rückgängig zu machen. Substanzen, die diese Wirkung entfalten, bezeichnet man als chemopräventiv. Entsprechende Testsysteme untersuchen beispielsweise, inwieweit die metabolische Aktivierung von Karzinogenen oder Tumorpromotern durch CYPs verhindert werden kann. Ein anderer Ansatz sind Testsysteme, die sich mit der Aktivierung von detoxiizierenden Enzymen (Glutathion-STransferase) beschätigen. In den letzten Jahren hat das hema Chemoprävention, insbesondere im Zusammenhang mit einer gesunden Ernährung, zunehmend an Bedeutung gewonnen und zahlreiche Naturstofe, werden als Inhibitoren der Tumorentstehung diskutiert (Kinghorn et al. 2004). von In-vitro- und Ex-vivo-Testsystemen in den Isolierungsprozess erheblich erleichtert. Neben mehr oder weniger komplexen zellulären Testsystemen, die aus Zelllinien oder frisch isolierten Zellen bestehen, kommen auch solche zum Einsatz, die auf subzellulären Strukturen (Enzyme oder Rezeptoren) basieren. Auf die Isolierung und die chemische, physikalische Charakterisierung eines biologisch aktiven
6.8 Testsysteme mit Bezug zur Metabolisierung
Sekundärstoffs folgt (fast zwangsläufig) seine umfassende pharmakologische Charakterisierung und die Identifizierung der biologischen Zielstrukturen als der nächste logische Schritt. Entsprechend haben alle wichtigen Methoden aus der Zell- und Molekularbiologie auch in die Naturstoffchemie Einzug gehalten. Dazu gehören, um nur einige wichtige Beispiele zu nennen, verschiedene Blotting-Verfahren, die FACS Analyse, die Real-timeRT-PCR, die Genchips, die ELISA-Technologie oder die Transfektion von Zellen. Noch weitaus komplexer als die pharmakologische Charakterisierung von Einzelsubstanzen ist die Analyse der pharmakologischen Wirkung eines Extrakts. Ohne eine vorangehende exakte analytische und spektroskopische Charakterisierung des Extraktes, ist dieses Problem kaum lösbar. Wichtige Einsatzgebiete für Sekundärstoffe oder standardisierte Extrakte aus Pflanzen sind die Behandlung von entzündlichen Erkrankungen, Tumoren, Infektionen mit Protozoen sowie psychische Erkrankungen, sodass eine Vielzahl der existierenden Testsysteme in diesen Bereichen angesiedelt ist. Bei der Suche nach Verbindungen mit entzündungshemmenden Eigenschaften sind die Enzyme der Arachidonsäurekaskade PL, COX und LOX wichtige Zielstrukturen, aber auch Verbindungen, die als Antioxidanzien wirken oder Radikalfän-
gereigenschaften besitzen, zeigen ein interessantes antiinflammatorisches Potential. Verbindungen, die zur Behandlung von Krebs eingesetzt werden sollen, müssen eine selektive Toxizität gegen Tumorzellen besitzen und so ist die an verschiedenen Tumorzelllinien durchgeführte Analyse der Zytotoxizität ein wichtiges Einstiegselement für eine solche Suchstrategie. Häufig wird sie durch Testsysteme ergänzt, die die Beschreibung der dabei ablaufenden apoptotischen und nekrotischen Prozesse ermöglichen. Neben der Auffindung und pharmakologischen Charakterisierung von pflanzlichen Sekundärstoffen findet auch deren Resorption und Metabolisierung zunehmend Interesse. Ein wichtiges In-vitro-Modell zur Untersuchung der Resorptionsvorgänge am Dünndarmepithel ist die Caco-2-Zelllinie. Bei der Analyse von aktiven Transportprozessen werden in Testsystemen Transportproteine wie die P-Glykoproteine untersucht. P-Glykoproteine gehören zur großen Superfamilie der ABC-Transporter („ATP-binding cassette transporter“), die mit zur Multidrug-Resistenz beitragen. Testsysteme auf der Basis von humanen Hepatozyten liefern gute Modelle zur Beschreibung von Biotransformationsvorgängen. Im Rahmen von Phase-I-Reaktionen sind Untersuchungen an Enzymen aus der Cytochrom-P450-Familie bedeutsam, da ihre Hemmung oder Induktion Abbau gleichzeitig verabreichter Arzneistoffe beeinflussen kann.
Schlüsselbegriffe Aktiver und passiver Transport Antioxidative Aktivität Apoptose Arachidonsäurestoffwechsel Arnica Bioaktivitätsgeleitete Isolierung Blut-Hirn-Schranke Caco-2-Zellen Caspase Chemoprävention Curcumin Cyclooxygenase Cytochrom-P450-Familie Flavonoide Fluoreszenzaktivierte Zellanalyse (FACS) Gen-Chips Genexpression Hepatozyten
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Hypericum perforatum Hyperforin Inkorporationsassay Leitstruktursuche 5-Lipoxygenase Luciferase Metabolisierung Metabolische Aktivität MTT-Assay Myeloperoxidase NADPH-Oxidase Nekrose Normalisierung P-Glykoproteine Piper methysticum Oxidative burst Pharmakologische Charakterisierung von Naturstoffen Phospholipase
Plasmodium falciparum Polymorphkernige Leukozyten Positivkontrolle Primer Quencher Radikalfänger Real-time-RT-PCR Reportergene Resorption Strukturvielfalt Viabilität Zytotoxizität
147
148
6
Moderne Bioassay-Methoden
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149
7 7 Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen R. Hänsel, Th. Dingermann 7.1
In unveränderter Form genutzte Planzenstofe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154
7.2
Planzliche Sekundärstofe als Ideengeber (Leitstofe) für Arzneistofe . . . . . 7.2.1 Verbesserung bekannter Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Auswertung ethnomedizinischer Beobachtungen . . . . . . . . . . . . . . 7.2.3 Auswertung von Gitwirkungen am Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.4 Gitwirkungen auf Tiere als Primäranregung . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.5 Planzenphysiologische Beobachtungen als Primäranregung: Entdeckung der Indolylessigsäure als Pharmakophor . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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157 157 162 164 171
. . . . . . . . . . 180
7.3
Planzliche Einzelstofe als Rohstofquelle für Arzneimittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
7.4
Planzenstofe als Wirkstofe – Die wichtige Unterscheidung von Wirkstof und Arzneistof . . 183
7.5
Planzenstofe im Vergleich mit synthetischen Stofen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
152
7
Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
> Einleitung Vor kurzem hat man entdeckt, dass menschliche Zellen imstande sind, aus Dopamin Morphin zu synthetisieren (Boettcher et al. 2005). Somit vermag der Säugetierorganismus Biosynthesen auszuführen, die bis dahin als eine Domäne der grünen Pflanze angesehen wurden. Offensichtlich gibt es auf molekularer Ebene enge Beziehungen zwischen allen Formen von Lebewesen. Diese Sonderstellung der Naturstoffe ergibt sich auch daraus, dass die Wahrscheinlichkeit, mittels Screening eine biologisch aktive Substanz zu finden, im Bereich der Naturstoffe um zwei Zehnerpotenzen höher ist, als im Bereiche der etwa 1,5 Millionen synthetischer Substanzen. Im Abschnitt 7.5 wird auf diesen Unterschied zwischen Naturstoff und Synthesestoff näher eingegangen. Weitere Abschnitte lenken die Aufmerksamkeit aber auf jene sekundären Pflanzenstoffe, die heute in der Arzneitherapie Bedeutung haben, einmal unmittelbar in Form isolierter Reinsubstanzen, vor allem aber als partialsynthetisch modifizierte Varianten. Der letzte Abschnitt befasst sich mit sekundären Pflanzenstoffen, die zwar selbst pharmakologisch inaktiv sind, die sich aber partialsynthetisch in wichtige Arzneistoffe überführen lassen. Die weite Anwendung von Corticosteroiden und von Sexualhormonen (u. a. auch „der Pille“) wäre ohne diese natürlichen Ausgangsmaterialien kaum verwirklicht worden.
Fortschritte und Erfolge der modernen Arzneibehandlung gründen sich auf konsequente naturwissenschatliche Forschung. Dabei gibt es keine Monopolstellung einer Einzeldisziplin, die sich mit der Entwicklung von neuen Arzneimitteln befassen. Vielmehr sind die Arzneimittel der naturwissenschatlich orientierten Medizin das Ergebnis aus sehr unterschiedlichen methodischen Ansätzen. An den bahnbrechenden Pioniererindungen sind zahlreiche Wissenschatszweige beteiligt. Die wichtigsten sind in der > Tabelle 7.1 zusammengestellt. Überblickt man die Zeitspanne von etwa 200 Jahren Geschichte der Arzneimittelforschung, so stand die Entdeckung der chemischen Einzelsubstanz als Wirkprinzip bestimmter planzlicher Arzneizubereitungen am Beginn dieser Entwicklung. Die Isolierung des Morphins aus dem Opium im Jahre 1806 war das erste Beispiel dieser Vorgehensweise. Seither ist der deinierte Einzelstof das Kenn-
zeichen der Arzneimittel der naturwissenschatlich orientierten Medizin. Nur mit Reinsubstanzen können toxikologische, pharmakodynamische und pharmakokinetische Untersuchungen frei von Störungen durch Begleitstofe und Schwankungen im Wirkstofgehalt durchgeführt werden. Noch wichtiger aber ist, dass die Konstitution des wirksamkeitsbestimmenden Drogeninhaltsstofes bekannt sein muss, um Analoga des Naturstofs synthetisieren zu können. Nur in den wenigsten Fällen sind die genuinen Naturstofe für die gewünschte Anwendung optimiert. Ziele der Molekülvariation sind meist bessere Verfügbarkeit und größere therapeutische Breite. Dementsprechend ist die Liste der aus Arzneidrogen isolierten Planzenstofe, die in genuiner Form therapeutisch verwendet werden, nicht sehr umfangreich ( > dazu Abschnitt 7.1 und > Tabelle 7.2). Diese kleine Zahl an planzlichen Arzneistofen, die in unveränderter Form in der modernen Arzneitherapie verwendet werden, spiegelt jedoch die wahre Bedeutung der Planzenstofe für die Arzneitherapie in keiner Weise wider. An erster Stelle sei ihre Bedeutung als Ideengeber zur Entwicklung neuer Arzneimittel genannt. Nach wie vor ist ein Arzneimitteldesign, die Entwicklung von therapeutisch brauchbaren Stofen gleichsam am „Reißbrett“, eine Utopie: Die Arzneimittelforschung bleibt auf Anregungen aus den unterschiedlichsten Wissensgebieten angewiesen. Welche Primäranregungen für neue Arzneimittel auf Beobachtungen über Wirkungen von Planzenstofen zurückgehen, wird im Abschnitt 7.1 dargestellt. Rückblickend betrachtet, bewährten sich bei der Suche nach neuen Arzneistofen vor allem die folgenden Strategien: x Verbesserung bereits in Anwendung stehender Arzneistofe, x Auswertung ethnomedizinischer Beobachtungen und x Entwicklung von Planzengiten zu Arzneistofen. Damit ist die Bedeutung von Planzenstofen für die Arzneitherapie keineswegs erschöpt. Was nutzt ein Arzneistof mit brauchbarem Wirkungsproil, wenn er nicht in den erforderlichen Mengen für die Allgemeinheit zur Verfügung steht? Dies ist der Fall bei den Hormonen, die, zieht man tierische Drüsen zur Gewinnung heran, nur in winzigen Mengen vorkommen. Im Falle der Steroidhormone trit es sich glücklich, dass chemisch ähnlich gebaute Substanzen als Planzeninhaltsstofe autreten, in bestimmten Drogen in sehr in hohen Konzentrationen, um den Rohstof für chemische Partialsynthesen liefern zu
Einleitung
7
. Tabelle 7.1 Zur Chronologie der Arzneistoffentwicklung: Methoden bzw. Wissenschaftszweige, die zur Arzneimittelentwicklung beitragen, und Zeitpunkte ihrer ersten Auswirkung für die praktische Therapie Beginn der Auswirkung
Wissenschaftszweig/Methodik Phytochemie: Isolierung von Alkaloiden und Digitalisglykosiden
Seit 1805 (Morphin) bzw. seit 1867 („Digitalin“)
Synthetische organische Chemie
Seit 1880
Mikrobiologie: Fermentationstechnik
Seit 1942
Biochemie, biochemische Pharmakologie
Seit 1950 (Mehrzahl der heute verwendeten Arzneimittel)
Molekularbiologie, Gentechnologie
Seit 1978 (Humaninsulin)
Proteindomänen als Zielstrukturen
Bisher ohne
. Tabelle 7.2 Isolierte Reinsubstanzen phytogener Herkunft, die arzneilich verwendet werden Pflanzenteil
Inhaltsstoff
Anwendung
Artemisia annua
Kraut
Artemisinin (Qinghaosu)
Antimalariamittel (bei multiresistenter Malaria tropica)
Catharanthus roseus
Kraut
Vincristin und Vinblastin
Zytostatika, insbes. bei Leukämien
Cephaelis ipecacuanha
Wurzel
Emetin
Expektorans und bei Amöbenruhr (Protoplasmagift)
Cinchona-Arten
Rinde
Chinin, Chinidin
Malariamittel, Antiarrhythmikum
Coffea arabica und Coffea robusta
Samen
Coffein
Analeptikum, zentrales Stimulans
Colchicum autumnale
Samen, Knolle
Colchicin
Beim akuten Gichtanfall
Digitalis lanata
Blatt
Digoxin und Digitoxin
Herzinsuffizienz
Duboisia myoporoides u. D. leichhardtii
Blatt
Scopolamin
Als Antiemetikum
Erythroxylon coca
Blatt
Cocain
Lokales Anästhetikum
Galanthus nivalis
Kraut
Galanthamin
Bei Alzheimer-Erkrankung
Hyoscyamus muticus
Blätter
Hyoscyamin
Krämpfe im Verdauungstrakt
Papaver somniferum
Milchsaft (Opium)
Morphin, Codein
Analgetikum, Antitussivum
Physostigma venenosa
Samen
Physostigmin
Als Miotikum, als Antidot (Atropin, trizyklische Antidepressiva u. a. m.)
Silybum marianum
Früchte
Silybin (ein Isomerengemisch)
Lebertherapeutikum
Taxus brevifolia
Rinde
Taxol A (Paclitaxel)
Als Zytostatikum bei Ovarialkarzinom
Artname
153
154
7
Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
können. Im Abschnitt 7.2 wird diese Rolle von Planzenstofen als Rohstofquelle skizziert. Während der jahrzehntelangen Erforschung von Mikroorganismen auf der Suche nach immer neuen Antibiotika hatte eine Zeit lang das Interesse der Arzneimittelforschung an den Planzeninhaltsstofen stark nachgelassen. Mit dem Wandel des Krankheitsverständnisses unter dem Einluss der Molekularbiologie hat jedoch die Phytochemie in jüngster Zeit in Verbindung mit der neuen Forschungsrichtung der Proteomik neue Bedeutung erlangt. Ausgangspunkt ist die Schätzung, dass 98% aller Krankheiten von Proteinen beeinlusst werden, die fehlerhat, in zu geringen oder in zu großen Mengen oder aber auch am falschen Ort produziert werden. Die Aufgabe der Arzneimittelforschung innerhalb der Proteomikforschung besteht darin, Liganden für Proteine zu inden und damit Eingrifmöglichkeiten in ein pathologisches Geschehen auf Proteomebene. Nun ist allerdings die Zahl an menschlichen Proteinen viel zu groß, um quasi für jedes dieser Proteine einen passenden „Schlüssel“, d. h. einen niedermolekularen Liganden zu inden. Viele Proteine weisen jedoch in Form von Proteindomänen häuig wiederkehrende Bauelemente auf, d. h. die Zahl an Proteindomänen ist wesentlich kleiner als die Gesamtzahl der Proteine, die das menschliche Proteom ausmachen. Die bisherigen Forschungen haben gezeigt, dass gerade Planzenstofe ot hochspeziisch an bestimmte Proteindomänen binden. Auf den Unterschied von Planzenstofen und synthetischen Stofen wird in Abschnitt 7.5 eingegangen. Ein Stof, der an eine Proteindomäne andockt, zeigt in aller Regel eine biologische Wirkung, doch handelt es sich natürlich noch lange nicht um einen therapeutisch brauchbaren Wirkstof, d. h. über die Wirksamkeit ist damit noch lange nichts ausgesagt: Es fehlen Informationen über die Bioverfügbarkeit, über die Toxizität und über die therapeutische Wirksamkeit, die letztlich nur mittels klinischer Studien nachgewiesen werden können. Zwischen biologischen bzw. experimentell-pharmakologischen Wirkungen eines Stofes und seiner therapeutischen Wirksamkeit gilt es, streng zu diferenzieren. Diese wichtige Unterscheidung kommt im Abschnitt 7.4 zur Sprache.
7.1 In unveränderter Form genutzte Pflanzenstoffe Weltweit gesehen werden zwar einige tausend planzliche Arzneidrogen in Form von Extrakten und anderen planz-
lichen Arzneizubereitungen verwendet, allerdings außerhalb der naturwissenschatlichen Medizin. Demgegenüber ist die Zahl der in der wissenschatlichen Medizin aus planzlichen Arzneidrogen isolierten und als Arzneistofe verwendeten Substanzen sehr klein. > Tabelle 7.2 listet diejenigen Planzenstofe auf, die als aus Planzen isolierte Reinsubstanzen therapeutisch verwendet werden. Lassen sich genuine Pflanzenstoffe durch naturidentische Stoffe ersetzen? Planzenstofe können durch Ex-
traktion aus Drogen oder synthetisch hergestellt werden. Die Vorgeschichte eines Arzneistofes, ob Synthese- oder Naturprodukt, ist für dessen therapeutische Anwendung ohne Bedeutung. Zum Beispiel kann das für arzneiliche Zwecke verwendete Papaverin aus dem Opium stammen, es kann aber auch rein synthetischer Herkunt sein. Rein wirtschatliche Überlegungen bestimmen die Wahl. Im Allgemeinen können total synthetisch hergestellte Naturstofe nicht mit den durch Extraktion aus natürlichen Materialien hergestellten Produkten konkurrieren, da die Substanzen vielfach große Anforderungen an die stereochemische Reinheit stellen. Folglich werden in solchen Fällen die natürlichen Planzenstofe und nicht die naturidentischen Synthetika therapeutisch verwendet. Wie bereits gesagt, ist die Herkunt des Arzneistofes für dessen therapeutische Verwendung irrelevant. Das gilt allerdings unter einer Einschränkung: Beide Substanzen müssen chemisch rein, d. h. völlig identisch sein. Jeder arzneilich verwendeten Substanz können von der Gewinnung bzw. Herstellung her Verunreinigungen anhaten, und diese Beimengungen können sehr wohl von der Vorgeschichte abhängig sein. Eindrücklich lässt sich das am Beispiel Tryptophan (Strukturformel in > Abb. 7.1) zeigen. l-Tryptophan kann technisch auf verschiedenen Wegen gewonnen werden: x durch chemische Synthese und anschließende Racemat-Trennung, x durch enzymatische Hydrolyse von tierischen und planzlichen Proteinen (Hinweis: die erste Reindarstellung erfolgte auf diesem Wege aus Casein), x enzymatisch mittels Tryptophanase aus Indol und Pyruvat, x fermentativ, beispielsweise mittels Corynebacterium glutamicum und Glucose als Kohlenhydratquelle. x biotechnologisch durch genetisch optimierte Produktionsstämme, denen man zusätzlich noch Anthranilsäure anbietet.
7.1 In unveränderter Form genutzte Pflanzenstoffe
. Abb. 7.1
Tryptophan als Beispiel dafür, dass unerwünschte Arzneimittelwirkungen von der Vorgeschichte des Arzneimittels abhängig sein können. Bei der Herstellung, Reinigung und Lagerung können Umsetzungen erfolgen, die zu toxischen Verunreinigungen im Endprodukt führen. Im gentechnisch erzeugten L-Tryptophan wurden chromatographisch 16 verschiedene Verunreinigungen geortet, darunter mengenmäßig vorherrschend (bis 0,1%) das 1,1’-Ethyliden-bis (L-tryptophan). Eine Erklärung für die Toxizität des gentechnisch hergestellten Tryptophans wurde bisher nicht gefunden
Über Jahre hinweg wurde in den USA chemisch-synthetisch gewonnenes Tryptophan als Nahrungsergänzungsmittel bzw. als Sportlernahrung verwendet, ohne dass ernsthate Nebenwirkungen in Erscheinung traten. Im Jahre 1988 ersetzte eine japanische Firma das chemischsynthetische Herstellungsverfahren durch eine Fermentation aus Anthranilsäure, bei der eine gentechnisch erzeugte Mutante des Bacillus amyloliquefaciens zum Einsatz kam. Dieses biotechnologisch hergestellte Produkt gelangte auf den US-Markt, ohne dass diese Änderung den Behörden bekannt gegeben wurde. Innerhalb weniger Monate führte die Einnahme dieses Produkts zum Tode von 37 Menschen; mehr als 1500 erlitten bleibende Schäden (Mayeno u. Gleich 1994; Raphals 1990). Die durch das neue Produkt hervorgerufene Krankheit wurde als eosinophiles Myalgiesyndrom (Abkürzung: EMS) erkannt, benannt nach den Anfangssymptomen der Intoxikation: eine erhöhte Zahl an Eosinophilen im Blut und schwere Myalgie (Muskelschmerzen). Dieser Zwischenfall mit, wie gesagt, 37 Toten konnte in seiner Kausalität bisher nicht eindeutig aufgeklärt werden: Die Herstellerirma erklärte, sämtliche zur Fabrikation herangezogenen Bakterienstämme vernichtet zu haben, was eine präzise Ursachenforschung von unabhängiger Seite verunmöglichte. Die toxischen Produktionschargen enthielten sechs Verunreini-
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gungen, die mit dem Autreten von EMS korrelierten, darunter 1, 1ʹ-Ethyliden-bis-(l-tryptophan; > Abb. 7.1) und 3-Anilino-l-Alanin. Mit den chemisch identiizierten Kontaminanten war es jedoch nicht möglich, im Tierversuch die typischen Symptome der EMS hervorzurufen. Lanciert wurde auch die Möglichkeit, dass eine Änderung in der chemischen Aubereitung des Fermentationsansatzes – 10 kg Holzkohle anstelle von zuvor 20 kg (zum Herausiltern von Verunreinigungen) – sei der Grund für die Toxizität des Produktes. Wirkung, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit von Naturstofen sind an den Reinheitsgrad gebunden. Nicht nur bei der Herstellung, auch bei der Reinigung und Lagerung von entsprechenden Produkten können chemische Umsetzungen vor sich gehen, was zu hochwirksamen toxischen Substanzen führen kann. Hinweis. Der oben geschilderte „Tryptophan-Fall“ war Anlass, über die Deinition eines Wirkstofmoleküls neu nachzudenken. Ofensichtlich war es nicht ausreichend, ein solches Molekül nur über chemische und physikalische Parameter, wie Summenformel, Konstitutionsformel, Schmelzpunkt, optische Drehung usw., zu charakterisieren. Diese Parameter deinieren zwar das „gedachte Molekül“ eindeutig. Ofensichtlich deinieren sie aber nicht das vorliegende „Wirkmolekül“ eindeutig. Denn der „Tryptophan-Fall“ belegt, dass es ofensichtlich ein gut verträgliches Wirkmolekül „Tryptophan“ und ein in hohem Maße bedenkliches Wirkmolekül „Tryptophan“ geben kann. Der Unterschied der beiden Wirkmoleküle liegt in den unterschiedlichen Herstellungsprozessen. Konsequenz dieses Nachdenkprozesses war in der Tat eine Neudeinition des pharmazeutischen Wirkstofs, die sich mit dem Slogan „the process is the product“ charakterisieren lässt. Alle gentechnisch hergestellten Produkte und immer mehr biotechnisch hergestellte Produkte folgen heute dieser Neudeinition. Das heißt, zusätzlich zu chemisch/physikalischen Charakteristika geht der ganz spezielle Herstellprozess mit in die Deinition des Wirkstofs ein. Das ist der Grund, weshalb heute vier chemisch identische Insulinmoleküle oder fünf chemisch identische Wachstumshormonmoleküle zugelassen sind, die regulatorisch alle als eigenständige Wirkstofe betrachtet werden. Alle diese Wirkstofe haben ein komplettes Zulassungsprogramm durchlaufen. Sicherlich wird diese Wirkstofdeinition mittelfristig auch auf chemisch-synthetische Wirkstofe ausgeweitet werden, eine Konsequenz mit großer Tragweite, denn längst werden heute Wirkstofe auf „Spot-Märk-
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Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
. Tabelle 7.3 Pflanzenstoffe, die als Reagenzien für pharmakologische, physiologische und biochemische Untersuchungen häufiger verwendet werden Herkunft
Verwendung
Aconitin
Aconitum napellus L.
Zur Testung von Substanzen mit potentiell antiarrhythmischer Wirkung. Hinweis: Aconitin aktiviert anhaltend Na+-Kanäle, Infusion verursacht bei Ratten ventrikuläre Arrhythmien
Betulinsäure
Borke von Platanen (Platanus × acerifolia L.)
Zur Auslösung von Apoptose
Bicucculin
Aus Wurzeln von Corydalis cava (L.) CLAIRV.
Zur Prüfung auf antiepileptische Wirkung. B. ist ein GABAA-Antagonist
Concanavalin A
Samen der Schwertbohne (Canavalia ensiformis DC.)
Stimulans i. d. Lymphozytenkultur; zur Messung immunmodulierender Wirkungen
Forskolin
Kraut von Coleus forskohlii (POIR.) BRIQ. (Lamiaceae)
Unentbehrlich zur Untersuchung des Adenylatcyclase-Systems
Grayanotoxin-I (tetrazyklisches Diterpen)
Leucothoe grayana MAXIM. (Ericaceae)
Zur artifiziellen Erzeugung von Herzarrhythmien; Screening auf Antiarrhythmika
Kainsäure (Digensäure)
Digenea simplex und Centroceras clavulatum (Rotalgen)
In der Neurologie zur Prüfung auf Glutamatantagonismus im ZNS
Picrotoxin
Früchte von Anamirta cocculus WIGHT et ARN. (Menispermaceae)
Potenter GABA-Antagonist; zur Prüfung auf antikonvulsive Wirkung
Physostigmin
Samen von Physostigma venenosa BALF. (Kalabarsamen)
Vergleichssubstanz b. d. Testung von Cholinergika und Miotika
Ouabain (g-Strophanthin)
Samen von Strophanthus gratus WALL. et HOOK.
Zur Erzeugung von Herzarrhythmien am lebenden Tier und Prüfung auf Antiarrhythmikawirkung
Rauwolscin (= D-Yohimbin)
Wurzel von Rauvolfia tetraphylla L. (Synonym: R. canescens L.)
Rezeptorbindungsstudien (D2-Adrenozeptoren) mit 3H-Rauwolscin als Ligand
Reserpin
Wurzel von Rauvolfia serpentina (L.) BENTH.
Prüfung auf antidepressive Wirkung: Modell der Reserpin-induzierten Hypothermie
Strychnin
Samen von Strychnos nux- vomica L.
Bindet an Glycinrezeptoren, erzeugt Krämpfe: zur Prüfung auf anxiolytische und antikonvulsive Wirkung
Substanz
ten“ in Teilen der Welt gekaut, in denen billiger produziert werden kann als in den klassischen Industrieländern. Schwierig ist es, für diese Produkte genaue Herstellungsinformationen zu erhalten, sodass man sich nicht zu wundern braucht, wenn die Zuverlässigkeit (bezüglich Wirksamkeit und Unbedenklichkeit) mancher Arzneimittel eher ab- als zunimmt.
Pflanzenstoffe in der Grundlagenforschung. Die Grundlagenforschung ist von dem Ziel bestimmt, Mechanismen und Bedingungen biologischer Wirkungen von biologisch aktiven Stofen, vornehmlich von Arzneistofen, aufzuklären. Dazu gibt es zwei unterschiedliche Vorgehensweisen. Man wählt ein entsprechendes biologisches Versuchsmodell und misst, welche Abweichungen vom physiologi-
7.2 Pflanzliche Sekundärstoffe als Ideengeber (Leitstoffe) für Arzneistoffe
schen Zustand des Systems durch den Prüfstof hervorgerufen werden. Die zweite, wichtigere Vorgehensweise: Das biologische System (Ganztier, Organ, Gewebe, Zelle usw.) wird durch Zusatz bzw. Verabreichung einer biologisch wirksamen, meist toxischen Substanz aus der physiologischen Norm gebracht. Die Prüfsubstanz kann in messbarer Form diese Veränderung rückgängig machen (Antagonismus), verstärken (Agonismus) oder unbeeinlusst lassen. > Tabelle 7.3 listet biologisch wirksame Planzenstofe auf, die häuig für Versuchszwecke herangezogen werden. Zur Konkretisierung sollen drei Substanzen der > Tabelle 7.3 herausgegrifen und die Art ihrer Anwendung als Testsubstanzen kurz beschrieben werden. x Zunächst ein Beispiel für Vorgehensweise 1: Apoptoseinduktion durch Betulinsäure. Betulinsäure (zur Chemie > Abschnitt 24.5.5) dient als Reagens, um gezielt Apoptose von Krebszellen auszulösen. Nachweisen lässt sich Apoptose von Einzelzellen u. a. an charakteristischen morphologischen Veränderungen, die unter dem Mikroskop erfasst werden. Der Nachweis, ob in einem Gewebe Apoptose stattgefunden hat, beruht auf dem gelelektrophoretischen Nachweis der für die Apoptose typischen DNA-Fragmentierung, der so genannten DNA-Leiter. x Concanavalin A ist eines der zahlreichen planzlichen Mitogene, die zur Funktionsprüfung von Lymphozyten herangezogen werden können. Die Lymphozyten werden aus der Blutprobe isoliert; nach Stimulation (Zugabe einer bestimmten Dosis an Mitogen) wird die Proliferationskapazität über die gesteigerte DNA-Syntheserate durch Einbau von radioaktiv markiertem 3H-hymidin gemessen. x Ein Beispiel für Vorgehensweise 2: Nachweis von Aconitin-Antagonismus. Aconitin (zur Chemie > Kap. 27.14.1) aktiviert anhaltend Natriumkanäle. Die Infusion einer Aconitinlösung verursacht in bestimmter Dosis bei anästhetisierten Ratten ventrikuläre Arrhythmien. Sollen Substanzen auf antiarrhythmische Wirkung geprüt werden, werden sie dem Versuchstier vor der Aconitingabe verabreicht. Die Wirkung wird dadurch angezeigt, dass eine höhere Aconitindosierung erforderlich ist, um ventrikuläre Extrasytolen, ventrikuläre Tachykardie oder Kammerlimmern zu induzieren. Die Dosisdiferenz ist ein Maß für die antiarrhythmische Aktivität der Prüfsubstanz.
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7.2 Pflanzliche Sekundärstoffe als Ideengeber (Leitstoffe) für Arzneistoffe Wenn ein potentiell als Arzneistof brauchbares Molekül gefunden wurde, verfügt der Arzneimittelchemiker über ein ganzes Arsenal von Techniken, um dieses „Leitmolekül“ zu optimieren. Ein früher fast ausschließlich begangener Weg dazu lässt sich als Versuch und Irrtum kennzeichnen. Man synthetisiert analoge, isomere oder isostere Verbindungen des Leitmoleküls. Beliebt ist auch die Modiikation oder der Austausch von Ringsystemen. Neuere Varianten der Molekülabwandlung und Arzneistofoptimierung beruhen auf dem computergestützten Arzneistofdesign, indem mittels Molekularmodellierung die pharmakophore Gruppe identiiziert wird, die dann bei weiteren Molekülabwandlungen als konstanter Teil beibehalten wird. Röntgenstrukturanalyse und Hochfeld-NMRKennzeichnung von Arzneistof-Rezeptor-Wechselbeziehungen erleichtern die gezielte Synthese neuer Varianten, die selektiver wirksam und zugleich weniger toxisch sind. Die eigentliche Schwierigkeit besteht darin, die chemische Arzneimittelforschung erst einmal auf eine gute Fährte zu bringen: Arzneistofe können nicht aus irgendeiner heorie heraus entwickelt werden. Nach wie vor muss eine Modellsubstanz (Leitstruktur) erst einmal entdeckt werden. Der Abschnitt 7.2 bringt Beispiele dafür, welche Rolle Planzenstofe bei der Auindung von Leitstrukturen gespielt haben. Bekannte Leitstrukturen chemisch zu variieren, kann aber auch aus rein ökonomischer Zielsetzung heraus erfolgen, beispielsweise wenn für die Varianten Patentschutz beantragt werden kann, nicht aber für die Modellsubstanz selbst. Für Planzenstofe als Modellsubstanz trit das in der Regel zu. Die weitere Abwandlung von bereits patentierten Arzneistofen führt zu den abschätzig als „Me-tooPräparate“ bezeichneten Arzneimitteln.
7.2.1 Verbesserung bekannter Strukturen Vom Khellin zum Cromoglycat Khellin gewinnt man durch Extraktion aus den Früchten von Ammi visnaga (L.) Lam. (Näheres > Kap. 26.3.7) in Form gelblicher, in Wasser praktisch unlöslicher Kristalle von bitterem Geschmack. Die Substanz besitzt spasmolytische Eigenschaten, die sich auf die Koronargefäße, die
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Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
. Abb. 7.2
Khellin, ein Inhaltsstoff der Ammi-visnaga-Früchte, diente als Leitstoff für die Synthese der Cromoglycinsäure. Die folgenden Überlegungen waren maßgeblich: 1. die Vereinfachung des Naturstoffmoleküls vom Furanochromon zum Chromon; 2. die Verbesserung der Wasserlöslichkeit, indem eine Methyl- durch eine Carboxylgruppe ersetzt wird; 3. der Versuch, die Wirkung zu verstärken, indem der Chromonteil durch Bildung eines Diethermoleküls verdoppelt wird
Bronchien, den Magen und Darm, die Gallenwege sowie die ableitenden Harnwege auswirken. Die Lipoidlöslichkeit der Substanz bedingt zentrale Nebenwirkungen in Form von Schläfrigkeit, Benommenheit und Kopfschmerzen. Das Khellinmolekül wurde vielfältigst modiiziert mit dem Ziel, stärker polare, weniger ZNS-gängige Varianten zu erhalten. Im Falle der Cromoglycinsäure diente die Bindung an Glycerol und der Ersatz von Methyl durch Carboxyl diesem Ziel, das Molekül polarer zu machen: Zusätzlich sollte die Wirkung durch Verdoppelung der pharmakophoren J-Pyronstruktur verstärkt werden ( > Abb. 7.2). Verwendet wird Cromglycinsäure in Form des DiNatriumcromoglycats (DNCG). DNCG wurde nicht, wie bei neuen Substanzen üblich, zuerst im Tierversuch geprüt, sondern gleich am Menschen. Da es keine Spasmolysewirkung auf die glatte Muskulatur aufweist, wäre es bei tierexperimenteller Prüfung als unwirksam verworfen worden. Bei der Prüfung an Asthmatikern ergab sich überraschend, dass es, prophylaktisch gegeben, einen durch Allergene indizierbaren Asthmaanfall zu unterdrücken vermag. Asthma bronchiale ist primär eine chronisch-entzündliche Erkrankung: DNCG greit in das Entzündungsgeschehen in einem Spätstadium ein, indem es als Tachykininrezeptorantagonist die nach nozizeptiver Reizung von Neuronen induzierte Tachykininausschüttung unterdrückt. Ferner hemmt DNCG die Zytokinausschüttung sowie die PAF-Wechselwirkung mit den Eosinophilen (PAF = Plättchenaggregationsfaktor). Die Hemmung von Entzündungsmediatoren führt schlussendlich zu einer reduzierten Belastung mit Entzündungszellen. Das Beispiel der Modiikation des Naturstofs Khellin zeigt zweierlei:
1. Ein nach bewährten chemischen Praktiken modiiziertes Molekül kann überraschend ein vom Modell stark abweichendes Wirkungsspektrum aufweisen. 2. Ohne Prüfung des neuen Stofs am kranken Menschen wäre die Wirksamkeit der Beobachtung entgangen: Das DNCG ist somit auch ein Beispiel für die Entdeckung eines neuen Wirkstofs und Wirkprinzips durch eine Zufallsbeobachtung am Menschen.
Morphin, ein vielfältig modifizierter Naturstoff Zwischen der Entdeckung des Morphins durch Sertürner und der Konstitutionsauklärung durch Robinson und Schöpf liegt ein Zeitraum von 120 Jahren. Solange die Konstitution unbekannt war, musste die Variation des Morphinmoleküls auf einfache Derivatisierung beschränkt bleiben. Ziel in dieser Periode war es, Derivate zu inden, die in ihrer analgetischen Wirksamkeit das Morphin erreichen oder gar übertrefen, denen aber ein vermindertes Abhängigkeitspotential zukommt. Das erste halbsynthetische Opioid war das Diacetylmorphin (Synonym: Diamorphin), bekannter unter dem Namen Heroin (engl.: hero >Held@, wohl wegen der angstlösenden Wirkung). Es gelangte 1898 als Hustenmittel auf den Markt, wobei vor allem damit geworben wurde, dass es nicht süchtig mache. Mehr als 25 Jahre lang blieb Ärzten, Behörden und „Interessenten“ die euphorisierende Wirkung verborgen. Die orale Verabreichung verschleierte die Gefährlichkeit des Heroins: Das langsame Anluten verhindert, dass die Patienten einen plötzlichen Rauschzustand erleben, im Unterschied zum „Kick“ nach i.v.-Injektion. Weit über 100 chemische Abwandlungen des Morphins und des hebains wurden hergestellt und ausge-
7.2 Pflanzliche Sekundärstoffe als Ideengeber (Leitstoffe) für Arzneistoffe
7
. Abb. 7.3
Struktur und Konformation einiger einfacher Molekülvarianten des Morphins, die dadurch charakterisiert sind, dass die charakteristische Etherbrücke beibehalten wurde. Eine Vergrößerung des Substituenten am N-Atom, beispielsweise der Ersatz von N-Methyl durch N-Allyl oder N-Methylcyclopropyl, macht aus Opiatrezeptoragonisten wirksame Antagonisten
dehnten pharmakologischen Prüfungen unterzogen, darunter die heute noch verwendeten halbsynthetischen Substanzen Oxycodon und Hydrocodon ( > Abb. 7.3). Bemerkenswert ist: Der Ersatz der N-Methylgruppe des Piperidinringes durch andere Substituenten macht aus Agonisten Opiatrezeptorantagonisten. Sobald die Konstitution von Morphin und hebain bekannt waren, dienten diese beiden Naturstofe als Leitsubstanzen für synthetische Opioide vom Typus der Morphinane, der Benzomorphane und der Piperidine (Typus: Meperidin >Pethidin@). Die Morphinane zeigen noch das volle Phenanthrengerüst des Morphins, jedoch ohne die Etherbrücke. In den Benzomorphanen (Beispiel: Pentazocin) ist das tetrazyklische zum trizyklischen Ringsystem verkürzt. Noch stärker vereinfacht sind die Piperidinderivate. Bestimmte Teilstrukturen der Leitstofe mussten allerdings bei der Molekülvariation beibehalten werden, sofern man nicht die Darstellung wirkungsloser Substanzen riskieren wollte. Die für die pharmakologische Wirkung relevanten Partialstrukturen der Leitsubstanzen bezeichnet man als Pharmakophor (griech.: pharmakon >Arznei@, férein >tragen@. Im Falle der Opioidleitstrukturen stellt der durch einen Piperidinring substituierte Aromat den Pharmakophor dar ( > Abb. 7.4). Wie man inzwischen weiß, ermöglicht es diese pharmakophore Teilstruktur mit ihrer dreidimensional festgelegten Verknüpfung zwischen dem Piperidinstickstof und dem Aromaten,
eine günstige Bindung an die µ-Opiatrezeptoren einzugehen. Öfnen des Piperidinringes führt zu Wirkungsverlust, allerdings mit einer bemerkenswerten Ausnahme, dem Methadon (Handelsname: Polamidon), einer Substanz, die in ihrer Wirkungsintensität das Morphin sogar übertrit. Von vielen Hunderten synthetischer Morphinvarianten haben insgesamt nur einige wenige Eingang in die herapie gefunden. In pharmakologischer Hinsicht lassen sich die verschiedenen Morphinvarianten in drei Gruppen einteilen: x Opioidrezeptoragonisten wie z. B. Morphin, Dihydroderivate wie Oxymorphan, Morphinane wie Levorphanol und Methadon; x Opiatrezepotorantagonisten: Beispiel Naloxon und Naltrexon; x partielle Opiatrezeptoragonisten/-antagonisten: z. B. Pentazocin (stark agonistisch, schwach antagonistisch), Buprenorphin (stark agonistisch, schwach antagonistisch) und Nalorphin (schwach agonistisch, stark antagonistisch). So viele Varianten auch synthetisiert worden sind, alle vom Morphin chemisch abgeleiteten Analgetika wirken qualitativ gleichartig. Sie beeinlussen lediglich den langsamen, chronischen („zweiten“) Schmerz, nicht aber Schmerzempindungen vom Typus des schnellen („ers-
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Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
. Abb. 7.4
Grundstrukturen von halb- und totalsynthetischen Opiaten, die sich auf das Morphin oder Thebain als Leitstruktur zurückführen lassen. Überbückung des C-14 mit dem C-6 durch Einbau einer Ethylenbrücke führt zu einem sehr starren Morphin-Thebain-Molekülgerüst: Allein von diesem Typus sind über 100 Varianten beschrieben. besonderes Interesse beansprucht das Buprenorphin, ein partieller Morphinagonist an µ-Rezeptoren. Schält man aus dem Morphingerüst die Phenylpiperidinstruktur heraus, so gelangt man zu der Gruppe der Piperidine, zu denen das Pethidin gehört, ein klinisch viel verwendetes Hypnoanalgetikum. Noch stärker vereinfacht sind die Methadonderivate, die allerdings, historisch gesehen, nicht in direkter Anlehnung an das Morphinvorbild entwickelt worden sind. Morphinane unterscheiden sich von den Morphinen wesentlich durch Wegfall der Etherbrücke. Zur Morphinanreihe gehört als klinisch genutzter Vertreter das Dextrometorphan, ein Arzneistoff, der als Hustenblocker verwendet wird. Wird der Morphinantyp durch Weglassen des Ringes C weiter vereinfacht, gelangt man zu den Benzomorphanen mit dem Pentazocin als therapeutisch genutztem Vertreter. R = Phenyl
ten“) Schmerzes. Hinweis: Ein Schmerzreiz verursacht zuerst eine „helle“, scharfe, gut lokalisierte Empindung, auf die ein dumpfes, bohrendes, difuses unangenehmes Gefühl folgt. Vermittelt wird der gut lokalisierbare, scharfe „erste“ Schmerz durch die AG2-Fasern (Reizleitungsgeschwindigkeit 20 m/s), der chronische, schwer lokalisierbare dumpfe Schmerz durch die C-Fasern (Reizleitungsgeschwindigkeit 1 m/s). Bei schwer chronischen Schmerzen, vorausgesetzt dass hinreichend dosiert wird, ist der Naturstof Morphin nach wie vor das sicherste und wirksamste Analgetikum.
Das klassische Beispiel: Von der Spiersäure zum Aspirin Spiersäure ist die ältere Bezeichnung für Salicylsäure, die Karl Jacob Löwig 1853 aus dem ätherischen Öl der Spierstaude, Spiraea ulmaria (L.), bzw. Filipendula ulmaria (L.) Maxim. (der heute gültige Name) in Form einer farblosen kristallinen Substanz isoliert hatte. Der Name Salicylsäure beansprucht gegenüber Spiersäure Priorität, weil die gleiche Substanz zuvor schon als Oxidationsprodukt des Salicylalkohols beschrieben worden war. Der Konstitutionsaukärung folgte rasch die Synthese, wodurch die Substanz
7.2 Pflanzliche Sekundärstoffe als Ideengeber (Leitstoffe) für Arzneistoffe
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. Abb. 7.5
Salicin, ein Inhaltsstoff der Weidenrinde, bildete das Modell für Arzneistoffe mit analgetischer und antipyretischer Wirkung. Die Entwicklung zum Aspirin (Acetylsalicalsäure) verlief auf Umwegen. Zunächst wurde aus dem Salicin durch Glykosidspaltung und oxidative Eingriffe Salicylsäure hergestellt. Später zeigte sich, dass sich die Säure auch aus anderen Pflanzen, so aus dem Spiraea-ulmaria-Kraut (Mädesüßkraut) gewinnen lässt. Der Name Aspirin erinnert an das Vorkommen der Stammsubstanz Salicylsäure in der Spierstaude
leicht in großen Mengen zugänglich wurde. Zunächst wurde Salicylsäure, eine bitter schmeckende und schleimhautreizende Substanz, in Grammdosen gegen Gelenkrheuma verwendet. Die spätere Verwendung in Form des Natriumsalzes brachte zwar, was den Geschmack anbelangt – es weist süßen Geschmack auf – eine Verbesserung, nicht aber hinsichtlich der Reizwirkung auf die Magenschleimhaut. Nach dem Prinzip der Molekülabwandlung stieß man dann 1897 auf die Acetylsalicylsäure ( > Abb. 7.5), die unter dem Warenzeichen Aspirin vermarktet wurde. Im Namen Aspirin steht „A“ für Acetyl und „spir“ für Spiersäure. Nunmehr über 100 Jahre hinweg ist das Aspirin das am häuigsten verwendete Arzneimittel geblieben.
Camptothecins aufmerksam: auf die Hemmung der DNATopoisomerase I. Durch diesen Wirkungsmechanismus unterschied sich die Substanz von allen damals bekannten Kanzerostatika, speziell von den Podophyllotoxinen und den Anthracyclinen, die alle die DNA-Topoisomerase II hemmen. Darauhin wurden die arzneimittelchemischen Untersuchungen erneut aufgenommen mit dem Ziel, die therapeutische Breite des Camptothecins zu erweitern. Von den vielen Varianten des Camptothecins erwiesen sich schließlich zwei relativ einfache Abkömmlinge als brauchbar: das Topotecan und das Irinotecan ( > Abb. 7.6). Die beiden partialsynthetischen Abwandlungsprodukte sind weltweit zur Behandlung metastasierender Ovarialkarzinome bzw. kolorektaler Karzinome zugelassen. Anhang: DNA-Topoisomereasen. In den Chromosomen
Camptothecin: Einführung einfacher Substituenten erweitert die therapeutische Breite Als Ergebnis einer systematischen Prüfung chinesischer Arzneiplanzen auf tumorhemmende Wirkung stieß man 1965 auf den in China und Tibet beheimateten Laubbaum Camptotheca acuminata Decne. Aus Holz, Rinde und Blatt wurden mehrere Indolalkaloide isoliert, darunter das Camptothecin (Näheres zur Chemie > Abschnitt 27.11.8). Nach entsprechenden Phase-I-Studien wurde Campothecin am Menschen auf seine Wirksamkeit bei gastrointestinalen Krebserkrankungen geprüt, doch mussten die Studien wegen zu hoher Allgemeintoxizität abgebrochen werden. Einige Jahre später machten Biologen auf den einzigartigen molekularen Wirkungsmechanismus des
ist bekanntlich DNA dichtest verpackt, wobei alle Organisationsebenen das nämliche Verpackungsprinzip, nämlich Spiralisierung von Spiralen zeigen. Die Topoisomerasen bilden eine Gruppe von Enzymen, die ebenfalls zu den Grundbestandteilen von Chromosomen gehören. Sie helfen dabei mit, die enge Verpackung der DNA – vom DNAFaden über das Nucleosom, die Perlschnurform des Chromatins, weiter über Schleifen, Rosetten, Windungen und Windungen von Windungen zur Chromatide – zu ermöglichen. Außerdem werden sie gebraucht, wenn die Verpackung gelockert werden muss, um die DNA für die Transkription zugänglich zu machen. Es sind zwei Typen dieser Enzyme bekannt. Sie sind beide im Zellkern in genau ausbalancierten Mengen vorhanden und sie ergänzen einander funktionell. Topoisomerasen vom Typus I sind in der Lage, die Verwindungszahl (auch Linkage-Zahl) der DNA
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Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
. Abb. 7.6
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Camptothecin und zwei nur leicht partialsynthetisch abgewandelte Vertreter. Irinotecan ist durch einen Ethyl- und einen Bipiperidinyl-Rest substituiert, das Topotecan durch einen Dimethylaminoethyl-Rest und eine Hydroxygruppe
in positiver Richtung um den Wert 1 zu erhöhen (Lk = +1), während Topoisomerasen vom Typus II (auch als Gyrasen bezeichnet) die Verwindungszahl um den Wert 2 reduzieren (Lk = 2).
Vom Reserpin zum Mebeverin Reserpin ( > dazu den Abschnitt 27.11.6, Rauwoliaalkaloide) ist ein an sich hochwirksames Molekül und zudem bei Indikationen von großer klinischer Bedeutung wirksam, so bei arterieller Hypertonie und bei Psychosen des schizophrenen Formenkreises. Leider verhindert das ungünstige Nebenwirkungsproil seine breite Anwendung sowohl als Antihypertonikum als auch als Neuroleptikum. In den vorangegangenen Abschnitten haben wir eine ganze Reihe von arzneimittelchemischen Abwandlungsmöglichkeiten zur Verbesserung der Leitstruktur kennen gelernt. Am Beispiel des Mebeverins ist versucht worden, den komplizierten Naturstof stark zu vereinfachen. Dieses Vorgehen, wenn es erfolgreich ist, birgt zugleich den Vorteil in sich, die synthetische Herstellung zu ermöglichen, sie zumindest zu erleichtern. Die > Abb. 7.7 lässt erkennen, welche Teilstruktur des Mebeverins im Reserpin erhalten geblieben ist. Allerdings erwies sich das vereinfachte Reserpin in keiner seiner pharmakologischen Eigenschaten als dem Reserpin ähnlich. Mebeverin bindet nicht an die Speichergranula für biogene Amine, es zeigt keine antihypertensiven und auch
keine neuroleptischen Eigenschaten. Pharmakologische und klinische Untersuchungen ergaben überraschend, dass im Mebeverin aber ein therapeutisch brauchbares Spasmolytikum vorliegt. Es wirkt überdies lokalanästhesierend, was sich aus seiner Molekülstruktur erklären lässt: Mebeverin zeigt im chemischen Aubau charakteristische Elemente der Lokalanästhetika vom Lidocaintyp.
7.2.2 Auswertung ethnomedizinischer Beobachtungen Die Ethnomedizin im eigentlichen Sinne ist eine anthropologische Disziplin. Sie beschreibt Konzepte von Gesundheit, Krankheit und Heilung in Ethnien und Populationen jedweder Provenienz. Sie vergleicht die verschiedenen Heilweisen und sammelt und beschreibt die verwendeten Heilmittel. Sie versucht eine wissenschatlich fundierte Bewertung aller Verfahren, die nicht mit den Begriffen der naturwissenschatlich orientierten Medizin erfasst werden können. Im Folgenden wird „Ethnomedizin“ eingeengt in den drei folgenden Bedeutungen benutzt: x im Sinne von vorzugsweise „Volksmedizin“, x im Sine von vorzugsweise „ethnobotanisches Screening“ und x im Sinne von vorzugsweise „traditionelle Medizinsysteme“
7.2 Pflanzliche Sekundärstoffe als Ideengeber (Leitstoffe) für Arzneistoffe
7
. Abb. 7.7
Denkt man sich das Reserpinmolekül entlang der gestrichelten Linie geteilt, so erkennt man, dass die Struktur des Mebeverins in etwa der oberen Molekülhälfte des Reserpin entspricht. Das in dieser Weise vereinfachte Reserpin zeigte jedoch entgegen der Erwartung keine für das Reserpin typischen Eigenschaften. Es wirkt lokalanästhetisch, was sich aus einer Strukturähnlichkeit mit Lokalanästhetika vom Lidocaintyp gut erklären lässt. Verwendet wird es als muskulotropes Spasmolytikum
Der nachfolgende Abschnitt folgt in der Gliederung dieser Dreiteilung. Dabei gibt es mannigfache Überschneidung, was durch den Zusatz „vorzugsweise“ angezeigt wird. Volksmedizin ist die wörtliche Übersetzung des Fachwortes Ethnomedizin (griech.: éthnos >Volk@). Mit dem Begrif „Volksmedizin“ verbinden sich sogleich Assoziationen hin zu Aberglauben und magischen Vorstellungen. „Irrtum übertrit den wahren Gehalt“ tausendfach (Diepgen 1928). Zu den wenigen Beispielen mit realem Hintergrund gehören z. B. aus dem Überlieferungsschatz des deutschen Sprachraums (Posner 1913), wenn Aufgüsse aus Seetang gegen Kropf verwendet worden sind (Iodwirkung) oder wenn Weidenrinde zur Wundbehandlung herangezogen wurde (Salicylatwirkung). Aus der englischen
Volksmedizin stammt das berühmte Beispiel der Fingerhutblätter, lange Zeit das Geheimnis einer alten Frau in Shropshire, die bei Herzwassersucht gelegentlich Heilerfolge erzielte, nachdem die regulären Ärzte versagt hatten. Diese erste Bedeutung von Ethnomedizin im Sinne von Volksmedizin steht somit im Gegensatz zur gelehrten Medizin sowohl der vornaturwissenschatlichen Ära, als auch der heutigen naturwissenschatlich orientierten Medizin. In einer zweiten Bedeutung wird unter Ethnomedizin primär Folgendes verstanden: das Sammeln von Kenntnissen der Naturvölker über die Heilwirkungen der von ihnen zu Heilzwecken herangezogenen Planzen. Zwei Quellen sind für diese Materialsammlungen maßgeblich:
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Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
x Notizen über medizinische Anwendung exotischer Planzen auf den von Botanikern in den botanischen Sammlungen (Herbarien) niedergelegten Herbarbögen und x spezielle Expeditionen zu Naturvölkern in entlegenen Zonen und die Befragung von einheimischen Heilern. Versuche, aus diesen Quellen Anregungen für die moderne Arzneimittelforschung zu erhalten, erwiesen sich bisher als wenig ergiebig. Der Grund dafür dürte sein: Viele, vermutlich sogar die weitaus überwiegende Mehrzahl der Planzenanwendungen dürten, wie das auch von der europäischen Volksmedizin her bekannt ist, rein suggestiven und/oder magischen Charakter tragen. In geschichtlichem Rückblick erwies sich die Ethnomedizin (im Sinne von Ethnobotanik und Ethnopharmakologie) allerdings als eine sehr ergiebige Informationsquelle zur Entdeckung von Planzen mit Gitwirkungen – man denke an die Pfeilgite – und von Planzenprodukten, deren Einnahme zu psychischen Alterationen beim Menschen führt: Alle bekannten Genussmittel, seien es die Cofeindrogen, seien es Tabak, Cocablätter, Kavarhizom, die alkoholführenden Getränke u. a. m. wurden dank der „wachen Sinnen der Naturvölker“ entdeckt. Dazu ein Beispiel aus neuester Zeit: die Verwendung des so genannten Hoodia-Kaktus durch die San Namibias („Buschmänner“), die an den Rändern der Wüste Kalahari in Südafrika leben. Während ihrer tagelangen Hetzjagden auf Antilopen können sie die Strapazen in der Kalahari ertragen, indem sie auf Stücken des Hoodia-Kaktus kauen, wodurch das Hunger- und Durstgefühl unterdrückt wird. Westliche Pharmairmen haben sich inzwischen die Patentrechte eines Appetitzüglers gesichert. In den USA werden bereits Präparate als Mittel zum Schlankwerden für ein Klientel angeboten, das den Anpreisungen glaubt, ohne Nebenwirkung dünn werden zu können. Bei der Stammplanze Hoodia gordonii Sweet handelt es sich um eine Stammsukkulente ohne laubige Blätter aus der Familie der Apocynaceae (früher Asclepiadaceae >IIB22c@). Das anorektisch wirksame Prinzip wurde als ein Pregnenolonderivat identiiziert, das in Position C-12 eine β-OH trägt, die mit Tiglinäure verestert ist. Die 3-β-OH ist an eine Triose gebunden [1 Mol hevetose und 2 Mol Cymarose, jeweils β-(1 o4) verknüpt].
7.2.3 Auswertung von Giftwirkungen am Menschen Als für das Überleben wichtig war der Mensch mit den Planzen seiner Umwelt vertraut und vermochte zwischen gitigen und ungitigen Kräutern zu unterscheiden. Allerdings trit das nur für Gitplanzen zu, deren Wirkung sofort eintritt; verzögernd eintretende Gitwirkungen wurden nicht erkannt, wie das Beispiel der zahlreichen von Aristolochia-Arten abstammenden Drogen zeigt, die sowohl im europäischen als auch im ostasiatischen Kulturkreis als Arzneidrogen verwendet wurden. Drogen mit akuter Toxizität wurden, von wenigen Ausnahmen abgesehen, gemieden und spielten im Arzneischatz der vornaturwissenschatlichen Medizin keine Rolle. Es ist das Verdienst der Physiologie und Pharmakologie seit dem 19. Jahrhundert, den Wirkungsmechanismus von Planzengiten erforscht zu haben und dann in Anwendung der neuen Kenntnisse auch für die herapie neue Möglichkeiten eröfnet zu haben. Dieser Weg vom Git zum Arzneimittel wird nachfolgend am Beispiel der Calabarbohnenund der Nachtschatten-Alkaloide beschrieben. Erinnert sei dabei an die wichtige Rolle der Phytochemie, die deinierte Reinsubstanzen für die physiologischen und pharmakologischen Studien zur Verfügung stellt.
Calabarbohnen Physostigmin ermöglicht erstmalig eine Behandlung von Myasthenia gravis, einem schweren Muskelleiden, und die Prävention gegen Glaukom. Die Pflanze. Physostigma venenosa Balfour (Familie: Fa-
baceae >IIB8a@ ist der botanische Artenname einer 15 m langen Liane mit engem Verbreitungsgebiet, beschränkt auf den Südosten Nigerias (Calabar-Provinz) und dem angrenzenden Kamerun (Ossidinge-Distrikt). Die holzigen Hülsenfrüchte enthalten 1–3 nierenförmige, mattglänzende, dunkelbraune Samen. Die Samen als Ordalgift. Schuld oder Unschuld eines
Angeklagten ergab sich aus dem Ausgang eines Intoxikationsversuches. Es musste eine bestimmte Anzahl von Bohnen gegessen oder gekaut werden, oder es musste eine wässerige Zubereitung aus den Bohnen eingenommen werden. Starb der Angeklagte, so galt er als schuldig und zugleich als gerichtet; überlebte er die Prozedur, galt seine
7.2 Pflanzliche Sekundärstoffe als Ideengeber (Leitstoffe) für Arzneistoffe
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. Abb. 7.8
Physostigmin diente als Leitstoff zur Entwicklung von Cholinesterasehemmern mit Carbaminesterstruktur (in der Abbildung durch eine gestrichelte Linie kenntlich gemacht). Physostigmin überwindet als tertiäre Base die Blut-Hirn-Schranke und wirkt damit auch zentral cholinerg. Die eigentlich reaktive Form des Physostigmins ist das auf der Enzymoberfläche durch Ringöffnung gebildete Indolium-Kation (Robinson u. Robinson 1968). Die synthetischen formelmäßig wiedergegebenen Acetylcholinesterasehemmer wirken als quartäre Ammoniumverbindungen im Wesentlichen nur in der Peripherie
Unschuld als erwiesen. Die Durchführung des „Gottesgerichtsurteils“ lag in der Hand so genannter Fetischeure. Vermutlich kannten sie genügend Tricks, um den Ausgang des Verfahrens zu lenken. Rösten oder Kochen der Samen mindert deren Gitigkeit erheblich; auch Stehenlassen einer wässrigen Zubereitung setzt die Wirkstärke herab. Eine größere Zahl von Samen einzunehmen, bedeutete nicht unbedingt größere Lebensgefahr: Hohe Dosierung kann den Magen stark reizen und zum Erbrechen führen, sodass das Git herausbefördert wird, noch ehe eine tödliche Dosis zur Resorption gelangt. Die Vergitungssymptome bestehen in Übelkeit, Muskelzuckungen, Krämpfen und Tod durch Atemlähmung. Wird die Vergitung überlebt, so leidet der Betrefende noch über einen längeren Zeitraum hin an den typischen Muskelzuckungen (Muskelzittern).
Das toxische Prinzip. Physostigma-venenosa-Samen,
pharmazeutisch auch als Calabaris semen bezeichnet, enthalten bis 0,5% Alkaloide mit Physostigmin (0,15%) als Hauptalkaloid. Physostigmin besteht aus einem Indoleninkern, der mit einem Pyrrolring cis-ständig verbunden ist und der am aromatischen Ring eine Urethangruppe trägt ( > Abb. 7.8). Chemisch lässt sich die Substanz auch in die Gruppe trizyklisch substituierter Methylcarbaminsäureester einordnen. Physostigmin – wichtiges Mittel der pharmakologischen Forschung. Die Erforschung des pharmakologi-
schen Wirkungsmechanismus führte zu einer Reihe wichtiger pharmakologischer Entdeckungen: x Physostigmin spielte eine wichtige Rolle bei der Entdeckung des seinerzeit revolutionären Prinzips der
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Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
neurohormonalen Übertragung, dass nämlich Nervenendigungen Substanzen enthalten, die bei Erregung freigesetzt werden und den Nervenimpuls auf Efektorgane übertragen. Die Auklärung von Überträgermechanismen bildet seither eine wichtige Grundlage für die Entwicklung neuer Pharmaka. x Physostigmin war die erste Substanz überhaupt, mit der eine pharmakologische Wirkung durch eine Enzymhemmung (nämlich einer Hemmung der Acetylcholinesterase) erklärt werden konnte. x Physostigmin und Curare wirken antagonistisch an den motorischen Nervenendigungen der Willkürmuskeln und den peripheren Vagusendigungen am Herzen. x Bereits im Jahre 1862 entdeckte man die gegensätzlichen Wirkungen von Pilocarpin und Atropin auf die Pupillenweite. Pilocarpin bewirkt Miosis (Pupille enger als 2 mm), Atropin bewirkt Mydriasis (mehr als 5 mm Pupillenweite). Hinweis: Die Pupillenweite wird über die Irismuskulatur kontrolliert: der parasympathisch innervierte Musculus sphincter pupillae bewirkt Miosis, der durch sympathische Nervenfasern innervierte Musculus dilatator pupillae bewirkt Mydriasis
L. Laqueur (1877), der auch als Erster vorschlug, Physostigmin zur Behandlung des Glaukoms (des Grünen Stars) einzusetzen. Ursache des Glaucoma simplex ist eine pathologisch erhöhte (über 25 mmHg) intraokulare Drucksteigerung, meist infolge Behinderung des Ablusses von Kammerwasser. Das Kammerwasser dient einerseits der Formerhaltung des Auges, andererseits ermöglich es die Versorgung nicht vaskularisierter Strukturen (Linse, Glaskörper, Hornhaut) durch Difusion. Die Verwendung von Physostigmin (und anderer Parasympathomimetika) wird in den Lehrbüchern meist in unmittelbarem Zusammenhang mit deren miotischer Wirkung genannt. Es wird der Eindruck erweckt, als bestände zwischen Glaukom und Miose ein unmittelbarer Zusammenhang. In Wahrheit stellt die miotische Wirkung eine unerwünschte Wirkung bei der Glaukombehandlung dar. Die erwünschte Wirkung besteht in einer Steigerung des Tonus des Ziliarmuskels, wodurch es zu einer verbesserten Durchlässigkeit der Trabekel im Kammerwinkel kommt, was wiederum einen verbesserten Abluss des Kammerwassers ermöglicht. Parasympathomimetika senken den intraokularen Druck, indem sie den Abluss des Kammerwassers erleichtern. Physostigmin als Leitsubstanz. Physostigmin hemmt re-
Physostigmin bei Myasthenia gravis. Die Myasthenia
gravis ist eine neuromuskuläre Erkrankung, die durch Schwäche und leichte Ermüdbarkeit der Skelettmuskulatur gekennzeichnet ist und die auf einem Versagen der Erregungsübertragung Nerv-Muskel beruht. Die Symptome erinnern an die einer Curarevergitung. Da der pharmakologische Antagonismus von Curare und Physostigmin bekannt war, lag es nahe, die Wirkung von Phyostigmin bei Myasthenia gravis klinisch zu prüfen. Das Verdienst, die Substanz in die herapie eingeführt zu haben, wird der schottischen Ärztin Mary Walker zugeschrieben, die 1934 Prostigmin gegen diese Krankheit einsetzte, doch hatte bereits 2 Jahre zuvor Lazar Remen (1932) über eine erfolgreiche Behandlung publiziert, die aber völlig unbeachtet blieb. Auf eine zusammenfassende Darstellung der Geschichte von Physostigmin sei in diesem Zusammenhange hingewiesen (Holmstedt 1972). Hinweis: Nutzen bei Glaukom eine Zufallsentdeckung.
Wie sich Miotika und Mydriatika auf den Augeninnendruck auswirken, ließ sich aus den zuvor bekannten Wirkungen nicht ableiten, sondern bedurte einer eigenen Untersuchung. Eine entsprechende Studie verdanken wir
versibel die Aktivität der Acetylcholinesterase, d. h. es gehört zu den indirekt wirkenden Parasympathicomimetika, die man auch als Cholinesterasehemmer bezeichnen könnte. Zum Verständnis des Wirkungsmechanismus sei daran erinnert: Acetylcholinesterase gehört zu den Serinhydrolasen, d. h. Serin ist die entscheidende Komponente im aktiven Zentrum des Enzyms. Das Enzym übernimmt vom Acetylcholin, das man als das „physiologische Parasympathomimetikum“ betrachten kann, das Acetat unter intermediärer Bildung eines Acetylenzyms, das aber sehr rasch hydrolytisch zerfällt. Physostigmin überträgt anstelle des Acetyl- den Carbamoylrest, der aber resonanzstabilisiert ist und daher wesentlich langsamer hydrolysiert ( > Abb. 7.9). Bei der Entwicklung von reversiblen, indirekten Parasympathomimetika wird man nach dem Vorbild des Physostigmins – die eigentliche Wirkform ist das Indoliumkation ( > Abb. 7.8) – einen Carbamoylrest, der unterschiedlich substituiert sein kann, mit einer quartären Ammoniumstruktur zu kombinieren haben. Verbindungen dieses Typs sind das Neostigmin, das Pyridostigmin und das Distigmin (Strukturformel > Abb. 7.8).
7.2 Pflanzliche Sekundärstoffe als Ideengeber (Leitstoffe) für Arzneistoffe
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. Abb. 7.9
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Obere Hälfte: Mechanismus der Esterspaltung durch die Acetycholinesterase. Die Acetylcholinesterase gehört zu einer großen Gruppe hydrolytisch wirkender Enzyme, die Serin als Bestandteil des aktiven Zentrums enthalten. Acetylcholin reagiert mit dem Serin des aktiven Zentrums zu einem kovalenten Acetyl-Enzym-Zwischenprodukt, das äußerst rasch zu Acetyl und freiem Enzym hydrolysiert. Untere Hälfte: In Anwesenheit von Physostigmin wird der Serinrest carbamoyliert. Das Carbamoyl-Enzym-Zwischenprodukt ist resonanzstabilisiert und hydrolysiert wesentlich langsamer als das AcetylEnzym-Zwischenprodukt. Durch diese Blockade des katalytischen Zentrums erhöht sich die Konzentration des körpereigenen Acetylcholins an den cholinergen Rezeptoren: der Parasympathikotonus steigt an
Atropin als Leitstoff für inhalative Bronchospasmolytika Wie bereits erwähnt, sind in der vornaturwissenschatlichen Ära, ofenbar wegen fehlender Dosiergenauigkeit, ausgesprochene Gitdrogen zu arzneilichen Zwecken nicht verwendet worden. Zu den Ausnahmen zählt eine Reihe von Nachtschattengewächsen mit Hyoscamin und Scopolamin als toxische Inhaltsstofe. Im Mittelalter nutzte man ihre schmerzstillende Wirkung aus. Vor allem aber: bis in die neueste Zeit hinein wurden sie ausgiebig zur Linderung von Atemnot bei Bronchialasthma verwendet. Was
dabei außerdem bemerkenswert ist, dass lange vor der Erindung der modernen Aerosoltherapie die Lutwege als Zugang für Medikamente entdeckt worden sind. In Form von Asthmaräucherpulvern und Asthmazigaretten inhalierten die Patienten die beim Abbrennen sich entwickelnden Dämpfe. Die Asthmapräparate bestanden aus einem Blattpulvergemisch bzw. (im Falle der Zigaretten) aus dem Krüllschnitt von Datura-metel-, Datura-stramonium-, Datura-innoxia-, Datura-meteliodes- und Atropa-belladonna-Blättern. Um die Verbrennung zu beschleunigen, wurden die Drogen mit Kaliumnitratlösung imprägniert. Dass wirksame Dosen an den Wirkort gelangen können,
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Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
zeigen für den Fall der Stramoniumblätter Messungen, nach denen der Rauch von 1 g Zubereitung 0,3–0,4 mg Atropin enthält. Unverändertes Atropin bzw. Hyoscyamin zur Asthmatherapie wenig gut geeignet. Durch das Inhalieren
atropinhaliger Räucherwerke verschaten sich die Asthmakranken sicher ot Erleichterung: Atropin wirkt als Muscarinrezeptorantagonist erweiternd auf die im Asthmaanfall verengten Bronchialgefäße. Nach wiederholter Anwendung oder bei schweren Anfällen von Atemnot, versagte die Anwendung häuig, hauptsächlich wohl deshalb, weil Atropin die Sekretion der Bronchialdrüsen einschränkt: die mukoziliäre Clearance wird blockiert und als Folge davon die Bronchialobstruktion verstärkt.
Quartäre Ammoniumderivate des Atropins. Derivate
des Atropins mit einem quartären Stickstofatom anstelle des tertiären sind stark polar. Sie werden daher nach oraler oder inhalativer Zufuhr nur langsam und unvollständig resorbiert, auch kann die Blut-Hirn-Schranke nicht überwunden werden, so dass mit zentralen atropinartigen Nebenwirkungen wie Mundtrockenheit, Tachykardie und Akkommodationsstörungen kaum zu rechnen ist. Was sich aus der Strukturänderung nicht vorhersagen lässt: Die quartären Derivate wie Oxitropiumbromid und Ipratropiumbromid ( > Abb. 7.10) wirken zum Unterschied von Atropin und Scopolamin auf die mukoziliäre Clearance nicht störend. Sie eignen sich lokal als Aerosol angewendet zur Bronchospasmolyse bei Asthma bronchiale.
. Abb. 7.10
Strukturformeln einiger nach dem Vorbild von Atropin und Scopolamin ( > dazu auch Abschnitt 27.4) synthetisierten Parasympathikolytika (Stereochemie nicht berücksichtigt). Im Unterschied zu den natürlichen Vorbildern ist in den synthetischen Varianten das N-Atom quaterniert mit der erwünschten Folge: Die Verbindungen passieren nicht die BlutHirn-Schranke und zeigen deshalb nahezu keine zentralen Wirkungen. Im Tiotropium, das ähnlich wie Ipatropium als Bronchospasmolytikum eingesetzt wird, ist die Tropasäurekomponente durch eine disubstituierte Glykolsäure ersetzt. Tiotropium zeichnet sich durch eine besonders lange Wirkdauer aus
7.2 Pflanzliche Sekundärstoffe als Ideengeber (Leitstoffe) für Arzneistoffe
Im Oxitropium und Ipratropium blieb die Säurekomponente (Atropasäure) der Modellsubstanzen Atropin/ Scopolamin unverändert. Im Tiotropium ( > Abb. 7.10), einer neu entwickelten Substanz, wurde Atropasäure durch die schwefelhaltige Dithienylglykolsäure ersetzt. Tiotropium zeichnet sich durch eine lange, bis zu 24 Stunden lang anhaltende Bronchospasmolysewirkung aus. Die lange Wirkungsdauer steht im Zusammenhang mit der extrem langsamen Dissoziation von den Muscarinrezeptoren der glatten Bronchialmuskulatur. Die neue Substanz wird nicht als Aerosol-Spray, sondern als Pulverinhalat angewendet.
Scopolamin und Gedächtnis. Anticholinergika nützlich bei Alzheimer-Erkrankung? Rein empirisch wurde gefunden, dass Atropin und besonders Scopolamin mit Gedächtnisleistungen des Menschen in Zusammenhang stehen. So wurde zuerst aus Mittelamerika berichtet, Kriminelle würden ihre Opfer zuvor mit Aufgüssen aus Datura-Samen betäuben, um sie dann besser ausrauben zu können. Wegen des partiellen Gedächtnisverlustes können die Geschädigten später der Polizei gegenüber keine sachdienlichen Angaben machen. Die Eigenschat des Scopolamins, eine retrograde Amnesie hervorzurufen, wurde eine Zeitlang medizinisch in der Gynäkologie ausgenutzt. Bei Gebärenden führt es, während der Geburt gegeben, zum Erinnerungsausfall an den Geburtsvorgang. Deiniert ist retrograde Amnesie als eine zeitlich begrenzte Gedächtnislücke rückwirkend für den Zeitabschnitt vor dem auslösenden Ereignis. Gedächtnisvorgänge sind auf das Zusammenspiel mehrerer Transmitter in speziischen Gehirnregionen – primär im Cortex und Hippocampus sowie in limbischen Regionen – angewiesen. Scopolamin speziell blockiert eine Teilmenge dieser für die Gedächtnisleistung essentiellen Transmittervorgänge, und zwar die muscarinergen Acetylcholinrezeptoren. Zu den frühen Symptomen der Alzheimer-Erkrankung zählt die Beeinträchtigung der Gedächtnisbildung, die sich in einer Vergesslichkeit an kurz zurückliegende Ereignisse zu erkennen gibt. Demgegenüber bleibt das Erinnerungsvermögen an lange zurückliegende Ereignisse bis in die Spätstadien der Erkrankung hinein erhalten. Auf der biochemischen Ebene besteht ein Begleitsymptom der Alzheimer-Erkrankung darin, dass der Gehalt an Acetylcholin und an Actylcholinesterase im Gehirn stark ver-
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mindert ist. Diese Beobachtungen mussten dazu anregen, Pharmaka zu entwickeln, die sich gegenüber den Acetylcholinrezeptoren des Gehirns wie Acetylcholin verhalten. Leider sind bisher alle Versuche, wirksame zentralgängige Acetylcholinomimetika zu entwickeln, wenig erfolgreich verlaufen. Ein anderer Weg ist die Entwicklung von zentralgängigen Hemmstofen der Acetylcholinesterase. Deren Wirksamkeit ist allerdings an die Voraussetzung gebunden, dass der Patient noch über Reste funktionsfähiger cholinerger Neurone verfügt. Die > Abb. 7.11 zeigt die Strukturformeln von Arzneistofen, die nach diesem Leitprinzip entwickelt worden sind. Im Planzenreich wurden bisher nur sehr wenige Stofe mit Hemmwirkung auf die Acetylcholinesterase entdeckt. Lange Zeit blieb das Physostigmin in dieser Hinsicht einzigartig. Erst durch ein aufwendiges systematisches Screening konnte im Galanthamin ein zweiter planzlicher Acetylcholinesterasehemmer entdeckt werden. Neuerdings kam das Huperzin hinzu, ein Alkaloid aus dem Bärlappgewächs Huperzia serrata (Synonym: Lycopodium serratum). Es ist bisher nur in der VR China für die Behandlung von Alzheimer-Leiden zugelassen. Bärlappgewächse enthalten nur geringe Mengen Huperzin; daher muss für therapeutische Zwecke die Substanz synthetisch gewonnen werden. Hinweis. Galanthamin und Huperzin unterscheiden sich vom Physostigmin in ihrer Hemmungskinetik: Galanthamin und Huperzin sind kompetitive Hemmstofe der Acetylcholinesterase; Physostigmin weist eine gemischte Hemmungskinetik auf, indem es von anfangs kompetitiv zu später nichtkompetitiv wechselt, was durch Bildung der carbamoylierten Enzymzwischenstufe ( > Abb. 7.9) erklärt wird (Neuwinger 1994).
Historischer Exkurs: Bilsenkraut das erste Antidepressivum Vor ca. 250 Jahren berichtete der Leibarzt der Kaiserin Maria heresia und damalige Leiter der Medizinischen Klinik in Wien, Anton Stoerck (1731–1803), über die erfolgreiche Behandlung schwerer Depressionen mit Zubereitungen aus dem Bilsenkraut (Stille 1994). Die Krankengeschichten sind sehr ausführlich gehalten und durchaus glaubwürdig, auch wenn es aus heutiger Sicht schwer fällt, die Heilerfolge mit einer Scopolamin-Atropin-Behandlung im Zusammenhang zu sehen. Wie sollen zentral aktive Anticholinergika vom Typus Scopol-
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Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
. Abb. 7.11
Zentral wirkende Hemmstoffe der Acetylcholinesterase, die auf der Vorstellung vom Acetylcholinmangel bei AlzheimerDemenz entwickelt wurden. Rivastigmin lässt mit seiner Carbamoylstruktur noch deutlich das Vorbild des Physostigmins erkennen ( > Abb. 7.8). Die Entdeckung des Galanthamins ist das Ergebnis einer gezielten Suche. Huperzin A ist das Ergebnis chemischer und phytopharmakologischer Studien traditioneller chinesischer Arzneidrogen
amin-Atropin stimmungsauhellend wirken? Gilt es für sie doch geradezu als kennzeichnend, dass sie oberhalb bestimmter Dosierungen akute depressive Verstimmungen – Anergie und Anhedonie – induzieren. Der Widerspruch ließe sich allerdings dann erklären, wenn Bilsenkraut auf Kranke mit schweren Depressionen psychisch auhellend, auf gesunde Probanden hingegen dysphorisch wirken würden. Für diese Wirkungshypothese von Bilsenkrautzubereitungen gibt es zwar keine Belege, doch erhalten wir von der modernen Pharmakopsychiatrie Hilfestellung insofern, als sie uns in der paradoxen Wirkweise des Imipramins auf Gesunde und Kranke einen Analogfall liefert. Dieses trizyklische Antidepressivum induziert bei Normalprobanden Müdigkeit, Blutdruckabfall und Dysphorie, hingegen Stimmungssteigerung, wenn es bei depressiven Patienten eingesetzt wird (Baldessarini 1998). Imipramin ist von den Pharmakologen, ehe es klinisch geprüt worden ist, als ein atropinartig wirkendes, zentrales Anticholinergikum charakterisiert worden. Eine antidepressive Wirksamkeit ließ sich nicht vorhersehen. Es handelt sich um eine reine Zufallsentdeckung durch
sorgfältige Beobachtungen an Patienten einer psychiatrischen Klinik (Literatur dazu bei Stille 1994). Die antidepressive Wirksamkeit trizyklischer Antidepressiva erklärt man sich heute mit einer Hemmung der Wiederaufnahme der von Nervenimpulsen freigesetzten klassischen Neurotransmitter (Noradrenalin, Dopamin und Serotonin). Die anticholinergen (antimuscarinergen) Eigenschaten der trizyklischen Antidepressiva leisten keinen Beitrag zur antidepressiven Wirksamkeit, doch bestimmen sie in hohem Maße die unerwünschten Wirkungen, die als Mundtrockenheit, Akkommodationsstörungen und Mydriasis, Obstipation und Miktionsstörungen sowie als Tachykardie in Erscheinung treten können. Die Geschichte von Bilsenkraut und Imipramin als Antidepressiva zeigt zweierlei: 1. Es gibt humanpharmakologische Wirkungen von Stofen, die sich beim kranken Menschen und beim gesunden Probanden unterschiedlich zur Geltung bringen, und 2. die experimentell-pharmakologischen Eigenschaten einer Substanz erlauben allein keine Vorhersagen über einen potentiellen therapeutischen Nutzen.
7.2 Pflanzliche Sekundärstoffe als Ideengeber (Leitstoffe) für Arzneistoffe
7.2.4 Giftwirkungen auf Tiere als Primäranregung Der folgende Abschnitt bringt Beispiele dafür, wie Zufallsbeobachtungen bei der Tierhaltung oder während tierexperimenteller Untersuchungen zu neuen Arzneimitteln führen können. Ausgewählt sind die folgenden Fälle: x Die Suche nach dem antidiabetisch wirksamen Prinzip im Catharanthus-roseus-Kraut führte zu antineoplastisch wirksamen Zytostatika. x Kropbildung nach Verfüttern von Kohlgemüse führte zur Entdeckung antithyreoidal wirksamer Arzneistofe. x Die Süßkleekrankheit bei Weidetieren führte zur Entwicklung von Antikoagulanzien. x Curare führte zu verbesserter Narkosetechnik.
Catharanthus roseus: Entdeckung der Spindelgiftwirkung Aus den Blättern von Catharanthus roseus (L.) G. Don stellte sich die einheimische Bevölkerung Westindiens traditionell einen Teeaufguss her, dem sie blutzuckersenkende Wirkung nachsagten. Untersuchungen kanadischer Forscher auf antidiabetische Wirkung verliefen wenig erfolgversprechend, jedoch iel auf, dass nach parenteraler Verabreichung von Catharanthus-roseus-Blattauszügen die meisten Versuchstiere innerhalb weniger Tage an Septikämie starben. Als verantwortlich dafür erwies sich eine krankhate Verminderung der Anzahl weißer Blutkörperchen (Leukopenie), ähnlich wie sie nach ZytostatikaÜberdosierung aufzutreten plegt; histologisch sah man Mitosestörungen, insbesondere der Spindelbildung, ähnlich wie nach Gabe von Colchicin. Die Fraktionierung von Drogenauszügen anhand des Leitfadens Antimitosewirkung führte zur Isolierung von zwei dimeren Indolalkaloiden. Angaben zur Chemie dieser beiden Alkaloide Vinblastin und Vincristin inden sich im Alkaloidkapitel im Abschnitt 27.11.7. Die Zellteilungshemmung beider Alkaloide beruht auf einer speziischen Wechselwirkung mit dem Tubulin: Durch die Bindung an Tubulin wird die Tubulinpolymerisation in Mikrotubuli und damit die Spindelbildung gehemmt. Durch die gestörte Chromosomentrennung wird die Zellteilung in der Metaphase unterbrochen. Zwar weisen allem Anschein nach die beiden Alkaloide einen identischen Wirkungsmechanismus auf, in ihren klinischen
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Eigenschaten sind sie hingegen ziemlich unterschiedlich: So ist Vinblastin bei malignen Lymphomen und Hodentumoren indiziert, Hauptanwendungsgebiete von Vincristin sind hingegen die akute lymphatische Leukämie im Kindesalter und das Bronchialkarzinom. Auch unterscheiden sich die beiden Alkaloide in ihren Toxizitätsproilen: Beim Vinblastin steht die Knochenmarksdepression im Vordergrund, während im Falle des Vincristins periphere Neuropathien zu einer Dosislimitierung zwingen. Die Tatsache, dass geringfügige Änderung im chemischen Bau klinisch relevante Änderungen zur Folge haben können, führte natürlich zur Darstellung zahlreicher partialsynthetischer Varianten. Außer dem Vindesin, auf das nicht näher eingegangen wird, ist lediglich das Vinorelbin bisher zur Krebsbehandlung zugelassen. Vinorelbin wird partialsynthetisch aus Vinblastin hergestellt, von dem es sich durch die Verengerung des 9-gliedrigen zum 8-gliedrigen C-Ring und durch Abspaltung eines Wassermoleküls unterscheidet ( > Abb. 7.12).
. Abb. 7.12
Vinorelbin ist ein partialsynthetisches aus Vinblastin ( > dazu Abschnitt 27.11.7 mit Abb. 27.65) hergestelltes dimeres Indolalkaloid. Der Ring C ist um ein CH2-Glied verkürzt; in Bezug auf den Ring D stellt das Vinorelbin das Anhydroderviat von Vinblastin dar. Unter Beibehaltung der in der Abbildung gewählten Bezifferung handelt es sich beim Vinorelbin um das 3,4-Didehydro-4-desoxy-Cnor-Vinblastin. R1=CH3 , R2=OCH3 , R3=COCH3
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Wie die anderen Vinca-Alkaloide hemmt auch das Vinorelbin die Bildung von Mikrotubuli, speziell die der mitotischen Mikrotubuli. Außer in den Mitosespindeln von Krebszellen gibt es Mikrotubuli natürlich auch in gesunden Körperzellen und in den neuronalen Axons. Mit der Wirkung auch auf diese Mikrotubuli hängen vor allem die unerwünschten Wirkungen der Mitosehemmer zusammen. Dem Vinorelbin wird nun eine gewisse Selektivität in der Hinsicht nachgesagt, dass es auf die Mikrotubuli neuronaler Axons weniger stark hemmend wirkt als die anderen Vinca-Alkaloide, womit seine geringere Neurotoxizität ihre Erklärung inden würde. Wie alle Mitosehemmer fördert auch Vinorelbin die Apoptose von Krebszellen.
Die Entdeckung der Thyreostatika vom Thionamidtyp Einseitige Verfütterung von Kopkohl, Brassica oleracea L. var. capitata (Brassicaceae >IIB13a@ , an Kaninchen führte bei den Tieren zu einer Zunahme des Schilddrüsengewichtes um das Zehnfache. Histologisch wurde die Schilddrüsenvergrößerung als eine Hyperplasie ohne Kolloidbildung diagnostiziert (Chesney et al. 1928; Marine et al. 1929). Diese Beobachtung bildete den Ausgangspunkt x zu Untersuchungen über die Pathogenese der Struma (lat.: struma >Drüsenschwellung, hier Kropf@) und x zur Entwicklung von antithyreoidalen (griech.: thyreós >Türstein, Schild@) Arzneistofen. Kropfbildung. Die Vergrößerung der Schilddrüse ist nicht
etwa Ausdruck einer Überfunktion, sondern im Gegenteil Anzeichen eines Unterfunktionszustandes. Besteht ein Iodmangel in der Nahrung, so wird die Synthese des hyroxins und Triiodthyronins reduziert, und es ergibt sich ein Unterfunktionszustand. Hier setzt nun ein Kompensationsmechanismus ein, um eine normale Blutkonzentration an Schilddrüsenhormonen trotz des Mangels an diesem essentiellen Baustein aufrecht zu erhalten. Auf Grund der negativen Rückkopplung zwischen Schilddrüse und Hypothalamus-Hypophysenvorderlappen-(HVL-)System steigt die TSH-(hyreoidea-simulierendes Hormon-)Sekretion an. Da Iod aber nicht ausreichend zur Verfügung steht, ist eine direkte Steigerung der Hormonsynthese in der Schilddrüse nicht möglich. Es wird kompensatorisch jedoch die Kapazität zur Ausnutzung des geringen Iodangebotes erhöht, indem sich unter der verstärkten TSH-
Ausschüttung die Follikelzellen sowohl vergrößern als auch vermehren (Hypertrophie und Hyperplasie). Die als Folge sich ausbildende hypertrophe und hyperplastische Struma ist somit nicht Ausdruck einer Überfunktion, sondern, wie eingangs gesagt, einer Unterfunktion der Schilddrüse. Strumigene (kropferzeugende) Inhaltsstoffe der Brassica-Arten. Strumigene Substanzen aus Hunderten ande-
rer Extraktivstofe abzutrennen, setzt voraus, dass ein biologischer Schnelltest zur Verfügung steht. Die Kropfbildung an Kaninchen als Leitfaden der Fraktionierung zu nehmen, wäre viel zu zeitaufwendig. Als Schnelltest geeignet ist die Messung des Iodgehalts in der Schilddrüse von Ratten. Die Hemmung der Schilddrüsenhormonbildung ist dem Iodgehalt der Schilddrüse direkt proportional. Der erste antithyreoidal wirksame Inhaltsstof, der als kristalline Verbindung gewonnen werden konnte, war das aus Samen von Kohlarten isolierte 2-hiouracil ( > Abb. 7.13). In der Folge wurden weitere aktive Substanzen isoliert, die als „Brassicafaktoren“ und als „Goitrogene“ (engl.; goiter >Kropf@; griech.: genáo >erzeugen@) bezeichnet werden. Dem chemischen Aubau nach handelt es sich um hiocyanate (Rhodanide) und um einen zyklischen Abkömmling dieser Stofgruppe, das Goitrin ( > Abb. 7.14). 2-Thiouracil als Modellsubstanz für synthetische Thyreostatika. Man versteht unter hyreostatika Stofe,
die die Synthese oder die Abgabe von Schilddrüsenhormonen hemmen und zur Behandlung der Hyperthyreose arzneilich verwendet werden. Das aus BrassicaSamen isolierte 2-hiouracil ist der Prototyp der arzneilich verwendeten hioharnstofderivate. Vom 2-hiouracil leiten sich die heute zur Behandlung hyperthyreoider Zustände brauchbaren synthetischen Arzneistofe Propylthiouracil, hiamazol und Carbimazol ab ( > Abb. 7.14). Die hiocyanate hingegen sind wegen ihrer Toxizität und zu geringen therapeutischen Breite als hyreostatika unbrauchbar. Das Goitrin weist beim Menschen eine dem Propylthiouracil vergleichbare Wirkungsstärke auf, spielt jedoch als herapeutikum keine Rolle. Angriffspunkte der antithyreoidalen Pflanzenstoffe.
Für das Verständnis der folgenden Angaben werden Kenntnisse über die Biosynthese der Schilddrüsenhormone vorausgesetzt. Die Schemata der beiden Abbildun-
7.2 Pflanzliche Sekundärstoffe als Ideengeber (Leitstoffe) für Arzneistoffe
7
. Abb. 7.13
Das in der Natur auch als Nucleosid (2-Thiouridin) auftretende 2-Thiouracil diente als Vorlage zur Entwicklung der als Thyreostatika therapeutisch genutzten Thioharnstoffderivate. 2-Thiouracil wurde im Jahre 1941 erstmals aus Samen von Brassica-Arten isoliert (Merck Index, 12th edn, p 1598): bitter schmeckende, in allen gängigen Lösungsmitteln wie Wasser, Ethanol und Ether schwer lösliche Substanz. Für die antithyreoidale Wirkung von synthetischen Varianten ist allein das Beibehalten der Thionamidgruppe essentiell. In Kohlarten kommen ansonsten neben dem 2-Thiouridin eine Reihe weiterer antithyreoidal wirkender Inhaltsstoffe vor ( > Abb. 7.14) . Abb. 7.14
Gewürz- und Gemüsepflanzen aus der Familie der Brassicaceae (IIB15a) enthalten Glucosinolate, die, abhängig von der Drogenaufbereitung, unterschiedliche Mengen an Thio- und Isothiocyanat liefern, alles Substanzen, die den Iodstoffwechsel hemmen. Glucosinolate mit einer 2-Hydroxygruppe im aglykonischen Teil zyklisieren zu Substanzen vom Typus des Goitrins. Man beachte: der antithyreoidale Wirkungsmechanismus der Thiocyanate, der Isothiocyanate und der Goitrine ist unterschiedlich. Zeichenerklärung: R = Allyl- (im Sinigrin) oder Benzyl- (im Glucotropaeolin) oder p-Hydroxybenzyl- (im Sinalbin) oder Phenylethyl- (im Gluconasturtiin) oder 3-Indolylmethyl-Rest (im Glucobrassicin). 1 Myrosinase, 2 Lossenumlagerung, 3 spontane Zyklisierung
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Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
. Abb. 7.15
Tyrosinreste des hyreoglobulins. Wahrscheinlich wird auch die Kupplungsreaktion der Iodtyrosine zu den Iodtyroninen blockiert. Außerdem hemmt Propylthiouracil ähnlich wie Goitrin die Umwandlung von T4 in T3 ( > Abb. 7.17).
Von der Melilotsäure zu oralen Antikoagulanzien Historischer Ausgangspunkt. Im Jahre 1922 wurde erst-
(1) Iodierung einzelner Tyrosylreste des Thyreoglobulins und (2) anschließende intramolekulare Übertragung von Diiodphenol bzw. Monoiodphenol auf Diiodtyrosin unter Bildung von proteingebundenem 3,3’,5’-Triiodthyronin (T3) bzw. Tetraiodthyronin (T4): In einer dritten Schrittfolge (3) werden T3 und T4 proteolytisch freigesetzt
gen ( > Abb. 7.15 und Abb. 7.16) können als Erinnerungshilfen dienen. Falls erforderlich, sollte ein Lehrbuch der Biochemie zu Rate gezogen werden. x hiocyanate und indirekt auch Cyanide (diese werden im Organismus zu hiocyanaten entgitet) blockieren den Mechanismus der Iodkonzentrierung in der Schilddrüse. Sie fungieren ferner als Substrat für die hyreoidperoxidase und hemmen so die Iodination der Tyrosinreste im hyreoglobulin. x Goitrin (5-Vinyloxazolidin-2-thion) hemmt die Aktivität der 5ʹ-Monodeiodinase (Abk.: 5ʹ-DI) in der Schilddrüse und peripher in der Leber ( > Abb. 7.17). Goitrin verhindert dadurch die Bildung des eigentlich wirksamen Hormons T3 (Triiodthyronin) aus der Vorstufe T4 (hyroxin). x Der Wirkungsmechanismus von 2-hiouracil scheint nicht eingehend untersucht zu sein. Da es chemisch dem therapeutisch genutzten Propylthiouracil sehr nahe steht, lässt sich ein analoger Wirkungsmechanismus vermuten. Propylthiouracil hemmt die Oxidation von Iodid zu Iod und damit den Einbau von Iod in die
malig von einer bei Rindern endemisch autretenden Erkrankung berichtet, die durch Blutungen infolge pathologisch verlängerter Blutgerinnungszeiten gekennzeichnet war. Als ursächlich für die ot tödlich verlaufenden inneren Blutungen erwies sich unsachgemäße Silage von Viehfutter, speziell von Steinklee, Melilotus alba Medik. („white sweet clover“) und Melilotus oicinalis L.(Pall.) („yellow sweet clover“), weshalb die Viehkrankheit auch als „sweetclover disease“ bezeichnet wurde. Silage ist ein Konservierungsverfahren, das auf einer spontanen Anreicherung von Milchsäurebakterien und in der Bildung von Milchsäure beruht. Der Milchsäuregehalt guter Silage muss mindestens 1% betragen, um das Hochkommen von anderen Mikroorganismen, insbesondere von Pilzen zu unterbinden. Befall mit Schimmelpilzen führt zur biochemischen Umsetzung der im Steinklee vorkommenden Melilotsäure zu Dicumarol ( > dazu auch S. 1174). Vergiftungsbild des Dicumarols. Dieses Vergitungsbild
entspricht voll und ganz dem einer Vitamin-K-Mangelerkrankung. Leitsymptom ist die hämorrhagische Diathese: Blutungen in unterschiedlichen Organen und Geweben, interkranial, im Nasen-Rachen-Raum, im Unterhautgewebe, im Urogenitaltrakt u. a. m. Die Dicumarolvergiftung ist somit durch ein Versagen des Blutgerinnungssystems gekennzeichnet. Molekulare Wirkweise. Unter Dicumarol bilden die Le-
berzellen keine voll funktionsfähigen Gerinnungsfaktoren. Dieser Efekt beruht auf der kompetitiven Hemmung der Vitamin-K-Wirkung. Vitamin K wiederum ist erforderlich, um Vorstufen der Gerinnungsfaktoren II, VII, IX und X posttranslational durch Carboxylierung von Glutaminsäuren (in den Vorstufen der Gerinnungsfaktoren) funktionsfähig zu machen. Die Carboxylierungsreaktion ist deshalb essentiell, weil die Dicarbonsäuregruppen der Gerinnungsfaktoren mit Ca2+-Ionen Komplexe bilden, wodurch es ihnen ermöglicht wird, sich an den Orten der
7.2 Pflanzliche Sekundärstoffe als Ideengeber (Leitstoffe) für Arzneistoffe
7
. Abb. 7.16
Modellvorstellungen zur intramolekularen, innerhalb des Thyreoglobulinmoleküls ablaufenden oxidativen Kupplung zweier Diiodtyrosylreste (Schritt 2 der Abb. 7.15). Das Thyreoglobulinmolekül enthält 134 Tyrosylreste, von denen ca. 20 in iodierter Form vorliegen. Man muss annehmen: Um reagieren zu können, müssen die beiden reagierenden Diiodtyrosylreste durch entsprechende Faltung der Proteinkette in räumliche Nachbarschaft gelangen. Die Reaktion kann in vitro als nichtenzymatische Reaktion mittels H2O2 bei pH = 10 imitiert werden
. Abb. 7.17
Die 5’-Deiodinase katalysiert die Eliminierung des 5’-I-Substituenten unter Bildung des biologisch wirksamen Schilddrüsenhormons T3 aus dem kaum wirksamen T4. Das Enzym kommt außer in der Schilddrüse auch peripher in der Leber und den Nieren vor. Es bleibt festzuhalten: T3 stellt das eigentliche Schilddrüsenhormon dar
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Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
. Abb. 7.18
– –
γ-carboxylierte Glutaminsäure
Die in der Leberzelle entstehenden Blutgerinnungsfaktoren müssen, um ihre volle Aktivität zu erlangen, in einer VitaminK-abhängigen Reaktion an Glutaminsäureresten carboxyliert werden. Die so gebildeten Dicarbonsäuren sind starke Komplexbildner für Ca2+-Ionen. Dieses Ca2+ ermöglicht eine Komplexierung mit Phospholipiden, wenn diese als Folge einer Gewebeläsion für die Gerinnungsfaktoren zugänglich werden. Durch Vitamin-K-Antagonisten kann die Geschwindigkeit der Aktivierung von Gerinnungs-Proenzymen in kontrollierter Weise therapeutisch modifiziert werden. Die Abbildung zeigt den Mechanismus der posttranslationalen γ-Carboxylierung von Glutaminsäure in Peptidketten bestimmter Gerinnungsfaktoren (der Faktoren II, VII, IX und X). Die für die Carboxylierung entscheidende Stufe im Vitamin-K-Zyklus ist das Vitamin-K-Alkoxid, eine starke Base, die ein Proton (in α-Stellung) von der Glutaminsäure abzieht, sodass eine Addition von Hydrogencarbonat (bzw. CO2) erfolgen kann. Die Cumarine sind kompetitive Antagonisten zum strukturanalogen Vitamin K; sie verhindern innerhalb des Vitamin-K-Zyklus die Reduktion der Chinon- zur Hydrochinonstufe. Nach Gabe von Cumarinen häuft sich folglich im Plasma des Menschen Vitamin-K-Epoxid an. R = 3,7,11,15-Tetramethyl-hexadecen-2-yl
Verletzung festzusetzen. Das Blut soll natürlich nicht an beliebigen Stellen zur Gerinnung gebracht werden, sondern ausschließlich an der Blutungsquelle selbst ( > Abb. 7.18). Folgerung aus der Primärbeobachtung: Entwicklung oraler Antikoagulanzien. Die toxische Wirkung des Di-
cumarols beruht, wie oben dargelegt, auf einer Hemmung der Blutgerinnung. Nun gibt es pathologische Zustände, die durch eine gegenteilige Neigung, nämlich durch eine
unerwünschte Blutgerinnung gekennzeichnet sind: zu hrombosen und Embolien (d. h. das intravaskuläre Steckenbleiben von abgelösten hromben oder hrombusteilen). hrombose- und Embolieprophylaxe besteht in der Gabe von Arzneimitteln, die die Gerinnungsbereitschat des Blutes vermindern oder den Gerinnungsablauf verlangsamen. Eben diese Eigenschat kennzeichnet das Dicumarol. Die praktische Anwendung des Dicumarols beim Menschen erwies sich als nicht risikolos, weil es im konkreten Fall schwierig war, die exakte Dosierung zu in-
7.2 Pflanzliche Sekundärstoffe als Ideengeber (Leitstoffe) für Arzneistoffe
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. Abb. 7.19
Dicumarol ist kein genuiner Pflanzenstoff, sondern ein Fermentationsprodukt, das bei der fehlgeleiteten Silage aus der in Melilotus-Arten enthaltenen Melilotsäure entsteht (Näheres dazu > S. 1174). Dicumarol wirkt bei allen Wirbeltieren blutgerinnungshemmend. Zur Prophylaxe und Therapie thromboembolischer Erkrankungen wie rezidivierende Thrombosen und Lungenembolie werden heute bevorzugt zwei nach dem Vorbild des Dicumarols entwickelte Cumarinderivate verwendet: Phenprocoumon und Warfarin. Für die Wirkung essentiell ist die 4-Hydroxygruppe
den. Die Dosisindung ist eine Gratwanderung zwischen dem potentiellen Schaden einer Überdosierung (innere Blutungen) und einer Unterdosierung (kein schützender Efekt). Zahlreiche Varianten wurden daher synthetisiert, wobei sich hinsichtlich der Struktur-Wirkungs-Beziehungen die folgenden Regelmäßigkeiten ergaben: x Ein dimeres Cumarinteil im Molekül ist nicht erforderlich, auch substituierte monomere Cumarine können wirksam sein. x Essentiell für eine Antikoagulanswirkung ist die 4-Hydroxygruppe in einem Cumarinteil des Moleküls. Die heute in der herapie verwendeten und nach dem Vorbild des Dicumarols synthetisierten Derivate sind das Phenprocoumon und das Warfarin ( > Abb. 7.19).
Curare: Wirkstoffforschung führt zu verbesserter Narkosetechnik Was man unter Curare versteht. Curare ist eine Sammel-
bezeichnung für unterschiedliche Pfeilgite. Die Indianer in den abgelegenen Gebieten des Amazonas und Orinokos und in den Regenwäldern Guayanas benutzen das Git zum Jagen, indem sie die Rinnen der Pfeile mit einem klebrigen Extrakt einreiben. Das Git lähmt, wenn es in die Blutbahn gelangt, die Beutetiere. Da es aber vom Magen-Darm-Trakt aus nicht oder kaum resorbiert wird, bleibt die Jagdbeute für den Menschen genießbar. Das genuine Pfeilgit der Indianer lässt sich pharmazeutisch als ein wässeriger Spissumextrakt charakterisieren. Zur Herstellung werden Stammrinden und Stängelteile unterschiedlicher Planzen
verwendet, von denen aber nur ein Teil Curarinwirkung entfaltet. Nach der botanischen Zugehörigkeit der Drogen mit Curarinwirkung unterscheidet man zwei Sorten: x Loganiaceen-Curare stammt von Rinden und Stängelteilen der folgenden Arten: Strychnos toxifera Schomb. ex Benth., Strychnos castalnei Wedd. und Strychnos crevauxii G. Planch. Die Wirkstofe des LoganiaceenCurare gehören in die Gruppe der bisquartären Bisindolalkaloide ( > dazu Abschnitt 27.11.11). x Menispermaceen-Curare stammt von Chondodendron-Arten, insbesondere von Chondodendron tomentosum Ruiz et Pav. Die wirksamkeitsbestimmenden Inhaltsstofe sind monoquartäre Bisbenzylisochinolin-Alkaloide, insbesondere das (+)-Tubocurarin ( > Abb. 7.20). Medizinische Bedeutung kommt den aus Pfeilgitpräparationen isolierten Reinstofen in zweierlei Hinsicht zu: 1. Historisch: Die Erforschung ihrer Wirkweise förderte wesentlich das Verständnis für die Nervenimpulsübertragung vom Gehirn auf die Skelettmuskulatur. 2. herapeutisch: Die natürlich vorkommenden Stofe mit Curarewirkung dienten als Leitsubstanzen zur Synthese peripher wirkender Muskelrelaxanzien. Erforschung der Wirkweise. Claude Bernard (1813–
1878), der Begründer der naturwissenschatlich fundierten modernen Physiologie, zeigte experimentell: Bei mit Curare vergiteten Versuchstieren kontrahieren sich quergestreite Muskeln (Skelettmuskeln) ganz normal, wenn sie direkt gereizt werden. Die Kontraktion unterbleibt hingegen, wenn der zugehörige Nerv gereizt wird. Damit wurde zum ersten Male die vom Nerv unabhängige Erregbar-
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Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
. Abb. 7.20
Ursprünglich war für das (+)-Tubocurarin (1) eine Strukturformel mit zwei quartären N-Atomen (= bisquartäre Ammoniumstruktur) vorgelegt worden. Von dieser lange Zeit als gültig angesehenen Struktur ausgehend, wurden Substanzen unterschiedlichster Struktur, jedoch unter Beibehaltung der bisquartären Ammoniumstruktur, synthetisiert. Inzwischen wurde die Strukturformel des (+)-Tubocurarins revidiert: Es liegt Struktur 2a mit einem quartären und einem tertiären N im Molekül vor. Moleküle dieses Aufbaus zeigen zwar ebenfalls Curarewirkung, allerdings in wesentlich abgeschwächter Form. Im Organismus liegt, abhängig vom pH-Wert der Gewebe, das tertiäre N-Atom protoniert vor (2b), sodass das Molekül nunmehr ebenfalls zwei positiv geladene Zentren aufweist. Bei diabetischer oder metabolischer Acidose wirkt daher Tubocurarinchlorid stärker als bei normaler Stoffwechsellage. Das offizinelle Präparat der PhEur, das Tubocurariniumchlorid-hydrochlorid, entspricht der Struktur 2b
keit der Muskulatur gezeigt und zugleich ergab sich eine Aussage über den Wirkungsort von Curare, der ofensichtlich zwischen Nerv und Muskeln liegen muss. Bernard erkannte, wie entsetzlich der Tod unter Curare sein müsse, weil bei voll erhaltenem Bewusstsein der Körper völlig aktions- und reaktionslos wird. Seit den Arbeiten Bernards wird daher Curare in der Forschung nicht mehr zur Immobilisierung von Versuchstieren herangezogen. Dass unter einer Curarevergitung auch die Schmerzempindlichkeit voll erhalten bleibt, lässt sich zwar aus dem Wirkungsmechanismus schlussfolgern, ist aber erst seit einem heroischen Selbstversuch aus dem Jahre 1947 gesichert. Der Proband (ein Anästhesist) erhielt unter Schutz durch künstliche Beatmung eine zur Lähmung aller Skelettmuskeln voll ausreichende (die 2fache!) Dosis. Bewusstsein und Schmerzempindlichkeit blieben die ganze Zeit über vollständig erhalten. Höchst unangenehm waren Erstickungsgefühle, da sich im Pharynx unverschluckter Speichel ansammelte (Smith et al. 1947). Der gegenwärtige Stand unserer Kenntnisse zur Wirkweise von Curare lässt sich kurz wie folgt zusammenfas-
sen: Wirkort sind die Acetylcholinrezeptoren der motorischen Endplatte. Stofe mit Curarewirkung binden an den Rezeptor und fungieren dort als kompetitive Antagonisten (= nichtdepolarisierende Muskelrelaxanzien) oder sie besitzen intrinsische Aktivität, d. h. sie wirken wie Acetylcholin im Überschuss, indem sie die Membran der motorischen Endplatte depolarisieren, zugleich aber die Repolarisation verhindern (= polarisierende Muskelrelaxanzien). Tubocurarin als Leitsubstanz: fehlerhafte Formel führt zu korrekten Resultaten. Der erste Curare-Inhaltsstof,
der in reiner Form isoliert werden konnte und für den eine Konstitutionsformel vorgeschlagen wurde, war das (+)Tubocurarin ( > Abb. 7.20). Damit stand erstmalig ein peripher wirkendes Muskelrelaxans für chirurgische Zwecke zur Verfügung. Vor allem aber diente die Struktur als Vorbild für die Synthese von peripher wirkenden Muskelrelaxanzien mit weniger Nebenwirkungen (wie Blutdruckabfall, Histaminfreisetzung und als Folge davon Bronchokonstriktion). Für Tubocurarin lag zu diesem Zeitpunkt
7.2 Pflanzliche Sekundärstoffe als Ideengeber (Leitstoffe) für Arzneistoffe
ein Formelvorschlag mit zwei quartären N-Atomen vor. Glücklicherweise, denn gerade diese, wie sich später erwies, nicht korrekte Formel, führte auf die richtige Spur, Substanzen mit zwei quartären N-Atomen, wenn auch mit ansonsten unterschiedlichster chemischer Struktur, zu synthetisieren. Die ersten Substanzen – sie wurden in großer Zahl hergestellt – waren bisquartäre Ammoniumverbindungen in Kettenform. Aus dieser Gruppe wird heute nur noch das Suxamethonium verwendet. Die größte
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Ähnlichkeit mit dem natürlichen Vorbild weist das Atracurium auf: Zwei substituierte Benzylisochinoline mit quartärem N sind über eine aliphatische Di-Esterkette miteinander verbunden. Sehr groß ist ferner die Zahl an Substanzen, bei denen Piperidiniumringe oder vergleichbare Heterozyklen mit einem Steroidgerüst – meist Androstan – verknüpt wurden. In Gebrauch stehen 2 dieser Vertreter: das Atracurium und das Pancuronium ( > Abb. 7.21).
. Abb. 7.21 –
–
Beispiele für peripher wirkende Muskelrelaxanzien, die nach dem natürlichen Vorbild des (+)-Tubocurarins synthetisiert worden sind. Die Konstitution der drei Substanzen ist höchst unterschiedlich. Die Curarewirkung wird von der bisquartären Ammoniumstruktur bestimmt, wobei die beiden quartären N-Atome einen Abstand von ca. 1,4 nm aufweisen müssen. Wenn die beiden quartären N-Atome Teil einer flexiblen aliphatischen Kette sind, so zeigt das Molekül intrinsische Aktivität, wobei jedoch im Unterschied zum physiologischen Acetylcholin keine Repolarisation erfolgt. Sind die beiden positiven N-Zentren Teil eines starren iso- oder auch heterozyklischen Systems (Beispiele: Atracurium, Vecuronium und Pancuronium), so beruht deren periphere Muskelrelaxanswirkung auf einer kompetitiven Hemmung des Acetylcholins (Näheres > Text)
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Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
Die Strukturformel des (+)-Tubocurarins wurde inzwischen revidiert: es handelt sich nicht um eine bisquartäre, sondern um eine monoquartäre Base ( > Abb. 7.20). Allerdings ist die monoquartäre Base nicht wirkungslos, da sie im physiologischen pH-Bereich (dem Masssenwirkungsgesetz folgend) partiell protoniert wird. Inzwischen hat sich auch eine Substanz klinisch bewährt, die der korrekten Tubocurarinformel folgend eine monoquartäre Base darstellt: das Vecuronium (= nor-Pancuronium). Anwendung. Die peripheren Muskelrelaxanzien sind
Hilfsmittel der Anästhesie, um bei größeren Operationen im Bauchraum unter Einsparung von Narkotika eine ausreichende Erschlafung der quergestreiten Muskulatur herbeizuführen. Auch bei verschiedenen orthopädischen Eingrifen (z. B. beim Wiedereinrichten von Knochenbrüchen) werden sie verwendet, weiterhin dazu, um Laryngoskopie, Bronchoskopie und Ösophagusskopie zu erleichtern. herapeutische Einsatzgebiete sind keine bekannt.
7.2.5 Pflanzenphysiologische Beobachtungen als Primäranregung: Entdeckung der Indolylessigsäure als Pharmakophor Arzneistofe mit unterschiedlichsten Anwendungsgebieten, wie das Antiarthriticum Indometacin, der Lipidsenker Cloibrat, das Diuretikum Etacrynsäure oder das Noo-
tropikum Meclofenat ( > Abb. 7.22), verdanken alle ihre Entwicklung dem Umstand, dass die Struktur der 3-Indolylessigsäure (IES) als allgemeiner Träger biologischer Wirkungen erkannt wurde. IES selbst kommt bei höheren Planzen in beinahe allen Organen vor. Es fungiert dort als Zellteilungshormon und steuert, zusammen mit anderen Planzenhormonen, zahlreiche Diferenzierungsvorgänge, indem über Signalkaskaden eine Veränderung der Genexpression induziert wird. Zum weiteren Verständnis wichtig ist das Phänomen der Biostereoisomerie. Als bioisoster im weiten Sinne bezeichnet man Moleküle mit einander ähnlichen physikalischen und/oder chemischen Eigenschaten, die gleiche oder ähnliche biologische Wirkungen aufweisen (hornber 1979). Tauscht man im IES-Molekül den Indolylrest gegen den 2,4-Dichlorphenoxy-Rest (2,4-D) aus, bleibt die hohe Auxinwirkung erhalten. Dennoch ergibt sich ein neues Anwendungsgebiet für die bioisostere Substanz dadurch, dass das synthetische 2,4-D von der Planze schlecht oder gar nicht inaktiviert werden kann. Nach Überschreiten eines Wirkungsoptimums erfolgt Wachstumshemmung: 2,4-D wird als Herbizid verwendet. Ringchlorierte Phenoxyessigsäure erwies sich als Pharmakophor in so unterschiedlich wirkenden Arzneistofen, wie eingangs beschrieben ( > Abb. 22.22). Das 5-Hydroxyderivat der Indolylessigsäure (IES) tritt beim Menschen als Abbauprodukt des Serotonins auf. Auf Grund von zwei Beobachtungen geriet das Molekül in das Blickfeld der Arzneimittelchemiker (Wermut 2003). Zum
. Abb. 7.22
3-Indolylessigsäure (IES) ist ein weit verbreiteter Wuchsstoff höherer Pflanzen. IES ist bioisoster mit 2,4-Dichlorphenoxyessigsäure (2,4-D), zeigt somit ebenfalls IES-Wirkung. Wird jedoch durch Erhöhung der Dosis ein bestimmtes Wirkungsoptimum überschritten, tritt Wachstumshemmung ein, und zwar bei 2,4-D in so ausgeprägter Form, dass es als Herbizid einsetzbar ist. Beide Substanzen (IES und 2,4-D) erwiesen sich als Pharmakophore, die höchst unterschiedlichen in der Humanmedizin eingesetzten Arzneistoffen zugrunde liegen
7.3 Pflanzliche Einzelstoffe als Rohstoffquelle für Arzneimittel
einen zeigte sich bei Rheumapatienten ein erhöhter Gehalt an IES und an anderen Tryptophanabbauprodukten im Harn, zum anderen gab es Hinweise für eine Beteiligung von Serotonin als Entzündungsmediator bei entzündlich-rheumatischen Prozessen. Es wurden über 350 Indolderivate synthetisiert und pharmakologisch getestet. Zwei Substanzen der Reihe gelangten in die klinische Prüfung, darunter das später als Antiarthriticum viel verwendete Indometacin.
7.3 Pflanzliche Einzelstoffe als Rohstoffquelle für Arzneimittel Mehr als 2000 Steroide sind in der Literatur beschrieben, einfache Varianten und Derivate nicht mit eingerechnet. Etwa 1% davon beanspruchen biologisches und/oder medizinisches Interesse als potentielle Arzneistofe. An die 100 Steroide werden zurzeit in der herapie eingesetzt, insbesondere x die Östrogene und Gestagene als Kontrazeptiva, x die Glucocorticoide als Antiasthmamittel und als Antiphlogistika,
7
x Substanzen wie Nandrolon und Matenolon als Anabolika und
x Testosteron/Testolacton als Androgene sowie Cyproteron als Antiandrogen. Zur Gewinnung der therapeutisch genutzten Steroide gibt es grundsätzlich drei Möglichkeiten: 1. die Isolierung aus tierischen Drüsen oder Körperlüssigkeiten, 2. die chemische Totalsynthese und 3. die Partialsynthese aus planzlichen Steroiden (Übersicht > Tabelle 7.5) oder aus leicht zugänglichen tierischen Produkten (Gallensäuren, Cholesterol), die das Steroidgerüst vorgebildet enthalten. Die heute therapeutisch verwendeten Steroide sind überwiegend halbsynthetische Produkte, die über Abbauprodukte aus Diosgenin, Hecogenin, Solasodin und Stigmasterin (= Stigmasterol) gewonnen werden ( > Abb. 7.23).Nur in speziellen Fällen, wie z. B. zur Darstellung von Mifepriston (RU 486), einem Antigestagen, der „Pille danach“, ist die Totalsynthese wirtschatlich konkurrenzfähig.
. Abb. 7.23
Zahlreiche Inhaltsstoffe höherer Pflanzen enthalten im Molekül das Steroidgerüst vorgebildet, das auch den Aufbau der Nebennierenrindenhormone und der Sexualhormone des Menschen kennzeichnet. Als Ausgangsmaterialien (Rohstoffe) zur Partialsynthese sind vor allem diejenigen pflanzlichen Steroide geeignet, die sich in einfacher Weise zu C21-Steroiden abbauen lassen. Im Diosgenin und im Hecogenin – analog im Solasodin – wird dieser Abbau durch die maskierte Carbonylfunktion (Ketal) am C-22 erleichtert. Im Stigmasterin ermöglicht die ∆22-Doppelbindung den oxidativen Abbau der Seitenkette. > dazu auch S. 982 und die Abb. 24.38
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7 . Abb. 7.24
Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
7.4 Pflanzenstoffe als Wirkstoffe – Die wichtige Unterscheidung von Wirkstoff und Arzneistoff
7
9 In bestimmten sekundären Pflanzenstoffen ( > Tabelle 7.5) ist das Steroidgerüst der Steroidhormone vorgebildet. Die Pflanzensteroide werden zunächst rein chemisch mittels oxidativer Verfahren zu Zwischenprodukten vom Typus des Progesterons (4) oder der Reichstein-Substanz S (3) abgebaut, die dann zu den gewünschten Endprodukten weiter modifiziert werden. Wenn immer möglich, bevorzugt man chemische Reaktionen: wenn jedoch Teilschritte regio- und stereospezifisch ablaufen sollen, werden Mikroorganismen einbezogen, deren Enzyme die betreffenden Biotranformationen (= Biokonversionen) durchführen: 11β-Hydroxylierung duch Curvularia lunata (Eumyceta) 3 o8; 11α-Hydroxylierung durch Rhizopus nigricans (Eumycota) 4 o 6; 1,2-Dehydrierung mittels Corynebacterium koagu (Eubacteria) 8 o9 und 10 o 11; β-Hydroxylierung am C-11 durch Curvularia lanata 3 o8; 1,2-Dehydrierung an immobilisierten Bakterienzellen von Corynebacterium simplex 8 o9; Überführung zum Testolacton mittels Cylindrocarpus radicola oder Aspergilllus tamarii 4 o5
Partialsynthese umfasst chemische und mikrobiologische Reaktionsschritte. Die technisch herzustellenden
Zielsteroide unterscheiden sich von den als Ausgangsmaterialien verwendeten Planzensteroiden durch eine unterschiedlich verkürzte Seitenkette an C-17. Somit besteht der erste „Syntheseschritt“ darin, diese Seitenkette abzubauen, was mit rein chemischen Abbautechniken bei all jenen Planzensteroiden gelingt, die in der Seitenkette chemisch angreibare funktionelle Gruppen – Doppelbindungen und/oder Sauerstoffunktionen – aufweisen. Hinsichtlich Details für diesen Typus von Seitenkettenabbau sei auf S. 982 ( > Abb. 24.38) verwiesen. Ausgangssteroide mit reaktionsträgen gesättigt-aliphatischen Seitenketten, beispielsweise Cholesterol und Sitosterol, lassen sich besser mittels mikrobiologischer Verfahren zu C19- oder C21- Steroidzwischenstufen abbauen. Technisch bewährt haben sich Kulturen von Mycobacterium phlei. Bei der Umwandlung von C21-Zwischenstufen in die verschiedenen Hormone spielen neben den entsprechenden chemischen Methoden auch mikrobiologische Verfahren eine Rolle. Enzyme aus Mikrorganismen zeichnen sich durch Regio- und Stereoselektivität aus, wodurch sie in bestimmten Fällen chemischen Reagenzien überlegen sind. Das erste mikrobiologische Verfahren, das sich technisch realisieren ließ, war die 11E-Hydroxylierung des Progesterons mit Hilfe von Rhizopus-nigricans-Kulturen. Eine weitere mikrobiologisch durchgeführte Reaktion ist die 1,2-Dehydrierung, die mittels spezialisierter Stämme von Corynebacterium simplex durchgeführt werden. Grundsätzlich lässt sich wohl jede beliebige Reaktion mikrobiologisch realisieren: Wenn dennoch die rein chemischen Techniken, wo immer möglich, bevorzugt werden, so liegt das an bestimmten Schwierigkeiten bei der Aubereitung der Fermentationsansätze. Die geringe Wasserlöslichkeit der Steroide zwingt zum Arbeiten in hoher Verdünnung, wodurch der Aufwand, die Reaktionsprodukte zu isolieren, entsprechend kostspielig wird. Konkurrenz-
fähig sind mikrobielle Umsetzungen allerdings dann, wenn es gelingt, die Immobilisierungstechnologie einzusetzen. Man versteht darunter verschiedene Verfahren zum Fixieren von Enzymen, Mikroorganismen oder Zellen auf bestimmten Trägern. Diese Technik hat den Vorteil, dass sich unter Mehrfachbenutzung der Enzym-/Zellpräparationen kontinuierlich arbeitende Verfahren entwickeln lassen. Beispielsweise gewinnt man eine Präparation zur 1,2-Dehydrierung von Hydrocortison zu Prednisolon ( > Abb. 7.24) in Form eines körnigen Pulvers, indem man frisch gezüchtete Bakterienzellen von Corynebacterium simplex mit Acrylamid und einem Vernetzungsmittel polymerisieren lässt.
7.4 Pflanzenstoffe als Wirkstoffe – Die wichtige Unterscheidung von Wirkstoff und Arzneistoff Von ihren Anfängen an war die Arzneimittelforschung ein Jahrhundert lang ärztlich-empirisch geprägt. Physiologische Methoden des Wirksamkeitsnachweises herrschten vor, bis dann ab den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts zunehmend biochemische sowie zell- und molekularbiologische Methoden Eingang in die Arzneimittelforschung fanden. Dieser Verschiebung der Forschungsschwerpunkte ist die Entwicklung der meisten heute von der naturwissenschatlich orientierten Medizin als wirksam und sicher anerkannten Medikamente zu verdanken. Bevorzugte Angrifspunkte dieser Arzneistofe, nach biochemischen Kriterien geordnet, sind die folgenden Strukturen: x Enzyme, x Zellmembranrezeptoren, x Zellkernrezeptoren, x Ionenkanäle und x die DNA.
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Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
Allein in die Gruppe „Zellmembranrezeptoren als Angrifspunkt“ lassen sich 52% unserer heutigen Medikamente einordnen (Drews 1992). Die biochemischen Methoden, die zum Nachweis von Arzneimittelwirkungen entwickelt worden sind, sind naturgemäß weniger aufwendig als Untersuchungen am Ganztier oder humanpharmakologische Untersuchungen, einmal abgesehen von den gesetzlichen Einschränkungen. Man könnte vermuten, das Eindringen biochemischer und molekularbiologischer Methoden zur Prüfung von Arzneimittelwirkungen würde auch die Entdeckung neuer Arzneimittelwirkungen und die Entwicklung innovativer Arzneistofe wesentlich erleichtern. Dies scheint nicht er Fall zu sein: Je niederer die Ebene des Prüfsystems (intakter Organismus o Organ o Gewebe o Zelle o subzelluläre Struktur o Reagenzglasansatz) umso weiter entfernt sich das Prüfsystem von der Realität, die Erkrankung des Menschen zu repräsentieren. Wie wenig sich aus einer bloßen Einzelwirkung auf einen potentiellen therapeutischen Nutzen schließen lässt, zeigt am Beispiel einiger Planzenstofe die Zusammenstellung der > Tabelle 7.4. Wenn eine Substanz therapeutisch wirksam ist, lassen sich auf den unterschiedlichsten Prüfebenen biochemische, biologische und/oder pharmakologische Wirkungen nachweisen. Es gilt aber keineswegs der Umkehrschluss, dass sich aus Wirkungen auf therapeutische Wirksamkeit schließen ließe. Zum Nachweis der therapeutischen Wirksamkeit sind klinische Studien unerlässlich. Aus pharmazeutischer Sicht kommt als Voraussetzung für eine potentielle Wirksamkeit hinzu, dass der betrefende Stof in ausreichender Menge an seinen Zielort gelangt; nicht selten hemmen Barrieren den Zutritt zu den Zielstrukturen (Targets) oder der potentielle Arzneistof wird während des Transports zu unwirksamen Metaboliten abgebaut. Es lässt sich vermuten: Bei der großen Auswahl an biochemischen und pharmakologischen Prüfmethoden dürte jeder beliebige Planzenstof in irgendeinem System und bei entsprechend hoher Dosierung eine Wirkung aufweisen. Auf jeden Fall steht einer kleinen Zahl an arzneilich verwendeten Planzenstofen eine wesentlich größere Zahl an Planzenstofen gegenüber, von denen biologische und/oder pharmakologische Wirkungen nachgewiesen wurden. Hinweis für die Beratungspraxis. Informationsmaterial,
das von den Herstellern planzlicher Arzneimittel zur Verfügung gestellt wird, enthält ot Aufstellungen über pharmakologische Wirkungen, die Planzenextrakt und be-
. Tabelle 7.4 Beispiele für Wirkungen von Alkaloiden auf Rezeptoren, rezeptorgekoppelte Ionenkanäle und Enzyme Molekulare Angriffspunkte
Alkaloid(e)
Neurorezeptoren Cholinerges System
Berberin, Galanthamin, Hyoscyamin, Lobelin, Physostgmin, Sempervirin
Adrenerges System
Cocain, Ephedrin, Harmala-Alkaloide, Nicotin
Opiatrezeptoren
Morphin
Serotoninerge Rezeptoren
Lysergsäurederivate, Harmin, Mescalin, Psilocin
Purinrezeptoren
Coffein, Theophyllin
Aminosäurerezeptoren
Strychnin (o Glycin), Bicucculin (oGABA)
Transmembranäre Transportprozesse Na+-K+-Transportsystem
Berberin, Cassain (Erythrophleumalkaloide), Chinin, Harmalin
Bindung an Natriumkanäle
Veratridin
Enzyme Alkalische Phosphatase
Theophyllin
Leberalkoholdehydrogenase
Protoberberine
Pyrixoxalphosphatenzyme Mimosin Enzyme der Glykolyse
Chinidin
Tyrosinhydroxylase
Isochinolinalkaloide
stimmte Extraktivstofe aufweisen. Damit soll der wissenschatliche Charakter des Mittels herausgestellt und das Vertrauen in das Mittel gestärkt werden. Demgegenüber muss festgehalten werden: Experimentell-pharmakologische Studien können valide klinische Studien zur therapeutischen Wirksamkeit nicht ersetzen.
7.5 Pflanzenstoffe im Vergleich mit synthetischen Stoffen
7.5 Pflanzenstoffe im Vergleich mit synthetischen Stoffen Das neu erwachte große Interesse an Planzenstofen hängt eng mit einem unter dem Einluss der Molekulargenetik sich anbahnenden Wandel in der Medizin zusammen: vom chemischen hin zum informationell-kybernetischen Paradigma (Drews 1992, 1999). Was man sich darunter vorzustellen hat, sei zunächst kurz skizziert. Man versteht unter einem Paradigma (griech.: paradígma >Beispiel, Muster@) die Gesamtheit der zu einem bestimmten Zeitpunkt innerhalb einer Wissenschat herrschenden Grundüberzeugung, die von der Mehrheit der wissenschatlichen Gemeinschat geteilt wird. Es dient als Grundlage für die Auswahl von Forschungsproblemen. Im vorliegenden Falle handelt es sich um die Rolle der DNA und des Genoms zur Deutung von Krankheit und um neue Ansätze für die Arzneitherapie. In Form kurzer Leitsätze zusammengefasst (nach Drews 1999, gekürzt): 1. Alle Lebensvorgänge werden durch ein genetisches Programm gelenkt, das in der DNA niedergelegt ist. 2. Zu dem genetischen System gehören Kontrollelemente, die die in der DNA niedergelegte Information in geordnete, zeitlich sich ändernde, räumliche Strukturen umwandelt. Man spricht von einem sich selbst organisierenden Informationssystem. 3. Krankheiten werden verstanden entweder als Folge von Informationsdeiziten oder als Inkompatibilitäten zwischen dem genetischen Programm und schädlichen Umwelteinlüssen. 4. Im Genom festgelegt ist auch eine Disposition für bestimmte multifaktorielle Krankheiten wie Asthma, Arteriosklerose, Bluthochdruck, Diabetes mellitus, Krebs, Osteoporose u. a. m. 5. Die Behandlung einer multifaktoriellen Krankheit muss im idealen Fall darin bestehen, eine fehlerhate Information zu korrigieren. Das kann auf der Ebene der DNA erfolgen (Gentherapie) oder auf der Ebene der durch das Genom speziizierten Proteine (Arzneitherapie). Von Proteindomänen zu Leitstoffen für neue Arzneimittel. In der Sprache der Molekularbiologie formuliert,
beruht eine Arzneimittelwirkung auf einer Wechselwirkung zwischen einer niedermolekularen chemischen Substanz, dem Arzneistof, und einem Protein im Innern einer Zelle oder auf einer Zellmembran. Durch die Wechselwirkung werden ganz bestimmte biochemische und/oder
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physiologische Änderungen hervorgerufen, die aber ausschließlich quantitativer Natur sind: Arzneistofe vermögen nur die normalen Funktionen von Zellen, Geweben oder Organen zu verstärken oder abzuschwächen, aber keine qualitativen Änderungen physiologischer Abläufe herbeizuführen. Könnte es möglich sein, die menschlichen Proteine zu katalogisieren und Liganden für diese Proteine zu inden, und zwar mittels bloßer Bindungsmessungen? An potentiellen Liganden herrscht kein Mangel: Wir kennen ca.1,5 Millionen synthetischer Stofe und ca. 120.000 Naturstofe. Allerdings ist die Zahl der Proteine, die der menschliche Organismus bildet, sehr groß: Die Schätzungen liegen zwischen 100.000 und 450.000. Die astronomische Zahl an Kombinationsmöglichkeiten zwischen Proteinen und Liganden versucht man einzuschränken: auf der Seite der Proteine, indem man anstelle der Proteine lediglich die Proteindomänen als Rezeptorstrukturen ins Kalkül zieht, auf der Seite potentieller Liganden, indem man nicht wahllos chemisch-synthetische Substanzen prüt, sondern vorzugsweise Planzenstofe und Stofe mikrobieller Herkunt. Proteinfaltung, Proteindomänen, Proteinfunktion. Die
Proteine zeigen einen modularen Aubau, d. h. sie sind aus einer kleineren Anzahl immer wiederkehrender Bauelemente aufgebaut, die man als Domänen bezeichnet. Domänen sind also Bauelemente, die sich mehr oder weniger unabhängig vom Rest des Proteinmoleküls falten. Mehrere Domänen eines Proteins sind jeweils durch mehr oder weniger komplexe Polypeptidstrukturen untereinander verbunden. Die Tausende bekannter Proteinstrukturen sind aus einem zahlenmäßig wesentlich kleineren Fundus an Domänen aufgebaut. Da die Domänen die wesentlichen Zentren für die Funktion eines Proteins darstellen, braucht man für die Wirkstofsuche nicht die Proteine als Ganzes im Blickfeld haben, sondern nur den begrenzten Vorrat an Domänen, um dazu passende Liganden zu inden. Die Moleküle, die sich am besten an Proteine heften können, findet man in der Natur. Um an Proteindomä-
nen zu binden, steht ein Reservoir von etwa 1,5 Millionen niedermolekularen synthetischen Stofen und von etwa 120.000 Planzenstofen zur Verfügung, wobei in der folgenden Betrachtung unter Planzenstofe auch die aus Mikroorganismen isolierten Einzelstofe mitgezählt werden sollen. Rein statistisch gesehen sollte somit nur etwa 1% unserer Arzneimittel auf Naturstofe entfallen, d. h. so
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Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
. Tabelle 7.5 Übersicht über Rohstoffe mit steroidalen Inhaltsstoffen, die zur Partialsynthese von Steroidhormonen verwendet werden Pflanzenart
Heimat/Herkunft
Benutztes Anmerkungen Organ
Dioscorea deltoidea WALL. ex KUNTH
Ostafghanistan, Pakistan, Indien
Holzige Rhizome
Für kommerziellen Anbau geeignet: Kultiviert in Indien, Kenia
Dioscorea floribunda M. MARTENS ET GALEOTTI
Mexiko und Guatemala
Knollen
Vorzugsweise aus Wildvorkommen gesammelt
Dioscorea macrostachya BENTH. (Synonym: D. composita HEMSL.)
Südmexiko bis Panama
Knollen
Sammlung aus Wildvorkommen, in den USA auch Versuchskulturen
Dioscorea montana (BURCH.) SPRENG. (Synonym: D. sylvatica ECKLON)
Subtropisches Südafrika
Knollen
Wildbestände genutzt und stark dezimiert; in Kenia als Kreuzungspartner in Versuchkultur
Dioscorea spiculiflora HEMSL. (Synonym: D. mexicana auct. biochem.
Südmexiko, Guatemala
Knollen
Sammlung aus Wildvorkommen; Kultivierungsversuche in Mexiko und auf Puerto Rico
Trigonella foenum-graecum L.
Kulturpflanze der gemäßigten Zonen
Samen
Gehalt ist gering, ein Nachteil, der durch leichte Kultivierbarkeit ausgeglichen wird
Agave sisalana PERR.
Länder tropischer Zonen
Blätter
Die Steroidextraktion wird als Nebenprodukt der Fasergewinnung (Sisal) betrieben
Sarsapogenin Yucca brevifolia ENGELM.
Südostkalifornien, Arizona, Nevada
Samen
Reichlich Wildbestände, z. B. in der Mojavewüste
Solasodin
Tropisches Amerika Unreife Früchte
Nachteilig: Der Solasodingehalt nimmt mit der Reife sehr stark ab
Uralte Kulturpflanze Samen
Die Phytosterolfraktion fällt als Nebenprodukt bei der Ölgewinnung an
Rohstoff Diosgenin
Hecogenin
Solanum marginatum L.
Stigmasterin Glycine max. (L.) MERR. und (Stigmasterol) Glycine soja SIEB. et ZUCC.
gut wie alle Arzneistofe sollten Synthetika darstellen. In Wirklichkeit sind aber etwa 40% der in den letzten Jahren zugelassenen Arzneimittel Naturstofe, Naturstofderivate oder Naturstofanaloga, und entsprechend entfällt etwa die Hälte des weltweiten Arzneimittelmarktes von ca. 150 Milliarden Euro pro Jahr auf diese Stoklasse (Zeek et al. 2001). Warum ist die Wahrscheinlichkeit, im kleinen Arsenal der Naturstofe einen Arzneistof zu inden, wesentlich größer, als im 100fach größeren Arsenal reiner Synthetika? Bisher lassen sich dafür drei Gründe anführen: x Der Pool an Naturstofen bietet eine größere Mannigfaltigkeit an komplexen Strukturen dar. Die Phantasie des Chemikers ist außerstande, Moleküle zu entwerfen, wie sie die Natur im Verlaufe von Jahrmillionen Evolution „erfunden“ hat.
x Die Planzenstofe sind dank der gemeinsamen Evolution von planzlichen und tierischen Organismen in besonderer Weise an potentielle Zielstrukturen (Targets) angepasst. Beispielsweise wurden Moleküle wie Strychnin, Nicotin und die Alkaloide insgesamt im Verlaufe der Evolution speziell darauhin selektioniert, sich an bestimmte Proteine von Fressfeinden zu binden und sie auf diese Weise zu schädigen. Weitere Beispiele > Tabelle 7.4. x Planzen synthetisieren Moleküle mit struktureller Ähnlichkeit zu essentiellen Molekülen (z. B. Hormonen) des Säugetierorganismus, ein Ausdruck dafür, dass Planze und Tier Enzymproteine mit identischen oder zumindest ähnlichen Proteindomänen aufweisen. Beispielsweise indet sich das Steroidgerüst
Literatur
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. Abb. 7.25
Strukturformel des Ergolins, d. h. das Grundgerüst der Mutterkornalkaloide (zu deren Struktur > Abschnitt 27.10). Über das Formelbild des Ergolins (schwache Linien) ist jeweils die Struktur der 3 biogenen Amine Noradrenalin, Dopamin und Serotonin projiziert (dicke Linien). Damit sollen experimentelle Befunde dahingehend illustriert werden, dass sich im Ergolin bzw. in Derivaten des Ergolins Affinitäten zu den Rezeptoren aller drei Neurohormone und Überträgerstoffe vorgebildet finden. Beispiele: Im 9,10-Dihydroergotamin dominiert die α-adrenolytische Wirkungskomponente, Bromocriptin wirkt zentral dopaminerg, Lisurid und Metergolin zentral dopaminagonistisch und serotoninantagonistisch, Methysergid serotoninantagonistisch und Pergolid schließlich agonistisch auf D1- und D2-Rezeptoren
gleichermaßen in Substanzen, die von Mikroorganismen, von Pilzen und von Tieren gebildet werden. Darauf beruht z. B. die Möglichkeit, Planzenstofe als Rohstofe zur Partialsynthese von Steroidhormonen heranzuziehen ( > Tabelle 7.5). In anderen Fällen ist die strukturelle Ähnlichkeit Ursache für agonistische und antagonistische Arzneimittelwirkungen. Ein schönes Beispiel für dieses mimetische Prinzip der Arzneimittelwirkung bietet das Ergolinmolekül ( > Abb. 7.25). Die neue Forschungsrichtung läut auf die Entwicklung molekularer Testsysteme hinaus. Hinsichtlich der Relevanz für die praktische herapie gelten die gleichen Vorbehalte, wie sie im vorhergehenden Kapitel allgemein in Bezug auf biologische und pharmakologische Testsyste-
me formuliert worden sind. Niemand weiß bisher, welche Zielorte sich in vivo, d. h. am Patienten tatsächlich nutzen lassen. Auch ist jedes Krankheitsgeschehen auf molekularer Ebene multifaktoriell. Man schätzt, dass pro Krankheit bis zu 100 Zielorte in Form molekularer Testsysteme bereitgestellt und mit allen verfügbaren Substanzen durchgeprüt werden müssen. Ob es überhaupt ein erfolgversprechender Weg ist, Krankheitsgeschehen und Arzneimittelwirkungen auf molekulare Vorgänge zu reduzieren, ist ebenfalls diskussionswürdig. Im Zusammenhang des vorliegenden Kapitels, das der Bedeutung der Planzenstofe in der Medizin gewidmet ist, ging es lediglich darum, herauszustellen: Naturstofmoleküle sind gegenüber rein chemischen Substanzen die besseren Kandidaten als Leitstofe für neue Arzneistofe.
Schlüsselbegriffe Arzneistoff im Unterschied zu Wirkstoff Atropin als Leitstoff für Antiasthmatika Curaregifte als Wirkstoffmodelle ethnobotanisches Screening Ethnomedizin Huperzin
Leitstruktur Mikrotubuli als Zielstrukturen Molekülvarianten des Morphin naturidentischer Stoff pflanzliche Rohstoffe, Pharmakophor Prinzip der Molekülvariation
Proteindomänen als Zielstruktur strumigene Pflanzenstoffe Topoisomerasen als Zielstrukturen Proteomikforschung Wirkstoff Wirkstoffscreening
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Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
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8 8 Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen R. Hänsel, E. Spiess 8.1
Pharmakognostische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 8.1.1 Grundbegrife . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 8.1.2 Strukturierte Drogen und deren morphologische Kennzeichnung . . . . . . . . . . . . . . . 191
8.2
Pharmazeutische Qualität planzlicher Arzneidrogen 8.2.1 Hauptfaktoren, die die Qualität bestimmen . . . 8.2.2 Qualitätsanforderungen nach Arzneibuch . . . 8.2.3 Lagerung von Drogen . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.4 Kontamination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.5 Spezielle Probleme des Qualitätsnachweises . .
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8.3
Planzliche Arzneizubereitungen . . . . . . . 8.3.1 Zubereitungen aus Frischplanzen . . . 8.3.2 Teedrogen und Teegemische . . . . . . 8.3.3 Einfache nichtwässrige Drogenauszüge
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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
> Einleitung Getrocknete Pflanzenteile vieler Hunderter von Pflanzen werden weltweit für medizinische Zwecke verwendet. Die erste Voraussetzung, um über eine bestimmte Arzneidroge etwas aussagen zu können, ist, unabhängig von regionalen Namensgebungen, wissenschaftliche Regeln für die Benennung pflanzlicher Arzneidrogen festzulegen. Mit diesen allgemeinen Regeln befasst sich der Abschnitt 8.1. Verwechslungen von Drogen können fatale Folgen haben. Wer einen Arzneitee verwendet, muss daher sicher sein, x dass die richtigen Pflanzenteile verwendet werden, x dass das pflanzliche Produkt frei von schädlichen Umweltgiften ist, x dass es die vorgeschriebenen Inhaltsstoffe in vorgeschriebener Menge enthält, x dass die Pflanzenteile von der Ernte bis zur Lagerung und schließlich bis zur Abgabe an den Endverbraucher vorschriftsmäßig behandelt worden sind, dass sie insbesondere frei von Schimmelpilzgiften (Mykotoxinen) sind. Mit Methoden, die diese pharmazeutische Qualität von pflanzlichen Arzneidrogen sicherstellen, beschäftigt sich der Abschnitt 8.2. Der Abschnitt 8.3 schließlich beschreibt die allgemeinen Eigenschaften von einfachen industriell hergestellten Zubereitungen wie Tees in Aufgussbeuteln, Tinkturen, Fluidextrakte und arzneiliche Öle.
8.1 Pharmakognostische Grundlagen 8.1.1 Grundbegriffe Unter dem Begrif „Droge“ im weiteren Sinne sind Rohstofe aus dem Planzen- und Tierreich zu verstehen, die zu Arzneimitteln, Riechstofen, Gewürzen, Geschmackskorrigenzien und Hilfsstofen der Arzneiformung verwendet werden. Unter planzlichen Drogen versteht man x die durch Trocknen in den Drogenzustand übergeführten Planzen oder Planzenorgane oder Teile von Planzenorganen,
x ferner die aus Planzen gewonnenen Produkte, die keine Organstruktur mehr aufweisen, wie die ätherischen Öle, fetten Öle, Balsame, Harze und Gummen. Der Name „Droge“ lässt sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen und bedeutet „trocken“. Nach der Deinition der PhEur 5 (Mongraphie 01/2005:1433) gibt es allerdings auch „frische Drogen“. Die Deinition lautet wie folgt: „Planzliche Drogen („herbal drugs“) bestehen im Allgemeinen aus noch unverarbeiteten ganzen, zerkleinerten oder geschnittenen Planzen, Planzenteilen, Algen, Pilzen oder Flechten; sie werden gewöhnlich in getrocknetem, manchmal auch in frischem Zustand verwendet. Als Drogen werden weiterhin auch bestimmte planzliche Ausscheidungen betrachtet, sofern sie noch nicht weiter verarbeitet sind.“ In der Alltagssprache hat, ofensichtlich unter dem Einluss des Englischen, das Wort Droge die Nebenbedeutung von Rauschgit angenommen. Das englische „drug“ bedeutet Arzneimittel allgemein und sodann auch Arzneimittel, die süchtig machen und zu einer Gewöhnung führen. Zur Präzisierung kann im Deutschen das Wort Drogen durch Arzneidrogen ersetzt werden. Der Ausdruck Heilkräuter ist eine volkstümliche Bezeichnung für planzliche Arzneidrogen, unabhängig davon, ob es sich um getrocknete Kräuter oder um Wurzel-, Rinden-, Frucht- oder Blütenteile handelt. Planzliche Arzneidrogen werden zur Teezubereitung verwendet, oder sie dienen als Ausgangsmaterial zur Herstellung von Phytopharmaka. Diese hemen werden in Kap. 9 eingehend besprochen. Die Grenzen zwischen Teedrogen und „Phytopharmakadrogen“ sind ließend, beispielsweise verwendet man die Baldrianwurzel sowohl in Form eines Teeaufgusses als auch in Form unterschiedlichster Fertigarzneimittel. Eine 3. Gruppe bilden die Industriedrogen. Industriedrogen dienen als Rohstof zur Isolierung von Einzelwirkstoffen: Digoxin und Digitoxin aus Digitalis lanatae folium; Morphin, Codein und Noscapin aus Opium; Scopolamin aus Blättern von Duboisia myoporoides. In anderen Fällen dienen Industriedrogen lediglich dazu, Substanzen zu gewinnen, die dann sekundär, partialsynthetisch, in die eigentlichen Arzneistofe umgewandelt werden. Als Industriedrogen wichtig sind bestimmte Dioscorea-Arten, insbesondere D. loribunda M. Martens et Galeotti, aus denen Diosgenin gewonnen wird, ein Ausgangsmaterial zur Partialsynthese von Steroidhormonen.
8.1 Pharmakologische Grundlagen
8.1.2 Strukturierte Drogen und deren morphologische Kennzeichnung Die folgende Darlegung beschränkt sich auf planzliche Arzneidrogen. Außer Betracht bleiben Drogen tierischer Herkunt wie Ambra, Moschus, Ochsengalle, Spanische Fliege u. a. Außer Betracht bleiben ferner unstrukturierte Drogen wie die ätherischen Öle, die Balsame, Gummen und Harze. Im Folgenden wird eine kurze morphologische Charakteristik von Planzenorganen oder Teilen von Planzenorganen gegeben, die als Arzneidrogen verwendet werden.
Radixdrogen (Wurzeldrogen) Die Radixdroge setzt sich aus der Haupt- und Pfahlwurzel einer Arzneiplanze zusammen. Allerdings deckt sich die pharmazeutische Bezeichnung Radix (Wurzel) nicht immer mit dem morphologischen Begrif „Wurzel“. Es gibt eine Anzahl von Radixdrogen, die aus Wurzeln und Teilen der Sprossachse bestehen. Dabei kann es sich um Rhizome handeln, die zusammen mit den Wurzeln gesammelt werden, oder um Rhizome, die nach unten allmählich in die Wurzel übergehen. Auch werden „Rüben“ als Radices bezeichnet, zumindest im Falle der Rhabarberwurzel PhEur. Die Pharmakopöen führen im Titel der Monographien den Terminus Radix bzw. Wurzel an, auch wenn die Droge nicht ausschließlich aus Wurzelteilen, sondern zusätzlich auch aus Rhizomteilen besteht. Beispiele der PhEur: Angelikawurzel (Angelicae radix), Baldrianwurzel (Valerianae radix), Enzianwurzel (Gentianae radix), Liebstöckelwurzel (Levistici radix) und Primelwurzel (Primulae radix).
Rhizomdrogen Rhizome (Wurzelstöcke) sind unterirdisch wachsende, verdickte Sprossachsen ausdauernder Kräuter mit manchmal (bei horizontalem Wachstum) ausgeprägter Dorsiventralität. Auf der unteren Seite sind sie bewurzelt, die andere Seite entwickelt alljährlich neue und nach der Fruchtreife wieder absterbende Sprossen. Die Blatt- und Sprossnarben sind es auch, die bei der pharmakognostischen Analyse schon makroskopisch auf das Vorliegen eines Rhizoms hinweisen. Die Rhizome der Liliopsida [A1 bis A10] geben sich durch verstreute Anordnung der Leitbün-
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del zu erkennen; Rhizome der Rosopsida [B1 bis B29] weisen den Bau einer Sprossachse nach sekundärem Dickenwachstum auf. Beispiel für Rhizomdrogen: Cimicifugawurzelstock (Cimicifugae rhizoma), Javanische Gelbwurz (Curcuma xanthorrhizae rhizoma), Kavakavawurzelstock (KavaKava rhizoma), Tormentillwurzelstock (Tormentillae rhizoma).
Tubera (Knollen) Meist unterirdische Speicherorgane von verschiedener Form (kugelig bis oval oder länglich). Eine Knolle kann morphologisch aus verschiedenen Teilen hervorgehen, danach unterscheidet man Spross-, Hypokotyl- und Wurzelknollen. Die Kartofel bildet Sprossknollen, die Salep tuber und Jalapae tuber stellen Wurzelknollen dar; Aconiti tuber hingegen sind kleine Rüben.
Cortexdrogen (Rindendrogen) Cortex als pharmazeutischer Begrif deckt sich nicht mit dem morphologischen Begrif Rinde. Rinde nennt man in der Morphologie die Gewebe außerhalb des Zentralzylinders. Die Rindendrogen oder Cortices stammen ausschließlich von ausdauernden Holzplanzen nach sekundärem Dickenwachstum. Die Bezeichnung meint den Teil der Sprossachse oder der Wurzel dieser Holzplanzen, die außerhalb des Cambiumringes liegt. Der Teil innerhalb des Cambiumringes hingegen liefert Lignumdrogen. Darüber hinaus legen die Arzneibücher für jeden Einzelfall fest, ob unter der betrefenden Cortex der gesamte außerhalb des Cambiums gelegene Teil von Sprossachse und Wurzel zu verstehen ist oder ob Teile der Rinde zu entfernen sind. Schließlich gehört zur pharmazeutischen Deinition der jeweiligen Rindendroge, ob Stammrinde oder Wurzelrinde gemeint ist. Beispiele für Cortexdrogen: Cascararinde (Rhamni purshiani cortex), Chinarinde (Cinchonae cortex), Faulbaumrinde (Frangulae cortex), Hamamelisrinde (Hamamelidis cortex), Weidenrinde (Salicis cortex), Zimtrinde (Cinnamomi cortex).
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
Foliumdrogen (Blattdrogen)
Bulbusdrogen (Zwiebeldrogen)
Unter Foliumdrogen versteht man Laubblätter. Das Laubblatt gliedert sich in einen Blattgrund (ot mit Nebenblättern [Stipulae] oder einer Blattscheide [Ochrea] ausgestattet), einen Blattstiel (Petiolus), der auch fehlen kann, und die Blattspreite (Lamina). Diese kann ungeteilt (Belladonnae folium) oder geteilt sein (geingert, z. B. Potentillareptans-Kraut [Füningerkraut], iederartig bei Juglandis folium). Bei geiederten Blättern heißt die Spreitenachse in Fortsetzung des Blattstiels Blattspindel (Rachis). Nebenblattbildungen sind häuig Familiencharakteristika, so die Nebenblätter der Rosengewächse (Rosaceae), die Ochrea (eine Stipularöhre) bei den Knöterichgewächsen (Polygonaceae) usw. Für manche Familien ist eine Blattscheide typisch (Apiaceae, Poaceae). Diagnostisch wichtig kann die Ausbildung des Blattrandes sein, ferner der Verlauf der Leitbündel, die Nervatur. Von größtem diagnostischem Wert – insbesondere bei der Analyse von Planzenpulvern – ist die mannigfache Ausgestaltung der Epidermis mit den verschiedenartigsten Haarbildungen (z. B. Rosaceenhaare, Labiatendrüsenschuppen). Diagnostisch wichtig sind ferner x Bau der Spaltöfnungen; x die Anordnung von Pallisaden- und Schwammparenchym, d. h. die Ausgestaltung des Mesophylls zwischen oberer und unterer Epidermis: Uvae ursi folium ist ein Beispiel für ein dorsiventrales (bifaciales) Blatt, Sennae folium für ein isolateral gebautes Blatt, d. h. die Unterseite gleicht einigermaßen der Oberseite; x das Vorkommen von Exkreträumen (z. B. bei CitrusArten); x das Vorkommen von Schleimzellen (z. B. bei Althaeaund Malva-Arten); x das Vorkommen von verschiedenartigen Kristallbildungen (darauf beruht z. B. die Unterscheidungsmöglichkeit von Solanaceenblättern).
Die Zwiebel ist ein umgewandelter, meist unterirdischer Speicherspross, dessen Achse scheibenförmig abgelacht ist und dessen leischig angeschwollene Blätter mit Reservestofen gefüllt sind. Zwiebeldrogen stellen nicht immer die Zwiebel in ihrer Gesamtheit dar; z. B. besteht die Meerzwiebel, Scillae bulbus, lediglich aus den getrockneten, mittleren leischigen Zwiebelschuppen. Die Knoblauchzwiebel (Allii sativi bulbus) wird nicht von ineinander geschachtelten Blättern gebildet, vielmehr verschließt ein Hüllblatt eine ganze Gruppe kleiner Zwiebeln, die jeweils nur von einem einzigen verdickten Blatt gebildet werden.
Foliumdrogen können reine Laubblattdrogen sein; in einigen Fällen können sie auch zusätzlich blühende Zweigspitzen enthalten. Beispiele für Foliumdrogen, die Zweigspitzen enthalten: Belladonnablätter (Belladonnae folium), Hyoscyamusblätter (Hyoscyami folium), Orthosiphonblätter (Orthosiphonis folium) und Stramoniumblätter (Stramonii folium).
Flosdrogen (Blütendrogen) Eine Blütendroge kann aus getrockneten Einzelblüten oder aus getrockneten Blütenständen bestehen. Morphologisch ist die Blüte derjenige Sprossabschnitt, dessen Blätter für geschlechtliche Fortplanzung umgestaltet sind. Eine vollständige Blüte besteht aus Kelchblättern (Sepalen), Kronblättern (Petalen), Androeceum und Gynoeceum. Der morphologische Begrif Blüte und der pharmazeutische Begrif Flos (Blütendroge) sind in der Regel nicht deckungsgleich. Beispiele: x Lindenblüten, Tiliae los, bestehen aus dem gesamten Blütenstand zusammen mit einem Hochblatt; x Arnikablüten, Arnicae los, bestehen aus den getrockneten Blütenständen (Pseudanthien); x Hibiscusblüten, Hibisci los, bestehen aus getrockneten Kelchen und Außenkelchen; x Lavendelblüten, Lavandulae los, bestehen aus den Blütenknospen mit den Kelchen und Hochblättern; x Gewürznelken, Caryophylli los, stellen ebenfalls Blütenknospen, nicht eigentlich Blüten dar; x Safran, Croci stigma, besteht lediglich aus den Narbenschenkeln; x Kamillenblüten, Matricariae los, bestehen aus den getrockneten Blütenständen (Pseudanthien); x Hopfenblüten (Hopfenzapfen), Lupuli strobuli, bestehen aus den weiblichen Blütenständen.
8.1 Pharmakologische Grundlagen
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Fructusdrogen (Fruchtdrogen)
x Sabalfrüchte (Sabal fructus) bestehen aus den Beeren
Unter einer Frucht (lat.: „fructus“) versteht man alle diejenigen Organe der Planze, die die Samen bis zur Reife umschließen und dann zu deren Verbreitung dienen. Nach einer anderen Deinition ist die Frucht „die Blüte im Zustand der Samenreife“, sodass auch erhalten bleibende Teile des Perianths und Bildungen der Achse einbezogen sind. Keine der wissenschatlichen Deinitionen trit auf die samenlosen Früchte, zu denen u. a. Banane und Ananas gehören, zu. Die verschiedenen Fruchttypen werden nach unterschiedlichen Gesichtspunkten eingeteilt: x nach dem Verhalten der Samen zur Reifezeit (Streuund Öfnungsfrüchte, Schließfrüchte), x nach der Ausbildung des Pericarps (Trockenfrüchte, Satfrüchte), x nach Karpellzahl und Verwachsung (Einzelblattfrucht, chorikarpe Frucht, coenokarpe Frucht).
x Wacholderbeeren (Juniperi fructus) stammen von Ju-
mit endständigen Grifelresten;
Die Literatur über die Einteilung der Früchte ist umfangreich und die Zahl der unterschiedenen Typen kaum überschaubar (Wagenitz 1996). Der wissenschatlich-botanische Begrif Frucht deckt sich nicht in allen Fällen mit der pharmazeutischen Verwendung des Begrifes „Fructus“ bzw. „Fruchtdroge“. Dafür einige Beispiele: x Anis (Anisi fructus) ist in der Handelsware meist mit den Stielchen versehen; x Fenchel (Foeniculi fructus) besteht aus den Teilfrüchten der Doppelachäne; x Kümmel (Carvi fructus) besteht ebenfalls als Droge im getrockneten Zustand aus den getrennten Teilfrüchten; x Hagebutten (Cynosbati fructus cum semine) stellen ganze Scheinfrüchte dar: Sie bestehen aus den getrockneten Achsenbechern mit darin liegenden Früchten verschiedener Rosa-Arten, insbesondere der Hundsrose (Rosa canina L.) und der Alpenheckenrose (Rosa pendulina L.). Die Früchte werden ot fälschlicherweise als Samen bezeichnet. Hinweis: In der PhEur ist die Droge nicht genannt, jedoch sind Rosae pseudo-fructus (Hagebuttenschalen) aufgeführt, die aus dem krugförmigen Blütenboden ohne Früchte (Nüsschen) und ohne die Haare des Achsenbechers bestehen; x Mariendistelfrüchte (Cardui mariae fructus) bestehen aus Achänen ohne Pappus;
niperus communis L., einem Vertreter der Nacktsamer (Coniferophytina), die keine den Magnoliophytina (Angiospermae) vergleichbaren Früchte bilden. Bei den Wacholderbeeren werden die harten Samen von umgewandelten Blättern so umhüllt, dass der Eindruck einer Beere entsteht („Beerenzapfen“).
Semendrogen (Samendrogen) Der Samen ist das Organ der Samenplanzen (Gymnospermen und Angiospermen), das den Embryo und meist Nährgewebe enthält, von einer festen Hülle, der Testa, umgeben ist und der Ausbreitung dient (Wagenitz 1996). Nach dem Fehlen oder Vorhandensein von Nährgewebe lassen sich Samen typisieren: Samen mit Endosperm, Samen mit Perisperm, Samen mit Speichercotyledonen und Samen ganz ohne Nährgewebe (Orchidaceae). Neuerdings typisiert man die Samen nach der Ausbildung der Samenschalen, insbesondere danach, in welcher Schicht sich mechanische Zellen beinden (Corner 1976). Im Allgemeinen decken sich botanisch-wissenschatliche und pharmazeutische Bezeichnungen für die „Samen. Es gibt jedoch Ausnahmen: x Colasamen (Colae semen) stellen die getrockneten Samenkerne (Speichercotyledonen) dar, d. h. die Samen ohne Samenschale. x Kafeebohnen (Cofeae semen) bestehen aus den enthülsten Samen (Endosperm). Es handelt sich wiederum um Samen ohne Samenschale, die als dünne Samenhaut ausgebildet ist. x Muskatnüsse (Myristicae semen) stellen ebenfalls lediglich die Samenkerne dar. x Strophanthussamen (Strophanthi semen) kommen ohne den langgestielten fedrigen Schopf, der als Flugorgan dient, in den Handel.
Herbadrogen (Krautdrogen) Herbadrogen bestehen aus den oberirdischen Teilen von Planzen mit nichtverholzendem Stängel, seltener aus den krautigen Triebspitzen von Halbsträuchern. Gesammelt werden Kräuter in der Regel zur Blütezeit. Bei halbstrauchigen Planzen mit verholzenden Sprossteilen hängen
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
Qualität und Zusammensetzung der Droge davon ab, ob nur die oberen Triebspitzen geerntet werden oder ob die gesamten oberirdischen Planzenteile geschnitten werden. Bei Drogen, zu denen Pharmakopöevorschriten existieren, wird i. A. der Anteil dicker Stängelteile, die einen bestimmten Durchmesser überschreiten, eingeschränkt.
Lignumdrogen (Hölzer) Holz, lat. „lignum“, ist warenkundlich das Gewebe aus Wurzel und/oder Stamm älterer Bäume oder Sträucher („Holzplanzen“), das innerhalb des Kambiums liegt. Beispiele für Holzdrogen: Guajakholz, Sandelholz, Sassafrasholz, Wacholderholz und Muira puama (Potenzholz).
Stipes- und Caulisdrogen (Stängeldrogen) Das einzige Beispiel für eine gängige Stipesdroge sind die Bittersüßstängel (Dulcamarae stipes). Sie bestehen aus den 2- bis 3-jährigen Trieben der kletternden Solanum dulcamara L. Das lateinische Wort „stipes“ (Pfahl, Baumstamm) wird in den lateinisch geschriebenen Planzendiagnosen im Sinne von Stiel verwendet. Der Stiel heißt lateinisch eigentlich „caulis“. Drogen der traditionellen chinesischen Medizin, die ausschließlich aus Stängelteilen bestehen, kennzeichnet man im westlichen Schrittum als Caulisdrogen (Stöger 1991–1996). Beispiele: Clematidis armandii caulis, Lonicerae caulis, Polygoni multilori caulis und Spatholobi caulis.
Ramulusdrogen (Zweigdrogen) Ramulusdrogen (lat.: ramulus [Zweiglein oder Ästchen]) ist eine Drogenform, die in der ostasiatischen Medizin, speziell in der traditionellen chinesischen Medizin gebräuchlich ist. Beispiele nach Stöger (1991–1996): x Cassia-Zimtzweige (Cinnamomi ramulus), die getrockneten, jungen Zweige von Cinnamomum cassia Presl (Lauraceae); x Maulbeerzweige (Mori ramulus), die getrockneten, zarten Zweige von Morus alba L. (Moraceae); x Maulbeermistelzweige (Taxilli ramulus, Loranthi ramus), die getrockneten Zweige mitsamt den Blättern von Taxillus chinensis (DC.) Danser.
Summitatesdrogen (Zweigspitzen) Ramuli, Zweigspitzen von Sträuchern, werden auch in der Homöopathie verwendet, dort als „summitates“ bezeichnet, z. B. Hamamelis virginiana e cortice et ex summitatibus HAB 1, ein Gemisch aus 2 Teilen Zweigspitzen von Hamamelis virginiana L. und 1 Teil frische Zweigrinde. huja occidentalis (huja) HAB 1 ist deiniert als die frischen, beblätterten, 1-jährigen Zweige von huja occidentalis. Juniperus sabina (Sabina) HAB 1 besteht aus frischen, jüngsten, noch unverholzten Zweigspitzen von Juniperus sabina L.
8.2 Pharmazeutische Qualität pflanzlicher Arzneidrogen1 Der wissenschatliche Sprachgebrauch des Begrifes „Qualität“ entspricht der ursprünglichen lateinischen Bedeutung des Wortes „qualitas“ (Beschafenheit oder Eigenschat). Dem wissenschatlichen Sprachgebrauch hatet jedoch nicht die subjektive Nebenbedeutung besonderer Wertschätzung an. Deiniert ist Qualität als Gesamtheit von Eigenschaten und Merkmalen eines Produkts, die sich auf dessen Eignung zur Erfüllung gegebener Erfordernisse beziehen. Auf den vorliegenden Fall – die pharmazeutische Qualität von Arzneidrogen – angewendet, heißt das: Die betrefende Drogencharge muss für den vorgesehenen Verwendungszweck geeignet sein. Zweckbestimmung von Arzneidrogen ist deren arzneiliche Verwendung, sei es unmittelbar (z. B. zur Teebreitung, > dazu Abschnitt 8.3.2) oder mittelbar als Ausgangsmaterial für die Extraktion ( > dazu die Abschnitte 8.3.3 und 9.2). Die pharmazeutische Qualität einer Drogencharge ist dann sichergestellt, wenn sie den Anforderungen des Europäischen Arzneibuches, in zweiter Instanz des Deutschen Arzneibuches und nachinstanzlich anderer staatlicher Arzneibücher und gegebenenfalls weiterer Veröfentlichungen, wie dem DAC, entspricht. Existieren in einem konkreten Fall keine entsprechenden amtlichen Anforderungen, muss der pharmazeutische Hersteller oder Inverkehrbringer eigene Monographien mit entsprechenden Qualitätsanforderungen erstellen. Maßgebliche Vorgaben dafür inden sich in den beiden Leitlinien CPMP/QWP/2819/00: „Note for guidance on quality of 1
Wir danken Herrn PD Dr. rer. nat. Markus Veit für wertvolle Hinweise.
8.2 Pharmazeutische Qualität pflanzlicher Arzneidrogen
Herbal medicinal Products“ und CPMP/QWP/2820/00 „Note for guidance on speciications: Tests procedures and acceptance criteria for herbal drugs, herbal drug preperations and herbal medicinal products“ sowie in den jeweils gültigen Arzneimittelprüfrichtlinien. Hinweis: Im Apothekenalltag beginnt die Qualitätssicherung in der Regel nicht mit der Prüfung nach Pharmakopöe, sondern mit der geeigneten Auswahl zuverlässiger Lieferanten, die bereits über ein eigenes Qualitätssicherungssystem und eine damit verbundene Dokumentation verfügen. Wird die Ware mit einem Prüfzertiikat geliefert, dann ist der Apotheker nur noch zu einer verkürzten Prüfung (Identität) verplichtet. Aber auch, wenn er sich zu einer verkürzten Prüfung entscheidet, trägt der Apotheker letztlich die Verantwortung dafür, dass die arzneilich verwendete Ware die erforderliche Qualität aufweist. Der nachfolgende Abschnitt 8.2.2 befasst sich mit den Qualitätsanforderungen der Arzneibücher, speziell denen der PhEur. Im einleitenden Abschnitt 8.2.1 wird auf Ursachen hingewiesen, warum planzliche Produkte wie Drogen bereits von Natur aus gewisse Qualitätsunterschiede aufweisen.
8.2.1 Hauptfaktoren, die die Qualität bestimmen Die Qualität von planzlichen Drogen wird im Wesentlichen von drei Hauptfaktoren bestimmt: Planzenauswahl, Herkunt und Gewinnung. In > Tabelle 8.1 sind die Haupteinlüsse kurz zusammengefasst.
Pflanzenauswahl/Herkunft Planzliche Drogen können entweder durch Wildsammlung oder durch Anbau gewonnen werden. Etwa 70–90% der Drogen werden immer noch durch Wildsammlung
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gewonnen (Lange 1996). (Die Angaben beziehen sich auf Arznei- und Lebensmitteldrogen.) Wildsammlungen von Drogen bringen jedoch eine Reihe von Nachteilen mit sich. So werden bei der Sammlung häuig Fehler bei der eindeutigen Zuordnung von Arten gemacht, ferner ist die Heterogenität der einzelnen Chargen durch das Zusammenbringen von Drogen aus verschiedenen Sammelorten und von unterschiedlichen Sammlern außerordentlich hoch. Dies bringt einen hohen technologischen und analytischen Aufwand mit sich, da die Chargen gemischt – homogenisiert – und analysiert werden müssen, sodass der Kostenvorteil von wild gesammelten Drogen gegenüber Anbaudrogen wieder relativiert wird. Der Arzneiplanzenanbau hat demgegenüber einige Vorteile: Es kann eine genetische Selektion der Planzen stattinden, der Erntezeitpunkt und das Trocknungsverfahren können gezielt gewählt werden, Kontamination mit Schwermetallen und Planzenschutzmitteln kann durch Anbau auf unbelasteten Böden und sodann durch Reduzierung bzw. gezielten Einsatz von Pestiziden wesentlich verringert werden, sodass eine qualitativ hochwertigere Droge mit gleichmäßigerer Zusammensetzung resultiert. Ein Anbau ist bei manchen Planzen, die für die Gewinnung von Drogen verwendet werden, unumgänglich, da die Planzen unter Naturschutz stehen (z. B. Arnika, Enzian oder sibirischer Ginseng, der im Jahre 2000 in das Artenschutzabkommen aufgenommen wurde). Doch nicht nur bei Planzen, die bereits unter Naturschutz stehen, sondern allgemein ist auch unter dem Gesichtspunkt der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen durch den steigenden Bedarf der Anbau von Planzen, die zu Arzneimitteln oder auch Lebensmitteln verwendet werden, vorzuziehen. Auch aus umweltpolitischer Sicht spielt die Frage der Herkunt der Drogen (und anderer Ressourcen) eine zunehmend wichtige Rolle (Heinrich u. Leimkugel 1999). Es gibt bundesweit einige Projekte, die sich mit Anbau von Arznei- und Gewürzplanzen beschätigen (Pank 1996; Pank et al. 1996; Kroth u. Steinhof 1996); insgesamt gemessen am Bedarf, sind diese Untersuchungen nicht
. Tabelle 8.1 Einflüsse auf die Qualität von Drogen Pflanzenauswahl
Selektion und Züchtung von Pflanzen (chemische Rassen, Chemodeme)
Herkunft
Klima, Bodenbeschaffenheit, Düngung, Schädlingsbekämpfung
Drogengewinnung
Richtige Wahl des Erntezeitpunktes, ggf. Nachbehandlung (wie waschen, schälen), Art und Dauer der Trocknung, Zerkleinerung, Lagerung der Droge
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
ausreichend, obwohl seit einigen Jahren eine steigende Tendenz beim Anbau von Arznei- und Gewürzplanzen in Deutschland beobachtet werden kann (Hoppe 1999). Infobox Um eine möglichst gleichmäßige Qualität bei der Gewinnung der Drogen zu erhalten, gibt es Richtlinien und Empfehlungen, die sich mit einer sachgerechten Wildsammlung und sachgerechtem Anbau von Arzneipflanzen befassen. Die GAP-Richtlinien („good agricultural practice“) der European Herbal Infusion Association von 1985 für teeähnliche Getränke standen dabei am Anfang. In der Zwischenzeit gibt es dazu von verschiedenen nationalen und internationalen Fachgremien Empfehlungen bzw. Richtlinien, wie z. B. die WHO-Guideline „On good agricultural and collection practice (GACP) for Medicinal Plants 2004“, die „Guidance for Industry Botanical Drug Products“ (FDA 2004) und „Points to Consider an Good Agricultural and Collection Practice for Starting Materials of Herbal Origin“ (EMEA/HMPWP/31/99 Rev. 3 vom 2. Mai 2002). Diese Leit- bzw. Richtlinien definieren die Regeln für Wildsammlung und Anbau von Arzneipflanzen ausgehend von Anforderungen an das Personal über klimatische, geographische Gegebenheiten, Ernte bis zur Lagerung der Drogen und Inspektion der durchführenden Betriebe. Wegen der komplexen Natur des Materials und der Vorgänge – wie z. B. der Anbau außerhalb Europas, wo eine Inspektion aus politischen Gründen nicht immer möglich ist – sollten diese Leitlinien zunächst während ihrer Ausarbeitung nur als Rahmenrichtlinien gelten und als Empfehlung für Anbauer und Abnehmer dienen, um eine gleichbleibende Qualität der Arzneidrogen zu gewährleisten. In der „Richtlinie“ der EU kommt dies bereits im Titel „Points to Consider“ im Unterschied zu den sonst üblichen „Notes for Guidance“ zum Ausdruck. Mit diesen „points to consider“ für Wildsammlung und Anbau von Drogen haben die Sammel- und Anbaubetriebe sowie auch die Industrie und die zuständigen Behörden ein Instrument zur Verfügung, um die gleichbleibende Qualität von Arzneibuchdrogen besser definieren und kontrollieren zu können. Inzwischen ist absehbar, dass die in den verschiedenen Dokumenten definierten Standards und Verfahren mittelfristig verbindlich werden. In Deutschland sind mit Verabschiedung durch den Bundesrat seit November 2004 die neuen Arzneimittelprüfrichtlinien in Kraft getreten. Damit sind die Vorgaben der „European Council Directive 2001/83/EC“ nationales Recht geworden.
Drogengewinnung Außer der Auswahl der Planzen und den Anforderungen an die Umweltbedingungen spielt die Behandlung der Drogen nach der Ernte und Lagerung während des Transports und bei der Aubewahrung eine wesentliche Rolle. Durch nicht sachgerechte Trocknung (zu hohe Temperatur, zuviel Restfeuchte) kann es leicht zu Qualitätseinbußen von Drogen kommen; so können lüchtige Inhaltsstoffe (z. B. ätherische Öle) abnehmen, bei zu hoher Feuchtigkeit können bestimmte Enzyme aktiviert werden, die einen Abbau von Inhaltsstofen bewirken können (z. B. Glykosidasen), ferner besteht bei höherer Feuchtigkeit (und evtl. höheren Temperaturen) die erhöhte Gefahr von Befall mit Schimmelpilzen und u. U. mit Mykotoxinen. Dabei spielt auch der Zerkleinerungsgrad der Drogen eine wichtige Rolle. Eine Oberlächenvergrößerung macht die Drogen anfälliger für die negativen Faktoren wie Feuchtigkeit, Wärme und Licht. Speziell bei Kraut- und Blattdrogen spielt der Lichteinluss eine große Rolle: Diese Drogen bleichen rasch aus und werden dann unansehnlich, außerdem können durch den Lichteinluss chemische Prozesse beschleunigt werden, die einen negativen Einluss auf den Gehalt an Wirkstofen haben können. Drogen sollten daher immer vor Licht geschützt und möglichst trocken (ca. 60% relative Lutfeuchtigkeit) aubewahrt werden.
8.2.2 Qualitätsanforderungen nach Arzneibuch Die Anzahl der Drogenmonographien in den nationalen Pharmakopöen ist – je nach Tradition der Phytotherapie in den entsprechenden Ländern – sehr unterschiedlich. Im Wesentlichen zeigen die Monographien einen einheitlichen Aubau. Im Folgenden wird exemplarisch der Aubau einer Drogenmonographie der PhEur beschrieben. Da die PhEur eine übergeordnete Rolle spielt und durch die Harmonisierung im Arzneimittelbereich in der EU sich immer mehr Länder den Arzneibuchübereinkommen anschließen, ist eine immer größere Anzahl von europäischen Staaten an die Vorgaben der PhEur gebunden. In > Tabelle 8.2 ist der prinzipielle Aubau einer Drogenmonographie beschrieben. Zu planzlichen Arzneimitteln sind in der PhEur folgende allgemeine Monographien enthalten: „Planzliche Drogen“ (Plantae medicinales), „Zubereitungen aus planzlichen Drogen“ (Plantae medicinales praeparatore)
8.2 Pharmazeutische Qualität pflanzlicher Arzneidrogen
8
. Tabelle 8.2 Aufbau und Inhalt einer Drogenmonographie (PhEur/DAB/Helv) Strukturelement
Inhalt
Titel (Bezeichnung)
Landessprachliche (engl., franz., deutsch) Bezeichnung der Droge, lateinische Bezeichnung
Definition
Beschreibung der Droge (Zustand der Droge wie frisch, getrocknet, geschnitten, gepulvert; genaue botanische Bezeichnung; ggf. spezifische Inhaltsstoffe mit Gehaltsangabe)
Eigenschaften
Organoleptische Eigenschaften
Identität
Makroskopische, mikroskopische Beschreibung; ggf. Dünnschichtchromatographie oder Farbreaktionen
Reinheit
Fremde Bestandteile, Trocknungsverlust, Wasser, Asche, Extraktgehalt, spezielle Prüfpunkte (wie Bitterwert, Quellungszahl)
Gehaltsbestimmung
Nicht bei allen Drogen
Lagerung
Allgemeiner Hinweis: „Vor Licht geschützt, gut verschlossen aufbewahren“, ggf. spezielle Hinweise
und „Planzliche Drogen zur Teebereitung“ (Plantae ad ptisanam). Damit gibt es zum ersten Mal eine „RahmenMonograhie“ für planzliche Drogen, in der die allgemeinen Anforderungen zur Herstellung, Prüfung und Lagerung deiniert sind. Wenn in der allgemeinen Monographie keine Einschränkung gemacht wird, gelten die Anforderungen für alle Produkte der Gruppe, auch wenn dazu keine Einzelmonographie vorhanden ist (PhEur). In der Monographie „Planzliche Drogen“ werden in der Rubrik „Herstellung“ die kritischen Punkte bei der Drogengewinnung – ob Wildsammlung oder Anbau – genannt und fachgerechte Verfahren gefordert. Weiterhin ist hier auch der Hinweis aufgenommen, dass bei Verwendung von Entkeimungsverfahren keine Veränderung der Inhaltsstofe stattinden darf und keine schädlichen Rückstände in der Droge verbleiben dürfen. Bei den Reinheitskriterien sind die allgemeinen Qualitätskriterien wie „Fremde Bestandteile“, „Asche“ usw. aufgeführt (Näheres > S. 202). Ferner wird darauf hingewiesen, dass die Drogen der Prüfung und den Anforderungen auf Pestizidrückstände, Schwermetalle, Alatoxine und in besonderen Fällen auf radioaktive Kontamination entsprechen müssen, wenn nicht in den Einzelmonographien andere Anforderungen oder Hinweise angegeben sind.
Bezeichnung/Titel In der PhEur, wie auch im DAB und in der Helv bildet die landessprachliche (engl., franz., deutsch) Bezeichnung der
Droge den Titel der Monographie, die lateinische Bezeichnung wird als Untertitel geführt, wie z. B. Baldrianwurzel – Valerianae radix. Die Bezeichnung setzt sich aus dem botanischen Namen der Planze und dem Planzenorgan zusammen (z. B. Baldrianwurzel, Melissenblätter). Zur genauen Kennzeichnung einer Planze können auch im deutschen Haupttitel Gattung und Art der Planze und evtl. noch Varietät usw. angegeben werden. Die lateinische Bezeichnung setzt sich ebenfalls aus x der botanischen Bezeichnung der Planze im Genitiv und darauf folgend x der Bezeichnung des Planzenorgans zusammen, wobei die lateinischen Bezeichnungen auf dem Internationalen Code der Botanischen Nomenklatur (Abkürzung: ICBN) (Encke et al. 1993) beruhen. Für die Drogenbezeichnung wird der Gattungs- oder Artname verwendet; in Fällen, in denen verschiedene Drogen derselben Gattung verwendet werden, wird auch Gattungsund Artname verwendet (z. B. Sennae fructus angustifoliae bzw. Sennae fructus acutifoliae). Im ÖAB wird die lateinische Bezeichnung als Haupttitel und die deutsche als Untertitel verwendet, während z. B. die amerikanische (USP) und die englische (BP) Pharmakopöe nur die englische Bezeichnung als Titel auführen und evtl. erforderliche Präzisierungen im Text folgen. Auch die weiteren Arzneibücher und Monographiesammlungen verfahren in ähnlicher Weise. Abweichend wird im Homöopathischen Arzneibuch (HAB) verfahren. Der Haupttitel besteht aus der botanischen Bezeichnung der Planze, im
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
Untertitel wird die übliche homöopathische Bezeichnung des Arzneimittels angegeben (z. B. Haupttitel: Atropa belladonna, Untertitel: Belladonna). Bei Drogen, die in keinem Arzneibuch aufgelistet sind, plegt man wie folgt vorzugehen: Man verbindet den botanisch gültigen Speziesnamen mit dem benutzten Planzenorgan. Beispiele: Laurus-azorica-Früchte, Lycopusvirginicus-Kraut, Stellera-chamaejasme-Wurzeln usw. (aus Hagers Handbuch der pharmazeutischen Praxis, 5. Aul.).
Definition der Droge Nach der Angabe des Haupt- und Untertitels erfolgt in den Monographien der Arzneibücher eine Deinition der Droge. Hier und unter dem Punkt „Eigenschaten“ bzw. in nichtüberarbeiteten Monographien unter „Beschreibung“ werden Herkunt und Eigenschaten der Droge sowie – falls erforderlich – bestimmte Gehalts- und/oder Trocknungsbedingungen usw. festgelegt. Die Deinition erfolgt durch folgende Parameter: x Stammplanze; x Planzenorgan: genaue Angabe des Planzenteils, evtl. wenn für die Qualität erforderlich, ein bestimmter Erntezeitpunkt (z. B. „während der Blütezeit“ gesammelt), ferner Angabe, ob frische Planze oder getrocknete Droge verwendet wird, sofern empindliche Inhaltsstofe wie ätherische Öle vorhanden sind, werden Bedingungen für die Trocknung angegeben; x Zerkleinerungsgrad der Drogen: z. B. ganze Droge, grob geschnitten, gepulvert usw. Der Zustand der Droge kann – ganz oder geschnitten – Einluss auf den Gehalt an empindlichen Inhaltsstofen der Droge haben, was beispielsweise auf Menge und Zusammensetzung des ätherischen Öles in Gewürzdrogen zutrit; x Gehalt: Sofern deiniert, erfolgt hier die Forderung bezüglich eines bestimmten Inhaltsstofes bzw. einer Inhaltsstofgruppe, im Regelfall mit einer Mindestforderung. Beispiele: Baldrianwurzel besteht aus den unterirdischen, getrockneten Organen von Valeriana oicinalis L. s.l. Die Droge umfasst den Wurzelstock, die Wurzeln sowie die Ausläufer und enthält mindestens 5 ml/kg–1 ätherisches Öl sowie mindestens 0,17% Sesquiterpensäuren, berechnet als Valerensäuren.
Digitalis-purpurea-Blätter bestehen aus den getrockneten Blättern von Digitalis purpurea L. Die Droge enthält mindestens 0,3% Cardenolidglykoside, berechnet als Digitoxin (Mr 765) und bezogen auf die bei 100–105 °C getrocknete Droge. Stramoniumblätter bestehen aus den getrockneten Blättern oder aus den getrockneten mit blühenden und gelegentlich Früchte tragenden Zweigspitzen von Datura stramonium L. und seinen Varietäten. Die Droge enthält mindestens 0,25% Gesamtalkaloide, berechnet als Hyoscyamin (C17H23NO3: Mr 289,4) und bezogen auf die bei 100–105 °C getrocknete Droge. Unter den Alkaloiden herrscht Hyoscyamin vor, das von geringen Mengen Scopolamin begleitet wird.
Eigenschaften Hier werden sensorische Eigenschaten von Drogen angegeben wie Farbe, Geruch usw. Da diese Angaben ot nicht eindeutig festzulegen sind, gelten sie nicht als analytische Norm. In der gesamten Beurteilung und Prüfung der Drogen geben sie jedoch wichtige Hinweise zu Identität und Reinheit. Eine Abweichung von der Norm kann bedingt sein u. a. durch: x Verwechslungen, x Verunreinigung, x Verfälschungen, x nicht sachgemäße Ernte bzw. Lagerung. Aussehen (Gesichtssinn). In den Drogenmonographien
ist die Farbe der Drogen meist bei der Beschreibung (bzw. unter Prüfung A „Makroskopische Beschreibung“ der Identitätsprüfung) mit abgehandelt, wobei die Beschreibungen nur in wenigen Fällen ohne authentisches Vergleichsmuster eindeutig zuzuordnen sind (z. B. „hellgraubraun“ und andere nicht objektiv zu formulierende Beschreibungen von Rinde, Wurzeln oder auch getrockneten Blättern). Die Beschreibung der Form, z. B. bei Früchten, ist dagegen nach den Angaben in der Monographie eindeutiger nachzuvollziehen. In der Monographie Hibiscusblüten wird sogar das Färbevermögen der Droge überprüt. Geruchssinn. Viele Drogen besitzen einen charakteristi-
schen Geruch. Die Prüfung erfolgt bei nichtpulverisierten Drogen durch Zerreiben zwischen den Fingern. Durch die Geruchsprobe können ot Verfälschungen mit morpholo-
8.2 Pharmazeutische Qualität pflanzlicher Arzneidrogen
gisch ähnlichen Arten leichter festgestellt werden als durch mikroskopische Untersuchungen (z. B. kann die echte Pfeferminze von anderen Mentha-Arten unterschieden werden). Weiterhin kann mittels des Geruchssinns ein Pilzbefall oder Verdorbenheit festgestellt werden (beispielsweise modriger Geruch). Selbst Hinweise auf den Verlust von Inhaltsstofen (schwacher oder mangelnder Geruch) bei ÄtherischÖl-Drogen können mit dem Geruchssinn ermittelt werden. Bei fetthaltigen Drogen (z. B. Kürbissamen, Mariendistelfrüchten) kann eine Verdorbenheit durch einen ranzigen Geruch festgestellt werden, während bei Hyoscyamusblättern und Hopfenzapfen der Geruch dem geübten Prüfer gute Hinweise auf Identität und Reinheit liefert. Geschmackssinn. Es gibt vier primäre Geschmacksquali-
täten: süß, sauer, salzig und bitter. Nur selten tritt eine dieser Qualitäten isoliert auf: Bei der Drogenprüfung ergibt sich die Geschmacksart häuig durch eine Kombination dieser primären Geschmacksqualitäten, die auch in unterschiedlicher zeitlicher Reihenfolge autreten können, z. B. bei den Bittersüßstengel (Dulcamarae stipes) als zunächst „süß schmeckend“, später „bitter“. Ähnlich der Geschmack der Baldrianwurzel: sie schmeckt zuerst süßlich, später würzig und schwach bitter. Damit ist jedoch die Vielfalt der Geschmacksarten keineswegs erschöpt. Am Geschmack, so wie er im Alltag aufgefasst wird, sind auch die Schmerz- und Temperaturrezeptoren beteiligt, z. B. bei den Gewürzdrogen Gelbwurz, Ingwer, Kümmel, Paprika, Pfefer, Senf u. a. m. (Ein scharf gewürztes Gericht wird im Englischen somit sehr trefend als „hot spiced“ bezeichnet.) Außerdem spielt bei der Gesamtempindung des Schmeckens auch der Geruch eine bedeutende Rolle. Wenn in den Arzneibüchern ein Geschmack als „gewürzhat“ oder als „würzig“ bezeichnet wird, so sind in variierender Kombination scharfer Geschmack und angenehmer Geruch beteiligt. Schließlich kann beim Schmecken auch der Tastsinn beteiligt sein, z. B. wenn von Drogen gesagt wird, dass sie ölig, schleimig, kratzend oder auch sandig schmecken. Fette Öle verteilen sich dank ihrer Grenzlächenspannung als dünner Film im Mund: Dies führt zu der Empindung des öligen Geschmacks. Schleime wiederum wirken „abdeckend“, d. h. sie schirmen die Geschmacksnerven gegenüber adäquaten Reizen ab. Auf diese Weise kommt der schleimig-fade Geschmack der Schleimdrogen zustande. Wenig analysiert ist das Zustande-
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kommen des kratzenden Geschmacks, der vor allem lokal reizenden Stofen, wie vielen Saponinen und Saponindrogen, eigentümlich ist. Tastsinn. Bei geschnittener und ganzer Droge können
durch Drücken oder Brechen charakteristische Eigenschaten der Droge erkannt werden (z. B. glatter Bruch, faserige Fläche usw.), die Oberläche kann sich glatt oder rau, behaart anfühlen. Brüchigwerden von Drogen und leichtes Zerbröckeln ist ot ein guter Hinweis für eine durch Insektenbefall verdorbene Ware (Fricker 1984).
Identität Das Ziel dieser Prüfung ist, die Droge eindeutig zu identiizieren. Die Identität von Drogen wird üblicherweise durch eine makroskopische, mikroskopische Prüfung und sehr häuig mittels dünnschichtchromatographischer Nachweise oder auch durch chemische Farbreaktionen überprüt. Makroskopische Prüfung. In den Arzneibüchern ist unter
diesem Prüfpunkt eine morphologische Beschreibung der Ganzdroge und/oder der Schnittdroge enthalten, die die typischen Merkmale der Droge möglichst genau beschreibt; zusätzlich werden noch allgemeine Eigenschaten wie Textur, Farbe und Konsistenz beschrieben. Im Regelfall erfolgt die makroskopische Prüfung mit dem bloßen Auge, bei einzelnen Prüfungen wird mit der Lupe gearbeitet (z. B. Beschreibung der Umbelliferenfrüchte, Bitterer und Süßer Fenchel). Hier werden auch die Unterscheidungsmerkmale zu fremden Drogen bzw. nichterlaubten Planzenteilen aufgeführt, die bereits mit dem bloßen Auge oder der Lupe erkannt werden können (z. B. Ammi-majus- und Ammivisnaga-Früchte). Mikroskopische Prüfung. Bei der Prüfung mit dem Mikroskop kann entweder eine Schnittprobe von der Ganzdroge oder von der Schnittdroge angefertigt oder/und das pulverisierte Drogenmaterial untersucht werden. Die PhEur beschreibt nur noch die mikroskopische Untersuchung der Pulverdroge. In den Arzneibüchern sind allgemeine Anweisungen für die Vorbereitung des Drogenmaterials (Zerkleinerungsgrad des Pulvers) für diese Untersuchung enthalten,
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
. Abb. 8.1
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Die in der PhEur aufgeführten Spaltöffnungstypen. 1 anomocytischer Typ (unregelmäßige Zellen), 2 anisocytischer Typ (ungleiche Zellen), 3 diacytischer Typ (transversale Zellen), 4 paracytischer Typ (parallele Zellen)
die zu beachten sind, um eine sachgerechte Bewertung vornehmen zu können. Bei den morphologischen Beschreibungen wird in den Arzneibüchern bei den Blattdrogen v. a. auf die charakteristische Beschreibung der Spaltöfnungen und die Anzahl und Anordnung der Nebenzellen Wert gelegt. Die Arzneibücher unterscheiden 4 Typen von Spaltöfnungen ( > Abb. 8.1): x Anomocytischer Typ (Ranunculaceentyp): Die Spaltöfnungen sind von einer unterschiedlichen Anzahl Zellen umgeben, die sich i. A. nicht von den benachbarten Epidermiszellen unterscheiden. x Anisocytischer Typ (Cruciferentyp): Die Spaltöfnungen sind normalerweise von 3 Nebenzellen umgeben, von denen eine aufallend kleiner ist. x Diacytischer Typ (Caryophyllaceentyp): Die Spaltöfnungen sind von 2 Nebenzellen begleitet, deren Längsachsen einen rechten Winkel mit der Achse der jeweiligen Spaltöfnung bilden. x Paracytischer Typ (Rubiaceentyp): Die Spaltöfnungen besitzen an jeder Seite eine oder mehrere Nebenzellen, deren Längsachsen parallel zu der Achse der jeweiligen Spaltöfnung liegen.
Ferner wird ein sog. „Spaltöfnungsindex“ bestimmt, der die Anzahl der Spaltöfnungen zur Anzahl der Epidermiszellen ins Verhältnis setzt (z. B. Sennesblätter, dort wird die Herkunt von Cassia senna oder von Cassia angustifolia mittels des Spaltöfnungsindex festgestellt). Ferner werden in den Arzneibüchern verschiedene Typen von Drüsenhaaren unterschieden, die Hinweise auf bestimmte Familien geben ( > Abb. 8.2). Drüsenhaare vom Typ A bestehen aus mehreren, meist 3–5 übereinanderstehenden Etagen von 2 Zellen und erscheinen in der Aufsicht als quergeteilte Ellipsen (Compositendrüsenhaare; Asteraceen). Drüsenhaare vom Typ B besitzen 1–2 kurze Stielzellen und zumeist 8 kreisförmig nebeneinanderliegende Exkretionszellen mit abgehobener Cuticula und erscheinen in der Aufsicht kreisförmig bis leicht oval (Labiatendrüsenschuppen; Lamiaceen). Durch histochemische Untersuchungen auf den Objektträgern können die rein mikroskopischen Untersuchungen erhärtet werden (z. B. durch Prüfung auf Gerbstofe: Nachweis mit Eisenchlorid; Lignin: Rotfärbung durch Phoroglucinsalzsäure; Stärkenachweis mit Iod usw.). Eine weitere Möglichkeit, auf bestimmte Inhaltsstofe zu prüfen, ist die Methode der Mikrosublimation. Inhaltsstofe wie Anthrachinonderivate und Flavonoide lassen sich in verhältnismäßig reiner Form sublimieren. Die Prüfung des Sublimats erfolgt dann durch die üblichen Nachweise (DC usw.). In den Monographien der Einzeldrogen werden außer diesen allgemeinen morphologischen Beschreibungen die typischen, für die jeweilige Gattung oder Art charakteristischen Merkmale usw. beschrieben (z. B. Oxalatkristalle, Exkretdrüsen). Treten bei der Untersuchung fremde Strukturelemente auf, so zeigt eine quantitative Abschätzung, ob eine Verunreinigung oder eine Verfälschung vorliegt. Dünnschichtchromatographische Prüfung. Eine weite-
re Möglichkeit, Drogen auf Identität zu prüfen, bietet die Dünnschichtchromatographie (DC). Das Prinzip der Prüfung besteht in der dünnschichtchromatographischen Autrennung eines geeigneten Drogenauszuges – er wird in der Regel mittels Methanol (z. B. bei Bärentraubenblätter) oder Dichlormethan (z. B. bei der Baldrianwurzel) hergestellt – und im Nachweis charakteristischer Drogeninhaltsstofe durch Lauhöhe, Verhalten unter der Analysenquarzlampe sowie gegenüber Farbreagenzien. Die
8.2 Pharmazeutische Qualität pflanzlicher Arzneidrogen
8
. Abb. 8.2
Typ A (schematisch)
Typ B (schematisch)
Aufsicht
Seitenansicht
Typen von Drüsenhaaren nach DAB. Typ A: Die Drüsenhaare bestehen aus mehreren, meistens 3–5 übereinanderstehenden Etagen von 2 Zellen und erscheinen in der Aufsicht als quergeteilte Ellipsen (Compositendrüsenhaare; Asteraceen). Typ B: Die Drüsenhaare besitzen 1–2 kurze Stielzellen und meistens 8 kreisförmig nebeneinanderliegende Exkretionszellen mit abgehobener Kutikula und erscheinen in der Aufsicht kreisförmig bis leicht oval (Labiatendrüsenschuppen; Lamiaceen)
Orientierung auf dem DC erfolgt in der Regel durch CoChromatographie von chemischen Einzelsubstanzen, in Einzelfällen durch Co-Chromatographie von genormten CRS-Extrakten ( > Tabelle 8.3). Orientierung bietet sodann die Pharmakopöe durch eine Beschreibung des DC, wobei die Zonen in Relation zur Lauhöhe von Referenzsubstanzen beschrieben werden; in den neueren Monographien sind sie tabellarisch aufgeführt (Beispiel dazu > Tabelle 8.4). Hinweis. Chemische Referenzsubstanzen (CRS) der PhEur sind Substanzen, die durch das EDQM (European Directorate for the Quality of Medicine) bezogen werden können. Es handelt sich dabei um Standardsubstanzen, die verschiedenen Zwecken dienen können: beispielsweise als primäre Referenzstandards zur Kalibrierung von Gehaltsbestimmungen des Arzneibuchs, Identitätsstandards zu Vergleichszwecken im Rahmen von Identitätsprüfungen nach Arzneibuch, Verunreinigungsstandards zur Identiizierung und Bestimmung von Verunreinigungen und Vergleichsstandards für die Dünnschichtchromatographie. Auch Extrakte wie z. B. Sennaextrakt sind als CRS erhältlich. Im Abschnitt 4.3 bringt die PhEur ein Verzeichnis der chemischen (und auch biologischen) Referenzsubstanzen.
Gaschromatographische Prüfungen. Zur Analyse lüch-
tiger Drogeninhaltsstofe, insbesondere auch zur Analyse unstrukturierter Drogen vom Typus der ätherischen Öle ist die Gaschromatographie die Methode der Wahl. Die PhEur nutzt die Methode der quantitativen GC nicht nur zur Prüfung auf Identität (z. B. zur Unterscheidung von Pimpinella-anisum-Öl und Illicium-verumÖl), sondern im Wesentlichen zur Prüfung auf Reinheit. Die Erkennung fremder Zusätze gibt sich am Auftreten „fremder Peaks“ zu erkennen. Die quantitative Auswertung lässt aber auch Zusätze minderwertiger Öle erkennen; allerdings wird die Auswertung vielfach durch die große Variabilität in der Zusammensetzung authentischer Öle erschwert. Im Falle des Pfeferminzöls zeigen z. B. die Mengenverhältnisse von Piperiton, Menthofuran, Pulegon, Menthon, Isomenthon und Mentholacetat zu Menthol – bedingt durch das Autreten chemischer Rasse von Mentha u piperita – große Variabilität. In der Praxis wird daher das GC einer Probe kaum dem einer anderen exakt gleichen. Mit der Variabilität des biologischen Materials, nicht etwa mit der Fehlerbreite der Messmethode, hängt es zusammen, dass nach PhEur die Anteile der Hauptbestandteile innerhalb einer großzügig bemessenen Spanne variieren dürfen, wie das Beispiel Sternanisöl zeigt ( > Abb. 8.3). Die quanti-
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
. Tabelle 8.3 Beispiele von Stoffen, auf denen die DC-Nachweise beruhen Droge
Arzneibuch
Referenzsubstanzen
Nachweis
Bitterer Fenchel
PhEur
Anethol, Fenchon
Anethol, Fenchon, Terpene
Hamamelisblätter
PhEur
Tannin, Gallussäure
Polyphenole
Holunderblüten
PhEur
Chlorogensäure, Kaffeesäure, Hyperosid, Rutosid
Flavonoide (Isoquercitrin, Rutosid), Chlorogensäure
Johanniskraut
PhEur
Rutosid und Hyperosid
Flavonoide (Rutosid, Hyperosid) Hypericin, Pseudohypericin
Melissenblätter
PhEur
Citral, Citronellal
Mono-, Sesquiterpene des ätherischen Öles
Pfefferminzblätter
PhEur
Menthol, Cineol, Thymol, Menthylacetat
Monoterpene des ätherischen Öles (Menthol, Cineol, Menthylacetat, Carvon, Pulegon, Isomenthon, Menthon)
Primelwurzel
PhEur
Aescin
Triterpensaponine
Schöllkraut
PhEur
Papaverinhydrochlorid, Methylrot
Alkaloide
Sennesblätter
PhEur
Sennaextrakt CRS
Sennoside A-D, Rhein-8-glucosid
Weißdornblätter mit Blüten
PhEur
Chlorogensäure, Hyperosid, Rutosid
Flavonoide (Hyperosid, Vitexin, Vitexin-2´´- rhamnosid), Chlorogensäure
Wermutkraut
PhEur
Methylrot, Resorcin
Absinthin, Artabsin
. Tabelle 8.4 Beschreibung des DC von Ginkgo folium Oberer Plattenrand eine gelblichbraun fluoreszierende Zone eine grün fluoreszierende Zone zwei gelblichbraun fluoreszierende Zonen eine intensiv hellblau fluoreszierende Zone, manchmal überlappt von einer grünlichbraun fluoreszierenden Zone Chlorogensäure: eine hellblau fluoreszierende Zone eine grün fluoreszierende Zone Rutosid: eine gelblichbraun fluoreszierende Zone
zwei gelblichbraun fluoreszierende Zonen eine grün fluoreszierende Zone eine gelblichbraun fluoreszierende Zone
Referenzlösung
Untersuchungslösung
tative GC kann auch genutzt werden, um chemische Rassen zu unterscheiden. So lässt sich nach PhEur Kamillenöl Bisabololoxid-reicher Rassen von dem Öl unterscheiden, das von (–)-D-Bisabol-reichen Kamillenrassen stammt.
Reinheit Ziel der Untersuchungen ist es, Verunreinigungen in den Drogen weitestgehend auszuschließen oder sie auf ein vertretbares Maß zu begrenzen. Die Reinheitsprüfungen in den Arzneibüchern umfassen üblicherweise die Prüfung auf fremde Bestandteile,
8.2 Pharmazeutische Qualität pflanzlicher Arzneidrogen
8
Phenylpropanderivate
Anisketon
Anisaldehyd
cis-Anethol
Foeniculin
trans-Anethol
Anisaldehyd
trans-Anethol
cis-Anethol Sesquiterpenkohlenwasserstoffe
Estragol γ-Terpineol
α-Pinen β-Pinen Limonen
Linalool
Öl von Illicium verum
Terpineol-4 Sesquiterpenkohlenwasserstoffe
Linalool
Limonen
α-Pinen β-Pinen
Öl von Pimpinella anisum
Estragol γ-Himachalen
. Abb. 8.3
Typisches Gaschromatogramm (chromatographisches Profil) von Anisöl (Pimpinella-anisum-aetheroleum) und im Vergleich dazu von Sternanisöl (Illicium-verum-aetheroleum) nach PhEur. Beide Öle sind sehr ähnlich zusammengesetzt. Leitstoffe, die zur Unterscheidung dienen sind Foeniculin bzw. ein Phenylpropanderivat, und zwar Pseudoisoeugenyl-2methylbutyrat
Trocknungsverlust (Wasser), Asche, Extraktgehalt und ggf. spezielle Prüfungen wie z. B. Quellungszahl. Zusätzliche Reinheitsprüfungen wie Gehalt an Schwermetallen, Rückstände an Planzenschutzmitteln, mikrobielle Verunreinigungen usw. sind i. A. nicht direkt in den Monographien aufgeführt. Eine Verplichtung, auf diese Verunreinigungen zu prüfen, ist jedoch durch die allgemeine Rahmenmonographie „Planzliche Drogen“ gegeben. > Tabelle 8.5 enthält eine Aulistung dieser zusätzlichen Reinheitsprüfungen von Drogen und die Angabe, in welcher Verordnung die Höchstgrenzen jeweils festgelegt sind. In der Rahmenmonographie der PhEur werden die Reinheitsanforderungen einzeln aufgelistet, die Grenzwerte werden in den allgemeinen Monographien – wie z. B. „Pestizidrückstände“ – oder in den Einzelmonographien aufgeführt. Planzliche Drogen müssen möglichst
frei von Verunreinigungen, wie Erde, Staub, Schmutz, und anderen, wie Pilzen, Insekten und sonstigen tierischen Verunreinigungen sein und sie dürfen nicht verdorben sein; auf das Verbot einer Ethylenoxid-Behandlung wird nochmals extra hingewiesen. Ferner muss das Risiko der Verunreinigung mit Schwermetallen beachtet werden. Auch hier wird bezüglich der Grenzwerte auf die Einzelmonographien verwiesen oder es können – falls gerechtfertigt – Grenzwerte durch die Behörde gefordert werden. Fremde Bestandteile. Das Arzneibuch versteht unter
„Fremden Bestandteilen“ zum einen Beimengungen wie Schimmel, Insekten oder andere tierische Verunreinigungen und mineralische Stofe, zum anderen Teile der Planze, die nicht der Deinition der Droge entsprechen, und fremde Planzen. Eine allgemeine Prüfvorschrit ist für
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
. Tabelle 8.5 Reinheitsprüfungen, die im Allgemeinen nicht direkt in der Monographie aufgeführt sind. LMBG Lebensmittelund Bedarfsgegenständegesetz; VO Verordnung Prüfung
Definition der Anforderung in:
Schwermetalle
Höchstgrenzen gemäß PhEur; Kontaminantenentwurf-VO
Pestizide
PhEur; RHmV (Rückstands-Höchstmengenverordnung, LMBG)
Ethylenoxid
Ethylenoxid-VO
Radioaktivität
Strahlenschutz-VO
Mikrobiologische Prüfung
PhEur
Aflatoxine
PhEur; Höchstgrenzen Aflatoxin-VO
Ganz-, Schnitt- und Pulverdroge in der PhEur enthalten. Die Prüfung erfolgt durch Betrachten (Auge, Lupe), Auslesen der fremden Bestandteile und Bestimmung des Prozentgehaltes an Beimengung. Bei Pulverdrogen erfolgt die Prüfung mikroskopisch. Eine Pulverdroge entspricht der Anforderung, wenn die fremden Bestandteile nur vereinzelt autreten. Auch bei sorgfältiger Ernte lassen sich kleine Anteile an Verunreinigungen bei Drogen nicht vermeiden. So können bei Wurzeldrogen durchaus noch Erdklümpchen (mineralische Stofe) vorhanden sein, bei Früchten oder Blatt- und Blütendrogen lassen sich kleine Anteile von Stängeln auch nicht ganz vermeiden. Auch die Beimengungen anderer Planzen ist je nach Art der Ernte nicht auszuschließen. Ferner kann bei nicht sachgerechter Lagerung oder bedingt durch ungünstige Transportbedingungen die Droge durch Insekten verunreinigt sein. Diese Art der Verunreinigung ist durch spinnwebartiges Zusammenhaten der Drogenteilchen oder durch leichtes Zerbröseln der Drogen leicht mit dem bloßen Auge zu erkennen. Die Prüfung auf „Fremde Bestandteile“ ist in den Monographien fast aller Drogen gefordert. Teilweise ist auch ein individuelles Limit festgesetzt (z. B. PhEur: Bärentraubenblätter: mindestens 8%; Johanniskraut mindestens 5%). Auch in anderen Arzneibüchern ist eine solche oder ähnliche Prüfung bei Drogen üblich (USP, British Herbal Pharmacopeia 1996: „foreign organic matter“). Trocknungsverlust/Wassergehalt. Für die Haltbarkeit
von Drogen ist der Wassergehalt bzw. die Restfeuchte ein wichtiger Parameter. Sind die Drogen nicht ausreichend
getrocknet, sind sie anfällig für Mikroorganismen und geben gute Nährböden, insbesondere für Schimmelpilze, ab. Dies kann dann in relativ kurzer Zeit zu Wertminderungen der Drogen führen. Frisches Planzenmaterial hat je nach Organ und Zustand einen relativ hohen Wassergehalt. Bei Kraut- und Blattdrogen kann er bei 70–85% liegen, während er naturgemäß bei Wurzel- und Holzdrogen tiefer liegt. Die getrockneten Handelsdrogen haben etwa einen Wassergehalt – je nach Lutfeuchtigkeit – zwischen 5 und 15%. Idealerweise sollte er bei ca. 12% liegen. Üblicherweise wird der Trocknungsverlust durch Trocknen bei 105 °C ermittelt. Bei dieser Methode wird jedoch nicht nur der Wassergehalt der Droge bestimmt, sondern alle bei dieser Temperatur lüchtigen Stofe. Enthalten die zu untersuchenden Drogen lüchtige Inhaltsstofe (ätherische Öle), so wird in der PhEur die Destillationsmethode vorgeschrieben (das Wasser wird mit Hilfe von Xylol als azeotropes Gemisch destilliert und scheidet sich nach der Kondensation als untere Phase wieder ab; z. B. hymian PhEur). Die Bestimmung des Trocknungsverlustes erfolgt einerseits aus analytischen Gründen: Wenn in der Droge eine Gehaltsbestimmung durchgeführt wird, ist die getrocknete Droge als Bezugssubstanz erforderlich. Andererseits ist der Feuchtigkeitsgehalt einer Droge für die Weiterbearbeitung zu einer Drogenzubereitung und für die Ermittlung des Drogen-Extrakt-Verhältnisses von großer Wichtigkeit. Ferner kann anhand des Trocknungsverlustes die sachgemäße Ernte und Lagerung sowie sachgemäßer Transport überprüt werden. Eine spezielle Bedeutung hat die Bestimmung des Trocknungsverlustes bei der Herstellung homöopathischer Urtinkturen aus frischen Planzen: Abhängig vom Trocknungsverlust erfolgt die weitere Verarbeitung nach speziellen Vorschriten des Homöopathischen Arzneibuches in höchst unterschiedlicher Weise. Asche (Sulfatasche, salzsäureunlösliche Asche). Unter
Asche versteht man die nichtlüchtigen Anteile, die beim Verbrennen und anschließenden Glühen einer Droge zurückbleiben. Da bei organischen Substanzen manchmal schwankende Werte bei der Aschebestimmung erhalten werden (Flüchtigkeit von Alkalichloriden, Erdalkalicarbonaten), wird die Verbrennung in Gegenwart von Schwefelsäure durchgeführt. Auf diese Weise erhält man die beständigeren, nichtlüchtigen Sulfate. Die salzsäureunlösliche Asche ist deiniert als der Rückstand, der nach Extraktion der Sulfatasche oder der Asche mit Salzsäure erhalten
8.2 Pharmazeutische Qualität pflanzlicher Arzneidrogen
wird, bezogen auf 100 g Droge. Mit dieser Prüfung erkennt man nichtlüchtige, mineralische Bestandteile, die entweder als Verunreinigung (z. B. Erde, Sand bei Wurzeldrogen) oder als Verfälschung (z. B. bei Eibischwurzel als Schönungsmittel) enthalten ist. Die Drogen enthalten normalerweise sehr kleine Anteile an salzsäureunlöslicher Asche, meist unter 1%. Bei kieselsäurehaltigen Drogen – wie z. B. bei Schachtelhalmkraut – ist von Natur aus ein höherer Anteil vorhanden (höchstens 20%). Extraktgehalt. Unter Extraktgehalt versteht man die
Menge an extrahierbaren Stofen, die aus einer Droge mit einem bestimmten Lösungsmittel unter genau deinierten Bedingungen herausgelöst werden können. Der Rückstand in Prozent nach Abdampfen des Lösungsmittels ergibt den Wert für diese Kennzahl. Das Arzneibuch verwendet den Extraktgehalt in einigen Monographien als Beurteilungskriterium (z. B. Enzianwurzel, Hopfenzapfen). Spezielle Prüfungen. Hierher gehören Prüfungen wie die
Ermittlung der Quellungszahl (z. B. bei Flohsamen), die Bestimmung des Färbevermögens (z. B. bei Hibiscusblüten) oder des Bitterwertes (z. B. bei Enzianwurzel). Auf die Probleme der chemischen und mikrobiologischen Kontamination wird im Abschnitt 8.2.4 eingegangen werden.
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Die Gehaltsbestimmungen der Pharmakopöen können erfassen: x Gruppen von Inhaltsstofen (Anthranoide, ätherische Öle, Flavonoide, Gesamtalkaloide, Triterpenglykoside) oder x Einzelstofe (Harpagosid in der Teufelskrallenwurzel; Morphin und Codein im Opium). > Tabelle 8.6 bringt Beispiele für entsprechende Pharmakopöe-Vorschriten. Der Gehalt einer Droge ist, wie eingangs dargelegt, primär ein pharmazeutisches Qualitätskriterium. Bei einer Teilmenge von Drogen jedoch bedingen die Inhaltsstofe, die quantitativ bestimmt werden, wesentlich die Wirksamkeit der Drogen, d. h. dass der chemisch oder biologisch gemessene Gehalt mit klinisch-pharmakologischen oder auch therapeutischen Efekten korreliert ist, wie das beispielsweise zwischen Anthranoidgehalt (Hydroxyanthracengehalt) der Sennesblätter und der Stärke der Laxanswirkung der Fall ist. In anderen Fällen erfasst man mit der Gehaltsbestimmung Inhaltstofe, die zwar phytochemisch die Droge charakterisieren, deren therapeutischer Stellenwert jedoch unbekannt ist: Inhaltsstofe, bei denen keine direkte Beziehung zwischen Gehalt und Wirkung bestehen, bezeichnet man als Leitstofe oder Leitsubstanzen. Leitsubstanzen (Näheres > Abschnitt 9.1.1, S. 226) dienen ausschließlich analytischen Zwecken.
Gehalt Ein wichtiges Qualitätsmerkmal für Drogen stellt die Gehaltsbestimmung dar; sie ist so wichtig, dass Angaben dazu als zur Deinition der jeweiligen Droge gehörig anzusehen sind. Beispiel: Deinition der Rhabarberwurzel (Rhei radix) nach PhEur: Rhabarberwurzel besteht aus den getrockneten, ganzen oder geschnittenen unterirdischen Teilen von Rheum palmatum L., Rheum oicinale Baillon oder Hybriden beider Arten oder deren Mischung. Die Droge enthält mindestens 2,2% Hydroxyanthracen-Derivate, berechnet als Rhein (C15H18O6; Mr = 284,2) und bezogen auf die getrocknete Droge. Diese in der Deinition einer Droge angegebenen Mindestwerte – in anderen Fällen Gehaltsspannen (Mindest- und Maximalwerte) – haben Gültigkeit nur in Verbindung mit der in der betrefenden Drogenmonographie angegebenen Analysenvorschrit, da die Zahlenwerte innerhalb bestimmter Grenzen von der angewandten Analysenmethode abhängen.
8.2.3 Lagerung von Drogen Drogen als biologisches Material sind nicht unbegrenzt haltbar. Ihre Zusammensetzung ändert sich, abhängig von Lagerdauer und Lagerbedingungen, in unterschiedlichem Umfang. Bei guter Lagerhaltung beträgt die Haltbarkeitsdauer etwa 1,5 Jahre (bei Drogen mit ätherischen Ölen) bis maximal 5 Jahre (bei Saponin- und Schleimdrogen). Unter guter Lagerung ist zu verstehen, dass Drogen grundsätzlich trocken, vor Licht geschützt und möglichst unzerkleinert aubewahrt werden müssen. Alle die Drogenqualität mindernden Prozesse laufen desto schneller ab, je größer der Zerkleinerungsgrad ist: Pulverdroge > Concisdroge > Ganzdroge. Zur Aubewahrung von Drogen mit ätherischen Ölen sollten keine Kunststobehälter herangezogen werden, weil das verdunstende Öl von dem Kunststofmaterial adsorbiert wird und die Gehalte an ätherischem Öl entsprechend rasch abnehmen.
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
. Tabelle 8.6 Anforderungen der PhEur an Gehalte (Beispiele) Droge
Anforderungen
Methode
Erfasste Stoffe
Bärentraubenblätter
Mindestens 7,0% Arbutin
HPLC
Baldrianwurzel
Mindestens 5 ml × kg–1 (a) Destillation und ätherisches Öl und mindestens volumetrische Messung; 0,17% Sesquiterpensäuren (b) HPLC
(a) Ätherisches Öl; (b) Sesquiterpensäuren, bestimmt als Valerensäure
Belladonnablätter
Mindestens 0,3% Gesamtalkaloide
Titrimetrie
Alkaloide, ber. als Hyoscyamin
Digitalis-purpureaBlätter
Mindestens 0,3% Cardenolidglykoside
Photometrie (Auswertung der Farbreaktion nach Kedde)
Steroide mit Butenolidring
Gewürznelken
Mindestens 150 ml × kg–1 ätherisches Öl
Destillation und volumetrische Messung
Gemisch der wasserdampfflüchtigen Stoffe
Opium
Mindestens 10,0% Morphin und mindestens 2,0% Codein
HPLC, Morphin und Codein als Referenzsubstanzen
die Einzelstoffe Morphin und Codein
Sennesblätter
Mindestens 2,5% Hydroxyanthracenderivate
photometrische Auswertung der Bornträger-Reaktion
Hydroxyanthracenderivate (Anthranoide), berechnet als Sennosid B
Arbutin
Teufelskrallenwurzel
Mindestens 1,2% Harpagosid
HPLC
Harpagosid als Einzelstoff
Weißdornblätter mit Blüten
Mindestens 1,5% Flavonoide
Photometrie der Flavonoide als Borinsäurekomplex (vgl. Abschnitt 26.5.5 mit > Abb. 26.43)
Flavonoide, ber. als Hyperosid
Bei Großhandlungen sind Einlagerung und Lagerung von Drogen wesentlich aufwendiger, auch wenn im Prinzip die gleichen Grundsätze gelten: vor Lichteinluss und vor Feuchtigkeit geschützt lagern. Dazu muss die Ware in atmungsfähigem Verpackungsmaterial, z. B. in Papieroder Jutesäcken verpackt, in belütbaren Lagerhallen aufbewahrt werden, die möglichst eine Raumtemperatur gemäß Arzneibuch aufweisen sollten. Die Qualitätsminderung bei falscher Lagerung betrit nicht nur die Abnahme von Inhaltsstofen. Die Ware kann zu „schwitzen“ anfangen. Dadurch werden enzymatische Prozesse in Gang gesetzt, die zu Verfärbungen des Drogenmaterials führen. Begleitet werden kann der Prozess von einer Zunahme der Keimzahlen, unter Umständen bis zum sichtbaren Pilzbefall. Vor allem bei fetthaltigen Drogen (Kürbiskerne, Leinsamen), aber auch bei bestimmten Wurzeldrogen (z. B. Rauwoliawurzel) kann der Pilzbefall, sofern Alatoxinbildner beteiligt sind, zum völligen Verderb der Ware führen. In den Sommermonaten besteht die Gefahr, dass Insekten zu schlüpfen beginnen, weshalb das Lager mit dafür zugelassenen Insektenbekämpfungsmitteln behandelt werden muss.
Grundsätzlich müssen für alle Ausgangsstofe und Fertigarzneimittel ICH-konforme Stabilitätsuntersuchungen durchgeführt werden. Unter Ausgangsstofen sind arzneilich wirksame Bestandteile (planzliche Wirkstofe) zu verstehen, die der PhEur-Monographie „Zubereitungen aus planzlichen Drogen“ (5.0/1434) entsprechen. Zubereitungen aus planzlichen Drogen, die vor der Weiterverarbeitung – beispielsweise zu Schnittdrogen für Teemischungen oder zur Herstellung von Fluid- und Spissumextrakten – nur kurzfristig gelagert werden, sind vom Erfordernis der Stabilitätsprüfung für Ausgangsstofe im Sinne der „Guideline CPMP/QWP/122/02“ ausgenommen.
8.2.4 Kontamination Unter Kontamination (lat.: contaminare [verunreinigen]) mit bestimmten Stofen = Kontaminanten) versteht man eine Verunreinigung, die einer Droge (oder generell einem Arzneimittel) nicht absichtlich hinzugefügt worden ist; man versteht darunter Rückstände, die als Folge der
8.2 Pharmazeutische Qualität pflanzlicher Arzneidrogen
Gewinnung, der Verarbeitung, des Transportes und der Lagerung, oder die als Folge einer Umweltverunreinigung in die Droge (bzw. in das Arzneimittel) hineingelangt sind. Der Begrif umfasst nicht die Überreste von Insekten, Haare von Nagetieren und andere „fremde Stofe“. Die chemische Kontamination ist die Verunreinigung mit chemischen Stofen (> unten). Als mikrobiologische Verunreinigung bezeichnet man die Verunreinigung mit Mikroorganismen. Die Belastung durch Mykotoxine wird in der Literatur unterschiedlich, teils zu den chemischen, teils zu den mikrobiologischen Verunreinigungen gerechnet. Weniger Beachtung haben bisher in den Arzneibüchern Kontaminationen gefunden, die durch Bestrahlung von Kräutern und Gewürzen mit ionisierender Strahlung hervorgerufen werden. Allerdings stellt in der Verbrauchermeinung die Tatsache der Bestrahlung an sich bereits eine Art von Kontamination dar, indem Verstrahlung durch radioaktiven Niederschlag und Bestrahlung durch energiereiche Strahlung zur Schädlingsbekämpfung nicht auseinander gehalten werden (Näheres zum Verfahren der Bestrahlung > unten).
Schwermetalle und andere Elemente Die Schwermetalle in der Umwelt sind normale Bestandteile der Erdkruste; sie gelangen über ihre Wurzeln zwangsläuig auch in Planzen. Quantitativ bedeutsamer ist jedoch die Kontamination von Planzen (Arzneimitteln und Lebensmitteln) durch industrielle Emission. Aus toxikologischer Sicht relevant sind – geordnet nach Häuigkeit des Vorkommens – die Elemente Blei, Cadmium und Quecksilber. Je nach Standort (Autobahn, Industrie usw.) gelangen diese Elemente über Boden, Wasser und Lut in die Planzen und in die Nahrungskette. Je nach Element können sich die Stofe überdies in bestimmten Planzenorganen anreichern – wobei der Kumulation in Tieren und beim Menschen eine größere toxikologische Bedeutung zukommt (Fülgraf 1989). Die Belastung mit Blei, Cadmium und Quecksilber ist natürlich sehr vom Standort der Planze abhängig. Die Belastung mit diesen Elementen hat zwar in den letzten Jahren nicht zugenommen, trotzdem ist eine Kontrolle der Schwermetallbelastung auch bei Arzneimitteln erforderlich, da die Belastung der Menschen sich aus der Kontamination von Lebensmitteln (wie Obst, Gemüse und Wasser
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sowie tierischen Lebensmitteln), Lut und (planzlichen) Arzneimitteln aufsummiert. Zurzeit liegen für den Arzneimittelbereich noch keine endgültigen gesetzlich vorgeschriebenen Grenzwerte für den Gehalt an Schwermetallen in planzlichen (und tierischen) Arzneimitteln vor. Als Basis für die Beurteilung von Drogen wird der Entwurf einer „Empfehlung für Höchstmengen an Schwermetallen bei Arzneimitteln planzlicher und tierischer Herkunt“ (Arzneimittel-Kontaminanten-Empfehlung-Schwermetalle) vom 17. 10. 1991 herangezogen In diesem Entwurf werden folgende Höchstmengen für planzliche Arzneimittel festgelegt: x Blei: 5 ppm, x Cadmium: 0,2 ppm, x Quecksilber: 0,1 ppm. Diese Vorschläge für Höchstgrenzen gelten zurzeit als die allgemein – auch von den Zulassungsbehörden – akzeptierten Limits. In der Zwischenzeit hat sich jedoch gezeigt, dass die Grenzwerte – vor allem bei Cadmium – für viele Drogen nicht eingehalten werden können. Dies muss nicht unbedingt mit einer zu hohen Cadmiumkontamination zusammenhängen, sondern kann auch durch eine natürliche Aufnahme von Cadmium durch einige Planzenspezies bedingt sein. Die Kontaminantenempfehlung enthält zwar für einige Drogen Ausnahmeregelungen, so dürfen z. B. bei Leinsamen, Schafgarbe und Weißdorn bis zu 0,3 ppm Cadmium enthalten sein, doch wäre nun – nach dem Vorliegen von ausreichenden Untersuchungsergebnissen – eine allgemeine Überprüfung der empfohlenen Grenzwerte für Schwermetalle erforderlich. Dabei sollten unter der Voraussetzung toxikologischer Unbedenklichkeit die individuellen Gegebenheiten der einzelnen Planzen wie Standort, Planzenorgan usw. stärker berücksichtigt werden. Besondere Aufmerksamkeit verdienen Drogenzubereitungen der Traditionellen chinesischen Medizin (TCM) (Chi et al. 1992). Einige auf Taiwan in der Kinderheilkunde verwendete traditionelle Rezepte enthielten bedenklich hohe Schwermetallgehalte. In einem Falle kam es zu einer akuten Vergitung (Chi et al. 1992). Der Apotheker ist somit gut beraten, wenn er nur Drogen verarbeitet und abgibt, die mit Prüfzertiikaten versehen sind. Allerdings entsprechen, wie Untersuchungen zeigten (Jungmayr 2004), nicht alle Prüfzertiikate den Anforderungen der Apothekenbetriebsordnung. Bisher war nur von den Drogen selbst die Rede: Was die Drogenzubereitungen wie Teeaufgüsse oder Extrakte
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
. Tabelle 8.7 Modellrechnung für den Schwermetallgehalt von Teezubereitungen (Beispiel Cadmium) aus bekannten Gehalten der Ausgangsdroge (aus Nagell u. Grün 1997, nach Drasch 1992) 1. Cadmiumgehalt in Arzneidroge
max. 0,5 mg/kg = 0,5 µg/g
max. 1,25 mg/kg = 1,25 µg/g
2. Arzneidrogenmenge pro Tasse: 2 g
entspr. 1,0 µg
2,50 µg
3. Davon werden 30% in das Getränk extrahiert
entspr. 0,3 µg
0,75 µg
4. Getränkemenge in einer Tasse
150 ml
150 ml
5. Cadmiumgehalt in Zubereitungen aus Teedroge extrahiert plus aus Teewasser stammend (TrinkWV’86)
max. 2,0 µg/l + 5,0 µg/l
5,00 µg/l +5,00 µg/l
max. 7,0 µg/l 6. Extremwerte für Trinkwasser 7. Extremwerte für Teezubereitungen
anbelangt, so sollte man vermeiden, die für die Droge ermittelten Schwermetallgehalte auf die Zubereitung einfach hochzurechnen, ohne die Freigabebedingungen aus der Drogenmatrix zu berücksichtigen. Bei der Herstellung von Extrakten erfolgt in den meisten Fällen eine Abreicherung der Schwermetallgehalte, doch selbst bei Teezubereitungen aus Drogen, die einen etwas überhöhten Cadmiumgehalt aufweisen (max. 0,5 ppm), wurde anhand einer Modellrechnung ( > Tabelle 8.7) gezeigt, dass daraus wohl kein toxikologisches Risiko für den Anwender resultiert (Nagell u. Grün 1997). Die bisher im Lebensmittelbereich geltenden „Richtwerte“ (Orientierungswerte) wurden zurückgezogen, da die Datenbasis nicht mehr ausreichend aktuell war (Pressemitteilung BgVV vom Dezember 2000). In den Arzneibüchern inden sich bei den Einzelmonographien in der Regel keine Angaben zu Höchstmengen an Schwermetallen. Eine Ausnahme bildet die Monographie der PhEur zu Fucus bzw. Ascophyllum (Kelp). Die PhEur legt jedoch allgemein die Art des Vorgehens bei der atomabsorptionsspektrometrischen Schwermetallbestimmung fest. Unter Atomabsorptionsspektrometrie versteht man die Absorption von Strahlung durch Atome, die sich im Dampfzustand beinden. Nach dem Verbrennen und Verdampfen von Analysenproben liegen die verbleibenden anorganischen Bestandteile als Moleküle, Ionen, Radikale oder Atome vor. Nur die Atome eignen sich zur Analyse, weil nur sie Spektren emittieren und absorbieren ( > Abb. 22.26 Seite 771). Für schwer atomisierbare Verbindungen sind sehr heiße Flammen nötig, Arsen und
10,00 µg/l 1,0–6,0 µg/l
max. 3,0–8,0 µg/l
6,0–11,0 µg/l
Quecksilber sind leicht atomisierbar. Dementsprechend schreibt die PhEur auch zwei unterschiedliche Verfahren vor: für Cd, Cu, Fe, Ni, Pb und Zn die elektrothermische Atomisierung im Graphitofen und für As und Hg die Überführung in gasförmige Hydride. Als Strahlungsquellen werden Hohlkathodenlampen verwendet. Es sind das Niederdrucklampen, deren Kathoden die zu messenden Elemente enthalten. Die Kathode liegt in Form eines Hohlzylinders vor. Ionen des Füllgases, die auf die Innenwandung des Hohlzylinders trefen, schlagen einzelne Atome heraus, die dann durch Stöße mit Elektronen zum Leuchten angeregt werden. Wie bereits erwähnt, legt die PhEur bisher nur in der Monographie „Fucus“ Höchstmengen fest, und zwar für Cadmium (4 ppm), Blei (5 ppm) und Quecksilber (0,1 ppm) sowie zusätzlich für Arsen (90 ppm). Infobox Arsen als Umweltgift. Unter den Gesichtspunkten Häufigkeit in der Umwelt, Toxizität und Wahrscheinlichkeit, dass der Mensch dem Stoff ausgesetzt ist, nimmt Arsen in den USA den ersten Platz unter den gefährlichen Umweltgiften ein (zitiert nach Belitz et al. 2001). In Deutschland spielt hingegen Arsen als Umweltgift heute kaum noch eine Rolle (von Mühlendahl et al. 1999). Dem scheinen mehrere Meldungen der letzten Jahre zu widersprechen, wonach hohe Arsengehalte vor allem in Fisch, aber auch in vegetabilischen Produkten, so in Algen, Seetang und im Reis, gefunden wurden. Beispielsweise wurden in Scholle
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8.2 Pharmazeutische Qualität pflanzlicher Arzneidrogen
und Hai Arsengehalte von 20 bzw. 30 mg/kg Fisch gemessen, woraus sich leicht errechnen lässt, dass mit Fischmahlzeiten hoch toxische Arsendosen zugeführt werden können. Zum Vergleich: 130 mg Arsentrioxid können einen Menschen ad exitum bringen. Wenn dennoch der Fischverzehr nach wie vor als unbedenklich gilt, dann hängt das mit 3 Faktoren zusammen: Einmal liegt Arsen in den Naturprodukten nicht als Arsentrioxid, sondern in organischer Bindung (im Fisch z. B.) als wenig toxisches Arsencholin vor, zweitens ist nur eine Teilmenge der zugeführten Arsenverbindung bioverfügbar (CVUA 2002), und drittens sind nur höchst selten Fische so hoch belastet, wie oben angegeben. Die Menge Arsen, die bei oraler Aufnahme wahrscheinlich nicht riskant ist, wird nach USA-Angaben auf 0,3 µg/kg KG (Körpergewicht)/Tag geschätzt (Belitz et al. 2001).
Pestizidrückstände Definition des Begriffes Pestizide. Pestizide (lat.: pestis >Seuche, Unheil@ und caedere, cecidi >töten, vernichten@ im Sinne des Arzneibuches (PhEur) sind „Substanzen oder Substanzgemische, die zur Abwehr, Zerstörung oder Bekämpfung von Schädlingen, unerwünschten Planzenoder Tierarten dienen, die bei der Herstellung, Verarbei-
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tung, Lagerung, dem Transport oder dem Inverkehrbringen von planzlichen Drogen schädlich oder beeinträchtigend wirken. Der Begrif Pestizide schließt auch Substanzen ein, die zum Einsatz als Wachstumsregulatoren, Entlaubungsmittel und Trocknungsmittel bestimmt sind, sowie alle Substanzen, die vor oder nach der Ernte am Erntegut angewendet werden, um die Ware vor Qualitätsminderung während der Lagerung und des Transportes zu schützen“. Kürzer lässt sich der Begrif Pestizide wie folgt fassen: als eine Sammelbezeichnung für Stofe synthetischer oder natürlicher Herkunt, die bei der Planzenproduktion angewendet werden, um Planzen oder planzliche Produkte (Drogen) vor Krankheiten, tierischen Schädlingen (Parasiten), planzlichen Schädlingen (Unkraut) und schädlichen Mikrorganismen zu schützen. Die wichtigsten Gruppen von Pestiziden sind: x Mikrobizide zur Bekämpfung von unerwünschten Mikroorganismen, x Insektizide zur Bekämpfung von Insekten, x Akarizide zur Bekämpfung von Milben, x Nematizide zur Bekämpfung planzenschädigender Nematoden, x Molluskizide zur Bekämpfung planzenschädigender Schnecken, x Rodentizide zur Bekämpfung von Nagetieren, x Herbizide zur Bekämpfung von Unkraut, x Begasungsmittel zur Schädlingsbekämpfung in Vorratsräumen (z. B. in großen Drogenlagern).
Infobox Parasitisch lebende Pflanzenschädlinge. Schädlingsbekämpfung kann sich gegen Schaderreger in Arzneipflanzenkulturen richten; sie kann aber auch gegen Schädlinge gerichtet sein, die Drogen während Transport und Lagerhaltung befallen können. Die nachfolgenden Ausführungen beschränken sich auf parasitisch lebende Schaderreger, also vorzugsweise auf Schädlinge in Arzneipflanzenkulturen. Der Befall mit Schaderregern führt zu unterschiedlichen Pflanzenkrankheiten. Auf Infektionen reagiert die Pflanze je nach Verursacher mit unterschiedlichen Symptomen, die in Formveränderungen – Wachstumshemmung, Gallenbildung, Tumoren – oder in Absterbeerscheinungen – Fäulnis und Nekrosen – bestehen. Schäden, die von Schnecken und Nagetieren herrühren, führen primär zu
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Gewebszerstörungen, Viren führen zu Kräuselkrankheiten, Vergilbungskrankheiten und Mosaikkrankheiten. Dazu einige Details. Pilze. Mit etwa 45.000 Arten bilden sie eine der vielgestaltigsten Organismen. Sie sind als Erreger von Krankheiten bei Kulturpflanzen dominierend. Die von ihnen hervorgerufenen Mykosen erreichen in Mitteleuropa einen Anteil von etwa 80%, während auf bakterien- und vireninduzierte Pflanzenkrankheiten etwa je 10% entfallen. An erster Stelle zu nennen sind die Rostpilze (Uredinales) und die Brandpilze (Ustilaginales). Die Rostpilze verdanken ihren Namen dem Umstande, dass ihre Sporenlager rostbraun gefärbt sind; man denke an den bekannten, vom Puccinea malvacearum herrührenden Malvenrost, braune Rostpusteln auf
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
Stängeln und Blattunterseiten von Stockrosen und anderen Malvengewächsen. Die Brandpilze (Ustilaginales) beziehen ihren Namen von der Bildung schwarzer Sporenmassen auf den befallenen Pflanzenorganen. Als Beispiel sei die von Entyloma calendulae herrührende Blattfleckenkrankheit der Ringelblume (Calendula officinalis) erwähnt. Ein Blütenparasit ist der bekannte zur Klasse der Schlauchpilze (Ascomycetes) zählende Claviceps purpurea. Nematoden (Fadenwürmer). Man kennt ca. 1500 Arten. Die phytopathogenen Arten sind durchschnittlich 1 mm groß. Sie besitzen einen durchbohrten, vorstreckbaren Mundstachel, mit dem sie die Pflanzenzellen anstechen und aussaugen. Ihr eigentlicher Schaden ist indirekter Art, indem sie als Überträger bodenbürtiger Pflanzenviren fungieren. Milben (Acari). Es handelt sich um winzige Spinnentiere, von denen bisher etwa 10.000 Arten bekannt sind, die in den verschiedensten Lebensräumen vorkommen. Viele Arten leben parasitisch an Tieren oder Pflanzen. Phytophage Arten stechen das Gewebe von außen an und saugen die Zellen einzeln aus. Außerdem können sie virale Krankheiten übertragen. Insekten (Insecta). Von den weit über 1 Million bekannten Tierarten entfallen über zwei Drittel aller Arten auf Insekten. Ihre Mundwerkzeuge sind in ihrer ursprünglichen Form zum Beißen eingerichtet, d. h. zum Abbeißen und Zerkleinern fester Nahrung, z. B. von Pflanzengeweben. Bei einem Teil der für Pflanzen schädlichen Insekten sind die Mundwerkzeuge aber auch zur Aufnahme flüssiger Nahrung umgestaltet; die stechend-saugenden Mundwerkzeuge ermöglichen es, Flüssigkeiten aus angestochenem Gewebe aufzu-
Weltweit kommen ca. 500 verschiedene Pestizide in über 5000 Mischprodukten zur Anwendung. Dies erschwert natürlich eine einheitliche rechtliche Regelung sowie auch die analytische Bestimmung außerordentlich. Im Lebensmittelbereich sind in der Rückstands-Höchstmengenverordnung (RHmV, zuletzt geändert 2004) die Höchstmengen für über 400 Substanzen festgelegt ( > Tabelle 8.5). Dabei sind für die einzelnen Lebensmittel teilweise unterschiedliche Werte deiniert. Die für Lebensmittel geltenden Höchstwerte waren bis vor kurzer Zeit auch im Arzneimittelbereich die einzigen Richtwerte für
nehmen. Zu den Schadinsekten gehören u. a. die Blattläuse, die Pflanzenwespen, die Käfer und die Zweiflügler mit den Mücken, Gallmücken und Bohrfliegen. Von den Käferschädlingen am bekanntesten ist der Kartoffelkäfer. Trypeta-Arten: Von den Frucht- oder Bohrfliegen kommen allein in Mitteleuropa 290 Arten vor, viele darunter bedeutende Schädlinge in der Landwirtschaft. Dem Pharmazeuten bekannt ist vielleicht die Spezies Trypeta arnicivora, deren Larven im Blütenboden von Arnica montana zu finden sind. Viren. Viren können nicht selbst aktiv in Pflanzenzellen eindringen; sie gelangen dorthin über Verletzungen des Pflanzengewebes, häufig nach vorhergehendem Parasitenbefall durch Käfer, Nematoden, Blattläuse u. a. m., aber auch nach mechanischer Verletzung, weshalb z. B. der Pfropfvorgang eine virale Infektionsgefahr mit sich bringt. Weiterhin ist die Gefahr einer Virusausbreitung dort besonders groß, wo Pflanzen vegetativ (durch Knollen, Zwiebeln, Ausläufer, Stecklinge) vermehrt werden, und zwar dann, wenn Partien partiell viral verseucht sind. Die pflanzlichen Virusinfektionen machen sich durch mosaik- oder ringförmige Blattzeichnungen, durch nekrotisierende Partien, durch Blattrollung und Kräuselung bemerkbar. Besonders auffällig sind Farbänderungen der Blütenblätter. Eine Virusinfektion ist mit Vitalitätseinbuße der Pflanzen verbunden und führt zu verminderter Drogenausbeute, verminderter Drogenqualität und vermindertem Extrakt- und Wirkstoffgehalt. Allgemein bekannt ist der Tabakmosaikvirus. Während Blattläuse sonst die häufigsten Überträger der Virusinfektion sind, wird das Tabakmosaikvirus hauptsächlich durch Berühren der Pflanze (mechanische Verletzungen) übertragen. Es bilden sich mosaikförmige Flecken mit dunkelgrünen Adern. Die ganze Pflanze verkümmert und stirbt ab.
zulässige Höchstmengen. In der Zwischenzeit sind in der PhEur für ca. 34 Substanzen Grenzwerte festgelegt worden, die speziell für Arzneimittel gelten. Grenzwerte für Pestizide, die nicht in der Monographie Pestizidrückstände der PhEur angegeben sind, müssen den Anforderungen der Rückstands-Höchstmengenverordnung und den dieser Verordnung zugrunde liegenden EG-Richtlinien (z. B. 76/895/EG und 90/642/EG) entsprechen. Diese Richtlinien wurden und werden durch die Rückstands-Höchstmengenverordnung in Deutschland in nationales Recht umgesetzt. Sofern ein bestimmtes Pestizid auch dort
8.2 Pharmazeutische Qualität pflanzlicher Arzneidrogen
nicht aufgeführt ist, muss über die täglich zulässige Dosis (ADI-Wert) ein entsprechender akzeptabler Grenzwert berechnet werden. Grenzwerte für Pestizide in Drogen oder Drogenzubereitungen werden nach folgender Formel berechnet: Grenzwert = ADI × M/100 × MDD Dabei bedeutet ADI: ein im Lebensmittelbereich gebräuchlicher Wert, der die maximal duldbare tägliche Aufnahmemenge für Fremdstofe in Lebensmitteln angibt. ( > unten), M = Körpermasse in kg (60 kg), MDD = mittlere Tagesdosis der Droge oder Zubereitung. ADI-Wert. Der ADI-Wert („acceptable daily intake“) be-
zifert die tägliche Aufnahmemenge eines Zusatzstofes in Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht (mg/kg KG) eines Fremdstofes (im vorliegenden Falle: eines Pestizids), die ein Mensch lebenslänglich täglich verzehren kann, ohne gesundheitliche Schäden davonzutragen. Basis für die Festlegung eines ADI-Wertes sind in der Regel Tierversuche mit mindestens zwei Tierarten, meist Ratte und Maus. Ziel ist es, die höchste Dosierung herauszuinden, bei der keine gesundheitsrelevante Wirkung zu beobachten ist. heoretisch erhält man diesen Wert, indem man eine Dosis-Wirkungs-Kurve erstellt und diese Kurve graphisch auf die Abszisse extrapoliert: Der Schnittpunkt entspricht dem NEL („no efect level“). Hieraus folgt, dass für mutagene, kanzerogene und teratogene Stofe kein NEL ableitbar ist. Die ADI (duldbare tägliche Aufnahmemenge) beträgt in der Regel 1% des NEL. Dieser Sicherheitsfaktor von 0,1 dient dem Ausgleich von möglichen Stofwechselunterschieden zwischen den zur Testung herangezogenen Kleintieren und dem Menschen. Der Sicherheitsfaktor sagt allerdings nichts darüber aus, wie groß die Sicherheitsspanne tatsächlich ist. Die Angaben der ADI-Werte – der duldbaren täglichen Aufnahmedosen – beziehen sich auf das Körpergewicht. Nun ist aber nur ein Teil der gesamten Körpermasse an der Metabolisierung und Ausscheidung der toxischen Substanz (hauptsächlich die Leber und die Nieren) beteiligt; dieser Anteil am gesamten Körpergewicht ist aber beim Menschen wesentlich kleiner als z. B. bei der Ratte oder der Maus. Nur für Stofe mit toxikologischer Wirkungsschwelle (Konzentrationsgite) ist ein NEL-Wert ableitbar. Für Stoffe ohne Wirkungsschwelle, d. h. die so genannten Summationsgite, existiert keine wirkungsfreie Dosis.
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Chemische Struktur. Ihrer Herkunt nach lassen sich zwei
Gruppen von Pestiziden unterscheiden: planzliche und synthetisch-organische Produkte. Die Gruppe der planzlichen, auch als Biopestizide bezeichneten Mittel wird von folgenden planzlichen Produkten gebildet: x Derriswurzel, bestehend aus den pulverisierten Rhizom und Wurzelteilen, meist auf einen Gehalt von 5% Rotenon standardisiert; x Neembaumölextrakte ( > Abschnitt 4.3.4 u. > Abb. 4.20) mit dem zu den Limonoiden zählenden Azadirachtin als wirksame Komponente; x Nicotin, auch in Form von Tabaklauge, aus NicotianaArten; x Pyrethrum, ein Nervengit mit Pyrethrin, Cinerin und Jasmolin als insektizide Komponeneten, das aus den Blüten von Chrysanthemum-Arten durch Pulverisieren oder Extraktion gewonnen wird; x Ryania-Pulver, aus den getrockneten und gemahlenen Stengel- und Wurzelteilen der in Südamerika heimischen Ryania speciosa Vahl. ( > Abschnitt 27.14.2), das vor allem gegen Raupen eingesetzt wird. Die in vielen Varianten angebotenen synthetischen Schädlingsbekämpfungsmittel lassen sich in drei Hauptgruppen unterteilen: in chlorierte Kohlenwasserstofe, organische Phosphorverbindungen und Carbamate. Analytik. Um ein aussagefähiges Ergebnis zu erhalten, ist
die Probenaubereitung mindestens so wichtig wie die eigentliche Bestimmung. Die Probenaubereitung zerfällt in die folgenden Teilschritte: x Probenahme, x Probenvorbereitung, x Grobabtrennung durch Isolierung oder Extraktion des Analyten, x Konzentrierung und Reinigung. Im Lebensmittelbereich sind zur Probenaubereitung standardisierte Verfahren für alle nur denkbaren Situationen entwickelt und veröfentlicht worden. Speziell für Arzneimittel inden sich Angaben in der PhEur, allerdings nur für die Gruppen der Organochlor-, der Organophosphor- und Pyrethroid-Insektizide. Die eigentliche Bestimmung, d. h. die Ermittlung der Messwerte, erfolgt wie üblich mittels Gaschromatographie mit thermoionischen Detektoren für Phosphor und Stickstof oder mit lammenphotometrischem Detektor.
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
Rückstände von Strahleneinwirkung Seit dem Reaktorunfall in Tschernobyl im Mai 1986 ist es grundsätzlich möglich, dass verstrahlte Drogenchargen in den Handel gelangen. Während eines Zeitraumes von 14 Tagen wurden große Mengen von Radionukliden in die Umwelt freigesetzt. Teile der Radionuklide gelangten mit den Niederschlägen auch in den Boden. Die Nuklidzusammensetzung in den radioaktiven Wolken änderte sich mit der Entfernung zum Reaktor. In unmittelbarer Nähe wurden die weniger lüchtigen Elemente wie Strontium-90 oder Plutonium-239 abgelagert, Radiocaesium und Iodisotope hingegen wurden über weite Strecken transportiert. Von Bedeutung heute ist in Europa nur noch das langlebige Cs-137, das aufgrund seiner langen Halbwertszeit von etwa 30 Jahren bis heute nur zu etwa 30% zerfallen ist. In humusreichen Waldböden kann Caesium nur sehr schwer in die mineralischen Bodenschichten abwandern, wo es durch Tonminerale ixiert würde: In Waldböden ist es in einen sehr wirkungsvollen Nährstokreislauf eingebunden, sodass Waldprodukte wie Pilze, aber auch Heidel- und Preiselbeeren nach wie vor kontaminiert sein können. Für in Bayern gesammelte Heidelbeeren (Myrtilli fructus) wurden im Jahre 2000 Maximalwerte
(speziische Aktivität von Cs-137) bis 180 Bq/kg Frischmasse gemessen. Zum Vergleich: Für Lebensmittel – außer Milch und Säuglingsnahrung – ist ein Grenzwert von 600 Bq/kg festgesetzt, ein Grenzwert, der auch zur Beurteilung von Drogen herangezogen wird. In der Arzneibuch-Monographie (PhEur) zu planzlichen Drogen wird auf das Risiko einer radioaktiven Kontamination hingewiesen.
Rückstände nach Behandlung mit Ethylenoxid Eine Behandlung von Drogen mit Ethylenoxid ist in Deutschland verboten (Verordnung über das Verbot der Verwendung von Ethylenoxid bei Arzneimitteln vom 11. 8. 1988; > Tabelle 8.5), da es sich bei den Rückständen (Ethylenchlorhydrin, Ethylenglycol) um reaktive toxische Verbindungen handelt. Außerdem ist auch ein Verbot in der Monographie der PhEur „Planzliche Drogen“ enthalten. Zum Nachweis, dass eine Ethylenoxidbehandlung vorgenommen wurde, eignet sich am besten die Bestimmung (Headspace GC) des Epichlorhydrins. Ethylenoxid selbst ist wegen seiner hohen Flüchtigkeit und Reaktivität bereits nach wenigen Tagen als Rückstand nicht mehr nachweisbar.
Infobox Strahlenbehandlung zur Entkeimung. Eine Alternative zur Begasung mit Ethylenoxid ist die Entkeimung durch energiereiche ionisierende Strahlung. Durch EG-Richtlinien ist das Inverkehrbringen von bestrahlten Lebensmitteln – dazu zählen auch in der Pharmazie verwendete Produkte wie Gewürze und Gummi arabicum – erlaubt. In den EU-Ländern Österreich und Deutschland, aber auch in der Schweiz sind Rechtsvorschriften erlassen worden, die den näheren Umgang mit bestrahlten Produkten und deren Inverkehrbringen regeln. Für den Verbraucher ist dabei wesentlich: Die Strahlenbehandlung eines Produktes muss eindeutig („mit ionisierenden Strahlen behandelt“) deklariert sein: Diese Pflicht des Kenntlichmachens kommt aber in der Praxis einem Verbot dieser Produkte sehr nahe, da in der Bevölkerung zwischen „verstrahlt“ und „bestrahlt“ nicht unterschieden wird, d. h. diese Produkte werden vom Konsumenten nicht akzeptiert. Demgegenüber weisen Ärzte darauf hin, dass bakteriell oder viral kontaminierte Nahrungsmittel allein in den USA zu jährlich 325.000
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Erkrankungen und 6000 Todesfällen führen. Die Entkeimung mittels ionisierender Strahlung könnte Morbiditäts- und Mortalitätsrate erheblich senken (Osterholm u. Norgan 2004; Thayer 2004). In Deutschland ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt lediglich die Bestrahlung von getrockneten aromatischen Kräutern und Gewürzen erlaubt. Hinzu kommt als weiteres pflanzliches Erzeugnis Gummi arabicum, das aufgrund der in den tropischen und subtropischen Erzeugerländern herrschenden Bedingungen oft mit Schmutz verunreinigt ist: Zudem trägt das feucht-warme Klima zu seiner mikrobiologischen Verunreinigung bei. Zur Bestrahlung werden verschiedene Strahlenquellen eingesetzt; am häufigsten kommt Gammastrahlung zum Einsatz, die u. a. beim Zerfall von Cobalt-60 oder Caesium137 entsteht. Das zu bestrahlende Gut wird auf einem Förderband an der Strahlenquelle vorbeigeführt und, je nach Art des Produktes, unterschiedlich stark bestrahlt. Dieses Verfahren wird übrigens seit langem zur Sterilisa-
8.2 Pharmazeutische Qualität pflanzlicher Arzneidrogen
tion medizinischer Geräte angewandt, die aus hitzelabilen Materialien bestehen und daher nicht autoklaviert werden können. Die Strahlendosis beträgt je nach Produkt und Ziel 0,02 bis 10 kGy (Kilogray). 1 Gray ist die Aufnahme von 1 J pro kg Lebensmittel. 10 kGy führen somit definitionsgemäß zu einer Aufnahme von 10.000 J/kg, was der Erwärmung des Produktes um einige wenige Grad Celsius entspricht. Die Kennzeichnung als „mit ionisierenden Strahlen behandelt“ ist, wie bereits erwähnt, in hohem Maße kaufentscheidend, insbesondere für Käufer pflanzlicher Produkte. Daher stellen nicht kenntlich gemachte Produkte eine massive Täuschung des Verbrauchers dar. Bei dieser Sachlage stellt sich die Frage, ob sich denn die Bestrahlung eines Produkts überhaupt analytisch nachweisen lässt. Es gibt heute eine ganze Anzahl validierter Verfahren, und zwar sowohl chemische als auch physikalische; eine systematische Darstellung aller dieser Methoden kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Vorgestellt werden soll lediglich die Thermoluminiszenzmethode, die optimal zur Identifizierung von bestrahlten Drogen, Kräutern und Gewürzen ge-
Mikrobielle Verunreinigung Ziel dieser Prüfung ist es, ein Vorliegen mikrobieller Kontamination bzw. die Einhaltung der amtlichen Anforderungen festzustellen. Mikrobiologische Kontamination ist nicht nur aus hygienischen Gründen, sondern auch wegen der Toxinbildung von Bakterien und Pilzen toxikologisch bedenklich. Da Mikroorganismen allgegenwärtig sind, sind auch mehr oder weniger alle Drogen, allerdings in unterschiedlichem Ausmaße mikrobiologisch kontaminiert. Nährstofreiche Wurzeldrogen, die durch Erdpartikel ohnehin stärker belastet sind, weisen stets höhere Zahlen von Mikroorganismen und Pilzen auf als z. B. Blattoder Blütendrogen. Die Gesamtkeimzahlen variieren entsprechend von Droge zu Droge sehr stark. Durchschnittlich liegen sie zwischen 102/g und 108/g. In der PhEur sind bei den Drogeneinzelmonographien keine entsprechenden Grenzwerte (für Keimzahl und Zahl speziischer Mikroorganismen) festgelegt. Sind die Drogen jedoch zur Teezubereitung bestimmt, so ergeben sich indirekt Grenzwerte aus der Vorschrit 5.1.4 der PhEur über die mikrobielle Qualität pharmazeutischer Zubereitungen ( > Tabelle 8.8).
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eignet ist. Sie ist überdies sehr einfach anzuwenden und kostengünstig. Beim Thermoluminiszenzverfahren wird die beim Erhitzen des Materials auftretende Chemiluminiszensstrahlung im UV-, VIS- oder IR-Bereich gemessen. Zur Messung wird das trockene Probenmaterial (ca. 3–20 mg) mit einer konstanten Geschwindigkeit von 5–10 °C/sec auf eine Endtemperatur von 300–400 °C erhitzt. Die dabei auftretende Lichtemission wird durch einen Detektor aufgezeichnet und das Ergebnis in einem Graph (= Glühkurve oder anglifiziert Glow-Kurve) ausgedrückt, in dem das emittierte Licht gegen die Temperatur oder gegen die Zeit, während der erhitzt wird, aufgetragen ist. Diese Lichtemission wird nicht durch das organische Material verursacht, sondern durch die dem Pflanzenmaterial anhaftenden mineralischen Verunreinigungen (z. B. Sand, Quarz). Das anorganische Material hat die Eigenschaft, durch die energiereiche Strahlung (während der Bestrahlung des Produkts) in seiner kristallinen Matrix Ladungsträger zu speichern, die bei niedriger Temperatur langlebig sind, durch die Hitzestimulation jedoch freigesetzt werden (Sanderson et al. 1989).
. Tabelle 8.8 Mikrobiologische Anforderung der PhEur bei pflanzlichen Arzneimitteln (Kategorie 4) A. Pflanzliche Arzneimittel, denen vor der Anwendung siedendes Wasser zugesetzt wird Keimzahl
Höchstens 107 aerobe Bakterien/g bzw. ml Höchstens 105 Pilze/g bzw. ml
Spezifische Mikroorganismen
Höchstens 102 Escherichia coli/g bzw. ml
B. Andere pflanzliche Arzneimittel Keimzahl
Höchstens 105 aerobe Bakterien/g bzw. ml Höchstens 104 Pilze/g bzw. ml
Spezifische Mikroorganismen
Höchstens 103 Enterobakterien und bestimmte andere gramnegative Bakterien/g bzw. ml; Escherichia coli: dürfen nicht vorhanden sein (1,0 g oder 1,0 ml); Salmonellen: dürfen nicht vorhanden sein (10,0 g oder 10,0 ml)
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
. Abb. 8.4 Gesamtkeimzahl
Zahl der Schimmelpilze
Zahl der gramnegativen Keime
106 ∗
Keimzahl / g
214
104
102
100
∗∗ Tee
0
5 100 ˚C
24
0
5 60 ˚C
24
0
5
24 [h]
Raumtemperatur
Entwicklung von Mikroorganismen eines mikrobiologisch bedenklichen Tees nach Aufguss im Wasser unterschiedlicher Temperatur. Die Keimzahl wurde in den angegebenen Zeitintervallen bestimmt und auf g eingesetzte Teedroge berechnet. Die Aufbewahrung des Teeaufgusses erfolgt bei Raumtemperatur (nach Hameister 1984)
Hinweis. Die besagten Grenzwerte gelten auch für tassenfertige Tees, die als Extrakte zur Anwendung kommen.
Je nach Art der Weiterverarbeitung bzw. Weiterverwendung der Droge kann der Keimgehalt von Drogen zu gesundheitlich bedenklichen Werten anwachsen. So wurde aus experimentellen Gründen mikrobiologisch verunreinigte Droge zum Teeaufguss weiterverarbeitet und der Keimgehalt gemessen. Die Ergebnisse der unterschiedlich temperierten Aufgüsse sind in > Abb. 8.4 wiedergegeben. Während bei Aufgüssen mit Wasser von 100 °C und 60 °C mikrobiologisch unbedenkliche Produkte erhalten wurden, war der Aufguss mit kaltem Wasser (25 °C) nicht mehr genießbar. Im Unterschied dazu kommt es bei der Herstellung alkoholischer Auszüge wie Tinkturen, Spissum- und Trockenextrakten, bedingt durch die desinizierende Wirkung von Ethanol, zu einer Reduzierung der Keimzahl. Jedoch unabhängig von der Herstellung legt die PhEur für die Endprodukte (planzliche Arzneimittel) Grenzwerte für Keimzahlen und speziische Mikroorganismen fest ( > Tabelle 8.8). In der Zwischenzeit wurde ein Monographie-Entwurf „Microbial Contamination Limits for Nonsterile Pro-
ducts“ (Pharmeuropa 2001) vorgelegt. In diesem Entwurf werden die Grenzwerte für Pilze um eine Zehnerpotenz enger als bisher gefasst (vgl. dazu die Werte der > Tabelle 8.8). Der Vorschlag ist wenig verständlich, da sich die bisherigen Grenzwerte aus der Sicht des Gesundheitsschutzes auch im Vergleich mit der Situation im Lebensmittelbereich bewährt haben. Was in dem Entwurf hingegen fehlt, ist eine Festlegung von Grenzwerten für Extrakte und für Drogen, aus denen Extrakte hergestellt werden.
Mykotoxine Mykotoxine (griech.: mýkes, -etos >Pilz@ und toxikón >Git@) sind Sekundärmetabolite, die beim Wachsen bestimmter Schimmelpilzarten auf planzlichen Substraten gebildet werden. Von etwa 20 Mykotoxinen ist bekannt, dass sie in planzlichen Produkten häuig und in toxikologisch bedenklichen Konzentrationen autreten können. Es handelt sich um die folgenden Mykotoxine: x Aspergillus-Toxine mit den Alatoxinen ( > Abb. 8.5 und Abb. 8.6) und dem Sterigmatocystin,
8.2 Pharmazeutische Qualität pflanzlicher Arzneidrogen
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. Abb. 8.5
Beispiele für zwei Gruppen von Aflatoxinen. Aflatoxine der B-Gruppe enthalten den Cumarinring anelliert mit einem Zyklopentenring, die Vertreter der G-Gruppe hingegen mit einem α-Pyronring. Die Aflatoxine der G-Gruppe sind stärker oxidativ modifiziert, als die der B-Gruppe. In der synthetischen Chemie hat das Verhältnis beider Gruppen sein Analogon in Ausgangs- und Endprodukt einer Baeyer-Villiger-Oxidation, d. h. ein Keton und dem entsprechenden Ester. Die Indices B und G weisen auf eine auffallende Eigenschaft der betreffenden Aflatoxine hin: Die Vertreter der B-Gruppe fluoreszieren blau, die der G-Gruppe intensiv grün. Ihrem chemischen Aufbau nach sind die Aflatoxine wie folgt gekennzeichnet: Sie bestehen aus einem Tetrahydrofurofuran-Ringsystem, das an ein substituiertes Cumarin-System ankondensiert ist. Biogenetisch gehören die Aflatoxine zu den Polyketiden, und zwar mit Hexanoyl-CoASH als Startermolekül, das durch 7 (aus Malonyl-SCoA stammenden) Acetatresten verlängert ist. Insgesamt werden 20 Reaktionsschritte vom Startermolekül bis zum ersten Aflatoxin durchlaufen. Durchlaufen werden u. a. Anthrachinon- und Xanthon-Zwischenstufen, die in bestimmten Pilzarten als Endprodukte des Polyketid-Stoffwechselweges liegenbleiben. Das Xanthonderivat Sterigmatocystin, das z. B. in Aspergillus versicolor vorkommt, zeigt bereits eine den Aflatoxinen vergleichbare Toxizität, offenbar wegen des Auftretens des für die Aflatoxine typischen Furanofuransystems ( > dazu auch Abb. 8.6)
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
. Abb. 8.6
Metabolische Epoxidierung von Aflatoxin B1 und damit Bildung des eigentlichen toxischen Prinzips („Giftungsreaktion“). Das reaktionsfreudige 7,8-Epoxid kann sowohl an DNA als auch an chromosomale Proteine binden. Die mutagene und karzinogene Wirkung wird durch eine kovalente Bindung an das N-7 eines Guanin- bzw. Desoxyguanosin-Restes der DNA mit anschließenden Folgereaktionen erklärt. Die Folgereaktionen führen zu einer Mutation in einem Tumorsuppressorgen, dem Gen p53
x Penicillium-Toxine mit Ochratotoxin A als Beispiel, x Fusarium-Toxine mit den Trichothecenen und x Alternaria-Toxine mit Alternariol und der Tenuazonsäure als Hauptvertreter. Ein besonderes Gefährdungspotential bilden die Alatoxine, zum einen wegen ihrer hohen toxikologischen Potenz und zum anderen wegen der Häuigkeit ihres Vorkommens. Gebildet werden die Alatoxine bereits in einem sehr frühen Stadium des Pilzwachstums, sodass die Größe der sichtbaren Schimmelpilzbildung kein Maß für die wirkliche Alatoxin-Kontamination darstellt. In akut toxischer Konzentration führen Alatoxine beim Säuger zu Leberzellnekrosen und akutem Leberversagen. Auch werden die Nierentubuli geschädigt. Chronische Belastung mit geringen Dosen über einen längeren Zeitraum führen zu primärem Leberkrebs. Länder wie Zwaziland, Kenia, Uganda und Mozambique mit hoher Alatoxin-Exposition in der Nahrung zeigen besonders hohe Raten an primärem Leberkrebs. Der Zusammenhang zwischen Alatoxin-Exposition und Häuigkeit von Leberkrebs gilt heute als gesichert. Wegen ihres besonderen Risikopotentials gibt es speziell für die Alatoxin-Kontamination eine ganze Reihe staatlicher Regelungen mit dem Ziel einer Festsetzung von noch zulässigen Höchstmengen. Für Arzneimittel gilt in Deutschland die Alatoxin-Verordnung und für Lebensmittel die Mykotoxin-Verordnungen. Hinsichtlich der
Grenzwerte weisen die beiden Verordnungen keine Unterschiede auf. Folgende Grenzwerte sind festgelegt: x Alatoxin M1: d 0,05 mg/kg x Alatoxin B1: d 2 mg/kg x Gesamtmenge an Alatoxinen B1, B2, G1 und G2: d 4 mg/kg. Die gesetzlichen Regelungen sind hinsichtlich dieser Verunreinigung noch etwas im Fluss, im Prinzip entsprechen sich die vorgeschlagenen Grenzwerte der verschiedenen Richtlinien jedoch. Problemdrogen bezüglich Alatoxin-Rückständen sind v. a. Planzenorgane, die nährstofreich sind ( > Tabelle 8.9). Als Bestimmungsmethoden haben sich größtenteils chromatographische Verfahren wie HPLC, GC und DC bzw. immunchemische Verfahren wie ELISA („enzymelinked immunosorbent assay“) bewährt. Wenn größere Drogengebinde auf Alatoxin-Gehalte zu prüfen sind, muss darauf geachtet werden, dass die Analysenergebnisse für die gesamte Ware repräsentativ sind. Mikrobielle Verunreinigungen plegen nicht homogen über das gesamte Drogengut verteilt zu sein, vielmehr konzentriert sich mikrobielles Wachstum auf ganz bestimmte Stellen, die auch als „Nester“ bezeichnet werden. Bei fehlerhater Probenziehung kann dann ein falschpositives oder auch falsch-negatives Ergebnis resultieren. Für die Probenentnahme sind daher ganz bestimmte Re-
8.2 Pharmazeutische Qualität pflanzlicher Arzneidrogen
8
. Tabelle 8.9 Beispiele für Aflatoxingehalte (Gesamtaflatoxin) in Drogen (Kabelitz 1998) Gesamtaflatoxine 1 µg/kg Droge (bestimmt nach Reif u. Metzger 1995) unter 10 µg/kg
über 10 µg/kg
Agni casti fructus (Keuschlammfrüchte)
unter 1 µg/kg
Caricae fructus (Feigen)
Capsici fructus
Amygdalae dulces (süße Mandeln)
Capsici fructus acer
Rauwolfiae radix
Aurantii pericarpium
Myristicae semen (Muskatnuss)
Foeniculi fructus
Sennae fructus acutifoliae (Alexandriner-Sennesfrüchte)
Ginseng radix
Sennae fructus angustifoliae (Tinnevelly-Sennesfrüchte)
Harpagophyti radix Hippocastani semen Melissae folium Orthosiphonis folium Sabal-serrulata-Früchte Salicis cortex Sennae folium
geln festgelegt, auf die aber nicht näher eingegangen werden soll. Die Alatoxine sind nicht die einzige Gruppe von potentiell krebserregenden Mykotoxinen. Von den bisher bekannten 300 Vertretern dieser Stofgruppe richtet sich aus toxikologischen Gründen das besondere Augenmerk auf zwei Vertreter: auf das Ochratoxin A, ein Isocumarinderivat, und auf das Citrinin, ein Oxobenzopyranderivat. Beide Mykotoxine werden von Schimmelpilzen (Aspergillus-, Penicillium- und Monascus-Arten) gebildet und fallen durch mutagene, teratogene und kanzerogene Eigenschaten auf. Citrinin wurde besonders häuig in sog. RedRice-Produkten gefunden, die durch Fermentation von Reis mit Hilfe des Schimmelpilzes Monascus purpureus gewonnen werden. Anders als im Falle der Alatoxine sind für Ochratoxine und für Citrinin bisher keine für Arzneiund/oder Lebensmittel zulässigen Höchstmengen festgelegt worden.
8.2.5 Spezielle Probleme des Qualitätsnachweises Ein gesondertes Problem im Hinblick auf Identität und Reinheit bieten die vielen Importdrogen, die bisher in Eu-
ropa unbekannt waren, insbesondere die Mittel der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) und die der Ayurveda. Laut Apothekenbetriebsordnung ist die Apotheke auch für die pharmazeutische Qualität dieser Drogen verantwortlich. Ein besonders wichtiger Qualitätsparameter, insbesondere der TCM-Drogen, ist die Abwesenheit von Aristolochiasäure, da in der Vergangenheit Aristolochiasäure enthaltende Zubereitungen schwerwiegende Vergiftungen hervorgerufen haben. Ein in erster Linie für Kontrolllaboratorien bestimmtes HPLC-Verfahren und eine orientierende DC-Methode zum Nachweis von Aristolochiasäure, die auch für die Apotheke geeignet ist, sind im DAC beschrieben. Für Importdrogen, die weder in europäischen noch amerikanischen Arzneibüchern monographiert sind, wird in der Apotheke meist von der Möglichkeit einer verkürzten Prüfung auf Identität Gebrauch gemacht. Eine verkürzte Prüfung setzt voraus, dass das betrefende Drogenmaterial mit einem Prüfzertiikat geliefert wird. Auch und gerade auch für TCM- und Ayurveda-Drogen gilt, dass das Prüfzertiikat von dazu befugten Institutionen ausgestellt sein muss. Auch bei einer verkürzten Prüfung verbleibt die Verantwortung für eine angemessene Qualität beim das Mittel abgebenden Apotheker.
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
8.3 Pflanzliche Arzneizubereitungen Der Ausdruck Zubereitung ist dem Nahrungsmittelbereich entlehnt, wo zwischen dem Rohstof und der Zubereitung von Lebensmitteln – für die industrielle Herstellung oder für die Vorratshaltung – unterschieden wird. Unter planzlichen Arzneizubereitungen versteht man primär die sog. galenischen Mittel (Galenika), das sind Arzneimittel, die durch einfache Manipulationen hergestellt werden. In einem weiten Sinne werden darunter sodann aber Arzneizubereitungen subsumiert, die mit galenischen Hilfsstofen unter Heranziehung pharmazeutischer Verfahrenstechniken industriell hergestellt werden ( > Kap. 10.1). Im einfachsten Fall besteht die Zubereitung einer Droge in der Zerkleinerung. Die zerkleinerte Droge kann, beispielsweise mit Honig vermischt, eingenommen werden. In der Regel werden aber als Ergebnis der Zubereitung unerwünschte Bestandteile entfernt und andere Stofe hinzugefügt. Ein Beispiel: Ein Infus (Teeaufguss) enthält zum Unterschied von der infundierten Droge keine Gerüststofe der Droge, es enthält Wasser als für den Verwendungszweck erwünschten zusätzlichen Bestandteil. Bei der Verarbeitung von Drogen werden ot Schritte eingeschaltet, die der Beseitigung inerter, d. h. pharmakologisch unwirksamer Stofe – sog. Ballaststofe – dienen. Die Eliminierung inerter Stofe ist gleichbedeutend mit einer Anreicherung wirksamkeitsbestimmender Prinzipien. Die Anreicherung lässt sich über eine spezielle Extraktreinigung (vgl. Kap. 9.2.6) bis zum isolierten Wirkstof vorantreiben. Wissenschatlich lässt sich somit der Begrif „planzliche Arzneizubereitung“ nur schwer umgrenzen. Reine Naturstofe wie Campher, Codein, Digoxin, Hyoscyamin, Rutosid u. a. gelten nicht als planzliche Arzneizubereitungen.
8.3.1 Zubereitungen aus Frischpflanzen
standteilen befreit, gehäckselt oder geraspelt. Meist schließt sich eine kurze Behandlung mit gespanntem Wasserdampf an: x Dadurch plasmolysieren die Zellen, sodass Inhaltsstoffe besser herausdifundieren; x Proteine koagulieren; sie locken schließlich aus, sodass sich die Säte besser klären lassen; x Enzyme, insbesondere Peroxidasen werden inaktiviert, wodurch Verfärbungen der Säte verhindert werden. Das so vorbereitete Planzengut wird laufend Pressen zugeführt. Die Art der Pressen (hydraulische Seiherpressen, Spindelpressen, Schneckenpressen) und der Pressdruck richten sich nach der Art des Pressgutes. Die Presssäte werden in Satwannen aufgefangen und durch Filtration, Zentrifugieren oder Dekantieren geklärt. Durch Pasteurisierung oder Ultrakurzzeithocherhitzung (Uperisation) macht man sie haltbar. Planzensäte werden nur von Arzneiplanzen hergestellt, die keine stark wirksamen Inhaltsstofe besitzen. Sie enthalten zwar die in Wasser löslichen Inhaltsbestandteile der verarbeiteten Planze, aber nur geringe Anteile an lipophilen Stofen. Über die chemische Zusammensetzung der Planzensäte und über mögliche Umsetzungen im wässrigen Milieu bei der Lagerung ist wenig bekannt. Planzensäte gehören zu den freiverkäulichen Arzneimitteln, die hauptsächlich zur Selbstmedikation verwendet werden. Beispiele für Planzensäte (Auswahl): Artischocke, Baldrian, Birke, Brennessel, Brunnenkresse, Johanniskraut, Kamille, Knoblauch, Löwenzahn, Mistel, Schafgarbe, Schwarzrettich, Sonnenhut (Echinacea), Weißdorn, Wermut und Zinnkraut. Man beachte: Presssäte enthalten zum Unterschied von den Presssäten der Homöopathie, den homöopathischen Urtinkturen ( > unten), keinen Zusatz von Ethanol. Von den viel verwendeten Echinaceasäten gibt es 2 Typen: Presssäte im engen Sinne und Presssäte aus dem frischen Kraut von Echinacea purpurea (Droge-zu-Extrakt-Verhältnis = 2,5:1), stabilisiert mit 22% Ethanol.
Frischpflanzenpresssäfte Zur Herstellung von Frischplanzenpresssäten dürfen außer Wasser keine weiteren Lösungsmittel verwendet werden. Die betrefenden Planzenteile werden entweder unmittelbar nach dem Ernten verarbeitet oder sie werden tiefgefroren zwischengelagert, wodurch eine Weiterverarbeitung unabhängig vom Erntetermin ermöglicht wird. Das Planzengut wird zuerst gewaschen, von fremden Be-
Homöopathische Urtinkturen Von einigen exotischen Planzen bzw. Planzenteilen abgesehen, die frisch nur schwer zu beschafen sind und daher in getrocknetem Zustand als Ausgangsmaterial dienen, werden die homöopathischen planzlichen Zubereitungen unter Verwendung von Frischplanzen oder Frischplan-
8.3 Pflanzliche Arzneizubereitungen
zenteilen hergestellt. Unverdünnte homöopathische Tinkturen werden als Urtinkturen bezeichnet, die nach dem HAB 1 entweder Mischungen planzlicher Presssäte mit Ethanol oder Auszüge aus frischen (oder getrockneten) Planzen sowie deren Absonderungen, Planzenteilen, Planzenbestandteilen darstellen. Für die Fertigung der Urtinkturen sind die Menge des Presssates und die Anbzw. Abwesenheit von ätherischen Ölen, Harzen und Schleimen maßgebend (Ziegenmeyer 1991). x Bei Planzen mit mehr als 70% Presssat und ohne ätherisches Öl, Harz oder Schleim wird nach Zerkleinern Sat ausgepresst, iltriert und mit Ethanol versetzt. Die Ethanolmenge entspricht der Satmenge. In Fällen, in denen das HAB eine „Normung“ vorschreibt, erfolgt sie nach dem analytisch ermittelten Trockenrückstand oder dem Gehalt an einem bestimmten Inhaltsstof. Die von Hahnemann erfundene Methode heißt Herstellungsvorschrit (HV1) und wird wegen technischer Schwierigkeiten nur selten vorgeschrieben. x Planzen mit weniger als 70% Presssat und ohne ätherisches Öl, Harz oder Schleim, aber mit mehr als 60% Trocknungsverlust, werden frisch zerkleinert und mit der dem Trocknungsverlust entsprechenden Menge Ethanol festgelegter Konzentration mazeriert, wenn nicht eine Gehaltsnormung im Einzelfall vorgeschrieben ist (HV2 a und b). Um fermentative Veränderungen während der Trocknungsverlustbestimmung zu verhindern, wird die Planzenmasse sogleich nach dem Zerkleinern mit der halben Gewichtsmenge Ethanol 86% konserviert und diese Ethanolmenge bei der Mazeration rechnerisch berücksichtigt. x Planzen mit weniger als 60% Trocknungsverlust oder mit ätherischem Öl, Harz oder Schleim werden frisch zerkleinert und mit den in den HV3 a–c angegebenen Mengen und Konzentrationen Ethanol mazeriert (d. h. doppelt soviel Ethanol wie Trocknungsverlust). Die Konservierung der Planzenmasse erfolgt wie bei HV2. Hinweis. Das Kürzel HV mit der entsprechenden Bezife-
rung steht für die jeweilige Herstellungsvorschrit des Homöopathischen Arzneibuches 1. Ausgabe (HAB 1; Seite 22–36) Die Urtinkturen werden als solche kaum verwendet. Sie stellen den Ausgangsstof dar, um die homöopathischen Arzneimittel (Dilutionen, Verreibungen) in ihren verschiedenen Arzneiformen (Tabletten, Streukügelchen,
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Injektionslösungen) herzustellen. Im allgemeinen Teil des HAB sind dazu ausführliche Hinweise enthalten.
8.3.2 Teedrogen und Teegemische Begriffe und Definitionen Unter Tee schlechthin versteht man die geplückten und nach den in den Ursprungsländern üblichen Verfahren aubereiteten jungen Blätter und Blattknospen des Teestrauches Camellia sinensis (L.) Kuntze (Familie: heaceae). Im Deutschen, ähnlich im Englischen, wird das Wort darüber hinaus für alle angemessen zerkleinerten Einzeldrogen oder Drogenmischungen verwendet, aus denen sich trinkbare Aufgüsse herstellen lassen. Die älteren Arzneibücher (DAC 86, Helv 7, ÖAB 90) deinieren Teemischungen (Synonym: Teegemische, Spezies) wie folgt: Teegemische sind Gemenge von unzerkleinerten oder zerkleinerten Planzenteilen mit oder ohne Zusatz anderer Stofe. Die beigegebenen anderen Stofe können Drogenextrakte, ätherische Öle (aromatisierte Tees) oder Arzneisubstanzen sein. Die löslichen Zusätze werden i. A. in gelöster Form auf die Bestandteile des Teegemisches aufgebracht (Imprägnierung); das Lösungsmittel wird sodann bei maximal 40 °C entfernt. Allerdings fallen nach der Deinition der PhEur imprägnierte Teemischungen nicht mehr unter den Begrif eines Teegemisches (Plantae ad ptisanum) Im Rahmen des deutschen Lebensmittelrechts sind für bestimmte Lebensmittel – so auch für Tee und teeähnliche Erzeugnisse – Leitsätze mit Deinitionen und Angaben zu Qualität und zur Bezeichnung erlassen worden (LMLTee: Leitsätze für Tee, teeähnliche Erzeugnisse und Zubereitungen i. d. F. von 1998, zuletzt geändert 1999). „Tee“ und „teeähnliche Erzeugnisse“ sind dort folgendermaßen deiniert: x Tee stammt ausschließlich aus Blättern, Blattknospen und zarten Stielen des Teestrauches Camellia sinensis (L.) Kuntze der Teegewächse (heaceen), die nach den üblichen Verfahren bearbeitet sind. x Teeähnliche Erzeugnisse sind Planzenteile, die nicht vom Teestrauch stammen und die dazu bestimmt sind, in der Art wie Tee verwendet zu werden. Teeähnliche Erzeugnisse sind auch Mischungen von teeähnlichen Erzeugnissen mit Tee, die nicht unter den Begrif „aromatisierter Tee“ fallen. x Teeähnliche Erzeugnisse werden mit der Art der verwendeten Planzen oder Planzenteile, auch in Verbin-
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
dung mit dem Wort „Tee“ bezeichnet, wenn das betreffende Erzeugnis von einer einzigen Planzenart stammt, z. B. Pfeferminze oder Pfeferminztee, oder aus zwei Planzenarten hergestellt ist, zum Beispiel Hagebutte mit Hibiscus oder Hagebuttentee mit Hibiscus. Tees als Arzneimittel sind Mittel mit beabsichtigter Arzneiwirkung; dieser Verwendungszweck wird in der Regel durch eine entsprechende Bezeichnung, z. B. Abführtee, Brustund Hustentee, Gallentee, schweißtreibender Tee, beruhigender Tee, kenntlich gemacht. Es gibt Grenzfälle: Beispielsweise kann „Fencheltee“ sowohl ein Lebensmittel als auch ein Arzneimittel sein. Die Packungsbeilage – der Wortlaut z. B. gemäß Standardzulassung – lässt über den arzneilichen Zweck nicht im Unklaren. Auch kann die Verbrauchererwartung die Einordnung mitbestimmen. Bei Lebensmitteln dürfen Angaben, die sich auf die Beseitigung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten beziehen, grundsätzlich nicht gemacht werden (§ 18 Abs. 1 LMBG).
Teeformen und Zerkleinerungsgrad von Teedrogen Man unterscheidet der Zahl der Drogenbestandteile nach zwischen Einzeltees und Teemischungen, der Form nach zwischen Tees aus geschnittenen, sog. Concisdrogen und Tees in Aufgussbeuteln, die aus grob gepulverten Drogen hergestellt werden. Das DAB unterscheidet die folgenden Schnittformen: x grob geschnitten, handelsmäßig als „concisus“ bezeichnet (Siebe von 4000 bis 2800); x fein geschnitten, auch als „minutim concisus“ bezeichnet (Sieb 2000); x gepulvert, auch als „pulvis“ bezeichnet (Siebe von 710 bis 180). Hinweis. Die Siebnummer bezeichnet die lichte Maschen-
weite in mm. Die PhEur schreibt 18 Siebgrößen vor, die mit den Nummern 11.200, 8000, 5600, 4000, 2800, 2000, 1400, 1000, 710, 500, 355, 250, 180, 125, 90, 63, 45 und 38 gekennzeichnet sind. Zusätzlich sind die Standardabweichung und die größte Abweichung der Maschenweite in Prozent angegeben. Neben geschnittenen und pulverisierten Drogen nennt das DAB als weiteren Zerkleinerungsgrad „spezielle Schnitte“ mit Partikelgrößen über 11.200 µm.
Für Teemischungen soll der Zerkleinerungsgrad geschnittener Drogen Siebgrößen zwischen 2000 und 4000 Maschenweite aufweisen; Feinanteile sind zu entfernen. Früchte und Samen, die ätherisches Öl in Exkretbehältern im Inneren der Droge enthalten, z. B. Umbelliferenfrüchte oder Wacholderbeeren, sind gequetscht zu verwenden.
Tee in Aufgussbeuteln Abgepackte Teebeutel bieten die folgenden Vorteile: x praktische Handhabung; x bessere Dosierung, da die fertig abgepackten Portionsbeutel jeweils gleiche Drogenmengen enthalten; x optimale Extraktionsmöglichkeiten durch den größeren Zerkleinerungsgrad (gepulvert, seltener fein geschnitten). Nachteilig sind: x Verlust an lüchtigen Inhaltsstofen; x Veränderungen an Inhaltsstofen unter O2-Einluss; alle die Drogenqualität mindernden Prozesse laufen umso schneller ab, je größer der Zerkleinerungsgrad ist; x leichtere Möglichkeit, minderwertige Droge zu verarbeiten, beispielsweise höhere Stängelanteile bei Pfeferminzblättern oder krautige Anteile bei Kamillenblüten; x Fremdanteile können visuell nicht erkannt werden.
Teezubereitung Wasser ist das älteste und bis heute wichtigste Extraktionsmittel. Sein großer Vorteil: Es ist umweltschonend. Zur Herstellung von wässrigen Planzenauszügen reicht eine Wasserqualität aus, die den Anforderungen an Trinkwasser genügt. Eine Demineralisierung ist schon deswegen wenig sinnvoll, weil planzliche Arzneidrogen reichliche Mengen Mineralstofe in wechselnder Zusammensetzung enthalten. Über wässrige Drogenauszüge im industriellen Maßstab wird in Kap. 9.2.5 berichtet. Der vorliegende Abschnitt beschränkt sich auf die einfache Teezubereitung, die Herstellung eines Teegetränks für arzneiliche Zwecke. Nach der Art der Extraktion unterscheidet man 3 Zubereitungsarten: x Infus (Aufguss): Die auf dem Rezept oder auf der Packung angegebene Drogenmenge (z. B. 1 Teelöfel, 1 Esslöfel) wird mit kochendem Wasser übergossen; das Gefäß wird zugedeckt; nach 5–10 min abseihen.
8.3 Pflanzliche Arzneizubereitungen
x Abkochung (Dekokt): Die Teemischung in der erforderlichen Menge mit kaltem Wasser ansetzen, zum Sieden bringen, 5–10 min lang kochen und abseihen. x Kaltauszug (Mazerat): Teemischung mit Leitungswasser übergießen, für die Dauer von 6–8 h bei Raumtemperatur stehen lassen und dann abseihen. Das Mazerat kann kalt getrunken werden oder es kann vor dem Trinken auf Trinkwärme gebracht werden. Für die Arzneiform Teegetränk gelten 3 Regeln: x Kein Teegetränk herstellen aus Drogen, die toxikologisch bedenkliche Stofe enthalten, wie beispielsweise die Mistel. Begründung: der Wirkstofgehalt der Droge ist unbekannt, die Extraktion ist nicht präzise steuerbar und somit die Dosierungsgenauigkeit nicht ausreichend. x Das Kaltmazerat meiden. Bei einer mikrobiell nicht einwandfreien Ausgangsdroge resultieren Auszüge mit hohem Keimbefall. x Teeaufgüsse sind nicht haltbar und zum sofortigen Gebrauch bestimmt. Bei Aubewahrung unterliegen sie sensorischen Veränderungen bis hin zum Verderb. Hinweis. Unter Verderb versteht man die sensorische Ver-
änderung vorzugsweise eines Lebensmittels durch mikrobielle Aktivitäten, produkteigene Enzyme, Sauerstof und andere Faktoren. Sensorische Eigenschaften von Teeaufgüssen. Bitterer
Geschmack und Farbintensität eines Teeaufgusses werden ot mit einem hohen Wirkstofgehalt in Verbindung gebracht. Die sensorischen Qualitäten können somit die Erwartungshaltung unterstützen, dass die Teemedikation wirksam ist. Bittere Inhaltsstofe sind bei Teedrogen weit verbreitet (Schlapmann 1983). Beispielhat genannt seien: Absinthii herba, Betulae folium, Calendulae los, Cardamomi fructus, Crataegi los, Gentianae radix, Helichrysi los (Stoechados los), Levistici radix, Lupuli strobulus, Marrubii herba, Mate folium, Millefolii herba, Primulae radix, Pruni spinosae los, Rosmarini folium, Salviae folium, Silybi mariani fructus, Solidaginis herba, Taraxaci radix cum herba, Trifolii ibrini folium, Uvae ursi folium, Verbenae herba, Violae tricoloris herba. Unangenehme sensorische Qualitäten weisen die folgenden Teedrogen auf: x Crataegi folium cum lore: Fischgeschmack, x Fucus vesiculosus: Fischgeschmack,
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x Nasturtii herba: Kohlaroma, x Bursae pastoris herba: Kohlaroma, x Boldi folium: geschmacklich an organische Lösungsmittel erinnernd. Als geschmacksverbessernde Zusätze eignen sich: Aurantii cortex, Cynosbati fructus, Galangae rhizoma, Hibisci los und Zingiberis rhizoma. Sensorische Prüfung von Teeaufgüssen. Die Prüfung
umfasst als Kriterien Farbe, Geruch (Aroma) und Geschmack des Aufgusses. Zur Prüfung wird ein Aufguss in der jeweils vorgeschriebenen Stärke – im Durchschnitt 2 g Droge bzw. Drogenmischung auf 150 ml Wasser – hergestellt und trinkwarm degustiert. In derselben Weise verfährt man mit einem authentischen Vergleichsmuster. Aufguss von Probe und Vergleichsmuster müssen in Qualität und Intensität von Aroma und Geschmack übereinstimmen. Auch Farbe und Trübung dürfen nicht gravierend voneinander abweichen. Der Apotheker sollte zumindest bei seinen auf Vorrat selbst hergestellten Teemischungen (Standardzulassungen) eine sensorische Prüfung durchführen. Der Langzeitpatient registriert sensorische Abweichungen seines Tees sofort und begegnet einem sensorisch abweichenden Produkt mit Misstrauen.
8.3.3 Einfache nichtwässrige Drogenauszüge Tinkturen, Fluidextrakte Tinkturen sind lüssige Extrakte, die durch Mazeration, Perkolation oder in begründeten Fällen durch andere geeignete Methoden unter Verwendung von Ethanol geeigneter Konzentration hergestellt werden. Zu den technologischen Aspekten von Perkolation, Mazeration und anderen Extraktionsverfahren vgl. die Lehrbücher der pharmazeutischen Technologie. Tinkturen können durch Lösen oder Verdünnen von Trockenextrakten unter Verwendung von Ethanol geeigneter Konzentration hergestellt werden. Tinkturen werden jedoch üblicherweise (Monographie Tinctures PhEur) aus 1 Teil Drogen und 10 Teilen Extraktionslüssigkeit (bei vorsichtig zu lagernden Drogen) oder aus 1 Teil Droge und 5 Teilen Extraktionslüssigkeit hergestellt. Das Verhältnis Droge zu Extraktionsmittel ist somit durch die Arzneibuchvorschrit vorgegeben. Dieses Verhältnis 1:5 bzw. 1:10 ist nicht identisch mit dem Ver-
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
hältnis Droge zu Tinktur, d. h. zur fertigen Tinktur nach dem Abpressen des Ethanol-Wasser-Gemisches aus der Droge. Abhängig von der Droge schwankt das Verhältnis Droge zu fertiger Tinktur innerhalb des Bereiches 1:4 bis 1:4,5 bzw. 1:7 bis 1:9. Falls Tinkturen durch Lösen von Trockenextrakten herstellt werden, muss sichergestellt sein, dass die Lösungen in ihren Kennzahlen und auch in den sonstigen Eigenschaten den durch Mazeration oder Perkolation hergestellten Tinkturen gleichwertig sind. In der Regel weichen die durch Lösen von Extrakten hergestellten Tinkturen in ihren sensorischen Eigenschaten ab, was vom Anwender u. U. als qualitätsmindernd angesehen wird. Den Tinkturen ähnliche, alkoholfreie Flüssigextrakte erhält man durch Mazeration oder Perkolation mit Gemischen aus Propylenglycol–Glycerol–Wasser. Tinkturen oder den Tinkturen ähnliche Flüssigextrakte sind Bestandteile von Fertigarzneimitteln, die als Säte oder Tropfen angeboten werden. Fluidextrakte sind wie Tinkturen lüssige Extraktformen, jedoch mit abweichendem Droge-zu-Extrakt-Verhältnis (DEV), das i. A. 1:1 (m/m oder m/V) beträgt. Sie werden, falls erforderlich, so eingestellt, dass sie den Anforderungen bezüglich Lösungsmittelgehalt, Gehalt an Bestandteilen oder Trockenrückstand entsprechen. Fluidextrakte können durch Mazeration oder Perkolation unter ausschließlicher Verwendung von Ethanol geeigneter Konzentration oder von Wasser oder durch Lösen eines Dick- oder Trockenextraktes in denselben Lösungsmitteln hergestellt werden. Fluidextrakte können als solche verwendet werden, oder sie dienen als arzneilich wirksamer Bestandteil in Säten (z. B. hymi extractum
luidum in hymianhustensäten), in Tropfen oder in Salben.
Arzneiliche Öle Arzneiliche Öle sind Zubereitungen, die Arzneistofe in nichttrocknenden Ölen (wie Olivenöl, Erdnussöl, Mandelöl) gelöst oder suspendiert enthalten. Die mit Öl aus Drogen extrahierbaren Stofe sind im Wesentlichen fette Öle, fettlösliche Vitamine, Phytosterol und Phytosterolester, fettlösliche Farbstofe (Carotinoide, Chlorophyll), lipophile Mono- und Sesquiterpene (Campher), einige Alkaloide als lipophile Basen u. a. x Knoblauchölmazerate (1:1) werden hergestellt, indem Knoblauchzehen zerkleinert und mit planzlichen Fetten, vorzugsweise Sojabohnenöl, in der Kälte oder unter gelindem Erwärmen ausgelaugt werden. Der von den Rückständen befreite Ölauszug wird entwässert und in Weichgelatinekapseln gefüllt. x Johanniskrautöl wird aus den frischen blühenden Zweigspitzen oder besser aus den frischen Blüten des Johanniskrauts hergestellt. Dazu werden die frischen Planzenteile zerquetscht, mit Oliven- oder Erdnussöl verrührt und 6 Wochen lang mazeriert. Nach dem Abpressen wird das Öl mit Natriumsulfat entwässert, um das Ranzigwerden zu bremsen. x Arnikablütenöl ist ein aus Arnikablüten hergestelltes Ölmazerat. Man verarbeitet das Produkt zu Salben. Ölmazerate eignen sich besonders zu Fertigarzneimitteln in Form von Weichgelatinekapseln.
Schlüsselbegriffe Achäne Aflatoxine Akarizide Arzneimittelprüfrichtlinie Atomabsorptionsspektrometrie Azadirachtin Beerenzapfen Caulisdroge Chemische Referenzsubstanzen Co-Chromatographie Concisdroge Doppelachäne Entkeimung Exkreträume
Fremde Bestandteile Gammastrahlung zur Entkeimung Grenzwerte Heilkräuter Herbizide Homöopathische Urtinktur Importdrogen Industriedrogen Insektizide Ionisierende Strahlen (zur Schädlingsbekämpfung) Kontamination Mikrobizide Molluskizide
Mykotoxine Neembaumölextrakt Nematizide Oxalatkristalle Pestizide Pestizidrückstände Pharmazeutische Qualität Prüfzertifikat Pseudanthium Pyrethrum Ramulusdroge Rodentizide Ryania-Pulver Scheinfrüchte
Literatur
Schleimzellen Spaltöffnungsindex Spaltöffnungstypen Sprossknollen Stabilitätsuntersuchung
Sterigmatocystin Stipesdroge Summitates Tabakmosaikvirus Thermoluminiszenzverfahren
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Unstrukturierte Drogen Verkürzte Prüfung Wurzelknolle Zerkleinerungsgrade (von Drogen)
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9 9 Trockenextrakte als Arzneistoff: Herstellung, Qualitätsprüfung M. Veit 9.1
Begrifserklärungen und Deinitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.1 Leitsubstanzen („analytical marker“) . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.2 Pharmazeutisch relevante Inhaltsstofe („active marker“) . . . . . 9.1.3 Wirkstofe („active substance, active pharmaceutical ingredient“) 9.1.4 Fingerprint. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.5 Referenzsubstanzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.6 Inprozesskontrollen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.7 Speziikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.8 Droge-Extrakt-Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.9 Validierung von Prüfverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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226 226 226 227 227 227 227 228 228 229
9.2
Herstellung von Trockenextrakten . . . . . . . . . . . . . . 9.2.1 Typen von Extrakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.2 Grundzüge der Herstellung . . . . . . . . . . . . . . 9.2.3 Planzliche Extraktivstofe . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.4 Variable Zusammensetzung von Trockenextrakten. 9.2.5 Extraktzubereitungen: Instanttees und Granulattees 9.2.6 Sonderformen der Extraktzubereitungen . . . . . .
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231 231 231 234 236 238 239
9.3
Einteilung von Trockenextrakten: standardisierte, quantiizierte und andere Extrakte. 9.3.1 Standardisierung auf pharmazeutisch relevante Inhaltsstofe . . . . . . . . . . . . . 9.3.2 Quantiizierung auf pharmazeutisch relevante Inhaltsstofe . . . . . . . . . . . . . . 9.3.3 Extrakte, die ausschließlich über den Herstellungsprozess deiniert sind . . . . . . 9.3.4 Lagerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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240 241 242 243 243
9.4
Qualitätsprüfung von Trockenextrakten . . . . . . . . 9.4.1 Identitätsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4.2 Reinheitsprüfungen. . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4.3 Prüfung auf Lösungsmittelrückstände . . . . . . 9.4.4 Prüfung auf Alatoxine und andere Mykotoxine 9.4.5 Prüfung auf Schwermetalle . . . . . . . . . . . . 9.4.6 Prüfung auf Pestizidrückstände . . . . . . . . . . 9.4.7 Bestimmung der mikrobiologischen Reinheit . . 9.4.8 Prüfung auf sonstige Kontaminanten. . . . . . . 9.4.9 Gehaltsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4.10 Stabilitätsuntersuchungen . . . . . . . . . . . . . 9.4.11 Sonstige Prüfungen . . . . . . . . . . . . . . . . .
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9.5
Speziikation von Extrakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
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9
Trockenextrakte als Arzneistoff : Herstellung, Qualitätsprüfung
> Einleitung Das folgende Kapitel behandelt Trockenextrakte, die in pflanzlichen Arzneimitteln mit festen Darreichungsformen die wichtigsten Wirkstoffe darstellen. Dabei ist zu unterscheiden zwischen dem nativen Extrakt und der Extraktzubereitung, die neben dem eigentlichen Extrakt weitere Hilfsstoffe, wie inerte Zusätze, so genannte Stellmittel, und weitere Stoffe wie beispielsweise Antioxidanzien sowie galenische Hilfsstoffe enthalten kann. Dabei ist der native Extrakt als ein fiktives Zwischenprodukt aufzufassen, das im Prozess der Extraktherstellung häufig nicht als solches erhalten wird, da galenische Hilfsstoffe schon vor dem Trocknungsprozess zugesetzt werden. Behandelt werden deshalb ausschließlich Extraktzubereitungen, die verkürzt als „Extrakte“ oder „Trockenextrakte” bezeichnet werden. Es werden unterschiedliche Extrakttypen beschrieben, die sich hinsichtlich ihres Wirkstoffcharakters und den Anforderungen an ihre Qualität grundlegend unterscheiden. Die zur Qualitätsprüfung verwendeten Prüfverfahren werden eingesetzt x zur Fertigungskontrolle (Inprozesskontrolle) während der Extraktherstellung mit dem Ziel der Qualitätssicherung und x zur Überprüfung des fertigen Extrakts, ob er der deklarierten Spezifikation entspricht. Extrakte sind nur in Ausnahmefällen als solche Arzneimittel – in der Regel sind sie als Wirkstoff in pflanzlichen Fertigarzneimitteln anzusehen. Das Kapitel enthält auch eine Reihe wichtiger Begriffserklärungen und Definitionen, die von grundlegender Bedeutung sind und auch für andere Kapitel gelten.
9.1
Begriffserklärungen und Definitionen
9.1.1
Leitsubstanzen („analytical marker“)
Als Leitsubstanzen bezeichnet man chemisch deinierte Inhaltsstofe oder Inhaltsstofgruppen in Drogen, daraus hergestellten Zubereitungen oder Fertigprodukten, die zum Zweck der pharmazeutischen Qualitätssicherung verwen-
det und speziiziert werden. Leitsubstanzen dienen ausschließlich analytischen Zwecken. Wenn möglich, sollten für die Ausgangsdroge speziische Leitsubstanzen verwendet werden. Speziische Leitsubstanzen sind solche, deren Vorkommen nicht ubiquitär ist, wie beispielsweise Chlorogensäure, sondern für ein Taxon oder eine Gruppe von Taxa speziisch ist, wie z. B. Valerensäure für ValerianaArten. Bei Identitätsprüfungen und Reinheitsprüfungen sowie im Rahmen von Stabilitätsuntersuchungen werden sie zur Interpretation und Qualiizierung von Fingerprints verwendet. Bei Gehaltsbestimmungen von Extrakten ohne bekanntes Wirkprinzip (so genannte „Andere Extrakte“) dienen sie zur chargenspeziischen Kontrolle bei der Extraktherstellung (Bestimmung der Übergangsrate und Validierung der Herstellung) und der Gehaltsbestimmung von Fertigprodukten. Anhand von Leitsubstanzen kann die Menge Extrakt berechnet werden, die in einem Fertigprodukt enthalten ist. Chargenspeziisch sind diese Bestimmungen deshalb, weil sie sich nur dann durchführen lassen, wenn neben dem Fertigprodukt auch der chargenspeziische Extrakt, der darin verarbeitet wurde, verfügbar ist. Entsprechende Untersuchungen lassen sich auch als Inprozesskontrollen durchführen, beispielsweise zur Einwaage- und Rezepturkontrolle. Im Rahmen von Stabilitätsuntersuchungen dienen Leitsubstanzen als Surrogate für die Stabilität von Extrakten ohne bekanntes Wirkprinzip. In Abhängigkeit vom verwendeten analytischen Verfahren kann es sinnvoll sein, für Leitsubstanzen in Drogen, Extrakten und Fertigprodukten Mindestgehalte oder Gehaltsspannen zu speziizieren. Solche Speziikationen orientieren sich jedoch an der analytischen Zweckbestimmung und stellen keine qualitätsrelevanten Parameter dar. Das heißt, dass beispielsweise ein hoher Gehalt an einer Leitsubstanz nicht mit einer hohen Qualität korreliert ist und vice versa. Die Auswahl von Leitsubstanzen erfolgt ausschließlich unter dem Gesichtspunkt, ob sie für den vorgesehenen analytischen Zweck geeignet sind oder nicht.
9.1.2
Pharmazeutisch relevante Inhaltsstoffe („active marker“)
Pharmazeutisch relevante Inhaltsstofe beeinlussen die Wirksamkeit von Extrakten messbar. Sie sind entweder nicht allein für die Wirksamkeit verantwortlich oder beeinlussen diese in anderer Weise. In pharmakologischen Experimenten wurden beispielsweise resorptionsverbessernde Stofe evaluiert, in biopharmazeutischen Studien
9.1 Begriffserklärungen und Definitionen
Stofe, die Einluss auf Stabilität und Löslichkeit des Extraktes haben. Folgende Inhaltsstofe und Inhaltsstofgruppen gelten beispielsweise in planzlichen Extrakten als pharmazeutisch relevant: x Hypericin, x Hyperforin, x bestimmte Flavonoide (z. B. Flavonole in Hypericumund Ginkgo-Extrakten), x bestimmte Terpene (z. B. hymol, Ginkgolide, Bilobalid, Ginsenoside).
9.1.3
Wirkstoffe („active substance, active pharmaceutical ingredient”)
Wirkstofe sind Substanzen, die in einem biologischen System biologische Wirkungen auslösen. Bei planzlichen Zubereitungen spricht man häuig von „wirksamkeitsbestimmenden Inhaltsstofen“ oder „wirksamen Inhaltsstoffen“. Solche Inhaltsstofe stellen singuläre Wirkstofe in planzlichen Extrakten dar. Ihre Wirksamkeit ist mit denjenigen chemisch-synthetischer Wirkstofe vergleichbar und durch entsprechende Studien belegt. Folgende Inhaltsstofe und Inhaltsstofgruppen sind in planzlichen Extrakten wirksam: x Anthranoide (z. B. Sennoside, Aloine), x Alkaloide (z. B. Atropin), x herzwirksame Glykoside (z. B. Digitoxin), x Silymarin, x Arbutin, x Kavapyrone.
9.1.4
Fingerprint
Fingerabdruck, ein aus dem Englischen übernommener Ausdruck für visualisierte Stofcharakteristiken unterschiedlichster Art, wie Dünnschichtchromatogramme, Absorptionsspektren (besonders im IR- und NIR-Bereich), MS-Spektren, NMR-Spektren, GC und HPLC. Der Terminus Fingerprint will Folgendes aussagen: Ähnlich wie sich anhand eines Fingerabdruckes Identität und Nichtidentität eines Menschen feststellen lassen, geben Fingerprintanalysen Ausdruck über die konstante oder abweichende Zusammensetzung von Stofen. Insbesondere GC-, DC- und HPLC-Fingerprintchromatogramme werden in der Identitäts- und Stabilitätsprüfung von Dro-
9
gen, daraus hergestellten Zubereitungen und Fertigprodukten verwendet.
9.1.5
Referenzsubstanzen
Die bei der Bestimmung von wirksamen und pharmazeutisch relevanten Inhaltsstofen sowie Leitsubstanzen eingesetzten Mess- und Prüfverfahren werden mit Hilfe von Referenzsubstanzen geeicht und validiert. Diese Verbindungen werden synthetisiert oder mit aufwendigen mehrstuigen Trennverfahren aus dem Planzenmaterial isoliert. Hinsichtlich der Zertiizierung dieser Referenzmaterialien gelten die gleichen Anforderungen, wie sie für Referenzsubstanzen für die Analytik chemisch deinierter Wirkstofe gelten. Referenzsubstanzen werden u. a. für die Bestimmung von Identität, Reinheit und Gehalt von Arzneidrogen, Extrakten, Drogenzubereitungen, Extraktzubereitungen sowie Fertigarzneimitteln im Rahmen von Wareneingangsprüfungen, Standardisierungen, Freigabeuntersuchungen, chargenspeziischen Kontrollen und Stabilitätstests verwendet. Sie sind daher von zentraler Bedeutung für die Qualität planzlicher Arzneimittel. Für die Zulassungsunterlagen muss für alle verwendeten Referenzsubstanzen ein umfangreiches Dossier (mit Analysenzertiikat) eingereicht werden. Darin müssen Angaben zur Identität (NMR, MS, IR, UV, DD20 u. a.), Reinheit (Wassergehalt, Restlösemittel, anorganische Verunreinigungen, organische Verunreinigungen) sowie zum Gehalt gemacht werden. Die Gehaltsbestimmung wird in Anlehnung an die Vorgehensweise bei Referenzsubstanzen für Prüfverfahren mit chemisch deinierten Wirkstofen mittels zweier – möglichst voneinander unabhängigen – Methoden durchgeführt. Der Gehalt wird dabei, basierend auf den Ergebnissen der Reinheitsprüfungen und der Flächenanteile des Analyten, in den verwendeten chromatographischen Trennverfahren festgelegt.
9.1.6
Inprozesskontrollen
Inprozesskontrollen sind Prüfungen im Verlauf der Produktion eines pharmazeutischen Produkts zur Überwachung und gegebenenfalls Steuerung des Prozesses, um zu gewährleisten, dass das Produkt seiner Speziikation entspricht. Die Überwachung der Umgebung oder der Ausrüstung kann auch als Teil der Inprozesskontrolle angese-
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Trockenextrakte als Arzneistoff : Herstellung, Qualitätsprüfung
hen werden (PIC-GMP-Leitfaden, Begrifsbestimmungen, Stand 1999). Die Inprozesskontrollen sollen gewährleisten, dass das Produkt seiner Speziikation entspricht. Sie sind wesentlicher Bestandteil des Qualitätssicherungssystems.
9.1.7
Spezifikation
Die Speziikation umfasst alle Vorgaben, deren Einhaltung Drogen, Drogenzubereitungen, und Fertigarzneimittel, für den bestimmungsgemäßen Zweck geeignet macht. Die einzelnen Speziikationen enthalten die für die Identität, Reinheit und den Gehalt wichtigen Aussagen. Sie sind jeweils auf ein ganz bestimmtes Produkt hin zweckorientiert; sie enthalten u. a. qualitative und quantitative Angaben und Toleranzbereiche: x zu organoleptischen Merkmalen, x zum Wassergehalt und Trocknungsverlust, x zu Merkmalen, die speziisch für die Zubereitung oder die Darreichungsform sind, x zu Inhaltsstofen oder Inhaltsbestandteilen, x zur Identitätsprüfung von wirksamen und sonstigen Bestandteilen, x zur Reinheit, also zu Verunreinigungen oder Verfälschungen, zu sonstigen unerwünschten Bestandteilen, beispielsweise mikrobiellen Verunreinigungen, Pestiziden, Begasungsmittel, Mykotoxine oder Lösungsmittelrückständen, x zum Gehalt an wirksamkeitsbestimmenden oder wirksamkeitsmitbestimmenden Inhaltsstofen, Leitsubstanzen, Konservierungsmitteln und Antioxidanzien, x zu weiteren Parametern, falls erforderlich. Auch die Ergebnisse von Inprozesskontrollen können Bestandteil von Speziikationen sein. Es wird zwischen Freigabe- und Laufzeitspeziikation unterschieden. Während die Freigabespeziikation alle Prüfparameter enthält, die für die Chargenfreigabe von Drogen und daraus hergestellten Zubereitungen und Fertigarzneimitteln relevant sind, deckt die Laufzeitspeziikation die Parameter ab, die für die Haltbarkeit relevant sind (Beispiele >Tabellen 9.8 bis 9.11 für die Speziikation von Extrakten). Die Speziikationen stehen im direkten Zusammenhang mit der Qualität des jeweils eingesetzten Ausgangsmaterials, in der Regel der Drogen sowie der daraus hergestellten Zubereitungen (z. B. Extrakte), die als
Wirkstofe in dem Fertigarzneimittel anzusehen sind. Gerade für planzliche Arzneimittel gilt auch ein enger Zusammenhang mit dem verwendeten Produktionsprozess („product by process“). Der industrielle Inverkehrbringer muss die festgelegten Speziikationen im Zulassungsdossier umfänglich begründen. Die Festlegung der Speziikationen kann dabei nicht willkürlich erfolgen, sondern muss sich an der konkreten Qualität der speziizierten Drogen, Zubereitungen und Fertigarzneimittel orientieren. Schließlich sind die Speziikationen auch abhängig von den Chargen, die für klinische Prüfungen verwendet wurden und sollen eine Konformität der in Verkehr gebrachten Chargen mit den getesteten Chargen sicherstellen. Prüfparameter. Die Angaben der Speziikation müssen überprübar sein. Die einzelnen Angaben stellen Prüfparameter dar. Zu jedem Prüfparameter gehört ein Prüfverfahren, das die Methode zur Durchführung darstellt. Prüfverfahren der Arzneibücher gelten für den im Arzneibuch vorgesehenen Verwendungszweck als validiert. Alle anderen Prüfverfahren und Methoden müssen validiert werden (oValidierung).
9.1.8
Droge-Extrakt-Verhältnis
Das Droge-Extrakt-Verhältnis (abgekürzt: DEVnativ) zeigt das Verhältnis (m/m) zwischen eingesetzter Droge und nativem Trockenextrakt an. Das DEVnativ-Verhältnis ist zugleich eine Aussage über den (mit einem deinierten Auszugsmittel und validiertem Herstellungsverfahren) erhaltenen Extraktivstofgehalt der eingesetzten Droge, und zwar stehen die Zahlenwerte in einem reziproken Verhältnis. Beispiel: DEV = 20:1 Extraktivstofgehalt = 1/20 = 0,05 oder in Prozenten 5%. Analog errechnet sich bei einem DEV = 2:1 ein Extraktivstofgehalt von 50%. Die DEVnativ-Werte bzw. die Extraktivstofgehalte von Drogen schwanken von Ernte zu Ernte sowie von Sorte zu Sorte sowie in Abhängigkeit der Vorbehandlung des Ausgangsmaterials. Auch die Prozessparameter der Extraktion haben einen großen Einluss. Daher werden die DEVnativ-Werte als Intervallwerte angegeben, z. B. 6–8:1 (entsprechend Extraktivstofgehalten der Ausgangsdrogen zwischen 12 und 18%).
9.1 Begriffserklärungen und Definitionen
9.1.9
Validierung von Prüfverfahren
Die International Conference on Harmonisation (ICH) hat als eine Hilfestellung bei der Durchführung von Validierungen von analytischen Prüfmethoden die beiden Leitlinien (Note for Guidance) „Validation of Analytical Methods: Deinitions and Terminology“ (CPMP/ICH/381/95)1 und „Validation of Analytical Procedures: Methodology“ (CPMP/ ICH/281/95) erarbeitet. Die beiden Leitlinien werden auch als ICH-Leitlinie Q2A und Q2B bezeichnet und spiegeln den aktuellen Stand der Wissenschat zu dieser hematik wider. Man unterscheidet einzelne Validierungsparameter (Handbuch „Validierung analytischer Verfahren“).
Spezifität/Selektivität Beide Begrife werden in der pharmazeutischen Analytik synonym verwendet. Die ICH-Leitlinie Q2A verwendet ausschließlich den Begrif „Speziität“, unabhängig davon, dass z. B. innerhalb der IUPAC (International Union of Pure and Applied Chemistry) gegenwärtig diskutiert wird, ihn durch den Begrif Selektivität zu ersetzen. In den IUPAC Provisional Recommendations „Selectivity in Analytical Chemistry, Drat 27 February 2001“ stellt IUPAC die Überlappung beider Begrife klar durch die Aussage: „Speciicity is the ultimate of selectivity“. Ein Prüfverfahren ist dann als selektiv zu bezeichnen, wenn der zu bestimmende Analyt ohne Störungen durch Matrixbestanteile oder zur Bestimmung verwendete Reagenzien bestimmt werden kann. Ein Verfahren zur Gehaltsbestimmung in einem Fertigprodukt mit einem standardisierten Extrakt als Wirkstof (z. B. Sennesfrüchteextrakt) gilt beispielsweise als selektiv, wenn belegt ist, dass 1
Abkürzungen: ICH: International Conference on Harmonization (Int. Harmonisierungskonferenz von technischen Zulassungsanforderungen für Humanarzneimittel). Die Harmonisierung unter ICH bezieht die EU, Japan und die USA ein. CPMP: Committee on Proprietary Medicinal Products (Arzneimittelspezialitätenausschuss). Fachausschuss mit zahlreichen Arbeitsgruppen, die Leitlinien zum Nachweis der Qualität, gesundheitlichen Unbedenklichkeit (pharmakologisch-toxische Studien) und Wirksamkeit (klinische Studien) von Arzneimitteln erarbeiten. EMEA: European Medicines Evaluation Agency (europäische Zulassungsbehörde mit Sitz in London). Bestimmte Arzneimittel, die z. B. mit Hilfe von besonderen biotechnologischen Verfahren hergestellt werden oder die eine bedeutende Innovation darstellen, müssen über die EMEA zentral für die EU zugelassen werden.
9
a) alle zur Herstellung des Fertigprodukts eingesetzten Hilfsstofe unter den angegebenen chromatographischen Bedingungen entweder keine Signale oder eindeutig von Signalen der zu bestimmenden Substanz unterscheidbare Signale liefern und b) die in dem Extrakt enthaltene/n Wirksubstanz/en eindeutig von den im Extrakt enthaltenen Begleitsubstanzen abgetrennt sind und c) die Identität der zu bestimmenden Wirksubstanz/en über den jeweiligen, in seiner Struktur bekannten und belegten Referenzstandard sowohl über den Retentionszeitvergleich als auch über Online-Spektrenvergleich bewiesen ist. Der Nachweis deinierter Inhaltsstofe des Extrakts im Fertigprodukt wird erbracht durch Vergleich des HPLCChromatogramms mit dem Chromatogramm x der Matrix (Mischung sämtlicher Bestandteile ohne Extrakt) und entweder x des in seiner Identität gesicherten Extrakts oder x des Referenzstandardgemischs.
Präzision Wiederholpräzision („repeatability“). Die Wieder-
holpräzision soll belegen, dass das Analysenverfahren bei Durchführung unter gleichen Bedingungen (wie z. B. dieselbe HPLC-Anlage, derselbe Laborant, gleicher Tag, identische Reagenzien) zu vergleichbaren Ergebnissen führt. Die Wiederholpräzision kann 1. durch die Analyse von mindestens 6 Probenaufarbeitungen bei 100% der Konzentration des Wirkstofes in der Prülösung oder 2. durch die Analyse von mindestens 9 Probenaufarbeitungen innerhalb des Arbeitsbereichs des Verfahrens (z. B. 3 Konzentrationen, 3 Wiederholungen) gezeigt werden. Die Auswertung und Bewertung der Ergebnisse erfolgt durch Angabe des Mittelwerts, der Standardabweichung, des Variationskoeizienten und des Vertrauensbereichs. Der geforderte Wert für den Variationskoeizienten ist in Abhängigkeit von der beabsichtigten Aussage zu sehen (z. B. Speziikationsgrenzen für den Ausgangsstofgehalt). In Abhängigkeit vom ermittelten Variationskoeizienten und den Speziikationsgrenzen wird die Anzahl der durchzuführenden Analysen pro Probe für die Routineanalytik festgelegt.
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Trockenextrakte als Arzneistoff : Herstellung, Qualitätsprüfung
Vergleichspräzision („intermediate precision“). Mit
Hilfe der Vergleichspräzision soll gezeigt werden, dass das analytische Verfahren unabhängig von der Variation der äußeren Umstände bei gleichem Probenmaterial zu übereinstimmenden Ergebnissen führt. Bei der Durchführung ist zu beachten, dass möglichst die ganze Breite der für das jeweilige Labor speziischen Umstände erfasst wird. Typische Variationen sind Bearbeiter, Tag der Durchführung einer Analyse und verwendete Anlagen. Zur Auswertung werden für die Vergleichspräzision die Daten der Wiederholpräzision ( > oben) herangezogen, zusammen mit dem von einem zweiten Bearbeiter generierten Datensatz.
Richtigkeit Die Richtigkeit eines analytischen Verfahrens zur Gehaltsbestimmung wird über den gesamten Arbeitsbereich belegt. Hierfür gibt es drei Möglichkeiten: 1. Es werden mindestens 9 Messungen (unabhängige Einwaagen) bei mindestens 3 Konzentrationen innerhalb des speziizierten Arbeitsbereichs (z. B. 3 Konzentrationen mit jeweils dreimaliger Wiederholung des gesamten analytischen Verfahrens) durchgeführt. Die Auswertung erfolgt durch Vergleich mit dem erwarteten Wert. Der Vertrauensbereich des Mittelwerts sollte 100% des erwarteten Werts einschließen. 2. Vergleich der Ergebnisse des analytischen Verfahrens mit einem zweiten, unabhängigen und gut beschriebenen Verfahren (z. B. Arzneibuch, amtliche Untersuchungsmethoden nach § 35 LMBG). Die Bewertung erfolgt unter Berücksichtigung statistischer Tests (z. B. F- und t-Test). 3. Gemäß der CPMP/ICH-Leitlinie zur Validierung analytischer Verfahren Q2B, kann die Richtigkeit auch abgeleitet werden, wenn Präzision, Linearität und Speziität des Verfahrens im Rahmen der Validierung gezeigt wurden. In der Regel wird man die Vorgehensweise unter 1) wählen. Für Zubereitungen mit bekanntem Wirkprinzip (z. B. Gesamtsennoside), wird die Bestimmung der Richtigkeit über die Wiederindungsrate für den/die in seiner/ihrer Struktur bekannten Inhaltsstof/e durchgeführt. Dazu gibt es prinzipiell zwei Möglichkeiten:
Matrixmethode. Zumischen des Extrakts mit deinierter Menge an wirksamkeitsbestimmendem/n Inhaltsstof/en zur Matrix des Fertigprodukts entsprechend des jeweiligen Konzentrationsniveaus (z. B. für 70%, 100% und 130%, komplettes Analysenverfahren inkl. Probenaufarbeitung). Aufstockmethode. Bei der Aufstockmethode wird die Wiederindungsrate entweder x durch Zugabe von Extrakt mit deinierter Menge an wirksamkeitsbestimmendem/n Inhaltsstof/en oder x durch Zugabe von Referenzstandards
zu einem Prüfmuster mit bekannter Konzentration an wirksamkeitsbestimmendem/n Inhaltsstof/en bestimmt. Zum Beispiel: Einwaage 60% der gewählten Probenkonzentration; aufgestockt wird dann auf eine Wirkstofmenge von 80%, 100%, 120%. Wird Referenzstandard aufgestockt, ist auch die Richtigkeit der Gehaltsbestimmung des/r wirksamkeitsbestimmenden Inhaltsstofe/s im Extrakt belegt. Bei beiden Methoden (Matrix- und Aufstockmethode) werden zur Bestimmung der Richtigkeit mindestens 9 Aufarbeitungen bei mindestens 3 Konzentrationen über den speziizierten Arbeitsbereich (z. B. 3 Konzentrationen mit jeweils dreimaliger Wiederholung des gesamten analytischen Verfahrens) durchgeführt. Die Auswertung erfolgt durch Angabe der prozentualen Wiederindung des/r zugesetzten Analyten, der Standardabweichung, des Variationskoeizienten und des Vertrauensbereichs des Mittelwerts (n = 9; p = 95%, entspricht D= 0,05).
Linearität Die Linearität des analytischen Verfahrens ist gegeben, wenn im gewählten Arbeitsbereich eine direkt proportionale Beziehung zwischen der Konzentration der Prüflösung und dem erhaltenen Ergebnis (z. B. Signal des Detektors oder Verbrauch an Maßlösung) gezeigt werden kann. Die Linearität wird mindestens über einen Bereich von 80–120% der Soll-Konzentration der Prülösung gezeigt (Verdünnungsreihe einer Stammlösung). Dabei werden mindestens 5 Konzentrationen aufgearbeitet und analysiert, wobei sich der Wert für jede Analyse durch Mittelwertbildung von Mehrfachinjektionen ergibt.
9.2 Herstellung von Trockenextrakten
Die Auswertung erfolgt bei einem linearen Zusammenhang zwischen Konzentration und Signal mit Hilfe einer geeigneten Regression (z. B. Methode der kleinsten Fehlerquadratsumme). Die Ergebnisse werden in Form des Korrelationskoeizienten, der Steigung der Geraden sowie des y-Achsenabschnitts angegeben. Als zusätzliche Informationen zur Bewertung der Linearität können die graische Darstellung und die Angabe der Abweichung der Messpunkte von der Regressionsgeraden erfolgen. Ist für eine Routineanalytik eine Einpunktkalibrierung beabsichtigt, muss der Vertrauensbereich des y-Achsenabschnitts den Nullpunkt einschließen. In diesem Fall wird die Linearität über einen Bereich von 10–120% gezeigt. Neben einer linearen Funktion kann für bestimmte Detektortypen auch eine andere mathematische Abhängigkeit gezeigt werden, wobei die Anzahl der Kalibrierungspunkte in der Routineanalytik entsprechend anzupassen ist.
Robustheit („robustness”) Ein analytisches Verfahren wird als robust bezeichnet, wenn es von kleinen, bewusst herbeigeführten Änderungen unbeeinlusst bleibt. Solche Änderungen betrefen bei HPLC-Methoden beispielsweise Temperatur des Säulenofens, Gradient, pH-Wert des Laufmittels, Säulenmaterial bzw. Säulencharge, HPLC-Anlage (z. B. anderer Detektor), Lagerung von Proben- und Standardlösungen (Stabilität), Charge bzw. Lieferant des Wirkstofs.
9.2
Herstellung von Trockenextrakten
Mit den technologischen Verfahren zur Herstellung von Trockenextrakten, insbesondere mit den dabei eingesetzten mechanischen Verfahren wie Zerkleinern, Extrahieren, Filtrieren, Trocknen, befasst sich die pharmazeutische Technologie. Auf die Technologie der Extraktherstellung wird daher im nachfolgenden Abschnitt nur sehr kursorisch eingegangen, nur so weit, als es zum Verständnis der Besonderheiten von Phytopharmaka im Vergleich mit chemisch deinierten Arzneistofen erforderlich ist.
9.2.1
Typen von Extrakten
Trockenextrakte (lat. Extracta sicca, abgekürzt Extr. sicc.) sind feste Zubereitungen, die durch Einengen lüssiger
9
Auszüge bis zur Trockene bzw. bis zu einer Restfeuchtigkeit von maximal 5% erhalten werden. Nach PhEur können dem Extrakt „geeignete inerte Materialien“ zugesetzt werden. Bei den inerten Materialien handelt es sich um Hilfsstofe wie Milchzucker oder Dextrin (Normierungsmaterial), wenn es darum geht, den Extrakt auf einen bestimmten Wirkstofgehalt einzustellen (Normierung bzw. Standardisierung). Den meisten Extrakten werden technische Hilfsstofe wie hoch disperse Kieselsäure oder Glucosesirup bereits vor dem Trocknen zugesetzt. Durch die Zusätze erreicht man nicht nur eine Herabsetzung der Hygroskopizität, v. a. werden Fließeigenschaten und Rieselfähigkeit verbessert, was eine Weiterverarbeitung des Trockenextraktes, beispielsweise Tablettierung, erleichtert oder überhaupt erst ermöglicht. Unter dem Sammelbegrif „Trockenextrakt“ versteht man somit zweierlei: x einen Trockenextrakt ohne Zusatz von technischen Hilfsstofen oder Normierungsmaterial (nativer Trockenextrakt) und x einen Trockenextrakt, dem pharmazeutische Hilfsstofe zugesetzt sind, d. h. eine Trockenextrakt-Hilfsstof-Mischung, in der Literatur (z. B. Gaedcke u. Steinhof 2000), auch als Extraktzubereitung bezeichnet. Man unterscheidet nach PhEur 5 drei verschiedene Extrakttypen. Darüber informiert der Abschnitt 9.3. Von besonderer Bedeutung ist bei den Extrakten das DrogeExtrakt-Verhältnis (vgl. Kap. 9.1.8).
9.2.2
Grundzüge der Herstellung
Bei der Herstellung von Trockenextrakten lassen sich 3 Hauptphasen unterscheiden: Extraktion, Einengen (Konzentration) und Trocknung ( > Abb. 9.1).
Extraktion Bei der Extraktion werden mittels geeigneter lüssiger Extraktionsmittel Substanzen aus zerkleinerten Drogen herausgelöst. Es handelt sich um eine sog. Feststofextraktion. Daneben gibt es die Solventextraktion, worunter man die Eluierung einer gelösten Substanz aus einem Lösungsmittel mittels lüssiger, mit dem Lösungsmittel nicht mischbarer Extraktionsmittel, versteht. Solventextraktion spielt bei der Herstellung der sog. Spezialextrakte ( > Kap. 9.2.6)
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9
Trockenextrakte als Arzneistoff : Herstellung, Qualitätsprüfung
. Abb. 9.1 getrocknete Pflanzenteile
Reinigung Zerkleinerung Sichtung Verschnitt Zusatz des Lösungsmittels Extraktion
Primärextrakt
Einengung
Konzentrat
Trocknung
nativer Trockenextrakt
inerte Materialien
Trockenextrakt
Vereinfachtes Schema zur Herstellung von Trockenextrakten. In der Regel lassen sich native Trockenextrakte erst nach Zusatz inerter Materialien, wie hochdisperser Kieselsäure, Glucosesirup oder Magnesiumstearat, zu versandund lagerfähigen Trockenextrakten weiter verarbeiten. Der Zusatz inerter Materialien wird häufig mit dem Trocknungsprozess kombiniert, sodass die Zwischenstufe „native Trockenextrakte“ während des Herstellverfahrens nicht erhalten werden kann. Auch kann bei bestimmten Verfahren der Primärextrakt unmittelbar verarbeitet werden (vgl. dazu die erweiterte > Abb. 9.2). Nach PhEur ist die Menge an inertem Material (pharmazeutische Hilfsstoffe) zu deklarieren
eine Rolle. Wenn nachfolgend von Extraktion gesprochen wird, ist die Feststofextraktion gemeint. Das zum Auslaugen verwendete Lösungsmittel wird in der Pharmazie auch als Menstruum bezeichnet, die gewonnene Extraktlösung als Miscella. Bei der Extraktion von Drogen laufen 2 Vorgänge parallel ab: x das Herauslösen von Extraktivstofen aus zerstörten Zellen; x das Herauslösen von Extraktivstofen aus intakten Zellen durch Difusion, wobei Voraussetzung hierfür die Quellung der Zellen und ausreichende Permeabilität der Zellwand ist.
Der Auswaschprozess läut schneller ab, als der Difusionsvorgang, allerdings werden dabei auch mehr Ballaststofe ausgeschwemmt. Von besonderer Bedeutung für die Extraktausbeute ist der Zerkleinerungsgrad der Droge, der deshalb genau speziiziert werden soll. Auf das Extraktionsergebnis haben das gewählte Extraktionsmittel und das Extraktionsverfahren entscheidenden Einluss (Schmidt 1997). Als Extraktionsmittel werden üblicherweise EthanolWasser-Mischungen eingesetzt. Im Gegensatz zu wässrigen Extrakten werden keine Schleimstofe, Gummen oder Proteine mit ausgezogen, sodass die wirksamen Bestandteile in den alkoholischen Miscella meist in höheren Konzentrationen vorliegen. 50–70%iges Ethanol extrahiert neben lipophilen Stofen auch hohe Anteile von polaren Aminosäuren und Zuckern. Höherprozentiger Alkohol löst v. a. lipophile Inhaltsstofe, beispielsweise ätherische Öle. Da bei der Herstellung von Trockenextrakten der sog. Primärextrakt lediglich eine Zwischenstufe darstellt, werden in zunehmendem Maße auch Methanol, organische Lösungsmittel wie Aceton, Ether und Kohlenwasserstofe verwendet. Bei Extrakten, die mit diesen Extraktionsmitteln hergestellt werden, ist der Restgehalt an Extraktionslösungsmitteln genau zu überprüfen. Überkritische Gase, insbesondere Kohlendioxid, werden in der Lebensmitteltechnologie, z. B. bei der Hopfenextraktion sowie bei der Gewürzherstellung, teilweise verwendet; im pharmazeutischen Bereich werden CO2-Extrakte, bedingt durch fehlende pharmakologische und klinische Dokumentationen und damit fehlende Zulassungsvoraussetzungen, bisher noch wenig verwendet. Aufgrund der günstigen Lösungseigenschaten und der Steuerbarkeit der Extraktion von Inhaltsstofen unterschiedlicher Lipophilie ist es denkbar, dass auch in der Pharmazie diese Extrakte an Bedeutung zunehmen. Sie werden regulatorisch allerdings als neue Wirkstofe aufgefasst, sodass die regulatorischen Anforderungen sehr hoch sind. Was die Extraktionsverfahren anbelangt: Es sind zwei grundsätzlich verschieden ablaufende Methoden zu unterscheiden. Zum Ersten handelt es sich um Verfahren, die zur Einstellung eines Konzentrationsgleichgewichtes zwischen Miscella und Drogenrückstand führen, und zum Zweiten um Verfahren, die bis zur vollständigen Erschöpfung der Droge reichen können. Zur 1. Gruppe gehören die Verfahren x ruhende Mazeration, x Digestion,
9.2 Herstellung von Trockenextrakten
9
x Bewegungsmazeration, x Wirbelextraktion, x Ultaschallextraktion.
zeichnet ist, dass die Extraktlösung von oben nach unten durch eine beheizte Röhre geleitet wird.
Zur 2. Gruppe zählen x Perkolation, x Gegenstromextraktion, x Evakolation (Perkolation im Vakuum), x Diakolation (Perkolation unter Druck), x Soxhlet-Verfahren.
Trocknung
Bei Verfahren, die zum Konzentrationsausgleich führen, ist der Extraktionsvorgang dann beendet, wenn zwischen Lösungsmittel und Drogenrückstand eine homogene Verteilung der extrahierbaren Bestandteile vorliegt und kein Konzentrationsgefälle mehr besteht. Nach diesem Prinzip arbeiten Mazerationsverfahren. Bei den erschöpfenden Extraktionsverfahren, d. h. Verfahren, die zur weitgehenden Entfernung der Extraktionsstofe aus der Droge führen, kann die Perkolation als Standardverfahren angesehen werden. Diese wird im Arzneibuch hinsichtlich Aufbau des Gerätes und Durchführung des Verfahrens genau beschrieben. Durch ständige kontinuierliche Zufuhr von frischem Lösungsmittel ist die vollständige Extraktion gewährleistet.
Einengen und Konzentrieren Vor der eigentlichen Trocknung von Trockenextrakten sowie zur Konzentrierung lüssiger Primärextrakte erfolgt eine Einengung des Produkts. Die Konzentration der Extraktivstofe steigt an, das Konzentrat hat in der Regel die Konsistenz eines dicklüssigen Extrakts. Das Einengen von Drogenauszügen erfolgt in der Regel durch Verdampfung, d. h. durch Erwärmen des dünnlüssigen Extrakts und Abtrennung des Lösungsmitteldampfes. Zu diesem Zweck werden Verdampfer unterschiedlicher Bauart eingesetzt. Grundprinzip ist jeweils, dass die einzuengende Lösung beheizt wird und der Lösungsmitteldampf über Kondensation abgefangen wird. Da viele Planzenextrakte labile Inhaltsstofe enthalten, muss die Verdampfung produktschonend durchgeführt werden, das heißt, dass bei der Entfernung des Lösungsmittels die Temperatur des Extraktes nicht über 50 °C liegen darf. Eine produktschonende Einengung ist in der Praxis ot durch sehr kurze Verweildauer an den Heizquellen gewährleistet. Exemplarisch sei der Fallilmverdampfer erwähnt, der dadurch gekenn-
Bei der Trocknung werden einem Extrakt Lösungsmittel bis zu einem vorgeschriebenen Grenzwert entzogen. Trockenextrakte enthalten allenfalls noch 2–3%, maximal 5% Wasser. Durch den Trocknungsvorgang werden die zuvor im Primärextrakt oder im Konzentrat vorliegenden Extraktivstofe in den festen Aggregatzustand überführt. Die Herstellung von Trockenextrakten ist nicht Selbstzweck: Trockenextrakte sind Zwischenstufen zur endgültigen Arzneiform. Durch die Wahl des Trocknungsverfahrens ( > Abb. 9.2) und der Trocknungsbedingungen werden die technologischen Eigenschaten des Trockenextraktes in einer Weise gelenkt, dass der Extrakt für die jeweilige Arzneiform, z. B. eine Direkttablettierung, geeignet ist. Die entsprechenden Parameter sind: x Aulösbarkeit, x Korngröße, x Rieselfähigkeit, x Stampfvolumen, x Schüttgewicht. Großtechnisch anwendbare und wirtschatliche Trocknungsverfahren arbeiten nach dem Prinzip der Kontaktoder Konvektionstrocknung. Typische Trockner sind: x Walzentrockner: Die zu trocknende Lösung wird auf die Oberläche von beheizten Walzen aufgebracht, das Lösungsmittel entweicht aus dem Flüssigkeitsilm auf der Walze. Nach einer Umdrehung der Walze kann das getrocknete Gut von der Oberläche entnommen werden. Die Walzentrocknung stellt ein kontinuierlich ablaufendes Verfahren dar, bei dem das Produkt hohen Temperaturbelastungen ausgesetzt ist, sodass thermolabile Extrakte geschädigt werden können. Zudem entstehen feste Massen, die zerkleinert werden müssen. x Vakuumtrockner: Die Extraktlösung wird auf beheizte Bänder aufgetragen, schäumt dabei bedingt durch das angelegte Vakuum auf, sodass eine lockere, poröse Schicht resultiert. Das Band durchläut verschiedene Heizzonen, das Gut kann am Ende als brüchiges, trockenes Material entnommen werden, das noch zerkleinert werden muss. Voraussetzung für dieses Verfahren ist, dass das Ausgangsgut ließfähig und pump-
233
234
9 . Abb. 9.2
Trockenextrakte als Arzneistoff : Herstellung, Qualitätsprüfung
Primärextrakt
Einengung
walzentrocknen
sprühtrocknen
gefrieren
zerkleinern
kühlen
zerkleinern und granulieren
sublimationstrocknen im Vakuum
kühlen, sieben
evtl. nachzerkleinern
verpacken
verpacken
verpacken
Walzenpulver
Sprühpulver
gefriergetrocknetes Pulver
Vereinfachtes Fließschema zur Herstellung von Trockenextrakten nach 3 verschiedenen Verfahren. Bis auf die Sprühextrakte, die als fertiges Pulver anfallen, müssen die mit anderen Verfahren erhaltenen Produkte zerkleinert werden. Die Zerkleinerung ist bei hygroskopischen Produkten ein aufwendiger technologischer Prozess
bar ist, damit es auf die Bänder aufgetragen werden kann. Die Temperaturbelastung des Gutes ist meist relativ gering, allerdings ist der Zeitbedarf der Trocknung größer. Durch Variation der Druckverhältnisse, der Temperatur und der Verweilzeit ist eine Steuerung der Trocknung auf vielfältige Weise möglich. x Sprühtrocknung: Die Sprühtrocknung (Kap. 9.2.5) ist ein sehr schonendes Verfahren, bei dem zwar Produkttemperaturen von 50–80 °C autreten, die Temperaturbelastung jedoch nur über einen Zeitraum von wenigen Sekunden gegeben ist. Mit Hilfe der Sprühtrocknung gelingt es, in einem Arbeitsschritt aus lüssigen, niedrig konzentrierten Extrakten kontinuierlich trockene Produkte zu fertigen. Das Endprodukt fällt dabei bereits pulvrig an und muss nicht weiter zerkleinert werden. Der Trocknungsprozess selbst und auch die Eigenschaten des Endproduktes sind durch
verschiedene Maßnahmen (Art der Düsen, Temperatur, Sprühdruck) steuerbar. x Gefriertrocknung (Lyophilisation): Die Trocknung erfolgt durch Sublimation, d. h. durch Entzug von Wasserdampf aus Eis. Das Verfahren eignet sich v. a. dann, wenn Stofe in Lösung instabil oder oxidationsempindlich sind. Die bei tiefen Temperaturen schwerlüchtigen Aromastofe und ätherischen Öle bleiben in gefriergetrocknetem Material weitgehend erhalten. Das anfallende Trockengut ist sehr gut wasserlöslich, aber auch hygroskopisch. Da bei der Gefriertrocknung Zeit- und Energieaufwand hoch sind, wird Lyophilisation zur Herstellung von planzlichen Trockenextrakten selten eingesetzt. Hinweis. Lyophilisation bedeutet so viel wie „Lyophil machen“ (griech.: lýein [lösen] und phílein [lieben]). Lyophil ist ein Fachausdruck aus der Kolloidchemie, der ausdrückt, dass die Neigung eines dispergierten Teilchens zur Wechselwirkung mit dem lüssigen Dispersionsmittel größer ist als zur Wechselwirkung mit gleichartigen Teilchen.
Zerkleinern (Mahlung) Nur die Sprühextrakte fallen als fertiges Extraktpulver an. Die mit anderen Verfahren erhaltenen Produkte müssen vor dem Verpacken oder vor der Weiterverarbeitung zu Fertigarzneimitteln zerkleinert werden. Die Mahlung ist bei hygroskopischen Massen aufwendig, sodass meist Stoffe zugesetzt werden, die die Hygroskopizität des Extrakts herabsetzen. Als Mahlhilfe empfohlen wird Magnesiumstearat, das die Oberläche der Extraktpartikel mit einer hydrophoben Schicht überzieht und damit das Verklumpen weitgehend unterbindet. Verwendet werden daneben noch Mikrotalkum, mikronisierte, gesättigte Triglyceride (z. B. aus der Dynasanreihe) und gehärtetes Rizinusöl (Cutina HR) (List u. Schmidt 1984; Ziegenmayer 1991).
9.2.3
Pflanzliche Extraktivstoffe
> Tabelle 9.1 gibt einen Eindruck zu Unterschieden in den Übergangsraten einer breiten Palette von Inhaltsstofen am Beispiel von Tee. Das Beispiel, Teeblätter im Vergleich mit dem Trockenrückstand des Infuses (Aquosumextrakt), ist der Lebensmittelchemie entnommen, da keine vergleichbaren pharmazeutischen Beispiele bekannt sind.
9.2 Herstellung von Trockenextrakten
9
. Tabelle 9.1 Zusammensetzung der Trockensubstanz von frischen und fermentierten Teeblättern und von Teeaufguss. (Aus Berlitz et al. 2001) Bestandteil Phenolische Verbindungenb Oxidierte phenolische Verbindungenc Proteine Aminosäuren Coffein Rohfaser
Frisches Material
Schwarzer Tee
30
5
Teeaufgussa 4,5
0
25
15
15
+d
4
4
3,5
4
4
26
26
15
3,2 0
Andere Kohlenhydrate
7
7
4
Lipide
7
7
+
Pigmentee
2
2
+
Flüchtige Verbindungen
0,1
0,1
0,1
Mineralstoffe
5
5
4,5
a Brühzeit 3 min. b Vorwiegend Flavanole. c Vorwiegend Thearubigene, weniger Theaflavine. d Spuren. e Chlorophyll und Carotionoide.
Extraktrückstand und Droge unterscheiden sich zunächst darin, dass die planzlichen Gerüstsubstanzen, als Rohfaser bezeichnet, nicht in den Extrakt gelangen, sie bilden den Extraktrückstand. Weitere Unterschiede betrefen Proteine und lipophile Pigmente. Aus der Sicht des Teetrinkers haben die verschiedenen Extraktionsstofe unterschiedliche Bedeutung: Das Cofein ist Träger der anregenden Wirkung, Phenole bedingen den angenehmen Geschmack und die lüchtigen Verbindungen das angenehme Aroma. Für therapeutisch verwendete Extrakte gelten andere Gesichtspunkte. Im Hinblick auf ein herapieziel lassen sich Extraktivstofe in 3 Gruppen wie folgt gliedern: x Wirksame Inhaltsstofe sind Extraktivstofe, an die die therapeutischen Eigenschaten der Droge ganz oder zum überwiegenden Teil gebunden sind. Beispiele: Anthranoide in den Anthranoiddrogen, Cardenolide in den Cardenoliddrogen wie den Digitalisblättern oder dem Maiglöckchenkraut, Emetin und Cephaelin in der Brechwurzel, Arbutin in Bärentraubenblättern oder Hyoscyamin und Scopolamin im Belladonnablatt. x Erwünschte Begleitstofe sind Extraktivstofe, die die Einnahme erleichtern, die Resorption fördern oder die Stabilität von speziischen Wirkstofen erhöhen. Beispiele: Flavone und Flavonole erhöhen die Stabilität von Ascorbinsäure in Hagebuttenauszügen, umge-
kehrt hemmt Ascorbinsäure die Oxidation labiler Phenole wie z. B. des Hyperforins in Hypericum-perforatum-Extrakten. Saponine können über verschiedene Mechanismen resorptionsverbessernd wirken; Aromastofe erleichtern die Einnahme. x Unerwünschte Extraktionsstofe sind verantwortlich für unerwünschte Wirkungen von Extrakten. Beispiele: Pyrrolizidinalkaloide sind wegen hepatotoxischer und mutagener Wirkungen unerwünschte Begleitstoffe in Extrakten aus Hulattichblättern und Beinwellkraut; Helenalin ist unerwünscht als potentielles Kontaktallergen in Arnikaextrakten, ähnlich Anthecotulid in bestimmten Herkünten von Kamillenblüten. Im Hinblick auf pharmazeutisch-technologische Belange lassen sich die Extraktivstofe wie folgt klassiizieren: in Wirkstofe, in Leitstofe, in technologisch bedeutsame Extraktivstofe und in inerte Begleitstofe. Einige Autoren deinieren wirksamkeitsmitbestimmende Inhaltsstofe. Darunter seien Inhaltsstofe zu verstehen, die im isolierten Zustand nicht den gleichen therapeutischen Efekt aufweisen wie der Gesamtextrakt, die aber für die Wirksamkeit mitbestimmend seien. Dem gegenüber lässt sich einwenden: Ob bestimmte Extraktbestandteile die Wirksamkeit eines Extraktes mitbestimmen, lässt sich bei quantiizierten Extrakten ( > dazu Seite 241) in der Regel nicht durch entsprechende klinische Studien
235
236
9
Trockenextrakte als Arzneistoff : Herstellung, Qualitätsprüfung
beweisen, allenfalls lässt sich die Aussage, ein Inhaltsstof sei wirksamkeitsmitbestimmend, aus pharmakologischen Studien extrapolieren. Nicht selten lassen aber die Ergebnisse entsprechender Studien im Hinblick auf ihre therapeutische Relevanz hinreichend Spielraum zu einer unterschiedlichen Interpretation, sodass sich, abhängig von der jeweiligen Vormeinung, widersprüchliche Schlussfolgerungen ergeben. Besser ist daher die Verwendung des Begrifes „pharmazeutisch relevante“ Inhaltsstofe („active marker“), wie er auf Seite 226 deiniert ist. Damit wird der direkte Bezug zu pharmakologischen oder klinischen Effekten (Wirkung und Wirksamkeit) vermieden.
Technologisch bedeutsame Extraktivstoffe Extraktivstofe können Stabilität des Extrakts und dessen Verarbeitung zum Fertigarzneimittel in unterschiedlichster Weise beeinlussen, erwünscht beispielsweise, wenn in Wasser unlösliche Stofe wasserlöslich gehalten werden. Im Falle des Ginkgoextraktes (50:1) EGb 761 fungieren bestimmte organische Säuren (Kynuren-, Hydroxykynuren- und Protocatechusäure) als Lösungsvermittler für die in Wasser schwer löslichen Diterpene (Drieu 1988). Chemisch nicht näher identiizierte „Mucine“ verhindern, dass im Kaltwassermazerat aus der Kavadroge die in Wasser schwer löslichen Kavapyrone aggregieren: Sie bleiben in Wasser feinst kolloidal verteilt und somit resorbierbar (Lazar 1983). Technologisch unerwünscht sind Extraktivstofe, die Nachtrübungen verursachen, die Stabilität anderer Stofe vermindern oder sensorische Eigenschaten (Farbe, Geruch, Geschmack) ungünstig beeinlussen. Unerwünscht in dieser Hinsicht sind beispielsweise Wachse, Pektine, Chlorophyllabbauprodukte und Salze von Schwermetallen. Schwermetallionen können beispielsweise oxidative Veränderungen katalysieren oder die Stabilität von erwünschten Extraktivstofen mindern. Beispiel: Hopfenbitterstofe in Hopfenextrakten werden durch Cu2+-Ionen und in Anwesenheit von Lutsauerstof rasch zerstört.
Inerte Begleitstoffe Darunter lassen sich alle Extraktivstofe zusammenfassen, von denen weder im Hinblick auf Wirksamkeit und Unbedenklichkeit noch im Hinblick auf die pharmazeutische Qualität Funktionen bekannt sind.
9.2.4
Variable Zusammensetzung von Trockenextrakten
Zwischen Einzelsubstanzen, die aus Drogen isoliert werden, und Extrakten besteht ein wesentlicher Unterschied hinsichtlich der Konstanz der Zusammensetzung: Einzelsubstanzen sind konstant zusammengesetzt, Extrakte hingegen variabel. Beispielsweise kann man Opiumproben türkischer und indischer Herkunt aufgrund eines unterschiedlichen Inhaltsstofspektrums unterscheiden; die aus den verschiedenen Opiumherkünten isolierten Morphinproben hingegen sind ununterscheidbar. Die unterschiedliche Zusammensetzung kann unterschiedliche pharmakologische oder toxikologische Eigenschaten bedingen. Dazu ein Beispiel aus dem Alltag: Kafee wird, persönlicher Vorliebe nach, entweder als Infus hergestellt oder als Filterkafee. Nach epidemiologischen Untersuchungen steigert aufgebrühter Kafee den Blutcholesterinspiegel, nicht aber Kafee in Form des Klargetränkes „Filterkafee“ (Dag u. helle 1983; Tuomiletho u. Tanskanen 1987; > Abb. 9.3). Die Ursache für diesen aufallenden Befund: Bestimmte lipophile Diterpene, insbesondere Cafestol und Kahweol ( > Abb. 9.4) sind möglicherweise die Verursacher für den erhöhten Cholesterinspiegel des Serums. Beim Filtrierverfahren werden die lipophilen Inhaltsstofe weitgehend im Filterpapier zurückgehalten, beim Aufgussverfahren gelangen sie ins fertige Getränk und werden in der Folge ofensichtlich resorbiert. Für die Variabilität von Extrakten ursächlich verantwortlich sind v. a. die folgenden Faktoren: x Variabilität der Ausgangsdroge, x Art des Extraktionsmittels, x Art des Herstellungsverfahrens.
Variabilität der Ausgangsdroge Verschiedene Handelspartien oder Provenienzen einer Droge können ot gravierende Unterschiede im Extraktgehalt sowie in einzelnen Inhaltsstofen aufweisen. Die Variation kann x genetisch bedingt sein (erbliche Variabilität), x von äußeren Faktoren wie Klima, Bodenverhältnisse oder Art der Düngung beeinlusst sein (Umweltmodiikation), x vom Entwicklungsstadium abhängen (ontogenetische Variabilität).
9.2 Herstellung von Trockenextrakten
9
Änderung des Serumcholesterinspiegels [mmol / l]
. Abb. 9.3 0,8
aufgebrühter Kaffee Filterkaffee kein Kaffee
0,6 0,4 0,2 0 - 0,2 - 0,4
0
3
6
9
12
15
18
21
24
[ Wochen]
Dauer der Gabe
Die Art der Kaffeezubereitung beeinflusst die Blutfettwerte von gesunden Probanden
. Abb. 9.4 CH3 OH
OH
H O
H Cafestol
CH3 OH
OH
H O
H Kahweol
Die Lipidfraktion des Röstkaffees enthält ca. 0,1% Diterpene, hauptsächlich Cafestol und Kahweol (1,2-Dehydrocafestol). Die Übergangsrate in das Kaffeegetränk hängt von der Art der Zubereitung, ob Infus oder ob Perkolat, ab. Langzeitgabe von Kaffeelipiden führte zu erhöhtem Cholesterinspiegel
Da sich die chemische Zusammensetzung im Verlaufe einer Vegetationsperiode ändert, hängt folglich die Zusammensetzung einer Droge auch vom Zeitpunkt der Ernte ab. Bei konstanten Erntezeiten fällt das vielleicht weniger ins Gewicht, stärker bei variablen Erntezeiten, was z. B. für die Baldrianwurzel zutrit. Drogenherkünte aus kontrolliertem Anbau sind homogener verglichen mit gesammelter Ware aus Wildvorkommen. Die durch Klima und Umwelteinlüsse bedingten Unterschiede lassen sich auch im kontrollierten Anbau nicht entscheidend beeinlussen. Bei der Extraktherstellung wird versucht, Unterschiede dadurch auszugleichen, dass verschiedene Drogenpartien gemischt werden. Dies erscheint vor allem deshalb statthat, weil ein geerntetes oder gesammeltes Lot einer Droge ja auch als eine Mischung unterschiedlicher Qualitäten betrachtet werden muss. Nur Drogen, die bestimmten Qualitätsvorgaben entsprechen, führen zu Extrakten eines bestimmten Anforderungsproils.
Art des Extraktionsmittels Die Palette der für die Extraktion von Arzneidrogen im technischen Maßstab verwendbaren Extraktionsmittel ist beschränkt. Das Extraktionsmittel soll möglichst nur die gewünschten Stofe aus der Droge ins Menstruum überführen, d. h. es soll möglichst selektiv sein. Es soll darüber hinaus weder umweltbelastend sein noch die Betriebs-
237
238
9
Trockenextrakte als Arzneistoff : Herstellung, Qualitätsprüfung
. Tabelle 9.2 Extraktivstoffgehalt und Droge-zu-Extrakt-Verhältnis in Abhängigkeit von der Polarität des Extraktionsmittels am Beispiel von Kamillenblüten. (Nach Angaben bei Gaedcke 1996)
. Tabelle 9.3 Einfluss der Bewegungsintensität in einem Muldenmischer auf das Mazerationsergebnis bei Kamillenblüten. (Aus List u. Schmidt 1984) Parameter
Ausbeute bei Mischwerkzeugdrehzahl
Extraktivstoffgehalt [%]
DEV
Aceton
3–4,5
22,2–33,3:1
Azulen [mg %]
Methanol
9,5–12,5
8,0–10,5:1
Ätherisches Öl [mg %]
Ethanol 90% (V/V)
9,5–15
6,5–10,5:1
Extraktivstoffe [%]
Ethanol 70% (V/V)
18–23
4,5–5,5:1
Lösungsmittel
66 UpM
Methanol 70% (V/V)
18,5–23
4,0–4,5:1
Aceton 60% (V/V)
22–25
4,0–4,5:1
Ethanol 40% (V/V)
23–26
3,8–4,4:1
Ethanol 30% (V/V)
23–28
3,6–4,4:1
Methanol 30% (V/V)
20–27
3,7–5,1:1
Wasser
24–29
3,5–4,2:1
sicherheit gefährden. Auch Fragen der Wirtschatlichkeit spielen eine Rolle, weshalb Ethanol vielfach durch das billigere Methanol ausgetauscht wird. Methanol ist wesentlich toxischer als Ethanol: Ein Austausch ist daher nur dann möglich, wenn das Endprodukt, wie im Falle der Trockenextrakte, kein Extraktionsmittel mehr enthält.
Übergangsrate der Gesamtextraktivstoffe Die auszulaugenden Drogeninhaltsstofe unterscheiden sich voneinander in ihrer Polarität, man denke an die Monosaccharide am polaren Ende einer virtuellen Polaritätsskala und an die Triacylglyceride und Phytosterole am anderen Ende. Mengenmäßig überwiegen die stärker polaren Inhaltsstofe: Je polarer das Extraktionsmittel, desto höher der Extraktivstofgehalt der Extrakte ( > Tabelle 9.2). Oder anders: Das Droge-zu-Extrakt-Verhältnis (DEVnativ) sinkt mit zunehmender Polarität des Extraktionsmittels. Die Angabe eines DEVnativ-Wertes macht somit nur Sinn in Verbindung mit der Angabe des Extraktionsmittels.
Art des Herstellungsverfahrens Eine große Zahl unterschiedlicher technologischer Faktoren beeinlusst das Extraktionsergebnis. Beispielsweise kann allein schon die Änderung der Drehzahl eines Misch-
10,5 115 7,55
20 UpM 7,2 68 4,1–4,2
werks während einer Mazeration (Bewegungsmazeration) zu analytisch gut unterscheidbaren Extrakten führen ( > Tabellen 9.2 und 9.3). Die verschiedensten Einlussparameter zu analysieren, Faktorenexperimente durchzuführen, um Extrakte zu optimieren, ist Aufgabe der pharmazeutischen Technologie. Auf Lehrbücher dieses Faches sei hingewiesen.
9.2.5
Extraktzubereitungen: Instanttees und Granulattees
Instanttees (engl.: instant [Augenblick]) stellen Extraktzubereitungen dar, die in heißem oder warmem Wasser gelöst ein teeähnliches Getränk ergeben. Um eine Extraktzubereitung handelt es sich, weil Instanttees neben den planzlichen Extraktivstofen noch Füllstofe, Schutzkolloide, Aromen und Farbstofe enthalten. Es liegen in der Regel Mischextrakte vor, d. h. es werden Drogenmischungen, keine Einzeldrogen, extrahiert und verarbeitet. Instanttees werden hauptsächlich in zwei Formen angeboten: x als Sprühextrakttees, x als Granulattees.
Sprühextrakttees Die Instantisierung erfolgt durch Wiederbefeuchtung von im Sprühverfahren gewonnenem Pulver und anschließender Trocknung nach speziellen Verfahren; oder sie erfolgt in einem Einphasenprozess durch besondere Sprühverfahren bzw. durch spezielle Vakuumtrocknung (Voigt 1987). Ziel der in der Regel patentierten Verfahren ist es, dass sich Produkte bilden, die schnell und vollständig
9.2 Herstellung von Trockenextrakten
ohne Klumpenbildung aulösbar sind. Die Instanteigenschaten ergeben sich durch die Kapillarwirkungen des hochporösen Produkts, wodurch Wasser rasch aufgesogen wird. In der Lebensmittelindustrie wird löslicher Kafee unter Einsatz des Gefriertrocknungsverfahrens hergestellt. Ätherische Öle und Aromastofe gehen bei der Herstellung des Extrakts verloren. Hersteller qualitativ guter Instanttees trennen die Aromastofe aus dem Extrakt ab, konzentrieren sie und setzen sie vor dem Sprühtrocknen dem Teekonzentrat wieder zu. Daneben gibt es lösliche Tees, die durch Zusatz nichtdrogeneigener Aromastofe bzw. ätherischer Öle aromatisiert werden. Wird das ätherische Öl dem fertigen Extrakt in mikroverkapselter Form zugesetzt, so führt das zu einer guten homogenen Vermischung und verhilt überdies zu einer verbesserten Haltbarkeit des Aromas.
Granulattees Sie werden durch ein Agglomerationsverfahren hergestellt, bei dem die Drogenextraktlösungen auf festes Trägermaterial wie Saccharose, Zuckeralkohole, Maltodextrin oder andere Kohlenhydrate gebracht, in der Wärme getrocknet und anschließend in geeigneten Mahlwerken zu korn- oder zylinderförmigen Granulaten zerteilt werden. Granulattees bestehen zu bis zu 97% aus Füll- und Trägerstofen, ot nur zu 1–3% aus Drogenextraktivstofen. Mit Wasser ergeben sich süß schmeckende Lösungen, was manche Patienten als angenehm empinden. Diabetiker
9
müssen Granulattees bei der Berechnung ihrer Broteinheiten berücksichtigen. Bei Saccharose als Basis besteht eine unerwünschte kariesfördernde Wirkung.
9.2.6
Sonderformen der Extraktzubereitungen
Gereinigte Extrakte Die Rahmenmonographie Extrakte (Extracts, Extracta) der PhEur deiniert als sog. „reined extracts“ (deutsch: gereinigte Extrakte) eine Sondergruppe von Extrakten, die dadurch charakterisiert sind, dass bei der Extraktherstellung An- oder Abreicherungsschritte deinierter Fraktionen involviert sind. Beispiel: Ginkgo-Trockenextrakt EGb 761. In Deutschland ist für diese Art von Extrakten seit langem auch die Bezeichnung „Spezialextrakte“ üblich. Die Verfahren zur Herstellung von Spezialextrakten können patentierungsfähig sein. Zur Gewinnung von Spezialextrakten bedient man sich derselben Verfahren, wie sie in der Chemie, speziell der Phytochemie, zur Abtrennung von Einzelstoffen aus komplexen Gemischen entwickelt worden sind ( > Abb. 9.5). Dazu zählen: x selektives Extrahieren, x Verteilungsverfahren, insbesondere Flüssig-FlüssigExtraktion, x Adsorptionsverfahren, x Ausfällen in Verbindung mit Filtrieren.
. Abb. 9.5
Allgemeine Vorgehensweise bei der Herstellung von so genannten Spezialextrakten im Vergleich mit der Herstellung konventioneller Extrakte
239
240
9
Trockenextrakte als Arzneistoff : Herstellung, Qualitätsprüfung
. Abb. 9.6
Extraktion mit Aceton-Wasser (60:40)
Ginkgoblätter, gemahlen
Einengen im Vakuum bis Feststoffgehalt von 30-40 % (m/m)
Primärextrakt
Blei(II)hydroxidacetatlösung zusetzen; Niederschlag verwerfen (Blei-Gerbstoffällung)
Filtrat
Flüssig-FlüssigExtraktion mit Heptan
Konzentrat 1
Verdünnen mit Ethanol-Wasser auf Feststoffgehalt von 10 % (m/m)
Lösung
Flüssig-Flüssig-Extraktion mit Methylethylketon-Ethanol*
wässriges Konzentrat
mit Wassser verdünnen (1:1), filtrieren
Lösung
im Vakuum einengen bis Feststoffgehalt 50-70 % (m/m)
Konzentrat 2
Ammoniumsulfat zusetzen; Flüssig-Flüssig-Extraktion mit Methylethylketon-Aceton; filtrieren; Niederschlag verwerfen
Oberphase
im Vakuum trocknen
wässriges Konzentrat, gereinigt
Ginkgotrockenextrakt (35–67:1)
Vereinfachtes Fließschema zur Herstellung von Ginkgo-biloba-Extrakt (35–67:1) EGb 761. *Bezweckt möglicherweise die Eliminierung der Ginkolsäuren (nach Angaben bei Juretzek u. Spieß 1993)
Die zuletzt genannte Methode des Ausfällens sei hervorgehoben, da sie im industriellen Maßstab rationell einsetzbar ist. Beispiele: Unerwünschte Gerbstofe lassen sich durch Zugabe von Blei(II)hydroxidacetatlösung ausfällen oder Eiweißbestandteile durch Ammoniumsulfatlösung. Verdünnt man lipophile Extrakte (Konzentrate) mit einem polaren Lösungsmittel, so fallen als Erstes die am stärksten lipophilen Bestandteile aus, bei Blatt- und Blütendrogen v. a. wachsartige Substanzen. Das sind aus den Cuticularschichten stammende langkettige Kohlenwasserstofe, korrespondierende Alkanole und Fettsäurealkanolester. In anderen Fällen können allein schon beim Konzentrieren (Einengen) von Primärextrakten schwer lösliche Extraktivstofe ausfallen und als Niederschlag abiltriert werden. Spezialextrakte lassen sich an einem meist sehr hohen DEV erkennen, bzw. besitzen eine entsprechende Bezeichnung wie beispielsweise der Ginkgo-Spezialextrakt EGb 761. Spezialextrakte als Wirkstofe können nicht mehr unter Bezugnahme auf die tradierte Anwendung der entsprechenden Ausgangsplanzen hinsichtlich ihrer pharmakologischen Wirkungen, klinischen Wirksamkeit und Unbedenklichkeit qualiiziert werden. Sie sind vielmehr
als distinkte Wirkstofe zu betrachten, zu denen nicht nur die Qualität, sondern auch Wirksamkeit und Unbedenklichkeit produktbezogen evaluiert werden müssen. Spezialextrakte als Wirkstofe stehen damit den synthetischen Wirkstofen näher als andere planzliche Wirkstofe. Für den quantiizierten Ginkgo-biloba-Extrakt (50:1) mit der Handelsbezeichnung EGb 761 ( > Abb. 9.6) sind etwa die Hälte der Inhaltsstofe bekannt; einige davon sind im Vergleich zur Ausgangsdroge stark angereichert, andere hingegen stark reduziert (Kemper u. SchmidtSchönbein 1991; vgl. dazu > Tabelle 9.4).
9.3
Einteilung von Trockenextrakten: standardisierte, quantifizierte und andere Extrakte
Alle Extrakte sind im Wesentlichen durch ihr Herstellverfahren (Beschafenheit der zu extrahierenden Droge oder des zu extrahierenden Materials, Extraktionsmittel, Extraktionsbedingungen) deiniert. Die PhEur 5 unterscheidet drei verschiedene Extrakttypen (Franz 2002).
9.3 Einteilung von Trockenextrakten: standardisierte, quantifizierte und andere Extrakte
. Tabelle 9.4 Charakteristische Inhaltsstoffe von Ginkgo-biloba-Extrakt (50:1) EGb 761. + Anreicherung, – Gehaltsverminderung (Reduzierung). (Nach Drieu 1991)
9
Quantifizierte Extrakte. Der Wirkstof im Fertigprodukt
Terpenlactone, davon
6
+
Bilobalid
2,9
+
Ginkgolide A,B und C
3,1
+
Oligomere Proanthocyanidine
5–10
+
ist ein Extrakt mit Gehaltsspannen in der Regel mehrerer experimentell-pharmakologisch, humanpharmakologisch und/oder toxikologisch relevanter, zusammenfassend als so genannte „pharmazeutisch relevante Inhaltsstofe“ bezeichnet („active markers“; z. B. Hypericin in Johanniskrautextrakten) oder Inhaltsstofgruppen (z. B. Procyanidine in Weißdornextrakten). Der Extrakt kann mit einer festen Menge Hilfsstofen versetzt sein. Die Einstellung auf die vorgegebenen Gehaltsspannen erfolgt durch Mischung von Drogen- und/oder Extraktchargen. Es ist in der Regel eine DEVnativ-Spanne vorgegeben.
Carbonsäuren (u. a. 6-OH-Kynurensäure, Vanillin-, Protocatechu-, p-Hydroxybenzoesäure)
ca. 9
+
Andere Extrakte. Der Wirkstof im Fertigprodukt ist ein
Ginkgole und Ginkgolsäuren
0,0005
–
Biflavone
0,1
–
Inhaltsstoffgruppe Flavonolglykoside
Gehalt [%]
Anreicherung/ Reduzierung
24
+
Extrakt mit einer vorgegebenen DEVnativ-Spanne, der durch den Herstellprozess sowie die Speziikationen (d. h. der Qualität) der eingesetzten Droge deiniert ist. Der Extrakt kann mit einer festen Menge Hilfsstofen versetzt sein. Eine Einstellung auf einen bestimmten Gehalt oder eine Gehaltsspanne erfolgt nicht.
9.3.1 Standardisierte Extrakte. Der Wirkstof im Fertigprodukt ist ein Extrakt mit wirksamem Inhaltsstof (z. B. Arbutin) oder Inhaltsstofgruppe (z. B. Anthranoide in Sennesextrakten) mit einem festgelegten bzw. eingestellten Gehalt. Die Einstellung erfolgt dabei mit inerten Materialien oder durch Mischen von Drogen- und/oder Extraktchargen. Der Extrakt enthält immer eine variable Menge Hilfsstofe. Die Menge des nativen Extraktes ist dabei in einem deinierten Bereich konstant.
Standardisierung auf pharmazeutisch relevante Inhaltsstoffe
Die Standardisierung, d. h. die Einstellung auf den vorgegebenen Gehalt erfolgt durch Zusatz von inerten Hilfsstoffen. Die Speziikation im Fertigprodukt bezieht sich auf die Menge wirksamer Inhaltsstof (vgl. > Tabelle 9.5 und Tabelle 9.6). Der Wirkstofgehalt im Endprodukt (z. B. dem Fertigarzneimittel) ist somit festgelegt, die Menge an nativem Extrakt hingegen ist variabel. Solche Extrakte
. Tabelle 9.5 Typen von Extrakten Wirkstoff Standardisierter Extrakt
Quantifizierter Extrakt
Anderer Extrakt
Trockenextrakt aus Ginkgoblättern, 100% Nativanteil, DEV: 35–67:1, Herstellung des Extraktes mit 60% Aceton (m/m). Der Extrakt ist quantifiziert auf: 22,0 bis 27,0% Flavonoide berechnet als Flavonglykoside 2,8 bis 3,4% Ginkgolide A,B und C 2,6 bis 3,2% Bilobalid weniger als 5 ppm Ginkgolsäuren
Trockenextrakt aus Baldrianwurzeln, 80% Nativanteila, DEV: 3–6:1, 20% Hilfsstoffea, Herstellung des Extrakts mit Ethanol 70% (V/V)
Beispiel für Spezifikation Extrakt Trockenextrakt von Rosskastaniensamen. Wirkstoff : 19% Triterpenglykoside, berechnet als wasserfreies β-Aescin, 70–95% Nativanteil, 30–5% Hilfsstoffe, DEV: 5–8:1, Auszugsmittel: Methanol 80% (V/V)
a
Variable, aber prospektiv festzulegende Menge.
241
242
9
Trockenextrakte als Arzneistoff : Herstellung, Qualitätsprüfung
. Tabelle 9.6 Haltbarkeitsrelevante „Instabilitäten“ von Packmitteln Glasbehältnisse
Alkaliabgabe
Gummistopfen
Sorption, Desorption, Abgabe von Partikeln
Kunststoffbehältnisse
Sorption (Verlust von Wirkstoffen und Konservierungsmitteln), Desorption/Migration (Reaktion mit Bestandteilen des Arzneimittels, pH-Änderungen, reduzierende/oxidierende Verunreinigungen), Permeation (Gase, ätherische Öle, Aromen, Etikettenkleber), Lichtdurchlässigkeit
Kunststofffolien
Sorption von Wasserdampf, Lichtdurchlässigkeit
Metallbehältnisse
Korrosion, Innenschutzlackierung
wurden im deutschen Sprachraum bisher als eingestellte (normierte) Extrakte bezeichnet. Die Änderung der Bezeichnung Normierung in Standardisierung ergibt sich als Konsequenz der internationalen Harmonisierung von Fachtermini im Rahmen der Erstellung eines Europäischen Arzneibuches. Standardisieren, d. h. auf ein bestimmtes Gehaltsintervall einstellen, lassen sich per deinitionem nur solche Extrakte, deren wirksame Inhaltsstofe bekannt sind. Wirksam bedeutet: Die klinische Wirksamkeit (im Sinne der naturwissenschatlich-orientierten Medizin) muss gesichert sein und die Wirksamkeit des Extraktes muss praktisch vollständig durch diejenigen Inhaltsstofe bedingt sein, auf die standardisiert wird. Die Einstellung (Standardisierung) auf Gehaltsspannen innerhalb ganz bestimmter festgelegter Grenzen erfolgt entweder durch Zusetzen von inertem „Normierungsmaterial“ (Lactose, Dextrin) oder bei Flüssigextrakten durch Extraktionsmittel. Die zu speziizierende Abweichung vom eingestellten Gehalt entspricht mit ±5% der zulässigen Abweichung für chemisch-synthetische Wirkstofe. Beispiele: Aloes extractum siccum normatum, Belladonnae folii extractum siccum normatum, Frangulae corticis extractum siccum normatum, Sennae folii extractum siccum normatum. Beispiel Beispiel für einen standardisierten Extrakt (PhEur): eingestellter Sennesblättertrockenextrakt – Sennae folii extractum siccum normatum Definition. Eingestellter Sennesblättertrockenextrakt wird aus Sennesblättern (Sennae folium) hergestellt und enthält mindestens 5,5 und höchstens 8,0% Hydroxyanthracen-Glykoside, berechnet als Sennosid B (C42O20H36; Mr 863) und bezogen auf den getrockneten Extrakt.
6
Der ermittelte Gehalt darf höchstens um ±10% von dem in der Beschriftung angegebenen Wert abweichen. Herstellung. Der Extrakt wird aus der Droge und Ethanol (50–80% V/V) durch ein geeignetes Verfahren hergestellt.
9.3.2
Quantifizierung auf pharmazeutisch relevante Inhaltsstoffe
Die Einstellung des Extrakts auf die vorgegebenen Gehaltsspannen erfolgt durch Mischen von Chargen mit unterschiedlichen Gehalten (es können Drogenchargen und Extraktchargen gemischt werden). Hilfsstofe dürfen nicht zur Einstellung verwendet werden. Die Speziikation im Fertigprodukt bezieht sich auf die Spannen pharmazeutisch relevanter Inhaltsstofe (vgl. > Tabelle 9.5). Die Quantiizierung eines Extrakts ist sinnvoll nur in Fällen, wenn fundierte Kenntnisse zu pharmakologischen und toxikologischen Eigenschaten einzelner Inhaltsstofe oder Inhaltsstofgruppen sowie klinische Daten zu den jeweiligen Extrakten als Wirkstofe vorliegen. Beispiele für mögliche quantiizierte Extrakte (bisher noch nicht in der PhEur implementiert): Crataegi folii cum lore extractum siccum, Ginkgo extractum siccum, und Hyperici herbae extractum siccum. Die Quantiizierung kann auch toxikologisch relevante Inhaltsstofe betrefen. Toxikologisch relevant sind Substanzen, deren Vorkommen über festgelegte Grenzwerte hinaus bedenklich ist. Beispiele: Aristolochiasäure in chinesischen Importdrogen oder Pyrrolizidinalkaloide in Petasites-Extrakten.
9.4 Qualitätsprüfung von Trockenextrakten
9.3.3
Extrakte, die ausschließlich über den Herstellungsprozess definiert sind
So genannte „Andere Extrakte“ ( > Tabelle 9.5) sind im Wesentlichen durch ihr Herstellverfahren deiniert ( > oben). Die Qualität der Extrakte wird ausschließlich durch den Herstellprozess bestimmt („product by process“). Beispiele: Passilorae extractum siccum, Harpagophyti extractum siccum und Valerianae extractum siccum.
9.3.4
Lagerung
Viele Extrakte enthalten hygroskopische Inhaltsstofe wie z. B. Zucker, anorganische Salze usw., die im Laufe der Lagerung sowie bei ungenügendem Schutz Feuchtigkeit aufnehmen. Aufgrund ihrer heterogenen Zusammensetzung besitzen sie meist zusätzlich einen sehr tief liegenden eutektischen Punkt. Bei Wärme oder in Gegenwart von geringen Mengen Feuchtigkeit können sie thermoplastisch werden und durch Zusammenließen ihre Porosität verlieren. Sie stellen dann selbst bei tiefen Temperaturen glasige Massen dar, die wegen ihrer geringen Oberläche dunkler gefärbt sind als gleich zusammengesetzte poröse Trockenextrakte. Eine Trocknung und Zerkleinerung solcher Produkte ist ot nur sehr schwierig zu bewerkstelligen. Aus diesem Grund müssen Trockenextrakte auf den Feuchtigkeitsgehalt geprüt werden, der maximal 3–5% betragen darf. Eine Zugabe von Hilfsstofen, wie etwa kolloidale Kieselsäure, kann zwar die Aufnahme von Feuchtigkeit nicht verhindern, aber die Fließfähigkeit des Produktes und seine durch Mahlen erreichte Korngröße bleiben dadurch erhalten. Eine spätere homogene Vermischung mit weiteren Hilfsstofen ist dann möglich. Im industriellen Maßstab hergestellte Trockenextrakte werden vorzugsweise in Kunststoffässern aus Polyethylen mit Deckeldichtung möglichst trocken gelagert. Für Endetail-Mengen der Apotheke schreiben die Arzneibücher vor: „vor Feuchtigkeit und Licht schützen“ (z. B. Rhabarbertrockenextrakt) oder „dicht verschlossen, vor Licht geschützt“ (eingestellter Rosskastaniensamentrockenextrakt).
9.4
Qualitätsprüfung von Trockenextrakten
9.4.1
Identitätsprüfung
9
Zur Identitätsprüfung von Extrakten wird nach DAB und PhEur fast ausschließlich die Dünnschichtchromatographie herangezogen. Die Beschreibung eines Chromatogramms in den Pharmakopöen orientiert sich an den Rf-Werten, den Farben und/oder Fluoreszenzfarben, an den Intensitäten der Substanzlecken (Zonen), in der Regel nach Besprühen mit einem chromogenen Sprühreagens. Analog zur DC-Prüfung von Drogen werden die Rf-Werte (Retentionsfaktoren) charakteristischer Zonen nicht als Zahlen angegeben, in Form einer Tabelle wird lediglich die relative Lage zu Referenzsubstanzen beschrieben. Als Referenzsubstanzen fungieren Planzenstofe, die als Inhaltsstofe des zu prüfenden Extraktes erwartet werden, oder Substanzen, die in der Prülösung nicht vorkommen, so genannte Rf-Marker, beispielsweise synthetische Farbstofe. Extrakte, für die keine Arzneibuchvorschriten existieren, lassen sich am sichersten auf Identität mittels eines Fingerprint-DC anhand typischer Fleckenmuster identiizieren. Voraussetzung für dieses Vorgehen ist, dass ein authentisches Drogenmuster oder eine authentische Extraktcharge zur Verfügung steht. In der pharmazeutischen Industrie werden neben Dünnschichtchromatographie (DC) vor allem die Hochleistungslüssigkeitschromatographie (HPLC, „high performance liquid chromatography“) und die Gaschromatographie (GC) für die Prüfung auf Identität herangezogen. GC und HPLC ermöglichen die Trennung von komplexen Gemischen sowie die Identiizierung der Bestandteile in kürzester Zeit ( > Abb. 9.7). Durch Kombination dieser Systeme mit empindlichen, selektiven und speziischen Detektoren, beispielsweise dem UV/VIS-DiodenarrayDetektor oder massenselektiven Detektoren gelingt ot die eindeutige Identiizierung der getrennten Substanzen. Die Geräteentwicklung ist so weit fortgeschritten, dass die chromatographischen Analysen weitgehend automatisiert sind. Die Kapillar-GC wird vorzugsweise für Extrakte mit lüchtigen Inhaltsstofen eingesetzt. Prüfung mittels GC oder Kapillar-GC ist die Methode der Wahl im Falle des Sabalfrüchteextraktes, da es sich um einen Extrakt handelt, der überwiegend aus lipophilen Extraktivstofen besteht. Der Extrakt wird mittels Ethanol, Hexan oder überkritischem CO2 hergestellt und enthält ein charakteristi-
243
244
9
Trockenextrakte als Arzneistoff : Herstellung, Qualitätsprüfung
. Abb. 9.7
weißer Ginseng
Re Rg1 Rf 20(S)-Rg2
MalonylRb1 Malonyl- Malonyl-Rd Rb1 Rb2 Malonyl-Rc ("mixture") Rb3 Rd Rb2 Rc Ro
20(R)-Rh1
roter Ginseng
Rb2
20(R)-Rg2 Rb1 20(S)-Rh1 20(S)-Rg2 Rg1
20(S)-Rg3
Rf
Q-R1
Rc Ro
Re
0
30
Rd
60
Rb3
90
Rs1
20(R)-Rg3
120 [min]
Identitätsprüfung mittels eines aufwendigen HPLC-Verfahrens. Gradiententechnik (Acetonitril-Wasser-Mischungen), Umkehrphasen („reversed phase“)-Säulen; UV-Detektion bei 203 nm (nach Samukawa et al. 1995). Die Methode ermöglicht es, Extrakte aus rotem und weißem Ginseng zu unterscheiden. Malonylginsenoside kommen nur im weißen Ginseng vor; sie hydrolysieren offenbar während der Wasserdampfbehandlung. Roter Ginseng zeigt einige zusätzliche Peaks, wahrscheinlich Artefakte der Wasserdampfbehandlung
sches Spektrum an freien Fettsäuren und Fettsäureethylestern ( > Abb. 9.8). Vermehrt wird auch die Kapillarelektrophorese zur Analytik pharmazeutischer planzlicher Zubereitungen verwendet (Beispiel > Abb. 9.9). Zum „Fingerprinting“ erweist sich die Spektrometrie im nahen Infrarot (NIR-Spektrometrie) wegen der einfachen Handhabung als gut geeignet (van der Vlies 1994). Sie wurde zunächst nur für die Identitätsprüfung von Arzneiplanzen und ätherischen Ölen eingesetzt (Baranska et al. 2004; Schulz 2004; Schulz u. Lösing 1995, Schulz et al. 2002; Schulz et al. 2004, Schulz u. Baranska 2005), in jüngerer Zeit vermehrt jedoch auch für planzliche Trockenextrakte (Baranska et al. 2005; Schulz 2004; Schulz et al. 1998). Im nahen Infrarot erscheinen die Obertöne von CH-, OH- und NH-Valenzschwingungen. Extrakte ergeben deshalb eine Vielzahl von Absorptionsbanden, deren Muster für ein Produkt typisch ist.
9.4.2
Reinheitsprüfungen
In der PhEur sind für Extrakte allgemein die Überprüfungen der mikrobiologischen Qualität sowie der Schwermetall-, Alatoxin- und Pestizidrückstände vorgesehen. Für Fluidextrakte und Tinkturen ( > Kap. 8.3.3) sind die Bestimmung der relativen Dichte, des Ethanolgehalts, des Gehalts von Methanol und 2-Propanol sowie des Trockenrückstands vorgesehen. Bei Dickextrakten und Trockenextrakten wird in der Regel auf Trockenrückstand, bzw. Trocknungsverlust und Restlösemittel geprüt. Die Bestimmung des Trocknungsverlusts geschieht zur Ermittlung der bei 100–105 °C lüchtigen Stofen. Meist handelt es sich dabei um Wasser, das von den in der Regel hygroskopischen Extrakten aufgenommen wird, und um Lösungsmittelreste, die aus dem Herstellungsprozess zurückgeblieben sind; aber auch natürliche Extraktbestandteile, wie z. B. ätherische Öle, können zu einem
9.4 Qualitätsprüfung von Trockenextrakten
. Abb. 9.8
14/15
12
2
9
1
3
Pentan
7
9
4
13
17
10/ 11
16
5 6
8
12
2
3
15
7
1
Pentan
4
9 17
13 14 16
10/ 11
5 6
8
Verbesserte Trennschärfe bei der Verwendung einer Kapillarsäule (50-m-Glasdünnfilmkapillare) (untere Hälfte) im Vergleich mit einer gepackten 2-m-Trennsäule (obere Hälfte). Trägergas: N2; Temperaturprogramm: 70–200 °C. Untersuchungsobjekt: Blattöl von Ruta graveolens. Identifizierte Peaks: 1 2-Nonanon, 2 2-Nonylacetat, 3 2-Decanon, 4 Nonylisobutyrat + 2-Nonanol, 5 2-Nonylpropionat, 6 n-Nonylacetat, 7 Pregeijeren, 9 2-Nonyl-2-methylbutyrat, 10 2-Undecanon, 11 2-Nonyl-3-methylbutyrat, 12 2-Undecylacetat, 14 2-Undecanol, 15 2-Undecylpropionat, 16 α-Farnesen, 17 2-Undecyl2-methylbutyrat (nach Kubeczka 1991)
Trocknungsverlust führen. Die Bestimmung des Trocknungsverlustes stellt eine Grenzprüfung dar: In den Monographien sind für die einzelnen Extrakte jeweils Höchstgehalte festgelegt. Anmerkung. In der Lebensmittelchemie zieht man zur
Bestimmung des Wassergehalts zunehmend die NIRSpektrometrie heran. Wasserhaltige Proben absorbieren zusätzlich bei 1,94 µm, sodass nach Abzug der Absorption des getrockneten Produkts und nach Kalibrierung eine Bestimmung des Wassergehalts möglich ist ( > Abb. 9.10). Die Dünnschichtchromatographie (DC) wird zur Reinheitsprüfung noch selten als halbquantitatives Verfahren und als Fingerprint-Verfahren eingesetzt. In der
halbquantitativen Ausführungsform eignet sie sich vor allem gut zum Nachweis von Verunreinigungen, mit deren Vorkommen man rechnet. Als Beispiel sei die Prüfung des Rhabarbertrockenextraktes nach DAB 2003 herangezogen. Nach DAB darf die Zone des Rhaponticins nicht nachweisbar sein. Es handelt sich um eine Grenzprüfung: Bei gezielter Anreicherung ist es durchaus möglich, dass sich Rhaponticin auch in authentischer, unverfälschter Weise nachweisen lässt. Die im vorangegangenen Kapitel erwähnte Fingerprint-DC kann helfen, fremde Bestandteile aufzuinden, die seltener autreten. Zu achten ist darauf, ob im Prüfmuster einzelne Zonen fehlen und ob neue Zonen autreten. Als apparativ aufwendigere Trennverfahren werden GC und HPLC für Reinheitsprüfungen dann eingesetzt,
245
246
9
Trockenextrakte als Arzneistoff : Herstellung, Qualitätsprüfung
. Abb. 9.9
Kapillarelektrophoretische Trennung der Opiumalkaloide Morphin (1), Thebain (2), Codein (3), Noscapin (4) und Papaverin (5) aus einem Schlafmohnextrakt sowie zugespiktes Tetracain (6) und Dextrometorphan (7) als potentielle Interne Standards (Höckl 2001)
. Abb. 9.10 E 1,8
1,4
1,0
0,6 1,0
1,4
1,8
2,2
λ [µm] Beispiel für eine photometrische Messung im nahen Infrarot. Gemahlener Weizen: Probe getrocknet (–) und mit 9 Gew.-% Wasser (–·–·–·) (aus Belitz et al. 2001)
wenn die autretenden Verunreinigungen gleichzeitig quantitativ zu bestimmen sind oder wenn sie identiiziert werden müssen. Die Identiizierung einer unbekannten Verunreinigung gelingt in der Regel durch Kombination mit spektroskopischen Methoden, ggf. nach Isolierung der Verunreinigung im Mikromaßstab. Nicht mit einfacher Arzneibuchanalytik nachzuweisen sind die sog. Aubesserungen von Extrakten, die im Verschneiden eines teuren Extrakts mit einem synthetisch hergestellten Leit- oder Wirkstof bestehen, beispielsweise im Zusetzen von synthetischem Bisabolol zu einem bisabololarmen Kamillenextrakt. Um sog. „Aubesserungen“ von Extrakten und ätherischen Ölen nachzuweisen, setzt man chirospeziische Analysenmethoden ein. Im Unterschied zur Biosynthese ergibt die chemische Synthese in der Regel das Razemat. Zu den Analysenmethoden, die es ermöglichen, beide enantiomere Formen zu erfassen, zählt in erster Linie die Kapillar-GC an chiralen Trägermaterialien, z. B. peralkylierten Cyclodextrinen. Die Methode wird auch als enantioselektive Kapillargaschromatographie (enantio-CGC) bezeichnet (Mosandl 1993, 1998). Als alternative Methode kann die Messung von 12C/13C- oder
9.4 Qualitätsprüfung von Trockenextrakten
2H/1H-Isotopenverhältnissen
herangezogen werden (Lawrence 2000; Schmidt et al. 2001).
9.4.3
Prüfung auf Lösungsmittelrückstände
Die zur Extraktion verwendeten Lösungsmittel lassen sich bei der Extraktherstellung nicht restlos entfernen, zumindest nicht ohne hohen technischen Aufwand. Geringe Restmengen verbleiben im Extrakt. Es muss sichergestellt sein, dass die Restmenge unbedenklich ist. Zu Grenzwerten für organische Lösungsmittel in Arzneistofen machen ICH-Richtlinien entsprechende Vorgaben (ICH: Internationale Harmonisierungskonferenz), hinsichtlich der zulässigen Höchstmengen für Wirkstofe, Hilfsstofe und Fertigprodukte. Die zentrale Richtlinie CPMP/ICH/283/95 wurde in die PhEur im Kap. 5.4 implementiert. Alle Substanzen und Produkte zur pharmazeutischen Verwendung sind grundsätzlich auf den Gehalt an Lösungsmitteln, die in der Substanz oder dem Produkt zurück bleiben können, zu prüfen. Diese Lösungsmittelrückstände werden nach der Risikobewertung in drei Klassen eingeteilt. x Klasse 1: gelten als sehr toxisch; sie müssen vermieden werden, oder ihr Einsatz wird begründet (Risiko/Nutzen-Abwägung). x Klasse 2: Lösungsmittel mit geringerer Toxizität; sie sind zu limitieren (z. B. nicht gentoxische, aber im Tierversuch festgestellte karzinogene Stofe, neurotoxische Stofe). x Klasse 3: Lösungsmittel mit geringer toxischer Wirkung. Zur Herstellung von Extrakten werden außer Wasser hauptsächlich die folgenden Lösungsmittel verwendet und in die entsprechende Klasse eingeteilt: x Klasse 3: Ethanol, Ethylacetat, l-Butanol, Aceton, Methylketon und n-Heptan. x Klasse 2: Methanol. Nicht mehr verwendet werden sollen wegen gesundheitlicher Risiken chlorierte Kohlenwasserstofe und Benzol, die zur Klasse 1 gehören. Lösungsmittel der Klasse 3 werden auf maximal 50 mg je Tag, entsprechend 5000 ppm begrenzt. Speziikationen bis zu diesem Gehalt müssen nicht weiter begründet werden. Größere Mengen können ebenfalls akzeptiert werden, vorausgesetzt, sie sind realistisch in Bezug auf die
9
Herstellmöglichkeiten und auf eine gute Herstellpraxis (GMP). Methanol als einziges für Extrakte relevantes Lösungsmittel der Klasse 2 ist auf 30 mg je Tag begrenzt, dieser Wert darf nicht überschritten werden. Wenn nur Lösungsmittel der Klasse 3 bei der Extraktion verwendet werden, kann die Freigabeprüfung mittels Trocknungsverlust mit einer Speziikation von d0,5% erfolgen. Liegen die Gehalte über 0,5% muss die Prüfung mit gaschromatographischen Methoden erfolgen. Es muss grundsätzlich nur auf solche Lösungsmittel geprüt werden, die bei der Extraktion oder bei anderen Produktionsschritten verwendet werden. In der PhEur ist dazu im Kap. 2.4.24 eine Allgemeine Methode „Identiizierung und Bestimmung von Lösungsmittelrückständen“ vorgegeben. Es handelt sich um eine Methode der Headspace-Gaschromatographie. Diese Methode muss für die zu prüfende Substanz oder das zu prüfende Produkt noch validiert werden, sofern diese nicht in der PhEur monographiert sind. Hinweis. Als Headspace (Dampfraum) bezeichnet man die Gasphase, die eine Probe in einem geschlossenen System umgibt.
9.4.4
Prüfung auf Aflatoxine und andere Mykotoxine
Die Prüfung erfolgt in der Regel an den zur Extraktion verwendeten Drogen. Wegen der Bildung von Nestern, die bei einem Probenzug mit vertretbarem Aufwand nicht erfasst werden können, kann es erforderlich sein, diese Prüfung auch beim Extrakt durchzuführen. Dabei gelten die gleichen Regularien wie bei der Prüfung von Drogen ( > Kap. 8.2.4).
9.4.5
Prüfung auf Schwermetalle
Geprüt wird routinemäßig nach einer amtlichen Empfehlung („Kontaminantenempfehlung“, vgl. Kap. 8.2.4) auf Gehalt an Blei, Cadmium und Quecksilber, die einen Höchstgehalt nicht überschreiten dürfen: Blei maximal 5,0 mg/kg Extrakt, Cadmium maximal 0,2 mg/kg Extrakt und Quecksilber maximal 0,1 mg/kg Extrakt. Die Gehaltsbestimmung erfolgt in der Regel nicht im fertigen Extrakt. Es reicht meist aus, lediglich die Gehalte der zu extrahierenden Droge zu bestimmen; in jedem Fall liegen die Schwer-
247
248
9
Trockenextrakte als Arzneistoff : Herstellung, Qualitätsprüfung
metallgehalte im Extrakt unter den errechneten Werten, da sich selbst mit Wasser nur Anteile ot weit unter 100% extrahieren lassen (Ali 1987; Nagell u. Grün 1987; Schilcher et al. 1987). Für Blei wurden Übergangsraten zwischen 0,1 und 87% und für Cadmium zwischen 1 und 68% gefunden. Prüfungen auf Gehalte an Schwermetallen im Endprodukt durchzuführen ist unumgänglich, wenn es sich um Produkte handelt, die aus Ländern ohne efektive Arzneimittelüberwachung importiert werden. Marktübliche Schwermetallgehalte für planzliche Drogen und Zubereitungen wurden publiziert (Chizzola et al. 2003; Kabelitz 1998). In vielen Fällen liegen diese unter den zugelassenen Grenzwerten. Es wurden auch verschiedene Vergiftungsfälle beschrieben (Aslam et al. 1979; De Smet 1992). Sechs Methoden zur Grenzprüfung auf Schwermetalle sind in der PhEur beschrieben. Sie erfassen die Schwermetalle summarisch, es handelt sich um Grenzwertprüfungen. Zur Bestimmung von Elementengehalten stehen daneben die folgenden instrumentellen Analysenverfahren zur Verfügung: x Atomemissionsspektralanalyse, meist in Form des induktiv gekoppelten Plasmas (ICP-AES), x Atomabsorptionsspektroskopie (AAS), x Röntgenluoreszenzanalyse (RFA).
Extraktionsfaktor ergibt sich aus dem Durchschnittswert des nativen Droge-Extrakt-Verhältnisses (DEVnativ) bzw. bei Tinkturen aus dem Verhältnis von Droge zu Auszugsmittel. Beträgt beispielsweise der Grenzwert eines Pestizids 0,5 mg/kg Ausgangsdroge, dann beträgt der Grenzwert 2 mg/kg für einen Trockenextrakt mit einem durchschnittlichen DEVnativ von 4:1 und 0,05 mg/kg für eine Tinktur mit dem Ansatzverhältnis Droge zu Auszugsmittel von 1:10 (Kabelitz 2004).
Quecksilber wird vorzugsweise mittels des zuletzt erwähnten Verfahrens bestimmt.
Für die Keimzahlbestimmung werden Kollektivmethoden verwendet, die so konzipiert sind, dass möglichst viele Keimarten mit unterschiedlichen Nährstofansprüchen erfasst werden. Die Zählung selbst erfolgt entweder direkt auf Agarplatten oder mit Hilfe von Verdünnungsreihen. Zur Keimartbestimmung werden dagegen Selektivmethoden eingesetzt: Die Nährmedien sind so zusammengesetzt, dass sich die zu erfassenden Keime bevorzugt anreichern (speziische Ausnutzung von Stofwechseleigenschaten). Bei der Keimartbestimmung wird auf die folgenden Leitkeime geprüt: Escherichia coli, Pseudomonas aeruginosa, Salmonella-Arten und Staphylococcus aureus. Im Verlauf der Extraktherstellung kann in bestimmten Fällen ein neuerliches Kontaminationsrisiko autreten. In diesen Sonderfällen sind mikrobiologische Begleituntersuchungen als Fertigungskontrollen (Inprozesskontrollen) für jeden wichtigen Teilvorgang vorzusehen. Die Prüfung auf mikrobiologische Reinheit ist sodann auch Teil der Reinheitsprüfung des Endprodukts (Schwarze 1991). Wenn das Endprodukt Konservierungsmittel enthält, muss der Konservierungsstof (z. B. Kaliumsorbat) vor der Bebrütung entfernt werden, um ein ungehindertes An-
9.4.6
Prüfung auf Pestizidrückstände
Die Prüfung erfolgt in der Regel auf der Stufe der Droge ( > Kap. 8.2.4). Im Rahmen der Entwicklung einer Zubereitung muss nachgewiesen werden, dass durch das Herstellverfahren keine Anreicherung stattindet. Kann eine Anreicherung nachgewiesen werden, muss sicher gestellt sein, dass die zulässigen Grenzwerte eingehalten werden. Die für getrocknete oder frische Planzen festgelegten Grenzwerte werden unter Berücksichtigung des Herstellverfahrens auch für daraus hergestellte Zubereitungen angewendet. In der PhEur wird dazu ausgeführt: „Wenn die Droge für die Herstellung von Extrakten, Tinkturen oder anderen pharmazeutischen Zubereitungen bestimmt ist, deren Herstellungsverfahren auf den Pestizidgehalt im Fertigprodukt Einluss hat, werden die Grenzwerte unter Anwendung eines beim Herstellungsverfahren experimentell bestimmten Extraktionsfaktors festgelegt“. Dieser
9.4.7
Bestimmung der mikrobiologischen Reinheit
Nichtsterile pharmazeutische Wirkstofe, zu denen Trockenextrakte zählen, dürfen bestimmte Krankheitserreger nicht enthalten, und die Zahl der vermehrungsfähigen Keime darf gewisse Richtwerte nicht überschreiten. Dementsprechend umfasst die Prüfung der PhEur auf mikrobielle Verunreinigung bei sterilen Produkten zwei Methoden: x Zählung der gesamten lebensfähigen Keime, x Nachweis speziizierter Mikroorganismen, das ist der Nachweis bestimmter „Leitkeime“, die im Umfeld des Menschen als pathogene Arten häuig vorkommen.
9.4 Qualitätsprüfung von Trockenextrakten
wachsen der Keime zu ermöglichen. Das Konservierungsmittel lässt sich bei Anwendung der Membraniltermethode PhEur durch Auswaschen bequem abtrennen. Planzliche Zubereitungen müssen der Kategorie 3B der PhEur entsprechen.
9.4.8
Prüfung auf sonstige Kontaminanten
Ethylenoxid. Nach einer Verordnung über ein Verbot der
Verwendung von Ethylenoxid bei Arzneimitteln vom 11. August 1998 ist es verboten, bei der Herstellung von Arzneimitteln, die aus Planzen oder Planzenteilen bestehen, Ethylenoxid zu verwenden. Andere Begasungsmittel: Sind nicht grundsätzlich verboten. Die diesbezügliche Rückstandsanalytik erfolgt in der Regel an den Drogen und nicht mehr an daraus hergestellten Zubereitungen und Fertigprodukten (vgl. Kap. 8.2.4). Radioaktivität. Die diesbezügliche Messung erfolgt in der
Regel an den Drogen und nicht mehr an daraus hergestellten Zubereitungen und Fertigprodukten.
9.4.9
Gehaltsbestimmung
Bestimmt werden die Gehalte an wirksamen oder pharmazeutisch relevanten Inhaltsstofen und, wenn solche Inhaltsstofe nicht bekannt sind, ersatzweise an Leitsubstanzen. Die Bestimmungsmethoden erfassen entweder Gruppen von Inhaltsstofen (z. B. ätherische Öle, C-Glucosyllavone, Flavonole, Gesamtalkaloide, Anthranoide), oder Einzelstofe (z. B. Arbutin). Für weitaus die meisten der als Arzneistofe verwendeten planzlichen Trockenextrakte sind keine speziellen Arzneibuchmethoden beschrieben, ot aber Methoden für die Ausgangsdroge. In der Regel lässt sich die Arzneibuchmethode der Droge auch zur Gehaltsbestimmung des daraus hergestellten Trockenextrakts übertragen. Zur Gehaltsbestimmung werden heute jedoch vorzugsweise HPLC- und GC- sowie in wenigen Fällen DC-Methoden eingesetzt.
Bestimmungen mittels GC und HPLC Die Abgrenzung der Einsatzgebiete von GC und HPLC ergibt sich eindeutig aus den stolichen Eigenschaten der
9
zu bestimmenden Substanzen. Die GC ist immer dann geeignet, wenn die zu bestimmenden Stofe unzersetzt in den gasförmigen Zustand überführt werden können. Somit liegt der Schwerpunkt des Einsatzes der GC bei der Analyse von Extrakten, die ätherisches Öl enthalten. Aber auch Komponenten, die unter normalen Arbeitsbedingungen nicht lüchtig sind, können mittels GC analysiert werden, vorausgesetzt, sie können zu lüchtigen Verbindungen derivatisiert werden, was sich ot durch Silylierung erreichen lässt. Das Verfahren der HPLC hat sich zum Standardverfahren bei der Analyse von vielen planzlichen Substanzen bzw. Substanzgruppen entwickelt. Dabei werden die Analyten aufgrund ihrer unterschiedlichen Wechselwirkungen zwischen mobiler Phase (Fließmittel) und stationärer Phase (Säulen-Packmaterial) getrennt. Die meisten Naturstofe werden vor allem nach einem Prinzip der Umkehrphasen-Chromatographie (RP, „reversed phase“) getrennt. Dabei werden chemisch modiizierte stationäre Kieselgelphasen verwendet. Bei der Modiikation wird die ursprünglich polare Oberläche des Trägers (z. B. Silanolgruppen) durch Umsetzung mit Alkylreagenzien wie Octylgruppen (C8-Material) oder Octadecylgruppen (C18-Material) hydrophobisiert. Die Umsetzung ist technisch bedingt nicht vollständig, sodass immer freie polare Silanolgruppen verbleiben. Diese freien Gruppen können durch verschiedene Materialien substituiert werden („endcapping“). Je nach Umfang und Art der Substitution haben die resultierenden Endcapped-Trägermaterialien unterschiedliche Trenneigenschaten. Relativ neu ist ein Endcapping-Substituent, der das bei C18-Phasen übliche Kollabieren der Alkanketten bei 100% wässriger Phase verhindert (Material Aqua). Damit ergeben sich neue Möglichkeiten zur Analyse von stark polaren Substanzen in wässrigen Lösungen. Nach der chromatographischen Stotrennung steht in der HPLC eine Vielfalt von Detektionsmöglichkeiten zur Verfügung. Ein Detektor hat in einem HPLC-System die Aufgabe, die eluierte Substanz zu erkennen und ein der Konzentration proportionales elektrisches Signal zu erzeugen, das dann in einem Schreiber aufgezeichnet wird. Am häuigsten verwendet werden UV-Vis-Detektoren, Brechungsindexdetektoren und Fluoreszenzdetektoren. Darüber hinaus gibt es Detektoren für spezielle Zwecke, z. B. Leitfähigkeitsdetektoren, die meist in Verbindung mit Ionenaustauschern verwendet werden (Ionenaustauschchromatographie). Im pharmazeutischen Bereich kann dieses IEC-Verfahren zur Bestimmung von Glucosinola-
249
250
9
Trockenextrakte als Arzneistoff : Herstellung, Qualitätsprüfung
. Abb. 9.11
2
1
3
4
240
5 nm
400 240
5 nm
400 240
5 nm
400 240
5 nm
400
Probe 4.680
Referenz 5.289
Attn Probe 147 8.660
Referenz 5.289
Attn Probe 43 10.197
Referenz 5.289
Attn Probe 9 12.253
Referenz 5.289
Attn 21
1
4
2
335 nm
3
0
10
[min]
20
Beispiel für die Trennung eines Extrakts, hier eines Kamillenextraktes, mittels HPLC-Analyse und Diodenarray als Detektor (Dölle et al. 1985). Die Substanzen des Gemisches werden nicht nur durch ihre Retentionszeit, sondern zusätzlich durch ihre UV/Vis-Spektren identifiziert. Mit der Methode lässt sich prüfen, ob ein chromatographischer Peak aus nur einer Substanz besteht: Das Verhältnis der Absorptionen bei 2 verschiedenen Wellenlängen muss bei Messungen über den gesamten Peakbereich hinweg konstant bleiben; außerdem muss das Spektrum der den Peak repräsentierenden Substanz mit dem einer authentischen Probe übereinstimmen. 1 Apigenin-7-glucosid, 2 Herniarin, 3 Apigenin-7-acetylglucosid, 4 Apigenin
ten verwendet werden (Fiebig et al. 1989). Die quantitative Auswertung der Chromatogramme erfolgt dabei über eine Eichkurve mit Kaliumsulfat in Wasser. Ein wichtiger Aspekt bei der HPLC-Trennung ist die sichere und eindeutige Identiizierung der eluierten Substanzen. Für die quantitative Bestimmung besonders wichtig ist es, sicherzustellen, dass der zu messende „Peak“ einheitlich zusammengesetzt ist. Der Diodenarraydetektor bietet die Möglichkeit zur Aufnahme vollständiger Spektren im UV-Vis-Bereich während der Entwicklung eines Chromatogramms innerhalb von Millisekunden. Die spektrale Information neben der Retentionszeit eines Stofes hat Bedeutung auch zur Identiizierung unbekannter Substanzen. Ein Beispiel eines mit einem Diodenarraydetektor aufgenommenen HPLC-Chromatogramms bringt > Abb. 9.11.
Zur Identiizierung unbekannter Substanzen unmittelbar nach der chromatographischen Trennung werden die HPLC neben dem Diodenarraydetektor auch in Verbindungen mit Massenspektrometrie herangezogen ( > Abb. 9.12). Zur Massenspektrometrie geeignet sind an und für sich vorzugsweise die Analytmoleküle, die thermostabil und hinreichend lüchtig sind. Verfahren wie die sog. hermospraytechnik ermöglichen es, auch polare, nichtlüchtige Inhaltsstofe, wie beispielsweise Saponine (Hostettmann et al. 1997; Maillard u. Hostettmann 1993), oder kleinere Proteine von ca. 5000 bis 40.000 Da (Förster 1991) der Massenspektrometrie zuzuführen. Beim hermosprayverfahren (TSP) wird das Eluat in eine auf 200– 300 °C geheizte Stahlkapillare eingegeben; es verlässt die Kapillare als Strahl von Dampf und Aerosolteilchen. Die
. Abb. 9.12
9.4 Qualitätsprüfung von Trockenextrakten
HPLC-Chromatogramm (350 nm) einer fixen Kombination aus Birkenblätter-, Goldrutenkraut- und Orthosiphonblätter-Extrakt mit 56 zugeordneten Substanzen. Die Peaks 30 (Myricetin-3-O-galactosid), 41 (Isorhamnetin-3-O-rhamnoglucosid) und 50 (Sinensetin) werden zur chargenbezogenen Bestimmung der Extrakte im Fertigprodukt verwendet. Die mengenmäßig dominierenden phenolischen Verbindungen Chlorogensäure (14), Quercetin-3-O-glucosid (35) und Quercetin-3-O-rhamnosid (38) können nicht als Leitsubstanzen für die chargenspezifische Kontrolle verwendet werden, weil sie nicht in allen drei Extrakten jeweils spezifisch vorkommen. Die Identität der Peaks wurde mittels HPLC-MS verifiziert; beispielhaft ist das MS-Spektrum für Peak 38 (Quercetin-3O-rhamnosid) dargestellt (Wittig 2001)
9 251
9
Trockenextrakte als Arzneistoff : Herstellung, Qualitätsprüfung
Ionisation erfolgt auf chemischem Wege durch Ladungsaustausch nach Zusatz lüchtiger Salze, z. B. von Ammoniumsalzen. Auf Übersichtsarbeiten sei verwiesen (z. B. Förster 1991; He 2000; Hostettmann u. Marston 2002; Stecher et al. 2002). Die Anwendungsmöglichkeiten der HPLC zur quantitativen Bestimmung von Extraktbestandteilen, wie überhaupt die Methoden der Qualitätskontrolle insgesamt, sind so vielfältig, dass im vorliegenden Rahmen nicht im Detail eingegangen werden kann.
Bestimmungen mittels DC
x densitometrisch, meist als Remissionsmessung im UV oder als Fluoreszenzmessung. Beispiel: Alatoxinbestimmung in Lebensmitteln nach der Amtlichen Methodensammlung. Bei Verwendung von HPTLC-Platten auch zur Messung von Alatoxinen in planzlicher Matrix geeignet. Die DC kann auch in einer Überdruckkammer durchgeführt werden, wodurch Trennleistungen erzielt werden, die denen der HPLC vergleichbar sind. Die Überdruckschichtchromatographie (OPLC) liefert Chromatogramme, die gut densitometrisch auswertbar sind (DallenbachTölke et al. 1987). > Abbildung 9.13 zeigt ein HPLC- und ein OPLC-Chromatogramm im Vergleich. Die zur Gehaltsbestimmung heute weitaus wichtigste Methode ist die HPLC. Im Vergleich zur DC imponiert die wesentlich höhere Trennleistung. Da die zu trennenden Substanzen nicht verdampt sein müssen wie bei der Gaschromatographie, hat sich die HPLC zur quantitativen Bestimmung einzelner Inhaltsstofe in der komplexen Matrix eines Extrakts als Routinemethode etabliert. Q-Ara(p) Q-Rha
Drei Varianten sind geläuig, von denen die densitometrische die wichtigste ist: x Vergleich der Fleckengröße mit der Fleckengröße von Eichsubstanzen bekannter Konzentration; x Abkratzen der Zonen, Elution und photometrische Bestimmung mit oder ohne Derivatisierung. Hinweis: nicht als Arzneibuchmethode gebräuchlich; . Abb. 9.13
OH O
HO
R1 O
O
R2
-
-
Rutinose Glucuronsäure Galactose Galactose Arabinopyranose Rhamnose Arabinofuranose
H H OH H H H H
10
Q-Rha
Q-Ara(f)
20
My-Gal
Q-Ara(p)
Rutin
Q-Gluc
0
Q-Gluc
Q-Gal
Rutin
OH
R1
R1
Q-Ara(f)
OH
Q-Gal
Symbol Rutin Q - Gluc My - Gal Q - Gal Q - Ara(p) Q - Rha Q - Ara(f)
My-Gal
252
30 [min]
0
0,5 Rf
HPLC-Chromatogramm (Umkehrphase) eines Birkenblattextraktes (links) im Vergleich mit einem OPLC-Densitogramm (rechts). (Nach Dallenbach-Tölke et al. 1987). My Myricetin, Q Quercetin
9.4 Qualitätsprüfung von Trockenextrakten
9.4.10
Stabilitätsuntersuchungen
Unter der Stabilität einer planzlichen Arzneizubereitung versteht man das Unverändertbleiben der pharmazeutischen Qualität bei üblichen oder genau vorgeschriebenen Lager- und Transportbedingungen. Qualitätsmindernde Veränderungen treten in Planzenextrakten infolge physikalischer und chemischer Prozesse sowie durch mikrobielle Verunreinigungen auf. Es kann zu Wechselwirkungen von Extraktbestandteilen untereinander, mit Resten von Lösungsmitteln (Wasser, Ethanol) mit Stabilitätszusätzen, mit katalytisch wirkenden Schwermetallionen und mit Material des Behälters kommen ( > Tabelle 9.6). Die Stabilität einer planzlichen Arzneizubereitung ist folgendermaßen zu erfassen: x organoleptisch (fremdartiger Geruch oder Geschmack), x physikalisch (z. B. Änderung von Löslichkeit, Homogenität und Farbe), x chemisch (z. B. Abnahme des Gehalts an Wirkstofen oder Leitsubstanzen, Veränderung der Fingerprints, Prüfung auf evtl. Abbauprodukte), x mikrobiologisch (z. B. Bestimmung der Keimzahl). Die Haltbarkeitsdauer von Trockenextrakten wird auf Grund von Haltbarkeitsprüfungen festgelegt. Die im Rahmen der Internationalen Harmonisierungskonferenz (ICH) erarbeitete Leitlinie „Stability Testing of Existing Active Substances and Related Finished Products“ (CPMP/ QWP/556/96 bzw. deren im Januar 2003 erschienene Neufassung CPMP/QWP/122/02) wird von den Zulassungsbehörden auch für planzliche Arzneimittel und deren Ausgangsstofe angewendet. Demnach müssen grundsätzlich für alle Ausgangsstofe und Fertigarzneimittel ICH-konforme Untersuchungen durchgeführt werden. Unter Ausgangsstofen i. S. d. ICH-Leitlinie sind arzneilich wirksame Bestandteile (planzliche Wirkstofe) zu verstehen, die der PhEur-Monographie „Zubereitungen aus planzlichen Drogen“ (5.0/1434) entsprechen. Zubereitungen aus planzlichen Drogen, die vor der Weiterverarbeitung nur kurzfristig gelagert werden, wie Schnittdrogen für Teemischungen, Fluid- oder Spissumextrakte, sind von der Erfordernis einer Stabilitätsprüfung für Ausgangsstofe ausgenommen (Hose et al. 2004). Die Prüfung erfolgt bei drei unterschiedlichen Einlagerungsbedingungen: x Langzeitprüfung (25 °C/60% r. F.): Prüfrequenz ausreichend, um das Stabilitätsproil zu etablieren, z. B.
9
alle 3 Monate im 1. Jahr, alle 6 Monate im 2. Jahr, danach jährlich. x „Accelerated“ Prüfung (40 °C/65% r. F.): mindestens 3 Prüfzeitpunkte (z. B. 0, 3, 6 Monate). x Intermediäre Prüfung (30 °C/60% r. F.) (alternativ zur „accelerated“ Prüfung, wenn dort instabil): mindestens 4 Prüfzeitpunkte (z. B. 0, 6, 9, 12 Monate). Für die Anzahl der zu prüfenden Chargen gibt es zwei Optionen: 1. 6 Monate, mindestens 2 Produktionschargen, 3. Produktionscharge nach Zulassung 2. 12 Monate, mindestens 3 Technikumschargen (gleicher Syntheseweg und Herstellverfahren); 3 Produktionschargen nach Zulassung. Die Einlagerung für eine Stabilitätsuntersuchung muss innerhalb von 3 Monaten nach der Herstellung der Zubereitung erfolgen. Bei diesen Untersuchungen gilt eine planzliche Zubereitung so lange als stabil, wie sie innerhalb der Laufzeitspeziikation bleibt ( > Tabellen 9.9 und 9.11). Für den Wirkstofgehalt der drei unterschiedlichen Extrakttypen bedeutet das: x standardisierte Extrakte: ±5% des Startwerts der wirksamen Inhaltsstofe; x quantiizierte Extrakte: Zu dieser Gruppe von Extrakten gibt es noch keine regulatorischen Vorgaben; x andere Extrakte: ±5 bis maximal 10% des Startwerts für die bei der Stabilitätsprüfung betrachtete Leitsubstanz. Die Auswahl der Leitsubstanzen für die Haltbarkeitsprüfung ist dabei von zentraler Bedeutung, da der Abbau der verschiedenen Inhaltsstofe unterschiedlichen Kinetiken folgt. So sind z. B. im Hopfenextrakt die Humulone wesentlich instabiler als die Lupulone oder das Xanthohumol ( > Tabelle 9.7). Noch stabiler sind die im Hopfenextrakt enthaltenen Flavonole Rutin und Quercetin. Gerade sie werden in der heutigen Praxis bei Haltbarkeitsprüfungen als Leitstofe verwendet, obwohl sie als weit verbreitete Planzenstofe für Hopfenextrakte wenig typisch sind. Stabilitätsprüfungen von planzlichen Zubereitungen werden ergänzt durch Fingerprint-Verfahren, am häuigsten durch Fingerprint-DC: Die über die Laufzeit des Extrakts oder des den Extrakt enthaltenden Präparates erhaltenen Chromatogramme müssen mit den Ausgangschromatogrammen übereinstimmen.
253
254
9
Trockenextrakte als Arzneistoff : Herstellung, Qualitätsprüfung
. Tabelle 9.7 Orientierende Stabilitätsprüfung der Leitsubstanzen (Humulone, Lupulone, Xanthohumol) nach Einarbeitung eines Hopfenextraktes (siccum spirituosum) in Dragees. (Aus Hänsel u. Schulz 1986) Lagerdauer (Temperatur [°C])
Ausgangswerte
Gehalt [mg] in 100 Dragees Humulone
Lupulone
Xanthohumol
338
244
33
308
244
33
(Messwerte nach Fertigung) 3 Monate
Raumtemperatura
3 Monate
ca. 41°
88
240
32
3 Monate
ca. 71°
21
224
26
6 Monate
21°b
327
240
30
6 Monate
Raumtemperatura
251
240
31
6 Monate
ca. 41°
40
218
24
6 Monate
ca. 71°
Tabellen 9.8 bis 9.11 sind entsprechende Beispiele dargestellt.
9.5 Spezifikation von Extrakten
9
. Tabelle 9.8 Beispiel für die Freigabespezifikation eines quantifizierten Extrakts. Freigabespezifikationen für Trockenextraktzubereitung aus Alexandriner-Sennesfrüchten (6–12:1) Analysenmethode a
Prüfung
Freigabespezifikation
Eigenschaften Eigenschaften
Visuell
Braunes bis rötlichbraunes Pulver
Korngröße
Mikroskopisch
Min. 95% Abb. 10.2). Die aus Kokainpulver, dem Cocainhydrochlorid, durch Zugabe von Backpulver (Natriumhydrogencarbonat) und Wasser unter Erhitzen sich bildenden weißen Kristalle – in der Drogenszene als „Steine“ oder „Rocks“ bezeichnet – können geraucht werden: Aus dem bei 195 °C schmelzenden, nichtlüchtigen Cocainhydrochlorid bildet
263
264
10
Pflanzliche Fertigarzneimittel
sich die bereits bei 95 °C gut lüchtige Cocainbase. Da die „Steine“ beim Erhitzen knackende Geräusche von sich geben, hat dieses Kokainprodukt den Namen „Crack“ (engl.: knallen, knacken) erhalten. Beim Inhalieren von cocainhaltigem Rauch gelangt Cocain über die Lungen in die Blutbahn. Innerhalb von 5–7 s kommt es zur maximalen Anlutung im Gehirn; ein entsprechend maximaler Efekt – der „Kick“ (engl.: hochliegen) – wird erzielt. Nach intravenöser Injektion vergehen 30–45 s, bei nasaler Anwendung 3–5 min und bei oraler Zufuhr 15 min, bis der Cocainefekt vom Süchtigen wahrgenommen wird. Weitere Beispiele. Die ätherischen Öle werden in unter-
schiedlichen Arzneiformen angeboten, wobei einer bestimmten Arzneiform zwei verschiedene Applikationsmodi zugeordnet werden können. Es trit das für die topisch zu applizierenden Expektoranzien und für die Badezusätze mit ätherischen Ölen zu. Bei den als Husteneinreibungen oder auch als Erkältungsbalsam bezeichneten Arzneiformen handelt es sich meist um Salben, seltener um Lösungen auf Öl- oder Parainbasis, in die ätherische Öle inkorporiert sind. Eine bestimmte Menge wird auf die Brust- und Rückenhaut aufgetragen. Als lipophile Stofe gelangen Anteile der Öle durch die Haut in den Blutkreislauf und in die Bronchialschleimhaut. Ein nicht näher bekannter Prozentsatz verdampt auf der warmen Haut und wird eingeatmet. Als Badezusätze werden ätherische Öle in den folgenden Formen angeboten: als Badesalze, als Badeöle und als Badeessenzen, wobei Letztere einfach ätherische Öle ohne Zusätze darstellen. Wegen der großen resorbierenden Hautläche werden mehr noch als bei den Einreibemitteln große Anteile resorbiert. Teile wiederum der resorbierten Bestandteile des ätherischen Öls werden mit der Atemlut ausgeschieden und können die Expektoration beeinlussen (Kohlert et al. 2000). Zu der perkutan resorbierten und exhalierten Menge kommt dann als weiterer Anteil das mit der Lut über dem Badewasser inhalierte ätherische Öl.
10.1.2
Herstellung flüssiger Arzneizubereitungen aus Trockenextrakten
Fertigarzneimittel, die als Tropfen oder Lösungen angeboten werden, ähneln ihren einfachen galenischen Prototypen: den Tinkturen und Fluidextrakten. Hergestellt werden sie meist durch Lösen von Trockenextrakten
. Abb. 10.3 Pflanzenextrakt, z.B. Baldriantrockenextrakt lösen im Lösungsmittelgemisch Vorfiltration (Filter 300 µm) Zusatz von Filterhilfsmitteln (Standzeit 24 h) Stufenfiltration (Filter 3000 / 500 / 100 µm) Lagerung 10 Tage 10-15 ˚C Endfiltration (Filter 100 µm)
Schema zur Herstellung flüssiger pflanzlicher Arzneimittel durch Lösen von Trockenextrakten
( > Abb. 10.3), seltener von Dünn- oder Dickextrakten, in einem Lösungsmittelgemisch: Ethanol-Wasser oder seltener Glycerol-Propylenglykol-Wasser. Die Herstellung durch Lösen ist, im technischen Maßstab durchgeführt, nicht so einfach, wie man vermuten möchte. Es kann bei der Lagerung des Fertigarzneimittels zu Trübungen und Ausfällungen kommen. Überdies muss die Stabilität des Produkts für eine bestimmte Laufzeit garantiert werden: In Lösung kommt es rascher zu chemischen Umsetzungen als im Trockenextrakt. Zu den Negativpunkten von Fertigarzneimitteln als Liquida (Tropfen) zählt ihr Ethanolgehalt. Ethanol durch andere Lösungsmittel zu ersetzen, ist an und für sich wünschenswert (WHO-Agenda vom 15.05.1987, betr. Empfehlung, Alkohol in Arzneimitteln durch nichtalkoholische Stofe zu ersetzen), es ist nur schwer, einen adäquaten Ersatz zu inden. Mischungen von Glycerol-Propylenglykol-(1,2-Propandiol-)Wasser sind seit vielen Jahren, vor allem in Frankreich, in der Erprobung. Über unerwünschte Wirkungen liegen bisher keine Veröfentlichungen vor. Bei lüssigen Arzneiformen muss auch eine sachgerechte Konservierung der Präparate beachtet werden. Bei Alkoholkonzentrationen über 15% bzw. entsprechenden Konzentrationen von Propylenglykol ist in der Regel eine sichere Konservierung gegeben. Im Einzelfall kann in Abhängigkeit von der speziellen Zubereitung (z. B. mikrobieller Status der Ausgangsdrogen) ein Zusatz von Konservierungsmitteln (Sorbinsäure und Salze, pHB-Ester, Ben-
10.1 Arzneiformen
zoesäure) erforderlich werden. Die ausreichende Konservierung muss jeweils durch Belastungstests (Prüfung auf ausreichende Konservierung) überprüt werden.
10.1.3
Herstellung fester Arzneiformen aus Trockenextrakten
Planzliche Trockenextrakte werden in Form von Granulaten (in dosierten Beuteln), Tabletten, Kapseln und Dragees angeboten. Im Vergleich mit synthetischen Arzneistofen bietet die Verarbeitung von Trockenextrakten zu Tabletten und Dragees die folgenden Schwierigkeiten: x Für standardisierte Extrakte keine konstante Einwaage des Arzneistofs, sondern je nach Charge variabel. Beispiel: Um den Gehalt von 50 mg Aescin pro Kapsel zu sichern, schwankt die Extrakteinwaage zwischen 250 und 300 mg/Kapsel. x Hohe Einwaage an Arzneistof pro Kapsel. Beispiel: Baldrianextrakt (5:1) 400–500 mg/Kapsel, zum Vergleich: Nitrazepam 5 oder 10 mg/Kapsel. x Trockenextrakte lassen sich ot schwer verarbeiten: Sie sind hygroskopisch, weisen ot hohe Schüttdichte und schlechte Fließeigenschaten auf. x Lipophile Bestandteile von Trockenextrakten bedingen ot schlechte Zerfallseigenschaten der Arzneiform. Um diesen besonderen Schwierigkeiten bei der Verarbeitung von Trockenextrakten begegnen zu können, sind in den letzten Jahrzehnten spezielle Herstellungstechnologien entwickelt worden, auf die hier im Detail nicht eingegangen werden kann. Erwähnt sei der Einsatz von Hilfsstofen, insbesondere der hochdispersen Siliciumdioxide (Aerosile). Bei einem Volumen von ca. 15 ml und einem Gewicht von 1 g besitzen Aerosile eine Oberläche von 100–400 m2 (!). Sie können bis zu 40% Feuchtigkeit aufnehmen, ohne den Habitus eines trockenen Pulvers zu verlieren. Feuchte, hygroskopische Trockenextrakte erlangen durch Zumischen von Aerosilen den Charakter eines rieselfähigen Pulvers. Neben hochdispersen Siliciumdioxiden verwendet man auch Magnesiumstearat, um Extrakte zur Weiterverarbeitung geeignet zu machen. Zahlreiche Rezepturbeispiele für Extrakttabletten inden sich bei List u. Schmidt (1984). Um Trockenextrakte zur Verpackung in Hartgelatinekapseln vorzubereiten, geht man ähnlich vor wie bei der Tablettenherstellung: Die Extrakte müssen zuvor granu-
10
liert werden. Ohne die Granulatzwischenstufe durchlaufen zu haben, sind speziell sprühgetrocknete Trockenextrakte viel zu voluminös, d. h. ihre Schüttdichte ist zu gering, um in Kapseln der üblichen Größe abfüllbar zu sein. Die Verarbeitung von Trockenextrakten zu Weichgelatinekapseln verursacht hingegen technisch keine besonderen Schwierigkeiten. Die in der Regel hygroskopischen Extrakte lassen sich fein gepulvert leicht mit lipophilen Dispersionsmitteln in pumpbare Suspensionen überführen und nach dem Scherer-Verfahren verkapseln (List u. Schmidt 1984). Schwieriger ist es, das geeignete Dispersionsmittel als Kapselfüllgut zu inden: u. U. sind die wirksamkeitsbestimmenden Inhaltsstofe aus den lipophilen Medien nicht mehr bioverfügbar.
10.1.4
Pflanzliche Parenteralia
Bei planzlichen zur i.v.- oder i.c.-Injektionen bestimmten Präparaten besteht eine Schwierigkeit darin, Trübungen und Ausfällungen zu verhindern. Unter Umständen müssen störende, schlecht lösliche Extraktivstofe durch Filtration über Adsorbenzien oder durch Abtrennung über Säulen entfernt werden. Die Anwendung von Injektionspräparaten ist stark rückläuig und auf einige wenige Sonderfälle – verschiedene Typen von Mistelpräparaten – beschränkt. Generell wird die Verträglichkeit von parenteral applizierten Planzenextrakten, v. a. von den Zulassungsbehörden, kritisch gesehen. Ofensichtlich waren besonders in früheren Jahren viele Präparatechargen endotoxinhaltig (Becker et al. 1988). Wegen der allgemeinen Bedeutung der Endotoxine als Reinheitskriterium für Parenteralia wird im folgenden Anhang auf diese hematik eingegangen. Infobox Prüfung auf Bakterientoxine. Die Prüfung auf Bakterienendotoxine nach PhEur ist eine Art Ersatzprüfung anstelle der direkten tierexperimentellen Prüfung auf Pyrogene (griech.: pyr [Feuer], genao [erzeugen]). Der Kaninchentest auf Anwesenheit von pyrogenen Substanzen in parenteralen Zubereitungen ist durch einen Labortest ohne Verwendung von Wirbeltieren ersetzt worden. Die Abwesenheit von Bakterienendotoxinen wird gleichgesetzt mit der Abwesenheit pyrogener Komponenten. Diese Annahme trifft
6
265
266
10
Pflanzliche Fertigarzneimittel
fast immer zu, auch wenn das Vorhandensein von nichtendotoxinen Pyrogenen nicht völlig ausgeschlossen ist. Zum stofflichen Aufbau der Endotoxine > Kap. 22.6 (Lipopolysaccharide, LPS). Bringt man in vitro eine endotoxinhaltige Lösung in Kontakt mit Blut von Wirbeltieren, so wird eine beschleunigte Blutgerinnung induziert. Ursächlich dafür sind die Aktivierung des Blutgerinnungsfaktors XII (des sog. Hagemann-Faktors) und die Stimulierung der Freisetzung von TF (Transferfaktor) aus Leukozyten. Ähnlich reagiert das Blut wirbelloser Tiere. Das Lysat aus den Wanderzellen (Amöbozyten) des Pfeilschwanzkrebses (Limulus polyphemus) enthält ein Protein, das ein Gel bildet, wenn es mit nur 0,0005 mg LPS/ml Lösung in Kontakt kommt (Levin u. Bang 1964). Limulusamöbozytenlysat verwendet man nach PhEur zur Prüfung von Arzneimitteln auf Vorkommen von Bakterienendotoxinen (LAL-Test). In der Monographie werden Anforderungen an den Gehalt an Bakterienendotoxinen in Form eines Grenzwerts angegeben.
10.1.5
Validierung der Herstellung (Prozessvalidierung)
Die Prozessvalidierung betrachtet und evaluiert die kritischen Parameter, die die Produktqualität bzw. Prozesssicherheit beeinlussen. Die Ermittelung kritischer Parameter ist bereits Bestandteil der Entwicklungs- und Optimierungsphasen des Prozesses. In diesen Phasen soll die Herstellungsmethode begründet und überprüt werden, welche Inprozesskontrollen notwendig sind. Der erforderliche Aufwand für die Prozessvalidierung hängt von der Art des Herstellungsverfahrens und der Natur der damit
produzierten Produkte zusammen. Im Rahmen der Prozessvalidierung wird beispielsweise untersucht x welchen Einluss die Verwendung unterschiedlicher Rohstofchargen und Rohstofe mit unterschiedlicher Speziikation auf den Herstellprozess haben, x welcher Einluss auf hergestellte Validierungschargen festzustellen ist, wenn diese von unterschiedlichen Mitarbeitern an unterschiedlichen Tagen hergestellt werden, und – falls dies infrage kommt – auf unterschiedlichen Maschinen hergestellt wurden. Wenn Unterschiede festgestellt werden, müssen die jeweils kritischen Herstellungsschritte lokalisiert und eine adäquate Prozesskontrolle etabliert werden. In diesem Rahmen wird auch evaluiert, ob die vorgesehenen Inprozesskontrollen angemessen sind und ausreichen, um die erforderliche Prozesssicherheit zu gewährleisten.
10.2
Qualitätssicherung von Fertigarzneimitteln
Die Qualitätssicherung von Fertigprodukten erfolgt heute vor allem über technologische und analytische Prüfungen im Rahmen der Produktfreigabe. Dabei wird die Einhaltung von gesetzten Speziikationen überprüt. Zur beispielhaten Darstellung solcher Speziikationen > Tabellen 10.2 und 10.3. Dieser Weg einer Qualitätskontrolle über die Überprüfung verschiedener Parameter zu Identität, Reinheit, Gehalt und galenischen Eigenschaten der Darreichungsform wird heute immer häuiger kritisch hinterfragt. Dabei werden alternative Konzepte vorgeschlagen, die sich sehr viel stärker an einer sehr detaillierten Beschreibung und Kontrolle aller zur Herstellung ver-
. Tabelle 10.2 Beispiel für eine Freigabespezifikation eines Fertigprodukts mit einem „Standardisierten Extrakt“: Extractum-SennaeDragees eingestellt auf 10 mg Hydroxyanthracen-Derivate Prüfung
Analysenmethode
Freigabespezifikation
Visuell
Glatte, orange Dragees
Schieblehre Prüfvorschrift, Prüfvorschrift ncc1701
10,1±0,3 mm
Merkmale der Arzneiform: Farbe/Form/Aussehen Pharmazeutische Prüfungen: Abmessungen: Durchmesser Höhe
5,6±0,3 mm
10.2 Qualitätssicherung von Fertigarzneimitteln
10
. Tabelle 10.2 (Fortsetzung) Analysenmethode
Freigabespezifikation
Dichtigkeit der Lackhülle
Visuell, Prüfvorschrift ncc1701
Lackhülle muss unversehrt sein
Bruchfestigkeit
PhEur, 2.9.8 Prüfvorschrift ncc1701
50–120 N
Wassergehalt
PhEur, 2.5.12 Prüfvorschrift ncc1701
≤5,0%
Mittleres Drageegewicht (n=20)
Prüfvorschrift ncc1701
450 mg ± 22,5 mg
Zerfallszeit
PhEur, 2.9.1 Prüfvorschrift ncc1701
Max. 60 min in Wasser
In-vitro-Freisetzung
Prüfvorschrift ncc1701
Q-Wert 75%, nach 30 min
Trockenextrakt aus Alexandriner-Sennesfrüchten
DC-I, Prüfvorschrift ncc1701
Die spezifischen Zonen im Chromatogramm von Probe- und Vergleichslösung müssen in Bezug auf Lage und Farbe übereinstimmen
Gelborange
DC-II, Prüfvorschrift ncc1701
Die Hauptzonen im Chromatogramm der Untersuchungslösung entsprechen in Bezug auf Lage, Farbe und Größe den Hauptzonen im Chromatogramm der Referenzlösungen
Chinolingelb
DC-II, Prüfvorschrift ncc1701
Die Hauptzonen im Chromatogramm der Untersuchungslösung entsprechen in Bezug auf Lage, Farbe und Größe den Hauptzonen im Chromatogramm der Referenzlösungen
Titandioxid
Farbreaktion, Prüfvorschrift ncc1701
Prüfung
Identität:
Gelb-gelborange Färbung
Reinheit: Aloe-Emodin
HPLC-II, Prüfvorschrift ncc1701
jeweils oben), rheologische Eigenschaten.
10.2.5
Haltbarkeit
Stabilitätsuntersuchungen für Fertigprodukte werden hinsichtlich der Lagerungsbedingungen und Prüintervalle in Analogie zu den Stabilitätsuntersuchungen durchgeführt, wie sie für planzliche Zubereitungen in Kap. 9.4.10 beschrieben wurden. Es gilt auch die dort zitierte Leitlinie CPMP/QWP/122/02. Folgende Haltbarkeitsrelevante Qualitätsmerkmale von Fertigarzneimitteln sind Bestandteil der Laufzeitspeziikation (beispielhate Laufzeitspeziikationen sind in den > Tabellen 10.5 und 10.6 dargestellt): Organoleptische Merkmale. Müssen über die Dauer der
Konservierungsmittel. Konservierungsmittel müssen bei
der Freigabe und im Rahmen von Stabilitätsstudien bestimmt werden. Die Speziikationsgrenzen in der Laufzeit werden in der Regel auf ±10 des deklarierten Gehaltes festgelegt. Der Gehalt an Konservierungsmittel muss anhand einer geeigneten Entwicklung begründet werden und über die Prüfung auf ausreichende Konservierung validiert werden. Antioxidanzien. Der Gehalt an Antioxidanzien wird als In-Prozesskontrolle oder im Rahmen der Freigabeprüfung bestimmt. Alkoholgehalt. Der deklarierte Alkoholgehalt muss in je-
dem Fall im Rahmen der Freigabe geprüt werden.
Haltbarkeit stabil bleiben. Merkmale der Darreichungsform. Müssen über die Dau-
er der Haltbarkeit stabil bleiben (vgl.
> Tab. 10.5, 10.6)
Wirkstoffgehalt. Standardisierte Extrakte: ±5% des Startwertes der wirksamkeitsbestimmenden Inhaltsstofe. Quantiizierte Extrakte: ±5% des Startwertes der speziizierten Inhaltsstofe für wirksamkeitsmitbestimmende, bzw. pharmazeutisch relevante Inhaltstofe. Andere Extrakte: 5–10% des Startwertes für die bei der Stabilitätsprüfung betrachtete Leitsubstanz. Aufweitung der Speziikationsgrenzen über ±10% muss ausreichend begründet werden. Folgende Begründungen können im Einzelfall akzeptabel sein: x unvermeidbare hohe herstellbedingte Chargenvariabilität,
10.2 Qualitätssicherung von Fertigarzneimitteln
10
. Tabelle 10.5 Beispiel für eine Laufzeitspezifikation eines Fertigproduktes mit einem „Standardisierten Extrakt“: Extractum-SennaeDragees eingestellt auf 10 mg Hydroxyanthracen-Derivate Analysenmethode
Laufzeitspezifikation
Visuell
Glatte, orange Dragees
Zerfallszeit
Prüfvorschrift ncc1701
Max. 60 min in Wasser
In-vitro-Freisetzung
Prüfvorschrift ncc1701
Q-Wert 75% nach 30 min.
Trockenextrakt aus AlexandrinerSennesfrüchten (DC)
DC-I, Prüfvorschrift ncc1701
Der dünnschichtchromatographische Fingerprint der Prüflösung Dragee darf gegenüber dem Fingerprint der Prüflösung des chargenspezifischen Extraktes zum Zeitpunkt der Startanalyse nicht signifikant verändert sein
Trockenextrakt aus AlexandrinerSennesfrüchten
HPLC-I, Prüfvorschrift ncc1701
Der liquidchromatographische Fingerprint der Prüflösung Dragee darf gegenüber dem Fingerprint der Prüflösung des chargenspezifischen Extraktes zum Zeitpunkt der Startanalyse nicht signifikant verändert sein
Prüfung Merkmale der Arzneiform: Farbe/Form/Aussehen Pharmazeutische Prüfungen:
Fingerprintanalysen:
Reinheit: Bestimmung der freien und bei der Lagerung entstehenden Aglykone Aloe-Emodin
HPLC-II, Prüfvorschrift ncc1701
Tabelle 10.8 zusammengefassten Parameter für die Beurteilung der pharmazeutischen Äquivalenz berücksichtigt werden müssen. Zur Beurteilung der Bioäquivalenz pharmazeutisch äquivalenter Produkte werden heute in der Regel Bioverfügbarkeitsuntersuchungen durchgeführt. Dabei fungieren die gemessenen Plasmakonzentrations-Zeit-Proile als Surrogate für eine vergleichbare Wirkung am Target und damit auch für eine vergleichbare klinische Wirksamkeit. Dieses Konzept wurde auf der Basis zahlreicher Studien mit Präparaten mit chemisch-synthetischen Wirkstofen validiert. Im Rahmen dieser Validierung wurde deutlich, dass es durchaus eine Reihe von Einschränkungen gibt, die jedoch akzeptabel sind, da bei entsprechenden Studien mit chemischsynthetischen Wirkstofen immer wirkstofgleiche Produkte verglichen werden. Bei planzlichen Arzneimitteln ist das anders: Nur im Falle von Standardisierten Extrakten als Wirkstof kann von näherungsweise gleichen Wirkstofen gesprochen werden, die allerdings im Stofgemisch unter-
. Tabelle 10.8 Relevante Parameter für die Beurteilung einer pharmazeutischen Äquivalenz bei pflanzlichen Fertigprodukten Wirkstoffspezifische Parameter (Extrakt) 1.1
Ausgangsdroge (Qualität)
1.2
Auszugsmittel (Art/Konzentration bzw. Elutionskraft)
1.3
Herstellverfahren (Gleichgewichtsextraktion/erschöpfende Extraktion/Mehrstufenextraktion) Das DEVnativ ist dabei das Ergebnis dieser 3 genannten Parameter.
Präparatespezifische Parameter (Fertigarzneimittel) 2.1
Masse [mg] an Nativextrakt pro Darreichungsform (für Präparate mit „Anderem Extrakt“ als Wirkstoff )
2.2
Masse [mg] an wirksamkeitsbestimmenden Inhaltsstoffen pro Darreichungsform (für Präparate mit „Standardisiertem Extrakt“ als Wirkstoff )
2.3
Masse [mg] pharmazeutisch relevanter Inhaltsstoffe pro Darreichungsform (für Präparate mit „Quantifiziertem Extrakt“ als Wirkstoff )
2.4
Hilfsstoffe pro Darreichungsform (Art)
2.5
Darreichungsform (Art)
2.6
Dosierung (Einzel- und Tagesdosis)
277
278
10
Pflanzliche Fertigarzneimittel
schiedlicher Extrakte in sehr unterschiedlichen Matrices eingebettet verabreicht werden. Bei Quantiizierten Extrakten und Anderen Extrakten als Wirkstofe werden sicher nur wirkstofäquivalente, aber keinesfalls wirkstofgleiche Präparate verglichen. Eine weitere Einschränkung ergibt sich aus der Tatsache, dass man bei diesen Wirkstofen nur für die Inhaltsstofe der „Quantiizierten Extrakte“ eine Bioverfügbarkeit auf stolicher Grundlage bestimmen kann, bei den „Anderen Extrakten“ als Wirkstofen könnte man höchstens Efektkinetiken messen. Das macht die Durchführung von Bioverfügbarkeitsuntersuchungen zum Nachweis der Bioäquivalenz bei planzlichen Produkten schwierig; zudem liegen bisher keine Daten dazu vor, ob Plasma-Konzentrations-Zeit-Proile von Inhaltsstofen valide Surrogate für die Evaluation einer therapeutischen Äquivalenz von planzlichen Produkten darstellen. Vergleichbare Probleme ergeben sich, wenn man den Stellenwert von In-vitro-Freisetzungsuntersuchungen zur Äquivalenzbetrachtung von planzlichen Produkten evaluiert. Bei der Wirkung eines Arzneimittels lassen sich 3 Hauptphasen unterscheiden: die pharmazeutische, die pharmakokinetische und die pharmakodynamische Phase ( > Abb. 10.4). Wenn ein Pharmakon aus Gründen der Stabilität oder der bequemeren Handhabung in einer festen Arzneiform zugeführt werden soll, muss es in der Regel zunächst mit adäquater Geschwindigkeit zerfallen. Der Eintritt der Wirkung hängt dann davon ab, was der geschwindigkeitsbestimmte Schritt bei der Resorption ist. Infrage kommen die Aulösung, die passive Difusion durch den Enterozyten oder die „tight junctions“ sowie aktive Transportvorgänge und intestinale und intrazelluläre Metabolisierung. Immer dann, wenn die Aulösung eines Wirkstofs den geschwindigkeitsbestimmenden Schritt darstellt, kann davon ausgegangen werden, dass die Proile, die man im Rahmen von In-vitro-Freisetzungsexperimenten in physiologischen Medien erhält, den Plasma-Konzentrations-Zeit-Proilen von In-vivo-Bioverfügbarkeitsuntersuchungen entspricht. Unter diesen Umständen kann auf In-vivo-Bioverfügbarkeitsuntersuchungen verzichtet werden und stattdessen der Vergleich der Produkte über die In-vitro-Dissolutionsproile erfolgen („BioWaiver“). Wesentlich dabei ist, x dass eine schnell freisetzende Darreichungsform vorliegt, x eine ausreichende Stabilität des Wirkstofs in den Testmedien, x eine große therapeutische Breite des Wirkstofs, x keine bekannten Bioverfügbarkeitsprobleme.
. Abb. 10.4
I Pharmazeutische Phase
Dosis
Zerfall der Formulierung Lösung des Wirkstoffs Wirkstoff ist für die Resorption verfügbar pharmazeutische Verfügbarkeit
II Pharmako kinetische Phase
Resorption Verteilung Metabolismus Ausscheidung Wirkstoff ist für die Wirkung verfügbar Bioverfügbarkeit
III Pharmako dynamische Phase
Wirkstoff Rezeptor wechselwirkung am Wirkort
Wirkung
Hauptphasen der biologischen Wirkung eines Arzneimittels (nach Ariens u. Simonis 1975)
Diese Vorgehensweise ist in einer Europäischen Leitlinie zu Bioäquivalenzuntersuchungen implementiert (CPMP/ EWP/QWP/1401/98). In jüngster Zeit wurde nun durch ein Expertengremium der FIP und der EMEA versucht, diese Vorgaben auf planzliche Produkte zu übertragen (Lang et al. 2003a,b; EMEA/HMPWP/344/03). In den FIP-Empfehlungen wird konstatiert: „In most cases there is no doubt that a complete and rapid dissolution of the whole plant extract is a prerequisite for clinical eicacy of HMPs“. Hierzu sei jedoch angemerkt, dass die meisten Extrakte und damit auch ihre Inhaltsstofe relativ lipophil sind und damit eine vollständige und schnelle Freisetzung in der Regel nicht stattindet. Diese Aussage ist außerdem durch keinerlei Daten belegbar. Im Gegenteil, in jüngeren Untersuchungen wird immer deutlicher, dass die Resorptionsvorgänge für planzliche Wirkstofe wesentlich komplexer sind, als für chemisch-synthetische Wirkstofe; dabei spielen der Mukus, intestinale Enzyme (teilweise an der luminalen Enterozytenmembran) sowie aktive Transport- und Antiportprozesse eine Rolle. Diese Tatsache könnte durch die entwicklungsgeschichtlich weit zurück-
10.2 Qualitätssicherung von Fertigarzneimitteln
reichende Exposition des Gastrointestinaltraktes mit Naturstofen bedingt sein. Dabei sind sicher auch koevolutionäre Entwicklungen mit der intestinalen Mikrolora bedeutsam, die in der Lage ist, Naturstofe weitreichend zu metabolisieren (Butterweck et al. 2003; Bokkenheuser et al. 1987; Day et al. 2000; Gee et al. 2000; Graefe et al. 1999; Spencer et al. 1999; Pentz et al. 1989; Schmid et al. 2001). Für die meisten planzlichen Produkte ist nicht geklärt, ob die genuinen Inhaltsstofe überhaupt die Wirkstofe sind und nicht daraus entstehende Metabolite für die klinisch beobachtete Wirksamkeit verantwortlich sind. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Konzepte zur vergleichenden Untersuchung von Fertigarzneimitteln nicht ohne weiteres auf planzliche Arzneimittel übertragbar sind. Die Aussagekrat von Untersuchungen zur Wirkstoffreisetzung hinsichtlich der Bioäquivalenzbeurteilung ist sehr begrenzt, da sie keinerlei Auskunt über die spätere tatsächliche Bioverfügbarkeit des Wirkstofes gestattet. Der Wert dieser Untersuchungen wird deshalb ot überschätzt. Die ot zitierten Untersuchungen von Schulz et al. (1995) zum Freisetzungsverhalten und zur Bioäquivalenz von Silymarin-Präparaten haben dies auch eindrucksvoll gezeigt ( > Abb. 10.5 und 10.6). Bei vielen Extrakten sind die wirksamkeitsbestimmenden Inhaltsbestandteile nicht bekannt. Man behilt sich in diesen Fällen mit der gravimetrischen Bestimmung der Freisetzung des Gesamtextraktes und/oder der Bestimmung einer Leitsubstanz. Die gravimetrische Bestim-
10
mung erfolgt indirekt durch Auswage des nicht gelösten Rückstandes des nativen Extrakts. bzw. in der Regel der Extraktzubereitung, da die native Form aus Stabilitätsgründen selten zur Verfügung steht. Die in der Extraktzubereitung enthaltenen technischen Hilfsstofe (z. B. Siliciumdioxid, Lactose oder Maltodextrin) verbleiben dabei in vielen Fällen zumindest teilweise im Rückstand und „täuschen“ einen zu hohen unlöslichen Anteil vor. Dieser kann auch durch einen Blindwert nur annähernd ermittelt werden. Die Methode ist in jedem Fall nur wenig reproduzierbar und mit einer großen Fehlerbreite behatet. Gaedcke und Veit (2004) haben auf der Basis aller verfügbaren Daten den Stand der Diskussion zusammengefasst und Kriterien für den Vergleich von planzlichen Produkten vorgeschlagen. Sie schlagen vor, dabei zwei neue Kategorisierungen zu berücksichtigen: Pharmazeutische Alternativen. Bei chemisch deinierten
Stofen gelten zwei Wirkstofe dann als pharmazeutisch alternativ und damit als äquivalent, wenn sie dieselbe aktive Komponente enthalten, sich aber in ihren chemischen Formen unterscheiden (z. B. Salze, Ester etc. desselben Wirkstofs). Bei planzlichen Wirkstofen (Extrakten) beziehen sich die „Pharmazeutischen Alternativen“ auf wirkstofspeziische Parameter. Das bedeutet, dass bezüglich des zur Extraktion eingesetzten Auszugsmittels, des Herstellverfahrens und des Wirkstofgehaltes je nach Klassii-
. Abb. 10.5 [%] 100 90
M9 M7 M8
80 70 60 50
M3
40 30
M1 M2
20 10 0
0
10
20
30
40
50
[min] 60
M5 M4 M6
Freisetzung von Silibinin aus unterschiedlichen Fertigarzneimitteln (M1–M9), bezogen auf die in den Produkten bestimmten Mengen (Schulz et al. 1995)
279
280
10
Pflanzliche Fertigarzneimittel
. Abb. 10.6 [ng/ml] 1200 1100 1000
M9
900 800 700 600
M4
500 400 300
M1
200 100 0
0
4
8
12
16
20
24 [h]
Plasmasilibininkonzentration bei Probanden (n = 18) nach Verabreichung von Silibinin enthaltenden Fertigarzneimitteln (Schulz et al. 1995). Bei M1, M4, M9 handelt es sich um die gleichen Prüfpräparate wie in Abb. 10.5. Das Präparat M9 mit der höchsten Freisetzungsgeschwindigkeit erzielt zugleich die höchste Plasmasilibininkonzentration. Für die beiden Präparate M1 und M4 trifft diese Korrelation zwischen In-vitro- und In-vivo-Parameter nicht zu.
„Conventional“/ „non conventional extract“. Bei der Be-
trakten, die ot Spezialextrakte („puriied extracts“) darstellen (vgl. Kap. 9.2.6). Ihre Anwendung beruht noch nicht auf langjähriger Erfahrung und Sicherheit. Ihre Zulassung erfolgt deshalb auf Basis eines Volldossiers, d. h. mit allen erforderlichen pharmakologisch/ toxikologischen und klinischen Studien.
urteilung der Äquivalenz von Phytopharmaka ist auch entscheidend, ob es sich um Präparate auf Basis altbewährter oder neuer Extrakte handelt. Dementsprechend sind folgende 2 Kategorien zu unterscheiden: x Präparate mit „conventional extracts“ als Wirkstof: Sie sind altbewährt, monographiekonform und werden in Monographien der PhEur, der Kommission E, von ESCOP, der WHO und den EMEA-Core-Data beschrieben. Hierbei handelt es sich ot um sog. Familien- oder Rahmenmonographien. Das bedeutet, dass in Bezug auf den Gehalt, das Auszugsmittel und das Herstellverfahren gewisse Spannen akzeptiert werden. Die Anwendung von „conventional extracts“ beruht auf langjähriger Erfahrung und Sicherheit. Entsprechende Phytopharmaka werden aufgrund bibliographischer Unterlagen zugelassen („well-established medicinal use“). x Präparate mit „non-conventional extracts“ als Wirkstof („puriied extract“): Sie werden als Innovatorpräparat bezeichnet und basieren in der Regel auf neuen Ex-
Entsprechend der Klassiizierung der Extrakte gemäß PhEur und zugleich deren Einteilung in „conventional“ oder „non-conventional extract“ ergeben sich die in > Tabellen 10.9 bis 10.11 beschriebenen wirkstof- und präparatespeziischen Bewertungskriterien. Es können a) wirkstofspeziische und präparatespeziische b) Parameter unterschieden werden: a) Abhängig von der Einstufung eines planzlichen Wirkstofs als „conventional extracts“ oder als „non-conventional extracts“ muss der Maßstab bei der Bewertung der pharmazeutischen Äquivalenz unterschiedlich sein. „Conventional extracts“ können je nach ihrer Herstellung gewisse Schwankungen aufweisen (Familienmonographien). Sie gelten als „Pharmazeutische Alternativen“ und sind damit „similar“. „Non-conventional extracts“ („puriied extracts“) müssen dagegen „essential similar“ sein. b) Präparatespeziisch sollten vergleichende Fingerprintchromatorgramme von Test- und Referenzpräparat in
zierung der Extrakte gewisse Spannbreiten akzeptiert werden können. Die sich ergebenden pharmazeutischen Alternativen werden in der > Tabellen 10.9 bis 10.11 extraktspeziisch dargestellt.
10.2 Qualitätssicherung von Fertigarzneimitteln
. Tabelle 10.9 Zu erfüllende Bedingungen für pharmazeutische Äquivalenz bei pflanzlichen Fertigprodukten mit „Standardisiertem Extrakt“ als Wirkstoff Parameter 1. Wirkstoffspezifisch 1.1. Droge
Identische Spezifikation
1.2. Wirksubstanzen
Identische Spezifikation
Pharmazeutische Alternativena 1.3. Auszugsmittel (AZM)
Unterschiedlich
1.4. Hersteller
Unterschiedlich
1.5. Herstellverfahren
Unterschiedlich
1.6. DEVnativb
Entfällta
2. Präparatespezifisch Freisetzung der Wirksubstanz a b c
Freisetzungsprofile vergleichbarc (bei 3 pH-Werten)
Familienmonographien gelten als „pharmazeutische Alternativen“ und damit als äquivalent. Wenn 1.3 bis 1.5 unterschiedlich sind, variiert in der Regel auch das DEVnativ. gemäß Annex 2 von CPMP/EWP/QWP/1401/98.
. Tabelle 10.10 Zu erfüllende Bedingungen für pharmazeutische Äquivalenz bei pflanzlichen Fertigprodukten mit „Quantifiziertem Extrakt“ als Wirkstoff Parameter 1. Wirkstoffspezifisch 1.1. Droge
Identische Spezifikation
1.2. Pharmakologische Marker
Identische Spezifikation
Pharmazeutische Alternativena) 1.3. Auszugsmittel (AZM)
Äquivalente Lösungsstärkea) identischd)
1.4. DEVnativb
Äquivalenta) identischd)
2. Präparatespezifisch 2.1. Fingerprintchromatogramme (unterschiedliche Polaritätsbereiche)
Vergleichbar unter Berücksichtigung der Schwankungsbreite des Referenzpräparates
2.2. Freisetzung der „aktiven Marker“
Vergleichbare c) Freisetzungsprofile (bei 3 pH-Werten)
a b c d
Familienmonographien gelten als „pharmazeutische Alternativen“ und damit als äquivalent. Wenn 1.3 bis 1.5 unterschiedlich sind, variiert in der Regel auch das DEVnativ . gemäß Annex 2 von CPMP/EWP/QWP/1401/98. bei Bezug auf ein Innovatorpräparat (= „non-conventinal extract/purified extract“).
10
281
282
10
Pflanzliche Fertigarzneimittel
. Tabelle 10.11 Zu erfüllende Bedingungen für pharmazeutische Äquivalenz bei pflanzlichen Fertigprodukten mit „Anderem Extrakt“ als Wirkstoff Parameter 1. Wirkstoffspezifisch 1.1. Droge
Identische Spezifikation
Pharmazeutische Alternativena 1.2. Auszugsmittel (AZM)
Äquivalente Lösungsstärke
1.3. DEVnativb
Äquivalent
2. Präparatespezifisch 2.1. Fingerprintchromatogramme (unterschiedliche Polaritätsbereiche)
Vergleichbar, unter Berücksichtigung der Schwankungsbreite des Referenzproduktes
2.2. Freisetzung von „geeigneten“ Leitsubstanzen
Vergleichbar (bei 3 pH-Werten)c und vergleichbare Fingerprints der Freisetzungsprüflösung
a b c
Familienmonographien gelten als „pharmazeutische Alternativen“ und damit als äquivalent. Wenn 1.3 bis 1.5 unterschiedlich sind, variiert in der Regel auch das DEVnativ. gemäß Annex 2 von CPMP/EWP/QWP/1401/98.
unterschiedlichen Polaritätsbereichen angefertigt werden und zusätzlich vergleichende Prüfungen der Zerfallszeit nach Arzneibuchmethode durchgeführt werden. Beide Prüfungen können wertvolle Hinweise für den Einsatz vergleichbarer Herstellverfahren, Hilfsstofe und damit Wirkstofe geben. Bei der Freisetzung sollten vergleichbare Proile („similar“ im Sinne des Annex 2 von der Leitlinie CPMP/EWP/QWP/1401/98) von Test- und Referenzpräparat gefordert werden. Weiterhin gilt, dass die pharmazeutische Äquivalenz nur dann gegeben ist, wenn
! Kernaussagen
In pflanzlichen Fertigarzneimitteln ist heute die gesamte Palette moderner oral und topisch zu verabreichender Darreichungsformen vertreten. Ihre Herstellung erfolgt analog der Herstellung anderer pharmazeutischer Produkte unter strikter Anwendung von GMPStandards. Basierend auf umfänglichen Spezifikationen werden pflanzliche Fertigarzneimittel hinsichtlich Identität, Reinheit, Gehalt und ihrer Stabilität geprüft, wobei die Besonderheiten der pflanzlichen Vielstoffgemische
x die Masse an Nativextrakt pro Darreichungsform identisch ist,
x die Hilfsstofe und Darreichungsformen vergleichbar und
x die Dosierungen identisch sind. Diese Angaben sind der Deklaration auf der Fertigarzneimittelpackung zu entnehmen. Zum Nachweis der pharmazeutischen Äquivalenz müssen außerdem Prüfmethoden vorgegeben werden, die durchführbar, reproduzierbar und praxisgerecht sind.
beachtet werden müssen. Der Vergleich unterschiedlicher pflanzlicher Fertigprodukte ist nicht einfach und die Rahmenbedingungen, die für Arzneimittel mit chemischsynthetischen Wirkstoffen entwickelt und etabliert wurden, sind für pflanzliche Produkte nicht ohne weiteres anwendbar. Das gilt insbesondere für solche Produkte, die ausschließlich über ihre Herstellung definiert sind und komplexe Vielstoffgemische darstellen, wie Arzneimittel mit so genannten „Anderen Extrakten“ als Wirkstoffen („conventional extracts“).
Literatur
10
Schlüsselbegriffe Anbruchstabilität Arzneiformen Bioäquivalenz Chargenspezifische Prüfung Conventional extracts Feste Arzneiformen Flüssige Arzneizubereitungen Identitätsprüfung
Mikrobiologische Verunreinigungen Non-conventional extracts Pflanzliche Fertigarzneimittel Pflanzliche Parenteralia Pharmazeutische Äquivalenz Phytoäquivalenz Prozessvalidierung
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Qualitätssicherung von Fertigarzneimitteln Reinheitsprüfung Stabilitätsuntersuchung Vergleichbarkeit von pflanzlichen Fertigarzneimitteln Wirkstofffreisetzung
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Weiterführende Literatur Gaedcke F, Steinhoff B (2000) Phytopharmaka. Wissenschaftliche und rechtliche Grundlagen für die Entwicklung, Standardisierung und Zulassung in Deutschland und Europa. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart
283
11 11 Enzyme bei der Gewinnung von Drogen und der Herstellung von Phytopharmaka W. Kreis 11.1
Fermentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 11.1.1 Substratveränderungen durch zelleigene Enzyme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 11.1.2 Fermentation als Aubereitung planzlicher Produkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
11.2
Nacherntephysiologie und Verderb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
11.3
Enzymatischer Abbau von Inhaltsstofen während der Herstellung von Phytopharmaka . . 290
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
286
11
Enzyme bei der Gewinnung von Drogen und der Herstellung von Phytopharmaka
> Einleitung Veränderungen an den Bestandteilen des Erntegutes während Ernte, Trocknung, Lagerung, Transport und Verarbeitung pflanzlicher Drogen sind im Wesentlichen auf drei Ursachen zurückzuführen: 1. Chemische Reaktionen, z. B. bedingt durch die Oxidationsanfälligkeit verschiedener Stoffe (Verharzung von Ölkomponenten, Phlobaphenbildung aus Catechingerbstoffen). 2. Autolytische Vorgänge durch pflanzeneigene Enzyme, die dann einsetzen, wenn pflanzliche Zellen absterben, ohne dass dabei die zelleigenen Enzyme zerstört werden. Die in der lebenden Zelle in getrennten Kompartimenten lokalisierten Reaktionspartner (Enzym und Substrat) gelangen in der toten Zelle in Kontakt. 3. Durch Mikroorganismen verursachte Veränderungen. Veränderungen der genuinen Konsistenz und stofflichen Zusammensetzung von Pflanzen oder Drogen können unerwünscht sein, weil die Qualität des Produktes sich dabei verschlechtert, sie können aber auch erwünscht sein, weil das Produkt gerade durch diese Vorgänge „veredelt“ wird.
11.1
Fermentation
An autolytischen Vorgängen und mikrobiell verursachten Veränderungen sind „Fermente“ (Enzyme) beteiligt. Daher spricht man in beiden Fällen auch von Fermentationsprozessen. Fermentative Veränderungen können unkontrolliert erfolgen oder gesteuert werden. Sie können direkt nach der Ernte einsetzen, aber auch später im pharmazeutischen Herstellungsprozess relevant werden. Fermentationen können unter aeroben, aber auch unter anaeroben Bedingungen ablaufen; man unterscheidet daher die oxidative Fermentation von der anaeroben Fermentation (Gärung). Diese Einteilung stammt aus der Mikrobiologie, dort verwendet man den Begrif „Fermentation“ bei der Gewinnung ganz bestimmter chemischer Stofe (Antibiotika, organische Säuren) durch Mikroorganismen in biotechnologischen Verfahren. In der Lebensmitteltechnologie und in der Pharmazie denkt man bei der Fermentation eher an die Aubereitung und die Veredelung planzlicher
Produkte wie z. B. Tabak, Tee, Kakao, Kafee, Vanille. Bei dieser Art von Fermentation werden teils neue Stofe gebildet (Farbstofe, Aromastofe), teils unerwünschte Substanzen abgebaut. Dies bedeutet, dass diese Art von Fermentation in biochemischer Sicht auch aus mehreren unabhängigen oder uneinheitlichen Teilprozessen (oxidativ, anaerob, autolytisch) zusammengesetzt sein kann. Einige Beispiele sollen dies erläutern, wobei nur solche gewählt wurden, an denen enzymatische Reaktionen maßgeblich beteiligt sind.
11.1.1
Substratveränderungen durch zelleigene Enzyme
Unerwünschte Vorgänge. Als besonders aufallende Erscheinungen gehören hierher das Braun- oder Schwarzwerden von Blättern, Blüten und Früchten. Apfel, Birnen, Pirsiche z. B. verfärben sich rasch, wenn man sie mechanisch verletzt. Ähnlich verhalten sich zahlreiche Blatt- und Blütendrogen im Zuge des Trocknungsvorganges, so die Caryophylli los und die Verbasci los. Nicht in allen Fällen sind die den Verfärbungen zugrunde liegenden Prozesse bekannt; häuig jedoch sind Oxidasen und Peroxidasen ( > unten) beteiligt, die Phenole zu Polyphenolen und Chinonen oxidieren, die ihrerseits – meist ohne weitere Enzymeinwirkung – in dunkle Kondensationsprodukte übergehen. Auch Polykondensationen der Chinone mit Aminosäuren kommen vor (z. B. beim Tabakblatt). Aus iridoiden Verbindungen, deren Hydroxypyran-Ring nach Hydrolyse der glykosidischen Bindung relativ leicht aufgebrochen werden kann, entstehen reaktive Dialdehyde, die zu Polymerisation neigen. Ungeeignet gelagerte Iridoiddrogen sind an ihrer starken Verbräunung zu erkennen. Bei solchen Drogen (z. B. Spitzwegerichkraut) kann andererseits das Vorhandensein intakter Iridoidglykoside als Qualitätsmerkmal gewertet werden. Da nicht alle enzymatischen Substratumwandlungen mit organoleptischen Veränderungen (Geruch, Geschmack, Aussehen) parallel gehen, bedarf es der chemischen Analyse, um die während des Trocknungsvorganges sich abspielenden postmortalen Umsetzungen nachzuweisen. Erwünschte Vorgänge. Die postmortalen Umwandlun-
gen durch zelleigene Enzyme können aber auch erwünscht sein, wodurch die Fermentation zu einer Art gelenkter Autolyse werden kann. Dazu gehört die Freisetzung der „se-
11.1 Fermentation
kundären“ Herzglykoside (Digitoxin, Digoxin) aus den so genannten „Primärglykosiden“ der Digitalis-lanata-Blätter. Eine Cardenolid-speziische, partikelgebundene EGlucosidase spaltet hier sehr eizient die genuinen Lanatoside in die entsprechenden Sekundärglykoside, im Wesentlichen E-Acetyldigoxin und E-Acetyldigitoxin. Bei der technischen Durchführung gibt es zwei Varianten. Entweder man setzt getrocknete „Primärdroge“ ein. Dabei werden die in einem Walzenstuhl zerquetschten Blätter in einer Anmaischschnecke mit Wasser befeuchtet. Diese Masse durchläut dann innerhalb von 24 Stunden den Fermenter bei Temperaturen zwischen 35 und 45 °C. In einem alternativen Verfahren wird das frische, gehäckselte Planzenmaterial direkt in den Erzeugerbetrieben in Fermentationsboxen durchgeführt, bei denen durch geeignete Lutzufuhr Feuchtigkeit und Temperatur reguliert werden
11
können. Die Fermentation dauert etwa 72 Stunden. Nach der Fermentation liegt die so genannte Sekundärdroge vor, die dann der Extraktion zugeführt wird. Die Fermentation der Digitalis-lanata-Blätter ist somit ein wichtiger Bestandteil des Herstellungsprozesses der therapeutisch genutzten Digitalisglykoside. Obwohl Digitalis-lanata-Blätter auch ein Enzym enthalten, das den Acetylrest der Acetyldigitoxose abspaltet, wird dieser Schritt der Herstellung von Digoxin bzw. Digitoxin durch chemische Verseifung beschleunigt ( > Abb. 11.1). Auch die Teefermentation ist ein Beispiel für eine erwünschte durch endogene Enzyme katalysierte Substratumwandlung. Man bringt die frisch geplückten Blätter in gut durchlüteten Welkhäusern zum Welken, um den Wassergehalt auf ca. 30–40% zu reduzieren. Die dann noch biegsamen Blätter werden durch mehrmaliges Rol-
. Abb. 11.1
Bildung der Sekundärglykoside im Zuge der Digitalis-Fermentation am Beispiel des Lanatosid C. Die in den frischen Blättern aktive oder in den getrockneten Blättern durch Anfeuchten aktivierbare Cardenolid-Glucohydrolase 1 spaltet Lanatosid C zu β-Acetyldigoxin. Dieses wird durch das endogene Enzym Lanatosid-Esterase und nach Extraktion durch Verseifung in Digoxin umgewandelt
287
288
11
Enzyme bei der Gewinnung von Drogen und der Herstellung von Phytopharmaka
len (Roulage), wobei das Gewebe teilweise zerrissen wird, auf die Fermentation vorbereitet. Durch die Zellzerstörung kommen Enzyme und Substrat in unmittelbaren Kontakt. Die eigentliche Fermentation dauert ca. 4 Stunden und wird in besonderen Gärkammern bei 35–40 °C durchgeführt. Mikrobielle Fermentation indet unter diesen empirisch ermittelten Bedingungen kaum statt. Die der Teefermentation zugrunde liegenden biochemischen Prozesse sind recht gut studiert. Im Wesentlichen handelt es sich um oxidative Veränderungen der Catechine. Besonders wichtig sind die Polyphenoloxidasen, die hauptsächlich in der Blattepidermis lokalisiert sind und deren Aktivität während des „Roulage“ zunimmt. Proteinasen setzen Aminosäuren frei, die im Zuge der Fermentation in Polymerisationsprodukte eingebaut werden können. Zudem tragen weitere Enzyme auf die eine oder andere Art zu Aroma- und Polyphenolbildung bei (Belitz et al. 2001). Denaturiert man vor dem Rollen die planzeneigenen Enzyme irreversibel durch Erhitzen mit Wasserdampf erhält man den „Grünen Tee“, der vor allem in Japan und weiten Teilen Chinas dem schwarzen Tee gegenüber bevorzugt wird. Damit unterbleibt aber die Ausbildung der den „Schwarzen Tee“ prägenden Merkmale: Schwarzfärbung der Ware, goldgelbe Farbe des Aufgusses und es entwickelt sich ein ganz anderes Aroma. (Z)-3-Hexenal, das zum Aroma des grünen Tees beiträgt, entsteht vor allem autoxidativ aus Linolensäure.
11.1.2
Fermentation als Aufbereitung pflanzlicher Produkte
Zusammenwirken von pflanzeneigenen und mikrobiellen Enzymen. Der zuletzt beschriebene Typ von Fermen-
tationen, der Typ der kontrollierten, erwünschten partiellen Autolyse, leitet über zu Fermentationen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass neben den planzeneigenen Enzymen auch die von Mikroorganismen an der „Produktveredelung“ beteiligt sind. Dieser Typ sei mit den beiden Beispielen Gentianae radix und Cacao semen, vorgestellt. Bei der Enzianwurzel besteht das Fermentieren in einfacher Weise lediglich darin, dass man für langsames Trocknen sorgt, etwa durch Aufschichten zu einem Haufen. Das Drogengut beginnt sich rotbraun zu verfärben und einen eigenartigen, an trockene Feigen erinnernden Geruch zu entwickeln. Die Schnelligkeit des Trocknungsvorganges steuert über die Abnahme des Wassergehaltes die Geschwindigkeit der Fermentation: Schnelle Trock-
nung lässt den Geruch erst nach vielen Monaten der Lagerung, langsame Trocknung bereits nach Tagen autreten. Welche chemische Reaktionen ablaufen und welcher Anteil zu Lasten mikrobieller Enzyme geht, ist nicht bekannt. Wie wichtig die sorgfältigste Überwachung des Fermentationsprozesses sein kann, zeigt das Beispiel der Fermentierung der reifen Kakaofrüchte, um daraus Cacao semen und andere Kakaoerzeugnisse zu gewinnen. Die Kakaofrüchte werden unmittelbar nach der Ernte geöfnet, und die Pulpa zusammen mit den Samen in Gärkisten gefüllt. In einer sechstägigen kontrollierten Fermentation wird durch Gärung Essigsäure und Alkohol produziert, die den Keimling abtöten und die Pulpa zersetzen. Im Samen enthaltene Bitterstofe werden abgebaut, die ersten typischen Aromastofe bilden sich, der Samen wird durch die statt indenden Oxidationsprozesse tiebraun. Danach werden die Kakaobohnen geröstet. Dabei löst sich die Schale von den beiden großen, fetthaltigen Keimblättern und es bilden sich weitere Aromastofe. Im fertigen Kakao wurden etwa 500 Aromakomponenten identiiziert, von denen ca. 50 für das eigentliche Kakaoaroma wichtig sind. Die gerösteten Samen werden gebrochen und fein vermahlen. Durch Erhitzen und Walzen wird die Masse lüssig. Die Kakaobutter wird abgepresst und der entfettete Rückstand zu Kakaopulver verarbeitet. Gärung, Hydrolyse, oxidativer Abbau, Maillard-Reaktion sind Schlagwörter, mit denen die bei der Herstellung des Kakaos stattindenden chemischen und biochemischen Prozesse zusammengefasst werden können. Auch einige Knoblauchpräparate werden aus fermentierter Droge gewonnen (fermentierter Knoblauch, „aged garlic“). In einem Standardverfahren werden die Knoblauchzehen zerschnitten und dann in 15–20%iger wässrigethanolischer Lösung 10–20 Monate fermentiert. Der dann gewonnene Extrakt wird iltriert und schonend konzentriert. Eine der Hauptverbindungen so hergestellter Extrakte ist S-Allylcystein (SAC, > Abb. 11.2), das auch zur Standardisierung der kommerziellen Produkte herangezogen wird. Neben diesem Hydrolyseprodukt des genuin im Knoblauch vorhandenen J-Glutamyl-S-Allylcysteins enthalten die Aged-garlic-Extrakte auch Maillard-Produkte (z. B. Fructosylarginin) oder Tetrahydrocarboline, die im frischen Knoblauch nicht vorkommen und erst im Zuge der langen Fermentierung entstehen. Die aus Alliin durch die Aktivität der knoblaucheigenen Alliinase entstandenen Verbindungen (z. B. Allicin) sind in den Produkten nicht mehr nachweisbar (Lawson u. Gard-
11.2 Nacherntephysiologie und Verderb
11
. Abb. 11.2
S-Allylcystein entsteht aus einem γ-Glutamyldipeptid durch Hydrolyse der Peptidbindung. S-Allylcystein kommt im frischen Knoblauch nur in Spuren vor und ist eine der dominierenden Schwefelverbindungen in fermentiertem Knoblauch („aged garlic“)
ner 2005), daher fehlt ihnen auch der knoblauchtypische Geruch. Infobox Kombucha. Zur Herstellung des Getränks Kombucha wird ein Aufguss aus Schwarzem Tee mit Zucker gesüßt und bei Raumtemperatur über 6–8 Tage mit dem „Teepilz“, einem gallertigen Gemisch aus drei Hefepilzen (Schizosaccharomyces pombe, Pichia fermentans und Saccharomycodes ludwigii) und drei Bakterienarten (Acetobacter xylinum, Bacterium xylinoides und Bacterium gluconicum) vergärt. Die fermentativ entstandenen Säuren geben dem Getränk einen säuerlich weinartigen Geschmack. Die „Haut“ des Fermentationsansatzes wird abgeseiht und dient als Inokulum für eine erneute Kombucha-Herstellung. In diesem Beispiel wirken pflanzliche und mikrobielle Enzyme völlig unabhängig voneinander und zeitlich getrennt: Erst die Fermentation des Teeblatts durch pflanzeneigene Enzyme, dann die Fermentation des Infuses nach Zugabe des „Teepilzes“.
11.2
Nacherntephysiologie und Verderb
Die gerade dargestellten Fermentationen sind bewusst gelenkte biochemische Prozesse, an denen planzeneigene Enzyme und/oder Mikroben beteiligt sind. Biochemische Vorgänge, die nach der Ernte – vor allem bei der Trocknung und Lagerung – von Planzen ablaufen, werden auch mit dem Begrif „Nacherntephysiologie“ umschrieben und im Zusammenhang mit Produktstabilität und Qualitätssicherung vor allem in den Agrarwissenschaten sehr genau untersucht. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von Post-mortem-Veränderungen, die eng an die Auhebung der Kompartimentierung von Zellen und Ge-
weben im Laufe des Trocknens und der weiteren Behandlung der geernteten Planzen gekoppelt sind. Für die Pharmazie sind diese Vorgänge insofern bedeutsam, dass auch auf Grund herkunts- und prozessabhängiger nacherntephysiologischer Vorgänge Produkte mit unterschiedlichen Inhaltsstofmustern entstehen können. Davon abzugrenzen sind Vorgänge, die dann einsetzen, wenn man das Erntegut unkontrolliert sich selbst überlässt. Die absterbenden Planzenteile bilden dann nämlich einen idealen Nährboden für Pilze und Bakterien, was zum Verderb der Ware führt. Die zum Verderb führenden enzymatischen Prozesse können wiederum autolytischer oder mikrobieller Natur sein. Beide Phänomene – Nacherntephysiologie und Verderb – sind an die Anwesenheit von Wasser gebunden und temperaturabhängig. Dem Trocknen der Planzen und den angewendeten Trocknungsverfahren kommt daher eine besondere Bedeutung zu. Damit Schimmelpilze gedeihen, reicht z. B. schon eine Feuchte von ca. 20%, Bakterienwachstum erfordert eine Feuchte von ca. 40%. Der Wassergehalt frisch geernteter Drogen ist u. a. organabhängig: Einige Beerenfrüchte enthalten bis zu 95% Wasser, Samen und trockene Früchte nur 10–15%. Alle anderen Organe enthalten zwischen 70 und 85% Wasser. Nach dem Trocknen enthalten alle Drogen ca. 8–15% Restwasser (Feuchtigkeit). In getrockneten Planzenteilen mit geringer Restfeuchte sind die Enzyme inaktiv und sie sind auch nicht anfällig für mikrobiellen Verderb. Relevant sind diese Betrachtungen nicht nur für die Trocknung, sondern auch für Lagerung und Transport von planzlichen Drogen. Da die Sättigungsfeuchte bei Erhöhung der Temperatur dramatisch zunimmt (bei 20 °C 17,3%, bei 40 °C 50,2%), kann z. B. beim Transport planzlicher Drogen deren Wassergehalt vorübergehend soweit ansteigen, dass biochemische Reaktionen möglich werden und abbauende Enzyme aktiviert werden oder – noch schlimmer – die Drogen durch mikrobiellen Befall verderben.
289
290
11 11.3
Enzyme bei der Gewinnung von Drogen und der Herstellung von Phytopharmaka
Enzymatischer Abbau von Inhaltsstoffen während der Herstellung von Phytopharmaka
Im Verlauf der Herstellung von Phytopharmaka ist mindestens an drei Stellen mit nacherntephysiologischen Effekten zu rechnen: 1. Ernte, Transport und Trocknung, 2. Extraktzubereitung, vor allem bei der Herstellung wässriger Extrakte, 3. Verdünnung alkoholischer Extrakte mit Wasser, wobei kolloidal gelöste, inaktivierte Enzyme durch das zugefügte Wasser wieder reaktiviert werden können. Hierbei ist zu beachten, dass Glykosidasen und Polyphenoloxidasen auch bei einem Gehalt von 20–40% Ethanol oder Methanol noch aktiv sein können. Der Einluss planzeneigener Enzyme auf die Zusammensetzung des Inhaltsstofspektrums von Drogen ist inzwischen in Einzelfällen recht gut dokumentiert und die beteiligten Enzyme biochemisch charakterisiert. So weiß man, dass eine Rutinose-abspaltende Glykosidase im Buchweizenkraut für die Instabilität des Rutosids verantwortlich ist. Durch eine Heißdampbehandlung der Droge, z. B. im Zuge eines Entwesungsschrittes, können auch abbauende Enzyme zerstört werden. In ordnungsgemäß gelagerter Droge sind die endogenen Enzyme inaktiv, die Inhaltstofe werden allenfalls oxidativ durch direkte Einwirkung des Lutsauerstofs zerstört. Wenn die Drogen aber nicht – wie im obigen Beispiel – einer Heißdampbehandlung ausgesetzt wird und dadurch die Enzyme irreversibel denaturiert wurden, sind diese weiterhin vorhanden und über lange Zeiträume reaktivierbar. Obwohl auch Enzyme im Zuge der Lagerung abgebaut werden, sind sie doch auch in sehr alter Droge immer noch nachweisbar. Der „Enzymstatus“ einer Droge bestimmt damit ganz wesentlich die Stabilität der Inhaltsstofe während der Drogenverarbeitung und Extraktherstellung. Besonders anfällig sind wässrige Zubereitungen, wobei der Abbau genuiner Inhaltsstofe z. B. dadurch vermindert werden kann, dass bei der Herstellung mit heißem Wasserdampf statt mit heißem Wasser extrahiert wird, weil die denaturierend wirkende Temperaturerhöhung im ersten Fall weit eizienter zum Tragen kommt. Bei der Kaltmazeration, nicht aber bei der Herstellung eines Infuses oder Dekoktes, ist mit einem enzymatischen Abbau von Inhaltsstofen zu rechnen. Besonders betrofen
sind hierbei Glykoside, da die Glykosidhydrolasen besonders robuste Enzyme sind. Bei der Herstellung von Phytopharmaka können planzeneigene Enzyme reaktiviert werden, die die Stofzusammensetzung verändern. So kann z. B. in Kamillenblüten im Zuge der Herstellung von Zubereitungen aus dem genuin vorliegenden, gut wasserlöslichen Apigenin-7-O-glucosid durch die Aktivität einer E-Glucosidase das lipophilere Apigenin freigesetzt werden, in wässrigen Extrakten aus Artischockenblättern wird durch ein ähnliches Enzym das polare Cynarosid zum weniger polaren Luteolin abgebaut. Infobox Glykosidische Pflanzenstoffe. Beim Abbau von Glykosiden (Flavonoidglykoside, Iridoidglykoside, Herzglykoside, etc.) sind mehr oder weniger substratspezifische Glykosidasen von zentraler Bedeutung. Solche Enzyme kommen ubiquitär in Pflanzen, Pilzen, Tieren und Bakterien vor. Pflanzliche Glucosidasen gehören mit zu den ersten beschriebenen Enzymen überhaupt. Bereits 1837 berichteten Wöhler und Liebig über die Bildung von Blausäure aus Amygdalin durch „Emulsin“, nachdem einige Jahre zuvor schon die Amylase aus einem alkoholischen Präzipitat aus Malzextrakt gewonnen werden konnte. Im Verlauf der Biosynthese sekundärer Pflanzenstoffe führt die Glykosidierung einerseits zu einer besseren Wasserlöslichkeit der Verbindung, andererseits sind diese Verbindungen weniger reaktiv. Glykoside, vor allem aber E-D-Glucoside, stellen häufig vakuoläre Speicherformen der Naturstoffe dar; häufig bildet die Pflanze zusätzlich die „passenden“ Glykosidasen, die bei Bedarf, zum Beispiel der Zerstörung des Gewebes durch einen Fraßfeind, aktiv werden, um die gespeicherten Glykoside zu „giften“, d. h. in besser resorbierbare oder toxischere Verbindungen zu überführen (z. B. Herzglykoside). Manche Verbindungen werden nach der Zuckerabspaltung dem weiteren enzymatischen oder chemischen Abbau zugänglich. Gut untersuchte Beispiele hierfür sind die Freisetzung von Blausäure aus cyanogenen Glykosiden (Bittermandel, Leinsamen), die Bildung von Cumarin aus o-Cumarsäure-E-D-Glucosid (Waldmeister, „Heublumen“) oder die Umwandlung von Glucosinolaten in Isothiocyanate (Senf, Meerrettich).
Neben den Glykosidasen sind verschiedenen Oxidasen, vor allem Peroxidasen und Polyphenoloxidasen, wichtige und fast ubiquitär autretende Enzyme des Abbaus. Sie sind z. B. für den Abbau der Cichoriensäure im Pur-
Literatur
pursonnenhutkraut bzw. dessen Zubereitungen verantwortlich. Oxidierende Enzyme (vermutlich Peroxidasen) scheinen auch an der Umwandlung der genuin vorliegenden Anthronglykoside der Sennesplanze in die für Sennesfrüchte und Sennesblätter charakteristischen Sennoside beteiligt zu sein. Wird der enzymatische Abbau durch sofortige Hitzebehandlung unterbunden, ist die aus so behandelten Blättern oder Früchten gewonnene Droge Sennosid-frei. Viele andere Enzyme sind in planzlichen Drogen nachweisbar. In einer Studie wurden etwa 100 Drogen auf das Vorkommen von Katalase, Peroxidase, Phosphatase und Invertase untersucht (Janecke u. Hennig 1959). In zellfreien Proteinlösungen aus 23 verschiedenen Drogen wurde verschiedene Hydrolasen, unter anderem Esterasen, β-d-Galactosidase oder β-d-Glucosidase, gefunden. Enzyme, die in Drogen und Arzneiplanzen in aktiver Form vorhanden sind und die endogenen Wirkstofe verändern können, sollten daher als Drogeninhaltsstofe betrachtet und berücksichtigt werden. Ein einfacher und praktikabler Standardtest zur Erfassung enzymatischer Aktivitäten ist z. B. das ursprünglich für die Charakterisie-
11
rung von Mikroorganismen entwickelte API ZYM-System, mit dem sehr einfach 20 verschiedene Enzymaktivitäten gleichzeitig nachgewiesen werden können. Im Hinblick auf Qualität und Stabilität von Phytopharmaka und die Standardisierung von Herstellungsverfahren sollte der Einluss endogener Planzenenzyme während der einzelnen Produktionsschritte (Ernte, Trocknung und Verarbeitung) berücksichtigt werden.
! Kernaussagen
Enzyme sind Inhaltsstoffe pflanzlicher Drogen. Sie werden gezielt zur Produktveredelung genutzt, können Wirkstoffe freisetzen oder durch Um- bzw. Abbau inaktivieren. Pflanzeneigene Enzyme können auch nach der Ernte noch aktiv sein und Post-mortemVeränderungen der genuinen Inhaltsstoffe bewirken. Unter bestimmten Bedingungen können sie in der Droge auch wieder reaktiviert werden. Einige Enzyme, vor allem Glykosidasen und Oxidasen, sind sehr stabil und können auch während der Herstellung von Phytopharmaka aktiv sein und wirksamkeitsbestimmende Stoffe oder analytische Leitsubstanzen abbauen.
Schlüsselbegriffe Entwesung Ernte Fermentation Glucosidase Glykosidase
Lagerung Nacherntephysiologie Oxidase Peroxidase Polyphenoloxidase
Literatur Baumgertel A et al. (2003) Purification and characterization of flavonol 3-O-β-heterodisaccharidase from the dried herb of Fagopyrum esculentum Moench. Phytochemistry 64: 411–418 Belitz H-D, Grosch W, Schieberle P (2001) Lehrbuch der Lebensmittelchemie, 5. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokio Franke W (1997) Nutzpflanzenkunde. 6. überarb. und erw. Auflage. Thieme, Stuttgart New York Hörhammer L, Hänsel R (1951) Der Peroxydasegehalt, ein Maßstab für das Alter von Drogen. Arch Pharm 284: 110–113 Janecke H, Hennig W (1959) Über das Vorkommen von Enzymen in getrockneten Drogen. Planta Medica 1: 41–55
Post-mortem-Veränderungen Sättigungsfeuchte Transport
Lawson L D, Gardner C D (2005) Composition, stability, and bioavailability of garlic products used in clinical trial. J Agric Food Chem 53: 6254–6261 Luckner M, Wichtl M (2000) Digitalis. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, S 151 Nüßlein B et al. (2000) Enzymatic degradation of cichoric acid in Echinacea purpurea preparations. J Nat Prod 63: 1615–1618 Nüßlein B, Kreis W (2000) Reinigung einer Cynarosid-7-O-ß-D-glucosidase aus der Arzneidroge Cynarae folium (Artischockenblätter). J Appl Bot 74: 113–118 Schliemann W (1987) β-D-Glucosidasen von Pflanzen und pflanzlichen Zellkulturen. Die Pharmazie 42: 225–239 Tschirch A (1925) Handbuch der Pharmakognosie, Bd 3, Teil 2. Verlag H. Tauchnitz, Leipzig
291
C C Praxis und Probleme der Anwendung pflanzlicher Arzneimittel 12 Abnorme Phytopharmakawirkungen durch genetische Ursachen – 295 13
Überempfindlichkeitsreaktionen beim Umgang mit Drogen und bei der Anwendung pflanzlicher Arzneimittel – 307
14
Plazebowirkungen: theoretische Konzepte und experimentelle Befunde – 339
15
Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
– 385
16
In westlichen Ländern genutzte Drogen der traditionellen chinesischen Medizin – 431
17
Aromatherapie (Dufttherapie): Biologische und psychodynamische Wirkungen von Aromastoffen – 463
12 12 Abnorme Phytopharmakawirkungen durch genetische Ursachen R. Hänsel 12.1
Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Mangel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 12.1.1 Favismusfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 12.1.2 Weitere Naturprodukte, die bei Glc-6-PDG-Mangel vorsichtig anzuwenden sind . . . . 298
12.2
Polymorphismus von Biotransformationsenzymen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 12.2.1 Cytochrom-P450-Polymorphismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 12.2.2 N-Acetyltransferasepolymorphismus: Beispiel für einen Phase-II-Polymorphismus . . 301
12.3
Nahrungsmittelidiosynkrasien: Rote Beete und Spargel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
296
12
Abnorme Phytopharmakawirkungen durch genetische Ursachen
> Einleitung Pflanzenstoffe unterscheiden sich grundsätzlich, was die Art der unerwünschten Nebenwirkungen anbelangt, nicht von synthetischen Arzneistoffen. Das trifft auch 1) für Arzneistoffintoleranzen durch genetisch bedingte Enzymdefekte sowie 2) für idiosynkratische Reaktionen infolge von Enzympolymorphismus zu. 1. Für genetisch bedingte Unverträglichkeiten, die durch Naturstoffe ausgelöst werden, liegen bisher nur einige wenige Untersuchungen vor. Relativ gut ist die Datenlage zu den unerwünschten Wirkungen der Pyrimidine aus Vicia-faba-Früchten. Auf die Abgrenzung erythrozytärer Enzymdefekte, die genetisch bedingt sind, und solchen, die immunologisch-allergischen Ursprungs, also erworben sind, wird in diesem Zusammenhange hingewiesen. 2. Mit pharmakokinetischen Anomalien infolge von Enzympolymorphismus muss nach Einnahme von Coffein, Codein, Kava-Kava und Spartein gerechnet werden. Aus dem Alltag bekannt sind idiosynkratische Reaktionen gegenüber rote Beete und Spargel. Diese Beispiele aus dem Bereich der Lebensmittelchemie werden erörtert, weil sich an ihnen ein wichtiger Unterschied verdeutlichen lässt, nämlich der Unterschied zwischen einer von Geburt an genetisch determinierten und einer im Laufe eines individuellen Lebens erworbenen Idiosynkrasie.
12.1
Glucose-6-PhosphatDehydrogenase-Mangel
Bei der Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase (Glc-6-PDG) handelt es sich um ein Enzym, das für die Erythrozyten von besonderer Bedeutung ist: In der Glc-6-PDG-Reaktion wird das NADP-H bereitgestellt, das für die Entsorgung reaktionsfähiger Sauerstofspezies benötigt wird. Die > Abb. 12.1 zeigt die wichtigsten Enzymsysteme, die die Erythrozyten vor oxidativer Schädigung schützen. Angeborener Mangel an Glc-6-PDG gehört zu den häuigsten Erbkrankheiten. Von dem Enzymdefekt besonders betroffen sind die Völker des Mittelmeerraums, Asiens und Afrikas. Nach Ergebnissen populationsgenetischer Untersuchungen sind von dem Enzymdefekt betrofen: 1,5% der Europäer, ca. 5% der Chinesen und Inder, 20% der Afrika-
ner und bis zu 60% der Israelis. Da das Enzym X-chromosomal codiert ist, indet sich die Erbkrankheit vorzugsweise bei Männern und nur selten bei Frauen, die lediglich Überträger des Merkmals sind. Das Merkmal wird dominant vererbt. Wenn Träger mit Glc-6-PDG-Mangel autoxidable Xenobiotika einnehmen, kommt es zunächst zu einem Abfall des reduzierten Glutathions in den Erythrozyten ( > Abb. 12.1), gefolgt von Methämoglobinbildung, Bildung von denaturiertem Hämoglobin (unter dem Mikroskop nach entsprechender Anfärbung als sog. Heinzkörper sichtbar) und Hämolyse als Zeichen einer Membranschädigung. Die akute Hämolyse innerhalb der Gefäße führt zu einem bedrohlichen Zustand mit Schüttelfrost, Erbrechen und Fieber, Leibschmerzen und Hämoglobinurie. Bei einer langsamen chronischen Entwicklung vermag sich der Körper anzupassen, sodass der Patient trotz niedriger Hämoglobinwerte kaum Symptome äußert.
12.1.1
Favismusfaktoren
Man versteht unter Favismusfaktoren bestimmte Inhaltsstofe der Früchte und Pollen von Vicia faba L. (Familie: Fabaceae [IIB9a] die eine als Favismus bekannte Erkrankung auslösen. Die Erkrankung war bereits im Altertum bekannt. 5–24 h nach dem Essen von Favabohnen (dicke Bohnen oder Puf-, Feld-, Pferde- oder Saubohnen) treten Übelkeit, Leibweh und Schwindelgefühl auf. In schweren Fällen führt die schnell und unerwartet autretende Erkrankung zu hämolytischer Anämie, Fieber und Gelbsucht. Nach 24–48 h kann spontane Besserung eintreten. Bei schwer hämolytischen Reaktionen kann aber auch innerhalb von 48 h der Tod eintreten. Vicia faba ist nur als Kulturplanze bekannt. Die Kultur ist im Mittelmeerraum und Kleinasien seit der Steinzeit belegt. Heute werden die unreifen Früchte (Hülsen mit Samen) als nahrhates (eiweißreiches) Gemüse genutzt. Die reifen Samen sind für den Menschen schwer verdaulich, liefern jedoch hochwertiges Mastfutter für Schweine, Rinder, Pferde und Schafe. An der Auslösung von Favismus sind zwei Gruppen von Inhaltsstofen beteiligt: Pyrimidinglykoside (Vicin und Convicin; > Abb. 12.2) und l-DOPA, wobei l-DOPA allerdings nur in den Schalen vorkommt. Die Pyrimidine sind autoxidable Substanzen ( > Abb. 12.2), die – vergleichbar einem Katalysator – oxidable Systeme der Zelle
12.1 Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Mangel
12
. Abb. 12.1
Ein erblich bedingter Enzymdefekt, mangelnde Bildung von Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase (Glc-6-PDG), führt bei Zufuhr oxidationsfähiger Xenobiotika zur Zerstörung der roten Blutkörperchen. Die Abbildung skizziert den chemischen Mechanismus dieses Phänomens. Der sich anreichernde Wasserstoffsuperoxid fördert die Bildung von Methämoglobin aus Hämoglobin. Der Hauptfaktor ist aber die zerstörende Wirkung von H2O2 auf ungesättigte Fettsäurekomponenten in den Membranlipiden der Erythrozyten. Es bilden sich Hydroperoxyderivate; chemische Folgereaktionen, die nicht näher erforscht sind, führen zum „Leckwerden“ der Membranen; die Ionengradienten können nicht mehr aufrecht erhalten werden, die Zelle platzt und roter Blutfarbstoff wird frei (Hämolyse). Warum sammelt sich Wasserstoffperoxid an? Die Zelle verfügt nicht über die hinreichende Konzentration an reduziertem Glutathion, da keine adäquate Menge an Reduktionsäquivalenten in Form von NADP-H zur Verfügung steht. Die Energie zur Reduktion des NADP+ zu NADP-H wiederum wird durch den Abbau von Glc-6-P zu 6-Phosphogluconat gewonnen, was aber infolge Mangels an Glc-6-PDG nicht in dem erforderlichen Maße erfolgt
wie Glutathion (GSH → GSSG) oder Ferrohämoglobin (→ Ferrihämoglobin) laufend oxidieren. Ist infolge einer Glc-6-PDG-Anomalie eine entsprechende Bereitstellung von NADP-H nicht mehr gewährleistet, kommt es zu Methämoglobinbildung und Hämolyse. Abschließend sei auf einige Ungereimtheiten an der Erklärung des Phänomens Favismus aufmerksam gemacht. Zwei Beobachtungen vor allem sind es, die zu Zweifeln an dem Gendefekt als alleinige Ursache geführt haben: x Nicht alle Personen mit einer Glc-6-PDG-Anomalie erkranken nach einer Mahlzeit mit Vicia-faba-Bohnen;
x bei empindlichen Personen genügt das Einatmen von Blütenstaub der Vicia-faba-Planze, um Favismus auszulösen. Eine Erklärungsmöglichkeit böte die immunologische Beteiligung am Favismus. Zum Manifestwerden müssten zwei Faktoren zusammentrefen: die genetische Veranlagung einer Glc-6-PDG-Anomalie und zugleich eine vorangegangene Sensibilisierung (Eyer 1994). Allerdings ist die Natur einer eventuellen immunologischen Beteiligung am Favismus unklar, wie überhaupt der Favismus noch immer ein nicht vollständig verstandenes Phänomen ist.
297
298
12
Abnorme Phytopharmakawirkungen durch genetische Ursachen
. Abb. 12.2
Die aus Vicin und Convicin durch Abspaltung von β-D-Glucose sich bildenden Aglykone Divicin und Isouramil (Abk. für beide Substanzen: DH2) sind autoxidable Substanzen (Reaktionsgleichungen 1 bis 4). Nach einer Induktionsperiode wird die Kinetik der Autoxidation durch die Reaktionen 2, 3 und 4 autokatalytisch beschleunigt, durch die Disproportionierungsreaktion 4 (unter Bildung zweier Radikale) sogar mit quadratischem Anstieg der Reaktionsgeschwindigkeit. Die Chinonformen D verbrauchen laufend Glutathion in reduzierter Form (Reaktionsgleichung 5), das bei mangelnder Aktivität der Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase nicht in dem erforderlichen Maße reduziert werden kann ( > Abb. 12.1): Infolge Fehlens der erforderlichen Reduktionsäquivalente kann die Homöostase des Erythrozytenstoffwechsels nicht mehr aufrecht erhalten werden
12.1.2
Weitere Naturprodukte, die bei Glc-6-PDG-Mangel vorsichtig anzuwenden sind
Zu den autoxidablen Substanzen gehören alle o-und pPhenole, die insbesondere als Flavonoide Bestandteile vieler planzlicher Arzneimittel sind und die auch in Genussmitteln wie dem Grünen Tee in beachtlichen Konzentrationen autreten. Trotz ausgiebiger Anwendung sind jedoch bisher keine unerwünschten Wirkungen dokumentiert. Eine Ausnahme macht das aus Catechu herstellbare Cianidanol-3 (Catechin). Die Substanz wurde einige Jahre lang als Leberschutzmittel verwendet, musste aber 1985 wegen zahlreicher Zwischenfälle – Hämolysen, Hautreaktionen, Fieber – vom Markt genommen werden. Die schweren Fälle, insbesondere die mit Todesfolge, betrafen Medikamentenanwender aus dem südeuropäischen Raum (Süditalien und Portugal). Diese Häufung lässt an einen Zusammenhang mit Glc-6-PDG-Mangel denken, eine Ver-
mutung, der aber allem Anschein nach nicht nachgegangen wurde. Hingegen konnte in anderen Fällen eine vorangegangene Sensibilisierung nachgewiesen werden, sodass es sich, zumindest in diesen Fällen, um keine genetisch determinierte, sondern um eine arzneimittelallergisch bedingte hämolytische Anämie gehandelt hat (Netel et al. 1981). Zu den Naturstofen, die verdächtigt werden, bei Personen mit Glc-6-PDG-Enzymdefekt, hämolytische Krisen zu induzieren, zählt die Ascorbinsäure (Vitamin C), insbesondere wenn sie hochdosiert eingenommen wird. Als potentielle Auslöser werden der Literatur weiterhin Momordica-charantia-Früchte (Prinz u. Kopp 2004) und Salicin-führende Arzneidrogen wie Weidenrinde (Salicis cortex, Salix-caprea-Rinde) oder Pappelrinde (Populustremula-Rinde) erwähnt (Anonym 2004).Es konnten allerdings keine dokumentierten Berichte über entsprechende Zwischenfälle gefunden werden; daher dürten die Angaben rein spekulativ sein.
12.2 Polymorphismus von Biotransformationsenzymen
12.2
Polymorphismus von Biotransformationsenzymen
Der Begrif Polymorphismus wird in unterschiedlichem Sinne gebraucht; im vorliegenden Zusammenhang ist der genetische Polymorphismus gemeint, worunter man das Autreten von zwei oder mehr Allelen eines Gens in einer Population oder Art versteht. Es geht im nachfolgenden Abschnitt aber nicht um Polymorphismus generell, sondern eingeschränkt allein um die Vielgestaltigkeit von Genen, die Biotransformationsenzyme codieren. Die Phänotypen der von diesen Genen beeinlussten Merkmale unterscheiden sich in der Verstofwechslung von Fremdstofen (Xenobiotika). Relevant sind dabei allein die lipophilen Xenobiotika, denn nur sie muss der Organismus zur Ausscheidung und Entgitung in wasserlösliche Verbindungen umwandeln. Metabolische Umwandlungen von lipophilen Xenobiotika im Organismus, die zur Bildung wasserlöslicher Ausscheidungsprodukte führen, fasst man unter dem Begrif Biotransformation zusammen. Enzyme, die Biotransformationsreaktionen katalysieren, nennt man Biotransformationsenzyme. Die Vielzahl enzymatischer Reaktionen zur Umwandlung lipophiler Fremdstofe in hydrophile Ausscheidungsprodukte unterteilt man in die zwei großen Gruppen der Phase-I- und der Phase-II-Reaktionen. Phase-I-Enzyme katalysieren Oxidationen, Reduktionen und Hydrolysen; Phase-II-Enzyme verändern den Fremdstof über eine Verknüpfung (Konjugation) mit einem endogenen Substrat (Acetylierung, Sulfatierung oder Glucuronidierung).
12
Der genetische Polymorphismus von Biotransformationsenzymen bleibt dem Träger verborgen, d. h. die Erbanomalie ist mit keiner Beeinträchtigung von Gesundheit und Wohlbeinden verbunden, allerdings nur, solange der Organismus nicht mit lipophilen Fremdstofen belastet wird. Er tritt somit phänotypisch – als interindividuelle Variabilität von Git- und Arzneimittelwirkungen – erst dann in Erscheinung, wenn die betrefende Person ein Arzneimittel oder ein Genussgit zu sich nimmt. Ein bekanntes Beispiel für dieses Phänomen ist die individuell unterschiedliche Verträglichkeit von Alkohol. Die Unverträglichkeitssymptome umfassen Gesichtsröte, Steigerung der Herzfrequenz, Herzklopfen, Hitzegefühl im Magen und Muskelschwäche. Diese Symptome werden verursacht, weil der beim Abbau von Ethanol entstehende Acetaldehyd nicht rasch genug weiter oxidiert wird. Ursächlich verantwortlich dafür ist das Autreten von zwei unterschiedlichen Isoenzymen für die Oxidation von Acetaldehyd zu Acetat, die man durch unterschiedliche Beziferung als Acetaldehyddehydrogenase 1 und 2 kennzeichnet. Die Dehydrogenase 2 ist weniger aktiv, sodass sich bei Trägern dieses Erbmerkmals ein höherer Blutspiegel an Acetaldehyd aubauen kann. Dieser Phänotyp der Alkoholunverträglichkeit wird bei etwa 50% der Japaner, Chinesen, Vietnamesen und der Indianerstämme Amerikas gefunden, jedoch so gut wie gar nicht bei Vertretern der kaukasischen (weißen) und afrikanischen Rassen. Hinweis. Es gibt noch einen weiteren Abbauweg für Etha-
nol. Eine Teilmenge wird direkt oxidativ mittel eines P450Enzyms abgebaut ( > Tabelle 12.1).
. Tabelle 12.1 Beispiele für Cytochrom-P450-Isoenzyme des Menschen, ihre Lokalisation in Geweben und Beispiele für Substratspezifität Gewebe
Substrate
CYP1A2
Leber
Metabolisiert ca. 15% der heutigen Arzneimittel, darunter Coffein und Theophyllin; metabolisiert ferner Aflatoxin B1a
CYP2D6b
Leber, Dickdarm, Niere
Metabolisiert ca. 25% der heutigen Arzneimittel, darunter Ajmalin, die Kavapyrone u. Spartein; ferner Aflatoxin B1a
CYP2E1
Leber, Dickdarm, Niere
Metabolisiert vor allem kleine Moleküle wie z. B. Ethanol oder Halothan
CYP3A4
Leber, Dünndarmwand
Metabolisiert mindestens ca. die Hälfte aller gebräuchlichen Arzneistoffe, darunter Statine, Steroide, Makrolidantibiotika sowie Coffeina, Codein und Naringenin (Grapefruitsaft)
P450 (Isoenzym)
a b
Bestimmte Stoffe können durch mehr als nur 1 Isoenzym abgebaut werden; zeigt ausgeprägten genetischen Polymorphismus.
299
300
12 12.2.1
Abnorme Phytopharmakawirkungen durch genetische Ursachen
Cytochrom-P450-Polymorphismus
Die Bezeichnung Cytochrom P450 erhielt das Enzymsystem auf Grund einer analytischen Eigenschat: Die reduzierte Form des Enzyms – mit einem 2-wertigen Eisenion im aktiven Zentrum – bildet mit Kohlenmonoxid einen Komplex, dessen an der Biotransformation von Arzneimitteln beteiligtes Absorptionsmaximum bei 450 nm, also im sichtbaren Bereich, liegt. Der Buchstabe P steht für „Pigment“ (Farbpigment). Das P-450-System spielt eine entscheidende Rolle bei der oxidativen Einführung funktioneller Gruppen mit dem Ziel, das lipophile Xenobiotikum wasserlöslich und damit nierengängig zu machen. Bisher sind über 60 Isoenzyme bekannt, die in 17 verschiedene Familien eingeteilt werden: Familien kennzeichnet man durch eine arabische Zifer, Unterfamilien mit einem Großbuchstaben und die einzelnen CYP-Formen wieder durch eine arabische Zifer. Drei dieser Familien (1, 2 und 3) sind an der Biotransformation von Arzneimitteln beteiligt Die Familien unterteilt man weiter in Unterfamilien und kennzeichnet sie durch Großbuchstaben. In > Tabelle 12.1 sind vier für die Phase-I-Biotransformation wichtige Isoenzyme aufgelistet. Auf Grund von Enzymdefekten kann der Abbau eines zugeführten Xenobiotikums verlangsamt sein, sodass man die langsamen von den normalen Metabolisierern unterscheidet. Im Falle von CYP2D6 existiert auf Grund einer Genampliikation der besondere Typ der extrem schnellen Metabolisierer. In der Praxis können sich diese genetischen Polymorphismen wie folgt äußern: x übermäßig ausgeprägte bis toxische Wirkung bei üblicher Dosierung oder x geringe oder keine Wirkung bei üblicher Dosierung Um eine Vorstellung von der Größe des Efekts zu vermitteln, sei auf ein Beispiel aus dem Bereich der synthetischen Antidepressiva aufmerksam gemacht: Um den gewünschten Efekt zu erzielen müssen die Dosen des Nortryptilins zwischen 10 mg und 500 mg variiert werden (Schwab et al. 1999). Im Folgenden wird die therapeutische Bedeutung des erblichen Polymorphismus an konkreten Beispielen aus dem Bereich der Planzenstofe erläutert. Ajmalin. Dieses gegen bestimmte Formen von Herzar-
rhythmien verwendete Rauwolia-Akaloid (Strukturformel > Abschnitt 27.11.6) ist vom CYP2D6-Polymorphismus abhängig. Die mittlere Standarddosis beträgt in der Notfallbehandlung initial 50 mg i.v., eine Dosis, bei der
Langsammetabolisierer bereits deutliche Symptome der Überdosierung in Form negativ-inotroper Efekte (Herzinsuizienz) zeigen. Für das Ajmalinderivat N-Propylajmalin beträgt beim Langsammetabolisierer die Tagesdosis 20 mg/Tag, die des ultraschnellen Metabolisierers hingegen 200 mg/Tag, also das Zehnfache. Codein. Cytochrom-P-450(CYP)2D6 katalysiert die ODemethylierung von Codein zu Morphin. Im Normalfall werden etwa 10% des resorbierten Codeins in Morphin umgewandelt. 5–10% der weißen Bevölkerung sind Langsammetabolisierer, sodass in diesen Fällen Codein keine analgetische Wirkung entfaltet. Coffein. Cofein wird durch Demethylierung und Oxida-
tion in Position 8 unter Bildung von Paraxanthin (1,7-Dimethylxanthin) metabolisiert. CYP1A2-Polymorphismus sollte Auswirkungen auf die Schnelligkeit des Cofeinabbaus haben, was tatsächlich der Fall ist. Man benutzt heute Cofein als Testsubstanz zur Bestimmung des Cytochrom-P450(CYP)1A2-Phänotyps, was Voraussagen über die Wirksamkeit bestimmter Arzneimittel ermöglicht (Faber et al. 2005). Zum Acetyltransferase-Polymorphismus > den Abschnitt 12.2.2. Kavapyrone. Kavapyrone sind die wirksamkeitsbestimmenden Inhaltsstofe des Kavaextraktes ( > Abschnitt 26.6). Nach Einnahme entsprechender Präparate in normaler Dosierung traten vereinzelt bei Patienten auch nach kurzer Behandlungsdauer toxische Leberschäden auf. In zwei dieser Fälle wurde als Ursache für die Leberschäden ein Mangel an Cytochrom-P450(CYP)2D6 nachgewiesen, d. h. es hat sich um Langsammetabolisierer gehandelt (Russmann et al. 2001; Teschke 2002). Hinweis: Die Phänotypisierung des Gendefekts erfolgte mit Debrisoquin als In-vivo-Testsubstanz. Näheres zu diesem Test > unter Spartein. Spartein. Es handelt sich um ein tetrazyklisches Chinolizidinalkaloid ( > Abschnitt 27.2), das in Cytisus-, Genistaund Lupinus-Arten vorkommt, das therapeutisch als Reinsubstanz heute nur noch selten verwendet wird. Spartein hat aber, ähnlich wie Debrisoquin, diagnostische Bedeutung zum Nachweis des CYP2D6-Gendefektes. Der Proband erhält eine einmalige Testdosis von 50 oder 100 mg Sparteinsulfat-pentahydrat. Im 6- und 12Stunden-Urin wird danach das Verhältnis von Spartein zu Dehydrospartein bestimmt. Bei schlechten Metabolisierern beträgt der Faktor >20. Sie können somit Spartein
12.2 Polymorphismus von Biotransformationsenzymen
nicht in nennenswerten Mengen abbauen und müssen praktisch die gesamte Dosis unverändert im Harn ausscheiden; dieser Vorgang zeigt Sättigungskinetik. Beim deizienten Metabolisierertyp kommt es zur Kumulation des Alkaloids und raschem Autreten toxischer Nebenwirkungen.
12.2.2
N-Acetyltransferasepolymorphismus: Beispiel für einen Phase-II-Polymorphismus
Entdeckt wurde diese Form des genetischen Polymorphismus nach Einführung des Tuberkulostatikums Isonicotinsäurehydrazid (INH). Die Patienten unterschieden sich durch die unterschiedliche Fähigkeit, diesen Arzneistof zu acetylieren und auszuscheiden. Die formalgenetische Interpretation nimmt für Schnellausscheider ein homozygotes Allel r (für „rapid“) und für Langsamausscheider ein Allel s (für „slow“) an. Die Genotypen rr und rs sind phänotypisch Schnellausscheider, d. h. das Merkmal r wird dominant vererbt. Die populationsgenetische Verteilung wird als bimodal bezeichnet ( > dazu die Erörterungen in der Infobox). Der Acetyltransferasepolymorphismus verursacht bei allen Arzneistofen, die zur Ausscheidung acetyliert werden müssen (wie z. B. Sulfanilamide, Chloramphenicol, Glucocorticoide u. a. m.) bei Schnellausscheidern Wirkungslosigkeit bzw. herapieresistenz, bei Langsamausscheidern gehäut unerwünschte Wirkungen. Im Bereich der Naturstofe ist es der Ausscheidungsmechanismus des Cofeins, dessen genetische Variabilität innerhalb zahlreicher Populationen untersucht worden ist (Chen et al. 2005; Grant et al. 1983; Pontes et al. 1993).
12
Acetylierungsphänotypen anhand der Coffeinmetabolitenanalyse. Zunächst sei daran erinnert, dass die Meta-
bolisierung des Cofeins beim Menschen ein ziemlich komplizierter Vorgang ist. Außer oxidativen Vorgängen, an der CYP1A2 und die Xanthinoxidase beteiligt sind, ist in unerwarteter Weise auch ein Acetylierungsschritt involviert, der durch das Enzym N-Acetyltransferase 2 (NAT2) katalysiert wird ( > Abb. 12.3). Beim Abbau des Cofeins entstehen Uracilderivate, insbesondere 5-Acetylamino-6formylamino-3-methyluracil (AFMU) und dessen Desformylderivat AAMU ( > Abb. 12.3). die ofenbar erst nach Acetylierung harngängig sind. Anhand des Verhältnisses von AFMU/1-Methylxanthin im Harn lassen sich Langsam- von Schnellacetylierern unterscheiden. Die Verteilung innerhalb einer Population ist bimodal (zu diesem Begrif > Infobox). Für den Genuss cofeinhaltiger Getränke oder die Einnahme cofeinhaltiger Arzneimittel ist das Mengenverhältnis der Metaboliten ohne Relevanz. Eine gewisse Bedeutung aber hat die Bestimmung der Cofeinmetaboliten, der so genannte Cofeintest, in der Arbeits- und Umweltmedizin als so genannter Suszeptibilitätsmarker. Man unterstellt, dass Personen mit mangelnder Metabolisierungsfähigkeit unter Fremdstobelastung einem erhöhten Erkrankungsrisiko ausgesetzt sind. Auf diese Weise ließe sich vielleicht ein individuelles Gesundheitsrisiko am Arbeitsplatz voraussagen. Die bisherigen Studien sind aber widersprüchlich (Brüning et al. 2004) Der Cofeintest ermöglicht ferner eine Vorhersage über die Verträglichkeit von Arzneistofen, die mittels NAT2 entgitet werden. Außer dem bereits oben erwähnten Arzneistofen gehören dazu Dapson, Dihydralazin, Diazepam u. a. m.
Infobox Für die unterschiedlichen Reaktionen des Menschen auf die Zufuhr eines Xenobiotikums, sei es ein synthetischer Arzneistoff oder ein sekundärer Pflanzenstoff, sind häufig genetische Variationen verantwortlich, so genannte genetische Polymorphismen. Genetische Polymorphismen (griech.: póly [viel] und mórphe [Gestalt, Vielgestaltigkeit]) beruhen auf dem regelmäßigen Auftreten von zwei oder mehr Allelen eines Gens innerhalb einer Population oder Art. In der Pharmakogenetik interessiert die genetische Vielgestaltigkeit, wenn sie zu abweichenden Rezeptorstrukturen, zu Isoformen metabolisierender Enzyme oder unterschiedlichen
6
Aktivitäten der Arzneimitteltransporter (der ABC-Transporter) führt. Man schätzt, dass das menschliche Genom an die 3 Millionen genetische Polymorphismen aufweist. Manche Autoren sprechen nicht korrekt von Mutationen: Der Unterschied zwischen einer Mutation und einem genetischen Polymorphismus besteht darin, dass eine Mutation innerhalb eines Einzellebens erworben wird, was für die als Polymorphismus bezeichnete genetische Variation nicht zutrifft. Genetisch variable Merkmale lassen sich klinisch-statistisch auswerten. Es gehe beispielsweise um die Frage, wie sich Rasch- und Langsammetabolisierer von Spartein in
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302
12
Abnorme Phytopharmakawirkungen durch genetische Ursachen
einem Kollektiv verteilen. Nach bestimmtem Modus ausgewählte Testpersonen erhalten die Substanz (z. B. Spartein), deren Konzentration dann nach einer festgelegten Zeit im Urin gemessen wird. Trägt man die Anzahl der Testpersonen gegen die gemessenen Konzentrationen auf, so resultiert im Falle des Sparteins eine zweigipfelige Verteilungskurve; sie zeigt an, dass eine Subpopulation Spartein sehr rasch abbaut, eine andere hingegen außergewöhnlich langsam. Man spricht von einer bimodalen Verteilung. Der statistische Verteilungsmodus kann aber auch trimodal sein, ein Modus, der bei pharmakogenetischen Analysen besonders häufig auftritt, oder er kann eine eingipfelige Normalverteilung zeigen. Die durch statistische Analysen festgelegten Phänotypen zeigen mit den Genotypen den folgenden Zusammenhang: x polygenetisch determinierte Anlagen zeigen eine eingipfelige Normalverteilung; x monogenetisch determinierte Anlagen zeigen eine Verteilungskurve mit zwei oder mit drei Gipfeln; dabei entspricht die biomodale Verteilung einem dominan-
12.3
Nahrungsmittelidiosynkrasien: Rote Beete und Spargel
Rote Beete. Bei etwa 10% der Bevölkerung färbt sich der
Harn nach dem Essen von Salat aus Roter Beete = Rote Rüben) aufallend rot. Einige Personen denken an Blut im Harn und suchen darüber alarmiert den Arzt auf. Die Idiosynkrasie besteht, wie man lange Zeit dachte, darin, dass dieser Personenkreis nicht fähig sei, die Rote-Beete-Farbstofe im Organismus abzubauen, sodass sie unverändert in den Harn gelangen. Genetische Studien an Hand des Erbganges sprachen für eine monogenetische Ursache (Allison u. McWhirter 1956); allerdings deutete eine in Brasilien an holländischen Einwanderern durchgeführte Studie auf eine polygene Erbbedingtheit der Betacyaninurie hin (Pfändler 1963; Saldanha et al. 1961). Tatsächlich aber handelt es sich, wie die neuesten Untersuchungen ergaben (Übersicht bei Mitchell 2001), um keine genetisch bedingte Anomalie, da die Betacyaninausscheidung im Verlaufe eines individuellen Lebens erworben und auch wieder verloren gehen kann. Die Farbstofe sind säurelabil und werden bei einem pH-Wert des Nüchternmagens rasch zersetzt. Betacyanurie zeigen Personen, deren Magensat-pH nach dem Essen nur sehr langsam auf den
ten, die trimodale einem kodominanten Vererbungsmodus. Um sicher zu gehen, müssen Stammbaumuntersuchungen durchgeführt werden. Ein eindrucksvolles Beispiel ist die Geschmacksempfindlichkeit gegenüber Phenylthiocarbamid (PTC). Es gibt in der Bevölkerung zwei Gruppen: Für die „Schmecker“ schmeckt die Substanz bitter, für die „Nichtschmecker“ bleibt die Substanz geschmacklos. Stammbaumuntersuchungen sowie das Verhalten der Nachkommenschaft aus Ehen aller möglichen Phänotypen führten zu dem Ergebnis, dass die Geschmacksempfindung für PTC durch ein einziges Allelenpaar (T = Schmeckereigenschaft, t = Nichtschmeckereigenschaft) bedingt ist. T verhält sich gegenüber t dominant, d. h. die Schmecker sind homozygot (TT) oder heterozygot (Tt) dominant; die Nichtschmecker homozygot rezessiv. Heute im Zeitalter der modernen Genetik ist die Genotyp-Phänotyp-Korrelation Aufgabe der funktionalen Genomforschung
Nüchternwert absinkt und die zugleich den Mageninhalt rascher als normal in den Dünndarm entleeren. Betacyaninurie lässt sich experimentell erzeugen, indem man die Eigenschat nutzt, dass Oxal- und Ascorbinsäure die Betacyanine vor dem Abbau durch die Salzsäure des Magens schützen. Verabreicht man Probanden Betacyanine zusammen mit Oxalsäure, so werden aus zuvor Farbstofnichtausscheidern nunmehr Farbstofausscheider. Spargel. Etwa jede zweite Person scheidet nach einer
Mahlzeit mit Spargel einen übelriechenden, an ein verdorbenes Kohlgericht erinnernden Harn aus. Das Merkmal „Ausscheider“ wird autosomal-dominant vererbt. Eine Schwangere, die ihrer genetischen Anlage nach zum Typus der Nichtausscheider zählt, kann für die Dauer der Schwangerschat den kohlartig riechenden Harn ausscheiden, wenn ihr Kind – und natürlich dessen Vater – zum genetischen Typus der Ausscheider zählen. Das Problem des Uringeruchs nach Spargelgenuss wird komplizierter noch dadurch, dass es Individuen gibt, die nicht in der Lage sind, kohlassoziierte Gerüche wahrzunehmen, d. h. man muss bei statistischen Untersuchungen (Befragungen) das genetisch bedingte Merkmal „Riecher/Nichtriecher“ ins Kalkül ziehen.
12.3 Nahrungsmittelidiosynkrasien: Rote Beete und Spargel
12
. Abb. 12.3
Metabolisierung des Coffeins beim Menschen. Coffein wird zunächst in Position N-3 unter Bildung von 1,3-Dimethylxanthin demethyliert und zum entsprechenden Harnsäurederivat oxidiert. Beide Schritte erfordern P450-Enzyme, speziell CYP1A2. Ein anderer Abbauzweig besteht in der oxidativen Spaltung der Bindung zwischen N-7 und C-8 unter gleichzeitiger Acetylierung mittels der N-Acetyltransferase 2 (NAT2). Es entsteht ein Uracilderivat, das wenig beständig ist und leicht Formaldehyd abspaltet (Tang et al. 1983)
Aber was ist die Ursache des üblen Harngeruchs? Junger Spargel enthält eine Schwefel im Molekül enthaltende Säure, die Asparagussäure ( > Abb. 12.4). Verabreicht man Asparagussäure – nicht zu verwechseln mit der Asparaginsäure – an Probanden vom Typus der Ausscheider, so nimmt der Harn den gleichen Geruch an, wie nach einer ausgiebigen Spargemahlzeit. Als harngängig wurden mehrere S im Molekül enthaltende Substanzen identiiziert, darunter Methanthiol, Dimethyldisulid, Dimethylsulid, Dimethylsulfoxid und Dimethylsulfon (Waring et al.
1987). Hauptverantwortlich für den üblen Geruch sind Methanthiol und Dimethyldisulid. Hinweis. Beim Kochen des Spargels wird Asparagussäure oxidativ decaboxyliert unter Bildung von 1,2-Dithiacyclopenten, eine Substanz, die Träger des angenehmen Spargelaromas ist.
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304
12
Abnorme Phytopharmakawirkungen durch genetische Ursachen
. Abb. 12.4
Asparagussäure, nicht zu verwechseln mit der Asparaginsäure, ähnelt in der Struktur der ubiquitär verbreiteten α-Liponsäure (Thioctsäure). Asparagussäure kommt im jungen (dem weißen) Spargel in relativ hohen Konzentrationen vor und ist die Muttersubstanz sowohl des Spargelaromas als auch der übel riechenden Abbauprodukte im Harn. Nach Einnahme von Asparagussäure an Probanden, die die Substanz verstoffwechseln können, wurden im Harn die folgenden Abbauprodukte gefunden: Methanthiol, Dimethylsulfid, Dimethyldisulfid, Dimethylsulfoxid, Dimethylsulfon und Bis(methythio)methan. Die beiden zuerst genannten Substanzen sind dabei die Hauptträger des Gestanks (Mitchell 2001). Der Abbaumechanismus ist experimentell nicht untersucht. Man nimmt an: Asparagussäure wird unter Öffnung der Disulfidbrücke in die offenkettige Thiolform (Dihydroasparagussäure) umgewandelt. Nach Methylierung ist das entsprechende S-Methylderivat ein Substrat für die Thionase/β-Lyase-Aktivität, wobei Methanthiol frei wird. Dimerisierung von Methanthiol ergibt Dimethylsulfid, während Methylierung und die S-Oxidation Dimethylsulfid, Dimethylsulfoxid und Dimethylsulfon liefert
! Kernaussagen
Die Pharmakogenetik untersucht die genetisch bedingten Ursachen der individuellen Reaktionen auf Arzneistoffe und andere Xenobiotika. Arzneistoffe und Xenobiotika mit autoxidativen Eigenschaften schädigen die Membran der roten Blutkörperchen bei Individuen, die an einem angeborenen (hereditären) Glucose-6-Phosphat-DehydrogenaseMangel leiden. Glucose-6-Phosphat ist ein Enzym des Pentosephosphatzyklus, der in den Erythrozyten zur Gewinnung von Reduktionsäquivalenten (NADP-H) dient: bei Mangel fällt oxidiertes Glutathion an, wodurch die Entgiftung von Peroxiden nicht mehr gewährleistet ist. Die Peroxide schädigen die Erythrozytenmembran, was schließlich zur Hämolyse führt.
Genetisch bedingter Polymorphismus betrifft besonders häufig Enzyme, die lipophile Xenobiotika in polare harngängige Metabolite umwandeln. Man unterscheidet zwischen funktionalisierenden (Phase-I-) und konjugierenden (Phase-II-)Enzymen. Als klinisch relevante Beispiele für genetisch bedingten Polymorphismus wurden Ajmalin, Coffein, Codein, die Kavapyrone und Spartein genannt, alles Substanzen, die durch P450-Isoenzyme metabolisiert werden. Genetisch bedingte Variabilität im Abbau von Pflanzenstoffen durch den menschlichen Organismus lässt sich auch im Alltag beobachten: im unterschiedlichen Abbau der Betacyanine der Roten Beete oder der Asparagussäure des Spargels.
Literatur
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Schlüsselbegriffe Acetyltransferase-Polymorphismus Asparaginsäure Bimodale Verteilung Betacyanine Biotransformation CYP1A2-Gendefekt CYP2D6-Gendefekt Cytochrom-P-450
Favismus Favismusfaktoren Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase Glutathion Hämolyse Idiosynkrasie Isoenzyme Langsammetabolisierer
Literatur Allison AC, McWhirter KG (1956) Two unifactorial characters for which man is polymorphic. Nature (London) 178: 748–749 Anonym (2004) Internet: www.g-netz.de, unter: Heilpflanzen/Espe/ Hinweise Brüning T, Giesen T, Herth V et al. (2004) Bewertung von Suszeptibilitätsparametern in der Arbeits- und Umweltmedizin. Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 39: 4–11 Chen X, Wang L, Zhi I et al. (2005) The G-113A polymorphism in CYP1A2 affects the caffeine metabolic ratio in Chinese population. Clin Pharmacol Ther 78: 249–259 Eichelbaum M, Spannbrucker N, Steincke B, Dengler HJ (1979) Defective N-oxidation of spartein in man: a new pharmacogenetic defect. Eur J Clin Pharmacol 16: 183–187 Eyer P (1994) Blut und blutbildende Organe. In: Schäfer H, Schäfer SG (Hrsg) Lehrbuch der Toxikologie, Wissenschaftsverlag, Mannheim Leipzig Wien, S 238–256 Faber MS, Jetter A, Fuhr U (2005) Assessment of CYP1A2 activity in clinical practice: why, how, and when. Basic Clin Pharmacol Toxicol 97: 125–134 Grant DM, Tang BK, Kalow W (1983) Polymorphic N-acetylation of a caffeine metabolite. Clin Pharmacol Ther 33: 355–359 Mitchell SC (2001) Food Idiosyncrasis: Beetroot and Asparagus. Drug Metabolism and Disposition 29: 539–543 Neftel KA, Japp H, Diem P, Wälti M (1981) (+)-Cianidanol-3 induced immune haemolytic anaemia. In: Conn HO (Hrsg) International Workshop on (+)-cianidanol in diseases of the liver. International Congress and Symposium Series/Royal Soc Med 47: 223–225 Pfändler U (1963) Genetische Probleme bei Stoffwechselleiden und biochemische Abweichungen. Der Internist 4: 363–374 Pontes ZB, Vincent-Viry M, Gueguen R, Galteau MM, Siest G (1993) Acetyation phenotypes and biological variation in a French Caucasian population. Eur J Clin Chem Clin Biochem 31: 59–68
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13 13 Überempfindlichkeitsreaktionen beim Umgang mit Drogen und bei der Anwendung pflanzlicher Arzneimittel R. Hänsel und A. Vollmar . . . .
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308 308 308 310
13.1
Begrife: Idiosynkrasie, Allergie und Pseudoallergie 13.1.1 Idiosynkrasie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.1.2 Allergie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.1.3 Pseudoallergien . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13.2
Mit dem Autreten welcher allergischen Erkrankungen ist beim Umgang mit Drogen und Phytopharmaka zu rechnen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310
13.3
Welche Hinweise gibt es auf Vorliegen einer Arzneimittelallergie? . . . . . . . . . . . . . . . 311 13.3.1 Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 13.3.2 Allergiediagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
13.4
Was versteht man unter Sensibilisierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 13.4.1 Sensibilisierung im Falle IgE-bedingter Allergien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 13.4.2 Sensibilisierungsphase der allergischen Spättypreaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314
13.5
Arzneimittelallergische Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5.1 Heuschnupfen (allergische Rhinokonjunktivitis) . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5.2 Allergisches Asthma bronchiale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5.3 Gastrointestinale Allergien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5.4 Allergische Kontaktdermatitis: Beispiel für eine Typ-IV-Reaktion nach Gell und Coomb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Allergenquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.6.1 Deinitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.6.2 Inhalationsallergene . . . . . . . . . . . . . . 13.6.3 Allergene in Nahrungs- und Genussmitteln 13.6.4 Kontaktallergene . . . . . . . . . . . . . . . .
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Anhang: Wichtige Begrife der Immunologie und Allergologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338
308
13
Überempfindlichkeitsreaktionen beim Umgang mit Drogen und bei der Anwendung pflanzlicher Arzneimittel
13.1.1
Idiosynkrasie
> Einleitung Das folgende Kapitel beginnt mit einer Klärung der Begriffe Überempfindlichkeit, Allergie und Idiosynkrasie. Unter dem Begriff der Überempfindlichkeitsreaktionen des Immunsystems wird eine Vielzahl von pathologischen Immunreaktionen zusammengefasst, die in unterschiedliche Krankheitsbilder münden. Eingeteilt werden sie nach Gell und Coombs in vier Typen. Klassischerweise versteht man unter einer Allergie nur den Typ I der Überempfindlichkeitsreaktionen, der dadurch charakterisiert ist, dass es zur Bildung von allergenspezifischen IgE-Antikörpern kommt. Pflanzliche Produkte können Typ-I-Reaktionen, aber auch Typ-IV-Reaktionen, insbesondere allergische Kontaktdermatitiden auslösen. Es werden die molekularen Sensibilisierungsmechanismen dieser beiden Reaktionstypen, der allergischen Sofort-(Typ-I)-Reaktion und der verzögerten (Typ-IV)Überempfindlichkeitsreaktion, behandelt. Ein späterer Wiederholungskontakt mit den gleichen Allergenen löst die krankmachenden Reaktionen aus: Die molekularen Mechanismen der Auslösephase werden nicht zusammenhängend, sondern jeweils im Anschluss an die Symptombeschreibung allergischer Erkrankungen beschrieben. Berücksichtigt werden nur Erkrankungen, die durch pflanzliche Produkte ausgelöst werden können. Schwerpunkte bilden das allergische Bronchialasthma und die allergische Kontaktdermatitis. Es folgt sodann ein Abschnitt über pflanzliche Allergenquellen unter besonderer Berücksichtigung der Inhalationsund der Kontaktallergene. Das Kapitel erfordert zum Verständnis Grundkenntnisse der Immunologie. In einem Anhang werden daher einige zum Verständnis wichtige Begriffe der Immunologie eingehend erläutert.
13.1
Begriffe: Idiosynkrasie, Allergie und Pseudoallergie
Der Terminus Arzneimittelüberempindlichkeit wird im vorliegenden Beitrag, wenn nicht anders vermerkt, gleichbedeutend wie Arzneimittelallergie verwendet. Allerdings werden im Schrittum unter den Begrif Arzneimittelüberempindlichkeit vielfach auch die Phänomene von Arzneimittelidiosynkrasie und Pseudoallergie subsumiert.
Eine Idiosynkrasie ist deiniert als eine angeborene Überempindlichkeitsreaktion gegenüber bestimmten Substanzen, während Allergien erst im Verlaufe des Lebens erworben werden. Idiosynkrasie ist somit genetisch bedingt, tritt phänotypisch aber erst dann in Erscheinung, wenn ein entsprechendes Arzneimittel eingenommen wird. Das idiosynkratische Erkrankungsbild zeigt – hierin den allergischen Krankheitsbildern vergleichbar – keine stofspeziischen Eigenschaten, hat also nichts mit dem Vergitungsbild nach Überdosierung des betrefenden Arzneistofes zu tun. Ein bekanntes Beispiel ist das Autreten von aplastischer Anämie nach Gabe von Chloramphenicol. Ursache für zahlreiche idiosynkratische Reaktionen ist der genetisch bedingte Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Mangel (Näheres dazu > Kap. 12). Dieser Enzymmangel tritt phänotypisch als hämolytische Anämie z. B. nach Gabe des Antimalariamittels Primaquin oder des Antibiotikums Doxorubicin in Erscheinung. Das als Lebertherapeutikum verwendete Cianidanol, ein aus Gambir gewonnenes Catechin, kann ebenfalls eine idiosynkratische Reaktion auslösen; es musste nach Publikwerden entsprechender Zwischenfälle schon bald nach seiner Markteinführung wieder aus dem Markt genommen werden.
13.1.2
Allergie
Allergie (griech.: állos >anders@ und érgein >wirken@) heißt dem Wortsinne nach „anders reagieren“, gemeint ist: anders als der normale Durchschnitt. Zum Erwerb einer allergischen Reaktionsweise (Allergie) müssen mehrere Faktoren zusammentrefen, die man unter drei Faktorengruppen subsumiert: der Konstitution (Erbanlage), der Disposition (konditionierende Momente wie überstandene Infektionskrankheiten und Umweltfaktoren im weitesten Sinne) und der Exposition (Kontakt mit sensibilisierenden Substanzen). Allergisch wirkt eine Substanz nur fakultativ, d. h. nur bei vorher sensibilisierten Personen. Allergie ist deiniert als eine krankmachende Überempindlichkeit auf Grund immunologischer Sensibilisierung. Um diese Deinition zu erläutern, befassen sich die nächsten Abschnitte mit drei Fragen: x Wodurch unterscheidet sich eine immunologische Überempindlichkeitsreaktion von der protektiven Immunantwort?
13.1 Begriffe: Idiosynkrasie, Allergie und Pseudoallergie
x Auf welche Eigenschaten des Immunsystems lassen sich bei Überreaktion dessen krankmachenden Eigenschaten zurückführen? x Was versteht man unter immunologischer Sensibilisierung? ( > dazu auch Abschnitt 13.4). Zu der ersten Frage einer Unterscheidung zwischen immunologisch-protektiven und immunologisch-allergischen Reaktionen: Diese Frage lässt sich kurz wie folgt beantworten: Bei Allergien arbeitet das Immunsystem grundsätzlich auf die gleiche Art und Weise wie bei der protektiven Immunantwort, von der Erkennung des Antigens durch spezialisierte so genannte antigenpräsentierende Zellen bis hin zur Bildung von Efektor- und Gedächtniszellen. Der Unterschied: Bei für Allergien disponierten Personen arbeitet das Immunsystem gleichsam voreilig und übereifrig. Auf Substanzen, die für andere Personen völlig harmlos sind, reagiert das Immunsystem des Allergikers so, als würde es sich um eindringende pathogene Organismen handeln: Allergene sind an sich harmlose Antigene. Zur Frage nach der Natur der krankmachenden Eigenschaten: Allergien sind Entzündungskrankheiten, die sich eben auf Grund ihres Charakters als immunpathologische Reaktionen nicht an beliebigen Geweben und Organen manifestieren, sondern an den Grenz- und Oberlächen des Köpers. Eine Entzündung ist deiniert als eine örtliche Reaktion des Gewebes auf eine Schädigung. Die seit der Antike bekannten Kardinalsymptome einer Entzündung sind: Dolor (Schmerz), Calor (lokale Wärme), Rubor (Hautrötung), Tumor (Schwellung) und Functio laesa (eingeschränkte Funktion). Mit dieser Beschreibung von einer
13
Entzündung im Hinterkopf kann die > Tabelle 13.1 betrachtet werden. Diese Tabelle gibt verkürzt die klassische Einteilung der immunologischen Überempindlichkeitsreaktionen (Allergien in einem weiten Sinne) in vier Allergietypen wieder. In der rechten Spalte sind Beispiele für Krankheitsbilder allergischer Genese aufgeführt. In einigen Fällen wird der Entzündungscharakter sofort einleuchten, so bei der Rhinitis, der Vaskulitis und den allergischen Kontaktdermatitiden. Die Endung „itis“ weist auch von der Terminologie her auf den Entzündungscharakter hin. In anderen Fällen, insbesondere beim allergischen Asthma ist der Entzündungscharakter nicht so ofenkundig. In der Tat, erst die zunehmenden Kenntnisse über die zellulären und molekularen Mechanismen der Immunabwehr, haben den entzündlichen Charakter dieser Volkskrankheit erkennen lassen. Bis dahin stand die Functio laesa (die behinderte Ausatmung) im Vordergrund. An anderer Stelle (S. 317) wird auf diese Mechanismen zurückzukommen sein.
! Kernaussagen x x
x
x
Allergene sind an sich harmlose Antigene. Eine allergische Reaktion ist ihrem Mechanismus nach eine normale Immunreaktion, allerdings mit falschem Ziel und überschießender Intensität. Entzündungsreaktionen und immunologische Reaktionen sind miteinander eng verzahnt: Es gibt keine Entzündung ohne die Beteiligung von Zellen und Faktoren des Immunsystems. Allergische Reaktionen induzieren Entzündungsreaktionen und schädigen das eigene Körpergewebe
. Tabelle 13.1 Historische Einteilung der allergischen Reaktionsformen nach Coombs und Gell mit Beispielen für entsprechende Krankheitsbilder Kennzeichnung
Zeita
Krankheitsbilder (mit Haut/Schleimhautsymptomatik)
I
IgE-vermittelte Sofortreaktion (Allergie im engen Sinne)
Sekunden bis Minuten
Anaphylaxie, allergische Rhinitis, Urtikaria, Auslösung eines Asthmaanfalls
II
IgG/IgM-vermittelte zytolytische Reaktion
6–12 h
Rötung von Haut und Schleimhäuten (infolge Thrombozytenmangel)b
III
Immunkomplex-(IgG/IgM-)vermittelte Reaktion
6–12 h
Vasculitis allergica: rote Flecken, Knötchen und Blasen bis zu Nekrosen bes. an Armen und Beinen
IV
T-Zellen-vermittelte Reaktion
1–4 Tage
Allergisches Kontaktdermatitiden: Ausschlag mit Rötung, Bläschen-, Eiter- oder Schuppenbildung
Typ
a b
Zeit nach Zweitkontakt bis zum Manifestwerden der Symptomatik. Dem Typ gehören auch die arzneimittelallergischen Blutkrankheiten an (s. Glossar)
309
310
13
Überempfindlichkeitsreaktionen beim Umgang mit Drogen und bei der Anwendung pflanzlicher Arzneimittel
Aus dem Entzündungscharakter allergischer Erkrankungen ergibt sich die Erklärung für ein dem Arzt geläuiges Phänomen: Es gibt kein einziges klinisches Symptom oder Syndrom, das für die allergische Genese einer Krankheit beweisend wäre. Allergische und nichtallergische (mit Entzündungen einhergehende) Krankheitsbilder sind weder auf Grund einer speziischen Symptomatik noch auf Grund irgendwelcher morphologischer Veränderungen auseinander zu halten. Allergisches Fieber (Arzneimittelieber) kann den gleichen Verlauf zeigen wie Fieber bei einer Infektionskrankheit. Ein Asthmaanfall, eine Urtikaria oder ein Kontaktekzem können allergiebedingt sein, sie müssen es aber nicht. So gibt es beispielsweise neben dem allergischen Kontaktekzem ein toxisches und ein phototoxisches Kontaktekzem. Eine Teilmenge der nichtallergischen Krankheitsbilder bilden die so genannten Pseudoallergien ( > Abschnitt 13.1.3). Sensibilisierung (Synonym: Allergisierung). So bezeichnet man den Vorgang, bei dem es durch Kontakt mit einem Allergen zu einem Zustand der veränderten immunologischen Reaktivität kommt. Die veränderte Reaktivität macht sich bemerkbar, indem bei einem zweiten und nachfolgendem Kontakt mit dem Allergen die Symptome einer Allergie ausgelöst werden. Das pathogenetische Korrelat der veränderten Reaktivität lässt sich letztlich auf eine Fehlentwicklung bestimmter Populationen von T-Helferzellen zurückzuführen. Näheres dazu unter allergische Sensibilisierung ( > Abschnitt 13.4).
13.1.3
Pseudoallergien
Diesen Erkrankungen geht keine immunologische Erkennungsreaktion (Antigen-Antikörper-Reaktion. bzw. Sensibilisierung von T-Lymphozyten) voraus: Die von der „echten“ immunologischen Allergie nicht zu unterscheidenden Symptome der Pseudoallergie sind durch identische Efektormechanismen bedingt. Es handelt sich bei diesen Efektormechanismen um nichts anderes, als um entzündliche Reaktionen; und bekanntlich lassen sich Entzündungen auch durch nichtimmunologische Mechanismen auslösen. Beispielsweise werden durch Reize wie Hitze, Kälte oder Stress aus Mastzellen Entzündungsmediatoren, darunter Histamin, freigesetzt, wodurch die als „Sonnenallergie“ oder als „Kälteallergie“ bekannte Hautreaktion (Urtikaria) ihre Erklärung indet. Ähnliches spielt sich auch beim Belastungsasthma ab: Durch
forciertes Atmen kommt es zum Austrocknen und Abkühlung der Schleimhäute, sodass die in der Schleimhaut lokalisierten empindlichen Mastzellen ihren Inhalt freisetzen. Bestimmte Nahrungsmittelallergien gegen beispielsweise Erdbeeren oder Hummer stellen ebenfalls pseudoallergische Reaktionen dar, die in diesen Fällen durch das Vorkommen mastzellenaktiver Stofe verursacht werden.
! Kernaussagen
Unter Idiosynkrasie versteht man eine angeborene Überempfindlichkeit gegenüber einem Arzneimittel auf dem Boden unzureichender Metabolisierung, beispielsweise infolge eines Enzymmangels. Allergien sind Überempfindlichkeitsreaktionen des Immunsystems auf Grund einer vorhergehenden Sensibilisierung. Pseudoallergien sind definiert als krankmachende Überempfindlichkeit ohne vorhergehende Sensibilisierung, aber unter dem Einfluss von Mediatoren und Effektormechanismen, die dem Immunsystem zuzuordnen sind.
13.2
Mit dem Auftreten welcher allergischen Erkrankungen ist beim Umgang mit Drogen und Phytopharmaka zu rechnen?
Allergische Reaktionen können durch den Umgang mit den Drogen selbst (Ernten, Verarbeiten, z. B. von Flohsamen, Teerezepturen zusammenstellen, Anwendungen mit Kräuterkissen, speziell mit dem Heusack) und bei der Einnahme planzlicher Arzneizubereitungen autreten. Unverarbeitete Drogen können mit Pollen oder Pilzsporen verunreinigt sein, die als Inhalationsallergene bei sensibilisierten Personen über die Atemwege Heuschnupfen oder Asthmaanfälle auslösen können. Die wichtigsten Pilzallergene am Respirationstrakt sind Aspergillus-, Cladosporium- und Penicillium-Arten. Näheres zu Pollenallergenen indet sich im Abschnitt 13.6.2). Beim Einatmen von Drogenstaub können auch allergene Drogeninhaltsstofe zur Wirkung gelangen. Für Apotheker relevant sind Brechwurzel (Ipecacuanhae radix) und Psyllii semen. Planzliche Fertigarzneimittel können allergen wirken, entweder weil der arzneiliche Bestandteil (Planzenex-
13.3 Welche Hinweise gibt es auf Vorliegen einer Arzneimittelallergie?
trakt) potentielle Allergene enthält oder weil die pharmazeutischen Hilfsstofe allergen wirken. Galenische Zubereitungen und Fertigarzneimittel werden per os zugeführt oder als Salben und Einreibungen auf die Haut appliziert: Parenterale Applikationsformen sind selten, kommen aber vor (Mistelpräparate). Potentielle Allergene können daher mit den Schleimhäuten der Atemwege, denen des Gastrointestinaltraktes und mit verschiedenen Hautpartien in Berührung kommen. Daher ist vorzugsweise mit dem Autreten der folgenden allergischen Erkrankungen zu rechnen: x allergische Rhinopathie (Heuschnupfen), x Astmaanfälle bei Patienten mit Hyperreagibilität infolge vorbestehendem Asthma bronchiale, x gastrointestinale Allergien, x allergische Kontaktdermatitiden. Somit kommen Planzen und planzliche Arzneimittel nur für einige wenige allergische Krankheiten als Auslöser in Frage. Hinsichtlich der zugrunde liegenden immunologischen Reaktionsformen fallen sie in dem klassischen Einteilungsschema nach Coombs und Gell ( > Tabelle 13.1) unter Typ-I- und Typ-IV-Reaktionen. Die Typ-I-Reaktion beschreibt die klassische Sofortrektion, die durch IgEAntikörper vermittelt wird. Wenn von Allergien schlechthin gesprochen wird, sind meist diese Typ-I-Allergien gemeint. Heuschnupfen, allergisches Asthma und gastrointestinale Allergien sind typische Beispiele für Allergien in diesem engen Sinne. Die allergische Kontaktdermatitis hingegen stellt eine verzögerte Typ-IV-Reaktion dar. Wenn in der Tabelle diese Reaktion als durch T-Zellen vermittelt charakterisiert wird, so bedeutet das aber keineswegs, dass nur an dieser Typ-IV-Reaktion, nicht aber an den anderen Reaktionstypen, T-Zellen beteiligt sind: T-Zellen spielen bei allen vier Reaktionsformen eine tragende Rolle. Die Typisierung als T-Zellen-vermittelt bedeutet, dass vorrangig T-Zellen, keine B-Zellen und Antikörper beteiligt sind. Planzliche Allergene lösen vorzugsweise allergische Reaktionen vom Typ I und Typ IV aus, weshalb der Schwerpunkt der Darstellung auf diese beiden Allergietypen gelegt wird. Daraus ergibt sich eine Einschränkung des hemas insofern, als die für synthetische Arzneimittel wichtigen Typ-II- und Typ-III-Reaktionen ( > Tabelle 13.1) in der Besprechung unberücksichtigt bleiben, ausgenommen die arzneimittelallergischen Blutkrankheiten (zytolytische Typ-II-Reaktionen), die im Anhang (S. 326) beschrieben werden.
13
13.3
Welche Hinweise gibt es auf Vorliegen einer Arzneimittelallergie?
13.3.1
Anamnese
Es wurde an anderer Stelle gesagt, dass die Krankheitssymptome allein keinen Hinweis auf eine allergische Ursache erlauben. Wie beweist man die allergische Genese in einem speziellen Fall? Erste Hinweise, die jeder Laie bereits zu deuten weiß, ist das zeitliche Zusammentrefen einer bestimmten Handlung wie die Einnahme eines Arzneimittels oder die Applikation einer Einreibung und dem Autreten eines der zuvor beschriebenen Krankheitssymptome, vor allem dann, wenn die Koinzidenz mehrfach bemerkt wird. Dabei kann die Reaktionszeit, die zwischen Exposition und dem Autreten des klinischen Symptoms liegt, unterschiedlich lang sein: Speziell die Arzneimittelallergien teilte man früher in drei Reaktionsformen ein: die akuten, die subakuten und die Reaktion vom verzögerten Typ. Die > Tabelle 13.1 vermittelt eine Vorstellung über die zeitliche Lücke zwischen letzter Exposition und Manifestwerden der allergischen Reaktion. Je kürzer diese so genannte Reaktionszeit ist, desto leichter ist natürlich ein Kausalzusammenhang zwischen Noxe und Erkrankung herzustellen. Für den Arzt ergibt die Anamnese die folgenden ersten Hinweise auf Vorliegen einer Arzneimittelallergie: x Die erstmalige Gabe des Arzneimittels wurde folgenlos vertragen. x Die Symptome traten erst nach mehrfacher Gabe auf. x Die klinischen Symptome erinnern nicht an die pharmakodynamischen Efekte des Arzneimittels, d. h. an Efekte, wie sie beispielsweise nach einer Überdosierung autreten würden. x Nur ein kleiner Prozentsatz der Anwender, denen der Arzt das Mittel verordnet, zeigt die Unverträglichkeitserscheinungen. x Juckreiz ist ein sehr häuiges Begleitsymptom bei Hautmanifestationen. x Das wiederholte anfallartige Autreten bestimmter Symptome (z. B. Heuschnupfen, Autreten eines Asthmaanfalls) spricht für das Vorliegen einer Allergie vom Soforttyp ( > Abschnitt 13.4.1). x An die Anamnese schließt sich, falls erforderlich, die Allergiediagnostik an.
311
312
13 13.3.2
Überempfindlichkeitsreaktionen beim Umgang mit Drogen und bei der Anwendung pflanzlicher Arzneimittel
Allergiediagnostik
Die Allergiediagnostik zielt auf den Nachweis der allergischen Sensibilisierung. Eine allergische Sensibilisierung bedeutet, dass sich der Körper mit den entsprechenden Allergenen auseinandergesetzt hat und dass es zu einer speziischen Immunantwort gegen das Allergen gekommen ist. Die folgenden Techniken sind die wichtigsten: Provokationstestungen, bei denen die krankmachende Situation nachgestellt wird. Das mutmaßliche Aller-
gen wird in deinierter Konzentration auf die Schleimhäute gebracht, anschließend werden die Reaktionen der respektiven Organe durch objektivierbare Messverfahren erfasst. Hauttestungen. Ein Allergengemisch bekannter Zusammensetzung, ein so genannter „Allergencocktail“, wird auf die Haut appliziert, wofür es unterschiedliche Techniken in Form von Reibe-, Scratch- und Intradermaltechniken gibt. Die Reaktion stellt sich in Form einer urtikariellen (Typ-I-)Sofortreaktion in Form einer Quaddel dar. Die Quaddel erscheint bei positivem Befund 10–20 min nach Allergenexposition. Methodisch ähnlich angelegt ist der Epikutan- oder Patch-Test zum Nachweis von zellvermittelter (Typ-IV-) Allergie. Das mutmaßliche Allergen wird epikutan unter einem Okklusivplaster für 24 h appliziert. Die positive Reaktion stellt ein allergisches Kontaktekzem en miniature dar. Bei intrakutaner Applikation des Allergens kommt es 24–72 h später zu einer papulösen Hautreaktion, wie sie von der Tuberkulintestung her bekannt ist. In-vitro-Testungen. Als Beispiel sei der Nachweis einer
allergischen Entzündung vom Soforttyp (Typ-I-Reaktion) angeführt. Allergische Entzündungen dieses Typs sind durch die hochgradige Aktivierung von eosinophilen Granulozyten (Eosinophilen) charakterisiert. Der Test besteht im Nachweis von löslichen Mediatoren dieser Efektorzellen im peripheren Blut, zu denen insbesondere das eosinophile kationische Protein (ECP) und das eosinophile Protein X (EPX) zählen. Der Test wird vorzugsweise zum Nachweis und eventuellen Quantiizierung der Neurodermitis herangezogen.
13.4
Was versteht man unter Sensibilisierung?
Deinieren lässt sich die (immunologische) Sensibilisierung als ein Vorgang, bei dem es durch Kontakt mit einem Antigen/Allergen zur Ausbildung von allergenspeziischen IgE-Antikörpern (bei der allergischen Typ-I-Reaktion) oder von allergenspeziischen T-Lymphozyten (bei der allergischen Typ-IV-Reaktion) kommt. Allergenspeziisch meint: Die Antigenbindungsstelle der IgE-Moleküle erkennt (bindet) ausschließlich Epitope von Antigenmolekülen des Erstkontaktes, und analog weisen auch die TZellrezeptoren komplementäre Bindungsstrukturen zum Allergenepitop auf. Um mit Verständnis der nachfolgenden Erklärung folgen zu können, werden Grundkenntnisse der Immunologie vorausgesetzt, insbesondere Kenntnisse über: Antigenpräsentation, Antigenprozessierung, Antikörper (Immunglobuline), basophile Granulozyten (Basophile), CD-Nomenklatur (Oberlächenmarker) zur Charakterisierung von T-Lymphozyten, dendritische Zellen, eosinophile Granulozyen (Eosinophile), Makrophagen, Mastzellen, MHC-Klasse-I- und Klasse-II-Moleküle, T-Helferzellen (Typus TH0, TH1 und TH2), Zytokine (insbesondere IL-1, IL-4, IL-5 und IL-8). In einem Glossar als Anhang zum vorliegenden Kapitel sind die hier aufgezählten Termini erklärt.
13.4.1
Sensibilisierung im Falle IgE-bedingter Allergien
Vorbemerkung zur Antigenpräsentation. T-Lymphozy-
ten sind im Unterschied zu B-Lymphozyten nicht imstande, Allergene vom Typus der Proteine und Glykoproteine in ihrem Nativzustande zu erkennen, um mit Proliferation und der Einleitung einer Immunantwort zu reagieren. Das Protein bzw. Glykoprotein muss von speziellen Zellen (dendritischen Zellen), den antigenpräsentierenden Zellen (APC) aufgenommen und zu kleinen Peptidfragmenten abgebaut werden; antigene Peptidfragmente werden dann an der Plasmamembran exprimiert und zusammen mit MHC-Molekülen naiven T-Lymphozyten zur Erkennung angeboten. Die allergische Reaktion vom Soforttyp stellt eine TH2-Immunantwort dar ( > Tabelle 13.2). Charakterisiert ist eine TH2-Immunantwort wesentlich wie folgt: x TH2-Zellen sezernieren u. a. die Zytokine IL-4, IL-5; IL-6 und IL-10;
13.4 Was versteht man unter Sensibilisierung?
13
. Tabelle 13.2 T-Zellen-Subpopulationen und ihre Funktionen (Renz 2002, verändert) TH1
TH2
T-Zellen
CD4
CD4
Zytokine
IFN-J, IL-2, TNF-E
IL-4, IL-5; IL-6, IL-10, IL-13
Polarisierungssignale
IL-12, IFN-D
IL-4
Inhibiert durch
IL-4, IL-10
IFN-J
Physiologische Rolle
Bei der Abwehr von Bakterien, Viren, Protozoen. Hilfe bei der Bildung von IgM, IgG
Bei der Abwehr von Helminthen. IgA, IgE
Pathologische Rolle
Kontaktdermatitis, Psoriasis
Allergien vom Typ I, HIV: Progression von AIDS
Effektorzellen
Neutrophile, Makrophagen
Mastzellen, Eosinophile, Basophile
Allergien
Typ-IV-Allergien
IgE-vermittelte Sofortreaktion
x IL-5 führt zur Aktivierung von eosinophilen Granulozyten (Eosinophilen); x IL-4 induziert bei B-Zellen, denen von TH2-Zellen geholfen wird, eine Umschaltung („Switch“) der Immunklassen von IgM nach IG1 und IgE; x Die TH1-Antwort wird durch IL-10 supprimiert. Allergene, die eine TH2-Immunantwort auslösen, sind Proteine oder Glykoproteine, die über epitheliale Barrieren hindurch in den Körper gelangen. Im Epithel beinden sich dendritische Zellen, die das Allergen aufnehmen. Die Aufnahme des Antigens ist das Signal, in die regionalen Lymphknoten zu wandern. Während ihrer Wanderung prozessieren sie das Allergen und präsentieren dann in den parakortikalen Regionen der Lymphknoten die resultierenden Peptidfragmente im Kontext mit MHC-KlasseII-Molekülen an ruhende („naive“) T-Zellen. Dies führt zur bevorzugten Aktivierung von CD4-positiven Helferzellen, die T-Rezeptorspeziität für das jeweilige allergene Peptid aufweisen. Aktiviert wird jeweils nur eine Subpopulation von CD4-Zellen, und zwar diejenige, die aufgrund ihres Zytokinmusters ( > oben) dem Typus der TH2-Helferzellen zugehört. Die TH2-Zellen leisten nunmehr den B-Zellen Hilfe zur Antikörperproduktion. Aber nur diejenige Population von B-Zellen kann aktiviert werden, die über ihre B-Zell-Rezeptoren das gleiche Antigen erkennen ( > Abb. 13.1). Es kommt zu einer klonalen Expansion dieser B-Lymphozyten, die ihrerseits nach Übergang in Plasmazellen Antikörper der IgE-Klasse produzieren ( > Tabelle 13.3). IgE-Antikörper unterscheiden sich von anderen Immunglobulinklassen dadurch, dass sie über den Fc-Teil an IgE-Rezeptoren binden, die in zwei
Klassen – als niedrig- und als hochaine Rezeptoren – auf verschiedenen Zellkompartimenten des Immunsystems vorhanden sind. Hochaine IgE-Rezeptoren inden sich auf Mastzellen und basophilen Granulozyten. Durch diesen Bindungsvorgang erwerben die Mastzellen und Basophilen speziische, wenn auch nur „geborgte“ Rezeptoren für allergenspeziische Antigene. In diesem Zustand von mit allergenspeziischen IgE-Molekülen besetzten Zellen beindet sich ein sensibilisiertes Individuum: ein Allergiker.
! Kernaussagen
Die Induktion einer allergischen Immunantwort vom Soforttyp (Typ-I-Reaktion) ist durch die Dominanz und funktionelle Aktivität einer bestimmten Subpopulation von T-Helferzellen, und zwar von TH2-Thymozyten, charakterisiert: TH2-Zellen schaffen die Voraussetzung zur IgE-Produktion und sie aktivieren Eosinophile. Beim Allergiker ist die korrekte Antigenerkennung gestört: T-Zellen reagieren auf harmlose Umweltantigene nicht mit immunologischer Toleranz, sondern leiten eine fehlgeleitete TH2-Effektorantwort ein. Hinweis: Die klassischen Erreger, die eine TH2-Immunantwort auslösen, sind Würmer (Helminthen; > Tabelle 13.4).
Warum nur ein bestimmter kleinerer Teil der Bevölkerung zum Allergiker wird, diese Frage wird heute wenig konkret und vage mit einem Zusammentrefen zwischen einer genetischen Disposition des Allergikers und Umweltfakto-
313
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13
Überempfindlichkeitsreaktionen beim Umgang mit Drogen und bei der Anwendung pflanzlicher Arzneimittel
. Abb. 13.1
Schema zur Dichotomie der TH1/TH2-Immunantwort. CD4-positive T-Zellen werden durch Antigen-/Allergenfragmente in Verbindung mit MHC-Klasse-II-Molekülen aktiviert, CD8-positive-T-Zellen in Verbindung mit MHC-Klasse-I-Molekülen. Periphere CD4-positive T-Lymphozyten sind nicht von vorneherein für einen bestimmten TH1- oder TH2-Phänotyp vorherbestimmt: Erst die näheren Bedingungen der Aktivierung (Antigen/Allergen plus Zytokinmilieu) bestimmen jeweils, in welche Richtung sich die Vorläuferzellen entwickeln. T-Zellen erkennen Allergenfragmente, wohingegen B-Zellen Allergen im nativen Zustande zu erkennen in der Lage sind. Man beachte: Die Dominanz und funktionelle Aktivität von TH2Zellen schaffen die Voraussetzung für die IgE-Produktion, die für Allergien vom Soforttyp typisch ist. Die Immunreaktion der allergischen Kontaktdermatitis hingegen wird von einer CD8-positiven Tc-Immunantwort getragen. P: Plasmazelle; MB: Memory B-Zelle (Gedächtniszelle)
ren beantwortet. Die Zunahme von Allergien in der westlichen Welt bringt man mit übertriebener Hygiene in Zusammenhang („Hygienehypothese“). Die Ausbildung der gegenregulatorisch wirkenden TH1-Immunantwort würde, wegen fehlender Antigenkontakte, gleichsam nicht hinreichend geübt.
13.4.2
Sensibilisierungsphase der allergischen Spättypreaktion
Es handelt sich bei der allergischen Spätreaktion (Typ-IVReaktion nach Coombs und Gell, > Tabelle 13.1) um eine
Reaktion, die bestimmte entzündliche Hauterkrankungen auslöst, die in der Dermatologie als allergische Kontaktdermatitiden bekannt sind. Die Allergene, die zu einer Sensibilisierung im Rahmen einer allergischen Spätreaktion führen, sind in der Regel so genannte Haptene. Unter Haptenen versteht man niedermolekulare Stofe, die zu klein sind, um vom Immunsystem erkannt zu werden. Erst durch Bindung an körpereigene Proteinstrukturen werden sie zum Allergen. Um aber an Proteinstrukturen auf den verschiedenen Zelltypen der Epidermis binden zu können, müssen die Moleküle die schützende Hornschicht, das Stratum corneum, penetrieren, ehe sie die lebende Epidermalschicht erreichen: Stark sensibilisierend wirken
13.4 Was versteht man unter Sensibilisierung?
13
. Tabelle 13.3 TH2-Helferzellen: Hilfe bei der humoralen Immunantwort. Das Fremdantigen/Allergen muss sowohl von den B-Lyphozyten als auch von den T-Helferzellen erkannt werden Antigenpräsentation
Das Antigen wird von einer antigenpräsentierenden Zelle (APC) durch Endozytose aufgenommen. Die APC prozessiert das Proteinantigen und präsentiert Epitope im Kontext von körpereigenen Gewebeverträglichkeits- (Histokompatibilitäts-)Molekülen der Klasse II (MHC-II) auf der Zelloberfläche. p
Bindung zwischen Antigen, MHC-II und T-Zellrezeptor
T-Lymphozyten mit zum Epitop komplementärer Bindungsstelle (T-Lymphozyten-Rezeptoren) gehen eine spezifische Bindung ein.
Aktivierung von TH2-Zellen
Die Kostimulation von Antigen/Allergen und Zytokinsignalen (aus APC) führt zur Aktivierung der T-Helferzellen des TH2-Typs, kenntlich durch die Produktion von IL-4, IL-5 und IL-10
p
p Aktivierung von B-Lymphoyzten
Aktivierte T-Helferlymphozyten aktivieren ihrerseits solche B-Lymphozyten, die über ihre Zelloberflächen-Antikörper spezifisch das Antigen/Allergen gebunden haben und über MHC-II Komplexe präsentieren p
Proliferation, Differenzierung
In der Folge kommt es zur Proliferation der Antigen-/Allergen-spezifischen B-Zellen und zu deren Differenzierung in Plasmazellen mit Antikörperproduktion und Gedächtniszellen
. Tabelle 13.4 Zellen und Faktoren der Immunabwehr, jeweils nur eine Auswahl an Zellen und Mediatoren sind vermerkt Angeborene Immunabwehr
Erworbene Immunabwehr
Viren
Interferone, NK-Zellen
TH1-Zellen (IFN-J), Antikörper (IgG, IgA, IgM); CD8 (Tc)
Extrazelluläre Bakterien
Komplement, neutrophile Granulozyten, Makrophagen
TH2-Zellen, Antikörper (IgG, IgA, IgM)
Intrazelluläre Bakterien
NK-Zellen (IFN-J), Makrophagen
Würmer
TH1-Zellen, Makrophagen, IL-12
Eosinophile und deren toxischen Produkte (Peroxidase, kationische Proteine), Mastzellen, ansonsten Antworten wie gegen extrazelluläre Bakterien
daher kleine, chemisch reaktionsfähige, nichtgeladene lipophile Substanzen, insbesondere dann, wenn sie gleichzeitig eine irritative Wirkung aufweisen. Die Hautreizung erleichtert den Weg der Haptene zu Zellstrukturen der Epidermis. Das trit beispielsweise für die Uroshiole des Gitsumachs zu, ferner für das Primin, einem Chinon der Becherprimel (Primula obconica) und für die hochirritativen Phorbolester bestimmter Wolfsmilchgewächse wie
TH2-Zellen, Antikörper (zusätzlich IgE), ansonsten Antworten wie gegen extrazelluläre Bakterien
dem Weihnachtsstern (Euphorbia pulcherrima). Diese Substanzen führen bereits beim ersten Kontakt zu einem toxischen Kontaktekzem und anschließender Sensibilisierung, sodass in diesen Fällen drei Phasen der Kontaktsensibilisierung zu unterscheiden sind: x Phase I: irritatives (toxisches) Kontaktekzem, x Phase II: Hapten/Allergenexposition und x Phase III: Sensibilisierung.
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Überempfindlichkeitsreaktionen beim Umgang mit Drogen und bei der Anwendung pflanzlicher Arzneimittel
Analog zu dieser Sensibilisierung auf dem Boden chemischer induzierter Hautentzündungen entwickeln sich Kontaktallergien auch sonst besonders leicht auf bereits entzündeten Hautarealen. Beispielsweise disponieren Unterschenkelgeschwüre, Ulcera crurum, geradezu für Sensibilisierungen gegen Inhaltsstofe lokal applizierter Externa. An der allergischen Spätreaktion (Typ-IV-Reaktion) sind im Gegensatz zu der zuvor beschriebenen Allergie vom Soforttyp (Typ-I-Reaktion) keine Antikörper beteiligt. Das chemisch reaktionsfähige Hapten bindet (immunologisch) unspeziisch an zahlreiche zelluläre Strukturen der Epidermis, an Fibroblasten, Keratinozyten, Melanozyten u. a. m). Hapten plus Trägerprotein (Vollantigen) werden von antigenprozessierenden Zellen, insbesondere den Langerhans-Zellen, aufgenommen und prozessiert, um dann über die aferenten Lymphgefäße in die regionalen Lymphknoten auszuwandern. Dort verändern sie sich von antigenprozessierenden zu antigenpräsentierenden Zel-
len. Als „gereite“ Langerhans-Zellen (LC) suchen sie sich nun diejenigen T-Lymphozyten im Lymphknoten, deren T-Zellrezeptor auf die an ihre MHC-Moleküle gebundenen Antigene passt. Die passenden T-Lymphozyten werden aktiviert, d. h., es kommt zu ihrer klonalen Expansion zu Efektor- und Memory-T-Zellen. Dieser ganze Prozess der Sensibilisierung – auch als Induktionsphase bezeichnet – beansprucht vom Erstkontakt an gerechnet eine Zeitdauer von ca. 14 Tagen. Er verläut klinisch unbemerkt. Nachdem T-Lymphozyten in den Lymphknoten speziisch aktiviert wurden, verlassen sie den Lymphknoten und wandern über den Ductus thoracicus via Blutstrom in diejenigen Hautpartien zurück, die den Erstkontakt mit dem Hapten hatten. Als hautassoziierte sensibilisierte T-Lymphozyten bzw. Memory-T-Zellen können sie bei Zweitkontakt über antigenpräsentierende Zellen eine anamnestische Sekundärreaktion induzieren: Das Individuum ist sensibilisiert.
Infobox In den Lehrbüchern finden sich widersprüchliche Angaben darüber, welche T-Zell-Subpopulationen maßgeblich an der Sensibilisierungsphase der allergischen Kontaktdermatitis beteiligt sind. Lange Zeit wurde allgemein angenommen, dass die Immunreaktion in der allergischen Kontaktdermatitis von CD4-positiven TH1-Zellen getragen wird. In den letzten Jahren wurde an Einzelbeispielen (Tierversuche mit der Maus) gezeigt, dass entgegen der früheren Annahme nicht CD4-positive Zellen, sondern CD8-positive zytotoxische (zytotolytische) T-Lymphozyten die Haupteffektorzellen bei einer allergischen Kontaktdermatitis sind. Im Gegenteil, CD4-Zellen wirken bei der allergischen Kontaktdermatitis gegenregulatorisch und begrenzen das Ausmaß der Entzündung (Enk 2002; Cavani 2004). Das Immunsystem ist offensichtlich nicht nur durch Entweder-oder-Entscheidungen, sondern – vermutlich häufiger als gedacht – auch durch Sowohl-als-auch-Entscheidungen charakterisiert. Das zeigt sich gerade an der Dichotomie „Präsentation mit MHC-I- oder mit MHC-II-Molekülen“. Eine Präsentation des zu erkennenden Epitops (Allergenfragments) in Verbindung mit MHC-Klasse-I-Molekülen favorisiert die zytotoxische (zytolytische) CD8-T-Zellantwort; das gleiche Epitop, diesmal mit MHC-Klasse-II-Molekülen präsentiert, induziert eine CD4-Helferzellen-Immunantwort. Virusbefallene Zellen
z. B. induzieren beide Immunantworten: eine von CD8-Zellen getragene zytotoxische (zytolytische) CTL-(Tc-)Antwort als auch eine von CD4-Zellen getragene TH2-HelferzellenAntwort. Für den Fall, dass die vorerst nur tierexperimentell gewonnenen immunologischen Befunde auf den Menschen übertragbar sind, würde die Sensibilisierungsphase (Induktionsphase) der allergischen Kontaktallergie nach folgendem Schema ablaufen: x epidermale Langerhans-Zellen prozessieren Antigen in der Epidermalschicht der Haut; x Einwanderung dieser Zellen in regionale Lymphknoten; x Präsentation der antigenen Peptidfragmente mit überwiegend MHC-I-Molekülen an CD8-positiveT-Lymphozyten; x Aktivierung von vorzugsweise CD8-Lymphozyten; x aus den Lymphknoten wandern antigenspezifisch aktivierte (sensibilisierte) T-Lymphozyten durch den Ductus thoracicus via Blutstrom zurück in die Haut; x in der Epidermis und in regionalen Lymphknoten liegen schließlich sensibilisierte T-Lymphozyten für erneute Stimulation durch antigenpräsentierende Zellen bereit.
13.5 Arzneimittelallergische Krankheitsbilder
13.5
Arzneimittelallergische Krankheitsbilder
13.5.1
Heuschnupfen (allergische Rhinokonjunktivitis)
Klinische Symptome. Sie setzen ein, sobald das Antigen
(Pollen oder ein anderes aerogenes Antigen) mit der Nasenschleimhaut oder mit der Augenbindehaut in Kontakt kommt. Der Anfall kündigt sich häuig durch Brennen und Jucken an den Augen, in der Nase, an Rachen und Gaumen an. Quälendes Niesen leitet den Heuschnupfen ein. Im Anschluss an die Niesanfälle ließt ein seröses, dünnlüssiges Sekret aus der Nase. Zwischen den Anfällen ist das Sekret hingegen eher zählüssig. Pathogenese. Das Allergen bindet speziisch (nach dem
Schloss-Schlüssel-Prinzip) an zellständige IgE-Antikörper. Charakteristisch für sensibilisierte Patienten ist es, dass diese IgE-Moleküle die Oberlächen von Entzündungszellen, insbesondere von Mastzellen und von Eosinophilen, besetzen. Die Antigen-Antikörper-Reaktion ist das Signal für die Freisetzung von Zytokinen, basischen Proteinen und anderen zelltoxischen Stofen, was letztlich zu Symptomen einer lokalen allergischen Entzündung führt: Die Blutgefäße erweitern sich, die Schleimhaut wird für Plasma- und Gewebelüssigkeit durchlässiger (Rhinorrhoe) und die freien Nervenendigungen von Schmerzfasern des Nervus trigeminus werden gereizt, was relektorisch zum Auslösen des Nies- und Tränenrelexes führt.
13.5.2
Allergisches Asthma bronchiale
Klinische Symptome. Hauptsymptome sind pfeifendes
oder brummendes Atemgeräusch, Husten, Engegefühl im Brustkorb, Kurzarmigkeit bis hin zum schweren und lebensbedrohlichen Anfall von Atemnot. Im Unterschied zu anderen chronischen Erkrankungen der Atemwege unterliegen die Beschwerden des Asthmas großen Schwankungen, wechselnd zwischen Atemnotanfall und beschwerdefreien Perioden. Im fortgeschrittenen Stadium treten die Symptome nicht nur bei Kontakt mit dem verantwortlichen Allergen auf, sondern auch spontan am Tag z. B. bei sportlicher Betätigung, oder während des Schlafes, besonders in den frühen Morgenstunden. Die
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Asthmasymptome für sich geben keinen Hinweis auf Vorliegen einer allergisch induzierten Entzündung, fehlen doch anscheinend die für eine Entzündung typischen, seit der Antike dozierten Entzündungszeichen: Rötung (Rubor), Schwellung (Tumor), Wärme (Calor), Beeinträchtigung der Funktion (Functio laesa) und Schmerz (Dolor). Bis vor nicht allzu langer Zeit wurden nervliche Einlüsse auf die Atemmuskulatur für das Bronchialasthma verantwortlich gemacht. Erst Untersuchungen der letzten 25 Jahre führten zu der Erkenntnis, dass Asthma auf einer allergisch induzierten Entzündung der Atemwege beruht. Heute wird Asthma bronchiale wie folgt charakterisiert: als eine variable chronische Entzündung der Atemwege, in die verschiedene Immun- bzw. Entzündungszellen sowie Epithelzellen der Bronchialwand und die extrazelluläre Matrix (Gelecht extrazellulärer Makromoleküle) involviert sind. Die Atembehinderung selbst entsteht durch Kontraktion von Bronchien und Bronchiolen und wird verstärkt durch Hyperämie und Ödeme der Schleimhäute. Wie bei jeder Form der Entzündung kommt es im späteren Verlauf zur lokalen Gewebsschädigung. Im Initialstadium sind die Gewebsschädigungen reversibel, nach Chronischwerden hingegen unumkehrbar. Im histologischen Bild ist bereits in einem relativ frühen Stadium ein struktureller Umbau der Bronchialwand zu erkennen. Das Spätstadium der Chronizität ist durch einen „narbigen“ Bindegewebsmantel um die Atemwege gekennzeichnet (Kroegel 2004). Die Ereignisse auf zellulär-molekularer Ebene sollen, in die folgenden drei Absätze gegliedert, beschrieben werden: x die Efektorphase: die akute allergische Entzündung; x Versuch, die Entzündung zu limitieren; x Chroniizierung der allergischen Entzündung. Effektorphase. Unter Efektorphase wird die Auslösephase, d. i. das klinische Manifestwerden von Symptomen, verstanden. Im Falle des allergischen Bronchialasthmas induziert bei sensibilisierten Individuen (zur Sensibilisierung > oben) der erneute Kontakt mit Allergen eine Entzündungsreaktion, die sich wiederum in eine Sofortreaktion und in eine verzögerte Sofortreaktion auteilen lässt. Die Sofortreaktion, die wenige Minuten nach Allergenexposition autritt, wird durch die Aktivierung ortsständiger Mastzellen verursacht. Postiert sind die Mastzellen in der Schleimhaut des Respirationstraktes, sodass eingeatmete Allergene (z. B. Pollen) auf die Mastzellen trefen und sie
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Überempfindlichkeitsreaktionen beim Umgang mit Drogen und bei der Anwendung pflanzlicher Arzneimittel
aktivieren können. Aktivierung bedeut: Bindung von Allergen an die IgE-Rezeptoren, Degranulation der Mastzellen und Freisetzung von präformierten Mediatoren und Zytokinen. Als Signal zur Mastzelldegranulation dient die Überbückung („IgE-receptor cross-linking“) benachbarter IgE-Moleküle durch eine gemeinsame Bindung des Allergens. Die freigesetzten und de novo synthetisierten Mediatoren und Zytokine beeinlussen eine Vielzahl von Mechanismen und aktivieren zusätzliche Entzündungszellen. Histamin ist ein potenter Bronchokonstriktor, es ist darüber hinaus verantwortlich für die Schleimhautschwellung, für Gefäßerweiterung, für Permeabilitätssteigerung und Ödembildung. Mastzellchymase ist in die Schleimsekretion involviert. Die de novo synthetisierten Arachidonsäuremetaboliten Leukotrien (LTC4), und Prostaglandin D2 (PGD2) bringt man mit Bronchokonstriktion, Vasodilatation und Vasopermeabilität in Verbindung, d. h. dass sie an der Bronchokonstriktion, an der lokalen Ödembildung und an der vermehrten Schleimsekretion mitbeteiligt sind. Das Leukotrien LTB4 wirkt chemotaxisch auf Entzündungszellen, die im späteren Verlauf der Entzündung rekrutiert werden. Diese Sofortreaktion ist in der Regel innerhalb von 0,5–2 h reversibel. Auch führt sie zu keiner Gewebezerstörung. Beim Asthmatiker geht diese Sofortreaktion dann in die verzögerte Sofortreaktion über, die nach 4–6 h ihr Maximum erreicht. Als eine Folge der bei der Mastzelldegranulation freigesetzten Mediatoren sind mittlerweile weitere Entzündungszellen an den Ort des Erstgeschehens eingeströmt. Es sind vor allem basophile Granulozyten und Eosinophile, die diese verzögerte Phase der allergischen Soforttypreaktion bestimmen. Auch basophile Granulozyten tragen den sensibilisierten IgE-Rezeptor und können wie die Mastzellen durch IgE-Kreuzvernetzung aktiviert werden. Die Eosinophile entladen ihre proinlammatorischen Inhaltsstofe unter dem Einluss lokal gebildeter Mediatoren (z. B. C5a, C3a) und Zytokine (IL-5). Freigesetzt werden insbesondere reaktive Sauerstofspezies sowie Proteine, die auf lokale Gewebszellen entzündlich wirken und zu lokaler Gewebszerstörung führen können. Außerdem sezernieren sie Chemokine, die zur Einwanderung von Leukozyten führen und zur Unterhaltung der Entzündung beitragen.
! Kernaussagen x
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Die allergische Typ-I-Reaktion ist eine Zweiphasenreaktion. Die erste Phase ist durch die Mastzelldegranulation bestimmt. Zu den vorgeformten Inhaltsstoffen gehört das Histamin, das augenblicklich aktiv wird, einige Minuten später gefolgt von den de novo synthetisierten Leukotrienen und Prostaglandinen. Bis zur Freisetzung von Zytokinen schließlich vergehen mehrere Stunden. Die verzögerte zweite Phase – sie folgt etwa 4–8 h auf die erste – ist durch das Einwandern von neutrophilen, eosinophilen und basophilen Granulozyten bestimmt und durch die Bildung eines entzündlichen zellulären Infiltrats. Ortsansässige Zellen wie z. B. die Epithelzellen der Schleimhaut können in das Entzündungsgeschehen einbezogen werden. Nur diese zweite verzögerte Phase spricht auf die Behandlung mit Glucocorticoiden an.
Versuch, die Entzündung zu limitieren. Bei allergischen
Reaktionen kommt es, wie beschrieben, nach Aktivierung mit dem Antigen zu einer Vermehrung der antigenspeziischen T-Zellen. Wenn es möglich wäre, das aktivierende Antigen auszuschalten, würden keine weiteren speziischen T-Zellen mehr aktiviert und die Entzündung käme zum Stillstand. Häuig ist es aber nicht möglich, das Allergen völlig auszuschalten. Für diesen Fall verfügt das Immunsystem über eine Notlösung, um die aktivierten TZellen auszuschalten: Die Forcierung der Apoptose. Zumindest ein Teil der nicht mehr benötigten T-Zellen stirbt ab. Was von den aktivierten T-Zellen gesagt wurde, gilt analog für die Eosinophilen. Zwar wird der Prozess des Chronischwerdens von Entzündungen ( > dazu den nächsten Abschnitt) bisher wenig gut verstanden: Es gibt jedoch experimentelle Hinweise für die Vermutung, dass bei der chronisch-allergischen Entzündung die Prozesse der T-Zell- und der Eosinophilenapoptose gestört sind. Chronifizierung der allergischen Entzündung. Kommt es infolge wiederholter Antigeneinwirkung zu mehrfacher Wiederholung von Sofort- und verzögerter Sofortreaktion, so führt das schließlich zur chronisch irreversiblen Entzündung. Der Organismus versucht, das zerstörte Ge-
13.5 Arzneimittelallergische Krankheitsbilder
webe zu ersetzen. Kennzeichnend ist, dass nunmehr Makrophagen ins Spiel kommen. Der entzündliche Prozess erfasst schließlich Epithelzellen und Myozyten. Die extrazellulären Matrixproteine werden zunehmend durch Fasern mit hohem Kollagenanteil ersetzt, womit ein Verlust an Elastizität verbunden ist. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist: Zunehmend wird auch das Nervensystem mit einbezogen; man spricht von der neurogenen Komponente der chronischen Entzündung. Inlammatorische Produkte aus Entzündungs- und Gewebezellen reizen die sensorischen Nerven, die über einen Relex (Axonrelex) Neuropeptide aus C-Fasern freisetzen. Es gibt heute gute Hinweise dafür, dass in diese nervale Komponente der chronischen Entzündung die Cromoglicinsäure eingreit, eine Substanz, die früher irrtümlich als „Mastzellstabilisator“ bezeichnet worden ist.
13.5.3
Gastrointestinale Allergien
Allergische Reaktionen des Gastrointestinaltraktes, auch als Nahrungsmittelallergien bezeichnet, manifestieren sich keinesfalls ausschließlich durch Beschwerden im Magen-Darm-Trakt, sondern – individuell unterschiedlich und in wechselndem Ausmaße – auch an anderen Organsystemen wie der Haut (Urtikaria), dem Respirationstrakt (Rhinitis, Asthma) und dem Kreislaufsystem (Tachykardie, anaphylaktischer Schock). Besonders typisch für die Nahrungsmittelallergie ist das orale Allergiesyndrom, das durch eine Schwellung der Lippen bzw. der Mund- und Rachenschleimhaut gekennzeichnet ist. Die klinischen Symptome am Dünn- und Dickdarm (Übelkeit, Erbrechen Diarrhoe oder Obstipation) sind eher unspeziisch. Über den Mechanismus der gastrointestinalen Überempindlichkeitsreaktion ist im Grunde sehr wenig bekannt. Auch stellt die Diagnostik gastrointestinaler Allergien nach wie vor ein großes Problem dar. Nur in den seltensten Fällen lassen sich subjektiv empfundene Nahrungsmittelunverträglichkeiten als tatsächliche Allergien diagnostizieren. Bei dieser Sachlage kann es nicht überraschen, dass aus dem Bereich der planzlichen Peroralia kein gesicherter Fall einer Nahrungsmittelallergie bekannt ist. Wie die nach der Einnahme von Flohsamenpräparaten autretenden „allergischen Erscheinungen“ einzuordnen sind, ist nicht bekannt. Es kann nach Einnahme von Flohsamenpräparaten in Einzelfällen zu Rhinitis, Konjunktivitis, Dyspnoe (Asthma) und Urtikaria. kommen.
13.5.4
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Allergische Kontaktdermatitis: Beispiel für eine Typ-IV-Reaktion nach Gell und Coomb
Klinische Symptome. Der Terminus Kontaktdermatitis
(Synonym: Kontaktekzem) besagt, dass sich bei sensibilisierten Individuen (zur Sensibilisierung > oben) die entzündlichen Hautveränderungen primär an der Kontaktstelle mit der allergenen Substanz entwickeln, z. B. juckende rote Knötchen und Schuppung an der Aulagestelle von Modeschmuck oder vom Uhrarmband, Befall der Lidränder nach Anwendung von Augenkosmetika. Das akute Ekzem plegt zu nässen; im späteren Verlauf trocknet das Sekret ein und es bilden sich Krusten und Schuppen. Immer geht das Ekzem mit lästigem Juckreiz einher, der durch Kratzen mit den Fingernägeln beantwortet wird, wodurch charakteristische, als Exkoriationen (Hautdefekt mit Punktblutungen) bezeichnete Kratzefekte, hervorgerufen werden. Eine akute Kontaktdermatitis kann chronisch werden, d. h. in ein chronisches Ekzem übergehen. Die Beschränkung des Ekzems auf bestimmte Kontaktstellen, lässt bereits beim Betrofenen den Verdacht auf Vorliegen einer Kontaktdermatitis aukommen. Dem Hautarzt stehen standardisierte Testsätze von Allergenen zur Verfügung, um das auslösende Allergen zu identiizieren. Auf die häuigsten aus planzlichen Produkten stammenden Allergene wird an andere Stelle (S. 323) zurückzukommen sein. Auslösephase (Phase der Manifestation) einer Kontaktallergie. Im sensibilisierten Organismus rezirkulieren
speziisch sensibilisierte T-Lymphozyten. Mittels Mechanismen, auf die nicht näher eingegangen werden kann, inden sie ihren Weg zurück in die Dermis und binden dort über hautspeziische Adhäsionsmoleküle an Endothelzellen der Dermis. Das beim wiederholten Kontakt eingedrungene Antigen wird von antigenpräsentierenden Zellen aufgenommen und von den T-Zellen „erkannt“ (gebunden). Die so aktivierten T-Lymphozyten proliferieren und sezernieren Zytokine, die ihrerseits weitere Entzündungszellen anziehen: Es entsteht ein entzündliches Iniltrat. In der Auslösephase beschränkt sich die Antigenpräsentation nicht mehr auf die Langerhans-Zellen. Neuere Daten weisen darauf hin, dass diese Aufgabe vornehmlich von iniltrierenden Makrophagen übernommen wird, während Langerhans-Zellen in dieser Phase eher eine inhibitorische Wirkung auf Entzündungszellen zu haben scheinen (Enk u. Knop 1998).
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Überempfindlichkeitsreaktionen beim Umgang mit Drogen und bei der Anwendung pflanzlicher Arzneimittel
! Kernaussagen
Über die Auslösephase der allergischen Kontaktdermatitis sind vergleichsweise wenig molekulare Details bekannt. Sicher ist, dass es sich um einen T-Zell-abhängigen Vorgang handelt. Zur Antigenpräsentation (Langerhans-Zellen, Makrophagen, Keratinozyten?) liegen hingegen keine harten experimentellen Daten vor. Vergleicht man die Auslösephasen der beiden Allergietypen I und IV miteinander, so lässt das die folgenden Verallgemeinerungen zu: Bei der allergischen Entzündungsreaktion (Typ-I-Reaktion) überwiegen Eosinophile und Basophile bei geringer Mobilisierung von Neutrophilen. Für die allergische Reaktion vom verzögerten Typ (Typ-IV-Reaktion) ist die Akkumulation von T-Zellen, von Neutrophilen und von Monozyten im Gewebe typisch.
13.6
Allergenquellen
13.6.1
Definitionen
Allergene. Antigene, die potentiell zu einer Sensibilisie-
rung mit nachfolgender Überempindlichkeit führen, nennt man Allergene. Atopische Allergene bilden eine Untergruppe: Es sind Allergene, die bei genetisch prädisponierten Personen (Atopikern) über die Aktivierung von B-Lymphozyten die Bildung speziischer IgE-Antikörper induzieren ( > dazu S. 313) und bei Kontakt zu allergischen Sofortreaktionen (Typ-I-Reaktionen nach Gell und Coombs; > Tabelle 13.1) führen. Aus chemischer Sicht sind Allergene meist Proteine oder Glykoproteine mit molaren Massen zwischen 10 und 70 kDa bis 100 kDa. Nach der Art der Aufnahme kann man Inhalationsallergene, Ingestionsallergene (Bestandteile der Nahrung), Kontaktallergene und Injektionsallergene unterscheiden. x Inhalationsallergene gelangen als korpuskuläre Schwebestofe auf die Schleimhautoberläche der Atemwege und werden dort deponiert. Das Schleimhautsekret stellt eine Barriere gegen die weitere Invasion des Allergens dar. Die meisten der in der Atemlut enthaltenen Partikel, die größer als 0,01 mm im Durchmesser sind (Staub, Pollen) bleiben bereits auf der Nasenschleimhaut hängen und werden mit dem Nasensekret abtransportiert. Dagegen können kleinere Partikel wie
z. B. Schimmelpilzsporen wesentlich leichter bis in die Verästelungen des Bronchialbaumes vordringen. Fest sitzende Partikel erhalten die Chance, die Epithelschicht und die subepithelialen Gewebe (Lamina propria) zu durchwandern, wo sie erstmals auf immunkompetente Zellen stoßen. x Ingestionsallergene werden per os aufgenommen, also in der Regel mit der Nahrung, aber auch mit Arzneimitteln. x Kontaktallergene sind Substanzen, die imstande sind, über eine topische Einwirkung (über die Haut) eine Sensibilisierung zu erzielen. x Injektionsallergene wie Insektengite und injizierbare Arzneimittel (z. B. Penicilline, Impfstofe) gelangen direkt übers Blut in den Organismus Es wird stets der gesamte Organismus sensibilisiert. Dennoch zeigt die Erfahrung: Resorptionsort des Allergens und Manifestationsort der Allergie sind in der Regel die gleichen („Kontaktregel“ nach Hansen). Nur bei hohem Sensibilisierungsgrad sind andere Organe beteiligt. Die generalisierte Reaktion des gesamten Organismus ist der anaphylaktische Schock. Haptene. Als Haptene bezeichnet man niedermolekulare (rel. Molekülmasse 1000), chemisch reaktionsfähige Stofe, die zwar in vitro mit einem Antikörper reagieren können, die jedoch im Organismus für sich allein keine Immunreaktion auszulösen imstande sind. Haptene erwerben diese Fähigkeit nach kovalenter Bindung an Peptid- oder Proteinstrukturen und erst diese Konjugate können dann bei geeigneter Präsentation durch eine antigenpräsentierende Zelle (APC) von T-Lymphozyten erkannt werden und in der Folge eine, in der Regel Typ-IV-Reaktion in Gang setzen. Beispiele für solche Haptene sind bestimmte Sesquiterpenlactone vom Typus der in Arnikablüten vorkommenden Helenaline ( > dazu Abschnitt 23.4.2) sowie die Anacadiaceenphenole (Urushiole), zu denen auch die Ginkgolsäuren ( > S. 1226) zu zählen sind. Die > Abb. 23.28 zeigt, wie man sich eine kovalente Bindung eines Haptens an ein Protein vorzustellen hat. Kreuzreaktivität. Hierbei induziert ein Allergen A eine Sensibilisierung, auf deren Boden ein anderes Allergen B eine allergische Reaktion auslösen kann. Ursächlich liegt einer Kreuzreaktivität ein chemisch ähnliches Allergen zugrunde.
13.6 Allergenquellen
13
Pollenassoziierte Nahrungsmittelallergie. Hierbei han-
Hinweis. Pilzsporen induzieren in der Regel IgE-vermit-
delt es sich um eine Sonderform von Kreuzreaktivität, und zwar um eine inhalativ-nutritive Form. Beispiele: Patienten, die auf Kompositenpollen (Beifußpollen) allergisch mit einer Rhinokonjunktivitis reagieren, können beim erstmaligen (!) Essen von Litschiplaumen (die Nüsse mit essbaren Samenmantel von Litchi sinensis Somn.) einen anaphylaktischen Schock erleiden. Bei bestimmten Pollenallergikern kann beim Essen von Sonnenblumenkernen ein Asthmaanfall ausgelöst werden.
telte (Typ-I-)Allergien. doch können sie auch immunkomplexvermittelte (Typ-III-)Allergien ( > Tabelle 13.1) auslösen.
13.6.2
Inhalationsallergene
Die wichtigsten Inhalationsallergene sind Schimmelpilzsporen, Pollenkörner und Staub, der planzliche oder tierische Materialien mit sich führt. Schimmelpilzsporen. Pilzsporen bilden den Hauptteil des
sog. Aeroplanktons, das ist die Summe der festen Partikelteilchen in der umgebenden Atemlut. Bei den Schlauchpilzen (Ascomycetes) erfolgt in vielen Fällen die Freisetzung der Sporen durch einen Schleudermechanismus, der durch Erschütterung, durch Berührung, durch Änderung der Lutfeuchtigkeit, oder durch Temperaturwechsel ausgelöst wird. Je nach Spezieseigenheit werden die Sporen von Wind und Nebeltröpfchen transportiert oder sie heten sich festen Körpern (z. B. Insekten) als Transportmittel an. Auch im Hausstaub kommen Schimmelpilzsporen neben Tier- und Menschenhaaren, Insektenbestandteilen u. a. m. vor. Typische Quellen von Pilzallergenen sind Komposthaufen, Blumenerde, Gras und Heu (Exposition beim Rasenmähen), schlecht belütete Räume, auch Klimaanlagen. Als potentielle Auslöser von allergischer Rhinitis und allergischem Asthma sind ca. 20 Arten praktisch bedeutsam. Penicillium-Arten sind fast ubiquitär verbreitet: auf Gemüse, Obst, Käse, im Hausstaub, auf feuchten Tapeten, in Kühlschränken, um die wichtigsten Allergenquellen zu nennen. Helminthosporium halodes, ein auf Gräsern parasitierender und auf vermoderten Planzen saprophytierender Pilz (Deuteromycetes) entlässt vor allem an heißen Tagen seine Sporen. Gärtner und landwirtschatliche Arbeiter sind besonders gefährdet. Botrytis cinerea ist ein häuiger Schädling auf Erdbeeren und anderem Beerenobst; er parasitiert auch auf Gemüse und Blumen und bedingt die sog. Edelfäule der Weintrauben. Der Pilz gilt auch als Auslöser der sog. Weißweinallergie.
Pollenallergene. Die Planzen, die im Zusammenhang mit Pollenallergien von Bedeutung sind, gehören zu den Windblütlern (anemophile Planzen). Das Prinzip der Windblütigkeit erfordert, dass Pollen in großen Mengen gebildet und an die Lut abgegeben werden. Man hat errechnet, dass eine einzige Roggenplanze mehr als 4,2 Mio. Pollen hervorbringt. Das einzelne Roggenpollenkorn wiegt durchschnittlich 0,5 µg. Im Extremfall genügen 3–5 Pollenkörner, um einen Heuschnupfenanfall auszulösen. Da der Proteinanteil am Gesamtgewicht des Pollens nur wenige Prozente ausmacht und da wiederum die allergene Potenz nur an eine Teilmenge des Proteins (ca. 5%) gebunden ist, gehören Pollenallergene zu den Naturstofen mit der höchsten Wirkungspotenz. Um zu einer für den Menschen gefährlichen Allergenquelle zu werden, muss zur Mengenproduktion an Pollen als weiterer Faktor hinzukommen: Die betrefende Planzenart muss größere Bestände bilden können. Es gibt allerdings Planzenarten wie z. B. Urtica- und Pinus-Arten, die dennoch keine Allergenauslöser darstellen. Ofensichtlich müssen zusätzliche Faktoren hinzukommen: vermutlich eine besondere Tertiärstruktur des Allergens und/oder eine hinreichende Penetrationsfähigkeit des Allergens oder Allergenträgers durch die Schleimhautschranke. Pollenkörner weisen einen Durchmesser von 10– 100 µm auf. Partikel dieser Größe werden bereits auf den Schleimhäuten der Nase und des Rachens niedergeschlagen, d. h., im Unterschied zu den Pilzsporen gelangen sie kaum in die tieferen Bronchiolen. Dieses rein mechanische Phänomen macht die bevorzugte Lokalisation der Pollenallergie im Bereich der Nasenschleimhaut („Heuschnupfen“) verständlich. Aber auch die Augenbindehaut ist betrofen. Pollenallergiker leiden unter Juckreiz besonders in den inneren Augenwinkeln, da sich infolge der Lidbewegungen die Pollenkörner in diesem Bereich ansammeln. Wenn auch Augenschleimhäute und obere Atemwege primär betrofen sind, wie an anderer Stelle bereits gesagt, ist letztlich der gesamte Organismus sensibilisiert. Bei Pollenallergikern besteht die Gefahr des sog. Etagenwechsels: Aus dem saisonalen Heuschnupfen (zur Zeit des Pollenluges) entwickelt sich eine ganzjährige Überempindlichkeit des Bronchialsystems, d. h. ein Bronchialasthma.
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Überempfindlichkeitsreaktionen beim Umgang mit Drogen und bei der Anwendung pflanzlicher Arzneimittel
Pflanzenstaub als Allergenquelle. Eines der aggressivs-
ten Inhalationsallergene ist der Staub der Brechwurzel (von Cephaelis ipecacuanha und/oder Cephaelis acuminata; > auch S. Kap. 27.7.1). Die Droge war früher, als sie in Apotheken noch receptaliter verarbeitet wurde, die Hauptursache für Berufswechsel von Apothekern. Das Betreten von Räumen, in denen die Droge verarbeitet worden war, reichte aus, um einen Asthmaanfall auszulösen. Verantwortlicher Inhaltsstof ist ein Glykoprotein, dessen nähere Sekundär- und Tertiärstruktur bisher nicht ermittelt wurde. Sensibilisierungen durch Einatmen von Drogenstaub sind ansonsten für eine Reihe weiterer Drogen beschrieben, so für die Iriswurzel, Ricinussamen, Senf- und Leinsamen, Knoblauchpulver und Planzengummen. Hausstaub als Allergenquelle. Einen dominierenden
Platz unter den Inhalationsallergenen nimmt der Hausstaub ein, der eine Vielzahl von potentiell allergenen Bestandteilen enthalten kann: Schimmelpilze, Hefen, Pollen, Tier- und Menschenhaare, Nahrungsmittelrückstände, Bakterien, Insektenbestandteile, Milben, insbesondere die Hausstaubmilbe (Dermatophagoides pteronyssinus).
13.6.3
Allergene in Nahrungsund Genussmitteln
Allergene in Nahrungs- und Genussmitteln können allergische Reaktionen am Intestinaltrakt hervorrufen ( > oben S. 319). Gefährlicher sind die Manifestationen als angioneurotisches Ödem und als Asthmaanfall. Fast alle handelsüblichen Getreidesorten können allergische Nahrungsmittelunverträglichkeiten auslösen. Dabei können Individuen, die gegenüber Getreidestaub als Inhalations-
allergen sensibilisiert sind, oral aufgenommene Getreideprodukte vertragen und umgekehrt. Getreide in Rohprodukten (Rohkost) scheint ein höheres Sensibilisierungspotential aufzuweisen, als Getreide in Form von Backwaren oder als Brei gekocht. Gemüseprodukte bergen kaum ein Allergisierungsrisiko in sich, am ehesten ist noch mit einer Sellerieallergie zu rechnen. Was das Obst anbelangt, so können Kernobst, Citrusfrüchte und Kiwis Allergien auslösen. Kiwis sind die Beerenfrüchte von Actinidia chinensis Planchon (Familie: Actinidiaceae >IIB20f@). Cashew-, Erd-, Hasel-, Para- und Walnüsse können IgE-vermittelte Sofortreaktionen auslösen, ot reichen dazu selbst geringste in den betrefenden Ölen (Erdnussöl, Walnussöl) zurückbleibende Allergensspuren aus. Einen Sonderfall bilden die bereits erwähnten nahrungsmittelassoziierten Pollenallergien. Eine Zusammenstellung häuig autretender Koinzidenzen bietet die > Tabelle 13.5). Infobox Unter einem angioneurotischen Ödem (Synonym: Angioödem) versteht man eine durch eine allergische Reaktion hervorgerufene subkutane Schwellung von Haut und Schleimhaut, oft kombiniert mit Nesselsucht, nicht zu verwechseln mit einer oft dramatisch verlaufenden Sonderform, dem hereditären Angioödem. Angioödeme werden somit in nichthereditäre und in hereditäre Formen unterteilt. Die hereditären Formen sind nicht mastzellabhängig, sondern durch einen erblichen C1-Esterase-Inhibitor-Mangel oder fehlende Aktivität des C1-Esteraseinhibitors gekennzeichnet. Zu den Auslösern der allergischen (nichthereditären) Form gehören Arzneimittel, neben bestimmten Lebensmitteln und Zusatzstoffen. Die Genese der Schwellung ist nicht genau bekannt, beruht aber auf einer erhöhten Gefäßdurchlässigkeit.
. Tabelle 13.5 Zusammenstellung pollenassoziierter Nahrungsmittelallergien (Aus Heppt 1998) Pollenart
Nahrungsmittel
Frühblüher (Birke, Hasel, Erle)
Frisches Stein- und Kernobst; Haselnüsse, Mandeln. Seltener Gemüse wie Karotten, Kartoffeln, Tomaten und Sellerie; exotische Früchte: Kiwi
Gräser
Gemüse; Sellerie und Kartoffeln; Soja, Erdnuss, Hülsenfrüchte; Gewürze: Curry, Petersilie, Thymian
Kräuter; Beifuß, Kamille, Wegerich
Gemüse: Fenchel, Karotten, Sellerie, Soja, Gewürze: Anis, Curry, Dill, Knoblauch, oriander, Kümmel, Paprika
13.6 Allergenquellen
13.6.4
Kontaktallergene
Das Spektrum möglicher Kontaktallergene ist groß und umfasst die heterogensten Stofe wie metallische Ionen (Nickel, Dichromat, Kobalt), Dut-, Farb- und Konservierungsstofe. Planzenstofe, die Kontaktallergien auslösen, können allen Naturstoklassen entstammen, sofern es sich um Vertreter mit reaktionsfähigen elektrophilen Zentren handelt. Häuig vertreten sind: x ortho- und para-Chinone, x ortho-und para-Diphenole, x 1,3-Enone (z. B. Carvon), x ungesättigte Enolide (Lactone), x Lactone mit semizyklischer Doppelbindung (z. B. Helenalin, > Abb. 23.29), x Peroxide (z. B. 3-Caren), x Sulinsäureester (z. B. Allicin). Planzenarten mit kontaktsensibilisierenden Eigenschaften werden besonders häuig in den folgenden Planzenfamilien angetrofen: Alliaceae, Anacardiaceae (Rhus-Arten) Apiaceae, Asteraceae, Euphorbiaceae, Primulaceae und Rutaceae (Hausen u. Vieluf 1997). Was planzliche Arzneimittel anbelangt, so stehen die Korbblütler als Verursacher von Kontaktdermatitiden an erster Stelle. Das häuige Auftreten von Korbblütlern in der natürlichen Umwelt (Wiesenkräuter, Zierplanzen, Gemüse- und Salatplanzen, Gewürze, Arzneiplanzen) bietet Gelegenheit, eine Sensibilisierung gegenüber Korbblütlern zu erwerben. Von den hierher gehörenden Arzneidrogen sind die Arnikablüten (Arnicae los) bedeutsam. Allerdings hängt die Allergisierungspotenz stark von der jeweiligen Zubereitung ab, ob als Tinktur oder ob in lipophile Salbengrundlage inkorporiert. Die unverdünnte Arnikatinktur unter Kompressen und Umschlägen führt zunächst zu einer irritativen Reaktion mit Blasenbildung mit nachfolgender Sensibilisierung ( > oben, S. 315). Verwendet das sensibilisierte Individuum kräuterhaltige Externa, Kosmetika, Badezusätze, Shampoos (mit Extrakten aus z. B. Arnikablüten, Schafgarbenkraut, Römischer Kamille) erfolgt leicht ein Rezidiv. Häuig autretend ist sodann die sog. Propolis-Allergie. Man versteht unter Propolis (Synonym: Bienenharz) die von der Honigbiene zum Befestigen der Wabenzellen verwendete harzartige Masse. Die sensibilisierenden Prinzipien sind ihrem chemischen Aubau nach einfache Kafeesäureester, die ursprünglich im Exsudat von Pappelknospen (bei uns vornehmlich in denen von Populus
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nigra) vorkommen. Bienen liegen vorzugsweise Pappelknospen an, um ihren Wabenklebstof zu gewinnen. Schließlich sei als Allergenquelle das Teebaumöl (zur Chemie > Abschnitt 25.8.5) erwähnt, eine seit 1991 bei uns viel verwendete Modedroge. Das frisch destillierte Öl wirkt kaum sensibilisierend. Die chemisch reaktionsfähigen Haptene, wie z. B. Peroxide, Epoxide und Endoperoxide entstehen erst bei der Lagerung bei Zutritt von Licht, aus den entsprechenden Mono- und Sesquiterpenen. Hämatogene Kontaktallergie. Man versteht unter einer hämatogenen Kontaktallergie (engl.: „systemic contacttype dermatitis“) eine durch orale Aufnahme von Allergenen ausgelöste Kontaktdermatitis. Das Allergen gelangt bei sensibilisierten Personen über den Blutkreislauf in die Haut und löst dort die akute Hautentzündung aus. Ein gut untersuchter Befall betrit die Einnahme eines Kavapräparates, das als wirksamen Bestandteil einen lipophilen Extrakt aus dem Rhizom von Piper methysticum enthielt. Dass in dem beschrieben Fall (Süss u. Lehmann 1996) der Kavaextrakt das verantwortliche Kontaktallergen darstellt, wurde im Lymphozytentransformationstest und im Epikutantest diagnostisch bewiesen. Die Kontaktallergie manifestierte sich als generalisiertes, urtikarielles Erythem: Nahezu die gesamte Körperoberläche der Patientin, unter Betonung von Gesicht, Hals, Brust, Rücken und Streckseiten der Arme, waren mit hellroten Papeln und Plaques auf ödematösem Grund bedeckt. Es stellt sich die Frage, ob auch bei anderen Kontaktallergenen auf systemischem Wege eine allergische Typ-IVKontaktallergie ausgelöst werden kann. Relevant könnte dieses Problem bei den bereits oben erwähnten Kompositenallergenen sein. Zwischen den einzelnen Korbblütlerarten gibt es häuig Kreuzallergien, da sie in der Sesquiterpenführung Ähnlichkeiten aufweisen. Ob bei hochgradig sensibilisierten Personen auch unter Umgehung der Haut, also nach oraler Aufnahme, d. h. auf hämatogenem Wege, Symptome ausgelöst werden können, beispielsweise durch Artischocken- oder Mutterkrautpräparate, wird zwar allgemein angenommen, allerdings gibt es dafür bisher keine gesicherten Belege. Viel diskutiert wurde die Möglichkeit einer hämatogen induzierten Kontaktdermatitis auch im Falle der Ginkgobiloba-Präparate. Die in der Ausgangsdroge vorkommenden allergenen Ginkgolsäuren sind chemisch mit den Resorcinderivaten aus Rhus- und Toxicodendron-Arten verwandt und besitzen hohe allergene Potenz. In den USA
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Überempfindlichkeitsreaktionen beim Umgang mit Drogen und bei der Anwendung pflanzlicher Arzneimittel
spielt die sog. Poison-ivy-Dermatitis als dermatologisches Problem eine wichtige Rolle: Man kann nicht ausschließen, dass bei hochgradig Rhus-sensibilisierten Personen durch Einnahme von Ginkgoblattextrakten die Kontaktdermatitis im Sinne einer Kreuzreaktion wieder auflammt. Da es aber bisher experimentell nicht gelungen ist, bei Rhus-sensibilisierten Individuen gegen Zubereitungen aus Ginkgo-biloba-Blättern Kontaktallergieen auszulösen, wird die Gefahr als sehr gering eingeschätzt. Dennoch dürte es sich empfehlen, vorsorglich nur Gingkopräparate mit reduzierten Gehalten an Ginkgolsäuren als Arzneimittel zu verwenden. Dieser hämatogene Weg der Sensibilisierung betrit neben planzlichen Arzneimitteln auch Nahrungsmittel und Getränke, die Perubalsam enthalten, sowie eine Reihe von Antibiotika. Aerogene Kontaktallergene. Es handelt sich um Aller-
gene, die auf dem Lutwege auf unbedeckte Hautpartien herangetragen werden und dort eine sog. aerogene Kontaktdermatitis (engl.: „airborne contact dermatitis“) hervorrufen. Bevorzugte Manifestationsorte sind das Gesicht, der Halsausschnitt, Hände und Unterarme. Allergenquellen sind Kontakte mit vertrockneten, frei in der Lut herumliegenden, Planzenteilen (insbesondere Achänen und feine Planzenhärchen). Gefährdet sind somit Personen, die sich viel im Freien auhalten. Kontaktallergie durch Henna-Tattoos. An den Mittel-
meerstränden wird seit Jahren den Urlaubern eine schmerzlose Art von Tätowierung angeboten. Sie besteht in Folgendem: Das gewünschte Motiv wird mittels Hennafarbstof unter Verwendung einer Schablone in die Haut eingerieben. Henna besteht aus den gepulverten Blättern von Lawsonia inermis L. (Lythraceae >,,B17c@). Das farbgebende Prinzip der Hennablätter ist das Lawson (2-Hydroxy-1,4-naphthochinon). Henna bzw. Lawson selbst wirken so gut wie nicht sensibilisierend. Die Kontaktallergien werden durch Zusätze, insbesondere durch p-Phenylendiamin hervorgerufen. Die Zusätze sind erforderlich, da sich mit Henna allein keine hinreichende Dunkeltönung des Gewebes erzielen lässt. Die Allergie kündigt sich etwa zwei Wochen nach Autragen des Tattoos durch starken Juckreiz und starke Rötung an. Wenig später treten schmerzhate Bläschen hinzu. Nachdem die Entzündung abgeheilt ist, hinterbleibt eine helle, gescheckte oder auch dunkle Fläche in Form des ursprünglichen Urlaubssouvenirs. Die Bereitschat, auf Phenylen-
diamin, das in vielen Produkten des Alltags (z. B. Lederhandschuhen, Schuhen, schwarzen Socken, Fahrradgriffen) enthalten ist, allergisch zu reagieren, bleibt über viele Jahre hin, ot lebenslang erhalten.
! Kernaussagen
Kontaktdermatitiden sind immunologische Typ-IVReaktionen gegen Moleküle mit Molekulargewichten unter 1000, die – nach kovalenter Bindung an Proteine – vom hautassoziierten Immunsystem (SALT; engl.: „skin-associated lymphoid tissue“) als fremd erkannt werden.
Kontaktallergene pflanzlicher Herkunft, die zu einer Sensibilisierung im Rahmen einer allergischen Typ-IV-Spätreaktion führen erhalten Zugang zum SALT x durch Hautkontakt mit lebenden Pflanzen oder Drogen, x auf dem Wege topischer Behandlung mit pflanzlichen Arzneizubereitungen, x indem aufgewirbelter Pflanzenstaub auf bloße Hautpartien gelangt, x in sehr seltenen Fällen auch durch die orale Aufnahme in Form von Arznei- oder Lebensmitteln (hämatogene Kontaktallergie). Kontaktallergien entstehen nur selten auf gesunder Haut, entwickeln sich aber sehr leicht auf dem Boden eines toxischen, meist chronischen Ekzems. Sofern das eine Kontaktallergie auslösende Kontaktallergen identifiziert werden kann, ist das absolute Meiden des Haptens die erfolgreichste Therapie.
Anhang: Wichtige Begriffe der Immunologie und Allergologie Antigene Als Antigene (griech.: ánti >gegen@, genáo >erzeugen@) werden lösliche oder partikuläre Produkte bezeichnet, die fähig sind, im Organismus eine Immunreaktion auszulösen. Die Immunantwort kann zu Immunisierung, zu einer überschießenden Reaktion oder zu Immuntoleranz führen. Will man ein Antigen entsprechend funktional be-
Anhang: Wichtige Begriffe der Immunologie und Allergologie
schreiben, spricht man von Immunogenen, Allergenen oder von Tolerogenen. x Ein Immunogen ist deiniert als ein Produkt der belebten oder unbelebten Natur, das in einem Organismus eine Immunantwort auslöst und mit dem Produkt dieser Immunantwort speziisch reagiert. Alle Immunogene sind auch Antigene, aber nicht alle Antigene, wie das Beispiel der Haptene und der Autoantigene zeigt, sind Immunogene. x Ein Antigen, das potentiell zu einer Sensibilisierung mit nachfolgender Überempindlichkeit führen kann, heißt Allergen. x Unter einem Tolerogen versteht man ein Produkt, das normalerweise immunogen ist, unter bestimmten Bedingungen aber zu einer Immuntoleranz führt.
Antigenpräsentation Der erste Schritt zur Induktion einer Immunantwort ist die Aufnahme des Antigens von Makrophagen oder dendritischen Zellen mittels Endozytose. Sie „prozessieren“ das Antigen und präsentieren Epitope an ihrer Zelloberläche. Zellen, die dazu in der Lage sind, bezeichnet man als antigenpräsentierende Zellen (APC >engl. „cells“@). Prozessierung besagt: Die APC bauen proteolytisch das Antigen zu Epitopen ab, binden einige dieser Epitope an o MHC-Moleküle, transportieren den Epitop-MHC-Komplex an die APC-Oberläche (Präsentation) und bieten diese Struktur naiven T-Lymphozyten (primäre Immunantwort) oder Gedächtniszellen (sekundäre Immunantwort) zur Erkennung an.
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xizität). Welcher dieser Efektormechanismen im speziellen Fall zum Tragen kommt, wird durch die Immunglobulinklassen (bzw. deren Subklassen) bestimmt. Man unterscheidet 5 Antikörperklassen: x IgG: mengenmäßig vorherrschende AK (75% der Serumantikörper); es gibt 4 Subklassen mit je unterschiedlichen Funktionen. IgG-Antikörper besitzen hohe Antitoxinaktivität und – nach Fixierung von Komplement – hohe bakterizide Wirksamkeit. Sie sind damit die wesentlichen Träger der sekundären (humoralen) Immunantwort, die eine Ausbreitung der Erreger auf dem Blutwege und im interstitiellen Gewebe unterbinden soll. x IgM: Ihr Anteil an den Serum-AK beträgt ca. 10%. IgM-Moleküle treten im Serum als Pentamere auf (daher die Bezeichnung „M“ für Makroglobulin). Auf Grund ihres hohen Molekulargewichtes können sie nicht, anders als IgG, die durch eine Entzündung aufgelockerte Kapillarwand passieren und sie kommen daher ganz überwiegend nur innerhalb der Gefäße vor. IgM-Moleküle treten im frühesten Stadium der Infektabwehr in Aktion, sie sind die Träger der primären (humoralen) Immunantwort (die Plasmazelle stellt zunächst IgM her; > auch Antikörperklassenwechsel). x IgD: im Serum in nur sehr geringer Konzentration vorhanden. Über seine Funktion ist noch nichts Näheres bekannt. x IgA: Diese Antikörperklasse wird von Plasmazellen synthetisiert, die direkt unterhalb des Schleimhautepithels liegen. IgA ist in dimerer Form der wichtigste Antikörper in Sekreten. Von den Serumantikörpern entfallen ca. 15% auf IgA. x IgE ( > unter Immunglobulin E).
Antikörper Antikörperklassenwechsel Antikörper (AK) werden auch als Immunglobuline (Ig) bezeichnet, da sie in der Globulinfraktion des Serums vorkommen und immunologische Funktionen übernehmen. Sie können Krankheitserreger binden und dadurch deren Zutritt zu Zellen und Geweben verhindern (Neutralisierung >von Toxinen und Viren@); sie können sich an Oberlächenproteine (Antigene) der Erreger binden und dadurch die Erreger für phagozytierende Zellen kenntlich machen (Opsonierung); durch Antigen-Antikörper-Bindung kann Komplement aktiviert (o Komplement) oder es kann Zytolyse durch T-Lymphozyten und NK-Zellen induziert werden (antikörperabhängige zelluläre Zytoto-
B-Zellen sind grundsätzlich in der Lage, alle 5 Klassen von Antikörper (IgM, IgD, IgG, IgA, IgE) zu generieren. Diese 5 Klassen unterscheiden sich durch die sog. konstanten Regionen der jeweiligen Ig-Moleküle. Die antikörperbildende Zelle stellt zunächst IgM her, um zu einem späteren Zeitpunkt auf die Produktion von IgG, IgA oder IgE umzuschalten. Bei diesem Vorgang des Antkörperklassenwechsels (engl.: „class switching“) bleiben die leichte IgKette sowie die variable Region der schweren Ig-Kette der Antikörper unverändert, nur die schwere Kette der konstanten Region wird ausgetauscht. Induziert wird der An-
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tiköperklassenwechsel durch Zytokine, von IgM zu IgE beispielsweise durch IL-4 und IL-13.
Arzneimittelallergische Blutzellschäden Man entnimmt der > Tabelle 13.1, dass die als zytolytische Reaktion bezeichnete Abwehrreaktion sich primär gegen extrazelluläre Bakterien richtet. Unter bestimmten Umständen kann sich jedoch dieses immunologische Abwehrgeschehen auch gegen die körpereigenen zellulären Bestandteile des Blutes richten, insbesondere gegen die Granulozyten, hrombozyten und Erythrozyten. Das Immunsystem sieht diese Zellen dann nicht mehr als zum Selbst gehörende Zellen an, wenn Oberlächenstrukturen dieser Zellen mit niedermolekularen Arzneistofen eine feste Bindung eingehen. Als Reaktion darauf binden Antikörper (IgM oder IgG) an die nunmehr als fremd geltenden Blutzellen. In der Folge wird eine ganze Kaskade von immunologischen Reaktionen ausgelöst: Zum ersten kommt Verstärkung, indem chemotaktisch angelockte Granulozyten, Monozyten und NK-Zellen über Fc-Rezeptoren an die Antikörper binden. Aktivierung dieser Immun- bzw. Entzündungszellen führt zur Freisetzung von zytolytisch wirkenden Substanzen. Die so abgetöteten Zellen werden von Monozyten und Makrophagen phagozytiert. Vor allem aber aktivieren die zellgebundenen Antikörper den klassischen Komplementweg, an dessen Ende die Bildung des membranangreifenden Komplemenkomplexes (auch unter MAC-Komplex) und Zytolyse der betroffenen Zellen steht. Klinisch manifestiert sich die allergische Zytolyse der Granulozyten als Agranulozytose, die der hrombozyten als thrombozytopenische Purpura und die der Erythrozyten als immunhämolytische Anämie. Ofen ist dabei die Frage, warum die arzneimittelinduzierte Antikörperbildung meistens ganz speziisch nur jeweils gegen eine der drei Blutzellenreihen gerichtet ist. Die bisherige Erfahrung hat gezeigt, dass nahezu jeder Arzneistof als blutschädigendes Agens in Frage kommen kann, wobei allerdings sehr große Unterschiede im Sensibilisierungspotential bestehen. Auch spielt die Art der Anwendung, die Applikationsform des Medikamentes, eine Rolle: Die geringste Sensibilisierungsquote hat im Allgemeinen die orale Anwendung, die höchste Gefährdung birgt die lokale Haut- und Schleimhautbehandlung in sich, insbesondere das Autragen auf lädierte oder inizierte Partien, ofensichtlich weil reichlich reaktionsfähiges Protein zur Komplettierung zur Verfügung steht.
Basophile ( > auch Granulozyten) Basophile Granulozyten üben eine ähnliche Funktion aus wie die Mastzellen: Sie tragen an ihrer Oberläche Rezeptoren, an die IgE-Antikörper binden können. Diese nunmehr sessilen IgE-Moleküle verfügen über Rezeptoren für Antigene. Auf diese Weise können, wenn auch nur indirekt, Basophile speziisch Antigene binden. Freisetzung der in den basophilen Granula gespeicherten Substanzen, darunter Heparin und Histamin, sind an der Induktion allergischer Symptome wie Gefäßerweiterung, Hautrötung, Quaddelbildung u. a. m. beteiligt.
CD-Nomenklatur Trotz großer funktioneller Unterschiede lassen sich ruhende B- und T-Zellen morphologisch nicht unterscheiden. Sie tragen aber in der Zellmembran Moleküle, die bei den beiden Populationen unterschiedlich sind. Auch innerhalb jeder der beiden Populationen gibt es zahlreiche Subpopulationen mit unterschiedlichen Paletten von Oberlächenmolekülen. Diese diversen Oberlächenmoleküle haben Antigencharakter, sodass sich die jeweiligen Belegungsmuster mittels einer entsprechenden Auswahl von monoklonalen Antikörpern immunologisch diagnostizieren lassen. Zu Verständigungszwecken hat man sich international auf das sog. CD-System (engl.: „cluster >Gruppe@ of diferentiation“) geeinigt. Bisher sind an die 150 unterschiedliche CD-Moleküle nachgewiesen. Die Zählung erfolgt fortlaufend, entsprechend dem Zeitpunkt ihrer Entdeckung. Beispiele: Der Marker CD3 kommt auf allen peripheren T-Lymphozyten vor. T-Helferzellen (TH) exprimieren zusätzlich das CD4- und die zytolytischen (zytotoxischen) T-Lymphozyten (Tc-Zellen) das CD8-Molekül. Die CD4Lymphozyten binden vorzugsweise an MHC-Klasse-IIMoleküle, die CD8-Lymphozyten hingegen an MHCKlasse-I-Moleküle. Das bedeutet, Fremdantigene, die von CD8-Zellen erkannt werden sollen, müssen mit MHCKlasse-I-Strukturen assoziiert sein. Hinweis. Bei der HIV-Infektion ist die Anzahl der CD4-
Zellen erniedrigt unter gleichzeitiger Erhöhung der CD8Zellen. Die Einteilung der Krankheit in verschiedene Schweregrade wird wesentlich durch die CD4-Zellzahlen deiniert.
Anhang: Wichtige Begriffe der Immunologie und Allergologie
CD4-postive-T-Lymphozyten (CD4-Zellen) Man bezeichnet sie auch als T-Helferzellen. Nach Antigenerkennung ist die aktivierte CD4-Zelle in der Lage, regulatorische Zytokine zu produzieren. Abhängig von den jeweils produzierten Zytokinen unterteilt man die CD4-Zellen in verschiedene Populationen, die jeweils unterschiedliche Efektorfunktionen aufweisen. Zwei Extremvarianten solcher Efektor-T-Zellen können auf Grund des Zytokinmusters diferenziert werden: die T-Helfer-1Lymphozyten (TH1-Zellen), die durch die Interleukine IL-2 und IFN-J charakterisiert werden, und die T-Helfer2-Lymphozyten (TH2-Zellen), die selektiv Il-4 und Il-5 produzieren. TH1-Zellen fördern die Proliferation und die Funktion aller T-Lymphozyten und damit die Ausbildung zellvermittelter Immunreaktionen. TH2-Zellen steuern die Diferenzierung von B-Lymphozyten bis zur Antikörpersezernierenden Plasmazelle (P in > Abb. 13.1). Welche Immunantwort induziert wird – eine zelluläre TH-1Antwort oder eine humorale (allergische) TH-2-Antwort – liegt an der Art und Weise, wie und welche Signale auf die naive T-Vorläuferzelle einwirken.
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aus Vorläuferzellen des Knochenmarks oder aus den monozytischen Zellen des Blutes. Die dendritischen Zellen der Haut heißen Langerhans-Zellen. Nach neueren Vorstellungen fungieren gewebsständige dendritische Zellen, darunter die Langerhans-Zellen, als Sensoren, die eine erste Entscheidung darüber trefen, ob eine lokale Schädigung zu einer adaptiven Immunantwort führen soll oder nicht. Sie müssen somit zwischen einem Zelluntergang im Rahmen einer normalen Gewebeerneuerung (Apoptose) und Schädigungen von Zellen durch Noxen unterscheiden können. Dazu verfügen sie über „Sensoren“ für Abbauprodukte gestresster oder lysierter Zellen wie z. B. Sauerstofradikale, NO, DNA-Fragmente (Ibrahim et al. 1995).
Effektorzellen Der Begrif umfasst alle Zellen, die in immunologischen Reaktionen aktiv werden, sei es unmittelbar, z. B. durch direkten Zell-Zell-Kontakt, oder mittelbar, z. B. durch Sekretion von Zytokinen oder Antikörper (Drößler u. Gemsa 2000).
CD8-positive-T-Lymphozyten (CD8-Zellen)
Eosinophile ( > auch Granulozyten)
Die CD8-Zellen haben vorzugsweise als Tc-Zellen eine zytolytische (bzw. zytotoxische) Funktion; sie spielen u. a. eine entscheidende Rolle bei der Abwehr intrazellulärer Mikroorganismen. Nach Antigenerkennung produzieren sie IFN-J sowie TNF-D, weisen somit ein für die TH1-Zellen typisches Zytokinmuster auf. CD8-Zellen haben ferner regulatorische Funktionen z. B. als Suppressorzellen.
Eosinophile Granulozyten speichern in ihren zytoplasmatischen Granula 4 basische niedermolekulare Proteine: MBP (“major basic protein”), EDN (Eosinophilen-deriviertes Neurotoxin), ECP (in Eosinophilen gespeichertes kationisches Protein) und EPO (Peroxidase). MPB, EPO und ECP sind potente Toxine für Helminthen und Bakterien. Die Iniltration mit Eosinophilen ist ein fundamentaler Faktor in der Immunpathogenese der allergischen Entzündung.
Chemokine Chemokine sind eine Gruppe von o Zytokinen, die an der Anlockung von Entzündungszellen (Blutmonozyten, neutrophilen Granulozyten) aus dem Blutgefäßsystem in das entzündete Gewebe beteiligt sind.
Dendritische Zellen Wegen ihrer verzweigten Form (gr.: déndron >Baum@ so benannte Zellen, die antigenpräsentierende Funktionen für T-Zellen erfüllen. Sie diferenzieren entweder direkt
Epitop Auf der Oberläche von Antigenen beinden sich frei zugängliche Strukturelemente, die man Epitope oder antigene Determinanten nennt. Diese Region an der Oberläche eines Antigenmoleküls ist wie folgt gekennzeichnet: sie passt auf Grund ihrer Struktur in die komplementäre Bindungsstelle (= Paratop) eines Antikörpers oder eines TLymphozyten-Rezeptors („Schloss-Schlüssel-Prinzip“) und löst dadurch eine speziische Immunreaktion aus. Als Epitope können zahlreiche Stofgruppen dienen, z. B. ein-
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fache Zucker, Peptide aus 6–8 Aminosäuren oder organische Ringstrukturen. Die Epitopstruktur ist zwar für die unverwechselbare Eigenschat eines Antigens, d. h. für dessen Speziität, verantwortlich, doch ist ein Epitop allein nicht imstande, eine Immunreaktion auszulösen, sondern nur in Verbindung mit einem Makromolekül. Man trennt daher bei einem Antigen das Epitop von seinem Träger begrilich ab.
Granulozyten Granulozyten machen ca. 60% aller Blutleukozyten aus. Es handelt sich um keine einheitliche Gruppe: Entsprechend unterschiedlicher Anfärbbarkeit unterteilt man sie weiter in neutrophile Granulozyten (Synonym: Neutrophile), eosinophile Granulozyten (Synonym: Eosinophile) und in basophile Granulozyten (Synonym: Basophile). Das Verhältnis von Neutrophilen/Eosinophilen/Basophilen beträgt 95:4:1.
sezernieren, ist bisher nicht bekannt. IL-10 unterstützt die Verschiebung der Immunantwort in Richtung TH2 dadurch, dass IL-10 die (quasi komplementäre) TH2-Immunantwort unterdrückt. Das von TH2-Zellen sezernierte IL-4 induziert bei B-Lymphozyten einen Klassenwechsel (engl.: „switch“) der Immunglobulinklasse IgM nach IgG1 und IgE. Damit erweisen sich die TH2-Zellen als essentielle Induktoren für die IgE-Bildung. Die Immunabwehr durch IgE-Bildung ist von protektivem Wert bei der Abwehr parasitärer Infektionen. Die pathophysiologische Bedeutung liegt in der Förderung IgE-vermittelter Allergien.
Immunglobulin E
Charakteristikum der CD4-positiven Helferlymphozyten vom Typ I, kurz als TH1-Zellen bezeichnet, ist eine hohe Synthese und Sekretion der Interleukine IL-2 und IL-12 sowie von Interferon-J (IFN-J) und des Tumornekrosefaktors-E (TNF-E). Dadurch sind TH1-Zellen in der Lage, verschiedene zytolytische (zytotoxische) und inlammatorische Immunreaktionen zu vermitteln. IFN-J hat stark makrophagenaktivierende Eigenschaten, weshalb die TH1-Zellen als die eigentlichen Träger der zellvermittelten Immunität gelten. Bei vielen Infektionen ist die schützende Wirkung einer TH1-vermittelten Makrophagenaktivierung gut beschrieben. TH1-Zellen vermitteln sodann auch die Überempindlichkeit vom Spättyp, d. i. die Typ-IV-Reaktion nach Gell und Coombs.
Immunglobulin E (IgE) weist im konstanten Bereich der schweren Ketten vier konstante Domänen (CH-Domänen 1–4) auf. Bekanntlich bestimmen bei allen Immunglobulinklassen die konstanten Bereiche deren jeweils unterschiedliche Funktion. Im Falle der IgE-Moleküle sind im H-Bereich Determinanten ausgebildet, die von den auf bestimmten Zellen vorkommenden molekularen Erkennungsstrukturen, den sog, FcH-Rezeptoren, erkannt d. h. gebunden werden. Zunächst in freier Form vorliegendes IgE bindet über FcH-Rezeptoren mit niedriger Ainität an eine Vielzahl von aktivierten Immunzellen und mit hoher Ainität an Mastzellen sowie an basophile und an eosinophile Granulozyten (Saloga et al. 2002). Auf diese Weise erhalten die betrefenden Zellen die Fähigkeit, wenn auch nur indirekt, speziisch Antigene/Allergene (über den variablen Teil der IgE-Moleküle) zu erkennen. Kreuzvernetzung mehrerer IgE-Moleküle auf der Oberläche, speziell der Mastzellen, durch Allergen führt dann zur Sekretion von Mediatoren der lokalen Gefäßerweiterung und zu Schleimsekretion, d. h. zu Sofortsymptomen der IgE-vermittelten Allergien.
Immunabwehr durch TH2-Zellen
Immunität, adaptive
CD4-positive-Helfer-T-Lymphozyten vom Typ II, kurz als TH2-Zellen bezeichnet, synthetisieren und sezernieren die Zytokine IL-4, IL-5, L-6, IL-9 und IL-10, wobei IL-4 als Leitzytokin der TH2-Immunantwort gilt: Denn eine frühe Anwesenheit von IL-4, noch vor der Polarisierung TH1/ TH2, ist wesentlich dafür verantwortlich, dass die Immunantwort in Richtung TH2- und nicht in Richtung TH1Immunantwort läut. Welche Zellen dieses initiale IL-4
Die adaptive, erworbene oder speziische Immunität ist insofern speziisch, als sie sich auf die Bekämpfung von Infektionserregern beschränkt, mit denen der Körper bereits einen Erstkontakt hatte. Bei der ersten Auseinandersetzung (Erstinfektion) wurden u. a. so genannte Gedächtniszellen generiert, d. h. langlebige Zellen, die ot jahrelang im Organismus überleben. Die Gedächtniszellen vermehren sich bei einer Re-Infektion rasch und induzieren entsprechend
Immunabwehr durch TH1-Zellen
Anhang: Wichtige Begriffe der Immunologie und Allergologie
rasch die beim Erstkontakt erlernten Abwehrfunktionen. Die Entwicklung einer auf das jeweilige Pathogen zugeschnittenen Abwehrstrategie erfordert allerdings einen Preis, und dieser Preis heißt Zeit: Denn es dauert Tage und Wochen, ehe die primäre Immunantwort ihre volle Stärke erreicht. Im Unterschied dazu ist die angeborene Immunantwort sofort einsatzbereit. Die > Tabelle 13.4 stellt Reaktionen der speziischen (erworbenen) und der unspeziischen (angeborenen) Immunantwort in Abhängigkeit von der Art der pathogenen Organismen einander gegenüber. Erkennung des Erregers: Die adaptive Immunantwort ist, wie mehrfach betont, speziisch gegen einen Erreger gerichtet. Um mit einer individualisierten Strategie antworten zu können, muss das Immunsystem den Erreger wiedererkennen. Diese Wiedererkennung erfasst aber nicht den Erreger als Ganzheit, sondern lediglich ganz bestimmte, als Antigene bezeichnete Teilstrukturen. Dabei erkennen B-Lymphozyten und T-Lymphozyten Antigene auf grundsätzlich unterschiedliche Art und Weise. T-Lymphozyten erkennen prozessierte Antigenbruchstücke, die von spezialisierten Körperzellen, den so genannten antigenpräsentierenden Zellen (APC), präsentiert werden. B-Lymphozyten erkennen Antigene zwar in ihrer nativen Form, allerdings erkennen sie jeweils nur kleine Abschnitte des Antigens, die als Epitope oder antigene Determinanten bezeichnet werden. Der für die Antigenerkennung zuständige Rezeptor auf den B-Lymphozyten ist ein zellständiges Antikörpermolekül.
Immunität, angeborene Dem angeborenen (= unspeziischen) Immunsystem steht das erworbene oder adaptive (speziische) Immunsystem gegenüber. Beide Teilsysteme bilden eine Einheit: Dabei kommt nach heutiger Aufassung dem angeborenen Immunsystem zunächst einmal eine Steuerungsfunktion zu: Es entscheidet beispielsweise darüber, ob es in einer gegebenen Situation überhaupt notwendig ist, das speziische Immunsystem mit seiner T-Lymphozyten-Efektorfunktion und Antikörperproduktion zu alarmieren. Dazu müssen bestimmte Zellen des angeborenen Immunsystems wie Monozyten und Makrophagen über Sensoren (Rezeptoren) verfügen, inizierende Keime von körpereigenem Gewebe unterscheiden zu können. Überwiegend sind es Kohlenhydrate auf Zelloberlächen, die als Erkennungsund Unterscheidungsmerkmal zwischen mikrobiellen
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und eukaryoten Zellen fungieren. Diese Kohlenhydratmuster werden als pathogenassoziierte Molekularmuster (PAMP) bezeichnet. Hinzu kommt eine weitere fundamentale Bedeutung des angeborenen Immunsystems: Es stellt dem speziischen Immunsystem alle Abwehrmechanismen zur Verfügung, das heißt, dass das erworbene Immunsystem ohne Rückgrif auf die Abwehrmechanismen des angeborenen Immunsystems keinerlei Abwehrleistungen erbringen kann. Die im Organismus bereit liegende „Hauptwafe“ besteht im Auslösen einer Entzündung, die sich auf die folgenden Zellen, Mediatoren, Strukturen und Funktionen stützt: x Sezernieren von Entzündungsmediatoren, x Auswanderung von Leukozyten aus der Blutbahn, x Chemotaxis, x Phagozytose, x Aktivierung des Komplementsystems, x Zytokine, x Aktivierung von Makrophagen und x Natürliche Killerzellen (NK-Zellen).
Interferone Die Interferone (IFN) sind von tierischen und menschlichen Zellen nach einer Virusinfektion gebildete Zytokine, die homologen Zellen antivirale Eigenschaten gegenüber eine Vielzahl von Viren verleihen. Sie werden außer nach Viruskontakt auch von T-Lymphozyten nach Bindung des speziischen Antigens sowie nach Kontakt mit Bakterienprodukten (LPS) oder Mitogenen sezerniert. Ihrem chemischen Aubau nach handelt es sich um niedermolekulare Proteine. Sie sind mit den Interleukinen chemisch nahe verwandt, unterscheiden sich aber im Bau der Rezeptoren (Klasse-II-Zytokinrezeptoren). Interferone spielen eine wesentliche Rolle bei der Immunabwehr, besonders nach Virusinfektion, und bei Induktion von Apoptose.
Interleukine Interleukine (IL) vermitteln, wie die Bezeichnung ausdrücken will, Informationen zwischen Leukozyten. Innerhalb der Interleukine unterscheidet man die proinlammatorischen (z. B. IL-1) von den antiinlammatorischen Interleukinen (z. B. IL-4 und IL-10). Beispiele: Interleukin 1 (IL-1) wird von Makrophagen synthetisiert; es fungiert als Ent-
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Überempfindlichkeitsreaktionen beim Umgang mit Drogen und bei der Anwendung pflanzlicher Arzneimittel
. Tabelle 13.6 Zytokine mit funktioneller Bedeutung bei allergischen Erkrankungen (einige Beispiele): Funktionen und Wirkungen Zytokin
Ursprung
Wirkungen
IL-1
Monozyten, Makrophagen, Endothelzellen, Keratinozyten, Mastzellen
T- und B-Zell-Aktivierung, Hochregulation von Adhäsionsmolekülen
IL-2
Lymphozyten
T- und B-Zell-Aktivierung, Aktivierung von NK-Zellen, Makrophagenaktivierung
IL-4
TH2-Zellen, Mastzellen, Basophile
Stimuliert TH2-Zellen, steigert IgE-Produktion, Hochregulation von MHC-II
IL-8
Monozyten, Mastzellen, Keratinozyten, Basophile
Neutrophilenchemotaxis, Hochregulation von Adhäsionsmolekülen
IL-10
Makrophagen, TH2-Zellen, Epithelzellen
Hemmt die Produktion von IL-1, B-Zell-Aktivierung und Immunglobulinproduktion
IL-12
Monozyten, Makrophagen
NK-Zell-Aktivierung, TNFD- und IFNJ-Produktion
IL-13
T-Zelle, Mastzelle, Basophile
IgE-Produktion, Hemmung der Makrophagenaktivierung
IL-17
TH-Zellen
Induziert die Produktion von Entzündungsmediatoren durch Keratinozyten und epitheliale Zellen
IFNJ
TH1-Zellen, NK-Zellen, Makrophagen
Stimulation der Antigenpräsentation sowie zytotoxischer Zellfunktionen, Hemmung der IgE-Produktion
IFND/E
Makrophagen, NK-.Zellen, Epithelzellen, Mastzellen
Antivirale Aktivität, Hochregulierung von MHC-II, Proliferationshemmung
zündungsmediator; die wichtigsten Zielzellen sind die Endothelzellen. Interleukin 4 (IL-4) wird u. a. von Eosinophilen und TH2-Zellen synthetisiert, es stimuliert die Reifung von B-Zellen in antikörperproduzierende Plasmazellen und – sehr wichtig – es induziert den Klassenwechsel hin zu Immunglobulin E und spielt damit eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Typ-I-Sofortallergien. Auch Interleukin 5 (IL-5) wird von TH2-Zellen sezerniert. Zu seinen Funktionen zählt die Eosininophilenaktivierung, und die B-Zell-Reifung. Das Interleukin 12 (IL-12) wird hauptsächlich von Makrophagen gebildet. Es ist für den Erwerb der zytolytischen Aktivität von großen granulären Lymphozyten (natürliche Killer- oder NK-Zellen). In der > Tabelle 13.6 sind Herkunt und Wirkungen der bei allergischen Reaktionen wichtigen Zytokine, mit besonderer Berücksichtigung der Interleukine, zusammengestellt.
Komplement Mit dem Namen Komplement (lat.: complementum >Ergänzungsmittel@) belegte man bestimmte Faktoren im
Blutplasma, die „ergänzend“, d. h. zusätzlich nötig waren, um nach einer Antigen-Antikörper-Reaktion die Bakterien abzutöten. Das Komplementsystem besteht aus Proteinen, die im Blutplasma in inaktiver Form bereit liegen. Aktivierung der ersten Komponente führt zur sequentiellen Aktivierung weiterer Komponenten, wobei sich die Konzentration der Komponenten stetig steigert. Die späteren Komplementkomponenten üben verschiedene biologische Aktivitäten wie die Anlockung und Aktivierung von Entzündungszellen durch Anaphyllotoxine, die Opsonierung von Zielzellen und schließlich die Lyse von Zielzellen ( > auch unter MAC) aus. Das Komplementsystem steht sowohl im Dienste der angeborenen als auch der erworbenen Immunität; indem es durch bakterielle Strukturen als Teil der angeborenen Immunantwort (alternativer Weg), aber auch über Antikörper als Teil der erworbenen Immunantwort (klassischer Weg) aktiviert werden kann ( > Abb. 13.2). Bei allergischen Entzündungsformen ist Komplement vor allem bei der zytolytischen (Typ-II-Reaktion) und der immunkomplexvermittelten (Typ-III-Reaktion; > Tabel-
Anhang: Wichtige Begriffe der Immunologie und Allergologie
. Abb. 13.2
Endotoxin BCG, Zymosan Schlangengifte
AG-AK (IgG)Komplex Alternativer Weg
C1
C4,2 (C3 Convertase)
C3b Bp (C3 Convertase)
C3 Aktivierung (C3b Spaltung) Freisetzung biologischer Aktivitäten Verbrauch von C3 bis C9
Möglichkeiten der Komplementaktivierung über die Komponente C3: einmal über den „klassischen Weg“ (auslösende Faktoren: Antigen-Antikörper-Komplex, Heparin) oder als antikörperunabhängige Bypass-Reaktion über den „alternativen Weg“. Die unterschiedlichsten Stoffe können den alternativen Weg auslösen. Dazu zählen Bakterienund Schlangengifte, verschiedene Kohlenhydrate (Zymosan, Inulin), BCG-Vakzine (= Bacillus Calmette-GuérinVakzine) u. a. m.
le 13.1) beteiligt. Bei der zytolytischen Typ-II-Reaktion ( > auch unter Arzneimittelallergische Blutzellschäden) werden Antikörper gebunden, die Komplement über den klassischen Weg aktivieren, was zur Zytolyse führt. Beim Immunkomplextyp (Typ-III-Reaktion) kommt es ebenfalls zur Aktivierung des klassischen Weges der Komplementkaskade: C3b und Abbauprodukte von C3b in den Immunkomplexen binden an bestimmte Zytokinrezeptoren (CR1-CR4), sodass es zu einer im Bereich der Immunkomplexe lokalisierten Entzündung kommt.
Leukozyten Leukozyten (weiße Blutkörperchen) ist der Oberbegrif für alle kernhaltigen Blutzellen, die kein Hämoglobin enthalten. Nach morphologischen und funktionellen Gesichtspunkten unterteilt man sie in (o) Granulozyten,
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(o) Monozyten und (o) Lymphozyten. Leukozyten sind amöboid beweglich, sie können aus dem Blut in entzündetes Gewebe auswandern (= Leukodiapedese).
MAC bzw. MAK Abkürzung für membranangreifender Komplementkomplex („membrane attack complex“). Ein während der terminalen Phase der Komplementaktivierung, zunächst auf Oberlächen von Zellen sich bildender Komplex, der durch koordinierten Einbau der Komponenten C5b–C9 zu membrandurchspannenden Poren die betrefende zelluläre Struktur (gramnegative Bakterien) lytisch zerstört.
Makrophagen Makrophagen sind im Unterschied zu den übrigen zur (o) Phagozytose fähigen Zellen nicht im Blut, sondern vorzugsweise in Geweben lokalisiert; auch haben sie weitere Funktionen: a) als antigenpräsentierende Zellen, insbesondere in peripheren Geweben bei Entzündungsprozessen und b) als aktivierte Makrophagen (o Makrophagen, aktivierte) bei der Abtötung intrazellulärer Erreger.
Makrophagen, aktivierte Zur Abtötung zahlreicher Erreger, die die (o) Phagozytose überleben (z. B. Mykobakterien, Salmonellen, Trypanosomen), reicht die Basisaktivität der normalen Gewebsmakrophagen nicht aus. Es bedarf der Anhebung der Makrophagenfunktion auf ein eizienteres Niveau, ein Vorgang, der als Aktivierung bezeichnet wird. Die Aktivierung besteht vor allem in der Stimulation des oxidativen Metabolismus und in der De-novo-Synthese zahlreicher Substanzen. So kommt es zu einer erhöhten Produktion von reaktiven Sauerstof- und Stickstofspezies, von TNF-D sowie im Lysosomenkompartiment von bakteriziden Substanzen. Kennzeichnend für aktivierte Makrophagen ist das so genannte „natürliche resistenzassoziierte Makrophagenprotein (Nramp). Nur in Anwesenheit von Nramp sind Makrophagen in der Lage, typisch intrazellulär lebende Mikroorganismen abzutöten (Sprenger u. Gemsa 1999). Makrophagen können außer im Rahmen immunologischer Reaktionen auch auf unspeziische Weise durch
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Überempfindlichkeitsreaktionen beim Umgang mit Drogen und bei der Anwendung pflanzlicher Arzneimittel
. Abb. 13.3
Die von MHC-Genen codierten MHC-Moleküle: deren Bezeichnung, Vorkommen und Funktion. Der MHC des Menschen liegt auf dem kurzen Arm des Chromosoms 6. Die Klasse-I-Moleküle (Antigene) werden von der A,-B- und C-Region codiert, die der Klasse II von der D-Region mit ihren Subregionen DP, DQ und DR. In der S-Region sind verschiedene Gene lokalisiert, darunter auch Gene, die bestimmte Komplementkomponenten codieren
verschiedene Substanzen – insbesondere durch Lipopolysaccharide und Kohlenhydratpolymere (Zymosan, Glucane) – aktiviert werden. Auf dieser Beobachtung basiert die unspeziische Tumortherapie durch Vakzination mit BCG (Bacillus Calmette-Guérin).
MHC-Moleküle Bei den MHC-Molekülen handelt es sich um Proteine, die vom sog. MHC codiert werden. MHC ist die Abkürzung für den englischen Terminus „major histocompatibility complex“, zu deutsch Haupthistokompatibilitätskomplex. MHC ist jener Bezirk (Locus) im Genom eines Individuums, in dem die für dieses Individuum charakteristischen Oberlächeneigenschaten auf allen seinen Körperzellen codiert werden, beim Menschen spezieller als HLA-Komplex (für „humane Leukozytenantigene“) bezeichnet. Will man zum besseren Verständnis des HLA an ein bekanntes Phänomen anknüpfen, dann an die Blutgruppenantigene und an die Blutgruppentypisierung. Folgende Unterschiede liegen vor: Blutgruppenantigene sind auf die Erythrozyten beschränkt; MHC-Atigene inden sich auf allen Körperzellen, vor allem auch auf Leukozyten. Ferner ist der genetische Polymorphismus höchst ausgeprägt: Keine
zwei Individuen stimmen in ihrem HLA-Muster überein. Einschränkungen gibt es lediglich unter Blutsverwandten: Kinder erben von den Eltern jeweils 2 unterschiedliche Sätze von HLA-Genen, sodass innerhalb der Geschwister nur 4 Varianten möglich sind, das heißt, von 5 Geschwistern müssen mindestens 2 Geschwister HLA-identisch sein. Auch eineiige Zwillinge sind HLA-identisch. Die von MHC-Genen codierten Moleküle plegt man in 3 Klassen zu unterteilen: x MHC-Klasse-I-Moleküle sind von den Genen HLA-A, -B und -C des menschlichen Haupthistokompatibilitätskomplexes codierte und von allen kernhaltigen Zellen in der Plasmamembran exprimierte Glykoproteine ( > Abb. 13.3). x MHC-Klasse-II-Moleküle werden von den Genen des HLA-D codiert. Exprimiert werden sie nur auf denjenigen Körperzellen, die an der Induktion einer zellvermittelten Immunantwort beteiligt sind. Dazu zählen: bestimmte T-Zellen, Makrophagen und dendritische Zellen ( > auch unter antigenpräsentierende Zelle [APC]). x MHC-Klasse-III-Moleküle werden von Genen in der S-Region ( > Abb. 13.3) codiert. Zu ihnen gehören verschiedene Komplementkomponenten und die Tumornekrosefaktoren, also lösliche Moleküle.
Anhang: Wichtige Begriffe der Immunologie und Allergologie
. Abb. 13.4
MHC-Klasse-I-Moleküle bestehen aus einer α-Kette (44 kDa) und einer assoziierten, aber nicht kovalent gebundenen Kette, dem β2-Mikroglobulin (12 kDa). Die schwere Kette weist 3 Domänen auf, von denen die Domänen α1 und α2 zu einer Art Bindungstasche gefaltet sind, die das antigene Peptid aufnimmt und den T-Lymphozyten präsentiert. MHC-Klasse-II-Moleküle bestehen aus 2 Polypeptidketten, einer α-Kette (32 bis 34 kDa) und einer β-Kette (29 bis 32 kDa), die nicht kovalent miteinander verbunden sind. Beide Ketten weisen extrazellulär je zwei Domänen auf, von denen α1 und β1 zu einer gemeinsamen Bindungstasche gefaltet sind, die das antigene Peptid aufnimmt und den T-Lymphozyten präsentiert. (Nach Kaufmann 1999)
MHC-Moleküle und Antigenpräsentation Von den 3 Typen an MHC-Molekülen ( > unter MHCMoleküle) stehen 2 im Dienste der Antigenpräsentation, und zwar x MHC-Klasse-I-Moleküle, die man auf allen kernhaltigen Zellen des Organismus indet und x MHC-Klasse-II-Moleküle, die selektiv auf antigenpräsentierenden Zellen exprimiert werden.
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II-Molekülen jedoch nur bestimmte spezialisierte Zellen, die sog. antigenpräsentierenden Zellen wie z. B. Langerhans-Zellen, Makrophagen, dendritische Zellen, B-Lymphozyten. Die Antigenfragmente, die auf der Oberläche zusammen mit MHC-Klasse-I-Molekülen präsentiert werden, stammen von Proteinen, die innerhalb der betrefenden Zelle synthetisiert wurden; Hierbei handelt es sich typischerweise um Proteine, die von der Zelle neu synthetisiert worden sind, in erster Linie um virale Proteine virusbefallener Körperzellen. Die in Verbindung mit MHC-IIMolekülen präsentierten Antigene werden typischerweise zunächst von antigenpräsentierenden Zellen aufgenommen, sie gelangen innerhalb dieser Zellen in Vesikel, in denen sie auf MHC-II-Moleküle geladen werden, die dann an die Oberläche transportiert werden. Es handelt sich in der Regel um Antigene von Mikroorganismen oder um lösliche Proteine: Die beiden unterschiedlichen MHCGruppen stimulieren jeweils unterschiedliche T-Lymphozyten-Populationen ( > Abb. 13.1): x MHC-I-Moleküle stimulieren CD8-T-Lymphozyten, x MHC-II-Moleküle stimulieren CD4-Lymphozyten. Man hat bis vor kurzem angenommen, dass daraus generell unterschiedliche Immunantworten resultieren: Exogene Antigene/Pathogene werden über den MHC-II-Weg präsentiert und rufen eine TH2-Helferzell-Antwort hervor. Endogene Allergene (z. B. virale Proteine) werden über den MHC-I-Weg präsentiert und induzieren eine zytotoxische (zytolytische) TH1-Zellantwort. Es gibt aber Ausnahmen. Diese Dazwischenschaltung von präsentierenden Zellen bedeutet eine Einschränkung und Kontrolle der Immunantwort, nicht jede beliebige Zelle ist imstande, das Antigen „mundgerecht“ feilzubieten, das heißt, das bloße Zusammentrefen von Antigen und Immunzelle reicht nicht aus, um eine Immunabwehrreaktion einzuleiten ( > dazu auch „Restriktion der zellulär vermittelten Immunantwort“).
Mastzellen Über den chemischen Aubau dieser beiden Klassen von MHC-Molekülen informiert die > Abb. 13.4. Die Antigenpräsentation der beiden MHC-Klassen unterscheidet sich in zwei wichtigen Punkten: In Verbindung mit MHC-Klasse-I-Molekülen sind sämtliche Zellen imstande, Antigene zu präsentieren, zusammen mit MHC-
Mastzellen (Synonym: Mastozyten) sind frei bewegliche Zellen des Bindegewebes, die durch ihren Reichtum an Granula gekennzeichnet sind, die das Zytoplasma vollständig ausfüllen und zwar häuig so weit, dass der Kern nicht zu erkennen ist (daher der Name!). Eine speziische
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. Abb. 13.5
Häufung von Mastzellen zeigt sich innerhalb der Gewebe der äußeren und inneren Körperoberlächen. Pro mm2 Haut beinden sich im Durchschnitt 7000 Mastzellen. Mastzellen exprimieren Membranmoleküle, von denen die hochainen IgE-Rezeptoren am besten untersucht sind. Ein polyvalentes Antigen kann 2 IgE-Moleküle, und damit auch 2 hochaine IgE-Rezeptoren vernetzen. Dadurch wird eine Kaskade intrazellulärer Signale ausgelöst, die zur Freisetzung von zahlreichen in den Granula gespeicherten Entzündungsmediatoren führt. Die freigesetzten Mediatorsubstanzen prägen das klinische Bild der allergischen Sofortreaktion mit Juckreiz, Ödemen und Rötung sowie Kontraktion von glatten Muskeln.
Monozyten Monozyten verlassen als unreife Zellen das Knochenmark und zirkulieren dann für längere Zeit als Monozyten im Blut (Blutmonozyten). Von dort erfolgt Besiedlung von Geweben und Ausdiferenzierung zu (o) Makrophagen.
NK-Zellen (Natürliche Killerzellen) Sie stellen neben den B- und T-Lymphozyten eine dritte Gruppe von Lymphozyten dar, besitzen jedoch keine Rezeptoren zur speziischen Antigenerkennung. NK-Zellen werden durch Zytokine von Makrophagen aktiviert, andererseits produzieren NK-Zellen den Botenstof IFN-J, der Makrophagen aktiviert. Aktivierte Makrophagen (o) können die phagozytierten Erreger besser abtöten als nicht aktivierte. Wie bereits erwähnt, töten NK-Zellen virusinizierte Zellen ab. Da auf diese Weise die Virusvermehrung unterbunden wird, tragen NK-Zellen zum Schutz gegen Virusinfektionen bei. Die Abtötung der virusinizierten Körperzellen beruht auf zwei Vorgängen: x auf Apoptose, d. i. die Induktion des programmierten Zelltods in der Zielzelle; x auf Zellnekrose, speziell auf Lyse der Zellmembran durch Zytolysine (Perforine).
Schema der Phagozytose eines Bakteriums durch einen Phagozyten. (Aus Jungermann u. Möhler 1980, S 626)
Naive T-Lymphozyten T-Lymphozyten, die noch keinen Kontakt mit dem passenden und entsprechend präsentierten Antigen hatten. Naive T-Lymphozyten haben noch nicht die für eine adap-
Anhang: Wichtige Begriffe der Immunologie und Allergologie
tive Immunantwort typischen Proliferations- und Diferenzierungsprozesse durchlaufen.
Opsonine Opsonine sind körpereigene Substanzen, die sich an fremde Partikel (Zellen, Mikroorganismen) anlagern. Sie machen – bildlich ausgedrückt – die Partikel für die Phagozyten „schmackhater“, woher sich die Bezeichnung Opsonine (griech.: ópson >Leckerbissen@) ableitet.
Opsonisierung Der Komplementfaktor C3b bindet an die Oberläche von Bakterien. Ein anderer Teil bindet an Rezeptoren in der Oberläche von Eosinophilen und hilt auf diese Weise, die mit Komplement bedeckten Bakterien zu verdauen. C3b kann nicht an Zellen menschlicher Gewebe binden, da diese Zellen mit Sialinsäure bedeckt sind. Auf diese Weise wird dem Komplementfaktor C3b eine Unterscheidung zwischen Selbst und Nichtselbst möglich.
Phagozytose Eine Leistung der Phagozyten („Fresszellen“), die darin besteht, dass partikuläres Material (Bakterien, Protozoen, Zellen, Zelltrümmer) mit Hilfe eines energieverbrauchenden Mechanismus ins Zellinnere aufgenommen und – sofern es sich um abbaubares (d. i. organisches) Material handelt – unter der Wirkung eines zelleigenen Enzymsystems abgebaut werden. Der Vorgang der Phagozytose lässt 4 Phasen unterscheiden ( > Abb. 13.5). Was die zellulären Elemente anbelangt, so sind zur Phagozytose 2 bzw. 3 unterschiedliche Zellarten befähigt: die polymorphkernigen neutrophilen Granulozyten (Kurzbezeichnung: Neutrophile) und die mononukleären Monozyten im Blut sowie im Gewebe die Makrophagen (= Gewebsmakrophagen = Histiozyten), eigentlich ebenfalls Blutmonozyten, die aber in das Gewebe ausgewandert sind. Um den bakteriellen Eindringling phagozytieren zu können, müssen die phagozytierenden Zellen erst einmal aus dem Blut oder aus dem umgebenden Gewebe an den Ort des Geschehens, beispielsweise an den Ort einer bakteriell verursachten Entzündung hin gelangen. Man bezeichnet diesen Vorgang der gerichteten Bewegung von Zellen als Chemota-
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xis, ein komplizierter Vorgang, auf den nicht näher eingegangen werden kann. Nur so viel: Das Ereignis der Chemotaxis beginnt mit der Adhärenz von in der Blutbahn zirkulierenden Phagozyten am Gefäßendothel. Bei der sich anschließenden Diapedese quetschen sich die Phagozyten zwischen benachbarten Endothelzellen hindurch, durchdringen die Basalmembran und begeben sich auf die Wanderung durch die Gewebespalten. Erleichtert wird die Diapedese durch Stofe wie Histamin, Serotonin, Bradykinin und lysosomale Enzyme. Die Fortbewegung der Phagozyten ist eine Leistung kontraktiler Elemente des zellulären Aktinomyosinsystems. Der molekulare Mechanismus dieser Phagozytenbewegung zeigt biochemisch Ähnlichkeit mit der bekannten Kontraktion von Muskelzellen. Sind die Phagozyten am Entzündungsort angelangt, lagern sie sich mit unspeziischen Rezeptoren an Liganden bakterieller Oberlächen an, was besonders wirksam dann erfolgen kann, wenn die Mikroorganismen mit Komplementfaktoren beladen sind. Dieser Vorgang wird als (o) Opsonierung bezeichnet. Der Kontakt zwischen Mikroorganismen und Phagozyten löst Endozytose und nach Einverleibung zelluläre Prozesse aus, die in der Abtötung und Verdauung der Erreger gipfeln. Abgetötet werden die Erreger durch reaktive Sauerstof- und Stickstofmetabolite; verdaut werden sie durch die in den Lysosomen enthaltenen hydrolysierenden Enzyme.
Restriktion der zellulär vermittelten Immunantwort In Form von Nahrungsbestandteilen und in Form von Partikeln der Atemlut kommt der Organismus permanent mit Antigenen in Berührung. Würde das Immunsystem auf eine bloße Begegnung zwischen einem Antigen und einer immunkompetenten Zelle hin reagieren, wäre das mit dem Leben unvereinbar. Das Immunsystem verfügt über zahlreiche Kontrollmechanismen, um zwischen harmlosen und gefährlichen Antigenen unterscheiden zu können. Das Dazwischenschalten von präsentierenden Zellen (o Antigenpräsentation) ist eine von mehreren Kontrollmechanismen. Allerdings reicht die Begegnung zwischen antigenpräsentierender Zelle und immunkompetenter T-Zelle allein nicht aus, um eine Immunantwort in Gang zu setzen. Eine weitere Voraussetzung ist die gegenseitige Berührung an Oberlächenstrukturen des HLASystems (o MHC-Moleküle). Antigen und MHC-Oberlächenstrukturen müssen also gleichzeitig von der T-Zel-
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. Abb. 13.6
Restriktion der zellvermittelten Immunantwort. Der Mäusestamm X wurde mit einem Virus A infiziert. Die zytotoxischen (zytolytischen) T-Zellen der immunisierten Mäuse wurden aus dem Blut isoliert und dann in vitro mit Fibroblasten aus demselben Mäusestamm inkubiert, die zuvor mit einem anderen Virus B oder mit demselben Virus A infiziert worden waren. Virusinfizierte Zellen werden nur dann lysiert, wenn sie neben dem Virusantigen A zugleich individualtypische Zelloberflächenstrukturen aufwiesen. Weitere Untersuchungen zeigten, dass es sich bei diesen Strukturen um MHC-Klasse-I-Moleküle handelt
le wahrgenommen werden bei vollkommener Kompatibilität, zum einen von Antigen und Antigenrezeptor, zum anderen von MHC-Molekülen. Erst dann ist auf der Ebene der Lymphozyten die Vorbedingung für eine Immunantwort erfüllt. Die > Abb. 13.6 beschreibt ein Experiment, das aufzeigt: Eine Immunantwort (hier Zelllyse) erfolgt nur bei Zusammentrefen von Zellen gleicher Individualität.
. Abb. 13.7
Schematische Darstellung des T-Zell-Rezeptors. Der Rezeptor ist aus zwei Ketten α und β aufgebaut, die je aus einer variablen Domäne V und einer konstanten Domäne C bestehen. Die beiden variablen Domänen bilden die Bindungsstelle für das Antigen zusammen mit dem MHC. (Aus Kaufmann 1999)
T-Lymphozyten: Subpopulationen und ihre Zytokine Die zentrale Aufgabe der T-Zellen besteht in der Unterscheidung zwischen harmlosen und gefährlichen Antigenen. Gegenüber harmlosen Antigenen muss eine tolerierende Antwort entwickelt, gegen gefährliche Antigene hingegen eine passende Immunantwort entwickelt werden. Für die Antigenerkennung steht der T-Zelle ein Antigenrezeptor zur Verfügung, der in der Größenordnung von etwa 107 verschiedenen Speziitäten im Immunsystem vorliegt. Jede einzelne T-Zelle exprimiert einen T-Zell-Rezeptor ( > Abb. 13.7) einer bestimmten Speziität. Klonale Vermehrung impliziert, dass die Tochterzellen denselben Rezeptorphänotyp tragen wie die Mutterzelle. T-Lymphozyten üben die unterschiedlichsten Funktionen aus. Dabei gibt es so etwas wie eine Arbeitsteilung: Unterschiedliche Subpopulationen sind auf unterschiedliche Funktionen spezialisiert. Die Unterteilung der T-Lymphozyten in Subpopulationen kann nach zweierlei Gesichtspunkten erfolgen:
Anhang: Wichtige Begriffe der Immunologie und Allergologie
x aufgrund bestimmter mit monoklonalen Antikörpern nachweisbaren Oberlächenmoleküle. Diese Antikörper kennzeichnet man vereinbarungsgemäß mit so genannten CD-Nummern (CD = „cluster of diferentiation“) und x aufgrund ihres Zytokinmusters. Bisher sind an die hundert unterschiedliche CD-Oberlächenmoleküle beschrieben worden. Zum Verständnis von Immunreaktionen besonders wichtig sind die CD4- und die CD8-Oberlächenmarker (Näheres s. unter CD4- bzw. CD8-positive T-Lympozyten). Nach dem Zytokinmuster unterteilt man die T-Lymphozyten in zwei TH-Subpopulationen: in TH1- und TH2-Lymphozyten. Die Spezialisierung zuvor ruhender (naiver) T-Lymphozyten erfolgt erst auf ein von anderen Zellen ausgehendes Zytokinsignal hin, das als Polarisierungssignal bezeichnet wird, als Polarisierungssignal deswegen, weil es die Art der immunologischen Abwehrreaktionen in Richtung antikörper- oder zellgestützt lenkt. Analog bei den allergischen Reaktionen: Eine TH2-Immunantwort inden wir bei der allergischen Sofortreaktion (Typ-I-Allergie), eine TH1-Antwort bei der allergischen Kontaktdermatitis (Typ-IV-Reaktion). Die > Tabelle 13.2 zeigt eine Zusammenstellung der beiden T-Helferzellen-Subpopulationen und ihrer Funktionen ( > auch unter „Immunabwehr durch TH1- bzw. TH2-Zellen“).
T-Zell-Rezeptoren T-Zell-Rezeptoren (Synonym: T-Lymphozyten->Antigen@Rezeptoren) ähneln in ihrem Aubau den Antikörpermolekülen, weisen jedoch nur eine Antigenbindungsstelle auf ( > Abb. 13.7). Die T-Zell-Rezeptoren binden nicht an das gesamte (native) Antigen, sondern nur an ein Epitop eines prozessierten Antigens, d. i. eines Peptidfragments, das von antigenprozessierenden Zellen zusammen mit MHCMolekülen angeboten wird. Mit anderen Worten: Ein T-Zell-Rezeptor erkennt einen MHC-Epitop-Komplex. Der Organismus synthetisiert Tausende unterschiedlicher T-Zell-Rezeptoren, von denen jeder einzelne nur jeweils ein ganz bestimmtes Epitop erkennt.
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Urtikaria Urtikaria (Nesselsucht) ist eine mit Quaddeln, Erythem und Juckreiz einhergehende Hauterkrankung. Ausgelöst wird das Krankheitsbild durch Degranulation gewebeständiger Mastzellen der Haut. Diese Degranulation der Mastzellen kann IgE-vermittelt (allergisch) sein, aber auch durch unspeziische Histaminliberatoren (z. B. Nahrungsmittel wie Erdbeeren, Citrusfrüchte, Käse oder Rotwein), durch physikalische Reize (Wärme, Kälte, Druck) oder durch Intoleranzreaktionen (Arzneimittel) ausgelöst werden. Die Urtikariasymptome werden durch die von den Mastzellen freigesetzten Mediatoren bestimmt, wobei Histamin allein ausreicht, um alle Symptome zu induzieren; die ebenfalls innerhalb von Sekunden freigesetzten Lipidmediatoren (LTCA, PAF) verstärken lediglich die Symptomatik. Zwar ist Histamin der Auslöser der Urtikariasymptomatik, doch ist die lokale Anwendung von Antihistaminika als Salbe oder Gel als Kunstfehler anzusehen: Es besteht die Gefahr einer Sensibilisierung mit nachfolgender allergischer Kontaktdermatitis (Merk 1998).
Zytokine: Botenstoffe des Immunsystems Das Immunsystem besteht aus einer großen Zahl unterschiedlichster Zellen, die autonom auf Stimulation reagieren können, die aber auf Antigenkontakt hin eine gemeinsame Immunabwehr organisieren müssen. Dazu bedarf es der Kommunikation unter den verschiedenen Zelltypen, die auf zweierlei Art und Weise zustande kommt: durch direkten Zelle-zu-Zelle-Kontakt oder durch chemische Signale. Zytokine ist eine Sammelbezeichnung für chemische Botenstofe. Sie werden von bestimmten Zellen nach Stimulation synthetisiert und in löslicher Form in die Umgebung sezerniert. Im Unterschied zu den Hormonen wirken Zytokine in der Regel nur auf kurze Distanz, d. h. auf die in unmittelbarere Nähe beindlichen Zellen (= parakrine Wirkung): Die produzierende Zelle kann aber auch gleichzeitig als Zielzelle fungieren (= autokrine Wirkung). Die wichtigsten Merkmale, die auf alle Zytokine zutrefen, sind: x Es handelt sich um Polypeptide mit molarer Masse von ca. 15–25 kDa; x sie werden nach auslösenden Noxen, z. B. Infektionen, Verletzungen oder Stress freigesetzt; x sie wirken über speziische Rezeptoren auf den Oberlächen von Zielzellen;
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x sie spielen eine wichtige Rolle in der Regulation und Genexpression in den Zielzellen;
x sie können Diferenzierung, Proliferation, Migration oder Apoptose der Zielzellen induzieren. Für immunologische Reaktionen spielen die folgenden Gruppen von Zytokinen eine Rolle: die Interleukine, die Interferone und die Chemokine.
! Kernaussagen
Das Immunsystem ist potentiell für den eigenen Organismus gefährlich, wie allein schon die Autoimmunerkrankungen zeigen. Das Grundprinzip von Kontrolle und Restriktion immunologischer Reaktionen besteht darin, an jeder Reaktion mehr als nur eine Zellart zu beteiligen, d. h. es gilt das Prinzip der Zellkooperation. Die Zellkooperation wiederum hat eine Verständigung zwischen den teilnehmenden Zellen zur Voraussetzung, was Aufgabe der Signalgebung durch Zytokine ist.
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14 14 Plazebos und Plazebowirkungen: theoretische Konzepte und experimentelle Befunde R. Hänsel 14.1
Plazebo – das umstrittene Medikament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
14.2 14.3 14.4
Erste Annäherung an das hema anhand eines konkreten Beispiels . . . . . . . . . . . . . . 342 Einseitige Deinition des Plazebobegrifs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Plazeboefekte als unspeziische Efekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
14.5 14.6
Psychophysische Wechselwirkungen: Basis für Plazeboefekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Plazeboartefakte (falsche Plazeboefekte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346
14.7
Nachweis einer pharmakodynamischen Wirkungskomponente nur durch Vergleich von Kollektiven möglich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.7.1 Reine Plazebos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.7.2 Plazebo im Vergleich zu Nichtbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.7.3 Plazeboäquivalente Arzneimittel (unreine Plazebos) . . . . . . . . . . . . . . . 14.7.4 Unberechtigter Glaube an Wirkungsmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . .
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14.8
Besondere herapierichtungen und das Plazeboproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 14.8.1 Medikamente der besonderen herapierichtungen gelten als glaubensbasiert . . . . . 352 14.8.2 Kritik an der kontrollierten klinischen Studie als alleinigem Maß der Wirksamkeit 354
14.9
Der Plazeboefekt: Vorstellungen zum Wirkungsmechanismus . . . . . 14.9.1 Bedingte Relexe (Konditionierung) . . . . . . . . . . . . . . . . 14.9.2 Erwartungshaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.9.3 Suggestion (Instruktion, Präparatesuggestion) . . . . . . . . . . . 14.9.4 Widerspiegelung von Plazeboefekten auf biochemischer Ebene
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14.10 Äußere Einlüsse auf die Plazebowirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 14.10.1 Iatroplazebogenese: Der Arzt als Plazebo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 14.10.2 Beitrag von Arzneiform und Sensorik zum Plazebophänomen . . . . . . . . . . . . . 361 14.11 Einsatz von Plazebos: Reine Plazebos und plazeboäquivalente Arzneimittel in verschiedenen herapierichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.11.1 Plazeboäquivalente Arzneimittel in der internistischen Medizin . . . 14.11.2 Anthroposophische Arzneitherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.11.3 Arzneimittel der Homöopathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.11.4 Die Arzneimittel der Phytotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.11.5 Traditionelle chinesische Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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361 362 363 364 365 370
14.12 Indikationen für plazeboäquivalente Arzneimittel . . . . . . . . . . . . . 14.12.1 Adjuvant bei Krankheiten ohne langfristig erfolgreiche herapie 14.12.2 Zur Behandlung funktioneller (somatoformer) Störungen . . . . 14.12.3 Beindlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.12.4 Nervöse Herzbeschwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.12.5 Funktionelle Beschwerden im gastrointestinalen Bereich. . . . . 14.12.6 Reizdarmsyndrom (Colon irritabile) . . . . . . . . . . . . . . . . 14.12.7 Prämenstruelles Syndrom. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.12.8 Klimakterisches Syndrom. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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371 371 372 373 373 374 374 375 376
14.13 Unerwünschte Plazebowirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 14.14 Biologische Bedeutung des Plazeboefekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384
14.1 Plazebo – das umstrittene Medikament
> Einleitung Jedwedes Arzneimittel ist wirksamer als gar keine Therapie. Die therapeutische Wirksamkeit setzt sich aus zwei Komponenten zusammen, aus einer stofflich angreifenden und einer psychodynamischen. Aus historischen Gründen bezeichnet man die über die Psyche einwirkende Komponente als Plazeboeffekt. Es gibt viele unterschiedliche Therapieverfahren, wie die Ayurveda Indiens, die traditionelle chinesische Medizin, die Kampo-Medizin der Japaner, die Phytotherapie des Westens, die Homöopathie, die Anthroposophie, um nur die wichtigsten zu nennen, mit einem jeweils eigenen Arsenal an Medikamenten. Eine Sonderstellung nimmt, allein schon wegen ihrer weltweiten Geltung, die Arzneitherapie der naturwissenschaftlichen Medizin ein. Die Trennlinie zwischen der wissenschaftlichen Therapie und allen anderen Therapieformen bildet die Methode der plazebokontrollierten Therapiestudie: Ziel einer Therapiestudie ist es, in Erfahrung zu bringen, welcher Anteil der Wirksamkeit eines Medikaments auf die stofflich-pharmakodynamische entfällt und wie hoch der Anteil der psychodynamischen Komponente, des Plazeboeffekts, ist. Dieser Nachweis ist nicht am Einzelfall zu führen, sondern nur im Kollektiv unter Heranziehung statistischer Auswertungstechniken. Der statistische Wirksamkeitsnachweis steht im Gegensatz zu der Überzeugung von Therapeuten der alternativen (besonderen) Therapierichtungen, dass Therapie nur auf individueller Erfahrung basieren kann. Statistik steht gegen Singularität. Damit wird der statistische Wirksamkeitsnachweis zu einem methodischen Instrument, um alle heute auf dem Markt befindlichen Arzneimittel in zwei Gruppen zu teilen in x Arzneimittel, deren Wirksamkeit bei der jeweiligen Indikation statistisch gesichert ist und x Arzneimittel, deren Wirksamkeit bei der jeweiligen Indikation nach den statistischen Prüfmethoden der naturwissenschaftlich orientierten Medizin nicht belegt ist. Diese zweite Gruppe wird für die Zwecke des nachfolgenden Kapitels als plazeboäquivalente Arzneimittel bezeichnet. Ein plazeboäquivalentes Arzneimittel ist somit ein Arzneimittel, bei dem nicht bekannt ist, ob es eine über den
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14
Plazeboeffekt hinausgehende Wirksamkeit aufweist. Der nachfolgende Beitrag informiert zunächst über die Plazebophänomene selbst (Abschnitte 14.1 bis 14.8); es folgen Abschnitte zu den Wirkungsmechanismen (Abschnitte 14.9 und 14.10) plazeboäquivalenter Arzneimittel, zu ihrer Funktion in der Anthroposophie, Homöopathie, Phytotherapie und der traditionellen chinesischen Medizin (Abschnitt 14.11). Der Abschnitt 14.12 beschreibt einige Krankheitsbilder, zu deren Behandlung häufig plazeboäquivalente Arzneimittel eingesetzt werden. Abschnitt 14.13 informiert über unerwünschte Plazeboeffekte und der letzte Abschnitt 14.14 über die biologische Bedeutung des Plazeboeffekts.
14.1
Plazebo – das umstrittene Medikament
Das Plazeboproblem ist kein beliebiges Randproblem, sondern geradezu ein Kernproblem für Arzt und Apotheker. Über 100.000-mal indet sich das Stichwort Plazebo in den Datenbanken und etwa 1500 Artikel befassen sich mit Mechanismen der Plazeboantwort in klinischen und experimentellen Studien. Hingegen indet sich kein die Gesamtproblematik umfassender Aufsatz über das Plazeboproblem in einem für den Pharmazieunterricht bestimmten Lehrbuch. Journalisten geben die gängige Meinung wieder, indem sie therapeutisch nutzlose Arzneimittel mit Plazebos gleichsetzen. Beispielsweise liest man „Immer noch liegen Unmengen wirkungsloser Medikamente in den Regalen der Apotheken. Experten schätzen, dass fast die Hälte aller Arzneimittel, die verabreicht werden, keinerlei pharmakologische Wirkung haben“ (Heiss 2005). Auf der anderen Seite stehen die heoretiker alternativer herapierichtungen (speziell der Anthroposophie), denen es ein Dorn im Auge ist, dass alternative Methoden und Mittel rational durchleuchtet werden: Sie erklären das Plazeboproblem als ein in Wahrheit nicht existierendes, quasi irrelevantes Scheinproblem, als eine medizinhistorische Illusion (Kienle 1995; Kienle u. Kiene 1996; 1997). Dieses Vorgehen ist interessenorientiert. Fällt nämlich der Plazeboefekt weg, werden aus reinen Plazebotherapien wissenschatliche Heilverfahren, aus Naturheilmitteln werden rationale Arzneimittel und für den Nachweis ihrer Wirksamkeit reichen individuelle Erfahrungsberichte von Patienten und Ärzten aus.
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Plazebos und Plazebowirkungen: theoretische Konzepte und experimentelle Befunde
An den Anfang einer Besprechung der Plazeboproblematik gehört eine Erläuterung wichtiger Begrife sowie der Versuch, Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. Unter einem Plazebo versteht man zunächst eine mit einem echten Medikament identische Arzneiform, jedoch ohne dessen Wirkstof. Man bezeichnet allerdings auch wirkstohaltige Arzneimittel als Plazebos, und zwar, wenn der Wirkstof zur therapeutischen Wirksamkeit keinen pharmakodynamischen Beitrag leistet; dann sollte aber zur Unterscheidung von der Leerarznei von einem Pseudoplazebo oder einem plazeboäquivalenten Arzneimittel gesprochen werden. Aus der Sicht der naturwissenschatlich orientierten Medizin stellen die meisten auf dem Markt beindlichen Arzneimittel plazeboäquivalente Arzneimittel dar, nicht etwa nur die Mittel des unseriösen Angebotes, sondern auch zahlreiche Arzneimittel der wissenschatlichen Medizin selbst und dann vor allem die Arzneimittel der besonderen herapierichtungen einschließlich die der Phytotherapie. Mit dieser Einordnung in die Gruppe der plazeboäquivalenten Arzneimittel ist diesen Arzneimitteln jedoch nicht automatisch das Signum der therapeutischen Unwirksamkeit aufgedrückt. Kein Medikament ist per se wirksam oder unwirksam. Mit der Einordnung eines Medikaments in die Plazebo- bzw. Pseudoplazebogruppe ist lediglich ausgesagt, dass die Wirksamkeit dieses Medikaments nicht in randomisierten kontrollierten klinischen Studien geprüt worden ist. Das Fehlen klinischer Studien ist aber nicht mit therapeutischer Unwirksamkeit gleichzusetzen ( > auch Abschnitt 14.9). Auch muss vor der Verwechslung gewarnt werden: Fehlen eines Wirksamkeitsbeweises im Sinne der wissenschatlichen herapie ist nicht gleichzusetzen mit dem Beweis fehlender Wirksamkeit. Diese Betrachtung von der potentiellen therapeutischen Wirksamkeit einer Plazebotherapie gilt nicht für lebensrettende Maßnahmen, sie gilt beispielsweise nicht für Arzneimittel gegen Infektionskrankheiten oder Herzinfarkt. Hier steht die körperliche Funktionsstörung ganz im Vordergrund. Homöopathie, Anthroposophie und andere herapierichtungen verfügen über keine Arzneimittel zur Behandlung lebensbedrohlicher Erkrankungen. Das Plazeboproblem ist vorzugsweise relevant, wenn es um Krankheiten, Leiden oder Beschwerden geht, die nicht rein körperlicher Natur sind, die vielmehr eine psychische Komponente aufweisen, wie das für funktionelle Störungen, chronische Schmerzzustände, Depression u. a. m. zutrit. Die naturwissenschatlich orientierte Arzneitherapie interessiert sich bei Störungen, die prinzipiell auch
psychotherapeutisch beeinlussbar sind, primär für die physiologische (somatische) Seite, genauer für den durch ein Medikament zu erzwingenden Efekt. Alle darüber hinaus gehenden therapeutischen Efekte werden unter dem Begrif „Plazeboefekte“ subsumiert. Im Folgenden wird zunächst gezeigt, dass sich hinter einem Plazebo sehr unterschiedliche Phänomene verbergen. Methodisch wird dabei so vorgegangen, dass verschiedene in der Literatur verwendete Deinitionen vorgestellt und interpretiert werden. Letztlich geht es aber darum, zu lernen, Möglichkeiten und Grenzen der so genannten plazeboäquivalenten Arzneimittel einzuschätzen.
! Kernaussagen
Plazebo, Plazeboäquivalenz und Plazeboeffekt sind Begriffe, die im Zusammenhang mit der klinischtherapeutischen Prüfung von Arzneimitteln Bedeutung erhalten habe. Klinische Studien zielen auf die Messung ganz bestimmter (spezifischer) somatischer Arzneimitteleffekte. Alle darüber hinausgehenden therapeutischen Effekte werden als Plazeboeffekte bezeichnet. Für die meisten heute im Gebrauch befindlichen Arzneimittel liegen keine kontrollierten klinischen Studien vor. Sie gelten als plazeboäquivalente Arzneimittel. Da diese Einschätzung jedoch theorieabhängig ist (Theorie der stofflichen Arzneimittelwirkung) beinhaltet sie keine Bewertung der therapeutischen Wirksamkeit.
14.2
Erste Annäherung an das Thema anhand eines konkreten Beispiels
Es handelt sich um kein Arzneimittel im üblichen Sinn, das Beispiel kann aber dennoch gut als Modell für Diskussionen um die Wirkweise bestimmter planzlicher Mittel dienen. Es gibt immer wieder Personen, die nur dann gut ein- und durchschlafen können, wenn sie am Abend ein Glas warme Milch trinken. Es wäre unvernüntig, den betrefenden Personen gegenüber zu behaupten, es handle sich um einen bloß eingebildeten Efekt. Für sie ist der Schlafefekt ebenso real wie die Einnahme einer Aspirintablette bei Kopfschmerzen. Über das Phänomen selbst, dass Milch bei den betrefenden Personen als wirksames Schlafmittel dienlich ist, kann es somit keinen Dissens ge-
14.3 Einseitige Definition des Plazebobegriffs
ben. Sehr wohl aber herrscht Dissens darüber, wie das Phänomen „Milch als Schlahilfe“ zu erklären ist. Es handle sich um einen Plazeboefekt, so der Pharmakologe. Mit dieser dem Pharmakologen nahe liegenden Erklärung erklärt er den Schlafmittelefekt der Milch als nicht mittels eines pharmakodynamischen Wirkefektes erklärbar. Hingegen haben Physiologen durchaus eine Erklärung parat: Sie erklären sich das Phänomen mit der Verhinderung nächtlicher Hungerkontraktionen (d. s. schwache peristaltische Kontraktionen des leeren Magens). Psychologen schließlich sprechen vom Glas Milch als Einschlafritual, als eine Art von Hilfsmittel, um die Erwartungshaltung, dass man gut schlafen werde, zu wecken. Andere Psychologen wiederum denken an einen bedingten Relex, an einen Zusammenhang zwischen Milchgeruch und dem unterbewussten Erinnern an behütete Situationen der Kinderzeit. Schließlich und endlich gibt es noch den pseudowissenschatlichen Erklärungsversuch. Milcheiweiß sei reich an Tryptophan. Vom Tryptophan wiederum sei gesichert, dass es die Schlabereitschat zu fördern imstande sei. Tryptophan sei quasi der speziische Wirkstof der Milch. Bei diesem pseudowissenschatlichen Erklärungsversuch bleiben allerdings pharmakokinetische Überlegungen und Dosisbetrachtungen außer Betracht: Enthält 1 Glas Milch Proteine mit den erforderlichen 1–2 g Tryptophan? Und wird das Tryptophan aus dem Protein innerhalb 1–6 Stunden bioverfügbar? Zumindest an dieser Stelle – pseudowissenschatliche Deutungsversuche abzuweisen – ist der Sachverstand des Pharmakologen erneut gefragt. Schließlich die neueste Version: An der schlafmachenden Wirkung sei auch das Tryptophanderivat Melatonin beteiligt. Werden Kühe bei Nacht gemolken, steigt der Melatoningehalt der Milch um das Fünfache. In Bioläden und Reformhäusern ist „Nachtmilch“ für erholsamen Schlaf gegen einen entsprechenden Aufpreis heute erhältlich. Aus diesem Beispiel lassen sich die folgenden Lehren ziehen: x Die pharmakologische Aussage, es handle sich um eine unspeziische Wirkung bzw. um einen Plazeboefekt besagt nicht, dass das betrefende Mittel unwirksam ist. x Die Aussage, es handle sich um einen Plazeboefekt besagt lediglich, dass es sich um eine Wirkung handelt, für die es kein pharmakologisch akzeptiertes Wirkmodell gibt. x Der Plazeboefekt kann in höchst unterschiedlicher Weise interpretiert werden.
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x Es ist unwissenschatlich, mittels eines pseudowissenschatlichen Konstrukts einen pharmakologischen Wirkungsmechanismus vorzutäuschen, wenn es sich in Wahrheit um einen Plazeboefekt handelt. Letztlich zeigt das Beispiel auch Folgendes: Es gibt ofenbar lebensnahe „therapeutische Situationen“, die die Forderung nach einem Wirksamkeitsnachweis nach Art der kontrollierten Doppelblindstudie absurd erscheinen lassen. Individuelle Wirkungen entziehen sich der Statistik.
14.3
Einseitige Definition des Plazebobegriffs
Im allgemeinen Sprachgebrauch ist ein Plazebo einfach etwas Wirkungsloses, das eine Reaktion hervorrut. Diese populäre Vorstellung ist falsch, da Leerarzneien wirksam sein können. Dieser Tatsache wird eine neuere Deinition gerecht. „Plazebos sind Leerpräparate mit harmlosen Stoffen, die durch den Glauben des Patienten an eine Wirkung tatsächlich Wirkefekte zeigen, obwohl pharmakologisch keine Wirkungen zu erwarten sind“ (Morschitzky 2000). In einem neuen Lexikon medizinischer Begrife (Reuter 2004) wird ein Plazebo als eine Scheinarznei deiniert, die als Vergleichssubstanz bei der klinischen Testung von Medikamenten oder zur Behandlung von Hypochondern ( > dazu die Infobox „Hypochondrische Störungen“) oder Patienten mit starkem Behandlungswunsch ohne Behandlungsindikation verwendet wird. Diese Deinition ist unzulänglich, da sie den Eindruck vermittelt, dass es beim Plazebo darum geht, den Patienten einseitig zu täuschen. Das aber dürte im ärztlichen Alltag keine Rolle spielen, da dadurch das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient zerstört würde. Überdies sind „echte“ Scheinarzneien, also Dragees, Tabletten oder Kapseln, die nur Milchzucker oder Stärke enthalten, im Handel nicht erhältlich. Infobox Hypochondrische Störung. Es handelt sich um einen Zustand einer sachlich nicht begründeten, beharrlich verfolgten Sorge um die eigene Gesundheit; die Kranken sind beständig dabei, sich selbst und ihren Körper zu beobachten, um nach Krankheitssymptomen zu fahnden. Vorübergehende körperliche Symptome (z. B. Ohrensausen, Herzklopfen, Kopfschmerzen), die auch bei Gesunden gele-
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Plazebos und Plazebowirkungen: theoretische Konzepte und experimentelle Befunde
gentlich aufzutreten pflegen ( > Tabelle 14. 1), werden als erste Zeichen einer bedrohlichen Krankheit interpretiert. Die ständige Angst, an einer bösen Krankheit zu leiden, wirkt sich auf die Stimmung des Hypochonders aus. Etwa 50% der Patienten leiden an einer mehr oder weniger schweren Depression. Hypochondrische Störungen sind weit verbreitet, doch wird kein Arzt mit psychologischem Einfühlungsvermögen dem Patienten gegenüber von Hypochondrie sprechen. Es ist vorgeschlagen worden, von Krankheitsangst oder besser noch von „Gesundheitsangst“ (Morschitzky 2000) zu sprechen. Bei vielen Ärzten sind Hypochonder wenig gern gesehen. Da kein Arzt diese Patienten davon überzeugen kann, dass sie kein ernsthaftes körperliches Leiden haben, zweifeln sie das Können des Arztes an und tendieren daher zu häufigem Arztwechsel. Die Beziehungen zwischen Ärzten und Hypochondern sind daher nicht selten unbefriedigend. Der Apotheker sollte es grundsätzlich vermeiden, sich in das Verhältnis Arzt/Patient einzumischen, indem er beispielsweise die kritische Haltung des Patienten der verordneten Medikation gegenüber, und sei es auch nur indirekt, unterstützt.
14.4
Plazeboeffekte als unspezifische Effekte
Viele, wohl die meisten Deinitionen deinieren den Plazebobegrif über das Begrifspaar „speziische und unspeziische Wirkungen“. Ende des 18. Jahrhunderts taucht in der medizinischen Literatur erstmals der Terminus Plazebo in Verbindung mit dem Ausdruck „unspeziisch“ auf. So indet sich 1787 die Deinition von einer „unspeziischen Methode der Medizin, mehr dazu gedacht, den Patienten eine Weile bei Laune zu halten als zu irgendeinem anderen Zweck“ (zitiert bei: Netter et al. 1986). Die Paarung Plazebo/unspeziisch (d. h. ohne speziische Wirkung) taucht sodann in der Plazebodeinition von Shapiro (1977) auf, die in der wissenschatlichen Literatur wohl am häuigsten zitiert wird. Danach ist ein Plazebo „eine therapeutische Maßnahme, die absichtlich oder ohne dass dies dem Arzt bewusst ist, eine Wirkung auf den Patienten oder ein Symptom ausübt, aber objektiv ohne speziische Wirkung auf die betrefende Krankheit oder Symptomatik ist“. Der Plazebobegrif wird hier nicht auf den Bereich der
. Tabelle 14.1 Inventar der Missbefindlichkeiten gesunder Probanden. Die Befragten konnten aus einer Liste die auf sie zutreffenden Symptome auswählen. Mehrfachnennungen waren zugelassen Symptom
Angaben pro Gruppe [%] Deutschlanda
USAb
Hautrötung
4
8
Urtikaria
3
5
Alpträume
4
8
Exzessives Schlafbedürfnis
8
23
Müdigkeit
65
41
Konzentrationsschwäche
13
25
9
20
Reizbarkeit Schlaflosigkeit
8
7
Appetitlosigkeit
5
3
Trockener Mund
5
5
Nausea
1
3
Erbrechen
2
0
Durchfall
2
5
Verstopfung
3
4
Herzklopfen
5
3
Schwindel oder Schwäche unterwegs
4
2
Desgleichen beim morgendlichen Aufstehen
7
5
25
15
2
3
Kopfschmerz Fieber Gelenkschmerzen
12
9
Muskelschmerzen
13
10
Verstopfte Nase
30
31
Blut beim Zähneputzen
15
21
a
Studenten einer medizinischen Fakultät (aus Habermann 1997 nach Meyer et al. 1996). bKrankenhauspersonal und Studenten (aus Habermann 1996 nach Reidenberg et al. 1968).
14.5 Psychophysische Wechselwirkungen: Basis für Plazeboeffekte
Arzneitherapie beschränkt, sondern ist auch auf andere therapeutische Maßnahmen wie Operationen oder Verfahren der physikalischen herapie anwendbar. Shapiros Deinition beinhaltet zahlreiche Schwierigkeiten und ist keinesfalls so klar, wie sie zunächst erscheint (Netter et al. 1986; Stewart-Williams 2004). x „herapeutische Maßnahme“: Diese Bedingung in der Deinition beschränkt den Begrif auf die Behandlung von Patienten. Damit bleiben gleich zwei Situationen, in denen Plazebos eingesetzt werden in der Deinition unberücksichtigt. Erstens die in den letzten Jahrzehnten durchgeführten Studien zum Wirkungsmechanismus der Plazebowirkungen, die in der Regel mit gesunden Probanden durchgeführt werden. Gerade einige der deutlichsten Plazeboefekte wurden in klinisch-pharmakologischen Untersuchungen, also unter experimentellen Bedingungen bei gesunden Probanden beobachtet (Kirsch 1997). Zweitens berücksichtigt Shapiros Deinition nicht die Bedeutung des Begrifes Plazebo im Sinne einer Kontrollsubstanz bei Arzneimittelprüfungen. x „Absichtlich oder ohne dass dies dem Arzt bewusst ist“: Diese Wendung besagt, dass nicht nur die absichtlich verabreichte inerte Behandlung als Plazebo anzusehen ist, sondern auch eine Behandlung, über deren Unwirksamkeit der Arzt von anderen getäuscht wird oder über deren somatische Unwirksamkeit er nicht informiert ist. Die Deinition impliziert: Die nicht von der wissenschatlichen Medizin („Schulmedizin“) anerkannten Behandlungsverfahren, die in gutem Glauben einer therapeutischen Wirksamkeit verabreicht werden, stellen ebenfalls Plazebos dar (Müller-Oerlinghausen 1983). x „Ohne speziische Wirkung“: Was unter „speziisch“ zu verstehen ist, wird in der Deinition vorausgesetzt, womit in den zu deinierenden Begrif Plazebo ein anderer undeinierter Begrif (ohne speziische Wirkung) einließt (Grünbaum 1986). Gemeint ist der charakteristische pharmakodynamische Arzneimittelefekt, der aber nicht generalisierend deinierbar, sondern nur im Einzelfall durch kontrollierte klinische Studien (Shapiro u. Morris 1978) messbar ist. Damit wird die kontrollierte klinische Studie zum entscheidenden Kriterium für die Wirksamkeit eines therapeutischen Eingrifs im Sinne der wissenschatlichen Medizin
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! Kernaussage
Der auf einen pharmakodynamischen Effekt zurückzuführende Anteil einer therapeutischen Intervention wird als spezifisch bezeichnet, der darüber hinausgehende Anteil als unspezifisch und mit dem Plazeboeffekt gleichgesetzt. Gemessen werden die Effekte durch Vergleich einer Verum- mit einer Plazebogruppe. Hinweis: Der Vergleich einer Verum- mit einer Patientengruppe, die zwar in den Versuch einbezogen wird, aber kein Plazeboarzneimittel erhält, führt nicht zu identischen Ergebnissen (Näheres dazu > unter 14.6).
14.5
Psychophysische Wechselwirkungen: Basis für Plazeboeffekte
Nach den Vorstellungen der wissenschatlichen Arzneitherapie wirken Arzneimittel stolich durch Interaktionen mit Makromolekülen des Organismus. Es werden dadurch die für das Pharmakon charakteristischen biochemischen und physiologischen Veränderungen ausgelöst, die dann im Sinne eines herapiezieles wirksam werden können. Biochemische und physiologische Veränderungen können jedoch auch auf rein psychischem Wege ausgelöst werden. Diese auf psychischem Wege ausgelösten Arzneimittelefekte sind in der Arzneitherapie unter der Bezeichnung Plazeboefekte bekannt. Ausgelöst werden können die Plazeboefekte durch ein beliebiges Arzneimittel, durch jede andere Form therapeutischer Intervention und nicht zuletzt durch das soziale Umfeld. Das Autreten von Plazeboefekten bedeutet somit, dass es außer somatischen auch noch geistige (psychische) Einwirkungen auf das kranke Individuum gibt, die Heilwirkungen herbeiführen. Die naturwissenschatlich orientierte Medizin zielt auf den rein somatischen Bereich: Durch die Entdeckung des Plazeboefekts muss sie zur Kenntnis nehmen, dass daneben auch nichtsomatische (psychische) Wirkkräte Anteil am herapieerfolg haben können. Allerdings ist diese Vorstellung, dass psychische Einlüsse Krankheitssymptome modiizieren, nicht sonderlich neu. Im Grunde handelt es sich um die in der Physiologie altbekannten Phänomene der psychophysischen Wechselwirkung. Der lebende Organismus reagiert vielfach so, als bestände er aus zwei Kompartimenten, dem körperlichen (= somatischen) und dem psychischen, die parallel reagieren. Jeder Mensch weiß aus der Selbstbeobachtung, in wie
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Plazebos und Plazebowirkungen: theoretische Konzepte und experimentelle Befunde
hohem Grade seelische Erlebnisse zu körperlichen Funktionsänderungen Anlass geben können. Dazu einige Beispiele für solche von der Psyche über das vegetative Nervensystem auf den Körper ausgeübten Einlüsse: x Abhängigkeit der Gesichtsdurchblutung von Freude, Schreck oder Scham; x Blässe oder Röte im Gesicht bei Zorn; x Veränderungen des Herzrhythmus in Glück und Trauer; x Herzfrequenzsteigerung vor Fallschirmabsprung oder in anderen Angstsituationen (Prüfungsangst); x beschleunigte Darmentleerung bei Angst; x Stuhlverstopfung bei einem deprimierenden Erlebnis; x Appetitverlust bei Ärger oder bei Trauer. Auch auf Reize, die durch Applikation von Arzneistofen gesetzt werden, reagiert der Organismus als „Ganzes“, d. h. mit mess- und beobachtbaren Änderungen sowohl im psychischen als auch im physiologischen Bereich. Nach Applikation von 0,25 mg Apomorphin an gesunde Probanden lässt sich das Nauseastadium auslösen, das durch parallele Änderungen vegetativer Funktionen und im Erlebnisbereich wie folgt gekennzeichnet ist (v. Uexküll 1952): x Vegetative Funktionen: Blutdruck, Herzfrequenz und Muskeltonus nehmen ab, der Appetit geht verloren; x Erlebnisbereich: Gleichgültigkeit, Antriebsschwäche, Schweregefühl in den Gliedern, echter Schlaf wird induziert. Stressreaktion. Eine seit langem bekannte Hauptachse,
über die Geist und Körper miteinander kommunizieren, ist die physiologische Stressreaktion. Eine akute Bedrohung löst sozusagen einen ganzheitlichen Alarm aus. Das Bewusstsein empindet Angst oder Wut, und gleichzeitig setzt das Gehirn eine ganze Kaskade neuronaler und hormoneller Veränderungen in Gang, die den Organismus auf Kampf oder Flucht vorbereiten: Während der ersten Konfrontation mit dem negativen Ereignis kommt es zu einem deutlichen Anstieg der Hypophysen-Nebennierenrinden- und Nebennierenmarkaktivität sowie entsprechender peripher-autonomer physiologischer Prozesse. Herzrate, Hautwiderstand, Blutdruck, elektrische Muskelaktivität, periphere Glucocorticoide, peripheres Adrenalin, Wachstumshormon und ACTH steigen an, Testosteron und Insulin werden gehemmt. Gelingt es, das Problem (z. B. die Gefahr) zu bewältigen, lässt die Intensität der Aktivierung nach und geht subjektiv in ein Gefühl der Freude und Befriedigung über („Freude an der Ge-
fahr“), was auf physiologischer Ebene mit dem Anstieg von Testosteron einhergeht. Akute-Phase-Antwort. Eine weitere wichtige Reaktion, die das Parallelreagieren von Psyche und Körper zeigt, ist die Akute-Phase-Antwort („acute-phase response“). Es handelt sich um ein im Grunde altbekanntes Phänomen: um die akut entzündliche Phase einer Infektion. Dem Augenschein zeigen sich die Phänomene Tumor (Anschwellung), Rubor (Rötung), Calor (Wärme), Dolor (Schmerz) und Functio laesa (gestörte Funktion). Auf der immunologischen Ebene kommt es neben Fieber zur verstärkten Synthese der Akute-Phase-Proteine und durch diese zu einer wirkungsvollen speziischen Abwehr pathogener Keime. Auf der psychischen Ebene lassen sich Lethargie, Apathie, Appetitverlust und erhöhte Schmerzempindlichkeit beobachten. Das typische Krankheitsgefühl, das sich schwach und elend Fühlen, fasst man heute nicht als eine Folge der Infektion auf, sondern als eine sinnvolle Reaktion, die der Körper aktiv im Dienste der rascheren Heilung hervorbringt (Evans 2004, 2005). Wie wichtig dabei auch das Schmerzgefühl ist, zeigen die seltenen Fälle von kongenitaler Analgesie d. i. ein völliges Fehlen jeglicher Schmerzempindung. Die Patienten erreichen selten ein Alter über 30 Jahre, da sie vor allem keinen Tiefenschmerz wahrnehmen und bei Krankheit nicht rechtzeitig ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen.
! Kernaussagen
Die Psychophysiologie ist ein wissenschaftliches Grenzgebiet zwischen Psychologie und Physiologie. Gegenstand der Psychophysiologie ist das körperliche Geschehen im Zusammenhang mit psychischen Vorgängen. Als Beispiele für derartige Zusammenhänge wurde die Stressreaktion und die Akute-Phase-Antwort besprochen. Depression und Angst wären zu ergänzen. Der Plazeboeffekt ist hinsichtlich der Erforschung seiner Genese in dieses Grenzgebiet der Psychophysiologie einzuordnen.
14.6
Plazeboartefakte (falsche Plazeboeffekte)
Der Plazeboefekt wurde im vorhergehenden Abschnitt als ein psychophysisches Phänomen charakterisiert. Ein derartiger Efekt kann aber auch bloß vorgetäuscht sein:
14.6 Plazeboartefakte (falsche Plazeboeffekte)
14
Therapieeffekte
. Abb. 14.1
Pharmakodynamische Effekte Plazeboeffekte Plazeboartefakte
Nulltherapie
Studiengruppe ohne Behandlung
Plazebogruppe
mit Standardtherapie
mit Prüfsubstanz A
mit Prüfsubstanz B
Schema einer dreiarmigen Studie, beispielsweise Gabe eines Prokinetikums bei Reizdarmsyndrom. Die Gabe von Plazebo, einer Leer- oder Scheinarznei, erwies sich im Vergleich mit einer Nichtbehandlung als wirksam. Weihrauch 1999 (verändert)
Weder muss eine psychophysische noch eine pharmakodynamische Beeinlussung vorliegen und dennoch scheinen sich Symptome nach Einnahme eines Medikaments in aufallender Weise zu bessern. Es ist daher vorgeschlagen worden, zwischen einem Plazeboefekt und einer Plazeboantwort zu unterscheiden (Stewart-Williams 2004). Eine Plazeboantwort ist deiniert als jedwede Änderung im Gesundheitszustand, die nach Gabe eines Plazebos eintritt. An dieser Änderung können außer dem eigentlichen Plazeboefekt auch noch andere Faktoren beteiligt sein wie Spontanheilungen, Symptomluktuationen oder statistische Täuschungen, wie die Regression zum Mittelwert („regression towards the mean“). Der (genui-
ne) Plazeboefekt ist somit derjenige Anteil an der Plazeboantwort, der als Folge der Plazebogabe eintritt, d. h. dass er nicht eintritt, wenn kein Plazebo (Plazeboarznei) gegeben wird. Teilt man ein Patientenkollektiv in zwei Hälten und lässt man die eine Hälte unbehandelt, während die andere eine Leerarznei erhält, dann ergeben sich im Zeitverlauf Unterschiede im Beschwerden-Score. Die Gabe der Scheinarznei ist ofensichtlich wirksam ( > Abb. 14.1). Hinweis. Score (engl.) bedeutet so viel wie anhand eines
Punktekatalogs errechnete Bewertungszifer aus mehreren Einzelwerten.
Infobox Regression zum Mittelwert. Wo immer der Zufall eine Rolle spielt, wirkt eine statistische Gesetzmäßigkeit, die als „Regression zum Mittelwert“ („regression towards the mean“, RTM) bezeichnet wird. Sie bezieht sich auf die so genannten Ausreißer in einer Zufallsverteilung und besagt: Je weiter ein Ausreißer vom Mittelwert der Vertei-
lung abweicht, desto wahrscheinlicher ist, dass der nachfolgende Versuch näher bei diesem Mittelwert liegt. Mathematisch geht es um die Abhängigkeit zweier Variablen, die keine perfekte Korrelation zeigen. RTM ist ein Prinzip der Statistik, das viele Wissenschaftler, selbst
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Plazebos und Plazebowirkungen: theoretische Konzepte und experimentelle Befunde
Nobelpreisträger, in die Irre geführt hat (Campbell u. Kenny 2003), weil es, intuitiv zu erfassen, nicht immer einfach ist. Dennoch soll das an einigen Beispielen versucht werden. Japanische Epidemiologen interessierten sich für die Frage, ob die Blutfettwerte (HDL, LDL, Gesamtcholesterin, Triglyceride) sich mit dem Alter verändern. Beim jährlichen Gesundheitscheck japanischer Arbeiter kam heraus, dass die Veränderungen während eines Jahres sehr deutlich mit der Größe der Werte zu Jahresbeginn in dem Sinne korrelierten: Die Werte der Arbeiter mit hohen Anfangswerten wurden im Mittel kleiner, die der Arbeiter mit geringem Startwert hingegen höher. Diese Annäherung von Extremwerten zum Mittelwert, dies ist genau das, was man vom Prinzip des RTM erwartet. Die biologische Änderung wird somit stark von dem statistischen „Fehler“ des RTM überlagert (Takamisha et al.2001). Die Nutzanwendung: Eine Studie, bei der man einen Cholesterinsenker an Patienten mit besonders hohen Cholesterinwerten testet, wird auf jeden Fall positiv ausfallen, auch wenn das Medikament unwirksam ist (Dubben u. Beck-Bornholdt 2005). Nach diesen Beispielen wird es nicht mehr allzu schwer sein, die folgende Knoblauchstudie zu beurteilen. Diese umfängliche Studie zur lipidsenkenden Wirkung von Knoblauchpulver unter Einschluss von 261 Patienten führte nach
16 Wochen zu dem Ergebnis, dass sich die deutlichsten Effekte bei Patienten mit hohen initialen Cholesterinspiegeln zwischen 250 und 300 mg/dl gezeigt haben (Mader et al. 1990). Es solle die Wirksamkeit eines Tonikums auf die Lernfähigkeit von Kindern anhand eines Lesetests geprüft werden. Nach Auswertung der Testergebnisse von 500 Schülern sortiert man die 10% mit den niedrigsten Score-Werten heraus, gibt ihnen über einen Zeitraum das Tonikum und unterzieht sie erneut dem Lesetest: die Lesefähigkeit dieser Gruppe hat sich signifikant gebessert – allerdings nicht infolge der Medikamentenwirkung, vielmehr ließ sich das Ergebnis mittels des RTM-Prinzips vorhersagen: Extremfälle zum Zeitpunkt 1 erweisen sich als weniger extrem zum Zeitpunkt 2. Eine Analogie dazu wäre (Dubben u. Beck-Bornholdt 2005): Man nehme 500 sechsseitige Würfel, würfle nacheinander und selektioniere dann die Würfel aus, die eine Eins zeigen. Man nehme an, dass es 83 waren. Würfelt man mit diesen 83 Würfeln erneut, so ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Summe der Augen größer als 83×1. Neue Medikamente werden manchmal zunächst an besonders schwer Erkrankten ausprobiert mit der Überlegung, „wenn es denen schon keinen Nutzen bringt, dann den weniger Kranken erst recht nicht.“ Damit ist der Therapieerfolg vorprogrammiert, allerdings auch der wirkungsloser Medikamente – dank des RTM-Effekts.
Symptomfluktuation und Kausalitätsbedürfnis. Unsere
psychischen Beindens der Arzneimitteleinnahme zuschreibt, obwohl objektiv kein Kausalzusammenhang vorliegt (Price u. Field 2000). Attribution steht somit für den sehr simplen, allgemein bekannten Sachverhalt, dass Krankheitssymptome in ihrer Intensität variieren können, auch dass sie von allein vergehen können, vorübergehend oder auch für immer, selbst wenn auf jede Medikation verzichtet wird. Es handelt sich somit um die Koinzidenz einer Plazebogabe und der zufälligen Besserung von Krankheitssymptomen ( > Abb. 14.2). Ein Beispiel für einen wellenförmigen Verlauf von Symptomen sind die altbekannten Migräneattacken. Zunächst ist der Patient schmerzfrei; die Schmerzen setzen ein und es braucht eine gewisse Zeit, bis sie sich an Intensität zu einem Höhepunkt steigern, der nach einer weiteren Zeitspanne überschritten wird. Schließlich klingen die Schmerzen wieder ab. Es hängt nun vom Zeitpunkt der Plazebogabe innerhalb dieser Wellenbewegung ab, ob der Patient eine Medikation als wirksam oder als unwirksam bezeichnet,
Wahrnehmung ist so programmiert, dass wir, wenn zwei Ereignisse aufeinander folgen, Kausalität unterstellen. Wem es nach Einnahme eines Mittels gesundheitlich besser geht, dem fällt es schwer, zu verstehen, dass dies nicht notwendigerweise etwas mit dem Medikament zu tun haben muss. Der „gesunde Menschenverstand“ urteilt nach dem Naheliegenden. Einnahme des Medikaments bessert die Symptome, ergo war das Medikament ursächlich für die Symptomänderung verantwortlich: „Post hoc ergo propter hoc” (Ich war krank, jetzt bin ich geheilt, also war die Behandlung der Grund meiner Genesung). Es kann sich psychologisch um bloße Attribution (lat.: attribuere [zuschreiben, beimessen]) handeln, worunter man eine unberechtigte Ursachenzuschreibung versteht, d. h. eine Erklärung von Efekten, die allein dem eingangs erwähnten Kausalitätsbedürfnis des Patienten entspringen (Netter et al. 1986). Das Phänomen besteht darin, dass der Patient zufällige Änderungen seines körperlichen und
14.6 Plazeboartefakte (falsche Plazeboeffekte)
14
. Abb. 14.2
Ein Gedankenexperiment, das verständlich machen soll, warum individuelle Plazebowirkungen schwer nachweisbar sind. Der Zufall kann die Ergebnisse verfälschen. Man stelle sich ein Symptom vor, das im Abklingen begriffen ist (Patient A) und als Gegenbeispiel den Patienten B, dessen Symptom einem Höhepunkt zustrebt. Gäbe man Patienten A, dessen Symptom am Abklingen ist, ein Plazebo, so hätte er den Eindruck, das Mittel habe ihm geholfen; Patient B hält das Mittel für wirkungslos
ob er als „Non-Responder“ oder als „Responder“ eingestut wird. Einer solchen psychologischen Täuschung unterliegt wahrscheinlich, wer von der Wirksamkeit von Echinaceapräparaten bei Erkältung überzeugt ist. Alle unabhängigen Studien der letzten Jahre kamen zu dem Ergebnis, dass Echinaceapäparate den Verlauf einer Erkältung nicht beeinlussen (Barrett et al. 2002; Bruce et al. 2002; Grimm u. Muller 1999; Melchart et al. 1998; Turner et al. 2005; Taylor et al. 2003). Dennoch greifen allein in den USA 14,7 Millionen Menschen regelmäßig zu einem Echinaceapräparat, um eine Erkältung und ihre Symptome zu bekämpfen. Bei einer Erkältung erfolgt der Ablauf der Symptome in zeitlicher Reihenfolge mit einer Gesamtdauer von 8–10 Tagen (Adam et al. 2004). Nicht alle Erkältungssymptome treten gemeinsam gleich zu Beginn auf, vielmehr lösen sich die Symptome in einer gewissen Reihenfolge ab: Das eine Symptom (z. B. Frösteln) laut ab und wird von einem anderen (z. B. Kitzelgefühl in der Nase, später Schwellung der Nasenschleimhäute) abgelöst. Bei dieser Fluktuation der Symptome ist die Wahrscheinlichkeit relativ groß, dass die Einnahme eines Erkältungsmittels mit dem Nachlassen eines Symptoms zeitlich koinzidiert ( > Abb. 14.2). Das Mittel hat gewirkt.
Bei der Beurteilung von Erkältungsmitteln durch den Arzt kommt ein weiteres Phänomen mit ins Spiel, ein Phänomen, das in der Statistik unter der Fachbezeichnung „Regression zum Mittelwert“ bekannt ist. Wenn zwischen zwei Variablen keine perfekte Korrelation besteht, zeigt die nachfolgende Beobachtung einer Zufallsvariablen eine stärkere Tendenz hin zum Mittelwert. Siehe dazu auch die
! Kernaussagen
Es gibt eine Reihe von Phänomenen, die einen Plazeboeffekt, verstanden als im Sinne eine psychischen Einflussnahme auf den Therapieverlauf, verfälschen. Die wichtigsten dieser Plazeboartefakte sind x die natürliche Fluktuation von Symptomen, x die Spontanremission selbst limitierender Krankheiten und x Regression zum Mittelwert. Nur der Vergleich von Kollektiven – in Form klinischer Studien, die neben einer Plazebogruppe auch eine unbehandelte Gruppe mitführen – ermöglicht es, echte Plazeboeffekte von Plazeboartefakten zu unterscheiden.
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Plazebos und Plazebowirkungen: theoretische Konzepte und experimentelle Befunde
Infobox „Regression zum Mittelwert“. Die meisten Erkältungspatienten behandeln sich selbst. Den Arzt aufsuchen werden im Mittel nur Patienten mit schwereren Symptomen. Nach dem Höhepunkt der Erkältungssymptomatik beim 1. Arztbesuch werden sich einige Zeit später beim 2. Arztbesuch die Symptome dem bei Erkältungsverläufen üblichen Mittelwert angenähert, d. h. gebessert haben. Wahrscheinlich neigen die meisten herapeuten dazu, diese Änderung mit dem verordneten Medikament in ursächlichen Zusammenhang zu bringen. Auf ein Patientenkollektiv erweitert: Im Falle einer herapiestudie würden sich gemessene Plazeboefekte nicht eindeutig vom natürlichen Verlauf der Erkrankung und von der Regression zum Mittelwert unterscheiden lassen.
14.7
Nachweis einer pharmakodynamischen Wirkungskomponente nur durch Vergleich von Kollektiven möglich
Der wissenschatlichen herapie geht es darum, zu beweisen, dass der Anteil der pharmakodynamischen Wirkung eines Arzneimittels den Plazeboanteil übersteigt ( > die Infobox „Medizinische Wirksamkeit“). Das ist grundsätzlich nur durch Vergleichsverfahren möglich.
14.7.1
Reine Plazebos
Bei der Bewertung von neu einzuführenden Arzneimitteln wird heute, wenn möglich, gegen ein für die gleiche Indikation eingesetztes Standardpräparat geprüt. Dieser Fall soll nicht weiter betrachtet werden. Besprochen werden soll lediglich die vergleichende Prüfung gegen ein Scheinmedikament. Scheinmedikamente stellen „reine oder echte Plazebos“ dar. Sie enthalten Milchzucker, Stärke und andere pharmakodynamisch inerte Substanzen. Die in den Versuch eingeschlossene Patientengruppe wird in eine Versuchs- und in eine Plazebokontrollgruppe geteilt. Die Bildung einer Kontrollgruppe ist aber nur sinnvoll, wenn der Patient nicht weiß, ob er sich in der Versuchsgruppe beindet oder in der Kontrollgruppe. Daher muss die Plazeboarznei so zubereitet werden, dass sie sich in Aussehen und Geschmack nicht von dem zu prüfenden Arzneimittel unterscheidet. Beim Doppelblindversuch darf auch der Arzt oder das ärztliche Hilfspersonal, das an der Auswertung teilnimmt, die Gruppenzugehörigkeit
nicht kennen. Die Kontroll- und die Versuchsgruppe müssen einander in Alter, Grund der Erkrankung, Bereitschat zur Mitarbeit (Compliance) möglichst genau entsprechen. Würde man in die Versuchsgruppe z. B. weniger schwere Fälle aufnehmen, so würde das Ergebnis von vornherein zugunsten der Prüfsubstanz manipuliert. Unter somit auch äußerlich identischen Bedingungen werden über einen zuvor festgelegten Zeitpunkt echte herapie und Scheintherapie durchgeführt. Die pharmakodynamischen Efekte ergeben sich als Diferenz beider Behandlungsverfahren: Summe der Messwerte (Score) nach medikamentöser herapie abzüglich der Messwerte nach Scheintherapie.
14.7.2
Plazebo im Vergleich zu Nichtbehandlung
Ist überhaupt eine Behandlung mit einem Scheinmedikament erforderlich, um den Plazeboefekt zu erfassen? Könnte man nicht bequemer eine Kontrollgruppe, bestehend aus unbehandelten Patienten, bilden, denen keinerlei Medikament gegeben wird? Aus Gründen, auf die nicht näher eingegangen werden kann, ist es ziemlich schwierig, Patienten für eine unbehandelte Kontrollgruppe zu rekrutieren. Aber immerhin gibt es einige Studien, die neben der Plazebogruppe auch eine unbehandelte Kontrollgruppe mitführen. Man bezeichnet sie als dreiarmige Studien ( >Abb. 14.1). Die Mehrzahl dieser Studien hat zu dem eindeutigen Ergebnis geführt, dass sich unter Plazebobehandlung stärkere therapeutische Efekte zeigen als unter Nichtbehandlung (Walach u. Sadaghiani 2002). Somit gibt es echte (genuine) Plazeboefekte, also Plazeboefekte, die nichtmethodische Artefakte darstellen und die sich nicht auf natürliche Krankheitsverläufe, Spontanbesserungen, statistische Regression zur Mitte und Begleitbehandlungen zurückführen lassen. Überlegenheit der Plazebotherapie gegenüber Nichtbehandlung: Der Plazeboefekt wurde an anderer Stelle (Abschnitt 14.5) als ein psychophysisches Phänomen beschrieben. Dieser genuine Anteil des Gesamtplazeboeffekts wird repräsentiert durch die Wirksamkeit nach Scheintherapie minus Wirksamkeit einer unbehandelten Kontrollgruppe. Bewusstlose sind nur pharmakodynamischen Efekten zugänglich; das bedeutet, dass keine Unterschiede zwischen der Plazebogruppe und Nichtbehandlung erkennbar sein sollten. Für diese Überlegungen gibt es Belege in Form dreiarmiger klinischer Studien (Über-
14.7 Nachweis einer pharmakodynamischen Wirkungskomponente
sicht: Walach u. Sadaghiani 2002). Eine dieser Studien (Sinclair et al. 1988) sei kurz skizziert. x Fragestellung: Wirksamkeit von Lidocain bei postoperativen Schmerzen; x Modell: Patienten mit Diskushernie; x Kontrollen: Lidocainspray, Plazebospray, Nichtbehandlung; x Besonderheit: Wundversorgung bei Patienten ohne Bewusstsein; x Ergebnis: kein Unterschied zwischen Nichtbehandlung und Plazebo.
! Kernaussagen
Die zwei wichtigsten Grundsätze der kontrollierten klinischen Arzneimittelprüfung lauten: 1) Die beiden Behandlungsgruppen – Verum- und Plazebogruppe – müssen strukturgleich sein und ebenso müssen 2) die Beurteilungsbedingungen von Verum- und Plazebogruppe gleich sein. Die Differenz zwischen Verum- und Plazebogruppe gibt die pharmakodynamische Wirkung des Verummedikaments wieder. Zwischen einer Therapie mit Plazebo und einer Nichtbehandlung gibt es Wirksamkeitsunterschiede. Die Differenz zwischen Plazebogruppe und unbehandelter Kontrollgruppe in einer dreiarmigen klinischen Studie zeigt den „therapeutisch wirksamen Plazeboanteil“ an.
14.7.3
Plazeboäquivalente Arzneimittel (unreine Plazebos)
Der Doppelblindversuch ist eine Sache der Forschung und tangiert die ärztliche Praxis nicht unmittelbar. Reine Plazebos kommen nur in Kliniken zur Anwendung, da Arzneimittel ohne Arzneistofgehalt als Handelspräparate nicht verfügbar sind. In der ambulanten Praxis des niedergelassenen Arztes und bei der Selbstmedikation spielen plazeboäquivalente Arzneimittel (Synonym: unreine Plazebos; Pseudoplazebos) eine große Rolle. Im Unterschied zur reinen oder echten Plazeboarznei enthält das unreine Plazebo eine oder mehrere pharmakodynamisch aktive Substanzen, die jedoch nicht zur Wirksamkeit beitragen, entweder weil die Dosis zu niedrig ist oder weil die pharmakodynamischen Efekte in keinem Kausalzusammenhang mit der Erkrankung oder dem Symptom stehen, das beeinlusst werden soll ( > dazu den nachfolgenden Abschnitt 14.7.4).
14.7.4
14
Unberechtigter Glaube an Wirkungsmechanismen
Den Wirkungsmechanismus einer Substanz zu erkennen, ist das wissenschatliche Ziel von Pharmakologen, Biochemikern und Molekularbiologen. Im Hinblick auf die praktische herapie liegt in diesem wissenschatlichen Bestreben jedoch eine Schwäche. „Zu leicht wird die schlichte Frage, ob ein Arzneimittel wirkt, durch blumige Erzählungen ersetzt, wie es wirkt“ (Habermann 1995) und hinsichtlich der Phytopharmaka muss man hinzufügen, wie es wirken könnte. Die Auklärung eines pharmakologischen Wirkungsmechanismus erfolgt an den unterschiedlichsten Modellen, die aber alle den Bedingungen des therapeutischen Einsatzes fern stehen. Wer von Molekülen, Signalketten und Zellkulturen auf die Arzneitherapie extrapoliert, begeht eine wissenschatliche Grenzüberschreitung. Nicht selten wird beispielsweise aus rezeptorbiologischen Versuchen die Wirkstoffrage einer planzlichen Arzneidroge „aufgeklärt“, obwohl es überhaupt nicht bewiesen ist, dass der Droge eine über den Plazeboefekt hinausragende Wirksamkeit zukommt. Beispielsweise interagieren bestimmte Drogen mit Beta-2-Rezeptoren, woraus eine expektorierende Wirkung am Menschen hergeleitet wird. hymianextrakt regt an der narkotisierten Maus die Zilientätigkeit an (Verspohl 2006). Daraus auf einen Expektoransefekt beim kranken Menschen zu schließen wäre rein spekulativ: Es setzt dies voraus, dass die Flimmerepithelbewegung in der pathologischen Situation überhaupt steigerbar ist. Überdies fehlt der Nachweis, dass bestimmte Expektorantien wie B. hymianöl und hymianextrakt klinisch wirksam sind (Lemmer 2005). Echinaceapräparate wurden zum Immunstimulans erklärt aufgrund der folgenden Laborversuche (Angaben entnommen aus: Vollmar u. Dingermann 2005): x Echinaceaextrakte mobilisieren Granulozyten und steigern deren Phagozytose. x Sie aktivieren Makrophagen. x Sie stimulieren zytotoxische T-Zellen und T-Helferzellen. x Sie erhöhen die Produktion der Interleukine IL-1, IL-2, IL-3, IL-6 sowie der Interferone IFN-D, IFN-E, IFN-γ und der Zytokine TNF-D und TGF-D. x Echinaceaextrakte beschleunigen ferner die Ausdiferenzierung von D-Lymphozyten zu antikörperbildenden Plasmazellen (IgM).
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352
14
Plazebos und Plazebowirkungen: theoretische Konzepte und experimentelle Befunde
x Sie hemmen die körpereigene und die bakteriell gebildete Hyaluronidase. x Sie besitzen antivirale Aktivität. Das ist eine beeindruckende Liste von Wirkungen. Leider vermisst man in der Literatur Antworten auf die Frage, in welchem Bezug diese Wirkungen zum Pathomechanismus von Erkältungskrankheiten stehen bzw. an welcher Stelle sie in das pathophysiologische Geschehen eingreifen könnten ( > dazu die folgende Infobox).
14.8
Besondere Therapierichtungen und das Plazeboproblem
14.8.1
Medikamente der besonderen Therapierichtungen gelten als glaubensbasiert
Für die alternativen herapieformen ist das Fehlen kontrollierter klinischer Studien charakteristisch. Aus der Sicht der wissenschatlichen herapie bedeutet das, dass
für die Medikamente der besonderen herapierichtungen ein Wirkungsnachweis nicht erbracht wurde. Folglich bezweifeln die Vertreter der wissenschatlichen Medizin, dass die Medikamente der alternativen herapien eine über den Plazeboefekt hinausgehende therapeutische Wirksamkeit aufweisen. Diese Zweifel hinsichtlich pharmakodynamischer Wirkungskomponenten betreffen nicht nur die unseriösen Modepräparate, sondern auch die homöopathischen Arzneimittel, die Mittel der traditionellen Phytotherapie sowie die der Anthroposophie und der traditionellen chinesischen Medizin ( > Abschnitt 14.11.5). Es liegt freilich keine bewusste Plazebotherapie vor, da der herapeut von der Wirksamkeit der verordneten Arzneimittel überzeugt ist. Charakteristisch ist somit für alle außerhalb der Schulmedizin stehenden herapieformen, dass sie das Prinzip des statistischen Wirksamkeitsnachweises implizit oder explizit ablehnen zugunsten der Überzeugung, dass die herapie immer nur auf individueller Erfahrung basieren kann. Jede Pharmakotherapie mit Medikamenten, zu denen keine statistisch gesicherte klinische Wirksamkeitsstudie vorliegt, wird aus der Sicht der wissenschatlichen Medizin
Infobox Immunologie und Pathologie der Rhinovirenerkältung. Das Rhinovirus infiziert zilien- und nichtzilientragende Zellen des Nasenepithels. Die Infektion betrifft aber einen nur sehr kleinen Bereich der Gesamtepithelschicht. Biopsie und Elektronenmikroskopie zeigen eine weitgehend intakt gebliebene Epithelschicht. Die Symptome sind somit keine Folge von Zerstörungen der Mukosa oder der Epithelschicht. Da histopathologische Veränderungen als Folge der Virusinfektion fehlen, wurde danach gesucht, ob nicht Reaktionen des Wirtsorganismus die bekannten Erkältungssymptome produzieren. Wie man tatsächlich fand, spielt der Wirt selbst die Hauptrolle beim Pathomechanismus der Rhinovireninfektion. 2–3 Tage nach Virusbefall nimmt in der Nasenmukosa und im Blut die Zahl der Leukozyten zu, ein Zeichen für eine Zunahme der Konzentration an zirkulierenden polymorphkernigen Leukozyten (PMNL). Individuen, die zwar durch das Virus infiziert sind, aber keine Zunahme an PMNL zeigen, haben auch nicht an Erkältungssymptomen zu leiden. Nicht das Virus produziert die Erkältungssymptome, sondern das von den Epithelzellen produzierte proinflammatorische Interferon IL-8. Durch Applikation von IL-8 an Probanden lassen sich alle die typischen Erkältungssymptome induzieren. Die heutigen Vorstellungen vom Pathomecha-
nismus der Rhinovirusinfektion (Hendley 1983; Turner 2001) sind in einem Schema ( > Abb. 14.3) zusammengefasst. Auch zur Immunantwort selbst liegen Untersuchungsergebnisse vor (Hendley 1983). Nach Rhinovireninfektion wird im Serum und auch lokal auf der Nasenschleimhaut die Bildung von Antikörpern (AK) nachweisbar, die allerdings erst etwa 3 Wochen nach der Infektion abgeschlossen ist, wenn die Erkältungssymptomatik längst abgeklungen ist. Das Sistieren der Infektion hängt somit kaum mit der Bildung von Antikörpern zusammen. Die AK-Bildung ist serotypusspezifisch und verleiht zwar lebenslang, aber ausschließlich gegen den betreffenden Serotyp Immunität. Das schützt den Träger freilich nicht vor Neuinfektion: Allein bisher sind über 100 unterschiedliche Serotypen identifiziert worden. Es lässt sich leicht ausrechnen: Um gegen jede Erkältung immun zu sein, müsste ein Mensch 50 Jahre lang jährlich 2 Infektionen durchmachen. Hinzu kommt: Erkältungsviren zeichnen sich durch eine sehr kurze Inkubationszeit aus. Sobald der Patient die Krankheitssymptome merkt, ist der Höhepunkt der Infektion längst überschritten („hit-and-run infection“). Es bliebe somit, selbst wenn der Patient eine geeignete Immunität aufgebaut hätte, keine Zeit, die Immunantwort zu „boostern“.
14.8 Besondere Therapierichtungen und das Plazeboproblem
14
. Abb. 14.3
Schema zu den Ereignissen zwischen Virusinfektion und Ausbruch von Erkältungssymptomen. Die pathogenetischen Symptome gehen nicht von dem Virus aus, sie werden vielmehr vom Wirtsorganismus dann erzeugt, wenn die Zunahme an reaktiven Sauerstoffspezies ausreicht, die Bildung von Interleukin IL-8 zu induzieren. Zeichenerklärung: NF-κB nuclear factor kappa B (ein DNA-bindendes Protein, das die Transkription zahlreicher Zytokin- und Immunglobulingene aktivieren kann); IL-8 Interleukin 8 (ein proinflammatorisches Zytokin); ROS reaktive Sauerstoffspezies (Näheres dazu s. Abschnitt 15.4.1)
als eine Plazebotherapie angesehen ( > dazu auch die Ausführungen in der Einleitung). Das ist jedoch keineswegs gleichbedeutend damit, dass sie unwirksam ist. Man sollte sich nach Gauler und Weihrauch (1997) die Möglichkeit ofen halten, dass plazeboäquivalente Medikamente auch pharmakodynamisch wirksam sein können, indem sie beispielsweise eine nicht bekannte Funktionsstörung beeinlussen. Das ist sicher möglich, nur weiß man es nicht, so lange keine guten herapiestudien zur therapeutischen Wirksamkeit bei den beanspruchten Indikationsgebieten vorliegen. Die Trennlinie zwischen wissenschatlicher Arzneitherapie und anderen herapieformen ist und bleibt die kontrollierte herapiestudie (Habermann 1988). Die Arzneimittel der wissenschatlichen Medizin sind wissensbasiert („evidence-based“), alle anderen Medikamente hingegen glaubensbasiert ( > Abb. 14.4).
! Kernaussage
Jedes Arzneimittel, für das kein den Kriterien der wissenschaftlichen Medizin entsprechender Wirksamkeitsnachweis vorliegt, gilt als ein plazeboäquivalentes Arzneimittel. Plazebo bedeutet aber nicht notwendigerweise, dass das Mittel unwirksam ist. Plazebo ist lediglich ein Synonym für „ungeprüft nach den Kriterien der wissenschaftlichen Medizin“.
353
354
14
Plazebos und Plazebowirkungen: theoretische Konzepte und experimentelle Befunde
. Abb. 14.4
Die Arzneitherapie der wissenschaftlichen Medizin (Synonyme: naturwissenschaftlich orientierte Medizin; Schulmedizin) unterscheidet sich von der Arzneitherapie aller übrigen Therapieformen dadurch, dass sie mittels kontrollierter klinischer Studien den für ein Arzneimittel spezifischen (= charakteristischen, somatischen) Anteil bestimmen kann. Aus der Sicht der wissenschaftlichen Medizin kommt den Arzneimitteln aller übrigen Therapieformen (z. B. denen der Homöoathie oder der Anthroposophie) Plazebocharakter zu. Die Arzneimittel der Phytotherapie bilden keine einheitliche Gruppe. Zu einigen Pflanzenpräparaten (z. B. Sennesblätter oder Psylliumsamen) gibt es valide klinische Studien; sie sind als evidenzbasiert anzusehen. Die größere Teilmenge der so genannten traditionellen Phytopharmaka weisen Plazebocharakter auf
14.8.2
Kritik an der kontrollierten klinischen Studie als alleinigem Maß der Wirksamkeit
Vor kurzem wurden Ergebnisse einer klinischen Studie bekannt, die in der alleinigen Gabe einer Scheinarznei bestand: blaue Pillen für das Patientenkollektiv mit Angstzuständen und rot gefärbte für Patienten mit leichter bis mittelschwerer Depression. Alle Patienten wurden dahingehend informiert, dass sie keine Medikamente mit Wirkstof, sondern Plazebo erhalten werden. Nach 7 Tagen herapie erwiesen sich 18 von 34 Patienten als wesentlich gebessert, beispielsweise waren im Mittel die Werte der Hamilton-Angstskala um 65% gesunken. 16 Patienten waren absolut davon überzeugt, dass die Behandlung sehr nützlich war; 4 Patienten mussten die Behandlung wegen unerwünschter Nebenwirkung – Schlalosigkeit, Müdigkeit, Magenschmerzen und Schmerzen im Unterarm – abbrechen (Aulas u. Rossner 2003). Daraus lässt sich herleiten: Es kann therapeutische Maßnahmen geben, die zwar nicht wahr im Sinne des pharmakologischen herapiekonzepts sind, aber dennoch für den Patienten richtig im Sinne von besser (als beispielsweise die nichtindizierte Gabe von Psychopharmaka).
Ein weiterer Einwand betrit die Praxisrelevanz klinischer Studien: Patienten, die an einer klinischen Studie teilnehmen, leiden nicht an den selben Symptomen wie die Patienten der ärztlichen Praxis. Einwände gegen kontrollierte Phytopharmakastudien.
Gegen Vergleichsprüfungen von Phytopharmaka, insbesondere gegen den kontrollierten Doppelblindversuch, werden folgende Einwände vorgebracht: x Geringe pharmakodynamische Efekte, wie sie für viele Phytopharmaka (die „Mite-Phytopharmaka“) typisch seien, wären nicht nachweisbar bzw. sie würden in diesen Studien übersehen. Die Zahl der Patienten, die aus statistischen Gründen in eine derartige Studie aufgenommen werden müssten, sei in praxi nicht erreichbar. x Klinische Studien seien nicht praxisrelevant; sie stützten sich auf die Prüfung von ot nur einigen wenigen Zielparametern, sodass nicht alle die herapieindikationen geprüt würden, die für die Verordnung in der ärztlichen Praxis maßgeblich sind. x Die Methode würde deshalb nichts taugen, da sich mit ihr Efekte, von deren Existenz viele Verordner und Anwender überzeugt sind, nicht nachweisen lassen.
14.8 Besondere Therapierichtungen und das Plazeboproblem
x Kontrollierte Studien durchzuführen, sei sehr teuer. Daher sei es ökonomisch unvertretbar, die Wirksamkeit von Mitteln, von denen man seit alters her überzeugt sei, lediglich aus wissenschatlichen Gründen nach wissenschatlichen Methoden zu prüfen. Alle diese Einwände lassen sich im Wesentlichen auf Folgendes reduzieren: Der behandelnde Arzt will dem Patienten helfen, wobei er auch psychodynamische („unspeziische“)
14
Wirkungen ausnutzt. Dieses Argument, auf Wissenschatlichkeit zu verzichten, Hauptsache die Maßnahme oder das Präparat hilt meinem Patienten, lässt der bekannte Erforscher komplementärer Heilverfahren, Edzard Ernst (2002) nicht gelten. Es sollte lauten: Was meinen Patienten geholfen hat, von dem wünsche ich, die klinische Forschung möge herausinden, ob nicht noch mehr Patienten davon proitieren könnten. Eben das aber ist die Forderung der evidenzbasierten (wissensbasierten) Medizin ( > dazu die Infobox).
Infobox Evidenzbasierte Medizin. Der Begriff evidenzbasierte Medizin (EBM ist eine Übersetzung des englischen „evidence-based medicine“ und bedeutet so viel wie „auf Beweise gestützte Medizin“ oder „wissensbasierte“ Medizin, im Unterschied zu „auf Glauben gegründete Medizin“. Die evidenzbasierte Medizin ist ein junger Zweig der Medizin mit dem Ziel, den in Klinik und Praxis tätigen Ärzten durch gewissenhaften und vernünftigen Gebrauch der gegenwärtig besten wissenschaftlichen Unterlagen Handlungsanweisungen für die Versorgung individueller Patienten anzubieten. EBM bedeutet sonach nicht nur Auswertung klinischer Studien, sondern auch die Einbeziehung individueller Erfahrung, soweit sie wissenschaftlich auswertbar ist. Die ärztliche Erfahrung entspricht dabei nicht etwa der niedrigsten Evidenzstufe, sondern stellt eine durchaus gleichwertige, eigene Komponente dar. Die EBM hat auch keine Berührungsängste zu den komplementären Therapieformen. In England gibt es bereits einen eigenen Lehrstuhl zur Erforschung von Komplementärmedizin. Ein Kernpunkt der EBM ist es, Kriterien zu erarbeiten, wie klinische Studien analysiert werden müssen und was alles dabei beachtet werden soll. Zu diesem Thema gibt es bereits Bücher, die auf der Analyse praktischer Fälle beruhen (z. B. Greenhalgh 2000). Der Allgemeinheit wurde die zentrale Bedeutung der randomisierten Studie bewusst gemacht. Bei der nichtrandomisierten Studie vergleicht man quasi Äpfel mit Birnen, wodurch die Ergebnisse manipulierbar werden. Nichtrandomisierte Studien zur Wirksamkeit einer Schmerzbehandlung erbrachten ein positives Ergebnis, die randomisierten Studien hingegen ein negatives (Ernst 2002). Die Datenlage kann somit auf den Kopf gestellt werden, wenn nicht randomisiert wird. Die praxisrelevante Auswertung klinischer Studien wurde durch EBM-Programme dadurch erleichtert, dass an Stelle der statistischen Signifikanz die praxisrelevante „Number needed to treat“ (Abkürzung: NNT) angegeben
wird (Cook u. Sacket 1995). Die NNT entspricht bei präventiven Maßnahmen der Zahl der Personen, die behandelt werden müssen, um 1 unerwünschtes Ereignis zu verhindern, z. B. einen Todesfall, einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall. Bei therapeutischen Maßnahmen gibt die NNT an, wie viele Personen behandelt werden müssen, damit bei 1 Person das therapeutisch gewünschte Ereignis eintritt, beispielsweise im Falle eines Analgetikums, damit die Schmerzintensität innerhalb von 1 Stunde abklingt. Viele klinische Studien, vor allem auch im Bereich der „rationalen Phytotherapie“ ( > dazu Abschnitt 14.11.4), werden mit dem Ziel durchgeführt, die behördliche Zulassung zu erlangen. Bei diesen zulassungsorientierten Studien ist besonders auf die Studienendpunkte zu achten: Handelt es sich um Surrogatendpunkte (Blutdruckwerte, Laborwerte, Gehstrecke) oder um klinisch relevante „harte“ Endpunkte wie z. B. Herztod. Ein in der medizinischen Statistik wenig erfahrener Apotheker kann sich zur Prüfung der Qualität an zwei Äußerlichkeiten orientieren, indem er nachsieht, 1) ob die Studie in einer guten („peer reviewed“) Zeitschrift veröffentlicht worden ist und ob 2) die Studie im Auftrag einer Firma durchgeführt worden ist. Um keine Prüfung durch Kollegen durchlaufen zu müssen, werden die Daten in nicht von Fachkollegen begutachteten Zeitschriften publiziert, auch werden sie gern auf Symposien und Pressekonferenzen vorgestellt. Die zweite Frage nach der Abhängigkeit von Auftraggebern: Auftragsstudien kommen zu auffällig positiven Ergebnissen (Lexchin et al. 2003). Nicht dass die beteiligten Ärzte weniger gewissenhaft arbeiten würden, die Methoden sind sogar oft besser als die der unabhängigen Studien: Die Manipulation liegt nicht selten in der Planung, indem z. B. das Prüfmedikament mit einem unpassenden Vergleichsprodukt geprüft wird. Hinzu kommt, dass negativ verlaufende Studien so gut wie nicht publiziert werden.
355
14 14.9
Plazebos und Plazebowirkungen: theoretische Konzepte und experimentelle Befunde
Der Plazeboeffekt: Vorstellungen zum Wirkungsmechanismus
Die Plazeboreaktionen sind ein komplexes und noch weitgehend ungeklärtes Forschungsgebiet. Die bisherigen Versuche, bestimmte Plazeboreaktionen zu verstehen, orientieren sich weitgehend an der experimentellen Psychologie. Als psychologische Auslösemechanismen spielen u. a. die folgenden Mechanismen eine Rolle: x Konditionierung (lerntheoretischer Erklärungsansatz), x Suggestion und Autosuggestion, x psychologische Wirkung: Erwartung, x Widerspiegelung von Plazeboefekten auf biochemischer Ebene. Dass es sich um primär psychische Auslösemechanismen handelt, zeigt sich daran, dass Plazeboreaktionen nur ablaufen, wenn der Patient bei Bewusstsein ist; sie laufen nicht ab, wenn der Patient ohne Besinnung ist, etwa in Narkose, im Schockzustand oder während des Schlafens.
14.9.1
Bedingte Reflexe (Konditionierung)
Begriffserklärung. Ein bedingter Reiz ist eine Relexant-
wort auf einen Reiz, der ursprünglich nicht diese Antwort auslöste; er wird durch wiederholte Paarung eines neuen Reizes mit dem alten Reiz, der normalerweise die betreffende Relexantwort hervorrut, erworben. Es handelt sich um einen Lernprozess, der als Konditionierung bezeichnet wird. Das klassische Beispiel ist der Pawlowsche Hund. Der Anblick von Futter löst den physiologischen Relex von Säure- und Satproduktion im Magen aus. Kombiniert man die Fütterung mit einem Klingelton, so kann nach einiger Zeit die gleiche physiologische Reaktion beim Versuchstier nachgewiesen werden, wenn nur der physikalische Reiz (Klingelton) allein autaucht, ohne dass Futter angeboten wird. Das Tier – das Gleiche gilt auch für den Menschen – hat etwas dazugelernt und ist jetzt konditioniert (Näheres dazu > Infobox „Akquisition (Aneignung) der klassischen Konditionierung“). Nicht nur Relexe, sondern auch Umstellungen des Gesamtorganismus lassen sich bis ins physiologische und immunologische Detail konditionieren (Habermann 1996). Konditioniert man Hunde mit bestimmten Arznei-
mitteln oder Giten, so können die Tiere bereits auf Geräusche, die das Öfnen der Ampulle anzeigen, mit wirkstoftypischen Verhaltensänderungen antworten. Sie erbrechen, ehe sie Apomorphin als Brechmittel erhalten haben (Kuschinsky 1989). Ein weiteres Beispiel: Konditioniert man Ratten, so lässt sich durch Injektion einer RingerLösung der Blutzuckerspiegel wie nach Insulininjektion senken ( > Abb. 14.5). Konditionierbarkeit von Immunreaktionen. Selbst An-
stiege in speziischen Antikörperreaktionen können konditioniert werden. Ratten, denen eine Ovalbumin-Protein-Injektion gepaart mit dem Geschmack von Saccharin dargeboten wurde, wiesen bei einer späteren Darbietung von Saccharinlösung allein eine erhöhte Antikörperreaktion gegen das applizierte Protein auf und zeigten zugleich eine speziische T-Zell-Reaktion gegen dieses Antigen (Schedlowski u. Tewes 1996). Auch der Mensch ist konditionierbar. Nach wiederholter
Gabe eines Ganglienblockers kam es bei den Versuchspersonen zu bestimmten EKG-Veränderungen; dieselben EKG-Veränderungen ließen sich schließlich durch Plazebo allein auslösen (zit. nach Anschütz 1977). . Abb. 14.5 20
Veränderung des Blutzuckerspiegels (mg / 100 ml)
356
Kontrollen
10
0 ohne Menthol
-10
mit Menthol
-20
-30
0
3
6
9
12
15
Anzahl der Konditionierungsversuche
Die Konditionierung erfolgte durch Injektion von Insulin. Nach einigen Insulingaben (Verum) verursacht eine Ringerlösung (Plazebo) allein eine Senkung des Blutzuckerspiegels (Woods et al. 1969). Ein bedingter Reiz ist bedeutend effektiver, wenn der bedingte Reiz – hier die Senkung des Blutzuckerspiegels – mit Mentholgeruch gekoppelt ist (Abbildung aus Angermeier u. Peters 1973)
14.9 Der Plazeboeffekt: Vorstellungen zum Wirkungsmechanismus
14
Konditionierte Immunmodulation (zit. nach Schedlowski u. Tewes 1996). Probanden wurden einem Tuber-
14.9.2
Erwartungshaltung
kulinhauttest unterzogen, wobei Ampullen einer bestimmten Farbe verwendet wurden. Wurden die Versuchspersonen einem erneuten Hauttest unterzogen, wobei das Plazeboantigen einer Ampulle mit derselben Farbe entnommen wurde, kam es zu analogen Hautreaktionen. Probanden, die auf Milben im Hausstaub oder auf Roggenpollen allergisch reagierten, lernten, die Krankheitssymptome mit der Empindung eines bestimmten Geschmacks zu assoziieren, der gleichzeitig mit der allergischen Provokation dargeboten wurde. Nach einem einzigen Durchgang stieg der Spiegel der Mastzellenfaktoren deutlich über das Niveau der Kontrollgruppe, sobald entsprechend schmeckende, gefärbte Getränke allein konsumiert wurden.
Plazeboeffekte sind nicht erzwingbar. Mittels einer Gabe stark wirkender Arzneimittel lassen sich bestimmte Efekte erzwingen. Auch bei einem Bewusstlosen kann beispielsweise eine inotrope Substanz wirksam sein. Demgegenüber lassen sich Plazeboefekte nicht erzwingen, sie sind an eine gewisse Erwartungshaltung gebunden. Auch hierin zeigt sich eine deutliche Parallele zu den Pawlowschen Konditionierungsversuchen. Im vorangegangenen Abschnitt wurden die Versuche mit Fleischpulver als unkonditioniertem Reiz ( > Infobox im Abschnitt 14.9.1) beschrieben. Ergänzend dazu ist zu sagen: Beim Versuchstier muss eine gewisse Motivation vorhanden sein, um den unbedingten Reiz wirksam werden zu lassen. Ein sattes Tier reagiert nicht auf Fleischpulver; es spuckt die Nahrung höchstens wieder aus. Das heißt, be-
Infobox Akquisition (Aneignung) der klassischen Konditionierung. Die Prinzipien der klassischen Konditionierung sind universelle Gesetze: Sie gelten von einfachen Lebewesen wie Schnecken bis zum Menschen. Das Prinzip ist leicht verständlich. Es gibt zahlreiche Reize, die auf lebendige Organismen einwirken und dabei ganz bestimmte Reaktionen hervorrufen. So bewirkt z. B. ein Lichtreiz, der auf das Auge fällt, eine Verkleinerung der Pupille. Gibt man einem hungrigen Hund Futter, so sondern seine Speicheldrüsen Speichel ab. Grundlage zu einer Lehre der Konditionierungsreaktionen, die auf den berühmten russischen Physiologen Iwan Petrowitsch Pawlow (1849– 1936) zurückgeht, ist somit die gesetzmäßige, häufig angeborene Verknüpfung zwischen einem Reiz, der als unkonditionierter Reiz („unconditioned stimulus“, US) bezeichnet wird und einem Ereignis, das als unkonditionierte Reaktion („unconditioned reaction“, UR) bezeichnet wird. 1. Unkonditionierter Reiz (Fleischpulver) 2. Konditionierter Reiz (Glockenton) o Konditionierter Reiz (Glockenton)
Definition: Ein unkonditionierter (= unbedingter) Reiz ist ein Vorgang, der immer eine bestimmte, unkonditionierte (unbedingte) Reaktion auslöst. Eine unkonditionierte (unbedingte) Reaktion ist eine Antwort auf einen bestimmten Reiz. Wird nun ein unbedingter Reiz zeitlich mit einem neutralen Reiz – im Falle der Versuche mit dem Pawlowschen Hund waren es Töne, Lichtsignale oder Gerüche – zusammen dargeboten, so erhält der neutrale die Qualität eines Signals und damit eine für den Organismus spezifische Bedeutung, im Falle des Hundes den der Fütterung. Dieser zunächst neutrale Reiz wird dann im Kontext der Pawlowschen Konditionierung als konditionierter Reiz („conditioned stimulus“, CS) bezeichnet. Nach wiederholter Paarung des bedingten und unbedingten Reizes erfolgt die Reaktion, die dann bedingte Reaktion („conditioned reaction“, CR) genannt wird, auch auf den bedingten Reiz allein. Schematisch sieht dieser Vorgang wie folgt aus:
o Unkonditionierte Reaktion (Speichelabsonderung) Unkonditionierter Reiz (Fleischpulver) o Reaktion (Speichelabsonderung) o Konditionierte Reaktion (Speichelabsonderung)
Auf die Wirkweise des Arzneimittelplazebos übertragen ergeben sich folgende Analogien: Die unkonditionierte Reaktion besteht in der Wirkstoffgabe und der therapeutisch erwünschten Wirkung. Der konditionierte Reiz besteht in dem Kontext einer Arzneimittelgabe (z. B. Ampulle auspa-
cken, brechen, injizieren), die zeitlich mit Wirkstoffzufuhr (die Ampulle ist ein Verum und enthält somit einen Wirkstoff ) gepaart ist. Die konditionierte Reaktion besteht somit aus dem Kontext der Arzneimittelgabe (Gabe einer Scheinarznei) und der therapeutisch erwünschten Wirkung.
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14
Plazebos und Plazebowirkungen: theoretische Konzepte und experimentelle Befunde
dingte Reaktionen müssen motivationsspeziisch gestaltet sein. Auf die Situation der Plazebogabe übertragen bedeutet das: Ein Plazeboefekt ist nur zu erwarten, wenn der Patient den Eintritt der Wirkung erwartet und erhot. Bei einem Patienten, der sich aufgegeben hat, sind Plazebogaben wirkungslos, allerdings dann häuig auch Verumgaben.
14.9.3
Suggestion (Instruktion, Präparatesuggestion)
Als Suggestion (lat.: suggerere [eingeben, einlüstern]) bezeichnet man einen seelischen Vorgang, bei dem der Betreffende dazu gebracht wird, ohne eigene Einsicht und unkritisch bestimmte Gedanken, Gefühle, Vorstellungen und Wahrnehmungen zu übernehmen (Faust 1995). 56 Probanden (Medizinstudenten) erhielten eine rosa und eine blaue Zuckerpille mit der Information, es handle sich um ein Aufputsch- bzw. um ein Beruhigungsmittel. Nur 3 der 56 Probanden gaben an, die Pillen seien wirkungslos gewesen. Am besten wirkte das blaue Plazebo: 72% die diese Pille einnahmen, fühlten sich schläfrig. Ein Drittel der Studenten gab als unerwünschte Wirkungen an: Kopfschmerzen, Benommenheit, tränende Augen, Magendrücken, Kribbeln in den Extremitäten u. a. (Blackwell et al. 1972). In einer älteren Studie (Gliedman et al. 1958) wurden überraschende therapeutische Wirkungen bei Patienten mit blutenden Ulzera erzielt: 70% wurden beschwerdefrei, wenn das Arzneimittel mit positiver Suggestion verabfolgt
wurde, aber nur 2,5%, wenn das gleiche Mittel mit dem Hinweis auf zweifelhate Wirksamkeit gegeben wurde (= Nozeboefekt). Zu ergänzen ist, dass nach neueren Studien Plazebos die subjektive Ulkussymptomatik gleich gut beeinlussen wie das H2-Antihistaminikum Cimetidin (Isenberg et al. 1983). Ein eindrucksvolles Beispiel für suggestive Einredung betrit ein Experiment mit Cofein, das in > Abb. 14.6 wiedergegeben ist. Hiernach verspüren mehr Probanden bei der Verabreichung eines unter Cofeininstruktion gegebenen bitteren Plazebos eine Cofeinwirkung als bei der Einnahme eines tatsächlichen Cofeinpräparates, das unter der Vorstellung eines Plazebos verabreicht wurde (Netter 1986). Wählt man eine andere Versuchsordnung, so lässt sich zeigen, dass auch die Erwartungshaltung ( > vorigen Abschnitt) die Hauptrolle spielen kann (Fillmore u. Vogel-Sprott 1992). Nicht nur im Experiment, auch in der klinischen Situation sind Einredungen wirksam. Suggestiv wirksam sind allein schon bloße Anweisungen des Arztes und Angaben zu den zu erwartenden Wirkungen. Beispielsweise konnten die charakteristischen klimakterischen Ausfallerscheinungen von Patientinnen innerhalb von 8 bis 28 Tagen allein durch Salzwasser gebessert werden (Wied 1958). Suggestiv wirksam sind schließlich auch Empfehlungen, die von Generation zu Generation, von Eltern an Kinder und von Patient zu Patient weitergegeben werden. Man denke an bestimmte traditionelle Arzneimittel oder an die von der Nachbarin empfohlene Medizin.
. Abb. 14.6 Fälle mit Ja - Antwort [%]
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Suggestion : Coffein
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0 Präparat Gruppe
Suggestion : Plazebo
0 Coffein I (n = 67)
bitteres Plazebo II (n = 52)
Coffein III (n = 69)
bitteres Plazebo IV (n = 52)
Häufigkeit einer subjektiv verspürten Coffeinwirkung bei verschiedenen Suggestionen zu Präparat (Verum) und Plazebo. (Aus Netter 1986 nach Lienert 1956)
14.9 Der Plazeboeffekt: Vorstellungen zum Wirkungsmechanismus
14.9.4
Widerspiegelung von Plazeboeffekten auf biochemischer Ebene
Dass Plazebos und plazeboäquivalente Arzneimittel in schlechtem Ansehen stehen, verdanken sie nicht zuletzt der weit verbreiteten Annahme, dass sie rein psychogen wirken. Psychische Wirkungen aber erscheinen uns weniger real als rein körperliche, dementsprechend Psychologen nicht als richtige Ärzte, anders als etwa die Chirurgen. Vor diesem Hintergrund ist es zur Einschätzung des Plazeboefekts wichtig zu wissen: Man ist nicht auf subjektive Eindrücke allein angewiesen, vielmehr lassen sich Plazeboefekte mittels biochemischer und physiologischer Methoden objektivieren.
14
sich eines körpereigenen Mechanismus, des Systems Opioidrezeptoren-Enkephaline bedient. Davon zu unterscheiden ist der analgetische Plazeboefekt der Konditionierung mit Analgetika. In diesem Falle der Konditionierung ist der Patient mit der Wirkung des Analgetikums durch frühere Anwendung vertraut. Das Analgetikum, beispielsweise Aspirin oder Ibuprofen, fungiert in diesem Fall als unkonditionierter Stimulus, das Scheinmedikament zusammen mit den näheren Umständen der Applikation als bedingter Reiz. ( > dazu Abschnitt 14.9.1 sowie die Infobox „Akquisition der klassischen Konditionierung“), d. h es wird der für das betrefende Analgetikum charakteristische Wirkungsmechanismus induziert, nicht das körpereigene Opioidsystem. Eine Antagonisierung durch Naloxon bleibt aus ( > Abb. 14.7).
Plazebos und Endorphine. Schmerzen, beispielsweise
postoperative Schmerzen, bleiben nach Plazebogabe bei einem beachtlichen Prozentsatz von Patienten, so genannten Respondern, aus. Wird an Responder der Opioidantagonist Naloxon verabreicht, so erleben sie eine Steigerung ihrer Schmerzen, nicht aber die Patienten, die auf Plazebogabe keine Schmerzreduktion erfahren. Bei Nonrespondern verändert Naloxon den Schmerzverlauf in keiner Weise. Naloxon schwächt bekanntlich die Endorphinwirkung ab: Somit wurde die Beteiligung der Endorphine an der Plazebowirkung im Schmerzbereich als wahrscheinlich angesehen (Levine et al. 1978; Rolf u. Brune 1982). Die Endorphinfreisetzung kann nicht auf chemischem Wege erfolgen, sonst wäre die Scheinarznei ja keine pharmakologisch inerte Substanz, vielmehr muss sie über psychische Begleitprozesse ausgelöst werden. Das ergibt sich indirekt auch daraus, dass die Plazebowirkung an das intakte Bewusstsein gebunden ist. Plazebogabe an Bewusstlose führt nach dem Erwachen aus der Anästhesie zu keiner Schmerzlinderung. Den wesentlichen psychischen Begleitprozess sieht man in der Erwartungshaltung, also darin, dass der Patient eine Schmerzlinderung erwartet und fest daran glaubt. Durch moderne bildgebende Verfahren – Positronenemissionstomographie (PET), funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) und Magnetenzephalographie (MEG) – lässt sich nachweisen: Die Scheinarznei aktiviert dieselben Gehirnregionen wie ein echter Wirkstof, wie beispielsweise das Morphin (Zubieta et al. 2005). Im vorangegangenen Abschnitt hatten wir die Situation, dass durch Einrede (verbale Instruktion) in dem Patienten eine Erwartungshaltung (Hofnung, Glaube) aufgebaut wird. Das Plazebo wirkt schmerzstillend, indem es
Stimulation des dopaminergen Systems durch Plazebogabe. Schmerz kann, wie wir sahen, durch zwei unter-
schiedliche psychologische Mechanismen gelindert werden: durch Erwartungshaltung via Opioidrezeptoren oder durch Konditionierung via Mechanismen, die nicht über Opioidrezeptoren ablaufen. Dieser Sachverhalt lässt sich generalisierend wie folgt formulieren: herapeutisch angewendete Arzneimittel können als unbedingte Stimuli wirken, sodass eine nachfolgende Plazebozufuhr als konditionierender Stimulus den therapeutisch induzierten Wirkungsmechanismus nachzuvollziehen imstande ist. Dafür bieten, wie im nächsten Abschnitt zu zeigen sein wird, Levodopa und Apomorphin, Substanzen, die zur Behandlung von Morbus Parkinson eingesetzt werden, ein überzeugendes Beispiel. Versuchspersonen waren Patienten mit Morbus Parkinson, die über einen längeren Zeitraum hin mit den pharmakologisch wirksamen Medikamenten Levodopa und Apomorphin behandelt worden waren. Mittels Positronenemissionstomographie (PET) wurde die Ausschüttung von endogenem Dopamin im Corpus striatum untersucht. Auch nach Applikation von Plazebo kommt es zu einer substantiellen Ausschüttung von Dopamin. Das bedeutet, dass eine Plazebozufuhr therapeutisch induzierte Mechanismen qualitativ und quantitativ erstaunlich exakt nachvollziehen kann (Fuente-Fernández et al. 2001). Plazebogaben sind bei der Parkinson-Krankheit allerdings ohne therapeutische Relevanz.
359
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Plazebos und Plazebowirkungen: theoretische Konzepte und experimentelle Befunde
. Abb. 14.7
Mechanismen der Plazeboanalgesie (Amanzio u. Benedetti 1999; verändert). Zur Versuchsanordnung > den Text. Bei Probanden, die noch nie Schmerzmittel eingenommen hatten, kommt der Plazeboeffekt durch Aktivierung endogener (körpereigener) Opioide zustande: Der analgetische Plazeboeffekt kann bei diesen Probanden durch Naloxon aufgehoben werden. Ausgelöst wird der Effekt allein durch die Erwartungshaltung. Bei Patienten, die früher schon mehrfach Analgetika eingenommen haben, bei denen sich also eine Verumtherapie als wirksam erwiesen hat, hängt die Antagonisierung des Plazeboeffekts von der Natur des Analgetikums und seinem Wirkungsmechanismus ab. War ein Opiat der unkonditionierte Stimulus, so ist die Plazebowirkung durch Naloxon aufhebbar. Bildeten jedoch nichtsteroidale Analgetika den unkonditionierten Stimulus, so erwies sich die Plazebowirkung als durch Naloxongabe nicht aufhebbar
! Kernaussagen
Die Plazebowirkung ist ein signifikanter Faktor in der Wirkung von Medikamenten und deswegen auch ein Objekt experimenteller Forschung in Medizin und Psychologie. Die Plazebowirkungen lassen sich erklären: x durch Messfehler im weiten Sinne wie die Regression zum Mittelwert, x durch Pawlowsche Konditionierung, die auf die individuelle Geschichte des einzelnen Patienten zurückgeführt werden kann, x durch Suggestion und die Induktion von Erwartung.
Der biologische Wirkmechanismus d. i. die Widerspiegelung der psychologischen Phänomene auf biochemischer und physiologischer Ebene ist weitgehend ungeklärt. Dass Plazeboeffekte auf biochemischer Ebene wirksam werden können, dafür gibt es gute Beispiele in der Endorphinfreisetzung bei Schmerz und in der Dopaminfreisetzung nach Plazebogabe, sofern der Patient Vorerfahrung mit dem Medikament hatte (Konditionierung).
14.10
Äußere Einflüsse auf die Plazebowirkung
14.10.1 Iatroplazebogenese: Der Arzt als Plazebo Unter dem Begrif der Iatroplazebogenese (griech.: iatros [Arzt]) werden diejenigen Einlüsse auf die Wirksamkeit zusammengefasst, die auf die Person des Arztes zurückzuführen sind. An erster Stelle ist hier das Arzt-PatientenVerhältnis zu nennen, das von mehreren Faktoren abhängt. Entscheidend zunächst ist das Vertrauen des Patienten in die Fähigkeit des Arztes. Eine Rolle spielt sodann die Art des Autretens. Ein kritischer, pessimistischer, unsicherer oder kurz angebundener Arzt induziert beim Patienten Zweifel, Ängste und u. U. Hofnungslosigkeit, die sich über das limbische System und die Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse auf das Immunsystem und damit auf die Abwehrlage des Organismus auswirken können (Henry u. Stephens 1977). Wichtig ist weiterhin, dass der Arzt selbst von seiner Verordnung überzeugt ist. Das wird bei einem Arzt, der, um Zeit bis zur Diagnose zu überbrücken, ein plazeboäquivalentes Arzneimittel verordnet, in einem geringeren Maße der Fall sein als wenn Arzt und Patient der gleichen therapeutischen Richtung zuneigen: beispielswei-
14.11 Einsatz von Plazebos: Reine Plazebos und plazeboäquivalente Arzneimittel
se der Homöopathie, der Anthroposophie oder fernöstlichen Arzneimittellehren. Für den Apotheker resultiert daraus das Axiom: Oberste Plicht bei seiner Beratertätigkeit muss es sein, unter keinen Umständen das Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Arzt zu stören. Die Bedeutung des Arztes am Zustandekommen von Plazeboefekten zeigt sich auch an der Höhe des Plazeboefekts bei klinischen Studien. Teilnehmer einer klinischen Studie erhalten mehr zeitliche Zuwendung als Normalpatienten. Dazu ein konkretes Beispiel (Gysling 1976): „Hypertoniker, die schon seit längerer Zeit mit einem wirksamen Antihypertensivum behandelt werden, nahmen an einer Doppelblindstudie zum Vergleich ihrer üblichen Arzneimitteldosis mit einem Plazebo teil. Bei Patienten, die nur noch mit Plazebos behandelt wurden, stieg der Blutdruck, allerdings im Mittel nicht auf die Werte, die ursprünglich, vor jeder Behandlung, gemessen worden waren: der Blutdruck dieser Patientengruppe stand unter dem Einluss der Plazebo- und der Umweltwirkung der Studie. Diejenigen Patienten hingegen, die ihr Antihypertensivum unverändert und in gleicher Dosis erhielten, wiesen im Verlauf der Studie eine zusätzlich Blutdrucksenkung auf. Obwohl für diese Gruppe sowohl die pharmakologischen als auch die Plazebovoraussetzungen konstant gehalten wurden, war die Gesamtwirkung größer als vor der Studie. Es handelte sich somit um eine Wirkungszunahme, die sich aus der vermehrten Aufmerksamkeit und Anteilnahme des Arztes im Rahmen der Doppelblindstudie erklärt.“
14.10.2 Beitrag von Arzneiform und Sensorik zum Plazebophänomen Arzneiform, Geruch, Geschmack und optischer Eindruck können zum Plazeboefekt beitragen, der wie mehrfach gesagt, jedem Arzneimittel zukommt. Arzneiform. Im Allgemeinen lassen sich mit Injektionen stärkere Plazeboefekte erzielen, außer bei Patienten, die Injektionen grundsätzlich ablehnen. Bei den Peroralia gelten sehr kleine Dragees als besonders wirkungsintensiv. Farben. Die Farben Rot, Orange und Gelb assoziieren mit stimulierend im physiologischen Sinne, die Farben Blau und Grün eher mit beruhigend und ausgleichend (Craen et al. 1996). Bei Angstzuständen besaßen grüne Dragees eine bessere Wirkung als rote oder gelbe gleicher Zusam-
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mensetzung, während depressive Patienten besser auf gelbe Dragees reagierten (Fricke 1981). Rot ist beliebt bei Hustensäten für Kleinkinder und bei Präparaten zur Behandlung pektanginöser Beschwerden, wird aber abgelehnt für Arzneimittel gegen Menstruationsbeschwerden und intestinale Störungen (Schindel 1967). Geruch und Geschmack. Die Geruchsnote phenolisch,
bekannt von hymol und hymianextrakt, assoziieren viele Menschen direkt mit Arzt und Apotheke und indirekt mit wirksamer Arznei. Vielleicht sollte man in dieser mehr psychologischen Richtung die Auklärung der bisher ungeklärten Wirkstoffrage des hymiankrautes suchen. Tief verankert ist auch die Assoziation bitterer Geschmack und Wirksamkeit. Der bittere Geschmack ist gleichsam ein Vertrauen erweckender Sofortefekt für die erhote Langzeitwirkung des Arzneimittels. Charakteristisch für diese Assoziation ist eine Stelle in einem Essay über süße und bittere Arznei des Schritstellers Ernst Penzoldt (1892–1955): „Ich bekomme Tabletten, niedliche, weiße, harmlose Plätzchen, an deren Heilkrat ich wohl oder übel glauben muss. Denn die Heilkrat ist unsichtbar … Die Gebrauchsanweisung hebt es als rühmenswerte Eigenschat hervor, dass die Tabletten völlig geruchlos, geschmacklos und farblos seien. Sie schmecken wirklich nach nichts, höchstens nach Gips … Da lobe ich mir doch den herzhaten, Zutrauen erweckenden aufpulvernden bitteren Geschmack, etwa der Chinatinktur, selbst wenn sie noch so bitter ist. Ich will es dem Mittel anschmecken, ob es hilt …“ (Penzoldt 1955).
14.11
Einsatz von Plazebos: Reine Plazebos und plazeboäquivalente Arzneimittel in verschiedenen Therapierichtungen
Die meisten Ärzte, die ihren Patienten Präparate verordnen, die in der wissenschatlichen Arzneitherapie als plazeboäquivalente Arzneimittel angesehen werden, sind von deren Wirksamkeit überzeugt. Von einer positiven Einzelbeobachtung an einem Patienten extrapolieren sie auf den nächsten, und damit übertragen sie auch die positive Erwartung, die sie mit dem betrefenden Medikament verbinden (Gross 1984). Eine kontrollierte Untersuchung vorzunehmen, dazu ist der einzelne Arzt selten willens, er
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Plazebos und Plazebowirkungen: theoretische Konzepte und experimentelle Befunde
hält es allein für vordringlich, dem Patienten zu helfen und seine Erfahrung zugunsten des Patienten einzusetzen. Häuig ist es auch das Fehlen unerwünschter Nebenwirkungen, das zugunsten eines plazeboäquivalenten Arzneimittels spricht, vor allem bei entsprechender negativer Vorerfahrung des Arztes, wenn es früher einmal nach Verordnung eines stark wirkenden Arzneimittels zu Zwischenfällen gekommen ist. Die evidenzbasierte Medizin (EBM) bietet den Vorteil, alle verfügbaren Quellen kritisch und nach transparenten Kriterien auszuwerten und zu herapievorschlägen zu kommen, die an die Stelle der beschränkten Einzelerfahrung treten kann. Davon machen allerdings die wenigsten Vertreter alternativer Heilmethoden Gebrauch. Kurz gestreit sei ein Problem, das den Apotheker angeht: das Problem der Selbstmedikation mit Arzneimitteln, die in Supermärkten, Reformhäusern und auch Apotheken angeboten werden. Auf diesem Feld spielen die plazeboäquivalenten Arzneimittel die Hauptrolle. Die pharmazeutischen Firmen sehen hier einen Wachstumsmarkt. Die Information zu den Produkten ist dabei ein besonders problematischer Aspekt. Die Herstellerirmen zögern nicht, alle möglichen hypothetischen Vorteile eines Produktes hervorzuheben, auch wenn sie sich bewusst sind, dass kaum etwas daran wahr ist. „Da wird großzügig von „Nahrung für das Immunsystem“, von einer „Steigerung der Abwehrkräte des Organismus“ oder von einer „anregenden und vitalisierenden Wirkung gesprochen“ (Gysling 1999). Besonders beunruhigend dabei ist die Suggestion, dass es möglich wäre, sich mittels Selbstmedikationsprodukten Gesundheit zu erkaufen, ohne den ungesunden Lebensstil zu ändern. Der Apotheker steht zwischen den Fronten: Einerseits ist er an sog. Zusatzverkäufen wirtschatlich interessiert, andrerseits drängt ihn seine pharmakologische Ausbildung ot dazu, von einem Kauf unnützer Mittel – man denke etwa an die illusionären Anti-Aging-Produkte – abzuraten. Die zweite Front ist dann nicht selten der Kunde, der kein Bedürfnis hat zuzuhören und die Beratung als lästig empindet (Gysling et al. 1999).
14.11.1 Plazeboäquivalente Arzneimittel in der internistischen Medizin Gegen die Mehrzahl aller diagnostizierbaren Krankheiten ist keine rationale Arzneitherapie bekannt. Jeder zweite oder dritte Patient einer ärztliche Praxis müsste somit ohne eine Rezeptverordnung die Sprechstunde verlassen. Jeder
weiß, dass der Patient ein ärztliches Rezept erwartet und dass er es in der Regel auch erhält. Wie sich die reale ärztliche Verordnungsweise aus Sicht der naturwissenschatlich orientierten Medizin ausnimmt, dazu gibt es, abgesehen von einigen älteren Hinweisen (Bourne 1978; Carter 1953; Handield-Jones 1953; Leslie 1954) so gut wie keine Untersuchungen. Man bleibt auf Mutmaßungen angewiesen. Plazeboäquivalente Arzneimittel dürten in folgenden Situationen eine Rolle spielen (Meister u. Niebel 1986): x zur Überbrückung der Zeit bis zur Diagnosestellung, besonders bei Verdacht auf somatoforme Störungen; x bei unheilbaren malignen oder degenerativen Erkrankungen. Auch der moderne Mensch setzt auf den Glauben, wenn es um Leben oder Tod, Gesundheit und Krankheit geht, wenn das Rationale ausgereizt ist (Habermann 1996); x als Vehikel zur Aufrechterhaltung der Arzt-PatientenBeziehung; x zum Ausschleichen oder Verdünnen einer nebenwirkungsreichen herapie. Beispiele für eine Pseudoplazebotherapie mit an sich differenten Arzneimitteln: x Die nichtindizierte Anwendung an sich hoch wirksamer Arzneimittel. Beispielsweise ist die Verschreibung von Antibiotika bei Erkältung in mehr als der Hälte aller Fälle aufgrund fehlender bakterieller Genese nicht indiziert (Gonzales et al. 2001; Mainous et al. 2003). Ein anderes Beispiel: Die Verschreibung von Hustensäten mit Dextromorphan oder Diphenylhydramin; sie wirken bei Kindern nicht besser als ein Sirup ohne Wirkstofe. Sodann als drittes Beispiel: die Verordnung von Tranquillizern unter Praxisbedingungen. x Unterdosierung von an sich wirksamen Arzneimitteln, weil der Arzt das Autreten unerwünschter Wirkungen befürchtet. Verständlicherweise liegen dazu keine Statistiken vor. Früher war die Überdosierung von Digoxin und Digitoxin gefürchtet, was das Ausweichen auf die Verordnung von Digitaloidpräparaten erklärt. Heutzutage dürten aus der Furcht heraus, eine Medikamentenabhängigkeit zu provozieren, Unterdosierungen von Opiaten und Psychopharmaka relevant sein. x Als plazeboäquivalente Arzneimittel werden sodann Arzneimittel verwendet, die zwar pharmakologisch aktive Stofe enthalten, deren Anwendung aber als nicht hinreichend belegt gilt. Dazu gehört beispielsweise die orale Anwendung von g-Strophanthin (= Ouabain) bei zerebralen Durchblutungsstörungen.
14.11 Einsatz von Plazebos: Reine Plazebos und plazeboäquivalente Arzneimittel
x Vitamine bei Erkrankungen, die in keinem Zusammenhang mit Vitaminmangelzuständen stehen. Beispielsweise wurden jährlich Tausende von Dosen Vitamin B12 an Patienten ohne perniziöse Anämie verabfolgt (Bourne 1972), oder es wurden über ein Jahrzehnt hin viele Krebspatienten mit hohen Dosen von Vitamin C (Ascorbinsäure) behandelt, bis schließlich eine kontrollierte Studie ergab, dass diese herapie nicht nur nichts nütze, sondern gesundheitsschädigend wirke (Moertel et al. 1985). x Tonika, Adaptogene, Umstimmungsmittel und Aphrodisiaka. x Einreibungen außerhalb der Dermatotherapie wie z. B. Herzsalben. Die Grenzen der herapie mit plazeboäquivalenten Arzneimitteln liegen dort, wo dem Patienten durch deren Einsatz eine wirksame herapie vorenthalten wird. Ot werden Mittel ohne stoliche Wirksamkeit adjuvant zu rationalen Pharmaka angewendet. Aus dem Jahre 1992 liegt zur Diabetestherapie eine Statistik vor. Zur Behandlung der Diabetiker mit Insulin wurden damals bundesweit etwa 800 Millionen DM ausgegeben, für die Mittel mit umstrittener Wirksamkeit hingegen über 1 Milliarde DM.
! Kernaussage
Arzneimittel mit pharmakodynamisch aktiven Arzneistoffen sind dann als plazeboäquivalente Arzneimittel zu betrachten, wenn sie bei Indikationen angewendet werden, zu denen keine validen klinischen Studien vorliegen; ferner auch dann, wenn sie in nicht therapeutisch wirksamen Dosen verordnet werden.
14.11.2 Anthroposophische Arzneitherapie Es handelt sich um eine für den Uneingeweihten schwer verständliche Weltanschauungslehre, die u. a. von antiker und mittelalterlicher Naturphilosophie und von kabbalistischem, gnostischem, fernöstlichem, christlichem und astrologischen Gedankengut beeinlusst ist. Außer seinem physischen Leib habe der Mensch einen Ätherleib, einen Astralleib. Der physische Leib des Menschen werde durch den Astralleib gestaltet. Wenn dieser Lehrsatz so viel wie psychophysische Wechselwirkung bedeutet, würde er auch für die naturwissenschatliche Medizin nach-
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vollziehbar sein. Die Behandlung mit anthroposophischen Arzneimitteln soll das Wesensgefüge des Menschen zur Neuordnung aufrufen und die Selbstheilungskräte im Ätherleib anregen. Mit diesem esoterischen Text dürfte ein Phänomen gemeint sein, das Stefan Zweig (1881– 1942) als „Heilung durch den Geist“ bezeichnet hat. Das gleichnamige Buch, das bis in die neueste Zeit aufgelegt wird (Zweig 1995) kann nur jedem Studenten zur Lektüre empfohlen werden, der sich mit Phänomenen psychophysischer Wechselwirkungen vertraut machen möchte und der nicht das Studium der großen Lehrbücher der psychosomatischen Medizin (z. B. von Uexküll 2003) bevorzugt. Rund 1200 anthroposophische Arzneistofe stehen zur Verfügung. Sie sind dem Mineral-, Planzen- und Tierreich entnommen. Für den Außenstehenden fallen die folgenden Eigenheiten auf: x Zahlreiche Körperteile von Schlachttieren wie Dens bovis, Lingua bovis, Pylorus sui bilden Ausgangsmaterialien. x Zwischen Wirkort und Potenzierung homöopathischer Mittel soll es Zusammenhänge geben (niedrige Potenzen wirken auf das Stofwechsel-GliedmaßenSystem, der mittlere Potenzbereich auf das „rhythmische System“, wodurch der Astralleib angeregt werden soll) und der hohe Potenzbereich zielt auf das NervenSinnes-System. x Die Zubereitungsart der Vegetabilisierung (Düngen von Planzen mit Mineralsalzen und Veraschen der Planze nach der Ernte). x Das Rhythmisieren von Planzensäten, indem die Säte einer wochenlang durchgeführten Tag/Nachtund Temperaturrhythmik (37 °C bei Tage und 4 °C nachts). Wer die therapeutischen Empfehlungen geistig einordnen will, sollte – so Starke (2005) – auch die allgemeinbiologischen Aussagen der Anthroposophen prüfen, wie etwa die, das Herz sei keine Pumpe, kein tätiges Organ, sondern werde passiv vom Blutstrom bewegt; die so genannten motorischen Nerven seien in Wirklichkeit sensorisch und nähmen die Bewegungen der Glieder wahr und die graue Hirnsubstanz diene vor allem der Ernährung des Gehirns, die eigentliche Denksubstanz sei die weiße – „überraschende hesen, schwierig zu beurteilen vor allem deswegen, weil dunkel bleibt, inwieweit die Worte im üblichen Sinne gebraucht sind“ (Starke 2005). Am größten ist der anthroposophische Einluss auf die
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Plazebos und Plazebowirkungen: theoretische Konzepte und experimentelle Befunde
Behandlung von Malignomen durch spezielle Zubereitungen aus der Mistel (Viscum album, Loranthaceae [IIB5a]). „Mit ihrem Wachstum auf Bäumen, ihrer Blüte fast noch im Winter, ihrem sich Schützen vor der Sommersonne im Laub der Wirtsbäume eigne sich die Mistel besondere Kräte an“ (zitiert nach Starke 2005). Auch nach 70 Jahren anthroposophischer Krebstherapie ist eine Wirksamkeit gegen Krebs nicht bewiesen (Näheres dazu > Kap. 21 [Lectine]). An diesem Festhalten entgegen objektiven Beweisen von mangelnder Wirksamkeit (Ernst 2004; Zeller 2005 [Übersicht]), erkennt man, ein wie wichtiges Element in den besonderen herapierichtungen, speziell in der Anthroposophie, der Glaube an die Arznei darstellt.
! Kernaussagen
Die anthroposophischen Arzneimittel entziehen sich durch ihren esoterischen Charakter dem wissenschaftlichen Nachweis der Arzneimittelwirkung durch den kontrollierten Doppelblindversuch. Klinische Arzneimittelprüfungen werden von den Anthroposophen grundsätzlich abgelehnt. Die an eine Substanz gebundene Wirkung spielt bei der Wirkstofffindung der Anthroposophie keine Rolle. Nicht nachvollziehbar sind auch Wahl der Arzneirohstoffe und deren Zubereitung zu Arzneien. Evidenzbasierte klinische Studien liegen keine vor: Daher stellen die Arzneimittel der Anthroposophie plazeboäquivalente Arzneimittel im Sinne der Definition dar.
14.11.3 Arzneimittel der Homöopathie Vor allem für die Arzneimittel der Homöopathie trit zu, dass sie zwar einen pharmakodynamisch wirksamen Arzneistof enthalten können (bis zu D4), allerdings viel zu stark unterdosiert, als dass sich mit einem pharmakodynamischen Efekt eine mögliche therapeutische Wirksamkeit erzielen ließe. Aus der Sicht der Homöopathie liegt jedoch kein verdünnter, sondern ein „potenzierter (dynamisierter)“ Wirkstof vor. Samuel Hahnemann (1755–1843), der Begründer der Homöopathie schreibt dazu das Folgende: „Es sind nicht die körperlichen Atome dieser hoch dynamisierten Arzneien, noch ihre physische oder mathematische Oberläche (womit man die höheren Kräte der dynamisierten Arzneien, immer noch materiell genug, aber vergeblich deuteln will), vielmehr liegt unsichtbarer Weise
in dem so befeuchteten Kügelchen oder in seiner Aulösung eine aus der Arznei-Substanz möglichst enthüllte und frei gewordene, speziische Arzneikrat, welche schon durch Berührung der lebenden Tierfaser auf den ganzen Organismus dynamisch einwirkt (ohne ihm jedoch irgendeine, auch noch so fein gedachte Materie mitzuteilen) und zwar desto stärker, je freier und immaterieller sie durch Dynamisation – geworden war“ (Organon der Heilkunst, 5. Aul. 1833, S. 71). Nach dem Verständnis der homöopathischen heoretiker soll dieses Phänomen mit den Gesetzen der Naturwissenschat erklärbar sein. Wenn in Hochpotenzen oberhalb der Loschmidt-Zahl kein einziges Molekül eines Wirkstofs vorhanden ist, so sei dies kein Argument gegen die stoliche Wirkung. Es käme nicht auf den Wirkstof an, sondern auf eine Ordnung, eine Information. Auch Tonbänder oder Disketten enthielten, ob bespielt oder unbespielt, kein Mehr an Molekülen, dennoch rufen die Tonträger, wenn man sie abhört, durchaus Wirkungen hervor. Aufsehen erregte ein in der angesehenen Zeitschrit Nature publiziertes Ergebnis, wonach – vereinfacht ausgedrückt – dem Wasser eine Struktur aufgeprägt bleibt von Substanzen, die früher einmal in ihm aufgelöst waren, aber jetzt nicht mehr darin enthalten sind. Vorbedingung dafür ist: Das Wasser musste potenziert (geschüttelt) werden, bloßes Verdünnen reichte nicht aus (Davenas et al. 1988). Dieses sog. Hochverdünnungsexperiment ließ sich in Gegenwart kritischer Zeugen allerdings nicht reproduzieren (Maddox et al. 1988). Dass die klinischen Efekte der Homöopathie gleichbedeutend mit Plazeboefekten sind, ergab eine Schweizer Metaanalyse der Universität Bern nach Auswertung von 110 plazebokontrollierten Studien (Shang et al. 2005). 110 homöopathischen Studien gegenübergestellt wurden dabei 110 Studien von konventionellen Mitteln. In einer Pressemitteilung des Deutschen Zentralvereins homöopathischer Ärzte wurde dieser Plazebovorwurf umgehend als „absurd“ bezeichnet. Somatische Wirkungen der Homöopathie seien in vielen Studien belegt, etwa bei Versuchen an Darmzellen. Die tägliche Praxis würde darüber hinaus die medizinische Qualität der Homöopathie belegen (referiert in Dtsch Apoth Ztg 2005, 135: 4651). Dem Außenstehenden zeigt diese Reaktion an, wie stark der Glaube der heutigen Homöopathen an die somatische Wirkweise homöpathischer Arzneien ist, ganz im Widerspruch zu der eingangs zitierten Aussage Hahnemanns, dass dem Organismus durch Dynamisation keine auch noch so feine Materie mitgeteilt würde.
14.11 Einsatz von Plazebos: Reine Plazebos und plazeboäquivalente Arzneimittel
Anhang: Die homöopathische Arzneimittelprüfung am Gesunden. Einflüsse von Nozeboeffekten. Die Homöo-
pathie (griech.: homoion [ähnlich]; pathos [Leiden]) ist ein auf Samuel Hahnemann (1755–1843) zurückgehendes, bis heute umstrittenes Heilverfahren. Es geht in der Homöopathie darum, dass eine Krankheit mit einem solchen Arzneimittel behandelt wird, das am gesunden Menschen ähnliche Symptome, ein „ähnliches Leiden“ also, hervorrut. Das homöopathische Mittel ahmt quasi die echte Krankheit nach und wegen seiner Ähnlichkeit mit der krankmachenden Störung bekäme es Zugang zu den geschwächten Regulations- und Abwehrmechanismen des erkrankten Organismus. Die Homöopathie versteht sich als eine Reiz- und Regulationstherapie (Ritter u. Wünstel 1988). Woher aber die Arzneimittel nehmen, die „Arzneimittelkrankheiten“ mit unterschiedlicher Symptomatik induzieren können? Um die entsprechenden Arzneimittel zu inden, werden die unterschiedlichsten Naturprodukte an gesunde Probanden verabreicht und die nach Applikation autretenden Symptome aufgeschrieben und vom Versuchsleiter zu einem Arzneimittelbild zusammengestellt. Wenn bei der Arzneimittelindung Substanzen oder Produkte angewendet werden, die im Sinne der Toxikologie toxische Symptome hervorrufen, zeigen die homöopathischen Arzneimittelprotokolle verschiedener Untersucher meist eine überzeugende Einheitlichkeit, ein Hinweis darauf, dass objektivierbare und reproduzierbare Untersuchungsergebnisse vorliegen. Daher wurde die Homöopathie auch als die Kunst bezeichnet, aus der Toxikologie therapeutische Indikationen abzuleiten (Wapler 1953). Anders ist die Situation hinsichtlich der Arzneimittelbilder von toxikologisch weitgehend inerten Arzneistofen, wie z. B. Kochsalz, Plantago major, Petroselinum sativum, Prunus spinosa, Populus tremuloides u. a. Die Symptomlisten dieser Arzneimittelbilder ähneln den Symptomlisten von Nozebosymptomen. > Tabelle 14.1 zeigt das Ergebnis einer Befragung zweier Populationen von Studenten aus den USA und Deutschland (Habermann 1997). Auf einer Liste von Missbeindlichkeiten konnten die zutrefenden Symptome angekreuzt werden. Nur 11% (Deutschland) bzw. 19% (USA) der jungen Leute erklärten sich völlig beschwerdefrei: Das Ergebnis zeigt, wie leicht es ist, bei Probanden Missbeindlichkeiten herauszufragen. In die homöopathische Arzneimittellehre wurden Hunderte von Symptomen übernommen, die der Prüling vermutlich schon vorher hatte oder die durch die Erwartungssituation oder eine im Anzug beindliche Krankheit ent-
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standen sind. Hinzu kommen Individualsymptome, die dem Prüling schon vorher als Ausdruck seiner tiefenpsychologischen Struktur eigen waren, somit überhaupt nichts mit einer Arzneiwirkung zu tun hatten (Ritter u. Wünstel 1988).
! Kernaussagen
Die Homöopathie beruht auf zwei theoretischen Grundannahmen, der Simileregel (Ähnlichkeitsprinzip) und dem Potenzierungsprinzip. Die zentrale These des Potenzierungsprinzips besagt, dass mit ansteigendem Potenzierungsgrad (stufenweiser Verdünnung) die arzneiliche Wirksamkeit zunimmt. Die naturwissenschaftliche Implausibilität der Gabe von Hochpotenzen (Potenzierung bis zu jenseits der Loschmidt-Zahl) verhindert bis heute eine allgemeine Akzeptanz des Therapieverfahrens Homöopathie (= Homöotherapie). Die Arzneimittel der Homöopathie stellen plazeboäquivalente Arzneimittel dar: Es kommt ihnen zwar eine auf die Psyche des Patienten zielende Wirksamkeit zu, nicht aber eine pharmakodynamisch-stoffliche.
14.11.4 Die Arzneimittel der Phytotherapie An Stelle einer Deinition, was Phytotherapie ist, sei auf > Tabelle 14.2 mit den 34 meist verordneten planzlichen
Arzneidrogen und auf > Tabelle 14.3 mit den Indikationen für die so genannten traditionell angewandten Phytopharmaka verwiesen. Die Arzneimittel der Phytotherapie bilden eine sehr inhomogene Gruppe. Einige, wie beispielsweise die Quellmittel vom Typus der Flohsamen oder die Anthranoid-Laxanzien sind pharmakodynamisch wirksame Medikamente; andere, und zwar die meisten, sind hingegen aus pharmakologischer Sicht (Klaus 1983; Habermann 1992) als plazeboäquivalente Medikamente anzusehen. Plazeboäquivalenz ist, wie schon mehrfach gesagt, nicht mit Unwirksamkeit gleich zu setzen. Dass die traditionellen Phytopharmaka ( > Tabelle 14.3) in die Gruppe der Pseudoplazeboarzneimittel einzuordnen sind, ergibt sich aus fehlendem statistischen Nachweis einer klinischen Wirksamkeit. Wie verhält es sich aber mit der Gruppe von Phytopharmaka zu denen klinische Studien vorliegen? Man hat sie als „rationale Phytopharmaka“ (Schulz u. Hänsel 2004) aus der Fülle der „traditionellen Phytopharmaka“ herauszuheben versucht ( > Tabelle 14.2).
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Plazebos und Plazebowirkungen: theoretische Konzepte und experimentelle Befunde
. Tabelle 14.2 Die von niedergelassenen Ärzten meist verordneten pflanzlichen Arzneizubereitungen, geordnet nach Verordnungshäufigkeit (Schulz u. Hänsel 2004) Indikation
Rang
Droge (Zubereitung)
1
Ginkgo-biloba-Blätter
Hirnorganisch bedingte Leistungsstörungen
2
Johanniskraut
Leichte bis mittelschwere depressive Störungen
3
Mistelkraut
Zur Palliativtherapie bei malignen Tumoren
4
Efeublätter
Katarrhe der oberen Luftwege
5
Weißdornblätter mit Blüten
Nachlassende Leistungsfähigkeit des Herzens
6
Sägepalmenfrüchte
Miktionsbeschwerden bei benigner Prostatahyperplasie
7
Saccharomyces boulardii
Durchfall, Pickel (Akne)
8
Brennesselwurzel
Miktionsbeschwerden bei Prostataadenom, Stadium I–II
9
Pelargoniumwurzel (Umckaloabo)
Infektionen der Atemwege
Rosskastaniensamen
Beschwerden bei Erkrankungen der Beinvenen
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Thymiankraut
Erkrankungen der Atemwege
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Mariendistelfrüchte
Toxische Leberschäden; unterstützend bei chronisch-entzündlichen Lebererkrankungen
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Pestwurzwurzel
Migräneprophylaxe
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Kürbissamen
Reizblase, Miktionsbeschwerden
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Mönchspfefferfrüchte
Prämenstruelles Syndrom, Mastodynie
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Bromelain
Postoperative und -traumatische Schwellungszustände
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Traubensilberkerzenwurzel (Wanzenkraut)
Klimakterische Beschwerden
18
Kamillenblüten
Krampfartige Beschwerden des Magen-Darmtrakts. Äußerlich in der Wundbehandlung (auch als Deodorans)
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Baldrianwurzel
Nervös bedingte Einschlafstörungen
20
Gräserpollen
Miktionsbeschwerden bei Prostatavergrößerung
21
Artischockenblätter
Dyspeptische Beschwerden
22
Goldrutenkraut
Entzündliche Erkrankung der Harnwege und bei Nierengrieß (zur Durchspülung)
23
Brennnesselkraut
Adjuvant bei rheumatischen Beschwerden
24
Teufelskrallenwurzel, afrikanische
Adjuvant bei degenerativen Erkrankungen des Bewegungsapparates
25
Salbeikraut
Zum Einreiben auf entzündliche Stellen vor allem im Bereich von Zahnfleisch und Gaumen
26
Beinwellwurzel
Äußerlich bei Prellungen und Distorsionen
27
Bärentraubenblätter
Entzündliche Erkrankung der Harnwege
28
Nachtkerzensamenöl
Äußerlich bei atopischem Ekzem
29
Uzarawurzel
Bei Diarrhoe
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Sennesfrüchte
Als Abführmittel
31
Hamamelisrinde
Lokal bei leichten Hautverletzungen, lokalen Entzündungen, auch Hämorrhoiden
32
Isländisch Moos
Reizlindernd bei Husten
14.11 Einsatz von Plazebos: Reine Plazebos und plazeboäquivalente Arzneimittel
14
. Tabelle 14.3 Traditionell angewandte Phytopharmaka (Auswahl), fast immer in Form von fixen Kombinationen aus 3 bis 10 oder mehr Bestandteilen Anwendungsgebiete
Wirkstoffe
Zur Besserung des Allgemeinbefindens
Coffein, Colasamen, Damianablätter, Ginsengwurzel, Hefe, Knoblauchzwiebel
Zur Besserung des Befindens bei Erschöpfungszuständen und zur Stärkung der Nerven
Muira-puama-Extrakt, Adenosin und verschiedene Vitamine
Zur Besserung des Befindens bei müden Beinen
Rosskastaniensamen, Aescin, Weinrebenblätter
Innerlich zur Unterstützung der Verdauungsfunktion; Alantwurzelstock, Angelikawurzel, Enzianwurzel, Galgantwurzelstock, zur Besserung des Befindens bei Unwohlsein Ingwerwurzelstock, Kardamomensamen. Melissenblätter, Nelken (Caryophylli flos), Pfefferfrüchte, Pomeranzenschale, Zimtrinde Zur Unterstützung der Wundheilung
Allantoin, Hamamelisrinde, Lebertran
Zur Unterstützung der Ausscheidungsfunktion der Niere
Alpenfrauenmantelkraut, Brennnesselkraut, Gartenbohnenhülsen, Hafer-Ganzpflanze
Zur Unterstützung der Verdauungsfunktion
Andornkraut, Artischockenblätter, Löwenzahnwurzel mit Kraut, Angelikaöl, Anisöl, Ingweröl, Muskatöl, Nelkenöl, Pfefferöl, Zimtöl
Zur Unterstützung der Schleimlösung im Bereich der Atemwege
Anis, Eukalyptusblätter, Fenchel, Holunderblüten, Isländisch Moos, Latschenkiefersprossen, Lindenblüten, Malvenblüten, Primelwurzel, Quendelkraut, Spitzwegerichkraut, Süßholz, Tannenspitzen, Thymian, Wollblumen
Zur Besserung des Befindens bei nervlicher Belastung
Anisöl, Baldriantinktur, Johanniskraut, Kampfer, Pfefferminzöl, Rosmarinöl
Zur Unterstützung der Herz-Kreislauffunktion bei nervlicher Belastung
Baldrianwurzel, Ginsengwurzel, Hopfenzapfen, Knoblauchzwiebel, Lecithin, Melissenblätter, Mistelkraut, Weißdornbeeren
Zur Stärkung der Atemwege
Isländisches Moos
Sie sind zunächst rein formal unserer Deinition entsprechend ( > Einleitung, S. 341) als Arzneimittel der wissenschatlichen Medizin anzusehen. Das Problem liegt nicht im generellen Fehlen klinischer Studien – bisher sind an die 1000 klinische Studien durchgeführt und in über 60 Reviews zusammengefasst worden (Linde 2003) – das Problem liegt sehr häuig in fehlender Aussagekrat dieser Studien. Die randomisierte plazebokontrollierte Doppelblindstudie (RCT) ist heute der allgemein anerkannte Standard der klinischen Arzneimittelprüfung. Allerdings ist gerade die RCT für viele Phytopharmaka mit besonderen Schwierigkeiten verknüpt, so für Phytopharmaka, die bei chronischen Krankheiten (rheumatoide Arthritis, Demenz) oder die bei psychischen oder psychosomatischen Beschwerden mit eingesetzt werden. In diesen Fällen sind die Plazeboefekte besonders hoch, sodass die gemessenen
Efekte kaum über dem Plazeboefekt liegen. Die Phytopharmakawirkungen sind durch schwache pharmakodynamische Wirkefekte ausgezeichnet, sodass es einer sehr großen Patientenzahl bedarf, um statistische Signiikanz zu erreichen. Sehr häuig ist auch die Studiendauer der Studien viel zu kurz angesetzt, was besonders bei chronisch verlaufenden Krankheiten ins Gewicht fällt. Sehr häuig werden nicht direkt gesundheitsfördernde (therapeutische) Efekte, sondern Surrogatparameter gemessen, von denen dann vermutet oder auch suggeriert wird, dass sie ein Maß für den therapeutischen Nutzen sind. Zu diesen allgemeinen Aussagen werden im Anschluss einige konkrete Beispiele gebracht. Crataeguspräparate. Als Indikation werden für normier-
te Crataeguspräparate Herzinsuizienz (Stadium II bis III
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Plazebos und Plazebowirkungen: theoretische Konzepte und experimentelle Befunde
nach NYHA) beansprucht. Im Zeitraum von 1981 bis 2002 wurden 17 mehrheitlich kontrollierte klinische Studien über einen Zeitraum von 21 bis 112 Tagen durchgeführt. Objektivierbare Zielparameter waren fahrradergometrische Arbeitstoleranz, das Druck-Frequenz-Produkt, die nichtinvasiv gemessene Ejektionsfraktion oder die anaerobe Schwelle (Schulz u. Hänsel 2004 [Übersicht]). Alternativ zu Crataeguspräparaten stehen dem Arzt u. a. ACEHemmer und die α1-selektiven Betarezeptorenblocker zur Verfügung. In zahlreichen klinischen Studien wurde nachgewiesen, dass ACE-Hemmer die Lebenserwartung um 30% erhöhen und in 6 großen Studien mit Metoprolol wurde eine Reduktion der Letalität um 28 bis 30% nachgewiesen. Für Crataeguspräparate sind derart überzeugende herapieerfolge nicht nachgewiesen. Näheres zur Droge, zu ihren Inhaltsstofen und Wirkungen > S. 1218. Johanniskrautpräparate. Bis zum Ende des Jahres 2002
wurden die Ergebnisse von 37 kontrollierten herapiestudien mit Johanniskrautextrakten publiziert. Darin waren mehr als 4000 Patienten eingeschlossen, mehrheitlich solche mit leichten und mittelschweren Depressionen. Die Studien wurden im Vergleich mit Plazebo sowie im Vergleich mit trizyklischen Antidepressiva (Amitriptylin), nichtselektiven Monoaminorückaufnahmehemmern (Imipramin, Maprotilin) und selektiven Serotoninrückaufnahmeinhibitoren (Sertralin) durchgeführt. Ohne in Details zu gehen, zeigten sich mehrheitlich Überlegenheiten gegen Plazebo und Gleichwertigkeit mit den synthetischen Antidepressiva (Schulz u. Hänsel 2004 [Übersicht]). Die therapeutische Wirksamkeit von Johanniskrautpräparaten gegen leichte und mittelschwere Depressionen scheint somit bewiesen zu sein. Allerdings müssen die Studienergebnisse diferenziert betrachtet werden, da Studien zur antidepressiven Wirkung von Arzneimitteln aufgrund der Vielschichtigkeit des Krankheitsbildes generell schwierig ist. Des Weiteren wird die Aussagefähigkeit der bisher vorliegenden Studien durch die relativ kurze Studiendauer begrenzt. Aus pharmazeutischer Sicht stimmt bedenklich, dass unterschiedlich zusammengesetzte Präparate – Präparate mit Hyperforin und hyperforinfreie Präparate – beide gleich wirksam sind. Auch amerikanische herapierichtlinien äußern sich skeptisch gegenüber den positiven Befunden, da hier ein eindeutiger „publication bias“, also die bevorzugte Publikation positiver Daten, nachzuweisen sei (Williams et al. 2000). Eine methodisch einwandfreie multizentri-
sche Studie aus den USA fand keinen Unterschied von Johanniskrautextrakt gegen Plazebo (Shelton et al. 2001), ebenso wenig eine Studie bei mittelschwerer Depression (Hypericum Depression Trial Study Group 2002). Eine Metaanalyse (Linde et al. 2005) kam zu dem Ergebnis: Zwar ergäbe sich aus den plazebokontrollierten Studien mit keinen oder nur leichten methodischen Mängeln eine statistisch gesicherte Wirksamkeit bei der leichten bis mittelgradigen Depression, doch sei dieser Efekt quantitativ gering und gerade bei neueren methodisch guten Studien nicht oder kaum existent. Auch eine jüngst publizierte Studie (Bjerkenstedt et al. 2005) kann als Bestätigung dieser Aussage gelten (Lohse et al. 2005). Zur Droge, zu ihren Inhaltsstofen und Wirkungen > Abschnitt 26.10. Die Problematik exzessiver Plazebowirkungen ist für alle Antidepressiva, speziell auch für die stark wirksamen synthetischen Antidepressiva charakteristisch. Nach einer Metaanalyse (Montcrief et al. 2001) hatten 3 von 9 klinischen Studien eine höhere Plazeborate als das Verum (!). Ferner ist ein Fall bekannt, in dem eine zu hohe Plazeborate die Entwicklung eines Antidepressivums verhindert hat (Enserink 1999). Aus einer Metaanalyse (Kirsch u. Sapirstein 1998) lässt sich die Schlussfolgerung ziehen: Bei synthetischen Antidepressiva entfallen 25% der Gesamtwirksamkeit auf die pharmakodynamische Wirkung der Arzneimittel, 50% auf Plazeboefekte und weitere 25% auf unspeziische Efekte (gemeint sind vermutlich statistische Fehler im weiten Sinne). Baldrianpräparate. Baldrian gilt als Schlaf- und Beruhi-
gungsmittel. Die verschiedenen Präparate unterscheiden sich in ihrer chemischen Zusammensetzung und sind ot nicht vergleichbar. Bisher wurden insgesamt 9 klinische Studien durchgeführt. Autoren, die diese Studien in Richtung einer Metaanalyse auswerteten, kommen zu voneinander abweichenden Ergebnissen: x Der pharmakodynamische Efekt von Baldrian trägt dazu bei, dass der an Schlafstörungen leidende Patient im Verlaufe der mindest 2- bis 4-wöchigen Einnahme des Präparates zu seinem physiologischen Schlaf zurückindet (Schulz u. Hänsel 2004). x Der klinische Nachweis für die Wirksamkeit von Baldrianpräparaten ist nicht schlüssig. Um seine Wirksamkeit zu zeigen, bedarf es methodisch besser angelegter Studien (Stevinson u. Ernst 2000). Die Gegenüberstellung zeigt ein Phänomen auf, das als das der verdeckten Voreingenommenheit (engl.: bias) be-
14.11 Einsatz von Plazebos: Reine Plazebos und plazeboäquivalente Arzneimittel
zeichnet werden kann. Beiden Autorengruppen legen ihrem Urteil dieselben Befunde zugrunde, um dann doch zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen zu gelangen. Ginkgoextrakt. Der standardisierte Ginkgoextrakt (50:1) steht in Konkurrenz zu den synthetischen Nootropika (Synonym: Antidementiva). Nootropika sind Arzneistofe, die die höheren Hirnfunktionen wie Gedächtnis, Lern-, Aufassungs-, Denk- und Konzentrationsfähigkeit verbessern sollen. Nootropika bzw. Antidementiva werden zur Behandlung der Altersdemenz empfohlen, deren häuigste Ursache die Alzheimer-Krankheit ist (Rommelspacher 2002). Die Wirksamkeit zu beurteilen bietet größte Schwierigkeiten. In der Richtlinie der Europäischen Gemeinschat werden als Hauptziele der Behandlung der Alzheimer-Krankheit eine symptomatische Besserung, eine Progressionsverzögerung der Symptome und eine Primärprävention der Krankheit im präsymptomatischen Stadium genannt. Präparate mit normierten Ginkgoextrakten gehören zu den klinisch am besten untersuchten Phytopharmaka. Im Zeitraum von 1975 bis 2000 wurden 40 kontrollierte klinische Studien bei Patienten mit Hirnleistungsstörungen durchgeführt (Schulz u. Hänsel 2004 [Übersicht]). Damit kann formal die Anwendung von Ginkgopräparaten als rational begründet angesehen werden. Allerdings fehlt der Konsens der wissenschatlichen Gemeinschat. So haben Ginkgopräparate keine Aufnahme in wichtige deutsche und amerikanische herapieempfehlungen gefunden (Doody et al. 2001; Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschat 2004). Gründe für die Nichtempfehlung sind keine angegeben worden, doch wird allem Anschein nach die Aussagekrat der zu Ginkgo vorgelegten herapiestudien angezweifelt. Viele ältere Studien würden mangelhate Methoden verwenden und neuere Studien hätten allenfalls zu marginalen Ergebnissen geführt (Schwabe 2004 [Übersicht]). In den USA werden Ginkgoextrakte als Nahrungsergänzungsmittel vertrieben und tragen den Hinweis, dass diese Produkte nicht für die Diagnose, Behandlung, Heilung und Prävention bestimmt sind. Diese Position wird der Ginkgotherapie wahrscheinlich nicht gerecht. Die kontrollierte klinische Studie beantwortet die Frage, ob die Medikamentengabe einen speziischen (pharmakodynamischen) Nettoefekt gegenüber Plazebo hat. Bei der Langzeitanwendung von Ginkgo bei Hirnleistungsstörungen im Alter wollen Patient und Arzt letztlich hingegen wissen, welcher Efekt als
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Ergebnis der Medikamentengabe überhaupt zu erwarten ist – beispielsweise auch im Zusammenspiel mit anderen therapeutischen Maßnahmen hat. Dieser Efekt ist nicht einfach identisch mit dem Efekt, der in klinischen Studien zu sehen ist (Walach u. Sadaghiani 2002). Für die vergleichbare Situation einer Langzeittherapie bei rheumatoider Arthritis wurde aufgezeigt, dass bei chronischen Erkrankungen der Wert randomisierter kontrollierter klinischer Studien zum Wirksamkeitsnachweis begrenzt ist (Pincus u. Stein 1997). Es ist daher gerechtfertigt, wenn in Deutschland Ginkgopräparate weiterhin auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden dürfen. Umckaloabo-Präparate. Sie enthalten einen Extrakt aus
Pelargonium-sidoides-Wurzel. Die Mittel wurden zunächst als planzliche Antibiotika angesehen, werden aber neuerdings in der Roten Liste bei den Expektoranzien aufgeführt und vom Hersteller für die Behandlung von Atemwegsinfektionen empfohlen. Es wurden bisher 5 kontrollierte klinische Studien vorgelegt, 3 davon mit der Indikation Bronchitis und 2 mit der Indikation Tonsillitis (Schulz u. Hänsel 2004 [Übersicht, S. 229]). In die Studien eingeschlossen waren insgesamt 854 Patienten, darunter 263 Kinder im Alter von 5 bis 12 Jahren. 3 der Studien wurden gegen Plazebo getestet, eine gegen Acetylcystein und 1 gegen eine symptomatische herapie (Gurgeln, Prießnitz-Wickel). Die konirmatorische Zielgröße war bei allen 5 Studien die Abnahme halbquantitativer Summen-Scores von jeweils für die akute Bronchitis bzw. Tonsillopharyngitis typischen Symptomen. Aus der Sicht der Phytotherapie ist damit die Wirksamkeit von Wurzelextrakt erwiesen. Aus der Sicht der wissenschatlichen herapie genügen diese Studien dagegen nicht zum Wirksamkeitsnachweis (Kern 2005), im Wesentlichen mit folgender Begründung: Die Mehrzahl der Studien sind lediglich unkontrollierte, ofene Beobachtungsstudien, die nur den üblichen Spontanverlauf der akuten Bronchitis bei Kindern mit Abklingen der Symptome nach 7–14 Tagen widerspiegeln. Eine plazebokontrollierte Studie an Patienten mit akuter Bronchitis, die eine signiikante Senkung des Bronchitis-Scores (5,9 versus 3,2) nachwies, bleibt in ihrer Bedeutung unklar, da kein Erregernachweis geführt worden ist.
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Plazebos und Plazebowirkungen: theoretische Konzepte und experimentelle Befunde
! Kernaussagen
Pflanzliche Arzneimittel (Phytopharmaka) sind definiert als Stoffe aus Pflanzen, Pflanzenteilen und Pflanzenbestandteilen in bearbeitetem oder unbearbeitetem Zustand. Traditionelle Phytopharmaka können ohne Wirksamkeitsnachweis angeboten werden. Sie stellen damit plazeboäquivalente Arzneimittel dar. Eine Teilmenge der auf dem Markt angebotenen Phytopharmaka beansprucht definierte Indikationsgebiete. Diese Indikationsansprüche müssen belegt werden, wobei allerdings nicht notwendigerweise die kontrollierte klinische Studie gemeint ist. Eine bestimmte Zahl der als Arzneimittel zugelassenen Phytopharmaka hat die Zulassung mittels Vorlage klinischer Studien erreicht. Als Beispiele wurden Crataegus-, Johanniskraut-, Ginkgo-, Baldrianund Umckaloabopräparate besprochen. Diese Präparate sind aus der Sicht der Phytotherapie als Medikamente für eine wissensbasierte (evidenzbasierte) Therapie geeignet. Diese Meinung wird jedoch von der wissenschaftlichen Gemeinschaft nicht geteilt; Die Studien sind zwar formal zur Erlangung einer Zulassung geeignet, erfüllen jedoch nicht immer die methodischen Ansprüche. Ob es sich also um plazeboäquivalente Arzneimittel handelt oder nicht, bleibt somit umstritten.
14.11.5 Traditionelle chinesische Medizin Der Arzneigebrauch bildet seit mehr als zwei Jahrtausenden den Mittelpunkt der chinesischen Medizin. Eine kaum übersehbare Vielzahl von Arzneidrogen ist im Laufe der Jahrhunderte erprobt und aufgrund von Kriterien, die heute nur noch selten nachzuvollziehen sind, in den Arzneischatz der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) aufgenommen worden. Das Kap. 16 dieses Lehrbuches informiert über Drogen der TCM, die auch in westliche Länder exportiert werden. Die Pharmakotherapie der TCM ist mit der westlichen Medizin nicht kompatibel, schon deshalb nicht, weil die Indikationsangaben der TCM nicht ohne weiteres in die Sprache der naturwissenschatlich-orientierten Medizin übersetzbar ist. Man spricht daher auch vielfach von einer Ergänzung der westlichen durch die fernöstliche Medizin. Es ist
schwer, bei Arzneimitteln der TCM die Rolle des Plazeboanteils fall- und medikamentenbezogen abzuschätzen, da es so gut wie keine randomisierten, plazebokontrollierten Doppelblindstudien gibt. Edzard Ernst (2002) hat rund 3000 chinesische Studien ausgewertet; enorme methodologische Fehler waren häuig, Die meisten Studien waren nicht verblindet, viele viel zu klein und zu kurz, mit inadäquaten Kontrollinterventionen und ohne Nachbeobachtung („follow-up“). Damit sind die Mittel der TCM deinitionsgemäß als plazeboäquivalente Arzneimittel anzusprechen. Gerade bei Arzneimitteln, deren therapeutischer Nutzen als nicht sehr hoch angesetzt wird, ist es wichtig, dass sie dem Anwender auf keinen Fall schaden. Allein nach Deutschland werden jährlich ca. 5000 Tonnen Drogen der TCM eingeführt. Die begleitenden Prüfzertiikate entsprachen nicht in allen Fällen den Anforderungen der Apothekenbetriebsordnung. Nachprüfungen ergaben in einigen Fällen Kontaminationen mit zu hohen Belastungen an Schwermetallen und Pestiziden sowie Kontaminationen mit Aristolochiasäuren und Alatoxinen (Schubert-Zsilavecz 2004). Auch besteht eine gewisse Gefahr durch Verwechslungen, wie ein besonders tragischer Fall aus dem Jahre 1993 zeigt. Bei etwa 80 jungen Frauen, die Schlankheitskapseln aus chinesischen Heilkräutern geschluckt hatten, traten schwerste Nierenerkrankungen auf, die bis zum Nierenversagen führten und in einigen Fällen Transplantationen notwendig machten (Schmeiser 1993).
! Kernaussagen
Die Anwendung von Arzneimitteln der traditionellen chinesischen Medizin ist nur sinnvoll durch Ärzte, die auch die Theorie und Praxis der traditionellen chinesischen Medizin beherrschen. Bei jeder Arzneigabe wird der therapeutische Effekt nach westlichem Verständnis durch das Arzneimittel und durch die mit seiner Verordnung einhergehende Beeinflussung der Psyche des Patienten beurteilt. Eine derartige Trennung ist dem Wesen der TCM fremd. Daher stellen die Arzneimittel der TCM plazeboäquivalente Arzneimittel im Sinne der Definition dar. Das bedeutet: Es fehlen Belege dafür, ob die Medikation nutzt oder unwirksam ist oder evtl. auch unerwünschte Nebenwirkungen aufweist.
14.12 Adjuvant bei Krankheiten ohne langfristig erfolgreiche Therapie
14.12
Indikationen für plazeboäquivalente Arzneimittel
Um Missverständnisse auszuschließen, sei vorab noch einmal betont: Plazeboäquivalente Arzneimittel sind kein Ersatz für eine rationale Arzneitherapie. Für viele Krankheiten, Leiden und Beschwerden gibt es jedoch keine wirksamen Arzneimittel. Ob der Arzt nun, gleichgültig, ob bewusst oder unbewusst, ein plazeboäquivalentes Arzneimittel in seinen herapieplan einbezieht, für den Patienten ist das ein Zeichen, dass sich der Arzt ernsthat um ihn kümmert. „Doctors look for cure, but patients still want care“ (Spiro 2000). Die Arzneimittel der alternativen herapierichtungen sind dazu in besonderer Weise geeignet, da sie im Unterschied zu den meisten Arzneimitteln der wissenschatlichen Medizin in der Regel nebenwirkungsarm sind. Wichtige Situationen, in denen die Anwendung von plazeboäquivalenten Arzneimitteln erwogen werden kann, sind: x wenn der Patient bestimmte rationale Arzneimittel partout nicht wünscht (Cortison, Hormone, Ablehnung von Aspirin in der Pädiatrie durch die Mütter), x wenn die Heilungschancen gering sind und dann ergänzend zu den nichtmedikamentösen herapieversuchen als Hilfsmittel einer verstehenden Psychologie, x zur Behandlung von funktionellen Störungen
14.12.1 Adjuvant bei Krankheiten ohne langfristig erfolgreiche Therapie In die Gruppe von langfristig schwer zu therapierenden Krankheiten zählen: rheumatische Erkrankungen, Arthrosen, degenerative Störungen des Gehirns, AlzheimerKrankheit, Parkinson-Krankheit, multiple Sklerose, einige Infektionskrankheiten (darunter chronische Hepatitis oder das erworbene Immunschwächesyndrom [AIDS]), Suchtkrankheiten und die meisten malignen Tumore. Am größten ist das Angebot gegen AIDS und gegen Krebs, sodass kurz darauf eingegangen sei. Man schätzt, dass zwischen 60 und 80% der Patienten mit HIV und AIDS zumindest zeitweise nicht näher geprüte Planzenprodukte anwenden. Bevorzugt werden Produkte, denen eine immunstimulierende Wirkung nachgesagt wird. Dazu zählen: x Echinaceapräparate wie Frischplanzenpresssäte aus Echinacea purpurea und alkoholische Extrakte aus
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Echinaceae pallidae radix. Aufgrund der immunstimulierenden Wirkung sollen die Produkte helfen, vor allem bakterielle, aber auch durch Pilze bedingte Infektionen abzuwehren. Es liegen keinerlei Studien für diese Indikationen vor. x Johanniskrautpräparate haben viruzide Eigenschaften, die auf dem Vorkommen der Hypericine beruht. Die bisherigen Fallberichte und Studien zur Wirksamkeit wurden mit reinen Hypericinen durchgeführt; sie reichen aber noch nicht aus, zu entscheiden, ob eine additive herapie mit antiviralen AIDS-Medikamenten lebensverlängernd wirkt (Peters 1955). Johanniskrautpräparate zeigen Wechselwirkungen mit Proteaseinhibitoren und nichtnukleosidanalogen RTHemmern. Diese HIV-Medikamente werden in der Leber massiv schneller abgebaut, sodass Hypericumextrakte u. U. indirekt schaden können. x Krallendornpräparate enthalten Extrakte aus der Wurzel von Uncaria tomentosa (Willd.) DC. (Familie: Rubiaceae [IIB22d]), einer in Peru heimischen Liane. Neben einer Fülle von Nahrungsergänzungsmitteln (USA) ist auch ein in Österreich als Arzneimittel zugelassenes Präparat auf dem Markt. Die Wurzel enthält ca. 2% tetra- und pentazyklische Oxindolalkaloide. Pentazyklische Vertreter wirken im Tierversuch antiviral. Bis jetzt liegen keine unabhängigen Untersuchungen über die Wirksamkeit bei Patienten mit HIV und AIDS vor, auch keine über mögliche Wechselwirkungen mit etablierten HIV-Medikamenten. Am intensivsten erforscht, aber auch am hetigsten umstritten, sind die Mistelpräparate zur Krebstherapie. Die auf dem Markt beindlichen Präparate sind unterschiedlich zusammengesetzt, somit der chemischen Zusammensetzung nach nicht vergleichbar. Es lassen sich zwei Präparatetypen unterscheiden: x planzliche Präparate, die wässrige auf Mistellectin normierte Auszüge enthalten und x anthroposophische Präparate mit dem bekannten Iscador als Prototyp. Beim Iscador handelt es sich um ein durch Fermentation hergestelltes Produkt. Es enthält außer Extraktivstofen der Mistel auch abgetötete Milchsäurebakterien (Lactobacillus brevis und Lactobacillus plantarum) und Stofwechselprodukte von Milchsäurebakterien, die zu den immunologischen Adjuvanseigenschaten des Präparates beitragen (Bloksma et al. 1979).
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Plazebos und Plazebowirkungen: theoretische Konzepte und experimentelle Befunde
Aus der Sicht der naturwissenschatlich orientierten Medizin steht fest: Es gibt keinen eindeutigen Beweis dafür, dass die Misteltherapie bei menschlichen Tumoren wirksam ist (Zeller 2005). Somit stellen die Mistelpräparate durchweg plazeboäquivalente Arzneimittel im deinierten Sinne (Abschnitt 14.1) dar. Die anthroposophische Misteltherapie verfolgt anders als die naturwissenschatliche Tumortherapie nicht das Ziel der direkten Tumorschädigung. Vielmehr solle sie die Lebensqualität verbessern und die Eigenaktivitäten des Patienten fördern; sie bietet somit dem Patienten eine Hilfe, seine Krebserkrankung psychisch zu bewältigen (Nagel 2005; Saller 2005). Genau diese psychische Beeinlussung erwartet man von einer Plazebowirkung.
14.12.2 Zur Behandlung funktioneller (somatoformer) Störungen Nomenklatorische Vorbemerkungen. Etwa jeder vierte Patient geht zum Arzt mit körperlichen Beschwerden, die keine oder keine hinreichende organische Ursache haben. Psychovegetative Störungen äußern sich wie körperliche
Krankheiten, ohne aber rein körperliche Krankheiten zu sein. Störungen dieses Typs bezeichnet man seit 1980 nach ICD-10 (International Classiication of Diseases, 10. Revision) als somatoforme Störungen. „Somatoforme Störungen“ ist eine Diagnose, die bislang noch wenig bekannt ist. Ältere Bezeichnungen, die dieses Störungsbild umschreiben sind: psychovegetative Störungen, funktionelle Syndrome, körperliche Beschwerden ohne organischen Befund, larvierte Depression, Neurasthenie, Psychosomatose, vegetative Dystonie und vegetative Dysregulation. Die Symptomatik funktioneller Störungen ist außerordentlich vielfältig. Sie betrefen einmal lokalisierte organische Funktionsstörungen (kardiale Störungen, gastrointestinale Störungen), vegetative Störungen (Schweißausbrüche, Obstipation), allgemeine somatische Missempindungen (Mattigkeit, Unbehagen, Hitzewallungen), Angst, Unruhe, Niedergeschlagenheit, Nervosität ( > Abb. 14.8). Funktionelle Störungen, die sich vorwiegend körperlich bemerkbar machen, betrefen insbesondere Kreislaufunktionen, Verdauungsfunktionen, Schlafstörungen, Nervosität und Sexualfunktion, z. B. prämenstruelle Spannungen. Funktionelle Beschwerdebilder können die Symptomatik fast aller Krankheiten der inneren Organe nachah-
. Abb. 14.8 Konflikte
Überbelastung
Reizbarkeit
Unterbelastung (Langeweile)
Nervosität
Arznei- und Genussmittelmißbrauch
Angst
depressiver Zustand
somatische Missempfindungen, vegetative Störungen
Herz
Verdauungsorgane
Gefäße
Haut
Stenokardien, Rhythmusstörungen, Herzrasen, etc.
Reizmagen, Gastritis, Durchfall, Blähungen etc.
Hypertonie, Hypotonie, Kollaps, Migräne
Schweißausbrüche, Piloarrektion, vasokonstriktorische Blässe, etc.
Auslösebedingungen psychovegetativer Störungen
Störungen des Schlaf-WachRhythmus
14.12 Adjuvant bei Krankheiten ohne langfristig erfolgreiche Therapie
men, sodass die Diferentialdiagnose für den Arzt schwierig sein kann. Es kann sich um psychovegetative Störungen handeln, aber auch um Symptome, wie sie im Prodromalstadium einer Infektionskrankheit, bei chronischen Infekten und Tuberkulose, einer Endokarditis oder im Anfangsstadium bösartiger Krankheiten beobachtet werden. Die Diagnose einer funktionellen Störung ist eine negative Diagnose, das heißt, sie kann nicht positiv durch einen bestimmten Befund bewiesen werden, vielmehr ergibt sie sich erst nach Ausschluss aller anderen Erkrankungen. Der Arzt beindet sich in dem Dilemma, eine ernste Krankheit nicht rechtzeitig zu erkennen oder eine funktionelle Störung wie eine körperliche Krankheit zu behandeln. In diesem Übergangsstadium, ehe die diagnostische Ebene erreicht ist, stehen dem Arzt harmlose Phytopharmaka in ausreichender Auswahl zur Verfügung für den Fall, dass der Patient eine Medikotherapie erwartet. Patienten mit funktionellen Störungen können somit unter vielfältigen Körperbeschwerden leiden, die mit der Befürchtung oder Überzeugung schwerer körperlicher Krankheit verbunden sind. Das Verhältnis zwischen den Patienten, die vom Vorliegen einer primär organischen Krankheit überzeugt sind, und den Ärzten, die ein organisches Leiden nicht nachweisen können, führt nicht selten zu Spannungen zwischen Patient und Arzt. Der Apotheker, der die diagnostische Problematik nicht kennt, sollte sich hüten, durch unbedachte Beratung, das Verhältnis zusätzlich zu belasten. Somatisierungsstörungen (funktionelle Beschwerdebilder) kommen in internistischen Praxen sehr häuig vor. Schätzungen schwanken zwischen 16–80%.
14.12.3 Befindlichkeitsstörungen In vielen Fällen spielen sich funktionelle Störungen vorzugsweise im Gefühlsbereich ab, ohne dass damit körperliche Symptome im Sinne von Krankheitssymptomen verbunden wären. Beindlichkeitsstörungen sind überwiegend psychisch empfundene unangenehme Stimmungen und Körperwahrnehmungen. Häuige Beindlichkeitsstörungen im genannten Sinne sind: x Nervosität und Gereiztheit, x Müdigkeit, Schlappheit, x unruhiger Schlaf, x Konzentrationsschwäche, x Unlust und Apathie, x gedrückte Stimmung.
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Typische Beindlichkeitsstörungen (Missbeindlichkeiten) sind keine Indikationen für stark wirksame „harte“ Arzneimittel. Mittel der Wahl sind „mild wirkende“ planzliche oder homöopathische Mittel. Zu den Phytopharmaka, die bei Beindlichkeitsstörungen verwendet werden, gehören Zubereitungen aus der Baldrianwurzel sowie ixe Arzneimittelkombinationen aus Baldrian, Hopfenzapfen, Lavendelblüten und Passionsblumenkraut. Stehen die Symptome Unlust, Apathie und gedrückte Stimmung im Vordergrund, können Johanniskrautpräparate verwendet werden. In Frankreich werden einem Leitfaden der französischen Zulassungskommission zufolge bei Nervosität und leichten Schlafstörungen die folgenden Drogen verwendet: Baldrian (Valerianae radix), Ballota-foetida-Zweigspitzen, Hopfenzapfen (Humuli strobulus), Klatschmohnblüten (Rhoeados los), Lavendelblüten (Lavandulae los), Lindenblüten (Tiliae los), Melissenblätter (Melissae folium), Passionsblumenkraut (Passilorae herba), Pomeranzenblätter (Aurantii folium), Pomeranzenblüten (Aurantii los), Waldmeister (Asperulae herba), Weißdornblüten (Crataegi los) und Zitronenstrauchblätter (Lippia-triphylla-Blätter). Hinweis. Schlafstörungen (unruhiger Schlaf) treten nicht
nur isoliert auf, sie sind häuiges Begleitsymptom funktioneller Störungen, bei denen das vegetative Nervensystem beteiligt ist.
14.12.4 Nervöse Herzbeschwerden Nervöse Herzbeschwerden (Synonym: funktionelle Herzbeschwerden, Da-Costa-Syndrom, Efort-Syndrom) sind charakterisiert durch Palpitationen (Herzklopfen), horaxschmerzen, Ermüdbarkeit und Nervosität. Organische Störungen sind nicht zu inden; trotzdem behalten 90% der Patienten diese Symptome über Jahre. Die psychische Komponente steht hier im Vordergrund. Die Verordnung von Herzglykosiden oder Koronarmitteln ist nicht indiziert, zumal sie beim Patienten den Verdacht erwecken, dass doch eine organische Herzkrankheit besteht. Über entsprechende emotionale Erlebnisverarbeitung führt dies zu verstärkten Beschwerden. Milde planzliche Kardiaka beeinlussen den Patienten nicht in gleicher Weise negativ und können als Alternative zu Tranquillizern eingesetzt werden. Ergänzend sollte ein körperliches Training durchgeführt werden, evtl. ist eine Psychotherapie von Nutzen. In Frankreich werden einem Leitfaden der französischen Zulassungskommission zufolge bei Beschwerden
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Plazebos und Plazebowirkungen: theoretische Konzepte und experimentelle Befunde
mit kardialem Erethismus (griech.: erethýzein [reizen]) bzw. zur Verringerung nervöser Beschwerden von Erwachsenen, besonders von Herzklopfen, nach Ausschluss einer Herzkrankheit Crataeguszubereitungen verwendet. Der Stellenwert der auch bei uns beliebten traditionellen Crataeguspräparate dürte damit korrekt beschrieben sein. Ferner werden bei uns Kombinationspräparate aus Crataegus und Baldrian angeboten, in Frankreich sind Kombinationen mit Passilorae herba und/oder Rhoeados los zugelassen. Eine besondere Arzneiform stellen die äußerlich anzuwendenden Einreibungen dar, bekannter unter der Bezeichnung Herzsalben. Sie enthalten Stofe mit lokal hyperämisierend wirkenden Eigenschaten, häuig Rosmarinöl und/oder Campher. Externe Kardiaka sind nützlich bei Herzsensationen, wie Herzgefühl („heart consciousness“), Druck, Beklemmung und Schmerz. Sie wirken über die Head-Zone; vielleicht spielen auch über die sensiblen Nervenendigungen der Nasenschleimhaut ausgelöste Relexe eine Rolle.
14.12.5 Funktionelle Beschwerden im gastrointestinalen Bereich Die Behandlung von dyspeptischen Beschwerden ist ein Schwerpunkt der Phytotherapie. Dyspeptische Beschwerden sind uneinheitlicher Genese. Zu unterscheiden ist: x die Dyspepsie mit Motilitätsstörungen, gekennzeichnet durch Symptome wie Autreten von frühem Sättigungsgrad, Völlegefühl, Flatulenz, Übelkeit oder Erbrechen, x die säurebedingte Dyspepsie mit dem Beschwerdekomplex Sodbrennen, retrosternales Brennen, Säuregurgitation, epigastrische Schmerzen oder Nüchternschmerz. Patienten mit Reluxbeschwerden sprechen auf eine antisekretorische herapie an (Antazida, Pirenzepin, H2-Antagonisten); bei Patienten mit Beschwerden vom Motilitätsstörungstyp normalisieren Gastroprokinetika die verzögerte Magenentleerung und den damit verbundenen Dehnungsschmerz. Die Arzneidrogen mit Bitterstofen und/oder ätherischen Ölen regen die Magenmotorik an. Sie stellen nebenwirkungsarme Prokinetika zur Behandlung von dyspeptischen Beschwerden dar. Zubereitungen aus den folgenden Drogen sind für die Indikation „dyspeptische Beschwer-
den“ zugelassen: Artischockenkraut, Enzianwurzel, Galgantwurzelstock, Ingwerwurzel, Javanische Gelbwurz, Kardobenediktenkraut, Kümmel, Löwenzahnkraut, Pfefferminzblätter, Schafgarbenkraut, Tausendgüldenkraut und Wermutkraut. Gegenanzeigen sind Magen-Darm-Geschwüre. Bei Überdosierung kann Brechreiz autreten. Zur Behandlung funktionell-spastischer Blähbeschwerden und von Spannungsgefühl im Oberbauch können Carminativa eingesetzt werden. Als Carminativa bezeichnet man in der alten Medizin blähungstreibende Mittel. Carminativa sollen das Austreiben von Gasansammlungen aus dem Gastrointestinaltrakt – Aufstoßen und Abgang von Flatus – erleichtern. Zufuhr bestimmter Nahrungsmittel wie Kohlarten, Hülsenfrüchte, frisches Brot, v. a. aber eine üppige Nahrungsaufnahme, induzieren Gärungs- und Fäulnisprozesse, die zu Blähungen führen können. Auch Mitverschlucken von Lut bei der Nahrungsaufnahme kommt als Ursache in Frage. In hochgradigen Fällen können die Blähungen zu Zwerchfellhochstand führen und auf relektorischem Wege funktionelle Kreislaubeschwerden (Roemheld-Syndrom) auslösen. Es ist bisher nicht gelungen, die carminative Wirksamkeit auf pharmakologische Wirkungen zurückzuführen. Im Allgemeinen wird angenommen, dass spasmolytische und antiseptische (gärungs- und fäulniswidrige) Eigenschaten der ätherischen Öle dabei eine Rolle spielen. Ob wirksame Konzentrationen im Magen-Darm-Trakt erreichbar sind, ist aber ungeklärt. Zu den Carminativa zählen: Angelikawurzel, Anis, Fenchel, Römische Kamille, Koriander, Kümmel und Kümmelöl.
14.12.6 Reizdarmsyndrom (Colon irritabile) Das Reizdarmsyndrom, nach ICD-10 als autonome Funktionsstörung des unteren Gastrointestinaltraktes (F 45.32) bezeichnet, ist die von Gastroenterologen in aller Welt am häuigsten gestellte Diagnose. Die wichtigsten Symptome sind: Bauchschmerzen, Stuhlunregelmäßigkeiten und Blähungen. Als Begleitsymptome können Übelkeit, Erbrechen und Schluckstörungen autreten. Auch extraintestinale Symptome kommen vor: Miktionsbeschwerden, gynäkologische Symptome, Migräne, depressive Verstimmungen oder Kanzerophobie (krankhate Krebsangst). Für die Pharmakotherapie des Reizdarm-
14.12 Adjuvant bei Krankheiten ohne langfristig erfolgreiche Therapie
syndroms werden die folgenden Arzneimittel angeboten (Csef 2001 a,b): x Anticholinergika/Spasmolytika (insbesondere Mebeverin), x bei Neigung zu Durchfällen Loperamid, x bei Neigung zu Obstipation Laxanzien, x Prokinetika (z. B. Motilium), x Agonisten und Antagonisten spezieller Serotoninrezeptoren (z. B. Aloseteron, ein 5-HT3-Antagonist, oder Tegaserod, ein 5-HT4-Agonist), x Tranquillizer oder Antidepressiva. Die Medikamentenwahl richtet sich nach den vorherrschenden Symptomen. Bei allen untersuchten Medikamenten liegt die Plazeborate zwischen 3 und 84%, entsprechend einer mittleren Plazeboresponse von 37,6%. Diese aufallend hohe Schwankungsbreite beruht auf der zu geringen Patientenzahl vieler klinischer Studien, ist also ein statistisches Phänomen. Mit Stichprobengrößen von 500 und mehr Patienten tendiert die Plazeboantwort gegen 40% (Klosterhalfen u. Enck 2005). Bei dieser Sachlage – hohe Plazeborate bei an sich stark wirksamen Medikamenten – bietet es sich an, zur symptomatischen Behandlung zunächst einmal planzliche Arzneimittel einzusetzen: x bei Blähungen mit Bauchschmerzen: planzliche Carminativa ( > dazu den vorrangegangenen Abschnitt sowie Abschnitt 25.4.3), x bei Neigung zur Verstopfung: planzliche Füll- und Quellmittel (Leinsamen, Weizenkleie, Flohsamen oder Agar-Agar) oder stimulierende Laxanzien (z. B. Sennesblätter, > dazu den Abschnitt 26.9), x bei Neigung zu Durchfällen: Teeblätter, speziell grüner Tee ( > S. 1266), x bei depressiver Verstimmung: Johanniskrautpräparate ( > Abschnitt 26.10). Trotz der hohen Plazeborate jeder Form von medikamentöser herapie bei Colon irritabile ist die klinische Bedeutung dieser symptomorientierten herapie sehr groß, da sie bei vielen Reizdarmpatienten zu einer Symptomremission führt.
14.12.7 Prämenstruelles Syndrom Beim prämenstruellen Syndrom (PMS) handelt es sich um Symptome im somatischen und psychischen Bereich, die
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regelmäßig 8–10 Tage vor der Menstruation einsetzen und mit Regelbeginn i. A. abklingen. Im körperlichen Bereich stehen Stauungsbeschwerden im Vordergrund: schmerzhate Brustschwellung mit Spannungsgefühl (Mastodynie), Abdominalbeschwerden mit Völlegefühl, Blähungen und Obstipation, Ödeme, besonders an Fußknöcheln, im Bereich um die Augen und an den Händen. Psychische Veränderungen äußern sich in Nervosität, Reizbarkeit, Aggressivität, Ruhelosigkeit, Leistungsabfall und als seelische Verstimmung. Die Ursachen für Menstruationsbeschwerden sind nicht eindeutig geklärt. Wahrscheinlich sind Schwankungen der Hormonspiegel zumindest mitbeteiligt. Als weitere Auslöser werden psychische Faktoren vermutet. Da die körperliche Symptomatik von psychischen Symptomen überlagert wird, überrascht es nicht, dass bei der Plazebobehandlung des PMS ein deutlicher therapeutischer Efekt erzielt werden kann. Allen kontrollierten Studien ist gemeinsam, dass es auch in der Plazebogruppe über einen Zeitraum von ca. 6 Monaten hinweg zu einer Besserung der Beschwerden kam (Zahradnik 1995). Die herapie der naturwissenschatlich orientierten Medizin ist rein symptomatisch und richtet sich nach den dominierenden Symptomen. Sind Gewichtszunahme und Ödeme das aufälligste Merkmal, so besteht sie in der Gabe von Diuretika (Spironolacton); bei Schmerzen im Beckenbereich können Cyclooxygenasehemmer (bevorzugt Ibuprofen bzw. Naproxen) verordnet werden; äußert sich das PMS v. a. im Brustspannen, so steht die Verordnung von Dopaminantagonisten (z. B. Bromocriptin), von Gestagenen oder Antiöstrogenen zur Wahl. Verhaltenstherapie und Entspannungsverfahren wirken im Sinne einer psychologischen Desensibilisierung (Schuth 1989). Zur kurzfristigen Unterstützung psychotherapeutischer Maßnahmen werden auch Tranquillanzien verordnet. Die Phytotherapie bietet die nachfolgend aufgeführten Mittel an: x An erster Stelle ist die chinesische Angelikawurzel (Dong quai) zu nennen. Angelicae sinensis radix, besteht aus der getrockneten Wurzel von Angelica sinensis (Oliv.) Diels. und ist weltweit wahrscheinlich das am häuigsten verwendete Mittel gegen „Menstruationsbeschwerden jeder Art“ ( > dazu die Angebote vor allem via Internet). Die Wirksamkeit im Sinne der westlichen Medizin ist nicht belegt. Der Gehalt der Droge und ihrer Zubereitungen an Furanocumarinen kann, besonders in Verbindung mit der Benutzung
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Plazebos und Plazebowirkungen: theoretische Konzepte und experimentelle Befunde
von Solarien, zu einer Photodermatitis führen. Mit Wechselwirkungen ist bei gleichzeitiger Einnahme von oralen Antikoagulanzien (Typus Warfarin) zu rechnen. Dongquai-Präparate werden als „Ginseng für die Frau“ angepriesen: gewarnt wird jedoch vor der Einnahme während Schwangerschat und Stillzeit; x bei Schmerzen im Beckenbereich Badezusätze aus Schafgarbe oder Kamille für warme Sitzbäder in der prämenstruellen Zyklusphase; x Zufuhr ungesättigter Fettsäuren, z. B. in Form von Samenölen aus der Nachtkerze (Oenothera biennis L.) oder des Boretsch (Borago oicinalis L.). Höher ungesättigte Fettsäuren sind in der Lage, das Spektrum der endogen gebildeten Prostaglandine erheblich zu verändern. Dies beseitigt ot schmerzhate Empindungen, wie sie beim PMS häuig angegeben werden. Prämenstruelle Migräne oder abdominale, nicht genau deinierbare Schmerzen würden hierdurch gebessert (Zahradnik 1995); x Zubereitungen aus den Früchten von Vitex agnus-castus L. (Keuschlammfrüchte) in einer aufallend niedrigen Tagesdosis entsprechend 30–40 mg Droge. Als weitere Anwendungsgebiete für Präparate, die Vitexagnus-castus-Früchte enthalten, werden Regeltempoanomalien und Mastodynie genannt. Regeltempoanomalien (Blutungsunregelmäßigkeiten) können verschiedene Ursachen haben, die immer im Einzelfall vom Arzt abgeklärt werden müssen. Wenn organische Ursachen (wie z. B. Polypen oder Tumoren) ausgeschlossen sind, spricht man von funktionellen Blutungsstörungen oder von dysfunktionellen Blutungen. Nur dieser Typus von Regeltempoanomalien kann im vorliegenden Fall gemeint sein. In der naturwissenschatlich orientierten Medizin werden funktionelle Blutungsstörungen überwiegend mit Östrogen-Gestagen-Kombinationen behandelt. Mastodynie (griech.: mástos [Mutterbrust], dýne [Schmerz ]): Bei dieser Indikation ist es wichtig, den zyklusunabhängigen von dem zyklusabhängigen Schmerz zu unterscheiden, da jeweils unterschiedliche Ursachen zugrunde liegen. Bei den Indikationsangaben der Kommission E kann nur der zyklusabhängige Schmerz, die Mastodynie im engen Sinne, in Frage kommen, deren Ursachen in zyklischen Hormonschwankungen gesehen werden. Dabei scheint der Gestagenmangel eine wichtige Rolle zu spielen. Die herapie der naturwissenschatlich orientierten Medizin besteht in der Verordnung gestagen-
betonter Ovulationshemmer oder von Prolaktinhemmern, Letzteres auch in Fällen, in denen der Prolaktinspiegel im Blut eigentlich normal ist.
14.12.8 Klimakterisches Syndrom In der Prä- und Postmenopause kann sich eine Reihe charakteristischer körperlicher und seelischer Beschwerden einstellen. An körperlichen Beschwerden inden sich v. a. Hitzewallungen, Schweißausbrüche, Schwindelzustände, Kopfschmerzen und Schlafstörungen als Ausdruck eines erhöhten Sympathikotonus. Der erhöhte Sympathikotonus wiederum ist eine Folge der abnehmenden Östrogenkonzentration im peripheren Blut. An psychischen Störungen können eine allgemeine Nervosität und innere Unruhe mit gesteigerter Reizbarkeit und depressiven Verstimmungen autreten. Aus der Sicht der psychosomatischen Medizin sind die körperlichen Beschwerden nicht unbedingt Ausdruck der klimakterischen Umstellungsprozesse, viel eher sind sie umgekehrt Ausdruck psychischer Schwierigkeiten. Somit bedürfen die Patientinnen einer intensiven psychologischen Betreuung. Psychopharmaka können die psychologische Betreuung unterstützen, sollten aber nicht als bloßer Ersatz verwendet werden. Ansonsten zielt die Arzneitherapie auf die Behandlung der vorherrschenden Symptome: Hitzewallungen, neurovegetative und psychische Symptome. Einen großen Stellenwert nahm über einen langen Zeitraum hin die Substitution mit natürlichen Östrogenen ein. Als Ersatz für Östrogene werden in der Pythotherapie u. a. Zubereitungen aus dem Cimicifugawurzelstock angeboten (über weitere planzliche Östrogene ( > Kap. 15). Sind nun aber Cimicifugapräparate eine Alternative? Sicher zu sein scheint, dass der Cimicifugawurzelstock keine Stofe mit östrogener Wirkung enthält (Kretzschmar 2005; Mahady 2005), obwohl bezüglich Proliferation des Vaginalepithels Cimicifuga einen größeren Efekt ausüben soll als Östrogene (Stoll 1984). Einige Fachleute postulieren eine selektive Modulation von Östrogenrezeptoren, wie das von den synthetischen Antiöstrogenen vom Typus des Raloxifens bekannt ist: am Knochen wirksam als Östrogenagonist, an der Brust jedoch als Antagonist. Der für diesen Efekt des Cimicifugaextrakts verantwortliche Inhaltsstof ist nicht bekannt, sodass die Studien unter sauberen Reinstobedingungen bisher nicht reproduziert werden konnten.
14.13 Uerwünschte Plazebowirkungen
Cimicifugapräparate gehören zu den umstrittenen Präparaten. Das heißt, die Qualität der Studien zur klinischen Wirksamkeit werden unterschiedlich bewertet: positiv von phytotherapeutischer Seite (z. B. Liske et al. 2000; Lehmann-Willenbrock u. Riedel 1988; Schulz u. Hänsel [Übersicht]), weniger positiv von anderer Seite (Borelli u. Ernst 2002; Ritzmann 2004). Ob Cimicifugapräparate über den Plazeboefekt hinaus tatsächlich wirksam sind, ist fraglich: Ein überzeugender Wirksamkeitsbeweis in diesem Sinne ist bisher nicht erbracht worden. Ferner ist von Bedeutung, dass bisher keine kontrollierte Langzeitstudie vorgelegt worden ist, die es erlaubt, das mögliche Autreten unerwünschter Wirkungen zu beurteilen.
! Kernaussagen
Nur für eine Teilmenge diagnostizierbarer Krankheiten existieren rationale Pharmaka. Es wäre daher eine utopische Forderung, dass alles, was der Patient an Therapie erfährt oder erfahren darf, von der kritischen wissenschaftlichen Medizin gebilligt werden müsse (Habermann 1992). Arzneimittel, die in der wissenschaftlichen Medizin als plazeboäquivalent angesehen werden, haben unter Beachtung von Randbedingungen in der Alltagspraxis ihre Berechtigung. Diese Randbedingungen sind: x wenn die wissenschaftliche Arzneitherapie in einer ernsten Situation wirksamer ist als ein Plazebo (z. B. organische Nitroverbindungen bei Angina pectoris und nicht etwa Galgantpulver) und x wenn die Grenzen hin zu Quacksalberei und Täuschung des Patienten nicht überschritten werden. Quacksalberei ist alltäglich; erinnert sei an die Vitaminpräparate gegen HIV/AIDS in der orthomolekularen Medizin (Pressetext Nachrichtenagentur) oder an die kiloweise Verordnung von Biopastillen (Hakimi 2005).
Ein plazeboäquivalentes Arzneimittel kann aber auch unter ganz bestimmten Bedingungen in therapeutischer Absicht eingesetzt werden, allerdings im Wesentlichen eingeschränkt auf Fälle, in denen kein pharmakodynamisches Mittel mit besserer Aussicht auf Erfolg zur Verfügung steht bzw. keine sichere Therapie bekannt ist und wenn der Patient oder seine Angehörigen eine Arzneibehandlung erwarten.
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Unerwünschte Plazebowirkungen
Plazeboefekte können aber auch als unerwünschte Nebenwirkungen, selbst als toxische Wirkungen zur Geltung kommen. Man nimmt an, dass eine verborgene Erwartungsangst, vielleicht auch ein Gefühl des Misstrauens gegenüber dem behandelnden Arzt oder gegenüber „der Chemie“ für diese negativen Arzneimittelefekte verantwortlich sind. Derartige „negative Plazeboefekte“ bezeichnet man auch als Nozebos oder als Displazebos (lat.: displicere [missfallen]). Sowohl subjektive Missempindungen als auch objektiv registrierbare vegetative Dysfunktionen treten als Nozebos in Erscheinung. Häuiger sind (Scheler 1980): x Magen-Darm-Störungen (Übelkeit, Magenschmerzen, Erbrechen, Durchfälle, Obstipation), x zentralnervöse Reaktionen (Schlafstörungen, Müdigkeit, Erregung, Depression), x Hauterscheinungen (Urtikaria, Exantheme), x vegetative Dysfunktionen (Kälte- oder Wärmegefühl, Schwächeanfall mit Tachykardie, Blässe, Schwitzen). Bei der Gabe von pharmakologisch indiferenten Stofen, beispielsweise im Rahmen einer klinischen Prüfung, geben die Probanden der Kontrollgruppe (Plazebogruppe) regelmäßig an, schädliche Nebenwirkungen an sich beobachtet zu haben. Junge gesunde Medizinstudenten nannten als häuigste Symptome: Müdigkeit 65%), verstopte Nase (30%), Übelkeit und Kopfschmerzen (25%) (Meyer et al. 1996). Der Nozeboefekt erklärt sich mit der Erwartung, dass Arzneigaben in der Regel unerwünschte Wirkungen aufweisen; ot hat der Versuchsleiter zu Studienbeginn auf zu erwartende Nebenwirkungen aufmerksam gemacht. Das Nozebophänomen kann ferner auch als Begleitphänomen einer wirksamen herapie mit pharmakodynamisch aktiven Arzneimitteln autreten. Nicht alle unerwünschten Nebenwirkungen, die nach Gabe eines pharmakodynamisch wirksamen Medikaments autreten, sind auf den Wirkstof zurückzuführen. Es können quasi Symptome erzeugt werden, die für das betrefende Medikament „unspeziisch“ sind. Auslöser für diese Art von Nozeboefekten sind nicht selten die Beipackzettel mit ihren langen Listen an Nebenwirkungen. Nicht alle bei der plazebokontrollierten Arzneimittelprüfung autretenden Nebenwirkungen sind somit
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Plazebos und Plazebowirkungen: theoretische Konzepte und experimentelle Befunde
dem neuen Arzneistof anzulasten. > Tabelle 14.4 zeigt als Beispiel dafür die unerwünschten Wirkungen des Scheinmedikaments im Vergleich zu denen des Indometacins. Erst die Diferenz von Arzneimittelnebenwirkungen minus Plazebonebenwirkungen stellt „echte“ Nebenwirkungen des Verumpräparates dar. Gelegentlich registriert man in der Plazebogruppe mehr unerwünschte Wirkungen und sogar mehr Studienabbrüche als in der Verumgruppe (Gauler u. Weihrauch 1997; Habermann 1997). Nozeboefekte resultieren vielfach aus der Lektüre der Beipackzettel. Im Beipackzettel eines bestimmten Antihypertonikums sind 4 Zeilen der Indikation gewidmet, je-
. Tabelle 14.4 Unerwünschte Wirkungen (Nebenwirkungen) von Indometacin und Scheinarznei (Plazebo). (Schindel 1967) Symptom
Häufigkeit des Auftretens von Nebenwirkungen (%) Plazebo
Arzneimittel
Differenz (A–P)
Kopfschmerzen
31,7
56,1
+24,4
Schwindel
24,4
50,0
+25,6
Neigung zu Ohnmacht
16,0
39,2
+23,2
Verwirrung
9,8
26,0
+16,2
20,5
28,5
+8,0
Schwäche
5,9
12,5
+6,6
Müdigkeit
30,0
32,0
+2,0
Angstzustand
25,0
33,4
+8,4
Appetitlosigkeit
15,2
23,4
+8,2
5,8
12,7
+6,9
Benommenheit
Stomatitis Übelkeit
20,4
30,0
+9,6
Erbrechen
9,4
7,6
–1,8
Durchfall
18,9
13,1
–5,8
8,0
17,3
+9,3
Dyspepsie
16,3
22,4
+6,1
Ödem
20,0
12,2
–7,8
Ohrensausen
21,6
31,7
+10,1
Sehstörung
18,3
20,4
+2,1
4,0
15,6
+11,6
10,4
15,6
+5,2
Bauchschmerzen
Hautausschlag Juckreiz
doch 124 Zeilen Text den Vorsichtsmaßnahmen, 26 Zeilen den Wechselwirkungen und 109 Zeilen den Warnhinweisen. Der Patient liest, beginnt sich zu ängstigen und stellt sich eine Vergitung vor, noch ehe ihm etwas zugestoßen sein kann. Auch rein experimentell lässt sich der Nozeboefekt zeigen. Dazu als Beispiel das folgende psychologische Schmerzexperiment (Bayer et al. 1993): Freiwillige Probanden werden mit 2 Elektroden unterhalb des Auges an ein Gerät mit der Aufschrit „Schockgenerator“ angeschlossen. Den Versuchspersonen wurde vom Versuchsleiter erklärt, dass nicht messbarer Strom durch den Kopf geleitet werde. In Wirklichkeit erzeugte das Gerät beim Hochschalten lediglich ein in 5 Stufen lauter werdendes Geräusch. Das Ergebnis: Von 99 Probanden berichteten 7 Teilnehmer von Schmerzen im Elektrodenbereich, 11 sowohl im Elektroden- als auch in anderen Bereichen, 28 nur im Bereiche des Kopfes, 3 berichteten von Mundtrockenheit, Verspannung im Nacken und pulsierenden Empindungen. Das Nozebophänomen in extremer Ausprägung sind die mehrfach dokumentierten Fälle von psychogenem Tod bei organisch Gesunden (Kächele 1970; Übersichtsarbeit). Unklar, fast mystisch wirken auf uns die Fälle von Voodoo-Tod, gekennzeichnet durch Apathie und raschen körperlichen Verfall bei Verweigerung der Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr. Dazu ein Beispiel (Beecher 1984). Eine Maorifrau stellte, nachdem sie eine Frucht gegessen hatte, fest, dass diese von einem tabuierten Ort kam. Sie starb innerhalb von 18 Stunden. Man braucht sich aber nicht nur an seltene oder dramatische Gegebenheiten zu halten: Das Nozebophänomen ist in Form von umweltbezogenen Störungen allgegenwärtig, und zwar in den heute aktuellen Umweltkrankheiten: der „multiple chemical sensitivity“ (MCS), dem chronischen Müdigkeitssyndrom und der Fibromyalgie. Es handelt sich nicht eigentlich um Krankheiten, sondern um Beschwerdebilder. Als häuigste Symptome werden beispielsweise bei der MCS genannt: x Kopfschmerzen, Augenbrennen, Naselaufen, x Müdigkeit, Abgeschlagenheit, x Konzentrationsstörungen, Vergesslichkeit, x Schmerzen im Bewegungsapparat, x Atemnot. Wovor man sich ängstigt, ist von Land zu Land verschieden. Nach Ansicht der betrofenen Patienten werden die Beschwerden in Deutschland durch schlechte Lut, Lö-
14.14 Biologische Bedeutung des Plazeboeffekts
sungsmittel, Staub/Rauch, aber auch Lärm und elektromagnetische Felder ausgelöst; in den USA werden hingegen die Beschwerden auf Pestizide, Abgase, organische Lösungsmittel und Lebensmittelzusatzstofe zurückgeführt. Die das MCS auslösenden Chemikaliendosen liegen weit unterhalb der Wirkschwellen, die von den Toxikologen als für die Allgemeinbevölkerung unbedenklich („no observed adverse efect level“) eingeschätzt werden. In fachärztlichen Positionspapieren (Nasterlack et al. 2002) gilt die Ätiologie als unbekannt. Skeptiker sehen die Ursache der Störung im Patienten selbst, nicht in der Umwelt (Habemann 1995). Ob es sich bei den Umweltkrankheiten um bloße Nozeboefekte handelt, wie viele Experten meinen, oder ob sie nicht zumindest teilweise durch Umweltfaktoren ausgelöst werden – diese Kontroverse ist im vollen Gange.
! Kernaussagen
Nozeboeffekte sind negative Plazeboeffekte. Unter Nozeboeffekten werden alle diejenigen Plazeboeffekte zusammengefasst, die eine negative Wirkung haben, d. h. die Symptome erzeugen, verschlimmern oder ihre Besserung verhindern (Benson 1997). Nozeboeffekte lassen sich bei der Gabe von Scheinarzneien im Rahmen kontrollierter klinischer Studien beobachten, d. h. dass eine Plazebotherapie von unerwünschten Nebenwirkungen begleitet sein kann, ganz analog wie eine Verumtherapie. Nozeboeffekte können auch durch Fremd- oder Eigensuggestion produziert werden (Umweltstörungen, Voodoo, Lesen der Beipackzettel).
14.14
Biologische Bedeutung des Plazeboeffekts
Der Gebrauch des Fachausdrucks Plazeboefekt ist nachfolgend im Sinne der im Abschnitt 14.6 gegebenen Deinition zu verstehen, als Ausdruck einer psychophysischen Wechselwirkung, nicht als statistisches Phänomen. Jahrzehntelang betrachtete man den Plazeboefekt als eine Art Panazee, die bei jedem therapeutischen Efekt mit beteiligt ist. Nicht umsonst sprach man daher von einer „unspeziischen Wirkung“. Neue Untersuchungen erbrachten ein anderes Bild: Nur ganz bestimmte Krankheitszustände zeigen sich als plazebosensitiv, sodass man geradezu von einer selektiven Plazebowirkung sprechen kann. Im We-
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sentlichen sind es die folgenden Symptome, die auf Plazebo ansprechen: x Schmerz, x Schwellung x Magengeschwür, x Depression. x Angstzustände. Was ist allen diesen Symptomen gemeinsam? Nach einer Analyse von Dylan Evans (2005) handelt es sich um krankhate Zustände, die durch Unterdrückung der Akute-Phase-Antwort beeinlussbar sind. Man fasst unter der Bezeichnung „Akute-Phase-Antwort“ eine Reihe angeborener Reaktionen zusammen, mit denen der erwachsene Mensch auf Verletzungen jedweder Art antwortet: Dazu zählt die angeborene Immunabwehr, die Entzündungsantwort, die Bildung von Akute-Phase-Proteinen in der Leber und die psychologischen Begleitphänomene wie Lethargie, Apathie, Appetitverlust, Libidoverlust, allgemeines Krankheitsgefühl und erhöhte Schmerzempindlichkeit (Baumann u. Gauldie 1994). Überraschen könnte die Aufnahme „Magengeschwür“ in die Liste, da Heliobacter pylori als Erreger bekannt ist. Es geht aber nicht um die Ursache des Geschwürs, sondern um die von dem Erreger ausgehende Entzündungsreaktion, die an körpereigene Reaktionsmechanismen gebunden ist. Befremdlich ist auch das Symptom „Depression“, das beim ersten Hinsehen nichts Gemeinsames mit einer Entzündung zu haben scheint. Eine lokal sich abspielende Entzündung kann allerdings eine Kaskade chemischer Signale auslösen, die in die bereits genannten Symptome des sich Krankfühlens einmünden, die in aufallender Weise Symptomen der Depression gleichen. Ärzten ist diese Koinzidenz schon immer aufgefallen (Charlton 2000); auch sind an der Genese der (echten) Depression dieselben Triggermechanismen involviert wie am Auslösen der Akute-Phase-Antwort (Maes 1993). Die aufgelisteten krankhaten Zustände stehen, das ist nun zunächst die Prämisse der Hypothese, mit der AkutePhase-Antwort in Zusammenhang. Die Schlussfolgerung lautet: Die gemeinsame Wurzel aller Plazeboefekte besteht in der Unterdrückung der Akute-Phase-Antwort des Körpers, d. h. letztlich in der Unterdrückung der unmittelbaren Antwort des Körpers auf Symptome einer akuten Infektion. Immunologisch wird von einer unmittelbaren Krankheitsantwort gesprochen, wenn Krankheitsanzeichen wie erhöhtes Fieber, Immobilität, Inappetenz oder Depression autreten.
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Plazebos und Plazebowirkungen: theoretische Konzepte und experimentelle Befunde
Dieses Konzept einer Biologie der Plazebowirkung wird in einer zweiten Arbeitshypothese erweitert (Bendesky u. Sonabend 2005). In einem bestimmten Stadium der menschlichen Evolution erreichte die Entwicklung des Gehirns einen Stand, der bei Krankheit die Relexion ermöglichte, dass auf bestimmte rituelle Handlungen hin, Besserung eintreten kann. Einzelne Individuen erlangten durch eine entsprechende Mutation – bestehend in einer verbesserten Wechselwirkung zwischen ZNS (Psyche?) und Körper – diese Fähigkeit, auf Ritushandlungen mit Besserung zu antworten, in verstärktem Maße: Daraus resultierte schließlich ein Überlebensvorteil, der zu einer genetischen Prädisposition geführt hat: „Plazeboresponder sind ‚Überlebenskünstler‘ von Anlage und Geburt her, auch wenn ein solches Plazebogen (oder ein Polymorphismus irgendwo im Humangenom) noch nicht identiiziert werden konnte“ (Klosterhalfen u. Enck 2005).
! Kernaussagen
Nur eine Teilmenge krankhafter Zustände reagiert auf Plazebogabe positiv. Es sind diejenigen Krankheitssymptome, die mit der Aktivierung der Akute-PhaseAntwort (angeborenen Immunantwort) zusammen ausgelöst werden. Nach einer von Dylan Evans (2004) und von Bendesky und Sonabend (2005) vorgeschlagenen Hypothese besteht das Wesen des Plazeboeffekts in der vorübergehenden Unterdrückung der Akute-Phase-Antwort. Die Fähigkeit auf Plazebo (in prähistorischer Zeit rituelle Handlungen) zu reagieren, bedeutete, evolutiv gesehen, einen Überlebensvorteil.
Schlüsselbegriffe Akute-Phase-Antwort Attribution Bedingte Reflexe Befindlichkeitsstörungen Besondere Therapierichtungen Erwartungshaltung Evidenzbasierte (wissensbasierte) Medizin Funktionelle Störungen „Hit-and-run“-Infektion Iatroplazebogenese Konditionierung
Natürliche Fluktuation Nozeboeffekte „Number needed to treat“ Pawlowsche Konditionierung Phytotherapie Plazebo Plazeboäquivalente Arzneimittel Plazeboeffekt Potenzierte Mittel (der Homöopathie) Pseudoplazebo Randomisierung Regression zum Mittelwert
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Plazebos und Plazebowirkungen: theoretische Konzepte und experimentelle Befunde
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15 15 Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln R. Hänsel 15.1
Sekundäre Planzenstofe in Nahrungsergänzungsmitteln: Probleme des Wirksamkeitsnachweises . . . . . . . . . . . . 15.1.1 Begrife, Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.1.2 Realistische Heilversprechen? . . . . . . . . . . . . . . 15.1.3 Grenzen retrospektiver Korrelationsstudien . . . . . 15.1.4 Überbewertung von Laborstudien . . . . . . . . . . .
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15.2
Rotwein und seine schützenden Phenole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390
15.3
Soja und Sojaprodukte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 15.3.1 Botanische Herkunt und Inhaltsstofe der Sojabohne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 15.3.2 Einzelne Sojaprodukte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
15.4
Antioxidative Wirkung sekundärer Planzenstofe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.4.1 Oxidativer Stress: biologische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.4.2 Reaktive Sauerstofspezies (ROS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.4.3 Biologische Quellen für ROS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.4.4 Biologische Wirkungen von ROS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.4.5 Antioxidative Schutzmechanismen gegen ROS . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.4.6 Biochemische Marker für oxidativen Stress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.4.7 Die Rolle von ROS bei der Entstehung von Krankheiten . . . . . . . . . . . 15.4.8 Mehrfach ungesättigte Fettsäuren und oxidativer Stress . . . . . . . . . . . 15.4.9 Wirkt Knoblauch antiarteriosklerotisch und krebshemmend? . . . . . . . . 15.4.10 Selenverbindungen in Planzen: antioxidativ und antikanzerogen wirkend .
15.5
Ascorbinsäure (Vitamin C): das wasserlösliche Antioxidans 15.5.1 Chemische Struktur und Eigenschaten . . . . . . . . 15.5.2 Vorkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.5.3 Pharmakokinetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.5.4 Biochemische Bedeutung der Ascorbinsäure . . . . . 15.5.5 Ascorbinsäure als Nahrungsergänzungsmittel . . . .
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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430
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Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
> Einleitung Mit der pflanzlichen Nahrung nimmt der Mensch nicht nur Kohlenhydrate, Fette und Eiweiß auf, sondern auch wechselnde Mengen sekundärer Pflanzenstoffe. Diese Substanzen machen die Mahlzeiten durch Farbgebung (Spinat, Rotkraut, Karotten, Tomaten usw.) gefälliger und durch die Gewürzkräuter bekömmlicher. Das folgende Kapitel befasst sich mit sekundären Inhaltsstoffen in Nahrungsmitteln und Gewürzen, denen ein zusätzlicher Nutzen für die Gesundheit nachgesagt wird. Man hat für diese Inhaltsbestandteile von Nahrungsmitteln und Gewürzen – auch für die Handelsprodukte selbst – Termini wie „Phytamine“, „Pharmaceuticals“ und „Nutriceuticals“ geprägt. Für die Zwecke des nachfolgenden Kapitels wird stattdessen der neutrale Ausdruck „sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln“ (SPiNEM) bevorzugt. Mitgemeint sind dabei gleichzeitig auch „Diätetische Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke“. Das Kapitel beginnt mit einem Vorspann: Er informiert über den Evidenzgrad wissenschaftlicher Aussagen, mit denen der Nutzen dieser Sekundärstoffe – sie dienen vorzugsweise der Prävention – begründet wird. Es folgen konkrete Beispiele. Das Beispiel „Rotwein und seine schützenden Phenole“ soll konkret zeigen, wie schwierig es auf dem Gebiet der sekundären Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln sein kann, gesichertes Wissen von plausiblen Vermutungen zu unterscheiden. Der Abschnitt über Soja und Sojaprodukte gibt Gelegenheit, das aktuelle Gebiet der Phytoöstrogene zu behandeln. Im Gefolge der kritischen Neubewertung der Hormontherapie im Klimakterium werden die Phytoöstrogene als nebenwirkungsarme Alternative für die Steroidhormone angeboten; allerdings fehlen evidenzbasierte Beweise für deren Wirksamkeit. Am ausführlichsten gehalten ist der Abschnitt über die antioxidative Wirkung von sekundären Pflanzenstoffen. Zum Verständnis der Zusammenhänge werden zunächst Phänomene wie oxidativer Stress, reaktive Sauerstoffspezies (ROS) und biologische Wirkungen von Sauerstoffradikalen beschrieben. Wie die wissenschaftlichen Erkenntnisse über den krankmachenden Einfluss aggressiver Radikale zur Begründung konkreter Produkte herangezogen werden, wird an zwei Bei-
6
spielen, dem der Knoblauch- und dem der Ascorbinsäurepräparate, verdeutlicht. Lehrziel des Kapitels ist es, zwischen evidenzbasierten Aussagen und spekulativen Extrapolationen zu unterscheiden.
15.1
Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln: Probleme des Wirksamkeitsnachweises
15.1.1
Begriffe, Allgemeines
Unter dem Terminus „sekundäre Planzenstofe in Nahrungsergänzungsmitteln“ (SPiNEM) sollen für die Zwecke des vorliegenden Lehrbuches sowohl die sekundären Planzeninhaltsstofe von Nahrungsergänzungsmitteln als auch die von diätetischen Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke verstanden werden. Es sei nebenbei erwähnt, dass nur eine Teilmenge von Nahrungsergänzungsmitteln und diätetischen Lebensmitteln planzlicher Herkunt sind. Auf diese Teilmenge beziehen sich gemäß Deinition die Ausführungen des vorliegenden Kapitels. Nahrungsergänzungsmittel dienen der Ergänzung der üblichen Ernährung mit bestimmten Nährstofen in konzentrierter Form, wenn bestimmte Nährstofe z. B. infolge einseitiger Ernährung nicht in ausreichender Menge zugeführt werden. Sie dienen somit nicht der Energieversorgung (Unterschied zu Lebensmitteln). Nahrungsergänzungsmittel werden üblicherweise in lebensmitteluntypischer Form angeboten, z. B. als Kapseln, Tabletten, Granulat, Pulver, Trinkampullen und Tropfen. Obwohl sie äußerlich von Arzneimitteln nicht zu unterscheiden sind, sind indikationsbezogene Werbeaussagen oder Aussagen, die eine therapeutische Wirkung versprechen, nicht zulässig. Anders als Arzneimittel benötigen Nahrungsergänzungsmittel auch keine Zulassung beim Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte. Beispiele für Nahrungsergänzungsmittel: Bärlauchextrakt, l-Carnitin (eine Aminosäure), Citrus-Extrakt mit Biolavonoiden, Kiwi-Kapseln, Kombination aus Maltodextrin, Meerischpulver und Acerolapulver, Leinsamenextrakt, Nachtkerzenöl, Schwarzkümmelöl, Spirulina-Algenpulver, Vitaminpräparate, Vitamin C auf Basis von Holunderpulver und Acerola.
15.1 Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
Bei diätetischen Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke hingegen ist ein Krankheitsbezug erlaubt. Die Packungen tragen den Hinweis „zur diätetischen Behandlung von … (es folgt das spezielle Indikationsgebiet). Beispiele: Planzenöle mit Z-3-Fettsäuren (Leinöl, PerillaÖl), Soja-Isolavone, Lutein, Resveratrol, Phospholipide (Lecithine) zur diätetischen Behandlung von Personen mit Beschwerden infolge von oxidativem Stress (Anti-agingPräparate), oligomere Proanthocyanidine (OPC), Phytoöstrogene zur diätetischen Behandlung von Personen mit östrogenabhängigen Erkrankungen, Rotwein-Phenole.
! Kernaussagen
Auf dem Lebensmittelmarkt gibt es Produkte, die in ihrer äußeren Aufmachung nicht von Arzneimitteln zu unterscheiden sind. Teilweise enthalten sie auch Bestandteile, die als wirksame Bestandteile in pflanzlichen Arzneimitteln (Phytopharmaka) und in Vitaminpräparaten enthalten sind. Von diesen wie Arzneimittel aufgemachten Lebensmitteln unterscheidet der Gesetzgeber zwei Typen: x Nahrungsergänzungsmittel und x diätetische Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke. Indikationsbezogene Werbeaussagen oder Aussagen, die eine therapeutische Wirkung versprechen, sind bei Nahrungsergänzungsmitteln nicht zulässig. Anders bei den diätetischen Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke: Bei diesen Produkten sind Aussagen zum Krankheitsbezug erlaubt. Für die Zwecke des vorliegenden Kapitels sollen unter sekundären Pflanzenstoffen in Nahrungsergänzungsmitteln (SPiNEM) die pflanzlichen Bestandteile sowohl von Nahrungsergänzungsmitteln als auch von diätetischen Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke verstanden werden.
15.1.2
Realistische Heilversprechen?
Motiv für eine regelmäßige Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln bzw. für diätetische Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke ist nach Umfrageergebnissen in erster Linie der Wunsch nach Schutz vor Krankheiten. Das Kauinteresse wird nicht selten dadurch geför-
15
dert, indem unterschwellige Ängste, wenn nicht erzeugt, so zumindest in der Form der Werbung ins Kalkül gezogen werden: Angst an Krebs zu erkranken, Angst vor Altersbeschwerden, Angst vor einem Herzinfarkt, Angst vor Leistungsabfall usw. Ausgesagt werden weiterhin Eigenschaten wie: geeignet zur Abwehrsteigerung, zum Zellschutz und zur Krebsvorsorge, zur Unterstützung des antioxidativen Schutzsystem des Körpers, zur Senkung des Cholesterolspiegels, zum Schutz vor Herz- und Kreislauferkrankungen, zur Förderung des Stofwechsels u. a. m. Speziell diätetische Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke werden mit folgenden Indikationen angeboten (Deutsche Apotheker Zeitung 2005; 145: 3293): x Herz-Kreislauf-Krankheiten, x erhöhte Cholesterolspiegel, x Diabetes mellitus, x rheumatische Erkrankungen, x Osteoporose, x Wechseljahresbeschwerden, x konsumptive (auszehrende) Krankheiten mit Hypermetabolismus (Krebs, Aids), x Nierenfunktionsstörungen und Dialyse, x Lebererkrankungen, x Neurodermitis und Psoriasis, x reduzierte Immunabwehr, x Husten, x Schnupfen, x Fieber, x Sodbrennen, x gestörter Säure-Basen-Haushalt. Nach der geltenden Diätverordnung muss vor dem Inverkehrbringen anhand wissenschatlicher Daten belegt sein, dass das betrefende Produkt den Körper im Sinne der Aufrechterhaltung und Verbesserung der Gesundheit tatsächlich zu beeinlussen imstande ist. Analog fordert die Richtlinie der EU-Kommission (vom 25.03.1999): Die Zusammensetzung von Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke hat auf vernüntigen medizinischen und diätetischen Grundsätzen zu beruhen. Sie müssen sich gemäß den Anweisungen des Herstellers sicher und nutzbringend verwenden lassen und wirksam sein im Sinne, dass sie den besonderen Ernährungsforderungen der Personen, für die sie bestimmt sind, entsprechen, was durch allgemein anerkannte wissenschatliche Daten zu belegen ist. Dass ein Nachweis der Wirksamkeit im Sinne der naturwissenschatlich-orientierten Medizin geführt werden kann, scheint im Hinblick auf die in der Medizin geltenden
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15
Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
Evidenzkriterien wenig wahrscheinlich. Die Forderung der Zulassungsbehörden ist aber keineswegs mit einer Forderung nach einer bestimmten Methode der Beweisführung verknüpt: Es handelt sich primär um eine juristische Forderung, die der Abwehr von verzerrten rein subjektiven oder irreführenden Aussagen dienen soll. Wie jeweils der Nachweis der Wirksamkeit zu führen ist und was unter „wissenschatliche Daten“ präzise zu verstehen ist, haben die Behörden nicht im Einzelnen festgelegt. Zum Nachweis der Wirksamkeit von SPiNEM werden in den seltensten Fällen kontrollierte klinische Studien herangezogen. Plausibilitätsargumente, basierend auf retrospektiven Ernährungsstudien und Extrapolationen aus Laborbefunden, stehen im Vordergrund. Ausgangspunkt für die Entwicklung zahlreicher Präparate waren auch Interpretationen geographischer Korrelationsstudien ( > dazu die folgende Infobox). Die Werbeaussagen auf dem Gebiete der SPiNEM werden somit keineswegs frei erfunden, vielmehr knüpfen sie an wissenschatliche Aussagen an, die allerdings häuig überinterpretiert oder gelegentlich wohl auch irreführend interpretiert werden. Diskrepanzen zwischen erkenntnisbasierter Medizin und Marketing-Positionen lassen sich vor allem auf zwei Gebieten festmachen: in der unterschiedlichen Bewertung retrospektiver Korrelationsstudien und in der Überbewertung biochemischer sowie pharmakologischer Untersuchungsergebnisse.
15.1.3
Grenzen retrospektiver Korrelationsstudien
Eine Studie wird als retrospektiv (lat.: retro [zurück] u. spectare [schauen]) bezeichnet, wenn man von dem Ergebnis der Studie aus die Einlussgrößen untersucht. Das Ergebnis kann beispielsweise in der Verteilung von Krankheiten in einem Land oder einer Bevölkerungsgruppe bestehen; die Einlussgröße besteht immer in einer Hypothese, beispielsweise der einer Korrelation zwischen bestimmten Ernährungsgewohnheiten und dem Autreten dieser Krankheiten. Retrospektive Studien haben hinsichtlich ihres Erkenntnisgewinnes einen großen Nachteil: Sie liefern keinen Beweis für einen Kausalzusammenhang, sondern sie liefern lediglich Hinweise zur Bildung einer Hypothese, die mittels anderer Verfahren veriiziert werden muss. Häuig jedoch gibt man die epidemiologische Korrelation für einen feststehenden Kausalzusammenhang aus. In China haben beispielsweise Epidemiologen eine Korrela-
tion zwischen dem Verzehr von Knoblauch und Zwiebeln und dem Autreten von Magen- und Darmkrebs beschrieben. Ähnlich in Frankreich: Dort haben epidemiologische Studien zu dem Ergebnis geführt, dass Frauen, die viel Knoblauch und Zwiebeln essen, seltener an Brustkrebs erkranken als Knoblauchverweigerer. Es können aber ganz andere Faktoren für den beobachteten Zusammenhang verantwortlich sein, weshalb, wie bereits gesagt, retrospektive epidemiologische Korrelationen grundsätzlich nicht dazu geeignet sind, einen Kausalzusammenhang aufzudecken. Wie kann vorgegangen werden, um echte Zusammenhänge aufzudecken? Der Standard sind Ernährungsstudien, bei denen man die Ernährungsgewohnheiten von zunächst gesunden Personen über Jahre bis Jahrzehnte hinweg beobachtet und die Teilnehmer regelmäßig auf Krebs untersucht werden. Die Studie muss somit prospektiv angelegt sein. Durch diese Art von Studien wurde z. B. die weit verbreitete Meinung widerlegt, Obst und Gemüse beugen Krebserkrankungen vor. In einer Studie mit über 100.000 Männern und Frauen war die Rate von Krebserkrankungen bei Personen, die viel Obst und Gemüse aßen, genau so hoch wie bei Personen, die auf Grünes weitgehend verzichteten (Hung et al. 2004). Bei Personen, die fünf Portionen Obst und Gemüse am Tag konsumierten, gab es lediglich seltener kardiovaskuläre Erkrankungen als bei Teilnehmern, die weitgehend auf Planzenkost verzichteten. In einer weiteren Studie mit über 280.000 Frauen gab es keinen Unterschied über die Brustkrebsrate zwischen den Frauen, die am meisten Obst und Gemüse aßen, und den Frauen, die am wenigsten davon verzehrten (van Gils et al. 2005). Auch die Annahme, dass zu fettes Essen Brustkrebs begünstigt, konnte durch prospektive Studien nicht belegt werden (Willett et al. 1992; > auch Müller 2005 [Übersichtsarbeit]). Ernährungsinterventionsstudien wurden bisher nur selten durchgeführt, da sie als Langzeitstudien mit der erforderlich großen Teilnehmerzahl sehr aufwendig sind.
15.1.4
Überbewertung von Laborstudien
Falsche Verbrauchererwartungen können auch durch das Aulisten unterschiedlichster biochemischer und pharmakologischer Versuchsergebnisse in Informationsschriten geweckt werden. Zu jedem Planzenprodukt existieren stets ganze Paletten von Wirkungen. Um ein konkretes Beispiel anzuführen (Metz 2001): Quercetin, das in vielen
15.1 Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
15
Infobox Geographische Korrelationsstudien. Bei einer geographischen Korrelationsstudie (Synonym: ökologische Studie) werden zwei oder mehrere Bevölkerungsgruppen in unterschiedlichen Regionen verglichen und geprüft, wie häufig eine bestimmte Krankheit auftritt, d. h. es wird nach Unterschieden in der Krankheitshäufigkeit gesucht. Vorausgesetzt wird dabei, dass sich die Gruppen nur bezüglich der Exposition unterscheiden. So einfach die Durchführung einer Vergleichsstudie ist, so schwierig kann deren Interpretation sein. Gerne bringt man die Unterschiede in der Krankheitshäufigkeit mit bestimmten lokalen Ernährungsgewohnheiten in Zusammenhang. Beispiele: x Eskimokost: Die Rate an Herzinfarkten bei den auf Grönland lebenden Eskimos ist gering, während in Dänemark lebende Eskimos die gleiche Infarktrate aufweisen wie Mitteleuropäer. Die Kost der Eskimos ist hochkalorisch, reich an tierischem Fett und arm an Ballaststoffen. Nun wäre der Schluss, viel tierische Fette schützen vor Herzinfarkt, zwar nahe liegend, aber im konkreten Falle dennoch wenig wahrscheinlich, weil vergleichbare andere Studien das gegenteilige Ergebnis geliefert haben. Eine wesentliche Besonderheit in den Essgewohnheiten der Eskimos besteht jedoch im hohen Gehalt der von den Eskimos verzehrten Fette an Z-3-Fettsäuren. Diesen Fettsäuren, speziell der Eicosapentaensäure, wird seitdem eine antiarteriosklerotische Wirkung zugeschrieben. x Das französische Paradoxon besteht in der folgenden Beobachtung: In Frankreich ist trotz eines hohen Verzehrs von gesättigten Fettsäuren, trotz hoher exogener Cholesterolzufuhr und trotz hohen Tabakgenusses die Herzinfarktrate signifikant niedriger als in vergleichbaren Ländern (Richard et al. 1981; Artaud-Wild et al.
Planzenprodukten, beispielsweise auch in Zwiebelschalen vorkommt, x ist ein potenter Scavenger von aggressiven Sauerstofund Lipidradikalen, x ist ein potenter Inhibitor der CYP-450-Reduktase, x wirkt antiprostanoid und antientzündlich durch Modulation der Eikosanoidbiosynthese, x wirkt antiarteriosklerotisch durch Schutz der LDLFraktion vor Oxidation, x wirkt antithrombotisch durch Hemmung der Plättchenaggregation,
x
1993). Definiert wurde ein Index (CSI) für die Zufuhr gesättigter Fettsäuren plus Cholesterol per 1000 kcal Nahrung. Für Frankreich wurde ein CSI von 24 und eine Mortalitätsrate (Zahl der Todesfälle an Herzinfarkt pro 100.000 Männer im Alter zwischen 55–64 Jahren) von 198 gefunden; für Finnland hingegen bei ähnlichem CSI Wert von 26 eine Mortalitätsrate von 1031. Im Abschnitt 15.2 wird das Thema erneut aufgegriffen; dabei geht es dann um mögliche Erklärungen für das Phänomen. Phytoöstrogene und Prostatakrebs: Etwa 40% aller Männer zwischen 60 und 70 Jahren beherbergen in ihrer Prostata maligne Zellen. Ob der Tumor invasiv wird, hängt außer von der genetischen Disposition von der Ernährung ab. Männer aus ostasiatischen Ländern erkranken viel seltener als Männer westlicher Länder: Eine Hypothese bringt die unterschiedliche Morbiditäts- und Mortalitätsquote mit der unterschiedlichen Aufnahme von Isoflavonen in Sojaprodukten in Zusammenhang (Holzbeierlein et al. 2005). Das Thema der Sojaprodukte wird in Abschnitt 15.3 besprochen.
Geographische Korrelationsstudien liefern, wie gezeigt, Zusammenhänge zwischen Erkrankung und bestimmten Ernährungsgewohnheiten. Die Suche nach Korrelation beschränkt sich aber nicht allein auf unterschiedliche Ernährung, vielmehr wird mittels geographischer Korrelationsstudien allgemein nach Zusammenhängen zwischen Erkrankungen oder Todesursachen und Exposition (z. B. auch Strahlenbelastung, Wasserqualität) gesucht. Wichtig bleibt festzuhalten: Korrelationen sind keine Beweise für ursächliche Zusammenhänge, sondern die Ausgangsbasis für sinnvolle prospektive Studien.
x wirkt antihypertensiv und antiarrhythmisch über Relaxation glatter Muskelzellen,
x wirkt antiviral über verschiedene Mechanismen, darunter Hemmung der reversiblen Transkriptase,
x an Karzinomzellen glatter Muskulatur zeigt es innerhalb von 3 Tagen einen dosisabhängigen antiproliferativen Efekt. Man könnte in Anbetracht dieser langen Liste meinen, es handle sich beim Quercetin um einen hochpotenten Arzneistof und nicht um einen Stof, den wir täglich mit
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Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
planzlicher Nahrung zu uns nehmen. Die Angaben über Wirkungen besagen zunächst nichts anderes, als dass ein Experimentator in einem bestimmten Experiment einen Efekt beobachtet hat. Dieser Efekt bezieht sich zunächst lediglich auf die engen Randbedingungen des jeweiligen Experiments; er kann unter anderen als den gewählten Experimentalbedingungen des Labors u. U. nicht mehr nachweisbar sein. Biochemische und pharmakologische Experimentalergebnisse allein erlauben keinesfalls Extrapolationen auf mögliche Wirkungen am Menschen: Eine künstlich isolierte Karzinomzelle ist kein krebskranker Patient. Somit kann kein biochemisches und pharmakologisches Experiment den Wirksamkeitsnachweis am Menschen ersetzen. Ein häuiger Fehler besteht in der Versuchsanordnung selbst, indem mit unrealistisch hohen Dosen gearbeitet wird. Beispielsweise lassen sich beim Menschen keine so hohen Dosen an Quercetin zuführen, um eine antithrombotische Wirkung zu erzielen (Janssen et al. 1998). Eine andere Fehlerquelle besteht darin, dass der Experimentator seine Ergebnisse unzulässig interpretiert: Ein Autor hat beispielsweise einen schwachen antiödematösen Efekt gemessen und spricht von der Entdeckung eines neuen Antiphlogistikums. Die Mahnung, dass man bei der Auswertung experimenteller Ergebnisse Vorsicht walten lassen muss, hat Johannes Müller (1801–1858), der Begründer der Physiologie mit folgenden Worten zum Ausdruck gebracht: „Es ist nichts leichter, als eine Menge so genannter interessanter Versuche zu machen, man darf die Natur nur auf irgend eine Weise gewaltsam versuchen, so wird sie immer in der Not eine leidende Antwort geben. Nichts ist schwieriger, als sie zu deuten. Nichts ist schwieriger als der gültige Versuch“ (zitiert bei Haas, 1956).
! Kernaussagen
Nach der Diätverordnung muss anhand wissenschaftlicher Daten belegt sein, dass ein als diätetisches Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke eingeführtes Produkt in der angegebenen Dosierung bei der angesprochenen Patientengruppe einen Nutzen erbringt. Als wissenschaftliche Daten dienen häufig epidemiologische Plausibilitätsbetrachtungen und die Ergebnisse von Laborversuchen an Zellen, Geweben oder (seltener) am Ganztier. Retrospektive epidemiologische Korrelationen sind zwar zur Generierung von Arbeitshypothesen,
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nicht aber zum Nachweis von Kausalzusammenhängen geeignet. Ebenso wenig erlauben biochemische und pharmakologische Versuchsergebnisse valide Aussagen über die Wirksamkeit von SPiNEM am Menschen. Über präventive oder therapeutische Wirksamkeit entscheidet allein die adäquat konzipierte klinische Studie.
15.2
Rotwein und seine schützenden Phenole
In der Infobox S. 389 wurde die als französisches Paradoxon bezeichnete Korrelation bereits beschrieben: vergleichsweise geringe Infarkthäuigkeit trotz fett- und cholesterolreicher Ernährung. Die Diskussion um die schützenden Faktoren ist bis heute nicht eindeutig gelöst. Die folgenden Arbeitshypothesen wurden aufgestellt: 1. Bei den Schutzfaktoren handelt es sich um die in französischem Rotwein in besonders hoher Konzentration enthaltenen phenolischen Inhaltsstofe. 2. Es kommt allein auf den Alkohol an, von dem antiatherogene Efekte nachgewiesen wurden. 3. Entscheidend seien genetische Faktoren in Verbindung mit dem gesamten Lebensstil (insbesondere körperlicher Aktivität), sodass den Inhaltsstofen des Rotweins und dem Alkohol allenfalls nur eine untergeordnete Bedeutung zukommt. Ad 1. Ursächlich verantwortlich für dieses unerwartete
Phänomen sei der Rotwein mit seinen phenolischen Inhaltsstofen, insbesondere den oligomeren Proanthocyanidinen, den Flavonolen (Quercetin) und dem Resveratrol. Diese sekundären Planzenstofe sind Schutzfaktoren vor Herzinfarkt. Es wurde versucht, diese Aussage durch experimentelle Laborstudien wissenschatlich zu untermauern, wie die nachfolgende Aulistung einiger medizinischer Forschungsergebnisse über Wirkungen phenolischer Inhaltsstofe des Weins zeigt (Siegmund et al. 2002): x Sie beeinlussen den Arachidonsäurestofwechsel. x Sie stimulieren die Prostaglandinsynthese. x Sie hemmen die hrombozytensynthese. x Sie hemmen sowohl die durch hrombin als auch durch Adenosindiphosphat (ADP) induzierte hrombozytenaggregation.
15.3 Soja und Sojaprodukte
x Sie senken die Sekretion an Apolipoprotein B. x Sie erhöhen die antioxidative Aktivität des Serums und wirken der Bildung von oxidiertem LDL entgegen. x Sie wirken blutdrucksenkend über eine durch Stickstofmonoxid (NO) vermittelte Gefäßerweiterung. Die Relevanz dieser zahlreichen Efekte soll nicht im Einzelnen besprochen werden. Auf alle Fälle relevant dürte die antioxidative Aktivität von Rotweinpolyphenolen sein, da sich dieser Efekt reproduzierbar beim Menschen nachweisen lässt (Maxwell et al. 1994). Folgt man der hese, dass es nicht auf den Rotwein als solchen, sondern auf dessen phenolische Inhaltsstofe ankommt, dann ist es nur konsequent, dem Verbraucher alkoholfreie Präparate anzubieten: Im Handel erhältlich sind in u. a. „Roter Traubensat“ und „Weintraubenextrakt aus roten Weintraubenschalen und Kernen“. Ad 2. Diskutiert wird sodann: Nicht speziell der Rotwein,
sondern allgemein alle alkoholischen Getränke ändern Parameter, die für eine kardioprotektive Wirksamkeit des Ethanols sprechen. Unter mäßigem Alkoholkonsum steigt die HDL-Fraktion im Blutplasma bei gleichzeitig geringem Abfall der LDL-Fraktion, was zu einem günstigen HDL-LDL-Quotienten führt. Alkoholgenuss wirkt sich auch günstig auf die Plasminaktivatorfreisetzung aus dem Endothel und die hrombozytenaggregation aus. Epidemiologisch zeigt sich eine U-förmige Beziehung zwischen moderatem Alkoholkonsum und Gesamtmortalität bei der koronaren Herzerkrankung (Brenner et al. 2001; Siegmund et al. 2002; hun et al. 1997). Die U-förmige Beziehung zeigt an, dass sowohl Nichttrinker als auch starke Trinker ein größeres Risiko aufweisen, an einer koronaren Herzkrankheit zu erkranken. Wichtig ist: Im Rahmen einer prospektiven Studie an Infarktpatienten (n = 5000; Dauer 5 Jahre) wurde eine signiikant geringere Gesamtmortalität bei moderatem Alkoholkonsum nachgewiesen (Muntwyler et al. 1998). Ad 3. Nach einer dritten hese zur Erklärung des fran-
zösischen Paradoxon wären Nahrungsfaktoren nur Epiphänomene, entscheidend wären Unterschiede in der genetischen Disposition in Wechselwirkung mit Umweltfaktoren (Ferrières 2004). Diese hese konnte bisher nicht veriiziert werden.
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! Kernaussage
Hoher Verzehr von gesättigten Fettsäuren und Cholesterol sind Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Moderater und regelmäßiger Alkoholkonsum (in der Sekundärprävention) senkt das Mortalitätsrisiko für Herzinfarkt. Diese Korrelation ergab sich aus retrospektiven und auch aus einer prospektiven Studie. Ein positiver Einfluss der phenolischen Inhaltsstoffe des Rotweins auf kardiovaskuläre Ereignisse ist zwar plausibel, aber bisher nicht durch Interventionsstudien bewiesen.
15.3
Soja und Sojaprodukte
Soja und Sojaprodukte sind hemen nicht allein für Lebensmittelchemiker und Lebensmitteltechnologen, sondern in hohem Maße auch für den Arzt und den Apotheker. Seit einigen Jahren inden laufend internationale Symposien statt, auf denen über die Rolle von Soja bei der Verhinderung und auch der Behandlung chronischer Erkrankungen berichtet wird (z. B. Rohr 2004). Soja schützt die Frau vor Brustkrebs und den Mann vor Prostatakrebs. Soja ist gut zur Prophylaxe von Osteoporose. Die amerikanische FDA habe in den USA Soja zur Prophylaxe von Herz-KreislaufErkrankungen zugelassen, da Cholesterol- und Triglyceridwerte gesenkt würden. Sojaprodukte seien sodann wirksam zur Behandlung postmenopausaler Beschwerden. Sie seien nützlich als Adjuvanzien bei Diabetes und bei toxischen Leberschäden. Angeblich soll Soja auch die Haut alternder Menschen strafen. Inzwischen gehören Sojaprodukte zu den meist verwendeten Mitteln der Selbstmedikation. Wie kam es zu dieser Entwicklung? Zunächst muss man wissen, dass die Sojabohne ein wichtiges Agrarprodukt darstellt, das heute wesentlich zur Welternährung beiträgt. Die Natur hat aber die Sojabohne, wie viele andere Samen auch, mit einem Schutz vor Fraßschädlingen ausgerüstet, speziell durch die Ausstattung mit Giten wie den Proteinaseinhibitoren und den Isolavonen. Proteinaseinhibitoren machen die Samenproteine schwer verdaulich. Die Isolavone wirken sich auf die Fortplanzung von Säugetieren und Vögeln aus. Auch blockieren sie die Bildung von Schilddrüsenhormon. Bei Wachteln wirken, wie man näher untersucht hat, die Soja-Isolavone geradezu als eine Populationskontrolle (Übersicht bei Schlee 1992). Um die Sojabohne für die menschliche Ernährung besser genießbar zu machen, muss versucht werden, durch eine
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Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
entsprechende Aubereitung die toxischen Begleitstofe zu eliminieren. Im Falle der Proteinaseinhibitoren gelingt das ganz einfach durch Erhitzen. Die Isolavone hingegen sind nur schwer eliminierbar. Wie Analysen zeigen, sind sie in Sojaprodukten wie Sojamilch, Sojakäse, Miso Tofu, Tempeh, Sojawürstchen, Sojachips und gerösteten Sojabohnen enthalten. Chancen dafür, dem Isolavongehalt von Sojaprodukten positive Aspekte abzugewinnen, eröfneten sich von zwei Seiten her: x von geographischen Korrelationsstudien und x von Publikationen, die den Nutzen einer ÖstrogenGestagen-Substitution nach der Menopause in Frage stellten (Berger u. Mühlhauser 1996). Seither sind Phytoöstrogene aus Soja als nebenwirkungsfreie Alternative hoch im Kurs: Sie sollen vor allem Wechseljahrsbeschwerden lindern, die Knochendichte verbessern, die Entstehung von Brust- und Prostatakrebs hemmen und schließlich bei Frauen das Risiko von HerzKreislauf-Erkrankungen senken. Der Ausstoß an Literatur zum gesundheitlichen Nutzen von Sojaprodukten ist inzwischen unübersehbar geworden, was bei der großen ökonomischen Bedeutung der Sojaindustrie verständlich ist. Ziel der nachfolgenden Lehrbuchübersicht ist es nicht, den geringen und/oder fehlenden Evidenzgrad von einzelnen Untersuchungsergebnissen zu analysieren ( > dazu z. B. Wolters u. Hahn 2004; Germain et al. 2001). Aus der Sicht der naturwissenschatlich orientierten Medizin jedenfalls ist ein klinischer Nutzen von Phytoöstrogenen nicht sicher belegt ( > z. B. Roth 2002 und die dort zitierte Literatur). Der Schwerpunkt der nachfolgenden Darstellung liegt zunächst auf pharmazeutischen Aspekten: Herkunt der Sojabohne, chemische Zusammensetzung, Wirkungen und Zubereitungen. Im Hinblick auf den nicht gesicherten therapeutischen Nutzen von Sojaprodukten wirken Risiken besonders schwer. Daher wird über unerwünschte Wirkungen referiert, die mit der Verwendung von Soja während der Schwangerschat und bei der Säuglingsernährung verbunden sein können.
15.3.1
Botanische Herkunft und Inhaltsstoffe der Sojabohne
Sojabohnen sind die getrockneten Samen der nur in Kulturformen bekannten Spezies Glycine max (L.) Merr. (Familie: Fabaceae [IIB9a]. Die einjährigen Planzen haben
tiefreichende Pfahlwurzeln mit reich entwickelten Seitenwurzeln, die mit Bakterienknöllchen besetzt sind, sodass die Planze stickstofautark ist. Die Hauptanbaugebiete liegen in Ostasien, in den USA und in Brasilien. Die Früchte stellen dichtbehaarte Hülsen dar, die zwei bis fünf Samen enthalten. Die Planzen werden noch vor dem Aufplatzen der Hülsen mit Mähdreschern geerntet. Größe und Farbe der Samen sind variabel; der Handel bevorzugt Sorten, die hellgefärbte große Samen (mit hohem Tausendkorngewicht) liefern. Rohe Sojabohnen enthalten 35–40% Proteine, wobei über 80% des Gesamtproteins in Form von Globulinen vorliegen. Hinzu kommen etwa 30% Kohlenhydrate, 20% fettes Öl und 5% Mineralstofe. Die Reservekohlenhydrate (im Unterschied zu den Ballaststofen [Xylogalactomananen und Arabinogalactanen]) der Sojabohne bestehen nicht aus Stärke, sondern aus Saccharose und aus Pentosen, die Mineralstofe vorwiegend aus Alkaliphosphaten. Sojasamen können nicht roh zur menschlichen Ernährung herangezogen werden, da eine Reihe toxischer Substanzen als Begleitkomponenten vorkommt, sie werden bei der Zubereitung ganz oder teilweise entfernt. Es handelt sich um die folgenden Inhaltsstofe: x Proteinase-Inhibitoren, x Allergene, x Saponine, x Phosphatide, x Phytoöstrogene und x Phytinsäure.
Proteinase-Inhibitoren Proteinase-Inhibitoren, ihrem chemischen Aubau nach selbst Proteine, sind imstande, Proteinasen zu binden, zu inaktivieren und dadurch die Proteolyse zu verhindern. Relevant sind in vorliegendem Zusammenhange ganz bestimmte Proteinasen, und zwar Trypsin und Chymotrypsin, das sind Enzyme, die im Dünndarm Proteine zu Oligopeptiden abbauen. Zwar kommen Trypsin- und Chymotrypsininhibitoren auch in anderen Leguminosensamen (Bohnen, Linsen, Erbsen) sowie in Getreide und Kartofeln vor, doch ist der Gehalt in Sojabohnen mit ca. 20 g/kg besonders hoch: die vom Menschen durchschnittlich produzierte Tagesmenge an Trypsin und Chymotrypsin wird durch Extrakte aus nur 100 g rohen Sojabohnen vollständig gehemmt (Übersicht > Belitz et al. 2001). Verfüttert man rohes Sojamehl an Ratten und Hühner, so
15.3 Soja und Sojaprodukte
kommt es außer zu Ernährungsstörungen auch zu Wachstumsverzögerungen. Bisher sind 3 Trypsininhibitoren der Sojabohne näher charakterisiert worden, von denen 2 nach ihren Entdeckern als Kunitz- bzw. als Bowman-BirkInhibitor benannt wurden. Speziell der zuletzt genannte Bowman-Birk-Inhibitor ist durch seinen Aubau bemerkenswert: Bei einer Molekülmasse von 20.400 entfallen auf die Aminosäure Cystin allein 17% des Gewichts. Er hat 17 Disulidbrücken und zeichnet sich durch große Beständigkeit gegenüber Hitze, Säuren, Alkalien, Pepsin und Papain aus. Die Lebensmittelindustrie unternimmt große Anstrengungen, im Zuge der Verarbeitung von Sojamehl zu Lebensmitteln (Proteinisolaten, Fleischsurrogaten u. a. m.) die Proteinase-Inhibitoren durch geeignete Erhitzungsverfahren zu inaktivieren, dennoch können noch merkliche Restaktivitäten, speziell des eben erwähnten Bowman-Birk-Inhibitors, zurückbleiben.
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liert, darunter sowohl mono- als auch bidesmosidische Vertreter. Lokalisiert sind sie in der Samenschale und im Hypokotyl. Da diese Samenpartien bei der Verarbeitung zu Sojaprodukten entfernt werden, verbessert sich damit zugleich auch der Geschmack der Produkte. Saponine komplexieren mit Cholesterol, woraus sich ein cholesterolsenkender Efekt herleiten lässt. Tatsächlich zeigte eine Probandenstudie (120 g Leguminosensamen/Tag über einen Zeitraum von 4 Wochen), dass die Serum-Cholesterolkonzentration – überwiegend die LDL-Fraktion – absinkt. Allerdings stieg gleichzeitig die Cholesterolkonzentration der Gallenlüssigkeit (bezogen auf das Trockengewicht) stark an, d. h. dass Leguminosen die Entstehung von Cholesterolgallensteinen begünstigen (Literatur bei Kasper 1996). Eine Erklärung für diese Beobachtung steht noch aus.
Phosphatide Allergene Sojabohnen enthalten mindestens 16 verschiedene Allergene, die teils Proteine, teils wie z. B. das E-Conglycinin Glykoproteine darstellen. Bei der Verarbeitung von rohem Sojamehl zu Sojaprodukten können die genuin vorkommenden Allergene teilweise inaktiviert werden, es können aber auch neue Allergene produziert werden. Allergien beruhen auf einer individuellen genetischen Disposition. Eine klassische Nahrungsmittelallergie haben etwa 2% aller Säuglinge und Kleinkinder; am häuigsten sind Allergien gegen Kuhmilch und Erdnüsse; 0,3% sind allergisch gegenüber Sojaprodukten (Ärzte Zeitung vom 25.01.2002). Zur Symptomatik von Nahrungsmittelallergien inden sich Informationen im Kap. 13.6.3. Nach einer EU-Richtlinie (Etikettierung und Aufmachung von Lebensmitteln) muss bei allen Lebensmitteln, die Sojaprodukte in irgendeiner Form enthalten, dies auf der Packung angegeben werden, und zwar unabhängig von der Menge, in der sie enthalten sind. Durch diese Etikettierungsvorschrit werden Verbraucher, die an Lebensmittelallergien leiden, angemessen informiert.
Saponine Sojabohnen enthalten 4–5% Saponine, die durch bitteren Geschmack aufallen. Mehr als 10 unterschiedliche Varianten von pentazyklischen Triterpensaponinen wurden iso-
Sojabohnen enthalten etwa 2% Phosphatide, die in der Lebensmittelindustrie vielfältigste Verwendung inden. Eine ausfürliche Darstellung indet sich an anderer Stelle ( > Kap. 22.3.2).
Isoflavone (Phytoöstrogene) Es handelt sich speziell um die Isolavone Daidzein und Genistein, die frei und an Glucose gebunden in Sojabohnen und Sojaprodukten vorkommen. Ein kennzeichnendes Merkmal dieser Isolavone ist die p-OH-Substitution beider aromatischer Ringe des Isolavonskeletts. An die beiden in einem bestimmten Abstand autretenden OHGruppen ist die östrogene Wirkung geknüpt ( > Abb. 15.1). Über die Bedeutung dieser Stofe für die menschliche Ernährung existiert eine Unmenge von Literatur. Es ist aber sehr schwer, sich ein objektives Bild über die Relevanz und Validität der vielen einander ot widersprechenden Aussagen zu machen: Einerseits sollen die sog. Phytoöstrogene gegen alle möglichen Formen von Krebs schützen, gegen Atherosklerose sowie gegen Beschwerden der Wechseljahre, andererseits werden sie als die menschliche Gesundheit gefährdend dargestellt. (Eine Zusammenstellung von Studien über toxische Wirkungen von Soja-Isolavonen indet sich im Internet unter http:// www.westonaprice.org/soy/dangersisolavones.html.) Im Vergleich mit endogenen Östrogenen ist die Wirkungsstärke der Soja-Phytoöstrogene vergleichsweise ge-
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Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
. Abb. 15.1
Strukturvergleich von drei Substanztypen mit östrogener Wirkung: Estradiol als körpereigenes Hormon, Diethylstilbestrol als synthetische Substanz und die beiden Soja-Isoflavone als Pflanzenstoffe. Strukturelle Voraussetzung sind die in einem definiertem Abstand voneinander angeordneten OH-Gruppen, der im Falle des Estradiols 1,245 nm beträgt. Der Ersatz der alkoholischen OH im Estradiol durch eine phenolische Gruppe in den Pflanzenstoffen und im synthetischen Diethylstilbestrol ist offenbar mit keinem Verlust östrogener Aktivität verknüpft
ring. Im Maus-Bioassay bei peroraler Gabe ergaben sich die folgenden relativen Wirkungsstärken (Stob 1983): Substanz
Relative Potenz
Diethylstilbestrol Östron Genistein Daidzein
100.000 6900 1,0 0,75
Obwohl die Wirkungsstärke der Soja-Phytoöstrogene, verglichen mit der Wirkungsstärke von körpereigenen Östrogenen, gering ist, kann bei entsprechender Ernährung mit Sojaprodukten durchaus eine Wirkung auf das endokrine System erzielt werden. Dafür ein Beispiel: Bei jungen Frauen, die während eines Menstruationszyklus täglich 60 g Sojaprotein mit einem Gehalt von 45 mg Isolavonen erhielten, kam es zur Verlängerung des Zyklus, insbesondere der follikulären Phase, und es kam ferner zu deutlich erniedrigten LH- und FSH-Gipfeln in der Zyklusmitte, somit also zu Efekten auf gonadotrope Hormone. Aus diesem Befund (Cassidy et al. 1994, 1995)
werden für den Verzehr isolavonhaltiger Sojaprodukte günstige Schlüsse gezogen mit der folgenden Begründung: In der Follikelphase ist die Zellteilungsrate in der Brustdrüse niedriger als während der übrigen Zyklusphasen, was für Frauen mit einem längeren Zyklus ein niedrigeres Brustkrebsrisiko erwarten lässt. Auch sprächen verschiedene tierexperimentelle Tumormodelle für die Schutzwirkung von Phytoöstrogenen vor tumorabhängigen Krebserkrankungen (Adlercreutz 1995; Cassidy 1996). Besonders hohen Belastungen mit Phytoöstrogenen sind Säuglinge und Kleinkinder ausgesetzt, die Babynahrung auf Sojabasis erhalten. Die Plasmaspiegel an Isolavonen (ca. 980 ng Daidzein plus Genistein/ml) sind erheblich höher als die endogenen Östrogenspiegel, sodass trotz der geringeren Wirkungsstärke (ca. 1/1000 der von Östradiol) die mit der Nahrung zugeführten Phytoöstrogene von der Konzentration her durchaus endokrin wirksam werden können (Setchell et al. 1997). Hinsichtlich der möglichen Konsequenzen besteht Unsicherheit, da entsprechende Langzeitstudien bisher nicht durchgeführt wurden. Man plegt sich mit dem Hinweis auf die bisheri-
15.3 Soja und Sojaprodukte
ge Erfahrung zu beruhigen: Seit etwa 30 Jahren würden bei Säuglingen mit Kuhmilchallergien Sojadiäten eingesetzt, ohne dass nachteilige Efekte auf die Entwicklung dieser Kinder erkennbar wären (Stellungnahme der DGPT [Deutsche Gesellschat für experimentelle und klinische Pharmakologie und Toxikologie], Februar 1999). Es gibt demgegenüber aber tierexperimentelle Studien über schädliche Wirkungen, die zur Vorsicht gegenüber Sojaprodukten in der Schwangerschat und von Sojamilch als Säuglingsnahrung mahnen: x Genistein wirkte auf neonatale Mäuse in gleicher Weise karzinogen wie das bekannte Hormonersatzmittel DES (Diethylstilbestrol). Die Autoren fordern eine Überprüfung der für Kinder bestimmten Sojaprodukte (Newbold et al. 2001). x Eine Exposition gegen Genistein in Frühstadien der Entwicklung (Versuchstier: schwangere Ratten) führte bei den männlichen Nachkommen (Alter: 70 Tage) zu lang anhaltenden Änderungen verschiedener Immunparameter (Gewicht der Immunorgane, Lymphozytensubpopulationen, Zytokinkonzentrationen) sowie zu verminderten Testosteronkonzentrationen (Klein et al. 2002). x Verabreichung von Soja-Phytoöstrogenen an junge Mäuse führte später im Leben zu Uteruskarzinomen. Junge Tiere sind somit während eines ganz bestimmten Entwicklungsstadiums in besonderer Weise gefährdet (Newbold et al. 2002). x Der männliche Nachwuchs von Rattenweibchen, die während Gestation und Laktation mit dem Futter Genistein erhielten, zeigten „anhaltende Entmännlichungserscheinungen der männlichen Reproduktionsorgane“ (Wisniewski et al. 2003, 2005). x Genistein während Laktation und Gestation mit der Nahrung zugeführt zeigte keine wahrnehmbaren Sofortwirkungen auf die Gesundheit der Nachkommenschat, doch zeigten sich bei den Rattenweibchen nach Beendigung der Exposition Wochen später Langzeitefekte in Form von verstärkter Expression der östrogenregulierten Progesteronrezeptoren im Uterus (Hughes et al. 2004). Natürlich lassen sich die Ergebnisse tierexperimenteller Studien nicht kritiklos auf die Situation beim Menschen übertragen. Sicher ist jedoch: Die Wirkungen von SojaPhytoöstrogenen (Daidzein und Genistein) auf Feten, Säuglinge und Kleinkinder sind noch nicht hinreichend erforscht und es besteht hinsichtlich möglicher Konse-
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quenzen bei diesem Personenkreis eine entsprechende Unsicherheit.
Phytinsäure Phytinsäure ist dem chemischen Aubau nach ein myoInositol (Hexahydroxyzyclohexan), dessen 6 Hydroxylgruppen mit Phosphorsäure verestert vorliegen. Die Verbindung dient den Planzen als Phosphatspeicher und sie liegt in den Speichergeweben der Samen vorzugsweise in Form kleiner Kristalle aus schwerlöslichem Ca2+oder Mg2+-phytat (= Phytin) vor, die in Proteinkörper eingebettet sind. Sojasamen enthalten etwa 1,4% Phytinsäure. Als Nahrungsbestandteil kann Phytinsäure Calcium, Magnesium, Eisen und Zink in Form unlöslicher Komplexe binden, sodass dann diese lebenswichtigen Elemente für den Organismus nicht mehr bioverfügbar sind. Bei den Ernährungsweisen der westlichen Länder ist jedoch eine negative Calcium-, Magnesium-, Zink- oder Eisenbilanz nicht zu befürchten. Allerdings sollten Personen, die sich einseitig mit Sojaprodukten ernähren, und Personen mit erhöhtem Osteoporoserisiko sicherheitshalber an eine Mineralstofsubstitution denken.
15.3.2
Einzelne Sojaprodukte
Sojamilch Zur Herstellung von Sojamilch werden Sojabohnen 12– 18 Stunden lang mit der 10fachen Menge Wasser eingeweicht und dann gemahlen. Die Suspension wird zur Zerstörung des Trypsininhibitors (vgl. oben S. 392) und der Lipoxygenasen pasteurisiert. Durch Zentrifugieren der noch heißen Maische erhält man die Sojamilch, eine milchähnliche, rahmfarbene, leicht nussartig schmeckende Flüssigkeit. Ein Liter Sojamilch kann 80–90 mg Sojalavone enthalten. Angereichert mit Calcium und Vitaminen ist Sojamilch für die Ernährung von Säuglingen von Bedeutung, die an Galaktosämie oder an Lactoseunverträglichkeit leiden. Neugeborene, die ausschließlich mit sojahaltiger Säuglingsnahrung ernährt werden, nehmen täglich bis zu 20 mg Daidzein und Genistein/kg KG auf. Diese Menge ist bis zu 25-mal größer als jene, die bei Frauen zu einer Verlängerung des Menstruationszyklus führt. Da mögliche gesundheitliche Risiken noch ungeklärt sind, soll Säug-
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Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
lingsanfangsernährung auf Sojabasis nur bei eindeutiger medizinischer Indikation verwendet werden, nicht jedoch aus ökologischen, ideologischen oder ethischen Gründen (Zimmerli u. Schlatter 1997). In Neuseeland haben die Gesundheitsbehörden die Verwendung von sojahaltiger Säuglingskost auf diese medizinisch notwendigen Fälle eingeschränkt (Tuohy 1995). Sie stützen sich dabei wesentlich auf Fallberichte über durch Isolavone induzierte Schilddrüsenstörungen (Hypothyroidismus): Hinweis: Die Soja-Isolavone hemmen die Schilddrüsenperoxidase (Ishizuki et al. 1991; Jabbar et al. 1997).
rangezogen. Gereinigte Sojabohnen werden eingeweicht, bis sie ihr Gewicht etwa verdoppelt haben. Dann werden sie zur Vernichtung fremder Mikroorganismen 12–15 min lang erhitzt und nach dem Abkühlen in Portionen abgeteilt mit Natto bebrütet. Im Verlaufe der Fermentation überzieht sich die Bohnenmasse mit einer viskosen zähen Haut, die ein besonderes Kennzeichen für die Qualität des Natto darstellt. Die Haut besteht aus von Bacterium natto produzierter Polyglutaminsäure.
Sojaeiweiß (Sojaprotein-Isolate) Tofu Tofu ist eine quarkähnliche Frischspeise, die aus dem Koagulat (Gel) besteht, das aus erhitzter Sojamilch (65 °C) durch Zusatz von festem Calciumsulfat (3 g/kg) ausgefällt wird. Der „Sojaquark“ wird durch leichtes Abpressen zwischen Holzrosten isoliert, durch Schneiden aufgeteilt, in kaltem Wasser gewaschen und in dieser Form verkaut. Tofu enthält ca. 88% Wasser, 5–8% Protein, 3–4% Fett, 2– 4% Kohlenhydrate und 0,6% Mineralstofe. In 100 g Tofu können 23 mg Isolavone enthalten sein.
Sufu Tofu kann zu einem, dann als Sufu bezeichneten Käse (= chinesischer Käse) weiterverarbeitet werden. In Würfel zerschnittenes Tofu wird mit einer angesäuerten Kochsalzlösung (2% Kochsalz und 0,8% Zitronensäure) erhitzt, um Fremdkeime zu zerstören (Sterilisation; 100 °C, 15 min), und dann mit einem Schimmelpilz (Actinomucor elegans) beimpt. Nach Inkubation über 2–7 Tage wird das Zwischenprodukt in 5- bis 10%ige Salzlösung eingelegt und etwa 2 Monate lang der Reifung überlassen. In dieser Zeit haben die Schimmelpilze die Proteine zu Peptiden und Aminosäuren, darunter viel Glutaminsäure, abgebaut, die dem Sufu seinen charakteristischen Geschmack geben.
Natto Natto ist ein hauptsächlich in Japan hergestelltes Lebensmittel. Zu seiner Herstellung werden besondere Stämme von Bacillus subtilis, auch als Bacillus natto bezeichnet, he-
Ausgangsmaterial für die Herstellung von SojaproteinIsolaten ist entfettetes Sojamehl. Durch Extraktion mit Wasser oder verdünnter Alkalilösung werden die wasserlöslichen Stofe einschließlich der Proteine herausgelöst. Anschließend können die Proteine durch Einstellen des Extraktes auf pH 4–5 ausgefällt werden. Sojaprotein-Isolate werden in der Lebensmittelindustrie überall dort verwendet, wo Produkte mit sehr hohem Proteingehalt gefordert werden, wie z. B. in Fleisch- und Wurstwaren, in Getränken, in Molkereiprodukten und diätetischen Lebensmitteln. Sie sind ferner Ausgangsprodukte zur Herstellung von Suppengewürzen und zur Gewinnung von Glutamat. Nach Aulösen der Sojaprotein-Isolate in Alkali kann Sojaprotein zu Fäden versponnen werden, die nach Aromatisierung kaubare, leischähnliche Produkte liefern, sog. „künstliches Fleisch“, auch als „textured vegetable proteins“ bezeichnet.
! Kernaussagen
Sojabohnen zeichnen sich durch einen hohen Gehalt an Eiweiß und fettem Öl aus. Als Eiweißträger und Fettlieferant sind daher Sojaprodukte für die Welternährung von großer Bedeutung. Sojaphosphatide (Sojalecithine) fallen als Nebenprodukt bei der Raffination des Sojaöles an. Als Wasser/Öl-Emulgatoren finden sie in der Lebensmittelindustrie vielfältigste Verwendung (Margarine, Schokoladen, Backwaren, Überzugsmassen). Auf dem Arzneimittelmarkt werden Lecithinpräparate zur Besserung des Befindens bei Erschöpfungszuständen verwendet. Sojabohnen enthalten Allergene. Für Lebensmittel, die Sojaprodukte enthalten, besteht daher nach einer EU-Richtlinie Deklarationspflicht.
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15.4 Antioxidative Wirkung sekundärer Pflanzenstoffe
An sekundären Pflanzenstoffen enthalten Sojabohnen Saponine, Phytinsäuren und die Isoflavone Daidzein und Genistein frei und glykosidisch gebunden. Von den in den Sojaprodukten vorkommenden Isoflavonen wird aufgrund einer lediglich experimentell gesicherten östrogenen Wirkung und aufgrund retrospektiver epidemiologischer Beobachtungen postuliert, es käme ihnen ein protektives Potential gegen hormonabhängige Krebsarten wie Brust-, Gebärmutter- und Prostatakrebs zu, ferner ein Schutz vor Osteoporose und vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie eine Wirksamkeit gegen postmenopausale Beschwerden. Evidenzbasierte Beweise stehen aus oder sie konnten die Behauptungen zur Wirksamkeit nicht bestätigen (z. B. Germain et al. 2001). Tierexperimentelle Studien lassen es angeraten erscheinen, Sojaprodukte speziell zur Ernährung von Schwangeren, von Säuglingen und Kleinkindern zurückhaltend einzusetzen. Begründung: Die Wirkungen auf diesen Personenkreis sind noch nicht hinreichend erforscht und über mögliche Konsequenzen besteht somit Unsicherheit.
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15.4
Antioxidative Wirkung sekundärer Pflanzenstoffe
15.4.1
Oxidativer Stress: biologische Bedeutung
Sauerstof ist ein relativ reaktionsträges Element. Damit Sauerstof für das aerobe Leben verwertbar wird, muss er durch Aufnahme von Elektronen aktiviert werden. Dabei gibt es zwei Hauptwege der Aktivierung und zugleich der biologischen Nutzung: den Oxidase- und den Ogygenaseweg ( > Abb. 15.2). Der Oxidaseweg ist eine Vier-Elektronen-Reduktion unter Bildung von Wasser unter Energiegewinn in Form von ATP. Beim Oxygenaseweg wird Sauerstof in Substrate eingebaut und die Sauerstofaktivierung erfolgt durch eine stufenweise Übertragung von 1, 2 oder 3 Elektronen. Bei der Aktivierung des Sauerstofs entstehen in beiden Fällen hoch reaktive und damit zugleich toxische radikalische Metabolite (Superoxidradikale, Peroxylradikale, Alkoxylradikale) sowie chemisch reaktive Verbindungen (Peroxide, Epoxide) oder angeregte Sauerstofzustände (Triplettsauerstof ). Diese hoch reaktiven Sauerstofverbindungen (ROS, „reactive oxygen species“) werden teilweise für biologische Zwecke genutzt:
. Abb. 15.2
Für die Reduktion von molekularem Sauerstoff gibt es in biologischen Systemen 2 Hauptwege, den Oxidase- und den Oxygenaseweg. Der Oxidaseweg besteht in der Oxidation energiereicher Substrate und mündet in das Endglied Cytochromoxidase mit einer Vier-Elektronen-Übertragung auf Sauerstoff. Der Oxygenaseweg ist durch den Einbau von Sauerstoff in Substrate gekennzeichnet und involviert die Übertragung von 1, 2 oder 3 Elektronen auf molekularen Sauerstoff gekennzeichnet. Beide Wege sind Quellen von energiereichen Radikalen
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Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
x für Syntheseleistungen, x zur Entgitung kleiner organischer Moleküle (P-450Entgitungssystem) und
x zur Abwehr von Makromolekülen in Form der Phagozytose. Insgesamt würde aber der Schaden hoch reaktiver Sauerstofverbindungen (ROS) den Nutzen überwiegen, hätten die Organismen nicht im Verlauf der Evolution Schutzmechanismen entwickelt. Diese Schutzsysteme bieten jedoch – trotz langer Evolution – keinen hundertprozentigen Schutz. Es kann zu einem partiellen Versagen der antioxidativen Schutzeinrichtungen kommen. Man bezeichnet diesen Zustand als oxidativen Stress. Diese Stofwechsellage gibt sich durch oxidative Modiikation zellulärer Bestandteile (Proteine, Nucleinsäuren, Lipide) zu erkennen. Eine Anhäufung von Oxidationsschäden über lange Zeiträume führt zu pathologischen Ereignissen in Form der unterschiedlichen Abnutzungskrankheiten. Die biochemische und medizinische Forschung auf dem Gebiete des oxidativen Stresses hat die Krankheitsprävention im Visier. Grundlage ist der Gedanke, dass Antioxidanzien der Schädigung durch Oxidanzien (ROS) entgegen wirken bzw. diese Schädigungen verhindern können. Als präventiv anwendbare Antioxidanzien kommen außer Vitaminen in erster Linie sekundäre Planzenstofe in Frage. Die bisherigen klinischen Ergebnisse sind nicht überzeugend. Es scheint so, als sei die Supplementierung mit einzelnen Produkten nicht ausreichend, viel-
mehr sei es zu einer wirksamen Prävention erforderlich, das gesamte antioxidative Netzwerk unter Einschluss der Ernährung sowie der ganzen Lebensführung zu stärken. Angebote an Präparaten – bis hin zu den „Anti-agingMitteln“ – gibt es weltweit in Hülle und Fülle. Ob sie ihrem angelobten Zweck gerecht werden, ist fraglich. Die nachfolgenden Ausführungen sollen durch Darstellung entsprechender Zusammenhänge eine eigene Urteilsbildung ermöglichen. Oxidativer Stress und sekundäre Planzenstofe: Die Zusammenhänge ergeben sich aus den Antworten auf die folgenden Fragen: x Welcher Natur sind die reaktiven Sauerstofspezies (ROS)? x Woher stammen sie im lebenden Organismus (biologische Quellen für ROS)? x Welche Biomoleküle können durch ROS geschädigt werden? x Welcher Art sind die körpereigenen antioxidativen Schutzmechanismen? x Kann man oxidativen Stress konkret am Patienten messen (biologische Marker für oxidativen Stress)? x Schützen sekundäre Planzenstofe vor oxidativem Stress (Efekte nutritiver Antioxidanzien)?
15.4.2
Reaktive Sauerstoffspezies (ROS)
Die wichtigsten ROS-Vertreter sind in der Gruppe der nichtradikalischen Sauerstofspezies: Singulettsauerstof,
. Abb. 15.3
Bildung reaktiver Superoxidradikalanionen bei der Verstoffwechslung von Chinonen durch P-450-Enzyme. In einer Nebenreaktion der Monooxygenasen können aus Chinonen Semichinone entstehen, die unter Bildung von Superoxidradikalanion spontan mit molekularem Sauerstoff ragieren. (Aus Löffler u. Petrides 2003)
15.4 Antioxidative Wirkung sekundärer Pflanzenstoffe
. Abb. 15.4
15
9 Die Abbildung zeigt die bakteriziden Mechanismen eines Phagozyten (Jungermann u. Möhler 1980, verändert). Der Kontakt des Phagozyten hat eine membranständige NADPH-Oxidase aktiviert, die Sauerstoff mittels NADPH des Pentosephosphatwegs (PPW) nach Reaktionsgleichung 1 reduziert (OX über dem Reaktionspfeil). Das Superoxidradikalanion (O2x –) wird von der Superoxiddismutase (SOD) nach Reaktionsgleichung 2 zu Wasserstoffperoxid umgesetzt, der bakterizid wirkt. Verstärkt wird die bakterizide Wirkung durch das Myeloperoxidasesystem (MPO) im Sinne der Reaktionsgleichung 4, das die Halogenierung von bakteriellen Proteinen ermöglicht. Aus Wasserstoffperoxid bilden sich spontan die sehr aggressiven Hydroxylradikale (Reaktionsgleichung 3). Die reaktiven Sauerstoffspezies wirken nicht nur auf Mikroorganismen, sie können auch Wirtszellen in der Umgebung schädigen. Ihr Abbau wird durch Katalasen und Peroxidasen gewährleistet. H2O2 kann auch aus der Zelle diffundieren. Trotz dieser Schutzmechanismen können Infektionen und Entzündungen für den Organismus Quellen für oxidativen Stress sein
x Singulettsauerstof: Er entsteht durch Energieübertra-
Wasserstofperoxid und Ozon; in der Gruppe der radikalischen Sauerstofspezies: Superoxidanionradikal, Hydroxylradikal, Perhydroxylradikal und Alkoxyradikal. Verschiedene Arten von ROS treten als Begleitreaktionen physiologischer Prozesse regelmäßig auf (z. B. der mitochondrialen Elektronentransportkette), andere nur unter bestimmten Bedingungen (z. B. bei Strahlenbelastung oder bei Entzündungen). Die wichtigsten ROS sind:
gung auf molekularen Triplettsauerstof (3O2 o 1O2) und durch die daraus resultierende Änderung im Spin der Elektronen. Singulettsauerstof ist sehr kurzlebig und reagiert bevorzugt mit organischen Molekülen. Bisher sind nur einige wenige biologische Systeme bekannt, in denen 1O2 gebildet wird, darunter die Prostaglandinbiosynthese und die Phagozytose. Als Beispiel einer toxikologischen Situation kann die photodynamische Wirkung von Hypericin genannt werden. Durch das lichtangeregte Hypericin als Sensibilisator bildet sich Singulettsauerstof, der zelluläre Proteine und Membranlipide oxidativ verändert. x Superoxidradikalanion: Es entsteht durch Aufnahme eines Elektrons. Quellen für dessen Bildung sind u. a. Nebenreaktionen des Cytochrom P-450, bei denen direkt oder über die Bildung und Freisetzung autoxidabler Semichinone Superoxid entstehen kann ( > Abb. 15.3). Das Superoxidradikalanion kann die unterschiedlichsten Reaktionen eingehen: Als starke Base kann es Protonen abspalten, es kann als Reduktionsmittel fungieren und Chinone zu Semichinonen reduzieren, es kann als Nucleophil mit elektrophilen Gruppen reagieren und schließlich kann es als schwaches Oxidationsmittel Moleküle wie Ascorbinsäure oder Adrenalin oxidieren.
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15
Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
x Wasserstofperoxid (H2O2): Er entsteht in Nebenreaktionen vieler enzymatischer Umsetzungen z. B. bei der Oxidation von Aminosäuren und von Xanthinen, insbesondere aber auch der Fremdstofmetabolisierung durch Cytochrom P-450 ( > Abb. 15.3) durch die Superoxiddismutase ( > Abb. 15.4). Wasserstofperoxid ist ein relativ unreaktives Zwischenprodukt; da es membranpermeabel ist, kann es von seinem Entstehungsort weg difundieren. x Hydroxylradikal (OHx): Dieses äußerst aggressive Radikal entsteht aus H2O2 bei Interaktionen mit Übergangselementen (meist Fe2+) oder aber durch Reaktion mit anderen Verbindungen: Fe2+-Komplex + H2O2 = Fe3+-Komplex + OHx + OH–
15.4.3
Biologische Quellen für ROS
Die Reduktion von molekularem Sauerstof zu Wasser durch Übertragung von Elektronen, katalysiert durch die Enzyme der Elektronentransportkette ( > Abb. 15.5), bildet die Grundlage für alle Lebensvorgänge in höheren Organismen. Charakteristisch für die Elektronentrans-
portkette ist: Sie funktioniert nicht absolut präzise, sie ist quasi ein wenig „leck“, d. h. dass an undichten Stellen – das wichtigste Leck liegt bei der reduzierten Form des Coenzyms Q – einzelne Elektronen auf Sauerstof übertragen werden und sich in ROS umwandeln. Nach Schätzungen werden etwa 3% des täglich konsumierten Sauerstofs nicht direkt zu Wasser reduziert, sondern zu ROS umgewandelt. Neben dem Atmungsstofwechsel läut in jedem Organismus eine Reihe weiterer oxidativer Prozesse ab, bei denen ROS entstehen: x Enzyme und Reaktionen des Phase-I-Metabolismus zur Entgitung von lipophilen Xenobiotika. Besonders Chinone und aromatische Nitroverbindungen können den oxidativen Stress unter Bildung von Superoxidradikalanionen erhöhen. x Die Xanthinoxidase oxidiert Arzneistofe mit Xanthinstruktur (Cofein, heophyllin): Das Enzym spielt ferner eine entscheidende Rolle bei der Bildung von Superoxidradikalanionen während der Wiederdurchblutung nach Ischämien. x Aldehydoxidase ist ein weiteres Enzym, das auf den molekularen Sauerstof ein einziges Elektron abgibt. Das Enzym enthält Molybdän als Zentralatom; es
. Abb. 15.5
Im letzten Schritt der Elektronentransportkette überträgt die Cytochromoxidase vier Elektronen auf molekularen Sauerstoff, der zu Wasser reduziert wird. Die Abbildung zeigt die 4 Zwischenstufen. Die Zwischenprodukte bleiben so lange fest an den Enzymkomplex gebunden, bis sie vollständig zu Wasser umgesetzt sind. Kleine Teilmengen des eingesetzten molekularen O2 – man schätzt etwa 1–2% – gelangen jedoch bereits nach der Übertragung von nur 1 Elektron als Superoxidradikalanion aus dem Bereich des Enzymkomplexes. Hinweis: Die chemischen Eigenschaften des Superoxidradikalanions hängen vom pH ab. Im physiologischen Milieu liegt die Spezies als Anion (pKs-Wert = 4,8) vor
15.4 Antioxidative Wirkung sekundärer Pflanzenstoffe
15
kommt in der Leber vor und oxidiert aliphatische Aldehyde zu Säuren. x Eine ganze Reihe zellulärer Bestandteile stellen Substanzen dar, die durch molekularen Sauerstof mehr oder weniger rasch autoxidiert werden. Unter den Verbindungen, die leicht autoxidiert werden, sind wichtige Zell- und Gewebeteile, wie z. B. Hämoglobin, das Hämiglobin (= Methämoglobin) bildet, hiole, die Disulide bilden, oder mehrfach ungesättigte Membranlipide, aus denen Lipidperoxide hervorgehen ( > dazu Lipidoxidation im Kap. 22.5.3 „Oxidative Schädigung von Membranlipiden“).
dungsaktivierung Sauerstofradikale frei, die antibakteriell wirken. Wenn der Ablauf der Entzündungsreaktion gestört ist, beispielsweise bei chronischen Infektionen oder bei Schwäche des Immunsystems, können ROS Zellstrukturen schädigen. x Die Metabolisierung vieler Medikamente ist mit ROSBildung verbunden. x Radioaktive und UV-Strahlung sind ebenfalls in der Lage, reaktive oxidative Spezies zu generieren.
Eine weitere Quelle sind Umweltfaktoren. Nicht alle Faktoren können genannt werden. Die wichtigsten sind: x Zigarettenrauch: Radikale kommen im Rauch selbst vor, darüber hinaus wird ihre Bildung in den Zellen durch Rauchbestandteile induziert. x Alle entzündlichen Prozesse gehen mit einer Überproduktion von ROS einher. Die Entzündung ist Teil der Abwehr gegen Bakterien, die ins Gewebe eindringen. Insbesondere die Phagozyten setzen bei der Entzün-
Bei oxidativem Stress greifen die im Übermaß produzierten reaktiven Sauerstofverbindungen nahe ihres Entstehungsortes an, da ihre Lebensdauer relativ kurz ist. Wenn das Mitochondrium Entstehungsort ist, werden die mitochondriale Membran und ihre Proteine angegrifen. ROSSchäden treten weiterhin auf als x Lipidschäden in Form der Oxidation von ungesättigten Fettsäuren, die am Aubau der Biomembranen beteiligt sind. Die Chemie dieser Lipidperoxi-
15.4.4
Biologische Wirkungen von ROS
. Abb. 15.6
Schädliche Auswirkung der Lipidperoxidation auf Biomembranen. Zunächst sind die als Folge der radikalischen Hydroperoxidbildung entstandenen Lipidhydroperoxide statistisch (unregelmäßig) über die Biomembran verstreut. Durch laterale Diffusion sammeln sie sich zu größeren Haufen („clusters“), die durch intermolekulare Wechselwirkung zusammengehalten werden. Im Unterschied zu den Stellen mit unveränderter Biomembran sind diese Stellen mit Ansammlungen von Lipidhydroperoxiden hydrophil, d. h. dass hier Wassermoleküle Zugang finden. Sobald es infolge lateraler Diffusion symmetrisch an zwei einander gegenüberliegenden Stellen der Doppelschicht zur Aggregatbildung von Lipidhydroperoxiden kommt, entsteht eine Pore: Die Membran wird für Ionen, beispielsweise für Calciumionen durchlässig (Lebedev et al. 1980; Abb. aus Meerson 1984)
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Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
dation ist im Abschnitt 22.5.3 eingehend beschrieben. Die Folgen der Lipidperoxidation sind Membranschäden, die zunächst als unkontrollierter Ionenaustausch in Erscheinung treten, die schließlich bis zum Zerplatzen der Membran fortschreiten können ( > Abb. 15.6). x Proteinschäden: Die anfälligsten Stellen in Proteinen sind hiolgruppen: Durch Abspaltung von H-Atomen aus Cystein bilden sich hiylradikale, die Disulidbrücken zu einem benachbarten zweiten hiylradikal ausbilden. Auch Histidin- und Tryptophanreste (Bildung von Bityrosin) sind leicht oxidable Stellen. Oxidative Veränderungen dieser Art können zu Änderung in der 3D-Struktur führen, weiterhin zu Konformationsänderungen des Proteins sowie zu Funktionsverlusten funktioneller Proteine. x DNA-Schäden: Durch Angrif im Zuckerteil induzieren reaktive Sauerstofspezies Einzelstrangbrüche. Durch Oxidation von Guanin zu 8-Hydroxyguanin, das sich nun auch mit Adenin paaren kann, wirken ROS als intrazelluläre Mutagene. Zwar ermöglichen DNA-Repairsysteme eine gewisse Schadensbehebung. Allerdings steht der mitochondrialen DNA (mtDNA) kein so wirkungsvolles Reperatursystem wie der KernDNA zur Verfügung, womit die hohe Empindlichkeit gerade der mtDNA gegenüber freien Radikalen ihre Erklärung indet.
15.4.5
Antioxidative Schutzmechanismen gegen ROS
Um der schädlichen Wirkung von reaktiven Sauerstofspezies zu entgehen, verfügt der Organismus über eine ganze Palette von enzymatischen und nichtenzymatischen Schutzmechanismen. Die Superoxiddismutase (SOD) kommt in allen Eukaryotenzellen vor und katalysiert die Disproportionierung zweier Superoxidradikalanionen in Sauerstof und in den weniger aggressiven Wasserstofperoxid ( > Abb. 15.4). Zwei verschiedene Enzyme sind bekannt: eine zytoplasmatische und eine mitochondriale SOD. Die Glutathionperoxidase ( > Abb. 15.7) katalysiert die Inaktivierung von Lipidhydroperoxiden und von Wasserstofperoxid durch das Tripeptid Glutathion ( > Abb. 15.8). Dieses Abfangen von H2O2 verhindert die Bildung von Sekundärradikalen wie Hydroxylradikalen und Perhydroxylradikalen aus H2O2, zumindest unter physiologischen Bedingungen. Das Entgitungssystem kann überfordert werden: Diese dann pathologischen Bedingungen bezeichnet man als oxidativen Stress (Näheres > Infobox). Ein weiteres Entgitungsenzym, das die Bildung von ROS durch Fremdstofe unterbindet, ist die NADPH-Chinon-Oxidoreduktase (Synonym: DT-Diaphorase, Chinonreduktase). Chinone können lebertoxisch sein, weil sie durch metabolisierende Enzyme, insbesondere die
. Abb. 15.7
Die Funktion der Glutathionperoxidase besteht im Abbau von Peroxiden. Das Enzym benötigt Glutathion als Elektronendonator. Die Rückreduktion des oxidierten Glutathions erfolgt durch die Glutathionreduktase. Die dazu benötigte Energie wird durch die Glucose-6-phosphat-Dehydrogenase bereitgestellt. Flavinadeninnukleotid (FAD) ist das Coenzym der Glutathionreduktase. Viele Zellen, beispielsweise die Erythrozyten, können aus dem mit der Nahrung aufgenommene Riboflavin FAD synthetisieren
15.4 Antioxidative Wirkung sekundärer Pflanzenstoffe
15
. Abb. 15.8
DT-Diaphorase (Synonym: NADPH-Chinon-Oxidoreduktase) als Entgiftungsenzym am Beispiel der Verstoffwechselung von Chinonen. Chinone können einer Ein-Elektronen-Reduktion zum entsprechenden Semichinonradikal unterliegen, wobei ein Semichinon entsteht ( > auch > Abb. 15.3), das mit molekularem Sauerstoff unter Rückoxidation Superoxidradikale bildet. In einem Zyklus können auf diese Weise durch die Ein-Elektronen-Reaktionen kontinuierlich neue Radikale erzeugt werden. Die direkte Zwei-Elektronen-Reduktion durch die DT-Diaphorase unterbindet den laufend Radikale erzeugenden Redoxzyklus. Auch die weitere Reduktion des Semichinons zum Hydrochinon trägt zur Radikalelimination bei (Younes 1994)
NADPH-P-450-Reduktase, zu entsprechenden Semichinonradikalanionen reduziert werden. Die Radikalanionen reagieren mit Sauerstof unter Bildung von Superoxidradikalen und Rückbildung von Chinon. Durch Wiederholung werden laufend Radikale produziert. DT-Diaphorase unterbindet diesen Redoxzyklus durch eine Zwei-Elektronen-Reduktion des Chinons ( > Abb. 15.8). Auf nichtenzymatischem Wege abgefangen werden ROS durch verschiedene Antioxidanzien, von denen das wasserlösliche Ascorbat (Vitamin C) und das lipidlösliche D-Tocopherol (Vitamin E) die wohl wichtigsten sind ( > Abb. 15.9). Im Abschnitt 22.5.3 ( > Abb. 22.49) ist diese nichtenzymatische Unterbrechung der Lipidperoxidationskette durch Tocopherol und Umsetzung mit Ascorbat ausführlich besprochen. Die zentrale Rolle unter den niedermolekularen zellulären Antioxidanzien spielt aber das Glutathion. Glutathion. Das reduzierte Glutathion (GSH) ist ein Tri-
peptid mit einer Sulhydrylgruppe, bestehend aus den drei Aminosäuren Glutaminsäure, Cystein und Glycin ( > Abb. 15.10). Glutathion kommt in den meisten eukaryotischen Zellen in hoher Konzentration (10 mmol in der Leberzelle) vor: Es gilt als das zentrale Molekül im antioxidativen Stofwechsel der Zelle. Glutathion kann direkt mit Radikalen unter Bildung der oxidierten Disulidform reagieren.
Eine wichtige Rolle spielt Glutathion bei der Entgitung von Arzneimitteln und anderen Xenobiotika. Sie werden normalerweise durch Oxidation und Konjugation mit Glucuronid oder Sulfat entgitet. Bei der Oxidation durch P-450-Cytochrome bilden sich kleine Mengen von Radikalen. Ihre schädlichen Wirkungen auf Zellproteine und/oder Membranen wird jedoch durch Konjugation mit Glutathion verhindert. Wenn jedoch die Menge an zu entgitender Substanz zu groß ist, verarmt schließlich die Zelle an Glutathion. Sobald dessen Konzentration auf 20–30% des Ausgangswertes absinkt, ist die antioxidative Abwehr nicht mehr gewährleistet. Der Zelltod durch Apoptose ist die Folge. Neben dem Glutathion haben zwei Abbauprodukte des Stofwechsels große Bedeutung als Antioxidanzien: Harnsäure (Urat) und Bilirubin. Es sind Beispiele für das evolutive Prinzip, dass selbst Endprodukte des Katabolismus nützliche, im vorliegenden Falle schützende Funktionen erwerben können. Der Serumspiegel des Menschen an Urat ist bedeutend höher als der anderer Primaten. Es wird spekuliert, dass die längere Lebenserwartung und die niedrigere Krebshäuigkeit des Menschen mit der antioxidativen Schutzwirkung speziell von Urat in Zusammenhang stehen könnten (Stryer 1990). Auch von außen zugeführte Substanzen können antioxidativ wirken. Dazu zählen die Tocopherole, die Ascor-
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Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
. Abb. 15.9
Unterbrechung der Lipidperoxidbildung (ROOx) durch Tocopherol unter Bildung von Tocopherylradikal aus Tocopherol (Vitamin E). Durch Umsetzung mit Ascorbat (AH2) wird Tocopherol regeneriert. Die Ascorbatradikale (AHx) sind nur schwach reaktiv und können zu Ascorbat (AH2) und Dehydroascorbat (A) disproportionieren. Das anfallende Deydroascorbat (A) unterliegt einem laufenden Recycling. Es gibt mindestens 2 Reduktasen, um aus Dehydrascorbat (A) die Ausgangssubstanz AH2 wieder zu regenerieren. Die eine Reduktase ist glutathionabhängig, die andere NADPH-abhängig
. Abb. 15.10
9 Chemischer Aufbau von Glutathion. Es liegt ein Tripeptid aus Glutaminsäure, Cystein und Glycin vor. Vereinbarungsgemäß wird bei linearen Peptiden das terminale Carboxylende nach rechts gesetzt. In der Kurzschreibweise zeigt der senkrechte Strich zwischen Cys und Glu an, dass nicht das α-Carboxyl des Glu, sondern das γ-Caboxyl eine Bindung eingegangen ist
15.4 Antioxidative Wirkung sekundärer Pflanzenstoffe
binsäure, Ubichinon („Vitamin Q“), Flavone, oligomere Procyanidine, Catechine, Phenolcarbonsäuren, Ellagsäure, Lignane, Terpene und Steroide mit phenolischen Gruppen u. a. m. Allen der verschiedensten Gruppen von sekundären Planzenstofen wird eine antioxidative Wirkung zugeschrieben. Antioxidativ zu wirken ist zunächst einmal eine chemische Eigenschat organischer Verbindungen unterschiedlichster Konstitution, die darin besteht, unerwünschte, durch Sauerstofeinwirkungen bedingte Veränderungen in den zu schützenden Stofen zu verhindern oder zumindest zu hemmen. Beispielsweise wirken die in planzlichen Ölen vorkommenden Tocopherole als ein natürliches Antioxidans, indem sie die Autoxidation ungesättigter Fettsäurekomponenten und damit den Verderb der Öle hintanhalten ( > auch Abschnitt 22.2.6). Auch einige Gewürze, insbesondere Salbei, hymian und Rosmarin, wirken antioxidativ und verbessern, Fleisch- und Wurstwaren zugesetzt, deren Haltbarkeit. Die antioxidativ wirksamen Inhaltsstofe dieser Gewürze sind Phenole wie hymol und o-Diphenole wie Carnosol und Carnosolsäure. Schutzmechanismus: Unterbrechung der Zellkommunikation. Eine besondere Art der Anpassung an oxida-
tiven Stress erfolgt auf der Ebene der Kopplung von belasteten Zellen mit den unbelasteten unmittelbaren Nachbarzellen, die über so genannte „gap junctions“ (engl.: gap [Lücke]) erfolgt. Diesen Schutzmechanismus hat man zuerst bei Leberzellen beobachtet, die mit toxischen Chinonen in Kontakt kommen. Unter oxidativem Stress kommt es zu einer Abnahme der Zell-Zell-Kommunikation, was eine noch unbelastete Nachbarzelle vor dem toxischen Agens und vor toxischen Abbauprodukten aus dem Metabolismus der sterbenden Zelle schützt. „Gap junctions“ sind Ansammlungen von Zell-Zell-Kanälen, die aus je zwei von benachbarten Zellen bereit gestellten Halbkanälen bestehen, die wiederum aus je 6 Connexinen aufgebaut sind. Über diese Kanäle kommunizieren benachbarte Zellen im Sinne eines Austauschs elektrischer Signale und niedermolekularer Substanzen wie cAMP oder Ca2+-Ionen. Die Phosphorylierung der Connexine führt in der Regel zur Abnahme dieser interzellulären Kommunikation über „gap junctions“. Eben diese Phosphorylierungsreaktion beobachtet man nach Einwirkung von Chinonen auf Leberzellen (Sies et al. 2003 [Übersichtsarbeit]).
15.4.6
15
Biochemische Marker für oxidativen Stress
Dass im lebenden Organismus freie Radikale autreten, lässt sich mit Hilfe von hoch entwickelten Analysenmethoden zeigen. Messungen der Elektronenspinresonanz-Spektrometrie (ESR) zeigen, dass im menschlichen Körper freie Radikale in einer molaren Konzentration von 10–9 bis 10–5 vorkommen. Um den aktuellen oxidativen Stress zu bestimmen, bedient man sich jedoch indirekter Methoden, und zwar des Nachweises oxidativ veränderter Lipide, Proteine und Nucleinsäuren im Blut und/oder im Harn. Bei der Lipidperoxidation entsteht als Abbauprodukt Malondialdehyd (MDA), der sich gut bestimmen lässt ( > dazu > Abb. 22.47). Ein hoher MDA-Wert kann auf beginnende oder im Gang beindliche Membranschäden hinweisen. Allerdings ist der MDA-Wert kein zuverlässiger Marker für oxidativen Stress, weil er nur 1% der Lipidoxidation widerspiegelt. Als verlässlicher gilt der Nachweis von Isoprostan F2, das mittels der GC/MS-Technik identiiziert und quantiiziert werden kann (Fam u. Morrow 2003). Isoprostane entstehen bei der radikalischen Oxidation von Arachidonsäure enthaltenden Membranlipiden ( > Abb. 15.11).
15.4.7
Die Rolle von ROS bei der Entstehung von Krankheiten
Die als „oxidativer Stress“ bezeichneten oxidativen Veränderungen an biologisch bedeutsamen Makromolekülen bringt man heute mit der Pathogenese zahlreicher chronischer Krankheiten in einen kausalen Zusammenhang. Zu nennen sind hier endotheliale Dysfunktion, Atherosklerose, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Makuladegeneration, aber auch neurodegenerative Erkrankungen wie die Alzheimer- und Parkinson-Krankheit sowie Myopathien und Enzephalopathien. Es ist natürlich unmöglich, im Rahmen des vorliegenden Kapitels die Pathobiochemie dieser Krankheiten zu beschreiben. Es soll lediglich versucht werden, an drei Beispielen – Atherogenese, Diabetes und Kanzerogenese – die Stresshypothese von Krankheitsentstehung nachvollziehbar zu machen. Diese Grobinformation zur Pathobiochemie soll als Hintergrundwissen dienen, um sich die aus pharmazeutischer Sicht wichtigen Zusammenhänge zwischen der Stresshypothese und dem Arzneimittelangebot klar zu machen: x Der oxidative Stress wird zur Erklärung einer Vielzahl von Erkrankungen herangezogen.
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Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
. Abb. 15.11
Die Autoxidation von hoch ungesättigten Fettsäuren vom Typus der Arachidonsäure führt zu einem komplexen Gemisch unterschiedlichster Oxidationsprodukte, darunter zunächst linearer Hydroperoxide mit Hyroperoxidsubstitution an C-5, C-8, C-9, C-11, C-12 und C-15. Daraus entstehen als Sekundärprodukte Isofuranderivate, zyklische Peroxide und zyklische Endoperoxide. Das Gemisch enthält u. a. auch F2-Isoprostane, die sich von den enzymatisch gebildeten F2-Prostaglandinen durch abweichende Stereochemie unterscheiden. F2-Isoprostan dient als Biomarker zum Nachweis von oxidativem Stress
x Die Hypothesen zum Pathomechanismus sind zwar einleuchtend, haben aber bisher zu keinen therapeutisch nützlichen Konsequenzen, beispielsweise in Form wirksamer Arzneistofe geführt. x Die Hypothesen dienen in paramedizinischen Bereichen zur „wissenschatlichen Untermauerung“ der so genannten Antistressmittel, der Antioxdanzien und der Radikalfänger.
Oxidativer Stress und Untergang von α-Zellen bei Diabetes Im Falle von Typ-1-Diabetes wird der oxidative Stress der D-Zellen durch eine chronische Entzündung und die Aktivierung von Entzündungszellen (Makrophagen,
T-Zellen) ausgelöst. Beim Typ-2-Diabetes ist eine chronische Überladung der D-Zellen mit Glucose und Fettsäuren die Quelle übermäßiger ROS-Bildung. In der mitochondrialen Elektronentransportkette entweichen bereits physiologischerweise 1–2% der Elektronen unter Bildung von ROS. Der Anteil der entweichenden Elektronen nimmt zu, wenn die Elektronenlussrate einen kritischen Wert übersteigt, was bei einem Überangebot an Substrat (Glucose und Fettsäuren) der Fall ist. Es kommt zu einer massiven Bildung von ROS (Rösen 2004 [Übersichtsarbeit]).Verstärkt wird die Wirkung von ROS in der D-Zelle dadurch, dass die D-Zellen eine ungewöhnlich niedrige Kapazität an antioxidativen Mechanismen aufweisen. Nach experimentellen Studien (Burkart et al. 1999; Piro et al. 2002) führt der oxidative Stress zur Apoptose, dem sog. „programmierten Zelltod“.
15.4 Antioxidative Wirkung sekundärer Pflanzenstoffe
Natürlich ist ROS nicht die eigentliche Ursache für die Entstehung von Typ-2-Diabetes. ROS bildet nach der Stresshypothese lediglich das Bindeglied zwischen genetischer Prädisposition und Lebensstil auf der einen und den schwerwiegenden Folgen und Spätschäden auf der anderen Seite.
LDL-Oxidation, Atherogenese und Herzinfarkt In der Ernährungsmedizin gilt heute der folgende Zusammenhang als gesichert: Die mit einer hohen Gesamtcholesterolkonzentration einhergehende hohe Konzentration von LDL-Cholesterol stellt den wesentlichen Risikofaktor für arteriosklerotische Gefäßerkrankungen und insbesondere für den Herzinfarkt dar. LDL-Partikel transportieren den größten Teil des im Blut zirkulierenden Cholesterols. Es handelt sich dabei um kugelförmige Fett-Protein-Partikel, die außen aus einer Hülle von Apolipoprotein B bestehen. Der Kern besteht aus Phospholipiden, Triacylglyceriden und Cholesterolestern, und zwar in folgendem quantitativen Verhältnissen: Ein LDL-Partikel enthält x 700 Moleküle Phospholipide, x 600 Moleküle freies Cholesterol, x 1600 Moleküle verestertes Cholesterol, x 185 Moleküle Triacylglyceride und x 1 Molekül Apolipoprotein B (apoB), ein Protein, das aus 4536 Aminosäuren zusammengesetzt ist.
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Phagozytose von Partikeln zu ermöglichen, die nicht opsoniert sind. Nach Bindung an den SR werden die Partikel – im vorliegenden Falle oxidiertes LDL (oxLDL) – vom Makrophagen aufgenommen (internalisiert). Somit ist nicht die Lipidakkumulation in der Gefäßwand als solche das entscheidende pathologische Ereignis: die Bildung von Schaumzellen löst entzündliche Vorgänge in der Gefäßwand aus, die schlussendlich zu einem erhöhten Plaquewachstum führen ( > Abb. 15.12). Die Aufnahme von oxLDL führt schließlich zu einer massiven Lipidakkumulation im Makrophagen, der dadurch zu der eingangs erwähnten Schaumzelle mutiert. oxLDL wirkt überdies als ein Chemoattraktant für Monozyten und lockt immer mehr „Entzündungszellen“ in das Gebiet der sich entwickelnden Plaques ( > oben). Die Natur des oxLDL. Erstes Angrifsziel für ROS sind die mehrfach ungesättigten Fettsäuren, die als Komponenten von Cholesterolestern, von Phospholipiden und von Triacylglyceriden vorliegen. Lange Zeit hindurch galt als
. Abb. 15.12
Weniger LDL selbst, sondern oxidiertes LDL wirkt atherogen. Um diese Aussage zu begründen, muss ein wenig
ausgeholt und kurz die Entstehung der Schaumzellen beschrieben werden. Die Schaumzellen bilden den Kern einer Läsion in der Endothelschicht, die sich in späteren Stadien zunächst zu einer ibrösen Kappe und schließlich zum arteriosklerotischen Plaque entwickelt. Verschiedene Risikofaktoren, Rauchen, Übergewicht, Diabetes, hoher LDL-Spiegel und eine Reihe unbekannter Faktoren führen zunächst zu einer Schädigung des Endothels, die hauptsächlich in einer Zunahme der Endothelpermeabilität für Lipoproteine besteht. Als Folge davon exprimieren die Endothelzellen vermehrt so genannte Adhäsionsmoleküle, die zu einer Anhetung von Monozyten und T-Lymphozyten an die Gefäßwand führen. Die Diferenzierung der sesshat gewordenen Monozyten zu Makrophagen ist mit einer Zunahme so genannter S-Rezeptoren („scavenger receptors“) verbunden. S-Rezeptoren hat die Evolution erfunden, so wird vermutet, um die
Schema zur Pathogenese arteriosklerotischer Läsionen (Kinscherf u. Metz, verändert). Nach massiver Aufnahme von oxLDL wird der Makrophage zur Schaumzelle, ein pathophysiologisch bedeutsamer und zur Entwicklung der Atherosklerose führender Schritt. Näheres > Text
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Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
Lehrsatz, dass die Zufuhr mehrfach ungesättigter Fettsäuren die Entwicklung von Atherosklerose zu hemmen imstande ist. Gegenwärtig wird der Nutzen dieser Präventionsmaßnahme mit folgender Argumentation in Frage gestellt: Die mehrfach ungesättigten Fettsäuren sind besonders leicht oxidierbar und liefern eine Palette von Abbauprodukten mit einer Kettenlänge von C3 bis C9 , darunter Aldehyde und Ketone, die u. a. mit dem apoB reagieren. Aldehyde (z. B. Malondialdeyd) reagieren mit den H-Aminogruppen von Lysinresten, sodass es zu Quervernetzungen zwischen Protein und Lipiden kommt. Während des Oxidationsvorgangs, der vom LDL zu oxidierten Formen von LDL (oxLDL) führt, werden 40–50% der zuvor freien H-Aminogruppen maskiert. Die autoxidativen Veränderungen erfassen nicht nur ungesättigte Fettsäuren und den Proteinteil, sondern vor allem auch das Cholesterolmolekül. Es bilden sich als Folge der Peroxidation ungesättigter Fettsäuren oxygenierte Cholesterolderivate, die außer der Hydroxygruppe an C-3 weitere Sauerstofatome im Molekül enthalten, insbesondere 7D-Hydroxycholesterol, Cholestantriol (= 3D, 5D, 6D-Trihydroxycholestan) und Cholesterol-5,6-epoxid. In-vitro- und In-vivo-Versuche: ein großer Unterschied.
Die oxidative Modiizierung von LDL zu oxLDL durch Endothelzellen lässt sich in vitro durch Zugabe von Antioxidanzien (Proteine, Ascorbinsäure, Harnsäure u. a. m.) leicht verhindern. In gesunden Arterien kommen hinreichend natürliche Antioxidanzien vor, um LDL vor Oxidation zu oxLDL zu schützen. Warum kommt es lediglich in vorgeschädigten Endothelzellen zu Oxidationsvorgängen? Die Antwort auf diese Frage konnte bisher experimentell noch nicht geklärt werden. Man vermutet, dass es in geschädigten Zellen zu einer Sequestrierung der LDL in subendothelialen Räumen kommt, die dann nicht mehr durch Antioxidanzien des Serums geschützt sind. Für möglich gehalten wird daneben eine Mikrokompartimentierung durch die Makrophagen, die sich tentakelartig an ihr Substrat heten und möglicherweise Mikrokompartimente abschnüren. Die In-vivo-Situation ist somit nicht mit der In-vitroSituation vergleichbar, d. h., aus der Antioxidanswirkung einer Substanz in vitro lässt sich keine antiatheriosklerotische Wirksamkeit in vivo prognostizieren. Für den Nachweis der Wirksamkeit, nämlich ob die Substanz atherosklerotische Prozesse verlangsamt, ist allein der klinische Versuch beweisend. In der Tat existieren zurzeit keine Antioxidanzien (Vitamin E, Ascorbinsäure, D-Caro-
tin und andere sekundäre Planzenstofe), deren klinische Wirksamkeit gesichert ist (Heinecke 2001; Steinberg u. Witztum 2002). Die Werbung für Antioxidanzien kann sich somit lediglich auf tierexperimentelle Studien und/ oder epidemiologische Daten stützen, nicht auf Beweise, sondern auf Hinweise oder Plausibilitäten.
Freie Radikale und Kanzerogenese Hochreaktive Sauerstofspezies (ROS) können direkt oder indirekt – über reaktionsfähige Produkte der Lipidoxidation (Lim et al. 2004) – mit der DNA reagieren. Die am besten durch ROS untersuchte Läsion ist die Bildung von 8-Hydroxyguanin. Sie tritt relativ leicht und häuig auf, sodass man 8-Hydroxyguanin als Biomarker der Karzinogenese ansieht (Valko et al. 2004). Die Mutation führt zu einer Fehlbasenpaarung mit Adenin, die eine GoT-Transversion bedingt. Bei Ausfall von Reparaturmechanismen kann es zu Fehlern im Zellstofwechsel und zur Umwandlung in eine Krebszelle kommen. Die genetischen Veränderungen der Krebszelle werden von einer Krebszellgeneration auf die nächste übertragen. Chronisch entzündliche Prozesse erhöhen, wie man seit langem weiß, die Wahrscheinlichkeit, dass genetisch veränderte Zellen erzeugt werden (Oshima et al. 2003). Die entzündlichen Vorgänge, unabhängig davon, ob sie durch biologische, chemische oder physikalische Faktoren in Gang gesetzt wurden, sind mit der Freisetzung von ROS und Aldehyden (Produkte der Lipidperoxidation) verbunden, die nun ihrerseits eine ganze Reihe von Folgereaktionen in Gang setzen, darunter Mutationen und posttranslationale Modiikationen an Proteinen. Es kann zur Unterbrechung wichtiger zellulärer Funktionen kommen, wie beispielsweise der DNA-Repairmechanismen, sowie zu Störungen von Wachstums- und Signalfaktoren (des Zellzyklus) und der Apoptosesignale (Hussain et al. 2003). Neben ROS entstehen bei entzündlichen Prozessen reaktive Stickstointermediate, insbesondere Stickstofmonoxid. Die NO-Synthese wird durch Zytokinine induziert. Stickstofmonoxid ist hinsichtlich seiner Wirkungen ambivalent: Es wirkt grundsätzlich entzündungshemmend und gegen eine Vielzahl pathogener Mikroorganismen zytotoxisch. Im vorliegenden Zusammenhang interessiert jedoch seine Interaktion mit dem Protein p53 (Hussain et al. 2003). Es handelt sich um ein 53-Dalton-Protein mit der wichtigen Funktion, die Zellteilung DNA-geschädigter Zellen zu verhindern. Verändertes p53 kann nicht mehr an
15.4 Antioxidative Wirkung sekundärer Pflanzenstoffe
die geschädigte DNA binden und die Zellteilung stoppen; auch die Funktion, DNA-Reparatur oder Apoptose einzuleiten, ist nicht mehr gewahrt. Wenn oxidativer Stress ursächlich mit der Krebsentstehung zusammenhängt, was liegt näher als der Gedanke, zur Vorbeugung gegen Krebs antioxidativ wirkende Arzneimittel einzunehmen, Substanzen wie Ascorbinsäure, Vitamin E, Carotinoide, Selen u. a. m. In der Tat werden dem Verbraucher antioxidative Arznei- und Nahrungsergänzungsmittel in Hülle und Fülle angeboten. Vorbeugen mit Antioxidanzien: keine Beweise für den Nutzen. Am ehesten sollte sich ein Nutzen von Antioxi-
danzien zur Vorbeugung gastrointestinaler Tumore zeigen lassen, da hier das Problem der Bioverfügbarkeit weniger komplex ist. Bis zum Jahre 2004 wurden 14 kontrollierte Studien mit insgesamt mehr als 170.000 Teilnehmern durchgeführt. Die 14 Studien betrafen die Gabe von D-Carotin (9), Vitamin A (4), Ascorbinsäure (4); Vitamin E (5) und Selen (6 Studien), teils einzeln, teils in Kombination. Das Ergebnis: Im Vergleich zum Plazebo zeigte die vorbeugende Zusatzversorgung mit D-Carotin, Vitamin A, C, E oder von Selen – einzeln oder in Kombination – keine signiikanten Efekte auf die Inzidenz gastrointestinaler Tumore. In 7 gut angelegten Studien (n = 131.727) zeigte sich im Gegenteil ein signiikanter Mortaliätsanstieg; das Risiko war insbesondere erhöht bei Gabe der Kombinationen D-Carotin plus Vitamin A und C plus Vitamin E. Somit gibt es nicht nur keine Beweise dafür, dass antioxidative Nahrungsergänzungsmittel gastrointestinale Krebserkrankungen zu verhindern imstande wären, sie scheinen im Gegenteil die Gesamtsterblichkeit zu erhöhen (Bjelakovic et al. 2004). Relativierend muss allerdings gesagt werden: Diese Schlussfolgerung von der Schädlichkeit bestimmter Vitaminpräparate trit wohl nur auf eine hochdosierte Chemoprävention mit Tablettenpräparaten zu, nicht aber auf eine echte Ergänzung mit Vitaminen in niedriger Dosierung oder auf Ernährung mit Gemüse und Obst. In einer neuen Studie wurde untersucht, ob die Gabe von D-Tocopherol (400 IU/Tag) Rezidive von Primärkrebs im Kopf- und Nackenbereich zeitlich verzögern können. Die Supplementation wirkte sich negativ auf die rezidivfreie Überlebenszeit aus (Bairati et al. 2005). Pro- und antioxidative Effekte von Antioxidanzien. Die
Hypothese von der Kanzerogenese durch oxidativen Stress ist durch das Versagen der Prävention mittels Antioxidan-
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zien keineswegs widerlegt. Es könnte sein, dass das Antioxidans nicht zum richtigen Zeitpunkt an den Ort der oxidativen Primärschädigung gelangt. Ofensichtlich funktioniert das Abfangen freier Radikale zwar im In-vitro-Experiment, nicht aber im lebenden Organismus. Zu bedenken ist ferner: Inwieweit eine Substanz Eigenschaften eines Antioxidans hat, hängt von ihrem Redoxpotential und von den Redoxeigenschaten der Reaktionspartner ab, mit denen sie in Reaktion treten kann. So kann das einem Organismus zugeführte Antioxidans durch zelluläre Reaktionspartner selbst oxidiert werden und in dieser Form zu einem oxdationsförderden Prooxidans werden. Beispielsweise wirkt D-Carotin in hohen Konzentrationen und bei hohem Sauerstofpartialdruck ausgesprochen oxidationsfördernd (Valko et al. 2004). Auch Ascorbinsäure zeigt diesen dualen Charakter.
Ascorbinsäure reagiert mit freien Sauerstofradikalen in niedrigen Konzentrationen als Prooxidans und in höheren Konzentrationsbereichen als Antioxidans. Zellen, die Ascorbinsäure als Oxidationsschutz benötigen, „wissen“ das: Der Plexus choroides, ein Teil der weichen Hirnhaut, verfügt über ein aktives Transportsystem, das die Ascorbatkonzentration im Liquor um ein Zehnfaches gegenüber der Plasmakonzentation steigern kann. Neurone sind imstande, mittels eines zusätzlichen Transportsystems die Konzentration nochmals zu erhöhen (Shukla et al. 1995).
Oxidativer Stress und Altern Aus biologischer Sicht ist Altern jede nichtreversible Veränderung im Bereich der Lebensvorgänge. Meist meint man aber, wenn vom Altern gesprochen wird, lediglich die letzte Phase, also die Periode degenerativer Veränderungen und funktioneller Verluste im Greisenalter. Die biologische und medizinische Forschung stellt sich die Aufgabe zu erfahren, ob und auf welche Weise sowie in welchem Ausmaß der Körper als Funktion des Alterns die Fähigkeit verliert, den Anforderungen des Lebens zu genügen. Die Vorgänge des Alterns lassen sich auf den verschiedensten Ebenen studieren, im Sinne molekularer Veränderungen, als ein Prozess, der Zellen, Gewebe und Organe betrit, und schließlich bezogen auf den Makroorganismus. Über die physiologischen Prozesse, die dem Alterungsvorgang zugrunde liegen, gibt es eine Vielfalt von Hypothesen. Eine dieser Hypothesen ist die Hypothese der oxidativen
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Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
Stresstheorie („oxidative damage theory“), die auf der älteren Hypothese der Wirkung freier Radikale (Harman 1956; 1992) aubaut. Danach ist die Ansammlung von Schäden, die durch reaktive Oxidanzien verursacht werden, ausschlaggebend und limitierend für die verbleibende Lebensspanne (Grune et al. 2002). Die wesentlichen Schäden betrefen: x oxidative Veränderungen an langlebigen Makromolekülen (Kollagen, Elastin, Nucleinsäuren), x oxidative Schädigung von Proteoglykanen und x Lipidperoxidation an biologischen Membranen. Die Systeme des Organismus verändern sich als Folge oxidativer Schädigung individuell unterschiedlich, wodurch eine besondere Krankheitsbereitschat erzeugt wird. Das höhere Lebensalter disponiert zu ganz bestimmten Krankheiten, die auch als Alterskrankheiten bezeichnet werden. Zu den Alterskrankheiten werden folgende Krankheitsbilder gerechnet: Atherosklerose, Arthrosis deformans, Diabetes mellitus, Parkinson-Krankheit, Alzheimer-Krankheit, senile Osteoporose und Tumoren. Für das Einzelindividuum stellt sich die Frage, ob und gegebenenfalls welche Konsequenzen sich aus der Alternshypothese der oxidativen Stresstheorie ergeben, um Alterskrankheiten hinauszuschieben und die Lebensspanne (natürlich im Rahmen der genetischen Determiniertheit) zu verlängern. Lässt sich das Altern verlangsamen? Ausgehend von der Hypothese der oxidativen Stresstheorie wird man versuchen, das Altern durch Verminderung der Radikalbildung zu beeinlussen. Eine der besten Möglichkeiten, die Radikalbildung zu reduzieren, ist die Verringerung des Stofwechselumsatzes durch Reduktion der Kalorienzufuhr. Reduktion der Kalorienzufuhr: Hinweise auf lebensverlängernde Wirkung. Eine Kalorienreduktion auf 60–
75% des Normalen – bei gleich bleibender Versorgung mit Vitaminen, Mineralstofen und Flüssigkeit – verlängert die Lebenserwartung bei Versuchstieren um 30–50%. Unter der Diät werden weniger Lipidperoxidationsprodukte, weniger Lipofuszin und weniger Proteinoxidationsprodukte gebildet, als unter Normalkost. Hinweis: Lipofuszin (Synonym: luoreszierende Alterspigmente) ist eine Art von Müll, ein unlöslicher, hochmolekularer und luoreszierender Komplex, der in die Zellen eingelagert wird. Er besteht aus Lipiden (20–50%), Proteinen (30–50%) und hydrolyseresistenten Resten nicht näher bekannter Struktur (10–30%).
Antioxidanziensupplementation: Einfluss auf die Lebenserwartung? Die durch Oxidanzien verursachten
biologischen Schäden sollten sich durch eine rechtzeitige Gabe von Antioxidanzien verhindern lassen. Diese rein hypothetische Möglichkeit ist seit langem die reale Basis für ein großes Angebot an Präparaten zur Krankheitsvorbeugung und Lebensverlängerung. Das Angebot umfasst vor allem: x Naturstofe wie die Vitamine C und E, D-Liponsäure, Selen, D-Carotin, Coenzym Q und x synthetische Antioxidanzien wie PBN (D-Phenyl-Ntertiär-butyl-Nitron), Tempol (4-Hydroxy-2,2,6,6tetramethylpiperidin-N-oxyl) und BHT (2,6-Di-tertiärbutyl-4-methylphenol), aber auch x Extraktpräparate aus Blaubeeren (Heidelbeeren), Pinienrinde, Traubenkernen. Es ist zwar versucht worden, die Wirksamkeit einiger dieser Antioxidanzien klinisch zu belegen. Die Ergebnisse sind bisher wenig befriedigend. Im Gegenteil: Es lässt sich nicht ausschließen, dass eine Supplementation mit bestimmten Antioxidanzien, über einen langen Zeitraum verabreicht, vielleicht sogar schädlich sein könnte. Zu einer entsprechenden Vorsicht mahnen zumindest die Ergebnisse von Studien über die Wirkungen von Antioxidanziensupplementation und Krebs ( > oben S. 409). Eine ausgewogene Versorgung mit allen in der Nahrung selbst vorkommenden Antioxidanzien und Mineralstofen in Verbindung mit einer entsprechenden Lebensführung dürte somit vorerst nach wie vor eine der besten Voraussetzungen für ein langes Leben zu sein.
15.4.8
Mehrfach ungesättigte Fettsäuren und oxidativer Stress
Die Fettsäuremoleküle der Phospholipide und der Triacylglyceride der Membranlipide bestehen etwa zur Hälte aus gesättigten und ungesättigten Fettsäuren. Die spezielle Zusammensetzung ist speziesspeziisch (genetisch determiniert), wird aber von der Zusammensetzung der mit der Nahrung zugeführten Fettsäuren wesentlich mit beeinlusst. Eine Schlüsselrolle in der Atheroskleroseentstehung kommt den oxidierten LDL zu, die zu Anlagerung von Zellen und biologisch hoch aktiven Stofen an die Gefäßwand führen ( > oben S. 407). Von allen Fettsäuren sind die mehrfach ungesättigten Fettsäuren am anfälligsten gegen oxidative Einlüsse, d. h. je höher der Anteil an unge-
15.4 Antioxidative Wirkung sekundärer Pflanzenstoffe
sättigten Fettsäuren, desto anfälliger sind die LDL gegen den Übergang in oxLDL. Die relativen Geschwindigkeiten der Oxidation von Stearinsäure, Ölsäure und D-Linolensäure verhalten sich wie 1:100:2500. Geringere Gehalte von LDL an mehrfach ungesättigten Fettsäuren machen daher LDL weniger anfällig gegen den Übergang in das atherogen wirkende oxLDL. Nicht LDL selbst also ist atherogen, sondern das oxidativ veränderte oxLDL. Bevorzugte Zielstellen für die Oxidation des LDL sind die als Bestandteil im LDL enthaltenden Z-3-Fettsäuren (Song u. Miyazawa 2001). Dieser Zusammenhang führt zu der Schlussfolgerung, es sei die beste Vorsorge gegen Atherosklerose, wenn man seine Nahrungsfette so auswählt, dass möglichst wenig Z-3Fettsäuren, ja überhaupt möglichst wenig mehrfach ungesättigte Fettsäuren enthalten sind. Der Begründer der oxidativen Stresstheorie hat in der Tat diesen Schluss gezogen (Harman 1996). Allerdings steht die Empfehlung, Öle mit mehrfach ungesättigten Fettsäuren zu meiden, in krassem Gegensatz zu der gegenwärtigen und allem Anschein nach epidemiologisch gut begründeten Empfehlung, die Zufuhr von Fetten mit gesättigten Fettsäuren zu drosseln und vorzugsweise (insgesamt 20% der zugeführten Energie) ungesättigte Fettsäuren anzuwenden. Dabei solle das Verhältnis von Z-6- zu Z-3-Fettsäuren 5:1 betragen. Gerade den besonders oxidationsempindlichen Z-3-Fettsäuren werden in spezieller Weise gefäßprotektive Efekte zugesprochen (Kasper 1996). Nach dem populären Satz, ein Mensch sei so alt, wie seine Gefäße, schien mit erhöhter Zufuhr mehrfach ungesättigter Fettsäuren die Hofnung auf eine erhöhte Lebenserwartung verbunden zu sein. Dieser Aufassung entsprechend wurden Fischölpraparate, Diätmargarinen und planzliche Öle mit mehrfach ungesättigten Fettsäuren als Nahrungsergänzungsmittel bzw. auch als Arzneimittel (z. B. Fischölkapseln), auf den Markt gebracht und reichlich verwendet. Die Radikalhypothese zur Entstehung von Atherosklerose ( > oben S. 407) führt jedoch zu der gegenteiligen Schlussfolgerung, dass nämlich eine Zufuhr ungesättigter Fettsäuren eher schädlich ist. Inzwischen gibt es zahlreiche Studien, die allem Anschein nach diese Folgerung bestätigen (Giudetti et al. 2003; Portero-Otin et al. 2001; Reaven et al. 1991; Song u. Miyazawa 2001). Ob die bisherigen Ernährungsempfehlungen mit der Bevorzugung mehrfach ungesättigter Fettsäuren, zugunsten von Monoen- und gesättigten Säuren zu ändern sind, werden wohl erst prospektive Interventionsstudien entscheiden
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können. Möglicherweise gelten die alten Empfehlungen eingeschränkt für die unphysiologische Situation einer Überernährung mit Fetten, wie sie für westliche Gesellschaten typisch ist. Für den physiologischen Bereich hingegen dürte gelten, den Sättigungsgrad von Fettsäurelipiden möglichst niedrig zu halten. Hinweis dafür ist der evolutive Trend innerhalb der Gruppe der Säugetiere: Je
! Kernaussagen
Reaktive Sauerstoffspezies entstehen in der Zelle auf unterschiedlichen Wegen. Die Hauptquellen für Sauerstoffradikale sind die mitochondriale Atmungskette, der Catecholaminstoffwechsel, die Entgiftung von Xenobiotika (Arzneimittel) durch das CytochromP-450-System, autoxidative Prozesse und exogene Einflüsse wie radioaktive und UV-Strahlung. Zu den ROS-Abwehrmaßnahmen des Organismus gehören die enzymatischen Schutzsysteme Superoxiddismutase und Glutathionperoxidase und die nichtenzymatischen Schutzsysteme Glutathion, Tocopherol und Ascorbinsäure. Glutathion spielt eine zentrale Rolle: Es fungiert 1) als Cosubstrat der Glutathionperoxidasen und -transferasen und es kann 2) direkt mit freien Radikalen reagieren. Ascorbinsäure ist ebenfalls ein Radikalfänger, und zwar in wässrigem Milieu; die Tocopherole sind imstande, Lipidperoxylradikale abzufangen und so die Lipidperoxidationskette zu unterbrechen. Oxidativer Stress tritt auf, wenn sich die Gleichgewichtslage zwischen Oxidanzien und Antioxidanzien zugunsten der oxidativen Seite verschiebt und die körpereigenen Schutzmechanismen gegen reaktive Sauerstoffspezies überfordert werden. Bei der Entstehung der Atherosklerose stellt ein erhöhter Plasmaspiegel an Low-density-Lipoproteinen (LDL) einen Risikofaktor dar. LDL wird in der Arterienwand durch Radikale zu oxLDL verändert und schädigt dadurch Endothelzellen. Chemotaktisch werden Entzündungszellen, darunter Makrophagen, angelockt. Makrophagen nehmen oxLDL über spezifische Rezeptoren (= Scavanger-Rezeptoren [SR]) auf und bilden, vollgestopft mit Lipiden, die Schaumzellen, die in arteriosklerotischen Frühläsionen gefunden werden. Die Reduktion überhöhter Kalorienzufuhr ist bis heute die einzige speziesübergreifende Methode, um die Lebenserwartung eines Individuums zu verlängern.
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Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
langlebiger eine Tierspezies ist, desto geringer ist der relative Gehalt an ungesättigten Fettsäuren der die Mitochondrienmembranen aubauenden Lipidfettsäuren (Pamplona et al. 1998, 2002).
15.4.9
Wirkt Knoblauch antiarteriosklerotisch und krebshemmend?
Angelehnt an das Modell der wissenschatlichen Medizin versucht man heute, auch bei den Mitteln der Selbstmedikation die Indikationsgebiete möglichst einzuengen, d. h. zu speziizieren. Eine entsprechende Einengung lautet für Knoblauch „Zur Unterstützung diätetischer Maßnahmen bei Erhöhung der Blutfettwerte und zur Vorbeugung altersbedingter Gefäßveränderungen“. Global gesehen gilt Knoblauch jedoch gegen eine breite Palette von Übeln, Beschwerden und Krankheiten als nützlich. Es soll helfen bei Arteriosklerose, Bluthochdruck, Schnupfen, Husten, Keuchhusten, Bronchitis, Erkrankungen des MagenDarm-Traktes, insbesondere bei Verdauungsstörungen mit Blähungen und krampfartigen Schmerzen, als Wurmmittel, besonders bei Oxyurenbefall, bei klimakterischen Beschwerden, unterstützend bei Diabetes als Tonikum bei verschiedenen konsumptiven (auszehrenden) Krankheiten und Schwächezuständen. Zwar gibt es keine weltweiten Umfrageergebnisse, doch dürten sich die Anwender von Knoblauchpräparaten in erster Linie einen Schutz vor Arteriosklerose und vor Krebs (Prostata, Gebärmutter, Dickdarm, Magen) versprechen.
überhaupt zahlreiche Feldfrüchte und Gewürzplanzen umfasste und bei denen die Grenze zwischen Arzneitherapie und Diät ließend war. Heute sind, natürlich in einer völlig veränderten Situation und aus völlig anderen Motiven heraus, erneut diese Grenzen unklar: Sind Knoblauchpräparate Nahrungsmittel oder nicht eher Arzneimittel? In einigen Ländern, darunter in Deutschland, gelten sie als Arzneimittel, in anderen Ländern, darunter in den meisten Mitgliedsländern der EG sowie in den USA, hingegen als Nahrungsmittel (Deutsche Apotheker Zeitung 145: 1468 [2005]). Sensorische Eigenschaften. Geruch: Die unverletzte
Knoblauchzehe ist geruchlos; erst nach Verletzung entwickelt sich der bekannte aufdringliche „Knoblauchgeruch“. . Abb. 15.13
Botanik. Knoblauch ist eine Kurzbezeichnung sowohl für
die Knoblauchplanze, Allium sativum L. (Familie: Alliaceae [IIA6 g]) als auch für die als Gewürz bekannte Knoblauchzwiebel. Knoblauchzwiebel und die Küchenzwiebel sind morphologisch unterschiedliche Objekte. Während die Küchenzwiebel aus ineinander geschachtelten Blättern besteht – man spricht von einer Schalenzwiebel – umschließt beim Knoblauch ein Hüllblatt jeweils eine ganze Gruppe von kleinen Zwiebeln. Die kleinen als Knoblauchzehen bezeichneten Einzelzwiebeln bestehen aus einem einzigen röhrenförmigen, leischig verdickten Blatt (botanisch-morphologisch einem Niederblatt), das am Grunde die hellgrüne Sprossknospe umschließt und außen von einem zähen trockenen Hüllblatt, der Zwiebelhaut, umgeben ist. Geschichtliches. Knoblauch verwendeten bereits die hippokratischen Ärzte um 400 v. Chr., deren Arzneischatz
γ γ γ
Die weitaus überwiegende Zahl der S im Molekül enthaltenden Inhaltsstoffe des Knoblauchs (ca. 95%) entfallen auf die beiden Gruppen der S-Alkylcysteinsulfoxide (= Alliine) und der γ-Glutamyl-S-alkylcysteine (= Glutamylpeptide). Beide Gruppen sind am S-Atom in gleicher Weise variabel substituiert; durch Allyl (Propenyl-2), durch Isoallyl (E-Propenyl-1) oder durch Methyl. Mengenmäßig dominiert Alliin. Cycloalliin ist die weitaus beständigste Verbindung
15.4 Antioxidative Wirkung sekundärer Pflanzenstoffe
Er verliert sich wieder beim Kochen und Braten. Geschmack: anhaltend brennend, süßlich und schleimig. Geruch und Geschmack der pharmazeutischen Knoblauchzubereitungen sind, abhängig vom Herstellungsverfahren und damit des Inhaltsstofspektrums, höchst unterschiedlich. Der brennende Geschmack des frischen Knoblauchs beruht auf der enzymatischen Bildung von Allicin, das an den nämlichen Rezeptortyp wie Capsaicin bindet (Macpherson et al. 2005). Inhaltsstoffe. Neben Wasser (6,2–6,8%), Kohlenhydraten
in Form von Fructanen (2,2–3,0%) und Rohfaser (1,5%) zeichnet sich frischer Knoblauch durch einen hohen Gehalt an Proteinen (1,5–2,1%) und freien Aminosäuren (1,0–1,5%) aus. Unter den freien Aminosäuren dominiert Arginin, doch fehlt aufallenderweise Cystein, eine Aminosäure, von der sich die Mehrzahl der organischen Schwefelverbindungen biogenetisch herleiten. Die organischen Schwefelverbindungen (1,1–3,5%) lassen sich in zwei Gruppen einteilen 1. in S-Alkyl-l-cysteinsulfoxide (kurz: Cysteinsulfoxide) mit dem Hauptvertreter Alliin und 2. in Glutamylpeptide bzw. Glutamyl-S-Alkyl-l-cysteine ( > Abb. 15.13). Beide Gruppen treten in Varianten auf, die durch die Substitution am S-Atom gegeben sind: die variablen Gruppen sind Propenyl-2- bzw. Z-propenyl-1- (Allyl-) bzw. Methylreste. Unter den mineralischen Bestandteilen (0,7%) dominiert wie stets in planzlichen Produkten das Kalium
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(4,4%). Bemerkenswert ist ein relativ hoher Gehalt an Selen (2×10–4%), in Form von Selenocystein (cys-SeH), Se-Methylselenocystein und J-Glutamyl-Se-methylselenocystein ( > Abb. 15.14). Zieht man Knoblauchplanzen auf selenreichen Böden, so kann der Selengehalt der Knoblauchzwiebel um das 2500fache gesteigert werden. Cysteinsulfoxide: postmortale chemische Umsetzungen. Die Knoblauchzwiebel ist ein lebendes Planzenor-
gan. Charakteristisch für lebende Organe ist die Kompartimentierung von Reaktionsräumen. Beispielsweise sind in der Knoblauchzwiebel die Cysteinsulfoxide im Blattmesophyll lokalisiert, die entsprechende Lyase (Alliinase) hingegen in Parenchymzellen der Bündelscheide. In dem Augenblick, in dem die Zwiebel verletzt wird, wird zugleich die Kompartimentierung des Stofwechsels aufgehoben. Enzyme und Enzymsubstrate, die im lebenden System in getrennten Kompartimenten lokalisiert waren, können nunmehr wie in einem homogenen Medium reagieren. In ähnlicher Weise kommen chemisch reaktive Moleküle in räumlichen Kontakt, sodass sie nunmehr wie im Reagenzglas Umsetzungen eingehen können. In zerquetschten Knoblauchzehen beschränken sich die Umsetzungen auf Inhaltsstofe des Knoblauchs selbst. Verändert man das System durch Zugabe von Lösungsmitteln (beim Extrahieren) und/oder durch Zufuhr von Wärme (beim Destillieren), so ändern sich damit die Reaktionsbedingungen, was zu höchst unterschiedlichen Endprodukten führt. Alliinase initiiert die Umsetzung von Cysteinsulfoxiden zu Thiosulfinsäureestern. Die in frischem Knoblauch
. Abb. 15.14
γ γ
In Knoblauchzwiebeln vorkommende organische Selenverbindungen
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Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
. Abb. 15.15
Die S-Alkylcysteinsulfoxide (Alliine), auch kurz als Cysteinsulfoxide bezeichnet, zerfallen unter dem enzymatischen Einfluss von Sulfenatlyasen – im vorliegenden Fall von Alliinase – in Alkyl- bzw. Alkenylsulfensäuren und in das unbeständige Dehydroalanin (3), das spontan zu Ammoniak und Brenztraubensäure (Pyruvat) hydrolysiert. Die Alk(en)ylsulfensäuren (2) sind labil und kondensieren zu Thiosulfinaten. Auto- und Heterokondensation lässt 9 unterschiedliche Thiosulfinate erwarten. Bisher sind bereits 8 dieser Varianten aus dem Knoblauch isoliert worden, darunter die Variante AA, das Allicin
vorkommenden Cysteinsulfoxide (Prototyp: Alliin) stellen geruch- und farblose Verbindungen dar, die sich in organischen Lösungsmittel schwer und in Wasser leicht lösen. Unter dem enzymatischen Einluss von Alliinase bilden sich Sulfensäuren, die aber sofort spontan zu hiosulinsäureester weiter reagieren ( > Abb. 15.15). Die hiosulinsäureester (Prototyp: Allicin) lösen sich besser in organischen Lösungsmitteln als in Wasser. Sie bedingen den gewürzhaten Geruch frisch zerquetschten Knoblauchs. Reaktionsfreudigkeit der Thiosulfinsäureester. Die hiosulinsäureester (= hiosulinate) sind ebenfalls wenig stabil und reagieren, abhängig von den jeweiligen äußeren Bedingungen (Polarität des Mediums, Temperatur) zu den unterschiedlichsten Folgeprodukten weiter: zu Di- und Trisuliden, zu Vinyldithiinen und Ajoenen ( > Abb. 15.16). Aus eben diesem Grunde erweisen sich die kommerziellen Knoblauchpräparate als höchst unterschiedlich zusammengesetzt. Knoblauchzubereitungen. Folgende Zubereitungen stehen zur Verfügung ( > auch Tabelle 15.2): x Knoblauchpulver (Alliinase-haltig): Nach nicht näher bekannten Verfahren werden frisch geerntete Knob-
lauchzehen in Scheiben geschnitten und bei mäßigen Temperaturen von maximal 50 °C im Lutstrom bis zu einer Restfeuchte von unter 5% getrocknet. Das genuine Alliin (S-2-Propenylcystein-sulfoxid) und das Alliin-abbauende Enzym, die Alliinase, bleiben weitgehend intakt. Die Lagerdauer ist limitiert, da der enzymatische Abbau des Alliins kontinuierlich, wenn auch stark verzögert, weitergeht. Das Pulver wird meist zu Dragees weiterverarbeitet. Die Mehrzahl der mit „Knoblauch“ durchgeführten klinischen Studien sind mit Knoblauchpulver-Dragees durchgeführt worden. x Knoblauchextrakte: Sie werden durch Extraktion der zerkleinerten Knoblauchzwiebel mit einem organischen Lösungsmittel (Ethanol, Methanol) und anschließendes Entfernen des Extraktionsmittels gewonnen. Dabei wird die Alliinase inaktiviert: Alliin liegt daher in unveränderter Form vor. Ergebnisse klinischer Studien, die mit Alliinase-haltigen Präparaten durchgeführt worden sind, sind nicht auf Präparate mit Knoblauchextrakten übertragbar: Die beiden Präparatetypen sind pharmazeutisch nicht äquivalent. x Knoblauchölmazerate: Die frischen Knoblauchzwiebeln werden von den trockenen Häuten befreit, zu einem Brei homogenisiert und mit einem fetten Öl
15.4 Antioxidative Wirkung sekundärer Pflanzenstoffe
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. Abb. 15.16
Thiosulfinate (Thiosulfinsäureester) sind mäßig stabile Verbindungen. Für das Allicin des Knoblauchsafts z. B. wurde bei Raumtemperatur eine Halbwertszeit von 2,4 Tagen gemessen. In den kommerziellen Knoblauchpräparaten sind lediglich noch Umsetzungsprodukte enthalten, und zwar in Abhängigkeit von den Herstellungsbedingungen entweder vorzugsweise Di-, Tri- und höhere Sulfide oder Vinyldithiine und Ajoene. Die Thiosulfinate sind bei Raumtemperatur farblose, ölige Substanzen mit einem gewürzhaften Geruch. Die Sulfide bilden bei Raumtemperatur eine gelblich-ölige Flüssigkeit mit dem durchdringenden Geruch des Knoblauchs
. Tabelle 15.1 Die schwefelhaltigen Hauptbestandteile verschiedener im Handel befindlichen Knoblauchzubereitungen (Daten aus Lawson 1998) Produkt
Bestandteil (%)
Knoblauchzehe
Alliin (0,6–1,4); J-Glutamylcysteine (0,5–1,5)
Knoblauchpulver für Gewürzzwecke
Alliin (1,0–1,7); J-Glutamylcysteine (1,2–3,5)
Knoblauchpulver für arzneiliche Zwecke, standardisiert
Alliin (0,7–2,4); J-Glutamylcysteine (0,7–3,2)
Knoblauchpulver für arzneiliche Zwecke, nicht standardisiert
Alliin (0,04–1,4); J-Glutamylcysteine (0,2–3,1)
Kapseln mit Knoblauchdestillat
Diallyldisulfid (0,005–0,28); Diallyltrisulfid (0,004–0,2); Allylmethyltrisulfid (0,003–0,17)
Kapseln mit Ölmazerat
Vinyldithiine (0,01–0,47); Ajoene (0,002–0,11); Diallyltrisulfid (0,002–0,04%)
Kapseln mit fermentiertem (gealtertem) Knoblauchextrakt
Alliin (0,02–0,04); J-Glutamylcysteine (0,01–0,04); S-Allylcystein (0,05–0,06)
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Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
(z. B. Sojabohnenöl) nach dem Gegenstromverfahren extrahiert. Der Oleosumextrakt lässt sich technologisch bequem in Weichgelatinekapseln einarbeiten. Knoblauchkapseln enthalten an Stelle des genuinen Alliins Umsetzungsprodukte des Alliins, die sich in lipophilem Milieu unter Mitwirkung der Alliinase bilden: Di- und Trisulide, Vinyldithiine und Ajoene ( > Abb. 15.16) x Destillationsprodukte: Der zerkleinerte und mit Wasser angerührte Knoblauch wird einige Zeit der Autolyse (Enzymeinwirkung) überlassen. Dabei bilden sich aus den wasserlöslichen und nicht wasserdamplüchtigen hiosulinaten lipophile (öllösliche) Sulide, die abdestilliert werden. Das Destillat – auch als „ätherisches Knoblauchöl“ bezeichnet – besteht hauptsächlich aus Diallyldisulid und Diallyltrisulid. Da sich diese Sulide leicht und billigst synthetisch herstellen lassen, besteht die Gefahr der Substitution des natürlichen durch ein synthetisches Produkt. x Knoblauchsat: Es handelt sich um wässrige Knoblauchextrakte, die im Allgemeinen nach Verfahren hergestellt werden, wie sie für Frischplanzenpresssäte entwickelt worden sind. Frische Knoblauchzwiebeln werden zerkleinert, mit kaltem Wasser im Verhältnis von etwa 1:1 mazeriert und ausgepresst. Die Presssäte werden durch Uperisation oder durch Pasteurisieren haltbar gemacht. Die Umsetzung der hiosulinate bei der Satherstellung erfolgt zu Di- und Trisuliden, vergleichbar somit den Vorgängen bei der Wasserdampfdestillation. x Fermentierter Knoblauch („aged garlic extract”): Zerkleinerte Knoblauchzwiebeln werden, mit verdünntem Ethanol bedeckt, bis zu 20 Monate sich selbst überlassen. Dabei erleiden die knoblauchtypischen Inhaltsstofe chemische Umsetzungen ( > Tabelle 15.2). Flüchtige Reaktionsprodukte gehen beim Abdampfen des Lösungsmittels verloren. Die entstehende Zubereitung ist geruchlos (geruchloser Knoblauch). Charakteristische Inhaltsstofe sind die Hydrolyseprodukte der Glutamyl-S-Alkyl-l-cysteine: S-Allylcystein und S-Propenylcystein, stabile, wasserlösliche Verbindungen sowie Glutaminsäure ( >Abb. 15.17).
antibakterielle, antimykotische und antivirale Wirkungen. Knoblauchpräparationen wirken hemmend auf die hrombozytenaggregation und fördernd auf die ibrinolytische Aktivität. Beschrieben wurden ferner antioxidative, blutdrucksenkende, kardioprotektive, immunmodulatorische, leberschützende, lipidsenkende und krebshemmende Wirkungen. Schließlich wurde an Hepatozyten von Hühnern und an Afenlebern nachgewiesen, dass Knoblauchextrakte wie die Statine die Cholesterolbiosynthese hemmen. Eine aufs erste beeindruckende Liste pharmakologischer Wirkungen. Allerdings lässt sich nicht abschätzen, ob und gegebenenfalls welche dieser experimentell nachgewiesenen Wirkungen eine Bedeutung für die Anwendung des Knoblauchs am Menschen haben. Welche Argumente sprechen für eine krebshemmende Wirkung? Als Beleg für eine krebshemmende Wirkung
dienen 11 epidemiologische Studien aus 6 verschiedenen Ländern (Argentinien, China, Italien, Iran, Schweiz und USA) in Verbindung mit pharmakologischem Nachweis antioxidativer Wirkungen und von Hemmwirkung auf die Bioaktivierung von Karzinogenen und auf die Nitrosaminbildung (Chen et al. 2004; Milner 2001). Am ehesten plausibel ist es, dass Knoblauch die Tumorentwicklung in Magen und Kolon senken könnte. Insgesamt ist
. Tabelle 15.2 Änderung in der Zusammensetzung von Knoblauchextrakt ([hergestellt mit Ethanol–Wasser 20:80; ml/g]) während der Herstellung von fermentiertem Knoblauch (Daten aus Lawson 1998) Inhaltsbestandteil
Inkubationsdauer in Monaten 0
12
24
Alliin
0,5%
0,29%
0,27%
Allicin
0,8
0,0
0,0
Cycloalliin
0,35
0,4
0,36
J-Glutamyl-S-allylcystein
1,27
0,0
0,0
S-Allylcystein
0,02
0,71
0,72
J-Glutamyl-S-propenylcystein
1,59
0,0
0,0
Wirkungen. Entsprechend der großen ökonomischen
S-Propenylcystein
0,05
0,65
0,44
Bedeutung von Knoblauchpräparaten existiert eine Fülle an pharmakologischen und klinisch-pharmakologischen Studien (Übersichten > Koch u. Lawson 1996; Lawson 1998; Schulz u. Hänsel 2004). Nachgewiesen wurden u. a.
Glutaminsäure
0,11
1,58
1,6
Cystin
0,007
0,09
0,12
Gesamtschwefel
4,8
2,3
2,1
15.4 Antioxidative Wirkung sekundärer Pflanzenstoffe
15
. Abb. 15.17
γ
Gealterte (fermentierte) Knoblauchprodukte enthalten als charakteristische S-Derivate Hydrolyseprodukte der γ-Glutamyl-S-alkylcysteine (Glutamylpeptide), d. h. neben Glutaminsäure (formelmäßig nicht wiedergegeben) Allyl- und Propenylcystein. Das S-Allylmercaptocystein ist ein Sekundärprodukt, das sich vermutlich aus Cystein und Allicin bildet. Cystein wiederum entsteht durch proteolytische (hydrolytische) Spaltung aus Proteinen des Knoblauchs
jedoch der Evidenzgrad epidemiologischer Studien als niedrig anzusetzen. Welche Argumente sprechen für eine kardioprotektive Wirkung? Dass die Einnahme von Knoblauchpräparaten
die Arterioskleroseprogredienz am Menschen verlangsamt, stützt sich auf experimentell-pharmakologische und auf klinisch pharmakologische Studien, allerdings nicht auf prospektive klinische Studien. Zur experimentellen Pharmakologie von Knoblauchpräparaten liegen etwa 100 Originalarbeiten vor. Indikationsbezogene Studien betrefen folgende Efekte: x antioxidative Efekte: beispielsweise wird die LDLOxidation unterdrückt (Lau 2001), x antiatherogene Efekte: beispielsweise werden bei Kaninchen, die künstlich krank gemacht wurden, die atheromatösen Läsionen im Bereich der Aorten gesenkt, x aktivierende Wirkung auf die endogene Fibrinolyse, x hemmende Wirkung auf die hrombozytenaggregation, x erhöhte Blutfettspiegel werden gesenkt. Bei Patienten mit initialen Cholesterolspiegeln zwischen 250 und 300 mg/dl werden die Werte um 6–9% gesenkt, und zwar gilt das für Dosierungen von 600–900 mg Knoblauchpulver pro Tag und Behandlungszeiträumen von mindestens 4 Wochen.
! Kernaussagen
Knoblauchpräparate haben beim Menschen positive Effekte auf Parameter, die bei der Entwicklung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen eine Rolle spielen. Größe und Relevanz der Effekte ist jedoch nicht einzuschätzen. Durch einen jahrelangen Knoblauchgebrauch kardiale Ereignisse (koronare Herzkrankheit, Herzinfarkt) zu verzögern oder evtl. zu verhindern, ist zwar möglich, nicht aber durch kontrollierte Interventionsstudien mit klinischen Endpunkten erwiesen. Der dem Knoblauch nachgesagte Schutz vor Krebs im MagenDarm-Trakt wird durch eine kleine Zahl von epidemiologischen Studien gestützt, deren Evidenzgrad jedoch gering ist.
15.4.10 Selenverbindungen in Pflanzen: antioxidativ und antikanzerogen wirkend Eine organische Selenverbindung, l-Selenocystein ( > Abb. 15.14), beindet sich im aktiven Zentrum der Glutathionperoxidase, einem wichtigen Teil des antioxidativen Schutzsystems. Die Glutathionperoxidase eliminiert
417
418
15
Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
organische Peroxide ( > Abb. 15.7), insbesondere Lipidperoxide, die durch Protonierung von organischen Dioxylradikalen entstehen. Allein schon daraus ergibt sich, dass Selen ein lebenswichtiges Spurenelement ist ( > dazu die Infobox). Mehrere Studien zeigten, dass Serumkonzentrationen unterhalb von 45–50 µg/l mit Koronarerkrankungen assoziiert sind (z. B. Salonen et al. 1982). Einschränkend sei daran erinnert, dass diese Studienergebnisse keinen Kausalzusammenhang beweisen. Von besonderem Interesse ist die Beobachtung, dass sich eine andere organische Selenverbindung, und zwar Selenomethionin, vorzugsweise im Prostatagewebe krebskranker Patienten anreichert (Sabichi et al. 2002). Selenverbindungen galten früher als karzinogen, sodass man zunächst die Speicherung als ursächlich für Prostatakrebs gehalten hat. Das Gegenteil jedoch erwies sich als zutreffend. 586 Männer mit der Diagnose Prostatakrebs, deren Selenblutwerte im Jahre 1982 erstmalig bestimmt worden waren, wurden über einen Zeitraum von 13 Jahren beobachtet. Es zeigte sich, dass bei Männern mit den höchsten Selenwerten die Wahrscheinlichkeit für fortschreitenden Prostatakrebs um nahezu die Hälte reduziert war, im Vergleich zu Männern mit niedrigen Selenwerten (Li et al. 2004). Sieben weitere prospektive Studien (n = ca. 2000), die in den letzten Jahren den Selenstatus von Männern und das Autreten von Prostatakrebs untersuchten, führten übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass hohe Selengehalte mit einem verminderten Krebsrisiko korreliert sind (Taylor et al. 2004 [Übersichtsarbeit]). Man schließt daraus auf einen protektiven Efekt von Selen gegen Prostatakrebs. Für die wissenschatliche Medizin sind diese Studien zunächst gute Ansätze für weitere Untersuchungen, keinesfalls aber bereits Anlass für ein therapeutisches Handeln im Sinne einer Krebsprophylaxe oder Krebstherapie mit Selenpräparaten. Außerhalb der naturwissenschatlich orientierten Medizin hingegen sind Prophylaxe und herapie mit Selenpräparaten hoch aktuell. Speziell aus pharmazeutischer Sicht interessiert: x Welche Formen einer natürlichen Selensupplementierung sind durch Auswahl selenreicher Nahrungsmittel möglich? x Welche Art von Präparaten (Arzneimittel, Nahrungsergänzungsmittel) gibt es auf dem Markt? x Welche Risiken sind mit einer erhöhten Selenzufuhr verbunden?
Hinweis. Bei der Selenmedikation müssen zwei Indikationsbereiche streng auseinander gehalten werden: 1. die rationale Anwendung zur Substitution bei Risikogruppen und 2. die Anwendung von Selen in der Selbstmedikation als Krebsschutz.
Hinsichtlich der unter 1) fallenden Anwendung von Selen sei auf Lehrbücher der Pharmakologie (z. B. Wolfram 2005) verwiesen.
! Kernaussage
Das Spurenelement Selen ist selbst kein Antioxidans, wirkt aber als Kofaktor der Glutathionperoxidase an der Abwehr von ROS mit.
Selenreiche Pflanzenprodukte. Selen zählt zu den essentiellen Spurenelementen. In der Nahrung tritt es vorwiegend in Form von anorganischem Selenit und in Form selenhaltiger Aminosäuren wie Selenomethionin oder Selenocystein auf ( > Abb. 15.14). Der Selengehalt von Landplanzen beträgt im Mittel 0,1–15 mg/kg Trockengewicht. Selenreich sind u. a. Paranüsse, Broccoli, Knoblauch- und Küchenzwiebeln. Exakte Zahlen lassen sich nicht angeben, da der konkrete Gehalt einer Probe vom Selengehalt der Böden abhängt, auf dem die Gemüseplanzen gezogen werden. Man bedient sich dieser Eigenschat, um dem Verbraucher mit Selen angereicherte Produkte anzubieten – selenreichen Knoblauch, selenreiche Küchenzwiebel, Broccoli u. a. m. –, indem die Böden entsprechend gedüngt werden. In diesen angereicherten Gemüsesorten liegt das Selen hauptsächlich als Se-Methylselenocystein vor. Zu den Selenspeicherplanzen gehören auch tropische Lecythis-Arten, z. B. Lecythis elliptica H. B. K. (Familie: Lecytidaceae [IIB 20 g], nahe Verwandte zur bekannten Paranussplanze (Bertholletia excelsa H. u. B.). Die Lecythis-Samen (span.: Coco de mono [Afennuss]) zeichnen sich durch einen exzellenten Geschmack aus, sie sind überdies durch hohe Gehalte an Fett und Eiweiß sehr nährstofreich; allerdings haben sie einen Nachteil: Wenn die Böden selenhaltig sind, reichern sich organische Selenverbindungen, vornehmlich Selenocystathionin, in den Samen an, die dadurch gitig werden. Zeichen einer akuten Vergitung äußern sich in vermehrtem Haarausfall, in Veränderungen an den Fingernägeln (weiße Flecken und Streifen) und in gastrointestinalen Symptomen.
15.4 Antioxidative Wirkung sekundärer Pflanzenstoffe
Von den selenspeichernden Planzen sind die SelenIndikatorplanzen zu unterscheiden, die nur auf Böden mit assimilierbarem Selen, nicht auf selenfreien Böden gedeihen. Diese Planzen können extrem hohe Konzentrationen an Selen speichern. Als Beispiel seien z. B. die Astragalus-Arten (Tragant) erwähnt. Man misst bei diesen Planzen Werte bis zu 4 mg Selen/g trockenes Planzenmaterial; das sind Konzentrationen, die für die allermeisten Organismen toxisch sind. Die besondere Widerstandsfähigkeit dieser Indikatorplanzen beruht darauf, Selen in Form von Aminosäuren zu speichern, die nicht in Proteine eingebaut werden können (über den Einbau selenhaltiger Aminosäuren in Proteine > Infobox). Selen wird quasi kompartimentiert, kann jedenfalls nicht in Proteine eingebaut werden. Beispiele für entsprechende Aminosäuren sind Se-Methylselenocystein, Selenocystathionin und J-Glutamyl-Se-methylselenocystein. Selenpräparate des Handels. Angeboten werden 3 Prä-
parattypen: Selenhefen, Präparate mit Natriumselenit und mit l-Seleno-methionin. Selenhefe. Selenhete wird durch aerobe Fermentation von Bäcker- oder Bierhefe (Saccharomyces cerevisiae Meyen ex Hansen) in einem selenangereicherten Milieu erzeugt. Für Handelspräparate, die als Zusatzstof in Lebensmitteln verwendet werden, gibt es zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine gesetzlichen Anforderungen an Identität und Reinheit, so wie das für Arzneimittel selbstverständlich ist. x Konkret besteht ot Unklarkeit über die Reinheit des Hefestammes. x Es fehlen Angaben zu Gehalten an Selenomethionin und anderen organischen Selenverbindungen, x ferner zu toxischen Verunreinigungen (As, Cd, Pb, Hg) und x zu mikrobiologischen Verunreinigungen.
Es muss folglich mit großen Variationen in der Bioverfügbarkeit gerechnet werden, sodass eine exakte Dosierbarkeit nicht immer gewährleistet ist. Daher ist vorerst die Selbstmedikation mit Selenhefe (als Nahrungsergänzungsmittel) nicht empfehlenswert. Die ärztlich überwachte Substitutionstherapie ist von diesen Vorbehalten ausgenommen. Die Bedenken hinsichtlich einer unkontrollierten Anwendung betrefen speziell Präparate, die Selenomethionin enthalten, weniger anorganische Selenpräparate mit
15
Natriumselenit. Es ist durchaus nicht gleichgültig, in welcher Form Selen dem Körper angeboten wird. Anorganische Selensalze z. B. werden in Selenoproteine mit speziischen Funktionen ( > Infobox) eingebaut, die einer strengen Regulierung auf molekularbiologischer Ebene unterliegen. Anders hingegen das Selenomethionin, das unspeziisch auch in Proteine ohne selenabhängige Funktionen, beispielsweise in Albumin eingebaut wird. Selenoproteine mit Enzymfunktionen können durch übermäßige Selenzufuhr nicht über ein physiologisch gegebenes Maß hinaus stimuliert werden. Dagegen wird der Einbau von Selenomethionin nicht homöostatisch reguliert. Selenomethionin wird unspeziisch und in Abhängigkeit von der Methioninzufuhr anstelle von Methionin in Körperproteine eingebaut, sodass es zu erhöhten Gewebskonzentrationen von Selen kommt. Die Freisetzung von Selenomethionin aus diesen Proteinen erfolgt nicht bedarfsgerecht, sondern in Abhängigkeit vom Methioninumsatz Infobox Selenoproteine. Selen kommt als Selenocystein (Se-Cys) in zwei wichtigen selenhaltigen Enzymproteinen vor, der Glutathionperoxidase ( > Abb. 15.7) und der Typ I-Thyroxin-5’-Dejodase. Der Einbau dieser durch Selen modifizierten Aminosäure in die beiden Proteine ist ein recht komplizierter Vorgang. Bekanntlich werden in der Regel nichtproteinogene Aminosäuren erst nach der Translation im fertigen Protein modifiziert, da für nichtproteinogene Aminosäuren kein entsprechendes Basentriplett vorgesehen ist. Selen wird demgegenüber in die 21. proteinogene Aminosäure bereits während der Proteinsynthese am Ribosom eingebaut. Einbausignal ist das UGA-Triplett, das üblicherweise als Stoppkodon fungiert. Eine selenospezifische Serin-tRNA (tRNASe-Cys), die in geringerer Konzentration vorliegt als die anderen Serin-tRNAs, erkennt ausschließlich UGA und keine anderen Kodons. Die tTNASe-Cys wird mit Serin beladen, das enzymatisch unter Verwendung von Selenophosphat in Se-Cys umgewandelt wird. Ein eigener Elongationsfaktor erkennt die tTNASe-Cys und bringt sie zum Ribosom. Allem Anschein nach betreibt die Natur einen erheblichen mechanistischen Aufwand, um ein S-Atom gegen ein Se-Atom auszutauschen. Fragt man nach der Teleologie dieses Vorganges, zeigt sich: Der Austausch lohnt sich, da die katalytische Aktivität von Selenoenzymen gegenüber ihren Schwefelvarianten um Größenordnungen höher liegt.
419
420
15
Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
(Whanger et al. 1996). Die Folgen für die Gesundheit lassen sich nicht abschätzen, da bisher keine Untersuchungen zur chronischen Toxizität vorliegen. Die Selbstmedikation mit selenhaltigen Präparaten ist weit verbreitet. Dennoch kommen akute Selenvergitungen allem Anschein nach kaum vor, zumindest wird kaum darüber publiziert (ein Beispiel > Clark et al. 1996). In
15.5
Ascorbinsäure (Vitamin C): das wasserlösliche Antioxidans
Die l-(+)-Ascorbinsäure wird als Vitamin C bezeichnet, unterscheidet sich aber in mehrerlei Hinsicht von den typischen Vitaminen. Der Tagesbedarf von ca. 60 mg liegt mengenmäßig wesentlich höher als derjenige typischer Vitamine, die in Mikrogrammen bis allenfalls wenigen Milligrammmengen dem Körper zugeführt werden müs. Abb. 15.18
threo
Konfigurationsformel der L-(+)-threo-Ascorbinsäure (Vitamin C). Das Formelbild soll zu folgenden Überlegungen anregen: (1) Es liegt keine echte Carbonsäure vor; die Acidität beruht auf der Acidität der enolischen 4-OH-Gruppe. Es liegt eine (durch Lactonbildung) maskierte vinyloge Carbonsäure vor. (2) Die Formel lässt 2 Chiralitätszentren erkennen: Man kann nachvollziehen – unter Anwendung der bekannten Cahn-Ingold-Prelog-Regeln –, dass das Chiralitätszentrum an C-5 (R)-Konfiguration aufweist und das Chiralitätszentrum an C-1’ (S)-Konfiguration. (3) Die Formel lässt aber nicht unmittelbar erkennen, dass es sich um eine threo-Verbindung und um ein Zuckerderivat der L-Reihe handelt. Um das einzusehen, muss man die Schreibweise der Fischer-Konvention wählen. Die nachfolgende Abb. 15.19 zeigt die Biosynthese der L-(+)-threoAscorbinsäure in der Fischer-Schreibweise
sen. Ferner: Ascorbinsäure fungiert nicht wie die eigentlichen Vitamine als Coenzym, es wird vielmehr als Wasserstofdonator für zahlreiche Biosynthesereaktionen gebraucht. Für die meisten Tierarten stellt Ascorbinsäure kein Vitamin dar, da sie, wie fast alle Säugetiere, zur eigenen Synthese befähigt sind ( > Abb. 15.18) Auf die exogene Zufuhr angewiesen sind: Mensch, Primaten, Meerschweinchen und einige Insektenarten, darunter auch die Heuschrecken.
15.5.1
Chemische Struktur und Eigenschaften
Ascorbinsäure ist als die Enolform des 3-Oxo-l-gulonofuranolacton ein Derivat der Kohlenhydrate. Aus dem Auftreten zweier Chiralitätszentren an C-4 und C-5 ergibt sich die Existenz von 4 optisch aktiven Ascorbinsäuren. Die als Vitamin C bekannte rechtsdrehende (+)-Form ist die l-threo-Ascorbinsäure ( > Abb. 15.19). In reiner Form besteht Ascorbinsäure aus farblosen Kristallen, die sich leicht in Wasser lösen und einen an Zitronensäure erinnernden Geschmack aufweisen. Als reine kristalline Substanz ist Ascorbinsäure relativ beständig, sofern sie vor Feuchtigkeit geschützt aubewahrt wird. In Lösung zersetzt sie sich – abhängig von Sauerstofpartialdruck, pH-Wert, Temperatur und Vorkommen von Schwermetallspuren (Eisen- oder Kupferionen) – unterschiedlich schnell. In einem ersten Schritt erfolgt reversible Oxidation zu Dehydroascorbinsäure, dem als zweiter irreversibler Schritt die Öfnung des Lactonringes unter Bildung von 2,3-Diketogulonsäure folgt ( > Abb. 15.20). Dehydroascorbinsäure ist eine sehr reaktionsfähige Verbindung, die mit Aminoverbindungen in Früchten oder Fruchtsäten Kondensationsreaktionen eingeht, kenntlich an einer unerwünschten Bräunung der Produkte.
15.5.2
Vorkommen
Ascorbinsäure ist in jeder tierischen und planzlichen Zelle enthalten. Allerdings ist die Konzentration, in der die einzelnen Planzenarten Ascorbinsäure speichern, höchst unterschiedlich. Planzenarten mit großem Speichervermögen treten in den folgenden Familien auf: Liliaceae, Iridaceae, Rosaceae und Brassicaceae. Gladiolen enthalten Ascorbat in einer Menge, die eine technische Gewinnung
15.5 Ascorbinsäure (Vitamin C): Das wasserlösliche Antioxidans
15
. Abb. 15.19
Biosynthese der Ascorbinsäure in tierischen Organismen. Sie erfolgt ausgehend von D-Glucose über D-Glucuronsäure (1) o L-Gulonsäure (2) o L-Gulonolacton (3 = L-Gulonsäure-γ-Lacton) o 2-Keto-L-gulonolacton (4 = 2-Oxo-L-gulonsäure-γLacton). Beim Menschen ist der letzte Schritt der Biosynthese 3 o 4 blockiert. Man beachte, dass nach der Fischer-Konvention mit dem Übergang von 1 o 2 eine Umstellung von der D- zur L-Konfigurationsreihe zu erfolgen hat. (Durch den Wegfall der Aldehydgruppe erhält die Carboxylgruppe Priorität.) Die natürliche rechtsdrehende (+)-Ascorbinsäure (5) gehört der nämlichen L-Reihe wie die L-Gulonsäure (2) an. Man macht sich das durch die folgende Überlegung klar: Die für die Einordnung in die L-Reihen bestimmenden Chiralitätszentren sind in der L-Gulonsäure das Zentrum an C-5 und in der Ascorbinsäure das Zentrum an C-1’. In der Fischer-Projektion zeigen in beiden Verbindungen die OH-Gruppen nach links. Die Konfigurationsbezeichnung threo bezieht sich auf die entsprechende Anordnung der beiden O-Funktionen an C-5 und C-1’. Dem Menschen fehlt aufgrund einer Genmutation das Enzym L-Gulonolactonoxidase
. Tabelle 15.3 Ascorbinsäuregehalt einiger Obstsorten (aus Belitz et al. 2001, gekürzt) Obstsorte Apfel
Ascorbinsäure [mg/100 g]
Obstsorte
Ascorbinsäure [mg/100 g]
3–35
Johannisbeere, rot
40
Apfelsine
50
Johannisbeere, schwarz
177
Aprikose
5–15
Kirsche
8–37
Banane
7–21
Melone
6–12
Erdbeere
60
Pfirsich
5–29
Grapefruit
40
Zitrone
50
Guava
300
Zum Vergleich: Acerolaa
1000–2000
a
Näheres dazu > Abschnitt „Acerolakirsche“.
421
422
15
Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
. Abb. 15.20
Spontanoxidation der Ascorbinsäure. In wässriger Lösung unterliegt Ascorbinsäure – abhängig von Einflussgrößen wie Sauerstoffpartialdruck, pH-Wert, Temperatur – einer oxidativen Zersetzung, deren Initialstadien in der Abbildung ausformuliert sind. Enthält die Lösung Spuren von Kupfer- und/oder Eisenionen, wird der Zerfall katalytisch beschleunigt. In Gegenwart von Aminoverbindungen, was in vielen Fruchtsäften und in Trockenfrüchten der Fall ist, setzt sich die Dehydroascorbinsäure mit den Aminoverbindungen zu gefärbten Kondensationsprodukten um, was zu einer unerwünschten Bräunung der Produkte führt
ermöglichte. Diese Herstellungsmethode wurde erst obsolet, als billigere Verfahren der Partialsynthese erfunden wurden. Die für die menschliche Ernährung wichtigen Quellen sind Obst und Gemüse ( > Tabelle 15.3). Auch unfermentierter grüner Tee ist ascorbinsäurereich.
15.5.3
Pharmakokinetik
Ascorbinsäure wird, sofern sie nicht in unphysiologisch hohen Dosen eingenommen wird, vor allem in den oberen Abschnitten des Dünndarms stereoselektiv durch ein aktives Na-K-ATPase-getriebenes Transportsystem resorbiert. Unter bestimmten Bedingungen, beispielsweise bei Diarrhoe kann die Resorption erheblich beeinträchtigt sein. Nach Resorption verteilt sich die Ascorbinsäure im ganzen Organismus, allerdings mit unterschiedlicher Af-
inität. Die höchsten Gehalte weisen Nebennieren, Hypophyse und Pankreas auf. Muskelgewebe und Speicherfett hingegen nehmen nur wenig Ascorbinsäure auf. Der Ascorbinsäurepool des Menschen beträgt bei Sättigung etwa 1,5 g. Die biologische Halbwertszeit liegt zwischen 20 und 30 Tagen. Der Abbau erfolgt oxidativ über Dehydroascorbinsäure, Ketogulonsäure zu Oxalat. Rund 35–50% der täglichen Oxalatmenge im Harn (ca. 30–40 mg) stammen beim gesunden Erwachsenen, der sich normal ernährt, aus Ascorbinsäure.
15.5.4
Biochemische Bedeutung der Ascorbinsäure
Der Ascorbinsäure obliegen die unterschiedlichsten Aufgaben im Stofwechsel des Menschen. Einen Eindruck davon vermitteln die folgenden Beispiele:
15
15.5 Ascorbinsäure (Vitamin C): Das wasserlösliche Antioxidans
x Ascorbat hat antioxidative Schutzfunktionen. Beispiele: 1. Kollagensynthese, 2. Schutz gegen freie Radikale; x Ascorbat ist an Hydroxylierungsreaktionen beteiligt: Beispiele: 1. Hydroxylierung von Steroidhormonen, 2. Noradrenalinbiosynthese, 3. Hydroxylierung eines Transkriptionsfaktors bei der Erythropoietinbiosynthese; x Ascorbinsäure fördert die Eisenaufnahme.
. Abb. 15.21
α
Einige dieser Funktionen werden nachfolgend näher beschrieben.
Kollagenbiosynthese Die Kollagenbiosynthese beginnt mit dem Ablesen der mRNA-Matrize durch die Ribosomen des rauen endoplasmatischen Retikulums (RER). Die Ribosomen bilden das Kollagen zunächst in einer Vorläuferform von Prokollagenketten, die in einem späteren Stadium im Zisternenlumen des RER hydroxyliert werden. Durch die Hydroxylierung von Prolin und Lysin erlangen die späteren Kollagenibrillen ihre besondere Festigkeit. Ascorbinsäure ist für die Hydroxylierung von Prolin und Lysin zu 4-Hydroxyprolin bzw. Hydroxylysin essentiell, doch ist es an der Hydroxylierungsreaktion selbst nicht beteiligt: Es handelt sich somit nicht etwa um eine Monoxygenasereaktion, bei der NADP-H eines der beiden O-Atome des molekularen Sauerstof unter Bildung von NADP+ übernimmt und Ascorbat verbrauchtes NADP-H regeneriert. Die Funktion des Ascorbats bei der Hydroxylierung der Prokollagenketten besteht in seiner antioxidativen Wirkung, indem es das zweiwertige Eisen (Fe2+) im katalytischen Zentrum der Prolinhydroxylase vor der Oxidation zu dreiwertigem Eisen (Fe3+) und damit vor der Inaktivierung des Enzyms schützt. Die Hydroxylierung der Prokollagenketten ist eine gekoppelte Reaktion mit D-Ketoglutarat als Cosubstrat: 1 O-Atom des molekularen Sauerstofs wird in das Prolin eingebaut (Pro o 4-OH-Pro) und das andere in den intermediär gebildeten Succinathalbaldehyd (D-Ketoglutarat o Succinat + CO2). Bei Entkopplung dieser beiden Reaktionen kann nach wie vor D-Ketoglutarat oxidativ decarboxyliert werden, das als Superoxidanion anfallende zweite Sauerstofatom wandelt Fe2+ in Fe3+ um; es muss, soll das
α
Ascorbinsäure als antioxidativer Schutzfaktor. Oberer Teil: Es sind formelmäßig zwei miteinander gekoppelte Reaktionen der Einführung je eines O-Atoms aus molekularem Sauerstoff wiedergegeben. Ein O-Atom wird zur Hydroxylierung des Prolins verbraucht, das andere zur Oxidation des intermediär gebildeten C4-Aldehyds zur Carbonsäure (Bernsteinsäure). Formal liegt somit eine Dioxygenasereaktion vor. Untere Hälfte. Entkopplung der Prolinhydroxylierung von der Oxidation des α-Ketoglutarats. In seiner aktiven Form enthält die Protokollagenhydroxylase zweiwertiges Eisen (Fe+2) im Zentrum. Steht vorübergehend kein Prolin zur Verfügung, so kommt es zur Entkopplung. Zwar wird nach wie vor α-Ketoglutarat oxidiert, doch wird zugleich ein reaktiver Eisen-Oxo-Komplex gebildet. Der Sauerstoff wird als Superoxidanion abgespalten und wandelt Fe2+ in Fe3+ um. Damit wäre das Enzym für den nächsten Hydroxylierungszyklus inaktiviert, wenn nicht das Fe3+ durch Ascorbat reduziert würde. Ascorbat übt somit eine antioxidative Schutzfunktion aus
423
424
15
Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
Enzym für die weitere Prolinhydroxylierung aktiv werden können, durch Ascorbat reduziert werden ( > Abb. 15.21).
! Kernaussage
Die Ascorbinsäure beschränkt sich bei den am Kollagenstoffwechsel beteiligten Hydroxylasen auf eine Schutzfunktion.
ot in Flexionsstellung gehalten werden, gehören zu den typischen Zeichen, ebenso Verdickungen an KnorpelKnochen-Grenzbereiche. Beim Zahnen entstehen ot eine Rötung und Schwellung der Gingiva, verbunden mit Blutungen.
Schutz gegen ROS (reaktionsfähige Sauerstoffradikale) Fällt bei Vitamin-C-Hypovitaminose Ascorbinsäure als antioxidativer Schutzfaktor aus, stellen sich Mangelerscheinungen ein, die bei ausgeprägtem Krankheitsbild als Skorbut bezeichnet werden. Eine Hypovitaminose braucht sich anfänglich klinisch nicht zu manifestieren, oder es werden nur gewisse Besonderheiten – erhöhte Blutungsneigung, schlechte Wundheilung, vielleicht auch Infektanfäligkeit – beobachtet. Das ausgeprägte Krankheitsbild wird in Europa kaum noch beobachtet: Skorbutlecken mit lächenhaten Blutungen unter der Haut, Zahnleischblutungen, Blutungen in die Muskulatur, in das Fettgewebe und die Gelenke; in schweren Fällen geschwüriger Zerfall des Zahnleisches und Ausfall der Zähne. Bei Kleinkindern ist die Vitamin-C-Hypovitaminose unter der Bezeichnung Möller-Barlow-Krankheit bekannt. Schwellungen und Weichheit der unteren Extremitäten, die – ofenbar wegen Schmerzhatigkeit beim Berühren –
Im Abschnitt 15.4.1 wurde erläutert, dass bei stolichen Umsätzen laufend reaktionsfähige Sauerstofradikale entstehen und dass der Organismus gegen oxidative Schäden Abwehrmechanismen entwickelt hat. Zu den exogenen Faktoren mit Radikalfängereigenschaten gehört die Ascorbinsäure, die auf ihrer Fähigkeit beruht, sehr leicht Elektronen abzugeben ( > Abb. 15.22).
Ascorbinat als Co-Antioxidans: Hemmung der Lipidoxidation Im Kapitel Lipide wird der chemische Vorgang der Lipidperoxidation eingehend besprochen (S. 794). Analoge Prozesse vollziehen sich innerhalb des Organismus an Membranlipiden. Ausgangspunkt für die Lipidperoxida-
. Abb. 15.22
Oberer Teil. Ascorbinsäure als Redoxsystem. L-Ascorbinsäure (AH2) ist ein Ein-Elektronen-Donator, wobei sich Semidehydroascorbatradikal (AHx) bildet. 2 Semidehydroascorbatradikalteilchen disproportionieren unter Bildung von L-Dehydroascorbinsäure (A) und Rückbildung von AH2. Unterer Teil: Ascorbinsäure (AH2) hat Radikalfängereigenschaften. AH2 reagiert mit Hydroxylradikal unter Bildung von Semidehydroascorbatradikal (AHx) und Wasser. AHx disproportioniert, wie bereits oben gezeigt, zu Ascorbat (AH2) und Dehydroascobat (A)
15.5 Ascorbinsäure (Vitamin C): Das wasserlösliche Antioxidans
tion kann ein Hydroxylradikal sein, das unter Wasserbildung ein Wasserstofatom von einer allylischen CH2Gruppe einer mehrfach ungesättigten Fettsäure in der Lipiddoppelschicht abzieht. Das allylische Radikal kann mit molekularem Sauerstof zum Peroxylradikal reagieren. Peroxylradikale sind so reaktiv, dass sie unter Bildung von Hydroperoxid von einem weiteren Lipidmolekül ein H-Radikal abziehen. Es kommt auf diese Weise eine Kettenreaktion in Gang, die schließlich lokal die Membran und in der Folge die Zelle zerstören kann. Diese Kettenreaktion wird dadurch unterbrochen, indem das lipidlösliche D-Tocopherol die Radikale der Lipidschicht abfängt. Das dabei entstehende Tocopherylradikal kann durch Ascorbat entgitet werden ( > Abb. 15.9).
Hydroxylierung von Dopamin zu Noradrenalin Noradrenalin und Adrenalin werden aus Dopamin gebildet. Das die Hydroxylierung katalysierende Enzym, die Dopamin-D-Hydroxylase ist eine Monooxygenase, die Kupfer und Ascorbinsäure benötigt. Die Bezeichnung „Monoxygenase“ oder auch „mischfunktionelle Oxygenase“ besagt bekanntlich, dass ein Atom des molekularen O2 im Produkt – im vorliegenden Falle im Noradrenalin – und das andere als H2O autaucht. Der H2-Donator ist im Falle der Dopamin-D-Hydroxylase Ascorbat, das zu Dehydroascorbat oxidiert wird. In der Nebennierenrinde wird Noradrenalin weiter zu dem „Stresshormon“ Adrenalin methyliert. Bei Stress besteht ein erhöhter Bedarf an Adrenalin. Weil der Syntheseschritt (Dopamin o Noradrenalin) Ascorbat-abhängig ist, wird mit diesem Zusammenhang die Empfehlung begründet, in Stresssituationen Ascorbinsäure einzunehmen.
Ascorbinat als Hilfsfaktor bei weiteren Hydroxylierungsreaktionen Hydroxylierungsreaktionen sind im Stofwechsel weit verbreitet. Es sei an die Hydroxylierung von Corticosteron aus Desoxycorticosteron und an die Gallensäurebiosynthese aus Cholesterol erinnert. Hydroxylierung lipophiler Fremdstofe ist eine Voraussetzung für ihre Elimination aus dem Organismus. Die P-450-Cytochrome spielen hier die entscheidende Rolle. Alle diese Reaktionen sind O2abhängig, d. h. dass sie auch ohne Ascorbinsäure ablaufen. Die Funktion der Ascorbinsäure besteht in einer indirek-
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ten Förderung, dadurch dass sie für eine rasche Regeneration des bei diesen O2-abhängigen Hydroxylasereaktionen verbrauchten NAD+ sorgt.
Hemmung der Nitrosaminbildung Nitrosamine sind Verbindungen mit starker karzinogener Wirkung. Sie bilden sich aus sekundären Aminen und salpetriger Säure. In zahlreichen Lebensmitteln wurden Nitrosamine nachgewiesen: in gepökelten Fleischerzeugnissen, auch in Rohschinken, im Bier und in Whisky, vor allem aber auch in zahlreichen Gemüsesorten, so im Feldsalat, in Kopfsalat, in Kresse, Mangold, Radieschen, Rettich, Rhabarber, Roter Beete und Spinat. Nitrosamine können sich auch erst im Magen aus Nitrat (Pökelsalz) bilden, das mit der Nahrung aufgenommen wird. Nitrat wird bereits im Speichel bakteriell zu Nitrit reduziert. Damit sind die Voraussetzungen zur Nitrosaminbildung im sauren Milieu des Magens geschafen. Diese Nitrosierungsreaktion lässt sich durch die gleichzeitige Gabe von Ascorbinsäure unterdrücken, indem Nitrit von der Ascorbinsäure zu NO reduziert wird.
Ascorbat fördert die Eisenaufnahme Eisen gehört zu den lebenswichtigen Mineralbestandteilen. Ein 70 kg schwerer Mann enthält ca. 4 g Eisen, von dem zwei Drittel im Blut als Bestandteil des Hämoglobins zirkulieren. 1 mg wird pro Tag ausgeschieden und muss ersetzt werden. Mit der Fleischnahrung wird in der Regel der Bedarf gedeckt. Bei Eisenmangelzuständen z. B. infolge Blutverlusts, in der Schwangerschat oder infolge einer Fehlernährung muss substituiert werden. Dabei fördert Ascorbinsäure die Resorption von Eisenpräparaten durch zwei Efekte: einmal durch eine Chelatbildung – die Eisenchelate sind besser resorbierbar – und zweitens durch Reduktion der Fe3+-Ionen zu Fe2+-Ionen. Salze mit 2-wertigem Eisen sind besser wasserlöslich.
15.5.5
Ascorbinsäure als Nahrungsergänzungsmittel
Ascorbinsäure (Vitamin C) steht seit langem als partialsynthetisch aus d-Glukose herstellbares Produkt verhältnismäßig preiswert zur Verfügung. Daneben werden im
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Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
Handel Vitamin-C-Präparate angeboten, die Zubereitungen aus ascorbinsäurereichen Früchten darstellen. Diese natürlichen Vitamin-C-Präparate sind ot teurer als die Vitamin-C-Reinpräparate. Die Anbieter müssen daher versuchen, gewisse Vorzüge herauszustellen, um den höhern Preis zu rechtfertigen. So wird angeführt, natürliches Vitamin C würde vom Körper besser resorbiert, als „künstliches“ Vitamin C. Diese Aussage kann sich auf eine ältere klinisch-pharmakologische Studie stützen (Vinson u. Bose 1988), die die Resorption von Ascorbat zusammen mit Zitronensat untersuchte. Durch die Ballaststofe der Zitrone wurde die Resorptionsquote des Ascorbat um 35% verbessert. Nach einer neueren Studie ist die Antioxidanswirkung von Ascorbat im Verbund mit Zitronensat erheblich stärker als die von Ascorbinsäure allein (Vinson u. Jang 2001). Messparameter war die Latenzzeit („lag time“) der Lipoproteinoxidation. Die klinische Relevanz dieser Ergebnisse lässt sich schwer einschätzen. Wer in Situationen erhöhten Ascobinsäurebedarfs anstelle von frischem Obst oder anstelle von preiswerten Reinsubstanzpräparaten industriell hergestellte Extraktzubereitungen wählt, sollte auf jeden Fall darauf achten, dass auf der Packung Haltbarkeitsdaten angegeben werden. Die planzliche Zubereitung stellt ein Vielstofgemisch dar, in dem auch nach dem Verpacken chemische Umsetzungen ablaufen. Je höher die Lagertemperatur und je länger die Lagerdauer, desto rascher nimmt die Ascorbinsäure ab. Die Abbaukinetik der Ascorbinsäure hängt außer von den physikalischen Faktoren von der Art der Begleitstofe ab.
! Kernaussagen
Im Unterschied zu den meisten Tierarten kann der Mensch L-Ascorbinsäure nicht selbst synthetisieren: Aufgrund einer Genmutation fehlt ihm das Enzym L-Gulonolactonoxidase, das L-Gulonolacton zu 2-Oxogulonolacton oxidiert. Die Antiskorbutwirkung beruht auf der Rolle bei der Prokollagensynthese. Bei Ascorbatmangel ist die Hydroxylierung von Prolin und Lysin im Prokollagen blockiert. Ascorbat wird gebraucht, um das in einer Nebenreaktion entstehende Fe3+ der Prolylhydroxylase wieder zu Fe2+ zu reduzieren. Ascorbinsäure wirkt als Antioxidans: Durch zweimalige 1-Elektronenübertragung mit der Zwischenstufe des Ascorbatradikals bildet sich Dehydroascorbinsäure. Von besonderer Bedeutung ist die Hem-
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mung der Lipidoxidation im Zusammenspiel mit Tocopherol. Das Interesse der Pharmazie gilt den Ascorbinsäure enthaltenden Präparaten zur Selbstmedikation. Diese Präparate werden wohl seltener zur Substitutionstherapie bei Mangelerscheinungen verwendet, sondern überwiegend zur Vorbeugung gegen Erkältung, zur besseren Stressbewältigung und – wegen antioxidativer Eigenschaften von Ascorbat – gegen Arteriosklerose und Krebs. Der Nutzen dieser Anwendung kann nur schwer eingeschätzt werden. Plausibel erscheint die Erwartung, dass durch N-Nitrosamin bedingte Tumoren im Magen-Darm-Trakt verringert werden.
Acerolakirsche (Barbadoskirsche) Unter Acerola oder Acerolakirsche versteht man die unserer einheimischen Kirsche ähnelnden Steinfrüchte von Malpighia emarginata DC. (Synonyme: Malpighia glabra L; Malpighia punicifolia L.). Die Planze, ein ca. 3 m hoch wachsendes Holzgewächs, wird in den Tropen und Subtropen meist in der Buschform kultiviert. Das Fruchtleisch der Steinfrüchte schmeckt sauer und weist einen feinen an Apfel erinnernden Geruch auf. Die Früchte können roh oder als Kompott gegessen werden, werden aber vorzugsweise zu Fruchtsatkonzentraten und sprühgetrocknetem Fruchtpulver weiterverarbeitet. Der Gehalt an Ascorbinsäure hängt sehr stark vom Reifegrad ab: Mit zunehmender Reife nimmt der Gehalt ab. Unreife Früchte sollen bis zu 4% Ascorbinsäure enthalten, reife Früchte im Mittel noch 1–2%. Während der industriellen Verarbeitung treten vor allem durch die Temperaturbelastung weitere Verluste an Ascorbinsäure auf.
Jaboticafrüchte und Camu-Camu Die Gattung Myrcaria (Familie: Myrtaceae [IIB17a]) umfasst mehrere in den Tropen und Subtropen der Neuen Welt vorkommende Arten mit essbaren, Vitamin-C-reichen Beerenfrüchten. In Brasilien werden die von Myrcaria caulilora Berg und Myrcaria jabotica Berg stammenden Früchte verwertet. Die Stammplanzen sind niedrig wachsende Bäume oder Sträucher. Im Falle der M. cauli-
15.5 Ascorbinsäure (Vitamin C): Das wasserlösliche Antioxidans
lora sitzen, wie der Speziesname anzeigt, die Früchte direkt auf dem Hauptstamm und an den Stämmen niederer Zweige (Kaulilorie). Im Aussehen erinnern sie an große Weintrauben: 2–3 cm im Durchmesser groß, blaurote Fruchtschale mit hellem Fruchtleisch, das süß-säuerlich und aromatisch schmeckt. In den Regenwäldern am Amazonas heimisch ist Myrcaria dubia (H. B. K.) McVaugh (Synonym: Myrcaria paraensis Berg), deren Früchte von den einheimischen Indianern als Camu-Camu bezeichnet werden. Das Fruchtmus kann bis zu 4% Ascorbinsäure enthalten, das daraus industriell hergestellte Trockenpulver 12–16% und das Sprühtrockenpulver im Mittel 8% Ascorbinsäure.
Sanddornbeeren Der in Europa und Asien beheimatete Sanddorn, Hippophae rhamnoides L. (Familie: Elaeagnaceae [IIB11f]) ist ein zweihäusiges, stark sprossdorniges, bis 4 m hohes Holzgewächs mit lineallanzettlichen, unterseits silbrig beschilferten Blättern. Aufallend sind im Herbst die weiblichen Planzen, die dann Massen orangeroter, erbsengroßer Früchte tragen. Die Früchte werden als „beerenähnlich“ bezeichnet: Der geübte Morphologe belehrt uns anhand mikroskopischer Merkmale, dass es sich dem Augenschein zuwider botanisch-morphologisch um eine Nuss handelt. Die schleimige gelbliche Pulpa schmeckt herbsauer und schwach aromatisch. Sie enthält 01–0,2% Ascorbinsäure. Daneben wurden zahlreiche andere Substanzen isoliert, die im vorliegenden Zusammenhang von geringem Interesse sind. Aus Sanddornbeeren stellt man Presssäte, Konzentrate und Sirupe her.
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Anhang: Amblafrüchte mit stabiler Ascorbinsäure? Eine wichtige Droge der Ayurveda sind die Phyllanthusemblica-Früchte, wegen ihres ähnlichen Aussehens mit unseren Stachelbeeren auch als indische Stachelbeeren bezeichnet. Die Art Phyllanthus emblica L. (Synonym: Emblica oicinalis Gaertn.; Familie: Euphorbiaceae [IIB12c]) ist in Indien, im Malaiischen Archipel und im südlichen China heimisch. Die Früchte werden bei der Reife grüngelb; in das Fruchtleisch, das adstringierend, sauer und leicht bitter schmeckt, ist ein sechseckiger, dunkelgrüner Samenkern eingebettet. Auch in Europa werden Ambla-Präparate angeboten. Sie bestehen in der Regel aus einem Sprühtrockenextrakt der Phyllanthus-emblica-Früchte. Die Droge soll ganz außerordentlich ascorbinsäurereich sein, und zwar soll das Vitamin von Natur aus stabilisiert, also beständig sein. Die Droge soll bis zu 1,8% Ascorbinsäure enthalten; für einige Sprühtrockenextrakte werden Werte bis zu 3% angegeben. Was nun bemerkenswert ist: Es gibt eine Literaturstelle (Ghosal et al. 1996), die bisher ofensichtlich nicht zur Kenntnis genommen worden ist und die besagt, dass die Droge praktisch ascorbinsäurefrei ist. Die Angaben über die hohen Ascorbinsäuregehalte beruhen auf über 50 Jahre alten Analysen, die allem Anschein nach immer noch für Werbezwecke zitiert werden. Überprüt werden müssten zunächst authentische Drogenmuster; die Angaben der Handelspräparate könnten durchaus korrekt sein, falls synthetische Ascorbinsäure zugesetzt wird. Hauptinhaltsstofe der Droge jedenfalls sind Derivate der Gallus- und Ellagsäure.
Schlüsselbegriffe Acerolakirsche Ajoene Allicin Alliin Antioxidanzien Ascorbinsäure Ascorbinatradikal Camu-Camu Cysteinsulfoxide Diätetische Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke Epidemiologische Korrelation Epidemiologisch-retrospektive Studien
Fermentierter Knoblauch Französisches Paradoxon Gap Junctions Genistein Glutamylpeptide Glutathion Glutathionperoxidase Hydroxylradikal Isoflavone Ioprostan als Marker für oxidativen Stress Jaboticafrüchte LDL
LDL-Oxidation Lipidperoxidation Malondialdehyd als Marker Mehrfach ungesättigte Fettsäuren Mitochondriale DNA Nahrungsergänzungsmittel Nitrosaminbildung Oxidativer Stress Peroxylradikal Photodynamische Wirkung Phytamine Phytoöstrogene
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Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
Phytinsäure Plausibilitätsbetrachtungen Plaques (arteriosklerotische) Prolinhydroxylierung (gekoppelte Reaktion) Prolylhydroxylase Prospektive Interventionsstudien Proteinaseinhibitoren Reaktive Sauerstoffspezies Retrospektive Studien Sauerstoffradikale Scavenger-Rezeptoren
Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln Selenhefe Selenocystein Selenspeicherpflanzen Singulettsauerstoff Skorbut Sofu Sojabohnen Sojadiäten Sojamilch Sojaphosphatide
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Die traditionelle chinesische Medizin (TCM) und ihre Akzeptanz in westlichen Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433
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Beindlichkeitsstörungen als Domäne der TCM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433
16.3
Die TCM: der andere Denkstil erschwert das Verständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434
16.4
Die Relevanz des theoretischen Überbaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435
16.5
Die Yin-Yang-Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436
16.6
Die Fünf-Wandlungsphasen-Lehre (wuxing) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437
16.7
Qi und Xue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439
16.8
Pathogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 16.8.1 Äußere Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 16.8.2 Innere Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440
16.9
Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440
16.10 Die acht diagnostischen Leitkriterien (bagang) 16.10.1 Yin und Yang . . . . . . . . . . . . . . . 16.10.2 Inneres und Oberläche . . . . . . . . . 16.10.3 Kälte und Hitze . . . . . . . . . . . . . 16.10.4 Leere und Fülle . . . . . . . . . . . . .
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16.11 Diferentialdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 16.12 herapeutische Umsetzung des Befundes – die therapeutischen Verfahren (zhifa) . . . . . . 443 16.13 Arzneimittelwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.13.1 Das Temperaturverhalten (qi) . . . . . . . . . . . . . . . . 16.13.2 Die Geschmacksrichtung (wei) . . . . . . . . . . . . . . . 16.13.3 Der Funktionskreisbezug (guijing) . . . . . . . . . . . . . 16.13.4 Wirkungsstärke, Toxizität (duxing) . . . . . . . . . . . . . 16.13.5 Wirkungsdeinition (yingyong zhuzhi) . . . . . . . . . . . 16.13.6 Dosierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.13.7 Inkompatibilitäten, Anwendung in der Schwangerschat .
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16.14 Pharmazeutische Drogenaubereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 16.14.1 Wirkungsinerte Aubereitungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 16.14.2 Wirkungsrelevante, traditionelle Vorbehandlungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . 448 16.15 Rezepturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 16.16 Verarbeitung zu Arzneiformen . . . . . . . . . . . . . . 16.16.1 Dekokte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.16.2 Traditionelle Fertigarzneimittel . . . . . . . . . 16.16.3 Neuzeitliche Extraktzubereitungen . . . . . . . 16.16.4 Zubereitungen für die äußerliche Anwendung .
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16.17 Das Potential der chinesischen Arzneidrogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 16.18 Sicherheitsaspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 16.18.1 Verwechslungen chinesischer Arzneidrogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 16.18.2 Kontamination mit Schwermetallen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 16.19 Verfügbarkeit von TCM-Drogen in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461
16.2 Befindlichkeitsstörungen als Domäne der TCM
> Einleitung Das nachstehende Kapitel informiert zunächst in groben Zügen über die medizintheoretischen Hintergründe der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM), über Diagnose und Vorstellungen zu Krankheitsursachen, ferner darüber, wie die Arzneimittel eingeteilt werden und wie ihre Wirkung theoretisch begründet wird (Abschnitte 16.1–16.13). Es folgen Angaben zur Drogenaufbereitung und zur Rezepturkunde (Abschnitte 16.14 und 16.15). Ein großer Unterschied zwischen der Anwendung von pflanzlichen Arzneidrogen in der TCM und in der europäischen Phytotherapie bestand ursprünglich darin, dass in der TCM Drogen in wesentlich höheren Dosierungen eingesetzt wurden. Welche Kompromisse bei der Übernahme für die Verwendung in westlichen Ländern eingegangen werden, zeigt der Abschnitt 16.16, der sich mit der Verarbeitung von Arzneidrogen der TCM zu Arzneiformen und Fertigarzneimitteln befasst. Ein weiterer Abschnitt ist der Frage gewidmet, welche Chancen bestehen, aus Drogen der TCM Arzneistoffe zu gewinnen, die im Sinne der modernen naturwissenschaftlich orientierten Medizin eingesetzt werden können (Abschnitt 16.17). Schließlich werden Aspekte der Arzneimittelsicherheit, arzneimitterechtliche Fragen und die Verfügbarkeit von TCM-Drogen in Europa behandelt (Abschnitte 16.18 und 16.19).
16.1
Die traditionelle chinesische Medizin (TCM) und ihre Akzeptanz in westlichen Ländern 1
„Der Mönch aus dem Ausland liest die Bibel besser“. Getreu diesem chinesischen Sprichwort lässt sich in China und im Westen in den letzten Jahrzehnten eine gegenläuige Entwicklung beobachten: Nahm der Einluss westlicher Technologien und mit ihm der Stellenwert der westlichen Medizin in China rasant zu – und er ist weiter im Steigen begrifen – so erleben wir derzeit in westlichen Ländern eine nach wie vor ungebremste – ot auch unkritische – Zuwendung zu fernöstlichen Heilmethoden. 1
Aussprache: guówài láide héshàng huì niàn jῑng
16
Unter diesen nimmt die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) eine Sonderstellung ein, da es sich um eine herapiemethode handelt, mit der mehr als ein Viertel der Weltbevölkerung nach wie vor regelmäßig behandelt wird, die zudem über einen gewaltigen, durch großzügige staatliche Förderung in den letzten 50 Jahren inzwischen auch wissenschatlich weitgehend systematisierten Arzneimittelschatz verfügt und darüber hinaus dokumentiertes – wenn auch nicht nach westlich-pharmakologischen Prinzipien zugängliches – klinisches Erfahrungsmaterial aus mehr als zwei Jahrtausenden angehäut hat. Warum man sich bisher im Westen für die TCM, insbesondere für die Akupunktur, aber auch für die Chinesische Arzneitherapie, für die Diagnose der TCM und deren Heilmittelindung interessiert, hat mehrere Gründe: x negative Erfahrung und Unzufriedenheit von Patienten mit „schulmedizinischer Behandlung“ (Stichwort: „5-Minuten-Medizin“) vor allem bei funktionellen Störungen und chronischen Erkrankungen; auch Ängste vor Chemie und technischer Apparatemedizin fördern das Interesse für die TCM; x positive Erfahrungen von Patienten, die nach Methoden der TCM therapiert werden. Einer der Gründe: Der Arzt muss sich intensiv selbst mit subjektiven Empindungen des Patienten befassen, eine Grundvoraussetzung für die Erstellung einer genauen Diagnose im Sinne der TCM. Behandlungserfolge bei Patienten, bei denen herkömmliche Behandlungsmethoden nicht „greifen“; x fehlende Kassenverträge erzeugen in der Ärzteschat Zwang und Bereitschat zur Spezialisierung, verbunden mit steigender Akzeptanz in der Bevölkerung für die TCM und nicht zuletzt x die Hofnung westlicher Wissenschatler, im Arzneischatz der TCM Leitstofe für innovative Arzneistofe zu entdecken.
16.2
Befindlichkeitsstörungen als Domäne der TCM
Um einen ersten Eindruck von der TCM zu gewinnen: Ihre Möglichkeiten und Grenzen lassen sich recht gut durch eine anekdotische Erzählung aus dem historischen Werk Shiji von 90 v. Chr. verdeutlichen. Der Wanderarzt Bian Que wird von einem vornehmen Chinesen zu einer Audienz empfangen. Der Arzt sah, dass sein Gastgeber
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16
Drogen der Traditionellen Chinesischen Medizin in westlichen Ländern
krank und behandlungsbedürtig sei und bot seine Dienste an, die aber abgelehnt wurden, denn der vornehme Chinese vertrat die Meinung, Ärzte seien vor allem an Proit interessiert und liebten es daher, Gesunde, wie ihn, zu behandeln. Bian Que kam zweimal wieder und warnte immer eindringlicher – jedes Mal ohne Erfolg. Bei der vierten und letzten Audienz sah er den Gastgeber nur kurz aus der Ferne und verließ rasch den Hof. Auf die Frage, warum er so schnell fortgegangen sei, gab der Arzt die folgende Antwort: Als sich die Krankheit noch in den Poren der Haut befand, ließ sie sich durch heiße Umschläge heilen. Als sie in den Blutgefäßen war, ließ sie sich noch durch Aderlass beeinlussen. Als sie danach in den Magen-Darm-Bereich vorgedrungen war, hätte man sie durch eine Arznei heilen können. Nun ist sie in den Knochen angelangt, und da hilt nichts mehr. Wenige Tage später erkrankte der vornehme Mann sichtbar und starb kurz darauf (nach Unschuld 1997). Diese Erzählung lässt gut einen Grundsatz der TCM erkennen: zu therapieren, ehe eine Krankheit ausgebrochen ist. Man würde heute formulieren: Das Ziel der herapie war es, weniger eine manifeste Krankheit zu behandeln, sondern das Terrain, auf dem sich eine Krankheit entwickeln könnte. Eine ernste Krankheit beginnt schleichend; es ist wichtig, die Warnsignale, die der Körper aussendet, zu erkennen und eine Veränderung von zunächst Funktionszuständen, die somatischen Veränderungen vorausgehen plegen, diagnostisch zu erfassen und durch geeignete therapeutische Maßnahmen zum Normzustand zurückzuführen. Aus diesem Grunde räumt die TCM der Beindlichkeit einen sehr hohen Stellenwert ein – diese äußert sich im hohen Zeitaufwand für die Befragung während der Behandlung – und beschätigt sich mit allen ihren Aspekten (Friedl 1991). Dieses Sichanzeigen von Krankheiten durch Beindlichkeitsänderungen ist nicht irgendwie esoterisch oder gar auf China beschränkt: So wissen Eltern von Kleinkindern sowie Kinderärzte, dass beginnende Körperkrankheiten mit Ungezogenheiten beginnen können. Übermüdung und Überlastung äußern sich, ehe man sich ihrer körperlich bewusst wird, nicht selten zunächst in Beindensänderungen wie Ungeduld, Gereiztheit, Missmut und Unkonzentriertheit. Aus dem Bereich der Allgemeinmedizin ist bekannt, dass es neben den schlagartig oder anfallweise autretenden Symptomen und Krankheiten auch andere unbestimmte subjektive Erscheinungen gibt, die ein organisches Leiden einleiten. Man denke an das Vor- oder Frühstadium von Infektionskrankheiten oder an die Prodromalsymptome eines Herz-, Gallen- oder
Magenleidens oder an die Geschwulstleiden. Am weitesten verbreitet sind aber Störungen, bei denen psychische (seelische) Beindlichkeitsstörungen (Sorgen, Befürchtungen, Ängste) an körperliche Beschwerden gekoppelt sind. Man beschreibt sie in der psychosomatischen Medizin als funktionelle Störungen (heute somatoforme Störungen) und als hypochondrische Reaktionen. Patienten mit psychosomatischen Störungen bilden in der Praxis von Allgemeinärzten und von Internisten die Hauptklientel. Zwar besteht die Möglichkeit, diese Patienten, bei denen keine biochemischen oder andere Messparameter verändert sind, einer angemessenen psychotherapeutischen Behandlung zuzuführen, doch bietet die TCM nach Friedl (1991) hier eine Alternative.
16.3
Die TCM: der andere Denkstil erschwert das Verständnis
Wer sich erstmals über die herapie der TCM informieren will, sieht sich nicht nur anfangs völlig unverständlichen Begrifen gegenüber, sondern auch – und das wiegt viel schwerer – einer völlig anderen Methode in dem, wie Beziehungen zwischen einer Indikation und dem indizierten Mittel hergestellt werden. Über diese fundamentalen Unterschiede in westlicher Pharmakotherapie und TCM darf nicht hinweggehen, wem es um tieferes Verständnis und nicht um bloßes Nachreden chinesisch klingender Vokabeln geht. Es ist bereits viel für das Verständnis gewonnen, wenn man sich die fundamentalen Unterschiede im Denkstil zwischen chinesischer und westlicher Wissenschat vor Augen führt. Der Erkenntnisgewinn der chinesischen Philosophie und Wissenschat (inkl. Medizin) gründet auf dem induktiv synthetischen Denkstil (Porkert 1980) – der Erfassung der systematischen Korrespondenz von Phänomenen. Der Erkenntnisgewinn der modernen Naturwissenschat und Medizin hingegen beruht auf dem kausal analytischen Denkstil (Porkert 1980), mit anderen Worten dem Axiom des kausalgesetzlichen, mechanischdeterministischen Ablaufs von Prozessen in der Natur (Bauer 1997). Worin besteht der Unterschied zwischen kausal-analytischer und induktiv synthetischer Denkweise? Nach kausal-analytischer Denkweise ist die Entwicklung B immer als Resultat der Entwicklung A zu sehen, also sind A und B auf einer Zeitachse hintereinander angeordnet, während nach induktiv synthetischer Denkweise an ein
16.4 Die Relevanz des theoretischen Überbaus
und demselben Punkt der Zeitachse nach korrespondierenden Phänomenen „Ausschau“ gehalten wird. Diese Beobachtungen müssen dann mit deinierten Kriterien (im Falle der chinesischen Medizin mit den „8 Diagnostischen Leitkriterien“) abgeglichen werden. Nachteil (zumindest im westlichen Sinne) der induktiv-synthetischen Denkweise: Es kann nichts gemessen werden, Beobachtungen können nur auf Basis von Normkonventionen qualitativ gewertet werden. Der Vorteil dieses Denkstils ist hingegen, dass gleichzeitig an den unterschiedlichsten Orten autretende Phänomene untereinander vernetzt und in ein Gesamtbild synthetisiert werden können. Dies stellt – auf das Feld der Medizin angewendet – den entscheidenden Vorteil der TCM bei der Diagnostik funktioneller Störungen dar. Dem steht wiederum als Nachteil der große Lernaufwand gegenüber, der dem Beherrschen dieser Methodik voran geht. Der Denkstil der systematischen Korrespondenz von Phänomenen gründet letztlich in einer naturgegebenen Eigenschat des menschlichen Geistes, nämlich auf der Wahrnehmung von Ähnlichkeiten in einer unabsehbaren Fülle von Erscheinungen. Bereits im 1. Jahrtausend vor Chr. setzte in China das Bemühen ein, Dinge und Erscheinungen der gesamten Welt in eine begrenzte Anzahl von Gruppen einander ähnlicher Phänomene zusammenzufassen. Wesentlich dabei ist: der Begrif Ähnlichkeit wird außerordentlich weit gefasst. Ähnlichkeiten werden an verschiedenen Zeichen erkannt, zum Beispiel an der Form, an der Farbe, an der Art der Bewegung, am Verhalten, am zeitlichen Verlauf oder an beliebigen anderen Merkmalen. Der Denkstil der systematischen Korrespondenz von Phänomenen ist somit, verkürzt ausgedrückt, ein Denken in Analogien und
16
Symbolen. Eine große Schwierigkeit für uns heute liegt darin, dass viele dieser symbolischen Assoziationen aus alter historischer Zeit nicht mehr nachvollziehbar sind. Beispiele für Gruppenbildung aufgrund von Analogien sind die Yin-Yang-Lehre und die Lehre von den Fünf Wandlungsphasen, die als nächste besprochen werden.
16.4
Die Relevanz des theoretischen Überbaus
In den letzten zweitausend Jahren stand die historische Entwicklung Chinas im Grunde genommen im Spannungsfeld zweier philosophischer Schulen, der des Taoismus – einer philosophischen Richtung, die der freien Entfaltung der Natur und der Beobachtung ihrer Phänomene Vorrang von jedem menschlichen Wirken einräumte – und der des Konfuzianismus, einer Art Staatsreligion, die ein streng hierarchisches Regelsystem entwickelte, in dem alles seinen ihm zugewiesenen Platz einzunehmen hatte und alle Phänomene in klar deiniertem Bezug zueinander zu stehen hatten. Übertragen auf die Entwicklung der TCM bedeutete dies, dass zum einen Wissen aus der direkten Beobachtung von Krankheiten und deren Beeinlussung durch Medizinen gesammelt wurde, zum anderen der Versuch unternommen wurde, die gesammelten Beobachtungen in einem Entsprechungssystem miteinander in Bezug zu setzen. In alten Medizinklassikern wie dem Shennong Bencaojing indet man vorerst überhaupt keine zwingenden Zuordnungen zu den Wandlungsphasen und Funktionskreisen, erst später in der Sui- und Yuan-Dynastie kamen unter konfuzianischem Einluss vermehrt theoretische Bezüge zum tragen.
Infobox Traditionelle Chinesische Medizin – die Kulturbarriere erschwert den Zugang. Die TCM ist eine in China und weiten Teilen der Welt verbreitete therapeutische Methode, die neben manuellen Methoden wie Akupunktur und Tuina über einen umfangreichen Arzneimittelschatz, eine in sich geschlossene, eigenständige Medizintheorie und medizinisches Quellenmaterial aus mehr als zwei Jahrtausenden verfügt. Eine essentielle Voraussetzung zum Verständnis der TCM ist es, sich klar zu machen, dass Aussagen der TCM nicht mit dem eingeübten Denkstil von Ursache und Wirkung nachvollziehbar sind. Erforderlich ist eine wertende Denk-
weise, die erfasste klinische Beobachtungen aufgrund von traditionell überlieferten Normkonventionen zuordnet. Der Anfänger wird zu diesem Umstellen der Denkweise in der Regel nicht sofort imstande sein. Aufgrund der wissenschaftstheoretisch diametral entgegengesetzten Denkstile, ist der klinische Wirkungsnachweis methodologisch sehr schwierig zu erbringen und erst für einige wenige Indikationen statistisch relevant erbracht (u. a. Brinkhaus et al. 2004). Gegner der Methode negieren die Möglichkeit eines positiven Wirksamkeitsnachweises generell.
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436
16
Drogen der Traditionellen Chinesischen Medizin in westlichen Ländern
In der heutigen Praxis sind die im Folgenden beschriebenen Axiome zwar im Fundament des Denkens noch rudimentär vorhanden, spielen aber in der Praxis nur eine untergeordnete Rolle, quasi als „Eselsbrücken“ (z. B. die „Mutter-Sohn-Regel“ zur Beeinlussung von Organbereichen in der Akupunktur), zumal sich viele Wirkungen der Kräuter nicht schlüssig aus dem theoretischen Überbau ableiten lassen, während deren Wirkungsbeschreibung ähnlich wie bei den homöopathischen Mitteln in einem klar deinierten Arzneimittelbild festgelegt ist. Yin und Yang und die fünf Wandlungsphasen sind als Normqualitäten zu verstehen, lediglich Hilfsmittel zur Beschreibung der Wirklichkeit. Ihr einziger Zweck ist, jenen Aussagen und Regeln, die aufgrund positiver Beobachtungen dynamischen Geschehens gemacht und aufgestellt werden, Präzision und Eindeutigkeit zu verleihen. Nur als Vehikel von Beobachtungsdaten und systematisierenden Regeln haben sie einen Sinn (Porkert 1983).
16.5
Die Yin-Yang-Lehre
Entsprechend chinesischem philosophischem Denken bilden Yin und Yang zwei Grundqualitäten, die für den gesamten Kosmos Geltung besitzen. Man denkt sie sich als einander in ständigem gegenseitigen Wechsel und Übergang stehende räumliche, aber auch zeitliche Aspekte ( > Abb. 16.1). Alles, was existiert, Himmelskörper, Völ. Abb. 16.1
Das Symbol von Yin und Yang als zyklischer Umlauf zweier gegensätzlicher, aber ineinander wurzelnder Phasen dargestellt. Ursprünglich aus der Beobachtung des Tagesablaufes abgeleitet, der ja einem steten zyklischen Übergang zwischen Tag und Nacht unterworfen ist. Am Höhepunkt des Yang beginnt die Zunahme des Yin und umgekehrt. Alle Phänomene des Universums sind in Yin- und YangAspekte qualifizierbar
ker, Menschen, der einzelne Mensch, Tiere, Häuser, Naturphänomene: Alles hat sein Yin und Yang. Dabei können Yin und Yang ausgewogen vorliegen, es kann aber auch ein Yin- oder ein Yang-Mangel vorliegen. Der Mensch z. B. ist dann gesund, wenn sich Yin und Yang in ausbalanciertem Zustand beinden. Erst in dieser vollkommenen Harmonie von Yin und Yang kann die Lebensenergie Qi ungehindert ließen. Liegen Yin und Yang im Ungleichgewicht vor, so wird der Mensch empfänglich für äußere Noxen, d. h. er wird krank. Die Yin- und Yang-Lehre beinhaltet aber auch die Vorstellung, dass der Kosmos und alles innerhalb des Kosmos in bipolarer Weise gegliedert ist, dass sich alle Naturphänomene in zwei einander entgegengesetzte, aber doch komplementär zueinander stehende Aspekte einteilen lassen, die ineinander wurzeln und einem ständigen zyklischen Austausch unterworfen sind (Tag/Nacht, Ebbe/Flut u. a. m). Am Höhepunkt des Yang-Aspektes beginnt sich Yin zu entwickeln. Yin stand ursprünglich für die schattige Seite eines Hügels, Yang für die sonnenbeschienene Seite. Im Kontext der Yin-Yang-heorie haben die beiden Begrife ihre ursprüngliche Bedeutung verloren und sind auf reine Qualiizierungsausdrücke reduziert worden, wobei Yang den aktiven (= funktionsbezogenen), induzierenden Aspekten und Yin den struktiven (= strukturbezogenen, somatisch manifesten), konkretisierenden Aspekten aller Phänomene zugeordnet wird. Weitere Zuordnungen zu Yin sind: kalt, weiblich, nass, Winter, und zu Yang die gegenteiligen Aspekte: warm, männlich, trocken, Sommer ( > Tabelle 16.1). Yin-Yang-Paare gibt es so viele, wie es Dinge oder Vorstellungen gibt: Alles hat ein Yin und ein Yang. Somit ist es nicht mehr überraschend, dass sich Yin-Yang-Entsprechungen auch im medizinischen Bereich wiederinden. Dazu ein Beispiel: Einatmen ist ein Yang-Vorgang, indem sich beim Weiten des Brustkorbs eine Spannung aubaut, die dann beim Ausatmen, einem Yin-Vorgang, entladen wird. Andrerseits lässt sich auch der gesamte Atemvorgang als eine Yang-Funktion begreifen, die gegen das Yin der natürlichen Atemwiderstände (elastische Spannung von Lungengewebe und Bauchdecke) ankämpfen muss (Schmincke 2004). Man ersieht gerade an diesem Beispiel sehr deutlich, dass die Begrife Yin und Yang keine bloßen logischen Gegensätze meinen. Zum Schluss ein Beispiel aus der Arzneimittellehre: Yin und Yang dienen als Ordnungsprinzip für die Einteilung der Heilkräuter in Mittel mit Yang-Charakter (heiße/warme Mittel) und mit YinCharakter (kalte/kühle Mittel).
16.6 Die Fünf-Wandlungsphasen-Lehre (wuxing)
. Tabelle 16.1 Yin- und Yang-Phänomene: entgegengesetzte, zugleich komplementäre Phänomene allgemeiner und medizinischer Natur (Porkert 1983, Bauer 1997, erweitert) Yang
Yin
Allgemeine Phänomene die Sonnenseite
die Schattenseite
die Sonne
der Mond
das Männliche
das Weibliche
der Himmel
die Erde
der Tag
die Nacht
der Frühling
der Herbst
der Sommer
der Winter
die Wärme
die Kälte
die Energie
die Substanz
das Äußere
das Innere
das Helle
das Dunkle
das Große, Starke
das Schwache, Kleine
das Obere
das Untere
das Feuer
das Wasser
das Bewegte
das Stille
die Linke
die Rechte
Phänomene mit Bezug auf medizinische Thematik die Oberfläche (biao)
das Innere (li)
die Zeit von Mitternacht bis Mittag
die Zeit von Mittag bis Mitternacht
die Wandlungsphasen Holz und Feuer
die Wandlungsphasen Metall und Wasser
Qi
Blut (xue)
die Wehrenergie (wei)
die Bauenergie (ying)
Fülle (shi)
Leere (xu)
Klares
Trübes
der Rücken
der Bauch
die Hohlorgane
die Speicherorgane
die Galle
die Niere
die Blase
die Leber
die Leber
die Milz
der Dickdarm
die Lunge
16.6
16
Die Fünf-WandlungsphasenLehre (wuxing)
Die Fünf-Wandlungsphasen-Lehre, ot auch als Fünf-Phasen-Lehre bezeichnet, entsprang denselben altchinesischen Vorstellungen einer allumfassenden analogen Entsprechung aller Dinge und Erscheinungen wie die YinYang-Lehre. Wichtig zum Verständnis ist: x Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser sind fünf Embleme, für die der Begrif Wandlungsphasen geprägt wurde, um auf den veränderlichen, nicht statischen Charakter der Phänomene (Erscheinungen) und/oder Dinge hinzuweisen, die in Analogie zu dem jeweiligen Emblem gesetzt werden: Dinge und Phänomene existieren nicht statisch nebeneinander, vielmehr wirken sie wechselseitig aufeinander und – in zeitlicher Folge – auch nacheinander. x Die Wirkungen aufeinander werden in Formulierungen ausgedrückt wie „bringt hervor“, „kontrolliert“, „überwindet“ oder „verachtet“. x Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser bilden quasi die Basisembleme: Die unterschiedlichsten Dinge oder Erscheinungen werden zu Fünfergruppen zusammengestellt ( > Tabelle 16.2) und können dann in Analogie zu den fünf Wandlungsphasen gesetzt werden. Dabei ist die Gruppe der 5 Funktionskreise (Orbis cardialis usw.) von besonderer Bedeutung. x Die Funktionskreise werden mit westlichen anatomischen Organnamen bezeichnet. Von einer Assoziation zu Körperorganen ist aber zu abstrahieren. Die Organnamen stehen lediglich als Chifren für die unterschiedlichsten Funktionen und Erscheinungen, die dem jeweiligen Funktionskreis zugedacht werden. So umfasst der Funktionskreis Lunge auch die Haut, das Körperhaar, die Nase, die Abwehr äußerer Noxen und ist die Grundlage der aktiven Energien. Die > Abb. 16.2 zeigt die zyklische Anordnung der fünf Wandlungsphasen, wobei in physiologische und pathologische Sequenzen zu unterscheiden ist. Auch die Bildung anderer zyklischer Fünferfolgen ist möglich. Trotz der rein rechnerisch beinahe unbegrenzten Anordnungsmöglichkeiten sind aber nur vier Sequenzen von medizinischer Relevanz: Zunächst eine Sequenz, bei dem die Tätigkeit der Förderung oder die des Erzeugens im Vordergrund steht. Wasser fördert das Wachstum von Bäumen (Holz), das Holz nährt beim Verbrennen das Feuer, das das Holz zu Asche
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Drogen der Traditionellen Chinesischen Medizin in westlichen Ländern
. Tabelle 16.2 Die fünf Wandlungsphasen – Zuordnungstabelle Aspekt
Wandlungsphase Holz
Feuer
Erde
Metall
Wasser
Geschmack
Sauer
Bitter
Süß
Scharf
Salzig
Funktionskreis
Leber
Herz
Milz/Mitte
Lunge
Niere
Komplementärfunktionskreis
Galle
Dünndarm
Magen
Dickdarm
Blase
Emotion
Zorn
Freude
Nachdenklichkeit
Trauer
Angst
Tageszeit
Nach Mitternacht
Vormittag
Nachmittag
Später Nachmittag
Vor Mitternacht
Jahreszeit
Frühling
Sommer
Spätsommer
Herbst
Winter
Farbe
Grün
Rot
Gelb
Weiß
Schwarz
Körperbereich
Sehnen, Muskeln
Blutgefäße
Fleisch, Muskelmasse
Haut und Körperhaar
Knochen, Knochenmark
. Abb. 16.2
Holz
Holz 木
木
Wasser
火
水
金
Metall
Feuer
Erde
金
土
水
土
Erde
Wasser
Metall
火
Feuer
Die fünf Wandlungsphasen lassen sich zu unterschiedlichen Zyklen zusammenstellen wie z. B. zur physiologischen „Hervorbringungssequenz“ (Holz o Feuer o Erde o Metall o Wasser, > linker Zyklus, durchgehende Pfeile), zur ebenfalls physiologischen „Kontrollsequenz“ (Holzo Erde o Wasser o Feuer o Metall, > linker Zyklus, unterbrochene Pfeile), zur pathologischen „Verachtungssequenz“ (Wasser o Erde o Holz o Metall o Feuer, > rechter Zyklus, durchgehende Pfeile) oder zur „Überwindungssequenz“ (Holz o Erde o Wasser o Feuer o Metall, > rechter Zyklus, unterbrochene Pfeile). Die Überwindungssequenz entspricht der Kontrollsequenz, nur dass bei pathologisch gesteigerter Energie eines Funktionskreises dieser den nachgelagerten „überkontrolliert“ und somit energetisch überflutet
verwandelt; Die Asche wird Teil neuer Erde, in der Erde entstehen Metalle (Mineralien), aus den Metallen (den Mineralien) kommt das Wasser. Die Sequenz ist durch die folgende Anordnung gekennzeichnet: Wasser o Holz o Feuer o Erde o Metall o Wasser. Dieser Folge der Wandlungsphasen entspricht der folgende Zyklus der Funktionskreise: Niere o Leber o Herz o Milz o Lunge o Niere. Diese Analogie ist aber lediglich auf Aussagen über die funktionalen Beziehungen der einzelnen Funktionskreise beschränkt, eine Gleichsetzung mit den Organen im Sinne der westlichen Anatomie und Physiologie ist – trotz man-
nigfacher Versuche logischer Erklärungen in der älteren und jüngeren Literatur – ohne jede Relevanz und rein spekulativ. herapeutisch sind diese Beziehungen insofern umsetzbar, als z. B. bei einem Mangelzustand im Funktionskreis Herz dieser Zustand durch Stärkung des fördernden Funktionskreises („der Mutter“) – in diesem Falle des Funktionskreises Leber – ausgeglichen werden kann. Als zweites Beispiel folgt eine Sequenz, bei dem die Beziehung des Bezwingens (im physiologischen Sinne: der Kontrolle) im Vordergrund steht: Das Wasser bezwingt („löscht“) das Feuer. Das Feuer bezwingt das Metall (weil
16
16.8 Pathogenese
Hitze das Metall zum Schmelzen bringt). Das Metall bezwingt („schneidet“) das Holz. Das Holz bezwingt die Erde (vermutlich, weil die Bäume die Erde durchbohren). Die Erde bezwingt (wohl im Sinne von „dämmt“) das Wasser. In der praktischen Anwendung dieser Kontrollsequenz würde dies bedeuten, dass z. B. bei einem Energieüberschuss im Funktionskreis Herz dieser Zustand durch Stärkung des die Kontrolle ausübenden Funktionskreises – in diesem Falle des Funktionskreises Niere – ausgeglichen werden kann. Die weiteren zwei in > Abb. 16.2. dargestellten Sequenzen beschreiben die energetischen Abläufe bei der Überlagerung mit pathogener Energie, wenn z. B. ein Funktionskreis, der ursprünglich in der Kontrollsequenz einen anderen Funktionskreis zügeln sollte, durch redundante Energie diesen nun energetisch überlagert („Überwindungssequenz“). Man überzeuge sich an Hand der > Tabelle 16.2, dass die 5 Embleme der Wandlungsphasen jeweils mit verschiedenen Funktionskreisen in Analogie gesetzt sind.
16.7
Qi und Xue
Es sind dies zwei Grundbegrife der Chinesischen Medizintheorie, die grob vereinfacht als Lebensenergie (Qi) und Blut (Xue) übersetzt werden können. Diese beiden Begrife sind untrennbar miteinander verbunden, sind sie doch wieder aktiver, funktionsbezogener und struktiver, materialisierender Aspekt derjenigen Krat, die alle Lebensvorgänge in Gang hält. Qi bewegt das Blut und Blut nährt das Qi, Trennung des Qi vom Blut bedeutet letztlich den Tod. Geschwächtes Qi führt zu Stasen (Stauung) des Blutes, Deizienz (Nährstofmangel, Anämie) des Blutes wirkt sich wiederum auf die Aktivität des Qi aus. Der Akupunkteur beeinlusst durch Setzen von Nadeln an genau deinierten Punkten den Lauf des Qi in den Leitbahnen, doch es gibt auch Arzneimittel, die die Aktivität des Qi steuern können ( > Tabelle 16.11).
16.8
Pathogenese
Nach der Traditionellen Chinesischen Medizintheorie werden Krankheitsursachen in 6 äußere, klimatisch bedingte Ursachen, 7 innere, emotional bedingte Ursachen und 7 sonstige Krankheitsursachen unterteilt. Diese so genannten pathogenen Faktoren inden sich in > Tabelle 16.3 aufgelistet (Maciocia 1994).
. Tabelle 16.3 Krankheitsauslösende (pathogene) Faktoren der TCMMedizintheorie Klimatische Faktoren (6)
Emotionale Faktoren (7)
Sonstige Faktoren (7)
Wind
Zorn
Schwache Konstitution
Kälte
Traurigkeit
Überanstrengung
Sommerhitze
Sorge
Übermäßige sexuelle Aktivität
Feuchtigkeit
Nachdenklichkeit
Falsche Ernährung
Trockenheit
Freude
Trauma
Feuer
Angst
Parasiten und Vergiftungen
Schock
Falsche Behandlung
Die äußeren und inneren Krankheitsursachen lassen sich in das Entsprechungssystem der fünf Wandlungsphasen eingliedern, darin liegt auch der Schlüssel, welche Krankheitsursache an welcher Stelle (über welchen Funktionskreis) seine Wirkung entfaltet. Diese exogenen, klimatischen Faktoren dringen bildlich gesprochen in den Körper ein und existieren von diesem Zeitpunkt als innerer pathogener Faktor fort, unabhängig davon, ob die exogene Noxe noch aktiv ist oder nicht. Auch hier kann der herapeut Arzneien auswählen, die speziell in Richtung der Austreibung dieser Faktoren wirken (z. B. Wind eliminierende Mittel, Feuchtigkeit ausleitende Mittel, > Tabelle 16.11).
16.8.1
Äußere Ursachen
x Wind entspricht der Wandlungsphase Holz, ist charakterisiert durch seine Ainität zum Frühling, zu den Funktionskreisen Leber und Galle und durch windähnliche Symptomatik wie vagierende Schmerzen, Zorn, Ausschlägen [Wind(!)pocken], aber auch Schlaganfall (in China wird man vom „Wind getrofen“ nicht vom Schlag, wie hierzulande). Wind ist der einzige pathogene Faktor, der sich mit anderen pathogenen Faktoren verbinden kann (Wind-Kälte, Wind-Hitze etc.). x Kälte entspricht der Wandlungsphase Wasser, ist charakterisiert durch seine Ainität zum Winter, zu den
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16 x
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x
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Funktionskreisen Niere und Blase und durch kälteähnliche Symptomatik wie Fieber ohne Schwitzen, mit Gänsehaut und Schüttelfrost, Schmerzen, die durch Kälte verschlimmert werden. Sommerhitze entspricht der Wandlungsphase Feuer, ist charakterisiert durch seine Ainität zum Spätsommer, zu den Funktionskreisen Herz, Herzbeutel, Dünndarm und Dreifacher Erwärmer2 und durch hitzeähnliche Symptomatik wie iebrige Zustände, Schweißausbrüche, Durst, rötlicher Urin. Feuchtigkeit entspricht der Wandlungsphase Erde, ist charakterisiert durch ihre Ainität zu den Funktionskreisen Milz und Magen und durch Symptome wie verstopte Nase, Gelenksschmerzen, Schwellungen, Appetitlosigkeit, Durchfälle, trüber Ausluss. Trockenheit entspricht der Wandlungsphase Metall, ist charakterisiert durch ihre Ainität zum Herbst, den Funktionskreisen Lunge und Dickdarm sowie durch Symptome wie trockene Nase, trockener Zungenbelag, Halsschmerzen, trockener Hustenreiz, schleimiger Auswurf. Glut entspricht ebenfalls der Wandlungsphase Feuer, kann aber bei ungünstigem Krankheitsverlauf als Produkt aus allen anderen krankheitserzeugenden Faktoren entstehen und ist von dramatischer Symptomatik gekennzeichnet: Agitation und hohes Fieber, Durst, Halsschmerz, schneller Puls.
16.8.2
Innere Ursachen
x Freude ist der Wandlungsphase Feuer zugeordnet, bei übermäßiger Entfaltung wird die Energie im Funktionskreis Herz geschmälert, als Hauptsymptome treten hier Bewusstseinstrübung und unkoordiniertes Verhalten in Erscheinung. x Schock wirkt ebenfalls auf den Funktionskreis Herz, aber auch auf den Funktionskreis Niere zurück. Als Hauptsymptome gelten unregelmäßige hektische Atmung, Unruhe und konfuses Verhalten, aber auch Nachtschweiß, Schwindelgefühl und Tinnitus. 2
Der „Dreifache Erwärmer“ (sanjiao) ist der am schwierigsten zu fassende Funktionskreis der TCM, er ist ein dem Yang zugerechneter, dreigeteilter Funktionskreis (oberer, mittlerer und unterer Erwärmer), der die Wasserwege des Körpers kontrolliert, er überwacht zugleich die Bewegung der verschiedenen Qi-Arten zu verschiedenen Zeitpunkten der Energieproduktion – ein schönes Beispiel der Komplexität der chinesischen Medizintheorie.
x Zorn ist der Wandlungsphase Holz zugeordnet und
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zeigt besondere Ainität zum Funktionskreis Leber und durch diesen auch zum Blut (der Funktionskreis Leber ist nach chinesischer Sicht Speicher des Blutes). Bei übermäßiger Entfaltung (hetige Zornesausbrüche) wird der Funktionskreis Leber geschädigt, als Hauptsymptome erscheinen hier roter Kopf, Ohnmacht bis hin zum Schlaganfall. Sorge ist der Wandlungsphase Metall zugeordnet, übermäßige Entfaltung dieser Emotion schädigt die Funktionskreise Lunge und Dickdarm, als Hauptsymptomatik kommt es dabei zu allgemeiner Kratlosigkeit, Kurzatmigkeit, Schleimbildung und Appetitlosigkeit. Trauer wirkt bei übermäßiger Entfaltung ebenfalls auf den Funktionskreis Lunge zurück, als Hauptsymptome werden hier Teilnahmslosigkeit und Geistesabwesenheit beobachtet. Nachdenklichkeit ist der Wandlungsphase Erde zugeordnet, übermäßige Entfaltung schädigt den Funktionskreis Milz; als Hauptsymptome gelten Müdigkeit, starkes Ruhebedürfnis und Appetitverlust. Angst ist der Wandlungsphase Wasser zugeordnet. Bei übermäßiger Entfaltung kommt es zu einer Schädigung des Funktionskreises Niere mit Unruhe, mangelnde Entschlussfähigkeit, Verfolgungswahn und Selbstisolation als Hauptsymptomen.
Doch wie geht nun der chinesische Arzt in der Praxis vor, will er einen Patienten untersuchen und die richtige Kräutermischung zur Behandlung seiner Erkrankung zusammenstellen? Dazu muss man zunächst das diagnostische Instrumentarium kennen lernen – und erlernen.
16.9
Diagnostik
Die Stärke der traditionellen chinesischen Medizin besteht darin, Beindlichkeitsstörungen des organisch gesunden Patienten zu diagnostizieren. Sie ist nicht Selbstzweck, sondern dient dazu, eine individuelle Arzneitherapie zu inden. Dabei stützt man sich auf ein schwer zu erlernendes Instrumentarium, das durch jahrhundertlange Beobachtungen immer ausgefeilter geworden ist. Die vier Kernbegrife dieser Diagnostik sind wàng (betrachten), wèn (befragen), wén (riechen und hören), qiē (betasten). x Diagnose durch Betrachtung (wàng): Dabei wird auf das allgemeine Erscheinungsbild des Patienten geach-
16.10 Die acht diagnostischen Leitkriterien (bagang)
tet (Ausdruck, Hautfarbe, Gestalt und Verhalten). Ein besonders wichtiger Punkt dieser Diagnose ist die Zungendiagnose. Dabei kann aus Farbe und Tonus des Zungenkörpers, aus dem Vorhandensein bzw. dem Fehlen von Zungenbelägen sowie aus deren Form, Farbe, Beschafenheit und Lokalisierung auf Störungen in den einzelnen Funktionskreisen geschlossen werden. x Diagnose durch Hören und Riechen (wén): Hierzu gehören der Klang der Stimme, die Beurteilung von Körpergeräuschen (Husten, Schlucken, Würgen, Schluckauf etc.), aber auch der Geruch des Patienten und seiner Ausscheidungen. x Diagnose durch Befragung (wèn): Durch eingehende Befragung werden die persönlichen Empindungen des Patienten (Temperaturempinden, Schmerzen, Appetit, Schlafverhalten, psychische Eindrücke, Ausscheidungsverhalten etc.) gezielt in Erfahrung gebracht. x Diagnose durch Betasten (qiē): Neben der allgemeinen Abtastung von Körperregionen ist hier in erster Linie die Pulsdiagnose von Bedeutung: Dabei wird an drei nebeneinander liegenden, genau deinierten Stellen knapp oberhalb des Handgelenkes (cun, guan, chi – entsprechen an der linken Hand den Funktionskreisen Herz, Leber und Niere, an der rechten Hand den Funktionskreisen Lunge, Milz und Niere) an beiden Unterarmen der Puls getastet, wobei durch abgestuften Fingerdruck die Pulsqualität an jedem einzelnen dieser Punkte zusätzlich noch in 3 verschiedenen Ebenen ermittelt wird. Insgesamt sind 28 verschiedene Pulsqualitäten deiniert: Der Befund wird nun anhand dieses Systems von Pulsbildern zugeordnet und gibt sehr genau Aufschluss über Blockaden zwischen Funktionskreisen, über Mangel- und Überlusserscheinungen sowie über pathologische Zustände innerhalb von Funktionskreisen (z. B. Schleimblockaden, Blutstasen, Füllesyndrom).
16.10
Wie kommt der Arzt nun von vielen Einzelbefunden zu einer Synopsis des Funktionszustandes? Dazu bedient er sich einer Art Einordnungsschablone aus 8 diagnostischen Leitkriterien.
16
Die acht diagnostischen Leitkriterien (bagang)
Die 8 Leitkriterien sind das eigentliche Werkzeug des Arztes, um im Rahmen der TCM-Diagnose alle Symptome und Beindlichkeitszustände des Patienten in eine therapeutisch umsetzbare Diagnose einzuordnen. Sie umfassen 4 Paare polarer Qualitäten: x Yin und Yang, x Inneres (li) und Oberläche (biao), x Kälte (han) und Hitze (re), x Leere (xu) und Fülle (shi).
16.10.1 Yin und Yang Yin und Yang sind auch in diesem Zusammenhang übergeordnete Qualitäten; so sind die Kriterien Oberläche, Hitze und Fülle dem Yang, die jeweiligen polaren Gegenkriterien dem Yin zuzuzählen. Welchem der Aspekte das Zustandsbild eines Patienten entspricht, wird mittels Leitsymptomen ermittelt. So lässt sich durch einfaches Befra-
. Tabelle 16.4 Zuordnungsschema Leitkriterium Yin – Yang Yin – Symptome
Yang – Symptome
Müdigkeit und Kraftlosigkeit
Unruhe und Gereiztheit
Schwache Stimme
Kräftige Stimme
Körper und Gliedmaßen kalt
Körper und Gliedmassen warm, evtl. Fieber
Verminderter Durst
Starker Durst bei trockenem Mund
Verlangen nach heißen Getränken
Verlangen nach kalten Getränken
Reduzierter Appetit
Normaler oder gesteigerter Appetit
Reichlich, hell gefärbter, klarer Urin
Wenig, rötlich gefärbter Urin
Kälteempfindlich
Hitzeempfindlich
Patient liegt eingerollt und gut zugedeckt
Patient liegt ausgestreckt und abgedeckt
Weicher, lockerer Stuhl
Harter Stuhl oder Verstopfung
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442
16
Drogen der Traditionellen Chinesischen Medizin in westlichen Ländern
gen des Patienten eine erste Unterscheidung in Yin oder Yang trefen ( > Tabelle 16.4.).
16.10.2 Inneres und Oberfläche Das Kriterienpaar Inneres und Oberläche gibt an, wie weit eine Störung in den Organismus vorgedrungen ist. Auch hier überschneiden einander eine zeitliche und räumliche Qualität: Ein pathologisches Geschehen, das auf der Oberläche sitzt, ist zumeist auch ein Geschehen im Anfangsstadium, während die Lokalisierung im Inneren eher auf eine schon länger bestehende Erkrankung hinweist. Die Unterscheidung zwischen den Kriterien Oberläche und Inneres erfolgt durch grobe Einstufung der Symptomatik ( > Tabelle 16.5).
. Tabelle 16.5 Differenzierungsschema Leitkriterien Oberfläche – Inneres Symptom
Oberfläche
Inneres
Lokalisierung
Haut, Leitbahnen
Speicher- oder Hohlorgane
Krankheitsgeschichte
Akut, kurz
Chronisch, lang
Fieberzustände
Unregelmäßig
Regelmäßige Schübe
Zungenbelag
Weiße Beläge
Je nach Krankheitsbild
Pulsbefund
Oberflächliche Pulsbilder
Tiefe Pulsbilder
16.10.3 Kälte und Hitze Das Kriterienpaar Kälte und Hitze gibt die thermische Qualität des pathologischen Geschehens wieder – iebrige, hyperaktive Patienten mit geröteten Schleimhäuten etc. lassen auf eine Hitzesymptomatik, ruhebedürtige, matte und blasse Patienten hingegen auf eine Kältesymptomatik schließen ( > Tabelle 16.6). Diese grobe Abklärung liefert zugleich einen ersten Hinweis, mit welchen Medikamenten die Krankheit behandelt werden könnte. Ein Hinweis dazu indet sich im „Inneren Klassiker“ (Huangdi Neijing Suwen): „Kaltes erhitze, Heißes kühle“. Dem zufolge sind kalte Krankheiten mit Arzneien heißer Natur zu behandeln und umgekehrt. Im weit fortgeschrittenen Krankheitsgeschehen kann es zur Umwandlung von Kältesymptomatik in Hitzesymptome und umgekehrt kommen, man spricht dann von „falscher Hitze“ bzw. „falscher Kälte“. Hier ist die genaue Abklärung durch den geschulten Arzt essentiell, denn die Behandlung von „falscher Hitze“ mit kalten Arzneimitteln kann zu dramatischer Verschlimmerung im Zustand, in Extremfällen sogar zum Tod des Patienten führen. Letztlich hätte man bei diesem herapiefehler eine im Grunde an ihr Extrem vorgedrungene kalte Krankheit noch weiter abgekühlt. Aus diesem Zusammenhang ist ersichtlich, dass sich die traditionelle Chinesische Arzneitherapie nicht zur Verwendung als OTCMedizin eignet.
16.10.4 Leere und Fülle Das Kriterienpaar Leere (= energetisches Deizit) und Fülle (= energetischer Überluss) gibt einen Überblick
. Tabelle 16.6 Differenzierungsschema Leitkriterium Kälte – Hitze Symptom
Kälte
Hitze
Teint
Blass
Gerötet
Durst
Kein Durst oder Verlangen nach warmen Getränken
Starker Durst, Verlangen nach kalten Getränken
Temperatur
Abneigung gegen Kälte, kalte Akren
Abneigung gegen Hitze, heiße Akren
Urin
Heller klarer Urin, reichlich
Gelber, rötlicher Urin, spärlich
Stuhl
Locker, eher flüssig
Hart und fest
Zungenbild
Blasser Zungenkörper, weißer Belag
Roter Zungenkörper, gelber Belag
Pulsbefund
Langsame Pulse
Schnelle Pulse
16.13 Arzneimittelwirkungen
. Tabelle 16.7 Differenzierungsschema Leitkriterium Leere – Fülle Phänomen
Leere
Fülle
Krankheitsverlauf
Lang
Kurz
Stimmungszustand
Gedrückt
Angeregt
Stimme
Leise
Laut
Atem
Schwach
Kräftig
Schmerzen
Durch Druck gebessert
Durch Druck verschlimmert
Zungenkörper
Zart
Hart
Zungenbelag
Unbelegt oder schwacher Belag
Dicker Belag
über das Energiepotential des Krankheitsgeschehens. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder ist ein pathogener Faktor (xieqi – heteropathisches Qi) derart übermächtig, dass er den Organismus trotz intakter Körperfunktionen (zhengqi – orthopathisches Qi) überwältigt und in ihm Krankheit auslöst; dies wird als Fülle eingestut. Leere ist dagegen, wenn der Organismus in sich selbst geschwächt ist (qixu, Qi-Leere) und dadurch ein leichtes Opfer für krankheitserzeugende Mechanismen wird (externer oder interner Natur). Auch hier erfolgt die Unterscheidung durch Zuordnung der Symptomatik ( > Tabelle 16.7).
16.11
16.12
Differentialdiagnose
Diese vorgehend beschriebene grobe Schablone der 8 Leitkriterien wird natürlich nicht einfach über den Patienten gelegt und das Ergebnis abgelesen. Erst muss durch die vorgehend beschriebenen vier diagnostischen Maßnahmen die Lokalisierung der Störung auf einen oder mehrere Funktionskreise erhoben werden. Dazu gibt es tabellarisch zusammengestellte Leitsymptome, mit deren Hilfe die Eingrenzung erleichtert wird. Erst nach genauer qualitativer Bestimmung und Lokalisierung des Krankheitsgeschehens auf einzelne Funktionskreise kann der Befund auch therapeutisch umgesetzt werden.
16
Therapeutische Umsetzung des Befundes – die therapeutischen Verfahren (zhifa)
Nach Erstellung des Befundes wird in logischer Folge ein herapieprinzip formuliert, das sich an den therapeutischen Verfahren orientiert, in die im Rahmen der TCM die Arzneimittelwirkungen eingeteilt werden. Ursprünglich als 8 therapeutische Verfahren beschrieben, führte eine feinere Diferenzierung in neueren Quellen zu insgesamt 16 therapeutischen Verfahren (Li 1985): x Erzeugung von Schweiß (hanfa), x Kühlen (qingfa), x Abführen (xiafa), x Harmonisierung (hefa), x Erwärmen (wenfa), x Tonisierung (bufa), x Zerstreuung (xiaofa), x Qi-Regulation (liqifa), x Blutregulation (lixuefa), x Feuchtigkeitsausleitung (qushifa), x Schleimausleitung (qutanfa), x Befeuchtung (runzaofa), x Adstringierung (gusefa), x Beruhigung (anshenfa), x Windausleitung (qufengfa), x Auswurförderung (tufa), x Durchgängigmachung von Sinnesöfnungen (kaiqiaofa). Die Einteilung der chinesischen Arzneimittel in Wirkgruppen orientiert sich grob an diesen Verfahren ( > Tabelle 16.11). Gerade in der Schlüssel-Schloss-Beziehung zwischen Befund – herapieprinzip – therapeutischem Verfahren – Arzneimittelwirkung liegt die Notwendigkeit der Verwendung chinesischer Arzneidrogen begründet, da die Wirkungen heimischer Arzneidrogen in diesem System nicht einzuordnen sind.
16.13
Arzneimittelwirkungen
Die Arzneidrogenindung in der chinesischen Medizin erfolgte weitgehend unabhängig von aller heorie, mehr oder weniger nach dem Prinzip der westlichen Medizin des „trial and error“. Charakteristisch für die Mittelindung ist die lange Zeitperiode, über die eine Wirkung im Rahmen der chinesischen Arzneitherapie belegbar ist. Die
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444
16
Drogen der Traditionellen Chinesischen Medizin in westlichen Ländern
. Tabelle 16.8 Ausgewählte chinesische Pflanzennamen (auch Synonyme) mit deutscher Bedeutung Chinesische Lautschrift
Deutsche Übersetzung
Pharmazeutische Bezeichnung (Erklärung des Namens)
niaobuta
„Der Vogel lässt sich nicht darauf nieder“
Synonym für Zanthoxyli radix (stachelige Droge)
ebushicao
„Das Gras, das die Gans nicht frisst“
Centipedae herba (wird von Gänsen nicht gefressen)
baibucao
„100-Schritte Kraut“, weiter kommt man nicht nach der Einnahme
Synonym für Aconiti radix (stark toxische Pflanze)
yinyanghuo
„Das Kraut, das das Schaf geil macht“
Epimedii herba (libidosteigernde Wirkung)
jixueteng
„Hühnerblut-Liane“
Spatholobii caulis (führt blutroten Pflanzensaft)
naoyanghua
„Blume, die das Schaf verrückt macht“
Rhododendri mollis flos (neurotoxische Wirkung)
duanchangcao
„Kraut, bei dem der Darm bricht“ Darm bricht = Umschreibung für Tod
Tripterygii hypoglaucae radix (stark toxische Droge)
duanxueliu
„Kraut, das den Blutfluss unterbricht“
Clinopodii herba (hämostiptische Droge)
genaue Naturbeobachtung, die dieser Wirkungsindung zugrunde liegt, spiegelt sich in vielen einprägsamen chinesischen Kräuternamen wider ( > Tabelle 16.8). Die jahrhundertlange Anwendung von Arzneidrogen führte natürlich auch zu einem hohen Wissensstand hinsichtlich Beobachtungen von unerwünschten Wirkungen und von Inkompatibilitäten bei der Kombination mehrerer Mittel (Näheres unter > Toxizität). Doch wie ist die Arzneimittelwirkung aus chinesischer Sicht deiniert? Die Arzneimittelwirkungen der chinesischen Arzneidrogen werden im Rahmen der chinesischen Medizintheorie eigenständig deiniert, die Wirkungsdeinitionen unterscheiden sich daher grundlegend von den Deinitio-
nen, die uns von der Wirkbeschreibung heimischer Arzneiplanzen bekannt sind. Die grundlegende Wirkrichtung eines Arzneimittels ergibt sich aus seiner Einordnung im Raster der so genannten „Fünf Arzneimitteleigenschaten“ (yaoxing). Die Arzneimitteleigenschaten werden wiederum hierarchisch in Primärqualitäten und Sekundärqualitäten unterteilt ( > Tabelle 16.9). Auch hier tritt wieder die bereits vorgehend erwähnte Kollision zwischen Arzneibildern aus der Erfahrungsmedizin und theoretischem Überbau in Erscheinung ( > Abschnitt über die Relevanz des theoretischen Überbaus). In modernen Monographien wird von dieser Einteilung abgewichen, insbesondere wird auf die vier Wirkrichtungen nicht mehr eingegangen. Die modernen chinesischen
. Tabelle 16.9 Die fünf Arzneimitteleigenschaften (yaoxing) Primärqualitäten Geschmacksrichtung Sauer
Sekundärqualitäten Temperaturverhalten
Stufe der Toxizität
Wirktendenz
Funktionskreisbezug
Sehr kalt
Ungiftig
Steigen
Leber, Galle
Bitter
Kalt
Schwach giftig
Schweben
Herz, Dünndarm
Süß
Kühl
Mäßig giftig
Sinken
Milz, Magen
Scharf
Neutral
Stark giftig
Fallen
Salzig
Warm
Niere, Blase
Neutral
Heiß
Herzbeutel, 3 Erwärmer
Lunge, Dickdarm
16.13 Arzneimittelwirkungen
Arzneibuchmonographien teilen die Angaben zu den Arzneimittelwirkungen nach folgendem Schema ein: x Temperaturverhalten, x Geschmacksrichtung, x Toxizität, x Funktionskreisbezug, x Wirkung und Indikationen, x Dosierung, x Warnhinweise (Inkompatibilitäten, Anwendung in der Schwangerschat).
16.13.1 Das Temperaturverhalten (qi) Jede chinesische Droge weist ein bestimmtes Temperaturverhalten auf, dieses ist wie auf einem hermometer anzuordnen, wobei die Bandbreite von extrem kalt über kalt, kühl, neutral mit kalter Tendenz, neutral, neutral mit warmer Tendenz, warm, heiß bis sehr heiß verläut. Das kälteste Mittel des chinesischen Arzneimittelschatzes ist mineralischer Gips, das heißeste Mittel Aconiti radix. Anders als bei der Geschmacksrichtung ( > nächster Abschnitt) besitzt jede Droge nur ein einziges Temperaturverhalten. Das Temperaturverhalten legt bereits grob fest, für welche Erkrankungen das Mittel geeignet ist: Kalte Mittel werden bei heißen Krankheiten und Energieüberschusszuständen eingesetzt, heiße Mittel bei kalten Krankheiten und zur Tonisierung.
16
. Tabelle 16.10 Die Geschmacksrichtungen und zugeordnete Wirkungen Geschmacksrichtung
Zugeordnete Wirkungen
Scharf
Energien mobilisierend, die Oberfläche öffnend
Süß
Harmonisierend, stützend und puffernd, Energie zuführend
Sauer
Adstringierend, aufrauend und stopfend
Bitter
Kühlend, trocknend, entgiftend
Salzig
Erweichend, laxierend
Neutral
Diuretisch, flüssigkeitsregulierend
16.13.3 Der Funktionskreisbezug (guijing) Ähnliche Divergenzen zwischen klassischer Medizintheorie und klinischer Erfahrung treten auch bei der sich aus dem Entsprechungssystem ableitbaren Funktionslokalisation der Arzneidroge im Organismus, dem so genannten Funktionskreisbezug auf: Obwohl theoretisch aufgrund der Geschmacksrichtung eindeutig zuordenbar ( > Tabelle 16.2), haben die meisten Mittel Bezüge zu 2–4, in Extremfällen (Glycyrrhizae radix) zu allen Funktionskreisen.
16.13.4 Wirkungsstärke, Toxizität (duxing) 16.13.2 Die Geschmacksrichtung (wei) Aus den 5 Wandlungsphasen lässt sich die zweite Einteilung der Kräuterwirkung, die Geschmacksrichtung ableiten – wenngleich dieses theoretische Postulat auch nicht immer der Praxis entspricht (in der chinesischen Medizin setzt sich, sofern Diferenzen autreten, immer die klinische Erfahrung über die heorie hinweg), zumal ein Kraut auch mehrere Geschmacksrichtungen aufweisen kann. Wasser entspricht der salzigen, Erde der süßen, Holz der sauren, Feuer der bitteren, Metall der scharfen Geschmacksrichtung. Diesen Geschmacksrichtungen sind seinerseits wieder Wirkqualitäten zugeordnet ( > Tabelle 16.10).
Aus den Wirkungsdeinitionen jeder chinesischen Arzneidroge ist ersichtlich, ob es sich um ein normales Mittel oder ein stark wirksames Mittel handelt. Für diese Charakterisierung wurde der Ausdruck „duxing“ (Toxizität) gewählt. Diese Toxizität im Sinne der chinesischen Arzneibeschreibung ist nicht gleichbedeutend mit dem westlichen Begrif der Toxizität, er gibt vielmehr die Wirkungsstärke an, d. h. ob ein Mittel geeignet ist, eine bestimmte Wirkung auch schnell zu erzielen. Ein Mittel, das als toxisch (oder besser: drastisch wirkend) eingestut wird, sollte jedenfalls nicht zur Selbstmedikation eingesetzt werden, seine Anwendung gehört in die Hände des erfahrenen herapeuten, seine Abgabe in den Apotheken sollte sich an den Bestimmungen für rezeptplichtige Arzneimittel orientieren. Zahlreiche dieser als toxisch eingestuten Drogen müssen vor ihrer Anwendung noch traditionellen Entgitungsmaßnahmen unterzogen werden ( > Abschnitt 16.14.2).
445
446
16
Drogen der Traditionellen Chinesischen Medizin in westlichen Ländern
. Tabelle 16.11 Einteilung der Arzneimittel in traditionelle Wirkungsgruppen Nr.
Hauptgruppe
Untergruppe (Beispiele von Mitteln)
1
Die Oberfläche öffnende Mittel
1a 1b
scharf-warme Mittel (Ephedrae herba, Schizonepetae herba) scharf-kühle Mittel (Menthae herba, Mori folium)
2
Innere Hitze kühlende Arzneimittel
2a 2b 2c 2d 2e
Feuer kühlend (Anemarrhenae rhizoma, Gardeniae fructus) Blut kühlend (Rehmanniae radix, Scrophulariae radix) Hitze-Feuchtigkeit kühlend (Scutellariae radix, Coptidis rhizoma) Kühlend und entgiftend (Lonicerae flos, Forsythiae fructus) Mangel-Hitze kühlend (Artemisiae annuae herba, Lycii cortex)
3
Purgierende Arzneimittel
(Rhei radix et rhizoma, Cannabis semen)
4
Flüssigkeit ausscheidende, Feuchtigkeit umwandelnde Mittel
(Poria, Coicis semen)
5
Wind-Feuchtigkeit ausleitende Mittel
(Siegesbeckiae herba, Chaenomelis fructus)
6
Schleim umwandelnde und Husten stillende Arzneimittel
6a 6b 6c
Schleim-Hitze kalt ausleitend (Fritillariae thunbergii bulbus, Trichosanthis fructus) Schleim-Kälte warm ausleitend (Platycodi radix, Inulae flos) Expektoranzien bei Husten und Niesen (Armeniacae semen, Mori cortex)
7
Feuchtigkeit transformierende Mittel
(Atractylodis rhizoma, Amomi fructus)
8
Nahrungsstau lösende Mittel
(Crataegi fructus, Raphani semen)
9
Qi-regulierende Mittel
(Cyperi rhizoma, Aurantii fructus)
10
Blutregulierende Mittel
11
Wärmende Mittel
12
Tonisierende Mittel
13
Adstringierende Mittel
14
Beruhigende Mittel
15
Aromatisch öffnende Mittel
(Acori tatarinowii rhizoma, Moschus)
16
Inneren Wind und Tremor beseitigende Mittel
(Gastrodiae rhizoma, Scorpio)
17
Antiparasitische Mittel
(Meliae cortex, Arecae semen)
18
Mittel zur äußerlichen Anwendung
(Momordicae semen, Pseudolaricis cortex)
10a Blut stillende Mittel (Notoginseng radix, Sanguisorbae radix) 10b Blut bewegende Mittel (Achyranthis radix, Chuanxiong rhizoma) (Zingiberis rhizoma, Cinnamomi cortex) 12a 12b 12c 12d
Qi tonisierende Mittel (Astragali radix, Ginseng radix) Blut tonisierende Mittel (Rehmanniae radix praeparata, Angelicae sin. radix) Yang tonisierende Mittel (Eucommiae cortex, Epimedii herba) Yin nährende Mittel (Ophiopogonis radix, Asparagi radix) (Corni fructus, Schisandrae fructus)
14a Beruhigend durch Dämpfung (Ostreae concha, Magnetitum) 14b Beruhigend durch Stützung des Funktionskreises Herz (Ziziphi spinosae semen, Ganoderma)
16.14 Pharmazeutische Drogenaufbereitung
16.13.5 Wirkungsdefinition (yingyong zhuzhi) Der Kernbereich dieser Wirkungsdeinitionen umfasst die Wirkungen und Indikationen; hier indet sich das eigentliche Arzneimittelbild wieder, jene genaue Beschreibung der Arzneimittelwirkung, die als das Ergebnis jahrhundertlanger praktischer Anwendungsbeobachtung überliefert ist. Die verschiedenen Wirkungen lassen sich gut zu einer systematischen Einteilung der Chinesischen Materia Medica ( > Tabelle 16.11) heranziehen. In > Tabelle 16.11 wurden nur jeweils zwei Arzneidrogen pro Gruppe exemplarisch aufgeführt. Tatsächlich beläut sich nach neuesten Quellen die Zahl der in China für Arzneimittelzwecke genutzten planzlichen Drogen auf über 7800, dazu kommen noch 1050 tierische und 115 mineralische Drogen, wobei in dieser Zahl auch Drogen enthalten sind, die bei den diversen Minoritätsvölkern Chinas in ethnomedizinischer Verwendung stehen (Zhonghua bencao 1999). In einer chinesischen traditionellen Apotheke werden üblicherweise 600–800 Arzneidrogen vorrätig gehalten, während man in Europa und den USA mit etwa 300–400 dieser Arzneidrogen auskommt. Moderne westliche Lehrbücher der Traditionellen Chinesischen Arzneitherapie behandeln ca. 500–600 dieser Drogen (Bensky et al. 2004).
16.13.6 Dosierung
die als toxisch eingestut sind, sollen die angegeben Dosierungen allerdings nicht überschritten werden.
16.13.7 Inkompatibilitäten, Anwendung in der Schwangerschaft Der lange Anwendungszeitraum hat auch zur Anreicherung eines weiteren Erfahrungsgutes beigetragen: der Kenntnis von den Wechselwirkungen oder Unverträglichkeiten einzelner Kräuter untereinander. Hier wird eine Stufenleiter vom bewährten Einzelmittel bis zur absoluten Inkompatibilität zweier Mittel zueinander durchschritten ( > Tabelle 16.12). Dieses für die Zusammenstellung von Rezepturen unentbehrliche Wissen um die Kombinierbarkeit und drohende Inkompatibilitäten einzelner Drogen ist auch in traditionellen Unvereinbarkeitsregeln, z. B. in der „18 Gegen-Regel“ (shibafan) verpackt und ist zugleich integraler Bestandteil der Lehrinhalte traditioneller chinesischer Ärzte. Auch in den modernen Kräutermonographien der chinesischen Pharmakopöe indet sich dieses überlieferte Wissen wieder. Die Anwendung aller Drogen aus der Gruppe der blutbewegenden Mittel in der Schwangerschat gilt als problematisch. Dies ist zumeist unter den Warnhinweisen der jeweiligen Monographie verzeichnet.
16.14
Die Angaben zu den Dosierungen der chinesischen Pharmakopöe sind als Richtwerte zu verstehen, wobei kurzzeitige drastische Dosisüberschreitungen bei akuten Krankheitsgeschehen durchaus üblich sind. Bei Drogen,
16
Pharmazeutische Drogenaufbereitung
In der chinesischen Apotheke werden, genau wie im Westen, geschnittene, getrocknete Arzneidrogen ange-
. Tabelle 16.12 Die 7 Qualitäten von Wechselwirkungen Chinesische Bezeichnung
Deutsche Übersetzung der Wechselwirkungsqualität
Erläuterung der Einzel- bzw. Wechselwirkung
dan xing
Einzeln gehend
A als Einzelmittel bewährt
xiang xu
Einander benötigend
A benötigt B zur Wirkungsentfaltung
xiang shi
Einander befördernd
A verstärkt die Wirkung von B
xiang wei
Einander fürchtend
A verringert die Wirkung von B
xiang sha
Einander vernichtend
A hebt die toxische Wirkung von B auf
xing wu
Einander verabscheuend
A stört die Wirkung von B
xiang fan
Einander umkehrend
A erzeugt mit B unerwünschte Wirkungen
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Drogen der Traditionellen Chinesischen Medizin in westlichen Ländern
wendet. Anders als im Westen legt der Einkäufer in China mangels deinierter Wirkstofe sein Augenmerk auf die Herkunt der Droge, die ideale Droge wird auch als „daodi yaocai“ – Droge mit idealer Herkunt und Qualität bezeichnet. Für jede Arzneiplanze gibt es ideale Herkunts- bzw. Anbaugebiete. Von Seiten des chinesischen Staates werden derzeit große Anstrengungen unternommen, Fehlentwicklungen der letzten Jahre (allgemeines Sinken der Qualität von Arzneidrogen durch verfehlte Anbaupolitik wie z. B. der Förderung von Anbau in ungeeigneten Regionen) zu korrigieren und eine groß angelegte Gebietsreform des Arzneiplanzenanbaus voranzutreiben.
16.14.1 Wirkungsinerte Aufbereitungsverfahren Chinesische Heilkräuter müssen vor ihrer Verwendung nach genau vorgegebenen Regeln aubereitet werden, dazu gehören Reinigungsschritte (Sortierung nach Größen, Entfernung fremder Beimengungen und nichtzugehöriger Planzenteile, Waschen, aber auch komplizierte Floatingverfahren zur Entfernung löslicher toxischer Anteile bei mineralischen Drogen wie Zinnober etc.), traditionelle Vorbehandlungsschritte (Behandlung mit diversen Zusatzstofen, um die Arzneiwirkung zu verstärken bzw. abzuwandeln, Röstprozesse, Koch-, Dämpf- und Brennverfahren sowie komplizierte Entgitungsverfahren), Zerkleinerung (Schneiden, Zerstoßen etc.) und Trocknungsverfahren (Trocknen an der Sonne, bei milden Bedingungen, Trockenrösten etc.). Am Ende dieser vielen Aubereitungsschritte steht dann die traditionelle Chinesische Schnittdroge (yinpian). Drogen, die die Aufbereitung nicht durchlaufen haben, gelten als reine Rohware, wie sie auf chinesischen Kräutermärkten gehandelt wird; sie sind für den Einsatz als Arzneimittel ungeeignet. Auf den ersten Blick ist beim Betreten der Fertigungsräume einer chinesischen Kräuter verarbeitenden Fabrik ein großer Unterschied zu vergleichbaren westlichen Betrieben feststellbar: Die planzlichen Drogen werden fast ausschließlich in feuchtem Zustand geschnitten und anschließend getrocknet. Dies führt zu schöneren Schnittdrogen bei höherer Ausbeute, birgt aber hinsichtlich Wirkstofgehalts – insbesondere bei Drogen mit lüchtigen Inhaltsstofen – einige Nachteile. So sind z. B. laut Pharmakopöe der VR China für Menthae herba zwei Werte
für den Gehalt an ätherischem Öl gefordert: 0,8% für das nicht vorbehandelte Rohprodukt, aber nur 0,4% für die Schnittdroge. Einige dieser Nachteile wurden durch moderne Adaptierung der althergebrachten Verfahren wieder ausgeglichen; spezielle Rotationsbefeuchter verringern die Verweilzeit der Droge im Wasser bis zur geforderten vollständigen Durchfeuchtung der Droge auf ein Minimum, spezielle Dämpfungsverfahren deaktivieren Glykosidasen, noch bevor diese im Nasszustand aktiv werden können (z. B. bei Scutellariae radix kann hier der ursprüngliche Baicalingehalt trotz vollständiger Durchfeuchtung der Droge erhalten werden).
16.14.2 Wirkungsrelevante, traditionelle Vorbehandlungsverfahren Dies sind historisch überlieferte Verfahren, die darauf ausgerichtet sind, Wirkungen bekannter Arzneidrogen abzuwandeln, sei es um Arzneimittel mit anderen Wirkungsqualitäten zu gewinnen, sei es, um unerwünschte Wirkungen zu minimieren.
Verfahren zur Beeinflussung der Wirkqualitäten Die Wirkung traditioneller chinesischer Drogen kann durch Auswahl geeigneter Agenzien erhöht, abgeschwächt, aber auch so stark verändert werden, dass ein Arzneimittel mit einem neuen Anwendungsgebiet entsteht. Rehmanniae radix (dihuang) z. B. ist in der chinesischen Pharmakopöe mit folgender Wirkungsbeschreibung deiniert: Hitze kühlend und die Bildung aktiver Säte fördernd, das xue (Blut) kühlend und Blutungen stillend. Aufgrund dieser Wirkcharakteristik wird es auch zu den Mitteln der Kategorie 2b „Blut kühlende Mittel“ ( > Tabelle 16.11) gezählt. Nach Kochen in Reiswein und anschließender Trocknung erhält man ein Produkt, das rein äußerlich wenig Unterschied zum Ausgangsprodukt erkennen lässt. Dennoch wird es in der chinesischen Pharmakopöe in einer eigenen Monographie behandelt: Rehmanniae radix praeparata (shoudihuang), eine Droge mit u. a. folgender Wirkungsdeinition: Das Yin anreichernd und das xue (Blut) nährend. Folglich wird das Mittel unter die Kategorie 12b „das Blut tonisierende Mittel“ ( > Tabelle 16.11) eingereiht. Manche Verfahren zielen nur auf eine Verbesserung der Wirksamkeit ab. So ist von der Droge Corydalis rhizo-
16
16.15 Rezepturen
ma bekannt, dass Rösten nach Durchfeuchtung in Essig zu einer deutlichen Wirkungssteigerung führt. Neuere Studien zeigten, dass dieser Efekt auf einer Verbesserung der Löslichkeit des Alkaloidanteiles beruht. Aber auch selektives Entfernen einzelner Inhaltsstofgruppen kann erwünscht sein: Die Tränkung von Ephedrae herba in Honiglösung mit anschließendem Rösten zur Trockene reduziert den Gehalt an ätherischem Öl und damit die diaphoretische Wirkung, es verbleibt ein hauptsächlich antitussiv wirksames Produkt (Bensky et al. 2004).
. Tabelle 16.13 Aconiti radix lateralis (fuzi); Alkaloidgehalte von unbehandelter und vorbehandelter Droge als Beweis der Effektivität der traditionellen Entgiftungsmethodik (Xu 1996) Alkaloidgehalt/LD50
Unbehandelt
Vorbehandelt
Gesamtalkaloidgehalt
0,82–1,56%
0,12–0,29%
Doppelesteralkaloide
0,07–0,17%
0,02–0,04%
Monoesteralkaloide
0,03–0,08%
0,02–0,05%
LD50 (i.v., Mäuse)
0,49 g
2,8 g
Traditionelle Entgiftungsverfahren Von manchen Drogen ist seit Alters her ihr toxisches Potential bekannt. Schon sehr früh begann man Methoden zu erdenken, um bei Anwendung dieser Drogen die therapeutische Breite und mit ihr die Anwendungssicherheit zu erhöhen. Die Droge, die von der Anwendungsverbreitung und vom therapeutischen Wert her das höchste toxische Potential aller TCM-Drogen aufweist, ist Aconiti radix lateralis praeparata (fuzi), zugleich auch das prominenteste Beispiel für ein traditionelles Entgitungsverfahren. Dabei werden die ausgegrabenen Lateralknollen von Aconitum carmichaeli Debx. mehrere Tage lang in Salzlösung eingelegt, dann mitsamt der Salzlösung gar gekocht, entnommen, geschnitten, mit Dampf behandelt und zuletzt getrocknet. Bei diesen aus vorwissenschatlicher Zeit überlieferten Verfahren werden die stark toxischen Doppelesteralkaloide Hypaconitin, Aconitin und Mesaconitin hydrolytisch gespalten; es entstehen dabei die Monoesteralkaloide Benzoylhypaconin, Benzoylaconin und Benzoylmesaconin, sowie die unveresterten Alkaloide Aconin, Hypaconin und Mesaconin. Die Reduktion des Aconitingehaltes beträgt dabei zumeist über 80% (81,3%; Du et al. 2003) ( > Tabelle 16.13). Solche traditionellen Entgitungsverfahren werden bei allen Drogen der Gattung Aconitum, bei Drogen der Familie der Aronstabgewächse (Araceae [IIA1a]: Pinelliae rhizoma, Arisaematidis rhizoma, Typhonii rhizoma), aber auch bei Samen, die hochtoxische lipophile Inhaltsstofe enthalten (Crotonis semen), durchgeführt. Bei letzteren Drogen kommen physikalische Entfettungsmethoden zur Anwendung, wobei letztendlich ein entfettetes Drogenpulver als Endprodukt entsteht (Crotonis semen pulveratum).
16.15
Rezepturen
In der TCM werden nur äußerst selten Monodrogen zur Behandlung eingesetzt, die überwiegende Anwendungsform sind mehr oder minder komplex aufgebaute Rezepturen. Diese können zum einen bewährte klassische Rezepturen sein, die sich aus den diversen Rezepturkompendien wie z. B. dem Shanghanlun oder dem Jinkui yaolüe ableiten (für eine ausgezeichnete Übersicht über die klassische chinesische pharmazeutische Literatur > Unschuld 1973) oder auch individuell angepasste oder entworfene Rezepturen, die sich direkt auf den erhobenen Befund des Patienten beziehen. In diesen Rezepturen erfüllt jeder Rezepturbestandteil seine eigene Rolle. Dem für die Wirkung hauptverantwortlichen Bestandteil wird die Rolle Fürst (jun) zugewiesen, Drogen, die in gleicher Weise wie die Hauptarznei wirken und diese unterstützen, spielen die Rolle eines Ministers (chen), Drogen, die Nebensymptome abdecken und/oder unerwünschte Wirkungen beseitigen, dienen als Helfer (zuo) und zuletzt dienen Drogen, die die Wirkung einer Rezeptur auf einen bestimmten Funktionskreis fokussiert bzw. gelegentlich die gesamte Rezeptur harmonisiert, als Gesandter (shi). Im Allgemeinen sind klassische chinesische Rezepturen evolutionär („trial and error“) in derart hohem Maße optimiert, dass sich sogar durch moderne pharmakologische Untersuchungen belegen lässt, wie sehr die Wirkung einer Rezeptur abgeschwächt wird, wenn auch nur ein Bestandteil daraus entfernt wird (Hosoya 1985).
449
450
16 16.16
Drogen der Traditionellen Chinesischen Medizin in westlichen Ländern
Verarbeitung zu Arzneiformen
16.16.1 Dekokte Bis in die neueste Zeit stellte das Dekokt die am weitesten verbreitete Arzneiform in der chinesischen Medizin dar. Anders als die Dekokte in der europäischen galenischen Tradition, sind die Dekokte der TCM wesentlich konzentrierter, was dadurch erreicht wird, dass weniger Flüssigkeit zugesetzt wird; dafür werden die Drogen zweimal ca. 30—45 min ausgekocht (beim zweiten Mal genügen zumeist 15—20 min), die beiden gewonnenen Fraktionen werden danach vereinigt. Ohne dass in der chinesischen Wissenschat auch nur ansatzweise heorien des Verteilungsgleichgewichtes in Lösungen bekannt waren, wurde doch jahrhundertlang intuitiv der richtige Weg zur Optimierung der Dekoktausbeuten gegangen.
Die eher komplizierte Zubereitung der Dekokte hat schon sehr früh zur Entwicklung von Fertigarzneimitteln geführt, die eine eigenständige galenische Tradition erkennen lassen ( > Tabelle 16.14). Mit dem Einzug der westlichen Wissenschaten in China haben auch moderne westliche Arzneiformen mehr und mehr an Boden gewonnen, sodass sich moderne Fertigarzneimittel der TCM äußerlich nicht mehr wesentlich von westlichen Phytopharmaka unterscheiden.
16.16.2 Traditionelle Fertigarzneimittel „Chinese Patent Medicines“ ist die englische gebräuchliche Bezeichnung für chinesische Fertigarzneimittel. Ihnen können zum einen klassische Rezepturen zugrunde liegen, aber auch neuzeitliche Formulierungen. Dieser Unter-
. Tabelle 16.14 Galenische Formen zur innerlichen Anwendung Chinesisch
Rohstoff
Hilfsstoffe
Arzneiform
Kräuterpulver
Bezeichnung
san
Gepulverte Drogen
Keine
Gemischtes Drogenpulver
Große Honigpillen
da miwan
Gepulverte Drogen
Honig
Pillen >0,5 g
Kleine Honigpillen
xiao miwan
Gepulverte Drogen
Honig
Pillen oben)
Pillen Abschnitt 16.18.2) bis hin zu deklarierten Zusätzen (wie in Präparaten der „Integrativen ChinesischWestlichen Medizinrichtung“ – zhongxi jiehe yixue), aber auch nichtdeklarierten Zusätzen von pharmakologisch aktiven synthetischen Arzneistofen geben derzeit noch berechtigten Anlass zum Zweifel hinsichtlich der Arzneimittelsicherheit dieser Produkte.
16.16.3 Neuzeitliche Extraktzubereitungen Da in der chinesischen Medizin seit alters her das wässrige Dekokt als Arzneiform der Wahl gilt, kommt auch bei neuzeitlichen traditionellen Arzneimitteln hauptsächlich Wasser als Extraktionsmittel in Betracht. Dies ist allerdings mit dem Nachteil einer sehr hohen Hygroskopizität der Produkte behatet, weshalb man für feuchtigkeitsresistente Arzneiformen Adjuvanzien benötigt.
„Chinesische Granulate“ (peifang keli) oder „Wissenschaftliche Chinesische Arznei“ (kexue zhongyao) Hinter dieser Bezeichnung verbirgt sich ein Produktionsverfahren für Extrakte, das zu Beginn der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts in Taiwan entwickelt wurde. Dabei werden Monodrogen, aber auch komplexe Rezepturen dekoktiert, konzentriert und mit diversen Stärken (u. a. Maisstärke oder Dioscorea-Stärke) als Hilfsstof sprühgetrocknet. Dabei gewinnt man relativ schwach hygroskopische, feinpulvrige, wenngleich auch nicht restlos lösliche (unlöslicher Stärkeanteil) Extrakte. Diese Extrakte werden entweder als Rezepturarzneimittel (Monoextrakte) zur Herstellung von Mischrezepturen auf ärztliche Verschreibung oder auch als Fertigarzneimittel (komplexe Rezepturen) angeboten. Wegen der einfachen, zeitsparenden
16
Anwendung erfreuen sich diese Extrakte hoher Akzeptanz und verdrängen am europäischen Markt inzwischen die in der Herstellung arbeitsintensiven und dadurch relativ teuren Dekokte. Obwohl es sich bei diesen Produkten zumeist um feinpulvrige Extrakte handelt, werden sie gemeinhin als „chinesische Granulate“ bezeichnet.
Fluidextrakte Zu Beginn der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wurde in China ein Weg beschritten, wässrige Monoextrakte für Krankenhäuser auf Vorrat herzustellen und bei Bedarf zu mischen. Aufgrund der nicht lösbaren Stabilisierungsprobleme gegen Verschimmelung und Gärung (im Rahmen der chinesischen Medizin darf kein Alkohol verwendet werden) kam man von diesem Weg allerdings sehr schnell wieder ab. Moderne westliche Varianten dieses Verfahrens verwenden Alkoholextrakte, was zwar stabilere Produkte ergibt, aufgrund der veränderten Extraktzusammensetzung aber zumindest die Frage aufwirt, ob diese Produkte nicht auch ein verändertes Wirkungsproil aufweisen.
16.16.4 Zubereitungen für die äußerliche Anwendung Die TCM bietet auch ein breites Spektrum an externen Applikationsformen. Eine Zusammenstellung dieser Zubereitungen indet sich in > Tabelle 16.15. Moderne Varianten dieser Produkte orientieren sich bei der Herstellung inzwischen an modernen westlichpharmazeutischen Verfahren (z. B. Rheumaplaster, Sprays, Alkoholgele etc.).
16.17
Das Potential der chinesischen Arzneidrogen
Einzelne chinesische Drogen haben schon im Altertum den Weg in den Westen gefunden. Durch den erhöhten wissenschatlichen Austausch, verbunden mit der wirtschatlichen Öfnung Chinas, haben verstärkte Kooperationen im pharmazeutischen Sektor eine Fülle von neuen Substanzen aus traditionellen chinesischen Planzen für die Anwendung im Rahmen der westlichen Schulmedizin gewinnen können. Eine kleine Auswahl der wichtigsten
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452
16
Drogen der Traditionellen Chinesischen Medizin in westlichen Ländern
. Tabelle 16.15 Galenische Formen zur äußerlichen Anwendung Bezeichnung
Chinesisch
Rohstoff
Hilfsstoffe
Arzneiform
Kräuterpulver
san
Salben
ruangaoji
Gepulverte Drogen
Keine
Gemischtes Drogenpulver
Gepulverte Drogen
Vaseline, Paraffinum liquidum, Wollwachs, Bienenwachs, pflanzliche Öle etc.
Salben
Pflaster Arzneiöle
gaoyao
Gepulverte Drogen
Öle, Bleioxid
Zähflüssige Pasten
youji
Gepulverte Drogen
Pflanzliche oder tierische Öle
Ölpräparate
. Tabelle 16.16 Beispiele von Traditionellen chinesischen Drogen und deren inhaltsstoffbezogener Anwendung im Rahmen der naturwissenschaftlich orientierten westlichen Medizin Droge
Inhaltsstoff
Einsatzgebiet
> Seite
Ephedrae radix
Ephedrin
Asthmatherapie
1472
Rhei radix et rhizoma
Anthrachinone
Laxativum
1294
Camptothecae lignum
Camptothecin
Krebstherapie
1427
Nothapodytis caulis
Camptothecin
Krebstherapie
1427
Artemisiae annuae herba
Artemisinin
Malariatherapie
855
Ginseng radix
Ginsenoside
Tonikum
970
Ginkgo folium
Ginkgolide
Zerebraldurchblutung
1223 169/170
Huperziae serratae herba
Huperzin
Alzheimer
Tripterygii wilfordii radix
Triptolide
Rheumatherapie
Puerariae radix
Flavonoide
Trinkerentwöhnung
Momordicae charantiae fructus
Steroidsaponine (Charantin)
Blutzuckersenkung
Drogen mit relevanten Inhaltsstofen und Einsatzgebieten indet sich in > Tabelle 16.16.
16.18
Sicherheitsaspekte
16.18.1 Verwechslungen chinesischer Arzneidrogen Chinesische Drogen werden seit alters her nur mit unsystematischen chinesischen Namen bezeichnet ( > auch Tabelle 16.10), erst zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts wurde der chinesische Arzneimittelschatz auf Basis der systematischen Botanik eingehend untersucht (Read 1936). Aufgrund der gewaltigen geographischen Ausdeh-
nung Chinas über zahlreiche Klimazonen hinweg (subtropische Klimazone bis zu sibirischen Trockensteppen), kommt es auch zum Phänomen, dass unter ein und derselben chinesischen Bezeichnung in verschiedenen Regionen verschiedene Stammplanzen verwendet werden, die in Extremfällen sogar aus verschiedenen Planzenfamilien stammen können ( > Tabelle 16.17). Für die 300–500 wichtigsten chinesischen Arzneidrogen sind inzwischen Monographien in westlichen Sprachen verfügbar (State Pharmacopoeia Commission 2005, Stöger 1989–2005, Wagner et al. 1997–2005), die eine ausreichende Grundlage für die Identiizierung in der Apotheke darstellt. Da nach wie vor ein großer Anteil des Exportes aus China über pharmazeutisch nicht spezialisierte Handelsgesellschaten abgewickelt wird, kommt
16.18 Sicherheitsaspekte
16
. Tabelle 16.17 Chinesische Arzneidrogen mit lokal abweichenden Stammpflanzen (Auswahl) Chinesischer Drogenname
Genauere chinesische Bezeichnung
Pharmazeutische Drogenbezeichnung
Grobe Regionalzuordnung
baifuzi
yubaifu guanbaifu
Typhonii rhizoma Aconiti coreani radix preparata
N-China O-China
fangji
fenfangji, hanfangji guangfangji
Stephaniae tetrandrae radix Aristolochiae fangchi radix
N-China S-China
jinqiancao
jinqiancao guangjinqiancao lianqiancao
Lysimachiae herba Desmodii styracifolii herba Glechomae longitubae herba
N-China Guangdong O-China
jisheng
sangjisheng hujisheng
Taxilli ramulus Visci (colorati) herba
S-China N-China
mutong
mutong chuanmutong guanmutong
Akebiae caulis Clematidis armandii caulis Aristolochiae manshurensis radix
dzt. keine Handelsware Sichuan NO-China
muxiang
yunmuxiang chuanmuxiang tumuxiang
Aucklandiae (= Saussureae) radix Dolomiaeae (= Vladimiriae) radix Inulae radix
SW-China W-China NO-China
wangbuliuxing
wangbuliuxing guang wangbuliuxing
Vaccariae semen Fici pumilae fructus
N, NW, O-China Guangdong
wujiapi
nan wujiapi
Eleutherococci gracilistyli cortex (= Acanthopanacis cortex) Periplocae cortex
Z-China
xiangjiapi
es gelegentlich zu Verwechslungen; insbesondere die in > Tabelle 16.13 aufgelisteten Planzen sind davon vordringlich betrofen.
16.18.2 Kontamination mit Schwermetallen Als Kontaminanten chinesischer Arzneidrogen kommen generell Schwermetalle, Planzenschutzmittel, Alatoxine, aber auch mikrobielle Verunreinigungen in Betracht. Für die Prüfungen auf diese Verunreinigungen existieren Monographien in der europäischen Pharmakopöe. Lediglich für die Schwermetallgehalte existiert in der BRD derzeit eine „Empfehlung für Richtwerte“ die im Lichte des inzwischen angesammelten Datenmaterials weitgehend als überholt betrachtet wird.
N-China
Schwermetallbelastung durch mineralische Substanzen Bei Schwermetallbelastungen chinesischer Arzneimittel ist zwischen natürlichen Kontaminationen und fälschlich als Kontamination betrachteten Vorkommen mineralischer Substanzen in Fertigarzneimitteln zu unterscheiden. In Europa nicht zulassungsfähige Fertigarzneimittel chinesischer Provenienz sorgen in regelmäßigen Abständen für Skandalmeldungen, da die darin deklarierten (hierzulande obsoleten) Bestandteile wie Zinnober und Realgar (zumeist in Anteilen von 1–3% enthalten) für Schwermetallbelastungen durch Quecksilber und Arsen in fünfstelligen ppm-Werten konstant fehlinterpretiert werden. Immerhin ist für die korrekte Abschätzung des Gefährdungspotentials einer Schwermetallbelastung das Löslichkeitsverhalten der Substanz maßgeblich. So ist eine Quecksilberbelastung von 15.000 ppm, die von hochreinem (und daher auch in Magensat unlöslichem) Zinno-
453
454
16
Drogen der Traditionellen Chinesischen Medizin in westlichen Ländern
ber stammt, wesentlich unbedenklicher als 1 ppm, das von einer gut löslichen Quecksilberverbindung stammt.
Schwermetallbelastung durch Umweltkontamination Die stark fortschreitende Industrialisierung Chinas bei unklarer Flächenwidmung hat zu steigender Verlechtung von Industrie- und Anbauregionen, speziell im Norden Chinas geführt. Zudem wird in ländlichen Regionen verbleites Benzin erst allmählich durch unverbleite Kratstoffe ersetzt. Kontamination von Kräutern mit Schwermetallen dürte auf diese Entwicklungen zurückzuführen sein. In der BRD orientierte man sich bisher an Richtwerten der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker aus dem Jahre 1991, die für die Schwermetalle Blei 5,0 ppm, Cadmium 0,2 ppm und Quecksilber 0,1 ppm als Richtwert vorsahen. Aktuellere und vor allem weniger realitätsfremde Grenzwerte sind nach Auswertung von umfangreichem Datenmaterial über die Schwermetallbelastung von heimischen Arzneidrogen von der Arbeitsgruppe Kontaminanten im BAH (Bundesverband der Arzneimittelhersteller e.V., Bonn) im Jahre 2001 vorgeschlagen worden: Diese sehen für Blei 10 ppm, Cadmium 1 ppm und Quecksilber 0,1 ppm als Grenzwert vor. Eine Auswertung von gesammeltem Datenmaterial aus ca. 2500 Schwermetallprüfungen chinesischer Arzneidrogen der letzten 5 Jahre (Gasser u. Stöger 2004) zeigt, inwieweit TCM-Drogen diesen beiden Empfehlungen entsprechen ( > Tabelle 16.18). Dabei gilt es aber zu beachten, dass diese Richtwerte ohne jeden Bezug zur einzunehmenden Dosis und zur verwendeten Arzneiform und damit zur tatsächlichen physiologischen Schwermetallaufnahme erlassen wurden. Leinsamen, die in 100-g-Mengen täglich direkt eingenommen werden, durten nach der Kontaminantenempfehlung 1991 als Ausnahmeregelung 0,3 ppm Cadmium ent-
halten, chinesische Arzneidrogen, die zumeist in Tagesdosen von 5–9 g, in seltenen Fällen bis zu 30 g, in Form eines Dekoktes eingenommen werden, durten bei Überschreitung des 0,2-ppm-Limits für Cadmium nicht mehr in Verkehr gebracht werden, obwohl durch die Dekoktierung der Schwermetallgehalt der Ausgangsdrogen in der Zubereitung in der Regel nicht mehr nachweisbar ist.
16.19
Verfügbarkeit von TCM-Drogen in Europa
Drogen der TCM gelten durch die eindeutige Zweckbestimmung nach dem geltenden Arzneimittelgesetz automatisch als Arzneimittel, was deren apothekenplichtige Abgabe an den Endverbraucher nach sich zieht. Eine Zulassungsplicht für chinesische Arzneidrogen besteht hingegen nicht, da Arzneidrogen in ungemischtem und nicht für den Endverbraucher fertig dosiertem Zustand keiner Zulassungsplicht unterliegen (nicht zulassungsfähige Rezepturarzneimittel). Anders verhält es sich mit fertigen Zubereitungen wie Teemischungen, Dekokten, chinesischen Fertigarzneimitteln: Diese sind grundsätzlich zulassungsplichtig mit Ausnahme von Zubereitungen, die aufgrund einer ärztlichen Verschreibung in der Apotheke hergestellt werden bzw. aufgrund häuiger ärztlicher Verschreibungen dort im Voraus hergestellt und vorrätig gehalten werden. Wie bei allen Arzneimitteln ist der Apotheker auch bei TCM-Arzneidrogen für die Identität und Qualität der abgegebenen Ware verantwortlich. Mit Ausnahme der Prüfung auf Identität dürfen die Prüfungen auf Reinheit, Gehalt und Belastung mit fremden Bestandteilen (Schwermetalle, Pestizide, Alatoxine, mikrobielle Verunreinigung) an behördlich akkreditierte Untersuchungslabors delegiert werden. Zentrales Erfordernis ist hier die Ausstellung eines den gesetzlichen Anforderungen entsprechenden Prüfzertiikats. Dieses muss chargenspeziisch ausgestellt sein
. Tabelle 16.18 Ausfallsraten von TCM-Drogenchargen aufgrund der Überschreitung von Schwermetallgrenzwerten Schwermetall
Grenzwert 1991 [ppm]
Ausfallsrate [%]
Grenzwert 2001 [ppm]
Ausfallsrate [%]
Blei
5,0
5,9
10,0
1,28
Cadmium
0,2
19,8
1,0
2,0
Quecksilber
0,1
4,4
0,1
4,4
16.19 Verfügbarkeit von TCM-Drogen in Europa
und unter Angabe der jeweiligen Prüfvorschriten bescheinigen, dass die Probe nach den anerkannten pharmazeutischen Regeln geprüt worden ist, alle Prükriterien einbezogen worden sind und das Ergebnis den Speziikationen entspricht, letztendlich muss das Zertiikat von dazu autorisierten Personen [BRD: vereidigter Gegenprobensachverständiger nach § 65 (4) AMG] unterzeichnet sein. Behördliche Aulagen haben in den letzten Jahren dazu geführt, dass alle namhaten Importeure in der BRD, Österreich und der Schweiz solche Analysenzertiikate bereitstellen können. Jedenfalls ist es ratsam, chinesische Arzneidrogen von Anbietern im Inland zu beziehen, die den staatlichen pharmazeutischen Überwachungsbehörden für Inspektionen zugänglich sind. Ein intakter Informationsluss zwischen kompetentem Großhändler, Apotheker und herapeut ist zudem Grundvoraussetzung für
! Kernaussagen
Die Traditionelle Chinesische Medizin stützt sich neben der im Westen seit Jahrzehnten bekannten Akupunktur in erster Linie auf pflanzliche, aber auch tierische und mineralische Arzneidrogen zur Umsetzung ihrer Behandlungsstrategien. Die Auswahl der Arzneimittel und die Durchführung der Therapie in der Praxis sind aber nur im Kontext der traditionellen chinesischen Medizintheorie verständlich. Hier erschwert der wissenschaftstheoretisch grundverschiedene Ansatz nicht nur den Zugang für den Lernenden, sondern auch den klinischen Wirksamkeitsnachweis.
16
eine hohe Arzneimittelsicherheit bei der Anwendung der TCM-Drogen. Ein geringer Preisvorteil durch eine Bestellung über das Internet kann ot teuer erkaut sein, sei es durch mangelnde pharmazeutische Qualität des Produkts (Rohware von Kräutermärkten in China anstelle von pharmazeutisch korrekt aubereiteten Schnittdrogen) oder auch durch Bezug einer Verfälschung oder einer nicht fachgerecht entgiteten toxischen Droge. Bei Bezug der Arzneidroge aus dem Ausland gilt der Apotheker automatisch als Importeur, der im Falle eines Arzneimittelzwischenfalles für alle Schadenersatzforderungen hatbar sein wird. Bei Einhaltung aller Sorgfaltsplichten des Apothekers ist auch für die Arzneimittel der TCM in ihrer europäischen Anwendungsform die Arzneimittelsicherheit in gleicher Weise wie für die Arzneimittel der Phytotherapie gewährleistet.
Der reichhaltige Arzneimittelschatz Chinas hat aber schon seit Jahrzehnten das Interesse der pharmakologischen Forschung zur Erschließung neuer Wirkstoffe geweckt. Zahlreiche moderne Arzneimittel (Derivate von Artemisinin, Camptothecin etc.) gehen aus diesen Forschungen hervor, aber auch Extrakte aus einzelnen chinesischen Arzneipflanzen mit pharmakologisch abgesicherter Wirksamkeit haben Einzug in den modernen Arzneimittelschatz gefunden (z. B. GinkgoExtrakt).
Schlüsselbegriffe Aconitinführende Drogen Artemisinin Arzneimittelbild Arzneimittelwirkungen Befindlichkeitsstörungen Camptothecin Charantin Chinesische Dekokte Chinesische Diagnose Chinesische Granulate Diagnostik Dosierung Drogenaufbereitung
Entgiftung Fünf Wandlungsphasen Funktionskreisbezug Geschmacksrichtung Ginsenoside Huperzin Inkompatibilitäten Potential chinesischer Arzneidrogen Pulsdiagnose Qi Rezepturen Schwermetallkontamination Sicherheitsaspekte
TCM-Arzneimittel: Zulassungspflicht und Ausnahmen Temperaturverhalten Therapeutische Verfahren Toxizität Traditionelle chinesische Medizin (TCM) Traditionelle Vorbehandlung Traditionelle Wirkungsgruppen Triptolide Wirkungsdefinition Wirkungsstärke Xue Yin und Yang
455
456
16
Drogen der Traditionellen Chinesischen Medizin in westlichen Ländern
Anhang . Tabelle 16.19 Auflistung aller im Text vorkommenden Drogennamen Chinesische Umschrift
Verwendete Stammpflanzen
Botanische Familie [Code1]
Achyranthis radix
niuxi
Achyranthes bidentata BL.
Amaranthaceae [IIB3e]
Aconiti coreani radix preparata
guanbaifu
Aconitum coreanum (LÉVL.) RAIPAICS
Ranunculaceae [IIB1a]
Aconiti radix
chuanwu
Aconitum carmichaeli DEBX.
Ranunculaceae [IIB1a]
Aconiti radix lateralis praeparata
fuzi
Aconitum carmichaeli DEBX.
Ranunculaceae [IIB1a]
Acori tatarinowii rhizoma
shichangpu
Acorus tatarinowii SCHOTT.
Araceae [IIA1a]
Akebiae trifoliatae caulis
mutong
Akebia trifoliata (THUNB.) KOIDZ. Akebia trifoliata (THUNB.) KOIDZ. var. australis (DIELS) REHD. Akebia quinata (THUNB.) DECNE.
Lardizabalaceae [IIB1e]
Amomi fructus
sharen
Amomum longiligulare T.L. WU Amomum villosum LOUR. Amomum villosum LOUR. var. xanthioides T.L. WU & SENJEN
Zingiberaceae [2A10a]
Anemarrhenae rhizoma
zhimu
Anemarrhena aspheloides BGE.
Anemarrhenaceae [IIA6k], bisher Liliaceae
Angelicae sinensis radix
danggui
Angelica sinensis (OLIV.) DIELS
Apiaceae [IIB25a]
Arecae semen
binglang
Areca catechu L.
Arecaceae (syn. Palmae) [IIA7a]
Arisaematidis rhizoma
tiannanxing
Arisaema erubescens (WALL.) SCHOTT. Arisaema heterophyllum BL. Arisaema amurense MAXIM.
Araceae [IIA1a]
Aristolochiae manshurensis caulis
guanmutong
Aristolochia manshurensis KOM.
Aristolochiaceae [II3a]
Aristolochiae fangchi radix
guangfangji
Aristolochia fangchi Y.C.WU ex L.D.CHOU & S.M.HWANG
Aristolochiaceae [II3a]
Armeniacae semen
kuxingren
Prunus armeniaca L. var. ansu MAXIM. Prunus sibirica L. Prunus mandshurica (MAXIM.) KOEHNE Prunus armeniaca L.
Rosaceae [IIB11a]
Artemisiae annuae herba
qinghao
Artemisia annua L.
Asteraceae [IIB28b]
Asparagi radix
tiandong
Asparagus cochinchinensis (LOUR.) MERR.
Liliaceae [IIA5d]
Astragali radix
huangqi
Astragalus membranaceus BGE. var. mongholicus (BGE.) HSIAO Astragalus membranaceus (FISCH.) BGE.
Fabaceae [IIB9a]
Drogenbezeichnung
1
Siehe dazu Anhänge E: Das System der Angiospermae. Übersicht über Ordnungen und Familien.
Anhang
16
. Tabelle 16.19 (Fortsetzung) Chinesische Umschrift
Verwendete Stammpflanzen
Botanische Familie [Code1]
Atractylodis rhizoma
cangzhu
Atractylodes lancea (THUNB.) DC. Atractylodes chinensis (DC.) KOIDZ.
Asteraceae [IIB28b]
Aucklandiae (= Saussureae) radix
muxiang
Aucklandia lappa DECNE. (Saussurea lappa CLARKE)
Asteraceae [IIB28b]
Aurantii fructus
zhike
Citrus aurantium L. Citrus aurantium L. var. amara ENGL.
Rutaceae [IIB18d]
Camptothecae lignum
xishumu
Camptotheca acuminata DECNE.
Cannabis semen
huamaren
Cannabis sativa L.
Cannabaceae [IIB11d]
Centipedae herba
ebushicao
Centipeda minima (L.) A. BRAUN & ASCHERS.
Asteraceae [IIB28b]
Chaenomelis fructus
mugua
Chaenomeles speciosa (SWEET) NAKAI
Rosaceae [IIB11a]
Chuanxiong rhizoma
chuanxiong
Ligusticum chuanxiong HORT.
Apiaceae [IIB25a]
Cinnabaris
zhusha
Zinnober
Mineral
Cinnamomi cortex
rougui
Cinnamomum cassia PRESL.
Lauraceae [II5b]
Clematidis armandii caulis
chuanmutong
Clematis armandii FRANCH. Clematis montana BUCH.-HAM.
Ranunculaceae [IIB1a]
Clinopodii herba
duanxueliu
Clinopodium chinense (BENTH.) O. KUNTZE Clinopodium polycephalum (VANIOT) C. WU & HSUAN ex HSUAN
Lamiaceae [IIB23d]
Codonopsis radix
dangshen
Codonopsis pilosula (FRANCH.) NANNF. Codonopsis pilosula NANNF. var. modesta (NANNF.) L.T. SHEN Codonopsis tangshen OLIV.
Campanulaceae [IIB28c]
Coicis semen
yiyren
Coix lacryma-jobi L. var. ma-yuen (ROMAN.) STAPF
Poaceae (syn. Gramineae) [IIA9a]
Coptidis rhizoma
huanglian
Coptis chinensis FRANCH. Coptis deltoidea C.Y. CHENG & HSIAO Coptis teeta WALL.
Ranunculaceae [IIB1a]
Corni fructus
shanzhuyu
Cornus officinalis SIEB. & ZUCC.
Cornaceae [IIB19a]
Corydalis rhizoma
yanhusuo
Corydalis yanhusuo W.T. WANG
Papaveraceae [IIB1c]
Crataegi fructus
shanzha
Crataegus pinnatifida BGE. Crataegus pinnatifida BGE. var. major N.E. BR.
Rosaceae [IIB11a]
Crotonis semen
badou
Croton tiglium L.
Euphorbiaceae [IIB12c]
Crotonis semen pulveratum
badoushuang
Croton tiglium L.
Euphorbiaceae [IIB12c]
Cyperi rhizoma
xiangfu
Cyperus rotundus L.
Cyperaceae [IIA9b]
Desmodii styracifolii herba
guangjinqiancao
Desmodium styracifolium (OSB.) MERR.
Fabaceae [IIB9a]
Drogenbezeichnung
457
458
16
Drogen der Traditionellen Chinesischen Medizin in westlichen Ländern
. Tabelle 16.19 (Fortsetzung) Chinesische Umschrift
Verwendete Stammpflanzen
Botanische Familie [Code1]
Dolomiaeiae (= Vladimiriae) radix
chuanmuxiang
Dolomiaea soulei (FRANCH.) SHIH Dolomiaea soulei (FRANCH.) SHIH var. mirabilis (ANTH.) SHIH
Asteraceae [IIB28b]
Eleutherococci gracilistyli cortex (= Acanthopanacis cortex)
wujiapi
Eleutherococcus gracilistylus (W.W. SMITH) S.Y. HU (= Acanthopanax gracilistylus W.W.SMITH)
Araliaceae [IIB25b]
Ephedrae herba
mahuang
Ephedra sinica STAPF Ephedra intermedia SCHRENK & C.A. MEY. Ephedra equisetina BGE.
Ephedraceae [IDa]
Epimedii herba
yinyanghuo
Epimedium brevicornum MAXIM. Epimedium sagittatum (SIEB. & ZUCC.) MAXIM. Epimedium pubescens MAXIM. Epimedium wushanense T.S. YING Epimedium koreanum NAKAI
Berberidaceae [IIB1b]
Eucommiae cortex
duzhong
Eucommia ulmoides OLIV.
Eucommiaceae [IIB21a]
Fici pumilae fructus
guang wangbuliuxing
Ficus pumila L.
Moraceae [IIB11c]
Forsythiae fructus
lianqiao
Forsythia suspensa (THUNB.) VAHL
Oleaceae [IIB23e]
Fritillariae thunbergii bulbus
zhebeimu
Fritillaria thunbergii MIQ.
Liliaceae [IIA5d]
Ganoderma
lingzhi
Ganoderma lucidum (LEYSS. ex FR.) KARST. Ganoderma sinense ZHAO, XU & ZHANG
Polyporaceae [= Mycophyta]
Gardeniae fructus
zhizi
Gardenia jasminoides ELLIS
Rubiaceae [IIB22d]
Drogenbezeichnung
Gastrodiae rhizoma
tianma
Gastrodia elata BL.
Orchidaceae [IIA6 h]
Ginkgo folium
yinxingye
Gingko biloba L.
Ginkgoaceae [IBa]
Ginseng radix
renshen
Panax ginseng C.A. MEY.
Araliaceae [IIB25b]
Glechomae longitubae herba
lianqiancao
Glechoma longituba (NAKAI) KUPR.
Lamiaceae [IIB23d]
Glycyrrhizae radix
gancao
Glycyrrhiza uralensis FISCH. Glycyrrhiza inflata BAT. Glycyrrhiza uralensis FISCH.
Fabaceae [IIB9a]
Gypsum fibrosum
shigao
Mineralischer Gips
Mineral
Huperziae serratae herba
qiancengta
Huperzia serrata (THUNB.) TREVIS. (Lycopodium serratum THUNB.)
Lycopodiaceae [= Pteridophyta]
Inulae flos
xuanfuhua
Inula japonica THUNB. Inula britannica L.
Asteraceae [IIB28b]
Inulae radix
tumuxiang
Inula helenium L. Inula racemosa HOOK. f.
Asteraceae [IIB28b]
Anhang
16
. Tabelle 16.19 (Fortsetzung) Chinesische Umschrift
Verwendete Stammpflanzen
Botanische Familie [Code1]
Lonicerae flos
jinyinhua
Lonicera japonica THUNB. Lonicera hypoglauca MIQ. Lonicera confusa DC. Lonicera dasystyla REHD.
Caprifoliaceae [IIB26b]
Lycii cortex
digupi
Lycium chinense MILL. Lycium barbarum L.
Solanaceae [IIB24a]
Drogenbezeichnung
Lysimachiae herba
jinqiancao
Lysimachia christinae HANCE
Primulaceae [IIB20b]
Magnetitum
cishi
Magnetit
Mineral
Meliae cortex
kulianpi
Melia azedarach L. Melia toosendan SIEB. & ZUCC.
Meliaceae [IIB18c]
Menthae herba
boho
Mentha haplocalyx BRIQ.
Lamiaceae [IIB23d]
Momordicae charantiae fructus
kugua
Momordica charantia L.
Cucurbitaceae [IIB8a]
Momordicae semen
mubiezi
Momordica cochinchinensis (LOUR.) SPRENG.
Cucurbitaceae [IIB8a]
Mori cortex
sangbaipi
Morus alba L.
Moraceae [IIB11c]
Mori folium
sangye
Morus alba L.
Moraceae [IIB11c]
Moschus
shexiang
Moschus berezovskii FLEROV Moschus sifanicus PRZEWALSKI Moschus moschiferus LINNAEUS
Cervidae (tierische Droge)
Nothapodytis caulis
qingcuizhi
Nothapodytes foetida (WIGHT) SLEUMER
Icacinaceae [IIB29a]
Notoginseng radix
sanqi
Panax notoginseng (BURK.) F.H. CHEN
Araliaceae [IIB25b]
Ophiopogonis radix
maidong
Ophiopogon japonicus (THUNB.) KER-GAWL.
Liliaceae [IIA5d]
Ostreae concha
muli
Ostrea gigas THUNBERG Ostrea talienwhanensis CROSSE Ostrea rivularis GOULD
Ostreidae (tierische Droge)
Paeoniae radix alba
baishao
Paeonia lactiflora PALL.
Ranunculaceae [IIB1a]
Periplocae cortex
xiangjiapi
Periploca sepium BGE.
Asclepiadaceae [IIB22c]
Pinelliae rhizoma
banxia
Pinellia ternata (THUNB.) BREIT.
Araceae [IIA1a]
Platycodi radix
jiegeng
Platycodon grandiflorum (JACQ.) A.DC.
Campanulaceae [IIB28c]
Poria
fuling
Poria cocos (SCHW.) WOLF
Polyporaceae [= Mycophyta]
Pseudolaricis cortex
tujingpi
Pseudolarix kaempferi GORD.
Pinaceae [ICa]
Puerariae radix
gegen
Pueraria lobata (WILLD.) OHWI Pueraria thomsonii BENTH.
Fabaceae [IIB9a]
Raphani semen
laifuzi
Raphanus sativus L.
Apiaceae [IIB25a]
Realgar
xionghuang
Realgar
Mineral
459
460
16
Drogen der Traditionellen Chinesischen Medizin in westlichen Ländern
. Tabelle 16.19 (Fortsetzung) Chinesische Umschrift
Verwendete Stammpflanzen
Botanische Familie [Code1]
Rehmanniae radix
dihuang
Rehmannia glutinosa LIBOSCH
Gesneriaceae [IIB23k], bisher Scrophulariaceae
Rehmanniae radix praeparata
shoudihuang
Rehmannia glutinosa LIBOSCH
Gesneriaceae [IIB23k], bisher Scrophulariaceae
Rhei radix et rhizoma
dahuang
Rheum palmatum L. Rheum tanguticum MAXIM. ex BALF. Rheum officinale BAILL.
Polygonaceae [IIB3d]
Rhododendri mollis flos
naoyanghua
Rhododendron molle (BL.) G. DON
Ericaceae [IIB20a]
Sanguisorbae radix
diyu
Sanguisorba officinalis L.
Rosaceae [IIB11a]
Schisandrae fructus
wuweizi
Schisandra chinensis (TURCZ.) BAILL. Schisandra sphenanthera REHD. & WILS.
Schisandraceae [II1b], bisher Magnoliaceae
Schizonepetae herba
jingjie
Schizonepeta tenuifolia BRIQ.
Lamiaceae [IIB23d]
Scorpio
quanxie
Buthus martensii KARSCH
Buthidae (tierische Droge)
Scrophulariae radix
xuanshen
Scrophularia ningpoensis HEMSL.
Scrophulariaceae [IIB23i]
Drogenbezeichnung
Scutellariae radix
huangqin
Scutellaria baicalensis GEORGI
Lamiaceae [IIB23d]
Siegesbeckiae herba
xixiancao
Siegesbeckia orientalis L. Siegesbeckia pubescens MAKINO Siegesbeckia glabrescens MAKINO
Asteraceae [IIB28b]
Spatholobi caulis
jixueteng
Spatholobus suberectus DUNN
Fabaceae [IIB9a]
Stephaniae tetrandrae radix
fangji
Stephania tetrandra S. MOORE
Menispermaceae [IIB1d]
Taxilli ramulus
sangjisheng
Taxillus chinensis (DC.) DANSER (Loranthus chinensis DC.)
Loranthaceae [IIB5a]
Trichosanthis fructus
gualou
Trichosanthes kirilowii MAXIM. Trichosanthes rosthornii HARMS
Cucurbitaceae [IIB8a]
Trypterygii wilfordii radix
leigongteng duanchangcao
Tripterygium wilfordii HOOK. f.
Celastraceae [IIB14b]
Typhonii rhizoma
baifuzi
Typhonium giganteum ENGL.
Araceae [IIA1a]
Vaccariae semen
wangbuliuxing
Vaccaria segetalis (NECK.) GARCKE
Caryophyllaceae [IIB3a]
Visci (colorati) herba
hujisheng
Viscum coloratum (KOMAR.) NAKAI
Loranthaceae [IIB5a]
Zanthoxyli radix
liangmianzhen niaobuta
Zanthoxylum nitidum (ROXB.) DC.
Rutaceae [IIB18d]
Zingiberis rhizoma
ganjiang
Zingiber officinalis (WILLD.) ROSC.
Zingiberaceae [IIA10a]
Ziziphi spinosae semen
suanzaoren
Ziziphus spinosa HU
Rhamnaceae [IIB11b]
Weiterführende Literatur
Literatur Bauer AW (1997) Axiome des systematischen Erkenntnisgewinns in der Medizin. Der Internist 38: 299–306 Brinkhaus B et al. (2004) Acupuncture and Chinese herbal medicine in the treatment of patients with seasonal allergic rhinitis: a randomized-controlled clinical trial. Allergy 59: 953–960 Du GY, Fang WX (Hrsg) (2003) Youdu Zhongyao (Toxische Chinesische Arzneimittel). Renmin weisheng chubanshe, Beijing, 559 Friedl F (1991) in: Stöger E (Hrsg, Übers.) (1989–2005) Arzneibuch der Chinesischen Medizin. Deutscher Apotheker Verlag, Stuttgart, II. 1–35 Gasser U, Stöger E (2004) unpublizierte Datensammlung Hosoya E, Tsumura Research Institute for Pharmacology. In: Chang HM, Yeung HW, Tso WW, Koo A (1985) Advances in Chinese medicinal materials research. World Scientific Publ., Singapore, pp 73–84 Li DX (Hrsg) (1985) Shiyong zhongyi jichuxue (Praktisches Lehrbuch der Grundlagen der Chinesischen Medizin). Liaoning Science & Technology Press, Shenyang Maciocia G (1994) Die Grundlagen der Chinesischen Medizin. Verlag für Traditionelle Chinesische Medizin Dr. Erich Wühr, Kötzting, S 135–151 Porkert M (1980) Zu einem neuen Chinabild. In: Granet M (Hrsg) Das chinesische Denken. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, S 14–15 Porkert M (1983) Lehrbuch der chinesischen Diagnostik, Acta medicinae sinensis. Chinese medicine Publications Ltd., Zürich, S 25–26
16
Schmincke C (2004) Chinesische Medizin für die westliche Welt. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokio, S 23–24 Stöger E (Hrsg) (1989–2005) Arzneibuch der Chinesischen Medizin. Deutscher Apotheker Verlag, Stuttgart, Anhang IV.9 Unschuld PU (1997) Chinesische Medizin. Becksche Reihe Wissen. Beck, München, S 37–38 Xu GJ (Hrsg) (1996) Zhongguo Yaocaixue (Chinesische Materia Medica). Zhongguo yiyao keji chubanshe, Beijing, p 163 Zhonghua bencao bianweihui (Hrsg) (1999) Zhonghua bencao (Materia Medica Chinas) Band 1—10. Shanghai kexue jishu chubanshe, Shanghai
Weiterführende Literatur Bensky D, Clavey S, Stöger E (2004) Chinese herbal medicine: Materia Medica, 3rd edn. Eastland Press, Seattle Read BE (1936) Chinese medicinal plants from the Pen Ts’ao Kang Mu A.D. 1596. Peking natural History Bulletin, Shanghai The State Pharmacopoeia Commission of the People’s Republic of China (2005) Pharmacopoeia of the People´s Republic of China. Chemical Industry Press, Beijing Unschuld PU (1973) Pen-Ts’ao 2000 Jahre Traditionelle Pharmazeutische Literatur Chinas. Heinz Moos, München Wagner H, Bauer R, Xiao PG et al. (1997–2005) Chinese drug monographs and analysis. Verlag für Ganzheitliche Medizin Dr. Erich Wühr, Kötzting
461
17 17 Aromatherapie: Biologische und psychodynamische Wirkungen von Aromastoffen R. Hänsel 17.1
Einschränkung des hemas: Abgrenzung zur esoterischen Aromatherapie . . . . . . . . . . 464
17.2
Biologische Bedeutung des Riechens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465
17.3
Psychodynamische Wirkungen von Gerüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467
17.4
Weitere Wirkungen ätherischer Öle via Osmorezeptoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468
17.5
Wirkungen über das trigeminale System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469
17.6
Zurück zur Aromatherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470
464
17
Aromatherapie: Biologische und psychodynamische Wirkungen von Aromastoffen
> Einleitung Aromatherapie ist eine außerhalb der wissenschaftlichen Medizin stehende Therapiemethode. Das Kapitel soll zeigen: Die Aromatherapie ist zwar kein der Pharmakotherapie vergleichbares Therapieverfahren – es fehlt das Kennzeichen des „chemischen Zwanges“ – sie kann jedoch als ein brauchbares Hilfsmittel im Rahmen psychotherapeutischer Heilversuche angesehen werden. Bei einem aromatherapeutischen Versuch kommt es darauf an, beim Patienten Riechmittel einzusetzen, die mit Vorstellungen assoziert sind, die auf ihn, entsprechend der Ausgangslage, entspannend (angstlösend) oder antriebsfördernd wirken. Aromatherapie ist Umstimmungstherapie, weil über Änderung der psychischen Reaktionslage (Emotionalität und Stimmung) Krankheiten beeinflusst werden sollen. Dass Geruchserlebnisse stimmungsmodifizierend wirken, hat mit zwei Phänomen zu tun: dem Langzeitgedächtnis für Gerüche und der engen Verknüfung zwischen Geruch und Stimmung, d. h. die Dufterinnerung tritt nicht isoliert auf, sondern verknüpft mit situativen Elementen, die räumlich und zeitlich mit dem prägenden Grunderlebnis zusammenfielen. Abschließend wird der Blick auf die real existierende Aromatherapie gelenkt. Vielfach wird auch die pharmakotherapeutische Anwendung ätherischer Öle als aromatherapeutisches Verfahren angesehen. Bei der innerlichen Anwendung ätherischer Öle ist, nicht anders als bei einer Applikation chemischer Arzneistoffe, mit pharmakodynamischen Wirkungen und mit unerwünschten, u. U. auch toxischen Nebenwirkungen zu rechnen (Näheres dazu > Kapitel 25).
17.1 Einschränkung des Themas: Abgrenzung zur esoterischen Aromatherapie In der klinischen Pharmakologie unterscheidet man zwischen pharmakodynamischen Wirkungen und Plazebowirkungen. Ein grobes Raster zur Unterscheidung der beiden Efekte ist: Plazebowirkungen sind lediglich bei Menschen mit intaktem Bewusstsein auslösbar, d. h. der Bewusstlose ist nur rein pharmakodynamischen Efekten zugänglich. Was nun die Geruchsperzeption anbelangt, so gilt hier geradezu das Umgekehrte: Der Bewusstlose ist zu
keiner Geruchswahrnehmung imstande. Der Einwand, die bekannten Riechsalze („Nachbarin, das Fläschchen“, in Goethes „Faust“) seien doch bekannte Analeptika, zählt nicht, weil deren Wirkung nicht via Osmorezeptoren, sondern via Trigeminusreizung zustande kommt. Somit wird der Pharmakologe olfaktorische Wirkungen lüchtiger Stofe, sofern sie in therapeutischer Absicht eingesetzt werden, als eine Plazebotherapie ansehen. Es fragt sich nur, ob Besserung oder Heilung in jeder therapeutischen Situation ausschließlich an eine pharmakologische Aktivität gebunden ist. Das ist in der Tat vielfach nicht der Fall. Insbesondere bei den weit verbreiteten funktionellen Störungen lassen sich über eine psychische Beeinlussung auch körperliche Prozesse beeinlussen. Eine Änderung der psychischen Reaktionslage herbeizuführen, ist primär Aufgabe psychotherapeutischer Heilmethoden. Aber auch viele alternative herapiemethoden bedienen sich, bewusst oder unbewusst, dieses Prinzips psychophysischer Wechselwirkungen. Eine dieser alternativen herapiemethoden ist die Aromatherapie, bei der, wie der Name besagt, Dutwirkungen ätherischer Öle als Hilfsmittel eingesetzt werden. Aromatherapie ist allerdings nicht mit einer Duttherapie gleichzusetzen, da die ätherischen Öle nicht nur geruchliche Wirkungen, sondern auch pharmakologische Wirkungen aufweisen. Über die pharmakologischen Eigenschaten ätherischer Öle inden sich ausführliche Informationen im Kap. 25. Das vorliegende Kapitel beschränkt sich auf die Beschreibung biologischer und psychodynamischer Dutwirkungen ätherischer Öle. Esoterische Vorstellungen in der Aromatherapie. Für einen Teil der Aromatherapeuten sind Planzen Lebewesen mit einem Energiepotential, das sie auf Menschen übertragen können. Speziell die aus Planzen erhältlichen ätherischen Öle sollen imstande sein, die Psyche des Menschen umzustimmen und die Balance zwischen Körper und Seele zu regulieren sowie die Selbstheilungskräte des Körpers zu mobilisieren. Aber nur natürliche ätherische Öle, die aus Planzen gewonnen werden, haben diese Fähigkeiten, nicht chemisch synthetische Öle, auch dann nicht, wenn sie naturidentisch sein sollten und sich chemisch von natürlichem Öl nicht unterscheiden lassen. Charakteristisch ist die Verallgemeinerung persönlicher Erfahrungen, gelegentlich verbunden mit absurden Spekulationen. Marguerite Maury (1895–1968), eine einlussreiche Vertreterin der Aromatherapie, schreibt über den Dut der Rose: „Unsere eigene Erfahrung hat gezeigt,
17.2 Biologische Bedeutung des Riechens
dass die Rose einen starken Einluss auf die weibliche Sexualität ausübt, und zwar nicht als Stimulans, sondern zur Reinigung und Funktionsregulierung. Auch ihren Einluss auf Herzschlag und Blutkreislauf haben wir testen können. Vor allem aber bewirkt die Rose, dass wir uns wohl fühlen, ja sie mag uns ein umfassendes Glücksgefühl zu schenken, unter dessen Einwirkung wir eine liebevolle Toleranz für alle Lebenserscheinungen entfalten.“ Über das Lemongrass stellt Maury u. a. fest: „Das ätherische Öl vom Zitronenstrauch scheint sogar das Wachstum von Tumoren zu hemmen. Nach unseren Erfahrungen gehört es in alle Dutmischungen zur Plege der Haut mit erweiterten Poren, die mit iniziertem oder verdorbenem Talg verstopt sind“ (Quelle: http: //www.alternativmed.at/suche/themen/aromatherapie.html). Die Zitate sollen zeigen: Die esoterische Aromatherapie steht außerhalb der wissenschatlichen Medizin. Daher beschränkt sich die nachfolgende Darstellung der „Aromatherapie“ auf die Besprechung von biologischen und psychodynamischen Wirkungen von Gerüchen, die einer wissenschatlichen Behandlung zugänglich sind. (Zum Terminus „psychodynamisch“ ( > weiter unten, Abschnitt 17.3).
17.2 Biologische Bedeutung des Riechens
17
erreichen. Der Bulbus olfactorius fungiert mit seinen Mitralzellen als synaptische Schaltstelle zwischen den Riechzellen (Rezeptorzellen) und anderen Hirnregionen. Hierbei kommt es zu einer deutlichen Reduktion der Dutinformationskanäle, indem etwa 1000 Axone einzelner Riechzellen auf eine einzige Mitralzelle projizieren (Hatt 1995, 1996). Die etwa 30.000 Axone der Mitralzellen liefern Verbindungen zum Neocortex, zum limbischen System und weiter zu vegetativen Kernen des Hypothalamus und der Formatio reticularis. Erkennung von Nahrungsdüften. Die Riechschleimhaut
des Menschen ermöglicht eine gewisse chemische Prüfung der Atemlut. Der angenehme Dut von Speisen führt selbsttätig (relektorisch) zur Absonderung von Appetitsat im Magen. Schlechte bis ekelerregende Gerüche hemmen die Tätigkeit der Verdauungsdrüsen. Die Geruchsrezeption von Nahrungsdüten ist v. a. bei Insekten eingehend studiert worden. Die Tiere besitzen verschiedene Typen von Sinneszellen, die auf Dutstofe aus bestimmten Substanzklassen antworten, aber mit verschiedener Erregungsgröße, sodass ein charakteristisches Geruchsproil entsteht. Man nimmt an, dass auch beim Menschen ein Dutbouquet in den komplizierten Reaktionsproilen vieler Rezeptoren codiert ist, d. h. ein Dut wird eher in Analogie zum „Gestaltensehen“ erfasst, nicht durch Perzeption einer einzelnen speziischen Schlüsselsubstanz in einer Mischung.
Das olfaktorische System (Riechsystem). In jeder Nasen-
höhle beinden sich 3 übereinanderliegende wulstartige Gebilde (Conchae), die in toto mit Schleimhaut bedeckt sind. Die olfaktorische Region, das Riechepithel, ist auf einen kleinen Bereich von ca. 2u5 cm2 auf der obersten Conche beschränkt; die restliche Fläche des Schleimhautbereiches entfällt auf das respiratorische Epithel, das dem Erwärmen und dem Anfeuchten der Atemlut dient. Das Riechepithel besteht aus den Stützzellen, die einen Schleim sezernieren, der das Epithel ständig bedeckt; zwischen den Stützzellen sind 10–20 Mio. Riechsinneszellen eingestreut, die am apikalen Ende durch zahlreiche, in den Schleim ragende, feine Sinneshaare (Zilien) mit der Außenwelt in Kontakt treten. Eine einzige Zelle kann bis zu 1000 solcher Haarfortsätze aufweisen, wodurch eine wesentliche Oberlächenvergrößerung erreicht wird. Am basalen Ende bestehen die Riechsinneszellen aus langen, dünnen Nervenfortsätzen (Axonen), die sich zu Riechfäden (Fila olfactoria) sammeln und durch die Lamina cribrosa der Siebplatte hindurch den Bulbus olfactorius (Riechkolben)
Geruchssinn als Kommunikationsorgan. Im Tierreich
bildet der Geruchssinn das wichtigste Kommunikationsorgan, Dutstofe dienen als Informationsquelle, die unterschiedlichste Verhaltensreaktionen, aber auch komplexe endokrine Veränderungen auslösen können. Die Biene mit dem Geruch eines anderen Bienenvolkes wird getötet, das mit dem Dut einer anderen Sau eingeriebene Ferkel wird vom Muttertier angegrifen, der Hund mit zerstörten Riechnerven indet das mütterliche Gesäuge nicht. Weit verbreitet sind im Tierreich sog. Signalpheromone, die der Revierabgrenzung oder zur Anlockung eines Sexualpartners dienen. Erwähnt seien die Pheromone (griech.: pherein [tragen, überbringen]; hormáo [antreiben, erregen]), chemische Substanzen, die von einem Individuum abgegeben werden und bei einem anderen der gleichen Art eine Verhaltensänderung oder eine physiologische Reaktion hervorrufen. Ein Beispiel ist die „queen’s substance“ (Königinnensubstanz) der Honigbiene, die (E)-9-Oxo-2Decensäure. Sie wird in den Mantibeldrüsen der Königin
465
17
Aromatherapie: Biologische und psychodynamische Wirkungen von Aromastoffen
gebildet und verhindert bei den Arbeiterinnen die Ausbildung des Ovariums. Läuige Hündinnen sollen p-Hydroxybenzoesäuremethylester als Sexualpheromon abgeben. Das Sexualhormon des Elefanten ist 7-Dodeconylacetat. Weit verbreitet bei Säugetieren ist das Steroidderivat 5D-Androst-16-en-3-on, das einen urinartigen Geruch aufweist. Beim Eber wird es mit dem Speichel und dem Schweiß ausgeschieden und löst bei der paarungsbereiten Sau den Duldungsrelex aus, ohne den eine Kopulation nicht möglich ist. Der Mensch nutzt diesen Trieb des Schweins aus: Trüfel enthalten Spuren des gleichen Androstenons und bringen damit die sog. Trüfelschweine zum intensiven Stöbern. Männliche Ratten können zwischen paarungs- und nicht paarungsbereiten Weibchen aufgrund unterschiedlichen Geruchs unterscheiden, eine Fähigkeit, die nach einer Kastration verloren geht (Dorries 1992). Ein besonders bemerkenswertes Beispiel für eine Beeinlussung von sexuellen Funktionen durch Geruchseinwirkung ist der sog. Bruce-Efekt (Parkes u. Bruce 1962). Wenn ein befruchtetes Mäuseweibchen vor der Implantation der Blastozysten dem Dut eines geschlechtsreifen Männchens ausgesetzt wird, erfolgt häuig Abort. Wenige Moleküle des im Urin des Mäusebocks ausgeschiedenen Pheromons setzen über olfaktorische Reize eine Reaktionskette in Gang, die letztlich zu einer unphysiologischen Östrogenproduktion im Ovarium und damit zur Unterdrückung der Implantationsbereitschat des Uterusepithels führt ( > Abb. 17.1). Es gibt eine Reihe von Beobachtungen, die sich dahingehend deuten lassen, dass sich auch beim Menschen gewisse Relikte von Pheromonwirkungen erhalten haben. Seit langem bekannt und mehrfach studiert ist das Phänomen der Synchronisation des weiblichen Menstruationszyklus, beispielsweise bei Frauen in Colleges oder in Internaten, die einen gemeinsamen Schlafsaal teilen. Ausgelöst wird dieser Efekt durch Geruchsstofe, die mit dem Achselschweiß in die umgebende Lut gelangen (Preti et al. 1987). Ein weiteres Relikt menschlicher Kommunikationsdüte sind die beträchtlichen Schwankungen der geruchlichen Sensibilität der Frau während des Menstruationszyklus. Nur während des Eisprungs wird der Dut des Androsterons, das im Achselschweiß des Mannes vorkommt, signiikant positiv beurteilt (Hatt 1996). Pheromone, die vom Organismus der Frau bei entsprechend engem körperlichen Kontakt mit dem Mann aufgenommen werden, scheinen auch die Funktionen der Sexualorgane positiv zu beeinlussen: Frauen mit regelmäßigem Geschlechtsverkehr haben einen geregelten Menstruati-
. Abb. 17.1 Hypothalamus GnRH Bulbus olfactorius
Adenohypophyse
FSH, LH Riechepithel
Ovarialsteroide
Pheromon
466
fremdes Männchen
Ovidukt mit Blastozysten
Ovarium
Uterus
Der Bruce-Effekt als ein Beispiel für eine durch eine Geruchssensation ausgelöste hormonelle Reaktion. Der von einem fremden Mäusemännchen abgeschiedene Duftstoff wird von einem frühschwangeren Weibchen wahrgenommen. Die Information gelangt zum Hypothalamus und induziert dort die Ausschüttung von GonadotropinReleasing-Hormon (GnRH), was zu einer während einer Schwangerschaft unphysiologischen Bildung von Ovarialsteroiden führt. Die Steroide verhindern die Implantation der Blastozyte, was zum Abort führt (aus Czihak et al. 1990, nach Blüm 1986)
onszyklus, weniger Fertilitätsstörungen und beschwerdeärmere Wechseljahre, anders als Frauen ohne oder mit nur gelegentlichem Geschlechtspartner. Die Industrie vermarktet seit längerem Pheromonprodukte mit dem Werbeversprechen, den Träger sexuell anziehend zu machen. Es handelt sich um Parfüms, die Androstenon, Androstenol und Androsteron in einer Ölgrundlage enthalten und die mit einem Moschusdutstof versetzt sind. Erotisierende Wirkungen, wie sie hier versprochen werden, lassen sich sicherlich nicht erzwingen; denkbar sind gewisse Efekte via „Autosuggestion“. Reines Androsteron „erinnert an den Geruch von Gefäßen, die längere Zeit für die Aubewahrung von Harn benutzt worden waren“ (Ohlof 1996). Dieses Steroid gilt als Prototyp des Uringeruchs.
17.3 Psychodynamische Wirkungen von Gerüchen
17.3 Psychodynamische Wirkungen von Gerüchen Der Ausdruck „psychodynamische Wirkungen“ wird zur Unterscheidung von „pharmakodynamischen Wirkungen“ verwendet. Pharmakodynamische Wirkungen einer bestimmten Substanz sind innerhalb der biologischen Variationsbreite und abgesehen von individuellen Überempindlichkeiten bei allen Menschen die gleichen. Psychodynamische Wirkungen werden subjektiv erfahren, doch sind sie mit Methoden der experimentellen Psychologie beschreibbar und messbar. Messbar sind beispielsweise Änderungen von Gefühlen, Stimmungen und Erwartungen. Durch Geruchsreize werden bestimmte vegetative Reaktionen angestoßen, die nicht vom Willen der Versuchsperson beeinlussbar sind. Bei Wahrnehmung eines Geruchs können beispielsweise die Hauttemperatur, die Durchblutung der Haut, der Blutdruck und die Pulsfrequenz verändert werden. Auch lassen Gefühle sich im EEG ganz bestimmten Hirnstrommustern zuordnen. Zur Objektivierung von Dutwirkungen mit anregenden und beruhigend wirkenden Assoziationen eignet sich speziell das so genannte CNV-Verfahren („contingent negative variation“). Es handelt sich um eine Sonderform der Elektroenzephalographie, um die Messung von Potentialschwankungen, die durch Verarbeitung sensorischer Reize hervorgerufen werden (Torii et al. 1988). Geeicht wird die Messanordnung, indem das EEG von Probanden nach Gabe von Cofein und von Nitrazepam ausgewertet wird. Nach Gabe von Cofein nimmt die CNV-Welle (Amplitude) zu, nach Gabe von Nitrazepam nimmt sie ab (Ashton et al. 1974). Änderungen wie nach Cofeingabe – Zunahme der CNV-Amplituden – wurden beim Riechen folgender Öle gefunden: Basilikum-, Jasmin-, Nelken-, Neroli-, Pfeferminz-, Rosen- und Ylang-Ylang-Öl. Eine Abnahme der CNV-Amplitude wurde nach dem Riechen der folgenden ätherischen Öle gemessen: Bergamott-, Kamillen-, Geranium-, Majoran-, Sandelholz- und Zitronenöl. Der Abfall der CNV-Amplitude wird als beruhigend wirkender Efekt interpretiert. Baldrianöl verhielt sich inert: Nach der CNVMethode wirkte es auf die Probanden weder beruhigend noch anregend. Überraschend ist auch das Ergebnis für Rosenöl, dessen Geruch in der Parfümeriewissenschat als „narkotisch”, somit eher als entspannend, kaum als aktivierend gilt. Den psychodynamischen Wirkungen von Düten liegen 3 psychologische Mechanismen zugrunde:
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x der hedonistische, x der semiotische und x der suggestive Mechanismus. Hedonistischer Mechanismus. Unter Hedonik (griech.: hedoné [Lust, Vergnügen, Freude]) versteht man die subjektive Bewertung eines Dutes als angenehm oder unangenehm. Die Hedonik für einige Düte ist genetisch determiniert – Naturdüte werden als angenehm, verfaulendes Fleisch als unangenehm empfunden –, doch erfolgt in der Regel die Prägung erst im Verlauf eines Lebens durch Erziehung und Gewöhnung. Der Geruch von faulen Eiern wird von den Chinesen hochgeschätzt, von Europäern aber verabscheut. Schiller ließ sich durch den Geruch faulender Äpfel zum kreativen Schreiben stimulieren, während viele andere Menschen von dem Geruch eher abgestoßen werden. Heinrich III. von Frankreich fühlte sich durch Knoblauchgeruch entkrätet, Heinrich IV. hingegen stimuliert (Kroeber 1949). Semiotischer Mechanismus. Semiotik (griech.: semeí-
nein [zeigen]) ist in der Philologie die Lehre vom Bedeutungsinhalt einzelner Wörter und in der Medizin die Lehre von der Bedeutung der einzelnen Symptome für eine ätiologische oder syndromale Einheit (Roche Lexikon Medizin). In der Aromatherapie kennzeichnet man mit semiotisch (Synonym: semantisch) die Bedeutungskoppelung von Geruchswahrnehmung und Inhalten von Erinnerungen (Jellinek 1996). Erinnerungen wiederum sind von Stimmungen begleitet. Für Gerüche hat der Mensch ein ausgeprägtes Langzeitgedächtnis. Sind Gerüche erst einmal im Gedächtnis gespeichert, so werden sie höchst selten vergessen. Die Duterinnerung tritt aber nicht isoliert auf, sondern verknüpt mit situativen Elementen, die räumlich und zeitlich mit dem prägenden Geruchserlebnis zusammenfallen. Die nach dem semiotischen Wirkungsmechanismus ausgelöste Gefühls- und Stimmungsveränderung ist für die Erinnerung, nicht aber für den Geruchsstof speziisch! Beispiel Nach einer US-Studie wirkt der Geruch von Heliotropin angstmindernd (Redd u. Manne 1991). Man bringt diese Wirkung mit dem Umstand in Zusammenhang, dass in den USA seit Generationen Babyprodukte entsprechend parfümiert werden: Vermutlich erweckt der Geruch später im Erwachsenenalter unbewusste Assoziationen mit
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Aromatherapie: Biologische und psychodynamische Wirkungen von Aromastoffen
der im Kindesalter erlebten Geborgenheit und Umsorgtheit (Jellinek 1996). Analog erklärt sich der Wirkungsmechanismus von warmer Milch als Einschlafhilfe: Es gibt Personen, die nur dann rasch einschlafen können, wenn sie vor dem Zubettgehen ein Glas heiße Milch trinken. Auch hier könnten unbewusste Assoziationen mit der behüteten Kinderzeit eine Rolle spielen. Das wusste selbst die Eugenie Marlitt (1825–1887), wenn sie in ihrem nachgelassenen Roman „Das Eulenhaus“ sagt: „Nichts in der Welt macht Vergangenes so lebendig wie der Geruch“. Ein englischer Psychotherapeut (King 1988) benutzt den Duft nach frischer Seeluft als Hilfsmittel zur Entspannung bei der psychotherapeutischen Behandlung. Offenbar assoziieren viele dieser Patienten die Geruchsnote mit entspannenden Urlaubsaufenthalten in Seebädern. Als sehr individuell dürfte die aphrodisische Wirkung des Geruchs von Dieselöl sein, von der berichtet wird: Der junger Mann hatte sein erstes sexuelles Erlebnis in einer Tiefgarage (Neumann 1986).
Der suggestive Mechanismus. Der suggestive Mechanismus ist im Wesentlichen durch den Wunsch des Patienten oder der Testperson bedingt, zu glauben, was ihr suggeriert wird. Ein bestimmter Dutstof, dem 3 Gruppen von Testpersonen in der gleichen Konzentration ausgesetzt waren, rief unterschiedliche Reaktionen hervor, je nachdem ob er als gesundheitsfördernd, neutral oder schädlich angekündigt worden war. Selbst wenn der Dutstof nur vorgetäuscht wird und die Testpersonen reine Lut einatmen, bewerten die 3 Versuchspersonen ihren Gesundheitszustand ganz unterschiedlich in Abhängigkeit von der suggerierten Geruchsnote und der entsprechenden Ankündigung (Knasko et al. 1990). Es ist somit nicht unbedingt ein bestimmter Dut, der bestimmte Wirkungen ausübt, wesentlich für die Wirksamkeit sind die Informationsquellen, die eine bestimmte autosuggestive Erwartungshaltung induzieren: Empfehlungen des Aromatherapeuten, Publikationen über Aromatherapie oder evtl. explizite Werbeaussagen. Suggestive bzw. autosuggestive Wirkungen von Arzneimitteln bilden ein Moment des Plazebophänomens.
17.4 Weitere Wirkungen ätherischer Öle via Osmorezeptoren Neben Wirkungen von Düten, die vorzugsweise auf psychologischer Ebene beschreibbar sind, gibt es Wirkungen, die vorzugsweise das vegetative Nervensystem betrefen, die also auf physiologischer Ebene beschreibbar sind. Gut bekannt ist die sekretionsfördernde Wirkung olfaktorischer Reize auf die Speicheldrüse sowie auf die Verdauungsdrüsen des Magen-Darm-Trakts. Das Phänomen wird in Lehrbüchern der biologischen Psychologie unter dem Terminus „Geruchsaversionslernen“ beschrieben (Birbaumer u. Schmidt 2003). Es handelt sich dabei um einen Sonderfall der klassischen Konditionierung, der dadurch gekennzeichnet ist, dass das Intervall zwischen neutralem konditionalen Reiz (CS) und unkonditionalem Reiz (US) zeitlich sehr ausgedehnt ist. Viele Menschen behalten beispielsweise die Aversion auf Fischgeruch (konditionierte Reaktion [CR]) ein Leben lang bei, wenn sie einmal verdorbenen Fisch konsumiert hatten, der Stunden später zu Erbrechen (unkonditionierte Reaktion [UR]) führte. Zum Vergleich: In dem berühmten Grundversuch der Pavlowschen Konditionierung (CS = Ton) und Futter (US), der eine unkonditionierte Reaktion (UR = Speichelluss) auslöste, beträgt das CS-US-Intervall 0,5–30 s. Man hat versucht, die Methode des „Geruchsaversionslernens“ zur Gewichtsreduktion einzusetzen (Rovesti 1977). Bei aukommendem Appetit sollte der Patient an einem übelriechenden „Parfum“ schnüfeln. Ofensichtlich hat sich das Verfahren in der Praxis nicht bewährt. Enge Wechselbeziehungen bestehen auch zwischen Geruchsreizen und libidinösem Verhalten (z. B. Comfort 1971; Roseburg u. Fikentscher 1977; Zwang 1976). Individuelle Lernprozesse sind hier besonders wichtig. Von der Vorliebe eines jungen Mannes, der überraschend Dieselöl zu seinen Lieblingsgerüchen zählte, wurde schon weiter oben berichtet „Der Geruch erregt mich sexuell, weil ich mein erstes sexuelles Erlebnis in einer Tiefgarage hatte“ (Neumann 1986). Daneben scheint es aber auch eine Kollektiverfahrung zu geben. Der Geruch niedrigkettiger Fettsäuren, z. B. der von Butter-, Valerian- und Baldriansäure in geringen Konzentrationen, wirkt auf viele Menschen erogen, man vermutet, weil er an den Körpergeruch erinnert (Jellinek 1951). Starker Schweißgeruch hingegen wirkt abstoßend und unerotisch. Auch der Geruch des
17.6 Zurück zur Aromatherapie
Camphers gilt als antilibidinös. Das assoziative Herkuntsmotiv ist in diesem Falle unklar.
17.5 Wirkungen über das trigeminale System Die Nasenschleimhaut einschließlich der olfaktorischen Schleimhaut wird von sensiblen Nervenendigungen des Nervus trigeminus versorgt, die auf zahlreiche lüchtige Substanzen ansprechen. Außer den reinen Geruchsstoffen, die lediglich den Nervus olfactorius reizen, gibt es reine Trigeminusreizstofe (Ammoniak, Ameisensäure) und Mischreizstofe. Mischreizstofe lösen außer dem eigentlichen Geruchseindruck noch Schmerzempindungen (stechender Geruch) oder Temperaturempindungen aus. Typische Mischreizstofe sind Citral, Chlorgas, Chloroform, Eukalyptusöl, Campher, Menthol, Pfeferminzöl und Zimtöl. Die Trigeminusfasern sind auch für die Auslösung von Niesen, Tränenluss, Atemhemmung und andere Relexe verantwortlich, die durch Reizung der Nasenschleimhaut zustande kommen. Nach Schnüfeln von Menthol, Minz- oder Pfeferminzöl verspürt man in der Nase ein angenehm kühlendes Gefühl der Frische. Viele Anwender entsprechender Produkte sind überzeugt, bei verschnupter Nase freier durchatmen zu können. Lange Zeit hindurch wurde daher von vielen Autoren angenommen, die genannten Stofe müssten einen schleimhautabschwellenden Efekt aufweisen. Mit Geräten, die es ermöglichen, exakt Volumen und Druck der durch die Nase strömenden Lut zu messen, wurde jedoch gefunden, dass das Nasenvolumen nicht erweitert wird. Erstaunlicherweise wird hingegen die Nase lutdurchgängiger, wenn die Probanden eine körperliche Arbeit – am Fahrradergometer bei 120 W, 5 min lang – verrichten. Paradox dabei ist: Die objektive Verbesserung nach Fahrradergometrie wurde subjektiv nicht bemerkt; die fehlende objektive Verbesserung nach Schnüfeln wurde subjektiv als wesentliche Verbesserung der Lutdurchgängigkeit empfunden (Burrow et al. 1983). Aus der fehlenden Wirkung von Menthol, Eukalyptusöl und Campher auf die Erweiterung des Nasenvolumens darf aber nicht geschlossen werden, dass die Anwendung dieser Medikamente nicht nützlich wäre: Bei einem Schnupfen, der innerhalb weniger Tage von selbst vergeht, dürte es nützlich sein, die subjektiven Symptome zu behandeln und dabei die normale Auseinandersetzung des Organismus möglichst wenig zu stören. Wie wichtig das subjektive Element
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ist, zeigt sich häuig nach bestimmten operativen Eingriffen in der Nase. Sie verbessern zwar in der Regel objektiv die Nasenlutpassage: Wenn aber als Folge des operativen Eingrifs die Nerven lädiert werden und dadurch die Patienten die durchströmende Lut subjektiv nicht wahrnehmen können, fühlen sich diese Patienten nach wie vor behindert (Burrow et al. 1983). Hinweis. In der Physiologie wird zwischen bloßem Rie-
chen und Schnüfeln unterschieden. Beim Schnüfeln wird die Lut infolge einer Kontraktion im unteren Bereich der Nasenöfnung nach aufwärts in die Nasenhöhle gelenkt. Es handelt sich um eine Art Relex bei Erregung der Aufmerksamkeit durch einen ungewohnt autretenden Geruch. Beim normalen Atmen gelangt viel weniger Lut zum Riechepithel.
17.6 Zurück zur Aromatherapie Kein Konsens darüber, was Aromatherapie ist. Über
Inhalt und Umfang des Begrifes Aromatherapie besteht unter den Aromatherapeuten kein Konsens. Französische Vertreter wie Tissernad (1980) oder Valnet (1983) verstehen darunter jede Anwendung von ätherischen Ölen zu therapeutischen Zwecken, äußerlich und innerlich, vor allem als Bäder und Massagen. Ein Arzt, der Fenchelöl bei Hustenreiz verschreibt, dürte sich aber kaum als Aromatherapeut verstehen. Somit ist der Begrif Aromatherapie viel enger zu fassen. Nach Buchbauer u. Hafner (1985) ist Aromatherapie die Applikation von Dutstofen und ätherischen Ölen durch Einatmen oder Inhalieren. Fällt nun die epikutane Anwendung eines Hustenbalsams unter eine aromatherapeutische Maßnahme? Eine Teilmenge des applizierten Öles wird eingeatmet; eine andere perkutan resorbiert. Man sieht, die inhalative Anwendung als eigene herapieform herauszustellen, ist wenig sinnvoll. Ein bestimmendes und die Aromatherapie charakterisierendes Element ist es, dass Geruchserlebnisse in therapeutischer Absicht genutzt werden. Aromatherapie ist die Anwendung von Dutstofen und ätherischen Ölen via Osmorezeptoren (Dodd 1988). So wie sich die Aromatherapie in den letzten Jahrzehnten herausgebildet hat, wird sie hauptsächlich von Angehörigen „medizinverwandter Berufe“, die sich das Verfahren selbst angeeignet haben, ausgeübt. Sie wird sodann als „ideale Selbstmedikationsmethode“ propagiert. Von fachkundigen herapeuten nach vorheriger sachgerechter
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Aromatherapie: Biologische und psychodynamische Wirkungen von Aromastoffen
Diagnose angewendet, birgt die Aromatherapie kaum Risiken, solange Anwendungsbeschränkungen und unerwünschte Wirkungen ätherischer Öle beachtet werden. Vertretbar erscheint die Anwendung von Düten als Hilfsmittel (adjuvant) zur Behandlung von funktionellen Störungen und Störungen des Allgemeinbeindens. Ungeeignet ist die Aromatherapie zur Behandlung von Krankheiten, für die es rationale Behandlungsverfahren gibt. Fehlender medizinischer Sachverstand oder Selbstüberschätzung können dann u. U. die wirksame Behandlung von Krankheiten verzögern (Stitung Warentest 1996). Praktische Handhabung. Die zur esoterischen Aroma-
therapie verwendeten ätherischen Öle werden als Kosmetikzusatz und zur Raumaromatisierung verkaut. Es wird vermieden, sie direkt als Arzneimittel zu kennzeichnen;
dementsprechend inden sich keine Beipackzettel mit Angaben über innerliche Anwendung, über Dosierung und zur Indikation. Angaben zu Indikationen inden sich allerdings getrennt vom Mittel im Schrittum über Aromatherapie. Die zur Aromatherapie verwendeten Öle sollen rein planzlicher Herkunt sein; naturidentische Öle oder etwa gar isolierte Einzelstofe weisen nach Ansicht von Aromatherapeuten nicht die erwünschte Wirkung auf. Die ätherischen Öle der Aromatherapie werden in unterschiedlicher Art und Weise appliziert: als Zusatz zu Massageölen, als Badezusatz (6–8 Tropfen auf ein Wannenbad), aus der Aromalampe verdampfen lassen oder einige Tropfen der Verdunstungslüssigkeit an Heizkörpern zusetzen. Auch die Anwendung von Dutkissen (Kräuterkissen) kann unter Aromatherapie subsumiert werden.
Schlüsselbegriffe Aromatherapie Bruce-Effekt Geruchsaversionslernen Hedonik Osmorezeptoren
Pharmakodynamische Wirkung Pheromone Plazebowirkung Riechen und Schnüffeln Semiotik, Signalpheromone
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Suggestion Trigeminusreizung Trigeminusreizstoffe
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D D Einzeldarstellung wichtiger Stoffgruppen 18 Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Monound Oligosaccharide – 473 19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen – 515
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Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane – 655
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Lektine: Vorkommen, Analytik und Bewertung ihrer modulatorischen Aktivität – 705
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Lipide
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Isoprenoide
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Triterpene einschließlich Steroide
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Ätherische Öle
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Phenolische Verbindungen
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Alkaloide – 1315
– 739 – 809 – 915
– 1023 – 1141
18 18 Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide W. Blaschek, S. Alban 18.1
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477
18.2
Deinition der Kohlenhydrate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477
18.3
Klassiizierung von Kohlenhydraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478 18.3.1 Monosaccharide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478 18.3.2 Di- und Oligosaccharide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478
18.4
Strukturprinzipien von Monosacchariden . . . . . . . . . . . . . . . . 18.4.1 Aldosen und Ketosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.4.2 Halbacetalbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.4.3 Nomenklatur und Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.4.4 Aldonsäuren, Uronsäuren und Aldarsäuren . . . . . . . . . . 18.4.5 Aminozucker und Acetyl-Aminozucker . . . . . . . . . . . . . 18.4.6 Deoxy-Zucker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.4.7 Zuckeralkohole: Alditole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.4.8 Cyclitole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.4.9 Zuckerester: phosphorylierte und sulfatierte Monosaccharide 18.4.10 Besondere Monosaccharide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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479 479 480 481 483 485 486 487 487 488 488
18.5
Strukturprinzipien von Oligosacchariden . . . . . . . . 18.5.1 Vollacetalbildung und O-glykosidische Bindung 18.5.2 N-glykosidische und C-glykosylische Bindung . 18.5.3 Di- und Oligosaccharide . . . . . . . . . . . . .
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488 488 489 491
18.6
Organoleptische Eigenschaten von Kohlenhydraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493
18.7
Kohlenhydrate im Stofwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496
18.8
Analytik von Kohlenhydraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498 18.8.1 Nachweisreaktionen für Kohlenhydrate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498 18.8.2 Strukturauklärung von Kohlenhydraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498
18.9
Pharmazeutisch bedeutsame Monosaccharide 18.9.1 Xylose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.9.2 Glucose . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.9.3 Galactose . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.9.4 Fructose . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.9.5 Sorbitol . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.9.6 Mannitol . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.9.7 Xylitol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.9.8 Myo-Inositol . . . . . . . . . . . . . . .
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500 500 500 501 502 503 504 504 505
18.10 Honig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 18.11 Pharmazeutisch bedeutsame Oligosaccharide 18.11.1 Saccharose . . . . . . . . . . . . . . . . 18.11.2 Lactose . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.11.3 Lactulose . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.11.4 Lactitol . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.11.5 Maltose . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.11.6 Isomalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.11.7 Maltitol . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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507 507 508 509 510 510 511 512
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513
18.2 Definition der Kohlenhydrate
> Einleitung Das Kapitel ist gegliedert in einen ersten Teil zu allgemeinen chemischen und biologischen Aspekten und einen zweiten Teil, in dem pharmazeutisch bedeutsame Mono- und Disaccharide detailliert beschrieben werden. Somit wird zunächst auf die Bedeutung der Kohlenhydrate für alle Organismen eingegangen sowie auf die Klassifizierung der Kohlenhydrate nach verschiedenen Gesichtspunkten. Anschließend wird jeweils an charakteristischen Beispielen die komplexe Strukturvielfalt von Monosacchariden systematisch dargestellt. Auf die Erläuterung der glykosidischen Bindung folgen dann Beispiele für einige wichtige Di- und Oligosaccharide. Es wird kurz auf den für einige Kohlenhydrate charakteristischen süßen Geschmack erklärend und vergleichend eingegangen, bevor ein Ausschnitt aus dem Kohlenhydratstoffwechsel gezeigt wird, wobei die Bedeutung phosphorylierter und nukleotidgebundener Kohlenhydrate hervorgehoben wird. Anschließend folgt eine orientierende Übersicht zur Kohlenhydratanalytik. Im zweiten Teil werden einzelne, bedeutsame Mono-und Disaccharide vorgestellt, wobei jeweils sowohl Daten zu Struktur und Eigenschaften als auch Informationen zur Gewinnung, zur biologischen Bedeutung sowie zur Verwendung geboten werden. Dabei werden auch entsprechende partialsynthetische Derivate besprochen.
giegewinn dient, der aber auch mit vielen anderen Stofwechselwegen vernetzt ist. x Kohlenhydrate dienen als Struktur-, Gerüst- und Stützelemente und können Zellen, Geweben und Organismen in Form einer Zellwand Gestalt, Halt und Schutz geben (z. B. Cellulose, Chitin), aber auch Gleitmittel und Stoßdämpfer darstellen (z. B. extrazelluläre Matrix in tierischen Geweben). x Kohlenhydrate sind als Reservestofe eine gut einlagerbare und rasch verfügbare Energie- und Baustofquelle (z. B. Stärke, Fructane, Glykogen). x Kohlenhydrate werden als Glykokonjugate mit vielen anderen Stofen des Primär- und des Sekundärstofwechsels verknüpt und können diesen besondere physikochemische Eigenschaten verleihen (z. B. Herzglykoside, Anthraglykoside) oder auf der Oberläche von Zellen bei Zell-Zell-Erkennung und Signaltransduktion eine wichtige Rolle spielen (z. B. Glykoproteine, Glykolipide, Glykocalyx). Kohlenhydrate sind polyfunktionelle Verbindungen, wobei Hydroxylgruppen überwiegen. Der größte Teil der in Organismen vorkommenden Kohlenhydrate besteht somit auch nicht aus einfachen Zuckern, sondern aus deren Kondensationsprodukten in Form von Oligo- und Polysacchariden sowie von Glykokonjugaten. Dabei können monomere Kohlenhydratbausteine unterschiedlicher Struktur auf viele verschiedene Arten untereinander und mit anderen Naturstofen verknüpt sein.
18.2 18.1
Allgemeines
Kohlenhydrate sind eine Naturstoklasse, die wie Proteine, Lipide und Nucleinsäuren am Aubau aller lebenden Organismen beteiligt sind. Dabei stellen planzliche Organismen die größten Kohlenhydratproduzenten dar. Über Photosynthese werden grob geschätzt 2u1011 t Kohlenhydrate jährlich neu gebildet; der vorhandene Bestand dürfte zehnfach höher liegen. Quantitativ spielen dabei Struktur- und Reservekohlenhydrate die dominierende Rolle. Kohlenhydraten kommen in Organismen Aufgaben zu, die sich vereinfacht dargestellt wie folgt beschreiben lassen: x Kohlenhydratmetabolismus ist für alle lebenden Organismen ein zentraler Stofwechselweg, der dem Ener-
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Definition der Kohlenhydrate
Unter der Bezeichnung „Kohlenhydrate“ wurden ursprünglich Monosaccharide zusammengefasst, die neben Kohlenstof die Elemente Wasserstof und Sauerstof wie im Wasser im Verhältnis 2:1 enthalten und denen die Summenformel Cn (H2O)n zukommt (frz.: hydrate de carbone). Diese über 100 Jahre alte Deinition ist heute nicht mehr streng gültig, da viele Kohlenhydrate existieren, in denen Kohlenstof, Wasserstof und Sauerstof nicht in diesem Verhältnis autreten. Dies trit schon für oligomere und polymere Kohlenhydratverbindungen zu, also für Oligo- und Polysaccharide. Auch Monosaccharide, bei denen die Carbonylgruppe reduziert vorliegt (Alditole) oder bei denen durch Oxidation terminale Carboxylgruppen entstanden sind (Uronsäuren), zählen zu den Kohlenhydraten. Außerdem werden zu den Kohlenhydraten Ver-
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Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide
bindungen gerechnet, die als Bausteine weitere Elemente wie Stickstof, Schwefel oder Phosphor enthalten. Trotzdem hat man den im weiteren Sinn verwendeten Sammelbegrif der Kohlenhydrate für diese große Naturstoklasse beibehalten. Kohlenhydrate sind in der Regel optisch aktive Verbindungen, wobei dieses Phänomen nicht auf die monomeren Zucker beschränkt ist, sondern auch in den Oligomeren und Polymeren gefunden wird. Kohlenhydrate weisen eine Vielzahl molekularer Strukturen und Dimensionen mit sehr unterschiedlichen chemischen, physikalischen und physiologischen Eigenschaten auf. Die volkstümliche Bezeichnung „Zucker“ für Kohlenhydrate umfasst die Gruppe der Mono- als auch der Oligosaccharide und ist mit dem Begrif „süß“ verbunden, obwohl dies in qualitativer und quantitativer Hinsicht nur begrenzt zutrit.
18.3
Klassifizierung von Kohlenhydraten
Es gibt verschiedene Möglichkeiten der Klassiizierung von Kohlenhydraten und Glykokonjugaten. Dabei können strukturelle oder physiologische Gesichtspunkte im Vordergrund stehen. Auf weiterführende Klassiizierungsdetails wird gezielt in späteren Abschnitten eingegangen.
18.3.1
Monosaccharide
Monosaccharide sind zunächst Polyhydroxy-Aldehyde (Aldosen) oder -Ketone (Ketosen) mit mehr als 3 C-Atomen oder von diesen abgeleitete Verbindungen (z. B. Aminozucker, Uronsäuren u. a.) und lassen sich durch hydrolytische Spaltung glykosidischer Bindungen nicht weiter in kleinere Bausteine zerlegen.
18.3.2
Di- und Oligosaccharide
Disaccharide bestehen aus zwei über O-glykosidische Bindung miteinander verknüpten Monosacchariden. Oligosaccharide weisen 2 oder mehr Monosaccharide auf, die untereinander O-glykosidisch verknüpt sind. Somit sind Disaccharide eigentlich den Oligosacchariden zuzurechnen, werden aber häuig getrennt aufgeführt. Je
nach Anzahl der am Aubau beteiligten Monomere werden sie als Di-, Tri-, Tetra-, Penta- Hexa-, Hepta-, Octa-, Nona- oder Decasaccharide bezeichnet. Die Grenze zu den Polysacchariden wird gerne bei 10 Monomeren gezogen, ist aber nicht eindeutig deiniert. Auf jeden Fall sollte ein Oligosaccharid eine eindeutig beschreibbare Struktur aufweisen. Durch hydrolytische Spaltung glykosidischer Bindungen lassen sich Oligosaccharide in ihre Monosaccharid-Einheiten zerlegen. Infobox Polysaccharide. Polysaccharide sind Makromoleküle, bei denen eine größere bis sehr große Anzahl an Monosacchariden untereinander O-glykosidisch verknüpft sind. Sie können allgemein auch als Glykane bezeichnet werden. Der Polymerisationsgrad beginnt bei etwa 10 monomeren Bausteinen („degree of polymerisation“ = DP >10) und ist nach oben im Prinzip unbegrenzt. Damit können manche Polysaccharide Molekulargewichte von weit über einer Million Dalton erreichen. Polysaccharide können linear (unverzweigt) sein oder aber eine mehr oder weniger große Zahl an Verzweigungen ebenfalls über glykosidische Verknüpfung aufweisen. Polysaccharide lassen sich ebenfalls hydrolytisch in ihre monomeren Zuckerbausteine aufspalten. Die chemischen, physikalischen und physiologischen Eigenschaften der Polysaccharide weichen von denen der niedermolekularen Kohlenhydrate erheblich ab, da sie als Polymere zu unterschiedlichen Interaktionen zwischen den makromolekularen Strukturen neigen. Sie lösen sich meist schlechter bis gar nicht in Wasser, sie schmecken gewöhnlich nicht süß und sind im Gegensatz zu den Mono- und Oligosacchariden häufig ausgesprochen reaktionsträge. Polysaccharide werden daher im Detail im Kapitel „Kohlenhydrate II: Polysaccharide und wichtige Polysaccharid-Drogen“ besprochen.
Infobox Glykolipide und Glykoproteine. Glykolipide weisen einen Lipidteil auf, der mit einem Mono- oder Oligosaccharid verknüpft ist, wobei Neuraminsäure bei tierischen Organismen einen häufig verwendeten Kohlenhydratbaustein darstellt. Glykolipide sind als Membranlipide so in die Plasmamembran integriert, dass der Kohlenhydratanteil stets nach außen zeigt. Glykolipide können Rezeptorfunktion aufweisen.
6
18.4 Strukturprinzipien von Monosacchariden
Glykoproteine bestehen aus einem Proteinteil, an den Mono- bis Oligosaccharide an einer oder mehreren Positionen über definierte Aminosäurereste angeknüpft sind. Dabei sind in der Regel Serin- oder Threoninreste mit N-Acetylgalactosamin als erstem Monosaccharid-Baustein O-glykosidisch verknüpft, während N-glykosidische Bindungen zwischen Asparaginresten und N-Acetylglucosamin liegen. Die Oligosaccharide können linear oder verzweigt vorliegen. Bei Glykoproteinen überwiegt normalerweise der Proteinteil und der Kohlenhydratgehalt liegt meist unter 10%. Glykoproteine finden sich in allen Organismen sowohl unter den Enzymen als auch bei Strukturproteinen. Glykoproteine können wie Glykolipide in die Plasmamembran eingebaut sein, wobei wie bei den Glykolipiden der Kohlenhydratanteil stets nach außen weist. Gerade tierische Zellen sind somit von einem Mantel an Glykolipid- und Glykoprotein-gebundenen Kohlenhydraten umgeben, der als Glykocalyx bezeichnet wird.
18.4
Strukturprinzipien von Monosacchariden
In Konstitution, Koniguration und Konformation können sich nahe verwandte Kohlenhydrate unterscheiden, weshalb diese gerade in der Kohlenhydratchemie wichtigen Begrife kurz erläutert werden sollen. Konstitutionsisomere weisen die gleiche Summenformel, aber ein unterschiedliches Molekülgerüst auf. Bei Konformationsisomeren besteht der Unterschied nur in den Diederwinkeln, die sich durch Drehung um Bindungen ergeben. Konigurationsisomere (Stereoisomere) unterscheiden sich in der räumlichen Anordnung der Substituenten an Asymmetriezentren. Dabei können Enantiomere vorliegen, die sich wie Bild und Spiegelbild verhalten oder Diastereomere mit Unterschieden in mindestens einem, aber nicht allen Stereozentren.
18.4.1
Aldosen und Ketosen
Monosaccharide sind als Oxidationsprodukte mehrwertiger Alkohole aufzufassen. Durch Oxidation einer primären Hydroxylgruppe kommt man formal zu den Polyhydroxyaldehyden, den Aldosen. Durch Oxidation einer sekundären Hydroxylgruppe entstehen die entsprechenden Polyhydroxyketone, die Ketosen. Im einfachsten Fall,
18
nämlich der Oxidation von Glycerin, entsteht also Glycerinaldehyd als Aldose bzw. 2,3-Dihydroxayceton als Ketose ( > Abb. 18.1) Allgemein ergibt sich die Summenformel Cn(H2O)n. Nach Anzahl der Kohlenstofatome in der Kette werden Aldosen in Triosen (C3), Tetrosen (C4), Pentosen (C5), Hexosen (C6) und Heptosen (C7) eingeteilt; für Ketosen gilt entsprechend z. B. die Bezeichnung Tetrulose, Pentulose, Hexulose. Was die Nummerierung der C-Atome angeht, wird das am höchsten oxidierte C-Atom einer Aldose als C-1 bezeichnet ( > Abb. 18.1). Die häuig in der Natur vorkommenden Monosaccharide besitzen 3–6 C-Atome; solche mit 7 oder gar 8 C-Atomen sind schon selten. Die am weitesten verbreitete Aldose ist die Glucose, und, was Ketosen angeht, die Fructose. Monosaccharide besitzen mindestens ein asymmetrisches C-Atom. Nach dieser Deinition ist Dihydroxyaceton genau genommen noch kein Monosaccharid und die Ketosereihe beginnt eigentlich erst bei den Tetrulosen. Glycerinaldehyd, bei dem C-2 das asymmetrische C-Atom darstellt, dient als Bezug für die Zugehörigkeit eines Monosaccharids zur d- oder l-Reihe ( > Abb. 18.1). Mit wachsender Kettenlänge kommt mit jedem zusätzlichen C-Atom ein weiteres Asymetriezentrum dazu, sodass Tetrosen zwei, Pentosen drei und Hexosen vier asymetrische C-Atome besitzen ( > Abb. 18.1). Entsprechend gibt es bei Tetrosen zwei, bei Pentosen vier und bei Hexosen schon acht Diastereomere. Die jeweiligen Konstitutionsisomere haben eigene, voneinander abweichende chemisch-physikalische und physiologische Eigenschaten. Die Zuordnung zur d- oder l-Reihe geschieht in Abhängigkeit von der Koniguration des am weitesten von der Carbonylgruppe entfernten Chiralitätszentrums in der Kohlenstokette ( > Abb. 18.1). Die Zuordnung ist unabhängig von der Drehung der Ebene des polarisierten Lichtes durch entsprechende Monosaccharidlösungen, wobei für die Drehung alle chiralen C-Atome gemeinsam verantwortlich zeichnen. Die Rechtsdrehung wird mit (+) und die Linksdrehung mit (–) angegeben. Namensgebende Beispiele sind d-(+)-Glucose (Dextrose) oder d-(–)-Fructose (Laevulose). Wie ersichtlich, werden für einige altbekannte Monosaccharide ot noch die Trivialnamen und weniger die chemisch-systematischen Namen verwendet. Monosaccharide, die die gleiche Koniguration besitzen mit Ausnahme der Stellung der Hydroxylgruppe an einem einzigen Asymmetriezentrum, also an einem chiralen C-Atom, werden als Epimere bezeichnet (Beispiel: Glucose und Galactose sind C-4-Epimere).
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Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide
9 Formal lassen sich Kohlenhydrate aus einem Polyalkohol
. Abb. 18.1
Dihydroxyaceton Ketose
Oxidation
Glycerin
Oxidation
D-Glycerinaldehyd Aldose
L-Glycerinaldehyd Aldose
am höchsten oxydiertes C-Atom = Nr. 1
Asymmetrisches C-Atom mit höchster Nr. bestimmt Zugehörigkeit zur D- oder L-Reihe Hexose der D-Reihe
18.4.2
L-Reihe
Halbacetalbildung
Prinzipiell können Monosaccharide durch intramolekulare Halbacetalbildung stabile 5- und 6-gliedrige, sauerstofhaltige Ringsysteme ausbilden (mit Ausnahme von Glycerinaldehyd, Dihydroxyacton und Tetrulose). Dabei reagiert z. B. bei Aldohexosen entweder die Hydroxylgruppe
(hier Glycerol) ableiten. Durch Oxidation einer sekundären Hydroxygruppe kommt man zu den Polyhydroxyketonen oder Ketosen (hier Dihydroxyaceton), durch Oxidation einer primären Hydroxygruppe zu Polyhydroxyaldehyden oder Aldosen (hier Glycerinaldehyd). Im letzteren Falle entsteht an C-2 ein asymmetrisches C-Atom (eingerahmt), sodass Glycerinaldehyd in zwei enantiomeren Formen exisitieren kann. Konventionsgemäß wird bei D(+)-Glycerinaldehyd = R(+)Glycerinaldehyd die Hydroxygruppe am C-2 nach rechts, bei L(-)-Glycerinaldehyd = S(-)-Glycerinaldehyd nach links gezeichnet. Bei der Darstellung nach E. Fischer (Fischer-Projektion) muss man sich die übereinander stehenden C-Atome hinter und die rechts und links angeordneten Substituenten vor der Papierebene liegend vorstellen. Bei einem Monosaccharid mit mehr als 3 CAtomen (hier eine Hexose als Aldose) beginnt die Nummerierung bei der Aldehydgruppe. Die Hexose hat 4 asymmetrische C-Atome (C-2 bis C-5, eingerahmt). D-/L-Glycerinaldehyd dient als Standard für die Zuordnung von Monosacchariden als zur D- oder L-Reihe zugehörend, wobei die Stellung der Hydroxygruppe am asymmetrischen C-Atom mit der höchsten Nummer maßgeblich ist. Will man sich für die Stellung einer Hydroxygruppe nicht festlegen (rechts oder links an C-2 bis C-4), stellt man die entsprechende Bindung in gewellter Linie dar
an C-5 oder an C-4 mit der Carbonylgruppe an C-1 ( > Abb. 18.2). Der Vorgang kann als Ring-Ketten-Tautomerie bezeichnet werden. Überwiegend liegen Monosaccharide durch Zyklisierung sowohl in Lösung als auch in kristalliner Form als energieärmere Halbacetale vor. In Anlehnung an die Heterozyklen Furan und Pyran werden die sauerstohaltigen 6-gliedrigen Ringsysteme als Pyranosen bzw. Glykopyranosen und die fünfgliedrigen Ringsysteme als Furanosen bzw. Glykofuranosen bezeichnet ( > Abb. 18.2). Durch die Halbacetal-Bildung entsteht ein zusätzliches asymmetrisches C-Atom, das als anomeres C-Atom oder anomeres Zentrum bezeichnet wird und das sich in der Reaktivität seiner Hydroxylgruppe von derjenigen anderer Hydroxylgruppen des Monosaccharids deutlich unterscheidet. Die neu entstandenen Diastereomeren sind also Anomere: bei Aldosen 1-Epimere, bei Ketosen 2-Epimere. Konigurationsänderung am anomeren C-Atom ist Anomerisierung. Werden d-Furanosen oder d-Pyranosen nun so dargestellt, dass sich das Ring-Sauerstof-Atom
18.4 Strukturprinzipien von Monosacchariden
hinter der Papierebene und die Hydroxylgruppe am anomeren C-Atom unter dem Ring beindet, spricht man von D-ständiger Hydroxyl-Gruppe oder von D-Koniguration ( > Abb. 18.2). Beindet sich die anomere Hydroxylgruppe über dem Ring, spricht man von E-ständiger Hydroxylgruppe oder von E-Koniguration ( > Abb. 18.2). Die entprechenden l-Formen sind die Spiegelbilder der d-Formen eines Monosaccharids, wie in Abb. 18.2 am Beispiel der D-d-Glucopyranose und der D-l-Glucopyranose gezeigt. Die zyklischen Halbacetale der Monosaccharide werden auch als Lactole bezeichnet. Sie stehen mit den ofenkettigen Formen in einem tautomeren Gleichgewicht, über das die verschiedenen Formen ineinander übergehen können ( > Abb. 18.2). In wässriger Lösung bildet sich beispielsweise für Glucose ein Mutorotationsgleichgewicht aus, bei dem aus sterisch-energetischen Gründen ca. 64% E-d-Glucopyranose und ca. 36% D-d-Glucopyranose vorliegen, während die D- und E-Glucofuranosen zusammen unter 1% ausmachen und die ofenkettige Form kaum nachweisbar ist. Bei anderen Monosacchariden können völlig andere Verhältnisse vorliegen. Für Fructose z. B. ergibt sich folgende Gleichgewichtseinstellung: D-d-Fructopyranose 2,7%; E-d-Fructopyranose 64,8%, D-d-Fructofuranose 6,5% und E-d-Fructofuranose 25,3%. Wichtige, häuig vorkommende Pentosen und Hexosen sind in > Abb. 18.3 und > Abb. 18.4 dargestellt. Pentosen kommen in der Natur überwiegend in glykosidisch gebundener Form vor, wie z. B. in Nucleinsäuren oder Hemicellulosen, Gummen und Schleimpolysacchariden. Die in den unterschiedlichsten biologischen Systemen am weitesten verbreitete Hexose stellt die d-Glucose dar, gefolgt von d-Galactose, d-Mannose und d-Fructose.
18.4.3
Nomenklatur und Darstellung
Aus Gründen der Vereinfachung werden gerne abgekürzte Schreibweisen für Monosaccharide verwendet. Dabei gelten folgende Regeln: a) Die ersten 3 Buchstaben kennzeichnen die Art des Monosaccharids: Arabinose = Ara, Galactose = Gal, Rhamnose = Rha. Ausnahme: Glucose = Glc (da Glu = Glutaminsäure). b) Zur Kennzeichnung der Ringgröße wird das kursiv gesetzte Suix p für Pyranosen und f für Furanosen verwendet: Glcp = Glucopyranose.
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c) Anomere erhalten das Präix D oder E; für die Benennung der absoluten Koniguration wird das Präix d oder l benutzt: E-d-Glcp = E-d-Glucopyranose. d) Uronsäuren erhalten das Suix A (für acid): GalA = Galacturonsäure. e) Bei Aminozuckern steht das Suix N: GlcN = Glucosamin. Ist die Aminogruppe acetyliert, wird das Suix NAc benutzt: GalNAc = N-Acetyl-Galactosamin. Die zeichnerische Darstellung von Monosacchariden erfolgt nur noch selten als Kettenformel (nach Emil Fischer), sondern häuig als planares Ringsystem (nach Haworth). Aus Gründen der Übersichtlichkeit werden dabei häuig H-Atome weggelassen und OH-Gruppen nur noch als Strich dargestellt ( > Abb. 18.5). Die Darstellung nach Haworth wird im Folgenden wegen der besseren Einprägsamkeit meist bevorzugt. Allerdings stellt auch diese Darstellung eine Vereinfachung dar. Furanose-Ringe sind zwar planar, aber Pyranose-Ringe weisen im spannungsfreien Zustand andere KonInfobox Hermann Emil Fischer und Sir Walter Norman Haworth. Im Jahre 1902 erhielt Emil Fischer den Nobelpreis für Chemie für seine wegweisenden Arbeiten zur Strukturaufklärung und Synthese von Naturstoffen. Sie eröffneten den Weg für entscheidende Fortschritte in der Biochemie. Besonders ausgiebig hatte sich Fischer auch mit der Zuckerchemie befasst. Auf ihn gehen die Fischer-Projektionsformeln zurück, die durch zeichnerische, wenn auch nicht wirklichkeitsgetreue Darstellung das Verständnis für organische Moleküle erleichterte. Die Trennung verschiedener Zuckerarten gelang ihm mit Hilfe der Umsetzung mit Phenylhydrazin. Bei der jahrelangen Verwendung mit diesem Reagenz zog er sich Vergiftungen zu, die letztlich zu Darmkrebs und seinem Freitod führten. Im Übrigen synthetisierte Emil Fischer auch die Diäthylbarbitursäure, die dann als das Schlafmittel „Veronal“ breite Anwendung fand. Für seine Forschungen über Kohlenhydrate und Vitamin C erhielt Norman Haworth 1937 den Nobelpreis für Chemie. Er trieb u. a. über Methylierung die Strukturaufklärung von Monosachariden voran, bewies die Ringstruktur von Kohlenhydraten und führte die Begriffe Furanose und Pyranose in die Zuckerchemie ein sowie die heute noch übliche zyklische Haworth-Projektion bei der Zuckerdarstellung. Ihm gelangen auch Strukturaufklärung und Synthese von Vitamin C.
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Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide
. Abb. 18.2
α-D-Glucofuranose
β-D-Glucofuranose
D-Glucose
D-Glucose
α-D-Glucopyranose
β-D-Glucopyranose
α-L-Glucopyranose
18.4 Strukturprinzipien von Monosacchariden
18.4.4
. Abb. 18.3
D-Xylose
L-Arabinose
Xyl
Ara
D-Ribose
Rib
2-deoxy-D-Ribose d-Rib
Die abgebildeten Pentosen werden zur Biosynthese von pflanzlichen Zellwandpolysacchariden (Xylose und Arabinose) bzw. von Nucleinsäuren (Ribose in RNA, deoxy-Ribose in DNA) genutzt
formation als einen planaren Sechsring auf. Vorstellbar sind verschiedene Wannen- und Sesselformen. Wie sich zeigte, weisen Wannenformen meist einen höheren Energiegehalt auf und sind daher weniger begünstigt. Die Sesselformen können in zwei C-Konformationen autreten, die als 4C1 bzw. 1C4 bezeichnet werden, je nach Lage von C-1 und C-4 über oder unter der Papierebene. In der Regel weisen diejenigen Konformationen den geringeren Energiegehalt auf, bei denen mehr sperrige Gruppen (Hydroxymethylgruppe und Hydroxylgruppen) in der Äquatorialebene liegen. Für D- und E-d-Glucopyranose ist dann wie für die meisten Hexopyranosen die 4C1–Konformation die stabilere, bevorzugte Form ( > Abb. 18.5).
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Aldonsäuren, Uronsäuren und Aldarsäuren
In Aldonsäuren ist die Aldehydgruppe einer Aldose durch eine Carboxygruppe ersetzt. Der Name der entsprechenden Aldose endet dann mit dem Suix -onsäure. Beispiel: Oxidation von Glucose am C-1 über Gluconolacton, dem zyklischen Ester der Gluconsäure, zur Gluconsäure ( > Abb. 18.6). Bei Uronsäuren wird bei einer Aldose die primäre Hydroxygruppe in eine Carboxygruppe überführt und bei der Namensgebung das Suix -uronsäure verwendet. Beispiel: Oxidation von Glucose am C-6 zur Glucuronsäure ( > Abb. 18.4). Uronsäuren können auch innere J-Lactone bilden wie z. B. das 3,6-Lacton der Glucuronsäure. Aldonsäuren und Uronsäuren sind Monocarboxysäuren. Werden beide terminale Gruppen einer Aldose durch Carboxygruppen ersetzt, wird als Dicarboxysäure eine Aldarsäure erhalten. Besonders Glykuronsäuren sind Bausteine zahlreicher saurer Polysaccharide und Glykokonjugate. Galacturonsäure indet sich z. B. in planzlichen Zellwandpolysacchariden wie Pektinen oder in planzlichen Polysaccharidschleimen, während Glucuronsäure besonders in tierischen Glykosaminoglykanen vorkommt. Darüber hinaus spielt Glucuronsäure eine wichtige Rolle bei der Metabolisierung von Xenobiotika z. B. in der Leber des tierischen Organismus, da Glucuronidierung als eine mögliche Phase-II-Reakton die Wasserlöslichkeit eines Xenobitikums erhöht und damit renale Elimination ermöglicht. Mannuronsäure und Guluronsäure sind auch verbreitete Bausteine in Zellwandpolysacchariden von Algen.
9 Ein in der Fischer-Projektion linear gezeichnetes Monosaccharid (hier D-Glucose) kann perspektivisch auch in der Aufsicht gezeichnet werden. Dabei kann die Hydroxylgruppe am C-5 oder an C-4 in sterisch günstige Stellung zur Carbonylgruppe am C-1 gelangen, sodass durch intramolekularen nukleophilen Angriff unter zyklischer Halbacetalbildung (Ringbildung) entweder ein sechsgliedriges pyranoides oder ein fünfgliedriges furanoides Ringsystem gebildet wird. Dabei entsteht an C-1 eine neue, so genannte glykosidische Hydroxylgruppe und ein zusätzliches asymmetrisches, chirales, so genanntes anomeres Zentrum mit je zwei unterschiedlichen Möglichkeiten der Stellung der Hydroxylgruppe. In der häufig verwendeten Haworth-Darstellung werden die in der Fischer-Projektion rechts liegenden OH-Gruppen unter die Ringebene gezeichnet und diejenigen links der Kette als darüber stehend. Steht die glykosidische OH-Gruppe am anomeren C-1 nach unten, liegt in der D-Reihe die α-anomere Form vor; steht sie nach oben, ergibt sich eine β-anomere Stellung der OHGruppe. Die L-Form eines Monosaccharids ist das Spiegelbild der D-Form, wie hier am Beispiel der α-L-Glucopyranose als Spiegelung der α-D-Glucopyranose gezeigt
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484
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Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide
. Abb. 18.4
Hexosen
D-Glucose
D-Galactose
Gal
Glc
D-Mannnose
Man
Hexuronsäuren
D-Glucuronsäure
D-Galacturonsäure
GalA
GlcA
D-Mannuronsäure
ManA
2-Amino2-DeoxyHexosen D-Glucosamin
GlcN
D-Galactosamin
D-Mannosamin
ManN
GalN
2-Acetylamino2-DeoxyHexosen
N-Glucosamin
N-Acetyl-
D-Glucosamin
D-Galactosamin
GlcNAc
GalNAc
N-AcetylD-Mannosamin ManNAc
Hexulosen
β-D-Fructofuranose
β-D-Fructopyranose
Es sind zunächst die 3 häufigsten Hexosen dargestellt: Glucose, Galactose und Mannose. Galactose ist 4-epimer und Mannose ist 2-epimer zu Glucose, d. h. nur die entsprechenden OH-Gruppen sind jeweils umgeklappt. Bei den sich ableitenden Hexuronsäuren ist die primäre Alkoholgruppierung am C-6 zur Carboxylgruppe aufoxidiert. Die von den Hexosen abgeleiteten Aminozucker tragen an C-2 statt einer OH- eine Aminogruppe. Ist diese zusätzlich acetyliert, resultieren die entsprechenden N-Acetyl-Glykosamine. In abgekürzter Schreibweise kann die Acetylaminogruppe (wie bei N-Acetyl-DMannosamin gezeigt) einfach als NAc-Gruppe geschrieben werden. Fructose, eine Hexulose, liegt in wässriger Lösung zu ca. 68% in Pyranoseform und nur zu etwa 32% furanosidisch vor, während sie in glykosidischer Bindung normalerweise in Furanoseform vorkommt
18.4 Strukturprinzipien von Monosacchariden
. Abb. 18.5
D-D-Glucopyranose
18
9 Es sind hier verschiedene Darstellungsmöglichkeiten für
E-D-Glucopyranose
α- und β-D-Glucopyranose gezeigt. In der Haworth-Projektion (a–d und g–k) können aus Gründen der Übersichtlichkeit H-Atome weggelassen werden (b und h) oder OHGruppen nur noch als Strich gezeichnet werden (c und i). Meist wird in der Haworth-Darstellung der Ringsauerstoff hinten rechts in den Pyranosering gezeichnet, wodurch das anomere C-1-Atom rechts außen zu liegen kommt. Selbstverständlich kann der Ring aber auch gedreht oder, wie hier gezeigt, nach vorne geklappt werden (c nach d), was nützlich sein kann für die Darstellung von glykosidisch verknüpften Monosacchariden ( > z. B. Abb. 18.13: Maltose). Zur Erleichterung der räumlichen Vorstellung betrachte man seine rechte Handinnenfläche, wobei die Position des Daumens dem Ringsauerstoff entspricht. Der zusätzlich abgewinkelter Zeigefinger als CH2OH-Gruppe zeigt nach oben. Wird nun die Hand auf den Rücken gedreht, liegt der Daumen (Ringsauerstoff ) rechts vorn und der abgewinkelte Finger (die CH2OH Gruppe) zeigt nach unten. Unter Berücksichtigung der spannungsfreien Bindungswinkel und unter energetischen Gesichtspunkten ergibt sich für die meisten Pyranosen eine 4C1-Konformation, wie hier für α- und β-D-Glucopyranose gezeigt. (e, f und l, m). Günstig ist dabei, dass die primäre Alkoholgruppierung sowie die meisten OH-Gruppen äquatorial (ae) liegen. Bei α-D-Glucopyranose steht die anomere OH-Gruppe am C-1 axial (ax), während sie bei β-D-Glucopyranose äquatorial liegt. Dies bedingt bei der Ausbildung glykosidischer Bindungen unterschiedliche Bindungswinkel und ist eine der Ursachen für völlig verschiedene Eigenschaften von z. B. Maltose und Cellobiose ( > Abb. 18.13), bei denen zwei Glucosen α- bzw. β-1,4glykosidisch miteinander verknüpft vorliegen
18.4.5
Glykonsäuren sind seltener anzutrefen; Beispiele sind Neuraminsäure in Glykokonjugaten tierischer Organismen oder die Octulonsäure Kdo als Baustein bakterieller Lipopolysaccharide ( > Abb. 18.11) Besonders verschiedene Pilze und Bakterien verfügen über Glucoseoxidasen, die Glucose zu Gluconsäure oxidieren können. Entsprechende Enzyme können zur enzymatischen Glucosebestimmung genutzt werden.
Aminozucker und AcetylAminozucker
Wird bei einem Monosaccharid eine Hydroxygruppe durch eine Aminogruppe ersetzt, liegt ein Aminozucker vor. Die häuigsten Aminozucker sind 2-Amino-2-deoxyhexosen wie d-Glucosamin, d-Galactosamin und d-Mannosamin, die Bausteine vieler tierischer Glykokonjugate darstellen ( > Abb. 18.4). Ot liegt die Aminogruppe in N-acylierter, meist in N-acetylierter Form vor, sodass N-Acetyl-Aminozucker entstehen ( > Abb. 18.4). N-Acetyl-Glucosamin ist z. B.
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Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide
. Abb. 18.6
Glucose
Gluconolacton
Gluconsäure
Wird die Aldehydgruppe einer Aldose (hier Glucose) am C-1 oxidiert, entsteht über die Zwischenstufen des entsprechenden Lactons eine Aldonsäure (hier Gluconsäure). Die Umsetzung kann mit milden Oxidationsmitteln oder enzymatisch durch spezifische Glucoseoxidasen erfolgen
Baustein des Polysaccharids Chitin, der Gerüstsubstanz der Zellwände von Pilzen oder der Außenhaut (des Panzers) von Insekten und Krebsen.
18.4.6
. Abb. 18.7
Deoxy-Zucker
Monosaccharide, bei denen eine Hydroxylgruppe durch ein H-Atom ersetzt wurde, werden als Deoxy-Zucker bezeichnet ( > Abb. 18.7). Sind zwei Hydroxylgruppen weggefallen, entstehen Dideoxyzucker ( > Abb. 18.7). Der wohl bekannteste Deoxyzucker, nämlich 2-deoxy-d-Ribose ( > Abb. 18.3), ist Baustein der DNA (namensgebend: Deoxyribonucleinsäure). Daneben kommen Deoxyzucker in bakteriellen Lipopolysacchariden als Bestandteile bakterieller Zellwände, aber auch in planzlichen Zellwandpolysacchariden (besonders Rhamnose und Fucose) oder in verschiedenen planzlichen Sekundärstofwechselprodukten wie Herzglykosiden vor. Auch für Deoxy-Zucker werden gerne Trivialnamen verwendet, so z. B. 6-Deoxy-l-galactopyranose = l-Fucopyranose (Fucose) oder 6-Deoxy-l-mannopyranose = l-Rhamnopyranose (Rhamnose). Durch Wegfall von einer oder zwei OH-Gruppen entste- 7 hen Deoxy- oder Dideoxyzucker. Rhamnose und Fucose sind 6-Deoxy-Zucker, die z. B. in einigen pflanzlichen Zellwandpolysacchariden vorkommen. Die anderen hier dargestellten Deoxyzucker (teilweise mit O-Methyl-Gruppen) finden sich u. a. in verschiedenen Glykokonjugaten des pflanzlichen Sekundärstoffwechsels wie z. B. in Herzglykosiden
α-L-Rhamnose
β-D-Fucose
β-D-Digitalose
α-L-Thevetose
β-D-Digitoxose
β-D-Cymarose
α-L-Oleandrose
β-D-Diginose
18.4 Strukturprinzipien von Monosacchariden
18.4.7
Zuckeralkohole: Alditole
Werden Monosaccharide unter milden Bedingungen reduziert, wird ein H-Atom an die Carbonyl-Funktion angelagert und es entstehen Polyhydroxyalkane, die auch als Polyole, Zuckeralkohole oder Alditole mit dem Namenssuix -itol bezeichnet werden. Der einfachste Zuckeralkohol ist Glycerol, das einzig mögliche Triitol. Pentosen liefern Pentitole, Hexosen ergeben Hexitole. Die Reduktion einer Aldose ergibt ein Alditol ( > Abb. 18.8). So wird z. B. Glucose reduziert zu Glucitol (Trivialname: Sorbitol) oder Galactose zu Galactitol (Trivialname: Dulcitol). Bei der Reduktion von Ketosen entstehen Diastereomeren-Paare. Zum Beispiel wird Fructose reduziert zu Glucitol und Mannitol. Alditole schmecken unterschiedlich süß. Einige Alditole spielen z. B. bei Planzen eine Rolle als chemisch resistente Speicher- und Transportform von Kohlenhydraten. Für einige Alditole existieren ebenfalls Trivialnamen, die sich am biologischen Vorkommen und der Erstisolierung orientieren (Beispiele: Sorbitol aus Sorbus-Arten, Mannitol aus Manna).
18.4.8
18
Cyclitole
Polyhydroxycyclohexane oder Cyclitole stehen den Monosaccharid-Alkoholen nahe. Cyclohexan stellt das Grundgerüst der Inositole und verwandter Verbindungen dar. Cyclitole entstammen dem Kohlenhydratstofwechsel und entstehen letzlich aus Glucose-6-Phosphat. Myo-Inositol, das wohl am weitesten verbreitete Cyclitol, kommt als Baustein von Glykolipiden in Biomembranen aller Organismen vor ( > Abb. 18.9). Myo-Inositol kommt in der Muskulatur in freier Form, in Leber und Gehirn als Phosphatester vor. Calcium- und Magnesiumsalze des Hexaphosophorsäure-Esters von myo-Inositol, dem Phytin ( > Abb. 18.9), können in planzlichen Geweben als Phosphatspeicher dienen wie z. B. bei Getreidefrüchten (Weizen, Roggen, Hafer) in den Globoiden der Aleuronschicht. Einigen Mikroorganismen dient myo-Inositol als Wuchshormon. Sequoyitol kommt nur bei Gymnospermen, nicht jedoch bei Angiospermen vor. Pinitol indet sich in Zweigen und Nadeln der Nadelbäume, aber auch bei Vertretern z. B. der Phytolaccaceae oder der Caryophyllaceae.
. Abb. 18.8
Aldose
Fructose Glucose
Mannose
Galactose
Xylose
Reduktion
Alditol
Glucitol (Sorbit) Glc-ol
Mannitol (Mannit) Man-ol
Galactitol (Dulcit) Gal-ol
Xylitol (Xylit) Xyl-ol
Reduktion der Aldehydgruppe einer Aldose am C-1 lässt entsprechende Alditole entstehen, die häufig noch mit ihren in Klammer gesetzten Trivialnamen bezeichnet werden. Bei der Reduktion einer Ketose an der Ketogruppierung an C-2 entstehen zwei epimere Alditole, wie hier am Beispiel der Bildung von Glucitol und Mannitol aus Fructose gezeigt
487
488
18
Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide
. Abb. 18.9
myo-Inositol
Sequoyitol
Polysacchariden (Glykogen, Stärke) und Glykokonjugaten. Sulfatierte Monosaccharide sind Bausteine der Glykosaminoglykane des Säugetierorganismus, kommen aber auch in interzellulären Polysacchariden z. B. von Algen vor ( > Algen-Polysaccharide). Phytinsäure
D-Pinitol
Cyclohexan ist das Grundgerüst der Inositole. Stammverbindung aller Cyclitole ist myo-Inositol. Dessen Phosphatester, nämlich myo-Inositol-1-Phosphat, wird durch Zyklisierung (Cycloaldolase) aus Glucose-6-Phosphat gebildet. Besonders in vielen Membranlipiden findet sich myo-Inositol (z. B. Phosphatidyl-Inositol). Daneben wird von vielen Pflanzen Galactinol, ein Disaccharid aus Galactose und myo-Inositol, für die Biosynthese von Oligosacchariden der Raffinosereihe verwendet ( > Abb. 18.14). Als Phosphatspeicher kann bei Pflanzensamen oder in Erythrozyten von Vögeln nach Phosphorylierung aller OH-Gruppen die Phytinsäure dienen. Sequoyitol und Pinitol sind typische Cyclitole u. a. der gymnospermen Pflanzen
18.4.9
Zuckerester: phosphorylierte und sulfatierte Monosaccharide
Wird an einer Hydroxygruppe eines Monosaccharids das H-Atom durch eine Phosphat- oder eine Sulfatgruppe ersetzt, entstehen phosphorylierte oder sulfatierte Derivate. Diese stellen die häuigsten Zuckerester dar, die in der Natur vorkommen. Glucose-6-phosphat, Glucose-1phosphat und Glucose-1,6-diphosphat sind wichtige energiereiche Verbindungen im Kohlenhydratstofwechsel ( >Abb. 18.10, > auch Abb. 18.16). Auch bei Nukleotidgebundenen Monosacchariden wie z. B. der Urdidindiphosphat-Glucose (UDPG) liegt eine Zucker-PhosphatEsterbindung vor ( > Abb. 18.10), wodurch sich ein hohes Gruppenübertragungspotential für die Glucose ergibt. UDPG spielt damit ebenso wie Adenosindiphosphat-Glucose (ADPG) eine wichtige Rolle für die Biosynthese von
18.4.10 Besondere Monosaccharide Neben den häuig in der Natur anzutrefenden Monosacchariden gibt es auch Monosaccharide, die mehr oder weniger speziisch von bestimmten Organismen gebildet werden. Sie können Bausteine verschiedener Verbindungen meist des Sekundärstofwechsels darstellen, so z. B. von Glykosid-Antibiotika aus Mikroorganismen. Dazu gehören auch verzweigtkettige Zucker wie z. B. Streptose, Cladinose oder Apiose ( > Abb. 18.11), wobei Letztere in planzlichen Zellwand-Polysacchariden weiter verbreitet ist als ursprünglich angenommen. In der Zellwand der Eubakterien ist das Peptidoglykan Murein die wesentliche Gerüstsubstanz. Im Murein sind lange Glykanketten mit alternierender Abfolge von N-Acetyl-Muraminsäure ( > Abb. 18.11) und N-Acetyl-Glucosamin durch Peptide untereinander vernetzt. Sedoheptulose ( > Abb. 18.11) kommt im Hexose-Phosphat-Zyklus vor. Integriert in die äußere Membran der gramnegativen Bakterien inden sich Lipopolysaccharide, die 2-Keto-3-deoxyoctonsäure ( > Abb. 18.11) als charakteristischen Baustein aufweisen. N-Acetyl-Neuraminsäure ( > Abb. 18.11) ist eine typische Komponente tierischer membranbildender Glykolipide und vieler Glykoproteine.
18.5
Strukturprinzipien von Oligosacchariden
18.5.1
Vollacetalbildung und O-glykosidische Bindung
Die besonders reaktionsfähige Hydroxygruppe am anomeren C-1 bei Aldosen (oder C-2 bei Ketosen) kann leicht durch Reaktion mit einer Hydroxygruppe eines Reaktionspartners unter Wasserabspaltung verknüpt werden, wodurch ein Acetal entsteht. Die Verknüpfung wird als O-glykosidische Bindung bezeichnet. Bei der Ausbildung der O-glykosidischen Bindung spielt die Koniguration der beteiligten Hydroxygruppe am anomeren C-Atom eine wichtige Rolle. Bei D-ständiger Stellung ergibt sich
18.5 Strukturprinzipien von Oligosacchariden
18
. Abb. 18.10
Glucose-1-phosphat Glc-1-P
Fructose-6-phosphat Fru-6-P
Glucose-6-phosphat Glc-6-P
Fructose-1,6-diphosphat Fru-1,6-P
Uridindiphoshat-Glucose UDPG
Phosphorylierte Monosaccharide spielen als aktivierte Verbindungen im Stoffwechsel aller Organismen eine zentrale Rolle, wobei hier die wichtigsten Glucose- und Fructosephosophate dargestellt sind ( > auch Abb. 18.16). Die nukleotidgebundenen Zucker (hier Uridindiphosphat-Glucose = UDPG) entstehen durch enzymatische Umsetzung von Glucose1-Phosphat mit entprechenden Nukleotiden (hier Uridintriphosphat = UTP). UDPG ist z. B. Glucosedonator für die Biosynthese von Saccharose oder von Glykogen. Andere Zuckernukleotide werden als Zuckerdonatoren für andere Biosynthesen genutzt, so z. B. Adenosindiphosphat-Glucose (ADPG) für die Stärke-Biosynthese
eine D-glykosidische, bei E-Koniguration eine E-glykosidische Verknüpfung ( > Abb. 18.12). O-Glykosid-Bildung ist ganz allgemein mit Alkoholen, phenolischen Hydroxygruppen und Carbonsäuren möglich; im letzten Fall resultieren Esterglykoside. Entsprechende Verbindungen können allgemein als O-Glykoside bezeichnet werden ( > Abb. 18.12). Handelt es sich beim Reaktionspartner um ein weiteres Monosaccharid, ist ein Disaccharid entstanden. Ist der Reaktionspartner kein Kohlenhydratmolekül, entsteht ein Heterosid ( > Abb.
18.12). Bekannte Heteroside sind z. B. die Herzglykoside oder viele Anthraglykoside und Flavonoide.
18.5.2
N-glykosidische und C-glykosylische Bindung
Die anomere Hydroxygruppe eines Monosaccharids kann unter Wasserabspaltung auch mit der NH-Gruppe eines Reaktionspartners reagieren. Es resultiert eine N-glyko-
489
490
18
Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide
. Abb. 18.11
L-Cladinose
L-Mycarose
L-Streptose
D-Apiose
N-Acetyl-muraminsäure MurNAc
3-Deoxy-D-manno-octulonsäure 2-Keto-3-deoxyoctonsäure Kdo
D-Sedoheptulose
5-Acetamido-3,5-dideoxy-D-glyceroD-galacto-nonulonsäure N-Acetyl-Neuraminsäure NeuNAc
Verzweigtkettige Monosaccharide wie Cladinose, Mycarose, Streptose oder Apiose finden sich in besonderen Stoffwechselprodukten wie den Glykosidantibiotika. Apiose ist darüber hinaus auch in einigen pflanzlichen Zellwandpolysacchariden enthalten. N-Acetyl-Muraminsäure (N-Acetyl-3-O-carboxyethyl-D-glucosamin) ist Baustein des Mureins der bakteriellen Zellwand. Sedoheptulose (an C-7-OH phosphoryliert) ist eine der Zwischenverbindungen sowohl im reduktiven als auch im oxidativen Hexose-Phosphat-Zyklus. Keto-deoxyoctonsäure kommt in Lipopolysacchariden in der äußeren Membran der gramnegativen Bakterien als typischer Baustein vor. N-Acetyl-Neuraminsäure, eine Nonulose, ist in tierischen Glykolipiden und Glykoproteinen ein häufig anzutreffendes terminales Monosaccharid
18.5 Strukturprinzipien von Oligosacchariden
18
. Abb. 18.12
β-glykosidisch O-glykosidische Bindungen R kann sein - ein Aglykon - ein weiteres Zucker-Molekül
α-glykosidisch
N-glykosidische Bindung
Bei Reaktion der glykosidischen OH-Gruppe eines Monosaccharids mit einem nukleophilen Reaktionspartner entstehen unter Wasserabspaltung so genannte Glykoside. Ist die reaktive Gruppe des Reaktionspartners eine OH-Gruppe (R-OH), entsteht eine O-glykosidische Verknüpfung, die je nach Stellung der ursprünglichen glykosidischen OH-Gruppe α- oder β-glykosidisch sein kann. Ist der Reaktionspartner ein weiteres Monosaccharid, ist ein Disaccharid entstanden. Der Reaktionspartner kann aber auch eine andere Verbindung (ein Aglykon) darstellen, sodass ein Heterosid entsteht. Bei Reaktion der glykosidischen OH-Gruppe mit einer R-NH-Gruppe des Reaktionspartners entsteht ein N-Glykosid
sidische Bindung oder ein N-Glykosid ( > Abb. 18.12). N-glykosidische Bindung indet sich z. B. bei Nukleotiden zwischen Pentose und Purin- oder Pyrimidinbase und folglich auch bei Nucleinsäuren. Bei Glykoproteinen kommen sowohl O- als auch N-glykosidische Verknüpfung vor. Sind Kohlenhydrate über eine C-C-Verknüpfung mit einem Aglykon verknüpt, liegt natürlich keine glykosidische, sondern eine C-glykosylische Verknüpfung vor, die wesentlich höhere Hydrolysestabilität aufweist. Dieser Bindungstyp ist beispielsweise bei einigen Anthraglykosiden oder Flavonoiden zu inden. Allgemein kann für eine Verbindung aus Kohlenhydraten und anderen Molekülen die Bezeichnung Glykokonjugat gewählt werden. Typische Glykokonjugate sind z. B. Glykoproteine, Glykolipide, Lipopolysaccharide oder Peptidoglykane und viele planzliche Sekundärstofwechselprodukte.
18.5.3
Di- und Oligosaccharide
Ist bei der Ausbildung einer glykosidischen Bindung an einem Monosaccharid der zweite Reaktionspartner ein weiteres Monosaccharid, ist selbstverständlich von Bedeutung, welche seiner Hydroxygruppen mit der anomeren Hydroxygruppe des ersten Monosaccharides reagiert. Meist ist beim zweiten Monosaccharid die anomere Hydroxygruppe nicht beteiligt, sodass ein reduzierendes Disaccharid entsteht, das Mutorotation zeigt. Typisches Beispiel ist die Maltose, bei der 2 Glucosemoleküle über D-1,4glykosidische Bindung miteinander verknüpt vorliegen ( > Abb. 18.13). Entsprechende andere Disaccharide mit einem reduzierenden und einem nichtreduzierenden Ende werden als dem Maltosetyp zugehörig bezeichnet. Sind bei der Bildung einer O-glykosidischen Bindung beide halbacetalischen Hydroxygruppen der Monosaccharide beteiligt, entsteht ein nichtreduzierendes Disaccharid, das auch keine Mutorotation mehr aufweist. Werden z. B. 2 Glucosemoleküle D,Dc-1,1-glykosidisch
491
492
18
Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide
. Abb. 18.13
Glc
Glc Maltose
Glc
Glc Cellobiose
Glc
Gal Lactose
Glc Glc Saccharose
′ α,α′-Trehalose Fru
Glc
18.6 Organoleptische Eigenschaften von Kohlenhydraten
verknüpt, entsteht Trehalose, ein Disaccharid, das in Planzen und in der Hämolymphe vieler Insekten vorkommt ( > Abb. 18.13). Hier kann vom Trehalosetyp für andere solche Disaccharide gesprochen werden. Von den natürlich autretenden Disacchariden sind besonders die Disaccharide Saccharose (Trehalosetyp) sowie Maltose und Lactose (Maltosetyp) von praktischer Bedeutung. Bei der Verknüpfung zweier Monosaccharide ergeben sich viele Verknüpfungsmöglichkeiten, da jedes Monosaccharid mehrere funktionelle Hydroxy-Gruppen besitzt und die sterische Stellung am anomeren C-Atom variieren kann. Allein für die Verknüpfung von zwei Molekülen Glucose sind damit 3 nicht-reduzierende und 8 reduzierende Disaccharide denkbar. Dies erklärt einerseits die hohe Strukturkomplexität von Oligo- und Polysacchariden. Andrerseits realisiert die Natur zum Glück nicht alle vorstellbaren Verknüpfungsmöglichkeiten von Kohlenhydraten, sondern beschränkt sich häuig auf bestimmte Muster. Werden Disaccharide um weitere Monosaccharide durch Knüpfung O-glykosidischer Bindungen vergrößert, entstehen zunächst Oligosaccharide. Dabei können gleiche, aber auch verschiedene Monosaccharid-Typen sowie gleiche oder verschiedene glykosidische Bindungen am Aubau eines Oligosaccharids beteiligt sein ( > Abb. 18.14). Oligosaccharide können in allen planzlichen Geweben vorkommen. In Speicherorganen wie Früchten, Wurzeln, Knollen und Rhizomen können sie Reservefunktion ausüben. Als planzliche Assimilate und z. T. als Speicherstofe sind die Trisaccharide Gentianose und Rainose sowie das Tetrasaccharid Stachyose und schließlich Ver-
18
bascose als Pentasaccharid ( > Abb. 18.14) erwähnenswert. Die drei letztgenannten gehören wegen des prinzipiell gemeinsamen Baus der so genannten Rainosefamilie an.
18.6
Organoleptische Eigenschaften von Kohlenhydraten
Die Bezeichnung „Zucker“ für Kohlenhydrate impliziert, dass süß schmeckende Verbindungen vorliegen. Häuig sind Kohlenhydrate jedoch in geschmacklicher Hinsicht völlig indiferent oder durch andere Geschmacksrichtungen charakterisiert. Als eigentlich „süß“ schmeckende Kohlenhydrate kommen nur relativ wenige Mono- und Oligosaccharide sowie entsprechende Zuckeralkohole in Frage. Einige Oligosaccharide sind sogar ausgesprochen bitterschmeckend wie beispielsweise das Trisaccharid Gentianose. Für D-d-Mannose wird ein süß-bitterer Geschmack angegeben, ebenso wie für einige, in Heterosiden gebunden vorkommende Oligosaccharide. Erwähnt werden muss auch, dass es stark süß schmeckende Verbindungen gibt, die gar nicht der Klasse der Kohlenhydrate angehören, so z. B. die Steviol-Glykoside (Diterpenglykoside) aus Stevia rebaudiana (Asteraceae) oder der synthetische Süßstof Aspartam (l-Asparatyll-phenylalaninmethylester), der sich von Aminosäuren ableitet ( > Tabelle 18.1). Schon d-Phenylalanin alleine schmeckt etwas süß, während l-Phenylalanin eher bitteren Geschmack aufweist. Im Übrigen schmeckt D-d-Glucose stärker süß als E-d-Glucose.
9 Maltose (Malzzucker) ist ein Disaccharid, bei dem 2 Glucosemoleküle α-1,4-glykosidisch miteinander verknüpft sind. Da noch eine freie glykosidische Gruppe vorliegt, handelt es sich um ein reduzierendes Disaccharid. Auch Cellobiose mit β-1,4-glykosidischer Verknüpfung von 2 Glucoseeinheiten sowie Lactose (Milchzucker) mit β-1,4-glykosidischer Verknüpfung von Galactose und Glucose gehören als reduzierende Disaccharide zur Maltosefamilie. Bei Trehalose sind die beiden Glucoseeinheiten unter Beteiligung beider glykosidischer Gruppen verknüpft, sodass sich ein nicht reduzierendes Disaccharid ergibt. Entsprechendes gilt für Saccharose (Rohrzucker), die damit zur Trehalosefamilie gehört. Die systematischen Namen für die Verbindungen sind: Maltose = 4-O-(α-D-Glucopyranosyl)-D-glucopyranose Cellobiose = 4-O-(β-D-Glucopyranosyl)-D-glucopyranose Lactose = 4-O-(β-D-Galactopyranosyl)-D-glucopyranose Trehalose = α-D-Glucopyranosyl-α-D-glucopyranosid Saccharose = β-D-Fructofuranosyl-α-D-glycopyranosid Bei den hier dargestellten reduzierenden Disacchariden ist die sterische Lage der freien glykosidische OH-Gruppe nicht festgelegt (gewellte Bindung). Sie kann α- oder β-ständig sein, sodass z. B. Maltose als α- oder β-Maltose vorliegen kann. Der systematische Name für β-Maltose wäre dann 4-O-(α-D-Glucopyranosyl)-β-D-glucopyranose
493
494
18
Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide
. Abb. 18.14
Melbiose
Raffinose
Gentianose
Verbascose
Stachyose
18
18.6 Organoleptische Eigenschaften von Kohlenhydraten
Praktische Bedeutung als Süßungsmittel haben Saccharose, Glucose, Fructose, Lactose und ferner die Zuckeralkohole Sorbit, Mannit und Xylit. Weiterhin werden komplexe Gemische als Süßungsmittel eingesetzt, in denen Mono- und Oligosaccharide vorliegen wie z. B. Stärkesirup, der ein Gemisch aus Glucose, Maltose und Maltooligosacchariden darstellt, ferner fructose- und glucosehaltige Sirupe (Invertzucker) wie Honig. Die als Süßungsmittel bekannten Zucker unterscheiden sich hinsichtlich der Qualität und der Quantität des süßen Geschmacks. Besonders Saccharose wird als angenehm süß empfunden und zeigt auch bei höheren Konzentrationen akzeptierbare Süßwerte. Die Ermittlung der Intensität des Süßgeschmacks ist durch den Erkennungsschwellenwert oder durch den Vergleich mit einer Referenzsubstanz (in der Regel Saccharose) möglich ( > Tabelle 18.1). Der Schwellenwert steht in Beziehung zur Ainität der süß schmeckenden Substanz zu den Geschmacksrezeptoren auf der Zunge, wobei an der Zungenspitze ein Areal mit erhöhter Empindlichkeit für süß existiert. Die Konzentrationsabhängigkeit der Geschmacksintensität ist von Verbindung zu Verbindung unterschiedlich. Die relativen Süßwerte hängen nicht nur von der chemischen Struktur ab, sondern auch von Temperatur, pH-Wert der Lösung und Anwesenheit weiterer Verbindungen Die Temperaturabhängigkeit der Geschmacksintensität ist z. B. bei d-Fructose besonders ausgeprägt. Der Süßwert beträgt bei 20 °C etwa 140 und fällt bei höheren Temperaturen auf den Wert von 80 ab. Die Voraussetzungen für das strukturgebundene süße Geschmacksempinden ist auf der Süßstofseite ein Protonen-Donator-Akzeptor-System, das durch eine hydrophobe Gruppe ergänzt werden kann. Dieser Komplex tritt mit dem komplementären System des Geschmacksrezeptors mit elektrophiler und nukleophiler Gruppe in Wechsel-
. Tabelle 18.1 Relative Süßkraft von Kohlenhydraten, einigen süß schmeckenden anderen Naturstoffen sowie von synthetischen Süßstoffe Kohlenhydrate Saccharose (Referenzsubstanz)
1
D-Fructose
1,2–1,7
D-Glucose
0,7
D-Galaktose
0,6
D-Mannose
0,4
Lactose
0,4
Maltose
0,4–0,5
Raffinose
0,2
D-Mannitol
0,4–0,6
D-Sorbitol
0,5
D-Xylitol
1–1,1
Glycerol
0,5–0,6
Maltitol
0,8–0,9
Isomalt
0,5–0,6
andere Naturstoffe Steviol-Glykoside
300
Neohesperidindihydrochalkon
500–1500
Glycyrrhizin
50
synthetische Süßstoffe Saccharin (Benzoesäuresulfinid)
550
Aspartam (L-Asparatyl-L-phenylalaninmethylester)
200
Cyclamat (Cyclohexansulfamidsäure)
20–50
9 In Oligosacchariden sind mehrere (bis zu 10) gleiche oder auch verschiedene Monosaccharide O-glykosidisch miteinander verknüpft, wobei gleiche oder unterschiedliche glykosidische Bindungen vorkommen können. Der Typ der glykosidischen Bindung kann der Darstellung entnommen werden. Wird Saccharose um 1–3 Galactoseeinheiten verlängert, resultieren die Oligosaccharide Raffinose, Verbascose und Stachyose. Diese Reserve-Oligosaccharide einiger höherer Pflanzen gehören damit zur Raffinosefamilie. Je nachdem, welche der beiden glykosidischen Bindungen bei der Raffinose enzymatisch gespalten wird, entstehen die Disaccharide Saccharose oder Melbiose. Gentianose ist ein Trisaccharid, bei dem Saccharose um eine Glucoseeinheit verlängert wurde. Gentianose ist ein Reservekohlenhydrat in den Wurzeln der Gentianaceae. Abspaltung von Fructose aus Gentianose würde zum Disaccharid Gentiobiose führen. Gentiobiose kommt in verschiedenen Glykosiden (z. B. im Amygdalin) in glykosidisch gebundener Form vor. Beispielhaft sei der (komplexe) systematische Name eines der Oligosaccharide angeführt: Raffinose = 6-O-(α-D-Galactopyranosyl)-α-D-Glucopyranosyl-β-D-fructofuranosid
495
496
18
Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide
wirkung und rut aufgrund unterschiedlicher Stärke der Komplexbildung und somit bei unterschiedlichen Schwellenwerten die Empindung „süß“ hervor. Dabei spielen wahrscheinlich an der Rezeptormembran so genannte GProteine und intrazelluläre c-AMP-Spiegel eine wichtige Rolle. Am Süßrezeptor wird durch Bindung des Süßstofs eine Untereinheit (D-Gustducin) aktiviert. Gustducin wiederum aktiviert dann eine Adenylatcyclase, die den intrazellulären c-AMP-Spiegel ansteigen lässt. Dadurch werden K+-Kanäle blockiert, wodurch das Ruhepotential nicht mehr aufrechterhalten werden kann und aufgrund der erfolgenden Depolarisation ein Aktionspotential ausgelöst wird.
18.7
Kohlenhydrate im Stoffwechsel
Von der theoretisch denkbaren riesigen Vielfalt an Monosacchariden beschränkt sich die Natur meist auf die thermodynamisch stabilsten Verbindungen. Es sind z. B. 8 diastereomere Aldohexosen denkbar, aber nur die Hälfte, nämlich d-Glucose, d-Mannose sowie d- und l-Galactose spielen im Stofwechsel der Organismen wirklich eine Rolle. Bearbeitung von Monosacchariden im Stofwechsel erfordert zunächst stets energieverbrauchende Aktivierung durch Phosphorylierung (z. B. mit Hilfe von ATP) oder Nukleotidbindung (z. B. mit Hilfe von UTP oder ATP). Mit aktivierten Monosacchariden können entsprechende Enzyme im Stofwechsel arbeiten. Auf eine umfassende Darstellung des Kohlenhydratstofwechsels muss hier aus Platzgründen auf Lehrbücher der Biochemie verwiesen werden. Es werden jedoch grundlegende enzymatische Reaktionen an Monosacchariden im Zusammenhang dargestellt ( > Abb. 18.15). Kohlenhydrate entstehen zunächst überwiegend über die Photosynthese. Als direktes Photosyntheseprodukt, das aus der CO2-Assimilation resultiert, wird von allen planzlichen Systemen zunächst Fructose-1,6-diphosphat gebildet. Durch Abspaltung der Phosphatgruppe am C-1 durch eine Kinase entsteht Fructose-6-phosphat, das mit Glucose-6-phosphat im enzymatischen Gleichgewicht steht, wobei eine Phosphogluco-Isomerase für die Gleichgewichtseinstellung sorgt. Glucose-6-phosphat kann aber auch durch Phosphorylierung von Glucose mit Hilfe einer Kinase gebildet werden, wobei ATP als Phosphatgruppendonor dient. Glucose kann hier aus dem enzymatischen Abbau (besonders Amylasen) von Stärke stammen, was in
der menschlichen Ernährung eine große Rolle spielt. Auch Saccharose (Hauhaltszucker) wird bei der Verdauung durch Invertase in Glucose und Fructose gespalten. Durch intramolekulare Verschiebung der Phosphatgruppe aufgrund der Aktivität einer Phosphoglucomutase kann aus Glucose-6-Phosphat dann Glucose-1-phosphat gebildet werden ( > Abb. 18.15). Glucose-1-phosphat wird häuig mit Hilfe von Uridintriphosphat (UTP) unter Bildung von Uridindiphosphatglucose (UDPG) weiter aktiviert, wozu eine UDP-Glucosesynthase benötigt wird. UDPG kann aufgrund des hohen Energiegehalts im Bereich der Phosphatreste als die am höchsten aktivierte Form der Glucose für alle biologischen Systeme angesehen werden. In dieser aktivierten Form kann Epimerisierung erfolgen, sodass z. B. aufgrund der Aktivität einer UDP-Glucose-4-Epimerase die UDPGalactose gebildet wird. In UDPG kann die Glucose auch durch Oxidation am C-6 mit Hilfe einer entsprechenden Dehydrogenase in UDP-Glucuronsäure überführt werden, aus der durch eine 4-Epimerase dann UDP-Galacturonsäure entstehen kann. Bei eventueller nachfolgender Decarboxylierung durch Decarboxylasen können schließlich als entsprechende Pentosen entweder UDP-Xylose oder UDP-Arabinose gebildet werden ( > Abb. 18.15). Die aktivierte Form der Nukleosiddiphosphatzucker dient der Biosynthese sowohl von Oligo- und Polysacchariden als auch der Übertragung von Zuckerresten auf Aglyka durch entsprechende Glykosyltransferasen, also der allgemeinen Entstehung von Glykosiden. Dabei spielen nicht nur UDP-gebundene Zucker, sondern auch andere Nukleosiddiphosphatzucker eine Rolle wie z. B. Adenosindiphosphat-Glucose (ADP-Glc), GuanidindiphosphatMannose (GDP-Man) oder Cytidinmonophosphat-Nacetyl-Neuraminsäure (CMP-NeuAc). Weitere enzymatisch katalysierte Derivatisierungen an Nukleosiddiphosphatzuckern verlaufen über regiospeziische Dehydrierung oder Dehydratisierung und anschließende stereospeziische Hydrierung der intermediär entstandenen Doppelbindung. Es resultieren dabei die 6-Deoxyzucker, so z. B. Fucose (GDP-Man wird in GDPFucose überführt) oder Rhamnose sowie die 2,6-Dideoxyzucker wie z. B. Digitoxose (in > Abb. 18.15 nicht gezeigt). Aminozucker (gemeint sind hier 2-Amino-2-deoxyhexosen) entstehen aufgrund der Aktivität einer Transaminase aus d-Fructose-6-phosphat, wobei Glutamin den Aminogruppendonor darstellt. N-Acetylierung kann dann durch eine Acetyltransferase katalysiert werden zu
18.7 Kohlenhydrate im Stoffwechsel
18
. Abb. 18.15
Es sind hier einige wichtige Kohlenhydratstoffwechselwege dargestellt, wobei gebräuchliche Abkürzungen für entsprechende Verbindungen verwendet werden und u. a. auf eine genaue Nomenklatur der entsprechenden Enzyme verzichtet wurde. Aktivierte Monosaccharide in Form phosophorylierter Verbindungen und nukleotidgebundene Zucker spielen die wesentliche Rolle für die Biosynthese von Glykosiden aller Art. Gezeigt ist auch, dass zumindest bei pflanzlichen Organismen die Photosynthese den wesentlichen Produzenten für Kohlenhydrate darstellt. Die Verwertung eines Monosaccharids in der biologischen Oxidation zum Energiegewinn würde ausgehend z. B. von Glucose bis zum Pyruvat verlaufen, was der Glykolyse entspricht. Pyruvat könnte vergoren werden zu Alkohol oder Milchsäure (alkoholische/Milchsäuregärung) oder zu Acetyl-CoA umgesetzt werden, das im Citratzyklus dann vollständig veratmet würde. Bei diesen Stoffwechselwegen erhaltene Reduktionsäquvalente könnten in der mitochondrialen Atmungskette zum ATP-Gewinn genutzt werden. Selbstverständlich verfügt nicht jeder Organismus über alle hier dargestellten Stoffwechselwege. Eine ausführlichere Erläuterung erfolgt im Text
N-Acetyl-d-glucosamin-6-phosphat, wobei Acetyl-CoA als Cosubstrat dient. Anschließend erfolgt wieder intramolekulare Phosphatgruppenverschiebung zu N-Acetyld-glucosamin-1-phosphat durch eine Isomerase und schließlich weitere Aktivierung mit Hilfe von UTP zu UDP-GlcNAc, das durch eine Epimerase in UDP-GalNAc überführt werden kann. Beide können dann als Monosacchariddonatoren bei der Biosynthese entsprechender Polysaccharide dienen. Glucose-6-phophat kann auch durch Oxidation an C-1 in Gluconsäure-6-P überführt werden. Durch die Ak-
tivität von Decarboxylasen und Isomerasen können Ribose-5-Phosphat und Deoxy-Ribose-5-Phosphat entstehen, die nach Einbau in Nukleotide der Biosynthese von Nucleinsäuren dienen (Ribonucleinsäure = RNA, Deoxyribonucleinsäure = DNA) Der Kohlenhydratstofwechsel steht dem Lipidstofwechsel nahe. Glucose oder Fructose können nach Aktivierung durch Phosphorylierung in der Glykolyse letzlich Pyruvat liefern. Pyruvat kann (unter anaeroben Bedingungen) vergoren werden zu Ethanol oder Lactat (Milchsäure) oder aber (unter aeroben Bedingungen) durch die
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498
18
Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide
Pyruvatdehydrogenase zu Acetyl-CoA decarboxyliert werden. Acetyl-CoA wird entweder in den Citrat-Zyklus eingeschleust und unter CO2-Freisetzung vollständig veratmet, wobei entstehende Reduktionsäquivalente in der nachfolgenden Atmungkette letztlich dem Energiegewinn in Form von ATP dienen. Damit erklärt sich die wesentlich Rolle der Kohlenhydrate im Energiestofwechsel bei der ATP-Bildung. Acetyl-CoA kann jedoch auch der Biosynthese von Fettsäuren und damit von Fetten dienen. Damit erklärt sich die Gewichtszunahme (Fettpölsterchen) beim Konsum von zu viel Süßem.
18.8
Analytik von Kohlenhydraten
Neben allgemeinen Nachweisreaktionen für Kohlenhydrate gibt es heute viele, methodisch und apparativ teiweise aufwendige Verfahren in der Kohlenhydratanalytik, weshalb hier nur ein kurzer Überblick gegeben werden kann.
18.8.1
Nachweisreaktionen für Kohlenhydrate
Nachweisreaktionen für Monosaccharide beruhen vor allem auf den reduzierenden Eigenschaten der acetalischen Hydroxylgruppe oder auf der Bildung reaktionsfreudiger Dehydratisierungsprodukte bei Säureeinwirkung. Nachweis reduzierender Zucker. Reduzierende Zucker
sind in der Lage, im alkalischen Milieu Kupfer(II)-Ionen im Kupfertartratkomplex zu Kupfer(I)-Ionen zu reduzieren. Es entsteht ein roter Niederschlag von Kupfer(I)Oxid. Nachweis von Ketosen. Ketosen bilden 5-Hydroxymethyl-
furfural, das mit Resorcin oder mit Diphenylamin zu farbigen Verbindungen (Orange- bzw. Blaufärbung) reagiert. Nachweis reduzierender Zucker mit p-Hydroxybenzoesäurehydrazid (PAHBAH). Reduzierende Zucker reagie-
ren mit PAHBAH unter Bildung intensiv gefärbter Anionen, die photometrisch bestimmt werden können. Wegen ihrer Empindlichkeit eignet sich diese Reaktion insbesondere zum Nachweis der Aktivität polysaccharidabbauender Enzyme. Hierbei wird die Zunahme der Reduktionskrat durch kontinuierliche Freisetzung von Zuckern mit reduzierenden Endgruppen gemessen.
Nachweis von Pentosen. In salzsaurer Lösung reagieren
Pentosen mit Eisen(III)-Chlorid und Orcin zu einem grünen Farbprodukt, das photometrisch ausgewertet werden kann. Da auch 6-Desoxy-hexosen, Hexuronsäuren, Heptosen, Triosen und in hohen Konzentrationen Mannose und Galactose dieselbe Reaktion zeigen, muss ihre Abwesenheit zur quantitativen Auswertung gesichert sein. Ferner zeigen Pentosen nach dem Erhitzen in salzsaurer Lösung unter Zusatz von Phloroglucin eine mehr oder weniger speziische Rotfärbung. Nachweis freier und glykosidisch gebundener Hexosen mittels Anthrontest. In schwefelsaurer Lösung reagieren
Hexosen und Desoxyhexosen mit Anthron unter Bildung von Farbprodukten, die photometrisch ausgewertet werden können. Nachweis freier und glykosidisch gebundener 6-Desoxyhexosen. In schwefelsaurer Lösung bilden 6-Desoxyhe-
xosen 5-Methylfurfural, das mit l-Cystein unter Bildung eines blauen Farbkomplexes reagiert. Nachweis von Uronsäuren. Durch Erhitzen von freien Uronsäuren oder uronsäurehaltigen Verbindungen in Schwefelsäuretetraboratreagens und anschließender Reaktion mit 2-Hydroxybiphenyl bildet sich ein Farbprodukt, das photometrisch bestimmt werden kann. In größeren Mengen begleitende Neutralzucker können zu einer Braunfärbung des Testansatzes führen, was durch Sulfamatzusatz vermieden werden kann. Chromatographischer Nachweis von Aldohexosen und Pentosen sowie Uronsäuren. Durch Mehrfachchromato-
graphie können Zuckermonomere z. B. auf Kieselgel getrennt und mit Anilin-Diphenylamin-Phosphorsäurereagens nachgewiesen werden. Hierbei erscheinen die Aldohexosen und Uronsäuren als blaugrau gefärbte Produkte. Aldopentosen sind grünlich/grau, Fructose färbt sich rötlich.
18.8.2
Strukturaufklärung von Kohlenhydraten
Wie im letzten Beispiel ersichtlich, können Kohlenhydrate durch chromatographische Verfahren aufgetrennt werden. Dabei revolutionierte die Papierchromatographie (PC) und nachfolgend die Dünnschichtchromatographie
18.8 Analytik von Kohlenhydraten
(TLC) geradezu die Trennung von Mono- und Oligosacchariden als Voraussetzung der Kohlenhydratanalytik. Später kamen weitere Methoden wie Gaschromatographie (GLC) und Hochdrucklüssigkeits-Chromatographie (HPLC) mit wesentlich verbesserten Trennmöglichkeiten hinzu. Bei der HPLC spielen Derivatisierungen wie z. B. Überführung in Dansylhydrazone oder in 4-NitrophenylGlykosylamine eine wichtige Rolle, um einen empindlichen photometrischen Nachweis überhaupt erst zu ermöglichen. Bei der GLC sind Derivatisierungsverfahren wie z. B. Silylierung, Acetylierung oder Methylierung notwendig, um lüchtige Kohlenhydratderivate zu erhalten. Gerne wird GLC mit Massenspektrometrie (GLC-MS) gekoppelt, um neben der Retentionszeit auch das Fragmentierungsmuster zur Unterscheidung strukturell nahe ver-
! Kernaussagen
Kohlenhydrate spielen im Energiestoffwechsel aller Organismen eine zentrale Rolle. Sie weisen als Polymere sowohl Reserve- als auch Gerüst- und Stützfunktion auf. Die umfangreiche Stoffgruppe der Kohlenhydrate umfasst Aldosen, Ketosen, Uronsäuren, Zuckeralkohole, Cyclitole, Aminozucker, Oligosaccharide und Polysaccharide. Monosaccharide sind Polyhydroxyaldehyde (Aldosen) mit einer Aldehydgruppe an C-1 oder Polyhydroxyketone (Ketosen) mit einer Ketogruppierung an C-2 und deren Derivate. Monosaccharide weisen 3 bis 9, meist jedoch 5 oder 6 C-Atomen auf. Die wichtigsten einfachen Monosaccharide sind Ribose, Arabinose, Xylose, Glucose, Galactose und Fructose. Monosaccharide liegen durch Halbacetalbildung meist in Form stabiler pyranosidischer oder furanosidischer Ringe vor. Ringform und Stellung der Hydroxylgruppen sind entscheidend für die Eigenschaften des betreffenden Monosaccharids. Aldosen tragen in der Ringform am C-1 ein chirales Zentrum, was unterschiedliche Stellungen der C-1OH-Gruppe ermöglicht. Entsprechende enantiomere Verbindungen werden als Anomere bezeichnet. Beim E-Anomeren liegen OH-Gruppe am C-1 und CH2OHGruppe (C-6) auf derselben Seite des Rings, beim D-Anomeren auf entgegengesetzter Seite. Anomere gehen durch Mutorotation ineinander über. Reaktion der anomeren OH-Gruppe mit einem Alkohol führt zur O-Glykosidbildung. Monosaccharide
18
wandter Kohlenhydrate heranziehen zu können. GLC-MS ist auch die Voraussetzung für so genannte Methylierungsanalysen (Bindungstypanalysen) bei der Strukturaufklärung von Oligo- und Polysacchariden. Dabei werden nach Permethylierung aller freien Hydroxylgruppen und anschließender Säurehydrolyse der glykosidischen Bindungen die freigesetzten Monomere zu Alditolederivaten reduziert und nach Acetylierung der aus glykosidischer Bindung und Halbacetalbildung freigewordenen Hydroxylgruppen die entstandenen partiell methylierten Alditolacetate (PMAA) aufgetrennt und charakterisiert. Da glykosidische Bindungen unterschiedliche Hydrolysestabilität aufweisen können, können Partialhydrolysen bei verschiedenen Hydrolysebedingungen zusätzliche Information zur Struktur von Polysacchariden liefern. Daneben
können entsprechend untereinander reagieren und somit O-glykosidisch verknüpft vorliegen. Neben der dominierenden O-glykosidischen kommt die N-glykosidische Verknüpfung von Kohlenhydraten mit entsprechenden N-haltigen Verbindungen in der Natur ebenfalls häufig vor. Uronsäuren tragen am C-6 eine Carboxylgruppe. Galacturonsäure und Glucuronsäure kommen als Bausteine von sauren Zellwandpolysacchariden vor. Bei den meisten Aminozuckern ist die OH-Gruppe am C-2 gegen eine Aminogruppe ausgetauscht. Die Aminogruppe kann zusätzlich acetyliert vorliegen, was zu Acetylaminozuckern führt. N-Acetyl-Glucosamin ist Baustein des Chitins. Bei Deoxyzuckern fehlen 1 oder 2 Hydroxygruppen. 2-Deoxy-D-ribose ist Baustein der DNA. Verschiedene andere Mono- und Dideoxyzucker finden sich in den Herzglykosiden. Im Stoffwechsel spielen „aktivierte“ Kohlenhydrate eine wesentliche Rolle. Aktivierung erfolgt durch Phosphorylierung an der OH-Gruppe am C-1 und/oder an C-6 sowie durch Bildung nukleotidgebundener Zucker. Wichtige aktivierte Verbindungen sind Glc-1-P, Glc-6-P, Frc-1,6di-P, UDP-Glc oder ADP-Glc. In Oligo- und Polysacchariden sind Monosaccharideinheiten O-glykosidisch miteinander verknüpft. Es entstehen Verbindungen, die je nach Zusammensetzung (Monosaccharidtyp) und Struktur (Bindungstyp) unterschiedliche Eigenschaften aufweisen.
499
500
18
Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide
kann unter Verwendung speziischer Enzyme (Glykosidasen) der gezielte Abbau von Oligo- und Polysacchariden auch zur Strukturermittlung genutzt werden. Zur Autrennung größerer Oligosaccharide und erst recht von Polysacchariden kommen Gelpermeations-Chromatographie (GPC) und Ionenaustauscher-Chromatographie (IEC) häuig zur Anwendung. Eine zunehmend wichtige Rolle in der Kohlenhydratanalytik spielen 1H- und 13C-NMRSpektroskopie, wobei heute nicht mehr nur Monosaccharide, sondern auch komplexe Oligosaccharide analytisch zugänglich sind.
18.9.2
Glucose
x Synonyme: Glucose, d-Glucopyranose, d-(+)-Glucose, Dextrose, Traubenzucker ( > Abb. 18.17)
x Monographien der PhEur: wasserfreie Glucose (Glucosum anhydricum), Glucosemonohydrat (Glucosum monohydricum), Glucosesirup (Glucosum liquidum), sprühgetrockneter Glucosesirup (Glucosum liquidum dispersione desiccatum).
Xylose kommt überwiegend glykosidisch gebunden in verschiedenen Polysacchariden wie z. B. Xyloglucanen und Xylanen in planzlichen Zellwänden vor. Sie wird entsprechend durch Hydrolyse aus beispielsweise Maisstroh, Haferspelzen oder Laubholz gewonnen. Da Xylose süß schmeckt, kann sie als Süßstof für Diabetiker eingesetzt werden. Xylose wird kaum metabolisiert. Daher entsprechen Plasma- oder Harnkonzentrationen direkt der Menge an resorbierter Xylose, was zur Prüfung der Resorptionsleistung des Dünndarms genutzt werden kann.
Glucose ist die in der Natur am häuigsten vorkommende organische Verbindung, die in vielen Organismen für den Aubau höhermolekularer Kohlenhydrate wie Saccharose, Stärke, Cellulose, Glykogen und weiterer physiologisch bedeutsamer Glykoside wie Glykolipide, Glykoproteine und Nukleosiddiphosphatglucose dient. In freier Form kommt d-Glucose in Früchten vor. In Weintrauben, Rosinen und Feigen sind größere Mengen freier Glucose nachweisbar. Daneben kommt Glucose in unterschiedlichen Konzentrationen im Assimilatstrom der höheren Planzen vor. Neben Fructose ist Glucose Hauptbestandteil des Honigs. Im menschlichen Organismus liegen physiologisch kontrollierte Glucosekonzentrationen im Blut vor, wobei der Blutzuckerspiegel normalerweise 0,6–1,2 g/l beträgt. Bei Glucosekonzentrationen im Blut von weniger als 0,5 g/l liegt eine Hypoglykämie vor, bei Werten von mehr als 1,5–1,8 g/l wird das Transportmaximum der Niere überschritten und der Zucker wird mit dem Harn ausgeschieden (Glucosurie). Glucose stellt einen bedeutenden Energieträger (3,8 kcal/g) des Organismus dar. Aus einem Mol Glucose werden bei vollständigem Abbau 38 Mol ATP gebildet.
Abb. 18.16
Abb. 18.17
18.9
Pharmazeutisch bedeutsame Monosaccharide
18.9.1
Xylose
x Monographie der PhEur: Xylose (Xylosum) ( > Abb. 18.16)
D
D
Dargestellt ist die Xylose, eine Pentose, in pyranosidischer und furanosidischer Form, wobei in wässriger Lösung die Xylopyranose mit ca. 99% weit überwiegt. Sie liegt dann zu ca. 65% als β-D-Xylopyranose und nur zu ca. 35% als α-D-Xylopyranose vor. In kristalliner Form kommt nur α-D-Xylopyranose vor
α-D-Glucopyranose
β-D-Glucopyranose
Für Glucose in wässriger Lösung ergibt sich ein Mutarotationsgleichgewicht von 64% β-D- und 36% α-D-Glucopyranose. Je nach Temperatur und Konzentration kann aus wässriger Lösung α- oder β-Glucose als Monohydrat oder wasserfrei erhalten werden. Wasserfreie α-Glucose lässt sich aus kaltem Ethanol, wasserfreie β-Glucose aus heißen Lösungen in Pyridin oder Eisessig gewinnen
18.9 Pharmazeutisch bedeutsame Monosaccharide
Infobox Glucosebedarf und -verwertung. Unter „Zucker“ wird umgangssprachlich meist Rohrzucker verstanden, also Saccharose. Diese wird durch Saccharase an der Oberfläche der Dünndarmzotten gespalten in Fructose und Glucose. Der größte Teil unserer Kohlenhydratzufuhr stammt normalerweise jedoch aus pflanzlicher Stärke (Getreideprodukte, Kartoffel u. a.). Stärke wird durch Speichel- und Bauchspeicheldrüsenamylasen sowie Darmwandmaltase letztlich zu Glucose gespalten. Glucose wird über spezifische Transportproteine aktiv resorbiert. Die Glucosekonzentration im Blut wird durch die Bauchspeicheldrüsenhormone Insulin und Glucagon gesteuert. Insulin fördert die Aufnahme von Glucose in Körperzellen, in denen die Glucose dann in das Polysaccharid Glykogen eingebaut wird. Insulinmangel beim Typ-1-Diabetiker führt daher zu erhöhten Plasma-Glucosewerten. Glucagon als Gegenspieler stimuliert den Glykogenabbau und die Freisetzung von Glucose. Der Glykogenvorrat der Leber und der Skelettmuskulatur liegt beim Erwachsenen bei 300–400 g. Der Blutzuckerspiegel kann zwischen 60 und 180 mg/dl schwanken, wobei der Nüchternwert bei 60–100 mg/dl liegt, beim Diabetiker dagegen auf >125 mg/dl ansteigt. Bei Werten unter 50 mg/dl liegt Unterzuckerung (Hypoglykämie) vor, die mit Zittern, Schweißausbruch, kalten Extremitäten und schließlich bei Werten unter 40 mg/dl mit Flimmern vor den Augen, Blutdruckabfall und Ohnmacht einhergeht. Sofortige Zuckerzufuhr ist notwendig. Der basale Glucosebedarf des Erwachsenen liegt bei 2 mg/ kg/min, also beim Standardmenschen mit 75 kg KG bei 10 g stündlich, wobei das Gehirn mit einem Verbrauch von ca. 50–60% den stärksten Glucoseumsatz aller Organe aufweist. Lernen und Denken verbraucht Energie !
Wichtigster Rohstof für die Gewinnung von Glucose sind natürliche Glucosepolymere wie Stärke und Cellulose. Hieraus kann die Freisetzung der D- bzw. E-glykosidisch gebundenen Glucose durch enzymatische, säurehydrolytische oder durch gemischt-biotechnologische Verfahren erfolgen. In erster Linie hat sich für die industrielle Reindarstellung der Glucose ein gemischtes Verfahren durchgesetzt, ausgehend von unterschiedlichen Stärkearten nach einer sauren Vorhydrolyse (Stärkeverlüssigung), die nachfolgend mit bakteriellen Glucoamylasen zu d-Glucose depolymerisiert werden. Es indet Entmineralisierung und Entfärbung mit Ionenaustauschern und Aktivkohle statt. Glucosesirup wird aus Stärke durch Teilhydrolyse
18
gewonnen und enthält außer Glucose noch Dextrine sowie Maltose. Durch die hohe stärkespaltende Speziität der heute in biotechnologischem Verfahren gewonnenen Glucoamylasen ist es möglich geworden, statt wie ursprünglich von reiner Stärke, von stärkehaltigen Planzenmaterialien auszugehen. Dies war bislang bei Säurehydrolysen wegen der gleichzeitigen Spaltung von Proteinen und Fetten kaum möglich. Die Abbaureaktionen der Cellulose zur Gewinnung von Glucose verlangen mehrere Vorreinigungsschritte und höhere Energieeinsätze. Aus diesem Grunde hat sich die Celluloseverzuckerung zur Gewinnung hochreiner Glucose wenig durchsetzen können. d-Glucose wird in einem temperaturkontrollierten Verfahren auskristallisiert, um die Bildung von Mischkristallen und unterschiedlichen Hydratformen zu vermeiden. Bei Temperaturen unter 50 °C kristallisiert Glucose aus Wasser als Monohydrat der D-d-Glucopyranose aus. Wasserfreie Glucose wird durch schonendes Trocknen unter Erwärmen gewonnen. In Lösung stellt sich jeweils ein Gleichgewicht zwischen der D- und E-d-Glucopyranose ein. Glucose wird bei Hypoglykämie und Hypovolämie, bei Diarrhoen und Erbrechen insbesondere im Kindesalter, ferner in Infusionslösungen zur parenteralen Ernährung und zur Durchführung von Glucosetoleranztests eingesetzt. Glucoselösungen werden außerdem zur Behebung des hypoglykämischen Schocks nach Insulinüberdosierung verwendet. Zur Osmotherapie bei Hirn- und Lungenödemen werden hochkonzentrierte Glucoselösungen infundiert. Pharmazeutisch-technologisch wird das Glucosemonohydrat als Füll- und Bindemittel zur Herstellung von Kau-, Lutsch- und Vaginaltabletten sowie zur Isotonisierung von Injektionslösungen und Dialyselüssigkeiten eingesetzt. Glucose wird auch zu Partialsynthese von Sorbitol verwendet. Glucosesirup dient als Süßungsmittel für eine Vielzahl lüssiger Arzneiformen.
18.9.3
Galactose
x Monographie der PhEur: Galactosum ( > Abb. 18.18) Galactose kommt in verschiedenen Polysacchariden (Galactane, Arabinogalactane, Galactomannane) vor und bildet zusammen mit Glucose das Disaccharid Lactose (Milchzucker), aus dem sie auch durch Hydrolyse und nachfolgende Reinigungs- und Kristallisationsprozesse
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18
Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide
. Abb. 18.19
. Abb. 18.18
D
D
D
Offizinelle wasserfreie α-D-Galactopyranose wird aus Lösungen in 90%igem Ethanol gewonnen D
gewonnen wird. In der physiologisch intakten Leber wird sie zu Glucose metabolisiert. Ist nach peroraler Gabe von 40–100 g Galactose im Harn Galactose nachweisbar, kann auf eine Leberschädigung geschlossen werden (Leberfunktionstest). Bei Ultraschalluntersuchungen am Herzen können i.v.-gegebene Galactosesuspensionen zur Verbesserung der Blutechogenität genutzt werden. Infobox Galaktosämie. Galactose in der menschlichen Ernährung stammt überwiegend aus Lactose (Milchzucker), also Milch und Milchprodukten. Lactose wird durch Darmwandlactase in Glucose und Galactose gespalten. Galactose wird nach Resorption durch eine Kinase phosphoryliert zu Galactose-1-phosphat. Mit Hilfe der Galactose-1-phosphat-Uridyltransferase wird dann UDP-Galactose gebildet, die anschließend durch eine UDP-Galactose-4-Epimerase in UDP-Glucose überführt wird zur weiteren Verwertung im Kohlenhydratstoffwechsel. Galaktosämie beruht meist auf einem genetisch bedingten Mangel an Galactose-1Phosphat-Uridyltransferase (Häufigkeit ca. 1: 50.000). Die Anhäufung von Galactose-1-Phosphat und dessen Metaboliten wie Galactinol führen zu schweren Leberschäden, Trübung der Augenlinsen (Katarakt), Nierenfunktionsstörungen und Schädigungen im ZNS. Nach Frühdiagnose durch ein entsprechendes Screeningverfahren ist streng einzuhaltende galactosefreie Ernährung notwendig.
18.9.4
Fructose
x Synonyme: Fructose, E-d-Fructopyranose, Laevulose, Laevulosum ( > Abb. 18.19)
x Monographien der PhEur: Fructosum Fructose ist die einzige Hexulose, die in der Natur in größeren Mengen vorkommt. Der im deutschen Sprachraum
D
Fructose, eine Hexulose, liegt kristallin nur als β-D-Fructopyranose vor, während β-D-Fructofuranose am Aufbau von Di-, Oligo- und Polysacchariden wie Saccharose, Raffinose oder Inulin beteiligt ist. In wässriger Lösung stellt sich ein Mutorotationsgleichgewicht von ca. 2,5% α- und 65% β-pyranosidischer, 6,5% α- und 25% β-furanosidischer und unter 1% offenkettiger Form ein. Fructoselösungen sind bei pH 3–5 am stabilsten; im Alkalischen erfolgt rasche Zersetzung
wenig gebräuchliche Name „Laevulose“ wird aufgrund der Linksdrehung von Fructoselösungen verwendet. In kristalliner Form liegt Fructose als E-d-Fructopyranose vor. Die D-Form konnte bisher noch nicht isoliert werden. In der relativ stabilen furanoiden Form ist Fructose in glykosidischer Bindung ein Baustein von Saccharose ( > Abb. 18.13), Rainose und höheren Homologen der Saccharose-Oligosaccharid-Reihe ( > Abb. 18.14). Auch in den fructosehaltigen Polymeren (Fructane) liegt Fructose furanosidisch gebunden vor. Freie Fructose ist wie Glucose Bestandteil von süß schmeckenden Früchten und Begleitzucker der Saccharose im Assimilatstrom. Fructose hat die stärkste Süßkrat aller Monosaccharide ( > Tabelle 22.1). Ausgangssubstrat für die Fructosegewinnung sind Fructane wie Inulin oder Phlein, die durch schonenden hydrolytischen Abbau in Fructose und geringe Anteile der terminalen Glucose gespalten werden. Eine weitere Möglichkeit der Darstellung von Fructose ist die Hydrolyse von Saccharose mit verdünnter Salzsäure. Bei anschließender Neutralisation mit Kalkmilch fällt Fructose als schwer lösliches Calciumfructosat aus und kann durch Filtration abgetrennt werden. Fructosat wird mit CO2 behandelt, die in Lösung gehende Fructose muss weiteren Reinigungsschritten (z. B. Ionenaustauscher) unterzogen werden. In glykosidischer Bindung liegt Fructose in furanosidischer Form vor. Bei der Isolierung geht sie in E-d-Fructopyranose über.
18.9 Pharmazeutisch bedeutsame Monosaccharide
d-Fructose wird nach peroraler Aufnahme vollständig, jedoch langsamer als Glucose resorbiert. Nach Aufnahme größerer Fructosemengen mit der Nahrung lassen sich kurzfristig Plasmakonzentrationen von etwa 1–3 mg/l nachweisen. Die bei einer normalen Ernährung aufgenommenen Fructosemengen (ca. 50 g/Tag) kommen wie Glucose als Energielieferant infrage. Fructose wird insulinunabhängig im Wesentlichen nur in der Leber metabolisiert, wobei Fructose etwa doppelt so schnell wie Glucose zu Glykogen umgesetzt wird. d-Fructose dient in erster Linie als Zuckeraustauschstof für Diabetiker. Bei Diabetikern können bis zu 50 g Fructose pro Tag als Zuckeraustauschstof verwendet werden, ohne dass die erforderliche Insulindosis erhöht werden muss. Im Urin kann freie Fructose nach Zufuhr hoher Dosen nachgewiesen werden. Hohe Dosen von Fructose führen nach oraler Gabe infolge eines osmotischen Efekts der nichtresorbierbaren Fructoseanteile zu Durchfällen und Meteorismus. Bei Patienten mit seltener Fructoseverwertungsstörung (Häuigkeit 1: 10.000–20.000) ist dies bereits nach geringen Fructosemengen in der Nahrung der Fall. Bei vererbbarer Fructoseintoleranz, die eine strenge Kontraindikatione für Fructoseinfusionen darstellt, liegt eine Akkumulation von Fructose-1-Phosphat bei gleichzeitiger Hemmung der Glykogenolyse und der Gluconeogenese vor. Hierbei ist die Aktivität des fructosemetabolisierenden Enzyms Aldolase B reduziert, sodass sich Fructose-1-phosphat in der Leber und in der Darmmukosa anreichert.
18.9.5
Sorbitol
x Synonyme: d-Sorbitol, Sorbit, d-Glucitol ( > Abb. 18.20)
x Monographie der PhEur: Sorbitol (Sorbitolum); Sorbitollösung 70%, kristallisierend (Sorbitolum liquidum cristallisabile); Sorbitollösung 70%, nicht kristallisierend (Sorbitolum liquidum non cristallisabile) Sorbitol (d-Glucitol) wurde erstmals aus den Früchten der Vogelbeere (Sorbus aucuparia L., Rosaceae) isoliert, bei denen der Gehalt bei ca. 10% liegt. Sorbit ist eines der chemotaxonomischen Merkmale der Familie der Rosaceen. Sorbit ist in höheren Konzentrationen auch in Weißdornfrüchten, Äpfeln, Birnen, Plaumen, Aprikosen und Kirschen enthalten. Die Gewinnung von Sorbit erfolgt durch katalytische Hydrierung von d-Glucose an einem Nickelkatalysator. Sorbit ist ein weißes, geruchloses, süß
18
. Abb. 18.20
Sorbitol ist ein Zuckeralkohol, bei dem die Konfiguration an C-2 bis C-5 mit derjenigen der D-Glucose übereinstimmt. Sorbitol weist Polymorphie auf. Stabile Modifikation unterscheidet sich von instabilen durch höheren Schmelzpunkt
schmeckendes, mikrokristallines Pulver mit einer Süßkrat, die etwa halb so groß ist wie die der Saccharose ( > Tabelle 18.1). Eine nicht kristallisierende Sorbitollösung (70%) wird durch katalytische Hydrierung von Stärkesirup hergestellt. Sie enthält dementsprechend noch Oligosaccharide, die als Kristallisationsverzögerer dienen. Die tolerierbare Tagesdosis beträgt 30 g/Tag. In höheren Dosen wirkt Sorbit blähend und osmotisch laxierend. Bei oraler Gabe wird d-Sorbit nach Resorption in der Leber durch eine Dehydrogenase umgesetzt zu Fructose, die dann schneller als Glucose und insulinunabhängig zu Glykogen weiterverwertet wird. Damit ist Sorbitol als Diabetikerzucker geeignet. Die Resorption von Sorbit erfolgt langsamer als diejenige von Fructose. Von der Darmlora des Menschen wird Sorbit u. a. zu Lactulose umgewandelt. Als Zuckerersatz in Lutschtabletten und Bonbons hat Sorbitol den Vorteil, nicht kariogen zu sein. Sorbit wird auch als Hilfsstof zur Herstellung von Sublingual- und Lutschtabletten sowie für Schicht- und Manteltabletten eingesetzt. In Salben und Lotionen wird Sorbit (nicht kristallisierende Sorbitollösung) anstelle von Glycerin verwendet, ferner als Feuchthaltemittel und Weichmacher für die Herstellung von Weichgelatinekapseln. Sorbit ist ein wichtiges Zwischenprodukt für die Ascorbinsäuresynthese aus d-Glucose. Von besonderer Bedeutung sind die Sorbitane, die nach Verestern mit Fettsäuren und Umsetzen mit Ethylenoxid zu den Polysorbaten (Tweens) führen, welche als Emulgatoren und Lösungsvermittler eingesetzt werden.
503
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18 18.9.6
Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide
Mannitol
x Monographie der PhEur: Mannitol (Mannitolum) ( > Abb. 18.21) d-Mannitol (Mannit) kommt zu 13% in dem Produkt Manna vor, das nach Einschnitten in die Rinde der Mannaesche (Fraxinus ornus L., Oleaceae) aus dem austretenden Assimilatsat nach Trocknung gewonnen wird. Das biblische Manna entspricht wohl einem an der Lut trocknenden „Honigtau“, der von auf Tamarisken lebenden Schildläusen ausgeschiedenen wird. Mannit ist bei Algen und Pilzen als Reservesubstanz verbreitet. Trotz des gehäuten Vorkommens von Mannit ist eine wirtschatliche Extraktion und Reindarstellung aus biologischem Material nicht lohnend. Das aktuelle Verfahren zur Herstellung von d-Mannitol besteht in der katalytischen Hydrierung von Invertzucker. Dabei entstehen bei neutralem pH-Wert theoretisch 25% d-Mannitol und 75% d-Sorbitol. Das in Wasser schlechter lösliche Mannit kann durch fraktionierte Kristallisation abgetrennt werden. Bei biotechnologischen Verfahren zur Umwandlung von Glucose in Mannit durch Aspergillus candidus erzielt man Ausbeuten von bis zu 47%. Mannit hat einen süßen Geschmack, der mit einem kühlen Efekt verbunden ist. Die Süßkrat beträgt etwa 50% von derjenigen der Saccharose und ist ungefähr vergleichbar mit der von Glucose ( > Tabelle 18.1). Mannit ist nicht hygroskopisch und nimmt auch beim Lagern bei hoher Lutfeuchtigkeit kaum Wasser auf. Der Zuckeralkohol stellt einen wichtigen Hilfsstof zur Herstellung von Tabletten, Kapseln, Lutsch- und Kautabletten dar. Daneben ist Mannit ein Süßungsmittel, das häuig als Ersatz
für Milchzucker eingesetzt wird, wenn dieser gegenüber einem Arzneistof nicht ausreichend inert ist. Gemischt mit 0,5% kolloidalem SiO2 kann Mannit als Standardfüllmasse für Kapseln verwendet werden. Oral zugeführtes Mannit wird nur zu einem geringen Anteil resorbiert und kann daher als osmotisch wirksames Abführmittel eingesetzt werden (20–30 g/Tag). Peroral zugeführtes Mannit wird langsam und unvollständig resorbiert und kaum metabolisiert. Nach i.v.-Applikation stellt Mannit ein gutes Osmodiuretikum dar (Tagesdosis 50–100 g). Es wird glomerulär iltriert, die tubuläre Rückresorptionsrate ist gering. Parenteral verabreicht kann es daher zur Nierenfunktionsprüfung verwendet werden. Mannit wird als Infusion auch zur Prophylaxe eines drohenden Nierenversagens, bei kardiovaskulären Operationen, schweren Traumen, operativen Eingrifen, bei schwerem Ikterus und zur beschleunigten Diurese bei Intoxikationen eingesetzt. Weitere Indikationen sind akute Hirnödeme und der akute Glaukomanfall. Gelegentlich wurden durch Mannit ausgelöste allergische Reaktionen dokumentiert.
18.9.7
Xylitol
x Synonyme: Xylit ( > Abb. 18.22) x Monographie der PhEur: Xylitol (Xylitolum) Xylitol kommt in relativ großen Anteilen in niederen Planzen wie Flechten, Algen, Hefen und höheren Pilzen vor. In höheren Planzen sind Spuren von Xylit in Plaumen, Erdbeeren, Himbeeren und Gemüsen wie Blumenkohl und Feldsalat nachweisbar. Eine Gewinnung aus bio-
. Abb. 18.21
. Abb. 18.22
Der Zuckeralkohol Mannitol leitet sich von der Mannose ab. Neutrale Mannitollösungen sind thermisch stabil und können ohne Zersetzung auf 250 °C erhitzt werden
Xylitol ist als Mesoform optisch inaktiv. Xylitol hat wegen der hohen Lösungsenthalpie einen ausgeprägten Kühleffekt auf der Zunge
18.10 Honig (Mel DAB 2001)
logischem Material ist nicht lohnend. Xylit wird daher partialsynthetisch durch katalytische Hydrierung von d-Xylose produziert, wobei Xylose als Spaltprodukt von Xylanen erhalten wird, die als Nebenprodukt der Zellstofindustrie in großen Mengen anfallen. Xylit ist sehr gut kristallisierbar. Xylit ist eine in Wasser gut lösliche Substanz, die angenehm süß schmeckt und in ihrem relativen Süßwert etwa der Saccharose entspricht ( > Tabelle 22.1). Xylit wird bei oraler Zufuhr nur zu etwa 20% resorbiert. Daher wirkt Xylit in höherer Dosierung auf osmotischem Wege laxierend. Xylit wird in der Leber und in den Erythrozyten über Xylulose in Fructose-6-phosphat umgewandelt. Diese Reaktionsschritte sind insulinunabhängig, sodass Xylit als Zuckeraustauschstof für Diabetiker eingesetzt werden kann (40–80 g/Tag). Xylit wirkt im Unterschied zu Glucose und Rohrzucker nicht kariogen. Aus diesem Grunde wird dieser Zuckeralkohol häuig bei der Herstellung von Hustenbonbons, Lutschtabletten, Mundwässern, Zahnpasten oder Kaugummis eingesetzt. Bei der Herstellung von Infusionslösungen (Autoklavieren) zur parenteralen Ernährung geht Xylit keine Reaktion mit Aminosäuren ein (Maillard-Reaktion) und ist daher als Energieträger geeignet.
18
100 g. Myo-Inositol kann aber auch im menschlichen Organismus selbst synthetisiert werden. Myo-Inositol ist Baustein von Phospholipiden (Phosphatidyl-Inositol), die wesentliche Komponenten von Biomembranen darstellen. Inositol-1,4,5-trisphosphat ist ein „second messenger“, der durch Phospholipase C aus Phosphatidyl-Inositol-4,5-bisphosphat freigesetzt wird und die Ca++-Freisetzung aus dem ER bewirkt. Myo-Inositol wird (als Baustein der Phospholipide) gelegentlich zur Leberschutztherapie oder zur Atheroskleroseprophylaxe eingesetzt, wobei die Wirksamkeit nicht ausreichend belegt ist.
18.10
Honig
x Monographie der PhEur: Mel Honig ist ein stark süß schmeckendes Substanzgemisch, das von Honigbienen (Apis mellifera L., Apidae) produziert wird. Als Ausgangsmaterial verwenden sie Nektar von Blüten (Blüten oder Nektarhonig), Assimilatabsonderungen von Blättern (Blatthonig) oder Blattlausausscheidungen (Honigtauhonig). Die in den entsprechenden Infobox
18.9.8
Myo-Inositol
x Synonyme: Inositolum Myo-Inositol ( > Abb. 18.23) kommt u. a. als Hexaphosphorsäureester in Form der Phytinsäure ( > Abb. 18.9) im Aleuron von Getreidekaryopsen vor. Myo-Inositol kann daher isoliert werden z. B. aus Maisquellwasser, das bei der Gewinnung von Maisstärke anfällt. Reichhaltige myo-Inositol-Quellen bei der Ernährung sind Getreide und Leber von Schlachttieren. Weizenvolkorn z. B. hat einen Inositolgehalt von ca. 200 mg/100 g und Leber von ca. 50 mg/ . Abb. 18.23
myo-Inositol
Inositol existiert in 9 Stereoisomeren, von denen nur das hier dargestellte myo-Inositol von biologischer Bedeutung ist
Honig. Schon in der Bibel ist ein wohlhabendes Land dasjenige, „in dem Milch und Honig fließen“. Honig war stets ein geschätztes Süßungsmittel, wurde aber auch als Heilmittel schon durch Aristoteles empfohlen oder sogar zum Konservieren von Leichen genutzt (osmotischer Effekt). Deutsche sind mit ca.1,4 kg Honig Weltmeister im Honigverzehr. Etwa 80% des deutschen Honigverbrauchs werden importiert. Um die Honigblase in der Größe eines Stecknadelkopfs mit ca. 70 mg Nektar zu füllen, besucht eine Biene bis zu 1000 Blüten (sie ist bienenfleißig). Um 3 kg Nektar zu sammeln, was letztlich 1 kg Honig ergibt, sind bis zu 40.000 Sammelflüge und ein Besuch von mehreren Millionen Blüten notwendig. Im Bienenstock wird der Inhalt der Honigblase (Nektar oder Honigtau) herausgewürgt, von Stockbienen gefressen und erneut in eine Wabe erbrochen. Fressen und Erbrechen durch Stockbienen wiederholen sich mehrmals. Dabei wird der Wassergehalt verringert und das Speichelenzym Invertase zur Spaltung des Disaccharids Saccharose in Glucose und Fructose zugemischt. In der zunächst offenen Wabe reift der Honig innerhalb weniger Tage und wird dann in Lagerzellen umgeschichtet, die mit einem Wachsdeckel versehen als Wintervorrat dienen.
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Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide
Sekreten enthaltene Saccharose wird bei der Honigzubereitung weitgehend zu Invertzucker gespalten. Invertzucker ist ein aus gleichen Teilen bestehendes Gemisch aus d-Glucose und d-Fructose. Mit Pollen vermischt wird der Honig dann in den Waben eingedickt. Honig enthält 60–85% Invertzucker, bis zu 8% Saccharose, geringe Mengen an anderen Zuckern, ca. 0,3% stickstohaltige Verbindungen (u. a. Eiweiße und Aminosäuren), zahlreiche Aromastofe, Vitamine und etwa 20% Wasser. In geringen Anteilen sind auch organische Säuren, Mineralstofe, Pollen und weitere herkuntsspeziische Substanzen vorhanden sowie antibiotisch wirksame Substanzen wie z. B. Pinocembrin, ein 5,7-Dihydroxylavanon. Die Farbe des Honigs variiert je nach biologischer Herkunt von fast farblos über gelb bis dunkelbraun. Je nach Blütenart, die die Bienen zur entsprechenden Blütezeit bevorzugt aufsuchen, wird der Honig benannt, z. B. als Rapsblütenhonig, Lindenblütenhonig, Wiesenblütenhonig, Obstblütenhonig usw. Je nach Gewinnungsart unterscheidet man: x Scheibenhonig (Wabenhonig) aus frisch gebildeten, nicht bebrüteten Waben; x Schleuderhonig aus brutfreien, stockwarmen Waben bei 40 °C abzentrifugiert; Schleuderhonig liefert die Hauptmenge an kommerziellem Honig; x Presshonig (Seimhonig) aus brutfreien Waben, gewonnen durch hydraulisches Pressen auf kaltem Wege. Nach dem von den Bienen genutzten Ausgangsmaterial unterscheiden sich die Sorten: x Blütenhonig: im frischen Zustand dicklüssig und durchscheinend von hellgelber bis dunkelgelber oder grüngelber bis brauner Farbe, wird allmählich fest unter Kristallbildung; x Honigtauhonig (Tannen-, Fichten- oder Blatthonig): Er erstarrt schwer, ist meist weniger süß, dunkel gefärbt und weist einen stark aromatischen, harzartigen Geruch und Geschmack auf. Je nach Qualität wird in der Lebensmittelindustrie diferenziert zwischen Speisehonig als vollwertigem, zum unmittelbaren Genuss bestimmten Honig und Backhonig, der einen nicht vollwertigen, nur als Zusatz zu Backwaren erlaubten Honig darstellt. Gereinigter Honig (Mel depuratum) ist ein von Pollen, Wachs, festen Partikeln und anderen Verunreinigungen sowie Eiweißstofen befreites Präparat. Der Reinigungs-
prozess besteht im Lösen des Honigs in Wasser, Klären der Lösung durch Abheben des sich bildenden Schaums, Filtrieren und anschließendem Eindicken bis zur Dichte von 1,33–1,34. Als konzentrierte, wässrige Lösung von Invertzucker weist Honig im Allgemeinen zusätzlich einen Überschuss an Fructose auf. Die schwach saure Reaktion (pH-Wert 3,3–4,9) wird in erster Linie durch Gluconsäure hervorgerufen, die sich unter Einwirkung von Glucoseoxidase bildet. Die Gluconsäurekonzentration hängt von der Zeitspanne zwischen der Nektaraufnahme und der Wabeneinlagerung ab. Sobald der Wassergehalt der rohen Honigmasse auf 16–19% sinkt, verliert Glucoseoxidase ihre Aktivität. Durch Glucoseoxidase-Aktivität wird H2O2 freigesetzt, worauf die bakteriziden Eigenschaten des Honigs ebenfalls beruhen sollen. Durch den Gehalt an gut resorbierbaren Kohlenhydraten und Aromastofen ist Honig in erster Linie ein vielseitig verwendbares Lebensmittel. Zusammen mit Getreideprodukten und Milch wird er v. a. zu Kindernährmitteln verarbeitet. Die aktuelle medizinische Bedeutung ist gering. Honig ist bei der Herstellung von pharmazeutischen Präparaten in erster Linie als Süßungsmittel und Geschmackskorrigens für lüssige Arzneiformen anzusehen. Bei der Verwendung bei Bronchialkatarrhen (volksmedizinisch: Honig in heißer Milch) soll durch osmotisch bedingte Reizung der Magenschleimhaut (Nervus vagus) relektorisch eine erhöhte Boronchialschleimsekretion bewirkt werden. In der volksmedizinischen Anwendung zur Wundbehandlung wirkt Honig vergleichbar der Glucose auf osmotischem Wege dehydrierend und damit bakterizid sowie wundreinigend durch Steigerung der Wundsekretion. Honig sollte Säuglingen unter einem Jahr nicht verabreicht werden, da er Ursache für eine kindliche Botulismusform sein kann. Honig kann in seltenen Fällen Clostridiumsporen aufweisen, deren Aufnahme primär unschädlich ist. Bei Säuglingen mit einer gering entwickelten Mikrolora kann es jedoch zur Toxinbildung im Gastrointestinaltrakt und in der Folge zur Botulismusentwicklung kommen. Gelée Royale, der Weiselfuttersat zur Aufzucht der Nachkommenschat und der Bienenkönigin, weist einen geringeren Zuckeranteil (bis ca. 15%) auf, dafür aber hohen Gehalt an Eiweiß (bis ca. 18%), Lipiden (ca. 5%) und Vitaminen (u. a. Vitamin B, C, Panthotensäure). Außerdem sind Stofe mit hormonellem Charakter für die Biene enthalten, so z. B. 10-Hydroxy-dec-2-en-Säure oder Dec-
18.11 Pharmazeutisch bedeutsame Oligosaccharide
2-en-1,10-Disäure. Gelèe Royale soll stofwechselaktivierend wirken.
18.11
Pharmazeutisch bedeutsame Oligosaccharide
18.11.1 Saccharose D-d-Glucopyranosyl-E-d-fructofuranosid x Synonyme: Rohrzucker, Rübenzucker, Sucrose x Monographie der PhEur: Saccharose (Saccharum) Saccharose ( > Abb. 18.24) ist als nichtreduzierender Zucker der Trehalosereihe zuzuordnen. Saccharose stellt die wichtigste Transportform (im Phloem) planzlicher Kohlenhydrate dar. Sie ist außerdem bei einigen Planzen in speziischen Planzenorganen in Konzentrationen von bis zu 18% als Speicherkohlenhydrat vorhanden. Als Ausgangsmaterial zur großtechnischen Gewinnung von Saccharose dienen Zuckerrüben (Beta vulgaris L. ssp. vulgaris L. var. altissima Döll, Chenopodiaceae [IIB3e]) mit einem Rübenzuckergehalt von 14–18% sowie Zuckerrohr (Saccharum oicinarum L., Poaceae [IIA9a]) mit 15–20% Rohrzuckergehalt. Mechanisch zerkleinertes Planzenmaterial wird durch Walzenpressen (Zuckerrohr) entsatet oder im Gegenstromverfahren mit heißem Wasser ausgelaugt (Zucker-
. Abb. 18.24
Im Disaccharid Saccharose ist β-D-Fructofuranose mit α-D-Glucopyranose 1,2-glykosidisch verknüpft, weshalb Saccharose keine reduzierenden Eigenschaften hat und Saccharoselösungen keine Mutorotation zeigen
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rübe). Der resultierende Rohsat wird mit Kalkmilch versetzt, um organische Säuren, Proteine und Pektine auszufällen (Klärung). Ein Teil der Saccharose wird als Calciumsaccharat ausgefällt, das durch Einleiten von CO2 gespalten wird, wobei gleichzeitig überschüssige Calciumionen ausgefällt werden. Nach Filtration erhält man den sog. Dünnsat, der gereinigt und in Vakuumanlagen bis zum Kristallisationsbeginn konzentriert wird. Die nach Abkühlen gebildeten Kristallmasse wird über Durchlaufzentrifugen vom Muttersirup abgetrennt. Durch Nachbehandlung (Aktivkohle, Umkristallisation) wird reine, rainierte Saccharose erhalten. Auf dem nordamerikanischen Kontinent wird Saccharose auch aus dem Zuckerahorn (Acer saccharum Marsch., Aceraceae) gewonnen, der in seinem Assimilatsat 3–5% Saccharose aufweist. Weitere tropische Saccharoselieferanten haben nur regionale Bedeutung. Saccharose ist unter verschiedenen Bezeichnungen im Handel, die sich auf Reinheitsgrad, Korngröße und auf die Verwendung beziehen. Daraus resultieren Produkte wie Rainade, Puderzucker, Kristallzucker, Kandiszucker, Einmachzucker, Gelierzucker etc.. Der sog. „Flüssigzucker“ ist eine Saccharoselösung mit mindestens 62% Trockenmasse bei einem Maximalgehalt von 3% Invertzucker. Infobox Saccharose. Lange Zeit wurde Zucker ausschließlich aus Zuckerrohr hergestellt (Rohrzucker). Erst Anfang des 19. Jahrhunderts wurde Zucker erstmals in industriellem Maßstab aus Zuckerrüben gewonnen. Die Weltproduktion an Saccharose aus Zuckerrohr beträgt pro Jahr etwa 111 Mio. Tonnen, für Zuckerrüben-Saccharose ca. 35 Mio. Tonnen. Der hohe Pro-Kopf-Verbrauch in Industrieländern (Europa: 35–45 kg/Jahr) wird für die Entwicklung einer Reihe von Krankheiten verantwortlich gemacht wie Adipositas, Karies, Diabetes mellitus, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Nierenerkrankungen, Proteinmangelerkrankungen. Brauner Zucker oder Rohzucker ist schlicht nicht ganz so gut gereinigter Zucker, weshalb er auch einen charakteristischen Nebengeschmack hat. Er besteht aber zu 99,8 % aus Kohlenhydraten, enthält nur unbedeutende Mengen an Vitaminen und Mineralstoffen und ist nicht gesünder als der so genannte raffinierte, weiße Zucker. Ungesund ist bestenfalls ein zuviel an Zucker, gleichgültig ob weiß oder braun.
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Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide
Saccharose liefert bei der Hydrolyse das als Invertzucker bezeichnete d-Glucose/d-Fructose-Gemisch. Bei dieser „Inversion“ wird die rechtsdrehende Saccharose-Lösung ([D]D/20 = +66,5°) in die in der Summe linksdrehende Invertzuckerlösung (–20°) überführt. Durch Hefe wird Saccharose vergoren mit Hilfe der Saccharase (Invertase, E-Fructosidase). Im Darm wird Saccharose durch die mukosaständige D-Glucosidase hydrolysiert und Glucose sowie Fructose werden resorbiert und in der Folge metabolisiert. Nach i.v.-Applikation wird Saccharose unverändert renal ausgeschieden und kann daher als Osmodiuretikum dienen. Mangel an Dünndarmsaccharase kann bei Kindern zu Unverträglichkeitsreaktionen führen. Beim Glucosemalabsorptionssyndrom, ferner bei Fructoseintoleranz und Saccharasemangel ist auf die Aufnahme von Saccharose vollständig, bei Diabetes mellitus weitgehend zu verzichten bzw. sie ist kontrolliert durchzuführen. Rohrzucker ist in erster Linie ein hochkalorisches Süßungs- und Nahrungsmittel. In der pharmazeutischen Technologie ist Saccharose Grundlage für die Herstellung von Sirupen und dient als Bindemittel zur Feuchtgranulierung, als Trockenbindemittel, als Füllmittel bei der Einstellung von Extrakten oder als Gegensprengmittel für Oraltabletten. Saccharose wird als Füllmittel in Lutschund Kautabletten sowie als Drageeüberzug verwendet. Als süßendes Geschmackskorrigens weist Saccharose die temperaturabhängige relative Süßkrat von 100 auf ( > Tabelle 18.1).
18.11.2 Lactose 4-O-(E-d-Glucopyranosyl)-D-glucopyranose = D-Lactose 4-O-(E-d-Glucopyranosyl)-E-glucopyranose = E-Lactose
x Synoyme: Milchzucker, Saccharum lactis x Monographien des PhEur: Lactose-Monohydrat (Lactosum monohydricum); wasserfreie Lactose (Lactosum anhydricm) Lactose ( > Abb. 18.25) ist ein reduzierendes Disaccharid, das nach Hydrolyse je ein Mol d-Galactose und d-Glucose liefert. Lactose wird in den Milchdrüsen der Säuger gebildet und kommt nur in Spuren in Planzen vor. Der Gehalt an Lactose schwankt je nach Tierart zwischen 1,5 und 9%, wobei Kuhmilch 2,5–5% und die menschliche Muttermilch 5–8% Lactose enthält. In glykosidisch gebundener Form kommt Lactose bei verschiedenen Heterosiden vor. Zur Lactosegewinnung wird Molke auf einen pH-Wert von 6,2 eingestellt, um damit den isolektrischen Punkt des Milchalbumins zu erreichen. Anschließend wird bis zum Sieden erhitzt, um das Milcheiweiß auszufällen. Die danach neutralisierte Lösung wird iltriert und im Vakuum eingedickt. Lactose kristallisiert dann bei langsamem Abkühlen aus. Durch Modiizierung der Trocknungs- und Kristallisationsschritte können unterschiedliche Qualitäten des Disaccharids erhalten werden, die sich durch den Kristallisationsgrad und Kristallwassergehalt unterscheiden. Unter 93,5 °C kristallisiert das schlechter lösliche Monohydrat der D-Lactose aus. Kristallwasser-freie E-Lactose entsteht nach Kristallisation aus konzentrierten Lösungen bei Temperaturen oberhalb 93,5 °C. Sie ist in Wasser besser löslich und süßer, ferner leichter verdaulich als die D-Lactose. Nach peroraler Zufuhr verhält sich Lactose bezüglich Resorption und Metabolisierung wie Saccharose, wobei sie in der Dünndarmmukosa durch die E-d-Galactosidase (Lactase) gespalten wird. Nach oraler Aufnahme größerer Lactosemengen kann ein Teil des Zuckers unzersetzt resorbiert, aber nicht metabolisiert werden und wird prak-
. Abb. 18.25 β-Lactose
α-Lactose
Glc
Glc
Gal
Gal
In wässriger Lösung unterliegt Lactose wegen der freien glykosidischen Hydroxylgruppe am C-1 des Glucoserestes der Mutorotation, wobei nach Gleichgewichtseinstellung ca. 38% α-Lactose und ca. 62% β-Lactose vorliegen
18.11 Pharmazeutisch bedeutsame Oligosaccharide
tisch quantitativ mit dem Harn ausgeschieden. Für die Ernährung des Säuglings ist Lactose essentiell, da sie normalerweise in den ersten Lebensmonaten das einzige Nahrungskohlenhydrat darstellt. Lactose wird bei der Herstellung von Säuglingsnahrungsmitteln eingesetzt, um Kuhmilch mit Lactose anzureichern. Milchzucker ist ein Diätetikum zur Aufrechterhaltung einer normalen Darmlora. Lactose kann auch als osmotisch wirksames mildes Laxans verwendet werden, da beim Erwachsenen meist nur noch geringere E-Galactosidase-Aktivitäten im Darm vorhanden sind. Es kommen hierfür Tagesdosen von ca. 10 g und höher zur Anwendung. Nicht verdaute bzw. resorbierte Lactose wird durch die Darmlora auch partiell zu Milch-, Essig- und Ameisensäure abgebaut, wodurch sich der laxierende Effekt verstärkt. Lactoseintoleranz wegen weitgehenden oder völligen Lactasemangels führt zu abdominellen Beschwerden, Blähungen und Diarrhoen. Infobox Lactoseintoleranz. Lactoseintoleranz wird auch bezeichnet als Milchzuckerunverträglichkeit, Lactosemalabsorption, Lactasemangelsyndrom oder Alactasie. Bei Säuglingen und Kindern wird das von der Darmwand gebildete Verdauungsenzym zur Spaltung des Disaccharids Lactose normalerweise in ausreichender Menge produziert, während bei Erwachsenen Lactasemangel eigentlich die Regel darstellt. Dies gilt prinzipiell für alle Säugetiere und wird u. a. so gedeudet, dass durch Abschalten der Lactoseverwertung mit dem Erwachsenwerden die Milchversorgung ausschließlich für den Nachwuchs garantiert werden soll. Bei Lactoseintoleranz gelangen größere Mengen an Lactose unverdaut in den Dickdarm und werden von der Dickdarmflora metabolisiert, was Völlegfühl, Blähungen, Bauchschmerzen, Durchfälle und Reizungen der Darmschleimhaut nach sich ziehen kann. Nur bei der eurasischen Bevölkerungsgruppe ist durch noch nicht lange zurückliegende (ca. 4000–6000 Jahre) Genmutation auf Chromosom 2 dieser Abschaltmechanismus häufiger defekt, sodass dann bis ins hohe Alter gute Lactosetoleranz existiert. Lactasemangel beim Erwachsenen ist somit eigentlich ein physiologischer, natürlicher Vorgang. Alactasie ist ein angeborener Lactasemangel aufgrund eines autosomal-rezessiv vererbten Gendefekts für die Lactasebildung. Die nicht mit Lactoseintoleranz zu verwechselnde seltene Milchallergie beruht auf einer aktiven Immunreaktion gegen Milcheiweiß.
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Lactose wird als Füllstof für feste Arzneiformen verwendet. Sprühgetrocknete Lactose dient als Trockenbindemittel zur Direkttablettierung, ferner als Verdünnungsmittel zum Einstellen vorgeschriebener Wirkstofgehalte (Normierungen) und als Grundstof für homöopathische Verreibungen. E-Lactose wird überwiegend in der Lebensmittelindustrie verarbeitet. Sie besitzt ca. 40% der Süßkrat von Saccharose ( > Tabelle 18.1) und ist gut verdaulich.
18.11.3 Lactulose 4-O-(E-d-Galactopyranosyl)-ß-d-fructofuranose x Mongraphien der PhEur: Lactulose (Lactulosum), Lactulose-Sirup (Lactulosum liquidum) Lactulose ( > Abb. 18.26) wird in alkalischer Lactoselösung bei erhöhter Temperatur durch Epimerisierung der Glucose zu Fructose gebildet. Der durch Konzentrieren erhaltene Sirup enthält 62–66% Lactulose, noch bis zu 12% Lactose, bis 8% Epilactose, bis 16% Galactose und bis 1% Fructose. Aus der konzentrierten Lösung kristallisiert zunächst Lactose aus. Nach deren Abtrennung und weiterem Einengen kann dann aus der Mutterlauge durch Zusatz von Methanol reine Lactulose auskristallisiert werden. Lactulose wird in erster Linie wegen der osmotisch bedingten laxierenden Wirkung verwendet, wobei Anfangsdosen von 10–20 g/Tag und Erhaltungsdosen 5–10 g/Tag üblich sind. Der Wirkeintritt kann 1–2 Tage dauern; als Nebenwirkungen können Blähungen autreten. Da in der Dünndarmmukosa keine entsprechenden Lactulose-spaltenden Glykosidasen vorhanden sind, erreicht Lactulose das Kolon und wirkt dort osmotisch laxierend. Außerdem entstehen durch bakterielle Metabolisierung Milchsäure, Essigsäure und andere kurzkettige Fettsäuren, die die Darmperistaltik stimulieren. Durch die pH-Senkung kann auch das Wachstum bestimmter Keime wie Salmonellen und Shigellen gehemmt werden, weshalb Lactulose unterstützend bei der Behandlung von Salmonellenenteritiden und bei der Sanierung von Salmonellendauerausscheidern eingesetzt werden kann. Das Wachstum erwünschter Bakterien wie z. B. von Biidobacterium biidus hingegen wird gefördert. Die pH-Senkung bewirkt zusätzlich eine verminderte Ammoniakresorption, sodass eine geschädigte Leber mit ungenügender Entgitungskapazität entlastet werden kann. Lactulose kann daher zur Senkung der en-
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Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide
. Abb. 18.26
Lactulose
4O-(β-D-Galactopyranosyl)-β-D-fructofuranose
4O-(α-D-Galactopyranosyl)-α-D-fructofuranose
Lactulose ist ein Disaccharid aus β-D-Galactose und β-D-Fructose, wobei die glykosidische Verknüpfung über die β-OHGruppe am C-1 der Galactose zur C-4-OH-Gruppe der Fructose erfolgt. In wässriger Lösung bildet sich ein Mutorotationsgleichgewicht, bei dem die Fructose in α- und β-Form sowie in pyranosidischer und furanosidischer Form vorliegt
teralen Ammoniakresorption bei Leberversagen im Zusammenhang mit hepatischer Enzephalopathie eingesetzt werden.
18.11.4 Lactitol 4-O-E-d-Galactopyranosyl-d-glucitol
x Monographie der PhEur: Lactitol-Monohydrat (Lactitolum monohydricum) Durch Hydrierung von Lactose wird Lactitol gewonnen. Das Disaccharid ist kristallin und nicht hygroskopisch. Lactitol ( > Abb. 18.27) wird im Darm weder durch Verdauungsenzyme gespalten noch resorbiert. Im Dickdarm wird Lactitol durch die Darmlora verstofwechselt u. a. zu kurzkettigen Fettsäuren wie Essig-, Propion- und Buttersäure. Zusammen mit osmotischen Efekten wirken größere Gaben an Lactitol daher mild laxierend. Durch . Abb. 18.27
Lactitol
Lactitol ist ein Glykosid aus β-D-Galactopyranosid und D-Glucitol, wobei die glykosidische Bindung über die OHGruppe am C-4 des Glucitols erfolgt
entsprechenden pH-Senkung im Darmmilieu kommt es auch zu verminderter Resorption von NH4+-Ionen, die u. a. aus der Aktivität der Darmlora resultieren. NH4+Ionen werden normalerweise in der Leber rasch zu Harnstof entgitet, was jedoch bei physiolgischer Leberschädigung (z. B. Leberzirrhose) nicht mehr ausreichend der Fall ist und sich u. a. zuerst in Schädigungen im ZNS äußert. Daher wird Lactitol (TD 10–20 g) zur Senkung der enteralen Ammoniakresorption bei Leberversagen in Zusammenhang mit hepatischer Enzephalopathie verwendet.
18.11.5 Maltose 4-O-(D-d-Glucopyranosyl)-D-d-glucopyranose = D-Maltose 4-O-(D-d-Glucopyranosyl)-E-d-glucopyranose = E-Maltose x Synonyme: Malzzucker, Maltosum Maltose ( > Abb. 18.28) ist der Hauptbestandteil von Malzextrakten (Extractum malti). Zur Herstellung dieses komplexen Abbauproduktes aus Gerstenkörnern wird Gerste 2–3 Tage in Wasser gequollen und etwa 10 Tage bei 15 °C angekeimt. Während des Keimungsprozesses wird die Reservestärke des Endosperms durch Amylasen (bevorzugt D-Amylase) partiell abgebaut. Dabei entstehen Dextrine, Maltose und Isomaltose (6-O-D-d-Glucopyranosyl-d-glucopyranose) als Abbauprodukte. Die angekeimte Gerste wird gemahlen und der Verzuckerungsvorgang durch Erwärmen mit Wasser bei ca. 50 °C vollendet (Maischeprozess). Das komplexe Abbauprodukt wird im Vakuum eingedickt oder durch Sprühtrocknung von Was-
18.11 Pharmazeutisch bedeutsame Oligosaccharide
. Abb. 18.28
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Saccharose ( > Tabelle 18.1). Daher wird das Disaccharid kaum als Zuckerersatzstof eingesetzt. Malzextrakt wird als Roborans eingesetzt. Als Hauptbestandteil des Malzextraktes hat Maltose v. a. Bedeutung in der Lebensmittelindustrie.
18.11.6 Isomalt α-Maltose
6-O-D-d-Glucopyranosyl-d-glucitol = 6-O-D-d-Glucopyranosyl-d-sorbitol = 1,6-GPS 1-O-D-d-Glucopyranosyl-d-mannitol = 1,1-GPM x Monographie der PhEur: Isomalt (Isomaltum)
β-Maltose Bei Maltose sind 2 Glucoseeinheiten α-1,4-glykosidisch miteinander verknüpft. Je nach sterischer Stellung der OHGruppe am reduzierenden Ende liegt α- oder β-Maltose vor
ser befreit. Malzextrakt besteht aus Maltose, Dextrinen ( Abb. 18.29) ist ein Gemisch aus den beiden Disacchariden 6-O-D-d-Glucopyranosyl-d-glucitol und 1-O-D-d-Glucopyranosyl-d-mannitol, wobei je nach Herstellungsbedingungen der prozentuale Gehalt von jeweils von 43–57% variieren kann. Zur Gewinnung wird Saccharose zunächst unter Verwendung des immobilisierten Bakteriums Protaminobacter rubrum enzymatisch (Transglucosidierung) überführt in 6-O-D-d-Glucopyranosylfructose (Isomaltulose, Palatinose), die dann nach Reinigung katalytisch hydriert wird. Isomalt hat etwa die halbe Süßkrat der Saccharose ( > Tabelle 18.1) bei kühlendem Geschmack. Isomalt ist nicht kariogen und wird im Dünndarm nur langsam (kaum) hydrolysiert. Entsprechend wird nur wenig freigesetzte Glucose resorbiert. Isomalt ist daher als Diabetikerzucker geeignet, kann aber bei Ein-
. Abb. 18.29 Isomalt α
6-O-α-D-GlucopyranosylD-glucitol
α
1-O-α-D-GlucopyranosylD-mannitol Mannitol
In Isomalt ist D-Glucopyranose entweder mit D-Glucitol α-1,6-glykosidisch oder mit D-Mannitol α-1,1-glykosidisch verknüpft
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nahme größerer Mengen Flatulenz und Diarrhoe verursachen. Isomalt wird als Süßungsmittel für Lutsch- und Kautabletten, Kaugummis, Hustenbonbons usw. verwendet.
18.11.7 Maltitol 4-O-D-d-Glucopyranosyl-d-glucitol
x Synonyme: Maltit x Monographien der PhEur: Maltitol (Maltitolum), Maltitollösung (Maltitolum liquidum) Zur Gewinnung von Maltitol ( > Abb. 18.30) wird Maltosesirup einer katalytischen Hydrierung unterworfen, während für die Herstellung von Maltitollösung eine Lösung mit partiell enzymatisch hydrolysierter Stärke hydriert wird. Maltitollösung enthält dann neben Maltitol (>50%) auch Glucitol sowie hydrierte Oligosaccharide (Tri- bis Hexasaccharide, ca. 23%) und höher Polymere (Hexa- bis Eicosasaccharide, ca. 17%). Maltitol besitzt eine der Saccharose vergleichbare Süßkrat ( > Tabelle 18.1). Der Zuckeraustauschstof wirkt nicht kariogen. Im Verdauungstrakt werden Glucose und Glucitol nur langsam freigesetzt. Größere Mengen (30–50 g) wirken daher . Abb. 18.30
Maltitol ist ein Disaccharid, bei dem zwischen D-Glucopyranose und D-Glucitol eine α-1,4-glykosidische Bindung vorliegt
laxierend. Maltitol wird wegen seiner guten Wasserlöslichkeit eingesetzt in Trinkgranulaten, Kautabletten sowie für Tablettenüberzüge.
! Kernaussagen
Glucose (Traubenzucker) spielt im Kohlenhydratstoffwechsel eine zentrale Rolle. Glucose ist Baustein von Stärke, Glykogen und Cellulose. Der Butzuckerspiegel des Menschen liegt normalerweise bei 80–120 mg Glucose/dl Blut. Fructose (Traubenzucker) ist ein für Diabetiker geeignetes Süßungsmittel. Zuckeralkohole wie Glucitol oder Xylitol sind ebenfalls als Diabetikerzucker geeignet. Honig enthält Invertzucker, ein Gemisch aus gleichen Mengen an Glucose und Fructose. Saccharose, ein Disaccharid aus Glucose und Fructose, wird aus Zuckerrohr oder Zuckerrüben gewonnen und ist der übliche Haushaltszucker. Saccharose ist ein gängiges, kalorienreiches Süßungsmittel. Lactose (Milchzucker), ein Disaccharid aus Glucose und Galactose, kommt in allen Milcharten vor. Lactose wird zur Herstellung diätetischer Lebensmittel und von Kindernährmitteln verwendet. Lactoseintoleranz beruht auf Lactasemangel und führt zu gastrointestinalen Beschwerden bei Konsum größerer Mengen an Milchprodukten. Lactulose und Lactitol sind Lactosederivate, die als Laxanzien und zur Senkung der enteralen Ammoniakresorption eingesetzt werden können. Maltose ist ein Disaccharid aus zwei D-1,4-verknüpften Glucoseeinheiten, das aus dem enzymatischen Stärkeabbau z. B. von Getreidekörnern resultiert. Die anschließende Vergärung wird bei der Herstellung alkoholischer Getränke wie z. B. von Bier genutzt. Bei den Disacchariden Isomalt und Maltitol ist Glucose mit einem Zuckeralkohol glykosidisch verknüpft. Die Zuckerausstauschstoffe sind nicht kariogen und für Diabetiker geeignet.
Literatur
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Schlüsselbegriffe ADPG Aldarsäure Alditol Aldonsäure Aldose Aminozucker Anomere Apiose Arabinose Blutzuckerspiegel Cellobiose C-glycosylische Bindung Cyclitole Deoxyzucker 2-deoxy-Ribose Diastereomere Dideoxyzucker Disaccharid Dulcitol Epimere Fructose Fucose Furanose Galactitol Galactosamin Galactose Galacturonsäure Gentianose Glucitol Glucosamin
Glucose Glucosephosphat Glucuronsäure Glycerol Glykolipid Glykoprotein Glykosid D-glykosidische Bindung E-glykosidische Bindung Guluronsäure Halbacetal Hyperglykämie Hypoglykämie Inositol Invertzucker Isomalt Keto-deoxyoctonsäure 2-Keto-3-deoxyoctonsäure Ketose Lactitol Lactose Lactoseintoleranz Lactulose Maltitol Maltose Mannitol Mannosamin Mannose Mannuronsäure Monosaccharid
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19 19 Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen S. Alban, W. Blaschek 19.1
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . 19.1.1 Struktur . . . . . . . . . . . . . 19.1.2 Eigenschaten . . . . . . . . . . 19.1.3 Abbau von Polysacchariden . . 19.1.4 Vorkommen und Funktionen .
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517 517 521 524 526
19.2
Isolierte planzliche Polysaccharide und wichtige Derivate 19.2.1 Cellulose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2.2 Natürliche Cellulosepräparate . . . . . . . . . . . . 19.2.3 Modiizierte Cellulosen . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2.4 Verbandstofe auf Cellulose-Basis . . . . . . . . . . 19.2.5 Cellulosederivate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2.6 Stärke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2.7 Modiizierte Stärken . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2.8 Stärkederivate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2.9 Fructane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2.10 Pektine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2.11 Anhang: Ballaststofe . . . . . . . . . . . . . . . . .
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528 529 531 533 534 535 539 548 552 554 555 559
19.3
Planzliche Gummen . . . . 19.3.1 Arabisches Gummi . 19.3.2 Tragant . . . . . . . 19.3.3 Karaya-Gummi . . .
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570 571 573 576
19.4
Polysacchariddrogen/Schleimdrogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.4.1 Charakteristika, Qualitätsprüfung und Anwendungsgebiete 19.4.2 Bockshornsamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.4.3 Eibischwurzel und -blätter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.4.4 Flohsamen, Indische Flohsamen und -schalen . . . . . . . . 19.4.5 Guar und Guargalactomannan . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.4.6 Hulattichblätter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.4.7 Isländisches Moos/Isländische Flechte . . . . . . . . . . . . . 19.4.8 Johannisbrotkernmehl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.4.9 Leinsamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.4.10 Lindenblüten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.4.11 Malvenblüten und -blätter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.4.12 Spitzwegerichblätter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.4.13 Wollblumen/Königskerzenblüten . . . . . . . . . . . . . . .
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579 579 584 586 589 592 594 595 598 600 602 603 604 605
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19.5
Bakterienpolysaccharide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.5.1 Bakterielle Zellwand-, Kapsel- und Exopolysaccharide 19.5.2 Dextrane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.5.3 Xanthan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.5.4 Beispiele weiterer Exopolysaccharide . . . . . . . . . .
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607 607 612 615 618
19.6
Pilzpolysaccharide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.6.1 Pullulan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.6.2 Pilzglucane in der adjuvanten Tumortherapie . . . 19.6.3 Zellwandglykane in der Pathogenese von Mykosen
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620 621 622 625
19.7
Algenpolysaccharide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.7.1 Allgemeines zu Algen und Algenpolysacchariden . . . 19.7.2 Alginsäure und Alginate . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.7.3 Agar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.7.4 Carrageen und Carrageenane . . . . . . . . . . . . . . . 19.7.5 Furcelleran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.7.6 Weitere sulfatierte Polysaccharide marinen Ursprungs.
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628 629 632 638 642 647 648
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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653
19.1 Allgemeines
19.1
Allgemeines
19.1.1
Struktur
19
> Einleitung Polysaccharide sind neben den Proteinen und den Nucleinsäuren eine weitere Klasse ubiquitär vorkommender Biopolymere, deren Hauptmasse im Pflanzenreich zu finden ist. Mit den Vertretern Cellulose und Chitin, den beiden organischen Verbindungen mit der größten Verbreitung, repräsentieren sie den Hauptteil der Biomasse der Erde. Ihr chemischer Aufbau aus Monosacchariden bedingt eine außerordentlich große strukturelle Vielfalt. Ein charakteristisches Merkmal der Polysaccharide ist ihre Hydrophilie und die mehr oder weniger stark ausgeprägte Fähigkeit, Wasser zu binden. Diese Eigenschaft ist sowohl physiologisch als auch für die breite Anwendung dieser Naturstoffklasse relevant. Denn Polysaccharide sind nicht nur ein wichtiger Bestandteil unserer Ernährung, sondern haben sich in vielen Bereichen zu unverzichtbaren technischen Hilfsstoffen entwickelt. Neben wenigen eindeutigen Ausnahmen ( > Kap. 20 z. B. Heparin) beruht auch ihre arzneiliche Verwendung überwiegend auf ihren physikochemischen Eigenschaften. Nach einem allgemeinen Kapitel zu Polysacchariden werden zunächst die wichtigsten pflanzlichen, in isolierter Form verwendeten Polysaccharide (mit einem Anhang zum Thema Ballaststoffe) besprochen, anschließend die Gummen, die von Pflanzen sezerniert werden. Ein weiteres Kapitel behandelt die sog. Schleimdrogen, d. h. pflanzliche Drogen, die aufgrund ihres Gehalts an wasserbindenden Polysacchariden in der Phytotherapie eingesetzt werden. In den nachfolgenden Kapiteln werden Grundzüge und wichtige Vertreter von Polysacchariden aus Bakterien, Pilzen und Algen vorgestellt. Während Phycokolloide schon lange einen hohen Stellenwert besitzen, dürfte die Bedeutung biotechnisch produzierbarer Bakterien- und Pilzpolysaccharide künftig noch steigen. Ein relevanter Aspekt ist schließlich auch die Funktion von Bakterien- und Pilzglykanen als Immunogene und Pathogene.
Polysaccharide (syn. Glykane) sind ubiquitär verbreitete Biopolymere, die zahlreiche Funktionen erfüllen. Sie sind wie Oligosaccharide aus Monosacchariden aufgebaut, die unter Ausbildung der Vollacetalform über glykosidische Bindungen miteinander verknüpt sind. Aufgrund der Vielzahl an Monosaccharidbausteinen sowie Verknüpfungsmöglichkeiten ( > Kap. 18.3) ist die Zahl der in der Natur vorkommenden verschiedenen Polysaccharide unermesslich groß und übersteigt bei weitem die der Proteine. Homo- und Heteropolysaccharide. Polysaccharide kön-
nen aus einem (Homopolysaccharide; > Tabelle 19.1) oder verschiedenen Monosaccharidbausteinen (Heteropolysaccharide) bestehen. In Heteropolysacchariden indet man ot periodisch autretende Monosaccharidsequenzen (z. B. bei Lipopolysacchariden oder Glykosaminoglykanen). Diese sog. Wiederholungseinheiten oder „repeating units“ können auch durch nichtperiodische Abschnitte voneinander getrennt vorliegen (z. B. bei Pektinen, Carrageenanen und Alginaten). Heteropolysaccharide sind meist polymolekular, d. h. jedes Molekül hat eine eigene Feinstruktur. Verzweigungen. Die zugrunde liegenden Monosacchari-
de können linear verknüpt sein (z. B. Cellulose oder Amylose), einfach verzweigt sein (z. B. Xanthan) oder ein hoch verzweigtes Netzwerk bilden (z. B. Amylopektin, Glykogen oder Guaran). Die Häuigkeit von Verzweigungsstellen und die Länge der Seitenketten können sehr unterschiedlich sein, was zur Vielfalt und Variabilität der Polymereigenschaten beiträgt ( > Abb. 19.1). Molekulargewicht. Die Größe von Polysaccharidmolekülen ist äußerst variabel. Als Bandbreite wird ein Polymerisationsgrad (DP, „degree of polymerisation“, Anzahl der Monosaccharide pro Makromolekül) von 100 bis 100.000 angegeben, was einer relativen Molmasse (Mr; korrekte Bezeichnung für „Molekulargewicht“) von ungefähr 1,6×104 bis 1,6×107 entspricht. Typische DP-Werte liegen in Größenordnungen von durchschnittlich 200–3000. Nur wenige Polysaccharide (z. B. Fructane oder Laminarin) weisen einen mittleren DP auf, der kleiner als 100 ist. Es kommen aber durchaus Polymere mit DP-Werten von 7000–15.000 vor (z. B. Cellulose, Amylopektin oder Glykogen). Ein Polysaccharid besteht stets aus Molekülen unterschiedlicher
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518
19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
. Tabelle 19.1 Beispiele für Homopolysaccharide. Aus der Vielzahl der möglichen glykosidischen Bindungen, die jeweils in der α- oder β-Konfiguration vorliegen können, ergibt sich selbst bei nur aus einem Monosaccharidbaustein aufgebauten Polysacchariden eine immense Vielfalt Polysaccharid E-D-Glucane
D-D-Glucane
Bindung
Vorkommen
Cellulose
E-(1o4)
Landpflanzen
Laminarin
E-(1o3), (1o6)
Algen
Lichenan
E-(1o3), (1o4)
Flechten
Pustulan
E-(1o6)
Flechten
Amylose
D-(1o4)
Pflanzen
Amylopektin
D-(1o4), (1o6)
Pflanzen
Glykogen
D-(1o4), (1o6)
Tiere, Mensch
Dextran
D-(1o6), (1o4), (1o3)
Bakterien
Pullulan
D-(1o4), (1o6)
Pilze
Isolichenan
D-(1o3), (1o4)
Flechten
Aminoglykane
Chitin
E-(1o4)
Insekten, Krebse, Pilze
E-D-Fructane
Inulin
E-(2o1)
Asteraceae
Levan
E-(2o6)
Bakterien, Gräser
. Abb. 19.1 (1)
(3)
(4)
(2)
Länge (Polydispersität). Dies ergibt sich aus der Biosynthese, die im Gegensatz zur Biosynthese von anderen Makromolekülen wie Proteinen oder Nucleinsäuren nicht matrizencodiert abläut. Folglich zeigen sowohl die mittlere Mr als auch die Molmassenverteilung und somit das Ausmaß der Polydispersität eines bestimmten Polysaccharids eine gewisse Variabilität. Infobox
Schematische Darstellung von Verzweigungstypen eines Polysaccharids. Die Häufigkeit der Verzweigung der Hauptkette wird als „degree of branching“ (DB) angegeben. Ein relativ hoher DB von 0,5 besagt, dass jedes zweite Monosaccharid der Hauptkette eine Verzweigung trägt (Beispiel 1). Die Seitenketten können aus einem Monosaccharid (Beispiel 1), einem Oligosaccharid (Beispiel 2) oder auch längeren Polysaccharidketten bestehen, die selbst linear (Beispiel 3) oder auch wiederum verzweigt (Beispiel 4) sein können, sodass sich baumartige Strukturen ergeben
Molmasse (Mr) und Molmassenverteilung von Polysacchariden (Robyt 1998, Burchard 1991). Aufgrund ihrer Polydispersität ist die Molmasse von Polysacchariden nicht eindeutig zu bestimmen. Es werden daher Mittelwerte einer mehr oder weniger breiten Molmassenverteilung ermittelt. Je nach der verwendeten analytischen Methode erhält man entweder das „number-average molecular weight“ (Mn , Zahlenmittel, arithmetisches Mittel) oder das „weight-average molecular weight“ (Mw , Massenmittel, geometrisches Mittel) als mittlere Molmasse. x Das Mn basiert auf Methoden wie Messung der Reduktionskraft, Osmometrie und Kryoskopie. Mn wird maßgeblich von der jeweiligen Anzahl der Moleküle mit einer bestimmten Mr beeinflusst (Mn = ∑ Ni Mi / ∑ Ni).
6
19.1 Allgemeines
x
x
x
Das Mw erhält man mit Lichtstreumessungen (z. B. „laser light-scattering“) oder Sedimentationsanalysen (Ultrazenrifugation). Mw berücksichtigt die einzelnen Mr entsprechend ihrem Massenanteil (Wi) an der Gesamttraktion, den man auswiegen könnte (Mw = ∑ Wi Mi ). Hierbei werden große Moleküle stärker als kleine gewichtet, sodass das Mw in der Regel größer ist als Mn. Der Quotient Mn/Mw ist ein Maß für die Polydispersität eines Polymers. Bei monodispersen Substanzen ist Mn = Mw und somit Mn/Mw = 1,0. Je breiter die Molekulargewichtsverteilung, desto kleiner ist der Quotient Mn/Mw . Neben Mn und Mw gibt es noch das sog. Z-Mittel (Mz), das sich über Techniken der Ultrazentrifugation bestimmen lässt.
Prinzipiell sind relative und absolute Verfahren der Molmassenbestimmung zu unterscheiden: x Relativmethoden: Ausschlusschromatographie (GPC und GFC) und Viskosimetrie x Absolutmethoden: Osmometrie, Sedimentation, Lichtstreuung. Während Letztere experimentell relativ aufwendig sind, sind die Relativmethoden meist einfacher und schneller durchzuführen und werden daher häufig in der Routineanalytik bevorzugt. Da sie allerdings nur relative Werte liefern, erfordern sie eine adäquate Eichung des Systems mit Substanzen bekannter, d. h. absolut bestimmter Mr . Anmerkungen: x M = Molmasse (syn. molare Masse, Molekülmasse); Einheit: kg/mol. x Mr = relative Molmasse; heute dimensionslos, frühere Einheit: Dalton (Da), die allerdings dennoch häufig für die Mr-Angabe von Proteinen und Biopolymeren benutzt wird. x M sollte nicht mit dem Molekulargewicht gleichgesetzt werden, da Letzteres von der Gravitationskraft abhängt.
Ladung. Polysaccharide können ausschließlich aus neu-
tralen Monosacchariden aufgebaut (z. B. Amylose oder Cellulose) oder negativ geladen sein. Solche anionischen Polysaccharide enthalten entweder Carboxylgruppen tragende Uronsäuren (z. B. Pektine) oder es sind bestimmte
19
Hydroxygruppen einiger oder vieler Monosaccharideinheiten sulfatiert (z. B. Algenpolysaccharide oder Heparin). Die Art und Häuigkeit der negativ geladenen Gruppen sowie die Ladungsverteilung beeinlussen sowohl die physikochemischen als auch die physiologischen Eigenschaten der Polymere.
Räumliche Struktur von Polysacchariden Die im Polysaccharid vorliegende Monosaccharidsequenz einschließlich der jeweiligen Position und Koniguration der glykosidischen Bindungen (Primärstruktur) determiniert die Sekundär- und auch Tertiärstruktur der Polymere. Während die Konformation der einzelnen Monosaccharide innerhalb eines Polysaccharids in der Regel (Ausnahme z. B. Iduronsäure) relativ ixiert ist, sind die glykosidischen Bindungen in einem gewissen Maße beweglich und ermöglichen unterschiedliche Konformationen, d. h. räumliche Anordnungen, der Polymerkette, wobei die Flexibilität bei Bindungen zu primären Hydroxygruppen größer als bei solchen zu sekundären ist. Dies sowie der größere Abstand zwischen den Zuckerresten erklärt beispielsweise die Variabilität hinsichtlich der möglichen Konformationen von 1,6-verknüpten E-d-Glucanen.
! Kernaussage
Die Monosaccharidsequenz determiniert die Konformation der Polysaccharidmoleküle.
Prinzipiell zu unterscheiden sind Polysaccharidmoleküle mit regulärer und solche mit irregulärer Konformation. Erstere besitzen deinierte Sekundär- und Tertiärstrukturen, während Letztere sozusagen als „Zufallsknäuel“ vorliegen und keine geordnete Struktur aufweisen. Innerhalb eines langen Moleküls können jedoch auch Abschnitte mit regulärer Konformation von solchen mit irregulärer unterbrochen sein. Sekundärstrukturen treten bevorzugt bei linearen Ho-
mo- und streng periodisch gebauten Heteropolysacchriden auf. Reguläre Konformationen: So indet man bei (1o4)-D-Glucanen wie Amylose und (1o3)-E-d-Glucanen wie Laminarin, Curdlan oder Lichenan ( > Abb. 19.2) Helices als typische Sekundärstruktur. Eine gestreckte bandartige Sekundärstruktur („ribbon type“) liegt bei (1o4)-E-d-Glucanen wie Cellulose und Chitin vor. Algi-
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520
19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
. Abb. 19.2
(1)
(2)
(4)
zickzack
U-förmig
„locker“ verknüpft
gestreckt, bandartig „ribbon type“
(3)
„random coil“
U-förmig
Helix
stärker gefaltet, bandartig
Konformation (Sekundärstruktur und Tertiärstruktur) von Polysacchariden. Die Konformation von Polysacchariden kann regulär oder irregulär sein. (1) Irreguläre Strukturen sind begünstigt bei unregelmäßiger Primärstruktur und stark verzweigten Polysacchariden sowie bei Beteiligung primärer OH-Gruppen an glykosidischen Bindungen. Letzteres bedingt, dass die monomeren Bausteine räumlich weiter entfernt liegen und durch den zusätzlichen Freiheitsgrad der Rotation nicht in fixierte Lagen gezwungen werden, weshalb die Geometrie dieser Bindungen auch als „lockere Verknüpfung“ beschrieben wird. Die beiden wichtigsten Grundtypen der regulären Konformation sind die bandartige und die helikale Sekundärstruktur. (2) Eine gestreckte, bandförmige Konformation („ribbon type“) ist für β-(1o4)-verknüpfte D-Glucopyranosereste (z. B. Cellulose oder Chitin) charakteristisch. Die gestreckte Konformation der Ketten ist die Konsequenz einer Zickzackgeometrie der von den Monomeren ausgehenden Bindungen zu den O-Brücken, denn sie hat zur Folge, dass die Monosaccharide in einer Ebene liegen. Bei Stauchung der Ketten können sich Wasserstoffbrücken zwischen den Hydroxylgruppen benachbarter Ketten ausbilden (Tertiärstruktur), die zur Stabilisierung und Kristallgitterbildung beitragen. (3) Eine stärker gefaltete, bandartige Konformation ist bei Alginatketten mit α-(1o4)-verknüpften L-Guluronsäureresten (G-Blöcke) zu finden. Sie resultiert aus der U-förmigen Anordnung der Bindungen zu den O-Brücken, bei der die Monomeren nicht mehr in einer Ebene, sondern in einem bestimmten Winkel räumlich gegeneinander versetzt liegen. Diese anionisch geladenen Alginatbänder ebenso wie die Helices der Pektin-Grundstruktur, eines (1o4)-α-D-Galacturonans, können durch zweiwertige Ionen wie Ca2+ stabilisiert werden, sodass räumliche Strukturen (Tertiärstrukturen) entstehen, die an eine Eierschachtel erinnern („egg box type“-Konformation, > Abb. 19.33). (4) Eine helikale Konformation setzt ebenfalls eine U-förmige Geometrie der von den Monomeren ausgehenden Bindungen zu den O-Brücken voraus. Sie ist typisch für (1o3)-verknüpfte Hexosepolymere (z. B. Curdlan oder Lichenan) sowie für Polymere aus β-(1o4)-verknüpften D-Galactosen oder α-(1o4)-verknüpften D-Glucosen. Ein Beispiel ist die Amylose, bei der jeweils sechs Glucopyranosylreste eine Helixwindung bilden. Helices können auf unterschiedliche Weise stabilisiert werden. Wenn der Durchmesser des Helixinnenraums groß genug ist, kann es zur Ausbildung von Einschlussverbindungen kommen. Bei gestreckten Helices können sich Helices umeinanderwinden, sodass Doppel- und Tripelhelices entstehen (Tertiärstruktur) (z. B. bei Pilzglucanen wie Schizophyllan oder Lentinan)
19.1 Allgemeines
natketten mit größeren Abschnitten D-(1o4)-verknüpter l-Guluronsäure (G-Blöcke) bilden hingegen stärker gefaltete, bandartige Strukturen ( > Abb. 19.2). Tertiärstrukturen. Ketten mit regulären Konformationen
sind prädestiniert, miteinander in Wechselwirkung zu treten und übergeordnete Strukturen (Tertiärstruktur) zu bilden: Helices von (1o3)-E-Glucanen können beispielsweise als Doppel- oder sogar Tripelhelices vorliegen. Die Parallellagerung bandartiger Moleküle wie bei der Cellulose und Chitin ergibt kristallähnliche Domänen. Bei negativ geladenen Polyuroniden wie der Pektingrundstruktur aus D-(1o4)-verknüpten d-Galacturonsäure-Einheiten oder den G-Blöcken von Alginatketten entstehen in Gegenwart stabilisierender, zweiwertiger Kationen sog. „egg box type“-Strukturen, die an Eierschachteln erinnern ( > Legende Abb. 19.2). Ungeordnete Strukturen. Sehr viel häuiger jedoch treten
irreguläre Konformationen auf, die keine deinierte Raumarchitektur ergeben („random coil“) ( > Abb. 19.2). Insbesondere verzweigte Polysaccharide bilden kaum geordnete Strukturen aus, da die Verzweigungen keine regelmäßigen Packungen mehrerer Moleküle erlauben. Während man bei Homopolysacchariden abschätzen kann, welche Konformation aufgrund der Geometrie der von den Monomeren ausgehenden Bindungen zu den O-Brücken zu erwarten ist, sind Voraussagen im Falle von Heteroglykanen mit periodischen Sequenzen und interkalierenden aperiodischen Abschnitten schwierig. Unterbrechungen periodischer Sequenzen haben stets Änderungen der Konformation zur Folge. Konformation und Gelbildung. Viele gelbildende Poly-
saccharide (z. B. Alginate, Pektine, Agar, Carrageenane) sind dadurch charakterisiert, dass sie lange Abschnitte mit regelmäßiger Sequenz und regulärer Konformation aufweisen, die durch unperiodische Abschnitte unterbrochen sind. Geordnete Abschnitte zweier oder mehrerer Ketten können miteinander in Wechselwirkung treten, während den ungeordneten Abschnitten diese Fähigkeit fehlt. Infolgedessen kann eine derartig segmentierte lange Kette zu mehreren verschiedenen Molekülen Kontakte knüpfen. Auf diese Weise entsteht letztlich ein dreidimensionales Netzwerk, in dessen Maschen sich Wasser einlagern kann, d. h. ein Gel.
19
Infobox Die Konformation von Cellulose (Lehmann 1996). Cellulose ist ein lineares Homopolysaccharid, dessen E-1o4verknüpften D-Glucopyranoseeinheiten zickzackartig angeordnet sind und gestreckte, bandartig gebaute Ketten („ribbon type“) ergeben. Diese Bandstruktur wird durch intramolekulare Wasserstoffbrücken stabilisiert und erlaubt die dichte Packung mehrerer, antiparalleler Ketten nebeneinander und deren gegenseitige Bindung durch intermolekulare Wasserstoffbrücken. Auf diese Weise entstehen stabile, hoch geordnete Bereiche mit kristalliner Struktur (Mizellen), die mit parakristallinen Bereichen wechseln, in denen die Moleküle nicht streng antiparallel angeordnet sind (z. B. an Kettenenden). Diese sog. Elementarfibrillen oder Micellarstränge lagern sich zu Mikrofibrillen und diese wiederum zu den im Lichtmikroskop sichtbaren Makrofibrillen, den Cellulosefasern, zusammen. Die Bildung solcher Kristallstrukturen mit anti- bzw paralleler Orientierung einzelner Makromoleküle ist bei Polysacchariden eher die Ausnahme und bedingt die einzigartigen physikochemischen Eigenschaften der Cellulose: Cellulosefasern zeichnen sich durch eine große mechanische Festigkeit, Unlöslichkeit und Widerstand gegen hydrolytischen Abbau aus. Ihre kristallinen Strukturen sind auch für Enzyme schwer zugänglich.
19.1.2
Eigenschaften
Die breite Verwendung von Polysacchariden in der pharmazeutischen Technologie und auch ihre Anwendung im medizinischen Bereich beruhen v. a. auf den jeweils charakteristischen physikochemischen Eigenschaten wie Quellfähigkeit, Wasserlöslichkeit, Viskositätserhöhung, Gelbildung, hydrolytische Abbaubarkeit. Diese werden durch die sich aus der Monosaccharidsequenz ergebenden Sekundär- und Tertiärstrukturen (Konformation) der Polysaccharide und ihre Tendenz zur Bildung von Aggregaten und kristallinen Strukturen bestimmt. Zusätzlich sind sie jedoch durch Parameter wie pH-Wert, Temperatur und das ionische Milieu beeinlussbar. Ferner nutzt man in der Praxis die Möglichkeit, die Eigenschaten der genuinen Polymere durch partialsynthetische Modiikationen zu verändern, was beispielsweise zu einer enormen Palette unterschiedlichster Celluloseether und -ester geführt hat.
521
522
19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Infobox Kolloidchemische Begriffe x Quellung: Bei der Quellung wird Wasser durch Nebenvalenzkräfte zwischen Polymerketten oder Kristallschichten eingelagert und führt zur Vergrößerung der Polymerkettenoder Kristallschichtenabstände. Eine begrenzte Quellung führt zur Gelbildung, eine unbegrenzte zu kolloidalen Lösungen. x Sole = kolloidale Lösungen: Kolloidiale Lösungen sind kolloiddisperse Systeme, deren Teilchen (1–100 nm, Submikronen) zwar nicht mit dem Mikroskop, aber durch den Faraday-Tyndall-Effekt sichtbar gemacht werden können. Sie stehen zwischen den echten, molekulardispersen Lösungen und den grobdispersen Suspensionen. x Kolloide: Zu unterscheiden ist zwischen Dispersionskolloiden und Assoziationskolloiden, die durch Nebenvalenzkräfte verbunden sind, und den Molekülkolloiden, die bereits aus Molekülen kolloidaler Dimension bestehen (z. B. Proteine als Sphärokolloide, Polysaccharide als Linearkolloide oder Bentonit als Laminarkolloid), jedoch ggf. durch Nebenvalenzkräfte zu noch größeren Partikeln (makromolekulare Assoziation) zusammentreten können. x Gele: Gele sind feindisperse Systeme aus mindestens zwei Phasen, flüssig und fest (Lyogele) oder gasförmig und fest (Xerogele), bei denen die feste disperse Phase – im Gegensatz zu den flüssigen (verdünnten) kolloidalen Lösungen (Sole) und den Suspensionen – als zusammenhängendes dreidimensionales Gerüst (Textur, Matrix) vorliegt, in dem die Flüssigkeit bzw. das Gas eingeschlossen ist. Beide Phasen durchdringen sich vollständig, d. h. sie sind bikohärent (Phasenkohärenz). Man unterscheidet zwischen Hauptvalenzgelen (z. B. Kautschuk), die nicht in den Sol-Zustand überführt werden
Quellfähigkeit und Löslichkeit. Generell gilt, dass die Quellfähigkeit und Wasserlöslichkeit von Polysacchariden umso besser ist, je geringer der Anteil an Abschnitten mit regulärer Konformation ist. Entsprechend sind Cellulose mit einem hohen Grad an kristallinen Strukturen sowie Curdlan, das nach Erhitzen eine irreversible Tripelhelix ausbildet, in Wasser völlig unlöslich
x
x
x
können, und Nebenvalenzgelen, die durch schwächere intermolekulare Bindungskräfte zusammengehalten werden (z. B. Hydrogele, Organogele und Polyethylenglycolgele). Hydrogele: Hydrogele sind halbfeste, kolloiddisperse Systeme aus Wasser (ca. 80–90%) und organischen oder anorganischen Molekülkolloiden. Sie werden durch begrenzte Quellung der Molekülkolloide hergestellt. Besonders häufig werden Linearkolloide, d. h. langkettige Makromoleküle wie z. B. Polysaccharide, als Gelbildner verwendet. Hydrokolloide: Obwohl es auch Hydrogele auf der Basis anorganischer Stoffe gibt, versteht man unter Hydrokolloiden i. d. R. die gelbildenden organischen Makromoleküle. Neben Gelatine und synthetischen Polymeren wie z. B. Polyacrylsäuren gehören alle in Wasser quellenden Polysaccharide zu den Hydrokolloiden. Polysaccharide, die für medizinische, pharmazeutische und technologische Zwecke als Hydrokolloide genutzt werden, werden hauptsächlich von höheren Pflanzen, aber auch von Algen, Pilzen und Bakterien produziert. Im Bereich der pflanzlichen Polysaccharide kann man zwischen den in isolierter und gegebenenfalls modifizierter Form verwendeten Polysacchariden, den von Pflanzen ausgeschiedenen Gummen und den wegen ihrer Polysaccharide eingesetzten Schleimdrogen unterscheiden. Schleime: Neben den tierischen, aus Glykoproteinen bestehenden Ausscheidungen der Schleimhäute, versteht man darunter Hydrogele und Sole von pflanzlichen Heteropolysacchariden, aufgrund ihrer Quellfähigkeit gebildet werden. Entsprechende Drogen werden häufig als Schleimdrogen bezeichnet und die mit Wasser extrahierbaren Polysaccharide als Schleimstoffe.
und auch nur sehr begrenzt quellfähig, während die linearen Moleküle der helikalen Amylose in heißem Wasser und hochverzweigte Galactomannane bereits in kaltem Wasser löslich sind. Ob lösliche Polysaccharide echte, d. h. molekulardisperse Lösungen oder kolloidale Lösungen bilden, hängt von der Teilchen- bzw. Molekülgröße ab.
19.1 Allgemeines
19
Viskosität. Die Viskosität von Polysaccharidlösungen
x Bei Carrageenanen ist die Bildung von Doppelhelices
wird von der Konzentration, aber auch entscheidend von der Struktur des Polysaccharides bestimmt. Beispielsweise besitzen Lösungen von Acaciae gummi selbst bei hohen Konzentrationen niedrige Viskositäten, während Guaranlösungen bereits bei niedrigen Konzentrationen hochviskos sind. Ferner kann das Viskositätsverhalten durch Zusätze, z. B. Elektrolyte oder ein weiteres Polysaccharid, gezielt modiiziert werden.
nachgewiesen, die u. a. auf dem Vorliegen von 3,6-Anhydrogalactose beruht. x Sind Carboxylgruppen wie in Algin- und Pektinsäuren vorhanden, kommt es in Gegenwart zweiwertiger Kationen zur Vernetzung benachbarter Ketten und zur Entstehung von Mischkristallen („egg box type“Struktur), die die Basis für die Gelbildung darstellen ( > Legende Abb. 19.2). x Bei stark veresterten anionischen Polysacchariden ermöglichen hydrophobe Wechselwirkungen zwischen den Methylestergruppen die Gelbildung. Sie wird durch Säurezugabe verstärkt, weil hierdurch die Dissoziation der Carboxylgruppen zurückgedrängt wird. Dissoziierte Carboxylgruppen wirken durch ihre starke gegenseitige elektrostatische Abstoßung und ihre Hydratation der Gelbildung entgegen.
Gelbildung Eine charakteristische Eigenschat vieler Polysaccharide ist die Bildung von Gelen durch begrenzte Quellung in Gegenwart von Wasser. Geringe Wassermengen führen zu gequollenen Massen von elastischer Beschafenheit. Bei weiterer Wasserzugabe bilden dann die zunächst als „random coil“ (Zufallsknäuel, d. h. ungeordnete Strukturen) vorliegenden Polysaccharidmoleküle durch Nebenvalenzkräte ein zusammenhängendes dreidimensionales Gerüst (Textur, Matrix), in das sich Wasser einlagert. Dadurch entstehen plastisch verformbare Systeme, die aufgrund ihrer Streichfähigkeit beispielsweise als Salbengrundlagen Verwendung inden. Die Eigenschaten dieser Gele (z. B. Stabilität, Plastizität, pH-Wert) hängen vom Polymerisationsgrad, von der Verzweigung und von der Ladung der jeweiligen Polymere ab. Ebenso determinieren die strukturellen Parameter auch die für die Gelbildung erforderlichen Polysaccharidkonzentrationen, die in der Regel im einstelligen Prozentbereich liegen.
Gel- und Solzustand. Überschreitet die Wasserkonzen-
tration in einem Gel einen bestimmten Grenzwert, wird das Netzwerk sozusagen gesprengt und es kommt zur Verlüssigung. Es entsteht ein Sol, das sich vom geordneten Gel dadurch unterscheidet, dass die Makromoleküle räumlich voneinander getrennt vorliegen. Bei manchen Polysacchariden wird das Netzwerk auch durch Temperaturerhöhung zerstört, kann sich jedoch beim Abkühlen zurückbilden. Solche Gele bezeichnet man als thermoreversibel.
! Kernaussage
Die Verwendung von Polysacchariden in Pharmazie und Medizin beruht in vielen Fällen auf ihrer Fähigkeit zur Gebildung.
Gelstrukturen. In Gelen gibt es Regionen, in denen die
Makromoleküle als „random coil“ vorliegen (irreguläre Konformation), und solche mit hochgeordneter Struktur (reguläre Konformation). Für die Ausbildung Letzterer gibt es verschiedene Möglichkeiten.
Nutzung der Gelbildung. Die aktuellen Anwendungsbe-
reiche von gelbildenden Polysacchariden sind breit gefächert. Sie werden häuig als technische Hilfsstofe, v. a.
Infobox Polysaccharide als Medizinprodukte. Nach dem Medizinproduktegesetz sind Medizinprodukte alle Instrumente, Apparate, Vorrichtungen, Stoffe und Zubereitungen aus Stoffen oder andere Gegenstände, die zu ähnlichen Zwecken wie Arzneimittel am Menschen angewendet werden. Im Gegensatz zu Arzneimitteln beruht ihre Wirkung je-
6
doch nicht auf pharmakologischen oder immunologischen Effekten, sondern wird auf überwiegend physikalische Weise erreicht. Die Zulassung wird nicht vom BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) bzw. der EMEA („European Medicines Evaluation Agency“), sondern von privatrechtlichen Prüfstellen (TÜV) erteilt
523
524
19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
und die Anforderungen sind insgesamt weniger streng als die an ein Arzneimittel. Ist ein Medizinprodukt in einem Mitgliedstaat des EWR verkehrsfähig (CE-Kennzeichnung), so ist es dies automatisch auch in den anderen Mitgliedstaaten. Da die Wirkung von Polysacchariden häufig auf ihren physikalischen Eigenschaften beruht, sind viele entsprechende Präparate als Medizinprodukte im Verkehr (z. B. Wundauflagen). Zusätzlich lässt sich der Trend erkennen, dass Hersteller angesichts der hohen Anforderungen an Arzneimittel ihre Präparate gezielt als Medizinprodukte
deklarieren. So werden beispielsweise Hustenpräparate mit Schleimdrogen, die früher als fiktiv zugelassene Arzneimittel im Verkehr waren, nun als Medizinprodukte angeboten. Hyaluronsäure enthaltende Präparate findet man sowohl als Arzneimittel als auch als Medizinprodukte. Auch die Gewicht reduzierende bzw. Cholesterol senkende Wirkung von Chitosan, Alginat und anderen Quellstoffen wird gerne physikalisch erklärt. Chondroitinsulfat zur Blasenspülung wird als Medizinprodukt angeboten, obwohl man den Einsatz durchaus auch pharmakologisch begründen könnte.
Infobox Gelbildende Polysaccharide in der Natur. Organismen nutzen die Fähigkeit von Polysacchariden zur Gelbildung in vielfältiger Weise. Beispiele: x Gelbildende Pektine und Hemicellulosen verleihen der Mittellamelle und den Primärwänden von Pflanzenzellen die für deren Wachstum und Streckung erforderliche Elastizität. Ferner schaffen sie ein Milieu innerhalb der Zellwand, das die freie Diffusion ermöglicht. x Bei Algen findet man weit verbreitet gelbildende anionische Polysaccharide wie Carrageenane, Agar und Al-
auch in der pharmazeutischen Technologie ( > Tabelle 19.2), verwendet und dienen beispielsweise als Stabilisatoren von Suspensionen und Emulsionen, als Bindeund Klebemittel (z. B. bei der Granulierung und Mikroverkapselung) sowie als Gleit- und Quellmittel. Ihre schleimigen und quellenden Eigenschaten nutzt man auch in der Medizin, beispielsweise bei ihrem Einsatz als Quellungslaxanzien. Zur lokalen Reizlinderung können Polysaccharidgele sowohl innerlich als auch äußerlich angewendet werden. Unter den medizinischen Fertigpräparaten auf der Basis von Polysacchariden indet man sowohl Arzneimittel als auch Medizinprodukte ( > Infobox).
19.1.3
Abbau von Polysacchariden
Polysaccharide sind in unterschiedlicher Weise einem hydrolytischen Abbau zugänglich. Teilweise kann es schon bei der Gewinnung und Verarbeitung zur Spaltung der
x
x
ginate, die ihren Zellwänden die für ein Leben im Wasser erforderliche Flexibilität verleihen. Der für den Menschen und andere Vertebraten typische Gelbildner ist die Hyaluronsäure, die Hauptkomponente der Interzellularsubstanz der verschiedenen Bindegewebe. Sie verleiht z. B. dem Knorpel seine Elastizität und ist für die Gelstruktur des Augapfels verantwortlich. Hauptbestandteil der extrazellulären Hülle kapselbildender Bakterien sind Polysaccharide. Sie bilden ein schleimiges Gel, das die Bakterien vor Phagozytose schützt.
glykosidischen Bindungen kommen. Die strukturabhängige Stabilität ist durch viele Faktoren beeinlussbar wie pH-Wert, Temperatur, Wassergehalt, Ionenkonzentrationen und Begleitsubstanzen. In der Regel geht die hydrolytische Spaltung mit einer Reduktion der Viskosität von Polysaccharidlösungen einher.
! Kernaussage
Die hydrolytische Spaltung der glykosidischen Bindungen kann entweder protonenkatalysiert oder enzymatisch erfolgen.
Die für den enzymatischen Abbau von Polysacchariden verantwortlichen Enzyme kommen natürlich in den diese Polysaccharide auch synthetisierenden Organismen vor und dienen dort deren Mobilisierung. Auch an der Verwertung von kohlenhydrathaltiger Nahrung im tierischen Verdauungstrakt sind verschiedene Glykosidasen beteiligt. Eine Vielzahl von Glykosidasen ist mikrobiellen
. Tabelle 19.2 Verwendung von Polysacchariden und -derivaten als Hilfsstoffe laut der Roten Liste 2002. Mit Abstand am häufigsten werden Cellulose und Stärke sowie einige ihrer jeweiligen Derivate verwendet. Die größte Bedeutung unter den übrigen Polysacchariden hat Arabisches Gummi, gefolgt von Xanthan, das heute schon häufiger als Tragant eingesetzt wird Cellulose und Cellulosederivate
Stärke und Stärkederivate
Cellulose
2397
Hypromellose
1425
Maisstärke
Andere pflanzliche Polysaccharide 2205
Arabisches Gummi
Mikrobielle Polysaccharide
Algenpolysaccharide
381
Xanthan
76
Alginsäure
22
Dextran
12
Natriumalginat
38
Carboxymethylstärke
487
Tragant
44
Carmellose
431
Kartoffelstärke
250
Guarmehl
21
Hydroprolose
286
modifizierte Maisstärke
242
Johannisbrotkernmehl
8
Ethylcellulose
173
Maltodextrin
166
Pektin
7
Methylcellulose
Galactomannan
4
110
Stärke
168
Hydroxyethylcellulose
87
Dextrin
50
Celluloseacetatphthalat
40
Weizenstärke
49
Hypromellosephthalat
38
Stärkehydrolysat
19 18
9
Reisstärke
Hydroxymethylcellulose
4
modifizierte Kartoffelstärke
6
Hypromelloseacetatsuccinat
2
modif. Reisstärke
6
Celluloseacetopropionat
1
Betadex
4
Hyetellose
1
Alfadex
3
Hymetellose
1
Amylopektin
3
Carboxymethylamylopektin
2
Amylose
1
6
Carrageenan
1
19.1 Allgemeines
Celluloseacetat
Agar
Calciumalginat und Chitosan finden Verwendung in Medizinprodukten.
19 525
526
19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Ursprungs. Überwiegend sind es Mikroorganismen, die Polysaccharide verwerten und verhindern, dass die Erde an Polysacchariden „überquillt“. In der Industrie werden verschiedene Methoden zum kontrollierten, hydrolytischen Abbau von Polysacchariden eingesetzt, der sich von der Gewinnung von Polymeren für pharmazeutische und technologische Zwecke bis hin zur Verzuckerung von Cellulose erstreckt.
19.1.4
Vorkommen und Funktionen
Schätzungen zufolge liegen mindestens 90% der Kohlenhydrate als Polysaccharide vor. Sie kommen in den meisten lebenden Organismen vor und umfassen ca. 70% der Trockenbiomasse auf der Erde, wobei planzliche Zellwandpolysaccharide den größten Anteil ausmachen. Traditionell wird zwischen Reserve- und Strukturpolysacchariden unterschieden. Heute weiß man jedoch, dass Polysaccharide nicht nur als Energiequelle und Baumaterial fungieren, sondern vielfältige andere Aufgaben in den einzelnen Organismen besitzen können ( > unten) (Robyt 1998; BeMiller 2001). Reservepolysaccharide. Polysaccharide dienen als rasch mobilisierbare Energiequelle oder als Baustolager. Durch die Speicherung in Form von Polymeren umgeht die Zelle osmotische Probleme, die große Mono- oder auch Oligosaccharidmengen hervorrufen würden. Da im Energiestofwechsel der meisten Organismen die Glucose die zentrale Rolle spielt, dominieren in der Natur Glucane als Reservepolysaccharide. Bei Planzen liegen sie in Form der Stärke, zusammengesetzt aus Amylose und Amylopektin, vor, bei Tieren als Glykogen. Durch ihren hohen Verzweigungsgrad bieten Amylopektin und Glykogen zahlreiche Angrifspunkte für rasche enzymatische Mobilisierung. Weitere Speicherpolysaccharide verschiedener Organismengruppen sind in > Tabelle 19.3 aufgeführt. Strukturpolysaccharide. Polysaccharide verleihen Zellen
und Organismen ihre Form und mechanische Stabilität. Bei den meisten Mikroorganismen, Pilzen und Planzen sind Polysaccharide wesentlich am Aubau der Zellwände beteiligt. Dabei wird gerade bei Planzen gerne das Bauprinzip „Stahlbeton“ realisiert: lineare, langkettige Polysaccharidbündel (Cellulose) sind eingebettet in eine eher amorphe Grundmasse aus anderen, meist kleineren, vernetzten und teilweise verzweigten Polysacchariden (Hemi-
. Tabelle 19.3 Reservepolysaccharide verschiedener Organismengruppen Höhere Pflanzen Fructane Galactane Galactomannane Glucomannane D-Glucane (Stärke) Xyloglucane a
Algen
Pilze und Hefen
Tiere
Fructane D-Glucanea E-Glucane Xylane
D-Glucane E-Glucane
D-Glucane (Glykogen)
Sowohl Stärke- als auch Glykogen-ähnliche.
cellulosen), wodurch hohe Zug- mit guter Druckstabilität vereint wird. > Tabelle 19.4 listet weitere charakteristische Zellwandpolysaccharide unterschiedlicher Organismen auf. Das Murein der bakteriellen Zellwand ist eigentlich ein Peptidoglykan, bei dem die linearen Polysaccharidketten durch Peptide quervernetzt sind. Auch Zellwandpolysaccharide anderer Organismen können untereinander und mit anderen Zellwandkomponenten kovalent verknüpt sein. So etwa liegt Chitin in den Zellwänden von Pilzen als Proteoglykan vor. Neben seinem Vorkommen in Pilzzellwänden stellt Chitin eine wichtige Strukturkomponente des Exoskeletts von Insekten und anderen Arthropoden wie Krebsen, Krabben und Spinnen dar. Trotz dieser Klassiizierung in Reserve- und Strukturpolysaccharide ist allerdings besonders bei planzlichen Polysacchariden nicht immer klar, ob sie als Energiereserve, Strukturkomponente oder beides dienen. So ist von den in Zellwänden zu indenden E-Glucanen, Mannanen, Galactanen und Arabinogalactanen bekannt, dass sie auch zur Energiegewinnung genutzt werden. Weitere Funktionen. Daneben erfüllen Polysaccharide
eine Vielzahl anderer Funktionen in den verschiedenen Organismen. Da diese ebenso wie die vielfältigen Strukturen bislang nur teilweise aufgeklärt sind, stellt die folgende Aulistung nur eine Auswahl dar ( > auch Infobox „Gelbildende Polysaccharide in der Natur“): x Speziell Mikroorganismen nutzen Polysaccharide (Kapselpolysaccharide), um sich vor äußeren Einlüssen zu schützen, wie etwa Veränderungen der Temperatur, des pH-Wertes oder der Sauerstokonzentration. Auf diese Weise gelingt es ihnen, sich an ihre jeweilige Umgebung anzupassen.
19.1 Allgemeines
19
. Tabelle 19.4 Zellwandpolysaccharide verschiedener Organismengruppen. Entgegen ihrer Bezeichnung können viele dieser Polysaccharide weitere Monosaccharide enthalten. Beispielsweise enthalten Xylane häufig Uronsäuren, in L-Fucanen kommen neben dem Hauptmonosaccharid L-Fucose, D-Fucose, D-Galactose, D-Glucuronsäure, D-Mannose und D-Xylose vor Höhere Pflanzen Cellulose Hemicellulosen Arabinoxylane x Galactoglucomannane x E-Glucane x Glucomannane x Mannane x Xylane x Xyloglucane Pektine x Arabinane x Arabinogalactane x Galactane x Galacturonane x Rhamnogalacturonane a
Marine Algen
Pilze und Hefen
Bakterien
Alginate Cellulose Galactane x Agar x Carrageenane x Fucellerane E-Glucane L-Fucane Mannane Xylane
Cellulosea
Murein Lipopolysaccharide
Chitin E-Glucane D-Glucane Mannane
Im Gegensatz zu den Pilzen der Abteilung Eumycota („echte Pilze“) besitzen die Vertreter der Abteilung Oomycota Zellwände aus Cellulose.
x Polysaccharide schützen Organismen vor dem Befall durch andere Organismen und Viren sowie der zerstörerischen Wirkung durch immunologische Prozesse. x Aufgrund ihrer Quellfähigkeit dienen Polysaccharide als Schmier- und Gleitmittel, beispielsweise bei der Fortbewegung von Muscheln und Schnecken oder der Bewegung von Knochengelenken. x In tierischen Organismen sind Polysaccharide in Form der Glykosaminoglykane wesentliche Bestandteile der Glykocalyx sowie der extrazellulären Matrix und stel-
len Strukturkomponenten von Haut, Knorpel und Hornhaut dar. x Polysaccharide spielen eine wichtige Rolle bei biologischen Erkennungsprozessen im Rahmen der Infektion und Immunität und sind an Zell-Zell-Interaktionen, Rezeptorerkennung und Signalauslösung beteiligt. x Beispielhat für spezielle Aufgaben sei das Heparansulfat genannt: Als Bestandteil der Glykocalyx von Endothelzellen macht es die Gefäßwände athrombogen und verhindert im intakten Gefäß die Blutgerinnung.
! Kernaussagen x
x 6
Polysaccharide (syn. Glykane) sind ubiquitär verbreitete Biopolymere, die aus glykosidisch verknüpften Monosacchariden aufgebaut sind. Ihre strukturelle Vielfalt ist außerordentlich groß und übersteigt bei weitem die der Proteine. Diverse strukturelle Parameter erlauben eine grobe Einteilung bzw. Charakterisierung der Polysaccharide:
1. 2. 3. 4. 5.
x
Homo- und Heteropolysaccharide, lineare und verzweigte Polysaccharide, Molmasse und Molmassenverteilung, neutrale und anionische Polysaccharide, Konformation, z. B. Helix, „ribbon type“, „random coil“. Viele Polysaccharide sind typische Hydrokolloide, d. h. Molekülkolloide mit der Fähigkeit, mit Wasser halbfeste, kolloiddisperse Systeme (Hydrogele) zu bilden. Als
527
528
19 x
x
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
hydrophile Makromoleküle quellen sie in Wasser und bilden je nach Konzentration und Struktur Gele oder mehr oder weniger viskose Sole. Aufgrund dieser charakteristischen physikochemischen Eigenschaften finden Polysaccharide in vielfältigen Bereichen Verwendung. Sie haben große Bedeutung als technologische Hilfsstoffe, werden aber auch zu medizinischen Zwecken in Form von Arzneimitteln und Medizinprodukten eingesetzt. Polysaccharide sind hydrolytisch abbaubar. Die Spaltung der glykosidischen Bindungen kann entweder
x
protonenkatalysiert (Säuren) oder enzymatisch (Glykosidasen) erfolgen. Etwa 70% der Trockenbiomasse der Erde bestehen aus Polysacchariden, wobei Pflanzen die größte Quelle darstellen. Bei pflanzlichen Polysacchariden unterscheidet man vereinfachend und nicht immer eindeutig zwischen Reserve- und Strukturpolysacchariden. Darüber hinaus besitzen Polysaccharide aber vielfältige weitere Funktionen, die z. T. auf ihren Hydrokolloideigenschaften beruhen.
Schlüsselbegriffe Arzneimittel und Medizinprodukte Degree of branching Degree of polymerisation Egg box type Gele Glykane Glykosidasen Helix Heteropolysaccharide Homopolysaccharide Hydrogele Hydrokolloide
19.2
Hydrolytischer Abbau Kolloidale Lösung Kolloide Konformation Polydispersität Polysaccharide Primärstruktur Quellung Random coil Reservepolysaccharide Repeating units Ribbon type
Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
In diesem Unterkapitel werden planzliche Polysaccharide besprochen, die in allen Planzen vorkommen und in isolierter und teilweise modiizierter Form breite Verwendung inden. Quantitativ gesehen steht Cellulose an erster Stelle der organischen Verbindungen der Erde. Die Hauptmasse wird von Landplanzen produziert, deren Zellwände zu einem Großteil aus Cellulose bestehen. Daneben kommt Cellulose auch in Braun-, Rot- und Grünalgen sowie in Pilzen, Einzellern und als Exopolysaccharid einiger Bakterien vor. Stärke ist die wichtigste Reservesubstanz höherer Planzen und nach Cellulose und Chitin ( > Kap. 20.1.1) das dritthäuigste Kohlenhydrat. In mehr oder weniger verarbeiteter Form spielen beide Homoglucane eine außerordentlich bedeutende Rolle in unserem Leben. Aus
Schleimdrogen Schleime Schleimstoffe Sekundärstruktur Sole Strukturpolysaccharide Technologische Hilfsstoffe Tertiärstruktur U-förmige Geometrie Viskosität Zickzack-Geometrie
Cellulose werden z. B. Papier und Kleidung hergestellt, Stärke ist die Hauptkomponente unserer Nahrung. Ferner gibt es eine Vielfalt von Cellulose- und Stärkederivaten, die u. a. als technologische Hilfsstofe in der pharmazeutischen Technologie von Bedeutung sind. Allein in der PhEur 5 sind etwa 30 Monographien zu Cellulose, Stärke und ihren Derivaten aufgeführt, und in der Roten Liste indet man Tausende von Präparaten, die diese Polymere als Hilfsstofe nutzen ( > Tabelle 19.2). Obgleich Fructane nicht ubiquitär in Planzen vorkommen, werden diese Homoglucane im Anschluss an die Stärke besprochen, da sie manchen Planzen alternativ zur Stärke als Reservepolysaccharid dienen und sich ein Trend zur vermehrten Nutzung isolierter Fructane und ihrer Oligomere abzeichnet. Eine dritte Gruppe ubiquitärer planzlicher Polysaccharide sind die Pektine. Diese Galacturonsäure enthaltenden Polymere sind wie Cellulose Komponenten planzlicher Zellwände. Pektine besitzen v. a. in der Le-
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
bensmitteltechnologie als Gelbildner einen beachtlichen Stellenwert. Kapitel 19.2.11 ist als Anhang den Ballaststofen gewidmet, die sich hauptsächlich aus planzlichen Polysacchariden zusammensetzen und ernährungsphysiologisch wertvolle Bestandteile unserer Nahrung darstellen. Cellulose, resistente Stärke und Pektine sind typische Vertreter, aber keineswegs die einzigen Kohlenhydrate mit Ballaststofcharakter.
19.2.1
Cellulose
Vorkommen. Jährlich werden in der Biosphäre etwa
10 Billionen Tonnen Kohlenstof als Cellulose gebunden. Damit kann dieses Biopolymer als die am meisten verbreitete organische Substanz bezeichnet werden. Cellulose ist ein Strukturpolysaccharid der Zellwände vor allem höherer Planzen, wobei der Cellulosegehalt der Zellwand je nach Diferenzierungszustand des betrefenden Gewebes normalerweise 5–50% beträgt. Die wirtschatlich bedeutendste Cellulosequelle ist Holz von verschiedenen Nadelund Laubbäumen. Holz enthält je nach Holzart 40–50% Cellulose. Rohe Baumwollfasern bestehen zu 85–90% aus Cellulose. Flachs-, Hanf-, Ramie- und Jutefasern weisen ebenfalls hohe, wenn auch etwas niedrigere Anteile an Cellulose auf.
19
Struktur und Eigenschaften Primär- und Sekundärstruktur. Cellulose ist ein hoch-
molekulares, lineares, unlösliches Homopolymer, aufgebaut aus „repeating units“ von Cellobiose, in denen E-dGlucopyranosylreste (1o4)-glykosidisch verknüpt sind. In Bezug auf die Hauptebene des Pyranoserings beinden sich alle OH- und CH2OH-Gruppen sowie die glykosidischen Bindungen in äquatorialer Stellung, während die H-Atome axial angeordnet sind. Die alternierenden Glucosemoleküle sind 180° um die Hauptachse der Glucankette gedreht ( > Abb. 19.3). Die Cellobiose-Einheiten von etwa 1 nm Länge werden zur eigentlichen Wiedererholungseinheit im Molekül. Hieraus resultiert ein laches, bandförmiges Polymer, das durch intramolekulare Wasserstobrücken zwischen den Hydroxylgruppen am C-3 und dem Ringsauerstof eines benachbarten Glucosemoleküls versteit wird. Daneben sind Wasserstobrücken zwischen der Hydroxylgruppe am C-2 und derjenigen am C-6 in der Nachbarglucose vorhanden, die das Glucanband („ribbon type“-Konformation) zusätzlich stabilisieren ( > Abb. 19.2). Tertiärstruktur. Neben den intramolekularen Wasser-
stobrückenbindungen existieren jedoch auch intermolekulare Wasserstobrückenbindungen, die benachbarte Glucanketten in eine geordnete kristalline Ausrichtung
. Abb. 19.3
Cellulose. Gezeigt ist ein Ausschnitt aus zwei parallel liegenden Glucanbändern der Cellulose. Jedes zweite Glucosemolekül ist nach vorne um 180° gekippt. Die D-Glucopyranosen sind untereinander über β-(1o4)-glykosidische Verbindungen verknüpft. Das reduzierende Ende beider Glucanketten befindet sich rechts, das nichtreduzierende links. Jedes Gucanband ist durch intramolekulare Wasserstoffbrücken zwischen den OH-Gruppen am C-3 und dem Ringsauerstoff eines benachbarten Glucosemoleküls sowie zwischen der OH-Gruppe am C-2 und derjenigen am C-6 in der Nachbarglucose versteift. Intermolekulare Wasserstoffbrückenbindungen zwischen den beiden Glucanbändern sind ausgebildet zwischen OH-Gruppen am C-3 und denjenigen am C-6. Mehrere dieser Glucanbänder liegen in der Cellulose nebeneinander, aber auch, was hier nicht dargestellt ist, übereinander. Beim Zusammenhalt von Glucanketten benachbarter Gitterebenen sind dann Wasserstoffbrücken zwischen OH-Gruppen an C-6 und dem Ringsauerstoff beteiligt. Viele (ca. 40 und mehr) solcher Glucanbänder sind zu einer Elementarfibrille gebündelt, mehrere Elementarfibrillen wiederum zu einer Mikrofibrille
529
530
19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
zwingen und damit die Löslichkeit und insbesondere die Reaktivität der Cellulose wesentlich beeinlussen. Solche Wasserstobrücken können sich zwischen benachbarten Glucanketten z. B. von den Hydroxylgruppen am C-3 zu denjenigen am C-6 bilden ( > Abb. 19.3). Das Molekül weist am C-1-Ende eine reduzierende Gruppe auf, während sich am C-4-Ende eine nicht reduzierende, alkoholische Hydroxylgruppe beindet ( > Abb. 19.3). Die physikalischen und chemischen Eigenschaten der Cellulose resultieren aus diesen Grundstrukturen. Die Polysaccharidketten der Cellulose lagern sich zu Elementaribrillen von 3,5 nm Durchmesser zusammen, die aus etwa 36 Celluloseketten gebildet werden. Aus Elementaribrillen werden Mikroibrillen von ca. 5–10 nm Durchmesser und 50–60 nm Länge gebildet. Diese Mikroibrillen sind im Elektronenmikroskop gut erkennbar. Sie lagern sich zu lichtmikroskopisch sichtbaren Makroibrillen zusammen Modifikationen. Bei der nativen Cellulose sind neben
hoch geordneten Abschnitten auch solche mit geringerem Ordnungsgrad als amorphe Bereiche vorhanden. Im nativen Status liegt die sog. Cellulose-I-Modiikation vor. Bei der technischen Verarbeitung von Cellulose entsteht die Modiikation der Cellulose II. Durch Alkalibehandlung werden unter Gitteraufweitung und Verschiebung der Gitterebenen Natriumionen eingelagert. Durch Auswaschen können die Natriumionen entfernt werden, wobei sich das Kristallgitter der Cellulose II ausbildet. Die Glucanketten der Cellulose II sollen im Gegensatz zu Cellulose I dichter gepackt und noch stärker durch Wasserstobrücken vernetzt sein. Die Orientierung scheint bei der Herstellung der Cellulose II von parallel zu antiparallel zu wechseln, d. h. bei Cellulose II sollte eine gegenläuige Orientierung der Glucanmoleküle vorliegen. Kristallinität. Das Kristallgitter der Cellulose besteht aus
pseudomonoklinen Elementarzellen, an deren Aubau ein zentrales Polymer und in den Kantenbereichen weitere Makromoleküle beteiligt sind. Neben dem Gittertyp ist auch der Kristallinitätsgrad für Cellulosen unterschiedlicher biologischer Herkunt variierend, was sich auch auf die speziischen physikalischen Eigenschaten der Cellulosen auswirkt. Der Kristallinitätsgrad kann von ca. 70% bei Baumwollcellulose über ca. 60% bei Holzcellulose auf ca. 40% bei der sog. regenerierten Cellulose sinken. Amorphe Bereiche der Cellulose werden leichter durch Säuren und Enzyme angegrifen, sodass die Hydro-
lyse von Cellulose mit verdünnten Mineralsäuren zu einer Erhöhung des Anteils an kristallinen Bereichen führt ( > mikrokristalline Cellulose). Neben amorphen Regionen, die alternierend mit kristallinen Bereichen vorkommen, inden sich um die Fibrillen herum Schichten mit weniger hoch geordneten Glucanketten. Diese Bereiche reduzierter Kristallinität spielen eine wichtige Rolle bei physikalischen und chemischen Prozessen, die an der nativen Cellulose ablaufen. Absorptions- und Austauschreaktionen sowie Derivatisierungen scheinen bevorzugt an der Oberläche von Fibrillen und in den amorphen Regionen zwischen den Kristalliten abzulaufen, sodass chemische Derivatisierung in heterogenen Systemen zur nichtstatistischen Verteilung von Substituenten führt. Molekulargewicht. Wie die meisten biologisch gebildeten
Polysaccharide hat Cellulose keine deinierte Molmasse, sondern weist das Phänomen der Polydispersität auf. So besteht Cellulose aus Glucanketten von unterschiedlicher Kettenlänge, deren Dimensionen in gewissen Bereichen als charakteristisch angesehen werden. Die Kettenlänge der Glucane wird häuig in DP = „degree of polymerisation“ angegeben, was der Anzahl an Glucoseeinheiten im Glucan entspricht. Baumwollcellulose weist einen hohen durchschnittlichen DP um 15.000 auf, Holzcellulosen ergeben DP-Werte zwischen 5000 und 9000, für Zellstofcellulose liegt der DP bei etwa 3000, regenerierte Cellulose (Rayon) hat einen durchschnittlichen DP von 300. Infobox Cellulose, die Kuh und der Mensch. Wiederkäuer wie die Kuh besitzen die Fähigkeit, pflanzliche Bestandteile als Nährstoffe zu verwerten, die für den Menschen und viele andere Tierarten als unverdaulich gelten und als „Ballaststoffe“ menschlicher Nahrung bezeichnet werden (vgl. Kap. 19.2.11). Bei genauerer Betrachtung sind die Unterschiede zwischen Kuh und Mensch aber geringer als erwartet und in erster Linie das Resultat des richtigen „timing“. Bei der Kuh erfolgt der Abbau von Cellulose, Hemicellulosen und anderer Polysaccharide durch Mikroorganismen im Vormagen (Pansen) – es handelt sich also definitionsgemäß nicht um eine Verdauung, sondern um eine Fermentation. Dabei werden die Kohlenhydrate zu flüchtigen (Acetat, Propionat, Butyrat) und mittellangen (bis C8) Fettsäuren abgebaut, die resorbiert werden und der körpereigenen Biosynthese von Fettsäuren und Glucose die-
6
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
nen. Im Dünndarm schließt sich dann die eigentliche Verdauung der den Pansen verlassenden Mikroorganismen an (v. a. deren Proteine) und von Nährstoffen, die im Pansen nicht abgebaut und/oder resorbiert wurden (Proteine, Fette, Stärke, Vitamine, Mineralstoffe). Die entsprechenden Abbauprodukte werden dann resorbiert. Durch den bereits im Pansen stattfindenden mikrobiellen Abbau kann die Kuh die mit der Nahrung aufgenommenen pflanzlichen Kohlenhydrate in sehr hohem Ausmaß nutzen. Grobe Richtwerte für die Abbaubarkeit von Polysacchariden mit entsprechenden Zuckerbausteinen bei der Kuh betragen für Galactose, Xylose, Arabinose ca. 100%, für Cellobiose, Saccharose, Raffinose ebenfalls ca.100%, für Stärke aus Gerste, Hafer, Weizen ca. 90%, für Stärke aus Mais und Hirse 50–80% und für Cellulose, Hemicellulosen, Pektine und Fructane ca. 90%. Beim Menschen findet demgegenüber die Fermentation der sog. Ballaststoffe erst im Dickdarm durch die Kolonflora und somit nach dem eigentlichen Verdauungsprozess statt. Etwa 70% der entstehenden kurzkettigen Fettsäuren (Acetat, Propionat, n-Butyrat) werden in den menschlichen Energiestoffwechsel eingeschleust. Insgesamt ist die Abbaurate allerdings geringer als bei der Kuh und schwankt je Art der Kohlenhydrate zwischen 0–100%. Außerdem kann der Mensch im Gegensatz zur Kuh die Mikroorganismen nicht als Nährstoffquelle verwerten.
19.2.2
Natürliche Cellulosepräparate
Baumwolle. Baumwolle ist eine alte tropische Kultur-
planze. Baumwolle wird heute v. a. in den USA, China, Indien und in den GUS-Staaten produziert, daneben sind Pakistan, Brasilien, Türkei, Griechenland, Australien, Ägypten, Argentinien, Mexiko, Sudan und Syrien weitere Produktionsländer. Wichtige kultivierte Arten der zur Familie der Malvaceae gehörenden Stauden sind Gossypium herbaceum L., G. hirsutum L., G. barbadense L. und G. arboreum L. Charakteristisch sind wechselständige, lang gestielte fünlappige Blätter und achselständige, fünfzählige, gelbe, weiße oder purpurrote Blüten. Unter den Kelchblättern beindet sich ein aus 3 lang gezähnten Hochblättern gebildeter Außenkelch. Nach Bestäubung (meist Selbstbestäubung) und Befruchtung entwickelt sich eine aus 3–5 Fruchtblättern gebildete Kapsel mit 6–10 Samen, wobei die Epidermiszellen der Samenschale
19
(Testa) zu einzelligen, bandartig abgelachten, in sich schraubig verdrehten, 6–50 mm langen und 40 µm dicken Samenhaaren auswachsen. Zur Fruchtreife springen die Kapseln auf und die wie die Planze als Baumwolle bezeichneten Samenhaare quellen heraus. Zur Gewinnnung der Baumwolle werden die ölhaltigen Samen entfernt. Langstapelige Baumwolle wird meist in der Textilindustrie versponnen, während kurzstapelige Ware z. B. zu Watte verarbeitet wird. Für die Herstellung saugfähiger Produkte werden durch Kochen in verdünnter NaOH unter Druck (Beuche) und anschließende Bleiche mit Natriumhypochlorit und/ oder Peroxid oder gleichzeitige Behandlung mit Peroxid und Natriumchorit Wachse, Pektine, Hemicellulosen, Proteine, Mineralstofe und andere Begleitstofe entfernt. Die Fasern werden mit freien Fettsäuren oder Polyglycolfettsäureestern überzogen (Aviage), um wieder geschmeidig zu werden. Die vorbehandelte Baumwolle wird „gekrempelt“, wodurch eine weitgehende Parallelausrichtung der Fasern erreicht wird. Das Produkt wird schließlich zur Herstellung von Wattevliesen verwendet. Die erhaltenen Watten weisen ein sehr gutes Wasseraufnahmevermögen auf und inden u. a. als Verbandswatte und Verbandsmull Verwendung. Leinenfäden. Leinenfäden bestehen aus Fasern des Peri-
zykels von Linum usitatissimum L. und werden in der Tierchirurgie als nichtresorbierbares Nahtmaterial verwendet. Der Lein (Linum usitatissimum L., Linaceae) wird als Öllein, Ölfaserlein oder Faserlein kultiviert. Beim Faserlein ist die Inloreszenz geringer verzweigt. Im Stängel indet sich ein Leitbündelring, wobei vor den Siebteilen je ein Faserbündel liegt mit Faserzellen in einer Länge von 2–10 cm. Reife Planzen werden nach dem Trocknen gebündelt und einer Fermentation unterzogen. Durch die Fermentation, die entweder in stehendem oder langsam ließendem Wasser (Wasserröste durch Bakterien) oder durch Liegenlassen auf dem Feld (Tauröste durch Pilze) erfolgt, werden Pektine (Mittellamelle) abgebaut und die Zellen lösen sich voneinander. Es kann auch eine chemische Mazeration durchgeführt werden. Nach erneutem Trocknen werden die Stängel geklopt und gebrochen, um Rinden- und Holzgewebe zu entfernen, und die bis zu 60 cm langen Faserbündel werden über dem Nagelbrett parallel ausgerichtet (Hecheln des Flachses). Die Faser ist gut zu verspinnen oder als Garn zu verweben und wirkt wegen der hohen Wärmeleitfähigkeit kühlend.
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Steriler Leinenfaden. Steriler Leinenfaden muss den Anforderungen entsprechen, die in den Monographien „Steriler Leinfaden im Fadenspender für Tiere, Filum lini sterile in fuso ad usum veterinarium PhEur 5“ und „Sterile nichtresorbierbare Fäden, Filia non resorbilia sterilia PhEur 5“ beschrieben sind. Der Leinenfaden besteht aus Fasern von 2,5–5 cm Länge, die zu Bündeln von 30–80 cm zusammengefasst und zu kontinuierlichen Fäden des gewünschten Durchmessers versponnen sind. Die ursprünglich cremeweißen Fäden können eingefärbt werden, damit sie besser sichtbar sind. Sie zeichnen sich durch lange Haltefestigkeit aus. Zellstoff. Als Zellstof wird das aus Holz oder anderen cellulosehaltigen Planzenteilen wie Stroh oder Schilf gewonnene Produkt aus Cellulosefasern bezeichnet. Zur Entfernung der Nichtcellulosebestandteile des Holzes (Hemicellulosen, Lignin u. a.) werden verschiedene Verfahren eingesetzt. Entrindetes und geschnitzeltes Holz, meist von Fichte oder Buche (seltener von Kiefer oder Pappel), wird im Sulitverfahren mit Ca(HSO3)2-Lösung, im Sulfatverfahren mit NaOH, Na2S, Na2CO3 und Na2SO4 oder im Alkaliverfahren mit NaOH einige Stunden unter Druck erhitzt. Nach dem Aufschluss verlieren die Holzfasern und Gefäße ihren ursprünglichen Zusammenhalt und zerfallen zu einer Suspension. Begleitstofe wie Hemicellulosen, Lignin, Harze, Fette, Proteine, Mineralstofe gehen in Lösung und bilden die Ablauge. Durch Mazeration von Rohcellulose mit 17,5%iger NaOH wird D-Cellulose mit einem DP von >2000 erhalten. Die sog. E-Cellulose mit einem DP von 10–150 geht bei dieser Alkalisierung in Lösung und kann durch Ansäuern wieder ausgefällt werden. Die Cellulose enthält noch variierende Anteile unterschiedlicher Hemicellulosen. In der nachfolgenden Bleiche mit Chlor, Chlordioxid oder Hypochlorit und anschließendem Waschen werden nochmals Reste von Begleitstoffen entfernt. Die in Wasser aufgeschwemmten Fasern werden auf Siebbändern zu Faserschichten vereinigt und getrocknet. Der erhaltene Zellstof besteht zu ca. 85–90% aus Cellulose. Aus Zellstof werden verschiedene Produkte wie Verbandzellstof oder Papiertaschentücher erzeugt. Außerdem ist er das Ausgangsmaterial für die Herstellung von Cellulosepulver, mikrokristalliner Cellulose und der gereinigten, regenerierten Cellulose in Form von Viskosefasern, Zellwolle und auch Cellulosederivaten. Schließlich dient Zellstof zur Herstellung von Papier, Textilien und Kunstseide und wird in der Sprengstof-
industrie, aber auch zur Futtermittelproduktion verwendet. Cellulosepulver. Cellulosi pulvis PhEur 5 wird durch
Reinigung und mechanische Zerkleinerung von D-Cellulose, die aus einem Brei von Planzenfasern gewonnen wurde ( > Zellstof ), hergestellt. Der DP beträgt 440–2250. Cellulosepulver wird wie mikrokristalline Cellulose als Hilfsstof eingesetzt. Acetobacter-Cellulose. Neben Planzen sind auch Mikro-
organismen als Cellulosequelle nutzbar. Acetobacter-Cellulose ist eine bakterielle Cellulose, die biotechnisch gewonnnen wird. Acetobacter xylinum und Acetobacter acetii produzieren unter geeigneten Bedingungen extrazelluläre, reine Cellulose, die in Form kristalliner Mikroibrillen als Cellulose I in das Nährmedium abgegeben wird. Da diese Bakterien keine ligninartigen Begleitpolymere und Hemicellulosen produzieren, kann mit diesem biotechnologischen Verfahren reine Cellulose direkt gewonnen werden. Acetobacter-Cellulose hat nicht nur einen höheren Reinheitsgrad als planzliche Cellulose, sondern weitere Vorteile wie ein hohes Wasserbindevermögen, das bis zum 700fachen des Cellulosetrockengewichtes betragen kann. Der relativ hohe Herstellungspreis beschränkt den Einsatz heute allerdings noch auf Spezialanwendungen, für die die speziischen physikalischen Charakteristika und eine hohe Reinheit von Cellulose erforderlich sind. Sie wird zur Herstellung von hochelastischen und reißfesten Membranen verwendet, die bei der Fertigung von Lautsprechermembranen, von Mikro-, Ultrailtrations- und Hämodialysemembranen und von reißfesten Spezialpapieren eingesetzt werden. Im medizinischen Bereich beinden sich einige interessante Applikationen für Acetobacter-Cellulose in der Entwicklung (z. B. als Verbandsmaterial oder gar zeitweiliger Hautersatz bei Brand- und anderen Verletzungen, als Behandlungskissen, ferner als Material für Gefäßprothesen (z. B. „Bacterial Synthesized Cellulose“, BASYC), Gewebe- und Organumhüllung und Ersatz für innere Hohlorgane).
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
Infobox Verwertung der Abbauprodukte von Cellulose und Hemicellulosen. Aus Holz und Cellulosepräparaten werden – häufig mit Hilfe von Mikroorganismen – Abbauprodukte gewonnen, die weitere industrielle Verwendung finden. Die Verzuckerung reiner Cellulose durch saure Hydrolyse zur Glucosegewinnung spielt eine untergeordnete Rolle wegen der Konkurrenz zu anderen Glucosequellen. Es gibt aber verschiedene säurehydrolytische Holzverzuckerungsverfahren, die zu Lignin und Zuckergemischen führen. Letztere werden dann als Futtermittelzusatz oder zur Produktion von Protein und Alkohol z. B. in Hefekulturen verwendet. Durch enzymatische Hydrolysen von Cellulose mit Hilfe von Cellulasen entsteht Cellobiose, die durch Cellobiase zu Glucose umgesetzt werden kann. Die entsprechenden Enzyme werden bevorzugt aus Kulturen von Trichoderma- und Aspergillus-Arten isoliert. Bei der sog. Versprittung kann der Zuckeranteil in den Ablaugen der Zellstoffherstellung unter anaeroben Bedingungen vergoren werden. Meist wird Ethanol produziert (Hefen), aber mit Hilfe anderer Mikroorganismen lassen sich auch Methanol, Propanol oder Butanol herstellen. In einem als Verhefung bezeichneten Prozess werden Polysaccharide durch Hefen (teilweise aber auch durch Bakterien, Pilze und Algen) meist zu Protein umgesetzt (SCP = Single Cell Protein). Die bei der Zellstoffproduktion anfallenden Sulfitablaugen sind z. B. direkt über Verhefung nutzbar. Die bei den verschiedenen Verfahren anfallenden Produkte werden unterschiedlich genutzt. Proteine und Zuckergemische dienen als Futtermittel. Ethanol wird z. B. zu Ethen, Ethylenoxid, Acetaldehyd oder Essigsäure umgewandelt und somit auch zu Grundstoffen für die Herstellung weiterer Produkte (z. B. Lösungsmittel, Kunststoffe, Chemikalien). Lignin wird zur Wärmegewinnung oder Herstellung von Klebstoffen, Bindemitteln und Lösungsmitteln eingesetzt. Hemicellulosen finden als Gelbildner, Verdicker oder Klebstoffe Verwendung. Xylane gelten als eine der wichtigsten Gruppen der Holzhemicellulosen. Sie werden als gelierfähige Substanzen u. a. in der Papierproduktion genutzt. Wichtige hydrolytische Degradationsprodukte von Hemicellulosen sind Furfural und Hydroxymethylfurfural, die Grundstoffe für die industrielle Polymersynthese darstellen.
19.2.3
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Modifizierte Cellulosen
Regenerierte Cellulose nach dem Cuoxamverfahren.
Aufgrund der kristallinen Struktur ist Cellulose in den üblichen Lösungsmittelsystemen als absolut unlöslich zu bezeichnen. In Alkali kommt es bestenfalls zur Quellung von Cellulose. Es gibt jedoch Möglichkeiten, Cellulose durch Bildung von Metallkomplexen in Lösung zu bringen und dann wieder auszufällen (regenerierte Cellulose). Beispielsweise kann aus ammoniakalischen Lösungen von Kupferhydroxid (Cuoxam, Schweizer-Reagens, [Cu(NH3)4] (OH)2) durch Koagulation in Alkali und anschließende Zersetzung in Säure eine Regeneratcellulose in Faser- oder Folienform gewonnen werden (Kupferseide, Kunstseide, Zellglas als Verpackungsfolie). Das Cuoxamverfahren indet u. a. Anwendung bei der Herstellung von Membranen oder Hohlfasern („hollow ibres“) für Dialyseschläuche und -apparate (auch für die Hämodialyse). Regenerierte Cellulose nach dem Viskoseverfahren (Zellwolle). Das wichtigste Verfahren zur Gewinnung von
Regeneratcellulose ist das Viskoseverfahren, bei dem sie aus Viskose, einer Lösung von Cellulosexanthogenat in Natronlauge, ausgefällt wird. Ausgangsmaterial ist nativer Zellstof, der in Tauchpressen mit Natronlauge getränkt und auf ein bestimmtes Gewicht abgepresst wird. Dabei bildet sich Alkalicellulose. Gleichzeitig werden Restanteile von alkalilöslichen Hemicellulosen entfernt. Die alkalisierten Zellstofanteile werden zerfasert und einer mehrstündigen Reife unterzogen. Bei dieser Vorreife werden die Glucanketten der Cellulose z. T. oxidativ abgebaut und verkürzt. Dieser Abbau ist erforderlich, damit die Lösung eine geeignete Viskosität aufweist, um sie durch Spinndüsen hindurchpressen zu können. Die Alkalicellulose wird dann mit Schwefelkohlenstof verknetet, wodurch sich Cellulosexanthogenat mit durchschnittlich 1 CS2-Gruppe pro 2 Glucoseeinheiten bildet. Cellulosexanthogenat wird in verdünnter NaOH gelöst und liefert die als Viskose bezeichnete Spinnlösung. Die im Vakuum entlütete und iltrierte Viskoselösung wird durch feine Düsen in ein schwefelsaures Spinnbad gepresst, wobei die Xanthogenatreste abgespalten werden und die regenerierte Cellulose in Faserform zurückgebildet wird. Die zunächst erhaltenen endlosen Fäden werden als Viskoseseide oder Rayon und die auf die gewünschte Stapellänge geschnittenen Fäden meist als Zellwolle bezeichnet. Fadenstränge werden gesammelt und gestreckt. Durch Zerschneiden der Fäden auf eine bestimmte Stapellänge erhält man z. B. das Ausgangsmaterial
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
für Verbandwatte oder Garne für Verbandgewebe aus Zellwolle (nicht ganz korrekt ot als Viskose bezeichnet). Mikrokristalline Cellulose. Mikrokristalline Cellulose, Cel-
lulosum microcristallinum PhEur 5, ist deiniert als teilweise depolymerisierte Cellulose, die aus D-Cellulose gewonnen wird. Mikrokristalline Cellulose ist ein weißes, feinkörniges Pulver mit einer Teilchengröße zwischen 20 und 150 µm, unlöslich in Wasser, Aceton, Ethanol und Toluol. Bei der Herstellung wird D-Cellulose mechanisch zerkleinert und während 15 min in 2,5 N HCl bei 105 °C partiell hydrolysiert, wobei bevorzugt die amorphen Bereiche angegrifen werden. Dadurch wird ein weitgehend einheitlicher DP von 200–300 erreicht (maximal 350). Mikrokristalline Cellulose hat einen hohen Kristallinitätsindex (KI) von 0,71 im Gegensatz zur nativen Cellulose mit einem KI von 0,23–0,34. Oral applizierte mikrokristalline Cellulose wird bis zu einer Teilchengröße von 150 µm partiell resorbiert und kann bei Tier und Mensch im Blut und Urin nachgewiesen werden. Mikrokristalline Cellulose wird für Tablettierungen als Bindemittel, als zerfallsfördernder Hilfsstof und als Füllmittel eingesetzt. Für die Feuchtgranulation, Brikettierung und Direkttablettierung ist mikrokristalline Cellulose ein wesentlicher Hilfsstof. Bei der Hart- und Weichkapselherstellung wird mikrokristalline Cellulose als Füllstof und als sedimentationsinhibierende Substanz eingesetzt. Aufgrund ihrer hohen Wasserbindungskapazität ist mikrokristalline Cellulose als Laxans vom Typ der Quellstofe anzusehen, wobei sie häuig zusammen mit Methylcellulose eingesetzt wird. Diese Kombination dient zur Verminderung des Hungergefühls bei Reduktionsdiäten.
19.2.4
Verbandsstoffe auf Cellulose-Basis
Aufgrund der Faserstruktur der ibrillären Elemente weisen zahlreiche Materialien aus Cellulose eine ausgezeichnete mechanische Festigkeit und hohe Saugkräte auf, die in Verbandsstofen wie Watte, Verbandmull, Binden usw. genutzt werden. Hierzu werden v. a. Cellulosefasern der Baumwolle, Zellstof und modiizierte Cellulosen wie Viskose verwendet.
Verbandwatten Verbandwatte aus Baumwolle, Lanugo gossypii absorbens PhEur 5 besteht aus Fasern reiner Cellulose. Ver-
bandwatte enthält 6–8% Wasser und nur geringe Restmengen von Fett, Wachs und Mineralstofen. Sie stellt ein rein weißes Vlies aus mechanisch und chemisch gereinigten, gut und gleichmäßig gekämmten, weitgehend entfetteten und gebleichten Baumwollfasern dar. Die Faserlänge (Stapel) soll nicht unter 10 mm betragen. Natürlich anhaftende Verunreinigungen wie Blattreste und Teilchen von Frucht- oder Samenschalen, deren technische Entfernung häuig schwierig ist, sollen nur in Spuren vorhanden sein. Verbandwatte aus Baumwolle hat das größte Wasserhaltevermögen aller Wattesorten; es beträgt mindestens 23 g Wasser pro Gramm Verbandwatte. Sterile Verbandwatte aus Baumwolle, Lanugo gossypii absorbens sterilis PhEur 5 wird durch Sterilisation im Autoklaven erhalten, was in der Regel zu einer schwachen Verfärbung oder Vergilbung führt, jedoch die Qualität nicht beeinlusst. Verbandwatte aus Viskose, Lanugo cellulosi absorbens PhEur 5 wird hergestellt aus nach dem Viskoseverfahren gewonnener und gebleichter Spinnfaser (Zellwolle aus regenerierter Cellulose). Verbandwatte aus Zellwolle wird durch Kämmen (Kardieren) geglättet. Noppen (Knoten), die sich bei der Herstellung durch Zusammenballung einzelner Fasern bilden können, dürfen nur in geringen Mengen vorhanden sein. Die Faserlänge dieser halbsynthetischen Verbandwatte beträgt zwischen 25 und 50 mm. Da die Fasern nicht wie diejenigen der Baumwolle hohl sind, ist das Wasserhaltevermögen geringer und liegt bei ca. 18 g Wasser pro Gramm Zellwolle. Zellwolle kann entweder ein glänzendes Aussehen haben oder mit Titandioxid mattiert sein. Bei mattierter Zellwolle ist das Titandioxid fest gebunden und liegt gleichmäßig verteilt auf der Faseroberläche vor. Dies führt zu einer raueren Oberläche und einer stärkeren Hatung der Fasern aneinander, was für die Anwendung der Watte von Vorteil sein kann. Sterile Verbandwatte aus Viskose, Lanugo cellulosi absorbens sterilis PhEur 5 ist die sterile Variante mit denselben Eigenschaten. Die Verbandswatten auf Viskose dienen z. B. dem Aufsaugen von Exsudaten, der Herstellung von Zahnwatterollen und von Pellets. Verbandwatte aus Baumwolle und Viskose, Mischverbandwatte, Lanugo gossypii et cellulosi absorbens DAB 2004 stellt eine Mischung aus gleichen Teilen nativer Baumwolle und Viskose dar. Es werden die Vorteile beider Faserarten vereinigt: das größere Wasseraufnahme- und
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
Wasserhaltevermögen sowie die bessere Elastizität der Baumwolle, das raschere Aufsaugevermögen und die höhere Faserlänge der Viskose. Sterile Verbandwatte aus Baumwolle und Viskose, Lanugo gossypii et cellulosi absorbens sterilis DAB 2004, kann durch Hitzesterilisation leicht gelblich gefärbt sein. Hochgebleichter Verbandzellstof, Cellulosum ligni depuratum DAB 2004, wird auch als Zellstofverbandwatte bezeichnet und ist aufgrund seines Fabrikationsprozesses als ein Spezialpapier anzusehen. Ausgangsmaterial ist die von Lignin und anderen Begleitstofen befreite und gebleichte Sulitcellulose, die aus Nadel- und/oder Laubholzfasern, gelegentlich auch als Fasermaterial der Poaceen (Stroh) gewonnen wird. Die Cellulose wird nochmals gereinigt und gebleicht. Die im Verbandzellstof vorliegenden Fasern unterscheiden sich in Form und Aussehen entsprechend ihrer biologischen Herkunt: Koniferenholzfasern sind etwa 2,5–3,8 mm lang und 20–70 µm breit. Laubholzfasern sind durchschnittlich 1 mm lang und 30 µm breit, Poaceenfasern sind 0,5–2 mm lang und 10–20 µm breit. Die Fasern sind miteinander verilzt und bilden übereinander liegende, gekreppte Einzellagen. Verbandszellstof wird z. B. als Mullzellstokompressen und Tupfer zum Aufsaugen von Exsudaten verwendet. Er darf nicht unmittelbar auf Wunden aufgebracht werden. Steriler, hochgebleichter Verbandzellstof, Cellulosum ligni depuratum sterile DAB 2001, ist leicht vergilbt, was aber nicht als qualitätsmindernd angesehen werden kann.
Verbandmull und Mullbinden Verbandmull aus Baumwolle, Tela gosypii absorbens, ist ein aus Baumwolle hergestelltes, gereinigtes und gebleichtes Gewebe in Leinwandbindung. Die Art der Verlechtung der Kettfäden mit den Schussfäden wird als Bindung bezeichnet. Bei der sog. Leinwandbindung liegt der Schussfaden abwechselnd über oder unter einem Kettfaden. Damit erreicht das Aussehen von Ober- und Unterseiten eine weitgehende Identität. Verbandmull soll möglichst frei von Webfehlern sein und darf nur Spuren von natürlichen Verunreinigungen wie Blattresten und Teilchen von Frucht- oder Samenschalen enthalten. Als wesentliches qualitätsbestimmendes Kriterium wird die Fadenzahl pro Flächeneinheit ermittelt. Die nach dem
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Sterilisieren im Autoklaven hervorgerufenen Vergilbungen sind bei Verbandmull schwächer ausgeprägt als bei Verbandwatte aus Baumwolle. Tamponadebinden aus Baumwolle, Obturamenta gossypii absorbentia, sind schmale 22- oder 24-fädige Baumwollmullbinden in Leinwandbindung mit Webkante zum Einlegen in Wundhöhlen. Sie werden auch als Webkantbinden bezeichnet. Sterile Tamponadebinden aus Baumwolle, Obturamenta gossypii absorbentia sterilia, können durch Hitzesterilisation leicht gelblich gefärbt sein. Tamponadebinden aus Baumwolle und Viskose, Obturamenta gossypii et cellulosi regenerati absorbentia, werden wie oben beschrieben hergestellt, wobei entweder die Kettfäden und die Schussfäden aus Viskosefasern bzw. Baumwollfasern bestehen oder aus einer Mischung aus Baumwolle und Viskose. Der Baumwoll-/Viskoseanteil liegt meist bei je 50%. Sterile Tamponadebinden aus Baumwolle und Viskose, Obturamenta gossypii et cellulosi regenerati absorbentia sterilia, können durch die Hitzesterilisation leicht gelblich gefärbt sein.
19.2.5
Cellulosederivate
In den Glucanketten der Cellulose können die primären und sekundären Hydroxylgruppen in entsprechenden Reaktionen partiell oder vollständig derivatisiert werden. Da Cellulose in den meisten Lösungsmitteln unlöslich ist, laufen Derivatisierungsreaktionen zunächst in heterogenen Systemen ab. Außerdem weisen die drei Hydroxylgruppen der Glucoseeinheiten unterschiedliche Reaktivität auf. Damit erklärt sich die meist ungleichmäßige, nichtstatistische Verteilung der Substituenten in Cellulosederivaten. Der durchschnittliche Substitutionsgrad (DS) eines Derivats kann zwischen 0 und maximal 3 liegen. Der DS und die Verteilung von Substituenten haben Einluss auf die Löslichkeit, Rheologie und andere Eigenschaten der Cellulosederivate. Die wichtigsten Cellulosederivate, die aus Baumwoll-Linters (= Baumwollfasern, die zum Verspinnen zu kurz sind) oder Chemiezellstofen hergestellt werden, sind Ester und Ether. Die in der nativen Cellulose vorhandenen Wasserstobrücken verhindern weitgehend eine Hydratation der Molekülketten. Bei Substitution durch Methyl-, Hy-
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
droxyethyl- oder andere geeignete Gruppen indet eine Vergrößerung der Abstände zwischen den Ketten statt und es wird das Eindringen von Lösungsmitteln zwischen den Ketten ermöglicht. Celluloseäther besitzen in Abhängigkeit von Substituent und Substitutionsgrad unterschiedliche Lösungseigenschaten in wässrigen Systemen und organischen Lösungsmitteln. In > Abb. 19.4 und > Abb. 19.5 sind wichtige Celluloseether und -ester mit ihren charakteristischen Substituenten zusammengefasst. Die entstehenden Produkte sind Hilfsstofe in der Pharmazeutischen Technologie, aber auch im Bereich der Lebensmitteltechnologie, der Kosmetik und anderen industriellen Bereichen. Die quellfähigen oder löslichen Cellulosederivate dienen z. B. der Erhöhung der Viskosität von Lösungen, als Verdickungsmittel, Suspensions- und Emulsionsstabilisatoren, Einbettungshilfsstof oder Umhüllungsmittel.
. Abb. 19.4
Celluloseether Carmellose ist die internationale Bezeichnung für Carboxymethylcellulose (CMC). Carmellose dient der Viskositätserhöhung wässriger Systeme wie Suspensionen und Emulsionen. Wässrige Lösungen sollten antimikrobielle Zusätze enthalten. Werden Carmellose-Lösungen in dünner Schicht getrocknet, bilden sich folienartige Xerogele, die durch Weichmacherzusatz geschmeidiger werden. Carmellose wird auch als Binde- und Sprengmittel verwendet. Carmellose-Calcium (CMC-Ca), Carmellosum calcicum PhEur 5, ist das Calciumsalz einer partiell O-carboxymethylierten Cellulose. CMC-Ca ist praktisch unlöslich in Aceton, Ethanol oder Toluol, quillt aber in Wasser unter Bildung einer Suspension. Carmellose-Natrium (CMC-Na), Carmellosum natricum PhEur 5, ist das Natriumsalz einer partiell O-car-
Substituenten
Celluloseether. Sie sind dadurch charakterisiert, dass je nach Substitutionsgrad der Cellulosederivate 1, 2 oder alle 3 freien OH-Gruppen an C-2, C-3 und C-6 der einzelnen Glucoseeinheiten in der Cellulose durch die entsprechenden Substituenten ersetzt sein können
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
. Abb. 19.5
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Substituenten
Celluloseester. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass je nach Substitutionsgrad der Cellulosederivate 1, 2 oder alle 3 freien OH-Gruppen an C-2, C-3 und C-6 der einzelnen Glucose-Einheiten in der Celluose derivatisiert sein können
boxymethylierten Cellulose mit mindestens 6,5 und höchstens 10,8% Natrium. CMC-Na ist praktisch unlöslich in Aceton, Ethanol, Ether oder Toluol, aber in Wasser leicht dispergierbar unter Erhalt von Gelen (vgl. Carmellose-Natrium-Gel, DAB 2004) bzw. kolloidalen Lösungen. Niedrigsubstituiertes Carmellose-Natrium, Carmellosum natricum substitutum humile PhEur 5, enthält wegen des niedrigeren Substitutionsgrads nur 2–4,5% Natrium. Das Produkt ist praktisch unlöslich in Aceton, Ethanol oder Toluol, quillt aber in Wasser unter Bildung eines Gels. Croscarmellose-Natrium (NaCMC-CL), Carmellosum natricum conexum PhEur 5, ist vernetzte Natrium-Carboxymethylcellulose, also das Natriumsalz einer partiell O-carboxymethylierten, vernetzten Cellulose. Die Vernetzung wird erreicht durch Veresterung von Oxymethylcarboxygruppen der einen Kette mit Hydroxygruppen der anderen Kette. Das Produkt ist praktisch unlöslich in Aceton, Ethanol, Toluol und auch in Wasser. Croscarmellose wird wegen des hohen Wasserabsorptionsvermögens als Sprengmittel verwendet, als Stabilisator von Suspensionen und Emulsionen, in topischen Zubereitungen zum Schutz von Haut und Schleimhäuten, in künstlichem Speichel und Tränenlüssigkeiten. Ethylcellulose (EC), Ethylcellulosum PhEur 5, ist teilweise O-ethylierte Cellulose mit einem Gehalt von 44–51% Ethoxygruppen. EC ist in Wasser praktisch unlöslich, schwer löslich in Ethylacetat und Methanol, aber gut löslich in Dichormethan. EC indet daher Anwendung z. B. bei der
Herstellung von Filmen mit begrenzter Wasserlöslichkeit. Ethylcellulose wird als Überzugsmaterial für Tabletten und Granulate eingesetzt und dient der Retardierung von Wirkstofen. Phthalsäureester, Macrogole und Propylenglycol dienen als Weichmacher von EC-Filmen. Bei Retardpräparaten bestimmen Filmdicke und Weichmacherzusatz die Freisetzungsgeschwindigkeit. Hydroxyethylcellulose (HEC), Hydroxyethylcellulosum PhEur 5, ist partiell O-(2-hydroxyethylierte) Cellulose. HEC ist praktisch unlöslich in Aceton, Ethanol und Toluol und bildet in heißem und kaltem Wasser eine kolloidale Lösung. HEC wird in Lösungen, Suspensionen und Emulsionen als Verdickungs- und Stabilisierungsmittel eingesetzt, als Bindemittel in Granulaten und als Gerüstbildner bei der Produktion von Retardtabletten und Kapseln. HEC kann zur Herstellung klarer, streichfähiger Gele verwendet werden (vgl. Hydroxyethylcelllulosegel, DAB 2004). HEC indet sich in Lösungen, Suspensionen, Gelen, Säten, Sirupen, Augen- und Nasentropfen, Film-, Kau- und Retardtabletten. Hydroxypropylcellulose (HPC), Hydroxypropylcellulosum PhEur 5, ist teilweise O-(2-hydroxypropylierte) Cellulose. HPC ist löslich in kaltem Wasser, Ethanol, Methanol, schlecht löslich in Aceton und praktisch unlöslich in heißem Wasser oder Toluol. HPC erhöht die Viskosität lüssiger Arzneizubereitungen und stabilisiert Emulsionen und Suspensionen. HPC dient auch als Bindemittel und Überzugssubstanz bei der Tablettierung. Wegen der thermoplastischen Eigenschaten kann HPC bei der Extrusion, in Spritzguss- oder Tiefziehverfahren eingesetzt werden.
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Methylcellulose (MC), Methylcellulosum PhEur 5, ist partiell O-methoxylierte Cellulose. Methylcellulosen mit einem DS von 1,4–2 sind in kaltem Wasser löslich, fallen aber in heißem Wasser wieder aus. Bei einem DS von 2,4– 2,8 ist keine Wasserlöslichkeit mehr gegeben, jedoch Löslichkeit in organischen Lösungsmitteln. Auch bei einem DS unter 1,1 nimmt die Wasserlöslichkeit wieder ab, da verstärkt die Unlöslichkeit der Cellulose zum Tragen kommt. MC erhöht die Viskosität lüssiger Zubereitungen, stabilisiert Suspensionen und Emulsionen, ist Hilfsstof und Bindemittel bei der Herstellung von Granulaten, Dragiersuspensionen und Lacktabletten. Methylhydroxyethylcellulose (MHEC), Methylhydroxyethylcellulosum PhEur 5, ist eine partiell O-methylierte und O-(2-hydroxyethylierte Cellulose. MHEC löst sich in Wasser unter Bildung einer kolloidalen, hochviskosen Lösung. Es wirkt daher einerseits durch Volumenreiz laxierend, kann aber auch bei Gabe mit wenig Wasser einer Diarrhoe entgegenwirken. MHEC wird als Viskositätserhöher und Stabilisator von lüssigen Zubereitungen, Suspensionen und Emulsionen eingesetzt. Es dient auch als Hilfsstof und Bindemittel in der Produktion von Granulaten und Drageeüberzügen. Hypromellose (HPMC), Hydroxypropylmethylcellulose, Hypromellosum PhEur 5, ist eine partiell O-methylierte und O-(2-hydroxypropylierte) Cellulose. HPMC löst sich in kaltem Wasser unter Bildung einer kolloidalen Lösung. Das Hydrokolloid dient als Viskositätserhöher und Stabilisator von lüssigen Zubereitungen und ist Hilfsstof bei der Herstellung von Suspensionen, Gelen, Augentropfen, Nasensprays, Trockensäten, Pulvern, Granulaten, Tabletten, Dragees und Kapseln. Hypromellosephthalat (HPMCP), Hydroxypropylmethylcellulosephthalat, Hypromellosi phthalas PhEur 5, ist der Monoester der Phthalsäure mit Hypromellose und enthält außer Methoxy- und 2-Hydroxypropoxy-Gruppen auch 21–35% Phthaloylgruppen. HPMCP ist in Wasser und Ethanol praktisch unlöslich, geht aber in Mischungen aus gleichen Volumenteilen an Aceton/Methanol oder Dichlormethan/Methanol in Lösung. HPMCP wird bei der Herstellung magensatresistenter Umhüllungen oder Einbettungen eingesetzt, wobei auf Weichmacherzusatz verzichtet werden kann. Auch in der Mikroverkapselung fetthaltiger Zubereitungen indet HPMCP Verwendung.
Celluloseester Celluloseacetat (CA), Cellulosi acetas PhEur 5 ist partiell oder vollständig O-acetylierte Cellulose mit 29,0–44,8% Acetylgruppen. CA ist in Wasser und Ethanol praktisch unlöslich, aber löslich z. B. in Aceton, Ameisensäure oder Dichlormethan/Methanol (1:1, v/v). CA wird als Hilfsstof bei der Herstellung von Tabletten, Granulaten, Pellets oder Mikrokapseln verwendet. Zielsetzung ist häuig modiizierte Wirkstoffreisetzung. Celluloseacetatbutyrat (CAB), Cellulosi acetas butyras PhEur 5, ist partiell oder vollständig O-acetylierte und O-butyrylierte Cellulose, die 2–30% Acetyl- und 16–53% Butyrylgruppen enthält. CAB ist unlöslich in Wasser und Ethanol, aber löslich in Aceton, Ameisensäure und Dichlormethan/Methanol (1:1, v/v).CAB weist im Vergleich zu Celluloseacetat höhere Härte und Festigkeit auf. Celluloseacetatphthalat (CAP), Cellulosi acetas phthalas PhEur 5, ist teilweise O-acetylierte und O-phthalylierte Cellulose mit einem Gehalt an 21,5–26,0% Acetylund 30–36% Phthalylgruppen. CAP ist in reinem Wasser, Ethanol und Dichlormethan praktisch unlöslich, aber löslich in Aceton, Diethylenglycol oder verdünnten Alkalihydroxidlösungen. In wässrigen Puferlösungen wird CAP bei pH-Werten über 5,5–6 durch Salzbildung zunehmend löslich und kann daher zur Herstellung magensatresistenter, dünndarmlöslicher Überzüge verwendet werden, wobei der Einsatz von Weichmachern wie Phthalsäureestern notwendig ist. Collodiumwolle, Pyroxilinumestern DAC (syn. Cellulosum nitricum, Colloxylinum), besteht im Gegensatz zur hochexplosiven, höher veresterten Nitrocellulose (syn. Schießbaumwolle) vorwiegend aus Dinitrocellulose. Die partielle Veresterung erfolgt durch Behandlung von entfetteter Cellulose mit einem Gemisch aus Salpetersäure und Schwefelsäure bei Raumtemperatur. Die nach Waschen und Trocknen resultierende weiße, verilzte Masse ist löslich in Aceton und 98%iger Essigsäure. Collodium DAC und Collodium elasticum DAC. Als Collodium bezeichnet man die sirupdicke Flüssigkeit, die man durch Aulösen von Collodiumwolle in einem 1:3 Gemisch aus Ethanol 90% (V/V) und Diethylether erhält. Nach dem Verdunsten des Lösungsmittels bildet sich ein fest zusammenhängendes Häutchen. Collodium elasti-
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
cum ist Collodium mit einem Zusatz von 3% Rizinusöl. Beide Lösungen können zum Verschluss kleiner Wunden, Frostbeulen usw. verwendet werden, haben ihre Bedeutung in dieser Anwendung heute aber praktisch verloren. In Kombination mit Salicylsäure werden sie allerdings auch heute noch zur lokalen Behandlung von Warzen, Hühneraugen, Hornhautschwielen usw. eingesetzt. Infobox Cellulosederivate als Wirkstoffe. Obwohl Cellulosederivate hauptsächlich als Hilfsstoffe verwendet werden, gibt es auch einige Arzneimittel und Medizinprodukte, in denen sie als Wirkstoffe fungieren. HPMC- und HEC-haltige Ophthalmika werden bei Keratoconjunctivitis sicca, rezidivierende Hornhauterosionen, zum Hornhautschutz, als chirurgisches Hilfsmittel und zum Benetzen von Kontaktlinsen eingesetzt. HEC-Gele dienen zur Behandlung von schlecht heilenden Wunden (Dekubitus, Ulcus cruris, diabetische Gangrän), sowie von Hautabschürfungen, Verbrennungen und Erfrierungen. CMC ist ebenfalls Bestandteil von Wundbehandlungsmitteln, ferner von Mund- und Rachentherapeutika und Abmagerungsmitteln. Außerdem wird es zur Herstellung von Röntgenkontrastmitteln, künstlichen Tränen und Speichel und zur Fixierung von künstlichen Darmausgängen genutzt. Für oral appliziertes Cellulosephosphat ist die Wirkung als Kationenaustauscher bei adsorptiver Hyperkalziurie und anderen hyperkalzämischen Zuständen beschrieben; weiterhin kann es zur Diagnostik der Calciumresorption verwendet werden. Cellulosesulfat wird in Form von Vaginalzäpfchen als Antikonzeptivum angeboten.
19.2.6
Stärke
Stärke ist die Nummer 1 unter den planzlichen Reservekohlenhydraten und kommt in variierenden Anteilen in den verschiedensten planzlichen Organen vor. Sie liegt in Form wasserunlöslicher Stärkekörner (Stärkegranula) vor. Stärke besteht aus zwei Polysacchariden, der Amylose und dem Amylopektin, wobei in den Stärkekörnern höherer Planzen der Anteil der Amylose ca. 15–30% und der des Amylopektin ca. 70–85% beträgt. Beide Polysaccharidtypen ergeben beim säurekatalysierten Abbau ausschließ-
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lich d-Glucose, unterscheiden sich jedoch in ihrer Wasserlöslichkeit, Molmasse und Färbbarkeit mit Iodlösung. Knollenstärken enthalten zusätzlich geringe Mengen (bis 0,2%) kovalent gebundener Phosphatgruppen. Kartofelamylopektin besitzt beispielsweise an jedem 200.– 300. Glucosebaustein der B-Ketten C-6-Phosphatestergruppen. Poaceenstärken sind phosphatfrei, enthalten aber 1–5% Lipide, die möglicherweise in die Amylosehelix eingeschlossen sind. Infobox Assimilationsstärke, Reservestärke, Stärkegranula (Nultsch 2001). Im Rahmen der Photosynthese wird zunächst in den Chloroplasten grüner Blätter die transiente Assimilationsstärke gebildet. Diese wird in der folgenden Dunkelreaktion wieder abgebaut und in Form von Saccharose, selten auch Raffinose zu den Orten des Verbrauchs oder in die Speicherorgane transportiert. Dort erfolgt in den Amyloplasten die Umwandlung in die Reservestärke, wo sie dann in Form dichter, wasserunlöslicher Stärkegranula gespeichert wird. Mit zunehmender Stärkeablagerung wird die umgebende Schicht der Amyloplasten immer dünner, bis nur noch ein Häutchen übrig bleibt, das schließlich auch noch platzen kann. Stärke ist das einzige Kohlenhydrat, das in Form solcher diskreter Partikel vorkommt. Die Größe (2–200 µm), Form und Morphologie der Stärkegranula ist äußerst variabel und artspezifisch, sodass die Granula ein nützliches Merkmal für die botanische Identifizierung darstellen ( > Abb. 19.6). Die Stärkekörner sind konzentrisch oder exzentrisch geschichtet gebaut. Die Schichtung beruht auf dem Wechsel von kristallinen Bereichen höherer und amorphen Bereichen geringerer Dichte. In den einzelnen Schichten liegen die kristallinen Regionen jeweils innen; ihr Anteil schwankt in Abhängigkeit vom Amylose/Amylopektin-Verhältnis zwischen 20 und 40% und ist für die Doppelbrechung der Stärkekörner im polarisierten Licht verantwortlich. Die kristallinen Bereiche sind gegenüber säurekatalysiertem oder enzymatischem Abbau widerstandsfähiger als die amorphen.
Struktur und Eigenschaften Amylose. Amylose besteht aus linearen Ketten D-(1o4)verbundener Glucopyranosylreste mit einem DP von 250–5000 und folglich einer Mr von 40.000 bis 800.000
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
. Abb. 19.6
Kartoffelstärke
Maisstärke
Reisstärke
Weizenstärke
Stärkegranula. Zeichnung des mikroskopischen Erscheinungsbildes der Granula der offizinellen Stärken von Kartoffel, Mais, Reis und Weizen. Beschreibung der Merkmale laut PhEur 5 in > Tabelle 19.6
. Abb. 19.7
[4)-D-D-Glcp-(1o]n
Amylose. (1) Haworth-Schreibweise und (2) Sessel-Konformation. (3) Die Geometrie der glykosidischen (1o4)-α-Bindung (Bindung am C-1 axial ausgerichtet) begünstigt eine helikale Konformation. In wässriger Lösung liegt die Amylose als „random coil“ mit einem variablen Anteil an singelhelikalen Strukturen vor. Eine Helixwindung besteht aus ca. 6 Glucopyranosylresten und wird durch intramolekulare Wasserstoffbrücken stabilisiert. (4) In den umschlossenen Hohlraum von ca. 0,5 nm können Verbindungen eingelagert werden
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
( > Abb. 19.7). Aufgrund der axial-äquatorial gerichteten D-(1o4)-Bindungen bildet die Amylose eine spiralförmige Struktur, die als links- oder rechtsgängige Helix vorkommt und stark gestreckt ist (Koch u. Röper 1991). In das Innere der Helix ragen Wasserstofatome, die die Lipophilie erhöhen, während die Hydroxylgruppen auf der Außenseite der Windungen angeordnet sind. Reine Amylose ist in kaltem Wasser praktisch unlöslich. In DMSO oder 0,1 M NaOH ist Amylose durch Zerstörung der intramolekularen Wasserstobrücken löslich (100 mg/ml) und bleibt bei Verdünnen mit Wasser in Lösung. Durch Erhitzen löst sich Amylose kolloidal in Wasser, fällt jedoch bei Konzentrationen ab 2 mg/ml allmählich unter Bildung von irreversiblen Doppelhelices und höheren Assoziaten wieder aus (Retrogradation).
19
Bei der Behandlung nativer Stärkegranula mit warmem Wasser ( Abb. 19.8). Während die Amylose formal ausschließlich aus der Disaccharideinheit Maltose (D-d-Glcp-(1o4)-D-dGlcp) aufgebaut ist, enthält Amylopektin zusätzlich einen Anteil von ca. 5% Isomaltose (D-d-Glcp-(1o6)-D-d-Glcp).
. Abb. 19.8
(1)
(2)
Amylopektin. (1) Amylopektin ist ein C-6-verzweigtes (1o4)-α-D-Glucan. Statistisch gesehen sind ca. 5% der (1o4)-α-DGlucoseeinheiten am C-6 verzweigt. (2) Nach heutigen Vorstellungen bildet Amylopektin eine ClusterstrukturEs besteht aus einer Glucangrundkette (ca. 60 Einheiten). Diese so genannte C-Kette trägt die einzige reduzierende Endgruppe pro Makromolekül. Bei den Seitenketten unterscheidet man drei Typen: 1. die relativ langen B2-Ketten, die einzelne Cluster miteinander verbinden; 2. die B1-Ketten, die selbst an einem oder mehreren Punkten Verzweigungen besitzen; 3. die relativ kurzen A-Ketten (15–25 Einheiten) als nicht weiter verzweigte Seitenketten. Aus dieser Struktur resultiert, dass sich Amylopektin aus vier verschiedenen Glucosevarianten zusammensetzt: (1) eine am C-4 substituierte endständige reduzierende Glucose, (2) viele (1o4)-α-D-Glucoseeinheiten, (3) 5% C-6-verzweigte (1o4)-α-D-Glucoseeinheiten und (4) 5% endständige nicht reduzierende Glucoseeinheiten
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Das Amylopektinmolekül besteht aus einer Vielzahl relativ kurzer linearer D-(1o4)-glykosidisch gebundener Glucanketten (15–25 Glucoseeinheiten), die durch D-(1o 6)-glykosidische Bindungen miteinander verknüpt und in Clustern angeordnet sind ( > Abb. 19.8). Die Cluster sind wiederum durch etwas längere Ketten miteinander verbunden. Bei ausreichender Länge können auch die Amylopektinketten als Doppelhelices vorliegen, die durch intra- und intermolekulare Wechselwirkungen kristalline Strukturen bilden können. Entgegen früherer Annahmen wird die Kristallinität der Stärkekörner heute dem Amylopektin zugeschrieben, während die Amylose vorzugsweise in amorphen Regionen vorkommt (Robyt 1998). Im Gegensatz zur Amylose lassen sich die großen, hoch verzweigten Amylopektinmoleküle nicht durch Behandlung mit warmem Wasser aus den Stärkegranula herauslösen. In isolierter Form ist Amylopektin allerdings bereits in kaltem Wasser löslich.
Biosynthese und enyzmatischer Abbau Biosynthese. Die Biosynthese von Stärke geht von ADPGlucose aus, die unter Abspaltung von Pyrophosphat aus Glucose-1-phosphat und ATP entsteht. Die Stärke-Synthase, eine Glucosyltransferase, katalysiert die Übertragung
des Glucosylrestes aus ADP-Glucose auf das nichtreduzierende Ende eines nieder- oder hochmolekularen (1o4)D-Glucans (Startermolekül), wobei eine D-(1o4)-glykosidische Bindung geknüpt wird. Die 1,6-Verzweigungen im Amylopektin entstehen mit Hilfe des Q-Enzyms, das Bruchstücke aus der wachsenden (1o4)-D-Glucankette abspaltet und mit der primären OH-Gruppe am C-6 desselben oder eines anderen (1o4)-D-Glucans verknüpt. Enzymatischer Abbau. Amylasen sind für den tierischen und menschlichen Organismus essentiell, da sie im Verdauungstrakt die Stärke in der Nahrung abbauen und so metabolisch (in Form von Glucose) verwertbar machen. Auch bei grünen Planzen, die Stärke in unterschiedlichen Organen als Reservekohlenhydrat speichern, ermöglichen Amylasen eine kontrollierte Stärkeverzuckerung mit nachfolgendem Transport und Einschleusung in den Stofwechsel. Es werden verschiedene Gruppen von Amylasen unterschieden, wovon die wichtigsten die D- und die E-Amylasen darstellen ( > Tabelle 19.5): α-Amylasen und β-Amylasen. Die u. a. im Speichel und
Pankreassekret vorkommenden D-Amylasen setzen aus Stärken Maltose in der D-Form, planzliche E-Amylasen hingegen unter Inversion des Asymmetriezentrums am
. Tabelle 19.5 Charakteristika verschiedener Stärke abbauender Enzyme
Systematischer Name
α-Amylase (3.2.1.1)
β-Amylase (3.2.1.2)
γ-Amylase (3.2.1.3)
D-1,4-Glucan-4-glucanohydrolase
D-1,4-Glucan-4-maltohydrolase
D-1,4-Glucan-glucohydrolase
Enzymtyp
Endoglykosidase
Exoglykosidase
Exoglykosidase
Spezifität
D-(1o4)-Bindungen
D-(1o4)-Bindungen
D-(1o4)- und D-(1o6)-Bindungen
Primäre Spaltprodukte
Dextrin
E-Maltose
Glucose
Endprodukte
D-Maltose, Glucose, Isomaltose
Amylose: E-Maltose Amylopektin: Grenzdextrin
Glucose
Vorkommen
Mensch und Tier (Speichel, Pankreassekret); Bakterien, Pilze; einige Pflanzen (Malz)
v. a. Pflanzen (Samen); einige Pilze
v. a. Pilze; Mensch und Tier (Dünndarmschleimhaut, Lysosomen von Leberzellen)
Beispiele
Pankreas-D-Amylase im Pankreatin Aspergillus-oryzae-D-Amylase = Taka-Amylase
Aspergillus niger-Glucoamylase
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
C-1 Maltose in der E-Form frei. Beide Enzyme spalten die D-(1o4)-Bindungen von Amylose und Amylopektin, unterscheiden sich jedoch in ihrem Angrifspunkt: E-Amylasen sind Exoenzyme, die ihre Substrate vom nichtreduzierenden Ende her angreifen, Maltosebausteine abspalten und bis zu (1o6)-Verzweigungspunkten aktiv sind. D-Amylasen sind Endoenzyme, die Amylose und Amylopektin von innen her an mehreren Stellen gleichzeitig angreifen. R-Enzym und α-(1o6)-Glucosidasen. Sowohl D- als auch E-Amylasen bauen die unverzweigte Amylose bis zur Maltose, die D-Amylasen theoretisch sogar bis zur Glucose ab. Beim Amylopektin ist allerdings zum vollständigen Abbau ein weiteres Enzym erforderlich, das die D-(1o6)Bindungen spaltet. Durch die E-Amylasen erfolgt die Spaltung vom nichtreduzierenden Kettenende nur bis zu den Verzweigungsstellen. Daraus resultieren die sog. Grenzdextrine. In grünen Planzen werden die D-(1o6)-Bindungen durch das R-Enzym (Isomaltase) gespalten. Die D-Amylasen im menschlichen und tierischen Organismus bauen Amylopektin bis zur Maltose bzw. bis zu der verzweigenden Isomaltose ab. Bereits auf der Dextrinstufe treten zusätzlich D-(1o6)-Glucosidasen des Dünndarms in Aktion, sodass Maltose und Glucose die Endprodukte des vollständigen Stärkeabbaus darstellen. Die Oligosaccharide werden von D-Glucosidasen der Dünndarmmukosa weiter zu resorbierbarer Glucose gespalten. γ-Amylasen. Neben den D- und E-Amylasen gibt es noch
die J-Amylasen (Glucoamylasen), die v. a. in Pilzen, aber auch in der Dünndarmschleimhaut und den Lysosomen humaner und tierischer Leberzellen vorkommen. Diese Exoenzyme spalten vom nichtreduzierenden Ende her sowohl (1o4)- als auch (1o6)-gebundene Glucoseeinheiten ab. Eine besondere Amylasenart wird von Bacillus macerans produziert. Sie baut Amylose zu ringförmigen Oligosacchariden aus 6–8 Monosaccharideinheiten ab. Diese zyklischen Verbindungen werden als Cyclodextrine bezeichnet ( > Kap. 19.2.6).
Eigenschaften Verkleisterung. Im Gegensatz zu Cellulose weisen Amylose und Amylopektin eine deutliche Wasserlöslichkeit auf. Der Lösevorgang erfordert jedoch die Zerstörung der
19
kristallinen Struktur des Stärkekorns, was erst durch Erhitzen erreicht wird und als Verkleisterung bezeichnet wird. Wird Stärke in Wasser bei Raumtemperatur suspendiert, dringt das Wasser in die amorphen Bereiche des Stärkekorns ein und bewirkt eine begrenzte (ca. 20–100%), reversible Quellung. Durch leichtes Erwärmen kann ein Teil der Amylose aus dem Stärkekorn herausgelöst werden, wobei die kristallinen Bereiche erhalten bleiben. Erst stärkeres Erhitzen führt zur irreversiblen Quellung, bei der die kristallinen Bereiche des Stärkekorns zerstört werden und eine kolloidale Lösung entsteht. Die hierfür erforderliche Energie manifestiert sich in der Verkleisterungstemperatur (58–>100 °C) und ist von der Korncharakteristik und dem Amylosegehalt abhängig. Beim Abkühlen steigt die Viskosität wieder infolge Gelbildung an und es entsteht der sog. Kleister, der mit Iodlösung eine tieblaue Färbung ergibt ( > unten). Die Eigenschaten des Kleisters (dick bis lüssig, klar bis trüb) werden von der jeweils verwendeten Stärke bestimmt. Kleister neigen zur Retrogradation, d. h. zur zunehmenden Trübung einige Zeit nach der Herstellung, bedingt durch die Tendenz der Amylose, allmählich Doppelhelices und kristalline Aggregate zu bilden. Iod/Stärke-Reaktion. Die Farbreaktion von Stärkegelen
(Kleister) mit Iodlösung (Iod und Kaliumiodid in Wasser) ist eine grundlegende Nachweisreaktion in der Stärkeanalytik. Sie beruht auf der Fähigkeit der Amylosehelix (Durchmesser 0,5 nm), in das hydrophobe Innere Moleküle passender Größe wie z. B. Iod/Iodid, Butanol oder Fettsäuren einzulagern ( > Abb. 19.7). Bei der Ausbildung des tieblauen Amylose/Iod-Komplexes wird bis zu 20% Iod/Iodid gebunden. Die Einbettung linearer I5- oder I7-Einheiten induziert eine regelmäßige Helixstruktur mit 6 Glucoseeinheiten pro Windung. Die Farbe der Iodeinschlussverbindungen kommt durch Wechselwirkungen der Elektronenhülle des Iodmoleküls mit der Grundstruktur der Amylose zustande und ist abhängig von der Kettenlänge. Sie reicht von rot (490 nm) bei einem DP der Amyloseketten von etwa 15 über violett bis zu tieblau (645 nm) bei einem DP >366. Da Amylopektin nur kurze lineare Abschnitte besitzt, die Helices bilden können, ist seine Neigung, solche Komplexe auszubilden, sehr viel geringer als die der Amylose. Es bindet nur 0,8% Iod/ Iodid und ergibt lediglich eine schwache, weinrote Färbung. Die Abhängigkeit der Komplexbildung von der Anwesenheit helikarer Strukturen zeigt sich auch darin, dass
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
die Blaufärbung durch Erhitzen oder Alkalizusatz verschwindet.
Gewinnung Die industrielle Gewinnung der kommerziellen Stärken basiert auf der Sedimentation der speziisch schwereren Stärkekörner aus einer Wasser-Stärke-Suspension, die durch mechanisches Zerkleinern stärkehaltiger Gewebe erhalten wird. Native Reservestärke ist in kaltem Wasser unlöslich und kann durch wiederholte Anreicherungsund Reinigungsschritte von Begleitstofen abgetrennt und isoliert werden. Kartoffelstärke (Solani amylum). Die Sprossknollen der Kartofelplanze, Solanum tuberosum L. (Solanaceae [IIB24a] enthalten neben ca. 75% Wasser ca. 18% Kartoffelstärke. Zur Gewinnung werden die Kartofeln zerkleinert; aus dem Homogenat wird die Stärke mit Wasser ausgewaschen, iltriert und von restlichen Zellbruchstücken abgetrennt. Die Rohstärke wird durch wiederholtes Waschen und Absetzen gereinigt, und anschließend bis auf einen Restwassergehalt von etwa 18% getrocknet. Maisstärke (Maydis amylum). Die Früchte des Mais, Zea Mays L. (Poaceae [IIA9a]), enthalten nach dem vor der Lagerung erforderlichen Trocknen etwa 60% Stärke. Zur Isolation der Maisstärke werden die Maiskörner 40–50 h bei 50 °C vorgequollen. Die Stärkekörner des Mais sind im Gegensatz zu denen der Kartofel von einer Klebermatrix umgeben, die durch SO2-Behandlung aufgebrochen wird. Der so vorbehandelte Mais wird zunächst nur sehr grob gemahlen, um die ölhaltigen Keimlinge möglichst unversehrt und vollständig abtrennen zu können. Nach einem zweiten Mahlvorgang werden die Fasern und Zellfragmente des Hüllgewebes abgetrennt, die Stärke ausgewaschen und durch Zentrifugieren vom gelösten Kleber getrennt. Reisstärke (Oryzae amylum). Zur Gewinnung von Reis-
stärke werden Reiskörner, die Früchte der Reisplanze Oryza sativa (Poacae [IIA9a], unter Zusatz von verdünnten Alkalilösungen im Wasser vorgequollen, um die umgebende Proteinschicht (Kleber) zu lösen. Auch hier wird anschließend zum Abtrennen der Keime zunächst grob gemahlen. Nach einem zweiten Mahlgang werden die Stärkekörner in gleicher Weise wie beim Mais gewonnen.
Weizenstärke (Tritici amylum). Weizenkörner, die Früch-
te der Weizenplanze Triticum aestivum L. (Poaceae [IIA9a], enthalten etwa 55% Stärke. Zur Gewinnung von Weizenstärke wird meist Weizenmehl verwendet, bei dem die Zellfragmente und Fasern zum großen entfernt sind. Infobox Klebereiweiß. Unter Klebereiweiß (syn. Kleber, Gluten) versteht man die in Früchten von Poaceen vorkommende Mischung von Proteinen (Getreideproteine), die sich zu etwa gleichen Teilen aus Prolaminen und Glutelinen zusammensetzt. Letztere bestehen aus bis zu 45% Glutaminsäure und sind in Wasser, Salzlösungen und 70%igem Ethanol unlöslich (Beispiele: Avenin (Hafer), Zeanin (Mais), Oryzenin (Reis), Glutenin (Weizen)). Prolamine enthalten bis zu 15% Prolin und 30–45% Glutaminsäure und sind im Gegensatz zu den Glutelinen in 50–90%igem Ethanol löslich. (Beispiele: Hordein (Gerste), Zein (Mais), Secalin (Roggen), Gliadin (Weizen)). Reis und Hafer sind frei von Prolaminen. Glutene, insbesondere die Prolamine Gliadin und Hordein sowie das Glutelin Avenin, können ggf. Auslöser der Zöliakie sein. Eine positive Eigenschaft der Glutene macht man sich beim Backen zunutze: Maillard-Reaktionen zwischen den Proteinen und der Stärke führen zur typischen Braunfärbung und Krustenbildung von Brot und anderen Backwaren.
Zöliakie. Zöliakie (syn. gluteninduzierte bzw. glutensensitive Enteropathie, Gliadinüberempfindlichkeit) ist eine Erkrankung der Dünndarmmukosa im Säuglings- und Kindesalter mit genetischer Disposition (HLA-B8). Das entsprechende Krankheitsbild beim Erwachsenen wird als einheimische Sprue bezeichnet. Infolge immunologischer Reaktionen mit Antikörperbildung gegen bestimmte Glutene bzw. daraus entstehende Polypetpide kommt es zu schweren Veränderungen der Dünndarmschleimhaut bis zur vollständigen Zottenatrophie. Hieraus resultiert ein Mangel an schleimhautgebundenen Verdauungsenzymen und die Reduktion der Dünndarmoberfläche, sodass die Verdauung und Absorption von Nährstoffen, Vitaminen und Mineralien beeinträchtigt ist. Die Malabsorption manifestiert sich in Hypovitaminosen, Abmagerung, Durchfällen mit Steatorrhö und Exsikkose. Die einzige Therapieoption ist konsequente Allergenkarenz, d. h. der Verzicht auf Weizen-, Roggen-, Gerste- und Haferprodukte. Kartoffeln, Mais, Reis, Hirse, Buchweizen und auch reine Stärkeprodukte können verwendet werden.
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
Das Mehl wird mit Wasser zu einem Teig geknetet, aus dem die Stärke ausgewaschen wird. Die erhaltene Suspension wird wie beim Mais und Reis weiter aufgereinigt. Da Weizenkleber beim Quellen verklumpt und Stärkekörner einschließt, ist die saubere Trennung von Stärke und Kleber schwierig.
Stärkesorten Stärkesorten des Handels. Jährlich werden in West-
europa mehr als 5 Millionen Tonnen Stärke produziert. Davon werden ca. 55% für die Nahrungsmittelproduktion eingesetzt, ca. 45% inden Verwendung in der Papierindustrie, kleinere Anteile der chemischen und pharmazeutischen Industrie sowie in anderen Bereichen wie Baustof- und Textilindustrie.
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Obwohl Stärke im Planzenreich weit verbreitet ist, werden nur relativ wenige Nutzplanzen zur Stärkegewinnung im großtechnischen Maßstab herangezogen. In der Europäischen Union wird der größte Teil aus Mais (ca. 60%), der Rest zu etwa gleichen Teilen aus Kartofeln und Weizen erzeugt. In Asien hat auch Reis als Stärkequelle einen hohen Stellenwert. Während der Stärkegehalt der Poaceenfrüchte, den Karyopsen, 60–70% beträgt, enthalten die unterirdischen Sprossknollen der Kartoffel aufgrund ihres hohen Wassergehaltes nur 16–22% Stärke. Weitere Stärkesorten des Welthandels mit z. T. nur lokaler Bedeutung sind Tapioka- oder Maniokstärke aus den Wurzelknollen des Maniokstrauches (Manihot esculenta Crantz), Yamstärke aus den Sprossknollen von Dioscorea sp., Batatestärke aus den Wurzelknollen von Ipomoea batatas (L.) Lam., Pfeilwurzel- oder Arrowroot-
Infobox Kartoffel. Die Kartoffel ist die an unterirdischen Ausläufern gebildete Sprossknolle der Kartoffelpflanze (Solanum tuberosum L.). Ihre mehrjährige Urform ist in den Hochländern Südamerikas beheimatet; heute wird sie weltweit, v. a. in Mitteleuropa, den GUS und China, in vielen verschiedenen Sorten als einjährige Pflanze angebaut. In Deutschland und anderen europäischen Ländern zählt die Kartoffel zu den Grundnahrungsmitteln, wobei jedoch hierzulande nur etwa ein Drittel als Speisekartoffel in den Handel kommt. Der Großteil wird zu Kartoffelerzeugnissen und Kartoffelstärke weiterverarbeitet. Die Kartoffelstärke dient als Ausgangsstoff für die Herstellung von Stärkesirup, Dextrin, Maltose und Glucose.
Reis. Saatreis (Oryza sativa L.) ist eine bis 1,80 m hohe Getreidepflanze aus der Familie der Süßgräser (Poaceae) und bildet wie Hafer eine etwa 20–30 cm lange, breite Rispe. Ursprünglich stammt Reis aus dem tropischen Südostasien, wo er bereits vor 6000 Jahren kultiviert wurde. Er gedeiht entweder als Sumpfreis im Wasser oder als unbewässerter Bergreis. Haupterzeugerländer sind heute China, Indien, Pakistan, Bangladesch, Japan und Brasilien. Reis ist für etwa ein Drittel der Weltbevölkerung das Hauptnahrungsmittel. Je nach Art der Aufbereitung unterscheidet man Naturreis, Parboiled Reis und den durch Schleifen und Polieren erhaltenen weißen Reis. Zur Stärkegewinnung wird vorwiegend der bei der Reisaufbereitung anfallende Bruchreis verwendet.
Mais. Mais (Zea mays L.) ist ein einjähriges, monözisches 1–2,5 m hohes Süßgras, das schon vor 7000 Jahren im mexikanischen Tehuacántal kultiviert wurde. Heute wird Mais weltweit in den (wärmeren) gemäßigten Gebieten angebaut. Hauptanbaugebiete sind die USA, China und Brasilien. In den Ländern der gemäßigten Zonen wird Mais v. a. als Futtermittel genutzt. Für die menschliche Ernährung wird er zu Maismehl, Maisgries, Cornflakes, Popkorn usw. verarbeitet; in gekochter Form wird insbesondere Zuckermais als Gemüse verwendet. In vielen Entwicklungsländern stellt Mais die Ernährungsgrundlage dar. Bevorzugte Sorten für die Stärkegewinnung sind der v. a. in Südamerika angebaute Weich- oder Stärkemais und der in erster Linie in den USA angebaute Wachsmais.
Weizen. Weizen (Triticum sp.) ist eine Gattung der Süßgräser mit etwa 20 Arten und wird in allen gemäßigten und subtropischen Gebieten der Erde angebaut. Neben Mais und Sojabohnen ist Weizen das bedeutendste Agrarprodukt. In der Saison 2004/2005 erreichte die Produktion mit 624,5 Millionen Tonnen einen neuen Rekordstand. Weizen ist die Nummer 1 unter den Brotgetreidearten, eignet sich aber auch für die Herstellung vielfältiger anderer Getreideerzeugnisse sowie zur Stärkegewinnung. Weich- oder Saatweizen (Triticum aestivum L.) wird vorwiegend zu Mehl, Grieß und Vollkornerzeugnissen verarbeitet. Der im Mittelmeerraum verbreitete Hartweizen (Triticum durum DESF.) liefert Mehl, das v. a. zu Teigwaren verarbeitet wird. Hauptlieferanten für Weizenstärke sind praktisch alle großen Agrarstaaten.
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Stammpflanze Familie
Kartoffelstärke Solani amylum
Maisstärke Maydis amylum
Reisstärke Oryzae amylum
Weizenstärke Tritici amylum
Solanum tuberosum L. Solanaceae
Zea mays L. Poaceae
Oryza sativa L. Poaceae
Triticum aestivum L.* Poaceae
x
Kornform/-größe
unregelmäßig, ei- oder birnenförmig (30–100 µm ) oder rundlich (10–35 µm ), gelegentlich zusammengesetzte 2-bis 4-teilige Körner
unregelmäßig, eckig, polyedrisch (2–23 µm ) oder unregelmäßig, abgerundet bis kugelförmig (25–35 µm )
polyedrisch (2–5 µm ), isoliert oder zu eiförmigen Massen (10–20 ) zusammengesetzt
groß (10–60 µm ) und klein (2–10 µm ), sehr selten von mittlerer Größe; große K.: in Aufsicht scheiben- oder seltener nierenförmig, in Seitenansicht elliptisch, spindelförmig und entlang der Längsachse aufgespalten; kleine K.: rundlich oder polyedrisch
x
Spalt
ei-/birnenförmige K: exzentrisch rundliche K: zentral oder schwach exzentrisch
Spalt durch eine deutliche Höhlung oder durch 2–5 sternförmige Risse gebildet
schwach sichtbar, zentral
nicht oder kaum sichtbar, zentral
x x
Schichtung
deutlich
nicht sichtbar
keine
nicht oder kaum sichtbar
nur selten
nur selten
Körner manchmal Risse an den Rändern
mattweiß bis schwach gelblich
weiß
weiß
keine Angaben Körner mit Rissen/ Unregelmäßigkeiten an den Rändern
Farbe
weiß
Kleister
dick, opaleszierend
trüb, flüssig
trüb, flüssig
trüb, flüssig
pH-Wert
5,0–8,0
4,0–7,0
Prüfung auf sauer reagierende Substanzen
4,5–7,0
Sulfatasche
höchstens 0,6%
höchstens 0,6%
höchstens 1,0%
höchstens 0,6%
Trocknungsverlust
höchstens 20%
höchstens 15%
höchstens 15%
höchstens 15%
* syn. Triticum vulgare VILL.
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Mikroskopische Merkmale
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. Tabelle 19.6 Charakteristika und mikroskopische Merkmale zur Differenzierung der offizinellen Stärken (PhEur 5)
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
Stärke (Maranta arundinacea L.) und Sagostärke (Metroxylon sagu Rottb.). Daneben gibt es spezielle Stärkesorten für besondere Zwecke: So besteht die Wachsmaisstärke fast ausschließlich aus Amylopektin und wird wegen der besonderen Quellfähigkeit zur Herstellung von Klebstofen und Puddingpulver verwendet; die Amylomaisstärke und die Markerbsenstärke zeichnen sich durch einen hohen Amyloseanteil von 50–70% bzw. 75–80% aus. Offizinelle Stärken. Die in den aktuellen Arzneibüchern
(PhEur 5) aufgeführten Stärken umfassen die Kartofelstärke, Maisstärke, Reisstärke und die Weizenstärke ( >Tabelle 19.6). Es handelt sich jeweils um ein geschmackloses, sehr feines Pulver, das beim Reiben zwischen den Fingern knirscht und in kaltem Wasser und Ethanol unlöslich ist. Die Identitätsprüfung erfolgt mittels Kleisterbildung und Iodfärbung, die beim Erhitzen verschwindet. Die mikroskopische Untersuchung erlaubt eine eindeutige Diferenzierung zwischen den verschiedenen Stärken und dient darüber hinaus der Reinheitsprüfung. Es dürfen keine Stärkekörner fremder Herkunt und höchstens Spuren fremder Bestandteile vorhanden sein. Die Abwesenheit von Gewebsfragmenten unterscheidet die Stärken von den Mehlen, in denen diese in größerem Ausmaß zu inden sind. Unter dem Mikroskop erscheint im polarisierten Licht über dem Spalt ein ausgeprägtes Sphäritenkreuz.
Verwendung Ernährung. Stärke indet in Lebensmitteln und insbeson-
dere in Kindernährmitteln Anwendung als Kohlenhydratquelle. Stärkepuder. Wegen ihrer wasserbindenden, quellenden und absorbierenden Eigenschaten sowie ihrer Gleitwirkung können Stärken ferner Bestandteil von Pudern und Streupulvern sein. Stärkehaltige Hautpuder haben die Aufgabe, entzündungsfördernde Noxen, wie das Scheuern von Windeln und Kleidungsstücken oder übermäßige Schweißabsonderungen, abzumildern. Stärkepuder können einen kühlenden Efekt durch kontinuierliche Abdunstung von Flüssigkeiten ausüben. Je größer die verdunstende Oberläche, desto größer ist der Kühlefekt. Für diesen Einsatz sind in erster Linie die kleinkörnigen Poaceenstärken, v. a. Reisstärke, geeignet.
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! Kernaussage
Amlyum non mucilaginosum (ANM) und „absorbable dusting powder“ sind die modernen Varianten stärkehaltiger Hautpuder.
Da unbehandelte Stärken jedoch ein ausgezeichnetes Substrat für Mikroorganismen darstellen, werden sie zunehmend durch nicht mehr quell- u. verkleisterungsfähige Stärkederivate (z. B. ANM-Pudergrundlage [Amlyum non mucilaginosum], „absorbable dusting powder“ (veretherte und vernetzte Maisstärke)), die resorbierbar und sterilisierbar sind, verdrängt. Pharmazeutische Technologie. In der pharmazeutischen
Technologie ( > Tabelle 19.2) wird Stärke, und zwar überwiegend Maisstärke, vielfältig bei der Tablettenherstellung eingesetzt, und zwar als Füllmittel, Sprengmittel und Feuchthaltemittel, ferner als Fließregulierungsmittel und Formentrennmittel.
! Kernaussage
Maisstärke ist einer der wichtigsten Hilfsstoffe bei der Tablettierung.
Insbesondere Weizenstärke stellt den Grundstof für die Herstellung von Stärkekapseln (Capsulae amylaceae, Oblatenkapseln) dar. Stärkekleister dient als Bindemittel bei der Granulierung sowie als – allerdings nur noch selten verwendeter – Hydrogelgerüstbildner in hydrophilen Salben (z. B. Glycerolsalbe, PhHelv 6). Ein Großteil der Stärken wird als Ausgangsstof für die Gewinnung von Stärkehydrolysaten und die Herstellung von speziell präparierten Stärken und Stärkederivaten verwendet, die in der pharmazeutischen Technologie von Bedeutung sind. Infobox Acrylamidbelastung von Lebensmitteln. Acrylamid ist eine synthetische Substanz, die kommerziell zur Herstellung von Polyacrylamid verwendet wird (Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft 2005). Sie gilt als gesundheitsschädlich und wird in der EU die Kategorie 2 krebserzeugender Stoffe zugeordnet. In rohen und gekochten Lebensmitteln wurde Acryl-
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
amid bisher nicht nachgewiesen. Im April 2002 informierte die Europäische Kommission jedoch über das Schnellwarnsystem für Lebensmittel über das Auftreten von Acrylamid in zum Teil hohen Gehalten (>1000 µg/kg) in bestimmten stärkehaltigen Lebensmitteln. Dieses Acrylamid entsteht während der Zubereitung bestimmter Lebensmittel durch „trockene“ Erhitzung, d. h. beim Grillen, Braten, Backen, Rösten, Frittieren oder in der Mikrowelle (Popcorn). Untersuchungen zufolge bildet sich Acrylamid in Gegenwart von reduzierenden Zuckern (Glucose und Fructose) und Asparagin bei Hitzeeinwirkung und niedrigem Wassergehalt, sodass insbesondere entsprechende Kartoffel- und Getreideprodukte betroffen sind (z. B. Pommes frites, Kartoffelchips, Kartoffelpuffer, Lebkuchen, Knäckebrot). Aus Gründen des vorsorgenden gesundheitlichen Verbraucherschutzes wurde im August 2002 ein Minimierungskonzept für Acrylamid vereinbart, um die Acrylamidbelastung durch Lebensmittel schnellstmöglich zu senken. Die erzielten Erfolge zeigen, dass modifizierte Herstellungsverfahren eine effiziente Reduktion der Acrylamidbelastung ermöglichen.
19.2.7
Modifizierte Stärken
Vorverkleisterte Stärke. Vorverkleisterte Stärke, Amylum
pregeliicatum PhEur 5 (syn. gelierte Stärke), wird aus Mais-, Kartofel- oder Reisstärke durch mechanische Verarbeitung in Gegenwart von Wasser mit oder ohne Anwendung von Hitze und anschließendes Trocknen hergestellt. Sie enthält keine Zusätze, kann aber modiiziert sein, um sie kompaktierbar zu machen und ihre Fließeigenschaten zu verbessern. Durch die Behandlung platzen die Stärkekörner und der helikale Aubau der Amylose wird verändert, sodass Produkte entstehen, die bereits in kaltem Wasser kolloidal löslich sind. Derart präparierte Stärke eignet sich besonders für die Direkttablettierung.
Stärkehydrolysate Stärke ist im Vergleich zu Cellulose wesentlich leichter hydrolysierbar. Durch Kochen mit verdünnten Säuren wird sie zu d-Glucose und Oligomeren (Maltooligosaccharide) abgebaut. Partielle Stärkehydrolyse wird im technischen Maßstab zur Gewinnung von löslicher Stärke, Dextrin, Maltodextrin und Glucosesirup durchgeführt.
! Kernaussage
Zunehmender hydrolytischer Abbau von Stärke führt zu den Stärkehydrolysaten lösliche Stärke, Dextrin, Maltodextrin und Glucosesirup.
Lösliche Stärke. Bei der Herstellung der sog. löslichen Stärke erfolgt die Säurehydrolyse nur bis zur Bildung wasserlöslicher Bruchstücke, die im Gegensatz zu Glucosesirup mit Iodlösung eine Blaufärbung ergeben und in Lösung nicht reduzierend wirken. Lösliche Stärke (Amylum solubile) dient in der Analytik zum Iodnachweis. Dextrine. Oizinelles Dextrin, Dextrinum PhEur 5, ist das Produkt des partiellen hydrolytisch-thermischen Abbaus von Mais- oder Kartofelstärke, wobei jedoch prinzipiell alle Stärkearten für die Herstellung geeignet sind. Dextrin stellt ein heterogenes Gemisch aus linearen und verzweigten D-Glucanen, Oligosacchariden und Glucose dar, dessen Zusammensetzung vom Herstellungsprozess abhängig ist. Es handelt sich um ein weißes bis fast weißes, frei ließendes Pulver, das in siedendem Wasser unter Bildung einer schleimigen Lösung sehr leicht löslich ist, sich in kaltem Wasser jedoch nur langsam löst. Im mikroskopischen Bild ist teilweise noch die Struktur der nativen Stärkekörner zu erkennen. Dextrine sind nicht zwingend Stärkehydrolysate, sondern können auch durch thermischen oder enzymatischen Abbau von Stärke erzeugt werden. x Röstverfahren: Die Stärke wird längere Zeit auf 160– 200 °C erhitzt, wobei die erforderliche Temperatur mit dem Wassergehalt variiert. Es kommt zum begrenzten hydrolytischen Abbau, bei dem sowohl D-(1o4)- als auch D-(1o6)-glucosidische Bindungen gespalten werden. Gleichzeitig inden partiell strukturelle Veränderungen unter Depolymerisierung und Erhöhung des Verzweigungsgrades statt. Die Wasserlöslichkeit der resultierenden Röst- oder Gelbdextrine liegt zwischen 95 und 100%. Mit Iodlösung zeigen sie eine gelbe bis rotbraune Farbe. x Säureverfahren: Die Stärke wird zunächst mit verdünnter Salz- oder Salpetersäure befeuchtet, getrocknet und anschießend bis zu 3 h auf 100–120 °C erhitzt. Hierbei werden primär D-(1o6)-Bindungen gespalten, sodass die sog. Säure- oder Weißdextrine vorwiegend aus nur wenig verzweigten Molekülen bestehen. Die Wasserlöslichkeit liegt zwischen 30 und 90%.
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
Die Iod/Stärke-Reaktion ergibt eine blaue bis violette Farbe. x Enzymatisches Verfahren: Der enzymatische Abbau von Stärke zu Dextrin erfolgt mittels Diastase (D- und E-Amlyase). Diese Technologie ist zwar (noch) nicht arzneibuchgemäß, hat aber mittlerweile im Lebensmittel- und Technikbereich große Bedeutung erlangt ( > Infobox). Dextrine dienen als diätetische Nahrungsmittel, ferner als inertes Material zum Einstellen von Typ-A-Trockenextrakten (Extrakte PhEur 5). In der pharmazeutischen Technologie werden sie als Hilfsstof bei der Tablettenherstellung und als Dickungs- oder Bindemittel für galenische Zubereitungen verwendet ( > Tabelle 19.2). Im technischen Bereich kommen v. a. Röstdextrine, u. a. als Klebstofe und für Appreturen, zum Einsatz. Infobox
Cadexomer-Iod. Cadexomer-Iod besteht aus dem Reaktionsprodukt von Dextrin und Epichlorhydrin, an das Ionenaustauschergruppen und Iod gebunden sind. Mit einem Anteil von 1,0–1,8% verfügbarem Iod eignet es sich als Antiseptikum in der Dermatologie. Es wird als Salbenzubereitung zur Behandlung infizierter nässender Wunden wie Ulcus cruris angewendet. In Form von Mikropellets wird es auf chirurgische oder posttraumatische Wunden der Haut und sekundär infizierte, nässende Schürfwunden aufgestreut.
Maltodextrine. Oizinelles Maltodextrin, Maltodextrinum PhEur 5, ist ein Gemisch von Glucose, Di- und Polysacchariden, das durch partielle Hydrolyse von Stärke gewonnen wird. Der Hydrolysegrad, ausgedrückt als Glucoseäquivalent (GÄ), beträgt höchstens 20. Er liegt somit zwischen dem von Dextrin (GÄ max. 10) und Glucosesirup (GÄ mind. 20) und muss im Gegensatz zu Dextrin in der Beschritung angegeben werden. Glucosesirup. Glucosesirup, Glucose liquidum PhEur 5
(syn. Kapillärsirup, Stärkehydrolysatlösung, Amyli hydrolysati sirupus, Amyli hydrolysati solutio) stellt eine süßlich schmeckende mind. 70%ige Lösung eines Gemisches von Glucose, Maltose, weiteren Oligosacchariden und Dextrinen in Wasser dar. Der Hydrolysegrad der Trockensubstanz, ausgedrückt als GÄ, muss mindestens 20 betragen, d. h. 100 g Substanz haben mindestens die gleiche reduzie-
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rende Wirkung wie 20 g Glucose. Glucosesirup kann als Dragierhilfsmittel eingesetzt werden. Gegenüber Saccharosesirup hat er den Vorteil, beim Lagern von Dragees keine kristallinen Bestandteile zu bilden, da Glucosesirup als heterogenes Gemisch eine geringere Tendenz zur Kristallisation zeigt. Neben dem lüssigen Glucosesirup ist Glucosesirup auch in sprühgetrockneter Form im Handel (sprühgetrockneter Glucosesirup, Glucose liquidum dispersione desiccatum, PhEur 5). Im Gegensatz zum Glucosesirup schreibt das Arzneibuch hier eine Prüfung auf mikrobielle Verunreinigung vor. Infobox
Stärkeverzuckerung mit gentechnisch hergestellten Enzymen. Der Hauptanwendungsbereich für Enzyme in der Lebensmittelproduktion ist die Stärkeverzuckerung, die sich mittlerweile zu einer bedeutenden Alternative zu Zuckerrohr und Zuckerrüben für die Gewinnung von Süßungsmitteln entwickelt hat (Aventis et al. 2000). Anstelle der starken Säuren, die man früher verwendet hat, werden heute für die Stärkeverzuckerung fast ausschließlich Enzyme eingesetzt, die mittlerweile überwiegend mit Hilfe gentechnisch veränderter Mikroorganismen gewonnen werden. Durch den gezielten Einsatz der verschiedenen Enzyme lässt sich der Verzuckerungsprozess exakt steuern. So erhält man Kohlenhydrate und Stärkesirupe mit unterschiedlichen Eigenschaften, die als Zutaten und Zusatzstoffe in einer Vielfalt von Lebensmitteln Verwendung finden. Der Prozess der Stärkeverzuckerung verläuft in drei Stufen: 1. Stärkeverflüssigung: Degradation der Stärke mittels verschiedener, überwiegend gentechnisch hergestellter Amylasen. 2. Stärkeverzuckerung: Weiterer Abbau des Stärke-Zucker-Gemisches mittels Glucoamylase und Pullulanase; das Produkt ist Glucosesirup, der in vielen Süß- und Backwaren ganz oder teilweise den traditionellen Zucker ersetzt. 3. Isomerisierung: Umwandlung eines Teils der Glucose in Fructose mittels Glucose-Isomerase; der so gewonnene Fructosesirup erreicht fast die Süßkraft von Saccharose. In den USA ist dieser sog. „High Fructose Corn Sirup“ das Hauptprodukt der Maisstärkeindustrie.
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
. Abb. 19.9
Cyclodextrine. Strukturformeln der aus 1,4-verknüpften α-D-Glucoseeinheiten bestehenden Clycodextrine: (1) das Hexamer α-Cyclodextrin (Mr 973), (2) das Hepatamer β-Cyclodextrin (Mr 1135), und (3) das Octamer γ-Cyclodextrin (Mr 1297). (4) Die zyklischen Oligoglucane ergeben korbartige Strukturen, deren OH-Gruppen nach außen ragen und den Molekülen eine hydrophile Hülle verleihen. Das Innere des Korbes ist ein hydrophober Hohlraum mit einem Durchmesser von 0,47–0,53 nm beim α-Cyclodextrin bis 0,75–0,83 nm beim γ-Cyclodextrin. In diese Kavitäten können sich organische, lipophile Moleküle einlagern, sodass sog. Kanaleinschlussverbindungen entstehen. Hierbei gibt es nicht nur eine bestimmte Maximalgröße, sondern auch eine Mindestgröße. Denn sind die Moleküle zu klein, reichen die schwachen Dipol- und Van-der-Waals-Kräfte nicht aus, sie festzuhalten. Somit zeigen die drei Cyclodextrine unterschiedliche Präferenzen beim Einlagern von Fremdstoffen
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
Cyclodextrine
19
lassen sich die verschiedenen Cyclodextrine in reiner Form aus Stärke herstellen.
Definition. Cyclodextrine sind ringförmige Oligosac-
charide, die aus 6, 7 oder 8 D-(1o4)-verknüpten Glucoseeinheiten bestehen und als D-, E- und J-Cyclodextrin bezeichnet werden (syn. Cyclomaltohexaose, -hepataose bzw. -octaose oder Cyclohexakis-/Cycloheptakis-/ Cyclooctakis-(1o4)-D-d-glucopyranosid) ( > Abb. 19.9) PhEur-Monographien existieren zu D-Cyclodextrin (Alfadex, Alfadexum), E-Cylcodextrin (Betadex, Betadexum) und zu einem E-Cyclodextrin-Derivat (Hydroxypropylbetadex, Hydroxypropylbetadexum). Letzteres ist ein mit Poly(2-hydroxypropyl)ether partiell substituiertes Betadex mit einem Substitutionsgrad von 0,4–1,5 Hydroxypropylgruppen pro Anhydroglucoseeinheit. Herstellung. Cyclodextrine entstehen beim enzyma-
tischen Abbau von Stärke durch Cyclodextringlykosyltransferasen (CGTasen). Natürlich kommen Cyclodextrine beispielsweise in überreifen Kartofeln vor, wo sie von bakteriellen CGTasen gebildet werden. Die CGTase, die zuerst als Produkt von Bacillus macerans entdeckt wurde, schneidet aus der Stärkehelix einzelne Stücke heraus und verbindet diese zu einem ringförmigen Oligosaccharid. Hierbei überwiegt bei weitem die Bildung des 7-gliedrigen E-Cyclodextrins, D- und J-Cyclodextrin treten nur als Nebenprodukte auf, sodass E-Cyclodextrin auf diese Weise zum Beispiel aus Maisstärke technisch produziert wird. Das Hauptprodukt der CGTasen aus Bacillus megaterium und Bacillus circulans ist hingegen D-Cyclodextrin; J-Cyclodextrin wird von der CGTase aus Brevibacterium sp. gebildet (Robyt 1998). Durch den Einsatz selektiv wirkender, D-, E- und J-CGTasen, die durch Fermentation von Mikroorganismen gewonnen werden,
Kernaussage ! Cyclodextrine sind biotechnisch aus Stärke hergestellte „Körbe“ für Moleküle.
Eigenschaften. Die drei Cyclodextrine weisen deutliche
Unterschiede in ihrer Wasserlöslichkeit auf. Sie ist beim E-Cylodextrin mit 1,85 g pro 100 ml am geringsten und beim J-Cyclodextrin mit 23,2 g am höchsten (Froböse 2003). In Propylenglycol sind alle drei leicht löslich, in CH2Cl2 und wasserfreiem Ethanol hingegen praktisch unlöslich. Von Interesse sind die Cyclodextrine und ihre Derivate wegen ihrer Fähigkeit, mit organischen Molekülen Einschlussverbindungen zu bilden. In Abhängigkeit von ihrer Ringgröße umschließen die zyklischen Oligosaccharide einen hydrophoben Hohlraum von ca. 0,5 nm (D-Cyclodextrin) bis 0,8 nm (J-Cyclodextrin) Durchmesser, in den sich Moleküle passender Größe einlagern können. Hydrophobe Wechselwirkungen halten die Moleküle wie in einem Käig gefangen, sodass die Einschlussverbindungen auch in Lösungen existent sind. Dabei kann es zur Modiikation ihrer physikalischen, chemischen und biologischen Eigenschaten kommen (Nishimura 2001). Verwendung. Wegen ihrer einzigartigen Eigenschaten
haben sich die Cyclodextrine mittlerweile einen Platz im Bereich der Pharmazie erobert; es gibt bereits über 20 Präparate, die aus unterschiedlichen Gründen Cyclodextrine bzw. diverse Derivate enthalten. Im Vordergrund stehen die Stabilisierung von Arzneistofen, die Verbesserung
Infobox Beispiele für die Anwendung von Cyclodextrinen (Froböse 2003) x Stabilisierung: In Cyclodextrin eingelagerte Wirkstoffe sind gegen Lichteinwirkung, Sauerstoff und hydrolytische Zersetzung weitgehend geschützt. So lassen sich labile Arzneistoffe wie Prostaglandine stabilisieren, aber auch Retinol in „Anti-Aging-Cremes“, Dihydroxaceton (DHA) in Selbstbräunern oder Linolsäure in Hautcremes und Lebensmitteln.
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Lösungsvermittlung: Durch Dipol- und Van-der-WaalsKräfte können sich lipophile Verbindungen in die Kavitäten von Cyclodextrinen und Cyclodextrinether einlagern. Die Lösungsgeschwindigkeit der Komplexe ist gewöhnlich höher, und es können auf diese Weise sozusagen übersättigte wässrige Lösungen (z. B. Augentropfen) schwer löslicher Wirkstoffe hergestellt werden. Erhöhung der Bioverfügbarkeit: Cyclodextrine beschleunigen die Absorption und erhöhen die Bioverfüg-
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
barkeit schwer löslicher Arzneistoffe wie z. B. Digoxin, indem sie die Wirkstoffmoleküle zur relativ lipophilen Biomembran transportieren, wo sie direkt, d. h. ohne selbst hydratisiert zu werden, in die Membran übergehen, während das Cyclodextrinmolekül in der wässrigen Lösung bleibt. Gezielte Wirkstofffreisetzung: Durch die Komplexbildung mit Cyclodextrinen lassen sich nicht nur unangenehme Geschmacksnoten oraler Darreichungsformen kompensieren (z. B. Knoblauchpillen), sondern die schonende und gezielte Wirkstofffreisetzung ermöglicht beispielsweise auch, eine reizende Wirkung auf die Magenschleimhaut zu reduzieren. Analytik: Durch Komplexbildung mit dem chiralen Cyclodextrin verändern sich die Eigenschaften von Enantiomeren. Dieses Prinzip wird z. B. bei der chiralen GC mit Säulen auf Cyclodextrin-Basis zur Analytik von ätherischen Ölen (Trennung von Enantiomeren) genutzt. In der NMR-Spektroskopie kommen Cyclodex-
von Löslichkeit und Bioverfügbarkeit sowie gezielte und kontrollierte Wirkstoffreisetzung ( > Infobox). Durch Derivatisierung können die Eigenschaten weiter optimiert werden. So hat sich beispielsweise in der pharmazeutischen Technologie das toxikologisch unbedenkliche Hydroxypropyl-E-Cyclodextrin bewährt (z. B. Solubilisierung von Insulin, Steroidhormonen und antiviralen Wirkstofen).
19.2.8
Stärkederivate
Stärke kann wie Cellulose in ihren chemischen und physikalischen Eigenschaten durch Einführung unterschiedlicher Substituenten erheblich verändert werden. Prominente partialsynthetische Modiikationen umfassen: 1. Carboxmethylierung, 2. Hydroxyethylierung, 3. Hydroxypropylierung, 4. Acetylierung, 5. Oxidation, 6. Phosphorylierung, 7. Substitution mit Octenylsuccinat und 8. Vernetzung („cross-linking“). Pharmazeutisch relevante Produkte sind Carboxymethylstärke-Natrium (CMS) und Hydroxyethylstärke (HES). Diese substituierten Stärken ähneln in manchen Eigenschaten den analog substituierten Cellulosederivaten.
x
trine als Verschiebungsreagenzien für Kohlenwasserstoffe zum Einsatz. Anti-Odor-System für Textilien: Mit Monochlortriacin-Cyclodextrin (MCT-CD) wurde ein neuartiges Cyclodextrin-derivat entwickelt, das sich dank seines reaktiven Ankers dauerhaft an Cellulosefasern koppeln lässt. Die hydrophobe Kavität des MCT-CD ist in der Lage, die im Schweiß enthaltenen organischen Komponenten aufzunehmen und deren mikrobiellen Abbau und somit die Entstehung von Schweißgeruch stark zu verzögern. Anwendungen ergeben sich somit im Bereich der Bekleidung und anderer Textilien. Auch Fremdgerüche wie Zigarettenrauch und Stallgeruch können so wirksam unterdrückt werden. Beim Waschen bleibt die Bindung des MCT-CD zur Faser stabil, nur die Fremdstoffe werden herausgelöst. Umgekehrt lässt sich das MCT-CD mit Duftstoffen und Pflegesubstanzen beladen, die kontrolliert, insbesondere in Gegenwart von Feuchtigkeit, freigesetzt werden.
Carboxymethylstärke-Natrium. CMS-Na (syn. Natrium-
stärkeglycolat) wird durch partielle O-Carboxymethylierung der primären OH-Gruppe und Vernetzung von Stärke, insbesondere Kartofelstärke, erhalten. Die aktuelle PhEur unterscheidet drei Typen von Carboxymethylstärke-Natrium, Carboxymethylamylum natricum, PhEur 5, die sich in ihrem Substitutionsgrad und folglich in ihren physikochemischen Eigenschaten voneinander abweichen. Mit einem Gehalt von 2,8–4,2% Natrium ist Typ A stärker substituiert als Typ B mit einem Natriumgehalt von 2,0–3,4%. Die Typen A und B ergeben mit Wasser durchscheinende Suspensionen. Für die Herstellung von Typ C mit einem Natriumgehalt von 2,8–5,0% ist im Gegensatz zu den Typen A und B nicht Kartofelstärke als Ausgangspolymer vorgeschrieben. Ferner wird die Stärke zuerst durch Dehydratation vernetzt und dann partiell O-carboxymethyliert. Typ C quillt stärker in Wasser und liefert ein durchscheinendes, gelartiges Produkt. CMS-Na wird als Tablettenfüll- und -sprengmittel sowie als Suspendierhilfe eingesetzt ( > Tabelle 19.2). Hydroxyethylstärke. Zur Herstellung von HES wird Amylopektin, i. d. R. in Form der Wachsmaisstärke, durch partielle Hydrolyse mit Salzsäure auf den gewünschten Mr-Bereich gebracht und durch Umsetzung mit Ethylenoxid teilweise in Position 2 bzw. 6 mit Hydroxyethylgrup-
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
pen verethert (Substitutionsgrad (DS): 0,4 bis 0,7, C-2/C-6Verhältnis: 5:1 bis 9:1).
! Kernaussage
Lösungen von Hydroxyethylstärke (HES) sind heute die Nummer 1 unter den Plasmaersatzmitteln.
3- bis 10%ige Lösungen von HES in 0,9%iger NaCl-Lösung dienen als Plasmaersatzmittel ( > Tabelle 19.7) zur herapie und Prophylaxe von Hypovolämie und Schock im Zusammenhang mit Operationen, Verletzungen, Infektionen und Verbrennungen sowie zur Hämodilution, z. B. nach Hörsturz. Ein entscheidender Vorteil kolloidialer Volumenersatzlösungen (d. h. auch Dextran, Albumin, Gelatine) gegenüber kristalloiden Lösungen (z. B. Ringerlösung) ist, dass sie nicht nur eine kurzfristige Stabilisie-
19
rung der Makro-, sondern auch der Mikrozirkulation gewährleisten und so einer mangelhaten Organperfusion und dem Risiko eines Multiorganversagens entgegenwirken (Boldt 1998; Kohler 2000b). Durch die Hydroxyethylierung des Amylopektins, insbesondere in Position 2, wird der schnelle enzymatische Abbau durch die im Serum vorhandene D-Amylase verzögert und damit eine zu schnelle Elimination verhindert. Mit steigendem Mr, DS und C-2/C-6-Verhältnis der Substitution verlängert sich die Verweilzeit in der Zirkulation. Ein hoher DS begünstigt allerdings eine unerwünschte Gewebeeinlagerung und Kumulation bei Mehrfachgabe, sodass man heute HES-Varianten mit hohem C-2/C-6Verhältnis (9:1) und niedrigerem DS (0,4 statt 0,5) für besser hält (Kohler 2000b). Im Vergleich zu Dextranen, die sowohl Blutgerinnungsstörungen als auch anaphylaktische Reaktionen in-
. Tabelle 19.7 Plasmaersatzmittel und ihre Eigenschaften. Plasmaersatzmittel sind Lösungen aus körpereigenen oder modifizierten natürlichen, aber körperfremden Kolloiden zum raschen Volumenersatz bei Hypovolämie oder Blutverlust. Ist der Volumeneffekt >1, werden sie auch als Plasmaexpander bezeichnet, da infolge ihres hohen kolloidosmotischen Drucks Flüssigkeit aus dem Interstitium einströmt und so ihre intravasale Volumenwirkung größer als das infundierte Volumen ist (mod. nach Van Aken 1998) Plasmaersatzmittel [%] Plasma-Protein-Lösungen
Mittleres MG [kDa]
InitialVolumeneffekta
Effektive Wirkdauer [h]b
66
1,0
6–8
Albuminlösungen (5%)
66
0,7–0,9
1–2
Modifizierte Gelatine (3%)
30–35
0,7
1–2
niedermolekular (10%)
40
2,0
3–4
hochmolekular (6%)
60–70
1,2
5–6
Dextrane
x x
Hydroxyethylstärke
x x x x x x a b c
40/0,5:
niedermolekular, DS 0,5 (6%)
40
0,7
3–4
70/0,5:
niedermolekular, DS 0,5 (6%)
70
0,7
1–2
200/0,5:
mittelmolekular,
DS 0,5 (6%)
200
1,0
3–4
200/0,5:
mittelmolekular,
DS 0,5 (10%)
200
1,3
3–4
200/0,62: mittelmolekular,
DS 0,62 (6%)
200
1,0
5–6
450/0,7:
DS 0,7 (6%)
450
1,0
5–6
hochmolekular,
Im Vergleich zu Plasma (= 1,0). 1–2 h = kurzfristig, 3–4 h = mittelfristig, 5–6 h = langfristig wirksam. DS Substitutionsgrad, d. h. durchschnittliche Anzahl der Substituenten pro Glucoseeinheit.
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554
19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
duzieren können, ist HES besser verträglich. Die höhermolekularen HES 200/0,5 und HES 450/0,7 verursachen jedoch bei längerfristiger Gabe in mittlerer bis höherer Dosis häuig kaum behandelbaren Juckreiz. In Deutschland haben sich HES-Präparationen mittlerweile als Standard in der Volumenersatztherapie etabliert (Verbrauch 1997: 64% HES, 22,5% Albumin, 13% Gelatine und nur noch 0,15% Dextran; Boldt 1998).
19.2.9
Fructane
cose in Trehalosebindung maskiert sein. Der Polymerisationsgrad der Fructane höherer Planzen ist relativ gering und beträgt maximal 200. Nur Bakterienfructane besitzen höhere DP-Werte, die jedoch stets unter denen von Stärke, Cellulose und anderen Bakterienpolysachariden liegen. Eine weitere Besonderheit der Fructane ist ihre Säurelabilität, die bei Furanosiden allgemein größer als bei Pyranosiden ist.
! Kernaussage
Fructane stellen für einige Pflanzenfamilien die Alternative zu Stärke dar.
Struktur. Als Fructane werden Polysaccharide bezeichnet,
die ganz oder überwiegend aus Fructose (E-d-Fructofuranose) aufgebaut sind ( > Abb. 19.10). Im Falle des Inulintyps sind die Fructoesemonomere E-2,1-, im Levantyp E-(2o6)-verknüpt. Daneben gibt es einen Mischtyp, der (2o6)-Bindungen in der Hauptkette und (2o1)-Bindungen in den kurzen Seitenketten aufweist (z. B. Triticin aus Queckenwurzeln). Da die Biosynthese von Saccharose ausgeht, kann das reduzierende Ende durch eine E-d-Glu-
Vorkommen. Im Gegensatz zu Stärke sind Fructane nicht
ubiquitär verbreitet, dienen jedoch einer Reihe höherer Planzen statt oder zusätzlich zu Stärke als Reservepolysaccharid. Inulin ist u. a. charakteristisch für die Asteraceen; Phlein, ein Fructan vom Levantyp, kommt in den Stängeln von Poaceen vor. Levane werden von verschiedenen Bakterien als Exopolysaccharide gebildet.
. Abb. 19.10
Inulin / [1)-β-D-Fruf-(2→)]]n
Levan / [6)-β-D-Fruf-(2→)]]n
Fructane. Strukturausschnitt der beiden Fructantypen Inulin und Levan. Inuline sind aus β-1,2-verknüpften D-Fructofuranoseresten aufgebaut; bei Levanen sind die D-Fructofuranosereste β-2,6-verknüpft. Die terminale Fructose liegt entweder als reduzierende Pyranose vor (β-D-Fruf-(2o[1)-β-D-Fruf-(2o]n1)-β-D-Fruf-(2o1)-β-D-Frup) oder ist mit einer α-D-Glucose nach dem Trehalose-Typ verknüpft (β-D-Fruf-(2o[1)-β-D-Fruf-(2o]n1)-β-D-Fruf-(2l1)-β-D-Glcp), sodass das Molekül formal mit einer Saccharoseeinheit abschließt und kein reduzierendes Ende besitzt
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
Inulin Struktur und Eigenschaften. Inulin ist ein wasserlös-
liches, polydisperses Gemisch linearer Fructane, die aus E-(2o1)-verknüpten d-Fructofuranoseresten aufgebaut sind. Der DP von nativem Inulin reicht von 2 bis 70, d. h. es handelt sich um ein Gemisch aus Oligo- und Polysacchariden einschließlich Glucose, Fructose und Saccharose. Kommerziell erhältliches Inulin hingegen besitzt einen DP von 20–30. Die wässrige Lösung ist linksdrehend, mit Iod zeigt sich keine Färbung. Charakteristisch ist die D-Naphtholschwefelsäure-Reaktion, die einen violetten Farbkomplex ergibt. Vorkommen. Inulin kommt in Konzentrationen bis zu
70% in den unterirdischen Organen mehrjähriger Asteraceen und Campanulaceen sowie in allen Organen der Boraginaceen vor. Für die Gewinnung von Fructanen dienen die Rüben von Cichorium intybus var. sativum L. (KafeeCichorie), die bis zu 58% Inulin enthalten, und die Knollen von Helianthus tuberosus L. (Topinambur), einer in Nordamerika und Mitteleuropa angebauten Kulturplanze. Daneben tritt Inulin als begleitender Inhaltsstof in einer Reihe von Drogen auf, wie den Wurzeln von Echinacea sp., Taraxacum sp., Symphytum sp. und Gentiana sp. sowie den überirdischen Organen von Tussilago sp. Verwendung als Ballaststoff. Inulin und daraus hergestellte Oligofructose sind lösliche Ballaststofe, die als Präbiotika und Kohlenhydrate zur Ernährung bei Glucosetoleranzstörung und Diabetes mellitus praktische Bedeutung erlangt haben. Nach oraler Zufuhr von Inulin wird nur ein geringer Teil gespalten, wobei der sauren Hydrolyse im Magen eine größere Bedeutung zuzukommen scheint als dem enzymatischen Abbau. Die Hauptmenge gelangt in das Kolon und wird dort durch die Intestinallora abgebaut. Es handelt sich somit um einen löslichen Ballaststof (Walter
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1998) ( > Kap. 19.2.11). Inulin und partiell abgebautes Inulin (Oligofructoside, Oligofructose, Fructooligosaccharide) gelten als Präbiotika, die die Vermehrung der Biidobakterien im Darm fördern, was wiederum mit einer gesteigerten Resistenz gegenüber Pathogenen und günstigen Einlüssen auf die Transitzeit, die Verwertung der Nahrung und die Absorption von Nähr- und Mineralstofen (z. B. Mg2+) assoziiert wird ( > Infobox „Darmlora, Präbiotika und Probiotika“ in Kap. 19.2.11). Wird eine inulinhaltige Zubereitung gezielt als Ballaststof bzw. Präbiotikum eingesetzt, ist zu beachten, dass Inulin und Oligofructose relativ labile Kohlenhydrate sind, sodass durch Prozesse wie Pasteurisierung oder lange Lagerung in Form säurehaltiger Produkte, der eiziente Ballaststofgehalt reduziert sein kann (Endreß 2002). Nach Aufnahme größerer Inulinmengen (>12 g/Tag) kann es durch die bakteriell bedingte Gasentwicklung zu Meteorismus kommen. Verwendung in der Diagnostik. Eine zweite Verwendung von Inulin liegt im Bereich der Diagnostik. Nach intravenöser Applikation wird Inulin rasch in unveränderter Form renal ausschließlich durch glomeruläre Filtration eliminiert. 10%ige Inulinlösungen können daher als Diagnostikum zur Messung der glomerulären Filtrationsrate und damit der Nierenfunktion eingesetzt werden.
19.2.10 Pektine Definition. Pektin ist eine Sammelbezeichnung für planzliche Polysaccharide, die durch einen hohen Anteil an D-(1o4)-verknüpften Polygalacturonsäuresequenzen charakterisiert sind. Hierbei ist zu unterscheiden zwischen den Pektinen (syn. Pektinstofen) im Sinne der Planzenanatomie bzw. -biochemie (Pektin eine gelartige Matrix; Homogalacturonane und Rhamnogalacturonane) und den Pektinen im Sinne der Pharmazie als kommerzielle
Infobox Pflanzliche Zellwände. Pflanzliche Zellwände stellen nach heutiger Ansicht die extrazelluläre Matrix pflanzlicher Gewebe dar (Chrispeels 1999). Man unterscheidet zwischen der Mittellamelle, der Primärwand und der mehr oder weniger stark ausgeprägten Sekundärwand. In den Sekundärwänden dominieren mit 70–90% Cellulosefibrillen, die in Paralleltextur angeordnet sind. Die Primärwand stellt demgegenüber ein
gequollenes, wasserreiches dreidimensionales Netzwerk aus Cellulosefibrillen in Streutextur (ca. 23%) und vernetzenden Hemicellulosen (ca. 21%) sowie Glykoproteinen (ca. 19%) dar, die in eine durch Calciumionen stabilisierte Gelmatrix aus sauren, galacturonsäurereichen Polysacchariden, den Pektinen (ca. 37%), eingebettet sind. Die Mittellamelle besteht neben Cellulose ebenfalls hauptsächlich aus Pektinen.
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Produkte, die durch Extraktion aus pektinreichen Planzenmaterialien gewonnen und v. a. wegen ihrer gelbildenden Eigenschaten eingesetzt werden. Diese Diferenzierung ist bedeutsam, da native Pektine in Form hochkomplexer, unlöslicher Protopektine vorliegen, während es sich bei den extrahierten Pektinen um lösliche, teilweise abgebaute Strukturen handelt.
Native Pektine Vorkommen. Die Pektine (syn. Pektinstofe) sind dominierende Bestandteile der Mittellamelle und Primärwand planzlicher Zellen und kommen somit in allen Planzen vor. Daneben liegen Pektine in gelöster Form im Zellsat planzlicher Vakuolen vor.
! Kernaussage
Äpfeln enthält beispielsweise 10–15% Pektine, Schalen von Orangen und Zitronen sogar bis zu 30%. Die Pektine fungieren hier als interzelluläre Kittsubstanz, die die Zellen im Gewebeverband zusammenhält und so den Früchten ihre Form und Festigkeit verleiht. Im Rahmen des natürlichen Reifungsprozesses kommt es u. a. zum enzymatischen Abbau der Pektine durch Protopektinasen (Glykosidasen) und Pektasen (Esterasen) ( > Abb. 19.11). Die Enzyme überführen das unlösliche Protopektin in lösliches Pektin und sind auf diese Weise für das „Weichwerden“ von Früchten und Gemüse verantwortlich. Struktur. Pektine sind Polysaccharide komplexer Zusam-
mensetzung, die als charakteristisches Strukturelement (1o4)-D-d-Polygalacturonsäureabschnitte (Pektinsäure, Homogalacturonan) enthalten ( > Abb. 19.12).
! Kernaussage
Pektine bilden die gelartige Matrix in pflanzlichen Zellwänden und fungieren als interzelluläre Kittsubstanz.
Pektine sind eine heterogene Klasse Polygalacturonsäure-reicher Polysaccharide.
Ihr Anteil an der Trockensubstanz beträgt durchschnittlich nur 1–5%, ist jedoch stark vom Zelltyp und besonders von der Dicke der Sekundärwand abhängig. Reich an Pektinen sind Früchte und Gemüse. Das Fruchtleisch von
Reine Pektinsäure ist in der Natur allerdings kaum vorzuinden. Die Carboxylgruppen der Uronsäurebausteine liegen als Salze divalenter Ionen bzw. zu 20–80% als Methylester vor (Pektin i. e. S.); bei manchen Pektinen sind die Hydroxylgruppen z. T. acetyliert. Neben der Uron-
. Abb. 19.11
Protopektinasen schwerlösliches Protopektin
Pektasen lösliches Pektin
(Glykosidasen)
Pektinase Galacturonsäure
Pektinsäure (Pektinesterasen)
(Polygalacturonidasen)
Pektinasen (Polymethylgalacturonidasen)
Methylgalacturonsäure
Enzymatischer Pektinabbau. Protopektinasen hydrolysieren die kovalenten Bindungen zu Hemicellulosen und spalten die Seitenketten ab. Dadurch wird schwerlösliches Protopektin, das als Form gebende Kittsubstanz fungiert, in lösliches Pektin überführt. Dies bewirkt im Rahmen des natürlichen Reifungsprozesses das „Weichwerden“ von Früchten und Gemüse. Unterstützt wird dieser Prozess durch Pektasen (Pektinesterasen, z. B. Pektin-pektyl-hydrolase), die das Pektin zu Pektinsäure demethylieren. Sie kommen verbreitet in Früchten, grünen Pflanzen und Mikroorganismen vor. Endo- und Exopektinasen (Polygalacturonidasen, z. B. Polygalacturonid-glycano-hydrolase) sind Glykosidasen, die die Hauptkette der Polygalacturonane zwischen den Uronsäureresten spalten. Unter der Gruppe der Pektinasen unterscheidet man Endo- und Exopektinasen sowie Pektin abbauende Polymethylgalacturonidasen und Pektinsäure abbauende Polygalacturonidasen. Da sie allerdings nicht in Früchten vorkommen, sind sie nicht am Reifungsprozess beteiligt. Die Salze von Pektin werden als Pektinate, die der Pektinsäure als Pektate bezeichnet
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
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. Abb. 19.12
[4)-D-D-GalpA-(1o2]n
(1o2)-D-L-Rhamnose (1o4)-D-D-Galacturonsäure oder dessen Methylester
Pektin. (1) Grundstruktur von Pektinsäure, einem linearen (1o4)-α-D-Galacturonan. (2) Strukturausschnitt aus einem typischen Pektinmolekül. Die Hauptkette des Rhamnogalacturonans besteht aus α-(1o4)-verknüpfter D-Galacturonsäure, die in unterschiedlichem Ausmaß als Methlyester vorliegt. Die Galacturonansequenz ist durch α-(1o2)-gebundene L-Rhamnose unterbrochen. Die Galacturonsäure- und Rhamnoseeinheiten der linearen Pektinkette können Seitenketten unterschiedlicher Struktur tragen
säure kommen in unterschiedlichen Anteilen D-(1o2)verknüpte l-Rhamnosereste in der Hauptkette vor (Rhamnogalacturonan, syn. l-Rhamnosylgalacturonan) ( > Abb. 19.12). In den Zellwänden sind diese Polyuronide Bestandteile weitgehend wasserunlöslichen Protopektins, das kovalent mit anderen Zellwandpolysacchari-
den wie Arabinogalactanen verknüpt ist. Seine Galacturonsäurebausteine liegen als Calcium- oder Magnesiumsalze vor. Zusätzlich ist es mit Seitenketten unterschiedlicher Struktur verzweigt; tynische Bausteine sind l-Rhamnose, d-Xylose, l-Arabinose, d-Galactose und d-Glucuronsäure.
Infobox Die Flavr-Savr-Tomate. Damit Tomaten transport- und lagerfähig sind, werden sie in der Regel grün gepflückt und gekühlt transportiert. Am Zielort erfolgt eine künstliche Ethylenbegasung, um den abschließenden Reifungsprozess einzuleiten bzw. zu beschleunigen. Die Ethylenbehandlung bewirkt zwar eine schnelle Rotfärbung, die Früchte erreichen jedoch nicht das volle Aroma und den Vitamingehalt einer an der Staude langsam gereiften Tomate. Das Entwicklungsziel der Firma Calgene war eine Tomate, die ohne weich zu werden länger am Stock reifen und dabei ihr volles Aroma ausbilden kann. Gleichzeitig sollte
die Tomate ebenso transport- und lagerfähig wie grüne Tomaten sein. Das Resultat war die Flavr-Savr-Tomate, das erste gentechnisch veränderte Lebensmittel, das für den menschlichen Konsum zugelassen wurde; die Tomate kam 1994 in den USA auf den Markt (Aventis Crop Science 2000). Durch die Übertragung eines Gens, das die Produktion des Enzyms Polygalacturonidase (Pektinase) unterbindet, wird der Abbau des Pektins in den Zellwänden und somit das „Weichwerden“ verhindert. Infolgedessen kann die Tomate am Stock reifen und muss nicht wie herkömmliche Tomaten grün und unreif gepflückt werden.
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Infobox Pektinasen und Fruchtsäfte. Seit Jahrzehnten werden bei der Fruchtsaftgewinnung Pektinasen eingesetzt, die durch den Abbau der Pektine die Saftausbeute beim Pressen deutlich erhöhen. Bei Beeren, Südfrüchten, Äpfeln und Birnen sind Pektinasezusätze allgemein üblich. In einigen Fällen tragen Pektinasen dazu bei, Trübstoffe abzubauen und die Säfte zu klären. So verstopfen auch die Filter weniger schnell. Mittlerweile stehen verschiedene Pektin-spaltende Enzyme zur Verfügung, die gentechnisch hergestellt werden: Pektinase, Pektinesterase, Pektintranseliminase, Pektin-Lyase und Pektat-Lyase (Aventis Crop Science 2000).
Isolierte Pektine Gewinnung. Für die Isolierung von Pektin werden hauptsächlich Rückstände aus der Fruchtsatproduktion, v. a. Zitronen- und Orangenschalen sowie Apfeltrester, und die bei der Saccharosegewinnnung anfallenden Rübenschnitzel verwendet. Das mechanisch zerkleinerte Rohmaterial wird zunächst einer partiellen Säurehydrolyse (pH 1,3–3) bei 70–90 °C unterworfen. Diese Vorbehandlung dient dem Aubrechen ionischer Brücken und der Spaltung der Bindungen zwischen Haupt- und Seitenketten, wodurch eine Löslichkeitsverbesserung erreicht wird. Anschließend wird mit Wasser in Misch- und Gegenstromextraktionsanlagen extrahiert. Der Extrakt wird von Stärke und Proteinen gereinigt und einem Ionenaustauschverfahren zur Entfernung von Calcium- und Magnesiumionen unterworfen. Das Endprodukt wird in der Regel sprühgetrocknet. Durch alkalische oder saure Esterspaltung während des Herstellungsprozesses kann der Methylierungsgrad reduziert und damit die Fähigkeit zur Gelbildung verändert werden. Eigenschaften und Typen. Isoliertes Pektin (Sammelbe-
zeichnung) ist ein feines, gelblich-weißes, praktisch geruchloses Pulver, das in Wasser eine klare oder opaleszierende, viskose, schwach saure Lösung ergibt. Seine Wasserlöslichkeit verbessert sich, wenn es zunächst mit Ethanol, Glycerol oder Zuckerlösung benetzt wird. Durch die Verwendung unterschiedlicher Ausgangsmaterialien und Herstellungsverfahren können sich die verschiedenen kommerziell erhältlichen Pektine beträchtlich in ihren strukturellen und physikochemischen Eigenschaten un-
terscheiden. Man diferenziert zwischen hoch (>50% der Uronsäuren methyliert) und niedrig (50%) bewirkt einen Wasserentzug und ermöglicht so hydrophobe Wechselwirkungen zwischen den Pektinmolekülen, was zur Bildung von Nebenvalenzgelen führt. Auf diesem Prinzip beruht die Herstellung von Gelees, Konitüren und Marmeladen aus Früchten, die natürliche Fruchtsäuren enthalten. Je höher der Veresterungsgrad ist, desto höhere Zuckerkonzentrationen sind für die Gelbildung erforderlich. Die Geschwindigkeit der Gelbildung ist bei hochveresterten Pektinen größer als bei niedrig veresterten Produkten. Besonders bei niedrig veresterten Pektinen wird die Gelbildung durch zweiwertige Ionen, wie Calcium, gefördert. Sie gelieren bereits bei relativ niedrigen Zuckerkonzentrationen und pH-Werten Legende Abb. 19.2). Die sich bildenden Komplexe sind umso stabiler, je mehr freie Carboxylgruppen vorliegen.
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
Verwendung von Pektinen Antidiarrhoikum. Die klassische innerliche Anwendung
von Pektin und pektinhaltigen Präparaten, die häuig auch Kaolin enthalten, liegt im Bereich der symptomatischen Behandlung von Störungen des Verdauungstraktes bei unspeziischer Diarrhoe, Gastroenteritis und leichten Ulkuserkrankungen (Tagesdosis ca. 10–20 g). Vor allem in der Kinderheilkunde werden auch heute noch entsprechende pektinhaltige Zubereitungen, v. a. „Hausmittel“ wie geriebene Äpfel, Bananenbrei oder Karottenpüree, eingesetzt. Die Wirksamkeit von Pektin, das von den Verdauungsenzymen nicht angegrifen wird und unverändert ins Kolon gelangt (löslicher Ballaststof ), soll auf der Fähigkeit beruhen, bakterielle Toxine durch Ionenaustausch zu adsorbieren und einen difusionshemmenden Schutzilm zu bilden. Im Kolon wird es zu 70–85% mikrobiell zu kurzkettigen Fettsäuren abgebaut. Die autretende pH-Wertverschiebung soll zu ungünstigen Lebensbedingungen für darmfremde Mikroorganismen führen und auf diese Weise zum Abklingen der Durchfallerkrankung beitragen.
! Kernaussage
Als löslicher Ballaststoff wird Pektin sowohl in der Medizin als auch in der Ernährung genutzt.
Verwendung als Ballaststoff. Wie andere hochmolekulare anionische Polysaccharide vermag Pektin die Serumcholesterolkonzentration zu beeinlussen ( > Kap. 19.2.11) und wird als planzlicher Lipidsenker als Arzneimittel eingesetzt. Mehreren Studien zufolge lässt sich mit der täglichen Einnahme von 15–30 g Pektin über 3–4 Wochen eine Senkung um 10–20% erzielen. Man nimmt an, dass an diesem Efekt die Fähigkeit von Pektin Gallensäuren zu binden beteiligt ist. Denn dadurch wird deren Rückresorption vermindert und Ausscheidung gesteigert und außerdem die Fettverdauung beeinträchtigt. Ferner kommt es durch die Hydrogelwirkung zu einer Resorptionsverzögerung von Nahrungsstofen, sodass die postprandiale Glucosekonzentration und folglich die Insulinfreisetzung reduziert werden. Dementsprechend wird es im Rahmen diätetischer Maßnahmen bei Hypercholesterinämie und Diabetes mellitus Typ II und zur Herstellung kalorienarmer Diätetika verwendet.
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Wundversorgung. Aufgrund ihrer hämostyptischen Wirkung werden sterile 3%ige Pektinlösungen zur Wundbehandlung eingesetzt. Von Vorteil ist hierbei der indirekte antibakterielle Efekt der anionischen Polysaccharide: Indem sie als Hyaluronidasehemmer wirken, behindern sie die Ausbreitung von Mikroorganismen im Gewebe. In Kombination mit anderen Hydrokolloiden werden Pektine als Komponenten interaktiver Wundaulagen verwendet ( > Infobox „Interaktive Wundaulagen“ in Kap. 19.7.2). Pharmazeutische Technologie. In der pharmazeutischen
Technologie sind Pektine als Tablettensprengmittel und zur Verzögerung der Arzneistoffreisetzung als feste Retardformen heute bedeutungslos ( > Tabelle 19.2). Verwendung inden sie als Hilfsstof in oral einzunehmenden Suspensionen sowie in Pasten und Salben für die Anwendung im Mund. Lebensmittelindustrie. In der Lebensmitteltechnologie
werden Pektine (E 440) wegen ihres Gelierungsvermögens für die Herstellung von Marmeladen und Gelees eingesetzt („Gelierzucker“). Standardbedingungen für die Bildung eines stabilen Gels sind Pektinanteile von ca. 1%, Zuckergehalte von ca. 60% und pH-Werte zwischen 2,8 und 3,5. Schließlich werden Pektine auch als Dickungsmittel, Emulgatoren und Stabilisatoren z. B. in Getränken und Eiscremes genutzt.
19.2.11 Anhang: Ballaststoffe Definitionen und Begriffe Definition. Die aktuelle Deinition der American Association of Cereal Chemists (AACC), die im Gegensatz zu älteren Deinitionen neben der Zusammensetzung auch die physiologische Funktionalität der Ballaststofe berücksichtigt, lautet:
! Kernaussage
Ballaststoffe bestehen aus essbaren Pflanzenteilen oder analogen Kohlenhydraten, die gegenüber der Verdauung und Absorption im menschlichen Dünndarm resistent sind und im Dickdarm teilweise oder vollständig fermentiert werden. Ballaststoffe beinhal-
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Vorkommen und Einteilung ( >Tabelle 19.8) ten Polysaccharide, Oligosaccharide, Lignin und assoziierte Pflanzensubstanzen. Ballaststoffe unterstützen gesundheitsfördernde Prozesse wie die Senkung des Cholesterinspiegels und/oder die Regulierung des Blutzuckerspiegels und/oder besitzen abführende Eigenschaften.
Demzufolge sind Ballaststofe Nahrungsbestandteile, die von den menschlichen Verdauungsenzymen nicht oder nur unvollständig abgebaut werden. Im Dickdarm werden sie von den Bakterien der physiologischen Darmlora in unterschiedlichem Ausmaß zu kurzkettigen Fettsäuren und Gasen metabolisiert. Neben den planzlichen Stofen besitzen auch einige Substanzen tierischen und bakteriellen Ursprungs sowie aus Pilzen Ballaststofcharakter (z. B. das Protein Keratin, die Polysaccharide Xanthan und Chitin), sind aber mengenmäßig von untergeordneter Bedeutung; das Chitinderivat Chitosan ( > Kap. 20.1.1) wird allerdings gezielt aufgrund seines speziellen Ballaststofcharakters zunehmend zur Nahrungsergänzung eingesetzt. Als „analoge Kohlenhydrate“ werden modiizierte Kohlenhydrate (z. B. Cellulosederivate, Polydextrose, „resistente Stärke“) bezeichnet, die ähnliche Eigenschaten wie die natürlich vorkommenden Ballaststofpolysaccharide bezüglich Verdauungsresistenz, Fermentierbarkeit und physiologischer Eigenschaten aufweisen. „Dietary fibers“. Im Englischen nennt man Ballaststofe
„dietary ibers“. Auch im Deutschen werden anologe Bezeichnungen wie Planzenfasern, Nahrungsfasern und Faserstofe sowie vereinzelt der alte Begrif Rohfasern gebraucht, obwohl Ballaststofe nur z. T. Fasercharakter haben und diese eher mit der Gruppe der unlöslichen Ballaststofe ( > unten) gleichzusetzen sind. Füllstoffe und Quellstoffe. Ballaststofe sind deinitions-
gemäß Bestandteile der Nahrung. Da aber etliche Schleimdrogen und Polysaccharide mit ähnlicher Zielsetzung auch medikamentös eingesetzt werden, indet man gelegentlich auch die Unterscheidung in Füllstofe (syn. Ballaststofe) und Quellstofe (z. B. Flohsamen, Guar, Karaya-Gummi). Angesichts von Leinsamen, der ja sowohl Nahrungsbestandteil als auch Arzneimittel sein kann, wird deutlich, dass diese Diferenzierung nicht besonders sinnvoll ist.
Pflanzen als Hauptquelle. Die wichtigsten Ballaststof-
quellen sind Getreide, Obst und Gemüse, da Ballaststofe in allen unverarbeiteten planzlichen Nahrungsmitteln enthalten sind. Hinsichtlich ihrer funktionellen Bedeutung sind in erster Linie die Polysaccharide zu nennen. Die verschiedenen planzlichen Quellen unterscheiden sich beträchtlich in ihrem Gesamtballaststofgehalt und auch in der qualitativen und quantitativen Zusammensetzung der Ballaststofe. Beispiele: x Weizenkorn: 13,3% Gesamtballaststofe, 2,9% wasserlöslich, 10,4% wasserunlöslich; x Broccoli: 3,0% Gesamtballaststofe, 1,3% wasserlöslich, 1,7% wasserunlöslich; x Apfel: 2,0% Gesamtballaststofe, 0,5% wasserlöslich, 1,5% wasserunlöslich. Ferner gibt es Unterschiede innerhalb einer Planzenart (Planzenteil, Reifezustand, Wachstumsbedingungen) und auch in Abhängigkeit von der Art der Verarbeitung zu Lebensmitteln (z. B. Vollkornmehl und Weißmehl). Löslichkeit. Prinzipiell diferenziert man anhand ihrer
Löslichkeit in einer pH-kontrollierten Enzymlösung zwischen zwei Gruppen, nämlich wasserunlöslichen und wasserlöslichen Ballaststofen. x Wasserunlösliche Ballaststofe: Diese Gruppe umfasst im Wesentlichen 1) Cellulose und 2) Hemicellulosen, die Zellwandbestandteile aller planzlichen Zellen, und 3) Lignin, das nur in verholzten Planzenteilen vorkommt. Ihre häuig faserige Struktur hat zu den Bezeichnungen „dietary ibres“, Planzenfasern, Faserstofe u. ä. geführt. Sie werden von der Darmlora im Allgemeinen in geringerem Maße abgebaut als die wasserlöslichen Ballaststofe, sodass ihr hohes Wasserbindungsvermögen (z. B. 1 g Cellulose bindet 0,4 g Wasser) und damit ihr Volumenefekt auch noch im Dickdarm zum Tragen kommen: wasserunlösliche Ballaststofe werden zum größten Teil mit dem Stuhl ausgeschieden. x Wasserlösliche Ballaststofe: Das Paradebeispiel wasserlöslicher Ballaststofe sind die Pektine. Ferner gehören zu dieser Gruppe 1) planzliche Schleimpolysaccha-
. Tabelle 19.8 Einteilung der Ballaststoffe mit wichtigen Beispielen. Obwohl sich auch die „anderen Stoffe“ in die beiden Gruppen der wasserunlöslichen und wasserlöslichen Ballaststoffe einordnen lassen, werden sie gesondert aufgeführt, um hervorzuheben, dass Kohlenhydraten die größte Bedeutung als Ballaststoff zukommt. Neben den Ballaststoffen, die obligatorisch unverdaulich sind, gibt es auch potentielle Ballaststoffe, deren Abbau nur unter bestimmten Umständen mehr oder weniger reduziert ist Kohlenhydrate
Pflanzlich
Wasserunlösliche
Wasserlösliche
x x
x
c
x x x x
x x x
x
Chitin (Pilze)
x x
x
x x
x x x
Lignin (wasserunlöslich) in verholzten Pflanzenteilen Polyphenole Cutin, Suberin, Wachse Resistentec Proteine
x x
Cellulosederivateb z. B. MC, CMC, EC, Mikrokristalline Cellulose Guargalactomannan Resistente Stärke weitere Kohlenhydrate z. B. Polydextrose, Lactulose, Lactit, Maltit, Isomalt Chitosan (tierisch-partialsynthetisch) Bakterien- und Pilzpolysaccharide (1o3)-E-/1o6)-E-Glucane, Gellan, Xanthan
x x
x
Stärkederivate Zuckeralkohole z. B. Sorbit, Xylit Lactose Proteine z. B. Collagen, Elastin, Zein Fette mit hohem Schmelzpunkt Maillard-Produkte
Resistentec Proteine z. B. Keratin (tierisch)
Oligofructose gilt als Präbiotikum, da es die Bifidumflora im Kolon fördert. Im Gegensatz zu den Cellulosederivaten besitzen die meisten Stärkederivate keinen Ballaststoffcharakter. Schwer bis unverdauliche.
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a b
x
x
Pflanzlichmodifiziert bzw. (partial-) synthetisch
Nicht-pflanzlich
x
Hemicellulosen z. B. wasserlösliche Pentosane Isolierte Polysaccharide Pektin, Inulin Schleimpolysaccharide in Flohsamen, Indischen F. und -schalen, Johannisbrotkernmehl, Guar, Leinsamen Gummen Arabisches Gummi, Traganth, Karaya-Gummi Phycokolloide Agar, Alginate, Carrageenane Resistente Stärke Oligosaccharide Raffinose, Stachyose (z. B. Fabaceenfrüchte), Oligofructosea (z. B. Artischocken, Zwiebeln, Knoblauch)
Potentielle Ballaststoffe (unabhängig von ihrer Herkunft)
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
Cellulose Hemicellulosen z. B. Arabinogalactane, Galactane, Glucuronane, Mannane, Pentosane (Xylane), Xyloglucane jeweils in unterschiedlicher Menge in allen Getreide-, Obst-, Gemüsearten vorkommend
Andere Stoffe
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
ride – insbesondere aus der Hülle bzw. dem Endosperm von Samen –, 2) Gummen, 3) Phycokolloide sowie andere 4) natürliche (z. B. Xanthan) und 5) modiizierte Polysaccharide, die als Zusatzstofe in Lebensmitteln verwendet werden (z. B. Methylcellulose), zudem als Besonderheit 6) resistente Stärke ( > Infobox) und schließlich 7) Oligofructose und andere Oligosaccharide ( > Details zu den einzelnen Vertretern in den nachfolgenden Unterkapiteln). Die Polysaccharide in dieser Gruppe sind typische Hydrokolloide, sie zeichnen sich durch eine hohe Quellfähigkeit und viskositätserhöhende bzw. gelbildende Eigenschaten aus. Beispielsweise enthält ein Agargel bis zu 99,5% Wasser. Stoffklassen. Die Diferenzierung nach ihrer Löslichkeit
bezieht sich hauptsächlich auf Kohlenhydratballaststofe, die sowohl quantitativ als auch funktionell die größere Bedeutung haben. Daneben besitzen aber noch andere Stofe unterschiedlicher Herkunt, z. B. Lignin und Keratin, Ballaststofcharakter (unverdaulich), allerdings fehlen ihnen – zumindest nach dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnis – weitgehend die physiologisch günstigen Eigenschaten der Kohlenhydrate.
Nichtpflanzliche Ballaststoffe. Wenn auch planzliche
Kohlenhydratballaststofe in unserer Nahrung dominieren, sind Planzen nicht die einzige Ballaststofquelle. Es gibt sowohl Kohlenhydrate anderer Organismen als auch partialsynthetische und synthetische Kohlenhydrate mit Ballaststofeigenschaten. Zwar spielen sie in unserer Ernährung unmittelbar keine Rolle, werden jedoch in vielen Lebensmitteln aus technologischen Gründen als Zusatzstofe verwendet (z. B. Xanthan, Gellan, Cellulosederivate), sodass ihre Ballaststofeigenschaten durchaus zum Tragen kommen können. Darüber hinaus werden einige (z. B. Chitosan, Lactulose) sogar gezielt für diätetische Zwecke verwendet. Obligatorische und potentielle Ballaststoffe. Neben den obligatorischen Ballaststofen enthält unsere Nahrung auch sog. potentielle Ballaststofe, die nur unter bestimmten Umständen unverdaut in den Dickdarm gelangen. Die Ursachen für die Insuizienz der entsprechenden Enzyme sind vielfältig. So schwankt die Enzymaktivität in Abhängigkeit von der Tages- und Jahreszeit, dem Alter und dem Gesundheitszustand der Person, des Weiteren spielen die Darmmotilität, die Zusammensetzung der
Infobox Resistente Stärke (RS). Entgegen der früheren Annahme, dass Stärke quantitativ durch D-Amylasen und D-Glucosidasen abgebaut und in Form von Glucose genutzt wird, ist ein gewisser Anteil (etwa 10%) der Stärke in einer normalen Mischkost gegenüber enzymatischer Hydrolyse resistent und gelangt ins Kolon, wo sie dann wie Ballaststoffe von der Darmflora fermentiert wird („physiologische Stärkemalabsorption“). Der Anteil von RS an der Ballaststoffzufuhr unter westlicher Ernährungsweise (5–40 g/Tag) liegt bei mindestens 25%. Man unterscheidet drei Hauptformen resistenter Stärke: x RS1: Bei großen Partikeln ist der Kontakt mit der D-Amylase behindert. Dieser Anteil an RS wird wesentlich von der Art der Lebensmittelverarbeitung (v. a. mechanische Zerkleinerung) sowie der Intensität des Kauens bestimmt. x RS2: Die kristalline Struktur der Stärkegranula erschwert den enzymatischen Abbau. Folglich wird nicht hitzebehandelte Stärke wie etwa Rohstärke aus Kartoffeln oder grünen Bananen kaum abgebaut. So sind z. B. 10–31% der Bananenstärke unverdaulich. Durch Hitzeeinwir-
x
kung kommt es zum Zusammenbruch der kristallinen Strukturen (Verkleisterung, Gelatinisierung). Somit kann der Anteil an RS2 durch ausreichendes Erhitzen vermindert werden. RS3: Beim Abkühlen kann es jedoch zu einer Rekristallisation – insbesondere der Amylose – kommen (Retrogradation), sodass der resistente Anteil wieder zunimmt. Während z. B. nur 3% der Stärke frisch gekochter Kartoffeln den Dünndarm unverändert passieren, steigt der Anteil in einem kalten Kartoffelsalat auf ca. 12%. Durch wiederholtes Erwärmen und Abkühlen kann der Anteil an RS3 noch gesteigert werden.
Zusätzlich beeinflussen andere Nahrungsbestandteile die Abbaubarkeit der Stärke, indem sie etwa beim Herstellungsprozess um das für die Gelatinisierung erforderliche Wasser konkurrieren, die intestinale Verweildauer der Stärke beeinflussen oder als Hemmstoffe der D-Amylase wirken. Im Gegensatz zu den Cellulosederivaten haben Stärkederivate im Allgemeinen keinen ausgeprägten Ballaststoffcharakter, sondern werden vollständig metabolisiert. Lediglich Hydroxypropylstärke scheint eine Ausnahme zu sein.
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
Nahrung, ein Überangebot an entsprechenden Stofen, Medikamente und schließlich genetisch oder pathologisch bedingte unzureichende Enzymaktivität eine Rolle. Das bekannteste Beispiel für einen potentiellen Ballaststof ist Lactose: Die physiologische Spaltung in Glucose und Galactose durch Lactase indet bei Personen mit Lactoseintoleranz nicht oder nur unzureichend statt.
Eigenschaften Grundlage. Laut Deinition werden Ballaststofe nicht
durch die Verdauungsenzyme abgebaut, d. h. sie sind gegenüber folgenden Dünndarm- und Pankreasenzymen resistent: D-Amylase, D-(1o6)-Glucosidase, Maltase, Isomaltase, Saccharase, ggf. Lactase, Trehalase, Lipasen, Pepsin, Trypsin, Chymotrypsin, Carboxypeptidase A und B, Kollagenase, Elastase, Aminopeptidasen. Da die Ballaststofe nicht abgebaut werden, kommen während der gastrointestinalen Passage ihre diversen Polymereigenschaten ( > den nachfolgenden Abschnitt) zum Tragen, welche die Grundlage für ihre ernährungsphysiologische Bedeutung darstellen. Relevante Eigenschaften. Hinsichtlich ihrer physiolo-
gischen Wirkungen in den verschiedenen Abschnitten des Magen-Darm-Trakts sind folgende Efekte von Bedeutung: x Wasserbindungsvermögen durch Sättigung der Oberläche bzw. Quellung (letztere steigt proportional mit dem Anteil an löslichen Ballaststofen); Beispiele: Nahrungsfasern mit hydrophilen Gruppen (Cellulose), grobe Partikel mit kapillären Hohlräumen. x Viskositätserhöhung und Gelbildung; Beispiele: Pektine, Gummen, Guar, Johannisbrotkernmehl, Xanthan und andere wasserlösliche Hydrokolloide. x Bindung von Kationen; Beispiele: sulfatierte bzw. uronsäurehaltige Polysaccharide wie Pektine, Alginate und Carrageenane, Lignin, Phytinsäure. x Bindung von Gallensäuren und anderen Sterolen; Beispiele: Polysaccharide mit hydrophoben Gruppen wie Chitosan und hoch methylierte Pektine, gelbildende Polysaccharide, Lignin, oberlächenaktive Substanzen. x Mikrobiologische Abbaubarkeit; Beispiele: Di, Oligo- und Polysaccharide.
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Je nach der individuellen Struktur der Ballaststofe sind die einzelnen Efekte mehr oder weniger stark ausgeprägt. Als Beispiel sei die von 0% (Xanthan) bis 100% (Guar) reichende Fermentierbarkeit einiger Polysaccharide durch die Dickdarmlora aufgeführt: x 70%: Gummi arabicum, Pektin, Guar. Im Gegensatz zu den Kohlenhydraten werden die Phenylpropanpolymere des Lignins im Dickdarm nicht abgebaut.
Ernährungsphysiologische Bedeutung „Fiber-Hypothese“. Die Beobachtung, dass bestimmte
Erkrankungen in den westlichen Industrienationen wesentlich häuiger als in Entwicklungsländern vorkommen, hat zu der Hypothese geführt, dass ein hoher Ballaststofverzehr vor diesen Erkrankungen schützen kann. Die Liste entsprechender Erkrankungen ist außerordentlich vielfältig und umfasst unter anderem: x Erkrankungen des Verdauungstraktes: Obstipation, Appendizitis, Divertikulose, Colon irritabile, Colitis ulcerosa, Morbus Crohn, Dickdarmpolypen und -karzinom, Cholesteringallensteine, Zahnkaries, Hiatushernie, Hämorrhoiden; x Erkrankungen des Stofwechsels und des Gefäßsystems: Adipositas, Diabetes mellitus, essenzielle Hypertonie, Herzinfarkt, periphere und zerebrale Durchblutungsstörungen, Varikose, Venenthrombosen, Osteoporose usw.; x Erkrankungen endokriner Drüsen; x Autoimmunerkrankungen. Obwohl der Kausalzusammenhang zwischen Ballaststofverzehr und Entstehung von Krankheiten noch nicht bewiesen ist und v. a. bei denen, die nicht den Verdauungstrakt betrefen, auch fragwürdig erscheint, gibt es eindeutige Belege, dass Ballaststofe verschiedene Stofwechselund Organfunktionen günstig beeinlussen. Wirkungen in Mund und Magen. Ballaststofe verdünnen sozusagen den Kaloriengehalt der Nahrung und verlängern die Kauzeit und somit die Nahrungsaufnahme. Dies
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
führt insgesamt im Normalfall zu einer Reduktion der Kalorienzufuhr. Durch die Viskositätserhöhung des Speisebreis wird die Verweilzeit im Magen verlängert, sodass das Sättigungsgefühl länger andauert. Außerdem leistet ballaststofreiche Nahrung einen Beitrag zur Erhaltung gesunder Zähne. Zum einen enthält sie weniger kariogene Zucker, zum anderen erhöht das intensive Kauen faserreicher Nahrung den Speichelluss und verbessert damit die Selbstreinigung der Zähne. Wirkungen im Dünndarm. Ballaststofe verändern die Transitzeit des Speisebreis im Dünndarm in unterschiedlicher Weise: Wasserlösliche verlängern sie infolge der Viskositätserhöhung, wasserunlösliche verkürzen sie durch relektorische Steigerung der Kontraktion. Ferner beeinlussen sie über diverse Mechanismen die Verdauung und Resorption: x Allgemein wirken sich Wasserbindung, Quellefekte und Viskositätserhöhung negativ auf die Difusionsgeschwindigkeit aus. x Die durch Pektine und Guar verzögerte Verdauung und Resorption führt man darauf zurück, dass sie durch unspeziische Bindung die Aktivität der Verdauungsenzyme reduzieren bzw. die Bildung von EnyzmSubstrat-Komplexen behindern. x In Gegenwart polyanionischer Ballaststofe kommt es zu einer Verschiebung des pH-Wertes, die sowohl die Sekretion von Säuren und Basen als auch von Enzymen und Hormonen beeinlusst.
! Kernaussage
Ballaststoffe können postprandiale Blutzuckerspitzen und die Serumcholesterolkonzentration senken.
Diese Efekte manifestieren sich letztlich in einer verzögerten Resorption von Monosacchariden, sodass die postprandialen Blutglucosespiegel niedriger sind. Diese Wirkung nutzt man im Rahmen der diätetischen Behandlung von Diabetes mellitus Typ II. Klinischen Studien zufolge ist sie besonders stark bei den Pektinen und Guar ausgeprägt, wurde aber auch für Flohsamen, Indische Flohsamen und -schalen sowie Johannisbrotkernmehl gefunden. Zahlreiche Untersuchungen liegen zur Beeinlussung der Blutfettwerte durch Ballaststofe vor. Maßgeblich ist daran ihre Fähigkeit beteiligt, Gallensäuren zu binden.
Sie reduzieren dadurch ihre enterale Rückresorption und fördern ihre Ausscheidung. Die Unterbrechung des enterohepatisches Kreislauf der Gallensäuren stimuliert zusätzlich ihre Sekretion und folglich ihre Bildung aus endogenem und Nahrungscholesterol. Außerdem wird durch die Adsorption von Gallensäuren und Phospholipiden die Bildung der für die Fettverdauung erforderlichen Mizellen und die Veresterung von Cholesterol beeinträchtigt, sodass letztlich auch die Ausscheidung von Glyceriden, Fettsäuren und Nahrungscholesterol erhöht wird. So wurde in einer Studie unter täglicher Gabe von 100 g Ballaststofen eine Steigerung der täglichen Fettausscheidung von 2–6 g auf 20–28 g beobachtet. Möglicherweise hemmen Ballaststofe auch die Aktivität der Pankreaslipase. Die Summe dieser Mechanismen macht man für die Senkung der Cholesterol- und LDL-Serumkonzentration um bis zu 20% verantwortlich. Am wirksamsten erwiesen sich Pektine und Lignin; ähnliche Efekte wurden aber auch für Guar, Flohsamen, Indische Flohsamen und -schalen, Johannisbrotkernmehl, Leinsamen und v. a. Chitosan nachgewiesen. Unterstützend wirkt wahrscheinlich die Tatsache, dass eine ballaststofreiche Ernährung meist energie- und fettreduziert ist und einen höheren Anteil an mehrfach ungesättigten Fettsäuren enthält, die selbst eine Reduktion der Cholesterol- und Triglyceridspiegel bewirken.
! Kernaussage
Bindung von Kationen durch polyanionische Ballaststoffe – ein zweischneidiges Schwert.
Die Fähigkeit von polyanionischen Ballaststofen wie Pektinen und Alginaten, Schwermetalle zu binden und damit ihre Resorption zu verhindern, ist von Vorteil und wird in der Toxikologie genutzt ( > Infobox „Bindung von Schwermetallionen“ in Kap. 19.7.2). Analog ist jedoch auch eine Verminderung der Resorption von Mineralstofen und Spurenelementen zu erwarten. Der resorptionshemmende Efekt von in Getreide vorkommendem Phytin auf Calcium, Eisen und Zink ist eindeutig belegt. Eine entsprechende Negativbilanz unter ballaststofreicher Ernährung konnte allerdings bislang nicht nachgewiesen werden; Vegetarier und Nichtvegetarier zeigten keinen Unterschied in ihrer Versorgung mit Mineralstofen und Spurenelementen. Möglicherweise kompensieren andere Mechanismen und Faktoren wie der höhere Mineralstofund Vitamingehalt (vgl. Eisenresorption durch Vitamin C) ballaststofreicher Nahrung die verminderte Resorption.
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
Wirkungen im Dickdarm. Im Dickdarm beeinlussen Bal-
laststofe das Stuhlgewicht, die Stuhlbeschafenheit und den mikrobiellen Stofwechsel. Die Efekte der verschiedenen Ballaststofe sind jeweils von ihrem Wasserbindungsvermögen, ihrer Wasserlöslichkeit und Fermentierbarkeit abhängig.
! Kernaussage
Ballaststoffe wie Weizenkleie erhöhen das Stuhlgewicht und verkürzen die intestinale Transitzeit.
Allgemein bewirkt eine ballaststofreiche Ernährung eine Verkürzung der Transitzeit. Diese Zeit zwischen Nahrungsaufnahme und Ausscheidung der unverdaulichen Bestandteile mit dem Stuhl beträgt bei westlicher Ernährung 1–4 Tage und ist bei Vegetariern deutlich kürzer als bei Nichtvegetariern. Schwankungen beruhen primär auf Veränderungen der Passagezeit im Kolon. Sie ist umso kürzer, je höher das Stuhlgewicht ist, da eine erhöhte Darmfüllung die Darmperistaltik anregt. Indem Ballaststofe beträchtliche Mengen an Wasser binden, erhöhen sie das Stuhlgewicht und machen den Stuhl weicher, was die Defäkation erleichtert. Dieser Volumenefekt kommt insbesondere bei faserigen, aber auch bei schlecht fermentierbaren Ballaststofen zum Tragen. So erklärt sich, dass Weizenkleie das Stuhlgewicht am stärksten erhöht (1 g erhöht das Stuhlgewicht um etwa 2,7 g) und der Efekt in der Reihenfolge Vollkornprodukte > Gemüse > Obst > Guar abnimmt. Ein weiterer positiver Efekt der Volumenzunahme des Stuhls ist die Senkung des intraluminalen Drucks und infolgedessen ein geringeres Risiko für die Entstehung einer Divertikulose (Darmausstülpung). Denn nach dem La-PlaceGesetz bewirkt die volumenbedingte Zunahme des Durchmessers des Darmlumens bei gleichbleibender Wandspannung eine Erniedrigung des Drucks auf die Darmwand. Schließlich wird die Konzentration toxischer und kanzerogener Stofe, die z. T. beim mikrobiellen Abbau entstehen, durch den höheren Wassergehalt des Stuhls verdünnt und ihre Kontaktzeit mit der Kolonmukosa durch die beschleunigte Passage verkürzt.
! Kernaussage
Die Fermentation von Ballaststoffen durch Bakterien des Dickdarms hat vielfältige günstige Wirkungen auf den menschlichen Organismus.
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Während einige Ballaststofe (z. B. Xanthan, KarayaGummi, Johannisbrotkernmehl, Carrageenane, Cellulosederivate, Lignin) überwiegend unverändert mit den Fäzes ausgeschieden werden und so ihren Quellefekt im Dickdarmbereich voll entfalten können, werden andere wie Pentosane und Pektine in unterschiedlichem Ausmaß von der physiologischen Dickdarmlora zu kurzkettigen Fettsäuren (v. a. Acetat, Propionat und Butyrat) und Gasen ( > Infobox „Darmlora, Präbiotika und Probiotika“) abgebaut. Besonders initial bis zur Adaptation kann eine erhöhte Zufuhr an fermentierbaren Ballaststofen infolge der Gasentwicklung zu Flatulenz und Meteorismus führen. Abgesehen von dieser belanglosen, aber die Compliance durchaus negativ beeinlussenden Begleiterscheinung, hat die Fermentation vielfältige positive Efekte auf das Kolonmilieu und die Funktionalität der Kolonmukosa: Die fermentierbaren Ballaststofe sorgen für die Vermehrung physiologischer Darmbakterien, denn die anaeroben Darmbakterien nutzen etwa 30% der aus dem Ballaststofabbau zu gewinnenden Energie für ihren eigenen Stofwechsel. Durch die gesteigerte Bakterienproliferation und -ausscheidung mit dem Stuhl wird auch die fäkale Stickstofausscheidung gesteigert. Als Stickstofquelle nutzen die Bakterien den beim Harnstofabbau im Kolon anfallenden Ammoniak. Dadurch wird der Übergang dieses Zellgites ins Blut reduziert und die Leber hinsichtlich ihrer Entgitungsfunktion durch Harnstofsynthese entlastet (vgl. Anwendung von Lactulose bei hepatischer Enzephalopathie). Unterstützend wirkt sich hierbei der durch die Fettsäuren abgesenkte pH-Wert aus, bei dem der Ammoniak in Form des schlecht difundierbaren Ammoniumions vorliegt. Ferner wird durch das schwach saure Milieu das Wachstum Protein abbauender und damit Ammoniak bildender und anderer unerwünschter Mikroorganismen weitgehend unterdrückt (vgl. Anwendung von Pektin bei unspeziischer Diarrhoe) und zugleich die Bildung sekundärer, z. T. zytotoxisch und kokarzinogener Gallensäuren vermindert. Die gebildeten kurzkettigen Fettsäuren werden zusammen mit Natriumionen und Wasser absorbiert. Acetat und Propionat werden über die Pfortader zur Leber transportiert und dort metabolisiert. Auf diese Weise liefern Ballaststofe doch einen gewissen Beitrag zur Energieversorgung (ca. 2 kcal/g im Vergleich zu Glucose mit 4 kcal/g). Propionat hemmt darüber hinaus die endogene Cholesterolsynthese in der Leber und trägt auf diese Weise zum choles-
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terolsenkenden Efekt der Ballaststofe bei. Butyrat hingegen dient der Kolonschleimhaut als Energiequelle (bis zu 70% des Energiebedarfs) und unterstützt so die Zellproliferation und Integrität der Schleimhaut. Butyratmangel kann die Natrium- und Wasserresorption reduzieren. Außerdem wird ein mangelndes Angebot an Butyrat mit einem Verlust der Barrierefunktion der Schleimhaut (z. B. gegen Pathogene) und einem gesteigerten Risiko der Karzinogenese (veränderte Zellproliferation) assoziiert. Bivalent ist der Efekt fermentierbarer Ballaststofe auf die Stuhlregulation zu beurteilen. Durch die Fermentation wird zweifelsohne der Volumenefekt wasserbindender Ballaststofe beeinträchtigt, andererseits werden ein Bei-
trag der stärker proliferierenden Bakterien zur Stuhlmasse sowie die Anregung der Peristaltik durch den niedrigeren pH-Wert diskutiert. Während die Resorption der kurzkettigen Fettsäuren zusammen mit Natriumionen und Wasser antidiarrhoisch wirkt und auch in Form von z. B. Pektin entsprechend genutzt wird, wirken Lactulose und Zuckeralkohole bekanntlich laxierend. Dieser anscheinende Widerspruch ist wahrscheinlich eine Frage der Konzentration. Ab einer bestimmten Konzentration wird die Kapazität der Resorption kurzkettiger Fettsäuren überschritten, sodass ihr osmotischer Efekt neben dem der nicht abgebauten Lactulose- und Zuckeralkoholmoleküle zum Tragen kommt.
Infobox Darmflora, Präbiotika und Probiotika. Der Magen-DarmTrakt ist von einer enormen Zahl von Mikroorganismen besiedelt – sie übersteigt die Zellzahl des eigenen Körpers um das Zehnfache – und mit etwa 1010–1012 Keimen/g Stuhl bestehen etwa 30–50% der Gesamtstuhltrockenmasse aus Darmbakterien. Die Gesamtheit dieser physiologisch v. a. im Kolon und Rektum vorkommenden Mikroorganismen bezeichnet man als Darmflora. Sie erhalten die Integrität des Individuums, stabilisieren das mikroökologische Gleichgewicht des intestinalen Stoffwechsels und sind für die Verdauung, Resorption und Ausscheidung von Nahrungsbestandteilen unverzichtbar. Über 99% der mehr als 400 intestinalen Bakterienspezies sind anaerobe Stämme. Wichtige Vertreter sind Bacteroides vulgatus, Bifidobacterium longum und Coprococcus eutactus. Escherichia coli und Enterococcen-Arten repräsentieren nur etwa 1% der Population. Im Gegensatz zur physiologischen Artenvielfalt beim Erwachsenen findet man beim mit Muttermilch ernährten Säugling hauptsächlich B. infantis neben B. bifidum (syn. Lactobacillus bifidus). Die Darmbakterien ernähren sich von bestimmten (v. a. löslichen) Ballaststoffen. Allerdings werden die einzelnen Ballaststoffe nicht von allen Bakterienarten als Substrat
Reale und optimale Ballaststoffzufuhr. Die Ballaststofzufuhr ist in den westlichen Industrienationen in den letzten 100 Jahren kontinuierlich von 40–60 g/Tag auf schätzungsweise etwa 20 g/Tag gesunken. Die Schwankungsbreite ist allerdings beträchtlich, denn laut einer Studie lag sie bei 17% der Untersuchten 40 g/Tag verzehren; außerdem
akzeptiert. So werden Pektine nur von Bacteriaceae, nicht jedoch von Bifidusbakterien abgebaut, während Oligofructose für beide Gruppen gute Substrate darstellt (Endreß 2002). Durch Exoenzyme werden die Ballaststoffe hauptsächlich zu kurzkettigen Fettsäuren (v. a. Acetat, Propionat, n-Butyrat) abgebaut, die zu 95–99% von der Kolonschleimhaut absorbiert werden. Insbesondere im proximalen Kolon, wo die Substratkonzentration am höchsten ist, entsteht ein leicht saures Milieu (pH-Wert 5,5–6,5). Weitere Endprodukte der Fermentation sind die Gase CO2, H2 und CH3 (400–1200 ml/Tag), die größtenteils absorbiert werden.
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Als Präbiotika werden Ballaststoffe bezeichnet, die die Vermehrung und/oder Stoffwechselaktivität der Darmbakterien fördern und die Zusammensetzung der Darmflora verbessern (z. B. Inulin, Oligofructose). Probiotika sind Lebensmittel oder Arzneimittel, die lebende Mikroorganismen (z. B. Lactobacillus bifidus) enthalten. Man geht davon aus, dass sie einen positiven Einfluss auf den Wirtsorganismus ausüben, indem sie die Balance seines intestinalen mikroökologischen Systems verbessern.
korreliert die Ballaststofaufnahme positiv mit der Energiezufuhr (Kasper 2004). Für den Rückgang der Ballaststofzufuhr sind im Wesentlichen zwei Faktoren verantwortlich: Zum einen ist der Anteil an stärke- und ballaststofreicher Nahrung zugunsten eines steigenden Verzehrs an Zucker, Fett, Fleisch, Milchprodukten und Eiern gesunken, zum anderen wer-
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
den bevorzugt hoch verarbeitete und damit ballaststofarme bzw. -freie Nahrungsmittel konsumiert (Weißmehlerzeugnisse, Zucker). Die Energie unserer Nahrung stammt durchschnittlich zu 40% aus Fett, 30% aus Stärke und 18% aus Zucker. Demgegenüber deckt man den Energiebedarf in den Entwicklungsländern zu 70% in Form von Stärke und zu 15% bzw. 5% in Form von Fett und Zucker. Etwa 58% der Energie unserer Nahrung stammen aus ballaststoffreien Lebensmitteln, während dieser Anteil in den Entwicklungsländern nur 8% beträgt.
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Aufgrund der gesundheitsfördenden Efekte empiehlt die Deutsche Gesellschat für Ernährung (DGE) als Richtwert für die Ballaststofzufuhr bei Erwachsenen mindestens 30 g/Tag bzw. 12,5 g/1000 kcal bei der Frau und 10 g/1000 kcal beim Mann. Laut dem Ernährungsbericht von 1996 wird diese Empfehlung bei Männern um durchschnittlich 30% und bei Frauen sogar um 40% unterschritten.
Infobox Weizenkleie – der Klassiker unter den Ballaststoffen. Beim Weizenkorn sind die Frucht- und Samenschale miteinander verwachsen und umschließen das Endosperm und den Keimling. Das stärkereiche Endosperm wird als Mehlkörper bezeichnet und macht etwa 83% des Weizenkorns aus. Der Kleieanteil eines Weizenkorns liegt bei etwa 17%. Er besteht aus der Fruchtschale, der Samenschale und der eiweißreichen Aleuronschicht. Die nach dem Mahlprozess anfallende Kleie enthält noch geringe Anteile des Mehlkörpers. Kleie besteht zu ca. 63% aus Kohlenhydraten, die sich wie folgt zusammensetzen: 27% Pentosane und Hemicellulosen, 22% Cellulose, 9% Stärke, 5% Mono- und Oligosaccharide. Daneben kommen Eiweiß, Fett, Mineralstoffe, B-Vitamine und Tocopherole vor. Für den medizinischen Einsatz der Kleie sind in erster Linie die unlöslichen und löslichen von Interesse. Die löslichen Pentosane bilden unter Wasseraufnahme hochviskose Lösungen, die unlöslichen Pentosane quellen in Wasser. Weizenpentosane sind aus Xylose, Arabinose und Glucose aufgebaut. Auch die Glykoproteinfraktion der Weizenkleie enthält Pentosane, nämlich verzweigte Arabinoxylane, die mit Peptidkomponenten verknüpft sind.
Anwendung: Weizenkleie wird als Diätetikum („dietary supplement“) verwendet, um eine ballaststoffarme Kost zu ergänzen. Nach Einnahme wird die Verweildauer der Nahrung im Magen verlängert und das Hungergefühl reduziert. Durch die ausgeprägte Quellfähigkeit wird das Volumen des Darminhalts vergrößert, die Peristaltik verstärkt und die Darmpassage beschleunigt. Zusätzlich wirken die fermentierbaren Pentosane „verdauensregulierend“. Weizenkleie erleichtert die Darmentleerung, was z. B. bei Hämorrhoidalbeschwerden nützlich ist. Weizenkleie scheint im Unterschied zu Haferkleie keinen Effekt auf den Cholesterinspiegel zu haben. Die Dosierung sollte zwischen 15 und 40 g/Tag liegen und erfordert die Zufuhr großer Flüssigkeitsmengen. Weizenkleie ist nicht kalorienfrei: 100 g Weizenkleie haben einen kalorischen Nutzwert von ca. 153 kcal = 641 kJ, der zum Teil auf die verdaulichen Anteile, zum Teil aber auch auf die Fermentationsprodukte zurückzuführen ist. Als unerwünschte Wirkung können insbesondere zu Beginn der Anwendung Meteorismus und krampfartige Schmerzen im Unterbauch auftreten. In der Regel verschwinden diese Nebenwirkungen nach wenigen Tagen.
! Kernaussagen x
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Cellulose, ein v. a. in der pflanzlichen Zellwand vorkommendes Strukturpolysaccharid, ist ein lineares (1o4)-E-D-Glucan mit einem DP bis 15.000. Die charakteristische Disaccharid-Wiederholungseinheit ist die Cellobiose. Zahlreiche parallel liegende Glucanbänder („ribbon type“) bilden Elementarfibrillen, von denen wiederum mehrere durch parallele Anordnung zu Mikrofibrillen und schließlich Makrofibrillen vereinigt sind. Die Glucanbänder werden
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durch intramolekulare, die übergeordneten Strukturen durch intermolekulare Wasserstoffbrücken stabilisiert. Es bilden sich kristalline Strukturen, die mit amorphen Bereichen abwechseln. Baumwolle besteht aus den röhrenförmigen Samenhaaren verschiedener kultivierter Gossypium-Arten. Baumwolle hat einen Cellulosegehalt von über 90% und kann bis zum 24fachen des Eigengewichts an wässrigen Flüssigkeiten aufnehmen. Sie dient daher zur Herstellung saugfähiger Verbandsmaterialien.
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Leinenfäden sind versponnene Sklerenchymfaserbündel aus dem Stängel von Linum usitatissimum. Sie können als nicht resorbierbares Nahtmaterial in der Chirurgie verwendet werden. Zellstoff ist der faserige Celluloseanteil von Holz. Er wird gewonnen, indem Nadel- oder Laubholz zur Abtrennung von Hemicellulosen, Lignin und anderen Begleitstoffen verschiedenen chemischen Extraktions- und Bleichverfahren unterworfen wird. Zellstoff wird u. a. zur Herstellung von Verbandsmaterialien verwendet. Cellulose ist in allen gängigen Lösungsmitteln unlöslich, kann jedoch in Cuoxam (ammoniakalische Lösung von Kupferhydroxid, [Cu(NH3)4](OH)2) gelöst und als Regeneratcellulose (Kupferseide, Zellglas) ausgefällt werden (Cuoxamverfahren). Auf diese Weise werden Cellulosehohlfasern für die Hämodialyse hergestellt. Das bedeutendere Verfahren zur Gewinnung von Regeneratcellulose (Viskoseseide, Zellwolle) ist das Viskoseverfahren. Hierbei wird Zellstoff als Cellulosexanthogenat in Natronlauge (Viskose i. e. S.) gelöst und dann in Form von Spinnfasern ausgefällt. Viskose, d. h. eigentlich Zellwolle (!), häufig gemischt mit Baumwolle, wird zur Herstellung von Verbandstoffen verwendet. Mikrokristalline Cellulose erhält man durch säurehydrolytischen Abbau amorpher Bereiche der Cellulose (Zellstoff ). Sie besitzt einen hohen Kristallinitätsgrad und einen DP von 200–300. Mikrokristalline Cellulose ist ein Hilfsstoff in der pharmazeutischen Technologie. Celluloseether und -ester sind häufig verwendete Hilfsstoffe in der pharmazeutischen Technologie. Die Art der Substituenten, der Substitutionsgrad, die Molekülgröße, die eingesetzte Konzentration sowie die Verwendung von Zusatzstoffen bestimmen ihre physikalischen und chemischen Eigenschaften wie z. B. die Löslichkeit und damit den Verwendungszweck. Pharmazeutisch relevante Celluloseether sind Carmellose (Carboxymethylcellulose), Ethylcellulose, Hydroxyethylcellulose, Hydroxypropylcellulose, Methylcellulose, Methylhydroxyethylcellulose, Hypromellose (Hydroxypropylmethylcellulose) und Hypromellosephthalat.
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Pharmazeutisch relevante Celluloseester sind Celluloseacetat, Celluloseacetatbutyrat, Celluloseacetatphthalat und Collodiumwolle (Cellulosenitrat). Stärke ist das in Form von Stärkegranula vorliegende wichtigste pflanzliche Reservepolysaccharid. Sie besteht i. d. R. aus 15–30% Amylose und 70–85% Amylopektin. Amylose ist ein lineares (1o4)-D-D-Glucan (DP 250–5000). Amylopektin (DP 10.000–100.000) ist ein verzweigtes D-D-Glucan mit einer Vielzahl relativ kurzer linearer (1o4)-D-D-Glucanseitenketten, die durch D-(1o6)-glykosidische Bindungen miteinander verknüpft sind. Die charakteristische DisaccharidWiederholungseinheit der Amylose ist die Maltose, Amylopektin enthält zusätzlich ca. 5% Isomaltose. Der enzymatische Abbau von Stärke erfolgt durch verschiedene D-(1o4)-Bindungen spaltende Amylasen. Die D-(1o6)-Bindungen im Amylopektin werden in Pflanzen durch das R-Enzym (Isomaltase), im Dünndarm durch D-(1o6)-Glucosidasen gespalten. Im Gegensatz zu D- und E-Amylasen spalten J-Amylasen (Glucoamylasen) sowohl D-(1o4)- als auch D-(1o6)Bindungen. Während reines Amylopektin in kaltem Wasser löslich ist, löst sich Amylose erst beim Erhitzen. Stärkekörner lösen sich jedoch erst durch Erhitzen oberhalb der Verkleisterungstemperatur, bei der die kristallinen Strukturen zerstört werden (Verkleisterung). Beim Erkalten bildet sich infolge Gelbildung der sog. Kleister, der zur Retrogradation, d. h. Trübung durch Rekristallisation, neigt. Stärke lässt sich mit der Iod/Stärke-Reaktion nachweisen, bei der die Helices der Amylose tiefblaue Einschlussverbindungen mit Iod bilden. Das wenig reaktive Amylopektin ergibt nur eine schwache, weinrote Färbung. Die PhEur 5 enthält Monographien zur Kartoffelstärke und den drei Poaceenstärken Reis-, Mais- und Weizenstärke, die sich anhand der Gestalt ihrer Stärkegranula mikroskopisch unterscheiden lassen. Stärken, v. a. Maisstärke, sind wichtige Hilfsstoffe bei der Tablettierung. Daneben dient Stärke in Form der Amlyum non mucilaginosum (ANM) und des „absorbable dusting powder“ als Pudergrundlage. Ein Großteil der Stärken wird als Ausgangsstoff für die
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
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Herstellung besonders präparierter Stärken (z. B. vorverkleisterte Stärke, Amylum pregelificatum, PhEur 5), Stärkehydrolysaten und Stärkederivaten verwendet. Stärkehydrolysate erhält man durch partiellen hydrolytischen Abbau. Zu unterscheiden sind lösliche Stärke, Dextrin, Maltodextrin und Glucosesirup. Dextrin wird auch mittels thermischer oder enzymatischer Degradation hergestellt. Primär werden Stärkehydrolysate als Hilfsstoffe in der Galenik genutzt. Cyclodextrine und ihre Derivate sind biotechnisch aus Stärke hergestellte ringförmige Oligosaccharide, die wegen ihrer Fähigkeit, mit organischen Molekülen Einschlussverbindungen zu bilden, vielfältige Anwendungsmöglichkeiten bieten. Pharmazeutisch relevante Stärkederivate sind Carboxymethylstärke (CMS) und Hydroyethylstärke (HES). Die verschiedenen CMS werden als Tablettenfüll- und -sprengmittel und Suspendierhilfe verwendet, HES-Präparationen sind die heute am häufigsten eingesetzten Plasmaersatzmittel. Fructane sind relativ kleine, wasserlösliche Polysaccharide (DP < 200) und stellen für einige Pflanzenfamilien (z. B. Asteraceen, Poaceen) die Alternative zu Stärke dar. Sie sind ganz oder überwiegend aus E-D-Fructofuranoseeinheiten, die E-(2o1)- (Inulintyp) und/oder E-(2o)-verknüpft (Levantyp) sind. Inulin und daraus hergestellte Oligofructose sind lösliche Ballaststoffe, die als Präbiotika und Kohlenhydrate zur insulinunabhängigen Ernährung verwendet werden. Außerdem dient Inulin als Diagnostikum bei der Nierenfunktionsprüfung. Pektine sind eine heterogene Klasse von Strukturpolysacchariden, die die gelartige Matrix in pflanzlichen Zellwänden bilden. Als charakteristisches Strukturelement enthalten sie Blöcke aus (1o4)-D-D-Polygalacturonsäure (Pektinsäure, Homogalacturonan), deren Carboxylgruppen zu 20–80% methyliert sind (Pektin). Daneben können in der Hauptkette auch D-(1,2)-verknüpfte L-Rhamnosereste vorkommen (Rhamnogalacturonan). In den Zellwänden liegen diese Polyuronide als weitgehend wasserunlösliches Protopektin vor, das zusätzlich unterschiedlich aufgebaute Seitenketten enthält und kovalent mit anderen Zellwandpolysacchariden verknüpft ist.
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Pektin (Sammelbezeichnung für sehr unterschiedliche kommerzielle Produkte) wird hauptsächlich aus Zitronen- und Orangenschalen, Apfeltrester und Zuckerrüben isoliert. Man differenziert zwischen hoch (>50% der Uronsäuren methyliert) und niedrig ( Tabelle 19.9) ( > Infobox „Deinitionen“ in Kap. 19.1.2). Traditionell unterscheidet man hierbei zwischen den Planzengummen (syn. Gummenpolysacchariden) und den Planzenschleimen (syn. Schleimpolysacchariden, Schleimstofen) ( > Kap. 19.4), die sich jedoch weder hinsichtlich ihres chemischen Aubaus noch ihrer physikochemischen Eigenschaten klar voneinander abgrenzen lassen. Die Diferenzierung gründet sich vielmehr auf unterschiedliche physiologische Bildungsmechanismen. Während die Schleimpolysaccharide als Zellwandbestandteile
oder Vakuoleninhaltsstofe organgebunden vorliegen und erst durch wässrige Extraktion aus den sog. Schleimdrogen gewonnen werden, stellen die Gummen Exsudate von Holzplanzen dar, die i. d. R. nach einer mechanischen Verletzung aus Planzen austreten und an der Lut zu einer festen, glasigen Masse erstarren. Sie entstehen durch sukzessive Umbildung der Zellwandschichten (Protopektin, Cellulose) in Schleimstofe, wobei schließlich auch der Zellinhalt zu einem Bestandteil der Gummimasse wird. Dieser Gummosis genannte Prozess wird durch ungünstige Standortbedingungen, Wassermangel, Insektenfraß oder mechanische Verletzung ausgelöst und ist als eine Variante der planzlichen Wundheilung anzusehen.
! Kernaussage
Gummen bilden keine geordneten Gelstrukturen.
19.3 Pflanzliche Gummen
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. Tabelle 19.9 Charakteristika zur Unterscheidung verschiedener Pflanzengummen Arabisches Gummi
Tragant
Karaya-Gummi
Stammpflanze
Acacia sp.
Astragalus sp.
Sterculia sp.
Polysaccharide
uronsaure, hochverzweigte Arabinogalactane, AGP a
wasserlösliches Tragacanthin: verzweigtes Polygalacturonan, AGPa wasserunlösliches Bassorin: AGPa, Glucan
verzweigtes, acetyliertes Rhamnogalacturononan
Monosaccharide
Ara, Gal, GlcA, Rha
GalA, Xyl, Fuc, Gal, Ara, Glc
GalA, Rha, GlcA, Gal
Sonstige Bestandteile
10–15% Protein (AGP a, Oxidasen, Peroxidasen)
10–15% Wasser, 0,5–3% Protein (AGPa) 1–3% Stärke
14–17% Essigsäure, 2% Gerbstoffe, 8% Mineralstoffe
Wasserlöslichkeit
sehr gut (bis 50%), langsam
mittel
sehr schlecht
Rheologische Eigenschaften
niedrigviskose Lösungen, max. Viskosität bei 40–50%
hochviskose Lösungen (ca. 1%); höhere Konz.: klebrige, gelartige Masse durch Quellung
klebrige, gelartige Masse durch Quellung; quellfähig in Ethanol
Gefahr mikrobieller Kontamination
mittel
hoch
relativ niedrig
a
Arabinogalactan-Protein.
Gummen ergeben mit Wasser mehr oder weniger viskose, häuig klebrige Lösungen bzw. quellen auf, ohne jedoch geordnete Gelstrukturen auszubilden. Hinweis. Nach der aktuellen Deinition der europäischen Zulassungsbehörde gehören die Gummen zu den „herbal drugs“, während es sich bei aus Schleimdrogen isolierten Schleimstofen um „herbal drug preparations“ handelt, was im Rahmen der Zulassung durchaus von praktischer Relevanz ist.
19.3.1
Arabisches Gummi
die im Sudan und im Einzugsgebiet des Oberen Niles wild vorkommen. Obwohl laut Deinition der PhEur „andere afrikanische Acacia-Arten“ als Acacia senegal Willd. bereits in der Vergangenheit für die Gewinnung von Arabischem Gummi zugelassen waren, waren nur wenige Vertreter nutzbar. Denn im Gegensatz zu der laut Identitätsprüfung vorgeschriebenen Linksdrehung, sind die Lösungen vieler Acacia-Gummen rechtsdrehend. Da diese Forderung jedoch für die relevanten physikochemischen Eigenschaten ohne Belang ist und ohne Grund den Markt einschränkt, wurde diese Prüfung in der PhEur 4.06 ersatzlos gestrichen. Im Handel inden sich daher heute neben dem Gummi aus Acacia senegal (Willd.) auch die Produkte anderer afrikanischer Acacia-Arten.
Definition. Arabisches Gummi, Acaciae gummi, PhEur 5
(syn. Gummi arabicum, Acacia-Gummi, Mimosengummi), ist eine an der Lut erhärtete, gummiartige Ausscheidung, die auf natürliche Weise oder nach Einschneiden des Stamms und der Zweige von Acacia senegal Willd. (Fabaceae), anderer afrikanischer Acacia-Arten oder Acacia seyal Del. austritt. Stammpflanzen. Acacia sp. (Fabaceae [IIB9a], früher Mi-
mosaceae) sind bis 6 m hoch werdende dornige Sträucher,
Gewinnung. Arabisches Gummi ist ein Wundexsudat und wird nur von Bäumen, die sich in physiologischen Stresssituationen beinden, gebildet. Die Verletzung kann auf natürliche Art (z. B. durch bohrende Insekten und weidende Tiere) entstehen oder durch den Menschen erfolgen. Zu diesem Zweck wird die Rinde vorsichtig angeschnitten und in ca. 4 cm breiten und ca. 60 cm langen Streifen abgerissen. So wird die Gummosis induziert, und bei heißem Wetter beginnt sofort die Exsudation. Das lüs-
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
sige Exsudat trocknet an der Lut zu glasigen Stücken ein. Diese werden wöchentlich gesammelt, an der Sonne nachgetrocknet und nach Farbe und Größe sortiert. Die Ernte erfolgt an etwa 3–12 Jahre alten Bäumen, beginnt nach der Regenzeit im November, wenn die Blätter abzufallen beginnen, und endet im Juni.
gebunden, die neben d-Galactose l-Arabinofuranose und seltener l-Arabinopyranose (30–40%), l-Rhamnose (10– 15%) und v. a. im terminalen Bereich d-Glucuronsäure (10–18%) und 4-O-Methyl-d-Glucuronsäure (1%) enthalten. Arabinogalactan-Proteine. Ein Teil (ca. 10%) der Arabi-
Handelstypen. Arabisches Gummi wurde ursprünglich
nach Herkunt gehandelt (Bezeichnung!). Infolge der unterschiedlichen lokalen Geplogenheiten bei der Aufarbeitung und Auslese gibt es eine ganze Reihe von äußerlich verschiedenen Handelstypen, die allerdings physikalisch und chemisch meist große Übereinstimmungen aufweisen. Als beste Qualität werden tränenförmige, fast durchsichtige Stücke („Tränen“) mit nur geringer Abweichung der Farbe von weiß zu leicht gelb bis strohfarben gehandelt, die v. a. aus dem Zentralgebiet des Sudan (Westafrika) stammen. Durch die rasche Sonnentrocknung wird die Oberläche des Produktes schneller fest als das Innere. Dies führt zu Rissen auf der Oberläche, die ein mehr oder weniger opakes Aussehen der Ware hervorrufen. Weitere Sammelgebiete sind außer dem Sudan Nubien, Äthiopien, Somalia, Senegal, Gambia, die Elfenbeinküste und Nordnigeria. Die weniger geschätzten Handelsqualitäten des nordostafrikanischen Gummis sind gelb bis rot gefärbt. Die minderwertigsten Typen enthalten größere Mengen an Verunreinigungen wie Schmutz, Rinde, Sand im Gummi.
nogalactane liegt als Arabinogalactan-Proteine mit einer Mr im Bereich von 1,4u106 vor. Der Proteinanteil in diesen Komplexen beträgt etwa 20% und ist über Hydroxyprolin und Serin mit den Polysaccharidmolekülen verknüpt. Proteine. Als Proteine kommen ferner Enzyme wie Oxi-
dasen und Peroxidasen sowie Amylasen vor, die für verschiedene Anwendungsbereiche inaktiviert werden müssen. Dies erfolgt durch Umfällen mit Ethanol, Erhitzen der gelösten Droge oder durch Sprühtrocknung.
liches Produkt. Die Droge besteht zu 80–90% aus einem Gemisch chemisch unterschiedlicher Polysaccharide und zu 10–15% aus Proteinen. Der Hauptanteil sind hoch verzweigte, uronsaure Arabinogalactane, von denen etwa 10% als Arabinogalactan-Proteine vorliegen.
Löslichkeit und Viskosität. Arabisches Gummi von Acacia senegal ergibt linksdrehende Lösungen, während die Lösungen der Gummen anderer Acacia-Arten häuig rechtsdrehend sind ( >Stammplanzen). In kaltem Wasser löst sich Arabisches Gummi zwar langsam (ca. 2 h), aber sehr gut, sodass bis zu 50%ige Lösungen hergestellt werden können ( > Tabelle 19.9). Bei guten Qualitäten bleibt auch bei hohen Konzentrationen nur ein geringer Rückstand an unlöslichen planzlichen Partikeln zurück. Laut PhEur 5 sind 33%ige Lösungen farblos bis schwach gelblich, zählüssig, durchscheinend und klebrig und reagieren schwach sauer. Eine Besonderheit des Arabischen Gummis ist die Konzentrationsabhängigkeit der Viskosität seiner Lösungen. Erst bei Konzentrationen zwischen 40 und 50% werden maximale Viskositätswerte erreicht. Unterhalb dieser ungewöhnlich hohen Konzentration bildet Arabisches Gummi niedrig viskose, kolloidale Lösungen, die keine Neigung zur Gelbildung zeigen. Die geringe Viskosität wird auf die kompakte, geradezu kugelige Raumstruktur der hoch verzweigten Moleküle zurückgeführt.
Arabinogalactane. Der saure Charakter der Arabino-
Analytik. Das Arzneibuch lässt die wichtigsten Zucker-
galactane beruht auf ihrem Gehalt an d-Glucuronsäure (Arabinsäure). Sie liegen primär als Calcium-, z. T. auch als Magnesium- oder Kaliumsalze vor. Die Mr des Polymerkomplexes liegt im Bereich von 260.000 bis 1,2×106. Die Hauptkette der Arabinogalactane wird von E-(1o3)-verknüpten d-Galactosebausteinen (ca. 40–60%) gebildet. In Position 6 sind z. T. wiederum verzweigte Seitenketten
komponenten nach Hydrolyse mittels Dünnschichtchromatographie nachweisen. Im Chromatogramm der Probe müssen bei Arzneibuchqualitäten Galactose, Arabinose und Rhamnose identiizierbar sein. Beim Autreten von Glucose oder Xylose im Hydrolysat handelt es sich um Verfälschungen oder Verschnitt des Drogenmaterials z. B. mit Karaya-Gummi oder Tragant.
Struktur und Eigenschaften Zusammensetzung. Arabisches Gummi ist kein einheit-
19.3 Pflanzliche Gummen
Verwendung
! Kernaussage
Arabisches Gummi ist ein zur Verkapselung von Aromastoffen, zur Stabilisierung von Suspensionen und Emulsionen und als Emulgator häufig eingesetzter pharmazeutischer Hilfsstoff.
19
Wasser zu lösen, was für bestimmte Verwendungen von großem Nutzen ist. Außerdem werden durch diesen Herstellungsprozess vorhandene Oxidasen und andere Enzyme inaktiviert, was besonders für die Verwendung als Hilfsstof in arzneistohaltigen Zubereitungen von Bedeutung ist.
19.3.2
Tragant
Technologischer Hilfsstoff. Arabisches Gummi wird als
Dickungsmittel, Emulgator und Stabilisator genutzt. In pharmazeutischen und kosmetischen Präparaten dient es in erster Linie zur Stabilisierung von Suspensionen ( > Tabelle 19.2). Für die Herstellung von O/W-Emulsionen ist Gummi arabicum ein efektiver anionenaktiver Emulgator. 10- bis 20%ige Lösungen werden als Bindemittel für Granulierungen eingesetzt. In Lutschtabletten und Hustenbonbons verhindern Gummi-arabicum-Zusätze ein zu schnelles Aulösen beim Lutschen sowie das Auskristallisieren von Zuckern. Ein modernes Anwendungsgebiet ist die Mikroverkapselung, insbesondere von ätherischen Ölen. Hierzu werden die Öle in Gummi-arabicum-Lösung emulgiert und anschließend sprühgetrocknet. Derart mikroverkapselte Öle werden z. B. Instanttees zugesetzt. Auch in der Lebensmittelindustrie ist Arabisches Gummi (E 414) eines der häuig gebrauchten planzlichen Hydrokolloide zur Trubstabilisierung bei Fruchtsäten, zur Stabilisierung von pulverförmigen Aromastofemulsionen, zur Verkapselung von Aromastofen, in Geleezuckerwaren u. a. m.
Definition. Tragant, Tragacantha PhEur 5 (syn. Gummi
Tragacantum; Tragacanthae gummi, Astragalus-Gummi), ist die an der Lut erhärtete, gummiartige Ausscheidung, die natürlich oder nach Einschneiden aus Stamm und Ästen von Astragalus gummifer Labill. (Fabaceae [IIB9a]) und von bestimmten anderen westasiatischen Arten der Gattung Astragalus ausließt. Stammpflanzen. A. gummifer ist ein in den Bergregio-
nen von Anatolien, Kurdistan und Armenien heimischer Strauch, der allerdings entgegen der Arzneibuchdeinition weder hinsichtlich seiner Qualität noch mengenmäßig ein wichtiger Tragantlieferant ist. Als relevante Stammplanzen für die Tragantgewinnung werden neben A. gummifer A. brachycentrus Fisch., A. echidnaeformis Sirj., A. elymaticus Boiss. et Haussk., A. gossypinus Fisch., A. kurdicus Boiss; und A. microcephalus Willd. genannt. AstragulusArten sind bis 0,2–1 m hohe Sträucher mit Fiederblättern, die zu Beginn der Trockenzeit abgeworfen werden, während die Blattspindeln zu Dornen verdorren. Gewinnung. Im Gegensatz zu Acacia-Arten ist die Gum-
Medizin. Der Einsatz von Tragant als Mucilaginosum bei
Durchfällen und Katarrhen ist als obsolet anzusehen.
Anhang: Sprühgetrocknetes Arabisches Gummi
! Kernaussage
Sprühgetrocknetes Arabisches Gummi ist frei von aktiven Enyzmen und löst sich schneller.
Sprühgetrocknetes Arabisches Gummi, Acaciae gummi dispersione desiccatum, PhEur 5, wird durch Sprühtrocknung einer Lösung von Arabischem Gummi erhalten. Gegenüber dem nicht behandelten Grundstof hat das resultierende weißliche Pulver den Vorteil, sich rasch in
mosis bei Astragalus ein physiologischer Vorgang, der auch ohne mechanischen Einluss stattindet. Die Zellen des Marks und der Markstrahlen werden spontan zu Schleimzellen umgebildet, wobei Zellwandpolysaccharide und Stärke in die stark quellenden Gummenpolysaccharide umgewandelt werden. Der am Ende von Regenperioden unter hohem Turgordruck stehende markständige Schleim wird bereits bei geringfügigen Verletzungen nach außen gepresst, erstarrt an der Lut und kann als sog. Körnertragant gewonnen werden. Allerdings spielt diese Art der Tragantgewinnung in der Praxis keine große Rolle. Vielmehr werden die Rinden der oberirdischen Stammund Stängelteile, aber auch der stammnahen Wurzeln aktiv durch Längsschnitte verletzt; das austretende Produkt trocknet rasch an der Lut und wird nach 3–4 Tagen eingesammelt.
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19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Handelstypen. Der Handel unterscheidet zwischen dem
hochwertigen Bändertragant („ribbon grade“), den auch die PhEur fordert, und dem weniger hochwertigen Blättertragant („lake grade“). Meist liegt Tragant allerdings in gepulverter Form vor.
aufgebautes Arabinogalactan-Protein mit den Monosacchariden l-Arabinose, d-Galactose, d-Galacturonsäuremethylester und Spuren von l-Rhamnose sowie ein Glucan. Löslichkeit, Viskosität, Quellung. Tragant ergibt mit Was-
Struktur und Eigenschaften Zusammensetzung. Tragant besteht zu 80–90% aus
einem komplexen Gemisch verschiedener saurer und neutraler, z. T. proteinhaltiger (Proteoglykane) Polysaccharide mit variierenden Wasseranteilen (10–15%) und Stärke (1–3%) ( > Abb. 19.13). Man unterscheidet zwischen einer wasserlöslichen (Tragacanthin) und wasserunlöslichen (Bassorin) Fraktion. Der Proteinanteil beider Fraktionen liegt zwischen 0,5 und 3%. Die Zusammensetzung der Polysaccharide und auch des Proteinanteils ist von der jeweiligen Astragalus-Art abhängig und variabel. Je nach Erntezeitpunkt und Herkunt kann Tragant geringe Anteile von Peroxidasen enthalten, deren Konzentration mit wachsendem Stärkeanteil zunimmt. Wasserlösliche Fraktion. Der wasserlösliche Anteil (15–
40%) wird als Tragacanthin (Mr ca. 850.000) bezeichnet. Die pektinartige Grundstruktur der Hauptkomponente (Tragacanthsäure) besteht aus einer Polygalacturonsäurehauptkette mit Seitenketten aus neutralen d-Xylose-, l-Fucose- und d-Galactoseresten ( > Abb. 19.14). Eine weitere Komponente der wasserlöslichen Fraktion ist ein Arabinogalactan-Protein.
ser bereits bei niedrigen Konzentrationen (ca. 1%) hochviskose, hitze- und pH-stabile Lösungen ( > Tabelle 19.9). Im Unterschied zu Arabischem Gummi ist Tragant in Wasser jedoch weniger gut löslich, sodass er bei höheren Konzentrationen zu einer klebrigen, gelartigen Masse aufquillt. Wie Arabisches Gummi bildet aber auch Tragant keine Gelstrukturen aus. Die hoch verzweigten Polysaccharide liegen in Lösung als stark hydratisierte Einzelmoleküle vor. Analytik. Zur Überprüfung der Identität und Reinheit
verwendet das Arzneibuch in Analogie zu Arabischem Gummi den Nachweis der hydrolytisch freigesetzten Zucker mittels Dünnschichtchromatographie. Eine häuige Verfälschung des oizinellen Tragants ist das preiswertere Karaya-Gummi (syn. Sterculia-Gummi) ( > Kap. 19.3.3). Der wesentliche Unterschied zwischen Tragant und Sterculia-Gummi liegt darin, dass Letzteres auch in Ethanol/ Wasser-Mischungen mit relativ hohem Ethanolanteil (ca. 60%) quillt. Außerdem ist Sterculia-Gummi am Geruch zu erkennen, da es stets geringe Mengen freier Essigsäure enthält. Wichtig ist wie bei allen Gummen die Überprüfung auf mikrobielle Verunreinigungen (max. 104 aerobe Keime/g). Aufgrund des relativ hohen Wassergehalts stellt Tragant einen guten Nährboden für zahlreiche Mikroorganismen dar.
Wasserunlösliche Fraktion. Neben der wasserlöslichen
Fraktion gibt es eine wasserunlösliche, quellfähige Fraktion, die Bassorin genannt wird. Sie enthält ein ähnlich . Abb. 19.13
Arabisches Gummi
Tragacanthin
Bassorin
wasserlöslich
wasserunlöslich
Tragacanthsäure
Arabinogalactanprotein
Arabinogalactanprotein
Tragant. Zusammensetzung der komplexen Polysaccharidanteils von Tragant
Glucan
19.3 Pflanzliche Gummen
19
. Abb. 19.14
Tragacanthin aus Tragant. Strukturausschnitte der Polysaccharide der wasserlöslichen Tragantfraktion, dem Tragacanthin. (1) Das Grundgerüst der pektinartigen Tragacanthsäure besteht aus α-(1o4)-verknüpften D-GalacturonsäureResten, an die über (1o3)-Bindungen kurze Seitenketten gebunden sind, die jeweils mit einem β-D-Xylose-Rest beginnen. An einen Teil dieser Xylose-Reste sind in Position 2 α-L-Fucose oder β-D-Galactose-Reste gebunden. Nach Hydrolyse ergibt Tragacanthsäure etwa 43% α-D-Galacturonsäure, 40% β-D-Xylose, 10% α-L-Fucose und 4% β-D-Galactose. (2) Der Polysaccharidanteil des Arabinogalactan-Proteins besitzt eine Hauptkette aus β-D-Galactose-Resten. Diese sind überwiegend durch (1o6)-Bindungen und zu einem geringeren Teil durch (1o3)-Bindungen miteinander verknüpft. Die stark verzweigten Seitenketten bestehen v. a. aus L-Arabinofuranose-Resten, die über (1o2)-, (1o3)- und (1o5)-Bindungen miteinander und über (1o3)-Bindungen mit der Hauptkette verbunden sind. Nach Hydrolyse ergibt das Arabinogalactan 75% L-Arabinose, 12% β-D-Galactose, 3% α-D-Galacturonsäure sowie Spuren von L-Rhamnose
Verwendung
! Kernaussage
Tragant dient als Hilfsstoff in der pharmazeutischen Technologie, wird allerdings deutlich seltener als Arabisches Gummi eingesetzt
Technologischer Hilfsstoff. Tragant ist in erster Linie ein
technologischer Hilfsstof ( > Tabelle 19.2) und indet Verwendung als Bindemittel, z. B. bei der Herstellung von Tabletten und Dragees, als einhüllendes Mittel zur Geschmacksüberdeckung in Lutschtabletten, als Dickungsmittel zur Stabilisierung von Suspensionen und Emulsionen sowie als Bestandteil von Zahnpasten. In Pulver-
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19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
form wird Tragant als Hatmittel für Zahnprothesen eingesetzt. Ferner dient er als Grundlage von Gleitmitteln, z. B. für Katheter. Wegen der Gefahr mikrobieller Kontaminationen ist für diesen Anwendungsbereich jedoch eine Sterilisation erforderlich. Früher spielte Tragant (E 413) auch eine wichtige Rolle als Dickungsmittel und Stabilisator in der Lebensmittel-, Textil- und Reinigungsmittelindustrie, wird aber zunehmend durch Propylenglykolalginat oder Xanthan ersetzt. Gründe für den Rückgang der Nachfrage nach Tragant seit Beginn der achtziger Jahre sind zeitweise Lieferschwierigkeiten infolge regionaler Konlikte in den Erzeugerländern sowie Preissteigerungen und die Etablierung preiswerterer Alternativen. Medizin. In seltenen Fällen sind allergische Wirkungen
bei oraler Gabe und äußerlicher Anwendung beschrieben worden. Tragant ist kaum verdaulich und wird wie Karaya-Gummi, aber im Gegensatz zu Arabischem Gummi kaum im Dickdarm fermentiert ( > Kap. 19.2.11). Daher wirkt Tragant wie andere Quellstofe (z. B. Johannisbrotkernmehl) leicht laxierend (Tagesdosis ca. 10 g), wobei wahrscheinlich insbesondere das wasserunlösliche, stark quellende Bassorin für diese Wirkung als Füllungsperistaltikum verantwortlich ist. Um einen Ösophagusverschluss oder einen Obstruktionsileus zu vermeiden, ist auf ausreichende Flüssigkeitszufuhr zu achten. Tragantfertigpräparate sind allerdings derzeit nicht im Handel.
Struktur. Karaya-Gummi enthält 70–75% Polysaccha-
ride, 14–17% freie Essigsäure 2% Gerbstofe und 8% Mineralstofe. Die Polysaccharidbausteine d-Galacturonsäure (ca. 40%) und d-Glucuronsäure sowie l-Rhamnose (ca. 20%) und d-Galactose bilden ein verzweigtes, mit Pektin vergleichbares Rhamnogalacturononan, das u. a. die Besonderheit aufweist, dass viele OH-Gruppen acetyliert sind (Acetylgehalt ca. 8%; > Abb. 19.15). Die Seitenketten können untereinander kovalent verknüpt sein, sodass ein stark vernetztes Molekül entsteht. Karaya-Gummi enthält im Gegensatz zu Tragant keine Stärke. Eigenschaften. Aufgrund der starken Vernetzung sowie
dem hohen Acetylierungsgrad ist Karaya-Gummi im Vergleich zu den anderen Gummen nur schwer wasserlöslich und relativ resistent gegenüber enzymatischem Abbau und dem Angrif von Mikroorganismen. 10% Gummi in Wasser ergeben eine homogene, klebrige, gelatinöse Masse ( > Tabelle 19.9). Karaya-Gummi quillt schneller als Tragant. Das Quellvermögen im sauren und v. a. im alkalischen Milieu ist groß und wird durch Ethanolzusatz weniger als bei Tragant beeinträchtigt. Karaya-Gummi quillt noch in 55%igem Ethanol und lässt sich dadurch von Tragant unterscheiden. Außerdem ist die Droge leicht anhand ihres Geruches infolge des Gehaltes an freier Essigsäure zu identiizieren.
Verwendung
19.3.3
Karaya-Gummi
Definition. Karaya-Gummi (syn. Indischer Tragant, Ster-
culia-Gummi) ist ein Exsudat verschiedener SterculiaArten (Malvaceae [IIB16b], früher Sterculiaceae) wie St. urens Roxb., St. foetida L., St. villosa Roxb.. Herkunft und Gewinnung. Karaya-Gummi wird vorwie-
gend in Vorderindien gewonnen. Während der trockenen Jahreszeit wird die Stamm- (und Zweig-)rinde der Bäume durch einen lachen, handgroßen Schnitt entfernt. Es tritt ein dicklüssiger Schleim aus, der am Stamm zu Klumpen, Tränen oder wurmförmigen Stücken eintrocknet. Die gesammelte Droge wird nach der Farbe in weißes, rotes oder schwarzes Gummi sortiert.
! Kernaussage
Karaya-Gummi ist die preiswertere Alternative zu Tragant.
Technologischer Hilfsstoff. Ähnlich wie echter Tragant verfügt Karaya-Gummi über ein hohes Klebevermögen, das die Grundlage für die Anwendung als Hatmittel für Zahnprothesen darstellt und bei der Herstellung von Beuteln zur Kolostomie- und Ileostomieversorgung genutzt wird. Günstig ist hierbei, dass Karaya-Gummi ofenbar die Besiedlung mit Bakterien zu reduzieren vermag. Der Hauptanteil indet Verwendung in der Kosmetik, Lebensmittel- und Textilindustrie. So ist es beispielsweise Bestandteil von Gelen oder Lotionen zur Haarixierung. In der Lebensmitteltechnologie wird Karaya-Gum-
19.3 Pflanzliche Gummen
19
. Abb. 19.15
Karaya-Gummi. Charakteristika der Grundstruktur des Karaya-Gummis. Die Hauptkette des sauren Heteropolysaccharids besteht, vergleichbar der von Pektin, aus (1o4)-verknüpften α-D-Galacturonsäuren sowie einzelnen (1o2)-verknüpften α-L-Rhamnopyranosyleinheiten. Spezifisch ist, dass ( ) in der Hauptkette auch β-D-Galactopyranosyleinheiten zu finden sind, ( ) einige der α-D-Galacturonsäuren in Position 3 mit β-D-Glucuronsäuren verknüpft sind, ( ) ein Teil der OH-Gruppen acetyliert ist, und ( ) die Moleküle über ihre Seitenketten miteinander vernetzt sind
mi (E 416) aufgrund seines hohen Wasserbindungsvermögens zur Weichkäseherstellung, ferner als Bindemittel für Fleischprodukte, zur Stabilisierung von Proteinen, zur Schaumbildung bei der Schlagsahneherstellung und schließlich als Dickungsmittel für Suppen, Soßen, Mayonnaisen und Ketchup genutzt. Für viele Zwecke ist Karaya-Gummi allerdings weniger gut geeignet als der teurere Tragant, da durch Alterung die Viskosität abnimmt.
brotkernmehl quillt es daher im Darm stark auf und regt durch den Füllungsdruck die Darmperistaltik an. Andererseits wird es aufgrund der wasserbindenden Eigenschaten auch als Antidiarrhoikum eingesetzt. Außerdem gibt es einige Karaya-Gummi enthaltende Präparate, die zur Appetitminderung im Rahmen einer Gewichtsreduktion angeboten werden.
Anhang: Kutira-Gummi Medizin. Wie Tragant weist Karaya-Gummi ein gewisses
Allergisierungspotential auf. In der Medizin wird es als Füllungsperistaltikum bei Obstipation (Tagesdosis 4–8 g) verwendet: Karaya-Gummi ist weitgehend unverdaulich und wird auch bakteriell kaum abgebaut ( Kap. 19.2.11). Wie Flohsamen und Johannis-
! Kernaussage
Kutira-Gummi stimmt in seinem chemischem Aufbau und auch in seinen Eigenschaften mit KarayaGummi überein.
Infobox Aloe-vera-Gel. Aloe-vera-Gel (syn. Aloe-Vera, Aloe-Extrakt) ist weder zu den Gummen zu zählen, noch ist es mit den klassischen Schleimen bzw. Schleimdrogen ( > Kap. 19.4) zu vergleichen. Es handelt sich um den farblosen Schleim, der auf unterschiedliche Art und Weise aus dem weitgehend anthranoidfreien parenchymatischen Gewebe geschälter, frischer Blätter verschiedener Aloe-Arten, besonders Aloe
6
barbadensis MILL. (syn. Aloe vera (L.) BURM. F.) gewonnen wird. Das genuine Gel, das zu 95% aus Wasser besteht, enthält Glucomannane, Glykoproteine und Aloeine. In den Handel kommen nur stabilisierte und konzentrierte Formen. Dem Aloe-vera-Gel werden antiinflammatorische, immunstimulierende, wundheilungsfördernde, reizmildernde Wirkungen zugeschrieben, wobei die Datenlage allerdings dürftig ist.
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19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Nicht zuletzt aufgrund aggressiver Marketingstrategien erfreut sich Aloe-vera-Gel außerordentlicher Beliebtheit und gilt sowohl äußerlich als auch innerlich appliziert als „Allheilmittel“ (z. B. bei Wunden und Verbrennungen, Sonnenbrand, Akne und Hautkrebs, bei Magengeschwüren, Erkältungskrankheiten und „Rheuma“). Der Hauptanteil von Aloe-vera-Gel wird in der Kosmetikindustrie verwendet. Es gilt als „feuchtigkeitsspendend“ und „weichmachend“ und
Kutira-Gummi (syn. Cochlospermum gossypium-Gummi) ist das Exsudat der Rinde von Cochlospermum gossypium L. (Cochlospermaceae [IIB16d]), einem kleinen Baum, der in den trock enen Regionen in Vorderindien am Fuße des Himalaya-Gebirges beheimatet ist. Die Droge
ist Bestandteil von Hand- und Nachtcremes, Körperlotionen, Shampoos, Rasiercremes und Aftershave-Produkten, Seifen, Reinigungscremes, Zahnpasten, Antitranspiranzien usw. Bei Verwendung in Akne-Kosmetika, Sonnenschutz- und After-Sun-Produkten wird auch eine antiphlogistische Wirkung proklamiert. Im Rahmen der aktuellen Wellness-Bewegung hat es ebenfalls einen Stellenwert erlangt und wird in Form von Tonika und Fitness-Getränken angeboten.
besteht aus unregelmäßig geformten, ledergelben Klümpchen. Im chemischen Aubau und seinen Eigenschaten gleicht Kutira-Gummi weitgehend dem Karaya-Gummi und wird als preiswerte Alternative zu Karaya-Gummi nicht nur in Indien, sondern auch in Europa verwendet.
! Kernaussagen x
x x
x
Pflanzengummen (syn. Gummenpolysaccharide) sind Exsudate von Holzpflanzen, die i. d. R. nach einer mechanischen Verletzung aus Pflanzen austreten und an der Luft zu einer festen, glasigen Masse erstarren. Gummen ergeben mit Wasser mehr oder weniger viskose, häufig klebrige Lösungen bzw. quellen auf, ohne jedoch geordnete Gelstrukturen auszubilden. Arabisches Gummi, das Exsudat von Acacia senegal (Mimosaceae), besteht überwiegend aus uronsauren, hoch verzweigten Arabinogalactanen (Arabinsäure). Es ist langsam, aber sehr gut wasserlöslich und ergibt klebende Lösungen, die erst bei Konzentrationen von 40–50% maximale Viskosität zeigen. Arabisches Gummi ist ein häufig eingesetzter Hilfsstoff in der pharmazeutischen Technologie. Tagant, das Exsudat von Astragalus gummifer (Fabaceae), besteht aus einer wasserlöslichen (Tragacanthin) und einer wasserunlöslichen Fraktion
x
x
(Bassorin). Erstere setzt sich aus einem verzweigten Polygalacturonan (Tragacanthsäure) und einem Arabinogalactan-Protein zusammen, Letztere enthält neben einem Glucan ebenfalls ein ArabinogalactanProtein. Im Vergleich zu Arabischem Gummi ist Tragant weniger gut wasserlöslich und ergibt bereits bei niedrigen Konzentrationen hochviskose, hitze- und pH-stabile Lösungen. Wegen preiswerterer Alternativen wird Tragant seltener als Arabisches Gummi als pharmazeutischer Hilfsstoff eingesetzt. Karaya-Gummi ist das Exsudat von Sterculia-Arten (Sterculiaceae), dessen Polysaccharidanteil aus einem verzweigten Rhamnogalacturononan mit hohem Acetylierungsgrad (Essiggeruch!) besteht. Es hat als preiswertere Alternative zu Tragant Bedeutung erlangt. Gummen sind Ballaststoffe, wobei Tragant und Karaya-Gummi im Gegensatz zu Arabischem Gummi kaum im Dickdarm fermentiert werden und als Füllungsperistaltika eine mild laxierende Wirkung entfalten.
Schlüsselbegriffe Acaciae gummi Aloe-vera-Gel Arabinogalactane Arabinsäure Arabisches Gummi Bassorin Exsudate
Füllungsperistaltikum Gummenpolysaccharide Gummosis Hydrokolloide Indischer Tragant Karaya-Gummi Pflanzengummen
Rhamnogalacturonan Sprühgetrocknetes Arabisches Gummi Tragacanthin Tragacanthsäure Tragant
19.4 Polysacchariddrogen/Schleimdrogen
19.4
Polysacchariddrogen/ Schleimdrogen
Während in den Kapiteln 19.2 und 19.3 isolierte planzliche Polysaccharide bzw. planzliche Exsudate als amorphe Drogen besprochen werden, werden im Folgenden planzliche Drogen im engeren Sinne, d. h. getrocknete Planzenorgane vorgestellt, die wegen ihres Gehaltes an Polysacchariden zum Einsatz kommen. Diese Polysacchariddrogen bezeichnet man im allgemeinen Sprachgebrauch überwiegend als Schleimdrogen. Nur im Einzelfall werden die Polysaccharide auch aus der Droge isoliert und kommen in isolierter Form zum Einsatz (z. B. Guaran aus Guar). Aus didaktischen Gründen werden diese aber zusammen mit der Droge und nicht in Kap. 19.3 beschrieben. Andererseits entsprechen auch einige der isolierten planzlichen Polysacchariden wie auch die Gummen (Kap. 19.2 und 19.3; z. B. Pektin, vorverkleisterte Stärke) durchaus der folgenden Deinition von Schleimpolysacchariden. Dies manifestiert sich auch darin, dass sie gelegentlich ähnlich wie diese verwendet werden (z. B. Karaya-Gummi als Laxans, Pektin als Antidiarrhoikum).
19.4.1
Charakteristika, Qualitätsprüfung und Anwendungsgebiete
19
mär- und Sekundärwände (Pektine und Hemicellulosen, d. h. Strukturpolysaccharide), können aber gelegentlich wie die Vakuolenschleime als Reservestofe dienen (z. B. in Guar, Leinsamen, Bockshornkleesamen). Die planzlichen Schleimpolysaccharide liegen somit ausschließlich zellgebunden vor. Demgegenüber sind die Hydrokolloide der Algen häuig in den Interzellularräumen angereichert ( > Kap. 19.7). Struktur. Die aus einer Droge isolierten Schleimstofe stel-
len i. d. R. Mischungen mehrerer verschiedener Polysaccharide variabler, komplexer Struktur dar. Ihre Mr liegt in der Größenordnung von 5u104–106. Als Grundbausteine indet man diverse Hexosen, Pentosen, Desoxyhexosen und Uronsäuren. Aufgrund der Primärstruktur lassen sie sich in Mannane, Glucomannane, Galactoglucomannane, Galactomannane, Xylane, Rhamnogalacturonane usw. einteilen ( > Tabelle 19.10). Kettenverzweigungen, variierende Anteile an Carboxylgruppen (Uronsäuren) sowie Substitutionen mit Methyl- und Acetylgruppen steigern nicht nur die strukturelle Vielfalt, sondern erweitern auch die Bandbreite inter- und intramolekularer Wechselwirkungen (v. a. Wasserstobrücken) und unterschiedlicher Konformationen. Grundlegende Schritte bei der Untersuchung solcher Planzenschleime sind die Autrennung nach ihrer Ladung in neutrale und mehr oder weniger stark saure Komponenten sowie die Fraktionierung nach ihrer Mr .
Definition. Unter dem Begrif planzliche Schleimpolysac-
charide (syn. Schleimstofe) werden äußerst heterogene Polysaccharide subsumiert, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie durch Extraktion mit heißem oder kaltem Wasser aus Drogenmaterialien gewonnen werden und in Wasser kolloidale, viskose Lösungen (Sole) bzw. hochviskose Hydrogele (Planzenscheime) ergeben, wobei die Lösungen im Gegensatz zu denen der Gummen nicht klebrig sind. Ein allgemeines charakteristisches Merkmal ist folglich die ausgeprägte Wasserbindung, die für die Quellfähigkeit und die viskositätserhöhenden Eigenschaten verantwortlich ist. Vorkommen. Schleimpolysaccharide kommen in unter-
schiedlichen Planzenorganen und Gewebetypen vor ( > Tabelle 19.10). Nach ihrer Lokalisierung innerhalb der Planzenzelle unterscheidet man Zellwandschleime und Vakuolenschleime (v. a. Liliatae). Letztere sind Reservestofe (d. h. Reservepolysaccharide) und/oder ausgeprägte Wasserspeicher. Die Zellwandschleime gehören zu den Matrixkomponenten der Mittellamellen sowie der Pri-
Wertbestimmungen zur Qualitätsprüfung von Schleimdrogen Chemische Methoden zur Gehaltsbestimmung kommen für die Polysaccharide von Schleimdrogen nicht in Betracht. Denn wegen der schwankenden und komplexen strukturellen Zusammensetzung der Polysaccharide und der damit verbundenen Variabilität ihrer physikochemischen Eigenschaten hat der absolute Gehalt keine Aussagekrat für den therapeutischen Wert einer Schleimdroge. Der Nachweis speziischer struktureller Charakteristika von Polysacchariden erfordert anspruchsvolle analytische Methoden (z. B. Methylierungsanalyse/GC-MS, NMR-Spektroskopie, Massenspektrometrie, Mr-Bestimmung), deren Aufwand in keinem Verhältnis zum Nutzen hinsichtlich der Verwendung von Schleimdrogen steht. Daher entfällt die Gehaltsbestimmung und es wird in erster Linie eine Wertbestimmung durchgeführt, mit der die physikalischen Eigenschaten erfasst werden, die für die An-
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
. Tabelle 19.10 Offizinelle Schleimdrogen (PhEur 5) mit Typ und Lokalisation ihrer Polysaccharide und weiteren jeweils charakteristischen Inhaltsstoffen Droge (Familie)
Polysaccharidtypen (Schleimgehalt %)
Lokalisation in der Droge
Weitere typische Inhaltsstoffea
Bockshornsamen (Fabaceae)
Galactomannane (25–40%)
Zellwände des Endosperms
Proteine, Fette, Steroidsaponine
Eibischblätter (Malvaceae)
Rhamnogalacturonane, Glucane (5–10%)
Schleimzellen im Mesophyll
Stärke und Pektine
Eibischwurzel (Malvaceae)
Rhamnogalacturonane, Arabinane, AGb, Glucane (10–20%)
Schleimzellen im Speicherparenchym des Holzes
Stärke und Pektine
Flohsamen (Plantaginaceae)
saure Arabinoxylane (10–12%)
Zellwände der Samenschalenepidermis
Proteine, Fette, Iridoidglykoside, keine Stärke
Indische Flohsamen (Plantaginaceae)
saure Arabinoxylane (20–30%)
Zellwände der Samenschalenepidermis
Proteine, Fette, Iridoidglykoside, etwas Stärke
Ind. Flohsamenschalen (Plantaginaceae)
saure Arabinoxylane (~80%)
Zellwände der Samenschalenepidermis
etwas Stärke
Guar (Fabaceae)
Galactomannane (80–95%)
Zellwände des Endosperms
max. 8% Protein
Guargalactomannan (Fabaceae)
Galactomannan-Teilhydrolysat (80–95%)
Zellwände des Endosperms
max. 5% Protein
Huflattichblätterc (Asteraceae)
Inulin, Glucane, uronsaure Fraktion (6–10%)
Schleimzellen im Mesophyll
Pyrrolizidinalkaloide
Isländisches Moos (Parmeliaceae)
E-Glucan (Lichenin), D-Glucan (Isolichenin) u. a. (>50%)
Zellwände der Thalli
Flechtensäuren
Johannisbrotkernmehlc (Caesalpinaceae)
Galactomannane (Carubin) (73–90%)
Zellwände des Endosperms
max. 8% Protein
Leinsamen (Linaceae)
Rhamnogalacturonane, Arabinoxylane (3–10%)
Zellwände der Samenschalenepidermis
ALA-reiches fettes Öl, cyanogene Glykoside
Lindenblüten (Tiliaceae)
komplexes uronsaures Gemisch (~10%)
v. a. in den Hochblättern
Flavonoide
Malvenblüten (Malvaceae)
Rhamnogalacturonane, AGb, Glucane (6–7%)
Schleimidioblasten und -höhlen der Blütenblätter
Anthocyane
Spitzwegerichblätter (Plantaginaceae)
Rhamnogalacturonan-AG, AG, Glucomannan (2–6%)
k.A.
Iridoidglykosided, Phenolethanoidglykosidee
Wollblumen (Scrophulariaceae)
saures AG, AG, Xyloglucan (~3%)
k.A.
Iridoidglykosided u. Phenolethanoidglykoside, Saponine
a
keine vollständige Liste, sondern nur analytisch, therapeutisch, galenisch oder toxikologisch relevante Inhaltsstoffe;
b AG Arabinogalactane; c nicht (mehr) offizinell; d Leitsubstanz: Aucubin; e Leitsubstanz: Acteosid (= Verbascosid).
19.4 Polysacchariddrogen/Schleimdrogen
wendung der Schleimdrogen relevant sind: die Quellfähigkeit der Drogen. In Einzelfällen misst man die viskositätserhöhenden Eigenschaten der extrahierten Schleimstofe. Quellungszahl. Laut Arzneibuch (PhEur 5, Allgemeine
Methoden, 2.8.4) versteht man unter der Quellungszahl das Volumen in ml, das 1 g Droge samt dem anhatendem Schleim nach 4-stündigem Quellen einnimmt. Die Bestimmung der Quellungszahl wird bei nahezu allen Schleimdrogen des Arzneibuchs im Rahmen der Prüfung auf Reinheit durchgeführt ( > Tabelle 19.11). Sie gibt Aufschluss über die Qualität der Droge sowie mögliche Verfälschungen bzw. Verunreinigungen. Es handelt sich bei der Bestimmung um eine Konventionsmethode, deren Ergebnis sehr stark von der Art der Durchführung abhängt ( > Infobox).
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Infobox Bestimmung der Quellungszahl nach PhEur 5. Hierzu wird 1,0 g Droge in einem mit Schliffstopfen verschließbaren, in 0,5 ml unterteilten 25-ml-Mischzylinder mit 1,0 ml Ethanol 96% R und mit 25 ml Wasser R versetzt. Nach Verschließen des Zylinders wird 1 h lang in Abständen von 10 min kräftig geschüttelt und die Flüssigkeit 3 h lang stehen gelassen. 90 min nach dem Ansetzen werden größere Flüssigkeitsvolumina in der Drogenschicht und auf der Flüssigkeitsoberfläche schwimmende Drogenpartikel durch Drehen des Zylinders um die Längsachse beseitigt. Das Volumen der Droge einschließlich des anhaftenden Schleims wird abgelesen. Drei Parallelversuche werden durchgeführt. Die Quellungszahl wird als Mittelwert aus diesen Versuchen berechnet.
. Tabelle 19.11 Prüfung von Schleimdrogen auf Identität und Reinheit nach PhEur 5. Generell stützt sich der Nachweis der Identität bei Schleimdrogen v. a. auf die makroskopische und mikroskopische Untersuchung der Droge bzw. des -pulvers. Bei der nur gelegentlich durchgeführten Dünnschichtchromatographie erfolgt die Identifizierung anhand von Leitsubstanzen anderer Inhaltsstoffklassen. Im Rahmen der Reinheitsprüfung werden neben der Quellungszahl bzw. Viskosität der Anteil an fremden Bestandteilen, der Trocknungsverlust und die Asche bestimmt. Eine Gehaltsbestimmung wird nicht durchgeführt! Droge Bockshornsamen
Quellungszahl
Viskositätsmessung
Dünnschichtchromatographie (nachgewiesene Inhaltsstoffe)
mind. 6
n.b.a
Trigonellinb, Triglyceride
Eibischblätter
mind. 12
n.b.
Flavonoide, Kaffeesäurederivate
Eibischwurzel
mind. 10
n.b.
n.b.
Flohsamen
mind. 10
n.b.
n.b.
Indische Flohsamen
mind. 9
n.b.
Hydrolysat: Xylose, Arabinose, Galactose
Indische Flohsamenschalen
mind. 40
n.b.
Hydrolysat: Xylose, Arabinose, Galactose
Guar
n.b.
Rotationsv.c
Hydrolysat: Mannose, Galactose Hydrolysat: Mannose, Galactose Fumarprotocetrarsäure
Guargalactomannan
n.b.
Rotationsv.c
Isländisches Moos
mind. 4,5
n.b.
Leinsamen
mind. 4/4,5d
n.b.
n.b.
Lindenblüten
n.b. (mind. 32e)
n.b.
Flavonoide (u. a. Rutin, Hyperosid
Malvenblüten
mind. 15
n.b.
Anthocyane (6cc-Malonylmalvin, Malvin)
Spitzwegerichblätterf
n.b. (mind. 6g)
n.b.
Aucubin, Acteosid
Wollblumen
mind. 9
n.b.
Flavonoide
a n.b. = Prüfung laut Monographie nicht vorgeschrieben; b Trigonellin = Betain der Nicotinsäure, das auch als Referenzsubstanz verwendet wird; c laut PhEur 5 muss die mit Hilfe eines Rotationsviskosimeters bestimmte Viskosität mindestens 85–115% (Guar) bzw. 75–140% (Guargalactomannan) des in der Beschriftung angegebenen Wertes betragen, der die Viskosität einer Lösung der Substanz (10 g/l (Guar) bzw. 20 g/l (Guargalactomannan)) in mPa*s angibt; d QZ mindestens 4 für ganzen und 4,5 für geschrotenen Leinsamen; e laut DAB 10; g Ausnahme: Monographie mit Gehaltsbestimmung (Dihydroxyzimtsäurederivate, Acteosid); g laut DAB 1999.
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Messung der Viskosität. Die physikalische Methode der
Viskositätsmessung kann laut Arzneibuch (PhEur 5, Allgemeine Methoden, 2.2.8) mit einem Kapillarviskosimeter (PhEur 5, 2.2.9) oder einem Rotationsviskosimeter (PhEur 5, 2.2.10) durchgeführt werden. Bei Verwendung eines Kapillarviskosimeters wird die Durchlusszeit einer Flüssigkeit bestimmt, mit einem Rotationsviskosimeter werden die Scherkräte innerhalb einer Flüssigkeit zwischen einem rotierenden und einem starren Zylinder gemessen. Es wird jeweils die dynamische Viskosität K (syn. Viskositätskoefizient) in Millipascalsekunden (mPa*s) ermittelt. Bei den oizinellen Schleimdrogen ist die Viskositätsmessung als Reinheitsprüfung derzeit lediglich bei Guar und Guargalactomannan vorgesehen ( > Tabelle 19.11). Histochemische Nachweise. Im Rahmen der mikrosko-
pischen Identitätsprüfung von Schleimdrogen lassen sich Schleime histochemisch nachweisen. Diese Techniken basieren auf physikalischen oder chemischen Eigenschaten. Der Nachweis mit Tusche nutzt das Phänomen, dass zwar Wasser, nicht jedoch Tuschepartikel in die gequollenen Schleimmassen eindringen können. Im mikroskopischen Bild zeigen sich die Schleimregionen als helle Höfe im sonst dunklen Präparat. Während mit dem Tuschenachweis sowohl neutrale als auch saure Schleime zu erkennen sind, werden durch Anfärbung mit basischen Farbstofen wie Methylenblau, Toluidinblau oder Rutheniumrot speziisch saure Schleime nachgewiesen.
ride nur lokal, da sie nicht unverändert absorbiert werden. Die Tatsache, dass zudem etliche der planzlichen Polysaccharide (z. B. von Leinsamen) im Magen-Darm-Trakt nicht zu resorbierbaren Sacchariden abgebaut werden, liefert das Rationale für die orale Anwendung und Ausnutzung ihrer lokalen Efekte bei diversen gastrointestinalen Beschwerden. Unabhängig vom individuellen Einsatzgebiet der einzelnen Drogen ( > Tabelle 19.12) kommen prinzipiell folgende Anwendungsbereiche in Frage: Anwendung im Mund- und Rachenraum. Bei entzünd-
lichen Vorgängen im Bereich von Pharynx, Larynx und Trachea ist die natürliche Mucinschicht in ihrer Barrierefunktion beeinträchtigt, die sensiblen Nervenendigungen in der Schleimhaut liegen frei, sodass die Reizschwelle für die relektorische Auslösung des Hustenreizes reduziert ist. Der Einsatz von Schleimdrogenextrakten als Antitussivum bei Reizhusten basiert auf der Hypothese, dass die Polysaccharide auf den Schleimhäuten eine schützende Schicht bilden und so reizlindernd wirken. Allerdings ist mit dieser Wirkung allenfalls im Pharynxbereich und damit bei beginnender Erkältung zu rechnen. Tiefer liegende Regionen d. h. Kehlkopf, Lutröhre oder gar die Bronchien werden bei oraler Applikation nicht erreicht. Äußerst fragwürdig ist allerdings die Anwendung von Schleimdrogen in Form von Teezubereitungen, da hier keinesfalls übliche Hydrosol- bzw. Hydrogelkonzentrationen erreicht werden ( > Kap. 19.4.3). Anwendung im Magen-Darm-Trakt. Ausreichende Kon-
Anwendungsgebiete Die Polysaccharide sind als Hydrokolloide in der Lage, hochviskose Lösungen zu bilden, die abdeckend und reizlindernd, pufernd und adsorbierend sowie resorptionsvermindernd wirken; in einigen Fällen wird ihr Quellvermögen genutzt. Im Wesentlichen wirken Polysaccha-
zentrationen vorausgesetzt, können die Schleimpolysaccharide durch ihren abdeckenden Efekt bei leichten gastritischen Beschwerden reizlindernd wirken. Für saure Polysaccharide wird postuliert, dass sie die Adhäsion pathogener Bakterien, wie z. B. Helicobacter pylori, reduzieren. Stark quellende Vertreter können aufgrund ihrer viskositätserhöhenden Eigenschaten die Resorption beein-
. Tabelle 19.12 Anwendungsgebiete der offizinellen Schleimdrogen Anwendungsbereich Mund- und Rachenraum
Indikation
Drogena, b
Schleimhautreizungen und Katarrhe der Luftwege mit trockenem Reizhusten
x x x x x x
Eibischwurzel und -blätter Isländisches Moos Malvenblütenc und -blätter Spitzwegerichblätter (nicht bei Reizhusten) Wollblumenc (Huflattichblätter)
19.4 Polysacchariddrogen/Schleimdrogen
. Tabelle 19.12 (Fortsetzung) Indikation
Drogena, b
Mund- und Rachenraum
Erkältungskrankheiten mit trockenem Reizhusten
x
Lindenblüten
Magen-Darm-Trakt
Appetitlosigkeitd
x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x
Isländisches Moos Bockshornsamen
x x x x x x x x x
Bockshornsamen
Anwendungsbereich
gastritische Beschwerden Diabetes Hyperlipidämie
Diarrhoe
Obstipation
Reizdarm
Äußerlich
Entzündungen, Geschwüre
Eibischwurzel und blätter Leinsamen Guar (Johannisbrotkernmehl) Indische Flohsamenschalen Guar (Johannisbrotkernmehl) (Leinsamen) Indische Flohsamen und -schalen Flohsamen Johannisbrotkernmehl Indische Flohsamen und -schalen Flohsamen Leinsamen Indische Flohsamen und -schalen Flohsamen Leinsamen (Bockshornsamen) (Eibischwurzel) (Leinsamen) (Spitzwegerichblätter)
Sonstige Verwendung Ernährung
Gewürz Ballaststoffe/Diätetika
Technologie
pharmazeut. Technologie Lebensmitteltechnologie
a b c d
Leinsamen Guar Johannisbrotkernmehl Flohsamen Guar, Guargalactomannan Johannisbrotkernmehl Johannisbrotkernmehl Guar, Guargalactomannan
Drogen sind in Klammern geschrieben, wenn es sich um eine sekundäre Indikation handelt. Drogen weit gehend nach Relevanz beim jeweiligen Anwendungsgebiet sortiert. beliebte Schmuckdroge in (Husten-)Teemischungen. für die Anwendung bei Appetitlosigkeit sind nicht die Schleimstoffe verantwortlich.
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
trächtigen. Auf diese Weise lassen sich gegebenenfalls postprandiale Spitzen der Blutzuckerspiegel vermindern; die Senkung des Triglycerid- und Cholesterolspiegels soll letztlich auf einer Hemmung der Rückresorption von Gallensäuren beruhen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass analog auch die Resorption von Arzneistofen beeinträchtigt werden kann. Ihre Verwendung als Antidiarrhoikum (z. B. Indische Flohsamen, vgl. Pektin) setzt voraus, dass die Polysaccharide unverdaut die entsprechenden Darmregionen erreichen. Zusätzlich zu ihrer wasserbindenden Wirkung könnten hierbei pufernde und adsorbierende (z. B. Toxine) Efekte zum Tragen kommen. Andererseits werden einige Drogen (z. B. Indische Flohsamen, vgl. Karaya-Gummi), die unverdauliche Polysaccharide enthalten, als Quellungslaxanzien eingesetzt. Durch Quellung machen sie den Stuhl weicher und verbessern seine Gleitfähigkeit. Außerdem führt der durch die starke Quellung ausgelöste Volumenreiz zu einer relektorischen Anregung der Darmperistaltik (Füllungsperistaltikum). Abzugrenzen von diesen sog. Quellstofen, die unverändert ausgeschieden werden, sind die „verdauungsregulierenden“ Efekte anderer Ballaststofe, die ganz (z. B. Guar, Pektine) oder teilweise (z. B. Weizenkleie) von der Dickdarmlora abgebaut werden ( > Kap. 19.2.11). Weitere Anwendungsgebiete. Die äußerliche Anwen-
dung von Schleimdrogenzubereitungen zur Behandlung von Entzündungen, Geschwüren, Furunkeln und Drüsenschwellungen spielt heute keine große Rolle mehr. Prinzipiell basiert sie auf dem allgemeinen Efekt von Hydrogelen, kühlend auf die Haut zu wirken. Bei der Verwendung von Scheimstofdrogen in Form von Kataplasmen mit heißem Wasser nutzt man andererseits den Effekt der quellenden Polysaccharide, die Wärmeabgabe zu verzögern. Gelegentlich setzt man Schleimdrogen bzw. -polysaccharide als Geschmackskorrigenzien ein, da sie intensiv sauren, bitteren oder scharfen Geschmack mildern, ferner in der Nahrungsmittelindustrie als Stabilisatoren und Verdickungsmittel.
19.4.2
Bockshornsamen
Definition. Bockshornsamen, Trigonellae foenugraeci se-
men PhEur 5, bestehen aus den getrockneten, reifen Samen von Trigonella foenum-graecum L. (Fabaceae [IIB9a]).
Stammpflanze. Der Bockshornklee (syn. Griechisches
Heu) ist ein im Mittelmeerraum heimisches, einjähriges, bis 50 cm hoch werdendes Kraut. Zur Gewinnung der Samen wird er v. a. in Indien, China, Marokko, der Türkei und in Südfrankreich kultiviert. Die Droge stammt ausschließlich aus dem Anbau. Droge. Die aus den reifen, bis 10 cm langen Hülsenfrüch-
ten entnommenen harten, lachen, bis 5 mm langen, (rötlich-)braunen Samen haben einen krätigen, charakteristischen, aromatischen Geruch. Ihre rhomboide Fläche ist durch eine Furche in einen kleineren, die Keimwurzel enthaltenden und einen größeren Teil untergliedert, der die Keimblätter birgt.
Inhaltsstoffe Galactomannane. Bockshornsamen enthalten variierende
Mengen (25–40%) an Galactomannanen (vgl. Guar), die für Vertreter der Fabales typisch sind. Sie sind in den Zellwänden des Endosperms lokalisiert und dienen als Reservepolysaccharid. Ihre Hauptkette besteht aus E-(1o4)glykosidisch gebundenen d-Mannoseeinheiten, die gelegentlich mit D-(1o6)-glykosidisch gebundenen, kürzeren d-Galactoseketten verzweigt sind ( > Abb. 19.18). Hydrolyse des Schleimes liefert ca. 70% Mannose, 28% Galactose und 2% Xylose. Weitere Inhaltsstoffe. Daneben enthalten die Samen etwa 25% Proteine und 6–10% fettes Öl, ferner 2–3% Steroidsaponine, die genuin als bitter schmeckende bisdesmosidische Furostanolglykoside (v. a. Trigofoenosid A) vorliegen ( > Abb. 19.16). Bei der Hydrolyse dieses Saponins entsteht Diosgenin, das als wichtiger Ausgangsstof für die Partialsynthese von Steroidhormonen bekannt ist. Außerdem wurden Steroidsaponin-Peptidester gefunden, u. a. Foenugraecin, ein 3-Peptidester des Diosgenins. Ein charakteristischer Inhaltsstof ist außerdem Trigonellin (0,37%), das N-Methylbetain der Nicotinsäure ( > Abb. 19.17). Man nutzt die Substanz als sog. analytischen Marker bei der Identitätsprüfung mittels DC. Für den typischen Geruch der Droge sind geringe Mengen (95%) wurden Diosgenin und das 25β-Epimer Yamogenin identifiziert. In den reifen Samen liegen jedoch keine freien Saponine, sondern Furostanol-3,26-diglykoside vor; die Hauptkomponente ist Trigofoenosid A, Nebenkomponenten sind die Trigofoenoside B bis G. Außerdem enthält die Droge ein komplexes Gemisch von SteroidsaponinPeptidestern, aus dem Foenugraecin als Reinsubstanz isoliert wurde. Die Aufklärung der Struktur des Peptidrestes steht noch aus. Nach Hydrolyse von Foenugraecin wurden zwei Dipeptide sowie drei isomere Hydroxyisoleucinlactone erhalten
Wirkung und Anwendung
! Kernaussage
Bockshornsamen werden hauptsächlich als Gewürz verwendet.
pulver ist auch einer der Bestandteile des Curry-Gewürzes. In arabischen Ländern dienen Bockshornsamen auch als Nahrungsmittel (z. B. Bockshornsamenmehl zum Brotbacken, Bockshornsamenextrakt zur Herstellung von Getränken). Medizinische Anwendung. Laut Monographie der Kom-
Anwendung als Gewürz. Der größte Teil der Bockshorn-
samen wird in den Mittelmeerländern und vielen tropischen Ländern als Gewürz verwendet; Bockshornsamen-
mission E (BAz Nr. 104a vom 07.06.1990) können Bockshornsamen innerlich bei Appetitlosigkeit angewendet werden und äußerlich in pulverisierter Form zur Herstel-
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
. Abb. 19.17
Trigonellin. Trigonellin ist das N-Methylbetain der Nicotinsäure und liegt zu etwa 0,37% in Bockshornsamen vor.
lung von warmen Umschlägen (Kataplasmen) z. B. zum Reifen von Furunkeln. In Deutschland hat die Droge allerdings keine große Bedeutung und ist derzeit in keinem Phytopharmakon als Bestandteil zu inden. Insbesondere die topische Anwendung ist als obsolet anzusehen, da bei wiederholter Anwendung unerwünschte Hautreaktionen infolge einer Sensibilisierung autreten können. Lediglich in der Tiermedizin werden Bockshornsamen gelegentlich als „Fresspulver“ verwendet. Metabolische Effekte. Bei einer Dosierung von zweimal
täglich 50 g Bockshornsamen ließen sich im Tierversuch und am Menschen ähnliche Wirkungen wie für die Guargalactomannane nachweisen, die als Diätetikum bei Diabetes und Hyperlipoproteinämie verwendet werden. Man nimmt an, dass die blutzuckersenkende Wirkung aus einer Resorptionsverminderung der Glucose resultiert, für die man neben den Galactomannanen des Endosperms die Pektine von Testa und Endosperm verantwortlich macht. Bei Diabetikern und Personen mit erhöhten Blutfettwerten zeigte sich eine signiikante Senkung des Gesamtcholesterin- und Triglycerinspiegels um ca. 25%. Möglicherweise sind an dieser Wirkung auch die Steroidsaponine beteiligt.
19.4.3
Eibischwurzel und -blätter
Definition. Eibischwurzel, Althaeae radix PhEur 5, besteht
aus der geschälten oder ungeschälten, ganzen oder geschnittenen, getrockneten Wurzel von Althaea oicinalis L. (Malvaceae [IIB16b]). Eibischblätter, Althaeae folium, PhEur 5: Das ganze oder geschnittene, getrocknete Laubblatt von Althaea oicinalis L. (Malvaceae [IIB16b]). Stammpflanze. Der ursprünglich in Asien beheimatete,
echte Eibisch ist eine in ganz Europa und Westasien an warmen, salzhaltigen Standorten wachsende, ausdauernde, 0,6–1,5 m hohe Planze. Wurzel- und Blattdroge
stammen aus dem Anbau und werden in Deutschland heute überwiegend aus den Balkanländern und aus Belgien importiert. Die 3- bis 5-lappigen Blätter sind wie der Stängel dicht und samtig behaart; die Blüten sind schwach rosa bis violett/weißlich gefärbt. Die Staude besitzt ein kurzes Rhizom mit bis zu ca. 50 cm langen, 1–2 cm dicken, mehr oder weniger senkrecht wachsenden graubraunen Wurzeln mit Nebenwurzeln. Droge. Die Eibischwurzeln werden im Spätherbst geerntet und gesäubert. Zur Herstellung der geschälten Droge müssen die Wurzeln in sorgfältiger Handarbeit in frischem Zustand von der äußeren Rindenschicht befreit werden. Dieser Aufwand ist sachlich nicht gerechtfertigt, entspricht aber einer alten Gewohnheit. Die ungeschälte Droge wurde zugelassen, um Versorgungsengpässe zu kompensieren. Dicke Wurzelanteile werden zur besseren Trocknung längs gespalten. Das Trocknen soll kurz nach der Ernte bei schwach erhöhter Temperatur (etwa 40 °C) erfolgen, da sich das Drogenmaterial sonst verfärbt. Ein künstliches Auhellen unansehnlich gewordener Droge ist nicht zulässig. Das Drogenmaterial hat einen schwachen, eigenartigen Geruch und einen süßlich-schleimigen Geschmack. Bei abweichendem, säuerlichem Geruch oder Geschmack liegt eine partielle Fermentation der Schleimpolysaccharide und Stärke vor. Die Blätter werden gewöhnlich gleichzeitig mit den Wurzeln geerntet und ebenfalls bei leicht erhöhter Temperatur getrocknet.
Inhaltsstoffe und Analytik Schleimpolysaccharide. In der gesamten Planze (Wurzel, Blatt, Blüte) kommen in ontogenetisch wechselnden Mengen Schleimstofe vor, die sich aus verschiedenen, größtenteils sauren Polysacchariden unterschiedlichen Molekulargewichts zusammensetzen. Die Angaben zum Schleimgehalt variieren beträchtlich, dürten aber nach realistischer Einschätzung für die Wurzel 10–20%, für das Blatt und die Blüte 5–10% betragen. Die Wurzeln weisen im Spätherbst, die Blätter kurz vor der Blüte und die Blüten kurz nach vollem Aublühen den höchsten Schleimgehalt auf. Die Schleimstofe sind in Schleimidioblasten des Holzparenchyms (Wurzel) bzw. des Mesophylls (Blätter) lokalisiert und dienen zumindest teilweise als Reservepolysaccharide. Die Zuckeranalyse nach Hydrolyse des Polysaccharidgemisches ergibt je nach Erntezeitpunkt und Standort mehr oder weniger stark variierende Mengen an
19.4 Polysacchariddrogen/Schleimdrogen
Galacturonsäure, Rhamnose, Glucuronsäure, Galactose, Arabinose, Glucose und Xylose. Polysaccharide der Wurzeldroge. Die Analyse der Poly-
saccharide der Wurzeldroge ergab folgende Zusammensetzung: Der größte Anteil der Schleimpolysaccharide entfällt auf verzweigte Rhamnogalacturonane mit Mr zwischen 34.000 und 500.000. Die Hauptkette besteht aus alternierend angeordneten (1o4)-verknüpten D-d-Galacturonsäure- und (1o2)-verknüpten D-l-Rhamnoseeinheiten. Der Uronsäuregehalt beträgt ca. 38% mit einem Galacturonsäure- zu Glucuronsäure-Verhältnis von 2,6:1. Wie bei den Schleimstofen anderer Malvaceen indet man auch hier als typisches Strukturelement die Sequenz: d-GlcA-(1o3)-d-GalA-(1o2)-l-Rha, wobei die Glucuronsäure als Verzweigung der Rhamnogalacturonanhauptkette autritt. Diese uronsaure Hauptfraktion wird als viskositätsbestimmender Anteil wässriger Eibischextrakte angesehen. Weitere Komponenten der Schleimfraktion sind hochverzweigte neutrale Arabinane mit einer Hauptkette aus (1o5)-verknüpter D-l-Arabinofuranose und einer Mr von etwa 15.000. Ferner wurden Arabinogalactane, neutrale Glucane und nicht näher identiizierte uronsaure Heteropolysaccharide nachgewiesen. Charakteristisch ist darüber hinaus das reichliche Vorkommen von Stärke als Reservepolysaccharid (30–38%) und von Pektinen (ca. 11%). Im Gegensatz zu den leicht löslichen Schleimpolysacchariden ist im Kaltmazerat die Stärke nur in Spuren vorhanden, bei höheren Extraktionstemperaturen geht sie allerdings z. T. in den wässrigen Extrakt über und führt zu einer unerwünschten Trübung. Polysaccharide der Blattdroge. In der Schleimfraktion
der Blattdroge wurde ein hochmolekulares, verzweigtes, partiell acetyliertes Rhamnogalacturonan (Mr = 1,8u106) identiiziert. Es besitzt ein Rückgrat aus (1o2)-verknüpfter D-l-Rhamnose und (1o4)-verknüpter D-d-Galacturonsäure, die in Position 3 mit Glucuronsäure verzweigt ist. Ferner wurden ein niedermolekulares (1o6)-D-d-Glucan (Mr = 7000) sowie Arabinogalactane nachgewiesen. Außerdem enthalten auch die Blätter Pektin und Stärke. Analytische Kennzeichnung. Als Reinheits- und auch
Qualitätskriterium wird nach PhEur die Quellungszahl
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(Wurzel: mind. 10, Blätter: mind. 12) ermittelt. Um reproduzierbare Werte zu erhalten, ist es sowohl bei der stark behaarten Blattdroge als auch bei der Wurzeldroge entscheidend, die gepulverte Droge vor dem Zusatz von Wasser mit Ethanol zu benetzen. Andere Arzneibücher bestimmen die Viskosität wässriger schleimhaltiger Drogenauszüge mittels Kapillarviskosimetrie, wobei dieser Parameter wahrscheinlich eher mit den therapeutischen Efekten korreliert als die Quellfähigkeit der Droge. Eibischhydrogele sind relativ unbeständig, sowohl bei Lichteinwirkung als auch bei erhöhter Temperatur kommt es rascher zu einem Viskositätsverlust. Während die Blätter laut PhEur 5 anhand des dünnschichtchromatographischen Proils ihrer Flavonoide und Kafeesäurederivate identiiziert werden, ist die Dünnschichtchromatographie bei der Wurzeldroge nicht vorgesehen, obwohl das Aminosäuremuster der Eibischwurzel sich hierzu gut eignen würde.
Wirkung und Anwendung
! Kernaussage
Eibischwurzelzubereitungen gehören zu den beliebtesten Mitteln, v. a. in der Kinderheilkunde, zur Linderung von trockenem Reizhusten.
Reizlindernde Wirkung. Die Schleimhäute der Atemwege
(Rachen, Kehlkopf, Lutröhre, Bronchien) besitzen Rezeptoren für mechanische, chemische und entzündliche Reize. Bei ihrer Reizung werden Signale über sensorische Neurone zum Hirnstamm geleitet und lösen als relektorische Antwort Husten aus. Dadurch werden die Atemwege von obstruktivem und irritativem Material gereinigt, weshalb ein produktiver Husten physiologisch sinnvoll ist. Beim trockenen Husten entfällt dagegen diese Aufgabe; er wird meist durch eine Entzündung der Schleimhaut ausgelöst. Hierbei wird weniger bzw. zählüssiger Schleim gebildet, sodass die Rezeptoren sozusagen freiliegen und leichter gereizt werden. Man nimmt an, dass die planzlichen Schleimstofe auf den entzündeten und daher reizempindlichen Schleimhäuten eine schützende Schicht bilden, die Reize von der Schleimhaut fernhält und auf diese Weise die Auslösung von Husten via Mechanorezeptoren hemmt. Allerdings kann ein solcher Mechanismus allenfalls im Mund- und Rachenbereich wirksam werden; Larynx und Trachea werden vom Wirkstof (Schleim) nicht erreicht.
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Weitere Wirkungen. In vitro wurden komplementaktivie-
rende und phagozytosesteigernde Efekte und im Tierversuch eine antiinlammatorische Wirkung der Schleimfraktion sowie isolierter Eibischpolysaccharide nachgewiesen. Die Relevanz dieser prinzipiell widersprüchlichen Efekte (pro- und antiinlammatorisch) ist ebenso wenig bekannt wie der Hemmung des mukoziliären Transports, die am Flimmerepithelpräparat gefunden wurde. Im Tierversuch konnte die anionische Polysaccharidfraktion die Blutzuckerspiegel signiikant senken. Letzteres deutet theoretisch darauf hin, dass die Resorption gleichzeitig eingenommener Arzneimittel verzögert werden kann. Praktisch wird allerdings wohl kaum die dafür erforderliche Polysaccharidkonzentration erreicht. Anwendung und Art der Zubereitungen. Wässrige Extrakte der Eibischwurzel und -blätter werden bei Schleimhautreizungen im Mund- und Rachenraum und damit verbundenem trockenem Reizhusten eingesetzt. Sie sind besonders im Initialstadium einer Erkältung indiziert. Ferner können Eibischzubereitungen laut der Monographie der Kommission E (BAz Nr. 43 vom 02.03.1989) auch bei leichten Entzündungen der Magenschleimhaut angewendet werden. Die äußerliche Anwendung als Kataplasma bei leichten Entzündungen oder Verbrennungen der Haut ist als obsolet anzusehen. Für den Einsatz als Antitussivum werden ca. 2 g Eibischwurzel mit kaltem Wasser (etwa 150 ml) übergossen und unter Rühren 1–2 h stehen gelassen. Wenn nicht anders verordnet, sollte mehrmals täglich eine Tasse des erwärmten, frisch zubereiteten Tees getrunken werden. Die Bandbreite der Tagesdosis (6 g laut Kommission E bzw. bis 15 g laut ESCOP) demonstriert beispielhat die rein empirische Anwendung von Schleimdrogen. Prinzipiell ist zu hinterfragen, ob sich beim Trinken eines Eibischwurzeltees mit einer Polysaccharidkonzentration von max. 0,27% (max. 400 mg in 150 ml) der postulierte Schutzilm überhaupt ausreichend ausbilden kann. Eine gebräuchliche Zubereitung bei Husten ist auch der Eibischsirup (DAC) („Schneckensat“; ED etwa 10 ml). Die Tagesdosis der Blätter beträgt 5 g, wobei zur Teebereitung jeweils 1–2 g Droge mit heißem Wasser übergossen und nach etwa 10 min abgeseiht werden. Da der Stärkegehalt der Eibischblätter geringer ist als der der Eibischwurzel, kann ein Tee aus der Blattdroge nach dem klassischen Aufgussverfahren (Infusum) zubereitet werden, während bei Verwendung der Wurzeldroge ein Kaltmazerat hergestellt wird, um zu verhindern, dass die Stärke mitextrahiert wird.
Infobox Schleimdrogen der Malvaceen. Die Malvengewächse zeichnen sich durch einen auffallenden Reichtum an Schleimpolysacchariden in allen Organen aus. Es handelt sich jeweils um Gemische chemisch unterschiedlicher Polysaccharide, die sowohl neutral wie anionisch sein können und in ihrer Grundstruktur mit den Pektinen verwandt sind. Die biologischen Wirkungen der Malvaceenschleimstoffe beruhen auf ihren Hydrokolloideigenschaften. Die Gattung Malva besteht aus etwa 30 Arten, die in den gemäßigten Klimagebieten der nördlichen Hemisphäre verbreitet sind. Die verwandte Gattung Althaea umfasst etwa 25 Arten und kommt in den gleichen geographischen Arealen vor. Es handelt sich um meist ausdauernde, selten einjährige, stark behaarte, krautige oder halbstrauchartige Gewächse. Unterschiedlich große und gefärbte Blüten kommen einzeln gestielt oder als Büschel in den Blattachseln vor. Die Schleimzellen sind in allen Organen verbreitet. Der Schleimgehalt der Wurzeln beträgt etwa 10–20%, der der oberirdischen Organe etwa 5–10%; er variiert stark in Abhängigkeit von der Jahreszeit. Arzneilich verwendete Malvaceendrogen sind: x Eibischblätter, Althaeae folium (PhEur 5), Althaea officinalis L., Eibisch, x Eibischwurzel, Althaeae radix (PhEur 5), Althaea officinalis L., Eibisch, x Hibisci flos, Hibiscusblüten (PhEur 5), Hibiscus sabdariffa L. var. sabdariffa, Afrikanische Malve, x Malvenblätter, Malvae folium, (DAC, PhHelv, ÖAB) Malva sylvestris L., Wilde Malve und Malva neglecta WALLR., Gemeine Malve, x Malvenblüten, Malvae sylvestris flos (PhEur 5), Malva sylvestris L., Wilde Malve, x Stockrosenblüten, Alceae flos, Alcea rosea L., Stockmalve. Wegen ihrer Färbung sind Malvaceenblüten beliebte Schmuckdrogen in Teemischungen. Hibiscusblüten enthalten neben Schleimstoffen einen hohen Gehalt an Fruchtsäuren (>13,5%), deren saurer Geschmack durch die Polysaccharide gemildert wird, sodass der durch Anthocyane rot gefärbte Hibiscusblütentee ein beliebtes Erfrischungsgetränk ist. Im Lebensmittelhandel werden die Hibiscusblüten oft nicht korrekt als „Malventee“ bezeichnet.
19.4 Polysacchariddrogen/Schleimdrogen
Im Gegensatz zu den Eibischblättern werden Wurzelmazerate in einer Vielzahl von Husten- und Erkältungspräparaten eingesetzt, die besonders in der Kinderheilkunde beliebt sind. Eine kürzlich publizierte Anwendungsbeobachtung an Kindern (Fasse et al. 2005) ergab eine signiikante Wirksamkeit und exzellente Verträglichkeit eines Eibischsirup-Präparates bei trockenem Reizhusten.
19.4.4
Flohsamen, Indische Flohsamen und Indische Flohsamenschalen
Definition. Flohsamen, Psyllii semen PhEur 5, bestehen
aus den reifen, ganzen und trockenen Samen von Plantago afra L. (syn. Plantago psyllium L.; Flohsamenwegerich) oder von Plantago indica L. (syn. Plantago arenaria Waldstein et Kitaibel; Sandwegerich). Indische Flohsamen, Plantaginis ovatae semen PhEur 5: Die getrockneten, reifen Samen von Plantago ovata Forssk. (syn. Plantago ispaghula Roxb.; Blondes Psyllium, Indisches Psyllium). Indische Flohsamenschalen, Plantaginis ovatae seminis tegumentum PhEur 5 bestehen aus dem Episperm und den angrenzenden kollabierten Schichten des Samens von Plantago ovata Forssk. (syn. Plantago ispaghula Roxb.). Stammpflanzen und Drogen. Bei den Stammplanzen
der Drogen, Vertretern der Gattung Plantago (Plantaginaceae [IIB23h]), handelt es sich um einjährige, niedrige Kräuter mit lanzettlichen bis schmal linealen Blättern und kurzen bis sehr kurzen, ährenförmigen Blütenständen. In > Tabelle 19.13 sind die wesentlichen Punkte zu Herkunt und Aussehen der Drogen aufgeführt. Die Indischen Flohsamenschalen bestehen aus der äußersten schleimhaltigen Schicht der Samenschale (Episperm), d. h. der Samenschalenepidermis, und den darunter liegenden Schichten der Samenschale. Sie werden durch Zerstoßen der Samen und Windsichtung mit einem Gebläse gewonnen.
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d-Xylane, wobei die Zusammensetzung und Anordnung der Seitenketten von Art zu Art variiert. Als Zuckerkomponenten der Seitenketten wurden l-Arabinose, l-Galactose, l-Rhamnose, d-Galacturonsäure und d-Glucuronsäure beschrieben. Demgegenüber enthalten die bisher untersuchten Blattschleime keine Xylane, sondern es dominieren Arabinogalactane und Rhamnogalacturonsäureketten ( > Kap. 19.4.12 Spitzwegerichblätter). Arabinoxylane. Die Hauptfraktion der oizinellen Floh-
samen und Indischen Flohsamen besteht aus verzweigten, sauren Arabinoxylanen, die in wässrigen Systemen kolloidale Lösungen bilden. Die Hydrolyse der Polysaccharide ergibt überwiegend d-Xylose und l-Arabinose, daneben l-Rhamnose und d-Galacturonsäure und bei Indischem Flohsamen noch 4-O-Methyl-d-Glucuronsäure, die für den sauren Charakter verantwortlich sind. Verglichen mit dem neutralen Arabinoxylan des Leinsamens ( > Abb. 19.22) sind diese hochverzweigten, sauren Pentosane sehr viel komplexer zusammengesetzt. Der Schleim der Flohsamen ist stärker sauer als der der Indischen Flohsamen, da der Anteil an Galacturonsäure (und auch Rhamnose) mehr als doppelt so hoch ist. Außerdem ist das Quellvermögen von Flohsamen (QZ 14–19) größer als das der Indischen Flohsamen (QZ 11–14).
Wirkung und Anwendung
! Kernaussage
Flohsamen, Indische Flohsamen und Indische Flohsamenschalen sind sehr gut verträgliche Quellstoffe zur Normalisierung des Stuhls.
Plantago-Schleimpolysaccharide. Typisch für Plantago-
Zubereitungen aus den drei eingangs deinierten Drogen der Gattung Plantago weisen die folgenden anwedungsbezogenen (gastrointestinalen) Wirkungen auf (Krat 2005): 1. laxierende Wirkung bei Obstipation, 2. antidiarrhoische Wirkung bei Durchfall, 3. mukosaprotektive Wirkung bei Reizdarmsyndrom, Divertikulose, Colitis ulcerosa, 4. metabolische Efekte bei Hypercholesterinämie und Diabetes mellitus.
Arten ist das Vorkommen von Schleimen in den Blättern und in der Epidermis der Samenschale ( > Tabelle 19.13). Bei den Samenschleimen handelt es sich um verzweigte
Eine Zusammenstellung der Anwendungsgebiete zeigt die > Tabelle 19.14.
Inhaltsstoffe
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
. Tabelle 19.13 Charakteristika der offizinellen Plantaginaceen-Schleimdrogen Flohsamen, Indische Flohsamen und Indische Flohsamenschalen sowie der entsprechenden Stammpflanzen Flohsamen
Indische Flohsamen
Indische Flohsamenschalen
Herkunft Stammpflanze
Plantago afra L. (syn. Plantago psyllium L.) Flohsamenwegerich
Plantago indica L. (syn. Plantago arenaria WALDST. ET KIT.) Sandwegerich
Plantago ovata FORSSK. (syn. Plantago ispaghula ROXB.)
Heimat
Südeuropa, Nordafrika, westliches Asien
Mittel-/Südeuropa, Kaukasusländer, Sibirien
Indien, Afghanistan, Iran, Israel, Nordafrika, Spanien, Kanarische Inseln
Anbau-/ Importland
v. a. Spanien
v. a. Südfrankreich
Indien und Pakistan
Indisches Psyllium, Blondes Psyllium
Droge Farbe Beschaffenheit Form Größe
Besonderheit
hell- bis schwarzbraun (wie P. afra) glatt und glänzend
weniger glänzend
länglich elliptisch, ein Ende breiter (wie P. afra)
blassrosa bis beige (wie Samen) glatt schiffchenähnlich, gekrümmt
Bruchstücke oder Flocken
1,5–3,5 mm lang 1,5–2,0 mm breit 1,0–1,5 mm dick
max. 2 mm lang max. 1 mm breit 0,025–0,1 mm dick
Rücken: leichte, hellere Längswölbung Bauch: helle Furche (wie P. afra)
Rücken: konvex, heller Fleck (Hilum) Bauch: konkav, hellbrauner Fleck
manchmal hellbrauner Fleck
10–12%
20–30%
ca. 80%
2–3 mm lang, 0,8–1,0 mm breit
2–3 mm lang, max. 1,0 mm breit
Inhaltsstoffe Schleimgehalt Lokalisation
Epidermis der Samenschale
Epidermis der Samenschale
Polysaccharidtyp
verzweigte, saure Arabinoxylane daneben: Galacturonsäure; Rhamnose (stärker sauer als P. ovata-Schleim)
verzweigte, schwach saure Arabinoxylane daneben: Galacturonsäure; Rhamnose; 4-O-Methylglucuronsäurea
Begleitstoffe
fettes Öl (5–13%)b Proteine keine Stärkec Planteosed 0,14% Aucubine
fettes Öl (5–13%) Proteine keine Stärke Planteose kein Aucubin
fettes Öl (ca. 5%) Proteine Stärke Planteose 0,21% Aucubin
kaum fettes Öl kaum Protein Stärke kein Aucubin
Analytische Charakterisierung Identität
Quellungszahl
Makroskopische Untersuchung
mind. 10 (i. d. R. 14–19)
Makroskopische Untersuchung Mikroskopische Untersuchung DC: Xyl, Ara, Gal nach Hydrolyse mind. 9 (i. d. R. 11–14)
mind. 40 (i. d. R. >60)
a 4-O-Methylglucuronsäure kommt in der stark quellenden, unlöslichen Fraktion vor; b aufgrund des Gehaltes an fettem Öl
dürfen zerkleinerte Flohsamen und Indische Flohsamen nicht länger als 24 h lagern; c Flohsamen: statt Stärke dienen Hemicellulosen als Reservepolysaccharide. Indische Flohsamen: die geringen Mengen an Stärke sind ausschließlich in den Samenschalen lokalisiert; d Planteose = Trisaccharid aus Glucose, Fructose, Galactose; charakteristisch für Samen der Plantaginaceen; e Aucubin als wichtiger Vertreter der Iridoidglykoside.
19.4 Polysacchariddrogen/Schleimdrogen
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. Tabelle 19.14 Anwendungsgebiete von Flohsamen und Indischen Flohsamen/-schalen entsprechend der Monographien der Kommission E und der ESCOP (Originaltext) Flohsamen
Indische Flohsamen/-schalen
Kommission E/ESCOP habituelle Obstipation
Kommission E/ESCOP
habituelle Obstipation
ESCOP
Bedingungen, unter denen eine erleichterte Defäkation mit weichen Stühlen wünschenswert ist, z. B. bei Analfissuren oder Hämorrhoiden, nach Rektal- oder Analchirurgie, während der Schwangerschaft
Kommission E/ESCOP
unterstützend bei Analfissuren, Obstipation in der Schwangerschaft, nach rektal-analen operativen Eingriffen
ESCOP
unterstützend bei Diarrhoe verschiedener Ursache
Kommission E/ESCOP
unterstützend bei Durchfällen unterschiedlicher Genese
Kommission E
Colon irritabile (Reizdarmsyndrom)
Kommission E/ESCOP
Colon irritabile (Reizdarmsyndrom)
ESCOP
nur Indische Flohsamenschalen: unterstützend bei einer fettarmen Kost zur Behandlung von leichter bis mittelschwerer Hypercholesterinämie
Laxierende Wirkung. In erster Linie werden die Planta-
goschleimstofe als unverdauliche Quellstofe zur Stuhlregulation eingesetzt ( > Kap. 19.2.11). Flohsamen und Indische Flohsamen quellen im Gastrointestinaltrakt um das 2- bis 3,1-fache des Ausgangsvolumens und haben damit, abgesehen von den isolierten Samenschalen, den höchsten Quellfaktor aller therapeutisch verwendeten Füll- und Quellstofe. Da sie nur in begrenztem Ausmaß (ca. 10–25%) von den Darmbakterien abgebaut werden, bleibt die Quell- und Gelbildungsfähigkeit im Dickdarm erhalten und sorgt für eine erhöhte Stuhlmasse, einen höheren Stuhlfeuchtigkeitsgehalt und eine weichere Konsistenz des Stuhls. Durch den Volumenreiz kommt es zur physikalischen Stimulation der Darmperistaltik (relektorische Defäkation), sodass sich die Kolonpassagezeit verkürzt. In mehreren klinischen Studien der letzten Jahre manifestierte sich diese Wirkungsweise in einer erhöhten Defäkationsfrequenz und einer Abnahme des Defäkationsschmerzes. Antidiarrhoische Wirkung. Bei akuten Durchfällen ent-
falten die Schleimstofe einen umgekehrten Efekt und wirken antidiarrhoisch. Sie reduzieren die intestinale Passagezeit, indem sie die überschüssige Flüssigkeit im Darmlumen adsorbieren und die Viskosität des Darminhaltes erhöhen (vgl. Pektine). Außerdem sollen die anionischen
Polysaccharide die Darmschleimhaut durch unspeziische Bindung von Toxinen schützen. Mukosaprotektive Wirkung. Neben einer gewissen mukosaprotektiven Wirkung (z. B. Hemmung der bakteriellen Bildung toxischer Sekundärprodukte aus Metaboliten des hepatischen Stofwechsels) dürte die „stuhlregulierende“ Wirkung der Plantagoschleime zu ihren positiven Efekten bei Reizdarmsyndrom, Divertikulose und Colitis ulcerosa beitragen. Metabolische Effekte. Die metabolischen Efekte kommen in den höheren Darmabschnitten zum Tragen. Wichtig ist hierbei, dass die Drogenzubereitungen unmittelbar vor oder zusammen mit einer Mahlzeit eingenommen werden. Die gelbildenden Polysaccharide verzögern die Absorption und erniedrigen auf diese Weise signiikant den postprandialen Blutzuckerspiegel. Diese Wirkung ist allerdings bei Guar stärker ausgeprägt. Ferner senken die Plantagoschleimstofe die Gesamt- (max. 15%) und insbesondere die LDL-Cholesterinserumkonzentration. Dieser Efekt beruht wahrscheinlich auf einer Reduktion der Cholesterinabsorption sowie der Steigerung des Turnovers und der Ausscheidung der Gallensäuren. Während für Flohsamen und Indische Flohsamen allerdings nur ältere Studiendaten vorliegen, gilt die cho-
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
lesterinsenkende Wirkung der Indischen Flohsamenschalen durch neuere klinische Studien als überzeugend belegt (Van Rosendaal et al. 2004; Moreyra et al. 2005). Anwendung. Die Droge wird bei habitueller Obstipation
und Erkrankungen, bei denen eine erleichterte Darmentleerung mit weichem Stuhl erwünscht ist, eingesetzt. Die Tagesdosen betragen 10–30 g für Flohsamen, 12–40 g für Indische Flohsamen und 4–12 g für Indische Flohsamenschalen. Es sollten bei der Einnahme der Drogen stets gleichzeitig mindestens 150 ml Flüssigkeit pro 5 g Droge getrunken werden, um ein Aufquellen im Rachen oder Ösophagus zu vermeiden (Erstickungsgefahr). Damit die Absorption anderer Arzneimittel nicht beeinträchtigt wird, ist auf einen ausreichenden zeitlichen Abstand der Einnahme zu achten. Die drei Drogen sind sehr gut verträglich und eignen sich auch für eine Langzeittherapie. Begründet wird dies Infobox Allergisierendes Potential von Indischen Flohsamenschalen (Hensel et al. 2001). Als klinisch relevante Nebenwirkung von Indischen Flohsamenschalen treten in Einzelfällen allergische Reaktionen vom Soforttyp auf (d. h. Asthma, allergische Rhinitis und anaphylaktische Reaktionen). Betroffen waren i. d. R. Personen, die beruflich Umgang mit psylliumhaltigen Präparaten hatten, etwa Krankenschwestern, Arbeiter in Flohsamen verarbeitenden Betrieben, aber auch Personen, die Flohsamenschalen als Nahrungsmittel (Müsli) zu sich nahmen. Eine Untersuchung zur Häufigkeit der Sensibilisierung an 193 Personen, die in verschiedenen Krankenhäusern beschäftigt waren, ergab Raten zwischen 5% (Prick-Test) und 12% (IgE-Bestimmungen). Es ist davon auszugehen, dass die Sensibilisierung via Inhalation und nicht durch orale Aufnahme erfolgt, denn aus vielen Berichten geht deutlich hervor, dass die Allergiker häufig Psylliumstäuben ausgesetzt waren (Fabrikverarbeitung, Zubereitung von Trinklösungen aus Pulvern für Patienten, Fertigmüslis etc.). Da die Psylliumpharmaka bei ordnungsgemäßer Anwendung nicht stäuben, wirken sie nicht sensibilisierend. Die verantwortlichen Allergene könnten Proteine sein, die hauptsächlich im Endosperm und im Embryo, in der Schale aber nur in sehr geringen Mengen vorkommen. Bei höheren Konzentrationen der Allergene in Flohsamenschalenprodukten handelt es sich um Verunreinigungen aus dem Samenanteil. Gut gereinigte Droge sollte demnach nahezu proteinfrei sein.
mit dem relativ geringen bakteriellen Abbau, der bei anderen Ballaststofen häuig zu abdominellen Beschwerden und Flatulenz führt. In seltenen Fällen kann es zu allergischen Reaktionen ( > Infobox) kommen. Indische Flohsamenschalen zur Anwendung bei Morbus Crohn, Kurzdarmsyndrom und HIV-assoziierter Diarrhoe sind eine der vier Ausnahmen planzlicher Arzneimittel, die auch noch nach dem Inkrattreten des GKVModernisierungsgesetzes (01.01.2004) zu Lasten gesetzlicher Krankenkassen verordnet werden dürfen.
19.4.5
Guar und Guargalactomannan
Definition. Guar, Cyamopsidis seminis pulvis PhEur 5,
wird aus den Samen von Cyamopsis tetragonolobus (L.) Taub. (Fabaceae [IIB9a]) durch Zermahlen des Endosperms gewonnen und besteht vorwiegend aus Guargalactomannan. Guargalactomannan, Guar galactomannanum PhEur 5, wird aus den Samen durch Zermahlen des Endosperms und anschließende Teilhydrolyse gewonnen. Die Hauptkomponenten der Substanz sind Polysaccharide, die aus d-Galactose und d-Mannose in den Molverhältnissen 1:1,4 bis 1:2 zusammengesetzt sind. Die Moleküle bestehen aus einer linearen Hauptkette von E-(1o4)-glykosidisch gebundenen Mannosen, an die einzelne Galactosen D-(1o6)-glykosidisch gebunden sind. Stammpflanze. Die Büschelbohne (syn. Indische Büschel-
bohne, Guarbohne) ist ein einjähriges, 30–60 cm hoch werdendes Kraut mit dreiteiligen Fiederblättern und traubigen Blütenständen aus kleinen, rötlichen Blüten. Die Hülsenfrüchte enthalten meist 5–8 Samen mit gebogenem, mäßig verdicktem Embryo und stark entwickeltem Schleimendosperm (35–42% des Samengewichts). Die seit jeher in Indien und Pakistan angebaute Kulturplanze wird heute auch großlächig in den Südstaaten der USA, Australien und Brasilien kultiviert. Gewinnung. Zur Gewinnung von Guar (syn. Guarmehl, Guarkernmehl und fälschlicherweise auch Guar-Gummi) werden die Samen nach Vorbehandlung mit heißer, eventuell feuchter Lut in einer Mühle zerbrochen; die Samenschalen und Embryoanteile werden mechanisch entfernt. Das verbleibende, weitgehend reine Endosperm wird zu einem weißen bis fast weißem Mehl, dem Guar (27–32% des Samengewichts), vermahlen.
19.4 Polysacchariddrogen/Schleimdrogen
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. Abb. 19.18
Galactomannane. Wasserlösliche Galactomannane sind typische Bestandteile der Samenschleime von Vertretern aus der Ordnung der Fabales. Guar, Guargalactomannan, Johannisbrotkernmehl und auch Bockshornsamen sind Drogen bzw. Drogenzubereitungen, die wegen ihrer Galactomannane (u. a. Guaran, Carubin) verwendet werden. Galactomannane bestehen aus einer Hauptkette aus β-(1o4)-glykosidisch gebundener D-Mannose, die am C-6 mit α-D-Galactose verzweigt ist. Die verschiedenen Galactomannane unterscheiden sich voneinander in ihrer mittleren Mr und Mr-Verteilung, ihrem Galactose:Mannose-Verhältnis, ihrem Substitutionsmuster und der Länge ihrer Seitenketten.
Inhaltsstoffe Guar. Guar besteht zu etwa 80–95% aus wasserlöslichen Galactomannanen ( > Abb. 19.18), die in den Zellwänden lokalisiert sind und die häuig in Samen von Fabaceen zu inden sind (Leguminosenschleimstofe; vgl. Bockshornsamen). Daneben enthält das Produkt 5–6% Proteine, 2,5% „Rohfasern“ (Cellulose) sowie Fette und Mineralien. Guaran. Zur Gewinnung von Guaran wird Guar mit Wasser extrahiert und mit Ethanol gefällt. Hierbei werden die ersten 10% der Fällung (Ethanolkonz. 25%) verworfen; das dann bis zu einer Konzentration von 40% Ethanol ausfallende Produkt ist reines Guaran. Es handelt sich um ein Galactomannan mit einer mittleren Mr von 220.000, das durchschnittlich aus etwa 35% Galactose und 64% Mannose besteht. Die (1o4)-E-d-Mannanhauptkette trägt am C-6 jeder zweiten Mannoseeinheit einen D-d-Galactopyranosylrest. Guargalactomannan. Das oizinelle Guargalactoman-
nan wird demgegenüber nicht durch einen Aufreinigungsprozess, sondern durch Teilhydrolyse des Guar erhalten.
Der Guargalactomannananteil besitzt folglich eine geringere Mr und etwas andere rheologische Eigenschaten.
Eigenschaften und Verwendung Löslichkeit, Viskosität und Gelbildung. Sowohl Guar als
auch Guargalactomannan sind in kaltem und heißem Wasser löslich (Anmerkung: Johannisbrotkernmehl ist demgegenüber nur in heißem Wasser löslich). Guar ergibt konzentrationsabhängig transparente Schleime (0,5%) bis konsistente Gele (4%). Die Viskosität einer 1%igen Lösung beträgt etwa 2000–6000 MPa*s. Lösungen des partiell degradierten Guargalactomannans besitzen eine geringere Viskosität, die stark von dessen Herstellungsweise abhängt. Charakteristisch für Galactomannane und damit auch allgemein für die Leguminosenschleime ist die Gelbildung in Gegenwart von Borax, die auf einer Komplexbildung der cis-ständigen Hydroxylgruppen der Mannose mit den Borationen basiert. In Abhängigkeit von Temperatur und Konzentration sowie bei Einwirkung von Scherkräten und Gammastrah-
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
len neigen die Polymere zur Degradation. Außerdem sind sie anfällig für mikrobielle Verunreinigungen. Verwendung als technologischer Hilfsstoff. Guar (E 412), Guaran und Guarglactomannan haben mittlerweile einen beachtlichen Stellenwert als Stabilisierungs-, Dickungsund Suspendierungsmittel in der Lebensmitteltechnologie erreicht (Hilfsstof in Käse, Salatsaucen, Eiscreme, Konditoreiwaren, Mayonnaisen, Dressings, Trockensuppen etc.). Außerdem werden sie in der Galenik (z. B. Hilfsstof in Pulvern, Granulaten, Tabletten, Dragees, Suspensionen, Pasten, transdermalen Plastern; > Tabelle 19.2) sowie in der kosmetischen und Textilindustrie verwendet.
Wirkung und Anwendung
! Kernaussage
chend Flüssigkeit einzunehmen. Bei gleichzeitiger Gabe von Guarpräparaten kann eventuell die Bioverfügbarkeit oral applizierter Pharmaka reduziert sein.
19.4.6
Huflattichblätter
Stammpflanze und Droge. Hulattich (Tussilago farfara L., Asteraceae [IIB28b]) ist eine in Europa und Asien heimische, kleine Staude mit gelben Blüten. Als Schleimdroge werden die auf der Unterseite dicht-weißilzig behaarten Blätter (Farfarae folium) verwendet, die früher aus Wildsammlungen stammten. Aufgrund ihres Gehaltes an Pyrrolizidinalkaloiden ( > unten) ist die Droge nicht mehr oizinell und sollte nicht verwendet werden, es sei denn, es handelt sich um Droge, die aus dem Anbau von genetisch einheitlichen, alkaloidfreien Sorten wie der Sorte Tussilago farfara „Wien“ stammt.
Guar wird als Zusatztherapie bei Patienten mit Diabetes und Hypercholesterinämie verwendet.
Inhaltsstoffe Metabolische Effekte. Guar besitzt Eigenschaten wie lös-
liche Ballaststofe ( > Kap. 19.2.11). Aufgrund der starken Quellfähigkeit und schlechten Verdaubarkeit wird Guar als Quellstof in Diätprodukten zur Gewichtsreduktion verwendet. Durch die Ausbildung hochviskoser Gele kommt es im Magen zu einer verzögerten Entleerung und im Dünndarm zur Ausbildung einer Difusionsbarriere. Hieraus resultiert eine Resorptionsverzögerung von Glucose und folglich ein Absenken der postprandialen Blutzuckerspiegel. In klinischen Studien wurde durch die dreimal tägliche Einnahme von 5 g Guar vor den Mahlzeiten der postprandiale Blutzuckerspiegel von Diabetikern um bis zu 30% gesenkt, sodass Guar diesbezüglich als der eizienteste „Ballaststof “ gilt. Bei Patienten mit Hyperlipidämie konnte in einer Dosierung von 15 g/Tag der Cholesterinspiegel um bis zu 16% erniedrigt werden. Anwendung. Diese Efekte werden in der diätetischen Behandlung bzw. ergänzenden herapie von Patienten mit Diabetes mellitus und Hypercholesterinämie genutzt. Besonders zu Behandlungsbeginn können infolge des vollständigen mikrobiellen Abbaus Nebenwirkungen wie Völlegefühl, Magendruck, Übelkeit, Blähungen und Durchfall autreten, was die Akzeptanz von Guarprodukten in der Praxis allerdings beeinträchtigt. Wie allgemein bei quellfähigen Polysacchariden ist es wichtig, Guar mit ausrei-
Die Droge enthält 6–10% Polysaccharide, ca. 5% Gerbstofe und in geringen Mengen Flavonoide, verschiedene Planzensäuren, Triterpene und Sterole. Von toxikologischer Bedeutung sind die je nach Provenienz in Spuren vorkommenden Pyrrolizidinalkaloide ( > Infobox). Polysaccharide. Die Polysaccharidfraktion besteht aus
Inulin (ca. 30%), das häuig in Asteraceen als Reservepolysaccharid zu inden ist, und Schleimstofen. Letztere sind ein komplexes Gemisch neutraler (Glucane) und saurer Polysaccharide, die v. a. aus Galactose (~24%), Arabinose (~21%), Glucose (~15%), Xylose (~10%) und Galacturonsäure (~6%) bestehen. Älteren Monographien zufolge soll die Quellungszahl mindestens 9 betragen; die Viskosität des Hutlattichblätterschleims ist allerdings aufallend niedrig. Infobox Pyrrolizidinalkaloide in Huflattichblättern (Frohne 2002). Neben Tussilagin und Isotussilagin wurden in Huflattichblättern vereinzelt bis zu 0,01% Senkirkin (durchschnittlich jedoch nur 1,0–47 ppm) und bis zu 0,001% Senecionin gefunden. Während Tussilagin und Isotussilagin mit gesättigtem Necinring untoxisch sind, wirken Senkirkin und Senecionin hepatotoxisch und karzinogen ( > Abb. 19.19,
6
19.4 Polysacchariddrogen/Schleimdrogen
> auch Kap. 27.3). Huflattichblätter sind deswegen in Öster-
reich und Dänemark nicht mehr verkehrsfähig; in Deutschland wurde der Grenzwert für toxische Pyrrolizidinalkaloide (PA) auf maximal 1 µg pro Tag (übliche Tagesdosis 4,5–6 g Droge) festgesetzt. Die Droge bzw. entsprechende Zubereitungen sollten nicht länger als 4–6 Wochen im Jahr angewendet werden. Bekannt gewordene Intoxikationen von Säuglingen und Kleinkindern durch Huflattichtee beruhten auf einem nicht bestimmungsgemäßen Gebrauch oder sind wahrscheinlich durch Pestwurzblätter, die höhere PA-Gehalte (2–350 ppm) aufweisen, oder Blätter des Grauen Augendosts in der Teemischung ausgelöst worden. Heute werden daher Huflattichblätter, deren Wirkungsqualität als Schleimdroge etwa mit der von Malvaceenblättern und -blüten vergleichbar ist, kaum noch verwendet. Mittlerweile steht die Droge prinzipiell allerdings wieder zur Verfügung, da es gelungen ist, eine pyrrolizidinalkaloidfreie Sorte zu züchten und anzubauen.
Medizinische Anwendung laut Kommission E. Laut
Monographie der Kommission E (BAz Nr. 138 vom 27.07.1990) sind die Anwendungsgebiete von Hulattichblättern in Form von Tee, Frischplanzenpresssat oder anderen Zubereitungen akute Katarrhe der Lutwege mit Husten und Heiserkeit sowie akute, leichte Entzündungen der Mund- und Rachenschleimhaut. Die Anwendung bei diesen Indikationen dürte auf den reizlindernden Schleimpolysacchariden beruhen ( > Kap 19.4.3). Ebenfalls postu. Abb. 19.19
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lierte schleimlösende, expektorierende und entzündungswidrige Wirkungen lassen sich jedoch nicht mit dem Gehalt an Schleimstofen erklären. Die früher häuige Verwendung von Hulattichblättern als Bestandteil von Teemischungen beruhte weniger auf einer Wirkung als vielmehr darauf, dass die ilzig behaarte Droge das Entmischen der Drogen verhinderte.
! Kernaussage
Die volksmedizinisch als Antitussivum verwendeten Huflattichblätter sollten wegen ihres Gehaltes an Pyrrolizidinalkaloiden nicht mehr verwendet werden.
19.4.7
Isländisches Moos/Isländische Flechte
Definition. Isländisches Moos/Isländische Flechte, Lichen
islandicus, PhEur 5, besteht aus dem ganzen oder geschnittenen, getrockneten hallus von Cetraria islandica (L.) Acharius s. l. Infobox Flechten. Flechten (Lichenes) sind ein typisches Beispiel für eine Symbiose, das Zusammenleben artfremder Organismen in einer Stoffwechselgemeinschaft zum gegenseitigen Nutzen. Bei den Flechten liefern die Algen (z. B. Cyanophyceen, Chlorophyceen) die Photosyntheseprodukte, die Pilze (z. B. Ascomyceten, Basidiomyceten) Mineralstoffe und Wasser. Dadurch können Flechten auch auf extrem nährstoffarmem Untergrund (Steinen, Felsen und in Polarländern) existieren. Sie sind in zahlreichen Arten über die ganze Erde verbreitet. Nach ihrer äußeren Form unterscheidet man Krusten-, Faden-, Gallert-, Blatt- und Strauchflechten.
Hinweis. Die im Monographietitel immer noch aufgeführ-
te alte deutsche Bezeichnung der Droge ist nicht korrekt, da es sich nicht um ein Moos (Abteilung: Bryophyta), sondern um eine Flechte handelt. Demzufolge könnte die üblicherweise im Zusammenhang mit planzlichen Drogen genannte Droge ebenso gut in Kap. 19.6, Pilzpolysaccharide, oder 19.7, Algenpolysaccharide, aufgeführt werden. „Stammpflanze“. Cetraria islandica L. und ist eine bis 10 cm hohe, Boden bewachsende Strauchlechte (Parmeliaceae), die weit verbreitet in den arktischen Gebieten der
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
nördlichen Hemisphäre und in Gebirgsregionen der gemäßigten Zonen vorkommt. Durch den Zusatz „sinu latiore (s. l.)“ (im weiteren Sinn) ist laut PhEur auch die früher als kleinwüchsige Varietät von C. islandica aufgefasste C. tenuifolia (Retz.) Howe (syn. C. ericetorum Opiz) als „Stammplanze“ zugelassen. Droge. Die von Hand gesammelten und sorgfältig ge-
reinigten hallusstücke werden getrocknet und dann zu Konservierungszwecken angefeuchtet, geschnitten und abermals getrocknet. Das Drogenmaterial besteht aus bis zu 15 cm langen, unregelmäßig gabelig verzweigten, oberseits grünlichbraun, unterseits grauweiß bis hellbräunlich gefärbten, brüchigen hallusstücken, die beim Befeuchten mit Wasser weich und ledrig werden. Die Droge kann mit Cladonia-Arten verfälscht sein, deren hallusstücke jedoch stielrund und nicht rinnenförmig oder lach sind.
Inhaltsstoffe Polysaccharide. Die halli enthalten mehr als 50% zum
großen Teil wasserlösliche Polysaccharide. Der größte Anteil entfällt auf das nur in heißem Wasser lösliche Lichenin (Lichenan), ein lineares E-d-Glucan mit einem DP von 60–200. Die Glucosebausteine sind in Lichenan zu etwa 70% E-(1o4)- und zu 30% E-(1o3)-glykosidisch verknüpt, sodass Cellobiose- und Cellotrioseeinheiten durch Laminaribiose getrennt sind ( > Abb. 19.20). Eine zweite Komponente ist das bereits in kaltem Wasser lösliche Isolichenin (Isolichenan), ein lineares D-d-Glucan mit einem mittleren DP von 42–44. Die Glucosebausteine sind zu etwa 55% durch D-(1o3)- und zu etwa 45% durch D-(1o4)-Bindungen verknüpt, wobei jedoch kein periodischer Bau wie im Lichenan zu erkennen ist. Neben diesen Glucanen kommen Glucomannane und glucuronsäurehaltige Polysaccharide vor.
. Abb. 19.20
70% β-(1→4)-Bindungen (Disaccharid: Cellobiose)
30% β-(1→3)-Bindungen (Disaccharid: Laminaribiose)
Lichenan, ein β-D-Glucan mit regulärem Aufbau aus Cellobiosebzw. Cellotriose- und Laminaribioseeinheiten
45% α-(1→4)-Bindungen (Disaccharid: Maltose)
55% α-(1→3)-Bindungen (Disaccharid: Nigerose)
Isolichenan, ein α-D-Glucan mit irregulärem Aufbau
Lichenan und Isolichenan. Strukturausschnitte aus dem β-D-Glucan Lichenan und dem α-D-Glucan Isolichenan, den beiden charakteristischen Polysacchariden von Isländisch Moos. Die Lichenanketten besitzen einen regulären Aufbau und bestehen aus 2 oder 3 Molekülen β-(1o4)-verknüpfter Glucopyranose, die durch eine β-(1o3)-verknüpfte Glucopyranose voneinander getrennt sind. Alternativ lässt sich Lichenan als Sequenz β-(1o4)-verknüpfter Cellobiose- bzw. Cellotrioseeinheiten und Laminaribioseeinheiten beschreiben. Demgegenüber lassen die Isolichenanketten aus α-(1o3)- und α-(1o4)-verknüpfter Glucose keinen regulären Aufbau erkennen
19.4 Polysacchariddrogen/Schleimdrogen
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. Abb. 19.21
Flechtensäuren. Die Fraktion der Flechtensäuren von Isländischem Moos enthält als Hauptkomponenten Fumarprotocetrarsäure, Protocetrarsäure und Cetrarsäure sowie (+)-Protolichesterinsäure und oft auch dessen Umlagerungsprodukt (-)-Lichesterinsäure. Flechtensäuren sind antibiotisch wirksame, aus Acetatresten aufgebaute Polyketide, die durch die Pilzkomponente des Flechtenthallus synthetisiert werden. Je nach Art des Ringschlusses besitzen sie das Substitutionsmuster der Orsellinsäure (z. B. Cetrarsäure) oder des 2,4,6-Trihydroxyacetophenons (z. B. Usninsäure). Die Cetrarsäuren sind Depsidone, die wie die Depside aus zwei esterartig verknüpften Hydroxybenzocarbonsäuren bestehen, aber zusätzlich noch eine Etherbrücke aufweisen. Die Usninsäure ist nur in Spuren in Isländisch Moos zu finden. Neben den aromatischen Flechtensäuren kommen in Isländisch Moos auch aliphatische Flechtensäuren vor wie die Protolichesterinsäure, ein labiles Fettsäure-γ-lacton mit amphiphilem Charakter. Die labile Substanz lagert sich bei der Aufarbeitung leicht in Lichesterinsäure um
Flechtensäuren. Isländisches Moos enthält ferner als
charakteristische Inhaltsstofgruppe aromatische und aliphatische Flechtensäuren ( > Abb. 19.21). Erstere, mit den Hauptkomponenten Fumarprotocetrarsäure, Protocetrarsäure und Cetrarsäure, gehören zu den Depsidonen (2– 3%). Der wichtigste Vertreter der aliphatischen Flechtensäuren ist die Protolichesterinsäure (1–2%), ein labiles Fettsäure-J-lacton mit amphiphilem Charakter.
Eigenschaften und Analytik Eigenschaften. Die Polysaccharide und Flechtensäuren
verleihen der Droge einen schleimigen, bitteren Geschmack. Gemessen am hohen Polysaccharidgehalt ist das Quellvermögen der Droge mit einer Quellungszahl von mindestens 4,5 eher mäßig.
Nach 2- bis 3-minütigem Sieden einer 10%igen Suspension von gepulverter Droge in Wasser entsteht eine graubraune Lösung, die beim Abkühlen ein Gel bildet. Dieses Phänomen ist dem E-d-Glucan Lichenan zuzuschreiben. Im Gegensatz zu reinen (1o4)-E-d-Glucanen (z. B. Cellulose) bzw. (1o3)-E-d-Glucanen (z. B. Curdlan) ist Lichenan in heißem Wasser löslich. Neben dem relativ niedrigen DP dürte hierfür der Wechsel zwischen E-(1o4)- und E-(1o3)-Bindungen verantwortlich sein, der die Ausbildung einer stabilen Kristallstruktur verhindert. Isolichenan ist bereits in kaltem Wasser löslich und ergibt im Unterschied zu Lichenan mit Iodlösung eine Blaufärbung. Diese für die Amylose charakteristische Eigenschat demonstriert, dass auch (1o3, 1o4)-D-d-Glucanketten in der Lage sind, Helices auszubilden, in die sich Iod einlagern kann.
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19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Analytische Kennzeichnung. Sowohl die Identiizierung als auch die Prüfung auf andere Flechtenarten, erfolgt mittels Dünnschichtchromatographie. Sie liefert ein für Isländisch Moos typisches Fingerprint-Chromatogramm der Flechtensäuren mit der charakteristischen Fumaprotocetrarsäure. Außerdem nutzt man zur Identiizierung die Gelbildung beim Abkühlen einer zum Sieden gebrachten Suspension der gepulverten Droge ( > oben).
Wirkung und Anwendung
Die Tagesdosis beträgt laut Monographie der Kommission E (BAz Nr. 43 vom 02.03.1989) für beide Indikationen 4–6 g Droge bei einer Einzeldosis von 1,5 g.
19.4.8
Johannisbrotkernmehl
Definition. Johannisbrotkernmehl, Ceratonia (syn. Korabenkernmehl, fälschlicherweise auch Karoben-Gummi, „locust bean gum“, E 410) besteht aus dem gemahlenen Endosperm der reifen Samen von Ceratonia siliqua L. (Fabaceae [IIB9a]).
Reizlindernde Wirkung. Ähnlich wie bei den Eibischpo-
lysacchariden wird in erster Linie die reizlindernde Wirkung durch die „einhüllenden“ Efekte von Lichenan und Isolichenan genutzt. Infuse oder andere galenische Zubereitungen des Drogenmaterials werden bei Schleimhautreizung im Mund- und Rachenraum und trockenem Reizhusten eingesetzt. Die therapeutische Relevanz der antibakteriell wirkenden Flechtensäuren ist ofensichtlich fraglich, denn neuerdings werden Isländisch Moos enthaltende Halspastillen nicht mehr als Arzneimittel, sondern als Medizinprodukte in den Verkehr gebracht, die deinitionsgemäß rein physikalisch wirken. Appetitanregende Wirkung. Die innerliche Anwen-
dung bei Appetitlosigkeit basiert auf den bitter schmeckenden und damit sekretionsanregenden Flechtensäuren. Hierzu werden vorzugsweise Kaltmazerate der Droge eingesetzt.
Stammpflanze. Der Karoben- oder Johannisbrotbaum,
Ceratonia siliqua L. (Fabaceae [IIB9a], früher Caesalpinaceae) ist ein im östlichen Mittelmeergebiet heimischer und heute im gesamten Mittelmeerraum sowie in den Subtropen und Tropen kultivierter Baum mit immergrünen, geiederten Blättern und büscheligen Blütentrauben, die im Herbst blühen. Von Interesse sind die im Frühjahr reifen Hülsenfrüchte, deren Samen, das Samenendosperm und die darin enthaltenen Galactomannanen. Neben dem Bockshornklee (Trigonella foenum-graecum L.) und der Büschelbohne (Cyamopsis tetragonolobus [L.] Taub.) ist der Johannisbrotbaum ein weiterer Vertreter aus der Ordnung der Fabales, dessen Leguminosenschleimstofe wirtschatlich genutzt werden. Gewinnung. Zur Gewinnung werden die reifen Samen
durch Vorbehandlung mit z. B. heißer Sodalösung aufge-
Infobox Johannisbrot, Ceratoniae fructus (syn. Karoben, „locust beans“). Die Früchte sind braunviolette, derbe, ca. 20 cm lange und 2–3 cm breite, platte, durch falsche Scheidewände gekammerte Gliederhülsen. Sie enthalten ein weiches, süßliches, später verhärtendes Fruchtfleisch (Mesocarp) und bis zu 15 Samen, die in von Häuten ausgekleideten Hohlräumen liegen. Nach der Legende ernährte sich Johannes der Täufer in der Wüste von diesen Früchten. Aufgrund ihres hohen Zuckergehaltes (5–14% Invertzucker, 25–40% Saccharose, 5,0– 7,5% D-Pinitol) schmecken die Karoben süß. Unreif geerntet dienen sie als Viehfutter. Der Presssaft aus dem Fruchtmus reifer Hülsen (Kaftan) wird als Getränk oder zur Alkoholgewinnung verwendet. Fruchtextrakte werden Spirituosen als Geschmackskorrigenzien zugesetzt und auch zur Aromatisierung von Kautabak und weiteren Genussmitteln verwendet.
Johannisbrotsamen, Ceratoniae semen (syn. Johannisbrotkerne, Karobensamen, „locust seeds“. Die glänzendbraunen, harten, abgeflachten, bis 11 mm langen und etwa 7 mm breiten Samen haben stets ein Gewicht von 180–200 mg. Deshalb wurden die von den Arabern als Karat bezeichneten Samen zum Wiegen von Edelsteinen und Gold genutzt. Die Masseneinheit Karat (1 Kt = 200 mg) wird auch heute noch bei Edelsteinen und als Maß für den Goldgehalt einer Legierung verwendet. Die Samen bestehen zu 23–25% aus dem proteinreichen Keimling und zu 42–46% aus dem polysaccharidreichen Endosperm; ihr Gehalt an fetten Ölen ist mit 2% relativ niedrig. Geröstete Samen werden zur Herstellung von Kaffeersurrogat verwendet (Karobenkaffee); der größte Anteil der Samen wird jedoch zu Johannisbrotkernmehl verarbeitet.
19.4 Polysacchariddrogen/Schleimdrogen
19
brochen und dann zwischen Walzen zerkleinert. Zunächst werden die zerkleinerten Teile der Samenschale und des Embryos durch Sieben entfernt, dann wird das fast intakt gebliebene, harte Endosperm pulverisiert. Das resultierende Johannisbrotkernmehl enthält je nach Reinheitsgrad mindestens 73% Galactomannane, das sog. Carubin. Im Handel wird zwischen hoch gereinigten Mehlen unterschiedlicher Korngröße und einem technischen „Gummi“ diferenziert, die sich in ihrem Proteingehalt, ihrem säureunlöslichen Rückstand und ihrer Viskosität unterscheiden.
Die Fließgrenze wird schon bei geringsten Scherkräten überschritten, und ihre Viskosität nimmt mit steigender Scherkrat stark ab, bis ein gewisser, von der Polymerkonzentration abhängiger Grenzwert erreicht ist. Von praktischer Bedeutung ist die Fähigkeit von Johannisbrotkernmehl, zusammen mit Xanthan oder N-Carrageenan bereits in sehr niedrigen Konzentrationen sog. binäre Gele zu bilden, in denen die beiden Polymere synergistisch wirken. Wie andere Galactomannane bietet Johannisbrotkernmehl gute Voraussetzungen für das Wachstum von Mikroorganismen.
Inhaltsstoffe
Verwendung als technologischer Hilfsstoff. Wegen seiner physikochemischen Eigenschaten wird Johannisbrotkernmehl vielseitig für technologische Zwecke eingesetzt ( > Tabelle 19.2; > Guar). Besonders in der Lebensmittelindustrie wird es häuig als Binde- und Dickungsmittel und Emulsionsstabilisator verwendet. In Eiscreme beispielsweise verhindert es aufgrund seiner wasserbindenden und viskositätserhöhenden Eigenschaten die Eiskristallbildung und sorgt dafür, dass sich die Konsistenz auch bei Temperaturschwankungen nicht verändert.
Johannisbrotkernmehl. Ähnlich wie Guar, das gemahle-
ne Endosperm der Samen von Cyamopsis tetragonolobus (L.) Taub., besteht Johannisbrotkernmehl zum großen Teil (73–90%) aus Galactomannanen (Carubin); der Rest entfällt auf weitere Kohlenhydrate (Cellulose, Hemicellulosen, Pektin, Saccharose), Protein, mineralische Bestandteile sowie freie und gebundene Isobuttersäure. Carubin. Carubin hat eine mittlere Mr von etwa 300.000 und besteht aus d-Galactose und d-Mannose im molaren Verhältnis 1:4. Die Hauptkette aus E-(1o4)-verknüpten Mannoseeinheiten ist am C-6 mit einzelnen D-d-Galactoseeinheiten verzweigt. Im Gegensatz zum Guaran sind die Galactosereste nicht gleichmäßig entlang des Mannoserückgrats verteilt, sondern es treten abwechselnd lineare Abschnitte und substituierte Blöcke auf, wobei die Galactosesubstituenten paarweise nebeneinander oder einzeln autreten.
Eigenschaften und Verwendung Löslichkeit, Viskosität und Gelbildung. Das Carubin ist
für die viskositätserhöhenden und gelbildenden Eigenschaten von Johannisbrotkernmehl verantwortlich. Johannisbrotkernmehl ist in heißem Wasser löslich, löst sich im Gegensatz zu Guar in kaltem Wasser jedoch nur teilweise (ca. 30%), was mit dem geringeren Verzweigungsgrad erklärt wird. Nach 10-minütigem Erhitzen bei 80 °C bildet sich beim Abkühlen ein Schleim (1%) oder ein trübes Gel (3%). Charakteristisch für wässrige Johannisbrotkernmehlzubereitungen ist ihr pseudoplastisches Fließverhalten.
Wirkung und Anwendung
! Kernaussage
Johannisbrotkernmehl wird hauptsächlich im Lebensmittelbereich verwendet, kann aber auch als Antidiarrhoikum eingesetzt werden.
Als löslicher Ballaststof wird Johannisbrotkernmehl wie Guar in energiereduzierten Diätetika eingesetzt. Ähnlich wie Guar scheint es die postprandialen Blutzuckerspiegel und auch die Cholesterinserumkonzentration zu senken, ist aber im Gegensatz zu Guar nicht als Arzneimittel für diese Anwendung zugelassen. Eine gewisse Bedeutung hat es demgegenüber als nebenwirkungsarmes Antidiarrhoikum zur Behandlung von Durchfallerkrankungen, insbesondere bei Säuglingen, Kleinkindern und Kindern. Neben der Wasserbindung wird auch eine Hemmung der Adhäsion von Bakterien an die Darmschleimhaut als Beitrag zur Wirkung diskutiert.
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19 19.4.9
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Leinsamen
Definition. Leinsamen, Lini semen, PhEur 5, bestehen
aus den getrockneten, reifen Samen von Linum usitatissimum L. Stammpflanzen. Lein oder Flachs (Linum usitatissimum
L., Linaceae [IIB12d]) bietet eine breite Palette an Nutzungsmöglichkeiten (Textilien, Ölgewinnung, Pharmazie) und gehört daher zu den ältesten, weltweit verbreiteten Kulturplanzen. Die ein- oder mehrjährige, bis 1 m hoch werdende Planze besitzt lanzettliche, sitzende Blätter und in rispigen Wickeln angeordnete blassblaue Blüten. Sie bildet kugelig-eiförmige Kapselfrüchte mit mehreren lachen, mehr oder weniger glänzenden, gelben bis dunkelbraunen Samen. Die wichtigsten Kulturformen im heutigen Anbau sind die ssp. usitatissimum (= var. vulgare Boeningh.), der Schließ- oder Dreschlein, bei dem die Kapseln bei Fruchtreife geschlossen bleiben, und die ssp. crepitans, (Boeningh.) Vavilov et Elladi, der Spring- oder Klanglein, dessen reifen Kapseln aufspringen. Während der Springlein vorwiegend zur Gewinnung von Samen und Leinöl angebaut, wird der Dreschlein sowohl als wenig verzweigter, langsprossiger Faserlein als auch als reich verzweigter, niedrig wachsender Samen- bzw. Öllein kultiviert. Bevorzugt wird heute der sog. Kreuzungslein, der für beide Zwecke geeignet ist. Droge. Der oizinelle Leinsamen ist dunkel rötlichbraun,
länglich eiförmig, 4–6 mm lang, 2–3 mm breit und 1,5– 2 mm dick. Es werden reife Samen gefordert, da diese den höchsten Schleimgehalt aufweisen. Daneben gibt es im Handel gelbe Samen, die von schleimreichen speziell gezüchteten Sorten stammen. Leinsamen sind geruchlos und schmecken beim Kauen ölig-schleimig; in Wasser bildet sich eine Schleimhülle um den Samen.
Inhaltsstoffe Die Samen enthalten etwa 25% Gesamtballaststofe, wobei 3–10% als wasserlösliche Schleimpolysaccharide in der Epidermis der Samenschale lokalisiert sind. Ferner sind 30–40% fettes Öl, ca. 25% Proteine, 0,7% Phosphatide und 0,1–1,5% cyanogene Glykoside vorhanden.
Leinöl. Die ölreichen Samen werden seit Jahrhunderten
als Ölquelle verwendet. Leinöl wird durch kalte Pressung aus den zerkleinerten Leinsamen gewonnen ( > auch Kap. 22, v. a. Abschnitt 22.10. Es ist klar, hellgelb bis grünlich gefärbt, von charakteristischem Geruch und geringer Viskosität. Mit einem Gehalt von 40–60% D-Linolensäure (ALA) ist es ernährungsphysiologisch gesehen sehr wertvoll, wird allerdings als ein typisches trocknendes Öl auch schnell ranzig. Diese Oxidationsempindlichkeit nutzt man in der Malerei: In dünner Schicht erstarrt Leinöl innerhalb von 24–36 h zu einem festen transparenten Film und stellt daher die Grundlage für Ölfarben dar. Polysaccharide. Die für die therapeutische Wirkung ver-
antwortliche Ballaststoffraktion (ca. 25%) setzt sich zu etwa 60% aus Cellulose und unlöslichen Hemicellulosen und zu etwa 40% aus löslichen Schleimstofen zusammen. Letztere sind als sekundäre Verdickungsschicht den äußeren und seitlichen Wänden der Epidermiszellen der Samenschale aufgelagert. Sie können in eine neutrale Pentosanfraktion und zwei saure, pektinartige Fraktionen getrennt werden: x Neutrale Pentosanfraktion: Ihr Anteil am Gesamtschleimkomplex beträgt etwa 20%. Es handelt sich um verzweigte Arabinoxylane, die bei der Hydrolyse 70% Xylose und 25% Arabinose, daneben Spuren von Glucose und Galactose ergeben ( > Abb. 19.22). x Saure Fraktion I: Etwa 15% der Gesamtschleimpolysaccharide entfallen auf verzweigte Rhamnogalacturonane. Ihr Uronsäuregehalt beträgt etwa 40%, und bei der Hydrolyse werden Rhamnose, Galacturonsäure und Galactose im Verhältnis von etwa 2:2:1 freigesetzt. x Saure Fraktion II: Diese schwächer saure Fraktion macht mit ca. 65% den Hauptanteil der Gesamtschleimpolysaccharide aus. Das hochmolekulare, verzweigte Rhamnogalacturonan besteht aus Rhamnose, Galacturonsäure, Galactose und Fucose im Verhältnis 4:2:2:1. Es wird ein Rhamnogalacturonan vom Typ I vorgeschlagen, bei dem die Rhamnose der Hauptkette am C-4 mit Galactose verzweigt ist. Der Anteil an quellfähigen Hydrogelen ist sortenspeziisch; Die PhEur 5 fordert eine Quellungszahl von mindestens 4 für ganzen und 4,5 für geschroteten Leinsamen. Für die Quellfähigkeit scheint neben den eigentlichen Schleimpolysacchariden auch die Proteinfraktion von Bedeutung zu sein.
19.4 Polysacchariddrogen/Schleimdrogen
19
. Abb. 19.22
Arabinoxylane. Ein typisches Arabinoxylan besteht aus einer Hauptkette aus β-D-Xylopyranose und α-L-Arabinofuranose enthaltenden Seitenketten. Ein derartiges neutrales Pentosan aus ca. 70% Xylose und 25% Arabinose kommt beispielsweise im Leinsamenschleim vor. Die Samenschleime von Flohsamen, Indischen Flohsamen und anderen Plantago-Arten enthalten hingegen komplex zusammengesetzte, saure Arabinoxylane. Seitenketten sind für den sauren Charakter verantwortlich und enthalten als Bausteine neben α-L-Arabinofuranose D-Xylose und L-Rhamnose sowie D-Galacturonsäure und bei Indischem Flohsamen noch 4-O-Methyl-D-Glucuronsäure.
Infobox Cyanogene Glykoside der Leinsamen. In reifen Leinsamen sind die Blausäureglykoside Linustatin und Neolinustatin nachweisbar, Linamarin kommt nur in Spuren vor. Linustatin und Neolinustatin sind Cellobioside des 2-Methyl-2-hydroxypropan- bzw.-butannitrils ( > Abb. 19.23). Erst bei der Keimung nimmt der Anteil der Monoglykoside Linamarin und Lotaustralin auf Kosten der Digluocside zu. Enzymatisch (Linustatinase, Linamarase, D-Hydroxynitril-Lyase) können die Substanzen in Glucose, HCN und Aceton bzw. Ethylmethylketon gespalten werden. Wegen der relativ hohen Konzentration (0,1–1,5%) an cyanogenen Glykosiden wurden mögliche Blausäureintoxikationen (tödliche Dosis ca. 1 mg/kg KG) nach der Einnahme von Leinsamen diskutiert. Im Gegensatz zu tödlichen Vergiftungen mit Bitteren Mandeln aufgrund ihres Gehalts an 2– 3% Amygdalin (bei Kleinkindern genügen 5–10 Mandeln),
Wirkung und Anwendung
! Kernaussage
Leinsamen ist ein beliebtes, aber den Indischen Flohsamenschalen unterlegenes Quellungslaxans.
führten jedoch weder eine Einmaldosis von 100 g, noch Dosen von täglich 50 g über längere Zeiträume beim Menschen zu Vergiftungserscheinungen. Dies hat wahrscheinlich mehrere Gründe: Zum einen werden die cyanogenen Glykoside zumindest aus der Ganzdroge nur sehr schlecht freigesetzt. Ferner werden die Nitrile im Magen sehr langsam gespalten, da der stark saure pH-Wert für die cyanogenen Enzyme unvorteilhaft ist. Die Bildung von Blausäure ist daher verlangsamt, sodass das schnell funktionierende Entgiftungssystem nicht erschöpft wird. Denn die Rhodanase, eine Sulfattransferase, kann 30– 60 mg HCN pro Stunde durch Reaktion mit in der Leber gebildetem Thiosulfat in das weniger giftige Thiocyanat überführen. Schließlich dürfte Blausäure, die im Magen freigesetzt wird, durch die Salzsäure teilweise im Magen zu Ameisensäure und Ammoniumchlorid umgewandelt werden.
Laxierende Wirkung. Da die unverdaulichen, quellenden
Schleimstofe in der Epidermis der Leinsamen lokalisiert sind, quellen auch unzerkleinerte Leinsamen auf das Mehrfache ihres Volumens. Die Kolloidstruktur des Schleims ist recht stabil und bleibt sowohl im sauren Magenmilieu als auch im schwach alkalischen Dünndarm erhalten. Die Einnahme ungeschroteter Samen mit ausreichend Flüssigkeit (10fache Menge) führt zu einer Erhö-
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602
19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
. Abb. 19.23
hung des Stuhlvolumens und macht den Stuhl weicher und gleitfähiger. Durch den Volumenreiz wird die Darmperistaltik angeregt. Neben den Schleimpolysacchariden tragen wahrscheinlich auch die unlöslichen Ballaststofe zur stuhlregulierenden Wirkung bei ( > Kap. 19.2.11). Beide Fraktionen werden teilweise durch die Dickdarmlora zersetzt. Anwendung. In entsprechender Dosierung (Tagesdosis
30–50 g) können Leinsamen als Quellungslaxans bei leichten Formen der chronischen Obstipation, bei Colon irritabile und Divertikulitis und auch als Nahrungsergänzungsmittel bei ballaststofarmer Diät verwendet werden. Mit Wirkungseintritt ist allerdings erst nach einer Latenzzeit von mehreren Tagen zu rechnen. Um die Quellung zu fördern, ist es sinnvoll, den Leinsamen leicht zu quetschen („Anbrechen“). Zusätzlich verstärkt das aus den geschroteten Samen austretende Öl den rheologischen Efekt der Polysaccharide. Allerdings ist sowohl die hohe kalorische Belastung durch die Absorption des freigesetzten Öls zu berücksichtigen als auch die geringe Lagerstabilität (max. 24 h), da die mehrfach ungesättigten Fettsäuren sich sehr schnell an der Lut zersetzen. Weitere Anwendungen und Wirkungen. Laut Monogra-
phie der Kommission E (BAz Nr. 228 vom 05.12.1984)
kann Leinsamen als Schleimzubereitung auch bei Gastritis und Enteritis und als feuchtheißes Kataplasma bei lokalen Entzündungen eingesetzt werden. In klinischen Studien konnte ferner gezeigt werden, dass bei Gaben von 50 g Leinsamen über mehrere Wochen das Gesamtcholesterol um 9% und LDL um 18% gesenkt wird.
19.4.10 Lindenblüten Definition. Lindenblüten, Tiliae los PhEur 5, bestehen aus den ganzen, getrockneten Blütenständen von Tilia cordata Miller, Tilia platyphyllos Scop., Tilia u vulgaris Heyne oder eine Mischung der genannten Arten. Die Droge wird aufgrund ihrer phenolischen Inhaltsstofe ausführlich > S. 1232 besprochen. Schleimpolysaccharide. Lindenblüten enthalten Schleim-
stofe (ca. 10%), Flavonoide (ca. 1%), Gerbstofe vom Catechin- und Gallocatechintyp (ca. 2%), ätherisches Öl mit über 70 Komponenten (ca. 0,02%) sowie dimere Procyanidine, Chlorogen- und Kafeesäurederivate. Hauptkomponenten der Flavonoidfraktion, die zur Identiizierung der Droge via Dünnschichtchromatographie herangezogen wird, sind Quercetinglykoside (v. a. Isoquercitrin, Rutin, Hyperosid, Quecitrin, das 3-O-Gluco-
19.4 Polysacchariddrogen/Schleimdrogen
sid-7-O-rhamnosid und ein Rhamnoxylosid) und Kämpferolglykoside (v. a. Astragalin und dessen Cumarsäureester Tilirosid (Kämpferol-3-(6-O-p-cumaroylglucosid), das 3-O-Glucosid-7-O-rhamnosid und das 3,7-Di-Orhamnosid). Die Schleimstofe kommen besonders in den Hochblättern vor und sind für das ausgesprochene Quellvermögen der Droge verantwortlich (Quellungszahl etwa 32). Das komplexe Gemisch enthält sowohl saure als auch neutrale Fraktionen mit unterschiedlichem Molekulargewicht. Der Uronsäuregehalt liegt bei etwa 50%. Hinweis. Lindenblüten- und Holunderblütentee sind alte
Hausmittel bei ieberhaten Erkältungen. Im Gegensatz zu den Holunderblüten, die keine Schleimpolysaccharide enthalten, schließt die Monographie der Kommission E (BAz Nr. 164 vom 01.09.1990) als Indikation für Lindenblüten explizit Husten ein. Der Hustenreiz lindernde Effekt bei Katarrhen der Lutwege wird den Schleimstofen zugeschrieben.
19.4.11 Malvenblüten und -blätter
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Inhaltsstoffe Schleimpolysaccharide. Die Schleimpolysaccharide
kommen in Idioblasten und auch in größerem Schleimhöhlen vor. Sie sind ähnlich wie die des Eibisch ( > Kap. 19.4.3 und Infobox „Schleimdrogen der Malvaceen“, S. 588) aufgebaut und setzen sich aus verschiedenen Polysacchariden zusammen, wobei hochmolekulare Rhamnogalacturonane dominieren. Für die Blüten wird ein Gehalt von 6–7% (ohne Kelchblätter ca. 9%), für die Blätter von etwa 8% angegeben. Der Uronsäureanteil des Blattbzw. Blütenrohschleims liegt bei etwa 8% bzw. 24%, der der sauren, hochmolekularen Fraktion des Blütenschleims sogar bei ca. 37% (Classen u. Blaschek 1998). Wie bei den Schleimstofen von Eibisch und anderen Malvaceen indet man auch hier als typisches Strukturelement die Sequenz: d-GlcA-(1o3)-d-GalA-(1o2)-l-Rha, wobei die die Glucuronsäure als Verzweigung der Rhamnogalacturonanhauptkette autritt. Die Quellungszahl für die Blüten soll laut PhEur 5 mindestens 15 betragen.
Definition. Malvenblüten, Malvae los, PhEur 5, bestehen
aus den ganzen oder geschnittenen, getrockneten Blüten von Malva sylvestris L. oder ihren kultivierten Varietäten. Stammpflanzen der Bütendroge. Für die Gewinnung der Blütendroge werden hauptsächlich die Wilde Malve, Malva sylvestris L. ssp. sylvestris (Malvaceae [IIB16b]) und die Gartenmalve (syn. Mauretanische Malve) Malva sylvestris ssp. mauritiana (L.) Asch. et Graebn. verwendet. Die bis 1 m hoch werdenden Stauden besitzen lang gestielte, 3- bis 7-lappige Blätter; die Blüten weisen neben Krone (5–10 Blätter) und Kelch (5–8 Blätter) einen Außenkelch (3 Blätter) und als typisches Familienmerkmal zu einer Röhre verwachsene Filamente auf. Wegen ihrer intensiv rotvioletten Farbe werden die Blüten der Gartenmalve heute gegenüber den rosafarbenen Blüten der Wilden Malve bevorzugt. Stammpflanzen der Blattdroge. Die nicht oizinelle Blattdroge, Malvae folium, stammt von Malva sylvestris L. und Malva neglecta Wallr., Gemeine Malve, wobei Letztere allerdings nicht angebaut wird. Die beim Trocknungsprozess stark geschrumpten und gefalteten Blätter kommen zumeist verpresst in den Handel.
Anthocyane. In den Blüten sind ferner Flavonoide vor-
handen, in erster Linie Anthocyane (6–7%), die für die Blütenfarbe verantwortlich sind. Als Aglykone wurden Malvidin (ca. 77%) und Delphinidin (ca. 19%) neben Spuren von Petunidin und Cyanidin gefunden. Durch Nachweis der Hauptkomponenten 6cc-Malonylmalvin (ca. 50%) und Malvin (Malvidin-3,5-diglucosid) wird die Droge via Dünnschichtchromatographie identiiziert. In den Blättern sind eher selten vorkommende sulfatierte Flavonolglucoside nachgewiesen worden.
Wirkung und Anwendung
! Kernaussage
Malvenblüten sind eine beliebte Schmuckdroge in Brust- und Hustentees.
Malvenblüten und -blätter zeigen ähnliche Wirkungen wie die Eibischwurzel und werden bei Schleimhautreizungen im Mund- und Rachenraum und damit verbundenem trockenem Reizhusten verwendet (Monographie der Kom-
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604
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
mission E, BAz Nr. 43 vom 02.03.1989). Im Gegensatz zu Eibischwurzel werden sie ausschließlich in Form von Tees eingesetzt, wofür sie allerdings als weitgehend stärkefreie Drogen besser geeignet sind. Malvenblüten stellen aufgrund ihrer Farbigkeit eine beliebte Schmuckdroge in Teemischungen dar.
19.4.12 Spitzwegerichblätter Definition. Spitzwegerichblätter, Plantaginis lanceolatae folium, PhEur 5, bestehen aus den getrockneten, ganzen oder zerkleinerten Blättern und Blütenschäten von Plantago lanceolota L. s. l.; Gehalt: mindestens 1,5% Gesamtortho-Dihydroxyzimtsäure-Derivate, berechnet als Acteosid (C29H36O15 ; Mr 625), bezogen auf die getrocknete Droge ( > Abb. 19.24). Die Droge wird aufgrund ihrer phenolischen Inhaltsstofe ausführlich S. 829 besprochen. Schleimpolysaccharide. Spitzwegerichblätter enthalten
2–6% Schleimpolysaccharide, die sich aus neutralen und mehreren sauren Polysacchariden zusammensetzen. Es wurden ein hochmolekulares, hochverzweigtes Rhamno-
galacturonan mit Arabinogalactan-Seitenketten sowie ein Arabinogalactan und ein Glucomannan identiiziert. Die Hydrolyse ergab folgende Monosaccharidbausteine: Galacturonsäure (30–35%), Galactose (28–44%), Arabinose (20–32%), Glucuronsäure (6–7%), Glucose (6–9%), Rhamnose (4–7%) und Mannose (2–4%). Somit unterscheiden sich die Schleimpolysaccharide der Spitzwegerichblätter deutlich von den sauren Arabinoxylanen der Plantago-Samen. Hinweis. Die Monographie „Spitzwegerichblätter“ wurde
mit dem 4. Nachtrag (2003) in die PhEur 4 aufgenommen und hat damit die DAB-Monographie „Spitzwegerichkraut“ ersetzt. Der Wechsel von der „Krautdroge“ zur „Blattdroge“ ist in der Praxis unbedeutend, da die oberirdischen Teile der Planze außerhalb der Blütezeit fast ausschließlich aus den grundständigen Blättern bestehen. Die Veränderungen in den analytischen Prüfungen sind demgegenüber tiefgreifend und dokumentieren eindrucksvoll . Abb. 19.25
. Abb. 19.24
Aucubin
Acteosid (= Verbascosid)
Phenylethanoide. Acteosid (syn. Verbascosid) ist der prominenteste Vertreter dieser gerbstoffartigen, polyphenolischen Verbindungsklasse. Seine Konzentration in Spitzwegerichblättern liegt zwischen 3 und 8%. Acteosid und verwandte Verbindungen können auch als Phenylpropanderivate angesehen werden, denn es handelt sich um Ester aus Kaffeesäure (3,4-Dihydroxyzimtsäure) und Phenylethanolglykosiden. Bei Acteosid ist das C-4, bei Isoacteosid das C-6 der Glucoseeinheit von β-(3’,4’-Dihydroxyphenyl)ethylO-α-L-rhamnopyranosyl-(1o3)-β-D-glucopyranosid mit Kaffeesäure verestert. Bei Spitzwegerichblättern dient Acteosid als Leitsubstanz. Darüber hinaus kommt Acteosid häufig in Pflanzen der Familien Lamiaceae, Oleaceae, Scrophulariaceae und Verbenaceae vor
Catalpol
Iridoidglykoside. Spitzwegerichblätter enthalten ca. 2% C9-Iridoidglykoside mit Aucubin und Catalpol als Hauptverbindungen. Der Iridoidgehalt ist vom Alter abhängig. In den jüngsten Blättern kann er bis 9% betragen, während in den ältesten Blättern nur noch Spuren auftreten. In den jungen Blättern dominiert Catalpol, in älteren Aucubin. In Abhängigkeit von der Jahreszeit wurden 1–3% Aucubin und bis zu 1% Catalpol in der Droge gefunden. Das Vorkommen von Iridoidglykosiden ist in der Gattung Plantago weit verbreitet. Aucubin und verwandte Verbindungen wurden in Samen, Wurzeln und Blättern vieler Arten in Konzentrationen von 0,1 bis 1,7% nachgewiesen, so auch in Flohsamen und Indischen Flohsamen. Ferner sind sie typische Inhaltstoffe von Scrophularia sp. Auch Wollblumen (Scrophulariaceae) enthalten Aucubin; allerdings ist der Iridoidgehalt mit 0,13–0,56% etwa 10-mal niedriger als in Spitzwegerichblättern
19.4 Polysacchariddrogen/Schleimdrogen
den Einluss neuerer wissenschatlicher Erkenntnisse auf die Beurteilung der Droge: Während die Monographie des DAB 1999 noch die für Schleimdrogen übliche Quellungszahl (mind. 6) bestimmen ließ, wird heute auf die Wertbestimmung der Schleimstofe als Qualitätskriterium verzichtet. Stattdessen wird die kolorimetrische Gehaltsbestimmung der ortho-Dihydroxyzimtsäure-Derivate gefordert und damit Acteosid als wertbestimmende Leitsubstanz klassiiziert. Außerdem wurden Acteosid und Aucubin (ein Iridoidglykosid > Abb. 19.25) als teure Referenzsubstanzen für die Identiizierung mittels Dünnschichtchromatographie eingeführt. Spitzwegerichblätter werden demzufolge nicht mehr als Schleimdroge gesehen. Aufgrund ihrer experimentell nachgewiesenen antibakteriellen und antiinlammtorischen Wirkungen fokussiert man heute auf Inhaltsstofe wie Aucubin und Acteosid. Allerdings ist die jeweilige Relevanz dieser und anderer Inhaltsstofe für die therapeutische Wirksamkeit der Droge noch nicht eindeutig geklärt.
! Kernaussage
Spitzwegerichblätter wirken reizlindernd, antibakteriell und antiinflammatorisch.
19.4.13 Wollblumen/Königskerzenblüten Definition. Königskerzenblüten/Wollblumen, Verbasci
los PhEur 5, bestehen aus den getrockneten, auf die Kronblätter mit angewachsenen Staubblättern reduzierten Blüten von Verbascum thapsus L., Verbascum densilorum Bertol. (V. thapsiforme Schrad.) und Verbascum phlomoides L. Die Droge wird aufgrund ihrer phenolischen Inhaltsstofe ausführlich S. 830 besprochen. Schleimpolysaccharide. Wollblumen enthalten ca. 3%
Schleimpolysaccharide, die der Droge ein gemessen am Gehalt ausgeprägtes Quellvermögen verleihen (Quellungszahl mind. 9). Als neutrale Komponenten wurden ein Xyloglucan und ein Arabinogalactan identiiziert. Das Hauptpolysaccharid der uronsauren Fraktion ist ein hochverzweigtes Arabinogalactan mit einer Hauptkette aus E-(1o6)-verknüpten Galactoseeinheiten. Neben den Schleimstofen ist Invertzucker (11%) für den süßen, schleimigen Geschmack der Droge verantwortlich. Hinweis. Wollblumen werden gerne als Schmuckdroge in
Hustentees verwendet. Sie sind aufgrund ihrer milden Wirkung und ihres angenehmen Geschmacks beliebt für die Anwendung in der Pädiatrie.
! Kernaussagen x
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Polysacchariddrogen (syn. Schleimdrogen) enthalten als charakteristische Inhaltsstoffklasse quellfähige Struktur- und/oder Reservepolysaccharide, die als Hydrokolloide in Wasser viskose Lösungen oder Hydrogele ergeben (Pflanzenschleime). Die „Schleimfraktion“ besteht i. d. R. aus einer Mischung mehrerer verschiedener Polysaccharide komplexer, variabler Struktur (Mr 5×104–106). Die Ermittlung der Quellungszahl ist die typische Wertbestimmung zur Qualitätsprüfung von Schleimdrogen. Eine Viskositätsmessung wird laut PhEur 5 nur bei Guar und Guargalactomannan durchgeführt. Die Anwendung von Schleimdrogen bzw. -zubereitungen basiert primär auf den physikalischen Eigenschaften der Polysaccharide. Die Polysaccharide bilden viskose Lösungen bzw. Hydrogele, die ab-
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deckend und reizlindernd, puffernd und adsorbierend sowie resorptionsvermindernd wirken; in einigen Fällen wird ihre Quellfähigkeit genutzt. Infolgedessen dienen die Schleimdrogen überwiegend zur lokalen Behandlung von Beschwerden im Mund- und Rachenraum und im Magen-Darm-Trakt. Bockshornsamen (Trigonella foenum-graecum L.) enthalten 25–40% Galactomannane (Leguminosenschleimstoffe) ( > Guar, Johannisbrotkernmehl). Sie werden hauptsächlich als Gewürz verwendet. Bei einer Tagesdosis von 100 g Samen konnte eine Senkung der Glucose-, Cholesterol- und Triglyceridplasmaspiegel nachgewiesen werden. Eibischwurzel und -blätter (Althaea officinalis L.) enthalten 10–20% bzw. 5–10% Schleimpolysaccharide, deren Hauptanteil auf verzweigte Rhamnogalacturonane neben Arabinogalactanen und Glucanen entfällt. Die Drogen werden vorwiegend bei Schleimhautrei-
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
zungen im Mund- und Rachenraum eingesetzt. Eibischwurzel ist eine der bedeutendsten antitussiv wirkenden Drogen. Auch andere Malvaceen enthalten ähnliche Schleimstoffe und werden als Teedrogen genutzt. Flohsamen (Plantago afra L., Plantago indica L.) und Indische Flohsamen und -schalen (Plantago ovata) enthalten in der Epidermis der Samenschale einen hohen Gehalt an verzweigten, sauren Arabinoxylanen. Die Drogen werden als hochpotente, sehr gut verträgliche Quellstoffe zur Normalisierung des Stuhls eingesetzt. Guar besteht hauptsächlich aus bereits in kaltem Wasser löslichen Galactomannanen (Guaran) des Endosperms von Cyamopsis tetragonolobus (L.) TAUB. (Leguminosenschleimstoffe; > Bockshornsamen, Johannisbrotkernmehl). Guargalactomannan ist das Teilhydrolysat von Guar. Wegen ihrer viskositätserhöhenden bzw. gelbildenden Eigenschaften haben sich Guaran und Guargalactomannan zu wichtigen technischen Hilfsstoffen entwickelt. In der Medizin wird Guar als Zusatztherapeutikum bei Patienten mit Diabetes und Hypercholesterinämie verwendet. Huflattichblätter (Tussilago farfara L.) enthalten u. a. eine komplex zusammengesetzte Polysaccharidfraktion (6–10%). Früher wurde die Droge als pflanzliches Hustenmittel verwendet, hat aber heute wegen ihres Gehaltes an Pyrrolizinalkaloiden an Bedeutung verloren. Die Flechtenthalli des Isländischen Mooses (syn. Isländische Flechte Cetraria islandica [L.] ACHARIUS s. l.) enthalten > 50% Polysaccharide. Die Hauptkomponenten sind das gelbildende lineare (1o4/1o3)E-D-Glucan Lichenin und das kaltwasserlösliche lineare (1o3/1o4)-D-D-Glucan Isolichenin. Zubereitungen werden bei Reizhusten und Appetitlosigkeit (Flechtensäuren) eingesetzt. Johannisbrotkernmehl besteht hauptsächlich aus den in heißem Wasser löslichen Galactomannanen (Carubin) des Endosperms von Ceratonia siliqua L., Fabaceae (Leguminosenschleimstoffe; > Bockshornsamen, Guar). Wegen ihrer viskositätserhöhenden bzw. gelbildenden Eigenschaften dient es
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v. a. in der Lebensmittelindustrie als technischer Hilfsstoff. In der Medizin wird Johannisbrotkernmehl als Antidiarrhoikum bei Durchfallerkrankungen eingesetzt. Leinsamen (Linum usitatissimum L., Linaceae) enthalten etwa 25% Gesamtballaststoffe, die sich zu etwa 60% aus Cellulose und unlöslichen Hemicellulosen und zu etwa 40% aus löslichen Schleimstoffen zusammensetzen. Letztere (3–10%) bestehen aus zwei sauren, pektinartigen Fraktionen (verzweigte Rhamnogalacturonane) und einer neutralen Pentosanfraktionen (verzweigte Arabinoxylane). Leinsamen ist ein beliebtes, aber den Indischen Flohsamenschalen, unterlegenes Quellungslaxans. Lindenblüten (Tilia cordata MILLer, Tilia platyphyllos SCOP., Tilia u vulgaris HEYNE) enthalten u. a. etwa 10% komplex zusammengesetzte Schleimstoffe mit einem Uronsäuregehalt von 50%. Wie Holunderblüten wird die Droge als Diaphoretikum bei Erkältungskrankheiten, zusätzlich aber auch bei erkältungsbedingtem Husten eingesetzt. Malvenblüten und -blätter (Malva silvestris L.,) enthalten 6–7% bzw. ca. 8% Schleimpolysaccharide, die denen des Eibisch ähnlich sind und sich aus Rhamnogalacturonanen, Arabinogalactanen und Glucanen zusammensetzen. Die Drogen werden bei Schleimhautreizungen im Mund- und Rachenraum und damit verbundenem Reizhusten eingesetzt. Malvenblüten sind eine beliebte Schmuckdroge in Teemischungen. Spitzwegerichblätter (Plantago lanceolata L.) enthalten 2–6% reizlindernde Schleimstoffe (hochverzweigtes Rhamnogalacturonan, Arabinogalactan, Glucomannan). Für die antibakteriellen, antiinflammatorischen und adstringierenden Wirkaspekte macht man die Phenylethanoidglykoside (Acteosid), Iridoidglykoside (Aucubin) und Gerbstoffe verantwortlich. Die Droge wird v. a. bei entzündlichen Atemwegserkrankungen eingesetzt. Königskerzenblüten/Wollblumen (Verbascum sp.) enthalten neben anderen Inhaltsstoffen ca. 3% Schleimpolysaccharide (Xyloglucan, Arabinogalactan). Sie werden als mild wirkende, angenehm schmeckende Schmuckdroge in Hustentees geschätzt.
19.5 Bakterienpolysaccharide
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Schlüsselbegriffe Acteosid Anthocyane Antidiarrhoikum Antitussivum Arabinane Arabinogalactane Arabinoxylane Aucubin Bockshornsamen Carubin Cyanogene Glykoside Eibischwurzel und -blätter Flechtensäuren Flohsamen Galactomannane Gastritische Beschwerden Gelbildung
19.5
Glucane Guar Guaran Guargalactomannan Huflattichblätter Hustentees Indische Flohsamen und -schalen Isländisches Moos/Isländische Flechte Isolichenin Johannisbrotkernmehl Königskerzenblüten/Wollblumen Leguminosenschleimstoffe Leinsamen Lichenin Lindenblüten Malvaceenschleimstoffe Malvenblätter und -blüten
Bakterienpolysaccharide
Im Vergleich zur langen Tradition der Nutzung planzlicher Polysaccharide ist das Interesse an Polysacchariden bakteriellen Ursprungs relativ jung und eng an die Fortschritte im Bereich der Mikro- und Molekularbiologie, Biotechnologie und Kohlenhydratanalytik gekoppelt. Der Pionier unter den bakteriellen Polysacchariden ist das Dextran, das bereits seit 1947 als Plasmaersatzmittel in der Medizin eingesetzt wird. Ferner hat sich mittlerweile Xanthan einen Stellenwert in der pharmazeutischen Technologie erobert. Die Suche nach Hydrokolloiden mit verbesserten und neuen Eigenschaten hat zur Entwicklung weiterer biotechnisch produzierter Bakterienpolysaccharide geführt wie beispielsweise Acetobacter-Cellulose ( > Kap. 19.2.3), Hyaluronsäure ( > Kap. 20.2.2), Gellan, Welan, Curdlan, die bereits in verschiedenen Bereichen, von der pharmazeutischen Technologie bis hin zur Baustoindustrie (z. B. in Zement und Mörtel) und Umwelttoxikologie (Adsorption von Schwermetallen), Verwendung inden (Sutherland 1998; Plank 2004). Ein entscheidender Vorteil der biotechnischen Produktion wird in der zukuntsträchtigen Option gesehen, unabhängig von natürlichen Ressourcen (Planzen, Algen) hochreine Polysaccharide herzustellen, die durch Selektion bzw. genetische Manipulation der Bakterien speziische Eigenschaten aufweisen und durch standardisierte Fermentationsbedingungen eine reproduzierbare Zusam-
Pentosane Physikalisches Wirkprinzip Plantagoschleimstoffe Polysacchariddrogen Pyrrolizidinalkaloide Quellungslaxans Quellungszahl Rhamnogalacturonan Saure Arabinoxylane Schleimdrogen Schleimpolysaccharide Schleimstoffe Spitzwegerichblätter Viskositätsmessung Wertbestimmung Xyloglucane
mensetzung besitzen. Gegenüber Phycokolloiden und Stärkederivaten sind bakterielle Polysaccharide allerdings heute noch relativ teuer, sodass ihre Marktbedeutung bislang vergleichsweise gering ist.
19.5.1
Bakterielle Zellwand-, Kapselund Exopolysaccharide
Polysaccharide als Energiereserve spielen bei Prokaryonten im Gegensatz zu den Eukoryonten eher eine untergeordnete Rolle. Entsprechend besitzen nicht alle Spezies intrazelluläre Depotgranula, in denen glykogenartige Polysaccharide gespeichert werden. Allerdings produzieren Bakterien eine äußerst variationsreiche Kollektion an Glykanen und Glykokonjugaten, um sich gegenüber ihrer Umgebung abzugrenzen und zu schützen und um mit ihr individuell zu kommunizieren. Es handelt sich dabei um Komponenten der Zellwand und Kapsel, um sezernierte Exopolysaccharide und auch um Glykoproteine („S-layer-Proteine“, Flagellenproteine, sezernierte Enzyme). Letztere wurden erst vor einigen Jahren entdeckt und revolutionierten die Ansicht, dass Prokaryonten generell keine posttranslationalen Modiikationen durchführen können (Esko 1999).
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Polysaccharide der bakteriellen Zellwand
! Kernaussage
Die Bakterienzellwand ist ein komplexes Konstrukt aus Glykanen und Glykokonjugaten.
Bakterien benötigen ein stabiles Außenskelett, um dem hohen intrazellulären osmotischen Druck standzuhalten. Das formgebende Stützelement der Bakterienzellwand (syn. Bakterienhülle) ist das Peptidoglykan Murein. Mit Ausnahme von Mykoplasmen und defekten Bakterien enthält die Hülle aller Bakterien eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Mureinschicht. Peptidoglykan. Murein ist ein Konjugat aus Peptiden und Polysacchariden ( > Abb. 19.26). Die Polysaccharide bestehen aus N-Acetyl-d-glucosamin (GlcNAc) und dessen Milchsäureether N-Acetyl-d-muraminsäure (MurNAc);
die beiden Bausteine sind alternierend E-(1o4)-glykosidisch zu linearen Ketten aus etwa 10–100 Disaccharideinheiten verknüpt („repeating unit“: [4)-E-d-GlcNAcp-(1o 4)-E-d-MurNAcp-(1o]. Die Lactylgruppen ungefähr jeder zweiten MurNAc sind mit dem N-terminalen Ende eines Pentapeptides substituiert, das im Fall von E. coli aus l-Alanin, d-Glutaminsäure, m-Diamonipimelinsäure und zwei d-Alanin-Molekülen besteht. Unter Abspaltung des terminalen d-Alanins verbindet eine Transpeptidase das d-Alanin mit der Aminogruppe der m-Diamonipimelinsäure einer benachbarten Polysaccharidkette. Dadurch ergibt sich ein netzwerkartig angelegtes Makromolekül, das das Bakterium wie ein Sack umgibt (Mureinsacculus). Murein ist eine dynamische Struktur und unterliegt einem schnellen „turnover“ (50% in 30 min) durch permanenten Auf- und Abbau. Dies und die Beteiligung nicht proteinogener d-Aminosäuren sind die Basis für die Wirkung etlicher Antibiotika (z. B. Penicillin, Bacitracin, Vancomycin).
. Abb. 19.26 Disaccharideinheit
Pentapeptid
Muropeptid
Murein
Murein. Abgebildet sind die Disaccharid-Peptid-Einheit Muropeptid und das aus dieser „repeating unit“ aufgebaute Murein. Ausgehend von N-Acetyl-D-Glucosamin (GlcNAc) entsteht durch Substitution mit Phosphoenolpyruvat und anschließende Reduktion zunächst die Muraminsäure. Durch schrittweise Anknüpfung von Aminosäuren wird nachfolgend das Muramylpentapeptid gebildet, das dann glykosidisch am nichtreduzierenden Ende mit einer zweiten GlcNAc-Einheit verbunden wird. Diese „repeating unit“ wird in den periplasmatischen Raum transportiert und dort an die wachsende Peptidoglykankette angehängt. Die Quervernetzung der Ketten über die Peptidreste führt schließlich zum fertigen Mureinnetzwerk. Hierbei werden die jeweils terminalen D-Alaninreste abgespalten, sodass die „Sprossen“ zwischen den Polysaccharid-Holmen aus Octapeptiden bestehen
19.5 Bakterienpolysaccharide
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Infobox Gram-Färbung zur Klassifizierung von Bakterien. Die Färbung nach Gram (1884) dient zur Klassifizierung in grampositive und gramnegative Bakterien und ist auch heute noch ein grundlegendes diagnostisches Kriterium für die Wahl des Antibiotikums. Sie basiert auf der Fähigkeit des negativ geladenen Mureins, basische Farbstoffe zu binden. Vorgehen: Färbung des Präparates mit Karbolgentianaviolett- und Lugol-Lösung (blau) – Waschen mit Ethanol – Gegenfärbung mit verdünnter Karbolfuchsinlösung (rot). Grampositive Bakterien erscheinen dunkelblau, gramnegative rot. Der dominierende Bestandteil der Zellwand grampositiver Bakterien (z. B. Staphylokokken) ist ein mehr-
schichtiges, dreidimensionales Netzwerk aus Murein (20– 25% des Trockengewichtes), das den blauen Farbstoff fest bindet. In der komplex aufgebauten Zellwand gramnegativer Bakterien (z. B. E. coli) ist das Murein von untergeordneter Bedeutung (max. 10% des Trockengewichts; > Abb. 19.27). Charakteristischer Bestandteil ist die äußere Membran, eine dicke, plastische Phospholipiddoppelmembran, deren äußere Schicht reich an Lipopolysacchariden ist. In dem sog. periplasmatischen Raum zwischen der äußeren und der inneren Membran (Zytoplasmamembran) befindet sich eine dünne, mono- oder oligomolekulare Mureinschicht. Die äußere Membran behindert die Permeation des Farbstoffes zum Murein, sodass er mit Ethanol wieder ausgewaschen wird.
. Abb. 19.27
Zellwand gramnegativer Bakterien. Die Zellwand gramnegativer Bakterien besteht aus mehreren Schichten verschiedener Polysaccharide, wie beispielhaft hier am schematischen Aufbau der Zellwand von E. coli dargestellt. Im Gegensatz zu Pflanzen- und Pilzzellwänden und auch den Zellwänden grampositiver Bakterien wird die Zytoplasmamembran bei der Beschreibung der Zellwand als sog. innere Membran einbezogen. An sie schließt sich der periplasmatische Raum an. Er enthält neben Lipoproteinen und Enzymen eine dünne Schicht des Peptidoglykans Murein sowie die „membranederived“ Oligosaccharide (MDO). Nach außen wird der periplasmatische Raum von der äußeren Membran begrenzt. Sie besteht aus einer Lipiddoppelmembran, deren äußere Schicht reich an Lipopolysacchariden ist, die mit ihrem Lipid-A-Teil in der Membran verankert sind. Bei bekapselten Bakterien wird die gesamte Zellwand zusätzlich von einer viskosen Schicht aus Kapselpolysacchariden bedeckt (nicht gezeigt)
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Teichonsäuren. Teichonsäuren sind typische Komponenten grampositiver Bakterien, der dicken Mureinschicht assoziiert sind. Die Polymere (DP ca. 10–100) bestehen aus Zuckeralkoholen (z. B. Glycerol, Ribitol), die über Phosphodiesterbindungen miteinander verbunden sind. Über eine terminale GlcNAc-1-phosphat-Einheit sind sie kovalent mit der C-6-OH-Gruppe von MurNAc und somit dem Petidoglykan verknüpt. Die OH-Gruppen der Zuckeralkohole können frei vorliegen oder mit Mono- oder Oligocchariden, d-Alanin oder anderen Resten dekoriert sein, sodass sich eine außerordentliche Vielfalt an unterschiedlichen Teichonsäuren ergibt. Manche Teichonsäuren enthalten terminal eine Phosphatidsäure, über die sie mit der Zytoplasmamembran verankert sind (Lipoteichonsäuren). Sie fungieren als die wichtigsten Oberlächenantigene grampositiver Bakterien, während diese Funktion bei den gramnegativen Bakterien den Lipopolysacchariden zukommt. Im Menschen lösen Teichonsäuren eine ieberhate Reaktion aus, d. h. sie stellen ein exogenes Pyrogen dar. Lipopolysaccharide der äußeren Membran. Die äußere
Membran gramnegativer Bakterien ist eine Lipiddoppelschicht, deren äußere Schicht jedoch nicht wie üblich aus Phospholipiden, sondern hauptsächlich aus Lipopolysacchariden (LPS) aufgebaut ist. Jede Bakterienzelle enthält etwa 106 LPS-Moleküle (im Vergleich zu etwa 107 Phospholipidmoleküle). LPS sind komplex aufgebaute Glykokonjugate und können in drei Domänen gegliedert werden: Lipid A (Endotoxin i.e.S.), Kernpolysaccharid („core region“) und O-Antigen ( > Abb. 19.27 und > Abb. 22.51 [S. 801]). x Das Lipid A ist ein Glykolipid ( > Abb. 22.52 [S. 802]). Es besteht aus zwei E-(1o6)-glykosidisch verknüpten phosphorylierten d-Glucosamineinheiten, die jeweils an C-2 und C-3 mit OH-Fettsäuren substituiert sind, die teilweise über ihre OH-Gruppe wiederum mit Fettsäuren verestert sind. Mit dem Lipid-A-Teil ist das LPS in der äußeren Membran verankert und trägt zur Funktion der äußeren Membran als Permeationsbarriere bei. Es ist das eigentliche hitzestabile Endotoxin und für die meisten pathophysiologischen Wirkungen der LPS verantwortlich (z. B. Auslöser der Sepsis). x Die mittlere „core region“, das Kernpolysaccharid, lässt sich in einen inneren und äußeren Teil gliedern. Der innere, an das Lipid A gebundene Teil (auch ot dem Lipid A zugeordnet) enthält 1–4 Einheiten des LPS-speziischen sauren Zuckers Keto-desoxy-octonat (KDO) (Holst et al. 1996). KDO stellt zusammen
mit den Phosphatgruppen die Bindungsstellen für zweiwertige Kationen dar, die für die Stabilisierung der äußeren Membran verantwortlich sind. Weitere Bausteine des Kernpolysaccharides sind teilweise phosphorylierte Heptosen und neutrale Zucker wie Galactose und N-Acetylglucosamin. x Das nach außen ragende O-Antigen ist ein Polysaccharid aus maximal 50 „repeating units“ aus 2–8 Monosacchariden. Die Bausteine sind außerordentlich vielfältig. Neben ubiquitären Zuckern kommen freie und amidierte Uronsäuren, Aminozucker, Desoxyzucker, methylierte und acetylierte Zucker sowie Aminosäuren und Phosphatgruppen vor. Dem Namen entsprechend fungiert dieser Teil des LPS als Antigen und deiniert den jeweiligen Serotyp eines Bakteriums. Allein für E. coli existieren mehr als 170 verschiedene Serotypen (Raetz 1996). Die O-Antigene und damit Serotypen lassen sich anhand ihrer Reaktivität mit menschlichen Antikörperseren identiizieren, was man sich in der mikrobiologischen Diagnostik zunutze macht (z. B. Salmonellendiagnostik). Für die Bakterien bieten die O-Antigene, ähnlich wie die Kapselpolysaccharide, einen gewissen Schutz gegen immunologische Efektoren. Sie stellen z. B. für den „membrane attack complex“ aus Komplementproteinen eine Barriere dar, sodass die Zelllyse verhindert wird (Wyckof et al. 1998). Die O-Antigene verleihen dem Bakterium außerdem eine hydrophile Oberläche. Bakterien mit O-Antigenen bilden in lüssigen Kulturen gleichmäßige Suspensionen und auf Kulturplatten glänzende Kolonien. Diese Stämme werden daher auch S-Formen (smooth = glatt, glänzend) genannt. Die Oberläche von Mutanten ohne O-Antigene ist dagegen relativ hydrophob, sodass sie in lüssigen Kulturen aggregieren und auf festen Medien als matte, „raue“ Kolonien erscheinen (R-Formen). „Membrane-derived“ Oligosaccharide (MDO). Der periplasmatische Raum gramnegativer Bakterien enthält neben Murein, Lipoproteinen und Enzymen kleine, stark negativ geladene E-d-Glucanmoleküle (1–5% des Trockengewichtes bei E. coli. versus 0,1% bei grampositiven Bakterien) (Kennedy 1996). Trotz individuell sehr unterschiedlicher Strukturen weisen sie einige gemeinsame Merkmale auf: Sie bestehen generell aus etwa 6–12 meist E-(1o2)verknüpten Glucoseeinheiten mit E-(1o6)-gebundenen Seitenketten. Zusätzlich enthalten sie Phosphoethanolamin-, Phosphoglycerol- und Succinylgruppen.
19.5 Bakterienpolysaccharide
Zusammen mit der negativ geladenen Mureinschicht fungieren sie als osmotischer Pufer und schützen so die innere Membran. Infobox Sepsis und mikrobielle Polysaccharide. Sepsis ist eine durch eine Infektion ausgelöste systemische Entzündungsreaktion (systemisches inflammatorisches Response-Syndrom, SIRS), wobei das klinische Syndrom der verschiedenen Sepsisformen nicht direkt durch die „ursächliche“ Infektion, sondern ganz wesentlich indirekt durch die von der Infektion ausgelöste Immunantwort entsteht. In Deutschland erkranken jährlich etwa 154.000 Menschen an schwerer Sepsis, von denen mehr als ein Viertel die Infektion nicht überlebt (Trappe u. Riess 2005). Die initialen Ereignisse, die im Rahmen einer nicht oder oft nicht mehr lokalisierten und kontrollierten Infektion zur systemischen Immunreaktion führen, differieren abhängig vom auslösenden Mikroorganismus sowie der Reaktionslage des Patienten. Als Pathogene fungieren immunstimulierende Toxine, wobei mikrobielle Kohlenhydratkomponenten offensichtlich eine Schlüsselstellung einnehmen: x Endotoxin (gramnegative Bakterien), x Peptidoglykane (gramnegative u. -positive Bakterien), x Lipoteichonsäuren (grampositive Bakterien), x Mannane (Pilze). Im Sinne einer gemeinsamen Endstrecke bildet sich als Reaktion des Organismus auf die Toxine das SIRS aus, das je nach Ausprägung und Reaktionsbereitschaft des Patienten zu (Multi-)Organdysfunktion, Schock und Tod führen kann.
Kapsel und Exopolysaccharide
! Kernaussage
Kapsel und Exopolysaccharide dienen dem Schutz, der Kommunikation und der Anpassung an die Umwelt.
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rezeptor, dem Schutz vor Austrocknung, Zelllyse oder Virusinfektion und dem Abpufern von pH-, Temperaturoder O2-Konzentrationsänderungen. Viele Kapselpolysaccharide stellen potente Antigene dar (K-Antigene), die von Antikörpern erkannt werden und dann über Komplementaktivierung die Infektionsabwehr stimulieren (z. B. bei Streptococcus pneumoniae, Haemophilus inluenzae, Bordetella pertussis). Streptococcus pneumoniae beispielsweise verfügt über mehr als 80 verschiedene K-Antigene und somit Polysaccharide unterschiedlicher Struktur. Demgegenüber gibt es auch Bakterien, die eine nichtimmunogene Kapsel generieren, indem sie nach dem Prinzip des „molecular mimicry“ Polysaccharide erzeugen, die Bestandteil der Glykocalyx tierischer/humaner Zellen sind (z. B. Heparansulfat-ähnliches Kapselpolysaccharid von E. coli K5, Hyaluronsäurekapsel von Streptococcus zooepidemicus) (Esko 1999). Grundsätzlich kann eine Kapsel je nach ihrer strukturellen Zusammensetzung die Virulenz eines Bakterienstammes erniedrigen oder auch erhöhen. So sind beispielsweise bekapselte Pneumokokkenstämme virulenter als kapsellose, da die Kapsel die Bakterienzelle vor Phagozytose schützt. Infobox Biotechnisch hergestelltes Heparin. Seit langem forscht man nach therapeutisch einsetzbaren Alternativen zu Heparin, die nichttierischen Ursprungs, chemisch definiert, reproduzierbar herzustellen und frei von potentiell pathogenen Kontaminanten (z. B. Prionen) sind. Eine aktuelle Entwicklung geht vom dem Kapselpolysaccharid des Bakterienstamms E. coli K5 aus (K5-PS). K5-PS lässt sich biotechnisch gewinnen und besitzt die gleiche Grundstruktur wie der unsulfatierte Vorläufer in der Heparansulfat- und Heparin-Biosynthese: [4)-E-D-GlcpA-(1o4)-D-D-GlcpNAc(1o]n (Lindahl et al. 2005). Mittlerweile ist es gelungen, durch kombinierte chemische und enzymatische Modifikationen aus K5-PS ein sog. „Neoheparin“ herzustellen, das hinsichtlich seiner Antithrombin-bindenden, antikoagulatorischen und antithrombotischen Eigenschaften mit Heparin vergleichbar ist.
Bakterienkapsel. Einige Bakterienarten umgeben sich
außerhalb der Zellwand mit einer mikroskopisch gut erkennbaren, u. U. sehr dicken, hochviskosen Schicht. Diese sog. Kapsel besteht vorrangig aus Polysacchariden. Sie dient verschiedenen Zwecken wie etwa als Adhäsions-
Exopolysaccharide. Manche Bakterien sind in der Lage,
Exopolysaccharide ins Medium zu sezernieren. Diese bilden keine kompakte, das Bakterium umschließende Hülle wie die Kapsel, sondern sind eher difus in seiner Um-
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
gebung verteilt und werden wegen ihrer viskositätserhöhenden Eigenschaten häuig als „slime“ bezeichnet. Auch sie unterstützen wie die Kapsel die Bakterien bei der Anpassung an ihre Umgebung und stellen Komponenten von Bioilmen dar. Die derzeit für verschiedene Zwecke genutzten bakteriellen Polysaccharide sind überwiegend derartige Exopolysaccharide, da sie sich relativ einfach direkt aus dem Kulturmedium isolieren lassen. Infobox Exopolysaccharide und Zahnplaque. Eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von Karies spielt die Zahnplaque, der bakterien-, kohlenhydrat- und eiweißreiche Belag auf der Zahnoberfläche. Er entsteht, indem verschiedene Bakterien der Mundflora (v. a. Streptococcus mutans) unter Verwendung von Saccharose und anderer Zucker Exopolysaccharide wie Dextran synthetisieren. Deren viskosen Eigenschaften ermöglichen es den Bakterien, sich auf der Zahnoberfläche anzuheften und dort ungestört einen vollständigen Bakterienrasen, die Zahnplaque, auszubilden. Im Rahmen ihres Stoffwechsels bilden die Bakterien organische Säuren, die den kristallinen Zahnschmelz zerstören und damit die Kariesentstehung begünstigen. Diesem Prozess entsprechend versucht man u. a. Dextranase als Antiplaquemittel einzusetzen. Allerdings ist die zweifelsfrei beste Methode, die Zahnplaquebildung zu bekämpfen, die regelmäßige, mechanische Zahnreinigung.
19.5.2
Dextrane
Definition. Die PhEur 5 beschreibt folgende Dextrane:
x Dextran 1 zur Herstellung von Parenteralia, Dextranum 1 ad iniectabile,
x Dextran 40 zur Herstellung von Parenteralia, Dextranum 40 ad iniectabile,
x Dextran 60 zur Herstellung von Parenteralia, Dextranum 60 ad iniectabile,
x Dextran 70 zur Herstellung von Parenteralia, Dextranum 70 ad iniectabile. Dextran 1 ist eine Fraktion von Dextranen mit einer mittleren Mr von etwa 1000, bestehend aus einer Mischung von Isomaltooligosacchariden.
Dextran 40, 60 und 70 sind jeweils als Mischungen von Polysacchariden, vor allem des (1o6)-D-d-Glucan-Typs, deiniert, deren mittlere Mr 40.000, 60.000 bzw. 70.000 beträgt. Herkunft und Biosynthese. Bereits 1861 hat L. Pasteur
beobachtet, dass es in saccharosehaltigen Medien von Bakterienkulturen nach einiger Zeit zu einer Viskositätserhöhung und zur Entstehung einer gallertig-schleimigen Masse kommt. Wenige Jahre später hat man das viskositätserhöhende Material als Polysaccharid identiiziert und Dextran genannt; das verantwortliche Bakterium erhielt den Namen Leuconostoc mesenteroides. Dextrane werden von L. mesenteroides, anderen Leuconostoc-Arten und bestimmten Streptococcus-Arten produziert; beide Gattungen sind grampositive, obligat bzw. fakultativ anaerob wachsende Kokken aus der Familie der Lactobacteriaceae (Milchsäurebakterien). Die Biosynthese von Dextran erfolgt extrazellulär, indem die Bakterien konstitutiv (Streptococcus) oder stimuliert durch Saccharose (Leuconostoc) die Enzyme ins Kulturmedium sezernieren (Robyt 1998). Diese Dextransaccharasen spalten zunächst Saccharose in D-d-Glucose und E-d-Fructose. Die bei dieser Reaktion frei werdende Energie wird dann genutzt, um die erhaltene Glucose über ihre OH-Gruppe am C-6 D-glykosidisch mit dem reduzierenden Ende der wachsenden Dextrankette zu verknüpfen. Demzufolge arbeitet das Enzym „autonom“ und ist nicht auf das Bakterium angewiesen, was experimentell mit dem isolierten Enzym belegt wurde. Gewinnung. Laut PhEur 5 werden Dextrane durch Fermentation von Saccharose (10–20% im Kulturmedium) unter Verwendung des Leuconostoc-mesenteroides-Stammes NRRL B-512 oder von Unterstämmen wie Leuconostoc mesenteroides B-512F gewonnen. Übliche Kulturbedingungen sind: 10–20% Saccharose im Medium, 25 °C, 24–48 h, keine O2-Zufuhr. Auf diese Weise werden 60–70% der Saccharose umgesetzt, und 0,5 g Bakterienmasse bilden etwa 80 g Dextran. Die nativen hochmolekularen Dextrane werden mit Methanol, Ethanol oder Aceton ausgefällt und anschließend mittels kontrollierter Säurehydrolyse partiell gespalten. Durch Fraktionierung erhält man schließlich Dextrane mit der gewünschten Mr . Alternativ zu dieser traditionellen Herstellungsweise können Dextrane mit einer geringeren Mr auch durch gezielte Variationen des Fermentationsprozesses erhalten
19.5 Baktereinpolysaccharide
werden, indem man beispielsweise die Substratkonzentration oder die Temperatur verändert, Dextranstartermoleküle zugibt oder die Synthese durch Zugabe von Maltose, Isomaltose oder Methyl-D-d-glucosid abbricht.
19
allerdings sehr breit ist und die verschiedenen Dextrane keinesfalls als distinkte Fraktionen zu sehen sind. Löslichkeit. Im Gegensatz zum nativen Dextran, das
hochviskose Lösungen bildet, sind die in der Medizin verwendeten partiell abgebauten Dextrane in Wasser sehr leicht löslich.
Struktur und Eigenschaften Struktur. Die genuin gebildeten hochmolekularen
(Mr > 106) Dextranmoleküle haben zwar generell eine (1o6)-D-d-Glucan-Grundstruktur, sind aber stets D-glykosidisch verzweigt. Hierbei sind die Position (neben C-3 auch C-2 und C-4) und der Grad der Verzweigung sowie die Länge der Seitenketten in hohem Maße vom verwendeten Bakterienstamm und den individuellen Bedingungen abhängig (Robyt 1998). Folglich gibt es eine große Vielfalt an strukturell unterschiedlichen Dextranen. > Abb. 19.28 zeigt einen Strukturausschnitt des Dextrans, das heute kommerziell produziert wird. Molekulargewicht. Die oizinellen Dextrane müssen be-
stimmte Anforderungen hinsichtlich ihres Mr-Proils erfüllen ( > Tabelle 19.15), wobei der jeweilige Mr-Bereich
Wirkung und Anwendung in der Medizin
! Kernaussage
Dextrane haben in Deutschland ihren Stellenwert als Plasmaersatzmittel verloren.
Wirkungsweise. Dextrane werden seit 1947 in Form von
Infusionen in der Volumenersatztherapie angewendet. Indem die Kolloide Wasser binden und selbst eine lange Verweilzeit im Gefäßsystem haben, verhindern sie, dass die infundierte Flüssigkeit schnell wieder ausgeschieden wird. 6%ige Dextran-60- und -70-Lösungen dienen als Plasmaersatzmittel bei der herapie und Prophylaxe von Volu-
(1o 6)D-
D-
e ett ptk au n-H ca Glu
D-
D6)(1o
Glu ca n-S eit en ke tte
. Abb. 19.28
Dextran Dextran. Strukturausschnitt aus dem Dextran, das extrazellulär von dem Stamm Leuconostoc mesenteroides B-512F gebildet wird. Für die kommerzielle Produktion von Dextranen wird heute überwiegend dieser Stamm genutzt. Er bildet ein Dextran, bei dem die Glucoseeinheiten zu 95% α-(1o6)- und zu 5% α-(1o3)-verknüpft sind. Die α-(1o3)-glykosidisch mit der Hauptkette verbundenen Seitenketten bestehen aus einzelnen D-Glucoseeinheiten (ca. 40%), Isomaltose (ca. 45%) bzw. (1o6)-α-D-Glucanketten mit einem DP bis zu 50 (ca. 15%). Alle bekannten Dextrane sind verzweigte (1o6)-α-D-Glucane, wobei das Verzweigungsmuster zugleich ein wichtiges Unterscheidungskriterium darstellt. Je nach Bakterienstamm treten Verzweigungen am C-2, C-3 und/oder am C-4 auf; ferner variieren die verschiedenen Dextrane in ihrem Verzweigungsgrad und auch der Länge der Seitenketten
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
. Tabelle 19.15 Molekülmassenverteilung der offizinellen Dextrane laut PhEur 5. Die Bestimmung der „Molekülmassenverteilung von Dextranen“ (PhEur 5, Allg. Methoden, 2.2.39) erfolgt mittels Gelfiltrationschromatographie (MW, Massenmittel) Dextran 1
Dextran 40
Dextran 60
Dextran 70
Mittlere Molekülmasse MW
850–1150 (DP 5–7)
35.000–45.000
54.000–66.000
64.000–76.000
Höhermolekulare Anteile
≤15%: DP 9
MW (10% Fr.)a : ≥7000
MW (10% Fr.)a : ≥14.000
MW (10% Fr.)a : ≥15.000
a
Bestimmt wird die mittlere Molekülmasse MW der jeweils 10% umfassenden Fraktion des Dextrans mit den höher- bzw. niedermolekularen Anteilen, d. h. der Randbereiche des Peaks.
menmangel und Schock im Zusammenhang mit Traumen, Verbrennungen, Operationen und Infektionen ( > Tabelle 19.7). 10%ige Dextran-40-Lösungen werden schneller eliminiert und sind daher als Volumenersatzmittel im Vergleich zu Dextran 60 und 70 weniger eizient; sie werden vorwiegend zur Hämodilution und zur herapie von Mikrozirkulationsstörungen bei peripheren, zerebralen, retinalen, otogenen und plazentaren Durchblutungsstörungen eingesetzt. Dextrane werden über die Niere eliminiert, wobei die Nierenschwelle bei einer Mr von 50.000 liegt. Polymere mit größerer Mr werden phagozytiert und vor der renalen Ausscheidung partiell enzymatisch abgebaut. Stellenwert in der Volumenersatztherapie. Während
Dextranlösungen in anderen Ländern durchaus noch einen Stellenwert in der Volumenersatztherapie haben, werden sie in Deutschland kaum noch angewendet (Boldt 1998) ( > Kap. 19.2.8, Hydroxyethylstärke und >Tabelle 19.7). Ein Grund sind wahrscheinlich die möglichen anaphylaktischen Reaktionen auf Dextrane, die zu einem komplexen Behandlungsschema geführt haben ( > Infobox), ein anderer ist in blutgerinnungshemmenden Efekten zu sehen (Hiller u. Riess 2002). Blutgerinnungshemmende Wirkung. Dextrane verlängern dosis- und Mr-abhängig die Blutungszeit durch eine Hemmung der Plättchenfunktion und möglicherweise auch der plasmatischen Gerinnung (Fibrinpolymerisationsstörung). Durch Coating-Efekte und Störungen der von-Willebrand-Faktor-Funktion bewirken sie eine verminderte Stimulierbarkeit der Plättchen. Früher wurden diese Efekte ausgenutzt und Dextraninfusionen zur
hromboseprophylaxe eingesetzt. Da die Wirkung der Dextrane jedoch schlecht steuerbar ist, die Infusion der erforderlichen großen Volumina den Patienten belasten kann und mittlerweile sehr viel efektivere Antithrombotika zur Verfügung stehen, ist diese Indikation heute als obsolet anzusehen (Hiller u. Riess 2002). Infobox Dextran 1 zur Prophylaxe anaphylaktoider Reaktionen auf Dextran. Bei der Anwendung von Dextranen treten mit einer Inzidenz von 0,03% anaphlylaktoide Reaktionen vom Immunkomplex-Typ auf (Typ-III der Überempfindlichkeitsreaktion entsprechend der Einteilung nach Gell und Coombs). Diese werden durch Immunkomplexe aus präzipitierenden Antikörpern (IgG, IgM) und Dextranmolekülen ausgelöst. Kommt es bereits bei der ersten Dextrananwendung zu einer Reaktion, ist der Erstkontakt mit Sensibilierung wahrscheinlich durch Dextrane erfolgt, die in der Nahrung enthalten waren bzw. von der Intestinalflora gebildet wurden. Mit der Entwicklung von Dextran 1 ist die Prophylaxe dieser Nebenwirkung möglich geworden. Injiziert man dem Patienten etwa 1–2 min vor der Dextraninfusion ca. 20 ml einer Dextran-1-Lösung, wirken die kurzen Oligosaccharide wie monovalente Antigene, d. h. sie binden an die Dextran-sensitiven Antikörper, sind aber zu kurz, um Immunkomplexe zu bilden. Durch diese Strategie der Antikörperneutralisation konnte die Inzidenz anaphlyaktoider Reaktionen um den Faktor 20 reduziert werden. Dennoch sollten generell die ersten 10–20 ml einer Dextranlösung langsam und unter sorgfältiger Beobachtung infundiert werden.
19.5 Baktereinpolysaccharide
Verwendung von Dextranen und Dextranderivaten Technologische Hilfsstoffe. Dextrane mit höherer Mr
als die oizinellen Dextrane bilden mehr oder weniger viskose Lösungen und werden entsprechend als technologische Hilfsstofe genutzt. In der Pharmazie dienen sie als Suspensionsstabilisatoren, Hilfsstofe in der Tablettierung, zur Viskositätserhöhung von Augentropfen und zur Stabilisierung von Proteinen und Impfstofen ( > Tabelle 19.2). Auch in der Entwicklung neuer Methoden des „drug delivery” sind Dextrane neben anderen Polysacchariden derzeit von großem Interesse. Zielsetzung ist es, mit Hilfe der Polymere innovative Systeme zu schafen, die die Arzneistofe, insbesondere Proteine und Enzyme, gezielt am Wirkort freisetzen, die Intensität der Arzneistofwirkung erhöhen, ihre Wirkdauer verlängern und/oder ihre Toxizität reduzieren (Mehvar 2003). Vielversprechend sind beispielsweise neuartige Hydrogele aus Dextranen in Mischungen mit anderen Polymeren wie Polyvinylalkoholen (Cascone et al. 2001). Dextranomer. Dextrane dienen als Ausgangspolymere für partialsynthetische Modiikationen ( > auch Kap. 20.2.9, Dextransulfate). Dextranomer ist ein mittels Epichlorhydrin dreidimensional vernetztes Dextran. In der Wundbehandlung wird es in der Form von Puder oder Paste als Adsorbens zum Aufnehmen des Sekrets nässender Wunden eingesetzt. Verwendung im Labor. Auch im analytischen und bio-
chemischen Labor haben Dextrane und ihre Derivate einen Stellenwert. Dextrane mit deinierter Mr werden beispielsweise wie Pullulane als Mr-Standards für die Ausschlusschromatographie mit wässrigen Phasen, d. h. in der Geliltrationschromatographie, verwendet. Durch chemische Vernetzung der Makromoleküle erhält man Molekularsiebe für die Geliltrationschromatographie. Durch Variation des Vernetzungsgrades, der Partikelgröße und durch Copolymerisation mit anderen Makromolekülen wurden Materialien mit unterschiedlichsten Speziikationen entwickelt (z. B. Sephadex, Superdex, Sephacryl). Damit hat man die Option, das für die jeweilige Fragestellung am besten geeignete Säurenmaterial zu wählen (z. B. schnelle Entsalzung, unterschiedliche MW-Trennbereiche).
19.5.3
19
Xanthan
Definition. Xanthangummi, Xanthani gummi PhEur 5, ist ein hochmolekulares, anionisches Polysaccharid, das durch Fermentation von Kohlenhydraten mit Xanthomonas campestris gewonnen wird. Xanthangummi besteht aus einer Hauptkette von E-(1o4)-verknüpten d-Glucoseeinheiten. Jede zweite ist mit einer Trisaccharidseitenkette verknüpt, die aus D-d-Mannose, E-d-Glucuronsäure und einer E-d-Mannose besteht. Die meisten der endständigen Einheiten liegen als Pyruvatketale vor. Die mit der Hauptkette verknüpte Mannoseeinheit kann am C-6 acetyliert sein. Xanthangummi, dessen Mr etwa 1u106 beträgt, enthält mindestens 1,5% Pyruvatgruppen (C3H3O2 , Mr 71,1). Xanthangummi liegt als Natrium-, Kalium- oder Calciumsalz vor. Herkunft und Biosynthese. Xanthomonas campestris
(Pseudomonaceae) ist ein planzenpathogenes, gramnegatives, aerob wachsendes, stäbchenförmiges Bakterium. Im Rahmen eines umfangreichen Forschungsprogramms in den 50er Jahren zu potentiell nutzbaren bakteriellen Hydrokolloiden wurde das von X. campestris ins Kulturmedium sezernierte Xanthan entdeckt. Aufgrund seiner besonderen physikochemischen Eigenschaten wurde das Exopolysaccharid Gegenstand intensiver Forschungs- und Entwicklungsarbeit. Es gilt als das Paradebeispiel für „moderne“ mikrobielle Exopolysaccharide, und allein in den USA existieren über 1600 Patente zu seiner Produktion und Anwendung (Becker et al. 1998). Erkenntnisse zur Biosynthese erklären den häuig bei Exopolysacchariden anzutrefenden regelmäßigen Aubau: Das Bakterium synthetisiert zunächst intrazellulär die kompletten Pentasaccharid-„repeating units“, die dann erst zu Polymeren verknüpt und aus der Zelle ausgeschleust werden. Derzeit versucht man die Xanthansynthese durch Selektion bestimmter X.-campestris-Stämme und auch durch genetische Manipulation zu modiizieren, um Produkte mit veränderten Eigenschaten zu erhalten oder um die Synthese von störenden Begleitstofen zu unterdrücken. Mittlerweile hat sich Xanthan einen festen Platz neben den etablierten Phyto- und Phycokolloiden erobert und ist mit einer jährlichen Produktion von etwa 10–20.000 Tonnen die Nummer eins unter den biotechnisch hergestellten Polysacchariden (Becker et al. 1998). Bereits 1969 wurde es von der FDA als Lebensmittelzusatzstof zugelassen, 1980 dann in der EU mit der Bezeichnung E 415.
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19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Hinweis. Neben „Xanthan“ hat sich die Bezeichnung
„Xanthangummi“ eingebürgert. Per deinitionem gilt der Begrif „Gummi“ für planzliche Exsudate. Da auch Xanthan als Exopolysaccharid ein Exsudat ist und in der Praxis insbesondere als Alternative zum Arabischen Gummi eingesetzt wird, ist die Bezeichnung „Xanthangummi“ nachvollziehbar. Gewinnung. Die industrielle Produktion erfolgt gewöhn-
lich durch Fermentation von Saccharose, Glucose, Stärke oder Stärkehydrolysaten mittels Xanthomonas campestris pathovar campestris. Da die kontinuierliche Fermentation das Risiko einer Kontamination und Mutantenentwicklung mit sich bringt, bevorzugt man das Batchverfahren. Das größte Problem hierbei ist die zunehmende Viskosität während des Prozesses, die die erforderliche O2- und Nährstofzufuhr und somit die Ausbeute limitiert (Becker et al. 1998). Daher wird die Kultur gewöhnlich mechanisch anstatt nur durch Lutzufuhr in Bewegung gehalten. Die maximale Xanthanproduktion ist in der exponentiellen Wachstumsphase zu beobachten. Im Gegensatz zur stets konstanten Primärstruktur ( > oben) sind die mittlere Mr , die Ausbeute und die Substitution mit Acetat und Pyruvat von der Wachstumsphase abhängig und auch durch die Fermentationsbedingungen beeinlussbar. Folglich ist das Produkt eine heterogene Mischung und in seiner Zusammensetzung vom jeweiligen Verfahren abhängig. Nach 48–72 h enthält der Kulturüberstand durchschnittlich 10–25 g Xanthan pro Liter. Im kontinuierlichen Verfahren, werden ca. 60–70% des Substrats umgesetzt. Nach Abtrennung der Zellen von der hochviskosen Xanthanlösung, einem kostenintensiven Prozess, und Pasteurisierung wird das Polysaccharid gewöhnlich mit Isopropanol ausgefällt, sprühgetrocknet und zu einem Pulver zermahlen. Um die rheologischen Eigenschaten zu verändern, kann eine partielle enzymatische Degradation durchgeführt werden.
tenkette ( > Abb. 19.29) (Robyt 1998). Die an die Hauptkette gebundene D-d-Mannose ist teilweise am C-6 acetyliert und die endständige E-d-Mannose teilweise in Form des 4,6-Ketals mit Pyruvat verknüpt, einem Substituenten, der auch in Agar autritt. Durch den Pyruvatrest erhält die Trisaccharidseitenkette neben der mittelständigen E-d-Glucuronsäure eine zweite Ladung. Während die Primärstruktur des Xanthans konstant ist, sind die Kettenlänge und das Ausmaß der Acetat- und Pyruvatsubstitution variabel. Löslichkeit und Viskosität. Xanthan besitzt die typischen
Eigenschaten eines Hydrokolloids. Es bildet in Wasser bereits in niedrigen Konzentrationen hochviskose Lösungen, aber wie Arabisches Gummi und Tragant keine Gelstrukturen (Ausnahme: Gelbildung in Gegenwart dreiwertiger Metallionen). Wässrige Lösungen zeigen ähnlich wie Johannisbrotkernmehlzubereitungen ein pseudoplastisches Fließverhalten. So sinkt beispielsweise die Viskosität einer 0,25%igen Lösung von 1000 mPa*s bei einer Scherrate von 1/s auf 50 mPa*s bei einer Scherrate von 100/s. Von praktischer Bedeutung ist, dass die Viskosität, ähnlich wie bei Tragant und im Gegensatz z. B. zu Natriumalginatlösungen, über einen weiten Temperatur-, pH-Wert- and Elektrolytkonzentrationsbereich stabil ist. Konformation. Diese konstanten rheologischen Eigen-
schaten werden mit der Stabilität seiner helikalen Konformation begründet, die durch die streng reguläre Struktur ermöglicht wird (Rinaudo 2004). Durch zusätzliche Interaktionen zwischen den Seitenketten und der Hauptkette entsteht eine pseudodoppelhelikale Konformation. Selbst bei Temperaturen von 70 °C gehen die Helices noch nicht in die „random coil“-Konformation über. Die Viskosität steigt mit zunehmender Mr von Xanthanlösungen, ist jedoch unabhängig vom Grad der Substitution mit Pyruvatund Acetylgruppen (Ausnahme > unten), da diese bei Xanthan keinen Einluss auf die Konformation haben (Rinaudo 2004).
Struktur und Eigenschaften Struktur. Xanthan ist ein hochmolekulares, saures Hete-
ropolysaccharid aus d-Glucose, d-Mannose und d-Glucuronsäure im Verhältnis 2:2:1. Im Gegensatz zu planzlichen Polysacchariden besteht es aus deinierten „repeating units“, nämlich einem Pentasaccharid aus Cellobiose mit einer D-(1o3)-glykosidisch verknüpten Trisaccharidsei-
Binäre Gele. Eine weitere Besonderheit von Xanthan ist seine Fähigkeit, mit Galactomannanen (z. B. Johannisbrotkernmehl) und auch Glucomannen bereits in sehr niedrigen Konzentrationen transparente Gele (binäre Gele) zu bilden, die auf Interaktionen zwischen den beiden Polymeren zurückzuführen ist ( > Kap. 19.4.8). Begünstigt wird die Gelbildung durch hohe Mannose: Galactose-
19.5 Baktereinpolysaccharide
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. Abb. 19.29
Xanthan Xanthan. Struktur der „repeating unit“ des Exopolysaccharids Xanthan von Xanthomonas campestris. Das verzweigte saure Heteropolysaccharid besteht aus D-Glucose, D-Mannose und D-Glucuronsäure im Verhältnis 2:2:1. Es besitzt wie Cellulose eine Hauptkette aus β-(1o4)-verknüpften D-Glucoseeinheiten. Jede zweite Glucose ist am C-3 α-glykosidisch mit dem Trisaccharid [β-D-Manp-(1o4)-β-D-GlcpA-(1o2)-α-D-Manp-(1o] verzweigt. Die endständige Mannose kann als 4,6-Pyruvatketal vorliegen, die die an die Hauptkette gebundene Mannose kann am C-6 acetyliert sein
Verhältnisse im Galactomannan sowie die „random coil“Konformation (durch Erhitzen auf 95 °C) und die Abwesenheit von Acetylgruppen beim Xanthan.
Verwendung
! Kernaussage
Die viskositätserhöhenden Eigenschaften machen Xanthan zu einer modernen Alternative zu Tragant.
Xanthan hat sich mittlerweile als Hilfsstof in der Lebensmittel-, Kosmetik-, Farben-, Papier-, Textil- und Ölindustrie etabliert. In Lebensmittelprodukten hat Xanthan neben Propylenglycolalginat heute weitgehend Tragant verdrängt.
Es wird zur Viskositätserhöhung, als Binde- und Dickungsmittel, Stabilisator von Suspensionen, Emulsionen, Schäumen und Gefriergut, als Geliermittel (mit Galactomannanen), Flockungsmittel, Filmbildner und Klebstof genutzt. Auch in der pharmazeutischen Galenik wird es zunehmend eingesetzt. Derzeit ist es in etwa 80 Präparaten der Roten Liste als Hilfsstof vertreten, überwiegend in lüssigen Zubereitungen wie Säten, (Retard-)Tropfen und Suspensionen, daneben aber auch in Retard- und Brausetabletten ( > Tabelle 19.2). Abgesehen von den Celluloseund Stärkederivaten ist es damit nach Gummi Arabicum (ca. 380 Präparate) das am häuigsten als Hilfsstof eingesetzte Polysaccharid.
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19 19.5.4
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Beispiele weiterer Exopolysaccharide
Gellan (E 418) wird in der Lebensmitteltechnologie verwendet, außerdem als Agarersatz in der Mikrobiologie und der planzlichen Gewebekultur (Robyt 1998).
Acetan und Succinoglykan Acetan und Succinoglykan sind zwei Expolysaccharide, die ähnliche rheologische Eigenschaten wie Xanthan aufweisen und auch in ihrer Struktur dem Xanthan nahe stehen (Robyt 1998). Acetan. Acetan wird von dem Bakterium Acetobacter xylinum gebildet. Es besteht wie Xanthan aus einer Cellulosekette, bei der jede zweite Glucoseeinheit jedoch im Unterschied zum Xanthan mit einer Pentasaccharidseitenkette aus Mannose, Glucuronsäure, Glucose und Rhamnose substituiert ist. Ein Teil der Hydroxylgruppen liegt acetyliert vor. Wässrige Acetanlösungen sind hochviskos und zeigen eine weitgehende Indiferenz gegenüber pHWert- und Temperaturschwankungen. Wird Acetan deacetyliert, ist es wie Xanthan in der Lage, binäre Gele mit Galacto- und Glucomannanen zu bilden (Rinaudo 2004). Succinoglykan. Succinoglykan wird von bestimmten
Pseudomonas-Stämmen produziert. Seine Hauptkette ist kein reines (1o4)-E-d-Glucan, sondern ein Galactoglucan, bei dem auf drei Glucoseeinheiten eine (1o3)E-d-Galactose folgt. Jedes vierte Monosaccharid der Hauptkette ist am C-6 mit einer Tetraglucan-Seitenkette verknüpt ist, die Acetyl-, Pyruvyl und Succinylgruppen trägt. Auch hier ergeben sich aus dem regulären Aubau aus „repeating units“ helikale Strukturen, die für die viskositätserhöhenden Eigenschaten entscheidend sind (Rinaudo 2004).
Gellan Das Exopolysaccharid Gellan des gramnegativen Bakteriums Sphingomonas paucimobilis (syn. Pseudomonas elodea) ist ein bakterieller Agarersatz. Bereits in niedrigen Konzentrationen bildet es klare, thermoreversible Gele mit agarähnlichen Eigenschaten (Giavasis et al. 2000). Es ist ein lineares, saures Heteropolysaccharid mit der „repeating unit“ [o3)-E-d-Glcp-(1o4)-E-d-GlcpA-(1o4)E-d-Glcp-(1o4)-D-l-Rhap-(1-]. Die erste d-Glucose trägt am C-2 eine l-Glycerinsäure; außerdem sind etwa 50% der primären OH-Gruppen acetyliert.
Bakterielle „Alginate“ Pseudomonas aeruginosa und Azotobacter vinelandii produzieren Alginsäure-artige Polyuronide, die in Gegenwart zweiwertiger Kationen Gele bilden. Der bedeutendste Unterschied zur Alginsäure aus Braunalgen ist die Substitution der Zucker mit Acetylgruppen, die allerdings die Gelbildung beeinträchtigen. Alternativ zur chemischen Deacetylierung versucht man mittels Selektion und Mutation Stämme zu erhalten, die Acetylgruppen-freie Polymere liefern.
Curdlan Curdlan wird als Exopolysaccharid von dem Bodenbakterium Alcaligenes faecalis var. myxogenes und einigen Agrobacterium- und Rhizobium-Stämmen synthetisiert (Harada 1992). Es handelt sich um ein hochmolekulares, lineares, neutrales (1o3)-E-d-Glucan, dessen Moleküle als „single“-Helices vorliegen. Es ist unlöslich in kaltem Wasser, löst sich jedoch in alkalischen Lösungen, z. B. in 0,05 M NaOH, und in DMSO. Erst in Gegenwart höherer Alkalikonzentrationen (ca. 0,2 M) gehen die „single“-Helices in eine „random coil“-Konformation über. Nach Erwärmen einer wässrigen Suspension auf ca. 60 °C bildet sich während des Abkühlens ein thermoreversibles Gel, in dem die Curdlanmoleküle als „single“-Helices vorliegen. Ein derartiges Gel entsteht auch beim Neutralisieren, Dialysieren oder bei Zugabe von Calciumionen zu einer alkalischen Lösung oder auch durch Kühlung einer Lösung in DMSO. Erhitzt man auf Temperaturen >80 °C, bildet sich ein thermoirreversibles festes Gel mit (1o3)-E-d-Glucanketten in „triple“-helikaler Konformation (Saito et la. 1991). Zusätzlich werden hydrophobe Interaktionen induziert, die durch die Verstärkung intermolekularer Bindungen das Netzwerk stabilisieren und u. a. eine partielle Resistenz gegenüber E-(1o3)-Glucanasen und Säurehydrolyse verursachen (Rinaudo 2004). In Japan wird Curdlan im großtechnischen Maßstab durch Fermentation produziert und indet v. a. Verwendung als Verdickungsmittel und Strukturbildner in
19.5 Baktereinpolysaccharide
der Lebensmitteltechnologie, z. B. in Hamburgern und Nudeln (Harada 1992). Wie auch viele (1o3)-E-d-Glucane aus Pilzen werden Curdlan und Curdlanderivate zu den sog. „biological response modiiers“ gezählt, denen über das Immunsystem vermittelte antitumorale Wirkungen zugesprochen werden (Franz et al. 1995) ( > Kap 19.6.2).
! Kernaussagen x
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Bakterien produzieren eine Vielzahl an Glykanen und Glykokonjugaten, um sich gegenüber ihrer Umgebung abzugrenzen und zu schützen und um mit ihr individuell zu kommunizieren: (1) Komponenten der Zellwand und (2) Kapsel, (3) Exopolysaccharide und (4) Glykoproteine (S-layer-Proteine, Flagellenproteine, sezernierte Enzyme). Das formgebende Stützelement der Bakterienzellwand (syn. Bakterienhülle) ist das Peptidoglykan Murein. Lineare Polysaccharidketten mit der „repeating unit“ [4)-E-D-GlcNAcp-(1o4)-E-D-MurNAcp(1o] sind über Peptidbrücken zu einem netzwerkartig angelegten Makromolekül verknüpft (Mureinsacculus). Grampositive Bakterien besitzen ein mehrschichtiges, dreidimensionales Netzwerk aus Murein. Die Zellwände gramnegativer Bakterien hingegen bestehen aus einer äußeren Membran (Lipiddoppelmembran mit Lipopolysacchariden) und einer inneren Membran (Zytoplasmamembran). In dem dazwischen liegenden periplasmatischen Raum befindet sich eine nur dünne, mono- oder oligomolekulare Mureinschicht. Teichonsäuren sind variabel substituierte Polymere (DP ca. 10–100) aus Zuckeralkoholen (z. B. Glycerol, Ribitol), die über Phosphodiesterbindungen miteinander verbunden sind. Sie sind mit dem Murein bzw. als Lipoteichonsäuren mit der Zytoplasmamembran verknüpft und stellen die wichtigsten Oberflächenantigene grampositiver Bakterien dar. Lipopolysaccharide sind ein Bestandteil der äußeren Membran gramnegativer Bakterien. Es handelt sich um komplex aufgebaute Glykokonjugate, die sich in drei Domänen gliedern: Lipid A (Endotoxin i. e. S.), Kernpolysaccharid („core region“) und O-Antigen.
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Partialsynthetisch hergestelltes Curdlansulfat, das ähnlich wie Heparin zahlreiche biologische Aktivitäten besitzt, wird in Asien zur additiven herapie bei AIDSPatienten und bei Infektionen mit dem Cytomegalovirus (CMV) eingesetzt (Gordon et al. 1997). Wie andere sulfatierte Polysaccharide hemmt Curdlansulfat die Adhäsion der Viren an die Wirtszelle.
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„Membrane-derived“-Oligosaccharide (MDO) sind kleine, stark negativ geladene, verzweigte E-D-Glucanmoleküle, die im periplasmatischen Raum gramnegativer Bakterien lokalisiert sind. Einige Bakterienarten umgeben sich mit einer hochviskosen Schicht, der sog. Kapsel, die vorrangig aus Polysacchariden besteht und verschiedenen Zwecken dient. Viele Kapselpolysaccharide stellen potente Antigene dar (K-Antigene). Eine Kapsel kann die Virulenz eines Bakterienstammes sowohl erniedrigen als auch erhöhen. Manche Bakterien sezernieren sog. Exopolysaccharide („slime“) ins Medium, die die Bakterien bei ihrer Anpassung an die Umgebung unterstützen. Bei den kommerziell genutzten bakteriellen Polysacchariden handelt es sich überwiegend um Exopolysaccharide, die durch Fermentation mittels entsprechender Bakterien gewonnen werden. Das Exopolysaccharid Dextran wird durch Fermentation mittels Leuconostoc mesenteroides gewonnen. Aus den genuin hochmolekularen (Mr > 106), verzweigten (1o6)-D-D-Glucanen werden durch partielle Säurehydrolyse Dextran 40, 60 und 70 (Plasmaersatzmittel) sowie das Oligosaccharidgemisch Dextran 1 (zur Anaphlylaxieprophylaxe) hergestellt. Ferner dienen Dextrane als technische Hilfsstoffe, Mr-Standards und als Ausgangspolymere für die Herstellung von Molekularsieben und anderen Derivaten. Das Exopolysaccharid Xanthan (syn. Xanthangummi) wird durch Fermentation mittels Xanthomonas campestris gewonnen. Das hochmolekulare (Mr ~ 106), saure Heteropolysaccharid ist aus Pentasaccharid-„repeating units” aufgebaut. Jede zweite Glucoseeinheit der (1o4)-E-D-Glucan-Hauptkette ist am C-3 D-glykosidisch mit der Trisaccharideinheit (E-D-Manp-(1o4)-E-D-GlcpA-(1o D-D-Manp(1o) verknüpft, deren endständige Mannose als
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
4,6-Pyruvatketal vorliegt und deren an die Hauptkette gebundene Mannose am C-6 acetyliert sein kann. Wichtige Eigenschaften von Xanthan sind: bereits bei niedrigen Konzentrationen Bildung hochviskoser Lösungen, keine Gelbildung, pseudoplastisches Fließverhalten, Viskosität unabhängig von Temperatur, pH-Wert, Elektrolytkonzentration und dem Substitutionsgrad, aber abhängig von der Mr . Wegen seiner konstanten rheologischen Eigenschaften ist Xanthan heute ein vielfältig eingesetzter Hilfsstoff (Alternative zu Tragant).
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Neben Dextran und Xanthan haben mittlerweile einige weitere biotechnisch hergestellte Exopolysaccharide eine gewisse Bedeutung als technische Hilfsstoffe erlangt. Ihr regulärer Aufbau aus „repeating units“ verleiht ihnen viskositätserhöhende und/oder gelbildende Eigenschaften. Beispiele sind das verzweigte (1o4)-E-D-Glucan Acetan und das verzweigte Galactoglucan Succinoglykan (beide mit xanthanähnlichen Eigenschaften), das lineare, saure Heteropolysaccharid Gellan (bakterieller Agarersatz), Polyuronide (bakterielle „Alginate“) und das lineare (1o3)-E-DGlucan Curdlan.
Schlüsselbegriffe Acetan Acetobacter xylinum Acetobacter-Cellulose Alcaligenes faecalis var. myxogenes Äußere Membran Azotobacter vinelandii Bakterielle „Alginate“ Bakterieller Agarersatz Bakterienkapsel Biotechnische Produktion „Core region“ Curdlan Curdlansulfat Dextrane Dextranomer Dextransaccharasen
19.6
Endotoxin (Lipid A) Exopolysaccharide Fermentation Galactoglucan Gellan (1o3)-E-D-Glucan (1o4)-E-D-Glucan (1o6)-D-D-Glucan Gram-Färbung Hyaluronsäure Innere Membran K-Antigene Keto-desoxy-octonat (KDO) Leuconostoc mesenteroides Lipopolysaccharide (LPS) Lipoteichonsäure
Pilzpolysaccharide
Ähnlich wie Bakterien besitzen auch Pilze komplex gebaute Zellwände, die überwiegend aus Polysachariden aufgebaut sind. Analog zu planzlichen und bakteriellen Zellwänden, kann man zwischen Gerüst- und Matrixsubstanzen diferenzieren. Erstere ist bei den Echten Pilzen (Eumycota) das Chitin, charakteristische Matrixsubstanzen sind Mannane und Glucane (Matsuoka 2004). Einige Pilze haben außerdem die Fähigkeit, extrazelluläre Polysaccharide zu bilden, die die Pilzzellen mit einer schleimigen Schicht umgeben. Durch Kultivierung der Pilze unter geeigneten Bedingungen lassen sich diese in relativ hohen Ausbeuten gewinnen. Angesichts der ge-
„Membrane-derived“ Oligosaccharide (MDO) Mureinsacculus O-Antigene Peptidoglykan Periplasmatischer Raum Plasmaersatzmittel Pseudomonas aeruginosa Sephadex Sepsis Sphingomonas paucimobilis Succinoglykan Teichonsäuren Xanthan Xanthangummi Xanthomonas campestris
schätzten 140.000 Eumycota-Species (nur ca. 10% bekannt) bietet sich hier ein enormes, allerdings bislang nur spärlich genutztes Potential an Polysaccharidquellen (Wasser 2002). Beispiele sind Pullulan, dessen chemisch-physikalische Eigenschaten vielfältige Optionen für die wirtschatliche Verwendung bieten, und verschiedene (1o3)E-d-Glucane, die in einigen Ländern in der adjuvanten Tumortherapie eingesetzt werden. Ein weiterer Grund für das zunehmende Interesse an Pilzpolysacchariden ist die Erkenntnis, dass diese maßgeblich an der Pathogenese von Mykosen beteiligt sind.
19.6 Pilzpolysaccharide
19.6.1
Pullulan
Herkunft und Struktur. Pullulan, ein lineares (1o4/1o
6)-D-d-Glucan, wird von dem Pilz Aureobasidium pullulans sezerniert. Das Glucan mit einer Mr von etwa 106 kann formal als Polymer D-(1o6)-verknüpter Maltotrioseeinheiten angesehen werden ( > Abb. 19.30). Die regelmäßigen (1o6)-Bindungen unterbrechen sozusagen die (1o4)-D-d-Glucankette, wie sie bei der Amylose vorliegt. Eigenschaften. Die Primärstruktur ist für die strukturelle
Flexibilität der Moleküle und die sehr gute Wasserlöslich. Abb. 19.30
19
keit trotz fehlender Verzweigungen verantwortlich. Eine weitere Besonderheit von Pullulan ist seine Fähigkeit, Filme und Fasern zu bilden, wozu andere Polysaccharide nicht in der Lage sind. Pullulanilme und -fasern ähneln in ihren Eigenschaten gewissen synthetischen Kohlenwasserstofpolymeren, haben jedoch den Vorteil, dass sie essbar und bioabbaubar sind. Gewinnung. Pullulan wird seit 1976 kommerziell in Japan produziert (Leathers 2003). Aureobasdium pullulans wird im Batchverfahren bei 30 °C unter O2-Zufuhr und Rühren kultiviert. Das Medium enthält neben Peptonen, Phosphat und Salzen 10–15% Stärkehydrolysat. Während der Kultivierung sinkt der pH-Wert von 6,5 auf ungefähr 3,5. Optimale Pullulanausbeuten mit einem Substratumsatz von mehr als 70% erhält man nach 100 Stunden. A. pullulans gehört zur Gruppe der „black yeast“ und produziert Melanin. Nach Abiltrieren der Pilzmasse wird dieses mit Aktivkohle entfernt. Dann wird Pullulan mit Alkohol gefällt und mittels Ultrailtration und Ionenaustauscherharzen gereinigt. Verwendung. Die möglichen Applikationen von Pullu-
Pullulan Pullulan. Pullulan ist ein lineares (1o4/1o6)-α-D-Glucan, das als Exopolysaccharid von dem Pilz Aureobasidium pullulans gebildet und sezerniert wird. Im Gegensatz zum gezeigten Strukturausschnitt wird es häufig als Polymer α-(1o6)-gebundener Maltotrioseeinheiten charakterisiert. Diese Definition erklärt sich aus dem enzymatischen Abbau durch Pullulanase, die spezifisch die α-(1o6)-Bindungen hydrolysiert und das Polysaccharid so überwiegend zu Maltotriose abbaut. Daneben findet man im Hydrolysat einen geringen Anteil an Maltotetraose, sodass das Verhältnis von (1o4)- zu (1o6)-Bindungen bei 2,0– 2,3:1 statt theoretisch 2,0:1 liegt. Berücksichtigt man allerdings die Biosynthese aus „repeating units“, ist Pullulan als Polymer aus den α-(1o4)-verknüpften Trisacchariden Panose (α-D-Glcp-(1o6)-α-D-Glcp A-(1o4)-α-D-Glcp) und Isopanose (α-D-Glcp-(1o4)-α-D-GlcpA-(1o6)-α-D-Glcp) anzusehen. Die abgebildete Struktur entspricht der „repeating unit“ Panose. Die gelegentlich auftretenden Maltotetraoseeinheiten resultieren aus der direkten Verknüpfung einer Panose- mit einer Isopanoseeinheit
lan sind ausgesprochen vielfältig (Leathers 2003). Da es nicht durch Amylasen abgebaut wird, ist Pullulan zu den löslichen Ballaststofen zu zählen und kann als Stärkeersatz in energiereduzierten Nahrungsmitteln verwendet werden. Die Viskosität von Pullulanlösungen ist wie die von Gummi-arabicum-Lösungen relativ niedrig und zudem unabhängig von Temperatur, pH-Wert und Elektrolytkonzentration, sodass sie als „low viscosity iller“ für Getränke, Soßen, Lotionen, Shampoos usw. geeignet sind. Seine adhäsiven Eigenschaten können in Wundheilungsmitteln, Zahnprothesenhatpulver und in Nahrungsmitteln genutzt werden. 5–10%ige Pullulanlösungen bilden auf glatten Oberlächen nach Trocknung 5–60 µm dicke Filme, die klar, mechanisch stabil, und O2-undurchlässig sind und sich im Mund aulösen. Applikationen als Filmbildner ergeben sich für Nahrungsmittel, Mundplegemittel, Pharmazeutika, in der Photographie, Lithographie und Elektronik. Im Labor schließlich werden Pullulane deinierter Kettenlänge wie Dextrane als Mr-Standards für die Ausschlusschromatographie mit wässrigen Phasen verwendet.
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19 19.6.2
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Pilzglucane in der adjuvanten Tumortherapie
(in vitro) und Antitumor-Efekten (v. a. Sarcom 180) enthalten (Wasser 2002). Die Pilzpolysaccharide sind überwiegend in den Zellwänden lokalisiert.
Grundlagenforschung (1o3)-β-Glucane. Unter den vielfältigen PolysaccharidHintergrund. In den 70er Jahren begann man, Polysac-
charide aus den Kulturüberständen und dem Pilzmycel mittels Heißwasser- bzw. Alkaliextraktion zu isolieren, zu charakterisieren und ihre biologischen Aktivitäten zu untersuchen. Der Schwerpunkt des Interesses lag in Japan und China, wo Pilze nicht nur ein wichtiger Bestandteil der Nahrung sind, sondern Pilzzubereitungen auch traditionell in der herapie, u. a. von Tumorerkrankungen, eingesetzt werden. Es sind über 650 Basidiomyceten-Arten beschrieben worden, die Polysaccharide mit immunstimulierenden
. Abb. 19.31
strukturen, für die eine Antitumorwirksamkeit gefunden wurde, zeigen besonders (1o3)-E-d-Glucane mit E-(1o 6)-Verzweigungen gute Aktivitäten ( > Abb. 19.31). Neben einer hohen Mr (ca. 0,5–2u106) scheint die für (1o3)-E-Glucane typische tripelhelikale Konformation ein entscheidender Strukturparameter für ihre Antitumoraktivität und einen Teil ihrer immunpharmakologischen Efekte zu sein. Die E-(1o6)-Verzweigungen gewährleisten lediglich eine ausreichende Wasserlöslichkeit und infolgedessen bessere Wirkung der Polymere (Wasser 2002). Entsprechend führten auch chemische Modiikationen von (1o3)-E-d-Glucanen, die die Wasserlöslichkeit erhöhen, zu einer verbesserten Aktivität. Antitumoraktivität. Verzweigte (1o3)-E-d-Glucane wie Schizophyllan, Lentinan und Pilzprodukte wie PSK besitzen keine direkten zytotoxischen Efekte. Ihre im Tier und beim Menschen nachgewiesene Antitumorwirkung sowie auch ihre antimetastatische Aktivität wird ihren vielfältigen Wirkungen auf Komponenten des Immunsystems zugeschrieben (Borchers et al. 1999; Kidd 2000; Ooi u. Liu 2000; Wasser 2002) ( > Diskussion zur Antitumorwirksamkeit).
Produkte in der Anwendung und Entwicklung Schizophyllan. Schizophyllan ist ein Exopolysaccharid, das von dem Pilz Schizophyllum commune gebildet und sezerniert wird. Es handelt sich um ein hochmolekulares (Mr ca. 450.000) verzweigtes (1o3)-β-D-Glucan, bei dem durchschnittlich jeder dritte Glucoserest der Hauptkette am C-6 mit einem weiteren Glucoserest verknüpft ist. Dieses Polymer mit einer helikalen Sekundärstruktur bildet in wässriger Lösung übergeordnete, durch Wasserstoffbrücken stabilisierte, rechtwindende Tripelhelices. Die kurzen Seitenketten ragen von diesem zentralen Strang nach außen und bewirken, dass Schizophyllan im Gegensatz zum unverzweigten (1o3)-β-D-Glucan Curdlan wasserlöslich ist. Die tripelhelikale Tertiärstruktur lässt sich mit DMSO, Harnstoff oder NaOH zerstören, was sowohl bei Schizophyllan als auch Lentinan mit einem Verlust der Antitumoraktivität im Tier einherging
! Kernaussage
Schizophyllan, Lentinan und PSK (Krestin) werden in Japan und China in der adjuvanten Tumortherapie eingesetzt.
Mehrere Pilzpolysaccharide werden kommerziell produziert und wurden bzw. werden in klinischen Studien auf ihre Antitumorwirksamkeit untersucht. Mit Schizophyllan, Lentinan und PSK („Polysaccharide-K“, Krestin) haben drei Vertreter mittlerweile in Japan und anderen Fernostländern einen bedeutenden Stellenwert in der adjuvanten Tumortherapie erlangt und werden darüber hinaus als „Immunmodulatoren“ eingesetzt (Kidd 2000; Chu et al. 2002).
. Tabelle 19.16 Charakteristika der am besten untersuchten Pilzglucane mit Antitumorwirksamkeit Schizophyllan
Lentinan
PSK (Krestin£)a, b
PSPa
Pilz
Schizophyllum commune (SPLIT GILL) (Ordn. Schizophyllales), Spaltblättling
Lentinus edodes (BERK.) SING. (Ordn. Polyporales), Shiitake-Pilz (Speisepilz)
Coriolus (Trametes) versicolor (TURKWEY TAIL) CM-101 (Ordn. Poriales), Schmetterlingsporling
Coriolus (Trametes) versicolor (TURKWEY TAIL) COV-1 (Ordn. Poriales), Schmetterlingsporling
Extrakt
Kulturüberstand
Fruchtkörper
kultiviertes Mycel
kultiviertes Mycel
Homoglucan, E-(1o6)-verzweigtes (1o3)-E Glucan
Homoglucan, E-(1o6)-verzweigtes (1o3)-E Glucan
Proteoglucanc (ca. 15–30% Protein),
vier Proteoglucanec, E-Glucane mit (1o4)-, (1o2)- und (1o3)-Bindungen;
Mr
~450.000
400.000–1.000.000
94.000–100.000
~100.000
Applikation
intramuskular
intravenösd
oral
oral
klinisch belegte Wirksamkeit (nach Kidd 2000)
Magenkarzinom, Cervixkarzinom
Magenkarzinom, kolorektales Karzinom,
Ösophaguskarzinom
o signif. Verlängerung der Überlebenszeit
o signif. Verlängerung der Überlebenszeit
Magen-, kolorektales, Ösophagus-, Nasopharynx-, NSC-Lungenkarzinom, Brustkrebs (HLA B40+) o signif. Verlängerung der 5-Jahres-Überlebenszeit
Struktur
b c
o signif. Verlängerung der 3-Jahres-Überlebenszeit, Magen-, Ösophagus-, Lungen-, Ovarial-, Zervixkarzinom o signif. Verbesserung von Lebensqualität, Schmerzen, Immunstatus (bei 70–97%)
19
d
PSK wurde in Japan entdeckt und entwickelt, PSP in China. Krestin£ war 1985 auf Platz 19 der weltweit am meisten verkauften Arzneimittel (Umsatz 255 Mio. US-$). der kovalent gebundene Polypeptidanteil von PSK und PSP ist reich an Aspararagin- und Glutaminsäure. Tagesdosis nur 0,5–1 mg.
ferner: Gal, Man, Ara, Rha
19.6 Pilzpolysaccharide
a
(1o4)-E-Glucanhauptkette mit E-(1o6)-gebundenen (1o3)-E-Glucanseitenketten, ferner: Man, Gal, Fuc
623
624
19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
> Tabelle 19.16 zeigt die wichtigsten Charakteristika von Schizophyllan, Lentinan, PSK und PSP. Hervorzuheben ist, dass PSK und PSP keine reinen, hochmolekularen (1o3)-E-d-Glucane sind, sondern Polysaccharid-PeptidKomplexe (Proteoglykane) mit einer deutlich geringeren Mr als Schizophyllan und Lentinan. Im Gegensatz zu Letzteren werden sie oral appliziert. Weitere Pilzprodukte, für die in klinischen Studien ein therapeutischer Efekt nachweisbar war, sind: x „Active Hexose Correlated Compound“ (AHCC), ein Extrakt aus mehreren kokultivierten Basidiomyceten einschließlich Lentinus edodes, x „Maitake D-Fraction“, ein E-Glucangemisch aus Grifola frondosa, x PSP („Polysaccharide-P“), das in der Entwicklung (Phase III) am weitesten fortgeschritten ist.
Anwendung in der Tumortherapie. In der Tumorthera-
pie werden Schizophyllan, Lentinan und PSK üblicherweise in Kombination mit Chemo- oder Strahlentherapie eingesetzt. Diese Strategie beruht auf der Hypothese, dass ihre immunstimulierenden Efekte die therapiebedingte Immunsuppression kompensieren. In mehreren Studien wurde eine Verlängerung der Überlebenszeit gefunden (Kidd 2000). Ofenbar verbessern sie auch bei sehr guter Verträglichkeit ohne signiikante Nebenwirkungen die Lebensqualität von Tumorpatienten, was man durchaus als relevanten Faktor für ihren Einsatz als Adjuvans ansehen kann. Anwendung als „immunoceuticals“. PSK und andere
Pilzextrakte werden nicht nur in Ostasien, sondern auch in den USA derzeit als „immunoceuticals“ (oral verfügbare Substanzen mit Wirkungen auf das Immunsystem) angepriesen, wohl mit dem Ziel, am lukrativen Markt der Nahrungsergänzungsmittel und Diätetika zu partizipieren (Chu et al. 2002). Bemerkenswert ist, dass auch Lentinan trotz schlechter oraler Bioverfügbarkeit in großem Umfang als immunstimulierendes „dietary supplement“ vermarktet wird. Angesichts der modernen Gesundheitswelle und der Globalisierung ist absehbar, dass solche kritisch zu bewertenden Produkte auch den deutschen Markt erreichen werden.
Diskussion zur Antitumorwirksamkeit „Biological Response Modifiers“. Basierend auf der
Annahme, dass die Antitumoraktivität von (1o3)-E-dGlucanen und Pilzprodukten wie PSK und PSP auf einer unspeziischen Aktivierung der Immunantwort beruht, werden sie zu den sog. „biological response modiiers” (BRM) gezählt. Diese sind als Stofe deiniert, die die Aktivität des Immunsystems erhöhen oder die Immunantwort auf Antigene verstärken, ohne selbst als speziisches Antigen zu wirken. In vitro und ex vivo zeigten diese BRM zahlreiche, meist stimulierende Efekte auf Komponenten des Immunsystems: x Ihrer stimulierenden Wirkung auf T-Zellen und Gewebsmakrophagen wird eine entscheidende Bedeutung beigemessen (Borchers et al. 1999). Im Tierversuch wurde belegt, dass ihre Wirksamkeit ein intaktes T-Zell-System benötigt. Außerdem hat man eine verstärkte Iniltration des Tumorgewebes mit dendritischen Zellen und zytotoxischen T-Lymphozyten nachgewiesen. x Zusätzlich zu einer T-Zell-vermittelten Stimulation der Natürlichen Killerzellen (NK) wird auch ein direkter Efekt der BRM auf die NK diskutiert. x Experimentell erwiesen sich die BRM als Multizytokininduktoren, die die Genexpression verschiedener immunmodulierender Zytokine bzw. Zytokinrezeptoren induzieren (Ooi u. Liu 2000). Die Relevanz dieses Mechanismus wird allerdings kontrovers diskutiert (Kidd 2000). x Schließlich soll auch die Aktivierung der Komplementkaskade an der Wirkung der BRM beteiligt sein. Unter Berücksichtigung all dieser Ergebnisse wurden komplexe Schemata zum Wirkmechanismus der als BRM wirkenden Pilzglucane entworfen (Chihara 1981; Hamuro u. Chihara 1985; Wasser u. Weiss 1999; Zhou u. Yang 1999), die allerdings eher als nicht bewiesene, spekulative Erklärungsversuche zu werten sind. Bemerkenswert ist, dass sich die verschiedenen Glucane in Abhängigkeit von ihren strukturellen Parametern in ihren Aktivitäten unterscheiden. Dies betrit sowohl ihre Wirksamkeit gegenüber verschiedenen Tumorarten als auch ihre Fähigkeit, diverse zelluläre Reaktionen, insbesondere die Expression von Zytokinen, zu induzieren.
19.6 Pilzpolysaccharide
! Kernaussage
Der Mechanismus der Antitumorwirksamkeit der Pilzglucane ist noch nicht geklärt.
Letztlich ist aber weder der detaillierte Mechanismus der Immunmodulation geklärt noch ist eindeutig bewiesen, dass die immunmodulierenden Efekte der Pilzglucane wirklich für ihre Antitumorwirksamkeit verantwortlich sind. Unbekannt ist auch, wie sie auf molekularer Ebene mit ihren Zielzellen interagieren, d. h. an welche Rezeptoren sie binden, wie sie die Signaltransduktion beeinlussen und die entsprechenden Reaktionen auslösen. Immunsystem und Tumorwachstum. Zweifelsfrei belegt
ist hingegen die starke Vernetzung zwischen Immunsystem und Tumorwachstum bzw. -metastasierung. Der Ansatz, das körpereigene Immunsystem in der Bekämpfung von Tumoren speziisch zu unterstützen, hat sich entspre-
19
chend in der Tumortherapie etabliert (z. B. Interferone, Zytokine). Andererseits ist aber mittlerweile auch bekannt, dass Tumorzellen sowohl selbst über ähnliche Mechanismen wie das Immunsystem agieren als auch Immunzellen zu ihrer Unterstützung nutzen (z. B. Chemotaxis von Makrophagen, Zytokin- und Enzymfreisetzung, Zelladhäsion und -migration, Angiogenese). Ferner wird diskutiert, dass es durch die eigene Immunabwehr zur Selektion der Tumorzellen kommen kann, die in der Lage sind, sich der Immunüberwachung zu entziehen (Dunn 2002). Angesichts dieser zweischneidigen Rolle des Immunsystems in der Tumorprogression und -metastasierung stellt sich die Frage, ob eine unspeziische Immunstimulation ungeachtet der jeweiligen Tumorcharakteristika stets der richtige Weg ist (Ichim 2005).
19.6.3
Zellwandglykane in der Pathogenese von Mykosen
Infobox Mykosen und Antimykotika. Von den über 10.000 bekannten Pilzarten sind bisher nur etwa 200–300 als Krankheitserreger beschrieben worden. Von diesen wiederum verursachen lediglich ca. 20 Arten 90% aller Mykosen (Pilzinfektionen). Bis auf einige außereuropäisch vorkommende Arten, die obligat pathogen sind (z. B. Blastomyces dermatitides, Coccidioides immitis, Paracoccidioides brasiliensis), besiedeln viele Pilze unsere Haut und Schleimhäute, ohne dass es zu manifesten Infektionen kommt. Beispielsweise sind orale Kolonien von Candida albicans (Soorpilz) bei 17,7% der gesunden Bevölkerung nachzuweisen (Cannon u. Chaffin 1999). Bei Menschen mit einer geschwächten Immunabwehr (z. B. bei Frühgeborenen, im Alter, bei Diabetikern; durch Antibiotika, Chemotherapeutika, HIV-Infektionen) können solche opportunistischen Pilze sich jedoch stark vermehren und lokale oder systemische Mykosen auslösen. Der mit Abstand häufigste opportunistische Erreger
Pilzzellwand. Die Zellwand von Pilzen besteht hauptsäch-
lich aus Kohlenhydraten, die in Form von Polysacchariden, daneben aber auch als Glykokonjugate mit Proteinen und Lipiden vorliegen( > Tabelle 19.17). Obwohl der individuelle Aubau der Pilzzellwände sehr unterschiedlich ist, indet man bei nahezu allen Echten Pilzen Chitin als Gerüstkomponente. Weitere häuig vorkommende Zell-
in Europa ist Candida albicans; neben anderen CandidaArten spielen noch Aspergillus sp. und Cryptococcus sp. als Erreger von Systemmykosen und die Dermatophyten, die ausschließlich Dermatomykosen auslösen, eine Rolle. Die Behandlung der Mykosen erfolgt mit Antimykotika. Da jedoch die Physiologie der eukaryontischen Pilzzellen ähnlich der menschlicher Zellen ist, haben diese Arzneistoffe generell toxische Nebenwirkungen oder wirken lediglich fungistatisch. Außerdem ist man auch hier wie bei den Bakterien mit dem Problem der Resistenzentwicklung konfrontiert. In den letzten Jahren wurde eine starke Zunahme der Inzidenz von Mykosen durch opportunistische Pilze registriert (Masuoka 2004). Dies hat zu einem verstärkten Interesse an der Pathogenese von Mykosen und den Ursachen für das Umschlagen von Symbiose in Parasitismus geführt, denn man erhofft sich, so neue Strategien für die Entwicklung von Antimykotika zu finden.
wandglykane sind Glucane und Mannane, wobei Letztere fast immer als Mannoprotein vorliegen. Die Zellwandglykane bestimmen nicht nur die Struktur und Plastizität der Zellwand, sondern stellen auch die Ebene der Kommunikation mit der Umwelt dar. Denn über sie bindet die Pilzzelle an die Wirtszelle, löst Reaktionen aus und empfängt Signale. Neuere Untersuchungen
625
626
19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
. Tabelle 19.17 Kohlenhydratkomponenten der Zellwände von opportunistischen und obligat pathogenen Erregern systemtischer Mykosen Spezies
Zellwandglykane (neben Chitin)
Monosaccharid-Bausteinea, b
Erkrankung
Lokalisation
x x
Candida-Mykose, Soor, Candidose
Magen-Darm-Trakt, Atmungsorgane, ZNS, Generalisation
Aspergillose, Aspergillom
Atmungsorgane, Ohr, Generalisation
Kryptokokkose
Atmungsorgane, ZNS, Generalisation
Opportunistische Pilze Candida albicans
x x
Glucan
Aspergillus fumigatus
x x
Nigeran (Glucan)
Cryptococcus neoformans
x
Glucan (Zellwand)
x
(1o3)-D-Glc, (1o6)-Eund (1o3)-E-Glc (SA)
x
Glucuronoxylomannan (Kapsel)
x
GlcA, Man, Xyl
x
Galactoxylomannan (Glykoprotein)
x
GalOAc, Man, Xyl
x
Mannoprotein (Glykoprotein)
x
GlcA, Gal, Man, Xyl
x
Glucan
x
(1o3)-E-Glc, Man, Gal, GlcNAc (Fuc, Rib, SA)
PneumocystiscariniiPneumonie
Atmungsorgane
Pneumocystis carinii
Mannan (Glykoprotein, -lipid)
Galactomannan (Glykoprotein)
x x
(1o3)-E- und (1o6)-E-Glc (SA) (1o6)-D-,(1o2)-D-, (1o3)-D-,(1o2)-E-Man (1o3)-D- und (1o4)-D-Glc (1o2)-D- und (1o6)-D-Man mit (1o4)-E-Gal-Seitenketten
Primär pathogene dimorphe Pilze Blastomyces dermatitidis
x
Glucan
x
(1o3)-D-Glc (Hefe), (1o3)-E-Glc (Mycel)
Nordamerikanische Blastomykose
Atmungsorgane, Haut, Genitale, Generalisation
Coccidioides immitis
x x
Glucan
x x
Glc (Gal, Xyl)
Kokzidioidmykose
Atmungsorgane, Haut, Genitale, Generalisation
Paracoccidioides brasiliensis
x x x
Glucan (Hefe)
x x x
(1o3)-D-Glc (SA)
Südamerikanische Blastomykose
Atmungsorgane, Haut, Genitale, Lymphsystem, Generalisation
a
b
Glucomannan (Glykoprotein)
Glucan (Mycel) Galactomannan (Glykoprotein)
Glc, Man
(1o3)-E-Glc Gal, Man
Fuc Fucose; Gal Galactose; GalOAc O-Acetylgalactose; Glc Glucose; GlcA Glucuronsäure; GlcNAc N-Acetylglucosamin; Man Mannose; Rib Ribose; SA Sialinsäure; Xyl Xylose. Weitere Monosaccharide laut Literatur in Klammern.
19.6 Pilzpolysaccharide
zeigen, dass die Kohlenhydratkomponenten von Pilzen aufgrund dieser Funktionen eine wichtige Rolle in der Pathogenese von Mykosen spielen (Masuoka 2004). Dynamischer „glycan code“. Die jeweils im Wirtsorgani-
mus durch einen induzierte Immunantwort hängt stark von seinem individuellen „glycan code“ ab, d. h. der detaillierten Zusammensetzung der Pilzzellwand (Poulain u. Jouault 2004). Entscheidend im Hinblick auf die optionale Pathogenität ist, dass sowohl die Zellwand als auch die „glycan codes“ dynamische Strukturen darstellen und nicht streng ixiert sind. Entsprechend sind die immunologischen Reaktionen, die sie im Wirtsorganismus auslösen, variabel, und umgekehrt beeinlussen diese wiederum die Ausprägung der Zellwand (Poulain u. Jouault 2004). Die Glykane übernehmen daher eine Schlüsselfunktion in dem kontinuierlichen Wechselspiel zwischen Pilz und Wirt, das die Gratwanderung zwischen Symbiose und Parasitismus und zwischen Resistenz und Infektion reguliert. Infobox Zymosan. Zymosan ist der wasserunlösliche Rückstand von Saccharomyces cerevisiae nach Extraktion der Hefezellen mit heißem Wasser und Trypsinbehandlung. Es handelt sich um Zellwandbestandteile, die sich aus Glucan (ca. 55%), Mannan (ca. 20%) und Protein (ca. 15%) zusammensetzen; der Rest sind Chitin, Lipide und mineralische Bestandteile. Zymosan stimuliert sowohl humorale als auch zelluläre Komponenten des unspezifischen Immunsystems, sodass es im Labor benutzt wird, um experimentell „sterile Entzündungen“ zu induzieren. Beispiele für Reaktionen, die durch Zymosan ausgelöst werden, sind: x Aktivierung des Komplementsystems und dadurch Verbrauch des Komplementfaktors C3; x Bindung an Makrophagen (Mannanrezeptor) und Induktion von Arachidonsäuremobilisierung, Proteinphosphorylierung, Inositolphosphatbildung und proinflammatorischen Zytokinen; x Opsonin-unabhängige Induktion der Phagozytose durch Monozyten und neutrophile Granulozyten.
19
Zellwandglykane als Liganden. Bei Candida albicans, dem häuigsten und auch am besten untersuchten Erreger von Mykosen, sind an der Adhäsion an Wirtszellen sowohl (1o2)-E-Mannane und säurestabile, verzweigte (1o2)-D-Mannane als auch O-gebundene Glykanketten beteiligt. Als Antigene fungieren jedoch ausschließlich die Mannane und Mannoproteine; andere Glykane werden nicht von Antikörpern erkannt (Masuoka 2004). Als Rezeptoren für die Glykane wurden unterschiedliche Strukturen identiiziert, z. B. Mannanrezeptoren, Fibronectin, MAC-1, Galectin-ähnliche Glykoproteine. Die Bindung an Zellen, u. a. Monozyten/Makrophagen, NK-Zellen, dendritische Zellen, kann immmunstimulierend wirken, d. h. es kommt zu Efekten wie Stimulation der Zytokinfreisetzung, Entstehung von Sauerstofradikalen, Leukotrienbildung, gesteigerte Phagozytose und Induktion zytotoxischer Lymphozyten oder Reifung dendritischer Zellen (Masuoka 2004). Allerdings ist das Reaktionsmuster stark abhängig von der jeweils beteiligten Pilzkomponente und dem Typ der Wirtszelle (Nimrichter et al. 2005). So werden auch gelegentlich antagonistische, d. h. eher immunsupprimierende Reaktionen hervorgerufen. Infobox Zellwandglykane als Marker in der modernen Diagnostik. Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie systemischer Mykosen ist die schnelle, spezifische Identifizierung des Pathogens. Der Erregernachweis bei Systemmykosen ist jedoch außerordentlich problematisch und erfolgt in der Praxis häufig erst post mortem. Neuerdings versucht man, die Zellwandglykane als diagnostische Marker zu nutzen. So werden bei Candida-Mykosen mit Hilfe von Antiseren Mannane nachgewiesen oder mit einem modifizierten Limulus-Test, dem G-Test, E-Glucane. Bei Aspergillose erwies sich Galactomannan als geeignetes diagnostisches Target.
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19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
! Kernaussagen x
x
x
Wie bei Pflanzen und Bakterien spielen auch bei „Echten“ Pilzen (Eumycota) Polysaccharide eine wichtige Rolle. Ihre komplex gebauten Zellwände bestehen überwiegend aus Polysachariden, wobei Chitin die Gerüstsubstanz sowie Mannane und Glucane charakteristische Matrixsubstanzen darstellen. Letztere sind teilweise als Pathogenitätsfaktoren (Mykosen) von Interesse. Einige Pilze produzieren außerdem extrazelluläre Polysaccharide. Durch Kultivierung von Pilzen können ihre Polysaccharide im großtechnischen Maßstab gewonnen werden. Pullulan wird von Aureobasidium pullulans sezerniert und durch Kultivierung des Pilzes im großen Maßstab gewonnen. Das lineare (1o4/1o6)-D-Glucan (Mr ca. 106) besteht aus D-(1o6)-verknüpften Maltotrioseeinheiten. Das sehr gut wasserlösliche Polymer ergibt niedrig viskose Lösungen und wird u. a. wegen seiner filmbildenden Eigenschaften verwendet. Für zahlreiche Pilzpolysaccharide konnten immunstimulierende und antitumorale Effekte nachgewie-
x
sen werden. Besonders wirksam erwiesen sich (1o3)E-Glucane mit E-(1o6)-Verzweigungen. Die beiden E-1,6-verzweigten E-(1o3)-Glucane Schizophyllan (Schizophyllum commune) (Mr ~ 450.000) und Lentinan (Lentinus edodes) (Mr 400.000–1.000.000) und der Polysaccharid-Peptid-Komplex PSK (Krestin; Coriolus versicolor; Mr 94.000–100.000) werden in Japan und China in der adjuvanten Tumortherapie eingesetzt. Ihre antitumorale und antimetastatische Aktivität wird ihren vielfältigen Wirkungen auf Komponenten des Immunsystems zugeschrieben („biological response modifiers“). Die Zellwandglykane bestimmen nicht nur die Struktur und Plastizität der Pilzzellwand, sondern spielen auch eine wichtige Rolle in der Pathogenese von Mykosen. Da ihre Zusammensetzung veränderlich ist (dynamischer „glycan code“) sind auch die immunologischen Reaktionen, die sie im Wirtsorganismus auslösen, variabel. Dies erklärt, warum opportunistische Pilze nur unter bestimmten Bedingungen pathogen sind.
Schlüsselbegriffe „Active Hexose Correlated Compound“ (AHCC) Antitumoraktivität Aureobasidium pullulans „Biological response modifiers” Candida albicans Chitin Coriolus versicolor Diagnostische Marker Eumycota Pilzglucane (1o4/1o6)-D-Glucan
19.7
E-(1o6)-verzweigte (1o3)-E-D-Glucane „Glycan code“ Grifola fondasa „Immunoceuticals“ Lentinan Lentinus edodes „Maitake D-Fraction“ (1o2)-E-Mannane (1o2)-D-Mannane Mannanrezeptor Mannoproteine Mykosen
Algenpolysaccharide
Wie die Landplanzen werden auch Algen in großem Umfang nicht nur zur Ernährung von Mensch und Tier und als Düngemittel genutzt, sondern dienen auch als Quelle für Polysaccharide. Bei den isolierten Algenpolysacchariden handelt es sich in erster Linie um Strukturpolysaccharide der Zellwände von Braun- und Rotalgen. Ein charakteristisches strukturelles Merkmal dieser sog. Phycokollo-
Opportunistische Pilze „Polysaccharide-K“ (PSK, Krestin) „Polysaccharide-P“ (PSP) Pullulan Saccharomyces cerevisiae Schizophyllan Schizophyllum commune Tripelhelix Zellwandglykane Zymosan
ide ist ihre stark negative Ladung durch den Gehalt an Uronsäuren und/oder Sulfatgruppen. Hierauf beruhen ihre speziischen physikochemischen Eigenschaten, die sie zu bedeutenden Hilfsstofen in der Lebensmittel- und pharmazeutischen Technologie und vielen anderen Bereichen machen. Die wirtschatlich wichtigsten Vertreter sind Alginsäure, die Carrageenane und Agar, für deren Gewinnung die entsprechenden Algen heute zum Teil auch kultiviert werden.
19.7 Algenpolysaccharide
Dem allgemeinen Trend entsprechend, Algen als Quelle für nachwachsende Rohstofe verstärkt zu nutzen, sind auch Algenpolysaccharide wie beispielsweise Fucoidane in der Forschung und Entwicklung von Interesse.
19.7.1
Allgemeines zu Algen und Algenpolysacchariden
19
zu den größten Pflanzen der Erde. Auch die Thalli von Laminaria sp. werden mehrere Meter lang und besitzen einen mehrere Zentimeter dicken, knorpeligen und starren Stammteil. Wichtige Gattungen für die Phycokolloidgewinnung sind Laminaria sp. und Macrocystis sp. (Ord. Lamiariales) sowie Ascophyllum sp. und Fucus sp. (Ord. Fucales).
Algen. Algen (Phycophyta, Seetange) sind eine artenrei-
Infobox
che und vielgestaltige Planzengruppe (7 Abteilungen), deren erstmaliges Vorkommen auf die Zeit des Präkambium datiert wird. Die meisten sind Bewohner natürlicher Gewässer; mit etwa 19.500 Arten repräsentieren sie 90% der marinen Planzen. Mit Ausnahme der Blaualgen (Cyanophyta, Cyanobakterien), die aufgrund ihres prokaryontischen Zellaubaus nahe mit den Bakterien verwandt sind, zählen die Algen zu den Eukaryonten. Die Formenvielfalt reicht von 1 µm großen Einzellern (Protophyten) bis hin zu den großen, reich gegliederten Algenthalli der hoch entwickelten Braun- und Rotalgen (hallophyten), die man auch als Tang bezeichnet. Pharmazeutisch relevante Vertreter inden sich nur unter den Rotalgen (Abt. Rhodophyta, Kl. Rhodophyceae), den Braunalgen (Abt. Heterokontophyta, Kl. Phaeophyceae) und den Kieselalgen (Abt. Heterokontophyta, Kl. Bacillariophyceae = Diatomeae). Die Rot- und Braunalgen werden wegen ihrer Phycokolloide genutzt, die Kieselalgen sind aufgrund ihrer Kieselsäureschalen von Interesse (Gewinnung von Kieselgur).
Rotalgen. Die Klasse der Rhodophyceae, deren rötliche Färbung auf Phycoerythrinpigmenten beruht, umfasst 7 Ordnungen und 500 Gattungen mit etwa 4000 Arten. Sie leben in der Litoralzone (Uferbereich) der Meere und bevorzugen eher wärmere Gewässer. Viele Arten sind gegenüber Temperaturschwankungen empfindlich. Wie die Braunalgen gehören sie zum Benthos und sind stets mit Haftfäden oder -scheiben auf Gestein o. Ä. festgewachsen. Mit einer Größe der Thalli von 10–50 cm sind sie allerdings deutlich kleiner als die meisten Braunalgen. Aufgrund der Fähigkeit, kurzwelliges Licht optimal auszunutzen, besiedeln sie auch die tieferen Meeresregionen (bis zu 180 m). Wichtige Gattungen für die Phycokolloidgewinnung sind Chondrus sp., Gigartina sp. und Furcelllaria sp. (Ord. Gigartinales) sowie Gelidium sp. und Gracilaria sp. (Ord. Nemalionales).
Infobox Braunalgen. Die Klasse der Phaeophyceae, deren bräunliche Färbung auf Fucoxanthin neben anderen Xanthophyllpigmenten beruht, umfasst 11 Ordnungen und 250 Gattungen mit 1500–2000 Arten. Es sind meist Meeresalgen, deren stärkste Verbreitung in den gemäßigten und kälteren Teilen des Pazifik und Atlantik liegt. Sie gehören dem Benthos an und leben festgewachsen als Litophyten, manche bei Niedrigwasser freiliegend, oft auch epiphytisch auf anderen Algen. In der Gezeitenzone der Felsküsten bilden sie eine üppige Vegetation (z. B. unterseeische Wälder an der amerikanischen Pazifikküste) und sind Bestandteil eines komplexen Ökosystems. Macrocystis-Arten gehören mit bis zu 60 m langen Wedeln, die täglich ca. 30 cm wachsen, und einem Gewicht von mehreren Tonnen
6
Zellwand. Morphologisch unterscheiden sich die Algen
als Wasserplanzen grundlegend von den Landplanzen. In Anpassung an die Anforderungen an ein Landleben besitzen Letztere in Form ihrer Zellwand ein starres Stützskelett. Sie besteht aus einem kristallinen Kern aus Celluloseibrillen, der in eine amorphe Matrix aus anderen Polysacchariden und Glykoproteinen eingelagert und teilweise durch Lignin verkittet ist. Die Algen hingegen müssen den in ihrem Lebensraum autretenden extremen mechanischen Belastungen durch Meeresströmungen und Wellenbewegungen standhalten. Die hierfür erforderliche gleichzeitige Festigkeit und Flexibilität wird durch die charakteristischen Strukturpolysaccharide ihrer Zellwände gewährleistet (Jensen 1995). Es handelt sich um viskose Sole- und gelbildende saure Hydrokolloide. Ihrem Vorkommen entsprechend bezeichnet man sie als Phycokolloide.
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19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Infobox Wirtschaftliche Nutzung von Algen. Rot- und Braunalgen, die jährlich schätzungsweise 350 Mio. Tonnen Biomasse produzieren, werden zunehmend wirtschaftlich genutzt (McLean 2001). Zum einen werden daraus Alginsäure, Agar und Carrageenan gewonnen, zum anderen dient ein Großteil, v. a. in Asien, als Nahrungsmittel. Die Nummer Eins Alge in der Ernährung ist Nori (Porphyra umbilicalis, eine Rotalge), gefolgt von Wakame (Undaria pinnatifidia, eine Braunalge) und Kombu (Laminaria digitata, eine Braunalge). In Europa spielen Algen in der Ernährung keine Rolle, werden aber in der Landwirtschaft als Tierfutter und Düngemittel verwendet. Neben der Wildsammlung werden Algen in stark steigendem Ausmaß auch kultiviert; mit einer jährlichen Produktion von etwa 10 Mio. Tonnen ist die Bedeutung insgesamt allerdings noch vergleichsweise gering.
Algenpolysaccharide
! Kernaussage
Wie bei den Landpflanzen gibt es bei den Algen Struktur- und Reservepolysaccharide ( > Tabelle 19.18).
Strukturpolysaccharide. Die Polysaccharide, aus denen die Zellwände bestehen, lassen sich in eine ibrilläre, formgebende und eine amorphe, schleimige Fraktion unterteilen. Erstere setzt sich bei den Braunalgen aus Celluloseibrillen und unlöslichen Alginatgelen zusammen, Letztere aus kolloidal gelösten Alginaten und Fucoidan. Alginate sind Ca2+-, Mg2+-, Na+- und K+-Salze der Alginsäure, einem Polymer aus E-d-Mannuronsäure und E-l-Guluronsäure. Sie wirken in der Zellwand als Ionenaustauscher. Alginate werden außerdem in Interzellularräumen abgelagert. Auch bei den Rotalgen besteht der ibrilläre Anteil überwiegend aus Cellulose. Jedoch sind die Mikroibrillen nicht wie bei den Landplanzen parallel angeordnet, sondern liegen als ilzartiges Gelecht vor. Charakteristisch für den amorphen Teil sind saure Galactane, die die Fibrillen als schleimige Matrix umgeben. Die bekanntesten Vertreter sind Agar und die Carrageenane, allerdings treten in den verschiedenen Spezies auch vielfältige andere sulfatierte Polysaccharide auf. Je nach dem vorliegenden Galactan-Typ unterscheidet man zwei große Gruppen von Rotalgen, nämlich die Carrageenane enthaltenden Carrageenophyten und die Agarophyten, die Agar als Grundsubstanz aufweisen. Daneben
. Tabelle 19.18 Charakteristische Kohlenhydrate einiger Algenklassen. Neben den Reservepolysacchariden kommen auch niedermolekulare Kohlenhydrate als Energiereserve vor. Die Strukturpolysaccharide der Zellwand setzen sich aus einer fibrillären und einer amorphen Fraktion zusammen Chlorophyceae Grünalgen
Bacillariophyceae Kieselalgen
Phaeophyceae Braunalgen
Rhodophyceae Rotalgen
Niedermolekulare Kohlenhydrate
Saccharose, Pentosen, Hexosen
Hexosen
Mannitol
Floridosidea
Reservepolysaccharide
Stärke
Laminarin (E-1,3-D-Glucan)
Laminarin (E-1,3-D-Glucan)
Florideenstärkeb
Strukturpolysaccharide
fibrilläre Fraktion: Mannane, Xylane (keine Cellulose) amorphe Fraktion: Pektine, Glykoproteine (mit Ara, Gal, OH-Prolin)
fibrilläre Fraktion: fehlt (Kieselsäure!)
fibrilläre Fraktion: Cellulose, Alginat
fibrilläre Fraktion: Cellulose
amorphe Fraktion: Pektine, Glykane
amorphe Fraktion: Alginat, Fucoidane, Glykane
amorphe Fraktion: Galactane (Agar, Carrageenane), Glykane
a b
Floridoside = Galactose-Glycerin-Verbindungen, für Rotalgen charakteristisch. Florideenstärke ist bezüglich seiner Eigenschaften zwischen Stärke und Glykogen anzusiedeln.
19.7 Algenpolysaccharide
19
. Tabelle 19.19 Übersicht über Meeresalgen, die zur Gewinnung von Phycokolloiden genutzt werden (fett: Hauptlieferanten) Ordnung
Gattung
wichtige Stammpflanzen
Herkunft
Alginsäure liefernde Algen Laminariales
Laminaria sp.
L. saccharina (L.) LAMOUR. L. digitata (HUDSON) LAMOUR.
Nordeuropa
L. hyperborea (GUNNERUS) FOSLIE L. angustata KJELLMANN
Japan
L. japonica ARESCHOUG
Japan, China
Macrocystis sp.
M. pyrifera (L.) C.A. AGARDH
Kalifornien, Mexiko, Chile
Ecklonia sp.
E. cava KJELLMANN
Japan
Lessonia sp.
L. nigrescens BORY DE SAINT-VINCENT
Chile
Ascophyllum sp.
A. nodosum LE JOLIS
Europa, Kanada
G. amansii LAMOUR.
Japan
M. integrifolia BORY
Fucales
Agar liefernde Algen Gelidiales
Gigartinales
Gelidium sp.
G. cartilagineum (L.) GAILLON
Kalifornien, Mexiko, Südafrika
G. corneum (HUDSON) LAMOUR.
Südafrika, Spanien, Portugal, Marokko
G. sesquipedale (CLEM.) THURET
Spanien
Ahnfeltia sp.
A. plicata (HUDSON) FRIES
Weißes Meer, Sachalin
Acanthopeltis sp.
A. japonica OKAMURA
Japan
Pterocladia sp.
P. capillacea (S.G. GMEL.) BORN ET THUR.
Ägypten, Japan, Neuseeland
Gracilaria sp.
P. lucida (TURNER) J. AGARDH.
Neuseeland
G. confervoides (L.) GREVILLE
Südafrika, Australien, Nordamerika
Ch. crispus STACKH.
Europa, Nordamerika, Peru, Chile, Philippinen, Neuseeland
Carrageenan liefernde Algen Gigartinales
Chondrus sp.
Ch. canaliculatus (C.A. AGARDH) GREVILLE Gigartina sp.
G. stellata (STACKH.) BATT. G. pistillata (S. GMELIN) STACKH.
Nordeuropa
G. radula (ESPER) J. AGARDH
Südafrika, Australien
Hypnea sp.
H. musciformis (WULFEN) LAMOUR.
Indonesien, Philippinen
Eucheuma sp.
E. spinosum J. AGARDH
Philippinen, Südafrika
F. fastigiata (TURNER) LAMOUR.
Dänemark
Furcelleran liefernde Algen Gigartinales
Furcellaria sp.
gibt es allerdings zahlreiche Rotalgenarten, die sich keiner der beiden Gruppen zuordnen lassen, da sie Galactane aufweisen, die sich trotz gleicher Funktion strukturell deutlich von den Carrageenanen und Agar unterscheiden (z. B. das sulfatierte Glucuronogalactan aus Schizymenia dubyi). Phycokolloide, die in großem Maßstab industriell verwendet werden, sind Alginsäure, Agar, Carrageenane und
Furcelleran. In > Tabelle 19.19 sind die für ihre Gewinnung genutzten Algenarten gelistet. Reservepolysaccharide. Unter den Reservepolysacchari-
den gibt es analog zu Stärke und Glykogen auch bei den Algen (1o4)-D-d-Glucane wie die Florideenstärke in Rotalgen, die strukturell dem Amylopektin ähnelt, und die
631
632
19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Meeresalgenstärke der Cryptophyta, Dinophyta und Chlorophyta. Charakteristisch für Algen sind jedoch (1o3)-Ed-Glucane, von denen es gut und schlecht lösliche Formen gibt. Heterokontophyta (u. a. Braunalgen) speichern Laminarin, Euglenophyta und Haptophyta Paramylum, ein (1o3)-E-d-Glucan, das sich mit Iod nicht blau verfärbt. Weitere Reservestofe auf Kohlenhydratbasis sind Xylane, inulinartige Fructane und Monosaccharide. Typisch für Rotalgen sind niedermolekulare D-d-Galactopyranoside des Glycerols, die sog. Floridoside. Infobox Laminarin. Besonders Braunalgen sind reich an Laminarin, das bis zu 30–50% ihres Trockengewichtes ausmacht und in kleinen, den Chloroplasten außen ansitzenden Pyrenoiden lokalisiert ist. Es zeichnet sich durch eine beachtliche strukturelle Vielfalt aus, die zur Differenzierung der Gattungen und Arten herangezogen werden kann. So unterscheidet man zwischen wasserlöslichem Laminarin, wie etwa von Laminaria digitata (HUDSON LAMOUR., und wasserunlöslichem Laminarin, wie dem von Laminaria hyperborea (GUNNERUS) FOSLIE. Das L. digitata-Laminarin ist mit einem mittleren DP von 23–25 Glucoseeinheiten ein relativ kleines Polysaccharid geringer Polydispersität. Bei etwa 70% der E-(1o3)-D-Glucanketten ist das reduzierende Ende durch glykosidisch gebundenes Mannitol maskiert. Ein Teil der Moleküle ist mit E-(1o6)-gebundenen, einzelnen Glucoseeinheiten verzweigt (durchschnittlicher Verzweigungsgrad 1,3). Wird Laminarin partialsynthetisch sulfatiert, erhält man pharmakologisch interessante Substanzen. Sie wirken wie Heparin antithrombotisch, ihre antikoagulierende Wirkung ist jedoch schwächer ausgeprägt. Auffallend sind ihre im Vergleich zu Heparin deutlich stärkere antiinflammatorische und antimetastatische Aktivität.
19.7.2
Alginsäure und Alginate
Definition. Alginsäure, Acidum alginicum, PhEur 5,
ist ein Gemisch von Polyuronsäuren [(C6H8O6)n] aus wechselnden Anteilen (1o4)-E-d-Mannuronsäure und (1o4)-D-l-Guluronsäure. Die Substanz wird hauptsächlich aus Algen der Klasse der Phaeophyceae gewonnen. Ein kleiner Anteil der Carboxylgruppen kann neu-
tralisiert sein. Die Substanz enthält mindestens 19,0% und höchstens 25,0% Carboxylgruppen, berechnet auf die getrocknete Substanz. Natriumalginat, Natrii alginas, PhEur 5, besteht hauptsächlich aus dem Natriumsalz der Alginsäure. Herkunft. Algen aus der Klasse der Phaeophyceae, der
Braunalgen (1500–2000 Arten), enthalten i. d. R. als charakteristische Zellwandbestandteile die Phycokolloide Fucoidan und Alginate, die Salze der Alginsäure ( > Kap. 19.7.1, Strukturpolysaccharide). Der Alginatgehalt schwankt speziesspeziisch und jahreszeitlich zwischen 18–40% des Trockengewichts (z. B. 25–28% bei Laminaria sp.). Zur technischen Gewinnung beschränkt man sich auf einige wenige Braunalgen der Ordnungen Laminariales und Fucales, die nicht nur zu den höchstentwickelten, sondern auch zu den größten Algen zählen ( > Tabelle 19.19, Infobox „Braunalgen“, S. 629). Die wichtigsten Arten sind: (1) Laminaria digitata (Hudson) Lamour. (Laminariaceae; Fingertang), (2) L. saccharina (L.) Lamour; (Zuckertang), (3) Macrocystis pyrifera (L.) C.A. Agardh (Lessoniaceae; Riesentang), (4) Ascophyllum nodosum Le Jolis (Fucaceae; Knotentang). Heutzutage werden weltweit ~40.000 Tonnen Alginat pro Jahr gewonnen (im Vergleich: Carrageenan ~30.000 Tonnen, Agar ~20.000 Tonnen) (Marburger 2003). Zu den Hauptproduktionsländern zählen die USA, Großbritannien, Norwegen, Kanada, Frankreich, Japan und China, wobei Alginat aus China überwiegend aus Laminaria-Kulturen stammt. Gewinnung. Die Algen werden an den Küsten des Verbrei-
tungsgebietes geerntet; aus Gründen des Naturschutzes dürfen sie nur bis ca. 1 m Wassertiefe abgeschnitten werden. Die Algenthalli werden zerkleinert und mit verdünnter wässriger Säure gewaschen, um Salze, Mannitol und lösliche Polysaccharide, wie Laminarin und Fucoidan, zu entfernen. Anschließend wird das Alginat als Natriumsalz mit heißer Sodalösung oder verdünnter NaOH extrahiert. Nach Klärung und Filtration des Extraktes wird durch Zusatz von Salzsäure die in Wasser unlösliche, aber quellende freie Alginsäure oder durch Zusatz von CaCl2 das Calciumalginat ausgefällt. Durch Waschen, Bleichen und Trocknen erhält man ein weißes bis blass gelblichbraunes, geruch- und geschmackloses Pulver, das amorph ist oder Faserstruktur besitzt. Die Alginsäure wird durch berechnete Mengen an NaOH in die sog. Natriumalginat-Paste überführt, aus
19.7 Algenpolysaccharide
der durch Trocknung und Mahlung Natriumalginat-Pulver, die bevorzugte Handelsform, entsteht. Von verschiedenen Herstellern sind zahlreiche Typen mit z. T. erheblich diferierenden Eigenschaten im Handel. Üblicherweise werden die Typen anhand der Viskosität ihrer Lösungen klassiiziert.
19
Struktur Alginsäure ist ein Gemisch linearer Polyuronide aus (1o 4)-E-d-Mannuronsäure und (1o4)-D-l-Guluronsäure ( > Abb. 19.32). Die beiden Bausteine liegen teils als Blockpolymere (MM-Blöcke und GG-Blöcke) mit nur jeweils
. Abb. 19.32
Alginsäure. Alginsäure ist ein Gemisch aus Polyuroniden, die aus (1o4)-verknüpfter β-D-Mannuronsäure (M) und α-LGuluronsäure (G) aufgebaut sind. Die Primärstruktur besteht aus MM-, GG-Blöcken und alternierenden Sequenzen (MG-Blöcke), sodass periodische Sequenzen (MM- und GG-Blöcke) von aperiodischen unterbrochen werden. Wie die Konformationsformeln erkennen lassen, unterscheiden sich die drei Sequenzvarianten in ihrer räumlichen Struktur. Dies ist entscheidend für die Fähigkeit zu Gelbildung. In Gegenwart mehrwertiger Kationen wie Ca2+ können sich die GGKetten parallel lagern und geordnete Tertiärstrukturen ausbilden („egg box type“-Struktur), da ihre ausgeprägte Faltung Hohlräume ergibt, in die sich die Kationen einlagern und so die elektrostatische Abstoßung der anionischen Ketten kompensieren. Die gestreckte „ribbon type“-Konformation der MM- und MG-Blöcke hingegen erlaubt keine solche Parallellagerung. Infolgedessen entsteht letztlich ein kohärentes Netzwerk als Voraussetzung für die Gelbildung ( > Abb. 19.33)
633
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19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
einem Uronsäuretyp vor, teils als alternierende Sequenzpolymere, in denen beide zu etwa gleichen Teilen statistisch verteilt sind (MG-Blöcke).
! Kernaussage
Die Blockpolymerstruktur ergibt sich aus der Biosynthese
Der Anteil an Mannuron- und Guluronsäure und auch das Verhältnis von Polymannuronsäure, Polyguluronsäure und alternierenden Segmenten schwankt je nach der biologischen Herkunt und beeinlusst die jeweiligen Eigenschaten des Polymers ( > Tabelle 19.20). Da die Alginsäure zunächst nur aus Mannuronsäureeinheiten aufgebaut wird und die Guluronsäure erst durch die Einwirkung einer C-5-Epimerase entsteht, sind Jungplanzen besonders reich an Mannuronsäure, während ältere Algen einen entsprechend höheren Guluronsäureanteil aufweisen. In der Zellwand liegen die Alginatmoleküle als dichtgepackte Stränge vor, wobei die Carboxylatgruppen der Uronsäuren über zweiwertige Kationen wie Ca2+ und Mg2+ miteinander verknüpt sind. Sie bedingen die Festigkeit und Flexibilität der Algenthalli. Daneben stellen die löslichen Na+- und K+-Salze der Alginsäure Bestandteile der amorphen Matrix dar. Die Mr nativer Alginsäure liegt zwischen 150.000 und 250.000. Aber bereits während der Isolierung kommt es zu partiellem Abbau, sodass die Mr regenerierter Alginsäure nur noch bei 30.000–60.000 liegt. Die unterschiedliche Kettenlänge wirkt sich v. a. auf die Viskositätseigenschaten aus.
Eigenschaften Löslichkeit von Alginsäure. Mannuronsäure hat einen
pKa von 3,38, Guluronsäure ist mit einem pKa von 3,65 die etwas schwächere Säure. Der pH-Wert einer 3%igen Alginsäuresuspension in Wasser schwankt zwischen 1,5 und 3,5. Alginsäure löst sich in Laugen, in siedendem Wasser ist sie wenig löslich. Praktisch unlöslich ist sie in organischen Lösungsmitteln und kaltem Wasser, kann jedoch die 200- bis 300fache Masse an Wasser aufnehmen (Quellung). Löslichkeit von Natriumalginat. Ebenso ist Natriumalgi-
nat in Alkohol (>30%), Ether und CHCl3 praktisch unlöslich, löst sich jedoch im Gegensatz zur Alginsäure sehr langsam kolloidal in Wasser (Sol). Wässrige Lösungen reagieren neutral bis schwach sauer, physikalisch stabil sind sie zwischen einem pHWert von 4 und 10 (Optimum pH-Wert 6–7). Die Viskosität einer 1%igen Natriumalginatlösung beträgt bei 20 °C je nach Typ zwischen 2200 und 5000 mPa*s. Bei Erniedrigung des pH-Wertes steigt die Viskosität bis zu einem Maximum bei einem pH-Wert von 3,0–3,5, darüber hinaus fällt die Alginsäure aus. Geringe EtOH-Zusätze erhöhen die Viskosität einer Alginatlösung, Zusätze von mehr als 30–40% EtOH fällen die Alginate durch Dehydratisierung aus. Mit gleichen Volumenteilen Glycerol oder Propylenglycol ist eine wässrige Alginatlösung hingegen mischbar. Ähnlich wie EtOH führen auch größere Mengen an Elektrolyten (>4% NaCl) zur Ausfällung des Alginats (Aussalzung).
. Tabelle 19.20 Strukturelle Variabilität der Alginsäure. Relative Anteile von Mannuron- und Guluronsäure sowie von Polymannuronsäure (MM-Blöcke), Polyguluronsäure (GG-Blöcke) und alternierenden Segmenten (MG-Blöcke) in Alginsäureprodukten aus verschiedenen Braunalgen. (Nach HagerRom 2004) Macrocystis pyrifera
Laminaria hyperborea
Ascophyllum nodosum
Mannuronsäure [%]
61
31
65
Guluronsäure [%]
39
69
35
M/G-Verhältnis
1,56
0,40–1,00
1,40–1,95
MM-Block [%]
40
13
38
GG-Block [%]
18
60
21
MG-Block [%]
42
27
41
19.7 Algenpolysaccharide
Hinweis: Generell kann das Lösen von Natrium und anderer Alginate in Wasser deutlich erleichtert werden, wenn das trockene Alginat zunächst mit einem mit Wasser mischbaren Lösungsmittel wie EtOH oder Glycerol angefeuchtet wird.
19
! Kernaussage
Na-, K-, NH4- und Mg-Alginate bilden hochviskose Lösungen, in Gegenwart von Ca2+-Ionen kommt es zur Gelbildung
Löslichkeit anderer Alginate. Wie Natriumalginat lösen
Gelbildung. Na-, K-, NH4- und Mg-Alginate bilden nor-
sich auch Kalium- und Ammonium- sowie Magnesiumalginat langsam kolloidal in Wasser. Beim Zusatz anderer Erdalkaliionen zu einer Alginatlösung entsteht jedoch eine gelartige Masse (Gelbildung). Bemerkenswert ist, dass ein geringer Zusatz von Ca2+ zu Natriumalginatlösungen zunächst eine Verdickung und damit eine Stabilisierung bewirkt, erst bei höheren Konzentrationen scheidet sich das Calciumalginat als Gel ab.
malerweise keine Gele, sondern nur hochviskose Lösungen, die beim Trocknen zusammenhängende, abwaschbare Filme ergeben. Erst in einem höheren Konzentrationsbereich (3–6% Natriumalginat) erhält man streichfähige Hydrogele. Bei Zusatz zwei- oder mehrwertiger Metallionen, insbesondere Ca2+, zu Alginatlösungen (>1%) entstehen thixotrope Gele. Während die Gele bei niedrigen Ca2+Konzentrationen thermoreversibel sind, sind sie bei hohen thermoresistent. Die Gelbildung beruht auf dem Einluss von Kationen auf die Konformation der Polymere. Bei Ca2+-Zuatz entsteht aus der Knäuelkonformation wie bei Pektinen die sog. „egg box type“-Konformation ( > Abb. 19.33). Durch die biaxiale Verknüpfung der Guluronateinheiten sind die Ketten der GG-Blöcke stark gefaltet und bilden „Höhlen“, deren Durchmesser dem von Ca2+ entspricht. Eingelagertes Ca2+ ermöglicht über die Ausbildung von Ca2+-Chelatbrücken die Assoziation von Polyguluronatsequenzen und führt so zur stabilen „egg box type“-Teriärstruktur. Bei höheren Ca2+-Konzentrationen assoziieren mehrerer solcher Doppelstränge, jedoch sind die Ca2+-Brücken zwischen ihnen wesentlich schwächer und können
Besonderheiten. Die Abhängigkeit der Löslichkeit und
Viskosität von einer Vielzahl von Faktoren ist ein prägnanter Unterschied zwischen den Alginaten und dem allerdings teureren Xanthan. Ein weiterer Punkt, der beim Einsatz der Alginate zu berücksichtigen ist, sind mögliche Wechselwirkungen mit anderen Stofen. Denn als anionische Polyelektrolyte treten Alginsäure und Natriumalginat in Wechselwirkung mit kationischen Arzneistofen, Acridinderivaten, Kristallviolett und mehrwertigen Metallionen. Unverträglichkeiten in Form unerwünschter Ausfällungen treten hauptsächlich mit Salzen dreiwertiger Ionen (Al3+, Fe3+) auf. Zu beachten ist, dass kationische Desinfektionsmittel durch Alginsäure und Natriumalginat inaktiviert werden, ohne dass ein Niederschlag entsteht. . Abb. 19.33
„egg box type“-Konformation
„Egg box type”-Konformation und Gelbildung. Die Bildung stabiler Alginatgele in Gegenwart von Calciumionen beruht auf der intermolekularen Assoziation hochgeordneter GG-Blöcke (optimal 15 Monosaccharideinheiten) durch Chelatbildung mit Ca2+. Die aggregierten Zonen, die sog. „egg box junctions“, werden von ungeordneten MM-Blöcken und MGBlöcken unterbrochen, wodurch weitmaschige Hohlräume entstehen, in die sich große Mengen Wasser fest einlagern
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19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
durch hohe Konzentrationen an einwertigen Kationen gebrochen werden. Die MM-Blöcke und die alternierenden Sequenzen sind nicht an der Chelatbildung beteiligt und verhindern eine vollständige Kristallisation der Alginate. Vielmehr entstehen in diesen ungeordneten Bereichen Hohlräume, in die sich Wasser fest einlagert, was letztlich die Entstehung eines Gels ermöglicht. Infobox Bindung von Schwermetallionen durch Alginate und Pektine. Die uronsäurehaltigen Alginate und Pektine besitzen die Fähigkeit, mit mehrwertigen Metallionen Chelatkomplexe zu bilden. Von praktischer Relevanz sind die Unterschiede in der Affinität gegenüber verschiedenen Ionen. So wurde z. B. für guluronatreiches Alginat folgende Affinitätsreihe ermittelt: Pb2+ > Cu2+ > Ba2+ > Sr2+ > Cd2+ > Ca2+ > Co2+, Ni2+, Zn2+, Mn2+ > Mg2+ Diese Tatsache ermöglicht es, Alginate und Pektine in der Technik und Medizin als Kationenaustauscher zu nutzen. Als lösliche Ballaststoffe in der Nahrung können Alginate und Pektine nachweislich Schwermetalle binden, während die Resorption von Mineralien nicht nachteilig beeinflusst wird (Endreß 2002). Die ausgeprägte Affinität zu Strontium bietet eine Option für die medizinische Behandlung von Patienten, die z. B. nach Kernwaffenexplosionen oder Reaktorstör fällen hohen Belastungen mit 90Sr, einem Knochenkrebs auslösenden E-Strahler, ausgesetzt sind. Laut Literatur verhindern die Polyuronate bei oraler Applikation durch einen In-vivo-Ionenaustausch, dass über die Nahrung in den Organismus gelangendes radioaktives Strontium in die Knochensubstanz eingebaut wird, und sollen sogar die Dekorporierung von bereits im Knochen deponiertem 90Sr herbeiführen (Endreß 2002).
Stabilität. Bei längerer Lagerung pulverförmiger Algin-
säure- und Natriumalginatprodukte insbesondere unter Feuchtigkeitseinluss, aber auch nach längerem Erhitzen von Lösungen oder Dispersionen (v. a. >70 °C oder bei Dampfsterilisation im Autoklaven bei pH-Werten 10) kommt es zu einer Reduktion der viskositätserhöhenden Eigenschaten. Dies beruht auf selbstkatalysierter hydrolytischer Depolymerisation bis hin zu Oligo- und Monosacchariden. Im weiteren Verlauf dieses Abbaus verändern sich auch die Löslichkeit und das Quellvermögen.
Laut PhEur 5 ist die maximal zulässige Keimzahl auf 102 bzw. 103 lebensfähige Mikroorganismen/g beschränkt, da Alginsäure und Natriumalginat gute Substrate für Mikroorganismen darstellen.
Verwendung Alginsäure bzw. ihre Salze werden wegen ihrer charakteristischen Sol- und Geleigenschaten, ihrer emulsions- und suspensionsstabilisierenden Wirkung sowie ihrer Fähigkeit zu Filmbildung und Kationenaustausch in außerordentlich vielen Bereichen (Lebensmittel-, Kosmetik-, Papier, Textildruck- und Farbenindustrie, pharmazeutische Industrie und Medizin, Biotechnologie und Wasseraufbereitung) verwendet (Marburger 2003). Lebensmittelindustrie. Etwa ein Drittel der jährlichen
Weltproduktion wird in der Lebensmittelindustrie als Dickungsmittel, Gelbildner, Suspensions- bzw. Emulsionsstabilisator oder als Schutzkolloid (z. B. für Tiekühlisch) eingesetzt. In Eiscreme verhindern Alginate beispielsweise ähnlich wie Johannisbrotkernmehl die Bildung großer Eiskristalle bei der Lagerung. In Deutschland sind Alginsäure (E 400), Natriumalginat (E 401), Kaliumalginat (E 402) und Ammoniumalginat (E 403) und Calciumalginat (E 404) ohne Beschränkung der täglichen Höchstmengen als Lebensmittelzusatzstofe zugelassen. Pharmazeutische Technologie. In der pharmazeutischen
Technologie ( > Tabelle 19.2) werden Alginsäure und auch Calciumalginat wegen ihrer Unlöslichkeit und ihres ausgeprägten Quellvermögens als Tablettensprengmittel (3–5%) verwendet, wobei sie gleichzeitig als Bindemittel wirkt. Enthält die Tablettenmischung zusätzlich 5–10% Stärke, genügen bereits 0,5–1,0% Alginsäure, um den Zerfall wesentlich zu verbessern. Die Verarbeitung kann durch Feucht- oder Trockengranulation erfolgen; bei der Feuchtgranulation lässt man die Alginsäure vorquellen. In lüssigen peroralen Zubereitungen vermögen geringe Zusätze von Alginaten einen unangenehmen Geschmack bis zu einem gewissen Grad zu überdecken und sollen durch bestimmte Wirkstofe hervorgerufene gastrointestinale Nebenwirkungen verhindern.
! Kernaussage
Die gelbildenden Eigenschaften von Calciumalginat werden u. a. in Form von Medizinprodukten genutzt.
19.7 Algenpolysaccharide
Etliche Applikationen basieren auf der Eigenschat, dass lösliche Alginate in Gegenwart von Calciumionen augenblicklich Gele bilden. Man nutzt dies beispielsweise zur Herstellung von Retardzubereitungen, zur schonenden Immobilisierung von Enzymen, zur Fixierung von Zellen für Bioreaktoren und in Form einiger Medizinprodukte. So werden Natriumalginat-Calciumsalz-Mischungen als Dentalabdruckmassen in der Zahnarztpraxis verwendet, Calciumalginat als saugfähiges Material in interaktiven Infobox Interaktive Wundauflagen aus Calciumalginat und anderen Hydrokolloiden zur Unterstützung der Wundheilung. Die Wundheilung ist ein komplexer Prozess zur Rekonstitution des verletzten Gewebes, den man in mehrere Phasen unterteilen kann: 1. frühe, exsudative Phase mit primärer und sekundärer Hämostase (Schorfbildung), 2. späte resorptive Entzündungsphase mit Einwanderung von Entzündungszellen zur Reinigung der Wunde (Phagozytose), 3. proliferative Phase mit der Bildung von zell- und gefäßreichem Granulationsgewebe, dessen Fibroblasten Kollagenfasern produzieren, und Epitheliasierung der Wunde, 4. reparative Phase mit Wundkontraktion und Bildung der gefäß- und zellarmen Narbe aus dem Granulationsgewebe. Im Gegensatz zu den inaktiven Wundauflagen (Mulloder Vlieskompressen, semipermeable Folien oder Polyurethan-Schaumstoffkompressen) unterstützen interaktive Wundauflagen auf der Basis von Hydrokolloiden die Wundheilung, indem sie zum einen Wundsekret (mit Zelltrümmern, Bakterien, Enzymen) binden, zum anderen aber ein feuchtes Wundmilieu gewährleisten und somit zellvermittelte Prozesse der Wundheilung fördern (Heyn 2005). Im Allgemeinen können diese Wundauflagen bis zu sieben Tagen auf der Wunde verbleiben. In Abhängigkeit von der Art der Wunde eignen sich: x Hydrokolloide wie Carboxymethylcellulose, Pektine, Agar, Gelatine bei sezernierenden Wunden, x Calciumalginate bei stark sezernierenden Wunden wegen des besonders guten Quellvermögens, x Hydrogele mit einem Wasseranteil bis zu 60% bei trockenen und nekrotischen Wunden zur Unterstützung des körpereigenen Depridements.
19
Wundaulagen ( > Infobox) und Natriumalginatlösungen in Sprühplastern und -verbänden. Letztere wirken hämostyptisch, indem unmittelbar beim Kontakt mit dem Ca2+ des Blutes eine Membran aus unlöslichem Calciumalginat entsteht, welche die Wunde verschließt (Schutzkolloid). Physiologische Eigenschaften und Anwendung. Algin-
säure und Alginate sind beschränkt verdaulich und zählen somit zu den Ballaststofen. Die Abbaurate durch die Dickdarmlora schwankt zwischen 15 und 60%. Alginsäure ist gegenwärtig ein beliebter Bestandteil in „Schlankheitsmitteln“, da sie aufgrund ihres hohen Quellvermögens das Hungergefühl reduziert und in gewissem Maße auch stuhlregulierend wirkt ( > Kap. 19.2.11). Ferner wird Alginsäure bzw. Natriumalginat in Kombination mit Aluminiumhydroxid, Kaliumhydrogencarbonat oder anderen Antacida bei Reluxösophagitis, Sodbrennen und saurem Aufstoßen eingesetzt. Bei Kontakt mit dem salzsauren Magensat entstehen Alginsäuregele, die wegen ihrer Durchsetzung mit CO2-Gasblasen auf dem Mageninhalt aufschwimmen und als pH-neutrale bis schwach saure mechanische Barriere fungieren.
Anhang: Alginsäurepropylenglycolester
! Kernaussage
Alginsäurepropylenglykolester ist ein chemisches Derivat der Alginsäure mit modifizierten Eigenschaften.
Aus der Reaktion von Propylenoxid mit Alginsäure entsteht der Propylenglykolester. Gegenüber Alginsäure und den Alginaten zeigt er eine geringere Empindlichkeit gegenüber dem pH-Wert und fällt bei Säurezusatz aus wässrigen Lösungen nicht aus. Wässrigen Lösungen dieses Derivates können auch größere Mengen wassermischbarer Lösungsmittel und höhere Konzentrationen ein- und zweiwertiger Metallionen zugesetzt werden, ohne dass es zur Ausfällung kommt. Daher eignet sich Alginsäurepropylenglykolester (E 405) als Verdickungsmittel, Stabilisator und Emulgator in sauren Nahrungsmitteln. Außerdem ist er ein gebräuchlicher Schaumstabilisator, der sowohl in den Schaumteppichen der Feuerwehren als auch im Bier (0,01%) zu inden ist.
637
638
19 19.7.3
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Agar
Definition. Agar PhEur 5 besteht aus den Polysacchariden verschiedener Rhodophyceae-Arten, hauptsächlich Gelidium-Arten. Die Herstellung erfolgt durch Extraktion der Algen mit siedendem Wasser. Der Extrakt wird heiß iltriert, konzentriert und getrocknet. Herkunft. In den Zellwänden der Agarophyten bildet Agar die amorphe Matrix, in die die Celluloseibrillen (ca. 12%) eingebettet sind ( > Kap. 19.7.1, Strukturpolysaccharide). Die Gruppe der Agarophyten umfasst verschiedene Rotalgen, vor allem der Ordnungen Gelidiales und Gigartinales ( > Tabelle 19.19, Infobox „Rotalgen“). Als benthische Meeresalgen besiedeln sie felsige Küsten und wachsen, mit Ausnahme von Ahnfeltia sp., in den warmgemäßigten und tropischen Zonen. Agar wird weltweit gewonnen; nach Japan sind China, Chile, Spanien, Portugal, Argentinien, Dänemark, USA, Neuseeland und Frankreich wichtige Produktionsländer. Hauptlieferanten sind Gelidium amansii Lamour. (Gelidiaceae), die an den Küsten Japans zu inden ist, und Gracilaria confervoides (L.) Greville (Gracilariaceae), die beide auch in beträchtlichem Umfang kultiviert werden. Die etwa 10–30 cm großen halli der Gelidium-Arten können bis zu 30% Agar enthalten und liefern die besten Agarqualitäten.
einer lockeren Masse zurück, die entweder in Streifen geschnitten oder grob zermahlen im Wirbellutstrom getrocknet wird. Je nach Verfahren ist die resultierende Droge ein Pulver oder besteht aus farblosen bis blassgelben, durchscheinenden, zähen Platten, Bändern oder Flocken. Aufgrund der Verwendung vieler verschiedener Algenarten und der zahlreichen Varianten der Herstellung sind die heute auf dem Weltmarkt beindlichen Agarsorten recht unterschiedlich. Handelsagar hoher Qualität kann zu über 90% aus Kohlenhydraten bestehen, enthält aber stets auch noch Wasser (PhEur: max. 20%), Asche (PhEur: max. 5%), N-haltige Stofe, Spuren von Fett und Rohfasern. Die Zusammensetzung der Kohlenhydratfraktion ist sehr variabel.
Struktur Die Kohlenhydratfraktion (ca. 90%) des Agars ist ein komplexes Gemisch linearer, sauer reagierender Homogalactane. Das Grundgerüst dieser sog. Agaroide besteht aus alternierenden (1o3)-verknüpten E-d-Galactose- und (1o4)-verknüpten D-l-Galactoseeinheiten.
! Kernaussage
Die komplexe Zusammensetzung der Kohlenhydratfraktion des Agars ergibt sich aus der Biosynthese.
Gewinnung. Während die Gewinnung in Amerika und
Europa weitgehend mechanisiert ist, erfolgt sie in Japan auch heute noch auf traditionelle Weise: Die Rotalgen werden mit der Hand oder einem Spezialrechen vom Meeresgrund losgerissen, mit Süßwasser gewaschen und in der Sonne gebleicht. Die getrockneten Algenthalli werden anschließend mechanisch gereinigt, nochmals gewaschen, gebleicht und getrocknet. Durch mehrstündiges Kochen der Algenthalli mit leicht angesäuertem Wasser erhält man einen Agar-Rohextrakt. Der heiße Extrakt wird mit Essig- oder Schwefelsäure versetzt, um mitextrahierte Proteine auszufällen. Nach Filtration, Klärung und Abkühlung entsteht ein festes Gel. Die Trennung von Agar und Wasser erfolgt durch Ausfrieren, wobei sich der größte Teil des Wassers als Eiskristalle abscheidet und ein wasserarmes Agargel hinterlässt. Beim Autauen werden mit dem Wasser die darin gelösten Salze und organischen Verunreinigungen entfernt. Durch mehrmaliges Ausfrieren und Wiederautauen des Agargels bleibt schließlich der eigentliche Agar in Form
Im Anschluss an die Bildung der Galactankette aus UDPGalactosebausteinen werden die Galactoseeinheiten zunächst durchgehend am C-6 sulfatiert; dann werden die Sulfatgruppen unter Veränderung des Monosaccharidrestes teilweise wieder eliminiert. Dabei entsteht aus den l-Enantiomeren 3,6-Anhydrogalactose, während bei den d-Enantiomeren die Sulfat- gegen eine Methylgruppe ausgetauscht wird oder ,-Ketale mit Brenztraubensäure gebildet werden. Die einzelnen Agaroide unterscheiden sich demzufolge in ihrem Sulfatgehalt (0–5%) sowie ihrem Gehalt an Methylgruppen, Pyruvatresten (0,05–3%), Anhydrogruppierungen und Galacturonsäure, die zusätzlich in kleinen Mengen enthalten ist. Da das periodische Bauprinzip [3)-E-d-Galp-(1o4)-3,6-Anhydro-D-l-galp-(1o)], die sog. Agarobiose, durch die diversen Modiikationen der Zuckereinheiten überdeckt wird, stellen die Agaroide Glykane vom „maskiert periodischen Typ“ dar.
19.7 Algenpolysaccharide
Die früher übliche Einteilung der Agaroide in die neutrale Agarose und das saure Agaropektin ist nach genauer Untersuchung nicht mehr haltbar, da es ließende Übergänge gibt. Dennoch sollen die beiden Polysaccharidgemische, die man durch fraktionierte Fällung erhält, gegeneinander abgegrenzt werden. x Agarose: Agarose stellt mit etwa 70% die Hauptfraktion des Agar dar. Die nur schwach negativ geladenen Polysaccharidketten mit Mr von 110.000–160.000 bestehen überwiegend aus 3,6-Anhydro-D-l-galactose und E-d-Galactose. Ein geringer Anteil der E-d-Galactose liegt als 6-O-Methylether vor. Agarose enthält wenig sulfatierte Monomere (Sulfatgehalt Abb. 19.34). Der hohe 3,6-Anhydrogalactosegehalt macht die Agarose zu einem der stärksten Gelbildner und ist für die Gelierfähigkeit des Agars verantwortlich. In Gegenwart von Elektrolyten entstehen bereits aus 0,2%igen Agaroselösungen beim Abkühlen formbeständige Nebenvalenzgele. Die Moleküle bilden Einzel- und Doppelhelices, die zu netzartig verzweigten, kristallinen Domänen aggregieren ( > Abb. 19.35). Dadurch entstehen wassergefüllte Hohlräume, die dem Gel seine charakteristische Porenstruktur verleihen und eine fast ideale Difusion erlauben. . Abb. 19.34
19
Bei Molekülen, bei denen die 3,6-Anhydrogalactoseeinheiten gegen Galactose-6-O-sulfat ausgetauscht sind, kommt es zu Störungen der Helixstruktur, und ihre Gelierfähigkeit ist vermindert. Behandelt man Galactose-6-O-sulfat-haltige Moleküle mit Alkali, bilden sich umgekehrt Anhydrozucker mit der Konsequenz, dass die Gelierfähigkeit zunimmt. Agarose ist in den meisten organischen Lösungsmitteln unlöslich. Ebenso kann sie durch hohe Elektrolytkonzentrationen ausgefällt werden. Außerdem lässt sie sich durch fraktionierte Fällung mit Polyethylenglykol von den übrigen Komponenten, dem „Agaropektin“, abtrennen. x Agaropektin: Als „Agaropektin“ bezeichnet man demzufolge das heterogene Gemisch der sauren Agaroide, die bei Polythylenglykolzusatz in Lösung bleiben ( > Abb. 19.36). Mit einem Sulfatgehalt von 3–10% (DS = 0,06–0,22) enthält es >90% der im Agar vorhandenen Sulfatgruppen. Genuin liegen diese überwiegend als Ca-Salze, daneben als Mg-, K- und Na-Salze vor. Ferner indet man in dieser Fraktion D-l-Galactose-6-O-methylether und die mit Brenztraubensäure substituierte 4,6-O-(1c-Carboxyethyliden)-E-d-galactose (d. h. ein 4,6-Pyruvatketal). Der Anteil an 3,6-Anhydro-D-lgalactose ist gering, weshalb Agaropektin im Gegensatz zu Agarose nicht geliert.
Eigenschaften Löslichkeit. In kaltem Wasser ist Agar unlöslich, besitzt
Agarobiose Agarobiose. Das vorherrschende Bauelement der Agarose, der Hauptkomponente im Agar, ist Agarobiose. Diese ungeladene Disaccharideinheit besteht aus einer β-DGalactose und einer α-L-3,6-Anhydrogalactose, die über eine β-(1o4)-Bindung miteinander verknüpft sind. Der resultierende hohe Anhydrozuckergehalt der Agarose ist für die exzellente Gelierfähigkeit von Agar verantwortlich
aber wie Alginsäure ein ausgeprägtes Quellvermögen. Im Gegensatz zur Alginsäure lässt die PhEur 5 bei Agar die Quellungszahl bestimmen, die mit einem Wert von mindestens 10 der Forderung für die Schleimdrogen Eibischwurzel und Flohsamen entspricht. Während Alginsäure auch in heißem Wasser schwer löslich ist, löst Agar sich beim Erhitzen einer Suspension auf 80–90 °C unter Bildung eines Sols. Die Viskosität der wässrigen Lösungen ist außer von der Temperatur erheblich vom pH-Wert, vom Elektrolytgehalt und von der Konzentration abhängig.
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
. Abb. 19.35
Grundlage der Gelbildung. Die Gelierfähigkeit von sulfatierten Galactanen wie Agar und Carrageenanen beruht auf zwei unterschiedlichen Strukturelementen: Zum einen gibt es hoch geordnete helikale Kettenabschnitte mit einem hohen Gehalt an 3,6-Anhydrogalactose, zum anderen hydrophile, stark negativ geladene, ungeordnete Bereiche („random coil”Struktur). Die helikalen Domänen stabilisieren sich weiter durch Aggregation unter Beteiligung von Metallionen. In den entstehenden, weitmaschigen Hohlräumen können sich große Mengen Wasser stabil einlagern (nach Lehmann 1996)
! Kernaussage
Agar bildet temperaturbeständige Gele und gilt als Prototyp für Polysaccharidgelsysteme.
Gelbildung. Bereits 0,5%ige wässrige kolloidale Agarlö-
sungen erstarren beim Abkühlen auf 30–50 °C zu einem Gel, das erst bei über 80 °C wieder in ein Sol übergeht. Im Gegensatz zu den meisten anderen Polysaccharidgelen zeichnen sich die Agargele somit durch eine hohe Temperaturbeständigkeit aus. Einzigartig ist die große Diferenz zwischen der Gelier- und der Schmelztemperatur.
Nachteilig ist, dass Agargele nur eine geringe Transparenz und eine starke Tendenz zur Synärese aufweisen. Vorteilhat sind die emulgierenden und stabilisierenden Eigenschaten des Agar. Maßgebend für seine Verwendung in Pharmazie und Medizin ist neben der Fähigkeit zur Bildung thermoresistenter Gele die Tatsache, dass Agar für die meisten Mikroorganismen unverdaulich ist. Andererseits aber stellt Agar mit einem Wassergehalt bis zu 20% einen guten Nährboden für Mikroorganismen dar. Aus diesem Grund begrenzt die PhEur 5 die zulässige Keimzahl auf 103 lebensfähige Mikroorganismen pro Gramm.
19.7 Algenpolysaccharide
19
. Abb. 19.36
Bausteine der Agaroide. Die Agarpolysaccharide bestehen aus alternierenden (1o3)-gebundenen β-D-Galactose- und (1o4)-gebundenen α-L-Galactoseeinheiten (vgl. Carrageenan mit (1o4)-gebundener α-D-Galactose). Nach der Biosynthese wird die Homogalactankette in verschiedener Weise modifiziert, sodass die „repeating units“ im Gegensatz zu bakteriellen Polysacchariden kaum noch zu erkennen sind. Ein Teil der D-Galactose bildet unter Beteiligung der OH-Gruppen an C-4 und C-6 mit der Carbonylgruppe von Brenztraubensäure ein Ketal. Die α-L-Galactose kann am C-6 sulfatiert sein. Aus α-L-Galactose-6-O-sulfat entstehen der α-L-Galactose-6-O-methylether und die α-L-3,6-Anhydrogalactose. Ein Agarprodukt repräsentiert also jeweils den Status quo eines dynamischen Biosyntheseprozesses. Dies erklärt die große Variabilität zwischen verschiedenen Agarprodukten
Verwendung
! Kernaussage
Agar wird als Nährboden in der Mikrobiologie und als Gelatineersatz verwendet.
Pharmazeutische Technologie. In der Galenik spielt Agar
heute keine große Rolle mehr ( > Tabelle 19.2). Als Tablettensprengmittel wird er aktuell nur in einem einzigen Präparat der Roten Liste verwendet. Als Dickungsmittel, Gelbildner, Stabilisator und Pseudoemulgator indet man ihn noch in einigen wenigen Säten, Suspensionen und Emulsionen (z. B. Parainölemulsion).
Verwendung im Labor. Agar gilt auch heute noch als
Standard für die Herstellung steriler Nährböden für die Kultur von Mikroorganismen, die Aufzucht von Orchideen aus Samen und die Bildung von planzlichem Kallusgewebe für die vegetative Vermehrung. 1- bis 2%ige Lösungen in heißem Nährmedium werden in Kulturgefäße ausgegossen und erstarren zu Nährböden, die von den meisten Bakterien und Pilzen nicht enzymatisch angegriffen werden. Agargele werden für die Gelelektrophorese verwendet. Die aus Agar isolierte Agarose dient zur Herstellung von Säulenmaterialien für die Geliltrationschromatographie (Sepharose/Sagarose) und Ainitätschromatographie.
Lebensmittelindustrie. Der Hauptanteil der Agarpro-
duktion wird in der Lebensmittelindustrie als Gelierungsmittel (E 406) eingesetzt. Wegen der Hitzebeständigkeit ist Agar insbesondere für die Herstellung von Fleisch-, Fischund Gelügelkonserven sowie Back- und Süßwaren geeignet. Ferner werden mit Agar Milchprodukte stabilisiert und Wein und Bier geklärt. Im Haushalt fungiert Agar als nichttierischer Gelatineersatz. In der Industrie und Technik stellt man aus Agar Appreturen für Gewebe und Papier her. Physiologische Eigenschaften und Anwendung. Die
Verwendung von Agar in der Medizin ist von untergeord-
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
neter Bedeutung. Agar wird von den Verdauungsenzymen nicht und von der Dickdarmlora nur zu etwa 20% abgebaut wird. Früher wurde er wegen seiner Quellfähigkeit als mildes Abführmittel (Füllungsperistaltikum) eingesetzt (4–16 g 1- bis 2-mal täglich in Milch oder Fruchtsat). Aufgrund seiner Quellung und somit magenfüllenden Eigenschaten wird Agar auch zur Herstellung energiereduzierter Nahrungsmittel und in „Schlankheitsmitteln“ genutzt.
nemark und Frankreich; stark expandierend ist sie in Japan, auf den Philippinen und in Indonesien. Zunehmend ist der Anteil an Carrageenanen, die aus kultivierten Algen isoliert werden. Bereits über die Hälte der Weltproduktion stammt heute aus der Kultivierung von Eucheuma-Arten, die hauptsächlich auf den Philippinen und in Indonesien stattindet (McHugh 1991).
Gewinnung
19.7.4
Carrageen und Carrageenane
Definition. Zwischen den Begrifen „Carrageen“ und
„Carrageenane“ bestehen folgende Unterschiede: x Carrageen. Als Carrageen (syn. „Irisches Moos“, „Irländisches Moos“, „Irländische Alge“) bezeichnet man die Droge, die aus von der Sonne gebleichten und getrockneten hellgelben, durchscheinenden und knorpelig-hornartigen, handgroßen halli von Gigartina- und Chondrus-Arten, den beiden Gattungen der Rotalgenfamilie der Gigartinaceae, besteht. x Carrageenane i. w. S.. Bei den Carrageenanen handelt es sich zum einen um die aus der Droge hergestellten Handelsprodukte, d. h. die Extraktivstofe der Heißwasserextrakte von Carrageen (Irisch-Moos-Extrakt) und Extraktfraktionen, die starke Unterschiede in ihren Löslichkeits- und Gelbildungseigenschaten zeigen. x Carrageenane i. e. S.. Zum anderen versteht man unter Carrageenanen die anionischen, polymeren Inhaltsstofe von Droge und Handelsprodukten, d. h. die aus Carrageenophyten isolierten Zellwandpolysaccharide, komplexe Gemische von NH4-, Ca-, Koder Na-Salzen sulfatierter Galactane.
Carrageen. Die vom Seewasser an Land gespülten oder
aus dem Wasser herausgezogenen, etwa handgroßen (5– 15 cm lang) Algenthalli sind violett bis grünrot und von gallertiger, leischiger Beschafenheit. Durch wiederholtes Waschen mit Meerwasser und Trocknen (Bleichen) an der Sonne erhält man das hellgelbe, durchscheinende und knorpelig-hornartige Carrageen. Carrageenane. Die Carrageenane werden durch Extraktion bestimmter getrockneter Rotalgen mit heißem Wasser, meist unter leicht alkalischen Bedingungen gewonnen. Der Rohextrakt wird durch Filtration über Kieselgur von celluloseartigen Begleitstofen und Pigmenten befreit und im Vakuum eingeengt. Überwiegend folgt eine Fällung mit Isopropanol mit anschließender Trocknung. N-Carrageenan kann alternativ auch in Form von Gelfäden durch Einspritzen der Lösung in 1,0- bis 1,5%ige kalte KCl-Lösung gewonnen werden. Das Produkt ist ein mehr oder weniger feines, gelblichweißes Pulver, das nahezu geruchlos ist und schleimig schmeckt.
Zusammensetzung und Struktur Herkunft. Die Rotalge Chondrus crispus (L.) Stackh.
(Knorpeltang) und daneben Gigartina stellata (Stackh.) Batt. (Synonym: G. mamillosa [Good. et Woodw.] Agardh) aus der Familie der Gigartinaceae stellen die Hauptlieferanten für Carrageen und Carrageenane aus natürlich vorkommenden Algen dar ( > Tabelle 19.19, Infobox „Rotalgen“). Ursprünglich wurde der Hauptanteil dieser in kaltgemäßigten Zonen wachsenden benthischen Algen an den nördlichen Küsten Irlands gesammelt und über die Küstenstadt Carragheen exportiert. Heute konzentriert sich die Carrageenanproduktion (etwa 30.000 Tonnen pro Jahr) auf wenige große Firmen in den USA, Kanada, Dä-
Zusammensetzung von Carrageen. Carrageen besteht
zu 30–60%, gelegentlich bis zu 80% aus Carrageenanen, und zwar v. a. N-(Kappa-), O-(Lamda-) und L-(Iota-)Carrageenan. Diese Phycokolloide sind teils in der Zellwand (amorphe Matrix) und teils im Interzellularraum (Interzellularschleim) lokalisiert. Daneben enthält Carrageen 7–10% Proteine, ca. 2% Lipide und ca. 15% mineralische Bestandteile, darunter reichlich Chlor-, Iod- und Bromsalze. Struktur der Carrageenane. Laut Deinition sind Carrageenane die in bestimmten Rotalgen vorkommenden line-
19.7 Algenpolysaccharide
aren, partiell sulfatierten Homogalactane vom „maskiert periodischen Typ“ mit Mr im Bereich von 200.000–800.000. Charakteristisch ist der Sulfatgehalt von 15–40% (d. h. DS = 0,33–1,26), der deutlich höher ist als der anderer Rotalgenprodukte (Agarose Abb. 19.37).
19
Die verschiedenen Carrageenane unterscheiden sich in folgenden Charakteristika: 1. Zahl und Position der Sulfatgruppen; 2. Konformation der Pyranosen (4C1 oder 1C4); 3. Gegenionen der Sulfatreste (NH4+, Ca2+, K+, Mg2+, Na+); 4. Molekulargewicht: genuine Carageenane sind polydispers, wobei ihre mittlere Mr zwischen 105 und 106 liegt; die Polydispersität steigt durch Kettendegradation während der Isolierung. Anhand der jeweils dominierenden Wiederholungssequenz teilt man die Carrageene in die drei Haupttypen N-, L- und O-Carrageenan und die vier weniger bedeutenden Typen µ-, Q-, T- und [-Carrageenan ein ( > Abb.
. Abb. 19.37
Bausteine und Bauprinzip der Carrageenane. Carrageenane sind Homogalactane vom „maskiert periodischen Typ”, die im Prinzip aus alternierenden (1o3)-gebundenen β-D-Galactose- und (1o4)-gebundenen α-D-Galactoseeinheiten (vgl. Agar mit (1o4)-gebundenen α-L-Galactose). Neben der unsubstituierten β-D-Galactose treten deren 2-O-Sulfat und 4-O-Sulfat auf; die α-D-Galactose liegt als 6-O-Sulfat, 2,6-O-Disulfat, 3,6-Anhydro-Zucker oder als 3,6-Anhydro-2-Osulfat vor. Anhand der hauptsächlich vorkommenden Disaccharidsequenzen lassen sich verschiedene Carrageenane unterscheiden, wobei κ-, ι- und λ-Carrageenan die bedeutsamsten sind. λ-Carrageenane sind die Vertreter mit dem höchsten Sulfatierungsgrad, während κ-Carrageenane die geringste Ladungsdichte aufweisen
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
! Kernaussage
Die heterogene Gruppe der Carrageenane wird anhand der dominierenden maskierten „repeating unit“ in verschiedene Typen eingeteilt.
19.38). Diese Diferenzierung berücksichtigt allerdings nicht, dass es ließende Übergänge gibt und de facto meist Mischungen der verschiedenen Formen vorliegen. Die strukturelle Zusammensetzung der Carrageenane einer Alge ist sowohl von der Art als auch von der Herkunt der Alge abhängig. Beispielsweise kommen [-Carrageenane nur in der Gattung Gigartina vor. Ferner wird ihre Biosynthese bei Algen aus der Familie der Gigartinaceae und Phyllophoraceae von der reproduktiven Phase beeinlusst. κ-Familie und λ-Familie. Obgleich unter praktischen Gesichtspunkten eine Diferenzierung in die viskositätserhöhenden Typen ohne Anhydrozucker (O/µ/Q/[) und die sekundär entstehenden, anhydrozuckerhaltigen und damit gelbildenden Typen (N/L/T) sinnvoll wäre, erfolgt die
Einteilung der Carrageenane in zwei Gruppen anhand der Sulfatposition der B-Einheit: x die C-4-sulfatierte N-Familie mit den N/L-Hybriden und ihren µ/Q-Vorstufen, x die C-2-sulfatierteO-Familie mit den O- und [-Typen, der auch die T-Carrageenane zugerechnet werden. Industriell verwendet werden primär N- und L-Carrageenan, die beiden anhydrozuckerreichen und dadurch gelbildenden Vertreter der N-Familie. Innerhalb der O-Familie hat nur das hochsulfatierte, anhydrozuckerfreie O-Carrageenan (32–39%, ideal: 42%, d. h. DS = 1,37) aufgrund seiner viskositätserhöhenden Eigenschaten industrielle Bedeutung. L-Carrageenan unterscheidet sich von N-Carrageenan hauptsächlich durch eine zusätzliche Sulfatgruppe am C-2 der A-Einheit und folglich in seinem Sulfatgehalt (Marbuger 2003): x N-Carrageenan: 25–30% Sulfat (ideal: 23%, d. h. DS = 0,56), 38–35% Anhydrozucker, x L-Carrageenan: 28–35% Sulfat (ideal: 37%, d. h. DS = 1,11), 30% Anhydrozucker, x O-Carrageenan: 32–39% Sulfat (ideal: 42%, d. h. DS = 1,37), keine Anhydrozucker.
. Abb. 19.38
Carrageenantypen. Aufgrund der jeweils dominierenden Wiederholungssequenzen lassen sich die drei Hauptfraktionen κ-, ι- und λ-Carrageenan und die vier weniger bedeutenden Fraktionen µ-, ν-, θ- und ξ-Carrageenan unterscheiden. Die 3,6-Anhydrogalactosebausteine enthaltenden Carrageenane entstehen unter Elimination der Sulfatgruppe während der Biosynthese oder durch Alkalibehandlung aus Vorstufen, die 6-O-sulfatierte α-D-Galactose enthalten: µ-Carrageenan wird zu κ-Carrageenan, aus der ν-Fraktion bildet sich ι-Carrageenan, und λ-Carrageenan geht in die θ-Form über, wobei jedoch Letzteres nicht auf natürlichem Wege, sondern nur durch Alkalibehandlung möglich ist
19.7 Algenpolysaccharide
Konformation. Die räumliche Struktur der Carrageenane
und ihre hieraus resultierenden physikochemischen Eigenschaten wie Löslichkeit, Gelbildung und Viskosität werden von der Primärstruktur bestimmt. Anhydrogalactosereiche Domänen sind aufgrund der Konformation des Anhydrorings (1C4) in der Lage, Helices und Doppelhelices auszubilden. Dementsprechend wurden für die gelbildenden N- und L-Carrageenane solche helikalen Strukturen nachgewiesen, die unterbrochen sind, wenn statt einer Anhydrogalactose eine C-6-sulfatierte Galactose erscheint. Dementsprechend weist das in kaltem Wasser lösliche, aber nicht gelbildende O-Carrageenan keine Helixstrukturen auf. Diese hochsulfatierten Galactane liegen als „Zickzackbänder“ vor, die visköse Lösungen bilden. Die Helixbildung wird allerdings stark durch die Art und Konzentration der anwesenden Kationen beeinlusst. Während K+, NH4+ und Ca2+ die Doppelhelices stabilisieren, hemmen Na+ und mehr noch Li+ die Helixbildung. Beim Abkühlen einer heißen Lösung von L- oder N-Carrageenan, die hier als sog. „random coils“ vorliegen, steigt die „coil to Helix“-Übergangstemperatur mit zunehmender Kationenkonzentration. In Abwesenheit von Salz und bei niedrigen Polymerkonzentrationen bleibt dieser Übergang aus.
Löslichkeit Löslichkeit. Carrageenane lösen sich nur in sehr polaren Lösungsmitteln ( > Tabelle 19.21). Die Wasserlöslichkeit steigt einerseits mit zunehmendem Sulfatierungsgrad, anderseits ist sie umso geringer, je höher der 3,6-Anhydrogalactoseanteil ist. So ist O-Carrageenan, unabhängig vom
19
Gegenion, bereits in kaltem Wasser löslich, während N- und L-Carrageenan Temperaturen erfordern, die über der Temperatur liegen, bei der sich das Gel aulöst. In kaltem Wasser ist lediglich das Na-Salz von N- und L-Carrageenan löslich. Die Viskosität von Carrageenanlösungen steigt mit zunehmender Konzentration und sinkender Temperatur sowie mit Zunahme der Mr , des Anhydrozuckergehaltes (abnehmende Flexibilität) und des Sulfatierungsgrades des Carrageenans. Ferner wird die Viskosität von der Art und Konzentration der Ionen in der Lösung beeinlusst: O-Carrageenanlösungen zeigen bei Ionenzusatz eine ausgeprägte Viskositätserhöhung, während sich die Viskosität von L- und N-Carrageenanlösungen in Gegenwart von Ionen, die keine Gelbildung bewirken, kaum verändert.
! Kernaussage
Bildung und Eigenschaften der thermoreversiblen Gele sind stark vom Carrageenantyp und von der Kationenart und -konzentration abhängig.
Gelbildung. Die Fähigkeit zur Gelbildung ist umso besser,
je höher der 3,6-Anhydrogalactosegehalt und damit der Anteil an helikalen Strukturen ist (vgl. Agarose). Denn ein Gel entsteht durch die Assoziation von Helix- und Doppelhelixsegmenten zu größeren Aggregaten und schließlich durch die Bildung eines dreidimensionalen Netzwerks, in dessen Maschen Wasser festgehalten wird ( > Abb. 19.35). Während Carrageenane vom O-Typ beim Zusatz bestimmter Ionen nicht gelieren, sondern nur die Viskosität der Lösung erhöhen, haben die Carrageenane vom L- und N-Typ die Fähigkeit, beim Abkühlen heißer wässriger Lösungen Gele zu bilden. Die Gelbildungstemperatur ist
. Tabelle 19.21 Löslichkeit von Carrageenanen (nach Whistler u. BeMiller 1993) κ-Carrageenan
ι-Carrageenan
λ-Carrageenan
heißes Wasser
löslich über 60 °C
löslich über 60 °C
löslich
kaltes Wasser
Na-Salz löslich
Na-Salz löslich
löslich
Ca- und K-Salz unlöslich
Ca- und K-Salz unlöslich
heiße Milch
löslich
löslich
löslich
kalte Milch
unlöslich, quellend
unlöslich
löslich
konzentrierte Zuckerlösung
löslich (heiß)
wenig löslich (heiß)
löslich (heiß)
konzentrierte Salzlösung
unlöslich
löslich (heiß)
löslich (heiß)
35% Ethanol
unlöslich
unlöslich
Na-Salz löslich
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19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
abhängig vom Carrageenantyp, von der Art und Konzentration der Gegenionen, den ionischen und nichtionischen Zusätzen und von der Gegenwart anderer Polysaccharide, wird jedoch wenig von der Konzentration des Carrageenans beeinlusst. Letztere bestimmt allerdings zusammen mit der Art und Konzentration des Gegenions die Gelstärke. Im Gegensatz zu den thermoresistenten Agargelen sind diese Gele thermoreversibel. κ-Carrageenangele. Carrageenane vom N-Typ bilden in Gegenwart von K+ feste, elastische, in Gegenwart von Ca2+ steife Gele, die brechen, wenn sie hohen Scherkräten ausgesetzt werden. Eine erneute Gelbildung ist nur nach Erhitzen über den Gelschmelzpunkt möglich. In Anwesenheit beider Kationen ist das Gel besonders fest. Mit Na+ entstehen keine stabilen Gele. Reines N-Carrageenan ist der beste Gelbildner unter allen Carrageenanen, die Gele neigen allerdings wie Agargele zur Synärese. Durch Kombination mit Galactomannanen lässt sich dies vermeiden. ι-Carrageenangele. Carrageenane vom L-Typ gelieren besser mit Ca2+ als mit K+. Im Gegensatz zu den Carrageenanen vom N-Typ ist in Gegenwart von Na+ noch eine Gelbildung möglich. Die Ca2+-haltigen Gele sind weich und elastisch, thixotrop, neigen nicht zur Synärese und verfügen über gute Stabilität beim Einfrieren und Autauen. Die Gelbildungstemperatur von L-Carrageenan ist zwar höher als die von N-Carrageenan, aber die Gelstruktur von L-Carrageenangelen ist wesentlich schwächer als die von N-Carrageenangelen und kann durch Bewegung leicht zerstört werden (hixotropie). Sie ließen als viskose Flüssigkeiten, solange Scherkräte ausgeübt werden, verfestigen sich jedoch anschließend wieder. All diese Eigenschaten resultieren aus dem hydrophileren Charakter der L-Carrageenane und der weniger stark ausgeprägten Aggregatbildung. Chemische Stabilität. Carageenane unterliegen dem Ab-
bau durch Spaltung glykosidischer Bindungen. Kettenbrüche erfolgen unter oxidierenden oder sauren Bedingungen und treten verstärkt bei erhöhten Temperaturen auf. Eine säurekatalysierte Hydrolyse erfolgt vornehmlich an der (1o3)-Bindung und wird in Gegenwart eines 3,6-Anhydroringes begünstigt, durch eine 2-O-Sulfatgruppe jedoch erschwert. Folglich wird L-Carrageenan nur halb so schnell wie N-Carrageenan abgebaut. Am stabilsten sind Carrageenane bei einem pH-Wert von 9.
Zubereitungen mit Carrageenan sollten konserviert werden, da sie mikrobiell abgebaut werden können.
Verwendung
! Kernaussage
Die gelbildenden bzw. viskositätserhöhenden κ-, ιund O-Carrageenane sind unverzichtbare Hilfsstoffe in der modernen Lebensmitteltechnologie.
Ähnlich wie die Alginsäure und die Alginate stellen die Carrageenane in vielen Bereichen (Lebensmittel-, Kosmetik-, Papier, Textildruck- und Farbenindustrie) häuig eingesetzte Hilfsstofe dar, in der pharmazeutischen Technologie sind sie allerdings bedeutungslos ( > Tabelle 19.2). Genutzt werden die viskositätserhöhende und suspensionsstabilisierende Wirkung der N-, L- und O-Carrageenane sowie die Gelbildungsfähigkeit der N- und L-Typen. Lebensmittelindustrie. Quantitativ am bedeutendsten
ist die Verwendung von Carrageenanen in der Lebensmittelindustrie (E 407). Die maximal eingesetzte Konzentration beträgt 2%. Bei der Herstellung von Molkereiprodukten wie Milchgetränken, Kondensmilch, Pudding, Joghurt, Quarkdesserts, Eiscreme oder Frischkäse gelten sie als die wichtigsten Stabilisatoren, Dickungsmittel und Gelbildner. Ihre Wirkung beruht u. a. auf ihrer Interaktion mit dem Milcheiweiß. Weit verbreitet ist auch die Anwendung von Carrageenanen als Dickungsmittel in Fertiggerichten, -suppen und -saucen. In Wurstwaren dienen sie als Bindemittel, in Fleischkonserven als Texturbildner. Nützlich sind Carrageenane außerdem bei der Produktion von zuckerfreien „Light-Produkten“, Instantfruchtgetränken, Schokolade und anderen Süßwaren. In Brauereien setzt man sie wie Agar zur Klärung des Bieres ein, da sie trübende Proteine bei pH-Werten unter deren IEP ausfällen. Analog zu Lebensmitteln nutzt man Carrageenane auch in Tierfuttermitteln. Ein weiterer Großabnehmer ist die Kosmetikindustrie. Man indet Carrageenane in Zahnpasten, Hautcremes, Lotionen und Shampoos. Industrie und Technik verwenden Carrageenane beispielsweise als Zusatzstofe in Farben, die auf Wasser basieren, in Keramikglasuren, Schleifmittelsuspensionen, Pestizidzubereitungen und Autoreifen.
19.7 Algenpolysaccharide
Physiologische und toxikologische Eigenschaften.
Carrageenane zeichnen sich durch proinlammatorische Eigenschaten aus. Innerhalb von 3 h nach subkutaner Injektion einer Carrageenanlösung entsteht ein Ödem, das Initialstadium einer akuten Entzündung. Diese Wirkung nutzt man in der pharmakologischen Forschung in Form des „Carrageenan-induzierten Rattenpfotenödems“, einem seit langem etablierten Entzündungsmodell. Man erfasst die Wirkung von Testsubstanzen auf das Entzündungsgeschehen, indem man das Volumen eines Ödems bestimmt, das durch die Injektion einer 1%igen Carrageenanlösung in der Rattenpfote erzeugt wird. Einige Tage nach der Carrageenan-Injektion kommt es zur Bildung eines Fremdkörpergranuloms, da die Makrophagen Carrageenane zwar aufnehmen, aber nicht abbauen können. Intravenöse Carrageenan-Injektionen führen zur Freisetzung von Kininen. Je nach Typ und Dosis können Carrageenane antikoagulatorisch (v. a. O-Carrageenan) oder prokoagulatorisch (N- und L-Carrageenane) wirken. Carrageenane sind unverdaulich (Ballaststofe) und werden auch von der Dickdarmlora nur zu 9–16% abgebaut ( > Kap. 19.2.11). Infolgedessen gilt die perorale Anwendung von nativem hochmolekularem Carrageenan als gesundheitlich unbedenklich. Jedoch sollte auf die Verwendung von Carrageenanabbauprodukten mit Mr < 50.000 verzichtet werden, da diese resorbierbar sind und eine deutlich höhere Toxizität aufweisen. Im Tierversuch führten niedermolekulare Carrageenane, die mit dem Trinkwasser verabreicht wurden, zu Blutungen und Ulzerationen im Verdauungstrakt und erhöhten die Permeabilität des Intestinums. Daher ist die Anwendung von Carrageenankautabletten als Ulkusprotektivum als obsolet anzusehen.
! Kernaussage
Sowohl in pharmazeutischen Technologie als auch im medizinischen Bereich sind Carrageenane nahezu bedeutungslos.
In der Medizin haben Carrageenane keine Bedeutung mehr. Die Anwendung von Carrageen-Dekokten als Mucilaginosum bei Reizhusten und unspeziischen Diarrhoen sowie als mildes Quellungslaxans bei Obstipation ist heute obsolet.
19.7.5
19
Furcelleran
Herkunft und Gewinnung. Furcelleran (Dänischer Agar)
wird aus der Rotalge Furcellaria fastigiata (Turner) Lamour. gewonnen, die hauptsächlich an den Küsten Dänemarks gesammelt wird. Die Produktion begann 1943, da Europa damals von den Agarquellen abgeschnitten war. Nach einer Alkalivorbehandlung der Algen wird das Polysaccharid mit heißem Wasser extrahiert. Der im Vakuum eingeengte Extrakt wird in eine 1,0–1,5%ige KClLösung eingespritzt. Die sich abscheidenden Gelfäden werden durch Ausfrieren konzentriert, abgepresst oder abzentrifugiert und getrocknet. Das Produkt liegt als Kaliumsalz vor und enthält 8–15% freies KCl. Struktur. Furcelleran ist ein carrageenanähnliches Ge-
misch linearer, partiell sulfatierter Homogalactane, die aus alternierenden (1o3)-verknüpten E-d-Galactose- und (1o4)–verknüpten 3,6-Anhydro-D-d-Galactose-Einheiten bestehen. Der Sulfatgehalt liegt bei 8–19% (d. h. DS = 0,17–0,45). Statt des Anhydrozuckers indet man auch die biosynthetische Vorstufe D-d-Galactose--O-sulfat. Die Struktur ist der von N-Carrageenan sehr ähnlich, sodass man Furcelleran heute zu den Carrageenanen rechnet (entgegen seiner deutschen Bezeichnung). Ein wesentlicher Unterschied betrit den Sulfatgehalt und das Sulfatierungsmuster. Der DS ist nur etwa halb so hoch wie der von N-Carrageenan (DS 2~0,56). Die Sulfatgruppen verteilen sich auf die Position 2 der Anhydrogalactose und die Positionen 4,6 und gelegentlich auch 2 der E-d-Galactose. Gelegentlich treten auch Verzweigungen auf. Eigenschaften. Furcelleran verfügt über ähnliche Eigen-
schaten wie N-Carrageenan. Es ist in kaltem Wasser praktisch unlöslich, löst sich in heißem Wasser und bildet beim Abkühlen thermoreversible Gele. Das Geliervermögen hängt vom Polymerisationsgrad, vom Gehalt an Anhydrozucker und von der Art der anwesenden Kationen ab. K+, NH4+, Rb+ und Cs+ bilden sehr feste Gele, Ca2+ hat einen geringeren Efekt und mit Na+ erfolgt keine Gelbildung. Ein Zusatz von Zucker erhöht die Gelfestigkeit. Verwendung. Furcelleran wird überwiegend in der Le-
bensmitteltechnologie verwendet. Besonders für Milch und Zucker enthaltende Zubereitungen wie Pudding, Tortenguss und Marmeladen ist es sehr gut geeignet. Gegenüber Pektin hat es den Vorteil, dass es auch bei Zucker-
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konzentrationen unter 50–60% stabile Gele bildet, wobei je nach gewünschter Gelfestigkeit und Zuckerkonzentration Zusätze von 0,2–0,5% ausreichend sind. Daneben wird Furcelleran auch Fleischprodukten zugesetzt. Bei der Bierherstellung erleichtert es die Proteinabscheidung und damit die Endiltration.
19.7.6
Weitere sulfatierte Polysaccharide marinen Ursprungs
Neben Carrageenan und Agar indet man in Algen, aber auch in Meerestieren, wie Muscheln, Schnecken, Seegurken, Seeigel, Schwämmen und Korallen, weitere sulfatierte Polysaccharide. Aus Rotalgen hat man beispielsweise Galactansulfate isoliert, die weder dem Carrageenan- noch dem Agartyp zuzuordnen sind, und die Zellwände von Braunalgen enthalten nicht nur Alginsäure, sondern ebenfalls sulfatierte Polysaccharide, die sog. Fucoidane.
Fucoidane Definition. Als Fucoidane bezeichnet man die Fucane, die von Braunalgen produziert werden (Berteau u. Mulloy 2003). Laut IUPAC sind sulfatierte Fucane Polysaccharide, die hauptsächlich aus sulfatierter l-Fucose (syn. 6-Deoxy-l-Galactose) bestehen und Kap. 20.27): Sie greifen an mehreren Punkten in die Gerinnungskaskade ein und zeigen zudem ibrinolytische Efekte (Alban 1997). Das ursprüngliche Interesse an Fucoidanen als potentiellen Alternativen zum Heparin ist allerdings gesunken, da mittlerweile innovative synthetische Antithrombotika zur Verfügung stehen bzw. sich im fortgeschrittenen Stadium der Entwicklung beinden.
19.7 Algenpolysaccharide
Daneben verfügen Fucoidane jedoch ähnlich wie Heparine über ein breites Spektrum an weiteren Aktivitäten, die allerdings in ihrer Ausprägung stark von der individuellen Struktur abhängig sind. Im Tierversuch nachgewiesen wurden u. a. antiinlammatorische, antiangiogentische, antimetastatische, antiatherosklerotische, kontrazeptive und antivirale Efekte. Zu einer möglichen therapeutischen Ausnutzung dieser Wirkungen liegen keine Studien vor. Prinzipiell stellen Fucoidane eine interessante Quelle für die Entwicklung neuer, biogener Arzneistofe nichttierischen Ursprungs dar. Als nachwachsende Rohstofe stehen sie in ausreichendem Maße zur Verfügung und sind als Nebenprodukte der Alginsäureisolierung zudem rela-
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tiv preiswert. Fraglich ist allerdings, ob sie als polydisperse Biopolymere die hohen Anforderungen an neue Arzneistofe hinsichtlich der Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit erfüllen können. Unter Umgehung dieser Hürde und der damit verbundenen Entwicklungskosten werden Fucoidane außerhalb Deutschlands heute bereits in beträchtlichem Umfang als Nahrungsergänzungsmittel mit den unterschiedlichsten, teilweise fragwürdigen Wirkansprüchen („claims“) angeboten. Auch in Kosmetika werden sie verwendet; der postulierte „anti-aging“-Efekt wird mit dem Befund begründet, dass auf die Haut aufgetragene wässrige fucoidanhaltige Extrakte die Hautdicke reduzieren und die Hautelastizität erhöhen.
Infobox Tang – ein obsoletes Relikt im Arzneibuch (Volk 2004). Als Tang, Fucus vel Ascophyllum, definiert die PhEur 5 die zerkleinerten, getrockneten Thalli der Braunalgen Fucus vesiculosus L. (Blasentang) oder Fucus serratus L. (Sägetang) oder Ascophyllum nodosum LE JOLIS (Knotentang) (Fucaceae), die mindestens 0,03% und maximal 0,2% Gesamtiod enthalten. Die schwarzbraunen bis grünlich braunen Thallusbruchstücke sind von hornartiger Konsistenz, ihr Geschmack ist salzig und schleimig, ihr Geruch unangenehm, fischartig. Die Quellungszahl von Tang beträgt mindestens 6. Iod kommt in der Droge sowohl in Form anorganischer Iodsalze als auch an Proteine und Lipide gebunden vor. Ferner enthalten die Thalli die für Braunalgen typischen Polysaccharide Alginsäure, Laminarin und Fucoidan sowie Carotinoide (Fucoxanthin, weitere Xanthophylle und E-Carotin) und Polyphenole (Phlorotannine, Fucole und Fucophloroethole). Die früher aufgrund ihres Iodgehaltes übliche Anwendung der Droge bei Hypothyreose sowie volksmedi-
zinisch bei Fettsucht, Übergewicht, Atherosklerose und Verdauungsbeschwerden und zur „Blutreinigung“ ist als obsolet anzusehen. Zum einen ist für keines dieser Anwendungsgebiete die Wirksamkeit belegt, zum anderen ist die empfohlene Tagesdosis von 150 µg Iod nur schwer einzuhalten. Denn sowohl der Iodgehalt der Droge als auch die Resorptionsquote (anorganische Iodsalze werden schneller resorbiert und eliminiert als organische Iodverbindungen) unterliegt starken Schwankungen. Eine Überdosierung von Iod kann eine Hyperthyreose induzieren. Darüber hinaus ist zu beachten, dass Tang Schwermetalle akkumuliert, und zwar neben Blei, Cadmium und Quecksilber insbesondere Arsen (20–100 ppm). Bei längerfristigem Gebrauch sind Arsenintoxikationen daher nicht auszuschließen. Die auch heute noch in der Laienpresse und im Internet propagierten tanghaltigen „Schlankheits- und Entfettungsmittel“ sind daher strikt abzulehnen.
! Kernaussagen x
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Von der artenreichen und vielgestaltigen Pflanzengruppe der Algen werden nur Vertreter der Rotalgen (Rhodophyceae), Braunalgen (Phaeophyceae) und Kieselalgen (Diatomeae) im großen Maßstab wirtschaftlich genutzt. Rot- und Braunalgen dienen zum einen als Nahrung, zum anderen als Quelle saurer Hydrokolloide. Die wichtigsten Vertreter dieser sog. Phycokolloide sind Alginsäure, Agar und Carrageen-
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an. Sie gehören zu den Strukturpolysacchariden, aus denen die Zellwände bestehen. Bei den Zellwandpolysacchariden ist zwischen fibrillären (Gerüst) und amorphen Komponenten (Matrix) zu unterscheiden. Der fibrilläre Anteil der Braunalgen besteht aus Cellulosefibrillen und unlöslichen Alginaten, der amorphe aus gelösten Alginaten und Fucoidanen. Rotalgen besitzen ebenfalls ein Geflecht aus Cellulosefibrillen, das von einer schleimigen Matrix
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aus Galactanen, und zwar Agar (Agarophyten) oder Carrageenen (Carrageenophyten), umgeben ist. Als Reservepolysaccharide fungieren E-(1o3)D-Glucane (Laminarin, Paramylum), aber auch (1o4)-D-D-Glucane (Florideenstärke, Meeresalgenstärke). Alginsäure (nativ) (Mr 150.000–250.000) wird aus Braunalgen wie Laminaria digitata, L. saccharina, Macrocystis pyrifera und Ascophyllum nodosum isoliert. Es handelt sich um ein Gemisch linearer Polyuronide aus (1o4)-E-D-Mannuronsäure und (1o4)-D-L-Guluronsäure, die teils als Blockpolymere (MM-Blöcke und GG-Blöcke), teils als alternierende Sequenzpolymere (MG-Blöcke) vorliegen. Alginsäure ist praktisch unlöslich in Wasser, quillt aber stark. Na-, K, NH4- und Mg-Alginate sind wasserlöslich und ergeben nach dem Verdunsten des Wassers abwaschbare Filme. Die Löslichkeit dieser Alginate und die Viskosität ihrer Lösungen sind allerdings von vielen Faktoren abhängig (Mr der Alginate, pH-Wert, Elektrolyte, Temperatur). Streichfähige Hydrogele bilden sie erst bei höheren Konzentrationen (>3%). Bei Zugabe von zwei- oder mehrwertigen Metallionen wie Ca2+ zu Alginatlösungen (>1%) entstehen thixotrope Gele („egg box type“-Konformation). Alginsäure und Alginate sind wichtige Hilfsstoffe in der Lebensmittel- und pharmazeutischen Technologie. Der Gelbildner Calciumalginat wird u. a. in Form von Medizinprodukten genutzt (z. B. interaktive Wundauflagen). Als lösliche Ballaststoffe sind Alginsäure und Alginate ernährungsphysiologisch von Interesse; außerdem werden sie als Kombinationspartner von Antacida verwendet. Alginsäurepropylenglykolester ist ein chemisches Derivat der Alginsäure mit einigen Vorteilen bei der Verwendung als technischer Hilfsstoff. Agar (Mr 110.000–160.000) wird aus Rotalgen wie Gelidium amansii und Gracilaria confervoides isoliert. Es handelt sich um ein komplexes Gemisch linearer, sauer reagierender Homogalactane, den sog. Agaroiden. Ihr Grundgerüst besteht aus [3)-E-D-Galp(1o4)-3,6-Anhydro-D-L-galp-(1o)]-Einheiten (Aga-
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robiose), die allerdings vielfältig modifiziert sind (Glykane vom „maskiert periodischen Typ“). Traditionell unterscheidet man die neutrale Agarosefraktion (ca. 70%) und die saure Agaropektinfraktion. Agar quillt in kaltem Wasser, ist aber in heißem Wasser löslich. Der hohe 3,6-Anhydrogalactosegehalt macht die Agarose zu einem der stärksten biogenen Gelbildner (ca. 0,2%) und ist für die Fähigkeit von Agarlösungen verantwortlich, beim Abkühlen temperaturbeständige Gele (ca. 0,5%) zu bilden. Agar bzw. Agarose ist ein seit langem etablierter Werkstoff im Labor (Nährböden, Gelelektrophorese, Chromatographiesäulen). Ferner dient Agar als nichttierischer Gelatineersatz. Carrageenane (Mr 220.000–800.000) werden hauptsächlich aus den Rotalgen Chondrus crispus und Gigartina stellata (Carrageen, „Irländisches Moos“) sowie kultivierten Eucheuma-Arten isoliert. Es handelt sich um ein komplexes Gemisch linearer, partiell sulfatierter Homogalactane vom „maskiert periodischen Typ“. Die Grundeinheit [3)-E-D-Galp-(1o4)-D-D-Galp(1o)] kann in verschiedenen Positionen Sulfatgruppen tragen und die D-D-Galactose kann auch als Anhydrozucker vorliegen. Anhand der dominierenden maskierten „repeating units“ differenziert man zwischen der C-4-sulfatierten N-Familie mit den anhydrozuckerreichen N/L-Hybriden und ihren P/X-Vorstufen und der C-2-sulfatiertenO-Familie mit den anhydrozuckerarmen O-, [-Typen und dem T-Typ. Praktische Bedeutung haben N-, L- und O-Carrageenan. N- und L-Carrageenane bilden thermoreversible Gele, das in kaltem Wasser lösliche O-Carrageenan viskose Lösungen. Die Gelbildung und Geleigenschaften bzw. die Viskosität der Lösungen sind von der jeweiligen Carrageenanstruktur abhängig, werden aber auch stark von etlichen anderen Parametern wie der Kationenart und -konzentration beeinflusst. Die gelbildenden bzw. viskositätserhöhenden N-, Lund O-Carrageenane sind unverzichtbare Hilfsstoffe in der modernen Lebensmitteltechnologie. In der pharmazeutischen Galenik spielen sie dagegen keine Rolle. Ihre proinflammatorische Wirkung wird in der experimentellen Medizin genutzt (Carrageenan-induziertes Rattenpfotenödem). Ansonsten sind sie im medizinischen Bereich heute nahezu bedeutungslos.
Literatur
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Furcelleran (Dänischer Agar) wird aus der Rotalge Furcellaria fastigiata isoliert. Es handelt sich um ein Gemisch linearer, partiell sulfatierter Homogalactane, die denen des N-Carrageenan sehr ähnlich sind. Furcelleran wird v. a. im Lebensmittelbereich analog zu N-Carrageenan verwendet.
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Die in Braunalgen vorkommenden Fucoidane zählen zu den Fucanen und zeichnen sich durch ihren hohen Sulfatgehalt aus. Wie typisch für hoch sulfatierte Polysaccharide besitzen sie vielfältige biologische Aktivitäten. Fucoidane werden in Form von Nahrungsergänzungsmitteln angeboten.
Schlüsselbegriffe Agar Agarobiose Agaropektin Agarophyten Agarose Alginsäurepropylenglykolester 3,6-Anhydro-D-L-galactose Calciumalginat Carrageen Carrageenane Carrageenophyten „egg box type“-Konformation Florideenstärke Fucane
Fucoidan Furcelleran Gelbildung GG-Blöcke (1o4)-D-D-Glucane (1o3)-E-D-Glucane (1o4)-D-L-Guluronsäure Helix-Konformation Interaktive Wundauflagen Laminarin Löslichkeit (1o4)-E-D-Mannuronsäure Meeresalgenstärke MG-Blöcke
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20 20 Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane S. Alban 20.1
Aminoglykane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 656 20.1.1 Chitin und Chitosan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 656 20.1.2 Modiizierte Chitosane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 661
20.2
Glykosaminoglykane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.2.1 Proteoglykane und Glykosaminoglykane der Vertebraten 20.2.2 Hyaluronsäure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.2.3 Keratansulfat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.2.4 Chondroitinsulfat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.2.5 Dermatansulfat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.2.6 Heparansulfat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.2.7 Heparin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.2.8 Niedermolekulare Heparine . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.2.9 „Heparinoide“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.2.10 Anhang: Fondaparinux, ein synthetisches Pentasaccharid
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663 664 671 673 675 677 680 682 691 696 697
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703
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Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
> Einleitung Aus dem vorangegangenen Kapitel zu Polysacchariden und Polysacchariddrogen entsteht der Eindruck, dass Polysaccharide zwar unter quantitativen Aspekten für alle Organismen von Bedeutung sind, dass sie aber lediglich als Füll- und Stützmaterial sowie als schnell mobilisierbare Energiereserve dienen. Dass ihre Bedeutung jedoch weit darüber hinausgeht, hat man erst mit der Entwicklung geeigneter analytischer und moderner biowissenschaftlicher Methoden erkannt. Da Polysaccharide in allen Lebewesen Bestandteil der Zellwand bzw. der Glykocalyx und extrazellulären Matrix sind, übernehmen sie wichtige Funktionen im Rahmen der Kommunikation mit der Umwelt und anderen Organismen bzw. zwischen den Zellen. Aus pharmazeutischer und medizinischer Sicht sind in erster Linie die entsprechenden menschlichen Polysaccharide, nämlich die Glykosaminoglykane respektive Proteoglykane, von Interesse. Um einer umfassenden und den modernen Erkenntnissen entsprechenden Darstellung der Polysaccharide als Naturstoffklasse gerecht zu werden, erfolgt in dem Unterkapitel „Glykosaminoglykane“ ein Exkurs in die „rote“ Pharmazeutische Biologie. Außerdem zählt zu diesen Polysacchariden u. a. Heparin, der am häufigsten eingesetzte Arzneistoff tierischen und somit biogenen Ursprungs. Ein kleineres Unterkapitel „Aminoglykane“ ist Chitin mit seinem vielfältig genutzten Derivat Chitosan gewidmet. Es steht zwar angesichts seiner Eigenschaften und Verwendung der Cellulose nahe, wird aber hier abgehandelt, da es als aminozuckerhaltiges Polysaccharid strukturell auch mit den Glykosaminoglykanen verwandt ist und ebenfalls aus tierischen Quellen gewonnen wird.
20.1
Aminoglykane
2-amino-2-deoxy-d-glucose (N-Acetyl-d-Glucosamin, GlcNAc), ferner die Analoga von d-Galactose, d-Mannose, d- oder l-Rhamnose und d- oder l-Fucose sowie Neuraminsäure und Muraminsäure. Aminozucker kommen als Komponenten von Glykoproteinen, Glykolipiden und zahlreichen Sekundärmetaboliten (z. B. Aminoglykosidantibiotika) vor. In Form von Polysacchariden indet man Aminozucker als Bausteine des Mureins ( > Kap. 19.5.1), der Glykosaminoglykane ( > Kap. 20.2) sowie des Aminoglykans Chitin und dessen Derivat Chitosan.
20.1.1
Chitin und Chitosan
Chitin und Chitosane werden gemeinsam besprochen, da Chitin das natürlich vorkommende Polysaccharid ist, das zur Herstellung des wirtschatlich genutzten Chitosans verwendet wird.
Vorkommen Chitin ist nach Cellulose die zweithäuigste organische Substanz in der Natur; die pro Jahr produzierte Menge wird auf ca. 1011 Tonnen geschätzt. Analog zur Funktion der Cellulose im Planzenreich dient Chitin im Tierreich und im Pilzreich als wichtiger Strukturbildner (Muzzarelli 1985). Chitin im Tierreich. Im Tierreich hat Chitin die größte
Verbreitung beim Stamm der Arthropoda (Gliederfüßler) und hier v. a. in den Klassen der Crustacea (Krebstiere), Hexapoda (Insekten) und Arachnida (Spinnentiere), deren Exoskelett aus Chitin, Protein und Calciumcarbonat besteht. Das Exosklelett der Nordseekrabbe Crangon crangon besteht beispielsweise aus 70–75% Wasser, 15% Protein, 7,5% Mineralien (v. a. CaCO3) und 2,5% Chitin. Im geringeren Maße kommt Chitin auch in anderen Tierstämmen wie etwa den Mollusca (Weichtiere) vor. Chitin im Pilzreich. Im Pilzreich bildet Chitin die Gerüst-
Aminozucker sind Monosaccharide, bei denen eine OHGruppe durch eine Aminogruppe ersetzt ist. Die Zahl der in der Natur vorkommenden Aminozucker ist beschränkt; die Aminofunktion beindet sich stets am C-2 und ist häuig acetyliert, gelegentlich auch methyliert oder sulfatiert (Robyt 1998). Die wichtigsten Vertreter sind: 2-Amino-2deoxy-d-glucose (d-Glucosamin, GlcN) und N-Acetyl-
substanz in den Zellwänden der Abteilung Eumycota (Echte Pilze) mit den Klassen der Basidiomyceten, Ascomyceten, Zygomyceten und Chytridiomyceten. Die Biosynthese von Chitin in Pilzen erfolgt mittels der Chitinsynthetasen. Diese membranverankerten UDP-Glykosyltransferasen verknüpfen den aktivierten Baustein UDP-N-Acetyl-d-glucosamin mit den nicht reduzierenden Enden der
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20.1 Aminoglykane
außerhalb vom Zytoplasma entstehenden Chitinmoleküle, die sich dann ähnlich wie Cellulose zu Mikroibrillen zusammenlagern. Vorkommen von Chitosan. Natürlich vorkommendes
Chitosan wurde bislang nur in den Zellwänden der Zygomycetenordnung der Mucorales nachgewiesen; die größInfobox
ten bekannten Produzenten sind die Pilze Mucor rouxii und Absidia coerulea (Niederhofer 2003). Sie bilden Chitosan aus Chitin mit Hilfe eines binären Enzymsystems aus Chitinsynthetase und Chitindeacetylase. Letzteres katalysiert die hydrolytische Abspaltung der N-Acetylgruppe aus dem sich bildenden Chitinmolekül.
Struktur
Chitosanbildung als Abwehrmechanismus gegen den Chitinabbau. Biologisch wird Chitin durch Enzyme wie Chitinase und Chitobiase zu N-Acetyl-D-glucosamin abgebaut. Diese Enzyme werden von Organismen gebildet, um chitinhaltige Lebewesen als Nahrungsquelle zu nutzen, oder aber auch, um einen Befall mit Pilzen abzuwehren. Sie kommen in Mikroorganismen, Pilzen (z. B. AspergillusArten), Pflanzen (z. B. Weizenkeimen, Tomatenpflanze, Sojabohnen) und Tieren (z. B. Verdauungsenzyme der Weinbergschnecke) vor. Es konnte festgestellt werden, dass bestimmte Pilze zum Zeitpunkt der Besiedlung von Pflanzen Chitin in Chitosan umwandeln. Da Chitosan nicht durch Chitinasen abgebaut wird, können sie auf diese Weise der Abwehrreaktion des Wirtes mittels Chitinasen entgehen (ElGueddari 2000).
. Abb. 20.1
Chitin. Chitin ist das einzige natürlich vorkommende Homopolysaccharid, das aus einem Aminozucker aufgebaut ist. Seine unverzweigten Ketten bestehen aus E-(1o 4)-verknüpten 2-Acetamido-2-deoxy-d-glucose-Einheiten (N-Acetyl-d-glucosamin, GlcNAc) ( > Abb. 20.1); ihre genuine Mr beträgt 2- bis 3-mal 106. Es ist somit nicht nur funktionell, sondern auch chemisch nahe verwandt mit Cellulose. Die vollständige Hydrolyse durch sechsstündige Einwirkung von 6 N Salzsäure bei 100 °C ergibt ein äquimolares Gemisch von Glucosamin und Essigsäure. Die gestreckten Chitinmoleküle bilden Mikroibrillen, die im Elektronenmikroskop nicht von denen der Cellulose zu unterscheiden sind. Es können sehr dünne lexible, aber auch dicke und starre Strukturen vorliegen. In der Natur kommt Chitin in drei polymorphen Formen, dem D-, E- und J-Chitin, vor, die sich in ihren auf Wasserstof-
CH2OH
CH2OH
O
O OH
OH
O
O
O
O
4
4 OH O
1 NHAc
CH2OH
NHR
CH2OH
NHAc
CH2OH
OH
OH
OH
partielle Deacetylierung
O
NHR
CH2OH
n
1
n
O
O
OH
OH
HO
HO NHAc
Chitin [4)-β-D-GlcNAcp-(1]n
NHR
Chitosan [4)-β-D-GlcNRp-(1]n
R = H (mind. 40-50%) oder Ac Chitin und Chitosan sind lineare (1o4)-β-Aminoglucane, die als Derivate von Cellulose angesehen werden können. Das natürlich vorkommende Chitin ist aus β-(1o4)-verknüpfter 2-Acetamido-2-deoxy-D-Glucose aufgebaut. Durch enzymatische oder chemische Deacetylierung von mindestens 40–50% der Monosaccharidbausteine entsteht Chitosan
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Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
brückenbindungen beruhenden kristallinen Bereichen unterscheiden (Niederhofer 2003): x D-Chitin: antiparallele Anordnung der ibrillären Stränge, x E-Chitin: parallele Anordnung der ibrillären Stränge, x J-Chitin: Triplettanordnung mit paralleler Ausrichtung von zwei ibrillären Strängen und antiparalleler eines dritten Stranges. Diese unterschiedlichen räumlichen Strukturen bedingen Eigenschaten, die den jeweiligen biologischen Funktionen optimal angepasst sind.
! Kernaussage
Es gibt keine klare Abgrenzung zwischen Chitin und dem Deacetylierungsprodukt Chitosan. Die beiden Polyaminopolysaccharide Chitin und Chitosan unterscheiden sich chemisch im Acetylierungsgrad ihrer Aminogruppen. Es gibt jedoch keine klare Abgrenzung zwischen Chitin und dem Deacetylierungsprodukt Chitosan.
Chitosan. Als Chitosan bezeichnet man enzymatisch oder chemisch partiell deacetyliertes Chitin. Seine Ketten bestehen aus variablen Anteilen an E-(1o4)-verknüpten 2-Acetamido-2-deoxy-d-glucose- und 2-Amino-2-deoxy-d-glucose-Einheiten ( > Abb. 20.1). Bei der Chitosangewinnung durch mehrstündige alkalische Hydrolyse (z. B. mit 40%iger isopropanolischer NaOH) werden allerdings nicht nur die Acetylreste der N-Acetyl-d-glucosamin-Bausteine abgespalten, sondern es kommt auch zu einer partiellen Degradation der Ketten. Wie Chitin besitzt auch Chitosan die Fähigkeit zur Ausbildung kristalliner Bereiche, jedoch ist diese vom Restgehalt an Acetylgruppen und von deren Verteilung abhängig. Es gibt keinen genau deinierten Übergang zwischen Chitin und Chitosan. In der Regel wird aber von Chitosan gesprochen, wenn der Deacetylierungsgrad >40–50% ist und das Polymer in organischen Säuren löslich ist (Schlaak u. Siefert 2004). Chitosan ist folglich die Sammelbezeichnung für eine sehr heterogene Gruppe von Chitinderivaten. Wichtige Parameter zur Charakterisierung eines Chitosans sind der Deacetylierungsgrad, die Kristallinität und die Mr . Hinsichtlich der Mr unterscheidet man drei Gruppen (Schlaak u. Siefert 2004): x niedermolekulare Chitosane (Mr d 150.000), x mittelmolekulare Chitosane (Mr ~ 400.000), x hochmolekulare Chitosane (Mr t 600.000).
Gewinnung Chitin. Chitin ist ein nachwachsender Rohstof, der in gro-
ßen Mengen als Nebenprodukt aus der Pilzverarbeitung sowie in Form von Schalenabfällen von Garnelen, Krebsen und anderen Krustentieren anfällt. Beispielsweise lag die Weltproduktion an Shrimps 1994 bei ca. 740.000 Tonnen (68% davon in Indonesien, hailand und China); in Deutschland werden jährlich etwa 10.000 Tonnen Krabben produziert. Natives Chitin ist allerdings technisch als Werkstof kaum interessant. Denn wie fast alle Biopolymere ist es kein hermoplast und löst sich zudem nur in gesundheitlich bedenklichen Lösungsmitteln bzw. solchen, die es partiell hydrolysieren. Dennoch hat man gelernt, diese natürliche Ressource zu nutzen: Chitin wird als Ausgangsstof für die Herstellung verschiedener partialsynthetischer Chitinderivate verwendet, von denen Chitosan bei weitem die größte Bedeutung hat. Chitosan. Chitosan wurde erstmals 1859 von Rouget nach intensiver alkalischer Behandlung von Chitin hergestellt. Das heute angewandte Standardverfahren zur Gewinnung von Chitin aus Garnelenschalen und dessen Weiterverarbeitung zu Chitosan besteht im Wesentlichen aus folgenden Schritten: 1. mechanische Zerkleinerung der Garnelenschalen, 2. Deproteinierung durch Extraktion mit 2%iger NaOH, 3. Demineralisierung mit 2%iger HCl und Entfärbung z. B. mit Oxidationsmitteln, 4. Deacetylierung durch Erhitzen (110–115 °C) mit 40– 50%iger NaOH, 5. Lösung des Chitosans mit 2%iger Essigsäure, 6. Fällung mit NaOH, Waschen, Trocknen und Mahlen.
In ähnlicher Weise wird Chitosan aus Pilzen gewonnen; da Pilzzellwände allerdings keine mineralischen Bestandteile enthalten, kann der Demineralisierungsschritt entfallen. Die prinzipiell mögliche enzymatische Herstellung von Chitosan wird bislang in der kommerziellen Produktion nicht genutzt. Infobox Chitosan als Produkte der Blauen Biotechnologie. Die Anwendung von Biotechnologie hat in den Bereichen der Medizin, Landwirtschaft, Ernährung, Industrie und Technik
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20.1 Aminoglykane
in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen. Neben der sog. Roten, Grünen, Grauen bzw. Weißen Biotechnologie wurde der Begriff der Blauen Biotechnologie geprägt, der sich mit dem Einsatz mariner Ausgangsstoffe für neue innovative Anwendungen beschäftigt. Als Produkte dieses Zweiges werden Chitosan und andere Chitinwerkstoffe angesehen. Sie werden zwar in immer größerem Umfang hergestellt und zunehmend breiter eingesetzt, ihr Stellenwert in der Praxis liegt jedoch noch weit hinter dem der etablierten Phycokolloide. Wie viele Biowerkstoffe sind allerdings auch Chitinwerkstoffe in ihrer Nützlichkeit umstritten. Als Nachteile werden die aufwendige und kostspielige Herstellung reproduzierbarer Materialien und die im Vergleich zu synthetischen Polymeren schlechte physikalische und chemische Beständigkeit angeführt. Als Vorteile sieht man die biologische Abbaubarkeit, toxikologische Unbedenklichkeit und die Basierung auf nachwachsenden Rohstoffen, die ohnehin als Abfälle anfallen.
Eigenschaften Löslichkeit von Chitin. Obwohl Chitin in seiner Struktur
der Cellulose ähnlich ist, besitzen die beiden Polysaccharide doch unterschiedliche Eigenschaten. Infolge der starken zwischenmolekularen Wechselwirkungen, die von den Acetylaminogruppen ausgehen, ist Chitin außerordentlich resistent gegenüber chemischen Agenzien (Nishimura 2001). Chitin ist in Wasser, Schweizer-Reagens (Cuoxam, [Cu(NH3)4](OH)2) (vgl. Kap. 19.2.3) und den meisten gängigen Lösungsmitteln unlöslich und quillt allenfalls in Essigsäureethylester. Lediglich in konzentrierten Säuren wie wasserfreier Ameisensäure, Ameisensäure-Dichloressigsäure- oder Trichloressigsäure-Dichlorethan-Mischungen und in DMF-LiCl ist es löslich. Löslichkeit von Chitosan. Demgegenüber zeigen Chito-
sane eine verbesserte Löslichkeit. Generell lösen sich Chitosane ab einem Deacetylierungsgrad von 60% unter Protonierung der freien Aminogruppen in verdünnten starken Säuren (außer H2SO4) sowie in organischen Säuren wie Essigsäure. Dabei entstehen hochviskose Lösungen, deren Viskosität mit zunehmenden Deacetylierungsgrad sinkt. Wenn man derartige Lösungen auf einer Kunststofplatte ausgießt und das Lösemittel verdunsten lässt, erhält
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man transparente, farblose Folien, die überraschend stabil sind. Die Löslichkeit in Wasser steigt mit zunehmendem Deacetylierungsgrad und abnehmender Mr : Während hochmolekulare Chitosane wasserunlöslich sind, sind niedermolekulare Vertreter in Wasser und sogar in Laugen löslich. Aufgrund der Protonierung der freien Aminogruppen liegen Chitosane in Lösung als hochgeladene Polykationen vor, die zum einen negativ geladene Moleküle binden und komplexieren können und zum anderen als Ionenaustauscher wirken. Physiologische Eigenschaften. Chitosane sind untoxisch,
in der Maus liegt die LD50 nach oraler Applikation bei 16 g/kg Körpergewicht. Chitosane sind zwar biologisch abbaubar, werden aber nicht durch Verdauungsenzyme metabolisiert und zählen daher zu den löslichen Ballaststofen ( > Kap. 19.2.11). Im Gegensatz zu üblichen Ballaststofen bremst es jedoch die Bildung kurzkettiger Fettsäuren durch die Darmlora und wirkt somit nicht als Präbiotikum. Da experimentell antimikrobielle Eigenschaten nachgewiesen wurden, interpretiert man diesen Befund als Hinweis auf eine schädigende Wirkung von Chitosan auf die Darmbakterien (Razdan 1994). Im Gegensatz zu Chitin sind Chitosane ausgeprägte Immunogene. Dies äußert sich z. B. in der Aktivierung peritonealer Makrophagen, der Unterdrückung des Wachstums von Tumorzellen sowie der Erzeugung einer unspeziischen Resistenz gegen E.-coli-Infektionen. Noch stärker als Chitosan aktiviert 6-O-carboxymethyliertes Chitin peritoneale Makrophagen. DAC 70, ein deacetyliertes Chitin, ist das potenteste Immunoadjuvans gegenüber Infektionen mit dem Sendai-Virus. Die Substitution von Chitin mit Sulfatgruppen führt wie üblich bei sulfatierten Polysacchariden zu antikoagulatorisch wirksamen Derivaten. Ferner vermag 6-O-sulfatiertes Chitin in Abhängigkeit vom Sulfatierungsgrad die Bildung von Lungenkarzinommetastasen zu hemmen ebenso wie sulfatiertes 6-O-carboxymethyliertes Chitin bei gleichzeitig geringer antikoagulatorischer Wirkung.
Verwendung von Chitosan, Chitinund Chitosanderivaten Vielfalt. Chitosane und andere auf Chitin basierende
Werkstofe werden erst seit einigen Jahren kommerziell
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Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
genutzt. Sie werden in zunehmendem Umfang hergestellt und immer breiter eingesetzt. Aus den viskositätserhöhenden und ilmbildenden Eigenschaten und der Fähigkeit zur Bindung von Ionen und Molekülen bzw. zum Ionenaustausch ergeben sich vielfältige Anwendungsmöglichkeiten in der Pharmazie und Medizin, im biochemischen Labor, in der Kosmetik-, Lebensmittel- und Textilindustrie sowie in der Landwirtschat und Abwasseraufreinigung. x Abwasseraufreinigung: Chitosangel als Flockungsmittel in der Abwasseraufreinigung (chelatisierende Eigenschaten, Bindung von Schwermetallen, Farbstofen und kolloidalen Proteinen). x Labor und Biotechnologie: Chitosan zur Immobilisierung von Enzymen, J-Globulinen, anderen Proteinen und Zellen; Dialyseschläuche und Trennmembranen aus Chitosanfolien; Chitosangele für die Flüssigkeitschromatographie (z. B. modiizierte Chitosangele für die stereoselektive Trennung von d- und l-Aminosäuren). x Kosmetik: Chitosan als Filmbildner und Feuchthaltemittel; Chitosan in Zahnpasta zur Kariesprophylaxe (Verminderung der Zahnplaquebildung). x Lebensmittel: Chitosanfolien als Wursthüllen; Chitosangele als Filtrations- und Flockungsmittel bei der Getränkeherstellung. x Industrie: Chitosanilme zur Imprägnierung und Beschichtung von Stofen, Papier und anderen Materialien. Pharmazie und Medizin. Interessante Verwendungsmöglichkeiten für Chitosane, niedermolekulare Chitosane und Chitosanderivate bieten sich auch im Bereich der Pharmazie und Medizin. Allerdings sind die Anforderungen hinsichtlich Qualität und Reproduzierbarkeit der Eigenschaften hier besonders hoch, sodass sich diese Applikationen teilweise noch im Entwicklungsstadium beinden.
x Wundversorgung: Bereits bewährt haben sich Chitosan und Chitosanderivate (Chitosanascorbat, N-Carboxymethylchitosan und N-Carboxybutylchitosan) als Medizinprodukte für die Wundversorgung. Da sie atmungsaktive und feuchtigkeitsdurchlässige Membranen bilden, eignen sie sich hervorragend als Wundaulagen. In Form von herkömmlichen Verbandmaterialien oder als Sprühverband werden sie auch bei großlächigen Brand- und Schürfwunden eingesetzt. Von Vorteil ist, dass die Polymere gleichzeitig antimikrobielle Wirkung haben, die Wundheilung fördern und die Narbenbildung nachweislich vermindern (Biagini u. Muzzarelli 1992). Basierend auf diesen Eigenschaten werden Chitosane ferner als Materialien für die Entwicklung von künstlicher Haut untersucht. x In der pharmazeutischen Technologie sieht man Chitosan und Chitosanderivate als viel versprechende Hilfsstofe der Zukunt. Am Beispiel von Indometacin wurde gezeigt, dass niedermolekulares Chitosan als Hilfsstof in oralen Arzneiformen zur Verbesserung der Löslichkeit und Bioverfügbarkeit eingesetzt werden kann. Aufgrund ihrer molekülbindenden Eigenschaten kommen Chitosanderivate auch als Träger für Arzneistofe (therapeutische Systeme) und für die Optimierung des „drug delivery“ in Betracht. N,N-Dicarboxymethylchitosan erwies sich beispielsweise im Tierversuch als geeignetes „delivery agent“ für „bone morphogentic protein“ zur Reparatur von Gelenksknorpel (Mattioli-Belmonte u. Gigante 1999). Ferner werden Hydrogele, die auf Mischungen von Chitosan mit synthetischen Polymeren wie Polyvinylalkohol basieren, mit dem Ziel einer steuerbaren Freisetzung von Arzneistofen wie etwa Wachstumshormon untersucht (Cascone et al. 2001). Schließlich gehört Chitosan zu einem der interessantesten Kandidaten für das „tissue engineering“ von Knorpel, Bandscheiben- und Knochengewebe (Di Martino et al. 2005).
Infobox Chitosan als „Fettschwamm“. Wie viele andere Polysaccharide gehört Chitosan zu den unverdaulichen Ballaststoffen. Seine chemische Struktur verleiht ihm die besondere Fähigkeit, ein Vielfaches seines Eigengewichtes an Fett binden zu können. Deshalb wird Chitosan werbewirksam als „Fettschwamm“ bezeichnet und seit etwa zwei Jahrzehnten in vielen Ländern als Nahrungsergän-
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zungsmittel zur Reduktion und Kontrolle des Körpergewichts vermarktet. x Mechanismus: Man nimmt an, dass das Polykation Gallensäuren bindet und so die Bildung von Fettmizellen verhindert. Dadurch können die Nahrungsfette nicht durch die Lipasen zu resorbierbaren Monoglyceriden und Fettsäuren abgebaut werden. Infolgedessen wird sowohl
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die Ausscheidung von Gallensäuren als auch von Fetten gefördert und somit die Energieaufnahme gesenkt. Tierversuche: Diese Effekte konnten in Tierversuchen belegt werden: Beispielsweise sank in einem Fütterungsversuch (30 g/kg Futter) mit Küken die Verdaulichkeit des Futters, die Fettverwertung nahm um ein Viertel ab, der Triglyceridanstieg nach dem Fressen fiel geringer aus, der Cholesterinspiegel war vermindert und das Körpergewicht wurde reduziert. Humanstudien: Drei neuere in Finnland, Schweden und Italien durchgeführte Studien, die den von Registrierungsbehörden verlangten wissenschaftlichen Kriterien und Anforderungen entsprechen, konnten die Effizienz von Chitosan als Nahrungsergänzung belegen. Die Mittel bewirken nicht nur einen beschleunigten Abbau von Körperfett, sondern auch eine Reduktion des LDL-Cholesterinspiegels sowie eine Senkung des Blutdrucks. Weitere Effekte: In Tierversuchen führte die Verabreichung von Chitosan zusätzlich zu einem Appetitverlust. Man erklärt dies damit, dass Chitosan in Gegenwart von Magensäure mit viel Wasser zu einer hochviskosen Masse quillt, sodass die Magenverweilzeit des Nahrungsbreis verlängert und das Hungergefühl gestillt wird. Die Kombination der magensäurebindenden und wundheilungsfördernden Eigenschaften von Chitosan wird außerdem als günstig bei Magenulzera angesehen. Sicherheit: Konform zum GRAS-Passus (GRAS = „generally recommended as safe“) gemäß § 170.30 des USamerikanischen Lebensmittelgesetzes wurde in verschiedenen Untersuchungen die Unbedenklichkeit von Chitosan als Nahrungsergänzungsmittel nachgewiesen. Als weiteren Sicherheitsbeleg führt man an, dass Chito-
20.1.2
Modifizierte Chitosane
Mikrokristallines Chitosan Zur Herstellung von mikrokristallinem Chitosan (MCCh) wird Rohchitosan in Essigsäure gelöst und zunächst thermisch depolymerisiert; die anschließende Zugabe von NaOH bis zu einem pH-Wert von 8 führt zur Aggregation der Moleküle, die als MCCh ausfallen. Im Vergleich zu Chitosan verfügt MCCh über ein höheres Wasseraufnahmevermögen (500–5000%), die Fähigkeit zur direkten Filmbildung und ein deutlich verbessertes Vermögen,
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san nicht resorbiert, sondern unverändert ausgeschieden wird und dass trotz langjähriger Anwendung von Chitosanpäparaten bislang keine Nebenwirkungen bekannt geworden sind. Anwendung: Laut Empfehlungen sollen je nach dem Fettgehalt der Mahlzeit 1–2 g Chitosan 10–20 min vor dem Essen mit Wasser eingenommen werden. Um eine Unterversorgung mit essentiellen Fettsäuren und fettlöslichen Vitaminen zu vermeiden, wird von der regelmäßigen Einnahme zu jedem Essen abgeraten. Bei schwerer Divertikulose, Darmverengung oder bei Allergien auf Meeresfrüchte sowie in der Schwangerschaft und Stillzeit ist die Anwendung untersagt. Als Fertigpräparate werden u. a. Kapseln angeboten, die 1000 mg Chitosanfasern und 200 mg Vitamin C enthalten. Bedenken: In Deutschland ist der Vertrieb von Chitosanprodukten zur Gewichtsreduktion bislang nicht erlaubt. Das Nutzen-Risiko-Verhältnis wird von der Gesundheitsbehörde negativ bewertet. Trotz einer Reduktion der Energieaufnahme ist es zum langfristigen Abbau von Übergewicht nicht geeignet, da es keine Veränderung der Ernährungsgewohnheiten bewirkt. Vielmehr befürchtet man gesundheitliche Konsequenzen infolge einer Unterversorgung mit essentiellen Fettsäuren und fettlöslichen Vitaminen und gegebenenfalls der Beeinträchtigung der Resorption von Arzneistoffen. Ferner kann ein hoher Fettgehalt im Stuhl zu unangenehmen Durchfällen führen. Schließlich deutet eine tierexperimentell gefundene verminderte Bildung kurzkettiger Fettsäuren durch die Darmflora sowie eine Reduktion der Anzahl von Bifidobakterien im Darm darauf hin, dass Chitosan aufgrund seiner antimikrobiellen Eigenschaften die Darmbakterien schädigt.
Schwermetallionen zu binden. Außerdem wirkt es bakteriostatisch. Anwendungsmöglichkeiten ergeben sich beispielsweise im medizinischen Bereich, in der Textilindustrie (Stoimprägnierung) oder Abwasseraufreinigung.
Niedermolekulare Chitosane Die kommerziell produzierten Chitosane sind in der Regel polydisperse Mischungen hochmolekularer Moleküle. Ihre viskositätserhöhenden und immunogenen Eigenschaten und ihre begrenzte Löslichkeit bei physiologi-
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Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
schen pH-Werten limitieren ihre Verwendung im pharmazeutisch-medizinischen Bereich. Besser geeignet sind für diese Zwecke wasserlösliche niedermolekulare Chitosane. Für parenterale Zubereitungen erscheinen Mr zwischen 15.000–80.000 optimal, denn kleinere Moleküle werden zu schnell über die Niere ausgeschieden, größere sind nicht mehr glomerulär iltrierbar und können immunologische Reaktionen hervorrufen. Prinzipiell können niedermolekulare Chitosane sowohl durch chemisch-thermische Degradation (z. B. mit HCl, HNO3, H3PO4 oder H2O2) als auch durch enzymatischen Abbau von Chitosan hergestellt werden. Letzterer bietet die Option, auf schonendem Weg hochreine Chitosane mit deinierten Deacetylierungsgraden und Mr herzustellen. Neben speziisch wirkenden Chitinasen und Chitosanasen erwiesen sich hierzu Lysozym aus Hühnereiweiß sowie Papain und Hemicellulasen als geeignet.
Chitosanoligosaccharide Mittels Chitosanase werden auch hoch gereinigte Chitosanoligosaccharide mit einer Mr von etwa 2000 hergestellt. Sie werden wie Chitosane als Nahrungsergänzungsmittel und ähnliche Produkte vermarktet und sollen gegenüber Chitosan über verbesserte „gesundheitsfördernde“ Eigen-
schaten verfügen. Kritisch zu hinterfragen ist die Palette der postulierten Wirkungen, die von präbiotischen Eigenschaten, Cholesterol- und Blutzuckerspiegel senkenden Efekten, Resorptionsverbesserung von Mineralstofen, Unterstützung der Leberfunktion, Immunstimulation bis hin zu tumorprotektiven Wirkungen reichen.
Chitin- und Chitosanviskosefasern Chitin und Chitosane lassen sich zwar nicht wie Cellulose mittels Alkalibehandlung und Schwefelkohlenstof in eine spinnbare Viskose überführen (vgl. Kap. 19.2.3), aber durch spezielle Modiikationen des Viskoseverfahrens wie Harnstofzusatz, Verspinnen aus Ameisensäurelösungen erhält man Chitin- und Chitosanviskosefasern, deren Eigenschaten denen von Celluloseviskosefasern überlegen sind. Die aus Chitosanen hergestellten Viskosefasern besitzen noch höhere Nass- und insbesondere Knotenfestigkeit als Chitinviskosefasern. Stark verbessert ist die Anfärbbarkeit mit sauren und basischen Farbstofen. Interessant sind solche Fasern u. a. für pharmazeutisch-medizinische Anwendungen wegen ihrer biologischen Abbaubarkeit durch Lysozym. Die Zugänglichkeit für dieses Enzym wird durch Alkylieren der OH-Gruppe in Position 6 erhöht.
! Kernaussagen x
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Aminozucker kommen als Bausteine von Polysacchariden (Chitin, Chitosan, Glykosaminoglykane, Murein) sowie als Komponenten von Glykoproteinen, Glykolipiden und zahlreichen Sekundärmetaboliten (z. B. Aminoglykosidantibiotika) vor. Chitin ist nach Cellulose die zweithäufigste organische Substanz in der Natur. Sie fungiert als Strukturbildner im Exoskelett der Arthropoda und bildet die Gerüstsubstanz in den Zellwänden der Eumycota. Es handelt sich um ein lineares Homopolysaccharid (Mr 2–3-mal 106), das aus E-(1o4)-verknüpften 2-Acetamido-2-deoxy-D-glucose-Einheiten (GlcNAc) besteht. Chitin dient zur Herstellung verschiedener partialsynthetischer Derivate, von denen Chitosan das wichtigste ist. Chitosan ist die Sammelbezeichnung für partiell (>40–50%) deacetyliertes Chitin, dessen Ketten
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aus variablen Anteilen an E-(1o4)-verknüpften GlcNAc und GlcN-Einheiten bestehen. Man unterscheidet niedermolekulare (Mr ≤150.000), mittelmolekulare (Mr ~400.000) und hochmolekulare Chitosane (Mr ≥600.000). Während Chitin in den meisten Lösungsmitteln unlöslich ist, zeigen Chitosane eine verbesserte Löslichkeit. Sie lösen sich generell in verdünnten starken Säuren sowie in organischen Säuren. Je nach Mr und Deacetylierungsgrad sind sie auch in Wasser und Laugen löslich. In den hochviskosen Lösungen liegen sie als Polykationen vor. Nach Verdunsten des Lösungsmittels bilden Chitosane stabile Filme. Chitosane gelten als untoxisch. Sie sind unverdaulich, scheinen jedoch im Gegensatz zu üblichen Ballaststoffen keinerlei präbiotische Eigenschaften zu besitzen. Chitosane sind ausgeprägte Immunogene.
20.2 Glykosaminoglykane
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Aus ihren physikochemischen Eigenschaften ergeben sich zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten für Chitosane in der Pharmazie und Medizin (z. B. Wundversorgung, „drug delivery“, „tissue engenering“). Bereits vielfältig genutzt werden diese im biochemischen Labor, in der Kosmetik-, Lebensmittel- und Textilindustrie sowie in der Landwirtschaft und Abwasseraufreinigung. Chitosan wird als „Fettschwamm“ propagiert und in Form von Nahrungsergänzungsmitteln zur Reduktion und Kontrolle des Körpergewichts vermarktet. Mikrokristallines Chitosan wird durch Depolymerisation und anschließende Aggregation von Chitosan
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erhalten und verfügt über optimierte Eigenschaften für technische Verwendungszwecke (z. B. Quellfähigkeit). Niedermolekulare Chitosane (Mr Kap. 19.7) sind die Glykosaminoglykane (GAG) die zweite Klasse natürlich vorkommender sulfatierter Polysaccharide. Sie sind typische Biopolymere der
Vertebraten und kommen nur vereinzelt in anderen Organismen vor (z. B. Achatina fulica, Afrikanische Riesenschnecke, E. coli-Kapselpolysaccharid K5). Sie bilden wichtige Bestandteile der extrazellulären Matrix (EZM) und der Glykocalyx tierischer Zellen, die im Gegensatz zu den Zellen der Bakterien, Pilzen und Planzen keine Zell-
Infobox Kohlenhydrat-Protein-Komplexe. Man unterscheidet prinzipiell drei Arten von Kohlenhydrat-Protein-Komplexen: Glykoproteine inkl. Mucine, Proteoglykane (PG) und ionogene Kohlenhydrat-Protein-Komplexe. x Glykoproteine. Unter den Glykoproteinen versteht man Proteine, die N- oder O-glykosidisch mit einem bis vielen Mono-, Oligosaccharid- oder auch Polysaccharidresten verknüpft sind ( >Abb. 20.2). Der Kohlenhydratanteil beträgt i. d. R. 5–15%, in Ausnahmen aber auch >50%. Zu dieser Gruppe zählen die meisten Enzyme, Membran-
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proteine, Plasmaproteine, Immunglobuline, Wachstumsfaktoren, Hormone, Strukturproteine usw. Mucine. Als Mucine (syn. Mukoproteine) werden kohlenhydratreiche (ca. 50%) Glykoproteine mit vielen O-glykosidisch gebundenen Oligosaccharidketten bezeichnet. Sie werden von bestimmten Epithelzellen abgeschieden und stellen schützende Schleimstoffe dar. Sie kommen z. B. im Bronchialschleim, Speichel und Harn, in den Sekreten der Genitalorgane, in der Galle sowie als Komponenten der Magen- und Darmschleimhaut vor.
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20 x
Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
Proteoglykane. Im Gegensatz zu den Glykoproteinen überwiegt bei den PG (syn. Mukoide) mit 85–95% der Kohlenhydratanteil. An eine das Rückgrat bildende Polypeptidkette, das sog. „core“-Protein, sind bürstenartig lange, unverzweigte Polysaccharidketten kovalent gebunden ( >Abb. 20.2). Diese vereinfachende Definition berücksichtigt allerdings nicht, dass die Mr der „core“Proteine von 10.000 bis >500.000 und die Zahl der Polysaccharidketten von 1 (z. B Decorin) bis >100 (z. B. Aggrecan) reicht. Man unterscheidet neutrale und saure PG. Der Polysaccharidanteil der PG besteht aus unverzweigten, polyanionischen Glykosaminoglykanen (GAG, syn. Mukopolysaccharide). Charakteristisch sind der hohe Gehalt an Aminozuckern sowie der stark saure Charakter infolge ihres Gehaltes an Uronsäuren und/ oder Sulfatgruppen. Sowohl die Polysaccharidketten
. Abb. 20.2 Glykosminoglycan
Core-Protein
Oligosaccharid
PROTEOGLYKAN
Protein
x
selbst als auch der makromolekulare Aufbau der PG zeigen eine große Variabilität. Darüber hinaus liegen die PG häufig als große, nicht kovalent gebundene PG-Aggregate vor wie etwa im Knorpel, wo KS und CS enthaltende PG an ein zentrales HA-Molekül gebunden sind ( > Abb. 20.3). Ionogene Kohlenhydrat-Protein-Komplexe. Während die Kohlenhydratanteile bei den Glykoproteinen und PG N- oder O-glykosidisch mit dem Proteinanteil verbunden sind, bewerkstelligen bei ionogenen KohlenhydratProtein-Komplexen nicht kovalente, sondern hauptsächlich elektrostatische Bindungen den Zusammenhalt. Ein klassisches Beispiel ist der Antithrombin-(AT-)HeparinKomplex, bei dem Heparin über eine spezifische negativ geladene Pentasaccharidsequenz an eine durch basische Aminosäuren positiv geladene Domäne des AT bindet.
Obwohl Heparin seit mehr als 65 Jahren als Mittel der Wahl in der Prophylaxe und herapie thromboembolischer Erkrankungen eingesetzt wird, hat erst die Forschung der letzten 25 Jahre zu der Erkenntnis geführt, dass GAG nicht nur Stütz-, Schutz- und Gleitsubstanzen darstellen, sondern wichtige physiologische Funktionen besitzen sowie eine bedeutende Rolle in der Pathophysiologie vieler Erkrankungen spielen und folglich interessante Targets für die Entwicklung neuer herapien darstellen.
GLYKOPROTEIN
Vereinfachende schematische Darstellung eines Proteoglykans und eines Glykoproteins. Während Proteoglykane i. d. R. zu 85–95% aus langkettigen Glykosaminoglykanen bestehen, die bürstenartig an das so genannte Core-Protein gebunden sind, beträgt bei den Glykoproteinen der Kohlenhydratanteil in Form von häufig verzweigten Heterooligosaccharidketten i. d. R. nur 5–15%
wand besitzen. Man unterscheidet sechs GAG-Typen: Hyaluronsäure (HA, syn. Hyaluronan), Keratansulfat (KS), Chondroitinsulfat (CS), Dermatansulfat (DS), Heparansulfat (HS) und Heparin. Es sei darauf hingewiesen, dass trotz der Verwendung der jeweiligen Bezeichnungen im Singular im folgenden Text darunter jeweils eine immense Zahl unterschiedlicher Strukturen zu verstehen ist. Mit Ausnahme der Hyaluronsäure werden die GAG in Form hochmolekularer Proteoglykane (PG) synthetisiert.
20.2.1
Proteoglykane und Glykosaminoglykane der Vertebraten
Vorkommen Nahezu alle Säugetierzellen produzieren PG. Sie werden entweder in den Extrazellulärraum sezerniert, in die Zytoplasmamembran integriert oder in sekretorischen Granula gespeichert. Sezernierte Proteoglykane. Sezernierte Proteoglykane
bilden die Grundsubstanz der EZM aller Gewebe und sind auch Bestandteil der Basalmembranen. Besonders reich an PG ist die EZM der Binde- und Stützgewebe. Zu den PG des lockeren kollagenen Bindegewebes (syn. interstitielles Bindegewebe) gehören neben HA kleine PG wie Decorin, Biglykan und Fibromodulin. Typisch für die Cornea ist u. a.
20.2 Glykosaminoglykane
. Abb. 20.3
Hyaluronsäure Link- Protein Keratansulfat Chondroitinsulfat
Core - Protein
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das KS-PG Lumican. Einige PG liegen als große Aggregate mit HA vor wie das CS- und KS-haltige Aggrecan des Knorpels, das CS-/DS-PG Versican in den Blutgefäßwänden oder Neurocan und Brevican im Gehirn ( > Abb. 20.3). Einige dieser PG enthalten nur eine GAG-Kette (z. B. Decorin), andere hingegen mehr als 100 (z. B. Aggrecan). Typisch für die PG der EZM sind die GAG CS und DS, während die Basalmembranen hauptsächlich die HS-haltige PG (z. B. Perlecan, Agrin) enthalten. Allerdings gibt es Ausnahmen wie z. B. das Aggrecan des Knorpels, das neben CS- auch KS-Ketten besitzt oder die KS-PG der Kornea. Membranproteoglykane. Die Membranproteoglykane
sind Bestandteil der Glykocalyx. Sie haben entweder eine die Membran durchziehende Domäne oder einen GPIAnker (Glykosylphosphatidylinositol). Es handelt sich meist um HS-PG (z. B. Glypicane von Epithelzellen und Fibroblasten), es gibt aber auch Hybridstrukturen, die sowohl HS als auch CS enthalten (z. B. Syndecane von Epithelzellen und Fibroblasten und Betaglykan von Fibroblasten); nur wenige sind reine CS-PG (z. B. CD44 von Lymphozyten und NG2 von Nervenzellen). Proteoglykan-Aggregat. Als Beispiel ist der Ausschnitt eines Aggrecanaggregates aus dem Knorpel schematisch dargestellt (nach Stryer 1996). Es setzt sich aus ca. 100 Aggrecanmonomeren (Mr 3-mal 106, ca. 300–400 nm lang) zusammen, die in gleichmäßigen Abständen (ca. 30– 40 nm) um ein langes zentrales Filament aus Hyaluronsäure (ca. 1–4 μm) angeordnet sind. Die nicht-kovalente Bindung wird durch kleine „link”-Proteine (Verbindungsproteine) vermittelt, die sowohl an das „core”-Protein als auch an die Hyaluronankette binden und so den Komplex stabilisieren. Die „link”-Proteine sind Vertreter aus der Familie der Hyaluronan-bindenden Proteine, von denen einige auch als Bestandteil von Zellmembranen vorkommen. Ein typisches Aggrecanmolekül besteht aus etwa 100 Chondroitinsulfat- und etwa 30 kürzeren Keratansulfatketten, die an ein serinreiches „core”-Protein aus etwa 3000 Aminosäuren gebunden sind. Der gesamte Komplex (Mr >108) ähnelt einem Nadelbaumzweig mit Hyaluronsäure als Hauptachse, den „core”-Proteinen als Trieben und den GAG-Ketten (Keratan- und Chondroitinsulfat) als Nadeln. Im Knorpel sind die PG-“Triebe“ zusätzlich mit Kollagenmolekülen assoziiert. Derartige PG-Aggregate stellen eine Klasse besonders großer Biomoleküle, die die Dimension von Bakterien erreichen. Sie besitzen je nach Gewebeart unterschiedliche Struktur und vielfältige, zum Teil noch unbekannte Funktionen
Intrazelluläre Proteoglykane. Intrazelluläre Proteogly-
kane kommen in Zellen mit Speichergranula vor, in denen sie zusammen mit anderen sekretorischen Produkten Infobox Extrazelluläre Matrix (EZM, Interzellularsubstanz). Unter dem Begriff EZM werden alle Makromoleküle zusammengefasst, die von Zellen sezerniert und im Extrazellulärraum durch Interaktionen mit anderen Molekülen immobilisiert werden (Lüllmann-Rauch 2003). EZM kommt in allen vier Grundgewebearten (Epithel-, Binde-/Stütz-, Nerven- und Muskelgewebe) vor, dominiert jedoch in den Binde- und Stützgeweben und determiniert ihre physikalischen Eigenschaften und physiologischen Funktionen. Die Hauptbestandteile sind: x Skleroproteine (z. B. Kollagene, Elastin, Fibrillin), die meist fibrilläre Strukturen ausbilden und mechanische Aufgaben besitzen (z. B. Zugfestigkeit, Elastizität), x Adhäsionsproteine (z. B. Fibronectine, Laminin, Thrombospondin, Tenascin), die zur Verankerung der Zellen in der EZM dienen, x Proteoglykane, die die gelartige Grundsubstanz bilden.
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Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
konzentriert werden. Typisch für diese PG sind hochsulfatierte Formen von CS. Allerdings indet man in den Granula der Mastzellen überwiegend Heparin in Form von Serglycin. Man geht davon aus, dass die PG der Granula dazu dienen, positiv geladene Komponenten wie Proteasen und bioaktive Amine (z. B. Histamin) kompakt zu lagern und in ihrer Aktivität zu regulieren.
Lamina densa, deren Hauptbestandteile Kollagen Typ IV, Laminin und PG sind. Die Lamina fibroreticularis vermittelt die Verankerung der Basallamina am Bindegewebe und besteht v. a. aus einem Geflecht dünner Kollagenfibrillen (Typ III). –
x
Infobox
Infobox
Basalmembran. Als Basalmembran bezeichnet man einen „Teppich“ aus verschiedenen Matrixbestandteilen, der alle Epithelien, Endothelien und Gliazellverbände gegenüber dem bindegewebigen Stroma abgrenzt und zugleich daran verankert (Lüllmann-Rauch 2003). Fettzellen und Muskelzellen besitzen ebenfalls eine Basalmembran, von der sie ganz umhüllt werden. Die Basalmembran setzt sich aus folgenden Schichten zusammen: x Die Basallamina dient der Verankerung der Zelle und ist strukturell gegliedert in – Lamina lucida, die direkt an die Plasmamembran grenzt und stellenweise von Ankerfilamenten durchzogen wird, und
Glykocalyx. Im Gegensatz zu den Zellen anderer Organismen besitzen tierische und menschliche Zellen keine Zellwand. Dennoch findet man in Form der sog. Glykocalyx auch bei tierischen Eukaryonten Kohlenhydrate in der Grenzschicht zwischen Zelle und extrazellulärem Raum bzw. Nachbarzelle ( >Abb. 20.4). Komponenten dieses Kohlenhydratsaums fungieren als spezifische Rezeptoren für Antikörper, Hormone, Wachstumsfaktoren usw. Außerdem ist die Glykocalyx bei der Gewebeentwicklung für den Zusammenhalt und die Erkennung von Zellen verantwortlich.
6
. Abb. 20.4
Vereinfachtes Schema der Glykocalyx tierischer Zellen. Dieser Kohlenhydratsaum an der Außenfläche der Zellmembran bei Eukaryonten besteht aus den Kohlenhydratketten der Glykolipide (bes. Cerebroside und Ganglioside) und Glykoproteine und den Glykosaminoglykanen (verkürzt dargestellt) der in die Zellmembran integrierten Proteoglykane. Zusätzlich tragen adsorbierte Glykoproteine und Proteoglykane (nicht gezeigt) zur Glykocalyx bei. Die Kohlenhydrate befinden sich ausschließlich auf der Außenseite der Zellmembran, die cytosolische Seite ist kohlenhydratfrei
20.2 Glykosaminoglykane
Physiologische Bedeutung Funktionen der Vertebraten-Proteoglykane. Die sper-
rigen Makromoleküle füllen den Raum zwischen den Fibrillen, Fasern und Proteinen der EZM aus. Als Polyanionen binden sie zahlreiche Kationen und aus osmotischen Gründen große Mengen an Wasser. Demzufolge fungieren sie als Wasserspeicher, verleihen dem Gewebe als nicht komprimierbare Substanz mechanische Stabilität und sind für die viskoelastischen Eigenschaten von Gelenken und anderen Strukturen, die mechanischer Deformation ausgesetzt sind, verantwortlich. Durch die Verlechtung der Makromoleküle untereinander und durch ihre Wechselwirkungen mit den Proteinen wirken sie als Permeabilitätsbarriere. Je nach Gewebetyp und Funktion der EZM variieren die Struktur der GAG und der makromolekulare Aubau der PG.
20
Mittlerweile ist jedoch bekannt, dass PG nicht nur viskoelastische Füllstofe darstellen, sondern auch eine wichtige Rolle bei Zell-Matrix- und Zell-Zell-Interaktionen spielen. Ferner sind sie durch Interaktionen mit Membrankomponenten oder Liganden an folgenden Vorgängen regulierend beteiligt (Baum u. Arpey 2005; Crispeels 1999; Islam u. Linhardt 2003): x Zellproliferation und -diferenzierung (direkt oder indirekt über Wechselwirkungen mit Wachstumsfaktoren), x Bewegungen und Funktionen von Zellen, x Embryogenese, x Entwicklung und Umbildung von Gewebe (z. B. Nervengewebe, Epithel). Außerdem binden PG als anionische Polymere vielfältige Biomoleküle (v. a. Proteine) und beeinlussen auf diese Weise deren Funktionen und Aktivitäten.
. Tabelle 20.1 Beispiele von Proteinen, die an die Glykosaminoglykanketten (GAG) der Proteoglykane (PG) binden. Zell-Matrix-Interaktionen werden durch die Bindung von Matrixproteinen an die GAG-Ketten auf den Zelloberflächen vermittelt. Durch Interaktionen mit Enzymen und Enzyminibitoren ist v. a. Heparansulfat in vielfältiger Weise in die Regulation der Gerinnung und Fibrinolyse involviert. Durch die Bindung an Lipasen und Lipoproteine sind GAG auch am Fettstoffwechsel beteiligt. Die Wechselwirkungen von Heparansulfat und anderen GAG mit einer Vielzahl (Liste bei weitem nicht vollständig) von funktionellen Komponenten im Rahmen von Entzündungs- und Wachstumsvorgängen einschließlich der Angiogenese bedingt, dass sie wegen ähnlicher Mechanismen auch eine Rolle bei der Tumorprogression und -metastasierung spielen Zell-MatrixInteraktionen
Gerinnung und Fibrinolyse
Lipolyse
Entzündung und Wachstum
Laminin
Antithrombin (AT)
Lipoproteinlipase
FGFb (Wachstumsfaktoren) und -rezeptoren
Fibronectin
Heparin Cofaktor II (HCII)
hepatische Triglyceridlipase
VEGFb (Wachstumsfaktor)
Thrombospondin
TFPIa
Phospholipase A2
TGF-EE (Wachstumsfaktor)
Vitronectin
Protein C Inhibitor
Phospholipase C
Interleukin-8 (Chemokin)
Tenascin
Thrombin
ApoE (Apolipoprotein)
MIP-1Ec (Chemokin)
Typ-I-Kollagen
tPA (Plasminogenaktivator)
LDL, VLDL (Lipoproteine)
PF43 (Chemokin)
Typ-III-Kollagen
PAI-1 (PA-Inhibitor)
Typ-V-Kollagen
RANTESc (Chemokin) L- und P-Selectin Mac-1d (Integrin) C1INH (C1-Protein-Inhibitor) Elastase Superoxiddismutase
a TFPI, „tissue factor pathway inhibitor“, b Wachstumsfaktoren: FGF, „fibroblast growth factor“, VEGF, „vascular endothelial
growth factor“, TGF, „transforming growth factor“, c Chemokine: MIP-1E, „macrophage inflammatory protein“, PF4, „platelet factor 4“, RANTES, „regulated on activation, normal T-cell expressed and secreted“, d Mac-1, „macrophage antigen-1“ = CD11b/ CD18= DME2-Integrin = CR3.
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Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
Interaktionen der Proteoglykane mit Liganden. In
Proteoglykane. Die große Vielfalt an unterschiedlichen
20.1 sind beispielhat einige der Proteine aufgeführt, die mit GAG interagieren. Die meisten von ihnen binden an Heparansulfat (HS), das unter den GAG sowohl die stärkste Bindungskapazität als auch die größte strukturelle Diversität besitzt, die sie für die Wechselwirkungen mit den unterschiedlichsten Strukturen prädestiniert. Als Liganden von Heparansulfat und Heparin wurden bislang über 100 verschiedene Proteine identiiziert. Dazu gehören (1) Enzyme, (2) Proteaseinhibitoren, (3) Lipoproteine, (4) Wachstumsfaktoren, (5) Chemokine, (6) Selectine, (7) EZM-Proteine, (8) Rezeptorproteine, (9) Kernproteine, (10) zytotoxische Mediatoren, (11) virale Hüllproteine und (12) Rezeptoren bakterieller Zellwandstrukturen. Die Wirkung von Heparin veranschaulicht beispielhat die Relevanz dieser Interaktionen: Eine Heparininjektion führt sehr schnell und eizient zur Gerinnungshemmung, indem es an den endogenen Gerinnungsinhibitor Antithrombin (AT) bindet und diesen beschleunigt. Prinzipiell kann die Bindung zwischen GAG und Proteinen zu folgenden Efekten führen: x Immobilisierung von Proteinen am Ort ihrer Bildung, x Regulation der Aktivität von Enzymen und Enzyminhibitoren, x Auslösung eines Signals durch die Bindung an einen Rezeptor, x Vermittlung der eizienten Bindung zwischen Liganden und Rezeptoren, x Bildung eines Reservoirs an Liganden für küntige Mobilisierung, x Schutz von Proteinen gegen Abbau.
PG resultiert aus mehreren Faktoren: Bislang wurden etwa 30 verschiedene Core-Proteine identiiziert ( > Tabellen 20.4 bis 20.6). Die meisten besitzen mehrere (bis zu ~100) Anknüpfungsstellen in Form von Asparagin oder Serin bzw. hreonin für GAG (z. B. 5 bei Syndecan), wobei die Zahl und Position der tatsächlich vorhandenen GAG-Ketten variieren kann (z. B. 2–5 bei Syndecan). Zusätzlich können einige der Bindungsstellen alternativ sowohl mit Chondroitinsulfat als auch Heparansulfatketten verknüpt sein. Auch die einzelnen GAG-Ketten zeigen eine außerordentliche Variabilität hinsichtlich ihrer Länge (DP ~35–350), dem Sulfatierungsgrad und -muster der einzelnen Bausteine und auch der Anordnung der unterschiedlich sulfatierten Monosaccharide in der Kette. Folglich stellt beispielsweise eine einzelne Präparation von Syndecan-1 eine heterogene Mischung von Molekülen dar. Die Diversität wird schließlich noch durch Unterschiede gesteigert, die sich aus der Herkunt eines PG ergeben. So weisen etwa Syndecan-1-Moleküle je nach Zelltyp signiikante Unterschiede hinsichtlich der Zahl, Länge und Feinstruktur ihrer GAG auf. Die Ursache für diese strukturelle Diversität der PG liegt letztlich in der Art ihrer Biosynthese begründet ( > unten).
> Tabelle
In einigen Fällen erfolgt die Bindung durch eine sehr speziische Sequenz von Saccharideinheiten innerhalb der GAG-Kette. Das Paradebeispiel ist die Heparin-AT-Interaktion, die durch eine deinierte Pentasaccharideinheit ( > Abb. 20.12) vermittelt wird.
Struktur
! Kernaussage
Proteoglykane sind von außerordentlicher struktureller Diversität.
Glykosaminoglykane. Bei den GAG handelt es sich
um polydisperse, lineare, saure Heteroglykane vom „maskiert periodischen Typ“ (vgl. Agar, Carrageenan); nur Hyaluronsäure weist eindeutige „repeating units“ auf. Die Disaccharideinheiten enthalten jeweils einen Aminozucker (d-Glucosamin- oder d-Galactosamin-Derivat) und mindestens eine der beiden Zuckereinheiten ist aufgrund von Sulfat- und/oder Carboxylgruppen negativ geladen. Anhand der jeweils vorherrschenden Disaccharideinheit lassen sich sechs (bzw. sieben bei Diferenzierung zwischen ChS-A und ChS-C) verschiedene GAGTypen unterscheiden ( > Tabelle 20.2). Neben diesen idealisierten Grundstrukturen indet man jedoch vielfältige Varianten, die sich in Zahl und Position der Sulfatgruppen, der Acetylierung des Aminozuckers und dem Uronsäuretyp unterscheiden. Demzufolge sind die Übergänge zwischen den einzelnen Typen ließend, insbesondere zwischen CS-A, CS-C und DS sowie HS und Heparin. Es gelten einige allgemeine Prinzipien: x Die Chondroitinsulfate CS-A, CS-B (= Dermatansulfat) und CS-C unterscheiden sich von den übrigen
20
20.2 Glykosaminoglykane
. Tabelle 20.2 Grundstrukturen der Glykosaminoglykane der Vertebraten. Die angegebenen Disaccharideinheiten repräsentieren nur die charakteristischsten Strukturen GAG Hyaluronsäure (HA)a
Grundeinheiten
Mr
[4)-E-D-GlcpA-(1o3)-E-D-GlcpNAc-(1o]
DS 105–107
unsulfatiert
[3)-E-D-Galp-(1o4)-E-D-GlcpNAc6S-(1o]
5- bis 10-mal 103
~0,3
Chondroitinsulfat A (CS-A)
[4)-E-D-GlcpA-(1o3)-E-D-GalpNAc4S-(1o]
17- bis 50-mal 103
~0,4
Chondroitinsulfat C (CS-C)
[4)-E-D-GlcpA-(1o3)-E-D-GalpNAc6S-(1o]
17- bis 50-mal 103
~0,4 ~0,7
Keratansulfat (KS)
[4)-D-L-IdopA2S-(1o3)-E-D-GalpNAc4S-(1o]
15- bis 40-mal 103
Heparansulfat (HS)b
[4)-E-D-GlcpA-(1o4)-D-D-GlcpNAc-(1o]
10- bis 70-mal 103
0,4–0,9
Heparin
[4)-D-L-IdopA2S-(1o4)-D-D-GlcpN2S,6S-(1o]
5- bis 30-mal 103
0,9–1,25
Dermatansulfat (CS-B,DS)
a b
x x x x x x
Hyaluronsäure ist das einzige GAG, das genuin nicht mit einem „core”-Protein verknüpft vorliegt. Heparansulfat enthält zu etwa gleichen Anteilen (40–60%) D-D-GlcpNAc und D-D-GlcpN2S, wobei letztere zusätzlich am C-6 sulfatiert (D-D-GlcpN2S,6S) sein kann, was den DS 0,4–0,9 erklärt.
GAG durch ihre Aminozucker, nämlich (1o3)-D-dGalactosamin anstelle von d-Glucosamin. In Heparin und Heparansulfat liegt der Aminozucker in der D- und nicht wie sonst in der E-Koniguration vor. Keratansulfat ist das einzige GAG, das keine Uronsäuren aufweist, sondern stattdessen E-(1o3)-verknüpte d-Galactose enthält. In Heparin und Dermatansulfat ist die sonst übliche d-Glucuronsäure teilweise durch deren C-5-Epimer, die l-Iduronsäure, ersetzt. Durch die überwiegende Position der Sulfatgruppen lässt sich CS-A (4-O-Sulfat) von CS-C (6-O-Sulfat) abgrenzen. Die Hyaluronsäure zeichnet sich durch das Fehlen von Sulfatgruppen aus. Heparin weist von allen GAG den höchsten Sulfatierungsgrad (DS 1,0–1,25) auf. Es ist angesichts seiner Biosynthese nahe mit HS verwandt, besitzt jedoch statt der d-Glucuronsäure überwiegend l-Iduronsäure und statt N-acetyliertem überwiegend N-sulfatiertes d-Glucosamin.
Biosynthese Prinzip der Biosynthese von PG und GAG. Die komplexe, fein regulierte Biosynthese der PG verläut grundsätzlich nach dem gleichen Prinzip: Zunächst wird das „core“-Pro-
tein am rER (raues endoplasmatisches Retikulum) synthetisiert. Die GAG-Synthese erfolgt anschließend im GolgiApparat. Sie beginnt mit der O-glykosidischen (bei Keratansulfat auch N-glykosidischen) Anknüpfung eines „linkage“-Tetrasaccharids (Ausnahme: Keratansulfat, > Tabelle 20.4) an Serin- oder hreoninreste des „core“-Proteins. Dann wird die GAG-Kette durch sukzessive Verknüpfung der alternierenden Zuckerbausteine mit dem jeweils nicht reduzierenden Ende der wachsenden Kette synthetisiert und parallel modiiziert. Grundsätzlich anders verläut die Biosynthese von Hyaluronsäure, die ein proteinfreies Glykosaminoglykan darstellt und somit kein „core“-Protein enthält. Die aus einem repetitiven Disaccharid bestehende Hyaluronsäurekette wird von einem in die Zellmembran integrierten Enzymkomplex aus UDP-d-GlcNAc und UDP-d-GlcA gebildet, wobei die Kettenverlängerung am reduzierenden Ende erfolgt und die Hyaluronsäurekette quasi rückwärts aus der Zelle herausgeschoben wird. Biosynthese von Heparin und Heparansulfat. Die Bio-
synthese von Heparansulfat (HS)/Heparin beginnt mit der Synthese des relativ kleinen Serglycin-„core“-Proteins (10–19 kDa) am rauen endoplasmatischen Retikulum ( > Abb. 20.5). Dieses serin- und glycinreiche Protein wird im Golgi-Apparat über einen Serinrest (beginnend mit Xylp) mit der „linkage region“ GlcApGalp-Galp-Xylp verknüpt. Durch schrittweise Addition aktivierter Zucker entsteht das regelmäßige, unsulfatierte
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Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
. Abb. 20.5
Biosynthese des Heparin-/Heparansulfat-Proteoglykans. (Erläuterungen > Text)
Copolymer [4)-E-d-GlcpA-(1o4)-D-d-GlcpNAc-(1o]n, das am Ende der Synthese einen DP von ca. 300 erreicht. Bereits während der Kettenverlängerung beginnen die enzymatischen Modiikationen, die schließlich zum HS bzw. Heparin führen. Zunächst werden die GlcNAc-Einheiten deacetyliert und anschließend bis auf einige Ausnahmen N-sulfatiert. Während diese beiden Schritte bei über 70% der GlcN-Einheiten des entstehenden Heparins stattinden, liegt die Rate bei HS bei 40–60%. Die resultierenden N-Sulfatgruppen sind Voraussetzung für alle nachfolgenden Modiikationen an der GlcN2S-Einheit bzw. an den benachbarten Monosacchariden. Sie umfassen C-5-Epimerisierung der GlcA, 2-OSulfatierung der GlcA und IdoA, 6-O-Sulfatierung des GlcN2S und GlcNAc und 3-O-Sulfatierung des GlcN2S,6S. Die Reaktionen erfolgen in einer deinierten Reihenfolge, d. h. die jeweiligen Produkte stellen die Substrate für das nächste Enzym dar.
Beispielsweise ist die Voraussetzung für die Epimerisierung von GlcA eine am C-4 gebundene GlcN2S-Einheit. Die resultierende IdoA kann dann am C-2 sulfatiert werden, während dies bei der GlcA nur möglich ist, wenn sie zwischen zwei GlcN2S-Einheiten liegt. Die 6-O-Sulfatierung eines GlcN-Bausteines erfolgt problemlos, wenn er N-sulfatiert ist, erfordert jedoch ein GlcN2S in unmittelbarer Nachbarschat, wenn er N-acetyliert vorliegt. Der letzte Schritt der möglichen Modiikationen, der speziisch für Heparin ist, ist die Sulfatierung von GlcN2S,6S am Kohlenstofatom C-3. Bedingt durch die initiale Verteilung der GlcN2SEinheiten kommt es zu unterschiedlich stark sulfatierten Regionen entlang der Polymerkette. Außerdem werden jeweils nicht alle potentiellen Substrate umgesetzt, sodass die Reaktionskette an den meisten Stellen entlang der Kette nicht vollständig abläut. Dies erklärt die große Heterogenität innerhalb der HS- bzw. Heparinketten und auch zwischen HS aus unterschiedlichen Quellen. Die Vielfalt
20.2 Glykosaminoglykane
der HS-Strukturen wird zusätzlich dadurch gesteigert, dass sie nach dem Transport zur Zelloberläche wieder speziisch durch 6-O-Endosulfatasen partiell desulfatiert werden (Habuchi et al. 2004). Die beiden fertigen Proteoglykane sind zwar strukturell ähnlich, unterscheiden sich allerdings deutlich in ihrem Verhältnis von GlcN2S zu GlcNAc sowie von GlcA zu IdoA und in ihrem Sulfatgehalt ( > Infobox „Unterschiede zwischen Heparansulfat und Heparin“). Eine Diferenzierung ist durch ihre unterschiedliche Empindlichkeit gegenüber den verschiedenen Heparinasen möglich. Das HS-PG wird nach der Synthese zu einem Großteil in die Membran eines sekretorischen Vesikels eingebaut und an die Zelloberläche transportiert oder in die EZM sezerniert. Demgegenüber verbleibt das in Mastzellen und basophilen Granulozyten synthetisierte Heparin-PG überwiegend in der Zelle. In den Endosomen entsteht durch speziische Proteinasen und Endo-E-Glucuronidasen aus dem Heparin-PG das freie GAG Heparin mit einer mittleren Mr von 13.000. Zusammen mit biogenen Aminen wie Histamin und Proteinasen wird es in den Granula gespeichert und erst bei Degranulation der Mastzellen freigesetzt.
20.2.2
20
. Tabelle 20.3 Hyaluronsäurekonzentrationen in verschiedenen menschlichen Organen und Körperflüssigkeiten (modifiziert nach Chrispeels 1999) Organ oder Flüssigkeit Nabelschnur
Konzentration [µg/g] ~4100
Synovialflüssigkeit
1400–3600
Dermis
~200
Glaskörper des Auges
140–340
Gehirn
35–115
Thoraxlymphe
8,5–18
Kammerwasser des Auges
0,3–2,2
Urin
0,1–0,3
Plasma
0,01–0,1
Physiologische Bedeutung
! Kernaussage
Hyaluronsäure hat neben ihren wichtigen mechanischen auch zellbiologische Funktionen.
Hyaluronsäure
Vorkommen Hyaluronsäure (HA, syn. Hyaluronan) wird in den Fibroblasten fast aller Vertebraten gebildet und auch von einigen Bakterien produziert ( > Kap. 19.5). Bei Mensch und Tier stellt HA neben der Gruppe der Chondroitinsulfate die Hauptkomponente der EZM dar, wo sie häuig den Kern großer PG-Aggregate bildet. HA kommt in vielen Bindegeweben vor: gallertiges Bindegewebe der Nabelschnur, Glaskörper des Auges, Nucleus pulposus (innerer Gallertkern der Bandscheibe), interstitielles Bindegewebe, Dermis, Subkutis. Außerdem ist sie typischer Bestandteil der Synoviallüssigkeit („Gelenkschmiere“), Füllmaterial in Schleimbeuteln und Sehnenscheiden und kommt im Knorpel als Kern großer PG-Aggregate vor. Im Menschen repräsentiert die HA der Haut mit 50% den größten HA-Pool im Körper, die höchste Konzentration ist allerdings in der Nabelschnur zu inden ( > Tabelle 20.3).
Die nicht komprimierbaren, viskosen HS-Gele der EZM dienen als Wasserspeicher, halten den Turgor aufrecht und verleihen den Geweben Widerstandsfähigkeit gegen Druck. Außerdem wirken sie als Gleitmittel zwischen den Gelenkoberlächen. Die großen wassergefüllten Maschen der HS-Netzwerke gewährleisten wandernden Zellen ungehinderte Migration. Andererseits wirkt das HANetzwerk in salzarmer Bindung mit Proteinen wie ein Isolator und bietet mechanischen Schutz gegen das Eindringen von Bakterien, Toxinen und fungiert als Difusionsbarriere. HA-Moleküle, die während ihrer Biosynthese sozusagen aus der Zelle „herauswachsen“, können auch in direkter Zellnähe bleiben. Denn indem sie an zelleigene Rezeptoren wie CD44 binden, umgeben sie die Zelle als Bestandteil der Glykocalyx mit einem dicken viskosen Mantel, der die Zellen z. B. vor dem Eindringen von Bakterien und Viren schützt. Neben diesen mechanischen Funktionen organisiert und immobilisiert HS Matrixproteine und Zellen. Letzteres wird bewerkstelligt, indem HA an bestimmte Zellmembranproteine ( > oben) bindet (Kittsubstanz).
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Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
Infobox Hyaluronidasen. HA wird durch Hyaluronidasen abgebaut, die sich in drei Typen einteilen lassen: 1. Hyaluronat-4-glykanohydrolase (EC 3.2.1.35), eine Endo-N-acetyl-D-hexosaminidase, 2. Hyaluronat-3-glykanohydrolase (EC 3.2.1.36), eine Endo-E-D-glucuronidase, 3. Hyaluronatlyase (EC 4.2.99.1), eine N-acetyl-D-hexosaminidase. Die beiden Hydrolasetypen tierischen Ursprungs führen hauptsächlich zu Tetrasacchariden, die bakterielle Lyase über eine E-Elimination zu Disacchariden. Durch die Degradation der HA wird die interzelluläre Kittsubstanz aufgelöst und so das Bindegewebe gelockert. Dies ist beispielsweise bei der Gewebeumbildung und Befruchtung (Erleichterung der Penetration der Spermazelle in die Eizelle) von Nutzen. Entsprechend sind hohe Hyaluronidasekonzentrationen in tierischen und menschlichen Hoden und Sperma zu finden. Ebenso tritt ein erhöhter HA-Umsatz auch bei akuten und chronischen Entzündungen und der Tumormetastasierung auf: Aktivierte Entzündungszellen bzw. metastasierende Tumorzellen produzieren und sezernieren Hyaluronidase, die ihnen sozusagen den Weg durch das Gewebe bahnt. Außerdem wirken die entstehenden HA-Fragmente chemotaktisch auf Entzündungszellen. Hyaluronidasen agieren nicht nur extra-, sondern auch intrazellulär. Zur Klärung des Blutes von HA wird die HA beispielsweise von Endothelzellen durch Endozytose aufgenommen und in den Lysosomen abgebaut. Auch einige Organismen, die selbst keine HA bilden, produzieren Hyaluronidasen. Als Bestandteile von Bienenund Schlangengiften erhöhen sie die Invasivität und damit die Toxizität der Gifte, im Speichel von Stechmücken und Blutegeln erleichtern sie den Zugang zur Nahrungsquelle, und Bakterien verschaffen sich mit ihrer Hilfe Zugang zu den Wirtszellen. Diese Phänomene waren Vorbild für die pharmazeutische Nutzung von Hyaluronidasen: Sie werden als sog. „spreading factor’“ zur Einschleusung von Arzneistoffen in das Gewebe eingesetzt. Man isoliert sie aus Stierhoden oder gewinnt sie biotechnisch mit Hilfe von Streptomyces hyalurolyticus.
Schließlich werden der HA und ihren Fragmenten auch zellbiologische Funktionen zugeschrieben. Sie sind in die Prozesse der Embryo- und Morphogenese, der Befruchtung, der Entzündung und Wundheilung sowie der Angiogenese involviert.
Struktur und Eigenschaften Struktur. Im Gegensatz zu den anderen GAG liegt die HA nicht als PG, sondern als freies Polysaccharid vor und ist als einziges GAG nicht sulfatiert. Ihre linearen Ketten bestehen aus der „repeating unit“ [(4)-E-d-GlcpA(1o3)-E-d-GlcpNAc-(1o], die keinerlei Modiikationen aufweist ( > Abb. 20.6). Lediglich die Mr dieser Makromoleküle ist mit einem Bereich von 105–107 (DP 500–50.000) variabel. Konformation. In Abhängigkeit vom pH-Wert, der Ionen-
stärke und der Art der Gegenionen sowie dem Hydratisierungsgrad liegt die HA in mehreren helikalen Konformationen vor. Diese lang gestreckten Helices sind durch intramolekulare Wasserstobrücken stabilisiert. Hieraus resultiert eine gewisse Steiheit der Moleküle, die nur wenig intermolekulare Wechselwirkungen mit der EZM zeigen, allerdings zur Aggregation miteinander neigen.
. Abb. 20.6
Hyaluronsäure. Hyaluronsäure (HA) ist ein periodisch gebautes GAG, das aus alternierenden β-D-Glucuronsäure- und N-Acetyl-β-D-Glucosamineinheiten besteht. Im Gegensatz zu den anderen GAG ist sie aus echten, d. h. unmodifizierten „repeating units“ aufgebaut und besitzt keine Sulfatgruppen. Ferner unterscheidet sie sich von den übrigen GAG dadurch, dass sie nicht an ein „core“Protein gebunden ist und ihre Ketten mit einem DP von 500–50.000 erheblich länger sind.
20.2 Glykosaminoglykane
Eigenschaften. In Lösungen bildet HA ausgedehnte drei-
dimensionale Netzwerke. Aufgrund der guten Hydratisierbarkeit der Carboxylgruppen und Gegenionen bildet Natriumhyaluronat eine gelartige, viskoelastische Substanz, die die Difusion gelöster Stofe abhängig von deren Größe mehr oder weniger hemmt.
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Gelenke gestatten sowie die Schmerzen lindern. Neuere präklinische und klinische Untersuchungen untermauern auch die hese, dass HA die Struktur des geschädigten Gelenks günstig beeinlusst und die Progression der Erkrankung verlangsamt (Goldberg u. Buckwalter 2005). Ophtalmologie. In der Ophthalmologie sind Lösungen
Gewinnung Für kommerzielle Zwecke wird HA aus Hahnenkämmen und in geringem Maße aus Nabelschnurgewebe isoliert. Von zunehmender Bedeutung ist die Gewinnung hochreiner und genau speziizierter HA durch bakterielle Fermentation (v. a. Streptococcus zooepidemicus). Damit lässt sich einerseits langfristig die steigende Nachfrage (Kosmetikindustrie) decken, andererseits entspricht die Verwendung von biotechnisch hergestellter HA in Pharmazie und Medizin der Forderung der EMEA („European Medicines Evaluation Agency“), tierische Produkte nach Möglichkeit durch Alternativen nichttierischen Ursprungs zu ersetzen, um jegliche potentielle Kontamination mit Pathogenen (vgl. BSE) zu vermeiden (Alban 2005b).
hochreiner, hochmolekularer Fraktionen des Na-Salzes ein unverzichtbares chirurgisches Hilfsmittel. Als mechanischer Schutz empindlicher Zellschichten und zur Volumensubstitution werden sie bei Eingrifen am vorderen Augenabschnitt wie Kataraktoperationen, Transplantation der Cornea und bei Glaukomoperationen eingesetzt sowie bei der Keratektomie, d. h. der Excimer-Laserablation der oberlächlichen Hornhautanteile zur Beseitigung von Hornhauttrübungen oder Änderung der Brechkrat. Wundheilung. Ferner werden HA-Zubereitungen zur
Verbesserung der Wundheilung auf inizierten Wunden, Verbrennungen und Geschwüren appliziert. HA fördert die Einwanderung von Fibroblasten und die Einlagerung von Kollagen in den Wundbereich und unterdrückt die Narbenbildung. Gelimplatate aus quervernetzter Hyaluronsäure werden auch zur Korrektur von Hautdeformationen verwendet.
Verwendung, Wirkung und Anwendung
! Kernaussage
Die stark wasserbindende, viskoelastische Hyaluronsäure wird bei Gelenkbeschwerden, in der Augenchirurgie und in der Kosmetik verwendet.
Kosmetik. Große Bedeutung hat HA mittlerweile als
„moisturizing factor“ in der Kosmetik erlangt. Die proklamierte Falten glättende Wirkung beruht allerdings lediglich auf einem physikalischen Quellefekt durch kurzfristige Wassereinlagerung in die oberen Hautschichten. „Drug delivery“. Wegen seiner guten Verträglichkeit werden
Wegen ihrer hohen Wasserbindungskapazität und der außerordentlichen Viskoelastizität ihrer Zubereitungen wird HA sowohl in der Pharmazie (21 Präparate in der aktuellen Roten Liste) und Medizin als auch in der Kosmetik verwendet. Da es sich um eine körpereigene Substanz handelt, zeichnet sich HA gegenüber anderen Polysacchariden (z. B. immunogen wirkendes Chitosan) durch eine ausgezeichnete Biokompatibilität aus.
derzeit unter Verwendung von HA neue „drug delivery“Systeme für vielfältige Applikationswege (nasal, pulmonal, parenteral, topisch, ophthalmisch) entwickelt. Kürzlich wurde ein 2,5%iges HA-Gel mit 3% Diclofenac für die topische Behandlung der aktinischen Keratose (Lichtkeratose) zugelassen, was eine attraktive und kostenefektive Alternative zur üblichen Dermabrasion darstellt (Braun u. Jones 2005).
Bei Gelenkbeschwerden. Bei arthrotischen und arthri-
20.2.3
tischen Beschwerden insbesondere im Knie- und Schulterbereich werden Lösungen von Natriumhyaluronat intraartikulär injiziert. Diese exogene Ergänzung der Synoviallüssigkeit soll die Gleitfähigkeit der Gelenklächen erhöhen und so größere Mobilität und Flexibilität der
Keratansulfat
Vorkommen Ursprünglich bezeichnete man nur die GAG-Ketten der typischen PG der Cornea (Mimecan, Keratocan und Lu-
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Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
. Tabelle 20.4 Beispiele von Keratansulfat-Proteoglykanen (mod. nach Chrispeels 1999) Proteoglykan
Typa
„core”-Protein [kDa]
Vorkommen
Mimecan
KS I
25
Weit verbreitet, aber sulfatiert nur in der Cornea
Keratocan
KS I
37
Weit verbreitet, aber sulfatiert nur in der Cornea
Lumican
KS I
37
Weit verbreitet
Fibromodulin
KS I
59
Weit verbreitet
SV2
KS I
80
Synaptische Vesikel
Claustrin
KS II
105
ZNS, Membran-PG
Aggrecan
KS II
200
Knorpel
a
Bei Keratansulfat-PG vom Typ KS I (Cornea-KS) ist die GAG-Kette, ein Polylactosamin, über eine Glykanstruktur N-glykosidisch an einen Asparaginrest des „core”-Proteins gebunden, die auch in vielen N-glykosylierten Glykoproteinen auftritt. Beim Typ KS II (Knorpel-KS) ist das Polylactosamin mittels einer GalNAc-Einheit O-glykosidisch an Serin- oder Threoninreste des „core”-Proteins gebunden und ähnelt somit in seiner „linkage region“ den Mucinen.
mican) als Keratansulfat (KS). Heute werden auch Oligound Polysaccharide ähnlicher Struktur in den PG von Knorpel, Bandscheiben, Gehirn und Knochen unter dem Begrif subsumiert ( > Tabelle 20.4). Darüber hinaus enthalten auch manche Glykoproteine und Mucine kurze KS-Ketten.
für Stabilität und Elastizität. Im Alter sinkt die GAG-Konzentration und damit das Wasserbindungsvermögen. Der resultierende Elastizitäts- und folglich Funktionsverlust der Zwischenwirbelscheiben äußert sich in entsprechenden degenerativen Rückenbeschwerden. Ein Bandscheibenvorfall liegt vor, wenn sich die Bandscheibe verlagert bzw. der Nucleus pulposus durch Risse im Anulus ibrosus austritt und auf die Nerven drückt.
Physiologische Bedeutung
! Kernaussage
KS-PG gelten als Pathogenesefaktor bei Hornhautdystrophie und Bandscheibenvorfall sowie als diagnostischer Hinweis auf Polyarthritis.
Hornhaut. In der Hornhaut des Auges sorgen die KS-PG
für einen gleichmäßigen Abstand der Kollagen-Typ-I-Fibrillen und damit für optimale Lichtdurchlässigkeit. Defekte in der Sulfatierung oder der Bildung der KS-Ketten führen zur Störung dieser Struktur und Ablagerung von KS, was sich in einer Beeinträchtigung des Sehvermögens äußert (z. B. stromale Hornhautdystrophie). Bandscheiben. In der Bandscheibe indet man KS sowohl
im Anulus ibrosus, dem Faserknorpelring, als auch dem von ihm umgebenen Nucleus pulposus, dem inneren, strukturlosen Gallertkern. Die hohe GAG-Konzentration im Nucleus pulposus ist für den „Wasserkissenefekt“ der Bandscheibe verantwortlich, im Anulus ibrosus sorgt sie
Knorpel. Im wichtigsten PG des Knorpels, dem Aggrecan, liegt KS zusammen mit CS vor, wobei sein Anteil in Abhängigkeit vom Alter und der Lokalisierung des Knorpels zwischen 10 und 60% schwankt. Die relativ kurzen KS-Ketten verleihen dem Knorpel besondere Druckfestigkeit und schützen das Core-Protein vor enzymatischem Abbau. Bei Patienten mit Polyarthritis wurden im Serum abnorm hohe KS-Spiegel festgestellt, die als diagnostischer Hinweis auf einen pathologischen Knorpelabbau gewertet werden können.
Struktur KS ist ein uronsäurefreies GAG, das angesichts seiner unsulfatierten [3)-E-d-Galp-(1o4)-E-d-GlcpNAc-(1o]Grundeinheiten auch als Polylactosamin bezeichnet wird ( > Abb. 20.7). Die optionalen Sulfatgruppen sind primär am C-6 der GlcNAc-, aber auch der Galactoseeinheiten lokalisiert. Mit einer mittleren Mr zwischen 5000 und 10.000 und einem DP Tabelle 20.4). Im Gegensatz zu den übrigen PG ist das erste Monosaccharid der „linkage region“ keine Xylose.
20.2.4 Keratansulfat. Keratansulfat (KS) wird auch Polylactosamin genannt, da es als Derivat β-(1,3)-verknüpfter Lactoseeinheiten angesehen werden kann. Es besteht aus alternierenden β-D-Galactose- und N-Acetyl-β-D-Glucosamineinheiten und ist somit im Gegensatz zu den anderen GAG frei von Uronsäuren. Die GlcNAc-Einheit trägt häufig in Position 6 eine Sulfatgruppe ( > Formel), gelegentlich ist auch die Gal-Einheit sulfatiert. Verglichen mit den anderen sulfatierten GAG besitzt KS den niedrigsten Sulfatierungs(DS ca. 0,3) und Polymerisationsgrad (DP Infobox „Moderne Chondroitinsulfat-Klassiizierung“). CS-A wurde als erstes CS in reiner Form aus Knorpel isoliert und ist am besten untersucht. CS-haltige PG – häuig in Form großer Aggregate mit HS – sind dominierende Bestandteile der EZM von Knorpel (Name!) und Knochen, kommen aber auch weit verbreitet in „weichen“ Bindegeweben vor (z. B. Haut, Sehnen, Arterienwände) ( > Tabelle 20.5). Dies erklärt, wes-
. Tabelle 20.5 Beispiele von Chondroitinsulfat-Proteoglykanena, b (mod. nach Chrispeels 1999) Proteoglykan Aggrecan
„core”-Protein [kDa]
Zahl der GAG
Vorkommen
208–220
~100
Versican
265
12–15
Neurocan
145
1–2
Sezerniert, Gehirn
Brevican
96
0–4
Sezerniert, Gehirn
Decorin
36
1
Sezerniert, Bindegewebszellen
Biglykan
38
1–2
Sezerniert, Bindegewebszellen
Bamacan
138
1–3
Basalmembranen
68
1
D2(IX) Kollagen
Sezerniert, Knorpel Sezerniert, Fibroblasten
Knorpel, Glaskörper
Thrombomodulin
58
1
CD44
37
1–4
Lymphozyten (Membran)
NG2
251
2–3
Nervenzellen (Membran)
Invariant chain Serglycin a
b
31
1
10–19
10–15
Endothelzellen (Membran)
AG-präsentierende Zellen (Membran) Myeloide Zellen (Granula)
Die Substitution mit Chondroitinsulfat-Ketten kann prinzipiell an fast allen „core”-Proteinen stattfinden, hängt aber de facto vom Zelltyp ab. Chondroitinsulfate lassen sich in die Typen A, B, C und D, E differenzieren, wobei am häufigsten Chondroitinsulfat A, B und C vorkommen. Chondroitinsulfat B und das seltenere Chondrotinsulfat D werden meist Dermatansulfat genannt.
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Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
halb CS häuig als Verunreinigung bei der Isolation anderer GAG autreten. Zusätzlich gibt es zahlreiche CS-PG, die in Zellmembranen integriert und so am Aubau der Glykocalyx beteiligt sind.
Physiologische Bedeutung
! Kernaussage
Als Bestandteil der Glykocalyx entfalten die CS auch zellbiologische Funktionen.
Thrombomodulin. Ein prominentes Beispiel ist das
hrombomodulin, das entweder eine CS- oder DS-Kette enthält. Dieses PG kommt auf der Oberläche von Endothelzellen und glatten Muskelzellen der Gefäße vor und trägt zum athrombogenen Charakter der Gefäßwände bei. Denn durch die Bindung an hrombomodulin verliert hrombin einerseits seine prokoagulatorische Wirkung, wird jedoch andererseits in die Lage versetzt, Protein C zu APC (Protein Ca) zu aktivieren. APC ist ein bedeutendes endogenes Antikoagulans, das u. a. die Kofaktoren Faktor Va und Faktor VIIIa hemmt und so die Generierung von Faktor Xa und hrombin unterbindet.
verknüptes N-Acetyl-d-Galactosamin statt des Glucosederivats. CS-A und CS-C sind aus [4)-E-d-GlcpA-(1o3)E-d-GalpNAc4S-(1o]- bzw. [4)-E-d-GlcpA-(1o3)-E-dGalpNAc6S-(1o]-Grundeinheiten aufgebaut und unterscheiden sich somit in der Position ihrer Sulfatgruppe ( > Abb. 20.8). Daneben indet man auch unsulfatierte sowie 4,6-disulfatierte Galactosamin- und 2-sulfatierte Glucuronsäureeinheiten. Der Sulfatierungsgrad pro Disaccharid dieser polydispersen GAG-Gruppe liegt durchschnittlich bei etwa 0,8 (d. h. DS ca. 0,4). Mit etwa 17.000– 50.000 (im Mittel 20.000, DP ~80) ist die Mr von CS höher als die von KS (5000–10.000), aber wesentlich niedriger als die von HA (105–107). CS-Moleküle bilden zwar Helices, liegen aber in Lösungen als lineare, lexible Ketten vor und sind in dieser Form auch in den PG-Komplexen enthalten. Die Gegenwart von Sulfatgruppen und Uronsäuren bedingen die ausgeprägte Hydrophilie dieser GAG.
Verwendung, Wirkung und Anwendung
! Kernaussage
Chondroitinsulfathaltige Zubereitungen sind beliebt zur lokalen Behandlung stumpfer Traumen und als Nahrungsergänzung bei Beschwerden des Bewegungsapparates.
Struktur Topische Behandlung. Großer Beliebtheit erfreuten sich
Ein Strukturmerkmal, das die CS von den übrigen GAG unterscheidet, ist ihr Aminozucker, nämlich E-(1o3)-
bislang CS-haltige Gele, Cremes und Salben zur lokalen Behandlung von vielerlei Beschwerden. Die Nachzulas-
. Abb. 20.8
Chondroitinsulfate. Gezeigt sind zwei typische Disaccharideinheiten des 4-sulfatierten Chondroitinsulfates A (CS-A) und des 6-sulfatierten Chondroitinsulfates C (CS-C). Die CS bestehen aus alternierenden β-D-Glucuronsäure- und N-Acetylβ-D-Galactosamineinheiten. Kennzeichnend für die hetereogene Familie der Chondroitinsulfate ist der Baustein GalNAc statt GlcNAc. CS-A und CS-C unterscheiden sich in ihrem Sulfatierungsmuster. Bei beiden liegt die GlcA meist unsulfatiert, während beim höher sulfatierten CS-B = Dermatansulfat auch die Uronsäuren sulfatiert sein können ( > auch Infobox)
20.2 Glykosaminoglykane
sung für die Indikationen stumpfe Traumen (z. B. Zerrungen, Verstauchungen, Prellungen) mit und ohne Hämatom sowie oberlächliche Venenentzündungen haben allerdings nur vier Präparate erhalten. Der als Mucopolysaccharidpolyschwefelsäureester bezeichnete Wirkstof aus Rindertracheen wird isoliert und partialsynthetisch nachsulfatiert. Die hauptsächlich aus Ch5 bestehende GAG-Mischung besitzt antiinlammatorische und antikoagulatorische Aktivitäten, die anscheinend zur Wirksamkeit der Präparate beitragen. Nahrungsergänzungsmittel. Unter Umgehung der ho-
hen Zulassungsanforderungen haben sich mittlerweile CS-Präparate zur Nahrungsergänzung, u. a. in Form wohlschmeckender Karamellbonbons, in anderen Ländern einen großen Markt erobert. Es wird postuliert, dass sie als natürliche Knochen- und Knorpelsubstanzen arthritische und arthrotische Beschwerden lindern. Der suggerierte „Einbau“ der Makromoleküle in degenerierten Knorpel und Knochen kann nur als „Werbegag“ interpretiert werden, ebenso sind angesichts der geringen oralen Bioverfügbarkeit auch Zweifel an der antiinlammatorischen Wirksamkeit in vivo angebracht.
20
inlipase und hepatischer Lipase induzieren. Eine gesteigerte Lipaseaktivität wird als Beitrag zur Atheroskleroseprophylaxe diskutiert. Infobox Moderne Chondroitinsulfat-Klassifizierung (Chrispeels 1999). Die herkömmliche Differenzierung zwischen Dermatansulfat (DS) und den beiden Chondroitinsulfaten CS-A und CS-C lässt nicht erkennen, dass die Gruppe der Chondroitinsulfate biosynthetisch eine Einheit darstellen und die Dermatansulfate lediglich das Resultat einer weitergehenden Modifikation sind. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Übergänge zwischen den verschiedenen Typen A–E fließend sind, da sie im Allgemeinen nicht nur aus den in der >Tabelle angegebenen Disaccharideinheiten bestehen. CS-Typ A B C D E
Disaccharideinheit GlcA-GalNAc4S IdoA2S-GalNAc4S GlcA-GalNAc6S GlcA2S-GalNAc6S GlcA-GalNAc4,6diS
Vorkommen Knorpel Dermatansulfat, Haut Knorpel Dermatansulfat Sekretorische Granula
Ophthalmologie. In Deutschland ist eine Kombina-
tion aus CS und HA, ähnlich wie etliche reine HAPräparate, als chirurgisches Hilfsmittel für Eingrife am vorderen Augenabschnitt einschließlich Kataraktextraktion und Intraokularlinsen-Implantation zugelassen. „Semisynthetic heparin analogue”. Obwohl CS in
Form des hrombomodulins in vivo in die Hämostase involviert ist, entfaltet isoliertes CS-A lediglich marginale antikoagulatorische und antithrombotische Aktivität. Um diese Wirkung zu steigern, hat man partialsynthetisch zusätzliche Sulfatgruppen in CS eingeführt. Das resultierende „semisynthetic heparin analogue“ (SSHA) mit einer mittleren Mr von 7000 hat sich zwar in klinischen Studien zur hromboseprophylaxe als ebenbürtige Alternative zum „low dose“-Heparin mit geringerem Blutungsrisiko erwiesen, seine Weiterentwicklung zwecks Zulassung wurde allerdings ofensichtlich eingestellt. Wird ChS nicht O-, sondern N-sulfatiert, erhält man Derivate, die zwar keine verbesserte antithrombotische Wirksamkeit zeigen, aber die Freisetzung von Lipoprote-
20.2.5
Dermatansulfat
Vorkommen Dermatansulfat (DS) wird gewöhnlich mit Chondroitinsulfat B (CS-B) gleichgesetzt, obwohl DS auch CS vom Typ D umfasst ( > Infobox). DS-haltige PG variabler Größe und Struktur kommen in der EZM von Bindegewebe, insbesondere der Haut (Name!), aber auch Sehnen, Arterienwände und Knorpel vor ( > Tabelle 20.5). Charakteristische Beispiele für kleine PG sind Decorin (Mr des „core“-Proteins: 36.000) und Biglykan (Mr des „core“-Proteins: 38.000) mit nur einer bzw. 1–2 DS-Ketten. Versican hingegen ist ein großes PG (Mr des „core“-Proteins: 265.000) mit 12–15 GAG-Ketten, das neben CS viel DS enthält; Versican bildet mit HA große Aggregate und ist beispielsweise reichlich in Blutgefäßwänden vorhanden. Außerdem indet man DS-PG in der EZM anderer normaler und neoplastischer Gewebe sowie in Zellmembranen (z. B. Biglykan) und Basalmembranen.
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Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
Physiologische Bedeutung
! Kernaussage
DS-PG wie Decorin sorgen u. a. für die Gewebeelastizität und fungieren als endogenes Antithrombotikum
DS-PG verfügen über einige interessante Eigenschaten und besitzen neben mechanischen auch über biologische Funktionen. So ist das DS des Decorin an der Organisation der Kollagenibrillen beteiligt, an die es nicht kovalent bindet. Die speziische Mischung von Decorin und Kollagen bestimmt die Elastizität und Durchlässigkeit des jeweiligen Gewebes. Durch die Bindung an Fibronectin hemmen einige DS-PG ebenso wie einige CS-PG die Adhäsion von Fibroblasten an dieses Adhäsionsprotein. Über einen Efekt auf die „gap junctions“ der Zellen stimulieren sie die Kommunikation zwischen Zellen. Außerdem fungiert DS neben HS ofensichtlich als physiologisches Antithrombotikum. Die Wirkung des DS- oder CS-haltigen hrombomodulins der Gefäßwand . Abb. 20.9
wurde bereits beschrieben ( > Kap. 20.2.4). Darüber hinaus zeigten Decorin und Biglykan, selbst in der Bindung an Kollagen-Typ-V-Fibrillen, wie freies DS thrombinhemmende Wirkung ( > Infobox). Hieraus leitet man ab, dass DS-FG die Aufgabe haben könnte, nicht nur vaskulären (über hrombomodulin), sondern auch extravaskulären Oberlächen thromboresistenten Charakter zu verleihen. Neueren Erkenntnissen zufolge beeinlussen auch die CS/DS-PG ähnlich wie die HS-PG sowohl direkt als auch indirekt die Proliferation, Migration und den Phänotyp von Zellen, indem sie die Bildung der EZM und die Antwort der Zellen auf Wachstumsfaktoren und Zytokine beeinlussen (Kinsella et al. 2004).
Struktur und Eigenschaften Einerseits ist DS zu den CS zu zählen, da es wie diese als Aminozucker Galactosamin- statt eines Glucosaminderivates enthält, andererseits besitzt es gegenüber den CS einige strukturelle Besonderheiten. Obwohl DS wie CS in seiner molekularen Struktur recht heterogen ist ( > Infobox „Moderne Chondroitinsulfat-Klassiizierung“), ist die Charakterisierung als Copolymer (Mr 15.000–40.000) aus [4)-D-l-IdopA2S(1o3)-E-d-GalpNAc4S-(1o]-Grundeinheiten gut geeignet, die Unterschiede gegenüber den CS zu veranschaulichen ( > Abb. 20.9). Zum einen besitzt DS im Vergleich zu CS einen höheren Sulfatierungsgrad (DS bis ca. 0,7), zum anderen ist ein Teil der E-d-Glucuronsäure durch C-5-Epimerisierung in D-l-Iduronsäure umgewandelt.
! Kernaussage
Die Iduronsäure verleiht dem Dermatansulfatmolekül eine ausgesprochene Flexibilität.
Die charakteristische Disaccharideinheit von Dermatansulfat (Chondroitinsulfat B, DS) besteht aus einer C-2-sulfatierten α-L-Iduronsäure und einer C-4-sulfatierten N-Acetylβ-D-Galactosamin. Anstelle von IdoA2S kann unsulfatierte IdoA oder GlcA vorliegen und statt GalNAc4S auch GalNAc6S oder GalNAc4S,6S. Von CS-A und CS-C unterscheidet sich DS (Typ CS-B, nicht Typ CS-E) durch den Ersatz der GlcA durch deren C-5-Epimer, die IdoA, die eine besondere Flexibilität hinsichtlich ihrer Konformation aufweist. Außerdem besitzt DS im Allgemeinen einen höheren Sulfatierungsgrad als CS
Besonders den Gehalt an IdoA macht man für die speziischen biologischen Eigenschaten von DS verantwortlich. Denn die IdoA kann im Gegensatz zur GlcA leicht ihre räumliche Konformation ändern, da die Energieunterschiede zwischen den verschiedenen Formen sehr gering sind. In Lösung liegen somit sowohl die beiden Sessel- als auch die verdrehte Wannenform in einem thermodynamischen Gleichgewicht vor, wobei der jeweilige Anteil von der Umgebung der IdoA und der Substi-
20.2 Glycosaminoglykane
tution mit Sulfatgruppen abhängt. Hieraus resultiert eine besondere Flexibilität, die Interaktionen zwischen den DS-Molekülen und Proteinen wie Kollagen oder HCII ( > Infobox) erleichtert. Dementsprechend zeigen DS von verschiedenen Spezies, die sich in ihrem IdoA-Gehalt unterscheiden, auch Unterschiede in ihrer antikoagulatorischen Aktivität. Infobox Dermatansulfat als Antikoagulans und Antithrombotikum (Alban 1997). Indirekte Thrombinhemmung: Die antikoagulatorische Wirkung von DS beruht auf seiner Aktivität als indirekter Thrombininhibitor: Es bindet an den endogenen Serinproteasehemmstoff „heparin cofactor II” (HCII) und beschleunigt dessen Hemmwirkung gegenüber Thrombin um den Faktor ~ 5000. Für die Bindung an HCII ist eine Sequenz mit einem DP von mindestens 14–16 erforderlich, die das Disaccharid IdoA-GalNAc4S und IdoA2S-Einheiten enthält. Im Gegensatz zu Heparin besitzt DS weder signifikante AT-vemittelte anti-Thrombin- (aIIa) noch anti-Faktor Xa (aXa)-Aktivität. Aufgrund seines IdoA-Gehaltes und höheren Sulfatierungsgrades ist die antikoagulatorische Aktivität von DS zwar höher als die von ChS, aber deutlich schwächer als die von Heparin. Antithrombotische Wirkung: Auch in vivo ist natives, aus Schweindarmmukosa isoliertes DS nach intravenöser Applikation zwar schwächer antithrombotisch wirksam als Heparin, induziert aber weniger Blutungen. Für die subkutane Applikation wurden niedermolekulare DS wie das Desmin 370 entwickelt, die im Gegensatz zu genuinem, hochmolekularem DS nahezu vollständig resorbiert werden. Auffällig ist die im Vergleich zu niedermolekularem Heparin sehr viel länger anhaltende antithrombotische Wirkung. Sie lässt sich nicht allein mit der HCII-vermittelten Thrombinhemmung erklären, sondern weitere In-vivo-Mechanismen scheinen hier zum Tragen zu kommen (z. B. im Vergleich zu Heparin bessere Hemmung der Fibrinanlagerung an bereits bestehende Thromben). Obwohl die Wirksamkeit und Sicherheit von Desmin 370 in klinischen Studien belegt wurde, ist es bislang nicht für die Thromboembolieprophylaxe zugelassen.
20
Wirkung und Anwendung Bislang spielt DS in der praktischen Anwendung keine Rolle. DS ist allerdings Bestandteil einiger GAG-Mischungen, die zur hromboseprophylaxe und bei einigen anderen Indikationen eingesetzt werden. Ein Beispiel ist Danaparoid-Natrium, ein GAG-Gemisch mit einem DSAnteil von etwa 10%, das in Deutschland zur hromboembolieprophylaxe bei Patienten mit Heparin-inudzierter hrombozytopenie Typ II (HIT) zugelassen ist ( > Infobox „Danaparoid-Natrium“ in Kap. 20.2.6). Infobox Dermatansulfat in Heparin – als Verunreinigung und spezifizierte Mischung. Allgemeines Problem: Die Isolierung reiner GAGFraktionen reproduzierbarer Qualität ist ohne großen Aufwand kaum zu bewerkstelligen. Dies manifestiert sich in beträchtlichen Chargenschwankungen kommerziell erhältlicher GAG (Alban 2005b). Gründe hierfür sind die besondere Art der GAG-Biosynthese (ohne definierten Endpunkt, unbekannte Faktoren der Regulation), ferner die Tatsache, dass die verschiedenen GAG-Typen selbst keine klar definierten Moleküle darstellen und stets vergesellschaftet in einem Gewebe auftreten. DS als Verunreinigung: Dies erklärt, dass Heparinpräparationen bis zu 10% DS enthalten können und umgekehrt in DS neben anderen CS auch Heparin zu finden ist (Alban 1997). Unter therapeutischen Gesichtspunkten ist die „Verunreinigung“ von Heparin mit DS jedoch kein Nachteil, da die beiden GAG wegen ihrer unterschiedlichen Wirkmechanismen synergistisch wirken und zu einer signifikanten Steigerung der antithrombotischen Wirksamkeit führen. Allerdings wird diese Verunreinigung im Allgemeinen weder analytisch noch über eine differenzierte Aktivitätsbestimmung quantifiziert, sodass verschiedene Heparinpräparationen trotz gleicher Aktivität in einem globalen Gerinnungstest in ihrem Aktivitätsprofil deutlich divergieren können. DS-Heparin-Kombination: Eine Mischung aus 80% Heparin und 20% Dermatansulfat wird seit mehr als 30 Jahren unter dem Namen Sulodexide klinisch angewandt und nutzt bewusst die synergistische Wirkung von Heparin und DS (Alban 1997). Neben der parenteralen Anwendung zur Thromboseprophylaxe werden magensaftresistent überzogenen Tabletten bei diversen Indikationen wie Claudicatio intermittens und zur Atheroskleroseprophylaxe eingesetzt (nicht in Deutschland zugelassen).
679
680
20 20.2.6
Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
Heparansulfat
stehen. Diese beruhen in erster Linie auf speziischen Interaktionen zwischen den GAG-Ketten der HS-PG und Proteinen.
Vorkommen Im Gegensatz zu Heparin ( > Kap. 20.2.7) wird Heparansulfat (HS) von nahezu allen Zelltypen synthetisiert. HSPG kommt auf Zelloberlächen, in Basalmembranen und in der EZM vor, aber auch intrazellulär als freies GAG. Im Vergleich zu HA, CS, DS ist seine Bedeutung als Komponente der Glykocalyx und sein Vorkommen in allen Geweben des Körpers hervorzuheben. > Tabelle 20.6 zeigt eine Auswahl von HS-PG und typische Beispiele ihrer Lokalisation.
Physiologische Bedeutung
! Kernaussage
HS-PG unterliegen einem sehr schnellen „turnover“.
HS-PG sind metabolisch dynamische Zellbestandteile, d. h. sie werden schnell synthetisiert ( > oben) und nach außen sezerniert bzw. in die Membran integriert, wo die GAG-Ketten dann zum Teil speziisch desulfatiert und auch zum Teil durch Proteolyse des „core“-Proteins freigesetzt werden (Farach-Carson et al. 2005; Habuchi et al. 2004). Ebenso schnell werden die membranständigen HS-PG auch wieder in die Zelle aufgenommen, durch Heparanasen partiell degradiert und dann schrittweise in den Lysosomen durch Exoglykosidasen und Sulfatasen komplett abgebaut (HWZ = 4 h). Der enorme Aufwand des schnellen Turnover deutet darauf hin, dass bei den HS-PG die zellbiologischen gegenüber den mechanischen Funktionen im Vordergrund
! Kernaussage
Die Funktionen der Syndecane repräsentieren ein Beispiel für die physiologische Bedeutung von HS-PG.
Syndecane sind Transmembranproteine mit 1–2 HS- und 1–3CS/DS-Ketten. Die Expression der Palette der Syndecane erfolgt gewebespeziisch, sie ist ebenso wie die Verweilzeit in der Membran fein reguliert und kontrolliert. Der zytoplasmatische Schwanz der „core“-Proteine (31– 34 kDa) steht mit dem Aktinzytosklelett in Verbindung, während die GAG-Ketten als Bestandteil der Glykocalyx u. a. folgende Aufgaben übernehmen (Islam u. Linhardt 2003): x Organisation der EZM durch Interaktionen mit Kollagenibrillen, Fibronectin, hrombospondin, Tenascin usw. x Organisation von Epithelien durch Vermittlung von Zell-Zell-Interaktionen, x Ausstattung der Oberläche der Gefäßendothelien mit einem athrombogenen Charakter durch Bindung von AT, Protein C, TFPI und Nexinproteasen, x Co-Rezeptor für den Wachstumsfaktor „ibroblast growth factor“ (FGF) (Habuchi et al. 2004), x Regulation der Entwicklung in der frühen Embryogenese, der Morphogenese der Gewebe sowie der Tumorgenese (Lin 2004; Sanderson et al. 2004), x Beeinlussung des Fettstofwechsels und der Atherogenese durch Interaktion mit Lipasen und die Bindung von Lipoproteinen (Ballinger et al. 2004).
. Tabelle 20.6 Beispiele von Heparansulfat-Proteoglykanen (mod. nach Chrispeels 1999) Proteoglykan
„core”-Protein [kDa]
Zahl der GAG
Vorkommen
Perlecan
400
1–3 HS
Basalmembranen
Agrin
212
2–3 HS
Basalmembranen
Syndecans 1–4
31–45
1–3 CS/DS, 1–2 HS
Epithelzellen, Fibroblasten, Schwann-Zellen
Betaglykan
110
1 HS, 1 CS
Fibroblasten
Glypicans 1–5
~60
1–3 HS
Epithelzellen, Fibroblasten
Serglycin
10–19
10–15 Heparin; CS; HS/CS
Mastzellen; Endothelzellen und Blutzellen
20.2 Glykosaminoglykane
In ähnlicher Weise wie die HS-PG der Zellmembranen sind auch die HS-PG der Basalmembran und EZM wie Perlecan und Agrin an der Steuerung zahlreicher Vorgänge beteiligt (Farach-Carson et al. 2005, Lin 2004). Darüber hinaus bestimmen sie die selektive Permeabilität der Basalmembranen für gelöste Substanzen.
Struktur HS wird als die biosynthetische Vorstufe von Heparin betrachtet ( > Kap. 20.2.1), wobei dies nicht ganz korrekt ist, da sich die beiden Proteoglykane im Ort ihrer Synthese und in ihren „core“-Proteinen unterscheiden. Charakteristische Disaccharideinheiten von HS sind [4)-E-dGlcpA-(1o4)-D-d-GlcpNAc-(1o] und [4)-E-d-GlcpA(1o4)-D-d-GlcpNS-(1o] ( > Abb. 20.10). Letztere kann weiter modiiziert werden (C-5-Epimerisierung, 2- und 6-O-Sulfatierung), sodass heparinähnliche Sequenzen entstehen. Es liegt meist eine blockartige Struktur mit Sulfat-, GlcNS- und IdoA-reichen Domänen im Wechsel mit sulfatarmen GlcNAc- und GlcA-reichen Regionen vor. Der DS schwankt zwischen 0,4 und 0,9; etwa 40– 60% der Glucosamineinheiten sind N-sulfatiert und 30– 50% der Uronsäureeinheiten liegen als l-Iduronsäure vor. Als Bandbreite für die Mr wird 10.000–70.000 angegeben.
20
Heparansulfat bildet Helices, wobei sich die des NaSalzes deutlich von denen des Ca-Salzes, die denen von Ca-Heparin ähnlich sind, unterscheiden. Infobox Heparansulfat als Antikoagulans und Antithrombotikum (Alban 1997). Wie DS ist auch HS in vitro meist schwächer antikoagulatorisch wirksam als Heparin. Die schwankende In-vitro-Aktivität korreliert mit dem Gehalt an ATbindendem Sequenzen und deutet somit auf einen AT-abhängigen Mechanismus wie beim Heparin hin. Zusätzlich ist HS in der Lage, Thrombin HCII-vermittelt und direkt zu hemmen. Im Gegensatz zu seiner moderaten In-vitro-Aktivität erwies sich HS in vivo als potentes Antithrombotikum, wie klinische Studien bei tiefer Beinvenenthrombose (DVT), chronischer venöser Insuffizienz und Claudicatio intermittens belegen. Man nimmt an, dass HS in vivo AT- und HCIIunabhängig wirkt. Mechanismen wie die Stimulation der endogene Synthese bestimmter GAG und die Verdrängung von Oberflächen-gebundenen GAG werden diskutiert. Man benötigt zwar höhere Dosen als beim Heparin, aber da das Blutungsrisiko 10-mal niedriger ist, dürfte HS Heparin unter dem Sicherheitsaspekt überlegen sein. Eine jedoch kaum realisierbare Thromboseprophylaxe mit HS entspräche dem Konzept, die natürliche Biokompatibilität zwischen Blut und Gefäßwand zu verbessern.
. Abb. 20.10
40 – 60%
Infobox „Heparininduzierte Thrombozytopenie Typ II (HIT)“ in Kap. 20.2.7) zugelassen. In vitro zeigt Danaparoid-Natrium eine Kreuzreaktivität von Tabelle 20.6) entsteht infolge der Einwirkung speziischer Proteinasen und Endo-E-glucuronidasen Heparin, das bis zu seiner Freisetzung in Granula gespeichert wird. Die physiologische Bedeutung dieses Mastzellheparins ist unklar. Es gibt keinerlei Hinweise, dass es zur Aufrechterhaltung des Blutlusses beiträgt, obwohl seine antikoagulatorische Aktivität der Grund für seine medizinische Anwendung ist. Möglicherweise übernimmt es Schutzfunktionen, indem es Proteasen und biogene Amine wie Histamin in den Granula bindet, bis sie gebraucht werden.
Vorkommen und physiologische Bedeutung
Struktur und Eigenschaften
Bedeutende Konzentrationen an Heparin weisen v. a. Darmmukosa, Lunge, Leber, hymus, Milz und Herz auf, aber auch Lymphe, das Gefäßendothel und Plasma enthalten Heparin.
Heparin ist ein polydisperses Gemisch heterogener GAGMoleküle mit einer Mr zwischen 5000 und 30.000 (DP ~15–90), wobei die mittlere Mr bei etwa 13.000 liegt. Mit einem DS von 0,9–1,25 ist es das GAG mit der größten
20.2 Glykosaminoglykane
20
Infobox Unterschiede zwischen Heparansulfat und Heparin. Obwohl Heparin und Heparansulfat biosynthetisch im Zusammenhang stehen, sind diese beiden GAG klar voneinander abzugrenzen (Iozzo u. Murdoch 1996): Sie unterscheiden sich im Ort ihrer Biosynthese (ubiquitär vs. Mastzellen) und ihren „core”-Proteinen ( > Tabelle 20.6). Die sekundären Modifikationen (Deacetylierung, Epimerisierung, Sulfatierung) im Rahmen der Biosynthese finden bei Heparin in größerem Ausmaß als bei Heparansulfat statt. Dies zeigt
sich in strukturellen Unterschieden ( > Tabelle unten) und dem höheren Gehalt von Heparin an der AT-bindenden Pentasaccharidsequenz, dem Endprodukt der Modifikationen. Letzteres bedingt die stärkere antikoagulatorische Wirkung von Heparin, die man medizinisch mit dem Einsatz von Heparin als Antithrombotikum nutzt. In vivo übernimmt allerdings nicht Heparin die Funktion als physiologisches Antithrombotikum, sondern das schwächer gerinnungshemmende Heparansulfat.
Charakteristika Löslichkeit in 2 M Kaliumacetat (pH 5,7, 4°C) Mittlere relative Molmassea Sulfatierungsgrad Grad der N-Sulfatierung der GlcN-Einheiten IdoA-Gehalt Antithrombin-bindende Fraktionb Ort der Biosynthese
Heparansulfat Ja 10–70.000 0,4–0,9 40–60% 30–50% 0–0,3% (m/m) nahezu alle Zellen
a b
Heparin Nein 5–30.000 0,9–1,25 ≥85% ≥70% ~30% (m/m) Mastzellen
während die mittlere Mr kommerziell erhältlicher HS sehr stark variiert, liegt die von Heparin in der Regel bei 13.000. Bestimmung mittels Affinitätschromatographie; die Moleküle, die die spezifische Pentasaccharidsequenz enthalten, binden an AT.
Neben der Bestimmung der antikoagulatorischen Aktivität und der anspruchsvollen Analytik der Struktur gibt es eine weitere Möglichkeit der Differenzierung zwischen Heparin und Heparansulfat, nämlich ihre Abbaubarkeit mittels verschiedener bakterieller (Flavobacterium) Heparinlyasen (Linhardt 1995). Diese Enzyme produzieren ähnlich wie bakterielle Hyaluronidasen ( > Infobox in Kap. 20.2.2) Bruchstücke, die am nichtreduzierenden Ende ungesättigte Uronsäure-
negativen Ladungsdichte. Die Heterogenität beruht auf der Tatsache, dass zehn verschiedene Monosaccharide im Heparin vorkommen: GlcNAc, GlcN, GlcNAc6S, GlcN2S, GlcN2S,6S, GlcN2S,3S,6S, GlcA, GlcA2S, IdoA, IdoA2S. Hieraus resultieren vielfältige Kombinationsmöglichkeiten für die jeweils aus einem Glucosamin und einer Uronsäure bestehenden Disaccharid-Grundeinheiten. Die mit 75–90% wichtigste Grundeinheit ist [4)-D-l-IdopA2S(1o4)-D-d-GlcpN2S,6S-(1o] ( > Abb. 20.11).
reste tragen, die sich UV-photometrisch nachweisen lassen. Man unterscheidet drei Typen von Heparinlyasen: x Heparinlyase I (syn. Heparinase) o Abbau von Heparin (HS Kap. 20.2.5).
683
684
20
Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
. Abb. 20.11
Unter physiologischen Bedingungen liegt Heparin als hochgeladenes Polyanion vor. Dadurch ist es in der Lage, an positiv geladene Strukturen zu binden und mit einer Vielzahl von Biomolekülen und Zellen zu interagieren. Prädestiniert für solche Interaktionen sind Proteine, die Cluster basischer Aminosäuren enthalten. Arginin- und Lysinreste bilden starke Ionenpaare mit den Sulfatgruppen des Heparins. Hydrophobe Aminosäuren treten mit den Acetylgruppen von GlcNAc in Wechselwirkung. Diese Interaktionen sind die Grundlage für die vielfältigen biologischen Aktivitäten von Heparin. Dass es sich hierbei nicht nur um unspeziische Ladungsefekte handelt, belegen Erkenntnisse zu den jeweils optimalen Oligosaccharidsequenzen für die Bindung an bestimmte Proteine. Das prominenteste Beispiel ist die speziische Pentasaccharidsequenz mit einem zentralen GlcN2S,3S,6S („AT binding site“), die für die Bindung an AT erforderlich ist ( > Abb. 20.12). Etwa 30% der Moleküle einer Heparinpräparation weisen diese Struktureinheit auf. Man bezeichnet diesen Anteil des Heparins als „high-ainity
Heparin. Die mit 75–90% wichtigste Disaccharideinheit des Heparins besteht aus (1o4)-verknüpfter α-L-Iduronsäure2-O-sulfat und α-D-Glucosamin-N,2-disulfat. Daneben findet man bis zu 15% des für Heparansulfat typischen sulfatierten Disaccharides aus β-D-Glucuronsäure und N-Acetyl-α-D-Glucosamin. Die strukturelle Variabilität beruht auf der Tatsache, dass zehn verschiedene Monomere (GlcNAc, GlcN, GlcNAc6S, GlcN2S, GlcN2S,6S, GlcN2S,3S,6S, GlcA, GlcA2S, IdoA, IdoA2S) im Heparin vorkommen. Essentiell für die AT-vermittelte antikoagulatorische Aktivität ist u. a. das maximal sulfatierte Monomer α-D-GlucosaminN,2,6-trisulfat . Abb. 20.12
H F D CH2OSO3-
O
O 1
OH
1
O
O NH
O O 1
4
COOOH
O
O
4
OH
OSO3-
1 OH
O 4
COO-
O 4
CH2OSO3-
E
CH2OSO3-
G
NHSO3-
1
O NHSO3-
OSO3-
OH
Ac oder SO3-
essentielle –– SO3–- Gruppen für die Bindung an Antithrombin die Affinität steigernde ––SO SO3– -Gruppen ...4)-α-D-GlcpN2S/Ac,6S-(14)-β-D-GlcpA-(14)-α-D-GlcpN2S,3S,6S-(14)-α-L-IdopA2S-(14)-α-D-GlcpN2S,6S-(1...
„AT binding site“ von Heparin. Heparinmoleküle, die die gezeigte Pentasaccharidstruktur aufweisen, binden mit hoher Affinität an den Serinproteaseinhibitor Antithrombin (AT). Dadurch kommt es zu einer Konformationsänderung im AT-Molekül, die zu einer starken Beschleunigung seiner Reaktivität gegenüber Serinproteasen führt. Essentiell für die Bindung sind 4 Sulfonylgruppen: die -NSO3–- und -OSO3–-Gruppe am C-3 der zentralen trisulfatierten F-Einheit (Buchstaben historisch bedingt) sowie die -OSO3–-Gruppe am C-6 der D-Einheit und die -NSO3–-Gruppe der H-Einheit. Ferner sind die beiden Carboxylgruppen und die Konfiguration am C-5 entscheidend. Die -OSO3–-Gruppen am C-2 der G-Einheit und am C-6 der H-Einheit sind nicht erforderlich, steigern aber die Affinität. Keinen Einfluss auf die AT-Affinität hat hingegen, ob die Aminogruppe der D-Einheit sulfatiert oder acetyliert ist. Die Pentasaccharid-Antithrombin-Bindung ist das Paradebeispiel für eine hochspezifische Wechselwirkung zwischen Kohlenhydraten und Proteinen
20.2 Glycosaminoglykane
material“ gegenüber dem „low-ainity material“ ohne die „AT binding site“.
Gewinnung Heparin (einschließlich der niedermolekularen Heparine, NMH) ist der am häuigsten angewendete Arzneistof tierischen Ursprungs. Jährlich werden über 33 Tonnen Heparin pharmazeutischer Qualität produziert. Allein in den USA, Deutschland und Frankreich wurden 2003 312 Millionen Heparindosen appliziert (Alban 2005b). „Precautionary principle“. Bis in die frühen 90er Jahre
dienten sowohl Schweinedarmmukosa als auch Rinderlunge als Heparinquelle. Laut PhEur 5 kann es aus den Lungen von Rindern oder den Intestinalschleimhäuten von Rindern, Schweinen und Schafen gewonnnen werden. Zumindest für Heparin, das als Arzneimittel verwendetet wird, entspricht dies jedoch nicht mehr der üblichen Praxis. Denn dem international verfolgten „Vorsichtsprinzip“ („precautionary principle“; Alban 2005b) entsprechend wird Heparin seit der BSE-Krise (bovine spongiforme Enzephalopathie, „Rinderwahnsinn“) nur noch aus Schweineschlachtabfällen isoliert, um jegliches Risiko einer potentiellen Kontamination mit TSE-Erregern („transmissible spongiforme encephalopathies“) zu vermeiden bzw. den hohen Aufwand für den Beweis der Freiheit an TSEErregern zu umgehen. Isolation und Aufreinigung. Aus der Mukosa eines
Schweins (ca. 1,8 kg) können ca. 270 mg bzw. 45.000 IE Heparin isoliert werden, was der Dosis für eine 3- bis 4-tägige hromboseprophylaxe für einen Patienten entspricht. Der Prozess der Heparingewinnung lässt sich in vier große Schritte unterteilen: 1. Extraktion der Mukosa mit Salzlösung einschließlich eines Proteolyseschrittes. 2. Isolation von Rohheparin durch Alkoholfällung. 3. Aufreinigung des Rohheparins durch Behandlung mit Basen zum Entfernen des restlichen Proteins und/oder Bleichen mit oxidierenden Agenzien. 4. Isolation von Heparin pharmazeutischer Qualität, das dann als leicht lösliches Natrium- oder Calciumsalz in den Handel kommt.
20
Allerdings weisen die erhaltenen Heparinpräparationen eine beträchtliche Variabilität in ihrer Struktur und folglich in ihren physiologischen Eigenschaten auf (Alban 2005a). Abgesehen von der Tatsache, dass Heparin per se eine polydisperse, komplexe Mischung aus GAG-Molekülen darstellt, beeinlussen viele weitere Faktoren die Zusammensetzung des jeweiligen Heparins: angefangen bei der Rasse, der Herkunt, den Bedingungen der Schweinehaltung über die Verwendung und Präparation des Ausgangsmaterials bis hin den unterschiedlichen Methoden zur Isolation und Reinigung.
Analytische Kennzeichnung Das entscheidende Qualitätskriterium für Heparin nach PhEur 5 ist eine hohe speziische antikoagulatorische Aktivität. Die blutgerinnungshemmende Wirkung von Heparin wird in vitro bestimmt, indem seine Fähigkeit, die Gerinnung von rekalziiziertem Citratplasma vom Schaf zu verzögern, mit der einer in Internationalen Einheiten eingestellten Standardzubereitung für Heparin („HeparinNatrium BRS“) (BRS, biologische Referenzsubstanz) unter gleichen Bedingungen verglichen wird (PhEur 5, Allgemeine Methoden, 2.7.5 Wertbestimmung von Heparin). Infobox Internationale Einheit (IE) von Heparin (PhEur 5). Die Internationale Einheit ist die Aktivität einer festgelegten Menge des Internationalen Standards (derzeit 5th International Standard for Unfractionated Heparin, NIBSC Code: 97/578), der aus gefriergetrocknetem Heparin-Natrium, das aus der Darmschleimhaut von Schweinen gewonnen wird, besteht. Die Aktivität des Internationalen Standards, angegeben in Internationalen Einheiten, wird von der WHO festgelegt. Heparin-Natrium BRS ist durch Vergleich mit dem Internationalen Standard nach der „Wertbestimmung von Heparin, PhEur 5“ auf Internationale Einheiten eingestellt.
Wirkungen und Anwendung
! Kernaussage
Heparin wirkt als „Bremskraftverstärker“ der endogenen „Gerinnungsbremse“ Antithrombin.
685
686
20
Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
Antikoagulatorische Wirkung. Die antikoagulatorische
Wirkung von Heparin beruht in erster Linie auf der indirekten Hemmung von hrombin und Faktor Xa, indem es als „Bremskratverstärker“ der natürlichen „Gerinnungsbremse“ AT wirkt (Alban 2002). AT ist ein sog. „Progressivinhibitor“, denn es besitzt zwar hohe Ainität zu den Gerinnungsenzymen, reagiert aber sehr langsam. Bindet AT an die „AT binding site“ eines Heparinmoleküles, erfährt das Serpin eine Konformationsänderung und wird zum „Sofortinhibitor“ mit einer 1000 bis
10.000fach höheren Reaktionsgeschwindigkeit. Heparin wirkt dabei in der Art eines Katalysators, denn sobald AT an das aktive Zentrum des Enzyms bindet, wird es wieder freigesetzt und steht weiteren AT-Molekülen zur Verfügung. Während für die Inaktivierung von Faktor Xa die Bindung von Heparin mittels seiner AT-bindenden Pentasaccharidsequenz an AT ausreicht, wird hrombin nur gehemmt, wenn das Heparinmolekül gleichzeitig auch an das Enzym bindet. Aus sterischen Gründen erfordert dies
Infobox Gründzüge der Blutgerinnung. Die Blutgerinnung gehört zu den wichtigsten Schutzmechanismen unseres Körpers. Dieses sensibel reagierende und effizient arbeitende System schützt uns vor dem Verbluten. Damit andererseits die Gerinnung auf das erforderliche Maß beschränkt bleibt, hat die Natur in Form der Fibrinolyse eine Gegenspielerin geschaffen, die Blutgerinnsel wieder auflöst. Zusätzlich werden sowohl die Gerinnung als auch die Fibrinolyse durch verschiedene endogene Inhibitoren kontrolliert. Unter physiologischen Bedingungen befindet sich das gesamte System der sog. Hämostase in einem labilen Gleichgewicht. Eine Verschiebung zugunsten der antikoagulatorischen Komponenten und Mechanismen äußert sich als hämorrhagische Diathese mit der Gefahr von Blutungen, während ein Überwiegen der prokoagulatorischen Seite sich als thrombophile Diathese manifestiert und die pathologische Grundlage der thromboembolischen Erkrankungen darstellt. Die Blutgerinnung ist ein komplexes Geschehen, an dem Plasmaproteine, Plättchen (syn. Thrombozyten), die Gefäßwand mit ihrem Endothel und den subendothelialen Strukturen und nach neueren Erkenntnissen auch die Leukozyten beteiligt sind. Früher hat man zwischen der sog. Plättchen-vermittelten und der plasmatischen Gerinnung unterschieden, die jeweils für die primäre bzw. sekundäre Hämostase verantwortlich sind; heute weiß man, dass beide Vorgänge jedoch mechanistisch eng miteinander verknüpft sind und die Plättchen die plasmatische Hämostase steuern, kontrollieren und verstärken, während Thrombin wiederum die Plättchen aktiviert (Modell der zellulären Hämostase; Jurk u. Kehrel 2005). Sobald die Plättchen mit subendothelilalen Strukturen oder anderen „fremden“ Oberflächen in Kontakt kommen, werden sie aktiviert und bilden lose Plättchenaggregate, die im Falle einer Gefäßverletzung für den primären Wund-
verschluss sorgen. Gleichzeitig wird die Kaskade der plasmatischen Gerinnung initiiert ( > Abb. 20.13). Diese Folge von proteolytischen Reaktionen findet jedoch nicht im Plasma, sondern initial auf der Oberfläche „tissue factor“(TF-)präsentierender Zellen und dann überwiegend auf der Oberfläche aktivierter Plättchen statt. Der zentrale Schritt ist die Umwandlung des inaktiven Zymogens Prothrombin durch die Prothrombinase mit dem enzymatisch aktiven Faktor Xa zu Thrombin. Thrombin, das Schlüsselenzym der Gerinnung, ampliziert seine eigene Generierung und wandelt schließlich lösliches Fibrinogen in unlösliches Fibrin um. Dieses Fibrinnetzwerk stabilisiert die lockeren Pättchenaggregate und es entsteht ein stabiles Blutgerinnsel, das, wenn es pathologischen Ursprungs ist, Thrombus genannt wird. Die wichtigsten endogenen Inhibitoren der plasmatischen Gerinnung sind: x aktiviertes Protein C (APC) einschließlich Protein S und Thrombomodulin, x „tissue factor pathway inhibitor“ (TFPI), ein Serpin (syn. Serinproteaseinhibitoren), x Antithrombin (AT), ein Serpin, x „heparin cofactor II” (HCII), ein Serpin, x D2-Macroglobulin und D1-Antitrypsin (weniger spezifisch wirkende Plasmaproteine). APC ist im Zusammenspiel mit Protein S und Thrombomodulin u. a. für die Hemmung der Kofaktoren Faktor VIIIa und Faktor Va verantwortlich. TFPI bindet Faktor Xa und hemmt als dualer Komplex den TF/Faktor-VIIa-Komplex und greift somit in der Initialphase der Gerinnung ein. Während HCII ausschließlich Thrombin hemmt, unterbindet AT die Aktivität mehrerer Gerinnungsenzyme einschließlich Faktor Xa und Thrombin, indem es kovalent an ihr aktives Zentrum bindet.
20
20.2 Glykosaminoglykane
KONTAKT AKTIVIERUNG
. Abb. 20.13
Kallikrein
EXTRINSISCHE INITIIERUNG
Präkallikrein HMWK
FXII
auf TF-präsent. Zellen
TF
FXIIa HMWK
FXI INTRINSISCHE AMPLIFIKATION auf aktivierten Plättchen
FVII
Ca2+
Ca 2+
FXIa Ca2+ PL
TF / FVIIa Ca2+
FIX
FIXa
FVIII
FVIIIa Ca2+ PL
Ca2+
FXa
FX FV
FVa
Prothrombin
Ca2+ / Fibrin
Ca2+ PL
FXIIIa
Thrombin
Fibrinogen Aktivierung
FXIII
Plättchen
Fibrin
Fibrin
löslich
quervernetzt
positive Rückkopplung / Amplifikation (die wichtigsten) aktives Enzym aktiver Kofaktor (keine enzymatische Aktiviät) F = Faktor TF = „tissue factor“ = Gewebefaktor PL = Membranphospholipide (v.a. der Plättchen)
Schema der Blutgerinnungskasade. Das primäre Ziel der plasmatischen Gerinnung ist die Umwandlung des löslichen Plasmaproteins Fibrinogen in unlösliches Fibrin, das zusammen mit den Plättchen ein stabiles Blutgerinnsel bildet. Die meisten der daran beteiligten Gerinnungsfaktoren sind Serinproteasen: FVIIa, FXIa, FIXa, FXa, FIIa (syn. Thrombin) sowie FXIIa und Kallikrein des Kontaktsystems. Sie liegen zunächst größtenteils in inaktiver Form vor (Proenzyme) und werden im Verlauf der Gerinnung nacheinander durch zuvor aktivierte Faktoren aktiviert. Extrinsische Initiierung: Initiiert wird die Kaskade durch „tissue factor“ (TF, Gewebefaktor), ein Transmembranglykoprotein, das von subendothelialen Zellen (aber auch aktivierten Monozyten und Granulozyten) exprimiert wird. Kommt das Blut in Kontakt mit TF, bindet und aktiviert der TF Ca2+-abhängig FVII. Der entstandene Komplex TF/FVIIa aktiviert auf der Oberfläche der Zelle FX zu FXa und FIX zu FIXa. Es kommt zur Bildung einer geringen Menge an Thrombin, die jedoch ausreicht, die Plättchen (Thrombin ist einer der potentesten Plättchenaktivatoren), Faktor XI und die Kofaktoren VIII und V zu aktivieren und damit die nächsten Schritte anzustoßen, die zur Amplifikation der Thrombinbildung führen. Intrinsische Amplifikation: Die aktivierten Plättchen sowie die aus ihnen hervorgehenden Mikropartikel exponieren auf ihrer Oberfläche eine geeignete Phospholipid (PL)-zusammensetzung und auch spezifische Rezeptoren für die Bindung der Gerinnungsfaktoren, sodass der „burst“ der Thrombinbildung in vivo überwiegend auf der Oberfläche von Plättchen und Mikropartikeln stattfindet. Hierbei lagern sich die Enzyme und Kofaktoren unter Beteiligung von Ca2+ so auf PL-Oberfläche zusammen, dass sie optimal miteinander reagieren können. Diese Komplexbildung führt zu einer enormen Beschleunigung der FXaund Thrombinbildung und schließlich zu einer effizienten Fibrinbildung. Nach dem heutigen Verständnis der Gerinnung spielt die Kontaktaktivierung (kursiv geschrieben) – ausgelöst durch den Kontakt von FXII mit subendothelialem Kollagen – als Initiator der intrinsischen Gerinnung in vivo nahezu keine Rolle. Bei der In-vitro-Gerinnung von Plasma in Abwesenheit von Zellen (u. a. Diagnostik) ist sie allerdings durchaus von Bedeutung. Hierbei wird FXII durch den Kontakt mit „unphysiologischen Oberflächen“ wie Glas, Kaolin, Kollagen oder Endotoxin aktiviert
687
688
20
Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
. Abb. 20.14
FXa
AT
aktiv
FXa
AT
aktiv
Thrombin
AT
aktiv
Thrombin
AT
inaktiv
“above critical chain length material”
“below critical chain length material”
AT-vermittelte Hemmung von Faktor Xa und Thrombin. Heparin ist ein heterogenes und polydisperses GAG-Gemisch. Nur ein Teil der Moleküle (ca. 30% bei unfraktioniertem Heparin (UFH)) enthält die spezifische Pentasaccharidsequenz, die für die Bindung an AT und damit die FXa- und thrombinhemmende Wirkung verantwortlich ist. Für die Beschleunigung der Hemmung von FXa durch AT genügt die alleinige Bindung an AT. Die Hemmung von Thrombin erfolgt jedoch nach einem „template“-Mechanismus, d. h. das Heparinmolekül fungiert als Plattform für die Reaktion zwischen Enzym und Inhibitor. Die gleichzeitige Bindung des Heparinmoleküls an AT und Thrombin erfordert aus sterischen Gründen einen DP >17 bzw. eine Mr >5400 („critical chain length“). Während diese Voraussetzung von UFH erfüllt wird, enthalten alle niedermolekularen Heparine auch „below critical chain lenght material“, sodass ihre aIIa-Aktivität stets geringer als ihre aXa-Aktivität ist.
eine Kettenlänge von mehr als 17 Monosacchariden bzw. eine Mr >5400 ( > Abb. 20.14). Zusätzlich zu seinen AT-abhängigen Efekten katalysiert Heparin wie Dermatan- und Heparansulfat die HCIIvermittelte hrombinhemmung. Auch die direkte Interaktion mit einigen Proteasen des Gerinnungssystems (Faktor IXa) und die Modulation der Gerinnungskaskade über Wechselwirkungen mit Kofaktoren, Calcium und Phospholipiden sind als Beitrag zur antikoagulatorischen Aktivität nicht auszuschließen. Antithrombotische Wirkung. Man geht davon aus, dass neben diesen antikoagulatorischen Efekten noch weitere Mechanismen an der antithrombotischen Wirkung von Heparin in vivo beteiligt sind. Einen signiikanten Beitrag scheint die Mobilisierung des an das Gefäßendothel gebundenen TFPI zu leisten. Ferner werden diskutiert: Erhöhung des elektronegativen Potentials und damit der athrombogenen Eigenschaten des Endothels, proibrinolytische Wirkung und neuerdings Interferenzen mit zellvermittelten prokoagulatorischen Mechanismen. Welche Relevanz die einzelnen Aspekte jeweils hinsichtlich der antithrombotischen Wirksamkeit besitzen, ist bis heute nicht geklärt.
Anwendung als Antithrombotikum. Heparin – heute in
Form der niedermolekularen Heparine (NMH) ( > unten) – ist seit mehr als 65 Jahren Mittel der Wahl in der Prophylaxe und herapie thromboembolischer Erkrankungen. Lediglich in der Langzeitprophylaxe und -behandlung wird den oral applizierbaren Vitamin-K-Antagonisten Phenprocoumon (in Europa) und Warfarin (in Nordamerika) der Vorzug gegeben. Aufgrund der erfolgreichen Entwicklung der NMH hat unfraktioniertes Heparin (UFH) allerdings mittlerweile stark an Bedeutung verloren. In Deutschland hatte es beispielsweise 2005 nur noch einen Anteil von 21% der applizierten Heparindosen. Oiziell kann UFH angewendet werden zur x Prophylaxe von thromboembolischen Erkrankungen, x im Rahmen der Behandlung venöser und arterieller thromboembolischer Erkrankungen einschließlich der Frühbehandlung des Herzinfarktes sowie der instabilen Angina pectoris, x zur Antikoagulation bei Behandlung oder Operation mit extrakorporalem Kreislauf (EKZ, z. B. Herz-Lungen-Maschine, Hämodialyse).
! Kernaussage
Die größte Bedeutung hat unfraktioniertes Heparin (UFH) heute als Antikoagulans in der Kardiologie und Herz-/Thoraxchirurgie
20.2 Glykosaminoglykane
Während für die herapie und perioperative Prophylaxe venöser hromboembolien, d. h. tiefe Venenthrombose (DVT) und Lungenembolie (LE), aktuellen Leitlinien zufolge die NMH vor UFH empfohlen werden, ist UFH bei Indikationen, für die NMH noch keine Zulassung haben, noch immer das am häuigsten angewendete Antikoagulans. So ist es von großer Bedeutung in der Kardiologie und Herz-/horaxchirurgie: Es wird routinemäßig neben Plättchenaggregationshemmern in der frühen, nicht invasiven Behandlung des akuten Koronarsyndroms (ACS) eingesetzt, ferner bei diagnostischen und therapeutischen perkutanen koronaren Interventionen (PCI, syn. Herzkatheterisierung) wie der Koronarangiographie und der perkutanen transluminalen koronaren Angioplastie (PTCA), im Rahmen von Bypassoperationen und Stentimplantationen sowie der Lysetherapie des STEMI. Während in der Hämo- und Peritonealdialyse mittlerweile auch NMH angewendet werden, ist UFH immer noch das Antikoagulanz der Wahl beim Einsatz der Herz-Lungen-Maschine. Auch in der Intensivmedizin dominiert bei Weitem die hromboseprophylaxe mit UFH. So ist es bei der disseminierten intravsalen Gerinnung (DIC) indiziert und wird häuig bei Sepsispatienten eingesetzt, um der Entwicklung einer DIC vorzubeugen. Infobox Akutes Koronsyndrom, Angina pectoris und Herzinfarkt (Hölschermann 2005). Pathophysiologische Erkenntnisse und neue diagnostische Marker haben in den letzten Jahren zu einem entscheidenden Wandel in der Therapie und Terminologie der koronaren Herzkrankheit geführt. Da der Begriff Herzinfarkt (syn. Myokardinfarkt) im Sinne einer exakten medizinischen Diagnose nicht mehr verwendet werden kann, wurde die Definition des Myokardinfarkts modifiziert. Aktuell werden pathophysiologsich verwandte, klinisch akut lebensbedrohliche Manifestationsformen der koronaren Herzkrankheit unter dem Begriff „akutes Kornoarsyndrom“ (ACS) zusammengefasst. Dazu gehören: x instabile Angina pectoris (Troponin normal), x Myokardinfarkt ohne ST-Streckenerhebungen (NSTEMI) (Troponin erhöht), x Myokardinfarkt mit ST-Streckenerhebungen (STEMI), x plötzlicher Herztod.
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Applikation und Dosierung. Als Naturprodukt schwankt Heparin in seiner strukturellen Zusammensetzung und folglich auch in seiner antikoagulatorischen Wirkung. Da es sich im Gegensatz zu den Phytopharmaka um einen stark wirksamen Arzneistof handelt, wird es nicht in gravimetrischen Dosen, sondern nach seiner in IE gemessenen antikoagulatorischen Aktivität dosiert. Aufgrund seiner kurzen Halbwertszeit (ca. 1–2 h) und schlechten Bioverfügbarkeit nach subkutaner Applikation (max. 30%) muss UFH via Dauerinfusion bzw. als 2- bis 3mal tägliche Injektion verabreicht werden. Die nichtlinearen und stark schwankenden Dosis-Wirkungs-Beziehungen erfordern eine individuell angepasste Dosierung ( > auch Tabelle 20.8). Dazu misst man die Gerinnungszeit des Patientenplasmas in der aktivierten partiellen hromboplastinzeit (aPTT). Dieser Gerinnungstest erfasst den Einluss auf die intrinsische Gerinnung und reagiert sensitiv auf UFH. UFH lässt sich mit Protaminchlorid bzw. sulfat antagonisieren. Das stark positiv geladene Polypeptid aus Fischsperma oder -rogen bildet mit dem negativ geladenen Heparin inaktive Komplexe. Es dient routinemäßig zur Beendigung der Antikoagulation im Rahmen der EKZ. Wegen häuig autretender anaphylaktischer Reaktionen soll es als Antidot bei heparininduzierten Blutungen nur mit Vorsicht eingesetzt werden. Unerwünschte Wirkungen. Als körpereigene Substanz ist
Heparin nicht toxisch und hat nur relativ wenige Nebenwirkungen. Zu beachten ist wie bei jedem Antithrombotikum das gesteigerte Blutungsrisiko. Gelegentlich tritt zu Beginn der Behandlung mit UFH eine leichte, reversible hrombozytopenie (100.000– 150.000/µl) auf, die durch vorübergehende hrombozytenaktivierung verursacht wird. Diese harmlose hrombozytopenie ist klar von der immunologisch bedingten Heparin-induzierten hrombozytopenie Typ II (HIT) ( > Infobox) abzugrenzen, die i. d. R. am 6.–10. Tag der Behandlung autritt (bei Sensibilisierten allerdings auch innerhalb von Stunden). Die Anwendung höherer Dosen in der Langzeittherapie und bei Schwangeren kann zu Osteoporose und reversiblem Haarausfall führen. Weitere Aktivitäten. Während der letzten 20–30 Jahre hat man eine wachsende Zahl weiterer biologischer Prozesse entdeckt, die von Heparin (UFH und NMH) beeinlusst werden. Erwähnenswert sind seine antiinlammatorischen, komplementhemmenden, antimetastatischen, antiangio-
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Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
genetischen, antiatherosklerotischen und antiviralen Wirkungen. Infobox Heparininduzierte Thrombozytopenie Typ II (HIT). HIT ist eine ernste Nebenwirkung der Heparine und die häufigste Arzneimittel-induzierte Thrombozytopenie. Laut einer aktuellen Metaanalyse klinischer Studien aus dem Zeitraum 1984–2004 beträgt das absolute Risiko einer HIT in der orthopädischen Chirurgie (höchste Inzidenz) unter UFH 2,6% und unter NMH 0,2% (Martel et al. 2005). Im Rahmen dieser immunologischen Reaktion ( > Abb. 20.15) kommt es zur Thrombozytopenie mit Thrombozyten werten deutlich unter 100.000/µl oder einem schnellen Abfall auf weniger als 50% des Ausgangswertes, die paradoxerweise häufig mit schwerwiegenden, u. U. lebensbedrohlichen arteriellen und venösen thromboembolischen Komplikationen verbunden ist. HIT ist eine strenge Kontraindikation für jegliche Art von Heparin, da alle Heparine (UFH und NMH) eine Kreuzreaktivität mit den HIT-assoziierten Antikörpern zeigen. Zur Antikoagulation bei HIT sind (1) rekombinantes Hirudin, ein ursprünglich aus Blutegeln isolierter direkter Thrombininhibitor, (2) das GAG-Gemisch Danaparoid-Natrium und seit Juni 2005 (3) Argatroban, ein synthetischer direkter Thrombininhibitor, zugelassen.
! Kernaussage
Viele der Aktivitäten von Heparin basieren auf Interferenzen mit Prozessen, an denen in vivo Glykane wie Heparansulfat beteiligt sind.
Diese vielfältigen Aktivitäten von Heparin beruhen größtenteils auf Interaktionen mit Proteinen, wobei Ladungsefekte entscheidend, aber nicht ausschließlich dafür verantwortlich sind. Sie belegen eindrucksvoll die physiologischen Funktionen der GAG, denn das stärker geladene Heparin konkurriert als kompetitiver Ligand mit den GAG um deren physiologischen Bindungspartner. Die entsprechenden Targetproteine lassen sich in folgende Klassen einteilen (Linhardt u. Toida 1997): (1) Enzyme (z. B. Elastase, Lipasen), (2) Proteaseinhibitoren (z. B. C1-Protein-Inhibitor (C1INH), AT, HCII, TFPI), (3) Lipoproteine (z. B. ApoE, LDL, VLDL), (4) Wachstumsfaktoren (z. B. FGF, VEGF), (5) Chemokine (z. B. IL-8, RANTES, PF4), (6) Adhäsionsproteine (z. B. L-, P-Selectin, Mac-1), (7) EZM-Proteine (z. B. Laminin, Fibronectin), (8) Rezeptorproteine (z. B. FGF-Rezeptor), (9) virale Hüllproteine (z. B. HSV-1, HIV-1 (gp 120)),
. Abb. 20.15 PF4
Heparin
Neoepitop
Antikörper
YY
YY Y
multimolekularer Immunkomplex
Thrombozyten- und Endothelzellaktivierung
schwerwiegende thromboembolische Komplikationen
Pathogenese der HIT. Die HIT beruht auf einer immunologischen Reaktion. Heparinmoleküle ausreichender Kettenlänge können gleichzeitig an mehrere PF4-Moleküle binden (Alban u. Greinacher 2004). Dadurch wird eine Konformationsänderung induziert, die zur Ausbildung von mindestens zwei Neoepitopen führt. In Gegenwart entsprechender Antikörper entstehen große Immunkomplexe. Die Fc-Teile der Antikörper binden an FcγIIa-Rezeptoren auf Plättchen und Endothelzellen. Durch das „cross-linking“ der Rezeptoren kommt es zur Aktivierung der Plättchen bzw. Endothelzellen, was letztlich zu Thromboembolien führen kann
20.2 Glykosaminoglykane
(10) Zellkernproteine (z. B. c-fos, c-jun, Histone) und schließlich (11) weitere Proteine (z. B. Fibrin, IgG, „Alzheimer Eamyloid precursor protein (APP)“). Obwohl man davon ausgeht, dass auch nicht-antikoagulatorische Wirkungen zum gesamttherapeutischen Nutzen von Heparin beitragen (z. B. Verlängerung der Überlebenszeit von Tumorpatienten), ist ein gezielter Einsatz von Heparin bei entsprechenden Indikationen durch seine starke gerinnungshemmende Aktivität und das resultierende Blutungsrisiko limitiert. Daher versucht man, Heparinanaloga mit modiizierten Wirkproilen zu entwickeln, bei denen die gerinnungshemmenden zugunsten anderer Eigenschaten reduziert sind.
! Kernaussage
Die Evidenz zur Wirksamkeit von Heparin bei topischer Anwendung ist fragwürdig.
Im Gegensatz zur evidenzbasierten parenteralen Anwendung als Antithrombotikum ist die Wirksamkeit von topisch appliziertem Heparin weniger gut belegt. Dennoch gibt es eine Vielzahl heparinhaltiger Salben, Gele und Cremes zur Behandlung von geschlossenen Sport- und Unfallverletzungen, Blutergüssen, oberlächlichen hrombosen und hrombophlebitiden und des varikösen Symptomenkomplexes.
20.2.8
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Entwicklung UFH war lange Zeit das einzige, durchaus eiziente Antithrombotikum für die Prophylaxe und akute herapie thromboembolischer Erkrankungen. Aufgrund seiner limitierten Wirksamkeit (z. B. Inzidenz venöser hromboembolien (VTE) bei Kniegelenkersatz bis 45%) und Sicherheit (Blutungen, HIT) sowie seiner pharmakokinetischen Nachteile sucht man allerdings seit langem nach besseren Alternativen. Eine Strategie, diese Probleme zu beheben, basiert auf folgender, Mitte der 70er Jahre gewonnenen wissenschatlichen Erkenntnis: Heparinfragmente, die in vitro wie UFH eine hohe aXa-Aktivität besaßen, die aPTT jedoch kaum verlängerten, zeigten im Tierversuch bei sehr guter antithrombotischen Wirksamkeit ein stark vermindertes Blutungsrisiko. Ausgehend von diesem Befund wurden die NMH entwickelt, von denen das erste 1986 zugelassen wurde. Heute stehen weltweit neun verschiedene NMH zur Verfügung, von denen sechs in Deutschland zugelassen sind: Ardeparin, Bemiparin, Certoparin, Dalteparin, Enoxaparin, Nadroparin, Parnaparin, Reviparin und Tinzaparin. Sie liegen mit Ausnahme von Nadroparin-Calcium jeweils in Form des Natriumsalzes vor. Das drastisch reduzierte Blutungsrisiko hat sich zwar in der Praxis nicht bestätigt, aber die NMH haben einige entscheidende Vorteile gegenüber UFH, sodass sie heute als Mittel der Wahl in der perioperativen Prophylaxe und herapie venöser hromboembolien gelten.
Niedermolekulare Heparine Herstellung
Definition. Niedermolekulare Heparine (NMH), Hepa-
rinae massae molecularis minoris, PhEur 5, sind Salze sulfatierter Glucosaminoglykane mit einer mittleren Molekülmasse von weniger als 8000, bei denen mindestens 60% (m/m) der Substanz eine Molekülmasse von weniger als 8000 haben. Die erhaltenen NMH weisen am reduzierenden oder nicht reduzierenden Ende der Polysaccharidketten unterschiedliche chemische Strukturen auf. Die Aktivität muss mindestens 70 IE Anti-Faktor Xa (aXa)Aktivität je Milligramm betragen, berechnet auf die getrocknete Substanz. Das Verhältnis der aXa-Aktivität zur Anti-hrombin (aIIa)-Aktivität muss mindestens 1,5 betragen.
Ausgangsmaterial für die Herstellung der verschiedenen NMH ist UFH pharmazeutischer Qualität. Jedes der NMH wird nach einem individuellen Verfahren hergestellt. Prinzipiell lassen sich vier verschiedene Methoden der Kettendegradation unterscheiden: 1. oxidative Desaminierung mit salpetriger Säure bzw. Isoamylnitrit, 2. radikalische Oxidation mit H2O2 oder Metallionen, 3. basische E-Elimination mit oder ohne eine vorangehende Benzylierung, 4. enzymatische E-Elimination. Die unterschiedlichen Herstellungsverfahren bedingen deutliche strukturelle Unterschiede zwischen den ver-
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Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
schiedenen NMH. Dies zeigt sich beispielsweise an ihrem jeweiligen mittleren Mr und ihrer Mr-Verteilung und den unterschiedlichen Endgruppen am reduzierenden und nicht reduzierenden Ende.
Analytische Kennzeichnung Im Vergleich zu UFH sind die Prüfungen zu den NMH laut PhEur 5 umfangreicher und in ihrem Ergebnis aussagekrätiger. Identität. Die Identität wird anhand eines 13C-NMR-Spek-
trums im Vergleich zum jeweils geeigneten „niedermolekularen Heparin CRS“ (CRS, Chemische Referenzsubstanz), der aXa- und aIIa-Aktivität und der Molekulargewichtsverteilung (Ausschlusschromatographie) überprüt.
Das Molverhältnis von Sulfat- zu Carboxylationen muss mindestens 1,8 betragen (d. h. DS mind. 0,9). Wertbestimmung. Anstelle der globalen gerinnungshem-
menden Wirkung auf Citratplasma (vgl. UFH) werden in der Wertbestimmung von NMH zwei distinkte Efekte quantiiziert, nämlich die AT-vermittelte Hemmung von Faktor Xa und hrombin (= Faktor IIa). Hierzu werden zwei amidolytische Tests unter Verwendung von AT, Faktor Xa bzw. hrombin und chromogenen Substraten (d. h. Peptide mit einem Chromophor, z. B. p-Nitroanilin) durchgeführt. Photometrisch wird die Hemmung des Substratumsatzes durch das NMH ermittelt. Die speziischen Aktivitäten (aXa-IE/ mg und aIIa-IE/mg) werden mit Hilfe von „niedermolekularem Heparin zur Wertbestimmung BRS“, das gegen den „2nd International Standard Low Molecular Weight Heparin“ NIBSC (Code: 97/578) eingestellt ist, bestimmt.
Infobox Monographien der PhEur 5 zu individuellen NMH. Die fünf NMH, für die die PhEur 5 eigene Monographien enthält, müssen jeweils der Monographie „Niedermolekulare Heparine“ entsprechen. Gegenüber der großzügigen Definition der NMH sind sie jeweils etwas genauer definiert. Dalteparin-Natrium, Dalteparinum natricum, PhEur 5, ist das Natriumsalz eines NMH, das durch Depolymerisierung von Heparin aus der Intestinalschleimhaut von Schweinen mit Hilfe von salpetriger Säure gewonnen wird. Der Hauptteil der Komponenten hat eine 2-O-Sulfo-D-L-idopyranosuronsäure-Struktur am nicht reduzierenden Ende und eine 6-O-Sulfo-2,5-anhydro-D-mannitol-Struktur am reduzierenden Ende ihrer Kette ( > Abb. 20.16). Die mittlere relative Molekülmasse liegt im Bereich von 5600–6400, wobei der charakteristische Wert 6000 beträgt. Der Grad der Sulfatierung je Disaccharideinheit beträgt etwa 2,0–2,5. Die Aktivität beträgt mindestens 110 IE und höchstens 210 IE aXa-Aktivität/mg, berechnet auf die getrocknete Substanz. Die aIIa-Aktivität beträgt mindestens 35 und höchstens 100 IE/mg, berechnet auf die getrocknete Substanz. Das Verhältnis der aXa-Aktivität zur aIIa-Aktivität liegt zwischen 1,9 und 3,2. Enoxaparin-Natrium, Enoxaparinum natricum, PhEur 5, ist das Natriumsalz eines NMH, das durch alkalische Depolymerisierung des Benzylesters von Heparin aus der Intestinalschleimhaut von Schweinen gewonnen wird. Der Hauptteil
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der Komponenten hat eine 4-Enopyranoseuronat-Struktur am nicht reduzierenden Ende ihrer Kette ( > Abb. 20.16). Die mittlere relative Molekülmasse liegt im Bereich von 3500–5500, wobei der charakteristische Wert 4500 beträgt. Der Grad der Sulfatierung je Disaccharideinheit beträgt etwa 2. Die Aktivität liegt zwischen 90 und 125 IE aXa-Aktivität/ mg, berechnet auf die getrocknete Substanz. Das Verhältnis der aXa-Aktivität zur aIIa-Aktivität liegt zwischen 3,3 und 5,3. Nadroparin-Calcium, Nadroparinum calcicum, PhEur 5, ist das Calciumsalz eines NMH, das durch Depolymerisierung von Heparin aus der Intestinalschleimhaut von Schweinen mit Hilfe von salpetriger Säure gewonnen wird und das von Molekülen mit einer relativen Molekülmasse von weniger als 2000 durch Fraktionierung zum größten Teil befreit worden ist. Die Substanz besteht mehrheitlich aus Molekülen, die am nicht reduzierenden Ende eine 2-O-Sulfo-D-Lidopyranosuronsäure-Struktur und am reduzierenden Ende eine 6-O-Sulfo-2,5-anhydro-D-mannitol-Struktur aufweisen ( > Abb. 20.16). Die mittlere relative Molekülmasse liegt im Bereich von 3600–5000, wobei der charakteristische Wert 4300 beträgt. Der Grad der Sulfatierung je Disaccharideinheit beträgt etwa 2. Die Aktivität beträgt mindestens 95 und höchstens 130 IE aXa-Aktivität/mg, berechnet auf die getrocknete Substanz. Das Verhältnis der aXa-Aktivität zur aIIa-Aktivität liegt zwischen 2,5 und 4,0.
20.2 Glykosaminoglykane
Parnaparin-Natrium, Parnaparinum natricum, PhEu 5, ist das Natriumsalz eines NMH, das durch radikalkatalysierte Depolymerisierung von Heparin aus der Intestinalschleimhaut von Rindern oder Schweinen mit Wasserstoffperoxid und Kupfersalzen gewonnen wird. Der Mehrzahl der Komponenten hat eine 2-O-Sulfo-D-L-idopyranosuronsäureStruktur am nicht reduzierenden Ende und eine 2-N,6-O-Disulfo-D-glucosamin-Struktur am reduzierenden Ende ihrer Kette ( > Abb. 20.16). Die mittlere relative Molekülmasse liegt im Bereich von 4000–6000, wobei der charakteristische Wert 5000 beträgt. Der Grad der Sulfatierung je Disaccharideinheit beträgt 2,0– 2,6. Die Aktivität liegt zwischen 75 und 110 IE aXa-Aktivität/ mg, berechnet auf die getrocknete Substanz. Das Verhältnis der aXa-Aktivität zur aIIa-Aktivität liegt zwischen 1,5 und 3,0.
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Tinzaparin-Natrium, Tinzaparinum natricum, PhEur 5, ist das Natriumsalz eines NMH, das durch kontrollierte enzymatische Depolymerisierung von Heparin aus der Intestinalschleimhaut von Schweinen mit Hilfe der Heparinlyase von Flavobacterium heparinum gewonnen wird. Der Hauptteil der Komponenten hat eine 2-O-Sulfo-4-enopyranoseuronsäure-Struktur am nicht reduzierenden Ende und eine 2-N,6O-Disulfo-D-glucosamin-Struktur am reduzierenden Ende ihrer Kette ( > Abb. 20.16). Die mittlere relative Molekülmasse liegt im Bereich von 5500–7500, wobei der charakteristische Wert 6500 beträgt. Der Grad der Sulfatierung je Disaccharideinheit beträgt 1,8– 2,5. Die Aktivität liegt zwischen 70 und 120 IE aXa-Aktivität/ mg, berechnet auf die getrocknete Substanz. Das Verhältnis der aXa-Aktivität zur aIIa-Aktivität liegt zwischen 1,5 und 2,5.
. Abb. 20.16
Strukturen der Disaccharideinheiten und Endgruppen der offizinellen NMH. Jedes der verfügbaren NMH wird nach einem individuellen Verfahren hergestellt. Hieraus resultieren diverse strukturelle Unterschiede. So ergeben sich je nach dem verwendeten Degradationsprinzip charakteristische Veränderungen am reduzierenden oder nicht reduzierenden Ende der Moleküle. Die oxidative Desaminierung durch Nitrosierung mit nachfolgender Reduktion ergibt 6-O-Sulfo-2,5anhydro-D-mannitol am reduzierenden Ende und eine 2-O-Sulfo-α-L-idopyranosuronsäure am nicht reduzierenden Ende (Dalteparin, Nadroparin). Radikalkatalysierte oxidative Spaltung führt ebenfalls zu einer 2-O-Sulfo-α-L-idopyranosuronsäu re am nicht reduzierenden Ende, am reduzierenden Ende jedoch zu einem 2-N,6-O-Disulfo-D-glucosamin (Parnaparin). Diese Endgruppe resultiert auch aus der spezifischen Spaltung durch enzymatische β-Elimination mittels Heparinlyase I (syn. Heparinase) (Tinzaparin); am nicht reduzierenden Ende entsteht eine 2-O-Sulfo-4-enopyranosuronsäure. Die gleichen Endgruppen, allerdings mit variabler Sulfatierung, entstehen auch bei der chemischen β-Elimination durch alkalische Spaltung des Benzylesters von Heparin (Enoxaparin). Im Gegensatz zu den anderen NMH, die als Natriumsalz vorliegen, handelt es sich bei Nadroparin um das Calciumsalz
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Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
Unterschiede und Gemeinsamkeiten der NMH – Niedermolekularen Heparine
! Kernaussage
Jedes niedermolekulare Heparin (NMH) ist ein individueller Arzneistoff und ist nicht ohne weiteres gegen ein anderes austauschbar.
Obwohl die verschiedenen NMH alle die Arzneibuchanforderungen an NMH, nämlich mindestens 60% (m/m)
Mr 1,5
Bindung an Plasmaproteine, Endothelzellen, Makrophagen
+++
+
Interaktionen mit Plättchen
+++
+
Neutralisation durch PF4
+++
+ (aXa)/+ + + (aIIa)
Risiko der Induktion von HIT
ca. 2,6%a
ca. 0,2% a
Kreuzreaktivität mit HIT-assoz. Antikörpern
100%
ca. 75%
Osteoporoserisikob
vorhanden
reduziert
Bioverfügbarkeit s.c.
15–30%
85–95%c, d
HWZ i.v./s.c. (dosisabhängig)
~1 h/~2 h (sehr variabel) (ja)
~2 h/3–5 h3 (nein)
Metabolisierung
vollständig inaktiviert
bis zu 10% unverändert
Elimination
biphasisch
linear
Dose-Wirkungs-Beziehung
hoch variabel
konstant
Applikation
s.c. Injektion oder i.v.-Bolus, dann Dauerinfusion
s.c. Injektion
Dosierung
individuell anhand aPTT, 2–3 mal täglich (s.c.)
Fixdosis oder KG-adaptiert, 1–2 mal täglich
Gerinnungskontrollen
erforderlich o aPTT, obligat: Thrombozytenzahlen
nicht erforderlich oggf. aXa-Aktivität, obligat: Thrombozytenzahlen
Pharmakokinetik
Art der Anwendung
a In der orthopädischen Chirurgie mit einem relativ hohen Risiko (Martel et al. 2005), b bei Langzeitanwendung, c Variations-
breite aufgrund von Unterschieden der verschiedenen NMH, d die Bioverfügbarkeit der aIIa-Aktivität ist ewas geringer.
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20.2 Glykosaminoglykane
tor Xa hemmen ( > S. 686, antikoagulatorische Wirkung von UFH) und Abb. 20.14). Neben den pharmakodynamischen gibt es auch pharmakokinetische Unterschiede, sodass laut WHO, FDA und verschiedener Fachgesellschaten jedes NMH als individueller Arzneistof mit einem eigenen therapeutischen Index bei gegebener klinischer Indikation zu betrachten ist, der nicht ohne weiteres gegen ein anderes NMH austauschbar ist. Vergleich zwischen UFH und NMH. Trotz der Unterschiede
zwischen den einzelnen NMH gibt es einige Gemeinsamkeiten, die sie eindeutig von UFH abgrenzen lassen ( > Tabelle 20.7). Entscheidend ist hierfür die geringere Tendenz der kürzeren polyanionischen Ketten, unspeziische Bindungen mit Proteinen und Zellen einzugehen. So erklärt sich beispielsweise das um etwa Faktor 10 niedrigere Risiko einer HIT (Martel et al. 2005) aus der verminderten Bindung der NMH an PF4 und ihren schwächer ausgeprägten Interaktionen mit den hrombozyten. Auch die günstigeren pharmakokinetischen Eigenschaten, ein wesentlicher Vorteil der NMH, resultieren letztlich aus den reduzierten unspeziischen Bindungen. Nach subkutaner Applikation sind sie zu 85–95% bioverfügbar, ihre Halbwertszeit ist etwa doppelt so lang wie die von UFH. Im Gegensatz zu UFH weisen die NMH lineare Dosis-Wirkungs-Beziehungen auf.
Anwendung
! Kernaussage
Niedermolekulare Heparine (NMH) sind Mittel der Wahl in der perioperativen Prophylaxe und Therapie venöser Thromboembolien.
Indikationen. Die Vorteile der NMH haben dazu geführt,
dass sie sich mehr und mehr gegenüber UFH durchsetzen. In Deutschland belief sich 2005 der Anteil der NMH an den etwa 80 Millionen verabreichten Heparindosen auf 79%, wobei im ambulanten Bereich nahezu ausschließlich NMH eingesetzt werden. Seit 1991 gelten die NMH als wirkungsvollste VTEProphylaxe im Hochrisikobereich, z. B. in der orthopädischen Chirurgie (Hüt-, Kniegelenkersatz, Hütfraktur). Neben der Anwendung zur Prophylaxe sind die verschiedenen NMH auch für einige andere Indikationen zugelassen ( > Tabelle 20.8). So stehen z. B. fünf der in Deutschland eingesetzten NMH auch als Antithrombotikum für die VTE-herapie zur Verfügung. Ferner dürfen Enoxaparin und seit 2005 auch Dalteparin oiziell zur Primärprophylaxe bei nichtchirurgischen, immobilisierten Patienten mit mittlerem und hohem VTE-Risiko bei akuten schweren internistischen Erkrankungen angewendet werden.
. Tabelle 20.8 Indikationen der verschiedenen in Deutschland zugelassenen NMH (Alban 2006) Indikation
Certoparin
Dalteparin
Enoxaparin
Nadroparin
Reviparin
Tinzaparin
niedriges-mittleres Risiko
X
X
X
X
X
X
hohes Risiko
X
X
X
X
VTE-Prophylaxe
x x x x x
Traumapatienten internistische Patienten ischämischer Schlaganfall
X
X
X
X
X
X
X
X
EKZ/Hämodialyse TVT-Therapie
X
LE-Therapie
Xa
IA/NSTEMI
X
a
X X
X X
X X
Enoxaparin: Therapie tiefer Venenthrombosen mit und ohne Lungenembolie; EKZ extrakorporale Zirkulation, TVT tiefe Venenthrombose, LE Lungenembolie, IA Instabile Angina pectoris, NSTEMI Myokardinfarkt ohne ST-Streckenerhebungen.
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Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
Das breiteste Indikationsspektrum besitzt derzeit Enoxaparin. Es ist das einzige NMH, das für die herapie der instabilen Angina pectoris und des Nicht-Q-Wellen-Myokardinfarktes (NSTEMI nach aktueller Nomenklatur) zugelassen ist. Darüber hinaus eignen sich die NMH für die (Langzeit-)Prophylaxe in der Schwangerschat, da sie nicht plazentagängig sind und im Gegensatz zu Phenprocoumon nicht teratogen wirken. Derzeit wird die Wirksamkeit und Sicherheit der NMH bei weiteren Indikationen geprüt. Von Interesse ist beispielsweise die Verlängerung der Überlebenszeit von Tumorpatienten unter der Anwendung von NMH. Applikation und Dosierung. Wie UFH werden die
NMH mit Ausnahme von Enoxaparin (Dosierung in mg, wobei 1 mg = 100 aXa-IE) nach ihrer Aktivität (bei den NMH aXa-Aktivität) dosiert. Die gegenüber UFH optimierten pharmakokinetischen Eigenschaten ( > Tabelle 20.7) erlauben, dass die NMH generell subkutan appliziert werden; die Dosierung muss nicht individuell angepasst werden, sodass i.d.R. keine Gerinnungskontrollen erforderlich sind. In der Prophylaxe genügt die einmal tägliche Gabe einer Fixdosis. Die jeweilige Dosis an aXa-IE variiert allerdings von NMH zu NMH. In der herapie werden sie ein- (Tinzaparin und optional Fraxiparin) bis zweimal täglich körpergewichtsadaptiert verabreicht; lediglich die Anwendung von Certoparin erfolgt auch in der herapie in einer Fixdosis von zweimal täglich 8000 aXa-IE. Die subkutane Applikation und das relativ einfache Dosierungsregime ermöglichen im Gegensatz zu UFH die ambulante Anwendung der NMH, die in den letzten Jahren sukzessive an Bedeutung gewonnen hat.
20.2.9
„Heparinoide“
Heparinoide – ein obsoleter Begriff Als Heparinoide bezeichnete man früher natürlich vorkommende (d. h. Glykosaminoglykane, marine sulfatierte Polysaccharide), partialsynthetische und synthetische sulfatierte Polysaccharide und Polymere, die je nach ihren strukturellen Parametern mehr oder weniger stark ausgeprägte antikoagulatorische und andere heparinähnliche Aktivitäten besitzen.
Fälschlicherweise wird dieser ohnehin obsolete Begrif auch heute noch gelegentlich für andere Antikoagulanzien wie das Polypeptid Hirudin gebraucht. Innovative auf Kohlenhydraten basierende Heparinalternativen wie die totalsynthetischen Pentasaccharide Fondaparinux und Idraparinux oder das aus E. coli K5-Kapselpolysaccharid hergestellte „Neoheparin“ ( > Kap. 19.5.1) werden nicht unter den Begrif Heparinoide subsumiert. Die Bezeichnung wurde seinerzeit geprägt, als man versuchte, Heparinersatzstofe zu entwickeln, die nicht tierischen Ursprungs sind bzw. verbesserte pharmakodynamische und -kinetische Eigenschaten aufweisen. Als Ausgangssubstanzen für die partialsynthetischen Heparinoide verwendete man eine Vielzahl von Polysacchariden: Agarose, Alginsäure, Amylose und Amylopektin, Arabinogalactan, Cellulose, Chondroitinsulfat A [Produkt „semisynthetic heparin analogue“ (SSHA)], Chitosan und Chitin, Curdlan, Dextran, Galactomannan, Guaran, Hyaluronsäure, Inulin, Lentinan, Laminarin, Pektin, Xanthan und Xylan. Von all diesen Substanzen sind in Deutschland nur folgende als Arzneimittel zugelassen: x Danaparoid-Natrium ( > Kap. 20.2.6, Infobox „Danaparoid-Natrium als Antithrombotikum bei HIT“), x Natriumpentosanpolysulfat (PPS, SP54), x GAG-Mischungen zur topischen Anwendung (Mucopolysaccharidpolyschwefelsäureester, > Kap. 20.2.4).
Natriumpentosanpolysulfat PPS wird partialsynthetisch durch Sulfatierung eines am C-2 zu 10% mit 4-O-Methyl-D-d-Glucuronsäure verzweigten (1o4)-E-d-Xylans (ein Pentosan) aus Buchenrinde gewonnen. Trotz seiner in vitro geringeren antikoagulatorischen Aktivität zeigt es gute antithrombotische Wirksamkeit in vivo. Es kann zur peri- und postoperativen hromboseprophylaxe (s.c. Applikation) sowie zur subakuten bzw. chronischen Behandlung atherosklerotischer und thrombotischer Gefäßerkrankungen eingesetzt werden (s.c., i.v., i.m. oder orale Applikation!). Es soll durchblutungsfördernd und lipidsenkend wirken. Da PPS selbst das klinische Bild der HIT induzieren kann und mit HIT-assoziierten Antikörpern Kreuzreaktion zeigt, kommt es im Gegensatz zu Danaparoid-Natrium nicht als Alternative zu Heparin bei HIT-Patienten in Frage (Alban 1997).
20.2 Glykosaminoglykane
Dextransulfate Dextransulfate (DxS) werden durch Sulfatierung des verzweigten (1o6)-D-d-Glucans Dextran hergestellt ( > Kap. 19.5.2). Niedermolekulare DxS waren die ersten Heparinoide, die vor etwa vierzig Jahren – wegen ihres ungünstigen Nutzen-Risiko-Verhältnisses allerdings nur kurzfristig – als Antithrombotikum verwendet wurden (Alban 1997). Ende der 80er Jahre fanden DxS erneut Interesse auf Grund ihrer anti-HIV-Wirksamkeit. Von Bedeutung sind sie auch weiterhin für den Laborbereich, wo sie als DxSCellulose-Säulen für die LDL-Apherese und als Ingredienzien diagnostischer Tests Anwendung inden.
20.2.10 Anhang: Fondaparinux, ein synthetisches Pentasaccharid Entwicklung der Pentasaccharide Die Entdeckung, dass nur etwa 30% der Moleküle einer Heparinpräparation in der Lage sind, an AT zu binden, ließ vermuten, dass eine speziische Saccharidstruktur hierfür verantwortlich ist. Die entsprechende Pentasaccharidsequenz wurde 1981 identiiziert ( > Abb. 20.12). 1983 gelang es der Gruppe um J. Choay, dieses Oligosaccharid in ursprünglich 80 Stufen zu synthetisieren und seine AT-vermittelte selektive Faktor Xa-hemmende Wirkung zu belegen. Trotz ihrer guten antithrombotischen Wirksamkeit im Tierversuch war die Substanz zunächst nur von akademi-
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schem Interesse. Zusammen mit etwa 100 weiteren Strukturvarianten ermöglichte sie die Auklärung des molekularen Wirkmechanismus von Heparin. Entscheidend für die Weiterentwicklung, und zwar letztlich des nur minimal modiizierten Original-Pentasaccharids (syn. SR90107/ Org31540, Fondaparinux-Natrium; > Abb. 20.17), war das Anfang der 90er Jahre ins Bewusstsein gerückte Problem der HIT, die Auklärung ihrer Pathogenese und die dringende Nachfrage nach einer Alternative zu Heparin (Alban 2004). Das Syntheseverfahren wurde sukzessive optimiert. 1998 begann man mit einem umfangreichen Programm zur klinischen Phase-III-Prüfung, dessen Ergebnisse im Dezember 2001 (FDA) bzw. im März 2002 (EMEA) zur Zulassung für die VTE-Hochrisikoprophylaxe in der orthopädischen Chirurgie führten. Inzwischen kann Fondaparinux bei weiteren Indikationen ( > unten) eingesetzt werden und wird als Antithrombotikum in der Kardiologie geprüt.
Struktur Fondaparinux-Natrium (Fondaparinux) ist ein synthetisch hergestelltes acht Sulfatgruppen enthaltendes Pentasaccharid mit einer Mr von 1728 ( > Abb. 20.17). Seine Struktur entspricht der der „AT-binding site“ im Heparin. Am reduzierenden Ende trägt es eine Methylgruppe, die das anomere Ende stabilisiert und unspeziische Bindungen an Plasmaproteine verhindert.
. Abb. 20.17
1Me) Struktur von Fondaparinux. Fondaparinux-Natrium (Mr 1728) ist ein chemisch definiertes sulfatiertes Pentasaccharid. Es unterscheidet sich von der AT-bindenden Sequenz innerhalb des Heparinmoleküls durch eine Methylgruppe am nun vorhandenen reduzierenden Ende. Diese stabilisiert das anomere Ende in der α-Konfiguration und verhindert unspezifische Bindungen an Plasmaproteine (Alban 2004)
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Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
Infobox Doppelter Paradigmenwechsel. Die Einführung der NMH Mitte der 80er Jahre brachte einen großen Fortschritt für die antithrombotische Therapie. Als polydisperse Produkte tierischen Ursprungs und auch hinsichtlich ihrer Wirksamkeit und Unbedenklichkeit gelten jedoch auch sie nicht als ideale Antikoagulanzien, sodass die Entwicklung neuer Antikoagulanzien ein wichtiges Thema industrieller Forschung darstellt. Mit den Methoden des „rationalen Drug Design“ werden heute verschiedene Strategien verfolgt. Mit dem synthetisch hergestellten, strukturell definierten Oligosaccharid Fondaparinux steht nun der erste selektiv wirkende Faktor Xa-Inhibitor zur Verfügung. Angesichts weiterer Kandidaten in der klinischen Entwicklung (u. a. orale, direkte Faktor Xa- bzw. Thrombininhibitoren) kündigt sich ein Paradigmenwechsel im Bereich der Antikoagulation an, d. h. man wird künftig nicht mehr auf Produkte tierischen Ursprungs angewiesen sein. Fondaparinux setzt darüber hinaus einen weiteren Meilenstein in der Arzneistoffentwicklung. Denn es ist der erste spezifisch wirkende Arzneistoff auf der Basis eines strukturell definierten, synthetisch hergestellten Oligosaccharids. Damit ist es erstmalig gelungen, ausgehend von Glucose ein ökonomisch und ökologisch vertretbares und den Sicherheitsanforderungen genügendes Protokoll zur industriellen Synthese einer komplexen Kohlenhydratstruktur zu entwickeln. Sein Wirkmechanismus demonstriert, dass es möglich ist, spezifisch wirkende Arzneistoffe auf der Basis von Kohlenhydraten zu entwickeln. Dies unterstreicht die lange unterschätzte physiologische Bedeutung glykosidischer Strukturen und macht Kohlenhydrate zu einer interessanten Quelle für die Entwicklung innovativer Arzneistoffe.
Wirkung und Anwendung
! Kernaussage
Fondaparinux ist der erste selektive Faktor Xa-Inhibitor.
Pharmakodynamik. Fondaparinux ist der erste Vertreter einer neuen Klasse von Antithrombotika, den selektiven Faktor Xa-Inhibitoren. Im Gegensatz zu zahlreichen direkten Faktor Xa-Inhibitoren, die sich derzeit in der Entwicklung beinden, handelt es sich um einen indirekten
Hemmstof, der ähnlich wie Heparin als Katalysator von AT wirkt. Die reversible Bindung führt zu einer ca. 300fach beschleunigten Hemmung von Faktor Xa durch AT ( > Abb. 20.18). Durch die Inhibierung von Faktor Xa unterbricht Fondaparinux die Gerinnungskaskade und verhindert die hrombinbildung. Obwohl hrombin selbst nicht gehemmt wird, wird auf diese Weise die Entstehung bzw. die Vergrößerung eines hrombus eizient unterbunden. Im Plasma ist Fondaparinux zu ca. 98% an AT gebunden. Da es in therapeutischen Konzentrationen nur etwa 10% des AT besetzt, ist es in seiner Wirksamkeit relativ unempindlich gegenüber der AT-Plasmakonzentration. Im Gegensatz zu Heparin geht Fondparinux keinerlei unspeziische Bindungen mit Plasmaproteinen und Zellen ein. So beeinlusst es beispielsweise weder die Plättchenfunktion und -aggregation noch bindet es in vitro an PF4. Folglich ist anzunehmen, dass das kurzkettige Oligosaccharid nicht in der Lage ist, ein Neoepitop mit PF4 zu bilden, das zusammen mit entsprechenden Antikörpern große Immunkomplexe bildet, die eine HIT auslösen. In vitro beobachtet man keinerlei Kreuzreaktivität mit HITassoziierten Antikörpern, sodass Fondaparinux-Natrium auch eine interessante Alternative für die Antikoagulation von HIT-Patienten darstellen könnte. Pharmakokinetik. Nach subkutaner Injektion wird Fon-
daparinux vollständig und schnell resorbiert. Halbmaximale Plasmaspiegel sind bereits nach 25 min – im Gegensatz zu 60 min bei den NMH – erreicht. Ein weiterer bedeutender Unterschied gegenüber den NMH ist die mit 17 bis 21 h ca. 4- bis 5-mal längere Halbwertszeit. Nach einmal täglicher Gabe werden „steady state“-Plasmaspiegel nach 3 bis 4 Tagen mit einer 30%igen Erhöhung der cmax und AUC erreicht. Im therapeutischen Bereich der Dosierung (2–8 mg) ist die Pharmakokinetik linear mit geringen intra- und interindividuellen Schwankungen. Das Verteilungsvolumen entspricht praktisch dem Blutvolumen, sodass keine körpergewichtsadaptierte Dosierung erforderlich ist. Da Fondaparinux nicht signiikant an andere Plasmaproteine als AT bindet, sind Wechselwirkungen mit anderen Wirkstofen durch konkurrierende Eiweißbindung ausgeschlossen. Bislang gibt es keine Hinweise auf eine Metabolisierung, sondern es wird unverändert über die Nieren ausgeschieden. In vitro fand man keinerlei Beeinlussung des CYP450-Enzymsystems, sodass auch hinsichtlich einer gemeinsamen CYP-Metaboliserung keine Interaktionen zu erwarten sind.
20.2 Glykosaminoglykane
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. Abb. 20.18 Intrinsische Amplifikation 1 AT
2 AT
Fondaparinux
Extrinsische Initiierung
3 AT
FXa
FXa
Prothrombin Fibrinogen
Thrombin Fibrin
Wirkmechanismus von Fondaparinux. Fondaparinux ist ein indirekt wirkender, selektiver Faktor Xa-Inhibitor. Es bindet spezifisch mit hoher Affinität an Antithrombin (AT). Die induzierte Konformationsänderung führt zu einer ca. 300fachen Beschleunigung der Hemmwirkung von AT gegenüber Faktor Xa (FXa). Sobald AT an FXa bindet, wird Fondaparinux wieder freigesetzt und steht einem weiteren AT-Molekül zur Verfügung. Durch die Hemmung von FXa, dem Aktivator von Prothrombin, wird die Bildung von Thrombin und auf diese Weise die Thrombin-vermittelte Amplifikation der Gerinnung verhindert
Anwendung. Fondaparinux ist mittlerweile in Deutsch-
Applikation und Dosierung. Da Fondaparinux im Ge-
land für folgende Indikationen zugelassen: x VTE-Prophylaxe bei Patienten, die sich größeren orthopädischen Eingrifen an den unteren Extremitäten unterziehen müssen, wie beispielsweise Hütfrakturen, größere Knie- oder Hütersatzoperationen. Die Behandlung sollte solange fortgesetzt werden, bis das VTE-Risiko verringert ist, d. h. normalerweise bis zur vollständigen Mobilisation des Patienten, mindestens aber für 5 bis 9 Tage nach der Operation. Bei Hütfrakturoperationen ist es darüber hinaus auch für die verlängerte Prophylaxe (4 Wochen) zugelassen. x VTE-Prophylaxe bei Patienten, die sich abdominalen Eingrifen unterziehen müssen und voraussichtlich einem hohen VTE-Risiko ausgesetzt sind (z. B. Tumorpatienten). x VTE-Prophylaxe bei internistischen Patienten mit einem erhöhten VTE-Risiko und bei Immobilisation wegen einer akuten Erkrankung wie beispielsweise Herzinsuizienz, akuter Atemwegserkrankung oder akuter infektiöser beziehungsweise entzündlicher Erkrankung. x herapie tiefer Venenthrombosen (DVT). x herapie von Lungenembolien (LE), außer bei hämodynamisch instabilen Patienten oder Patienten, die einer hrombolyse oder einer pulmonalen Embolektomie bedürfen.
gensatz zu UFH und NMH ein chemisch deiniertes Molekül ohne Chargenvariabilität ist, muss es nicht nach seiner Aktivität dosiert werden, sondern wird in mg-Dosen verabreicht. Die pharmakokinetischen Eigenschaten von Fondaparinux erlauben ein einfaches Dosierungsregime. Bei allen Indikationen und Patienten wird einmal täglich eine entsprechende Fixdosis subkutan injiziert, wobei keine Gerinnungskontrollen erforderlich sind. Die Dosis in der Prophylaxe beträgt generell 2,5 mg. Bei der Dosierung in der herapie unterscheidet man im Gegensatz zu den NMH nur drei Körpergewichtsklassen: 50–100 kg o 7,5 mg, 100 kg o 10 mg. Bei älteren Patienten bzw. solchen mit einer leichten bis mittelgradigen Nierenfunktionsstörung ist ähnlich wie bei einigen NMH die Elimination verzögert. In der Regel kann das Regime beibehalten werden, allerdings darf die erste Injektion nicht früher als 6 h nach der Operation verabreicht werden. Bei schwerer Niereninsuizienz (Kreatinin-Clearance Abb. 20.19), sodass es deutlich lipophiler und außerdem leichter herzustellen ist. Im Vergleich zu Fondaparinux besitzt es eine 30-mal höhere Affinität zu Antithrombin, und mit 1240 aXa-U/mg
gegenüber 700 U/mg auch eine höhere aXa-Aktivität. Aufgrund seiner extrem langen Halbwertszeit von etwa 130 h muss es nur einmal wöchentlich subkutan injiziert werden und eignet sich daher für die antithrombotische Langzeitbehandlung in chronischen Situationen. Seit 2004 wird es in Phase-III-Studien zur Langzeittherapie von TVT und LE sowie zur Langzeit-Schlaganfallprophylaxe bei Vorhofflimmern als Alternative zu den Vitamin-K-Antagonisten geprüft.
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Die Glykosaminoglykane (GAG) der Vertebraten sind neben den sulfatierten Polysacchariden marinen Ursprungs die zweite Klasse natürlich vorkommender sulfatierter Polysaccharide. In Form der Proteoglykane bilden sie wichtige Bestandteile der extrazellulären Matrix (EZM) und der Glykocalyx tierischer Zellen. Proteoglykane (PG) besitzen sowohl mechanische Aufgaben als auch zellbiologische Funktionen, die auf ihren vielfältigen Interaktionen mit Proteinen beruhen. Als Komponenten der EZM fungieren sie als Wasserspeicher und Permeabilitätsbarriere und verleihen den Geweben mechanische Stabilität und viskoelastische Eigenschaften. Ferner beeinflussen sie die Zellproliferation und -differenzierung, die
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Bewegung und Funktionen von Zellen, die Embryogenese und die Entwicklung und Umbildung von Gewebe. Mit Ausnahme der Hyaluronsäure werden die GAG in Form hochmolekularer PG synthetisiert. Diese bestehen jeweils aus einem „core”-Protein, das glykosidisch mit einer oder mehreren (bis zu ~100) GAG-Ketten verknüpft ist. Die PG werden entweder in den Extrazellulärraum sezerniert, in die Zytoplasmamembran integriert oder in sekretorischen Granula gespeichert. Man unterscheidet sechs GAG-Typen: Hyaluronsäure (HA, syn. Hyaluronan), Keratansulfat (KS), Chondroitinsulfat (CS), Dermatansulfat (DS), Heparansulfat (HS) und Heparin. Es handelt sich um polydisperse, lineare, saure Heteroglykane. Die Disaccharideinheiten bestehen jeweils aus einem Aminozucker (GlcNAc, GalNAc)
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und einer Uronsäure (GlcA, IdoA) (Ausnahme: Galactose bei KS) und sind in einer oder mehreren Positionen sulfatiert (Ausnahme: HA unsulfatiert). Hyaluronsäure (HA) ist neben den CS die Hauptkomponente der EZM, wo sie häufig den Kern großer PG-Aggregate bildet. Die höchsten Konzentrationen sind in der Nabelschnur und der Synovialflüssigkeit zu finden, 50% der körpereigenen HA kommen in der Haut vor. Sie ist das GAG mit der höchsten Mr ; im Gegensatz zu den anderen GAG ist sie unsulfatiert und besteht aus eindeutigen „repeating units“. Wichtige Funktionen sind: Wasserspeicher, Gleitmittel, Diffusionsbarriere, mechanischer Schutz, Kittsubstanz, zellbiologische Funktionen. HA wird überwiegend aus Hahnenkämmen isoliert oder fermentativ gewonnen. Die stark wasserbindende, viskoelastische HA wird bei Gelenkbeschwerden, in der Augenchirurgie und in der Kosmetik verwendet. Keratansulfat (KS), auch als Polylactosamin bezeichnet, ist Bestandteil der typischen Cornea-PG (z. B. Keratocan, Lumican), ist aber auch in anderen Bindeund Stützgeweben und als Bestandteil von Glykoproteinen und Mucinen zu finden. Zusammen mit CS bildet KS den GAG-Anteil von Aggrecan, dem größten PG und außerdem Haupt-PG des Knorpels. KS wird im Gegensatz zu den anderen GAG derzeit nicht kommerziell verwendet. Der größte Anteil körpereigener GAG entfällt auf die Gruppe der Chondroitinsulfate (CS) mit den wichtigsten Vertretern CS-A, CS-B (Dermatansulfat) und CS-C. Sie sind die dominierenden Komponenten der PG von Knorpel und Knochen (z. B. Aggrecan), kommen aber auch verbreitet in anderen Bindegeweben und in der Glykocalyx von Zellen vor. Ein Beispiel ist das Thrombomodulin, das zum athrombogenen Charakter der Gefäßwände beiträgt. Die CS unterscheiden sich von den übrigen GAG durch ihren Aminozucker, nämlich Galactosamin- statt Glucosamin. CS-haltige Zubereitungen sind beliebt zur lokalen Behandlung stumpfer Traumen und als Nahrungsergänzung bei Beschwerden des Bewegungsapparates. Dermatansulfat (DS, CS-B) ist der charakteristische Bestandteil der PG der Haut (z. B. Decorin, Biglykan),
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ist aber wie CS auch in anderen Bindegeweben und der Glykocalyx zu finden (z. B. Gefäßwände). Gegenüber den übrigen CS zeichnet es sich durch einen höheren Sulfatierungsgrad aus sowie durch den Gehalt an Iduronsäure (statt Glucuronsäure), die dem DS-Molekül eine ausgesprochene Flexibilität verleiht. DS-PG sorgen u. a. für die Gewebeelastizität und fungieren neben HS als endogenes Antithrombotikum (HCII-vermittelte Thrombinhemmung). DS ist Bestandteil einiger medizinisch verwendeter GAG-Mischungen (Danaparoid-Natrium) und stellt eine typische Verunreinigung in Heparinpräparationen dar. Heparansulfat (HS) wird von nahezu allen Zelltypen synthetisiert und kommt sowohl als Komponente der Glykocalyx der Zellen als auch der Basalmembranen und EZM aller Gewebe weit verbreitet im Körper vor. HS-PG haben vielfältige physiologische Funktionen, die letztlich auf Interaktionen mit Proteinstrukturen beruhen. Dementsprechend unterliegen die HS-PG einem schnellen „turnover“, und die Struktur von HS ist ausgesprochen variabel. So sind z. B. heparinähnliche Domänen für die Funktion als endogenen Antithrombotikum verantwortlich. In reiner Form wird HS nicht verwendet, ist aber Bestandteil diverser GAG-Mischungen, u. a. Hauptkomponente von Danaparoid-Natrium. Heparin, das GAG mit dem höchsten Sulfatierungsgrad, ist mit HS verwandt, wird aber im Gegensatz zu HS nur von Mastzellen produziert, ist sekundär in größerem Umfang modifiziert (N-Deacetylierung, C-5-Epimisierung, Sulfatierung) und wird in Granula, überwiegend als freies GAG, gespeichert. Während seine physiologische Bedeutung unbekannt ist, ist Heparin der am häufigsten angewendete Arzneistoff tierischen Ursprungs. Aus Schweinedarmmukosa isoliertes Heparin – heute in Form der niedermolekularen Heparine (NMH) – ist seit mehr als 65 Jahren Mittel der Wahl in der Prophylaxe und Therapie thromboembolischer Erkrankungen. Seine antikoagulatorische Aktivität beruht in erster Linie, aber nicht ausschließlich, auf der AT-vermittelten Hemmung von Faktor Xa und Thrombin. Darüber hinaus Heparin besitzt ein weites Spektrum an biologischen Aktivitäten. Diese werden nachvoll-
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Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
ziehbar, wenn man Heparin als stärker geladenes Polyanion betrachtet, das mit den GAG um deren physiologischen Bindungspartner konkurriert. Die Hauptbedeutung von unfraktioniertem Heparin (UFH) liegt heute in seiner Anwendung als Antikoagulans in der Kardiologie und Herz-/ Thoraxchirurgie. Niedermolekulare Heparine (NMH) werden mittels unterschiedlicher Degradationsverfahren aus Schweineheparin hergestellt. Trotz ihrer Gemeinsamkeiten (mindestens 60% (m/m) mit einer Mr Einleitung Lectine gehören zur Superfamilie der Proteine, die mit Liganden Komplexe bilden. Ihre Bindungspartner sind Zuckerepitope zellulärer Glykokonjugate, also der Glykananteile von Glykoproteinen und Glykolipiden. Im Gegensatz zu Enzymen verändern Lectine diese Determinanten strukturell nicht. Diese Protein-Zucker-Wechselwirkung ist an einer Vielzahl von Steuerungsprozessen beteiligt. So betrifft sie u. a. die Qualitätskontrolle der Proteinfaltung, den intra- und interzellulären Transport von Glykokonjugaten sowie die Regulation der Proliferation, der Apoptose und der Zelladhäsion. Auch Abwehrmechanismen gegen Infektionen werden auf diese Weise gesteuert. Dem vielseitigen Funktionsprofil entsprechend sind Lectine in der Natur weit verbreitet. Pflanzen enthalten Lectine unterschiedlicher Zuckerspezifität in z. T. großen Mengen. Ihre technisch
21.1
Kohlenhydrate als vielseitige Informationsträger
Grundsätzlich können Lectine molekulare Botschaten in Zellen lesen und dann in biologische Efekte umsetzen. Diese Signale sind in der Sprache der Saccharide codiert. Sie bilden ein biochemisches Informationsspeichersystem beispiellos hoher Dichte, das als Zuckercode bezeichnet wird. Somit weisen Kohlenhydrate weit mehr biochemische Talente auf als ihnen bisher allgemein zugeschrieben wurde. Aufgrund der engen Funktionsbeziehung zwischen Lectinen und ihren Zuckerliganden beginnen wir dieses Kapitel mit der Besprechung der chemischen Voraussetzungen, die Kohlenhydrate zu ausgezeichneten Informationsträgern im Zuckercode werden lassen. Wenn von biologischer Informationsspeicherung und -übertragung die Rede ist, denkt man zuerst unwillkürlich an Nucleinsäuren, in zweiter Linie auch an die durch sie codierten Proteine. Dass diese Ansicht nicht mehr sachgerecht ist, ergibt sich aus der Betrachtung ihrer chemischen Eigenschaten. Nucleinsäuren und Proteine sind linear aufgebaute Makromoleküle. Jeder Baustein weist zwei Verknüpfungspunkte auf, sodass die resultierenden Bindungen (Phosphodiester- bzw. Peptidbindungen) bei allen Oligo- und Polymeren identisch sind. Verzweigungen kommen nur in Ausnahmefällen vor, z. B. nach Spleißen bei den entstehenden Lassostrukturen oder nach nichtribosomaler Knüpfung von Isopeptidbindungen. Hierin
einfache Reinigung durch Affinitätschromatographie, ihre Stabilität und ihre Spezifität für bestimmte Zuckerdeterminanten ermöglichen mannigfache Anwendungen der Lectine als Laborhilfsmittel. Die Entdeckung der immunmodulatorischen Aktivität von Lectinen hat zu Überlegungen geführt, sie medizinisch zu nutzen. Der Nachweis eines immunmodulatorischen Effektes bedeutet jedoch noch keinesfalls eine therapeutische Wirksamkeit, denn diese muss im Einzelfall überzeugend belegt sein. Veränderungen bestimmter immunologischer Parameter, z. B. der Stimulation der Sekretion proinflammatorischer Zytokine wie Interleukin-6, sind nach heutigem Kenntnisstand ambivalent zu werten. So ist es durchaus möglich, dass das Wachstum von Tumoren durch Zytokine angeregt wird. Daher muss in jedem Fall die Unbedenklichkeit der Immunmodulation rigoros gesichert werden.
. Abb. 21.1
Monosaccharide als Bausteine der Glykanketten zellulärer Glykokonjugate bieten deutlich mehr Verknüpfungsmöglichkeiten zur Synthese von Oligomeren als Nukleotide oder Aminosäuren. Mannopyranose (das 2-Epimer der Glucose) kann mit allen Hydroxylgruppen reagieren, wobei in Position 1 zudem die Anomerie variiert werden kann (z. B. finden sich in N-Glykanen sowohl α- als auch β-anomere Bindungen der Mannose; Reuter und Gabius 1999; s. auch > Tabelle 21.2, Spalte Oligosaccharid). Die auf das Molekül hin gerichteten Pfeile markieren die vier möglichen Verknüpfungs- und damit ggf. Verzweigungspunkte. Die vom anomeren Zentrum weg weisenden Pfeile deuten auf eine Kettenverlängerung und auf den Anknüpfungspunkt an ein Protein oder ein Lipid hin (so wird z. B. bei N-Glykanen die Säureamidfunktion von Asn im Sequon Asn-X-Ser/Thr durch GlcNAc substituiert)
21.1 Kohlenhydrate als vielseitige Informationsträger
liegen nun zwei grundlegende Unterschiede zu den Kohlenhydraten: x sie bieten mehr als zwei Verknüpfungspunkte, sodass Bausteine auf unterschiedliche Weise aneinandergereiht werden können, und x sie erlauben reguläre Einführung von Verzweigungen.
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> Abbildung 21.1 zeigt am Beispiel der Pyranoseform der Mannose, eines in Glykanen häuigen Monosaccharids, dass bei Zuckern mehrere Möglichkeiten bestehen, chemisch äquivalente Bindungen zu anderen Partnern zu knüpfen.
Infobox
Infobox Für Monosaccharide als Halbacetale ist die glykosidische Hydroxylgruppe charakteristisch, in > Abb. 21.1 gekennzeichnet durch zwei vom Molekül weg weisende Pfeile. Sie entsteht im Rahmen der Ringbildung durch Umwandlung der C=O-Doppelbindung am sp2-Kohlenstoffatom. Seine Elektronenkonfiguration wird demgemäß zur tetraedrisch konfigurierten sp3-Form. Dieses Kohlenstoffatom kann dann die neu gebildete Hydroxylgruppe in einer von zwei räumlich möglichen Orientierungen präsentieren. Die beiden geschaffenen Isomerieformen unterscheiden sich durch die axiale bzw. äquatoriale Orientierung dieser Hydroxylgruppe am anomeren Zentrum. Man bezeichnet sie mit den Buchstaben D und E. Aktivierte Zucker, die als Substrat für Glykosyltransferasen dienen, werden durch Anheftung von Nukleosiddi- bzw. Monophosphaten (UDP, GDP oder CMP) an diese Position gebildet. Die Glykosyltransferasen nutzen sie zur Kettenverlängerung, z. B. bei der Synthese von Glykogen, dem Energiespeicher höherer Tiere und des Menschen. In diesem besonderen Fall würde die fortlaufende D1,4-Verknüpfung mit UDP-Glc als Substrat nur zur Bildung linearer Polymere führen. Es werden aber zusätzlich zur linearen D1,4-Kettenstruktur Verzweigungen über D1,6-Bindungen eingeführt. Dadurch steigt die Zahl endständiger Glucosereste und damit die der Angriffspunkte beim Abbau, sodass die Glykogenolyse schneller ablaufen kann als bei einem unverzweigten Polymer. Auch die E-anomere 1,4-Bindung von Glucose kommt häufig in der Natur vor. Ein E1,4-verknüpftes Polymer ohne Verzweigung ist Cellulose, das Gerüst der Zellwände bei Pflanzen. Dieses Beispiel führt vor Augen, in welchem Umfang schon allein die Änderung der Anomerie biochemische Eigenschaften bestimmt. Neben den genannten Polymeren treten Zucker auch als Bestandteile vieler Proteine und Sphingolipide auf. In unserem Zusammenhang ist hervorhebenswert, dass Auftreten von Verzweigungen in Glykanketten zellulärer Glykokonjugate besonders ausgeprägt ist. Verzweigungen entstehen, wenn eine Zuckereinheit mit mehr als zwei Hydroxylgruppen am Aufbau des Oligo-
saccharids beteiligt ist. Wie in > Abb. 21.1 durch auf das Molekül hin weisende Pfeile gekennzeichnet, kann im Prinzip jede der vier verbliebenen Hydroxylgruppen, d. h. der primären an C-6 und der drei sekundären an C-4, C-3 und C-2, die nächste glykosidische Bindung zur Kettenverlängerung eingehen (1. Dimension des Zuckercodes). Da es ohne weiteres möglich ist, dass sich mehr als eine der genannten Hydroxylgruppen gleichzeitig an einer glykosidischen Bindung beteiligt, können problemlos verzweigte Oligosaccharide entstehen (2. Dimension des Zuckercodes). Somit ergibt sich bereits bei relativ kleinen Zuckerstrukturen eine hohe Strukturvielfalt, ein deutlicher Gegensatz zu den linearen Ketten der Nucleinsäuren oder Proteine. Dieser Unterschied lässt sich quantitativ erfassen. Nach den Gesetzen der Kombinatorik kann man berechnen, wie viele Möglichkeiten es theoretisch gibt, eine bestimmte Anzahl von Bausteinen miteinander zu Oligomeren (Codewörtern) zu kombinieren. Wenn man diese Abschätzung auf Hexamere beschränkt, ergeben sich aus den 20 in Proteinen vorkommenden Aminosäuren 6,4 × 107 (206) Hexapeptide, bei Kohlenhydraten jedoch erheblich mehr, nämlich insgesamt 1,44 × 1015 lineare und verzweigte Hexasaccharide (Laine 1997). Nicht in dieser Berechnung berücksichtigt sind die zusätzlichen Variationsmöglichkeiten, die dadurch entstehen, dass Hydroxylgruppen der Kohlenhydrate zudem durch Acetyl-, längerkettige Acyl-, Methyl-, Sulfat- und Phosphatgruppen substituiert werden können. Eine solche chemische Änderung bei Buchstaben des Zuckeralphabets entspricht der Umlautbildung in unserer Schrift. So begründet die Möglichkeit zu N- und O-Sulfatierung der Grundsequenz [GlcNAcD4GlcAE4] neben der C-5-Epimerisierung von D-Glucuronsäure zur L-Iduronsäure die erstaunlich hohe Mikroheterogenität in Heparin/Heparansulfat (Kresse 1997; Reuter und Gabius 1999). O-Acetylierung von Sialinsäuren, ein weiteres Beispiel für Umlautbildung im Zuckercode, hat gleichfalls klinische Relevanz, weil es primärer Andockpunkt von Viren wie Influenza C und Rindercoronaviren ist (Reuter und Gabius 1999).
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Pflanzliche Lectine: Vorkommen, Eigenschaften, Analytik und Bewertung medizinischer Anwendung
Infobox Die Biosynthesen der Primärstrukturen von Nucleinsäuren bzw. Proteinen und der komplexen Kohlenhydrate zellulärer Glykoproteine und -lipide unterscheiden sich grundlegend. Nucleinsäuren werden synthetisiert, indem mit Hilfe von Polymerasen von einer Vorlage eine komplementäre Kopie hergestellt wird. Das Grundprinzip ist somit bestechend einfach, und das Produkt der Polymeraseaktivität ist vollständig vorhersagbar, was z. B. analytisch im PCR-Verfahren genutzt wird. Auch die Synthese von Proteinen folgt dem Prinzip der Basenkomplementarität. Hingegen gibt es für die Sequenz der Glykanketten der Glykokonjugate keine strikte Vorgabe. Die Entscheidung über die Syntheseroute wird von mehreren fein regulierten Faktoren getroffen, so vom Vorhandensein oder der Aktivität der an dieser Stelle erforderlichen Enzyme (Glykosyltransferasen, Glykosidasen), der Verfügbarkeit der Substrate (aktivierte Zucker), die ihrerseits enzymatisch hergestellt und durch membranständige Transportproteine an ihren Einsatzort gebracht werden, von der Konkurrenz verschiedener Enzyme um dasselbe Substrat und schließlich von der relativen Topologie der Reaktionspartner innerhalb der Zelle (Brockhausen und Schachter 1997; Reuter und Gabius 1999). Auch die Natur des Trägerproteins der Glykanketten spielt eine wichtige Rolle. So erhalten bestimmte Glykoproteine wie Hypophysenhormone zur Regulation ihrer Bioverfügbarkeit besondere Zuckersignale. Selbst im endoplasmatischen Retikulum, dem Startpunkt der Prozessierung von Glykanketten, erweisen sich N-Glykane schon als wichtig. Lectine des intrazellulären Korrek-
tursystems prüfen nämlich die Faltung neusynthetisierter Glykoproteine. Fehler können entweder korrigiert werden oder dienen als Signal zur Einleitung der Proteolyse. Um posttranslational Glykanketten in Proteine einzuführen, gibt es nach heutigem Kenntnisstand 41 verschiedene Arten von Zucker-Peptid-Bindungen. Mit weit mehr als der Hälfte aller Proteine nimmt die Glykosylierung auch in der Häufigkeit unter den posttranslationalen Modifizierungen die führende Position ein. Am weitesten verbreitet auf Glykoproteinen sind N-Glykane, die in E1-glykosidischer Bindung am Stickstoffatom der Säureamidfunktion von Asn des Sequons Asn-X-Ser/Thr angeheftet werden, und die mucinartigen O-Glykane, bei denen Ser oder Thr des Proteinteils mit ihrer Hydroxylgruppe als Akzeptoren dienen (Spiro 2002). Als Folge der oben skizzierten Strategie und der großen Zahl der Glykosylierungsarten ist das Profil der Glykanketten natürlicher Glykokonjugate (das Glycom) ausnehmend vielgestaltig. Zudem können fertige Glykanketten, die bereits in die Zelloberfläche eingebaut worden sind, noch nachträglich modifiziert (prozessiert) werden. Dies ist ein idealer Weg, in vivo Signale bei Bedarf an- oder abzuschalten, z. B. durch Abspaltung/Anheftung von Sialinsäureresten. Somit bieten Glykane attraktive Voraussetzungen für die Erfüllung zahlloser Aufgaben bei der intra- und interzellulären Kommunikation. Für den Analytiker schafft diese beispiellose Vielfalt jedoch ein kompliziertes Problem, wenn die Struktur von Glykanen bestimmt werden soll.
Infobox
Die genannten chemischen Eigenschaten sind die Voraussetzung für die enorme Vielfalt an Strukturvarianten von Oligosacchariden in Glykanketten. Ihre Kartierung („glycomic proiling“) erfolgt durch Fraktionierung, Reinigung und Sequenzierung. Neben der Sequenz (Abfolge der Bausteine) müssen zudem, wie oben als Faktoren zur Strukturvariabilität deiniert, Positionen der Verknüpfungspunkte und Art der Anomerie bestimmt werden. Die strategische Kombination von Massenspektrometrie mit NMR-Spektroskopie sowie die Nutzung epitopspeziischer Sonden ( > Abschnitt 7) waren wegweisend für die grundsätzliche Lösung dieser Aufgabe (Reuter und Gabius 1999). Da der Umfang dieses analytischen Problems mit der wachsenden Strukturvariabilität zunimmt, ist es selbstverständlich, dass die Entwicklung von Methoden zur Glykansequenzierung deutlich schwieriger war als die
Neben ihrer Strukturvielfalt (1. und 2. Dimensionen des Zuckercodes) weisen Oligosaccharide eine weitere Eigenschaft auf, die sie als Informationsüberträger besonders qualifiziert. Während Peptide hochgradig flexibel sind, nehmen Oligosaccharide in Lösung häufig nur wenige energetisch bevorzugte Konformationen ein (Gabius 2000; Gabius et al. 2004; Siebert et al. 2006). Das bedeutet für die Funktionsweise als Ligand, dass die Bindung in einer solchen Topologie entropisch begünstigt ist (Gabius 1998). Folgerichtig ist die Affinität dieses Liganden zum Rezeptor (Lectin) höher als die eines flexiblen Bindungspartners, der erst durch Bindung in der geeigneten Konformation arretiert wird. Wir definieren diesen Aspekt als 3. Dimension des Zuckercodes (Gabius et al. 2004).
21.2 Lectine als Bindungspartner für zelluläre Glykane
Analyse von Proteinen und Nucleinsäuren. Als Codewörter im Konzept des Zuckercodes (Rüdiger et al. 2000a,b) können diese Strukturen nur wirken, wenn ihre Botschat „abgelesen“ wird. Aufgrund ihrer begrenzten Flexibilität ( > Infobox S. 708 unten) bilden sie in Lösung in der Regel nur wenige „schlüsselartige“ Konformationen. Die Funktion des „Schlosses“ übernehmen die Lectine, eine große Proteinfamilie mit der Fähigkeit zur Bindung von Zuckern, die wir im nächsten Abschnitt besprechen.
21
. Abb. 21.2a,b
! Kernaussagen
Kohlenhydrate (Oligosaccharide) bieten relativ zu Nucleinsäuren oder Proteinen erheblich mehr strukturelle Variationsmöglichkeiten bei vergleichbarer Größe. Die Gründe hierfür sind folgende Strukturmerkmale: x die glykosidische Hydroxylgruppe entweder D- (axial) oder E-konfiguriert (äquatorial) präsentieren zu können, x alle verfügbaren Hydroxylgruppen an glykosidischen Bindungen beteiligen zu können, was zu Verzweigungen der Kette führen kann, und x freie Hydroxylgruppen als Akzeptoren für eine breite Palette organischer und anorganischer Gruppen zur Substitution anzubieten (1. und 2. Dimensionen des Zuckercodes).
Zudem ist die intramolekulare Flexibilität von Oligosacchariden in der Regel deutlich geringer als bei Oligopeptiden (3. Dimension des Zuckercodes). Die Bindungsreaktion einer energetisch bevorzugten Konformation (Konformerenselektion) ist daher enteropisch begünstigt. Oligosaccharide verfügen damit über einzigartige Voraussetzungen für die Speicherung und Weitergabe von biologischen Informationen mit hoher Dichte, wie es auf Zelloberflächen notwendig ist.
21.2
Lectine als Bindungspartner für zelluläre Glykane
Die Verbindung zwischen der Information, biochemisch niedergelegt in Glykandeterminanten, und biologischen Reaktionen, z. B. bei der Infektionsauslösung durch Andocken von Bakterien und Viren, erfolgt durch zuckerbindende Rezeptoren (Übersichten in Gabius und Gabius
a
b Molekulare Prinzipien der Lectin-Zucker-Erkennung am Beispiel von D-Galactose, einem in N-Glykanketten häufig terminal positionierten und damit räumlich leicht zugänglichen Zucker. Gerichtete Wasserstoffbrücken mit Aminosäureseitenketten (z. B. His oder Asp) und Stapelung bzw. C-H/π-Wechselwirkungen mit der aromatischen Indolgruppe des Tryptophans (Trp) bestimmen die Spezifität und die enthalpische Bilanz der Reaktion (die Beteiligung der axialen 4-Hydroxylgruppe sichert die Spezifität der Erkennung von Gal gegenüber Glc/Man) (a). Positionierung des Zuckerliganden (GlcNAcβ4GlcNAc) relativ zu den aromatischen Aminosäuren Trp21, Trp23 und Tyr30 im Lectin Hevein ( > Tabelle 21.2, Spalte Euphorbiaceae) (b)
709
710
21
Pflanzliche Lectine: Vorkommen, Eigenschaften, Analytik und Bewertung medizinischer Anwendung
1997). Wie erklärt sich die Ainität zwischen einem Zucker als Ligand und seinem Bindungsprotein? Das Andocken von Zuckerliganden an ihre Rezeptoren wird auf atomarer Ebene primär durch gerichtete Wasserstofbrücken und molekulare Stapelung („stacking“) ermöglicht ( > Abb. 21.2a). Deshalb nehmen in der Regel polare und aromatische Seitenketten an der Bindungsreaktion teil. Wo ein Disaccharid zu geeignet positionierten Aminosäureseitenketten der Bindungstasche eines kleinen Bindungsproteins in Kontakt tritt, wird in > Abb. 21.2b illustriert. Besonders die Aminosäure Tryptophan (Trp)
dient als wichtiger Kontaktpunkt für Zucker. Neben der Stapelung bringt die C-H/S-Bindung zwischen Trp und Galactose energetisch einen zusätzlichen Gewinn ein. Dies ist ein Grund dafür, dass diese Aminosäure trotz ihrer komplizierten Biosynthese ihren Platz in Proteinen hat. Wird sie durch gezielte Mutation aus der Bindungstasche entfernt, verliert das betrofene Protein folgerichtig seine Ainität zum Zuckerliganden. Proteine mit der Fähigkeit zur Zuckerbindung heißen Lectine, deren Namen von lateinisch „legere“ für „auswählen“ abgeleitet wurde.
Infobox Die Geschichte der Lectinologie begann 1860 mit der Beobachtung von Silas Weir Mitchell, dass tierische Sekrete (Gift der Klapperschlange Crotalus durissus) Erythrozyten zusammenballen, agglutinieren ( > Tabelle 21.1). In > Abb. 21.3 wird das typische Resultat eines Hämagglutinationstestes gezeigt. Einige Jahre später (1888) entdeckte der Doktorand Hermann Stillmark an der Universität Dorpat (Estland, jetzt Tartu), dass auch Extrakte aus Pflanzensamen (u. a. der Rizinusbohne) diese Fähigkeit aufweisen, und dass es sich bei dem dafür verantwortlichen Faktor um ein Protein („Phytalbumose, zur Gruppe der ‚ungeformten Fermente‘ gehörend”; Stillmark 1888) handeln müsse, später als Ricin bekannt geworden. Stillmark beendet seine Doktorarbeit wegweisend mit folgenden Worten: „Theils die Kostspieligkeit der Versuche, theils Mangel an Zeit verhindern mich, die sich im Laufe der Arbeiten bietenden neuen Fragen (z. B. nach der Natur des fibrinartigen Körpers) selbst zu lösen: aber auch schon zu neuen Fragen Anregung gegeben zu haben, ist ein Verdienst!” Stillmarks Doktorvater Rudolf Kobert gehörte zu den Gründervätern der damals neu etablierten Disziplin der Toxikologie. Kobert stammte aus Bitterfeld, nahm 1886 einen Ruf auf die im russischen Zarenreich gelegene deutschsprachige Universität Dorpat an, entzog sich aber bereits 1897, obwohl von staatlicher Seite hoch geehrt (er war „Kaiserlich Russischer Staatsrath”), dem Druck zur Russifizierung und ging später an die Universität Rostock. Weitere Arbeiten aus der Dorpater Schule zeigten, dass auch Extrakte aus anderen Pflanzensamen (Croton tiglium, Abrus precatorius) diese agglutinierende Aktivität aufwiesen. Daher wurde für diese Proteinfraktion aus Pflanzen zunächst der Name
6
„(Phyto)hämagglutinine” geprägt ( > Tabelle 21.1). Dass der Ligand auf der Oberfläche der Erythrozyten chemisch ein Kohlenhydrat sein könne, vermutete 1936 der spätere Nobelpreisträger (1946) James B. Sumner für das von ihm erstmalig isolierte Lectin Concanavalin A ( > Tabelle 21.1). Er beschrieb seine bahnbrechende Entdeckung wie folgt:„Concanavalin A unites with some constituent of the stromata and, since concanavalin A unites with starch, glycogen, mucins, etc., it is possible that this may be a carbohydrate group in a protein” (Sumner u. Howell 1936). Wie in Abschnitt 21.7 über die Anwendung näher erläutert, machte die Arbeit mit blutgruppenspezifischen Agglutininen den Nachweis der chemischen Struktur der Determinanten für ABH-Blutgruppen möglich. Auf diesem Sektor wurde in Ermangelung eines eigenen Begriffes in der Tradition des Entdeckers menschlicher Blutgruppen (Karl Landsteiner im Jahre 1900; Übersicht in Schwarz und Dorner 2003) häufig noch von Antikörpern gesprochen, wenn blutgruppenspezifische Agglutinine gemeint waren. Die Entdeckung blutgruppenspezifischer Phytohämagglutinine veranlasste einen der Pioniere auf diesem Gebiet, William C. Boyd, für diese Substanzgruppe den Begriff „Lectine” vorzuschlagen, abgeleitet vom lateinischen Verb „legere” für „auswählen”. Er begründete seinen Vorschlag mit folgenden Worten: „It would appear to be a matter of semantics as to whether a substance not produced in response to an antigen should be called an antibody even though it is a protein and combines specifically with certain antigen only. It might be better to have a different word for the substances and the present writer would like to propose the word lectin from Latin lectus, the past principle of legere meaning to pick, choose or select” (Boyd 1954).
21.2 Lectine als Bindungspartner für zelluläre Glykane
21
. Tabelle 21.1 Ausgewählte Meilensteine in der Geschichte der Lectinologie 1860
Erster Nachweis eines Lectins anhand der Beobachtung von Blutkoagulation (Taubenblut) durch Gift der Klapperschlange Crotalus durissus (S.W. Mitchell)
1888
Entdeckung der Fähigkeit einer Proteinfraktion aus Rizinusbohnen, rote Blutkörperchen (Erythrozyten) zu agglutinieren und giftig zu sein (H. Stillmark)
1891
Anwendung toxischer pflanzlicher Lectine als Antigene (P. Ehrlich)
1898
Einführung der Begriffe „Hämagglutinin” bzw. „Phytohämagglutinin” für pflanzliche Proteine, die Erythrozyten agglutinieren (M. Elfstrand)
1907
Entdeckung ungiftiger pflanzlicher Agglutinine (K. Landsteiner, H. Raubitschek)
1913
Nutzung intakter Zellen zur Anreicherung von Lectinen als früher Vorläufer der 1965 eingeführten Affinitätschromatographie (R. Kobert)
1919
Erstmalige Kristallisation eines Lectins, Concanavalin A (J.B. Sumner)
1936
Hinweise auf Zuckerabhängigkeit der Hämagglutination durch Concanavalin A (J.B. Sumner, S.F. Howell)
1947/48
Entdeckung von pflanzlichen Lectinen, die menschliche Erythrozyten bestimmter Blutgruppen des ABH-Systems spezifisch agglutinieren (W.C. Boyd, K.O. Renkonen; >Tabelle 21.2)
1952/53
Nachweis der Kohlenhydratnatur von ABH-Blutgruppendeterminanten durch Inhibition der lectinabhängigen Agglutation menschlicher Erythrozyten der Blutgruppe H(O) bedingt (Lectine des Aals und der Leguminose Lotus tetragonolobus), durch L-Fucose (W.M. Watkins, W.T.J. Morgan)
1954
Einführung des Begriffs „Lectin” für ABH-blutgruppenspezifische pflanzliche Agglutinine, die in ihrer Spezifität bei der Auswahl der Liganden Antikörpern ähneln (W.C. Boyd). Später wurde die Bedeutung dieses Begriffes mehrfach bis zur heute verwendeten Form geändert ( > Zeile 1981–1988).
1960
Entdeckung mitogener Stimulation von Lymphozyten am Beispiel des Lectins aus der Gartenbohne Phaseolus vulgaris (P.C. Nowell)
1965
Einführung der Affinitätschromatographie zur Isolierung von Lectinen (I.J. Goldstein, B.B.L. Agrawal)
1972
Erstmalige Bestimmung der vollständigen Aminosäuresequenz und der dreidimensionalen Struktur eines Lectins, Concanavalin A (G.M. Edelman, K.O. Hardman, C.F. Ainsworth et al.)
1977
Einführung der Affinitätselektrophorese zur Bestimmung der Assoziationskonstanten von Zuckern an Lectine sowie der pH-Abhängigkeit dieser Aktivität (J. Kocourek)
1978
Erste Konferenz der seitdem regelmäßig stattfindenden Serie internationaler Lectin-Konferenzen „Interlec” (T.C. Bøg-Hansen)
1979
Entdeckung endogener Bindungspartner für pflanzliche Lectine (H. Rüdiger)
1981–1988
Definition des Begriffes Lectin als zuckerbindendes Protein, abgegrenzt von Enzymen, die ihre Liganden als Substrat nutzen, von zuckerbindenden Antikörpern und von Transport- und Chemotaxisproteinen, die freie Mono- und Oligosaccharide binden (S.H. Barondes, J. Kocourek, N. Sharon et al.)
1982
Erstmalige Durchführung der seriellen Affinitätschromatographie an immobilisierten Lectinen zur Strukturanalytik von Glykanen (R.D. Cummings, S. Kornfeld)
1983
Entdeckung der insektiziden Wirkung pflanzlicher Lectine (L.L. Murdock)
1985
Einführung der Frontalchromatographie zur Bestimmung der Assoziationskonstanten von Zuckerliganden an Lectine (K.-I. Kasai) und erstmaliger Einsatz immobilisierter Glykoproteine (Mucin, Ovomucoid) als allgemein nutzbare Affinitätsliganden zur Isolierung unterschiedlicher Lectine an einer Säule und zur Trennung von Lectingemischen (H. Rüdiger)
6
711
712
21
Pflanzliche Lectine: Vorkommen, Eigenschaften, Analytik und Bewertung medizinischer Anwendung
. Tabelle 21.1 (Fortsetzung) 1989
Entdeckung der fungiziden Wirkung eines pflanzlichen Lectins (W.J. Peumans)
1995
Erstmalige strukturelle Analyse eines (Hevein-)Lectin-Liganden Komplexes in Lösung durch NMR-Spektroskopie (J. Jiménez-Barbero et al.)
1996–2003
Entdeckung der spezifischen Selektion bestimmter Konformere des Zuckerliganden (3. Dimension des Zuckercodes) bei Bindung an pflanzliche, tierische und bakterielle Lectine (H.-J. Gabius, L. Poppe, H.-C. Siebert et al.); die unterschiedliche Konformerenselektion ist für rationale Planung der Arzneistoffsynthese (Drug Design) relevant
1998–2001
Beschreibung der therapeutischen Ambivalenz der lectinabhängigen Immunmodulation (H.-J. Gabius et al., E. Kunze et al., A.V. Timoshenko et al.)
2001–2004
Fortschritte der Lectinforschung, darüber hinaus der Glykowissenschaften insgesamt, gewürdigt durch Herausgabe von Sonderheften der Zeitschriften Advanced Drug Delivery Reviews, Biochimica et Biophysica Acta, Biochimie, Biological Chemistry, Cells Tissues Organs, Chemical Reviews, Current Opinion in Structural Biology, Glycoconjugate Journal, Journal of Agricultural and Food Chemistry („Liener Symposium”) und Science zu diesem Themenkreis
Die in obiger Infobox mit den Worten des Autors wiedergegebene Deinition beruht damit auf der Fähigkeit bestimmter planzlicher und auch viraler, bakterieller und tierischer Proteine, wie Antikörper blutgruppenspeziisch als Agglutinin zu wirken. Ein Nachweis dieser Aktivität im klassischen Laborversuch wird in > Abb. 21.3 gezeigt. In den folgenden Jahrzehnten nach Erscheinen der zitierten . Abb. 21.3
Typisches Resultat eines Hämagglutinationstests mit trypsinbehandelten und glutaraldehydfixierten Kaninchenerythrozyten. In der ersten und dritten Reihe wurden lectinhaltige Lösungen getestet, in der zweiten und vierten Reihe wurde der jeweiligen Testlösung der inhibierende Zucker zugesetzt, um die Abhängigkeit der Aktivität von der Zuckerbindung zu belegen. Am rechten Rand wird ein Kontrollwert (ohne Zusatz von Testsubstanz = Nullwert) gezeigt
Originalveröfentlichung von Boyd (1954) wurde die ursprüngliche Begrifsdeinition mehrfach modiiziert und in die heute allgemein akzeptierte Fassung gebracht. Wir erläutern sie in folgender Infobox. Infobox Lectine sind (Glyko)proteine, die vor allem Zucker der Glykandeterminanten in Ketten zellulärer Glykokonjugate binden. Der ursprüngliche Bezug der Definition zur zuckerabhängigen Agglutination von Zellen, wozu mindestens zwei Bindungsstellen in einem Lectin erforderlich sind, wurde fallengelassen. Somit können auch monomere Proteine mit nur einer Zuckerbindungsstelle, die zwar mit der Erythrozytenoberfläche reagieren, die Zellen aber nicht zur Agglutination bringen können, oder Proteine mit außergewöhnlicher Zuckerspezifität, die nicht mit den auf Erythrozyten vorhandenen Glykanen interagieren, als Lectine gelten. Ein definitives Ausschlusskriterium gilt für alle Antikörper (Immunglobuline) und Transport- und Chemotaxisproteine für freie Mono- und Disaccharide. Lectine werden ferner strikt von Enzymen abgegrenzt, die die Struktur des gebundenen Liganden (Substrat) verändern. Hierzu gehören Glykosyltransferasen, Glykosidasen und Enzyme wie Sulfotransferasen, die o. g. Substitutionen in die Glykankette einführen. Ein interessantes begriffs-
6
21.3 Weite Verbreitung pflanzlicher Lectine
21
. Abb. 21.4a,b technisches Problem stellen Proteine dar, die verschiedene Module (Zentren für Funktionalität) enthalten, z. B. mikrobielle Cellulasen. Beim Abbau von Polysacchariden ist die Anwesenheit einer Lectindomäne in relativer Nähe zum Glycosidasezentrum strategisch günstig für die optimale Positionierung der Enzymdomäne (Tomme et al. 1995; Khosla u. Harbury 2001). Das zuckerbindende Modul in einem bifunktionalen Protein ist räumlich von der enzymatischen Domäne getrennt. Das modulare Gesamtprotein ist damit sowohl Lectin als auch Enzym. Strukturell werden bei solchen mikrobiellen Enzymen 29 Familien von Modulen mit Zuckerbindungsfähigkeit unterschieden. Wir möchten aus folgendem besonderen Grund die Mitglieder der Familie 13 hervorheben. Sie weisen das E-trefoil (Kleeblatt-)Faltungsmuster auf, das zuerst für das o. g. Lectin Ricin ( > Infobox S. 710) beschrieben wurde (Fujimoto et al. 2002; Loris 2002; Notenboom et al. 2002). Auch tierische Lectine (cysteinreiche Domäne des mannosespezifischen Makrophagenrezeptors, Fibroblastenwachstumsfaktor-2) und N-Acetylgalactosaminyltransferasen haben diese Kleeblattstruktur (Loris 2002; Tenno et al. 2002), ein bemerkenswertes Beispiel für das Auftreten einer Faltungstopologie sowohl in pro- als auch in eukaryontischen Lectindomänen, und hier bei Pflanzen und bei Tieren.
a
! Kernaussage
Lectine sind x zuckerbindende (Glyko)Proteine, x keine Antikörper (Immunglobuline), x keine Transport- oder Chemotaxisproteine für freie Mono- oder Disaccharide, x keine Enzyme, die ihren Liganden als Substrat behandeln.
21.3
Weite Verbreitung pflanzlicher Lectine
Warum suchte man intensiv nach Lectinen in Planzen? Historisch war der Anlass zur breit angelegten Suche nach planzlichen Lectinen der Wunsch, Agglutinine mit ABH(0)-Blutgruppenspeziität zu inden (Renkonen 1948; Boyd und Reguera 1949; > auch Abschnitt 21.7). Den Anlass für weitere systematische Studien liefert bis
b Vorkommen von Lectinen in höheren Pflanzen (a) und Anzahl von Pflanzenfamilien, in denen mehrere lectinhaltige Arten vorkommen (b). Die Größe der Segmente gibt die aktuell (2003) dokumentierte Anzahl von lectinhaltigen Spezies an
heute die Suche nach Laborhilfsmitteln für unterschiedliche Testverfahren ( > Abschnitt 21.7). > Abbildung 21.4a gibt einen Eindruck von der weiten Verbreitung der Lectine im Planzenreich. Den Schwerpunkt ihres Vorkommens bilden die dikotylen Planzen. Unter ihnen nimmt, wie > Abb. 21.4b zeigt, die Familie der Leguminosen eine herausragende Position ein. Sie ist auch aus > Tabelle 21.2 zu entnehmen, in der wir repräsentative Beispiele aufführen. Da aus praktischen Gründen bisher vor allem
713
714
21
. Tabelle 21.2 Beispiele für die Mannigfaltigkeit pflanzlicher Lectine (Familien und Spezies sind alphabetisch angeordnet) Familie
Lectinname, übliche Abkürzung
Gehalt (mg/100 g Material)
Mono- oder Disaccharidspezifität
Oligosaccharid [Affinität relativ zu der des Monosaccharids]
Bemerkungen
Amaryllidaceae
Galanthus nivalis L., Schneeglöckchen
GNA
500
Man
ManD6(ManD3)ManDR [28]
Erkennt im Gegensatz zu den Man/Glcbindenden Leguminosenlectinen ausschließlich Man; insektizide Aktivität; transgene, das GNA-Gen enthaltende Pflanzen werden gegenwärtig auf Entwicklung von Resistenz gegen Insekten untersucht
Caprifoliaceae
Sambucus nigra L., Holunder, Flieder
SNA
3600
Gal, GalNAc
Neu5AcD6GalE4Glc [1600]
6-Substitution von Gal oder GalNAc durch Neu5Ac erhöht die Affinität; Sonde für D6-sialylierte Glykokonjugate
Euphorbiaceae
Hevea brasiliensis H. B. K. Muell. Arg., Parakautschukbaum
Hevein
930 (pro 100 g Latex)
GlcNAc
GlcNAcE4GlcNAcE4GlcNAc [290]
Fungizide Aktivität; Allergen in Gummiwaren minderer Qualität
Ricinus communis L., Rizinusbohne
Ricin
1400
Gal
GalE4GlcNAcE2ManD6(GalE4GlcNAcE2ManD3)ManE4Glc NAc [50]
Ein ribosomeninaktivierendes Protein vom Typ II (RIP-II); Verwendung zur Herstellung von Immuntoxinen; hochgiftig
Gramineae
Triticum vulgare L., Weizen
wheat germ agglutinin, WGA
45
GlcNAc, Neu5Ac (3- bis 5-mal schwächer als GlcNAc)
GlcNAcE4(GlcNAcE)34GlcNAc [5900]
Möglicherweise an pflanzlichen Abwehrmechanismen beteiligt
Leguminosae
Abrus precatorius L., Paternostererbse
Abrin
75
Gal
GalE3GalNAc [3]
Ein ribosomeninaktivierendes Protein vom Typ II (RIP-II); Verwendung zur Herstellung von Immuntoxinen ( > Ricin)
Arachis hypogaea L., Erdnuß
peanut agglutinin, PNA
190
Gal
GalE3GalNAcD (TF-Antigen) [55]
Häufig in der Histochemie verwendet
Pflanzliche Lectine: Vorkommen, Eigenschaften, Analytik und Bewertung medizinischer Anwendung
Spezies
. Tabelle 21.2 (Fortsetzung) Familie
Leguminosae
Gehalt (mg/100 g Material)
Mono- oder Disaccharidspezifität
Oligosaccharid [Affinität relativ zu der des Monosaccharids]
Bemerkungen
Bauhinia purpurea DC. ex Walp., Orchideenbaum
BPA
28
GalNAc
GalE3GalNAcD [30]
Anreicherung von B-Lymphozyten; Isolierung von T-Zellen, die IL-2 produzieren
Canavalia ensiformis L. (DC.), Schwertbohne
Concanavalin A, ConA
2100
Man, Glc
GlcNAcE2ManD6(GlcNAcE2ManD3)ManE4GlcNAc [4200]
Das preiswerteste und am häufigsten verwendete Lectin (zur historischen Bedeutung > Tabelle 21.1)
Dolichos biflorus L., engl.: „horse gram“
DBA
110
GalNAc
GalNAcD3GalNAcD3GalE [62]
Zellfraktionierung; agglutiniert Erythrozyten der Blutgruppe A
Erythrina corallodendron L., Korallenbaum
ECA
150
Gal, GalNAc
GalE4GlcNAcE2ManD6(GalE4GlcNAcE2ManD3)ManE4GlcNAc [40]
Mitogen für menschliche Lymphozyten
Glycine max (L.) Merr., Sojabohne
soybean agglutinin, SBA
300
GalNAc, Gal
GalNAcD3Gal [4]
Fraktionierung von Zellen, z. B. Knochenmarkzellen, und Glykolipiden
Griffonia simplicifolia (Vahl ex DC.) Baill. (früher auch: Bandeiraea simplicifolia (DC.) Benth.)
GSA-I (Isolectine A4, A3B, A2B2, AB3 und B4)
700
GalNAc (Isolectin A4), Gal (Isolectin B4)
GalNAcD3Gal [48] (Isolectin A4), GalD3Gal [4] (Isolectin B4)
Das Isolectin A4 agglutiniert Erythrozyten der Blutgruppe A, das Isolectin B4 solche der Blutgruppe B
GSA-II
300
GlcNAc
GlcNAcE4GlcNAc [3,4]
Insektizid, möglicherweise an pflanzlichen Abwehrmechanismen beteiligt
Lens culinaris Medik., Linse
LCA
60
Man, Glc
Neu5AcD6GalE4GlcNAcE2ManD6(Neu5AcD6GalE4GlcNAcE2ManD3)ManE4GlcNAcE4(FucD6)GlcNAcEAsn [6300]
Starke Erhöhung der Affinität zu N-Glykanen durch Fucosylierung des am Asngebundenen GlcNAc-Restes ( > Pisum sativum und Vicia faba)
21
Lectinname, übliche Abkürzung
21.3 Weite Verbreitung pflanzlicher Lectine
Spezies
715
716
Familie
Lectinname, übliche Abkürzung
Gehalt (mg/100 g Material)
Mono- oder Disaccharidspezifität
Oligosaccharid [Affinität relativ zu der des Monosaccharids]
Bemerkungen
Lotus tetragonolobus L., auch: Tetragonolobus purpureus Moench., Spargelerbse
LTA
65
L-Fuc
FucD6GlcNAc [6,5]
Agglutinin für Erythrozyten der Blutgruppe 0 (H), Präferenz für Typ 2
Maackia amurensis Rupr. et Maxim.
MAA
680
Gal, GalNAc
Neu5AcD3GalE4Glc [>50]
3-Substitution von Gal oder GalNAc durch Neu5Ac oder andere saure Kohlenhydrate erhöht die Affinität; Sonde für D3-sialylierte Glykokonjugate
Phaseolus lunatus limensis L., Limabohne
Lima bean lectin, LBL
161
GalNAc
GalNAcD3(FucD2)GalE-R [43]
Agglutinin für Erythrozyten der Blutgruppe A (historisch bedeutsam; Boyd und Reguera 1949, > Tabelle 21.1)
Phaseolus vulgaris L., Gartenbohne
Phytohämagglutinin, PHA
1200
Kein Monooder Disaccharid als potenter Ligand bekannt
GalE4GlcNAcE2ManD6(GlcNAcE2ManD3)(GlcNAcE4) -ManE4GlcNAc
Isolectin L4 ist ein starkes Mitogen für T-Lymphozyten, Isolectin E4 ein starkes Agglutinin für Erythrozyten; es unterscheidet zwischen „bisected” und „nichtbisected” N-Glykanen
Pisum sativum L., Erbse
PSA
140
Man, Glc
Neu5AcD6GalE4GlcNAcE2ManD6(Neu5AcD6GalE4GlcNAcE2ManD3)ManE4GlcNAcE4(FucD6)GlcNAcEAsn [780]
Starke Erhöhung der Affinität zu N-Glykanen durch Fucosylierung des am Asn-gebundenen GlcNAc-Restes ( > Lens culinaris und Vicia faba)
Ulex europaeus L., Stechginster
UEA-I
16
L-Fuc
FucD2GalE4GlcNAcE6R [909]
Agglutinin für Erythrozyten der Blutgruppe 0 (H), Präferenz für Typ 2
Vicia faba L., Pferde-, Saubohne
VFA
30
Man, Glc
Neu5AcD6GalE4GlcNAcE2ManD6(Neu5AcD6GalE4GlcNAcE2ManD3)ManE4GlcNAcE4(FucD6)GlcNAcEAsn [780]
Starke Erhöhung der Affinität zu N-Glykanen durch Fucosylierung des am Asn-gebundenen GlcNAc-Restes ( > Lens culinaris und Pisum sativum)
Pflanzliche Lectine: Vorkommen, Eigenschaften, Analytik und Bewertung medizinischer Anwendung
Leguminosae
Spezies
21
. Tabelle 21.2 (Fortsetzung)
. Tabelle 21.2 (Fortsetzung) Familie
Lectinname, übliche Abkürzung
Gehalt (mg/100 g Material)
Mono- oder Disaccharidspezifität
Oligosaccharid [Affinität relativ zu der des Monosaccharids]
Bemerkungen
Artocarpus integrifolia L. f., Jackbaum
Jacalin
25
Gal, Man (5-mal schwächer als Gal)
GalE3GalNAcD (TF-Antigen) [350]
Bindet O-Glykane
Maclura pomifera (Raf.) Schneid., Osagedorn
MPA
24
GalNAc
GalE3GalNAc [24]
Mitogen für Lymphozyten
Phytolaccaceae
Phytolacca americana L., Kermesbeere
PWM (pokeweed mitogen)
125
GlcNAc (sehr schwach)
(3GalE4GlcNAcE)n (Poly-NAcetyllactosamin)
Potente Mitogene für Lymphozyten; Isolectin Pa-1 ist eines der seltenen Lectine mit mitogener Aktivität für B-Zellen
Solanaceae
Datura stramonium L., Stechapfel
DSA
200
GlcNAc
GlcNAcE(4GlcNAcE)2GlcNAc [1000]
Möglicherweise an pflanzlichen Abwehrmechanismen beteiligt
Lycopersicon esculentum Mill., Tomate
LEA
1
GlcNAc (sehr schwach)
(GlcNAc)3–4
Möglicherweise an pflanzlichen Abwehrmechanismen beteiligt
Solanum tuberosum L., Kartoffel
STA
0,8
GlcNAc (sehr niedrig)
GlcNAcE(4GlcNAcE)34GlcNAc [20-mal stärker als GlcNAcE4GlcNAc]
Möglicherweise an pflanzlichen Abwehrmechanismen beteiligt
Urticaceae
Urtica dioica L., große Brennessel
UDA
100
GlcNAc
GlcNAcE(4GlcNAcE)2GlcNAc [7900]
Fungizide Aktivität
Viscaceae
Viscum album L., Mistel
Viscumin, VAA 8
Gal
GalD3Gal, Neu5AcD6GalE4Glc Ein ribosomeninaktivierendes Protein [10], GalE2Gal [56], vom Typ II (RIP-II) wie Ricin; zum RisikoGalD4GalE4GlcNAc [328] potential bei therapeutischer Nutzung > Text
Moraceae
21.3 Weite Verbreitung pflanzlicher Lectine
Spezies
21 717
718
21
Pflanzliche Lectine: Vorkommen, Eigenschaften, Analytik und Bewertung medizinischer Anwendung
wirtschatlich bedeutende und leicht verfügbare Planzen untersucht wurden, ist es wahrscheinlich, dass das Vorkommen von Lectinen in Wildplanzen, die nicht landwirtschatlich angebaut werden, unterschätzt wird (Rüdiger und Gabius 2001). Infobox Infobox
Pflanzliche Lectine treten in Mengen, die die Isolierung für praktische Zwecke ( > Tabelle 21.2 sowie Abschnitt 21.7 über die Anwendung) lohnend erscheinen lassen, in der Regel in Speicherorganen auf. Meist werden Samen eingesetzt, in manchen Fällen aber auch die Rhizome (Brennessel, Kermesbeere), Knollen oder Zwiebeln (Kartoffel, Schneeglöckchen), die Rinde (Holunder, Robinie, Schnurbaum) oder Rindenexudate (Parakautschukbaum). Die Gehalte variieren außerordentlich stark, von wenigen Milligramm pro 100 g Pflanzenmaterial bis zu einigen Gramm ( > Tabelle 21.2). Innerhalb der Zellen kommen Lectine vor allem in charakteristischen Speicherorganellen, den Proteinkörpern, vor. Sie leiten sich von der Vakuole ab. Andere Vertreter dieser Proteine finden sich allerdings auch im Zytoplasma oder im Interzellulärraum. Verglichen mit Proteinkörpern sind Gewebekonzentrationen an diesen Orten in der Regel deutlich niedriger. Die Spezifitäten der verfügbaren Lectine umfassen fast alle Kohlenhydrate, die man in natürlichen Glykokonjugaten findet. > Tabelle 21.2 listet für jedes genannte Lectin das von ihm bevorzugte Monosaccharid auf. Die Affinitäten für Monosaccharide, ausgedrückt durch die Dissoziationskonstante, liegen in der Regel im millimolaren Bereich. Oligosaccharide hingegen werden meist erheblich besser als Monosaccharide gebunden. Wir belegen diese Aussage in > Tabelle 21.2 ausführlich mit Daten. Einführung von Substitutionen und Verzweigungen verändert Struktur und Konformation der Glykane und hiermit ihre Affinität zu Lectinen (André et al. 2004, 2006). Die Bindungstasche der Lectine beschränkt sich somit nicht nur auf eine Zuckereinheit (Rüdiger und Gabius 2001; Loris 2002). > Abbildung 21.2b zeigte dies bereits am Beispiel des mit 43 Aminosäuren kleinsten pflanzlichen Lectins Hevein und des Disaccharids N,Nc-Diacetylchitobiose (GlcNAcE4GlcNAc). Die in > Tabelle 21.2 aufgeführten Daten unterstreichen zudem die Möglichkeit der Lectine, strukturell ähnliche Codewörter sehr verlässlich unterscheiden zu können. Dies gilt übrigens in gleichem Umfang auch für virale, bakterielle und tierische Lectine (Gabius 1997; Gabius et al. 2004).
! Kernaussage
Lectine sind im Pflanzenreich weit verbreitet. Sie haben Monosaccharidspezifität, binden zudem mit hoher Selektivität an geeignete Oligosaccharide. Somit unterscheiden sie Codewörter mit der für Informationsübertragung geforderten Präzision.
21.4
Pflanzliche Lectine als Gifte
Historisch bedeutsam für die Lectinforschung war die Untersuchung der biochemischen Natur des toxischen Wirkprinzips der Rizinusbohne, das Hermann Stillmark 1888 entdeckt hatte ( > Tabelle 21.1; Rüdiger et al. 2000a). Die ausgeprägte gitige Wirkung des Ricins, eines typischen AB-Toxins mit zwei Untereinheiten (wie das Lectin der Mistel; > Abb. 21.5, weist auf seine mögliche Funktion als Fraßschutz hin ( > auch Abschnitt 21.6). Die Bin-
. Abb. 21.5
Darstellung der Untereinheiten des toxischen Lectins der Mistel nach gelelektrophoretischer Trennung unter denaturierenden und reduzierenden Bedingungen und Färbung mit einem hochsensitiven Silberverfahren (A1/A2-Ketten mit 28S-rRNA-N-Glycosidase-Aktivität im Molekulargewichtsbereich um 29 kDa, B-Kette mit Lectinaktivität bei 34 kDa). Um zu dokumentieren, dass das Lectin nicht durch andere Proteine verunreinigt ist, wird zusätzlich eine Gelspur bei vergleichsweise hoher Proteinbeladung gezeigt (links)
21.4 Pflanzliche Lectine als Gifte
dung der Lectin-Untereinheit (B-Kette) an die Zelle sollte in diesem besonderen Fall folgerichtig ein Zuckerepitop betrefen, das auf tierischen Zelloberlächen ubiquitär und in hoher Dichte präsentiert wird. Diese Voraussetzung ist für Galactose erfüllt, wobei Anomerie und Art ihrer Verknüpfung an die Zuckerkette keinen wesentlichen Einluss auf die Ainität zum Lectin ausüben. Nach Bindung der B-Kette an die Zelloberläche erfolgt die Aufnahme des Lectins und damit auch der A-Kette in die Zelle. Die A-Kette wirkt als rRNA N-Glycosidase, die gezielt einen Adeninrest aus der Position A4324 der 28S rRNA (Rattenribosomen) herausspaltet, was den Zelltod auslöst (Endo 1989). Als ribosomeninaktivierende Proteine (RIP) werden diese planzlichen Lectine in die Klasse II (RIP-II) eingeordnet. Im Prinzip sind sie auch für die Planzen selbst toxisch. Sie können in der Planze ihre giftige Wirkung jedoch nicht entfalten, weil sie als inaktive Vorstufe in die Proteinkörper transportiert und erst dort zur Wirkform prozessiert werden. RIP sind daher in ihrer aktiven Form strikt vom Proteinsyntheseapparat der Planze getrennt. Die letale Dosis (LD50) des Ricins für Mäuse liegt in der Größenordnung von etwa 200 ng/kg bei oraler und von 55–65 ng/kg bei intravenöser Gabe. Toxizität nach Inhalation weist die höchste Wirkung auf (Winder 2004). Infobox Mit Ricin ermordete der bulgarische Geheimdienst 1978 den exil-bulgarischen Mitarbeiter Georgi Markov von BBC London. Die Verwendung eines Lectins als Mordwerkzeug fand damals großes öffentliches Interesse. Dem Opfer wurde am 7. September im Gedränge an einer Bushaltestelle nahe der Londoner Waterloo-Brücke das Toxin (450 µg in einer Platinkugel mit 1,5 mm Durchmesser und zwei 0,34 mm großen Löchern) mit Hilfe einer Injektionsnadel, die in einer Regenschirmspitze versteckt war, in den Wadenmuskel gespritzt. Bereits am 11. September verstarb Markov an den Folgen dieser Injektion. Die Affäre bekam den griffigen Namen „Regenschirm-Mord” (Der Spiegel, 10. 2. 1992, S 168–170; BBC News 8. 1. 2003). Aktuell tauchte der Name dieses Toxins kürzlich wieder in Presseberichten in Verbindung mit möglichen Terroranschlägen auf.
Medizinisch wird die hochgitige A-Kette als Teil von Immunotoxinen getestet. Bei diesen Konjugaten wird der Lectinteil gegen einen Antikörper, der speziisch ge-
21
gen Tumorzellen gerichtet ist, in der Hofnung ausgetauscht, so eine therapeutisch nutzbare Selektivität zu erreichen. Ein Durchbruch bis zur klinischen Anwendung ist aber mit derartigen Konjugaten bisher noch nicht gelungen. Eine weitere Form der Toxizität von Lectinen hängt direkt mit ihrer Fähigkeit zur Bindung von Kohlenhydraten zusammen. Nach dem Genuss planzlicher Nahrung können intakte Lectine an Glykokonjugate, die den Verdauungstrakt von Säugetieren und Insekten auskleiden, binden und so die Nährstofaufnahme behindern. Die resultierende Blockade verschlechtert dann aber nicht nur die Resorption der Nahrung. Sie kann letztlich sogar zu Irritationen und Abtragung der schützenden Mucusschicht bis hin zur Zerstörung der Darmschleimhaut führen. Der Prototyp eines solchen Lectins stammt aus der Gartenbohne (Phaseolus vulgaris). Aus historischen Gründen wird für dieses Lectin entgegen den gängigen Nomenklaturregeln meist die Abkürzung PHA (von Phytohämagglutinin) verwendet. Infobox Es dürfte allgemein bekannt sein, dass man Gartenbohnen (Phaseolus vulgaris) nicht roh essen darf, sondern sie unbedingt einige Zeit auf 100 °C erhitzen muss, um das Lectin zu denaturieren. Trotzdem kommt es immer wieder zu Erkrankungen, die auf den Genuß roher oder nur unzureichend gegarter Bohnen zurückzuführen sind. Auch bei der Futtermittelzubereitung für Großtiere (Pferde, Rinder) sollte man in jedem Fall auf das Zumischen von Bestandteilen roher Bohnen verzichten, um gravierende gesundheitliche Komplikationen durch die Aufnahme des Lectins zu vermeiden (Carmalt et al. 2003). Es gibt sogar ein Beispiel für die vermeintlich harmlose Nutzung von Bohnenmaterial als „Kalorienblocker” (Rüdiger und Fleischmann 1983). Im Fachhandel wurde ein Präparat aus der „amerikanischen Kidney-Bohne” (eine Phaseolus-vulgaris-Sorte) angeboten, das, wie die Werbung behauptete, eine schlankmachende Wirkung haben sollte. Ein darin enthaltener Amylasehemmstoff sollte die Verdauung von Stärke verhindern können. Ob es nun sinnvoll ist, Enzyminhibitoren einzusetzen, um mehr essen zu können, sei dem Leser zur Entscheidung überlassen. Schwerwiegende Bedenken hingegen bestehen gegen solche Mittel jedoch aus anderem Grund: Es ließ sich nachweisen, dass dieses Präparat natives Lectin enthielt! Auf die potentielle Gefährdung der
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Pflanzliche Lectine: Vorkommen, Eigenschaften, Analytik und Bewertung medizinischer Anwendung
Konsumenten fand sich in der begleitenden Werbung kein Hinweis. An die schädigende Lectinwirkung und Maßnahmen zu ihrer Verhinderung bei der Zubereitung sollte man sich daher erinnern, wenn man Produkten aus der Phaseolus-Bohne begegnet. Glücklicherweise sind jedoch solche schwerwiegenden negativen Wirkungen selten. Die meisten Lectine unserer Nahrungspflanzen (z. B. aus ungegartem Getreide, Erbsen, Kartoffeln, Tomaten, Zwiebeln oder Knoblauch) sind für den Menschen augenscheinlich ungefährlich.
! Kernaussage
Pflanzliche Lectine sind in der Regel für den Menschen ungefährlich. Beachtenswerte Ausnahmen bilden die AB-Toxine (RIP-II) wie Ricin und das Lectin der Gartenbohne. Durch Lectine bedingte Probleme nach dem Genuss von Getreideprodukten, Tomaten, Zwiebeln oder Knoblauch sind aber nicht bekannt.
21.5
Isolierung von Lectinen
Zu Beginn der Lectinforschung bediente man sich zur Reinigung der damals herkömmlichen Methoden wie Fällung durch Salze, Säuren oder organische Lösungsmittel. Sogar die Kristallisation erwies sich gelegentlich als geeignet. Wie efektiv diese aus heutiger Sicht technisch einfachen Methoden bei optimalen Startbedingungen sein können, belegt die folgende Beschreibung der erstmaligen Reinigung eines Lectins durch Kristallisation: „If jack bean extracts are covered with toluene and simply allowed to stand exposed to the air for several weeks, this protein is precipitated as beautifully formed crystals having a diameter of about 0.1 mm. he author proposes to name this globulin concanavalin A … Dr. A. C. Gill has been kind enough to examine them, and has provisionally declared them to be bisphenoidal in shape, probably belonging to the rhombic system, optically biaxial, with a large optical angle, and negative in optical character“ (Sumner 1919). Später erweiterten klassische chromatographische Verfahren (Ionenaustausch-, Adsorptionsund Gelchromatographie), die jedoch ebenfalls noch nicht die besonderen Bindungsfähigkeiten der Lectine an Zucker ausnutzten, die Zahl verfügbarer Methoden. Es
dauerte mehr als vier Jahrzehnte, bis mit der Ainitätschromatographie ein Verfahren vorgestellt wurde, das die Reinigung in einem Einschrittprozess erlaubt ( > Tabelle 21.1). Seine Bewertung als „modest advance“ in der Begutachtung vor der Veröfentlichung steht im Gegensatz zum großen Erfolg und der heutigen Popularität der Methode (Sharon 1998). Von den natürlich vorkommenden Polysacchariden erwiesen sich folgende Produkte als geeignet für Lectinisolierung: x bakterielle Dextrane (nach chemischer Vernetzung) für glucosebindende Lectine, vor allem aus der Familie der Leguminosen, x Agarose, ein galactosehaltiges Polysaccharid aus Algen, für einige galactosebindende Lectine wie die aus Ricinus communis, Bauhinia purpurea und Glycine max, und x Chitin aus Insekten- oder Krebspanzern für GlcNAcbindende Lectine wie die aus Hevea brasiliensis ( > Abb. 21.2b für die Interaktion des Lectins mit seinem Liganden), Triticum vulgare oder Grifonia simplicifolia II ( > Tabelle 21.2). Das letztgenannte Beispiel der Bindung von Lectinen an Chitin ist ein Hinweis auf ihre mögliche Schutzfunktion gegen Insekten und Pilze ( > Abschnitt 21.6). Die Auswahl an natürlich vorkommenden Polysacchariden ist jedoch beschränkt. Ihr Vorkommen deckt nicht alle Kohlenhydratspeziitäten der Lectine ab. Daher bedeutete es einen wesentlichen Fortschritt, als es gelang, Liganden eigener Wahl von Monosacchariden bis hin zu Glykoproteinen auf festen Trägern, die man vorher durch geeignete Reagenzien (z. B. Bromcyan, Divinylsulfon) aktiviert hatte, zu immobilisieren (Gabius 1999; > Abschnitt 21.8 für Informationen über die Wahl des Liganden bei Isolierung neuer Lectine). Nachdem nichtbindende Proteine durch Waschen des Säulenmaterials mit Pufer vollständig entfernt worden sind, lässt sich das gebundene Lectin in der Regel schonend gewinnen, indem man im nächsten Schritt dem Elutionspuffer das lectinspeziische Mono- oder Disaccharid in ausreichender Menge zusetzt ( > Abb. 21.6; Rüdiger 1993). Die Verfügbarkeit reiner Lectine ist eine wesentliche Hilfe, die Frage nach ihren Funktionen experimentell zu beantworten.
21.5 Isolierung von Lectinen
21
. Abb. 21.6
Laufschema der Reinigung von pflanzlichen Lectinen
Infobox Der Arbeitsvorgang der Reinigung eines Lectins beginnt mit der Beschaffung des Pflanzenmaterials. Bei kommerziell erhältlichem Material kann man nicht immer sicher sein, dass die Speziesangabe zutrifft, schon gar nicht im Lebensmittelhandel. Besonders unsicher ist die Bezeichnung „Bohne”, die für Samen verschiedenster Arten verwendet wird (Gartenbohne, Saubohne, Sojabohne, Rizinusbohne). Wenn vegetatives Pflanzenmaterial verwendet werden soll, ist es wichtig, immer von derselben Charge auszugehen, weil der Lectingehalt dieser Pflanzenteile je nach Jahres- oder Erntezeit
6
stark variieren kann. Wie bei der Verarbeitung von biologischem Material allgemein üblich, so sorgt man bereits vor den chromatographischen Schritten dafür, dass unerwünschte Substanzen nicht in den Reinigungsgang geraten ( > Abb. 21.6). Wenn es die Größe der Samen zulässt, entfernt man die Schalen. Sie enthalten oft Farbstoffe, die sich im weiteren Reinigungsgang kaum noch abtrennen lassen und zudem die Kapazität des Säulenmaterials nach Adsorption drastisch senken ( > unten). Da Samenlectine oft vorzugsweise in den Kotyledonen vorkommen, ist es ratsam, auch
721
722
21
Pflanzliche Lectine: Vorkommen, Eigenschaften, Analytik und Bewertung medizinischer Anwendung
den proteinreichen Embryo zu entfernen. Somit wird der Anteil an Fremdprotein bestmöglich herabgesetzt. Die trockenen oder vorgequollenen Samen oder Kotyledonen werden dann zerkleinert. Ölhaltige Samen (Glycine max, Ricinus communis) sollten vorher entfettet werden ( > Abb. 21.6). Die folgende Extraktion wird mit Puffern genügend hoher Pufferkapazität und Ionenstärke vorgenommen, um reproduzierbare Ergebnisse zu erzielen. Bewährt haben sich Pufferlösungen mit neutralem oder schwach alkalischem pH-Wert, weil sich in ihnen fast alle Proteine zuverlässig lösen. Bei der Aktivitätsbestimmung der Lectine im Hämagglutinationstest ( > Abb. 21.3) muss durch Kontrollen darauf geachtet werden, dass der verwendete Puffer im Test keine negativen Wirkungen zeigt, z. B. Hämolyse. Auch muss in diesem Testverfahren durch Inhibitionskontrolle gezeigt werden, dass die Reaktion zuckerabhängig ist; denn pflanzliche Inhaltsstoffe wie Tannine können falsch-positive Reaktionen auslösen. Einige Lectine, besonders die der Leguminosen, benötigen zweiwertige Kationen, um die für die Zuckerbindung erforderliche Konformation der Bin-
dungstasche zu stabilisieren. Daher setzt man den Puffern in solchen Fällen Ca2+-, Mg2+- und/oder Mn2+-Salze zu. So wird ein eventueller Aktivitätsverlust während der Aufreinigung verhindert. Manches Pflanzenmaterial, vor allem vegetatives, enthält Phenole, die an der Luft enzymatisch zu braunen Polymeren oxidieren. Sie können an das Säulenmaterial adsorbieren und seine Kapazität vermindern. In diesen Fällen kann man versuchen, die Phenole bereits vor der Chromatographie abzutrennen, z. B. durch Bindung an unlösliches Polyvinylpyrrolidon. Auch lässt sich ihre Oxidation durch Zusatz von Reduktionsmitteln (Ascorbat, Metabisulfit, Dithionit) oder von Inhibitoren der Polyphenoloxidase (Thioharnstoff, Diethyldithiocarbamat) unterbinden. Nach Zentrifugation oder Filtration des Rohextrakts sollte man als nächstes die Speicherproteine, die den Hauptanteil der Samenproteine ausmachen, entfernen. Oft erfüllt eine isoelektrische Präzipitation (z. B. bei pH 5) diesen Zweck ( > Abb. 21.6, Tabelle 21.3). Nach erneuter Zentrifugation und Neutralisation kann der Überstand durch Affinitätschromatographie fraktioniert werden.
. Tabelle 21.3 Bilanz der Reinigung des Lectins aus 100 g Samen von Phaseolus lunatus limensis L. (Limabohne) Reinigungsstufe Rohextrakt Überstand nach Säurefällung (pH 5) Affinitätschromatographische Trennung des Überstandes nach Säurefällung a b
mg Protein
HUa
Ausbeute (%)
44 000
64 000
100
5760
51 200
80
161
49 800
78
spezifische Aktivitätb 1,45 8,9 309
Reinigungsfaktor 1 6,1 213
Hämagglutinationseinheiten (Titer × ml). Hämagglutinationseinheiten/mg Protein. Infobox Als vielfältig einsetzbare Liganden für die Affinitätschromatographie haben sich Mucin aus Schweinemagen und Ovomucoid aus Eiklar bewährt (Rüdiger 1993). Die komplexen Zuckerketten dieser Glykoproteine decken Kohlenhydratspezifitäten vieler Lectine ab. Zudem ist ihre Dichte hoch, was sich positiv auf die Kapazität des Affinitätsadsorbens auswirkt. Wie sieht das Resultat der Affinitätschromatographie aus? > Abbildung 21.7 zeigt exemplarisch das entsprechende Profil der Isolierung des blutgruppenepitop-A-
6
spezifischen Lectins aus der Limabohne Phaseolus lunatus limensis, > Tabelle 21.3 die sich ergebende Reinigungsbilanz. Sofern ein Lectin primär an Monosaccharide einer Glykankette bindet, besteht die einfachste Methode zur Elution darin, der Pufferlösung den lectinspezifischen Zucker zuzusetzen. Einige Lectine wie PHA docken jedoch bevorzugt an bestimmte Oligosaccharide an ( > Tabelle 21.2). Diese sind in der Regel sehr teuer oder kommerziell überhaupt nicht zugänglich. In solchen Fällen kann man das
21.6 Funktionen pflanzlicher Lectine
21
. Abb. 21.7 Lectin auch durch Elution mit sauren oder basischen Pufferlösungen gewinnen ( > Abb. 21.6), denn Wechselwirkungen zwischen Lectinen und Zuckern sind nur innerhalb eines begrenzten pH-Bereichs möglich. Es ist dann allerdings erforderlich, die lectinhaltigen Fraktionen nach Elution umgehend und schonend zu neutralisieren. Als eine brauchbare Alternative, die die Aktivität des Lectins nicht gefährdet, hat sich die Elution mit Borat bewährt. Dieses Anion weist bekanntlich eine hohe Affinität zu vicinalen Diolen auf und kann daher mit der Zuckerbindungsstelle des Lectins um das immobilisierte Kohlenhydrat des Affinitätsadsorbens in Konkurrenz treten. Bei der Elution besteht die Möglichkeit, Isolectine voneinander zu trennen. Hierzu wird das Elutionsmittel nicht in einer einzigen Stufe, sondern in Form eines kontinuierlich ansteigenden Konzentrations- oder pH-Gradienten eingesetzt. Als Qualitätskontrolle für den Reinheitsgrad dient u. a. die gelelektrophoretische Trennung mit folgender Anfärbung. Ein typisches Beispiel zeigen wir in > Abb. 21.5. Nach der Isolation werden die erhaltenen Lectine benutzt, um die Funktionsprofile der isolierten Proteine zu bestimmen. Ein klassisches Beispiel ist die Analyse der Toxizität der AB (RIP-II)-Toxine und anderer Lectine wie PHA ( > Abschnitt 21.4).
! Kernaussage
Die Einführung der Affinitätschromatographie hat die Isolierung pflanzlicher Lectine revolutioniert. Bei Kenntnis der Zuckerspezifität des Lectins, gewonnen aus Experimenten mit Extrakten durch Hämagglutination und ihre Hemmung durch Zucker, kann man sich das Säulenmaterial technisch einfach und maßgerecht selbst herstellen. Lectine können im Idealfall in einem Schritt in hoher Ausbeute rein gewonnen werden.
21.6
Funktionen pflanzlicher Lectine
Die in Abschnitt 21.4 erläuterte Toxizität legt es nahe, dass die genannten Lectine ( > auch Tabelle 21.2) dem Schutz vor Fraßfeinden dienen. Diese Wirkung ist ein Aspekt der bekannten Lectinfunktionen. > Tabelle 21.4 fasst unseren Kenntnisstand bezüglich der Aktivitäten der Lectine gegenüber ihrer Umwelt und innerhalb der
Reinigung des Samenlectins von Phaseolus lunatus limensis L. (Limabohne) durch Affinitätschromatographie des Überstandes nach Säurefällung ( > Tabelle 21.3) in einer Säule (1,6 × 20 cm), die als Ligand für Lectine immobilisiertes desialyliertes Mucin aus Schweinemagen enthält. Puffer: 0,05 M Tris-Acetat pH 8,0, je 1 mM an CaCl2 , MgCl2 und MnCl2 , Durchflussgeschwindigkeit 30 ml/h. Ab Pfeil Zusatz von 0,1 M GalNAc im Puffer. Durchgezogene Linie: Proteinkonzentration; gestrichelte Linie: Titer (Lectinkonzentration)
Planze zusammen. Häuig werden Lectine nur als Speicherproteine betrachtet, weil sie in z. T. erheblichen Mengen autreten, wie es aus der 4. Spalte der > Tabelle 21.2 hervorgeht. Zudem sind Lectine zusammen mit den „klassischen“ Speicherproteinen in den entsprechenden Organellen der Samen, den Proteinkörpern, lokalisiert. Beachtlicherweise konnte gezeigt werden, dass Lectine in vitro mit hoher Ainität die Speicherproteine und Enzyme binden können, mit denen sie in vivo zusammen in den Proteinkörpern vorkommen (Rüdiger und Gabius 2001). Es liegt somit nahe zu vermuten, dass einzelne Lectine eine Rolle bei der geordneten Ablagerung und/oder Mobilisierung von Proteinen in den Proteinkörpern, hauptsächlich von Vicilinen und Leguminen, spielen können. Die Fähigkeit der Lectine zur Zuckerbindung spielt gegenüber glykosylierten Vicilinen zwar eine Rolle, erklärt aber nicht alle beobachteten Wechselwirkungen, z. B. die Bindung von Lectin an zuckerfreie Viciline und Legumine. Somit können Lectine die strukturelle Organisation in den Proteinkörpern mitgestalten und danach auch selbst als Speicher dienen.
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Pflanzliche Lectine: Vorkommen, Eigenschaften, Analytik und Bewertung medizinischer Anwendung
. Tabelle 21.4 Ausgewählte Beispiele für Funktionen pflanzlicher Lectine Nach außen gerichtete Wirkungen
Nach innen gerichtete Wirkungen
Schutz vor Angriff durch Pilze
Hevea brasiliensis (H. B.K.) Muell. Arg. (Parakautschukbaum), Urtica dioica L. (große Brennessel), Solanum tuberosum L. (Kartoffel)
Schutz vor pflanzenfressenden Tieren
Phaseolus vulgaris L. (Gartenbohne), Ricinus communis L. (Rizinusbohne), Galanthus nivalis L. (Schneeglöckchen), Triticum vulgare L. (Weizen), Allium sativum L. (Knoblauch)
Beteiligung an der Symbiose zwischen Pflanzen und Bakterien
Pisum sativum L. (Erbse), Lotononis bainesii Baker, Arachis hypogaea L. (Erdnuss), Triticum vulgare L. (Weizen), Oryza sativa L. (Reis)
Speicherproteine
Gilt vermutlich für die meisten bekannten Lectine
Festlegung der räumlichen Anordnung von Speicherproteinen und Enzymen in Proteinkörpern
Pisum sativum L. (Erbse), Lens culinaris Medik. (Linse)
Modulation von Enzymaktivitäten
Secale cereale L. (Roggen), Solanum tuberosum L. (Kartoffel), Pleurotus ostreatus (Jacq.: Fr.) Kummer (Austernpilz), Dolichos biflorus L.
Beteiligung an der Wachstumsregulation
Medicago sativa L. (Luzerne, Alfalfa), Cicer arietinum L. (Kichererbse)
Dass Lectine aus Proteinkörpern bei der Samenkeimung abgebaut werden und ihre Bausteine dann der jungen Planze zur Verfügung stehen, spricht zwar dafür, dass sie als Baustofspeicher dienen, erklärt jedoch nicht ihre Fähigkeit zur Bindung von Kohlenhydraten. Die Nutzung moderner gentechnischer Verfahren zur Manipulation der Lectinexpression deutet aber darauf hin, dass ihnen auch eine weitergehende Bedeutung für den geordneten Ablauf von Entwicklungsprozessen zukommt. Durch die Ausschaltung der Lectinexpression im Modellversuch wird die Entwicklung der betrofenen Planze so nachhaltig gestört, dass es naheliegt, Lectinen zumindest in der getesteten Planze (Luzerne) eine Beteiligung an zellulären Signalprozessen zuzuschreiben (Brill et al. 2001). Diese Vermutung wird weiter gestützt durch das Autreten von lectinartigen Modulen in Verbindung mit Rezeptorkinasen. Die extrazelluläre Lectindomäne soll in diesen Fällen Sensorfunktion für den intrazellulären Proteinkinaseteil übernehmen (Barre et al. 2002; Morris und Walker 2003; André et al. 2005). Ein solcher modularer Aubau ist auch im Falle hydrolytischer Enzyme wie der E-Galactosidasen bei der Reifung von Erdbeeren (Fragaria u ananassa Duch.) möglich (Trainotti et al. 2001). Das am Ende von Abschnitt 21.2 erklärte Prinzip der Positionierung eines enzymatischen Zentrums durch ein Lectinmodul er-
scheint damit auch bei Planzen realisiert. Hier zeichnen sich Parallelen zur intensiv untersuchten Funktion tierischer Lectine ab (Gabius 1997; Gabius et al. 2004). Einzelne typische Lectindomänen wie die C-Typ-Sequenz treten nämlich gleichfalls in modularen Proteinen auf. Die eingehende Analyse menschlicher Lectine hat zur Entdeckung vielfältiger Funktionen geführt (Gabius 2006). Das bekannte Funktionsspektrum des menschlichen Lectins Galectin-1 z. B. schließt Aktivitäten in den unterschiedlichen Zellkompartimenten ein. Galectin-1 wirkt über eine zuckerabhängige Bindung an die Zelloberläche als wachstumsregulierender Faktor und Zelladhäsionsmolekül, gleichfalls als zielspeziisches intrazelluläres Transportprotein für ein Onkoprotein (die GTPase H-Ras) über eine Protein/Lipid-Erkennung im Zytoplasma und als nukleärer Faktor im Spleißen der Prä-mRNA (Gabius 2002; Gabius et al. 2004). Es ist somit denkbar, dass auch für planzliche Lectine diese Vielfalt von Funktionen zu dokumentieren wäre, wenn sie genauso intensiv untersucht würden wie medizinisch relevante menschliche Lectine. Da die Isolierung von Lectinen technisch kein Problem mehr darstellt ( > Abschnitt 21.5), ist die Voraussetzung für weiterführende funktionelle Studien gegeben. Die Isolierung der Lectine ermöglicht aber nicht nur Experimente zur Funktionsauklärung, sondern auch ihre Laboranwendung.
21.7 Anwendung
! Kernaussage
Pflanzliche Lectine weisen eine Reihe von Funktionen auf. Neben ihrer Nutzung als Baustoffspeicher und Packungshilfe in Proteinkörpern schützen sie Pflanzen vor Fraßfeinden und Infektionen. Bei der Symbiose von Leguminosen mit Bakterien (Rhizobien) tragen sie zur Spezifität der Wahl des Wirtes bei. Bei Entwicklungsvorgängen deuten sich Parallelen zur Funktion tierischer Lectine an (Gabius et al. 2004).
21.7
Anwendung
Eine zentrale Bedeutung für die Entwicklung der Anwendung planzlicher Lectine hatte die schon in der Infobox S. 710 genannte Entdeckung blutgruppenspeziischer Agglutinine (Renkonen 1948; Boyd und Reguera 1949). Letztere Autoren nannten als Ziel ihrer Untersuchungen: „the possibility of inding cheap plant sources for blood grouping reagents suitable for use in the determination of blood groups in man“. Von 262 getesteten Extrakten zeigten 25 Proben die „auswählende“ Speziität, insbesondere für die Blutgruppen A1/A2 (Boyd und Reguera 1949). Planzen
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enthalten somit Substanzen, die wie Antikörper fähig sind, Blutgruppendeterminanten zu unterscheiden. Wie schon in Abschnitt 21.2 (Infobox S. 710) erläutert, führte diese gemeinsame Selektivität innerhalb des AB0-Blutgruppensystems Boyd 1954 ( > auch Tabelle 21.1) dazu, den Namen „lectin“ für solche „antibody-like substances“ in Planzen zu prägen. Zu diesem Zeitpunkt hatten Agglutinine (Lectine) ihre Leistungsfähigkeit als Laborwerkzeuge gerade dadurch gezeigt, dass es mit ihrer Hilfe gelang, die chemische Struktur der Determinanten des menschlichen AB0-Blutgruppensystems aufzuklären. Historisch gleichfalls in Verbindung zur Hämagglutination stand die Entdeckung einer weiteren Aktivität planzlicher Lectine, die in der Immunologie genutzt wird: die mitogene Stimulation von Leukozyten und anderen Zelltypen. Partiell gereinigtes Hämagglutinin (Phytohämagglutinin, PHA; > auch Bemerkungen in > Tabelle 21.2 und in Infobox S. 719 rechts) aus Extrakten der Gartenbohne (Phaseolus vulgaris) hatte schon vorher eine andere Standardanwendung gefunden, bei deren Nutzung sich diese bahnbrechende Beobachtung ergab: „his substance was originally employed for its erythrocyte-agglutinating ability in obtaining leukocytes from whole blood. he present studies, however, indicate that it also has the ability to initiate mitosis among the leukocytes …“ (Nowell 1960).
Infobox Die entsprechenden Versuche wurden im Lister-Institut für Präventive Medizin (London) durchgeführt. Der Start dieses Forschungsprogramms stand in Beziehung zur Einrichtung des Emergency Blood Transfusion Service in Großbritannien im Vorfeld des 2. Weltkrieges (Watkins 1999). Die Experimente gingen von drei Voraussetzungen aus: x dem Nachweis, dass das Agglutinin Concanavalin A als repräsentatives Modell Zucker als Liganden bindet (Sumner und Howell 1936; > Infobox S. 708 unten), x der Fähigkeit einfacher chemischer Substanzen (Haptene), die Antikörper-Antigen-Erkennung zu blockieren, wenn eine Strukturverwandtschaft zum antigenen Epitop besteht (Landsteiner und van der Scheer 1931), was dann auch für die Wechselwirkung zwischen Lectin und Glykan vermutet wurde, und x dem Vorkommen von Zuckern, insbesondere D-Galactose, N-Acetyl-D-Galactosamin, N-Acetyl-D-Glucosamin und L-Fucose in AB0-Substanzen, die aus Ovarialzysten isoliert worden waren (Watkins 1999).
6
Somit war folgende Schlussfolgerung plausibel: Wenn die blutgruppenspezifische Hämagglutination durch einzelne Komponenten (Zucker) gehemmt würde ( > auch Abb. 21.3), so wäre dies ein Hinweis auf die Struktur des vom Lectin gebundenen Epitops. Dies war tatsächlich der Fall, wobei als Pilotsubstanz Serum des Aals (Anguilla anguilla) getestet wurde. Ein Lectin in diesem Material (historisch zuerst auch als Antikörper bezeichnet) agglutiniert spezifisch Erythrozyten der Blutgruppe H(0). Diese Aktivität wurde vom 6-Desoxyzucker L-Fucose sowie seinem D-Methyl-, weniger vom E-Methylglykosid gehemmt, aber nicht von den anderen 33 getesteten Substanzen (Zucker und Zuckeralkohole wie Inosit) (Watkins und Morgan 1952). Wie die Bindung molekular erfolgt, beantwortete die 50 Jahre später publizierte Kristallstruktur dieses Lectins. Die 3‘- und 4‘-Hydroxylgruppen und das Ringsauerstoffatom der Fucose bilden ein Netzwerk von Wasserstoffbrücken mit den Aminosäuren His52, Arg79 und Arg86 aus, das die Spezifität auf molekularer Ebene erklärt (Bianchet et al. 2002). Ist nun L-Fucose definitiv ein Teil der Blutgruppendeterminante H(0)? An dieser Stelle half die Ver-
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Pflanzliche Lectine: Vorkommen, Eigenschaften, Analytik und Bewertung medizinischer Anwendung
fügbarkeit pflanzlicher Lectine entscheidend weiter, wie die Autoren beschreiben: „Our conclusions were somewhat tentative at first because this was an isolated result with a rather exotic reagent, but the inference that the L-fucose in D-linkage is more important than the other sugars for H specificity was reinforced when we were given some plant agglutinins (later called lectins) which had recently been shown to be specific for certain blood-group substances. Extracts of Lotus tetragonolobus seeds preferentially agglutinated 0 cells and this agglutination was inhibited by H-active glycoprotein
Der Weg zu den heute üblichen vielfältigen Laboranwendungen, ein wesentlicher Grund für die stetige Zunahme der Zahl der Publikationen über Lectine (Gabius und Gabius 1993; Rüdiger et al. 2000b), wurde, wie in Abschnitt 21.5 erläutert, durch die Einführung der Ainitätschromatographie geebnet ( > Abb. 21.7 für ein repräsentatives Chromatogramm und > Tabelle 21.3 für eine Reinigungsbilanz). Dieses eiziente Aufreinigungsverfahren sowie die hohen Gehalte an Lectinen in planzlichem Gewebe ( > Tabelle 21.2), ihre Stabilität und das breite Spektrum an Zuckerspeziitäten kommerziell angebotener Lectine (für Beispiele, > Tabelle 21.2) haben diese Proteinklasse zu beliebten Hilfsmitteln für eine Reihe biomedizinischer Anwendungen werden lassen (Übersicht in ( > Tabelle 21.5; detaillierte Anwendungsvorschriten in Gabius und Gabius 1993). So lassen sich Epitope zellulärer Glykane mit Hilfe planzlicher Lectine nachweisen, lokalisieren, quantiizieren, isolieren und strukturell charakterisieren (Gabius und Gabius 1993, 1997). Wie die Genom- und Proteinanalytik durch die Begrife „genomics“ oder „proteomics“ geprägt wird, führen systematische Experimente mit Lectinen dazu, einen Katalog der Glykanstrukturen zellulärer Glykokonjugate zu erstellen („glycomics“; > auch Infobox S.708 oben). Änderungen des Glycoms im Verlauf der Diferenzierung oder bei bestimmten Krankheiten lassen sich mit dieser Methode zuverlässig kartieren. Diese Informationen haben für die Beurteilung zellulärer Aktivitäten erhebliche medizinische Bedeutung, zumal heute die Anwesenheit von Zuckerepitopen und ihre genaue Struktur in zunehmendem Maße im Licht ihrer Funktion gesehen werden (Gabius et al. 2004; Gabius 2006). Klinisch relevante Beispiele sind die drastisch reduzierte Adhäsion von Leukozyten in Patienten mit Leukozyten-Adhäsionsdefizienz-Syndrom (LAD) II bei Entzündungen, die Ursache häuig autre-
and also by L-fucose and its D-methyl glycoside. Moreover, other plant reagents specifically agglutinating A cells were inhibited by N-acetylgalactosamine, indicating for the first time that this sugar is an important part of the A determinant” (Morgan u. Watkins 1953). In der Rückschau erhalten diese Resultate folgende Bedeutung: „These simple experiments pointed to the carbohydrate nature of blood-group determinants and gave the first indications that for each specificity one of the component sugars was playing a more dominant role than the others” (Watkins 1999).
tender und persistierender Infektionen ist, oder die Störungen des intrazellulären Glykoproteintransportes bei lysosomalen Speicherkrankheiten (Brockhausen et al. 1998; Reuter und Gabius 1999). Daher bleibt es, wie schon am Beginn von Abschnitt 21.3 erklärt, weiterhin ein wichtiges Ziel, die Palette an Hilfsmitteln für die in > Tabelle 21.5 aufgeführten Anwendungsbereiche zu ergänzen. Zu diesem Zweck werden heute meist synthetische Produkte eingesetzt, mit denen gezielt nach maßgerechten Sonden gefahndet werden kann. Da Zuckerrezeptoren gesucht werden, empiehlt sich für diesen Zweck die Verwendung synthetischer Oligosaccharide als „molekulare Angelhaken“. Sie werden kovalent an einen biochemisch inerten Träger gebunden, der zur späteren Detektion markiert ist. Diese synthetischen Hilfsmittel heißen in Anlehnung an die natürlichen Glykokonjugate „Neoglykokonjugate“ und dienen dazu, Lectine mit vorgegebener Speziität aufzuspüren (Gabius und Gabius 1993; Bovin und Gabius 1995; Gabius 2001a). Durch sie wurde die Lectinanalytik wesentlich erweitert, wenn auch die klassische Agglutinationsmethode wegen ihrer technisch einfachen Durchführung weiter genutzt wird.
! Kernaussage
In einer Pionierleistung haben pflanzliche Lectine vor über 50 Jahren die Entschlüsselung der chemischen Natur von ABH(0)-Blutgruppenepitopen ermöglicht. Seitdem dienen sie bis hin zur modernen Glycomanalytik als vielfältig einsetzbare Laborwerkzeuge. Die gezielte Suche nach neuen Aktivitäten mit besonderen Eigenschaften (z. B. Bindung an bestimmte Glykanepitope) ist durch Neoglykokonjugate (biochemisch inerte Träger mit Glykanen als Sonde) möglich.
21.8 Analytik
21
. Tabelle 21.5 Anwendung pflanzlicher Lectine als Hilfsmittel in Biochemie, Zellbiologie und Medizin
x
Biochemie
x x x x Zellbiologie
x x x x x x
Medizin
21.8
x x x
Nachweis von Glykokonjugaten (auch in Verbindung mit chromatographischer oder elektrophoretischer Auftrennung). Nachweis definierter Zuckerepitope in Glykanketten von Glykokonjugaten Präparative Reinigung von Glykokonjugaten und Glykanketten durch Affinitätschromatographie an immobilisierten Lectinen Isolierung und strukturelle Charakterisierung von Glykanen durch serielle Affinitätschromatographien mit immobilisierten Lectinen (s. Zeile 1982, Tabelle 21.1) Quantitative Bestimmung von definierten Zuckerepitopen in Glykokonjugaten durch ELLA („enzyme-linked lectin-binding assay”) Quantitative Bestimmung der Aktivitäten von Glykosyltransferasen und Glykosidasen durch Bestimmung ihrer Produkte mit Hilfe von Lectinen Nachweis und Quantifizierung von Glykokonjugaten sowie definierter Zuckerepitope auf Zelloberflächen Analyse des intrazellulären Transports und der Prozessierung von Glykokonjugaten in normalen und in genetisch veränderten Zellen Analyse der von der Norm abweichenden Glykosylierungsmechanismen lectinresistenter Zellvarianten Fraktionierung von Zellpopulationen Modulation der Proliferation und des Aktivierungszustands von Zellen Modellsubstanzen für die Untersuchung von Zellaggregation und -adhäsion Detektion krankheitsbedingter Änderungen der Glykosylierung (Pathologie, klinische Chemie) Mitogene Stimulation von Lymphozyten zur Bestimmung ihrer Chromosomenzahl Diagnostische Marker einschließlich der Identifizierung von Infektionserregern (Viren, Bakterien, Pilze, Parasiten)
Analytik
Der Nachweis von Lectinen durch Neoglykokonjugate basiert – wie bei der Hämagglutination – auf der Bindungsfähigkeit des Lectins an bestimmte Zuckerliganden. Um eine spätere Detektion zu ermöglichen, muss das Neoglykokonjugat eine geeignete Markierung tragen (z. B. einen Biotinrest, eine luoreszierende Gruppe, radioaktives Iod oder ein Enzym). Die Bildung des Lectin-GlykanKomplexes durch eine speziische Protein-Zucker-Wechselwirkung lässt sich dann nach Abtrennung von ungebundenem Neoglykokonjugat sichtbar machen. Wird z. B. ein Enzym wie die bakterielle E-Galactosidase unter geeigneten Bedingungen chemisch glykosyliert, ohne dass es seine Aktivität einbüßt, dann ist das Produkt, das Neoglykoenzym, eine vielfältig einsetzbare Sonde. Sie spürt Lectine mit der entsprechenden Zuckerspeziität auf und macht ihre Anwesenheit nach Zugabe eines chromogenen
Substrats sichtbar (Gabius et al. 1989). Die Anwendung eines Neoglykoenzyms zur Lokalisierung von Lectinen in nativem Gewebe zeigt > Abb. 21.8: auf den Schnittlächen der Samen von Schwertbohnen (Canavalia ensiformis) macht die Enzymaktivität das zuckerabhängig gebundene Neoglykoenzym und damit das Lectin Concanavalin A sichtbar. Dieses Verfahren gibt wertvolle Hinweise für die Wahl des Ausgangsmaterials einer Lectinreinigung. Arbeitet man mit Extrakten, deren Proteine man auf der Oberläche von kommerziell verfügbaren Testplatten adsorbiert hat, so führt der Einsatz solcher Neoglykokonjugate sogar zur Quantiizierung der Zuckerbindungskapazität (Gabius et al. 1989). Mit Hilfe der Ainitätschromatographie ( > Abschnitt 21.5) lassen sich die Lectine, die diese Signale auslösen, isolieren (Lectingehalte in > Tabelle 21.2), wonach sie dann weiter biochemisch charakterisiert werden können ( > Abb. 21.5 für die gelelektrophoretische Reinheitsprüfung und Charakterisierung eines Lec-
727
728
21
Pflanzliche Lectine: Vorkommen, Eigenschaften, Analytik und Bewertung medizinischer Anwendung
. Abb. 21.9a,b
. Abb. 21.8a–c
a
b
c
Nachweis und Lokalisation der Lectinaktivität an Gewebe („Finger”-)abdrücken. Die Schnittfläche von Samen (Canavalia ensiformis) wurde auf Nitrocellulose gestempelt. Die Färbung erfolgte zum Proteinnachweis mit Amidoschwarz (a) und zum Lectinnachweis mit Neoglykoenzym, an das kovalent bioaktive Mannosederivate gebunden waren (b). Die Blockierung der zuckerabhängigen Bindung des Neoglykoenzyms an das Lectin durch Mannose (c) belegt die Spezifität der Wechselwirkung (nach Gabius et al. 1989)
tins nach der Ainitätschromatographie; Rüdiger 1993; Gabius 1999). Auf dieser Stufe angelangt, lässt sich die Analytik weiter verfeinern und für einen Lectintyp speziisch gestalten, indem Antikörper gegen das Lectin produziert werden. Der ELISA-Test („enzyme-linked immunosorbent assay“) ist in der Proteinanalytik routinemäßig etabliert. Steht ein Antikörper gegen ein bestimmtes Lectin zur Verfügung, so lässt sich dieses Verfahren zur Bestimmung des Lectingehaltes in einer Lösung einsetzen. Zu beachten ist jedoch, dass die klassische Form dieses Testverfahrens das Lectin nur in seiner Eigenschat als Protein (Antigen) erfasst. Solange seine Reaktivität mit dem Antikörper besteht, wird der Test positiv ausfallen. Damit ist jedoch nicht der Nachweis seiner Fähigkeit zur Zuckerbindung erbracht. Daher wird in der Lectinanalytik die hohe Sensitivität des ELISA-Verfahrens mit einem Prozessschritt kombiniert, der ausschließlich aktives Lectin erfasst. Das Prinzip dieses Messverfahrens erläutert > Abb. 21.9a. Im ersten Schritt wird ein (Neo)Glykokonjugat, dessen Zuckeranteil ein Ligand für das zu bestimmende Lectin ist, an die Plastikoberläche adsorbiert. Der Zuckerteil bleibt auch in dieser Form bioaktiv. Nach Blockierung der verbliebenen unspeziischen Bindungsstellen für Proteine auf der Plastikoberläche steht die Matrix für das Testverfahren bereit. Es folgen die Inkubation mit lectinhaltiger Lösung, gründliches Waschen und der Nachweis des zuckerabhängig gebundenen Lec-
a
b Vierstufiges Verfahren zur quantitativen Bestimmung des Lectingehaltes einer Lösung (Pflanzenextrakt) in Mikrotiterplatten (ELLA). Nach Adsorption eines Glykoproteinliganden (z. B. Ovalbumin für mannosespezifische Lectine oder Asialofetuin für galactosespezifische Lectine) an die Plastikoberfläche und Blockierung der verbliebenen Proteinbindungsstellen (z. B. mit zuckerfreiem Albumin) erfolgt die zuckerabhängige Bindung des Lectins an Glykanketten des Glykoproteins und dann der immunologische Nachweis des Lectins (ELISA) (a). Die Eichgerade für die Quantifizierung des Gehalts an Lectin der Mistel (VAA, > Tabelle 21.2) in Lösungen zeigt, dass das Verfahren hochempfindlich ist, und dass die Messwerte linear zur Lectinmenge ansteigen (b)
21.9 Immunmodulation durch pflanzliche Lectine
tins durch das ELISA-Verfahren ( > Abb. 21.9a). Mit diesem als ELLA („enzyme-linked lectin binding assay“) bezeichneten Verfahren wird daher in einer Lösung ausschließlich der Gehalt an aktivem, nicht aber an denaturiertem Lectin gemessen. Die Sensitivität des Messverfahrens liegt im ng-Bereich, wie in > Abb. 21.9b dokumentiert. Zu beachten ist bei der Herstellung lectinspeziischer Antikörper, dass eventuell vorhandene Glykanketten im Lectin (viele der bisher charakterisierten Lectine sind Glykoproteine) als Antigene dominieren können. Daher sind in solchen Fällen eine Oxidation vicinaler Diole durch Periodat mit folgender Reduktion oder eine chemische bzw. enzymatische Deglykosylierung vor der Immunisierung anzuraten, um später unerwünschte Kreuzreaktivitäten auszuschließen. Ein solches Verfahren hat sich am Beispiel des galactosid-speziischen Lectins der Mistel (Viscum album L. Agglutinin, VAA, früher auch ML-1) bewährt (Hajto et al. 1989). Dieses Verfahren erlaubt die verlässliche Bestimmung der Konzentration von aktiven Lectinen in Extrakten, z. B. zum Nachweis toxischer Lectine wie PHA in Nahrungsmitteln oder Tierfutter ( > Infobox S. 719 rechts) oder bei der Zubereitung planzlicher Präparate in der Phytotherapie. Der Lectingehalt von Planzenextrakten kann durchaus stark variieren, u. a. in Abhängigkeit von der Natur des Ausgangsmaterials und von saisonalen Einlüssen. Daher ist eine Einstellung der Lectinkonzentration von Extrakten auf vorher festgelegte Werte als Leitsubstanz (Standardisierung) oder als Wirksubstanz (Normierung) sowie die Überprüfung von Konzentrationsangaben lectinhaltiger Lösungen unbedingt erforderlich. Die hohe Empindlichkeit des ELLA-Testes, seine Adaptierung an beliebige Lectine durch Wahl des Zuckerliganden sowie die Speziität der Protein-Zucker- und Antikörper-Lectin-Erkennungsschritte ( > Abb. 21.9) sind Vorteile des ELLA-Verfahrens, verglichen mit anderen Verfahren wie der Messung der Hämagglutination. Als Qualitätskontrolle eignet sich die-
! Kernaussage
Pflanzliche Lectine werden durch Hämagglutination detektiert. Zur hochempfindlichen und verlässlichen Quantifizierung des Lectingehaltes in Lösungen eignet sich das ELLA-Verfahren. Es kombiniert die zuckerspezifische Reaktivität des Lectins an ein (Neo)Glykokonjugat mit dem folgenden immunologischen Nachweis des Lectins in einem ELISA-Test.
21
ses Testprinzip auch für Lösungen von Lectinen, die im Labor zur Modulation von Immunparametern eingesetzt werden, z. B. der mitogenen Stimulation von Blutzellen ( > Abschnitt 21.7 für die Beschreibung der Entdeckung der Mitogenaktivität).
21.9
Immunmodulation durch pflanzliche Lectine
Als Modell für die zelluläre Aktivierung von T- oder BLymphozyten eignen sich bestimmte planzliche Lectine wie PHA aus Phaseolus vulgaris oder PWM aus Phytolacca americana ( > auch Tabelle 21.2, Spalte Bemerkungen). Die Wirkung von Lectinen ist nicht nur auf die Regulation der Proliferation von Immunzellen beschränkt (Gabius 2001b). Weitere lectinabhängig veränderbare Parameter sind u. a. biochemische Eigenschaten wie die Erhöhung der Produktion von Abwehrstofen, z. B. von Superoxidanionradikalen bei Makrophagen, und zelluläre Merkmale wie die Steigerung der Phagozytenaktivität bei Granulozyten. Die Lectinbindung aktiviert somit eine Reihe von intrazellulären Signalketten (Villalobo und Gabius 1998; Villalobo et al. 2006). Immunzellen können auf die Bindung von Lectinen ferner mit veränderter Freisetzung von Mediatoren der Immunantwort reagieren. So wird z. B. von o. g. Ricin und dem Lectin der Mistel die Sekretion der proinlammatorischen Zytokine Interleukine-1 und -6 sowie des Tumornekrosefaktors-D aus mononukleären Blutzellen bereits bei einer Dosis von im Bereich von 10 ng/ml deutlich erhöht (Hajto et al. 1990; Licastro et al. 1993). Da die Anbieter von Mistelpräparaten die Wirkung dieser Faktoren bisher nahezu ausschließlich im Sinne einer Immunstimulation interpretierten, ist es verführerisch, diese Efekte werbestrategisch mit therapeutischem Nutzen gleichzusetzen, d. h. die Modulation von ausgewählten Immunparametern in vitro (z. B. Lymphozytenstimulation) oder in vivo klinisch a priori als positiv zu werten. Die Korrelation zwischen Messwert und therapeutischer Wirksamkeit muss aber belegt werden. Damit betreten wir das Spannungsfeld zwischen experimentellen, reproduzierbaren Befunden und ihrer Interpretation in der Produktvermarktung. Veränderungen von Immunparametern werden in Werbeaussagen häuig automatisch als Immuntherapie im Sinne einer Steigerung der Abwehrkrat gedeutet. Dies gilt insbesondere bei Krebserkrankungen. Eine eindeutig abgesicherte wissenschatliche Grundlage für Aussagen wie
729
730
21
Pflanzliche Lectine: Vorkommen, Eigenschaften, Analytik und Bewertung medizinischer Anwendung
„ein konsequentes immunologisches Monitoring unter gezielter Immunmodulation erhöht die Chancen der Tumorausheilung“ gibt es jedoch nicht (Sauer 1996). „Solche Formulierungen dienen dazu, Patienten und Ärzte in die Irre zu führen und unberechtigte Hofnungen zu wecken“ (Sauer 1996). Von weitreichender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang zudem, dass sich in der Bewertung des therapeutischen Stellenwertes von Immunzellen bei Tumorerkrankungen ein Paradigmenwechsel vollzieht. „It is becoming clear that tumor-associated ‚normal‘ cells, such as immune/inlammatory cells, endothelial cells and stromal cells, conspire with cancer cells in promoting this process“ (hier: „breast cancer progression and neovascularization“, Yu und Rak 2003). Die Stimulation von Immunzellen kann also sowohl nützen als auch schaden. Ihr grundsätzlich ambivalenter Charakter, der auch für Entzündungsmarker wie das C-reaktive Protein gilt (Helzlsouer et al. 2006), verbietet daher eine voreilige Bewertung.
! Kernaussage
Pflanzliche Lectine können als Immunmodulatoren wirken. Veränderungen immunologischer Parameter dürfen jedoch a priori nicht mit klinischer Wirksamkeit gleichgesetzt werden. Es kann für Patienten irreführend sein, in solchen Fällen suggestiv von Immunstimulation zu sprechen, ohne dass der therapeutische Nutzen zweifelsfrei bewiesen wäre.
21.10
Von der „Immunstimulation“ zur Ambivalenz der Immunmodulation
Im Gegensatz zur immer noch verbreiteten Vorstellung, dass aktivierte Immunzellen in Tumoren ein grundsätzlich positiv zu wertendes Zeichen der Immunabwehr sind, werden ihnen heute zunehmend auch andere Reaktionsmöglichkeiten zugeschrieben. Folgendes repräsentative Zitat aus der aktuellen Literatur beleuchtet den gegenwärtigen Kenntnisstand: „evidence increasingly suggests that these cells (hier u. a. aktivierte Makrophagen in Tumoren) may in fact symbiotically promote rather than inhibit tumor growth and inhibition“ (Yu und Rak 2003; > auch Coussens und Werb 2002; Pollard 2004; Ichim 2005; de Visser et al. 2006; Szlosarek et al. 2006). Als Efektoren fungieren Zytokine und Wachstumsfaktoren der Immunzellen, die Tumoren iniltrieren. Was bedeutet diese Fest-
stellung für die klinische Bewertung eines „immunstimulierenden“ Wirkstofes, z. B. des Lectins der Mistel, der die biologische Verfügbarkeit solcher Mediatoren erhöht? Immunzellen und ihre Produkte wie die schon genannten proinlammatorischen Zytokine sind somit in ihrer Wirkung ambivalent, als „zweischneidige Schwerter“ zu deuten, die kontextabhängig wirken (Gabius und Gabius 1999). Zentrale Bedeutung für die Wirkung dieser Botenstofe haben Befunde, nach denen Tumorzellen wie auch Immunzellen Rezeptoren für Zytokine und andere Wachstumsfaktoren aufweisen. Zudem sind auch Tumorzellen Produzenten solcher „Immunfaktoren“. Explizit können proinlammatorische Zytokine daher normale Immunzellen, aber auch Leukämie- und Lymphomzellen sowie andere Arten von Tumorzellen wie Karzinomzellen zum Wachstum anregen! Diese Aussage wird im Falle der durch das Lectin der Mistel regulierten Botenstofe mit den in den > Tabellen 21.6 bis 21.8 zusammengestellten Literaturdaten untermauert: a) Stimulation der Proliferation von Tumorzellen aus unterschiedlichen Geweben durch proinlammatorische Zytokine in vitro ( > Tabelle 21.6) und b) in vivo ( > Tabelle 21.7). Aus diesen Daten ergibt sich die Frage, wie die Zytokinspiegel mit der Prognose von Tumorerkrankungen korrelieren. Sie wird mit Verweis auf Literaturbefunde in > Tabelle 21.8 beantwortet. Es liegt somit nahe, in diesen Fällen von einer Immunmodulation und der damit verbundenen weiteren Erhöhung der Spiegel der genannten Zytokine abzuraten. Ob diese Faktoren auch zur Begründung beitragen können, dass Tumore im Alter ihre Aggressivität ändern (ein Beispiel für solche Änderungen gibt folgendes Zitat: „Senescent tissues in general may also provide a microenvironment less capable of supporting rapid tumor growth“; Audisio et al. 2004), ist eine noch ofene Frage. In jedem Fall mahnen die vorliegenden Daten zur
! Kernaussage
Eine „Immunstimulation” kann sich in der Erhöhung der Freisetzung von Zytokinen manifestieren. Neben der erhofften Verbesserung des Immunstatus, deren therapeutischer Wert zu belegen ist, können solche Mediatoren aber auch unerwünschte Effekte hervorrufen. So ist es erwiesen, dass Zytokine die Proliferation von Tumorzellen stimulieren können. Im Interesse der Patienten ist daher neben dem Nachweis der Wirksamkeit einer immunmodulatorischen Therapiemodalität auch der Beweis ihrer Unbedenklichkeit zu dokumentieren.
21.10 Von der „Immunstimulation” zur Ambivalenz der Immunmodulation
21
. Tabelle 21.6 Stimulation der Proliferation von Tumorzellen in vitro durch Zytokine (nach Gabius und Gabius 1999, aktualisiert) Tumortyp
Zytokin
Endogene Produktion
Literatur
Plasmozytom
IL-1D, IL-6
+
Kawano et al. 1988, 1989; Zhang et al. 1989; Klein et al. 1990; Jourdan et al. 2005
Non-Hodgkin Lymphome
IL-6, IL-10
+
Voorzanger et al. 1996
Chronische lymphozytische Leukämie
TNF-D
+
Gruss und Dower 1995
Chronische B-Zell Leukämie
TNF-D
+
Cordingley et al. 1988
Akute myeloische Leukämie (Blasten)
IL-6
+/n. b.
Zhu et al. 1994; Säily et al. 1998
Akute myeloische Leukämie
IL-1
+
Cozzolino et al. 1989
Myeloische Leukämie (Zelllinie)
GM-CSF
+
Paul et al. 1997
Haarzellleukämie
IL-6, TNF-D
+
Buck et al. 1990; Barut et al. 1993
Fortgeschrittenes Melanom
IL-6
+
Lu und Kerbel 1993
Melanom
IL-10
+
Yue et al. 1997
Neuroektodermale Tumore (Melanom, Neuroblastom)
IL-6
–/+
Candi et al. 1997
Neuroblastom
TNF-D
+
Goillot et al. 1992
Medulloblastom
IL-6
+
Liu et al. 1999
Glioblastom
IL-6, GM-CSF
+
Goswami et al. 1998; Mueller et al. 1999
Kolorektales Karzinom
IL-1, IL-6
n. b./–
Lahm et al. 1992; Schneider et al. 2000
Nierenzellkarzinom
IL-6, GM-CSF
+
Miki et al. 1989; Koo et al. 1992; Tachibana et al. 2000
Bronchialkarzinom
IL-6
+
Fu et al. 1998
Kleinzelliges Bronchialkarzinom
GM-CSF
n. b.
Pedrazzoli et al. 1994
Prostatakarzinom
IL-6
+
Siegall et al. 1990; Borsellino et al. 1995, 1999; Okamoto et al. 1997a,b; Chung et al. 1999; Lou et al. 2000; Giri et al. 2001
Prostatakarzinom
IL-6, GM-CSF
–/n. b.
Rivas et al. 1998; Lee et al. 2003
Blasenkarzinom
IL-6
+
Okamoto et al. 1995, 1997c
Ovarialkarzinom
IL-1, IL-6, TNF-D
–/+
Wu et al. 1992, 1993; Watson et al. 1993; Kawakami et al. 1997; Chen et al. 2001
Zervixkarzinom
IL-1D, IL-6, TNF-D
–/+
Eustace et al. 1993; Iglesias et al. 1995; Woodworth et al. 1995; Castrilli et al. 1997
Mammakarzinom (Zellvarianten mit metastatischer Kapazität zum Gehirn; zudem antiadhäsiver und prometastatischer Effekt)
IL-1D, IL-6
+
Tamm et al. 1989; Di Carlo et al. 1997; Sierra et al. 1997; Asgeirsson et al. 1998; Kumar et al. 2003
Hepatozelluläres Karzinom
IL-6
+
Baffet et al. 1991
Magenkarzinom
IL-1D
+
Ito et al. 1993
Oropharynxkarzinom
IL-1D, IL−6
+
Ito et al. 1997; Hong et al. 2000
Kaposi-Sarkom
IL-6
+
Miles et al. 1990
Osteosarkom
GM-CSF
n. b.
Dedhar et al. 1988; Baker et al. 1991; Thacker et al. 1994
n. b. nicht berichtet.
731
732
21
Pflanzliche Lectine: Vorkommen, Eigenschaften, Analytik und Bewertung medizinischer Anwendung
. Tabelle 21.7 Stimulation der Proliferation von Tumorzellen in vivo durch Zytokine (nach Gabius und Gabius 1999, 2002; aktualisiert) Tumortyp
Zytokin
Modell
Literatur
B-Zell Tumore
IL-6
IL-6 Überexpression
Scala et al. 1990; Suematsu et al. 1992; Schirmacher et al. 1998
Plasmozytom
IL-6
IL-6 Gendefizienz (KO-Mutante)
Hilbert et al. 1995; Lattanzio et al. 1997
B-Zell Lymphom seröser Körperoberflächen
IL-6
anti-IL-6 Therapie
Foussat et al. 1999
Melanom
IL-1/IL-6
Vorbehandlung von Mäusen s.c., dann Injektion von Tumorzellen s.c.; IL-6 Gendefizienz
Mckenzie et al. 1994; von Felbert et al. 2005
Melanom
TNF-D
Promotor der chemisch induzierten Hautkarzinogenese
Moore et al. 1999
Fortgeschrittenes Melanom
IL-6
transfizierte Zellen
Lu et al. 1996
Gliobastom
IL-6
Zytokingehalt des Tumors korreliert mit Tumoraggressivität
Rolhion et al. 2001
Bronchialkarzinom
IL-6
transfizierte Zellen
Fu et al. 1998
nicht-kleinzelliges Bronchialkarzinom
IL-6/GM-CSF
Xenograftwachstum und Prognosebeurteilung
Oshika et al. 1998; Yamaji et al. 2004
Prostatakarzinom
IL-6
Regression von Tumorxenograft durch anti-IL-6; IL-6R Expression des Tumors korreliert mit Proliferationsgrad
Giri et al. 2001; Smith und Keller 2001
hepatozelluläres Karzinom
IL-6
Metastasierung transfizierter Zellen
Reichner et al. 1997
Sarkom
IL-1/TNF-D
transplantierbares Methylcholanthren-induziertes Sarkom
Gelin et al. 1991
metastatisches Ovarial- bzw. Nierenzellkarzinom
IL-6
klinische Fallberichte
Ravoet et al. 1994
Nierenzellkarzinom
IL-6
IL-6R Expression des Tumors korreliert mit Aggressivität und Proliferationsgrad und IL-6/CRP Serumkonzentration
Costes et al. 1997
Mammakarzinom
IL-1E
Zytokingehalt des Tumors korreliert mit Tumoraggressivität
Jin et al. 1997
Vorsicht, wie es auch für Anwendung anderer Regulatoren gilt. Diese Aussage unterstreichen wir mit folgendem Verweis: Erythropoietin ist seit langem aus der Anämiebehandlung und dem Doping bekannt. Seine Expression in Karzinomen des Endometriums ist ein ungünstiger Prognosefaktor (Acs et al. 2004). Die aufgeführten Daten raten zu der Verplichtung, für eine immunmodulatorische herapiemodalität bei Krebserkrankungen zuerst ihre Unbedenklichkeit nachzuweisen; denn vorrangig ist fraglos, die Sicherheit der
Patienten zu gewährleisten. Somit sind die genannten Resultate für die Bewertung der lectinbezogenen Mistelanwendung bei Tumoren von Bedeutung (Gabius und Gabius 1998, 2002). In diesem besonderen Fall bedeutet die Normierung von Extrakten aus planzlichem Gewebe allein auf den Wirkstof Lectin zudem einen eklatanten Widerspruch zur anthroposophischen Lehre und zu den arzneirechtlichen Anwendungsvorschriten für anthroposophische Heilmittel im Rahmen der Sonderregelung der „Besonderen herapierichtungen“ ( > Infobox S. 733).
21.11 Risikopotential der lectinbezogenen Mistelanwendung
21
. Tabelle 21.8 Erhöhung von Zytokinspiegeln und negative Korrelation von erhöhtem Zytokinspiegel im Serum von Tumorpatienten zur Prognose (nach Gabius und Gabius 1999; aktualisiert) Tumortyp
Zytokin
Literatur
Non-Hodgkin Lymphome
IL-6, IL-10
Blay et al. 1993; Voorzanger et al. 1996; Niitsu et al. 2002
Hodgkin Lymphom
IL-6, IL-10
Kurzrock et al. 1993; Seymour et al. 1997; Sarris et al. 1999; Viviani et al. 2000; Vassilakopoulos et al. 2001
Diffuses großzelliges Lymphom
IL-6
Seymour et al. 1995; Preti et al. 1997
Plasmozytom
IL-6
Klein et al. 1990; Ludwig et al. 1991; Reibnegger et al. 1991
Chronische lymphatische Leukämie
IL-6, IL-10
Fayad et al. 2001; Lai et al. 2002
Metastatisches Melanom
IL-6
Tartour et al. 1994; Mouawad et al. 1996
Metastatisches Nierenzellkarzinom
IL-6, IL-10
Blay et al. 1992; Ljungberg et al. 1997; Thiounn et al. 1997; Wittke et al. 1999; Negrier et al. 2004
Nichtkleinzelliges Bronchialkarzinom
IL-6
Katsumata et al. 1996; De Vita et al. 1998; Martin et al. 1999
Prostatakarzinom
IL-6
Twillie et al. 1995; Nakashima et al. 2000
Ovarialkarzinom
IL-6
Berek et al. 1991; Scambia et al. 1994, 1995
Metastatisches Mammakarzinom
IL-6
Zhang und Adachi 1999; Bachelot et al. 2003; Salgado et al. 2003
Magenkarzinom (Marker der Tumorprogression)
IL-6
Wu et al. 1996
Gastrointestinale Tumoren
IL-6, GM-CSF
De Vita et al. 1999, 2001
Pankreaskarzinom
IL-6
Ebrahimi et al. 2004
Ösophaguskarzinom
IL-6
Oka et al. 1996
21.11
Risikopotential der lectinbezogenen Mistelanwendung
Mistelpräparate werden in der sog. Komplementär- und Alternativmedizin als Arzneimittel verwendet. Im Arzneimittelrecht sind sie den „Besonderen herapierichtungen“ zugeordnet. Im Rahmen dieser Sonderregelung proitie-
ren Mistelextrakte somit bei der Prüfung auf Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit von beachtenswerten Erleichterungen gegenüber anderen herapeutika. Warum die Deinition eines materiellen Wirkstofs, d. h. des Lectins, jedoch im Widerspruch zur anthroposophischen Lehre steht, erläutert die folgende Infobox.
Infobox Eingeführt wurde die Anwendung von Mistelextrakten in der Krebstherapie im Jahre 1921 durch Rudolf Steiner. Er deklarierte ihre besondere Spiritualität im Rahmen seiner metaphysisch-esoterischen, dogmatischen Arzneilehre als kausalen Heilfaktor (Burkhard 2000). In seinen Vorträgen vom 2.4.1920 und 28.8.1924 gibt er die fehlende Durchdringung des physischen Leibes durch den Ätherleib bzw. die fehlende Einschränkung der Prädominanz des Ätherleibes durch den sog. Astralleib als intuitiv erfasste Wirkebenen der spirituellen Mistelkraft an. Dass ahrimanische Wesen („zurück-
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gebliebene Mondenwesen, zu denen auch zurückgebliebene Venus- und Merkurwesen” zählen) erdenätherische Gesetzlichkeit, also Wucherkräfte des alten Mondes, als Krankheitsursache in den normalen Ätherleib hereintragen sollen, und wie die Mistel, selbst im Spannungsfeld des kosmischen und Erdenäthers stehend, Monden-Erdenäther zur Stärkung des Astralleibes aufsaugen soll, erläutert Leroi (1982). Sie unterstreicht zudem, dass die anthroposophische Tumortherapie die Mistelanwendung nur als einen Teil des vom Lehrmeister entworfenen Gesamtkonzeptes versteht.
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Pflanzliche Lectine: Vorkommen, Eigenschaften, Analytik und Bewertung medizinischer Anwendung
Unter anderem gehören Medikamente wie Aurum, Pflege des Schlaflebens, Heileurythmie und die „läuternde Kraft des klaren Denkens” zur Stärkung des Ätherleibes zur Therapie, wenn sie lege artis durchgeführt werden soll. Da die Anwendung der Mistelextrakte arzneirechtlich „gemäß der anthroposophischen Menschen- und Naturerkenntnis” er-
Trotz der über 80-jährigen Anwendung ist bisher kein Wirksamkeitsnachweis für Mistelpräparate in qualitativ akzeptablen klinischen Studien erbracht, auch wenn bei in letzter Zeit sinkender Zahl der Verordnungen regelmäßig werbend Berichte über vermeintlich positive Resultate von Seiten der Hersteller verbreitet werden (Edler 2004; Zeller 2004). Eine unabhängige Zusammenfassung klinischer Studien kommt gleichsinnig zu folgender Schlussfolgerung: „In conclusion, the evidence from rigorous randomized clinical trials of mistletoe extract does not imply that this widespread and collectively costly therapy has any beneit for cancer patients“ (Ernst et al. 2003). Die Ansicht, dass eine „nennenswerte Tumorresponse auch gar nicht erwartet würde“, vertritt sogar eine Herstellerirma. Da die Firma „aufgrund jahrzehntelanger Erfahrung nicht davon ausgehen könne, dass es zu einem objektiven Ansprechen auf die herapie kommt“, zog sie sich in der letzten Planungsphase aus der zugesagten Kooperation mit der „Arbeitsgemeinschat Dermatologische Onkologie“ für eine nichtrandomisierte Phase-II-Studie bei fernmetastasierten Melanompatienten zurück (Hauschild et al. 2004) Unwirksamkeit bedeutet jedoch noch längst nicht Unbedenklichkeit. Vor der Einführung der neuartigen lectinbezogenen Dosierung von Mistelextrakten war keine systematische Evaluierung des Risikopotentials durch Immunmodulation erfolgt. Historische Vergleiche sind nicht statthat, weil keine Daten zum Lectingehalt früher verwendeter Präparate vorliegen. Zudem ist für diese Form der Immunmodulation nur ein enges Dosisfenster von 1–2 ng Lectin/kg Körpergewicht verantwortlich (Gabius und Gabius 1998, 1999). Die lectinbezogene immunmodulatorische Mistelanwendung ist somit eine neuartige, experimentelle herapieform. Nachdenklich stimmt, dass trotzdem Vermarktung und unkontrollierte Anwendung dieser experimentellen herapieform im Rahmen der „Besonderen herapierichtungen“ möglich sind. Gibt es einen Anlass, die Annahme klinischer Unbedenklichkeit (nach dem Motto: „Wenn es nicht hilt, so
folgen soll, setzt die Empfehlung für solche Extrakte eine fundierte Vertrautheit mit dieser dogmatischen Lehre und eine entsprechend kenntnisreiche Beratung voraus. Wie dagegen eine lectinbezogene Dosierung aus der anthroposophischen Menschen- und Naturerkenntnis zu begründen ist, erscheint uns rätselhaft.
schadet es doch wenigstens nicht“) in Frage zu stellen? Folgende Resultate wecken ernste Zweifel. Wie für mononukleäre Zellen ist das Lectin im Niedrigdosisbereich auch ein Mitogen für einzelne Tumorzelltypen in der Zellund Histokultur mit etabliertem Linien und Gewebematerial (Hajto et al. 1990; Gabius et al. 2001). Auch das Lectin der argentinischen Mistel (Ligaria cuneifolia) wirkt als Mitogen für die getesteten Brustkrebszellen (Fernández et al. 2003). Stimulation wird gleichfalls für Leukämielinien belegt, weshalb Styczynski und Wysocki (2006) schlussfolgern: „We conclude that some alternative medicine remedies might stimulate the viability of childhood leukemic cells.“ Um die Resultate in der Kultur nicht durch toxische Inhaltsstofe von Mistelextrakten wie die Viscotoxine zu beeinlussen, deren gitige Wirkung bei Koinkubation zu falsch-negativen Ergebnissen führen könnte, muss grundsätzlich der Wirkstof selbst getestet werden. Bei unterschiedlicher Pharmakodynamik der genannten Substanzklassen ist aber ein solcher Versuch in der Zellkultur für die In-vivo-Situation nicht unbedingt relevant. Gibt es Hinweise auf Risiken in vivo? Der Verdacht auf lectinbedingte Risiken wird durch In-vivo-Ergebnisse bestätigt und erweitert. Die Behandlung von Ratten und Mäusen (Gesamtzahl über 800 Tiere) nach chemisch induzierter Karzinogenese bzw. Tumortransplantation mit der klinisch empfohlenen Lectindosis führte zur Vergrößerung von Harnblasentumoren (p = 0,02) bzw. zu einer Beschleunigung des Tumorwachstums der Mammakarzinomzellen (C3H/HeJ) und zur Metastasierung in die Lunge (Kunze et al. 2000; Timoshenko et al. 2001). Können solche Daten aus Tierversuchen klinisch relevant sein? Die Durchführung klinischer Studien auf der geschilderten Basis zur Auslotung des Risikopotentials verbietet sich selbstverständlich. Die komplementäre Behandlung mit Mistelpräparaten in Verbindung mit einer Chemotherapie kann kein Argument für die Unbedenklichkeit liefern. Zu Vorsicht mahnen die Resultate einer EORT/DKG-Studie an Melanompatienten, bei der die Behandlung mit einem Mistelpräparat (Lectingehalt nicht angegeben) wie folgt
Literatur
bewertet wurde: „Iscador-M£ also appeared not to yield a better outcome (time to progression and survival) compared with the patients randomised to the control group. However, a drug-related acceleration of the course of the disease might be possible“ (Eggermont et al. 2001; Kleeberg et al. 2004). Neben den eigentlichen Daten verdienen die Begleitumstände mit dem Hinweis der Autoren auf eine Bedrohung durch „energische und juristische Interventionen“ Beachtung. Im Vorfeld der Publikation „stand die Drohung von Schadenersatzhatung im Raum”, sodass ein Schutz der Autoren vor diesen Aktivitäten des Herstellers durch das Gesundheitsministerium notwendig war (Kleeberg und Keilholz 2004). Zusammengefasst führen In-vitro- und In-vivo-Resultate sowie klinische Daten zu folgender Schlussfolgerung: „In other words, mistletoe therapy has the potential to harm cancer patients“ (Ernst et al. 2003). Inzwischen
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geben auch einzelne Hersteller Wissenslücken zu und empfehlen „engmaschige Kontrollen, da hierzu noch keine ausreichenden klinischen Daten vorliegen“ (Fachinformation Lektinol). Daher ist aus unserer Sicht für diese immunmodulierende herapiemodalität folgendes Fazit berechtigt: „Angesichts der Datenlage erscheint die Nutzen-Schaden-Abwägung für Mistelpräparate vom Typ ISCADOR negativ“ (Institut für Arzneimittelinformation 2001).
! Kernaussage
Die Misteltherapie gehört zu den alternativen/komplementären Therapieformen mit unbewiesener Wirksamkeit. Die präklinische Testung des immunmodulatorischen Lectins als Wirkstoff belegt, dass ein Risikopotential besteht.
Schlüsselbegriffe Affinitätschromatographie Glykokonjugat Hämagglutinin Histochemie
Immunmodulation Lectin Mistel Mitogen
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22 22 Lipide R. Hänsel 22.1
Fettsäuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.1.1 Nomenklatur, Einteilung . . . . . . . . . 22.1.2 Weit verbreitete Fettsäuren . . . . . . . . 22.1.3 Fettsäuren mit ungewöhnlicher Struktur 22.1.4 Biosynthese von Fettsäuren . . . . . . . . 22.1.5 Eicosanoide . . . . . . . . . . . . . . . . .
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740 740 741 744 747 752
22.2
Triacylglyceride (Fette und Öle) . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.2.1 Nomenklatur, chemischer Aubau . . . . . . . . . . . 22.2.2 Schmelzverhalten, einige chemische Eigenschaten . 22.2.3 Prüfung auf Identität und Reinheit . . . . . . . . . . 22.2.4 Chemische Kennzahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.2.5 Farbreaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.2.6 Begleitstofe in Fetten und Ölen . . . . . . . . . . . . 22.2.7 Biosynthese von Triacylglyceriden; Fettspeicherung 22.2.8 Technische Gewinnung von Fetten und Ölen . . . . 22.2.9 Verwendung in Pharmazie und Medizin . . . . . . . 22.2.10 Planzliche Fette und Öle . . . . . . . . . . . . . . . .
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757 757 757 759 760 761 763 766 768 769 770
22.3
Phospholipide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.3.1 Phosphoglyceride (Phosphatidylsäurederivate) 22.3.2 Sojabohnenlecithin . . . . . . . . . . . . . . . . 22.3.3 Etherphospholipide . . . . . . . . . . . . . . . .
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784 784 787 787
22.4
Glykolipide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 789 22.4.1 Glyceroglykolipide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 790 22.4.2 Sphingolipide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 790
22.5
Beteiligung von Lipiden am Aubau von Membranen . . . 22.5.1 Einheitliches Bauprinzip biologischer Membranen 22.5.2 Unterschiede in der Zusammensetzung . . . . . . . 22.5.3 Oxidative Schädigung von Membranlipiden . . . .
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791 791 793 794
22.6
Lipopolysaccharide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.6.1 Vorkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.6.2 Chemischer Aubau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.6.3 Biologische Wirkungen von LPS bzw. von Endotoxinen
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800 800 800 801
22.7
Wachse und wachsähnliche Stofe 22.7.1 Deinitionen, Übersicht . 22.7.2 Carnaubawachs . . . . . 22.7.3 Jojobaöl . . . . . . . . . . 22.7.4 Blütenwachse . . . . . . .
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803 803 805 805 806
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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807
740
22
Lipide
> Einleitung Das folgende Kapitel beschreibt den chemischen Aufbau von natürlichen Fettsäuren, von Triacylglyceriden und Phosphytidylsäurederivaten (Phospho- und Sphingolipiden). Ein Abschnitt ist analytischen Prüfmethoden gewidmet. Biochemische Abschnitte befassen sich mit der Biosynthese von gesättigten Fettsäuren, mit deren Dehydrierung zu ungesättigten Fettsäuren sowie mit der Kettenverlängerung zur Arachidonsäure und anderen C20-Fettsäuren. Die amphiphilen Phospholipide und Sphingolipide bilden Membranstrukturen von Zellen. Auf die unterschiedliche Verwertung von essentiellen Z-3- und Z-6-Fettsäuren im menschlichen Organismus wird aufmerksam gemacht. Herkunft und Eigenschaften von 21 natürlichen Pflanzenölen werden beschrieben. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Ölen mit gesättigten und ungesättigten Fettsäuren ist die Empfindlichkeit gegenüber Luftsauerstoff : der Mechanismus der Lipidperoxidation wird formelmäßg wiedergegeben. Es werden die klassischen Anwendungsgebiete von Pflanzenölen und Pflanzenlecithin (Sojalecithin) besprochen. Betont wird die Bedeutung von Pflanzenölen in der Ernährung und damit in der Präventivmedizin: die Art der essentiellen Fettsäuren bestimmt die qualitative Zusammensetzung der Eicosanoide, was unterschiedliche Wirkungen dieser Gewebshormone zur Folge haben kann. Pflanzenöle mit hohen Gehalten an D-Linolensäure sind Beispiele für eine Gruppe von Produkten an der Grenze zwischen Lebens- und Arzneimittel, die man offiziell als „Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke“ bezeichnet. Stark beworben wird das Perillaöl. Lipide (griech.: lipos [Speck]) ist eine Sammelbezeichnung für Fett und fettähnliche Stoffe, die sich als in Wasser schwer lösliche Verbindungen aus pflanzlichem oder tierischem Gewebe mit lipophilen Lösungsmitteln, z. B. Petroläther oder Chloroform, extrahieren lassen. Die Lipide bilden eine strukturell uneinheitliche Gruppe, insbesondere dann, wenn Sterole und Carotinoide als zu den Lipiden zählend einbezogen werden. Sterole und Carotinoide werden jedoch an anderer Stelle des vorliegenden Buches (vgl. Kap. 23.6 u. 23.7) besprochen. Ihrer Polarität nach unterscheidet man neutrale und amphiphile (lyobipo-
6
lare) Lipide. Zu den neutralen Lipiden zählen die Fettsäuren, die Triacylglyceride und die Wachse. Amphiphile (lyobipolare) Lipide, die einen hydrophilen und einen hydrophoben Molekülteil aufweisen, bilden aufgrund dieser amphipathischen Eigenschaften im Wasser spontan Doppelschichten mit hydrophilen Oberflächen und hydrophobem Inneren. Vertreter amphiphiler Lipide sind die Phospho- und die Glykolipide. Lipide haben sehr unterschiedliche Funktionen: Triacylglyceride sind wichtig als Energiespeicher, die Phospho- und Glykolipide sind entscheidend für den Aufbau der Zellmembranen.
22.1
Fettsäuren
22.1.1
Nomenklatur, Einteilung
Als Fettsäuren werden die biogenen aliphatischen Monocarbonsäuren bezeichnet. Diese Gruppenbezeichnung bezieht sich auf ihr Vorkommen als integrierende Bestandteile tierischer und planzlicher Fette. Aus dem reichlichen Vorkommen in ganz bestimmten Fetten leiten sich für die einzelnen Fettsäuren Trivialnamen ab: Myristinsäure kommt vor im Fett der Muskatnussgewächse, Palmitinsäure im Palmfett, Linol- und Linolensäure im Leinöl (von Linum usitatissimum L.), Arachinsäure im Öl von Arachis hypogaea L. (Erdnussöl) u. a. m. Gelegentlich ist die Trivialbezeichnung irreführend: Die bekannte Arachidonsäure (5,8,11,14-Eicosatetraensäure) kommt nicht im Arachis-hypogaea-Öl vor, sondern indet sich als Esterkomponente im Fischtran, in tierischen Phospholipiden und in Lipiden niederer Planzen und Mikroorganismen. Zur rationellen Kurzbezeichnung der Fettsäuren bedient man sich einer Kurzschreibweise, indem lediglich die Zahl der Kohlenstofatome sowie Anzahl und Position der Doppelbindungen angegeben werden. Die Doppelbindungen sind dabei als cis-(= Z-)koniguriert anzusehen, trans- bzw. E-Doppelbindungen werden mit dem Zusatz „tr“ gekennzeichnet. Die Fettsäuren können nach verschiedenen Gesichtspunkten unterteilt werden: x nach chemischen Charakteristika in gesättigte, ungesättigte und substituierte (z. B. Hydroxy-, Epoxy- oder Cyclopropan-) Fettsäuren;
22.1 Fettsäuren
x entsprechend der Kettenlänge in kurzkettige mit 1– 7 C-Atomen, in mittlere mit 8–12 C-Atomen und in höhere Fettsäuren mit mehr als 12 C-Atomen; x ernährungsphysiologisch in essentielle und nichtessentielle Fettsäuren; x nach Häuigkeit des Autretens in ubiquitäre (weit verbreitete) und seltene Fettsäuren; x nach dem Mengenverhältnis in einem bestimmten Produkt (Fett, Phospholipid) in dominierende Fettsäuren und in Fettsäuren, die in nur geringen Mengen vorkommen (Minorfettsäuren; vom englischen „minor products“, Nebenstofe).
22.1.2
Weit verbreitete Fettsäuren
Von den in Planzen vorkommenden Fettsäuren gehören die meisten zur Gruppe der langkettigen, unverzweigten, gesättigten Fettsäuren mit gerader Anzahl von Kohlenstofatomen. Fettsäuren mit ungerader Kohlenstofatomzahl machen in natürlichen Lipiden weniger als 1% der Gesamtfettsäuren aus. Der Häuigkeit nach überwiegen bei Fetten planzlicher Herkunt die ungesättigten Fettsäuren. Genuin liegen
22
die Doppelbindungen als (Z)-Isomere vor. Wenn im Molekül mehr als nur eine (Z)-Doppelbindung autritt, dann sind die Doppelbindungen jeweils durch eine Methylengruppe voneinander getrennt: Man spricht von einer Divinylanordnung ( > Abb. 22.1). Die entsprechenden Fettsäuren werden als Isolenfettsäuren bezeichnet. Den chemischen Nomenklaturregeln entsprechend werden die Doppelbindungen vom Carboxylende her gezählt. Daneben gibt es eine Zählung, bei der die erste Doppelbindung, vom Molekülende her gezählt, angegeben wird. Diese Art der Zählung kennzeichnet man durch den Zusatz Z und spricht von Z9-, Z6- und Z3-Fettsäuren ( > Abb. 22.2). Die niederkettigen C4- bis C12-Fettsäuren riechen und schmecken unangenehm muig, ranzig und seiig. Von den längerkettigen Fettsäuren ( > Tabelle 22.1) sind die gesättigten Vertreter sensorisch wenig aufallend. Die ungesättigten hingegen riechen unangenehm und schmecken, in Wasser emulgiert, bitter, brennend, stechend, die Arachidonsäure überdies widerlich. Palmitinsäure (16:0, n-Hexansäure) kommt als Bestandteil vieler Fette und Öle vor. Die höchsten Gehalte inden sich im Stillingiaöl (60–70%) und im Palmöl (30– 40%). In Form des Myricylesters ist es im Bienenwachs und als Cetylester im Walrat enthalten. In Form des Cho-
. Abb. 22.1 H3C
COOH Ölsäure
H3C
COOH Linolsäure COOH
H3C Linolensäure (α-Linolensäure)
COOH
H3C γ-Linolensäure COOH CH3 Arachidonsäure
Fettsäuren mit nichtkonjugierten Z-Doppelbindungen. Außer der Ölsäure mit nur einer Doppelbindung liegen Isolenfettsäuren vor, d. h. die Z-Doppelbindungen sind durch eine Methylengruppe getrennt (= Divinylmethananordnung)
741
742
22
Lipide
. Abb. 22.2
6
COOH
H3C Linolsäure; 18:2 (9c,12c) ω6-Ende
H3C
COOH γ-Linolensäure
18:3 (6c,9c,12c) COOH
H3C Arachidonsäure
H3C
20:4 (5c,8c,11c,14c)
3
ω3-Ende
COOH α-Linolensäure
18:3 (9c,12c,15c)
H3C
COOH 16:3 (7c,10c,13c)
Zwei Familien von ungesättigten Fettsäuren
. Tabelle 22.1 Häufiger vorkommende Fettsäuren Trivialname
Bruttoformel
Kurzformel
Myristinsäure
C14H28O2
14:0
Palmitinsäure
C16H32O2
16:0
Stearinsäure
C18H36O2
18:0
Arachinsäure
C20H40O2
20:0
Gesättigte Fettsäuren
Ungesättigte Fettsäuren Palmitoleinsäure
C16H30O2
16:1 (9)
Ölsäure
C18H34O2
18:1 (9)
Linolsäure
C18H32O2
18:2 (9, 12)
D-Linolensäure
C18H30O2
18:3 (9, 12, 15)
J-Linolensäure
C18H30O2
18:3 (6, 9, 12)
Arachidonsäure
C20H32O2
20:4 (5, 8, 11, 14)
Erucasäure
C22H42O2
22:1 (13)
lesterolesters bildet Palmitinsäure beim Menschen die Hauptkomponente des „low-density lipoprotein“ (LDL). Verwendet wird Palmitinsäure zur Herstellung von Rückfettungsmitteln (Isopropylpalmitat), Seifen und partialsynthetischen Wachsen.
Stearinsäure, Octadecansäure, kommt in den Triacylglyceriden tierischer Fette zusammen mit Palmitinsäure vor. Planzliche Fette und Öle enthalten abgesehen von der Kakaobutter (30–37%) Stearinsäureanteile lediglich in Konzentrationen unter 7%. Als chemisch reine Substanz bildet Stearinsäure weiße Blättchen oder ein körniges Pulver. Als Handelsprodukt, beispielsweise als Stearic acid U. S. N. F., ist „Stearinsäure“ keine Reinsubstanz, sondern ein Gemisch aus Stearin- und Palmitinsäure, wobei der Stearinsäureanteil mindestens 40% betragen muss. Verwendet wird das Handelsprodukt zur Herstellung von Seifen, Hautcremes, Salben, Pudern und in der Kosmetik als Überfettungsmittel. Arachin- und Behensäure (20:0 bzw. 22:0) sind einander sehr ähnlich und treten als Glyceridkomponente gemeinsam auf. In planzlichen Ölen und Fetten kommen sie in der Regel in Konzentrationen unter 1% vor, etwas höher ist ihr Anteil an den Triacylglyceriden des Erdnussöls (1–5%). Als Reinsubstanzen sind die beiden Säuren bei Raumtemperatur von fester Konsistenz: fettglänzende Blättchen bzw. wachsartig. Analog wie im Falle der Stearinsäure muss auch bei der Ölsäure zwischen der chemischen Reinsubstanz und Ölsäure als Handelsprodukt unterschieden werden. Man erhält reine Ölsäure, (Z)-9-Octadecensäure, durch Verseifen von Olivenöl und Reinigung über das Harnstofaddukt. In reiner Form ist Ölsäure eine nahezu farblose Flüs-
22
22.1 Fettsäuren
sigkeit, die bei 4 °C schmilzt und sich an der Lut rasch bräunlich verfärbt. Ölsäure ist oizinell. Die Ölsäure, Acidum oleicum, PhEur 5 darf bis zu 35% andere ungesättigte und gesättigte Fettsäuren enthalten. Dem Produkt kann ferner ein Antioxidans zugesetzt werden, das aber nach Art und Menge deklariert werden muss. . Abb. 22.3
Ölsäure wirkt auf Haut und Schleimhäute schwach reizend. Linolsäure, (Z,Z)-9,12-Octadecadiensäure, wurde zuerst aus Leinöl (Lini oleum) isoliert, wie die Namensgebung erkennen lässt. Sie ist mengenmäßig die dominierende Fettsäure auch in vielen anderen Planzenölen: im Baumwollsamenöl, Sojabohnenöl, Mohnöl, Sonnenblu-
COOH
H3C Linolensäure O2 Lipoxygenase
OOH H3C
(CH2)7COOH
+ (CH2)7COOH
H3C
OOH ACA1
ACA2
Hydroperoxidlyase
O
H3C
H3C
OH
H
O
H3C H
cis-3-Hexenol
cis-3-Hexenal
(cis,cis)-3,6-Nonadienal
"Blattalkohol"
Isomerase
Isomerase O
O H3C
H
H3C
H
(2 trans,6 cis)-Nonadienal
trans-3-Hexenal
Aromastoff der Gurke
"Blattaldehyd"
ACA2
ACA1 (Aldehydcarbonsäure 1) O H
O
O OH
H
O OH
Bildung von Aromastoffen durch enzymatischen Hydroperoxidabbau während der Trocknung und Lagerung von pflanzlichem Material. Die Lipoxygenase überführt mit hoher Stereospezifität ungesättigte Fettsäuren in ein optisch aktives Hydroperoxid mit einem cis-trans-konfigurierten Diensystem. In Chloroplasten kommen Enzyme vor, die die Hydroperoxide in flüchtige Aldehyde überführen. Blattalkohol und Blattaldehyd verleihen frisch geernteten Pflanzen den charakteristischen Geruch „nach Frische“. Ein besonders gut untersuchtes Beispiel ist die Bildung von Aromastoffen bei der Gurke (Cucumis sativa L.)
743
744
22
Lipide
menöl, Leinsamenöl, Maiskeimöl und v. a. im Saloröl (Synonym: Distelöl), d. i. das Öl aus den Achänen von Carthamus tinctorius L., eine zur Familie der Asteraceae zählende Planze. Linolsäure ist bei Zimmertemperatur lüssig; sie weist den typischen, wenig angenehmen Geruch des Leinöls auf. Verwendet wird die Linolsäure für Hautcremes und für Hautöle bei Sprödigkeit der Haut, bei Schuppenbildung, auch bei Ekzemen. Linolensäure, D-Linolensäure, (all-Z)-9,12,15-Octadecatriensäure, kommt als Glycerolester in vielen Planzenölen vor. Hohe Anteile von bis zu 60% enthält das Leinöl, Lini oleum. Wegen seiner 3 Doppelbindungen ist D-Linolensäure extrem oxidationsempindlich. Öle, die Linolensäureglyceride enthalten, gehören zu den „trocknenden Ölen“. Das Trocknungsvermögen beruht auf der Aufnahme von Sauerstof aus der Lut; es bilden sich Peroxide und Oxygenierungsprodukte, die verharzen. Das „Trocknen“ besteht somit in chemischen Reaktionen: in Autoxidation und Vernetzung. Der oxidative Abbau nach einem radikalischen Mechanismus führt in planzlichen Produkten zu Aromastoffen, die wesentlich die Geruchsnoten von Obst, Gemüse und auch von Arzneidrogen bedingen ( > Abb. 22.3). D-Linolensäure ist eine biochemische Vorstufe für verschiedene Eicosanoide ( > Abb. 22.15). Gammolensäure, J-Linolensäure, (all-Z)-6,9,12Octadecatriensäure, unterscheidet sich von der D-Linolensäure durch die unterschiedliche Lage der Doppelbindungen, indem sie zur Gruppe der Z-6-Fettsäuren zählt. Als Glycerolester kommt sie in vielen Samenfetten zahlreicher Planzenfamilien vor (Janick et al. 1989), angereichert in den Samenölen des Boretsch (Borago oicinalis L.), der Gemeinen Nachtkerze (Oenothera biennis L.), der Roten Johannisbeere (Ribes rubrum L.) und der Schwarzen Johannisbeere (Ribes nigrum L.). In reiner Form bildet J-Linolensäure eine nahezu farblose Flüssigkeit. Arachidonsäure, (all-Z)-5,8,11,14-Eicosatetraensäure, kommt in geringen Mengen in tierischen Depotfetten, in Algenfetten und in Fischölen vor. Sie ist ferner Komponente tierischer Phosphatide. Isoliert wurde sie erstmals aus Lipiden von Tierleber. Als Isolat eine unangenehm riechende ölige Flüssigkeit. Erucasäure, (Z)-13-Docosensäure, ist bei Raumtemperatur fest: weiße Nadeln, die bei 34 °C schmelzen. Als Glycerolester kommt sie in Samenfetten zahlreicher Arten aus den Familien der Brassicaceae (Cruciferae >IIB15a@) und der Tropaeolaceae >IIB15d@ vor. Im Samenöl der Brunnenkresse, Nasturtium oicinale R. Br., entfallen 80%
der Fettsäuren auf Erucasäure, in Raps- und Senfsamen 40–50%. Erucasäure hat neuerdings therapeutisches Interesse gefunden, und zwar zur Behandlung einer seltenen Erbkrankheit, der Adrenoleukodystrophie (Morbus Addison mit Hirnsklerose). Bei diesen Patienten werden infolge einer Funktionsstörung der Peroxisomen im Nervengewebe cerotinreiche Membranlipide gebildet, die letztlich das Myelin zerstören. Biosynthese und Einbau von Cerotinsäure (Hexacosansäure; 26:0) können durch Zufuhr von langkettigen Monoenfettsäuren mit der Nahrung unterdrückt werden. Erucasäure gilt als eine für die menschliche Ernährung gesundheitsschädliche Fettsäure, eine Annahme, die allerdings bisher lediglich aus Tierversuchen hergeleitet wurde. Bei Zufuhr hoher Mengen erucasäurereicher Fette kommt es zu Fettablagerungen im Herzmuskel (Lipidose). Darauhin hat man erucasäurearme Rapssorten gezüchtet, die Öle mit Mengen unter 5% liefern. Die gesetzlich festgelegte Grenzmenge beträgt 5%. Bei Wiederholung mit erucasäurearmen Ölen ließen sich tierexperimentell ebenfalls Myokardititen erzeugen. Somit scheinen die Schädigungen nicht Ausdruck einer speziischen Toxizität der Erucasäure zu sein, sondern Folge einer unsachgemäßen Fütterung der Versuchstiere mit für sie unphysiologischen Fettmengen (Lindner 1990; Macholz u. Lewerenz 1989).
22.1.3
Fettsäuren mit ungewöhnlicher Struktur
Zu den Fettsäuren mit Strukturmerkmalen, die von denen der gewöhnlichen Fettsäuren abweichen (Übersicht vgl. > Abb. 22.4 und Tabelle 22.2) gehören zunächst die beiden überlangen Lignocerin- und Cerotinsäure. Lignocerinsäure wurde zuerst aus verrottetem Eichenholz – daher die Namensbildung mit „lignum“ – durch Destillation gewonnen. Überraschenderweise ist die Säure in kleinen Mengen (0,2–1%) in vielen natürlichen Fetten und Ölen als Glyceridkomponente enthalten. Im tierischen Organismus ist sie Bestandteil der Cerebroside und Sphingomyeline. 15-Dihydrolignocerinsäure (24:1 [15Z]) führt den Trivialnamen Nervonsäure; sie kommt auch in Sphingomyelinen vor. Die Cerotinsäure ist Bestandteil von Bienenwachs, von Wollwachs und von Carnaubawachs. Auch kommt sie im Wachs von Tuberkelbakterien vor, deren Zellwand besonders lipidreich ist. Die Lipidschicht macht etwa 60%
22.1 Fettsäuren
. Abb. 22.4
O
H3C
OH Calendulasäure O
H3C
(CH2)5 CH
CH
O
(CH2)9
CH2
H3C
(CH2)7 C
OH
C
(CH2)n
CH2
Lactobacillussäure
OH
n = 6 : Malvaliasäure n = 7 : Sterculiasäure
O
R
OH R = CH3 : Lignocerinsäure, 24:0 R = n-C3H7 : Cerotinsäure, 26:0 OH
H3C Taririnsäure
O
O
H3C OH H 12
OH
9
(12R)-(+)-Ricinolsäure CH3
CH3
CH3
CH3 O
H3C Pristansäure
OH O 9
OH
H3C Parinarsäure O 9
H3C
O Vernolsäure
OH O OH
H
(+)-Chaulmoograsäure O O
R R = CH3 : α-Nonalacton R = n-C3H7 : Undecalacton
Beispiele für nicht allgemein vorkommende Fettsäuren
22
745
746
22
Lipide
. Tabelle 22.2 Fettsäuren mit ungewöhnlicher Struktur Trivialname
Besondere Merkmale
Systematischer Name
Vorkommen
Calendulasäure
Konjuensäure
(8 E, 10 E, 12Z)-Octadecatriensäure
In Samenölen von Calendula-Arten
Cerotinsäure
Langkettig
Hexacosansäure
Bestandteil von Bienenwachs, Wollwachs, Carnauba- und Gräserwachsen; auch im Wachs von Tuberkelbazillen
Chaulmoograsäure
Cyclopentenylring
13-cyclo-Pent-2-enyltridecansäure
Samenöle von Flacourtiaceae
Lactobacillussäure
Cyclopropanring
11,12-Methylenoctadecansäure
In Bakterienfetten
Lignocerinsäure
Langkettig
n-Tetracosansäure
Samenöle von Fabaceae u. Sapindaceae
Parinarsäure
trans-(E)-Konfiguration (9Z, 11 E, 13 E, 15Z)-Octadecatetraensäure
Pristansäure
Verzweigtkettig
(6R, 10R)-2,6,10,14-Tetramethylpenta- Haifischleberöl, Heringsöl, im Plankdecansäure ton, in Anisfrüchten
Ricinolsäure
Hydroxygruppe
(R)-(+)-12-Hydroxyoctadecansäure
Im Rizinusöl
Taririnsäure
Acetylenbindung
Octadeca-6-insäure
In Samenfetten von Simaroubaceae
Sterculiasäure
Cyclopropenring
2-Octyl-1-cyclopropen-1-octansäure
Baumwollsamenöl und Öl weiterer Malvengewächse
Vernolsäure
Epoxidring
12,13-Epoxyölsäure und Oenotheraceae
In Samenölen zahlreicher Asteraceae
der Bakterientrockenmasse aus und ist die Ursache für die besonders stark ausgeprägte Resistenz der Mykobakterien gegenüber äußeren Einlüssen. Lignocerin- und Cerotinsäure werden hinsichtlich ihrer Kettenlänge von den Mykolsäuren der eben erwähnten Tuberkelbakterien weit übertrofen: Mykolsäuren sind gesättigte Fettsäuren mit Kettenlängen von 60–90 C-Atomen. Cyclopropenfettsäuren kommen in Samenölen von Malven und Sterkuliengewächsen vor. Baumwollsaatöl, ein Nebenprodukt des Baumwollanbaues (Gossypium herbaceum L. und andere G.-Arten), enthält 10–14% Malvalia- und Sterculiasäure. Sterculiasäure wurde zuerst aus dem Samenöl von Sterculia foetida L. (Sterculiaceae >IIB16b@) isoliert, was der Name anzeigt. Die Planze ist in den Tropen der Alten Welt beheimatet; die Samen werden roh oder geröstet verzehrt. Cyclopropenfettsäuren treten gemeinsam mit Cyclopropanfettsäuren, z. B. der Lactobacillussäure, in Bakterienfetten auf. Die ungesättigten Cyclopropenfettsäuren haben bei Versuchstieren cokanzerogene Eigenschaten (Macholz u. Lewerenz 1989; Marquardt u. Schäfer 1994).
Samenöle von Balsaminaceae und Rosaceae
Verzweigtkettige Fettsäuren vom Typus der Pristan- und Phytansäure (Homopristansäure) sind Abbauprodukte des Chlorophylls. Die Mikrolora im Pansen der Wiederkäuer spaltet Chlorophyll zu Produkten, die im tierischen Organismus weiter zu Pristanund Phytansäure abgebaut werden. Über die Milch, Butter und tierisches Fett gelangen sie in den menschlichen Organismus. Zu evtl. schädlichen Auswirkungen gibt es keine Anhaltspunkte, außer bei Vorliegen eines äußerst seltenen Enzymdefektes, der sog. RefsumKrankheit. Chaulmoograsäure ist Bestandteil der Triglyceride des Chaulmoograöles, das aus den Samen von Hydnocarpus-Arten (z. B. H. wighthiana Blume; Familie: Flacourtiaceae >IIB12 g@) gewonnen werden kann. Die Säure wirkt auf Mykobakterien bakterizid, weshalb man versucht hat, sie in der Leprabehandlung einzusetzen, allem Anschein nach aber ohne evidente herapieerfolge. Ricinolsäure ist die Hauptkomponente (etwa 90%) in den Triacylglyceriden des Rizinusöls, aus dem sie durch hydrolytische Spaltung gewonnen wird. Die im Dünndarm durch Lipasen aus Rizinusöl freigesetzte Ricinolsäu-
22.1 Fettsäuren
re wirkt antiabsorptiv und hydragog. Siehe dazu auch Rizinusöl, S. 776. Ricinolsäure ist in Position C-12 hydroxyliert: Wird eine Fettsäure in Position C-4 hydroxyliert, so besteht die Möglichkeit, dass sich ein Lactonring ausbildet. Nonalacton z. B. ist der Geruchsträger der Kokosnuss, Undecalacton ein typischer Dutstof der Pirsiche.
22.1.4
Biosynthese von Fettsäuren
Es kann nur eine knappe Übersicht gegeben werden. Hinsichtlich der Details sei auf Lehrbücher der Biochemie verwiesen (z. B. Löler u. Petrides 2003; Kindl 1994; Nelson u. Cox 2001; Stryer 1996). Der Übersichtlichkeit wegen wird das hema wie folgt untergliedert: x Biosynthese von Palmitin- und Stearinsäure, x Desaturierung der Stearin- zur Ölsäure, x Kettenverlängerung der Stearinsäure, x Biosynthese von mehrfach ungesättigten Fettsäuren.
Biosynthese von Palmitin- und Stearinsäure Syntheseorte. Orte der Fettsäurebiosynthese sind bei Bakterien und Hefen das Cytosol. Bei grünen Planzen werden Fettsäuren in den Chloroplasten synthetisiert. Sie werden vor allem zur Synthese der Membranlipide verbraucht, werden aber nicht zur Einlagerung in reifende Samen und Früchte herangezogen. Im Speichergewebe erfolgt die Biosynthese in besonderen Organellen, und zwar aus Saccharose – nach deren Abbau zu Acetyl-SCoA. (Im Stadium der Samenreife werden den Samen große Saccharosemengen durch die Leitbündel zugeführt.) Bei Wirbeltieren können die Zellen vieler Gewebe Fettsäuren aus Acetyl-SCoA biosynthetisieren (Bildung von Fett ist quantitativ ein Hauptweg der Kohlenhydratutilisation). Die Biosynthese erfolgt ausschließlich im Cytosol, wo auch der entsprechende Enzymkomplex lokalisiert ist. Fettsäuresynthase. Sämtliche Teilreaktionen der Fettsäu-
resynthese werden von der Fettsäuresynthase katalysiert, die eine Art von Mikrokompartiment darstellt. Der Detailbau der Fettsäuresynthase ist in verschiedenen Organismengruppen unterschiedlich. Gemeinsam ist allen Fettsäuresynthasen ein Aubau aus (mindestens) sieben katalytischen Zentren, die zu
22
einem Multienzymkomplex zusammengeschlossen sind. Der Detailaubau des Multienzymkomplexes ist jedoch unterschiedlich: x Bei Bakterien und bei Planzen sind die sieben Aktivitäten auf sieben separate Polypeptide verteilt. x Bei Hefen inden sich die sieben verschiedenen aktiven Zentren auf zwei große multifunktionale Proteine verteilt, und zwar drei Aktivitäten auf die der D-Untereinheit und vier Aktivitäten auf die der E-Untereinheit. x Bei Wirbeltieren sind alle sieben Aktivitäten auf einem einzigen multifunktionellen Protein untergebracht, das aber als Monomer unwirksam ist und nur in der Form eines dimeren Komplexes wirksam wird. Die tierische Fettsäuresynthase besteht somit aus einem dimeren Komplex D zweier multifunktioneller Proteine. Jede der beiden Untereinheiten (UE) enthält sämtliche zu einem Reaktionszyklus benötigten Enzyme als Domänen auf einer Peptidkette: N-Terminal die Domäne der Ketoacylsynthase, gefolgt von der Malonyl/Acetyltransferase, der Dehydratase, der Enoylreduktase, der Ketoreduktase, des „Acylcarrierproteins“ (ACP) sowie schließlich der für die Abspaltung der fertigen Fettsäure benötigten hioesterase. Die beiden das funktionelle Enzym bildenden UE sind in Kopf/Schwanz-Symmetrie so assoziiert, dass 2 katalytische Hohlräume gebildet werden. Jedes dieser Zentren besteht aus der Ketoacylsynthase-, der Malonyl/Acetyltransferase- und der Dehydrasedomäne der einen UE und der Enoylreduktase-, der Ketoreduktase-, der ACPund der hioesterasedomäne der anderen UE (Abbildungen bei Smith 1994 und Löler u. Petrides 2003). Zwei für die Funktion der Synthase wichtige Sulfhydrylgruppen. Im Fettsäuresynthasekomplex kommen zwei
für seine Funktion essentielle Sulhydrylgruppen vor: eine zentrale und eine periphere. Die zentrale SH-Gruppe gehört dem 4’-Phosphopantethein an, das kovalent über die OH-Gruppe eines Seitenteils in der Polypeptidkette des ACP gebunden ist ( > Abb. 22.5). Die zweite SH-Gruppe gehört zu einem Cysteinylrest im aktiven Zentrum der kondensierenden Domäne, d. h. der Ketoacylsynthase. Im Verlaufe der Fettsäurebiosynthese wechselt die wachsende Kette zwischen den beiden Sulhydrylgruppen mehrfach die Plätze (Translokation). Prinzip der De-novo-Synthese. Der Start erfolgt mit Ace-
tyl-SCoA. Das Reagens, das die C2-Gruppe sukzessive um weitere C2-Einheiten verlängert, ist Malonyl-SCoA; die
747
748
22
Lipide
. Abb. 22.5 Polypeptid des ACP Serinrest O H N
O HO
P O
O H3C
CH3
O
4'
H
OH
O N H
Pantothensäurebaustein
N H
SH
Cysteaminbaustein
4'-Phosphopantethein
4’-Phosphopantethein als prosthetische Gruppe des Acylcarrierproteins (ACP). Die Sulfhydrylgruppe des Cysteaminbausteins bildet die sog. zentrale Sulfhydrylgruppe der Fettsäuresynthase. Die Fettsäuresynthese startet mit der Aufnahme eines Acetylrestes vom Startermolekül Acetyl-SCoA und transloziert sie auf die periphere Sulfhydrylgruppe in der kondensierenden Domäne des Komplexes
intermediär zur Aktivierung des Acetats eingesetzte Carboxylgruppe geht bei der anschließenden Kondensation wieder als CO2 verloren. Zur Reaktion der Carbonylgruppe werden pro C2-Einheit 2 Moleküle NADP-H/H+ benötigt. Hauptprodukte der De-novo-Synthese sind bei Planzen Palmitin- und Stearinsäure, bei Säugetieren und Mensch Palmitinsäure. Reaktionsfolge. Die De-novo-Synthese gliedert sich in Startreaktion, Kettenverlängerung und Abschlussreaktion. In einem den ersten Zyklus einleitenden Schritt wird eine Acetylgruppe vom Acetyl-S-CoA auf die zentrale SHGruppe und anschließend von ihr auf die periphere SHGruppe übertragen. An die frei gewordene zentrale SHGruppe wird Malonyl (von Malonyl-SCoA) gekoppelt. Der erste Kondensationsschritt besteht darin, dass der Acetylrest der peripheren SH-Gruppe auf den Malonylrest der zentralen SH-Gruppe unter Abspaltung von CO2 übertragen wird. Das Reaktionsprodukt ist ein am ACP hängender Acetoacetylrest (Acetoacetyl-S-ACP), der in der Folge zu einem Butyryl-S-ACP reduziert wird ( > Abb. 22.6), der nunmehr auf die periphere SH-Gruppe übertragen wird, worauf die wieder freie zentrale SHGruppe erneut einen Malonylrest binden kann. Der 2. Umlauf setzt dann mit Butyryl anstelle von Acetyl an
der peripheren SH-Gruppe ein. Die weiteren Zyklen führen auf diese Weise zu C6-, C8-, C10- usw. Einheiten. Wenn eine Kettenlänge von C16 und C18 erreicht ist, erfolgt an Stelle des Acyltransfers die Abschlussreaktion. Die Acylgruppe wird nicht auf ein Malonyl der zentralen SH-Gruppe übertragen, sondern auf die SH-Gruppe von Coenzym A. Die Coenzym-A-Palmityl- oder -Stearylsäure kann modiiziert (verlängert und/oder dehydriert) oder unmittelbar zur Synthese von Triacylglyceriden herangezogen werden ( > dazu Abschnitt Biosynthese von Fettsäuren). Herkunft der Substrate. Die für die Fettsäurebiosynthese benötigten Substrate entstammen der Glykolyse oder dem Citratzyklus. Der für die Reduktionsschritte benötigte Wasserstof stammt in Form von NADP-H/H+ aus dem oxidativen Abbau der Glucose über den Hexosemonophosphatweg. Sowohl Hexosemonophosphatweg als auch die Fettsäuresynthese laufen bei Pilzen und Tieren im Cytosol ab; daher können beide Prozesse den cytosolischen NADP-H/H+-Pool ohne Behinderung durch Permeabilitätsschranken benutzen. Anders verhält es sich mit dem Acetyl-SCoA als Kohlenstofquelle. Zwar bildet sich Pyruvat glykolytisch im Cytosol, doch ist die Pyruvatdehydrogenase ein mitochondriales Enzym. Pyruvat wird in die
22.1 Fettsäuren
. Abb. 22.6 O
S CoA
HO +
H3C
S Protein
O
Acetyl an die periphere SH-Gruppe gekoppelt
O
Malonyl-S-ACP
Kondensation unter Freiwerden der peripheren SH-Gruppe
1 CO2
O
O
H3C
S
ACP
Acetoacetyl-S-ACP NADP-H / H erste Reduktion
+
2
22
Mitochondrien transportiert und dort zu Acetyl-SCoA umgewandelt, das aber nicht als solches durch die Mitochondrienmembran ins Zytoplasma permeieren kann. Es wird durch Reduktion mit Oxalacetat mittels der Citratsynthase zu Citrat umgesetzt, in den cytosolischen Raum transportiert und durch die hier lokalisierte Citratlyase in Acetyl-SCoA rückverwandelt. Das für die kettenverlängernde Kondensationsreaktion benötigte MalonylSCoA entsteht in einer Carboxylierungsreaktion aus Acetyl-SCoA mittels der biotinabhängigen Acetyl-SCoA-Carboxylase. Wie oben erwähnt, ist für Pilze und Wirbeltiere das Cytosol der Ort des Fettsäureaubaus. In der grünen Planze sind hingegen die Plastiden Biosyntheseort. AcetylSCoA wird von der plastidären Pyruvatdehydrogenase aus Pyruvat erzeugt; zusätzlich kann Acetat in den Chloroplasten aufgenommen und in Acetyl-SCoA überführt werden ( > Abb. 22.7, links unten).
NADP + HO
O
H
H3C
Biosynthese von ungesättigten Fettsäuren S
ACP
3-Hydroxybutyryl-S-ACP 3 H2O O H3C
S
ACP
Crotonyl-S-ACP NADP-H / H zweite Reduktion
+
4 NADP + O
H3C
S
ACP
Butyryl-S-ACP
Die erste Reaktionsrunde im Aufbau der Fettsäuren. Während der 4 Reaktionsschritte bleiben die Acylreste an der zentralen Sulfhydrylgruppe verankert. Enzyme: 1 β-Ketoacyl-ACP-Reduktase, 2 β-Ketoacyl-ACP-Reductase, 3 EnoylACP-Hydratase, 4 Enoyl-ACP-Reduktase
Für die Biosynthese ungesättigter Fettsäuren werden Enzyme benötigt, die hydroxylieren (Monooxygenase, > S. 84) und Wasserstof übernehmen (Reduktasen, hier: Desaturase). In grünen Planzen erfolgt die Desaturierung der Stearinsäure (18: 0) zur Ölsäure (18:1) noch durch Enzyme des Fettsäuresynthasekomplexes. Hydrolyse des OleylACP zu Oleyl-SCoA ermöglicht es, dass die Ölsäure als Oleyl-SCoA aus dem Plastiden herausgeschleust wird. Dann wird Oleat an Phosphatidylcholin (PC) des endoplasmatischen Reticulums (ER) gebunden und in gebundener Form zur Linolsäure (18:2) desaturiert. Die Desaturierung zur Linolensäure (18:3) geht wiederum im Plastiden vor sich, nachdem Linolensäure-PC an Monogalactosyldiacaylglycerol (MGDG) gebunden wird ( > Abb. 22.7). Daneben gibt es einen 2. Weg der Desaturierung, den sog. „prokaryotischen Weg“, der ausschließlich innerhalb der Chloroplasten abläut. Die beiden Produkte des Fettsäuresynthasekomplexes, Palmitin-ACP (16: 0) und OleylACP, werden nach Bildung an MGDG stufenweise desaturiert: Aus Palmitinsäure (16:0) entstehen die mehrfach ungesättigten C16-Säuren (16:1, 16:2 und 16:3), aus Ölsäure die mehrfach ungesättigten C18-Säuren [Linolsäure (18:2) und Linolensäure (18:3)] als Bestandteile der Acylgalactolipide der Plastidmembranen ( > Abb. 22.7).
749
750
22
Lipide
. Abb. 22.7 weitere Kettenverlängerung
(18:1)−SCoA (18:0)−SCoA (16:0)−SCoA
(18:1)−PC (18:2)−PC
ER PLASTID
(18:2)−PC
(18:2)−MGDG
(18:3)−MGDG
(18:1)−SCoA (18:0)−SCoA
(18:1)−ΑCP
(16:0)−SCoA (18:0)−ΑCP
Pyr
Mal−SCoA
Mal−ΑCP
Ac−SCoA
Ac−ACP (16:3)−MGDG
(16:0)−ΑCP
(16:0)−MGDG
(16:2)−MGDG
(16:1)−MGDG
Biosyntheseschema der Fettsäurendesaturierung in Pflanzen (nach Sandmann u. Böger 1995). Näheres im Text. Pyr Pyruvat, Mal Malonyl, Ac Acetyl, MGDG Monogalactosyldiglycerid, ACP Acylcarrierprotein, ER endoplasmatisches Retikulum
Bis zu 80% der gesamten Fettsäuren des Gewebes höherer Planzen entfallen auf ungesättigte C18-Säuren (18:1, 18:2, 18:3), 5–10% auf ungesättigte C16-Säuren in den sog. 16:3-Planzen (Übersicht bei Sandmann u. Böger 1996). An den Gesamtfettsäuren hat die D-Linolensäure einen Anteil von 50–70%. Die in Säugetierorganismen vorkommenden Desaturasen besitzen eine sehr eingeschränkte Speziität: Sie können gesättigte Fettsäuren nur in der Position C-9 dehydrieren: Palmitinsäure (16:0) zur Palmoleinsäure (16:1) und Stearinsäure (18:0) zu Ölsäure (18:1). Von planzlichen Desaturasen können auch an weiter vom Carboxylende entfernte Positionen Doppelbindungen eingeführt werden ( > Abb. 22.8). Auf diesen Unterschied in den Speziitäten der Desaturasen geht der Umstand zurück, dass die Zufuhr bestimmter Fettsäuren planzlicher Herkunt für Tier und Mensch essentiell ist. Fehlen in der Nahrung sowohl Linol- als auch Arachidonsäure, so hat das Mangelerscheinungen zur Folge. Junge Tiere zeigen Hautveränderungen, verminderte Kapil-
larresistenz, erhöhte Gefäßpermeabilität sowie Neigung zu ischämischen Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Kettenverlängerung der C18-Säuren Bei Pflanzen. Die Kettenverlängerung erfolgt mikrosomal. Die Fettsäuren werden durch Anlagerung von Malonyl-SCoA verlängert mit NADP-H/H+ als Wasserstofdonator. In reifenden Samen vieler Kreuzblütler (Brassicaceae) wird während des Aubaus von Lipidreserven Oleyl-SCoA [18:1 (9)] in Erucasäure [22:1 (13)] überführt. Weitaus verbreiteter, ubiquitär, ist die Bildung von Wachssäuren und Wachssäurederivaten ( > Abb. 22.9). Im tierischen Organismus. Auch tierische Zellen (der Le-
ber) sind imstande – allerdings nur ganz bestimmte ungesättigte Fettsäuren, insbesondere die mit der Nahrung zugeführte Linolsäure [18:2 (9, 12)] – um eine C2-Kette zu
22
22.1 Fettsäuren
. Abb. 22.8
9
H3C
COOH
Ölsäure, ω 9
12
9
COOH
H3C
6
9
H3C
COOH
Linolsäure, ω 6
Isolinolsäure, ω 9 C2
H3C
15
12
9
COOH
11
H3C
8
COOH
α-Linolensäure, ω 3 (Leinöl, Sojabohnenöl)
Eicosadiensäure, ω 9 20:2 (8,11)
C2 H2
2 H2 H3C
17
14
11
8
5
COOH
11
H3C
8
5
COOH
Eicosatriensäure, ω 9 20:3 (5,8,11)
Eicosapentaensäure, ω 3 20:5 (5,8,11,14,17) (in Algen, Moosen, Farnen)
tierische Organismen pflanzliche Organismen
Pflanzliche Organismen können Doppelbindungen sowohl in Richtung auf das Methylende (in ω-Richtung) als auch in Richtung auf das Carboxylende einführen. Demgegenüber verfügen Säugetiere und der Mensch nur über die biochemische Möglichkeit, Doppelbindungen in Richtung auf das Carboxylende einzuführen. Wird ihnen keine Linolsäure angeboten – bei Mangel an Linolsäure in der Nahrung – wird die Ölsäure zu Isolinolsäure und zu Folgeprodukten dehydriert, die aber nicht die physiologischen Funktionen der Linolsäurefamilie (ω6-Familie) übernehmen können
. Abb. 22.9
C27-Alkan
C29-Alkan
C31-Alkan
CO2
CO2
CO2
Malonyl−SCoA C18−SCoA
C24
C26
C28
C30
C32
(C20 bis C32)−SCoA (C20 bis C32)−Aldehyde
(C20 bis C32)−Alkohole
Wachsester
Bildung von Wachsbestandteilen durch Kettenverlängerung aus Steaoryl-SCoA und Malonyl-SCoA. Es gibt Hinweise für die Existenz spezieller Elongasen. Durch Decarboxylierung bilden sich die ungeradzahligen Kohlenwasserstoffe, durch Reduktion die Wachsalkohole. Eine extrazelluläre Acyltransferase bildet die Wachsester
751
752
22
Lipide
. Abb. 22.10
Membranphospholipide tierischer Gewebe Phospholipase A2
Arachidonsäure
Lipoxygenase
Prostaglandin H2 in Geweben
weitere Prostaglandine
5 - Hydroperoxyeicosatetraenoat (5 - HPETE)
Leukotrien A 4
in Thrombozyten
Thromboxane
weitere Leukotriene
Arachidonsäure ist die wichtigste Vorstufe der Prostaglandine, Thromboxane und Leukotriene. Die Arachidonsäure selbst wird durch eine Phospholipase A2 aus Phospholipiden der Zellwandmembran abgespalten. Zu den Spezifitäten der verschiedenen Phospholipasen vgl. Abb. 22.32
verlängern. Unter Einschluss zweier Desaturierungsschritte wird Arachidonsäure gebildet [20:4 (5, 8, 11, 14)].
. Abb. 22.11
OOH
H
COOH
5
22.1.5
CH3
Eicosanoide
Eicosanoide ist eine Sammelbezeichnung für Sauerstofderivate ungesättigter Fettsäuren mit 20 Kohlenstofatomen (griech.: eikosa [zwanzig]), die im tierischen Organismus aus Arachidonsäure und deren 17Z-Dehydroderivat, der (all-Z)-5,8,11,14,17-Eicosapentaensäure, durch Einwirkung von Oxygenasen gebildet werden. Über biochemische Zwischenstufen entstehen sowohl zyklische Produkte – die Prostaglandine und hromboxane – als auch azyklische Produkte, die Leukotriene ( > Abb. 22.10 und 22.11).
5-HPETE O
COOH
5 6
CH3 Leukotrien A4 O
9
5
11
O
COOH CH3
13
OH
Prostaglandine und Thromboxane Prostaglandin H2
Die Benennung der Prostaglandine (PG) erfolgt durch Nachstellung der Buchstaben A bis J, je nach Art der Substitution des Cyclopentanringes. Die Indexzahl weist auf die Zahl der Doppelbindungen in den Seitenketten hin ( > Abb. 22.12). Gebildet werden die Prostaglandine in fast allen Geweben von Säugetier und Mensch; auch in Insekten werden sie gefunden, in bemerkenswert hohen Konzentrationen zudem in bestimmten Korallen. Aufallend an den Prostaglandinen ist zunächst einmal die Vielfalt und Heterogenität ihrer biologischen Wirkungen. Sie beeinlussen im menschlichen und tierischen
9 5
O 11
13
O
12
15
OH Thromboxan A2
Struktur einiger Eicosanoide
COOH CH3
22.1 Fettsäuren
22
. Abb. 22.12 9
1
5
COOH CH3
20
11
Grundgerüst : Prostan-1-säure O
O
O
PGA
PGB
PGC
HO
O
HO
O
HO
HO
PGD
PGE
Beispiel:
PGFα COOH
O O
O
O
R
9
6
10
R = OH : PGH R = OOH : PGG
7 8
HO
HO
PGI (Prostacycline)
13
15
CH3
OH PGI2
Für die Nomenklatur der Prostaglandine gelten die folgenden Vereinbarungen: Verbindungen ohne olefinische Doppelbindung im Ring mit Carbonyl am C-9 heißen Prostaglandine E (PGE), Reduktion der Ketogruppe führt zu Prostaglandinen F (PGF). Die Prostaglandine A und B (PGA und PGB) leiten sich von denen der Gruppe E ab; der Unterschied liegt im Vorkommen einer Doppelbindung im Cyclopentanring. Der Zifferindex weist auf die Zahl der Doppelbindungen in den Seitenketten hin. Bei den Prostaglandinen F bedeutet die Bezeichnung α, dass sich die Hydroxylgruppe an C-9 sowohl, wie auch weitere im Molekül vorkommende Hydroxylgruppen, in α-Stellung befinden. Das Beispiel zeigt Prostaglandin I2 (Prostacyclin), das im Organismus in Gefäßendothelzellen aus PGFα entsteht
Organismus so verschiedenartige Vorgänge wie Kontraktion und Relaxation glatter Muskeln, die Sekretion von Elektrolyten und Hormonen, die Aktivierung von Entzündungszellen, die hrombozytenaggregation, die Sensibilisierung schmerzleitender Nervenfasern und die Auslösung von Fieber. Mit dieser Vielfältigkeit von Wirkungen stehen besondere Schwierigkeiten bei der therapeutischen Anwendung von Prostaglandinen in Zusammenhang: das Autreten zahlreicher unerwünschter Nebenwirkungen. Zur Verfügung stehen die Prostaglandine E1, E2 und F2. Typisch für die Prostaglandine ist sodann, dass sie nicht gespeichert werden, wenn man von der Speicherung
in der Samenlüssigkeit absieht. Sie werden vielmehr auf verschiedene Reize hin neu synthetisiert und nach ihrer Bildung sehr rasch wieder zu inaktiven Metaboliten abgebaut. In den meisten Zellen und Geweben des Säugetierorganismus ist die stationäre Konzentration an Prostaglandinen so gering, wenn nicht überhaupt gegen Null konvergierend, dass es exakter ist, anstelle von einem Prostaglandinvorkommen von der Fähigkeit zu ihrer Synthese zu sprechen. Eine bemerkenswerte Ausnahme ist die oben erwähnte Speicherung in bestimmten Meereskorallen. Prostaglandin F2 hat in vielerlei Hinsicht eine den Prostaglandinen E2 und I2 (Prostacyclin; > Abb. 22.12)
753
754
22
Lipide
entgegengesetzte Wirkung. So wirkt PGF2 uteruskontrahierend, die Prostaglandine E2 und I2 hingegen wirken auf die glattmuskeligen Organe relaxierend. Mit einem Missverhältnis von PGE2 und Prostacyclin bringt man die mit primärer Dysmenorrhoe einhergehenden Symptome – Ischämie, pathologische Kontraktionen, Schmerz – in Zusammenhang. Ein Ungleichgewicht der an der endokrinen Kontrolle im Bereich des Endometriums beteiligten Sexualhormone Östradiol und Progesteron induziert eine fehlerhate Prostaglandinausbildung mit zu viel PGF und zu wenig Prostacyclin (Friedberg 1991). Darauf beruht die Empfehlung, durch diätetische Veränderung der Fettsäurezufuhr die Dysmenorrhoe nebenwirkungsfrei zu behandeln. hromboxane kommen wie die Prostaglandine in allen Körpergeweben vor. Unterteilt werden die hromboxane (TX) in die TXA-Reihe, gekennzeichnet durch eine bizyklische Struktur mit einem Oxetanring, und die TXBReihe, bei denen der Oxetanring hydrolytisch gespalten wurde ( > Abb. 22.13). Bestimmte Prostaglandine und hromboxane haben in vielen Aspekten antagonistische Efekte. Störungen in der Biosynthese führen zu einem unausgewogenen Mengenverhältnis, was als Ursache einer Reihe von pathologi. Abb. 22.13
PGH2
Prostaglandine
Thromboxansynthetase 9 8
10
5
O 11
O
1
COOH CH3
15
12
20
13
11a
Thromboxan A2 (TXA2)
OH OH 8
10
5
11
HO
O
15
12 13
1
COOH CH3
Thromboxan B2 (TXB2)
20
OH
Abzweigung des Biosyntheseweges, der zu den Thromboxanen führt, vom Prostaglandin PGH2. Unter physiologischen Bedingungen wird der Oxetanring innerhalb von Sekunden (biologische HWZ ca. 30 s) hydrolysiert. Die biologische Aktivität ist an die Vertreter der TXA-Reihe gebunden; die Thromboxane der TXB-Reihe weisen eine nur noch geringe Aktivität auf
schen Zuständen angesehen wird. Von besonderem Interesse sind die Beziehungen zwischen PGI2 und dem TXA2. So indet sich bei Diabetes mellitus mit Gefäßkomplikationen eine Hemmung der PGI2-Bildung und eine gesteigerte TXA2-Synthese. Auch für die Entstehung der Arteriosklerose wird eine ähnliche Störung des Gleichgewichtes verantwortlich gemacht: Das arteriosklerotisch geschädigte Gewebe synthetisiert weniger PGI2, weswegen allein schon die plättchenaggregierende Wirkung der hromboxane überwiegt. Auf dieser pathophysiologischen Basis beruht die Behandlung der Koronarsklerose mit Hemmstofen der Cyclooxygenase. Die wirksamsten Hemmstofe sind Aspirin (Acetylsalicylsäure) und Sulinpyrazon.
Leukotriene Ihren Namen erhielten die Leukotriene aufgrund ihrer Herkunt aus Leukozyten und aufgrund der 3 konjugierten Doppelbindungen im Molekül (Triensystem). Die physiologische Funktion der Leukotriene ist ungeklärt. Sie sind an einer Reihe von pathophysiologischen Mechanismen beteiligt. Freisetzung von Arachidonsäure aus Mastzellen nach immunologischen Stimuli führt u. U. zur Bildung von TXA2 und „slow reactive substance“ (SRS), bestehend aus den Leukotrienen LTC4 plus LTD4 ( > Abb. 22.14). Die Leukotriene A4, C4 und D4 gehören zu den stärksten Konstriktoren der Bronchialmuskulatur, beispielsweise ist LTC4 100- bis 1000-mal wirksamer als Histamin und spielt bei der Entstehung von Asthmaanfällen eine entscheidende Rolle. Hemmstofe der 5-Lipoxygenase, des Enzyms, das die Bildung von LT aus Arachidonat katalysiert, bieten somit einen erfolgversprechenden neuen Ansatz zur Entwicklung von neuen Antiasthmatika (Ukena 1997). Auch in eine Reihe von Entzündungsreaktionen sind Leukotriene eingeschaltet. LTB4 z. B. wirkt chemotaktisch auf Leukozyten. Man nimmt daher an, dass es an der Wanderung von weißen Blutkörperchen in Entzündungsgebiete beteiligt ist. Neue herapieansätze zur Behandlung von Krankheiten, die mit chronischen Entzündungen einhergehen, zielen daher auf eine Hemmung der Leukotrienbiosynthese mittels 5-Lipoxygenasehemmern. Zu den Lipoxygenasehemmern planzlicher Herkunt gehört die Boswelliasäure, eine pentazyklische Triterpensäure ( > Kap. 24.5.4), die im Weihrauch, dem Harzexsudat von Boswellia-Arten (Burseraceae >IIB18b@), vorkommen.
22
22.1 Fettsäuren
. Abb. 22.14
COOH
COOH H
COOH
N
Glutathion
N
O
Leukotrien A4 (s. Abb. 3.11)
HN
NH2 O
S
NH2
O
Glu
S COOH
COOH OH
OH
CH3
CH3 Leukotrien C4
Leukotrien D4
Glu OH Leukotrien E4
COOH CH3 OH Leukotrien B4
Aus dem Leukotrien A4 (LTA4; > Abb. 22.11) entsteht durch Anlagerung von Glutathion und Öffnung des Epoxidrings Leukotrien C4 (LTC4), nach schrittweiser Abspaltung von Glutamat (Glu) und Glycin (Gly) die Leukotriene D4 und E4 (LTD4 und LTE4). Durch Einwirkung einer Epoxidhydrolase entsteht aus LTC4 Leukotrien B4 (LTB4)
Anhang: Bildung spezieller Eicosanoide („Eskimodiät“) Auf Grönland lebende Eskimos weisen eine unterdurchschnittliche Rate an Herzinfarkten auf, während in Dänemark lebende Eskimos die gleiche Infarktrate wie Mitteleuropäer zeigen. Zahlreiche epidemiologische Studien sprechen dafür, dass die Ernährung mit Fisch Einluss auf die Blutlipide hat. Die im Fischöl vorkommenden Z3-Fettsäuren wirken über Senkung der Serumlipidkonzentration, Verminderung der hrombozytenaggregation und über verschiedene andere Efekte verzögernd auf die Arterioskleroseentwicklung. Seetiere (Meeressäuger und Fische) enthalten verschiedene langkettige Z3-Fettsäuren, insbesondere Eicosapentaensäure [20:5 (5, 8, 11, 14, 17)] und Docosahexadiensäure [22:6 (4, 7, 10, 13, 16, 19)]. Nach Verzehr bildet der Mensch aus diesen langkettigen, ungesättigten
Z3-Fettsäuren spezielle Prostacycline, hromboxane und Leukotriene ( > Abb. 22.15), die eine Reihe von antiarteriosklerotischen Wirkungen haben. Beispielsweise senken sie den Blutdruck und vermindern die hrombozytenaggregation (Literatur bei Kasper 1996). Man nimmt an, der Urmensch habe eine fettarme, aber an Z3-Fettsäuren reiche Kost verzehrt, die mit dem Sesshatwerden und dem zunehmenden Verzehr der an Z3-Fettsäuren armen Fette von Haustieren geringer wurde. Der ursprünglich auf einen hohen Verzehr an Z3-fettsäurereichen Ölen eingestellte Stofwechsel habe sich bis heute noch nicht hinreichend umgestellt, woraus sich die Neigung zur Arterioskleroseentwicklung erklären würde (Weber et al. 1985). Ein regelmäßiger Fischverzehr, ca. 2- bis 3-mal pro Woche, beugt nach einer Studie (Kromhout et al. 1985) wahrscheinlich der koronaren Herzerkrankung entscheidend vor. Eine weitere Möglichkeit ist die Einnahme von Fischölkapseln ( > auch Abschnitt 14.4.8).
755
756
22
Lipide
. Abb. 22.15
α - Linolensäure 18 : 3 ω - 3
Linolsäure 18 : 2 ω - 6
γ - Linolensäure 18 : 3 ω - 6 Ketten verlängerung
Dihomo - γ - Linolensäure 20: 3 ω - 6
Desaturase
Arachidonsäure 20: 4 ω - 6
Eicosapentaensäure 20 : 5 ω - 3
Cyclo oxygenase
Cyclooxygenase
Cyclo oxygenase
Serie -1- Eicosanoide PGD1 PGE1 PGI1 TXA1
Serie -2- Eicosanoide PGE2 PGI2 TXA2
Serie - 3 - Eicosanoide PGE3 PGI3 TXA3
Aus verschiedenen C20-Vorstufen (Di-homo-γ-linolensäure, Arachidonsäure und Eicosapentaensäure) werden unter dem Einfluss identischer Enzyme im tierischen Organismus 3 unterschiedliche Serien von Prostaglandinen und Thromboxanen gebildet, die sich in den Seitenketten sowie in der Zahl der Doppelbindungen unterscheiden. Der Index zeigt die Zahl dieser Doppelbindungen an. Die Zahl dieser Doppelbindungen bedingt unterschiedliche Wirkungen und oft gegensätzliche Effekte (nach Kasper 1996)
! Kernaussagen x
x
x
x
Fettsäuren sind Bausteine von Lipiden, insbesondere von Fetten, Phospholipiden und Wachsen. In der Regel bestehen Fettsäuren aus einer geraden Zahl unverzweigter Kohlenwasserstoffketten. Die Kette kann entweder gesättigt sein oder eine oder mehrere nichtkonjugierte cis-Doppelbindungen aufweisen. Einige seltene Fettsäuren sind durch Hydroxy-, Epoxy-, Oxo- oder Methylgruppen substituiert. Am bekanntesten ist die Ricinolsäure (18:1 >9@, 12-OH). Substituierte Fettsäuren haben Bedeutung als Leitstoffe in der Fettanalytik. Zum Aufbau gesättigter Fettsäuren sind Pflanzen und Tiere gleichermaßen ausgerüstet. In gesättigte Fettsäuren Doppelbindungen einzuführen, dazu ist der menschliche Organismus in nur beschränktem Umfange in der Lage, und zwar können Doppelbindungen nur in Positionen eingeführt werden, die mehr als 9 C-Atome vom Carboxylgruppenende entfernt liegen. Mehrfach ungesättigte Fettsäuren, die der menschliche Organismus benötigt, aber nicht selbst zu synthetisieren imstande ist, werden als essentielle Fettsäuren
x x
x
bezeichnet. Am wichtigsten sind diejenigen Fettsäuren mit einer ersten Doppelbindung am dritten bzw. am sechsten C-Atom, vom Kettenende her gezählt. Sie werden als Z-3- und als Z-6-Fettsäuren bezeichnet. Die essentiellen Fettsäuren benötigt der menschliche Organismus u. a. zum Einbau in die verschiedenen Biomembranen ( > auch Abschnitt 22.5). Aus den essentiellen Z-6-Fettsäuren Linol- und Linolensäure synthetisiert der menschliche Organismus durch Kettenverlängerung und durch Einführung neuer Doppelbindungen die Arachidonsäure (20:4, Z6). Arachidonsäure ist Ausgangspunkt für die Biosynthese der Serie-1- und der Serie-2-Eicosanoide. Aus der essentiellen D-Linolensäure (18:3 >9, 12, 15, Z-3@ synthetisiert der menschliche Organismus die Eicosapentaensäure (20:5 >5,8,11,14,17@, die zum Aufbau der Serie-3-Eicosanoide dient. Die Eicosanoide bilden eine Gruppe sehr wirkungsvoller Gewebshormone: der Prostanoide, Leukotriene und Thromboxane. Sie modulieren eine große Zahl hormoneller und anderer Stimuli, und sie spielen darüber hinaus eine pathologische Rolle bei Überempfindlichkeits- und Entzündungsreaktionen.
22
22.2 Triacylglyceride (Fette und Öle)
22.2
Triacylglyceride (Fette und Öle)
. Abb. 22.16
22.2.1
Nomenklatur, chemischer Aufbau
R3CO
O
*
O H
HO O
Triacylglyceride, ältere Bezeichnung Triglyceride, ist eine Sammelbezeichnung für Ester des Glycerols (Glycerins), in denen alle 3 Hydroxygruppen des Glycerols mit Fettsäuren verestert sind. Triacylglyceride sind die Hauptbestandteile natürlicher Fette und Öle. Die das Fett aufbauenden Triacylglyceride unterscheiden sich nach Art und Position der 3 mit Glycerin veresterten Fettsäuren. Sind alle 3 OH-Gruppen mit derselben Säure verestert, so spricht man von einsäurigen Glyceriden (Beispiele: Tristearylglycerid, Trioleylglycerid). Gemischtsäurige Glyceride enthalten 2 oder 3 verschiedene Säuren, z. B. das Dipalmitooleylglycerid (Dipalmitoolein, abgekürzt P2O) oder das Palmitooleolinolein (POL). Bei der Benennung gilt die Regel: x Fettsäuren werden nach Kettenlänge geordnet, d. h. die Fettsäure mit der kürzesten C-Kette wird als erste genannt. x Fettsäuren gleicher Kettenlänge werden nach steigender Zahl an Doppelbindungen geordnet. Beispiele [Abkürzungen: S (Stearin-), O (Öl-), P (Palmitin-), L (Linolensäure)]: SSS (Tristearin), OOO (Triolein), PPP (Tripalmitin), PPO (1, 2-Dipalmitoolein), POP (1, 3-Dipalmitoolein), POS (1-Palmito-3-stearo-2olein), PLL (1-Palmitolinolein) Gemischtsäurige Triacylglyceride können sich dadurch unterscheiden, dass die Fettsäure unterschiedliche Positionen des Glycerins besetzen kann; es existieren mehrere stellungsisomere Glyceride. Nicht zuletzt ist es die große Zahl an gemischtsäurigen Triacylglyceriden, die ein Fett zu einem komplexen physikalischen Gemisch werden lässt. Bei einem Fett, das nur 2 verschiedene Fettsäuren enthält, können diese Säuren aus 6 verschiedenen Triacylglyceriden stammen; und mit 3 Fettsäuren sind theoretisch bereits 18 positionsisomere Glyceride möglich. Allgemein steigt die Zahl N der Triacylglyceride mit der Zahl n der Fettsäuren nach der Formel: N= n3/2 + n2/2 Da etwa 50 verschiedene Fettsäuren bekannt sind, errechnet sich eine Zahl von über 60.000 unterschiedlichen Triacylglyceriden. In der Natur ist nur eine kleine Teilmenge
OH
COR1
* chirales Zentrum
H
COR2
OH
sn-1 sn-2 sn-3
prochirales L-Glycerol (Fischer-Projektion)
Ein Triacylglyceridmolekül ist dann chiral, wenn die beiden Fettsäurereste R1 und R2 unterschiedlich sind. Die Positionen 1 und 3 sind unterscheidbar, da in einem Gemisch der 1,2- und 2,3-Diacylglyceride nur die S-Verbindung (entspricht sn-1,2) von der Diacylglyceridkinase phosphoryliert wird
verwirklicht. Für planzliche Fette und Öle wurden die folgenden Regelmäßigkeiten beobachtet. x Die primären Hydroxylgruppen des Glycerols (Positionen 1 und 3) sind vorzugsweise mit gesättigten Fettsäuren verestert. x Linolsäure nimmt vorzugsweise die Position 2 ein. x Die dann noch freien Positionen werden gleichmäßig verteilt, von Ausnahmen (Kakaobutter) abgesehen, mit Öl- und Linolensäure besetzt. Die Depotfette von Haustieren – Rind, Schwein, Hammel – und die der anderen an Land lebenden Säugetiere bestehen hauptsächlich aus Triacylglyceriden der Öl-, Stearinund Palmitinsäure. Gänseschmalz besteht hauptsächlich aus Ölsäure (58%) und Palmitinsäure (21%). Für Seetieröle ist das Vorkommen von hochungesättigten Fettsäuren mit 4–6 Allylgruppen kennzeichnend. Die Variationsmöglichkeit an Triacylglyceriden ist aber nicht nur durch die Stellung der Fettsäuren gegeben: Eine zusätzliche Variation resultiert aus dem Umstand, dass die Glycerolkomponente ein prochirales Molekül darstellt ( > Abb. 22.16). Veresterung mit unterschiedlichen Fettsäuren an C-1 und C-3 führt zu chiralen Molekülen. Welches der beiden Fettsäurereste an C-1 und welches an C-3 geknüpt ist, ergibt sich aus einer stereospeziischen Analyse.
22.2.2
Schmelzverhalten, einige chemische Eigenschaften
Die Triacylglyceride zeichnen sich durch die aufallende Eigenschat aus, in verschiedenen polymorphen Formen zu kristallisieren. Im Falle der Kakaobutter wurden bei-
757
758
22
Lipide
. Abb. 22.17 R
R
O
O O
O O
O
R
R
O
O O
O
O
O
R
R
β-Modifikation
β'-Modifikation 14
CH3
11
H3C
O OH
8
O 5
OH Stearinsäure (18:0), Molekül gestreckt
Arachidonsäure (20:4c), Molekül gekrümmt
Gesättigte Triacylglyceride können in mehreren Konformationen vorliegen, die früher mit den verschiedenen kristallinen Modifikationen (α, β, β’) korreliert wurden. Röntgenstrukturanalysen ergaben, dass im Kristallgitter aller 3 polymorpher Formen stets die „Stuhlform“(β) vorliegt. Glyceride mit gesättigten Fettsäuren sind im Gitter dicht gepackt (höhere Schmelzpunkte); ungesättigte Fettsäuren sind gekrümmt und stören daher die regelmäßige Anordnung der Moleküle im Kristall (die Schmelzpunkte sinken)
spielsweise 6 kristalline Modiikationen gefunden. Man ist heute der Ansicht, dass für jedes Triacylglycerid mindestens 3 polymorphe Formen existieren, die als D-, E- und E’-Formen bezeichnet werden. Die 3 Formen unterscheiden sich durch ihre Schmelzpunkte: Die E-Form weist als die stabilste Form den höchsten Schmelzpunkt auf, die
instabile D-Form den niedrigsten. Schnelles Abkühlen eines lüssigen Triacylglycerids führt zum Auskristallisieren der instabilsten D-Form, wohingegen bei sehr langsamem Abkühlen die stabile E-Form kristallisiert. Der Zusammenhang zwischen Kristallmodiikation und Konformation ist unklar ( > Abb. 22.17).
22.2 Triacylglyceride (Fette und Öle)
Bei Schmelzpunktbestimmungen von Fetten muss folglich darauf geachtet werden, dass die zu untersuchende Probe in der stabilsten Form vorliegt. Man erreicht dies ot dadurch, dass die Fettprobe 24 h lang, oder länger, bei niedrigen Temperaturen gelagert wird. In anderen Fällen sorgt man durch langsames Abkühlen dafür, dass die EModiikation vorliegt (z. B. im Falle der Kakaobutter nach der Methode des DAB 1997). Dass die Eigenschaten der Fette zum wesentlichen Teil von den Eigenschaten der sie aubauenden Fettsäuren abhängen werden, lässt sich bereits vermuten, wenn man die Molekulargewichte der Säuren und Glyceride vergleicht. Die Molekulargewichte der Säuren schwanken zwischen 650 und 970, das Molekulargewicht des Glycerins beträgt 92; daher entfallen auf die Fettsäuren bis zu 90% des Gesamtgewichts. Ungesättigte Fettsäuren haben einen niedrigeren Schmelzpunkt als entsprechende gesättigte Fettsäuren; daher neigen Fette mit einem hohen Anteil an Glyceriden der ungesättigten Fettsäuren dazu, bei Zimmertemperatur lüssig zu sein. Ferner sind die Glyceride der gesättigten Säuren an der Lut relativ beständig, diejenigen der ungesättigten verändern sich mehr oder weniger rasch, und zwar in Abhängigkeit von der Zahl der Doppelbindungen. Das „Trocknen“ bestimmter Öle (z. B. des Leinöls), die Grundlage der Firnisfabrikation, ist eine rasche Oxidation an der Lut, gefolgt von Polymerisation und Verharzung. Allerdings lassen sich die Eigenschaten der Fette keineswegs vollständig aus denen der sie aubauenden Fettsäuren ablesen. Dazu ein Beispiel: Kakaobutter (Oleum cacao) und Rindertalg weisen eine sehr ähnliche Zusammensetzung auf, wenn man die 3 Säuren Palmitinsäure (16:0), Stearinsäure (18:0) und Ölsäure (18:1) der Betrachtung zugrunde legt. Allein schon die Sinnesprüfung, mehr noch die Prüfung des Schmelzverhaltens, wertet die beiden Fette jedoch als sehr verschieden. Kakaobutter ist hart und spröde und schmilzt in einem engen Temperaturintervall; Rindertalg schmilzt höher, in einem breiteren Temperaturbereich, und ist wesentlich plastischer (Belitz u. Grosch 1992). Maßgebend für die Unterschiede ist die unterschiedliche Verteilung der Fettsäuren auf die Glyceride: Der Anteil an SOS (81%) ist in der Kakaobutter wesentlich höher als im Rindertalg und zwar zu Lasten von SSO (1% zu 16%).
22.2.3
22
Prüfung auf Identität und Reinheit
Zu den Arzneibuchmethoden der Fettanalytik gehören Prüfung auf Identität und Prüfung auf Reinheit. Ziele der Reinheitsprüfung wiederum sind der Nachweis von fremden fetten Ölen, von Zusätzen, wie z. B. Antioxidanzien, und von Fremdbestandteilen (von Lösungsmittelresten, bei hydrierten Ölen auch von Nickelspuren). Schließlich soll die Reinheitsprüfung Aussagen über weitere wertbestimmende Merkmale ermöglichen, insbesondere über den Grad der Hydrolyse, der Autoxidation oder der thermischen Belastung.
Prüfung auf Identität Sie erfolgt nach PhEur mittels Dünnschichtchromatographie (DC) an Platten mit Kieselgel. Das früher übliche Imprägnieren von Kieselgurplatten mit Kohlenwasserstofen (Parain) ist in der PhEur durch die RP-Technik („reverse phase“) ersetzt worden, vorgeschrieben ist octadecylsilyliertes Kieselgel. Eisessig in Dichlormethan-Aceton bildet die mobile Phase. Die aufgetrennten Triacylglyceride werden auf den Chromatogrammen – soweit sie ungesättigte Fettsäuren enthalten – mittels Molybdatophosphorsäure sichtbar gemacht. Molybdatophosphorsäure ist eine Art von Universalreagens auf oxidierbare organische Substanzen, wobei blaue Mischoxide mit niedrigeren Oxidationsstufen des Molybdäns entstehen. Es resultiert ein für jedes fette Öl mehr oder weniger charakteristisches Bild ( > Abb. 22.18). Referenzsubstanz ist Maisöl. Die Lauhöhen der einzelnen Triacylglyceride hängen von der Polarität der sie aubauenden Fettsäuren ab, und zwar steigt die Polarität mit zunehmender Zahl von Doppelbindungen. Bei Fettsäuren mit der gleichen Zahl an Doppelbindungen steigt die Polarität mit abnehmender Kettenlänge. Beispiel: Leinöl stimmt im niederen und mittleren RfBereich mit dem Maisöl überein, weist jedoch abweichend drei weitere Flecke mit höheren Rf-Werten auf. Ofensichtlich handelt es sich dabei um Triacylglyceride mit zunehmendem Gehalt an Linolensäure. Bei der Auswertung der Analysenergebnisse ist zu beachten, dass das Triacylglyceridmuster gewissen Schwankungen unterliegt: Planzenvarietät, geographische Lage und Klima nehmen Einluss auf die Fettsäurezusammensetzung und damit auch auf die der Triacylglyceride. So-
759
760
22
Lipide
. Abb. 22.18 G F E D
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
Schema der DC-Chromatogramme zur Identifizierung fetter Öle nach PhEur 1997. Stationäre Phase: octadecylsilyliertes Kieselgel; mobile Phase: Dichlormethan-Essigsäure-Aceton (20:40:50). Die Buchstaben D bis G sind im Arzneibuch nicht näher erläutert. 1 Maisöl, 2 Erdnussöl, 3 Kakaobutter, 4 Sesamöl, 5 Leinöl, 6 Mandelöl, 7 Olivenöl, 8 Rapsöl, 9 Rapsöl (Erucasäure-freies), 10 Sojaöl, 11 Sonnenblumenöl
mit können Zonen bestimmter Glyceride (z. B. die Zonen E und F der > Abb. 22.18) in wechselnder Konzentration autreten.
. Tabelle 22.3 Rf-Werte einiger Fettsäuren in einem DC-System mit Phasenumkehr. Näheres s. Text
Prüfung fetter Öle auf fremde Öle durch DC
Erucasäure 22:1
0,25
Ölsäure 18:1 (9)
0,50
Linolsäure 18:2 (9, 12)
0,60
Linolensäure 18:3 (9, 12, 15)
0,75
Säure
Rf-Wert
Das Öl wird mit KOH-Lösung verseit, die freien Fettsäuren werden nach Ansäuern der Lösung mit Ether extrahiert, durch DC aufgetrennt und durch Vergleich mit einem Referenzgemisch (aus Maisöl und Rapsöl) identiiziert. Die DC erfolgt mit Phasenumkehr, Kieselgur/Parafin als stationäre und Eisessig als mobile Phase. Die ungesättigten Fettsäuren werden mittels Ioddämpfen und Stärkelösung sichtbar gemacht. Die Lipophilie von Fettsäuren steigt mit zunehmender Kettenlänge: Das bedingt eine Abnahme des Rf-Wertes. Die Polarität von Fettsäuren steigt mit zunehmender Zahl an Doppelbindungen: Das bedingt in einem System mit reversen Phasen eine Zunahme der Rf-Werte (Beispiele > Tabelle 22.3).
erwähnt, die Fettsäurezusammensetzung starken Schwankungen unterliegt, abhängig von Anbausorte und Klima. Eigenartigerweise ist jedoch das Verhältnis des Gehaltes der Fettsäure in 2-Position der Triacylglyceride zum Gesamtgehalt an Fettsäuren konstant und von der Provenienz unabhängig. Somit ist dieser sog. E-Faktor für die jeweiligen Öle kennzeichnend. Im Bereich der Lebensmittelchemie sind analytische Methoden zur Bestimmung dieses Verhältnisses Gesamtfettsäuren/Linolsäure, des sog. E-Faktors, ausgearbeitet worden (Belitz et al. 2001).
Prüfung fetter Öle auf fremde Öle durch GC
22.2.4
Die in Triacylglyceriden vorkommenden Fettsäuren werden überwiegend gaschromatographisch als Methylester analysiert. Nach PhEur erfolgt die Methanolyse mittels Kaliumhydroxid in wasserfreiem Methanol. Diese Methode ist jedoch für Glyceride mit ungewöhnlichen Fettsäuren ungeeignet. Ein generelles Verfahren besteht in der Umesterung mit Na-methylat/Methanol in Anwesenheit von 2,2-Dimethoxypropan, das das entstehende Glycerol abfängt. Bei der Interpretation der Ergebnisse von Fettsäurezusammensetzung ist zu beachten, dass, wie oben bereits
Ehe die modernen Methoden der Fettanalytik – DC, GC und HPLC – bekannt waren, wurden klassische Methoden verwendet, mit denen man ein Fett oder Öl charakterisieren, seine Identität prüfen und Veränderungen bei der Lagerung oder Bearbeitung erkennen konnte. Ein Vorteil dieser Methoden ist es, dass sie wenig zeit- und kostenaufwendig sind. Zu den Kennzahlen, die noch in den Arzneibüchern zur Reinheitsprüfung aufgeführt sind, gehören: x Säurezahl, x Hydroxylzahl, x Iodzahl,
Chemische Kennzahlen
22
22.2 Triacylglyceride (Fette und Öle)
. Tabelle 22.4 Proportionalität zwischen Gehalten an ungesättigten Fettsäuren und den Ergebnissen der Iodzahlbestimmung Fett bzw. Öl
Kakaobutter
Fettsäureanteil [%] 16:0 und 18:0
18:1
62
34
IZ
. Tabelle 22.5 Zusammenhang zwischen Verseifungszahl und Kettenlänge Öl bzw. Fett
18:2 und 18:3 3
Fettsäureanteile der Kettenlängen [%] 8–14
14–16
VZ 18
33–42
Kokosfett
79
7
Palmöl
–
41,5
58
199
Olivenöl
–
13
86
190
Olivenöl
11
76
9
78–90
Leinöl
10
18
72
165–190
x Peroxidzahl, x Verseifungszahl, x unverseibare Anteile. Säurezahl (SZ): Sie gibt an, wie viel Milligramm KOH zur Neutralisation der in 1 g Substanz vorhandenen freien Fettsäuren notwendig sind. Je nach Fettart darf die SZ zwischen 0,5 und 2,0 liegen (z. B. bei Olivenöl höchstens den Wert 2,0). Die Säurezahl dient der Unterscheidung von rainierten (sehr niedrige SZ) und unrainierten Fetten und dem Erkennen eines hydrolytischen Fettverderbs (Anstieg der SZ). Die Hydroxylzahl (OHZ) gibt an, wie viel Milligramm KOH der von 1 g Fett bei der Acetylierung gebundenen Essigsäure äquivalent sind. Erfasst werden Hydroxyfettsäuren, Fettalkohole, Mono- und Diacylglyceride sowie freies Glycerin. Die OHZ dient der Charakterisierung von Fetten und Ölen. Beispiel: Die Hydroxylzahl des Rizinusöls soll nach PhEur einen Wert von mindestens 150 erreichen. Die Iodzahl (IZ) gibt an, wie viel Halogen, als Iod berechnet, von 100 g Fett gebunden wird. Verwendet wird nicht reines Iod, verwendet werden Interhalogenverbindungen, in denen das Iod eine positive Partialladung trägt und daher schneller reagiert. Nach PhEur nimmt man Iodmonobromid. Die IZ dient zur Charakterisierung von Fettsäuren und Ölen aufgrund der vorhandenen Mehrfachbindungen. Nicht alle Doppelbindungen von Fettbestandteilen reagieren. Infolge sterischer Hinderung addieren (E)- bzw. trans-Fettsäuren Halogen nur langsam und manche Doppelbindungen in Phytosterolen (im unverseibaren Anteil) gar nicht. Die IZ liefert einen Vergleichsmaßstab für den Gehalt an ungesättigten Fettsäuren ( > Tabelle 22.4). Die Peroxidzahl (POZ) gibt die Peroxidmenge in Milliäquivalenten von aktivem Sauerstof an, die in 1000 g Öl enthalten ist. Die Bestimmung erfolgt mit Iodwasserstof,
12
256
der aus KI und Säure hergestellt wird. Er wird zu Iod oxidiert, während die Hydroperoxide und Peroxide zu Alkoholen reduziert werden. Die POZ dient zum Nachweis des oxidativen Verderbs von Fetten und Ölen. Allerdings kann der Verderb nur in der Anfangsphase hinreichend erkannt werden, weil die POZ-Werte wegen des Zerfalls der Hydroperoxide und Peroxide wieder sinken. Es bilden sich u. a. Verbindungen mit Hydroxygruppen: Die Zunahme der Hydroxylzahl ist in diesen Stadien aussagekrätiger. Eine Korrelation zwischen POZ-Werten und Menge an Geruchsstoffen, die sich beim Ranzigwerden bilden, besteht nicht. Die Verseifungszahl (VZ) gibt an, wie viel Milligramm KOH zur Neutralisation der freien Säuren und zur Verseifung der Ester von 1 g Fett notwendig sind. Die VZ liefert einen Anhaltspunkt für die durchschnittliche Molmasse der das Triacylglyceridgemisch aubauenden Fettsäuren. Sie ist damit ein Reinheitskriterium für Fette ( > Tabelle 22.5). Unverseibare Anteile sind die in Prozent (m/m) angegebenen Stofe, die sich mit einem organischen Lösungsmittel aus einer Lösung des zu untersuchenden fetten Öles nach Verseifung extrahieren lassen und bei 105 °C nicht lüchtig sind. Zu den unverseibaren Stofen gehören natürlicherweise die Phytosterole. Eine Verfälschung mit Mineralölen würde das Gewicht der unverseibaren Anteile (Normalwerte 1–2%) erhöhen. Für die unverseibaren Anteile der verschiedenen Öle legen die Arzneibücher Höchstmengen fest ( > Tabelle 22.6).
22.2.5
Farbreaktionen
Gegenüber einigen Reagenzien verhalten sich Fette unterschiedlich. Farbreaktionen erlauben Rückschlüsse: x auf den Oxidationszustand von Fetten, x auf die Identität und Reinheit des Produktes.
761
762
22
Lipide
. Tabelle 22.6 Höchstgehalte an unverseifbaren Anteilen nach PhEur 5 und DAB 1999 Öl bzw. Fett
Höchstgehalte [%] (m/m)
Kreis-Test. Leicht ranzige Fette färben nach dem Kochen
mit Resorcin-Salzsäure oder mit Phloroglucin-Salzsäure die wässrige Phase rotviolett. Bei der Autoxidation von Fettsäuren mit drei oder mehr Doppelbindungen entsteht Malondialdehyd, der mit dem Reagens einen Trimethinfarbstof bildet.
Erdnussöl
1,0
Mandelöl
0,7
Olivenöl
1,5
Thiobarbitursäuretest. Malondialdehyd kondensiert mit
Rizinusöl
0,8
2-hiobarbitursäure zu einem Farbstof, der ebenfalls Ranzidität anzeigt.
Sesamöl
2,0
Sojaöl
1,5
Reaktion nach Baudouin (Furfural und Salzsäure). Da-
Kakaobutter
0,4
Raffiniertes Rizinusöl
1,0
Schweineschmalz
1,0
Partiell hydriertes Sojaöl
1,5
mit lassen sich Beimengungen von Sesamöl nachweisen. Sesamöl enthält im unverseibaren Anteil charakteristische Lignane, darunter das Sesamolin, das unter der Einwirkung starker Säuren zu Sesamol (1-Hydroxy-3,4-methylendioxybenzol) abgebaut wird. Sesamol kondensiert
. Abb. 22.19 Acetal
O O
O
O
O
O
O
O
O
O
O
O Sesamin (Stereochemie nicht berücksichtigt)
Sesamolin; C20H18O7 H2O
[ H⊕ ]
H O O
HO
OH +
O O
CH
O O OH
Samin C13H14O5
O H2O
O
O ein halochromes Kondensationsprodukt (Konstitution nicht bewiesen)
Sesamol
Zum Baudouin-Test. Typisch für Sesamöl ist der Gehalt an Lignanen (z. B. Sesamin) und an einem modifizierten Lignan Sesamolin, das ein Acetal darstellt. Bereits im schwach sauren Milieu zerfällt das Acetal in das Halbacetal Samin und in das Phenol Sesamol. Phenole reagieren mit 2-Furaldehyd gleich wie mit aromatischen Aldehyden (Benzaldehyd, Vanilin, 4-Dimethylaminobenzaldehyd u. a. m.) zu lebhaft gefärbten halochromen Kondensationsprodukten
22
22.2 Triacylglyceride (Fette und Öle)
mit Furfural zu Produkten, die Ähnlichkeiten mit den Triphenylmethanfarbstofen aufweisen ( > Abb. 22.19).
. Abb. 22.20
H3C
H
R
CH3
CH3
Reaktion nach Halphen. Die Reaktion ist charakteristisch
für das Baumwollsaatöl (Cottonöl). Erhitzt man eine Probe mit einer Lösung von Schwefel in Schwefelkohlenstof auf 70–80 °C, so tritt Rotfärbung auf. Cyclopropylidenfettsäuren vom Typus der Sterculiasäure gelten als für die Nachweisreaktion verantwortlich.
CH3
H
CH3 H
H
4
HO
R= H: Cholesterol R= C2H5: β-Sitosterol
22.2.6
Begleitstoffe in Fetten und Ölen
Fette und Öle stellen kein reines Gemisch von Acylglyceriden dar. Die Nichtglyceride bilden die unverseibaren Verbindungen, deren Summe auch als unverseibarer Anteil ( > S. 761) bezeichnet wird. Der Gehalt an unverseifbaren Verbindungen beträgt im Durchschnitt 0,2–1,4%, doch gibt es auch Fette, bei denen er 4–10% ausmacht, z. B. bei der Sheabutter ( > S. 773). Die das Unverseibare bildenden Stofe sind teils planzeneigenen Ursprungs, d. h. sie werden von der Planze gebildet und gelangen bei der Herstellung ins Endprodukt, teilweise handelt es sich um Fremdprodukte wie Weichmacher, Biozide und Antioxidanzien. Die planzeneigenen unverseibaren Bestandteile gehören den unterschiedlichsten Stofgruppen an: den Kohlenwasserstofen, den Sterinen (Sterolen), Tocopherolen, Carotinoiden und lipophilen Phenolen. Diese Stofe sind für ein bestimmtes Fett oder Öl charakteristisch. Ihre Analyse kann zur Prüfung auf Identität und Reinheit herangezogen werden.
CH2
CH3 13
CH3
CH3
14
CH3 4
HO
CH3
H
4α,14α-Dimethyl-24-methylen-5α-cholest-8-en3β-ol (Obtusifoliol) CH3
H3C CH3 13
CH3
14
H
Sterine (Sterole). Wichtigstes tierisches Sterin ist das
CH3
CH3
4
HO
Cholesterol, ein C27-Sterol ( > Abb. 22.20). In geringen Mengen tritt es auch als Bestandteil der planzlichen Sterolfraktion auf, sodass der qualitative Nachweis allein nicht ausreicht, um das Vorliegen eines tierischen Fettes zu belegen. Die Hauptkomponente der planzlichen Sterolfraktion ist E-Sitosterol (E-Sitosterin). Weitere Vertreter sind Stigmasterol, '-Stigmasterol, Campesterol, Brassicasterol und '- und '-Avenasterol. Beispiel: Nach PhEur 5 ist die Sterolfraktion des nativen Mandelöls, Amygdalae oleum virginale, wie folgt zusammengesetzt (geordnet nach Retentionszeiten): x Cholesterol: höchstens 0,7%, x Campesterol: höchstens 4,0%, x Stigmasterol: höchstens 3,0%, x E-Sitosterol: 73,0–87,0%,
CH3
H3C
H3C
H CH3
Butyrospermol
Die im Unverseifbaren von Fetten und Ölen auftretenden Phytosterole unterteilt man je nach Substitution an C-4 in Desmethylsterole (z. B. β-Sitosterol), Monomethylsterole (z. B. Obtusifoliol) und Dimethylsterole (z. B. Butyrospermol)
x x x x
'-Avenasterol: mindestens 10,0%, '-Avenasterol: höchstens 3,0%, '-Stigmasterol: höchstens 3,0%, Brassicasterol: höchstens 0,3%.
Die bisher genannten Phytosterole bilden die Gruppe der sog. Desmethylsterole, weil sie am Kohlenstofatom
763
764
22
Lipide
. Abb. 22.21
Rf 1,0 0,9
11 10
unbekannt
0,8 9 8
0,7 0,6 0,5 0,4
7
Tocopherole
6
Sesamolin
5
Sesamin
4
Dimethylsterole Monomethylsterole
3
0,3
2
Desmethylsterole
1
unbekannt
0,2 0,1 0
Beispiel für eine dünnschichtchromatographische Auftrennung der unverseifbaren Anteile eines fetten Öles, hier des Sesamöles von Sesamum indicum. Silikagelplatten. Laufmittel: Chloroform – Diethylether (90: 10). Detektion: Schwefelsäure (50%ig) und 5 min Erwärmen auf 110 °C (nach Kamal-Eldin et al. 1991)
C-4 keine Methylgruppen tragen. Daneben gibt es die Gruppe der Monomethyl- und die der Dimethylsterole ( > Abb. 22.20). Dünnschichtchromatographisch lassen sich die unverseibaren Anteile mit lipophilen Laufmitteln an Kieselgel autrennen ( > Abb. 22.21). Die Sterole lassen sich dünnschichtchromatographisch auch als 3,5-Dinitrobenzoate trennen. Nach PhEur erfolgt die Analyse mittels GC nach Silylierung der Hydroxygruppe. Mittels hochaulösender GC unter Verwendung polarer Säulen lassen sich auch Nebenprodukte identiizieren und damit Rückschlüsse auf die Vorbehandlung des Öles ziehen (Frega et al. 1993). Tocopherole. Tocopherole (Vitamin E) ist eine Sammelbezeichnung für fettlösliche, natürlich vorkommende Verbindungen mit einem Chromangerüst und einer C16Seitenkette (4,8,12-Trimethyltridecyl-Rest). Der Name (griech.: tókos [Geburt]; férein [tragen]) ist von seiner Erstentdeckung hergeleitet. Ratten wiesen bei bestimmter Er-
nährung Störungen in der Fortplanzung auf, die durch Gabe von Weizenkeimöl verhütet werden konnten. Als wirksamkeitsbestimmend identiizierte man die Tocopherolfraktion mit D-Tocopherol ( > Abb. 22.22) als mengenmäßig vorherrschende Komponente. Da sich die Substanzen im Tierexperiment als unentbehrlich für den normalen Schwangerschatsverlauf erwiesen hatten, sprach man ihnen den Charakter von „Antifertilitätsvitaminen“ zu, bis dann später zahlreiche weitere biologische Funktionen entdeckt wurden. Die Tocopherole sind schwach gelblichrötliche, ölige Flüssigkeiten. Sie kommen in vielen Planzenölen vor. Besonders reich daran sind die Samenöle von Soja, Weizen, Mais, Reis, Baumwolle und der Walnusskerne (Juglandis oleum). Biosynthetisch werden Tocopherole aus Phytyldiphosphat und Homogentisinsäure gebildet ( > Abb. 22.23). Tocopherole wirken als lipophiles Antioxidans, wodurch z. B. mehrfach ungesättigte Fettsäuren und Vitamin A vor Oxidation geschützt werden. Dem Reaktionsmechanismus nach handelt es sich um 1-Elektronenreaktionen mit organischen Peroxylradikalen („Radikalfängereigenschaten“). Die eigentliche Reaktionsspezies sind die Tocopherolhydrochinone, die in Tocochinone übergehen. Die Analytik der Tocopherole ist erschwert durch ihre Oxidationsempindlichkeit, die leicht zu Verlusten bei der Abtrennung führt. Dem Öl wird ein Antioxidans zugesetzt, die Hauptmenge der Triacylglyceride wird durch Ausfrieren bei –80 °C abgetrennt, die Tocopherole silyliert und mittels GC bestimmt. Für D-Tocopherol selbst indet sich eine GC-Bestimmung in der PhEur; Dotriacontan dient als innerer Standard. Auch mittels DC oder HPLC lassen sich die Tocopherole quantitativ bestimmen. Anhand des Tocopherolspektrums lassen sich ansonsten ähnlich zusammengesetzte Öle unterscheiden: Die Tocopherole fungieren somit als analytische Leitstofe. Weitere Bestandteile des Unverseifbaren. Der azykli-
sche Triterpenkohlenwasserstof Squalen wurde zuerst aus der Haiischleber isoliert, in der er in hohen Konzentrationen autritt. Squalen kommt aber auch in mehreren Planzenölen vor, darunter im Olivenöl ( > S. 774). Der Name Squalen leitet sich vom zoologischen Taxon der Squaloidei (Haiische) ab. An lipophilen Phenolen kommen im Sesamöl die Lignane Sesamol und Sesamolin vor ( > Abb. 22.19), im Baumwollsaatöl (Cottonöl) das toxische Gossypol, das bei der Raination abgetrennt werden muss
22
22.2 Triacylglyceride (Fette und Öle)
. Abb. 22.22 CH3 R2
CH3
CH3
CH3
CH3
O
2
7
1'
3
5
5'
3'
7'
CH3
11'
9'
4
HO R1
Tocotrienole
CH3 R2
CH3
O
H
2
CH3
H
4'
CH3
CH3 8'
CH3
HO R1
Tocopherole
R1
R2
CH3 CH3 H H
CH3 H CH3 H
Man kennt heute 8 verschiedene, nahe verwandte Tocopherole, die durch den Zusatz eines griechischen Buchstabens gekennzeichnet werden. Das C-2 des Chromanringes ist chiral. Die Tocotrienole haben 3 Doppelbindungen am 2-Seitenalkylrest; in den eigentlichen Tocopherolen sind die Doppelbindungen hydriert, wodurch 2 zusätzliche Chiralitätszentren an C-4’ und C-8’ auftreten. Das in der Natur häufigste Tocopherol ist das (2 R, 4’ R, 8’ R)-α-Tocopherol (Synonym: RRR-α-Tocopherol) . Abb. 22.23
H2C β
OH
in mehreren Stufen
NH2
HO
CH3
CO2
OH
COOH α
COOH
HO
Tyrosin
HO
Homogentisinsäure
Methylhydrochinon Chlorophyll
HO
4 x C5
CH3 CH3
CH3
CH3
CH3
Tocopherole
CH3 OH CH3
HO CH3
CH3
CH3
CH3
Offenkettige Vorstufe des δ-Tocatrienols
Die Tocopherole entstehen aus Tyrosin, wobei das β-C-Atom der C3-Seitenkette als CH3-Gruppe in das Tocopherolmolekül inkorporiert wird. Der Aromatenteil ist durch eine C20-Diterpenkette substituiert, wie sie auch für das Chlorophyllmolekül charakteristisch ist. Durch diesen Aufbau sind die Tocopherole eng mit den Ubichinonen verwandt. δ-Tocatrien und δ-Tocopherol stellen hin sichtlich des Substitutionsmusters im Aromatenteil die Grundkörper der Reihe dar; die Abkömmlinge der α-Reihe enthalten 2 zusätzliche Methylgruppen, die der β- und γ-Reihe jeweils eine weitere CH3-Gruppe
765
766
22 22.2.7
Lipide
Biosynthese von Triacylglyceriden; Fettspeicherung
Die Biosynthese der Fettsäuren wurde an anderer Stelle besprochen ( > Absch. 22.1.4). Die ACP-gebundenen Fettsäuren werden zu den entsprechenden Acyl-SCoAVerbindungen transformiert und im endoplasmatischen Retikulum (ER) mit l-Glycerol-3-phosphat zu Triacylglyceriden umgesetzt ( > Abb. 22.24). > Abb. 22.25 zeigt die Biosynthese von Öltröpfchen im Zusammenhang. Im Chloroplasten wird CO2 zu 3-Phosphoglycerinsäure (Calvin-Zyklus) und im Cytosol zu Saccharose umgewandelt. Saccharose wird in das Speichergewebe, beispielsweise des Samens, transportiert, wo sie in den Mitochondrien über Pyruvat zu Acetyl-SCoA bzw. durch die Pyruvat-Dehydrogenase-Reaktion zu Malonyl-SCoA abgebaut wird. Im Cytosol werden durch Transfer auf das Trägerprotein die eigentlichen Substrate der Fettsäurebiosynthese gebildet: Acetyl-SACP und Malonyl-SACP. Als erste Produkte der Fettsäuresynthase entstehen Palmityl-, Stearyl- und OleylSACP. Die an den ACP-Carrier gebundenen Fettsäuren werden in die entsprechenden SCoA-Derivate umgewan-
delt und im ER mit l-Glycerol-3-phosphat zu Triacylglyceriden umgesetzt (Stumpf 1977). Das neugebildete Triacylglycerid wird in den hydrophoben Bereich zwischen 2 Schichten einer Membran eingelagert. Die Öltröpfchen, die im Zytoplasma abgegeben werden, sind von einer unilamellaren Membran aus Phospholipiden und Proteinen, sog. Oleosinen, umhüllt.
Orte der Speicherung Die Fette sind ausgesprochene Reservestofe. Bereits bei den niederen Planzen, insbesondere bei den Pilzen, ist die Fähigkeit zur Fettspeicherung vorhanden. So entfällt beim Mutterkorn – das ist die Ruheform des Pilzes Claviceps purpurea – 20–40% seines Trockengewichtes auf fettes Öl, das sich aus Öl-, Linolen- und Ricinolsäure aubaut. Bei den Samenplanzen wird fettes Öl im Fruchtleisch, in den Samen und in vegetativen Organen (als Depotfett) gespeichert. Man schätzt, dass 4/5 aller zu den Spermatophyta zählenden Arten Fett als Hauptreservestof in den Samen speichern. Dementsprechend stammen auch die meisten
. Abb. 22.24
Biosynthese der Triglyceride (Triacylglyceride, Fette). Ausgangspartner sind Glycerol-3-phosphat und die durch das Coenzym A (Abkürzung: CoA-SH) aktivierten Fettsäuren (R-CO-SCoA). Zunächst werden die beiden Hydroxyle des Glycerolteils zur Phosphatidsäure verestert. Das dafür verantwortliche Enzym ist die Glycerophosphattransacylase, nach der Klasseneinteilung (Nomenklaturempfehlung der Internationalen Union für Biochemie, dem Enzymkodex [EC] das Enzym 2.3.1.15. Aus der Phosphatidsäure spaltet die Phosphatidphosphatase (EC 3.1.3.4) Phosphat ab. Das entstandene Diglycerid (Diacylglycerid) reagiert mit einem weiteren Acyl-CoA zum Triglycerid (Triacylglycerid), katalysiert durch die Diglyceridacyltransferase (EC 2.3.1.20)
22.2 Triacylglyceride (Fette und Öle)
. Abb. 22.25
22
CO2
Kompartimente des Blattes
Chloroplast Calvin zyklus Glc
3 - PGA
Fru
Saccharose
Cytosol Transport
Kompartimente im reifenden Samen
Saccharose Mitochondrien Acetyl - SCoA
Pyruvat
Acetyl - SCoA
UDP - Glc
Malonyl - SCoA ACP
Acetyl - SACP
Glycerol - 3 - P
L - Glycerol - 3 - P
Malonyl - SACP
Palmityl - SACP (16 : 0)
Palmityl - SCoA
Stearyl-SACP (18 : 0)
Stearyl - SCoA
Oleyl - SACP (18 : 1)
Oleyl - SCoA
Cytosol endoplasmatisches Retikulum
Linolyl - SCoA (18 : 2) Linolenyl - SCoA (18 : 3) Triacylglyceride Fetttröpfchen
Übersicht über die Synthese von Triacylglyceriden in reifenden Sojabohnen (Stumpf 1977, modifiziert). Der Calvin-Zyklus (reduktiver Pentosephosphatzyklus) liefert 3-Phosphoglycerinaldehyd (PGA), der als Baustein für Glucose (Glc) und Fructose (Fru) fungiert; die beiden C6-Zucker werden weiter zu Saccharose verknüpft, die vom Blatt über den Funikulus in die Samenanlage gelangt. Nach glykolytischem Abbau zu Pyruvat und oxidativer Decarboxylierung zu Acetyl-SCoA (aktivierte Essigsäure) wird ein Großteil in Malonyl-SCoA überführt. Die eigentlichen Substrate sind Acetyl-SACP und MalonylSACP, die durch Transfer auf das Trägerprotein (ACP = „acyl carrier protein“) entstehen. Für die Fettsäuresynthese sind pro Verlängerung um eine C2-Einheit 2 Moleküle NADPH notwendig. Die Einführung der ersten cis-Doppelbindung erfolgt noch im gleichen Kompartiment. Die weiteren Modifikationen finden am ER statt. Die Bereitstellung von Glycerol erfolgt aus Dihydroxyacetonphosphat, wie PGA ebenfalls ein Zwischenprodukt des glykolytischen Glc-Abbaues (Glc Glucose)
767
768
22
Lipide
Speisefette aus Samen (Samenfette). Speicherung im Fruchtleisch tritt demgegenüber zurück. Größere wirtschatliche Bedeutung haben nur die beiden Fruchtleischfette der Oliven und der Ölpalme. Erwähnenswert ist auch das Fruchtleisch von Persea americana Mill. (Familie: Lauraceae >II5b@). Holzgewächse speichern Fett im Stamm und in den Ästen. Genauer: Man hat zwischen Stärke- und Fettbäumen zu diferenzieren. In beiden Gruppen werden die Reservestofe zunächst in Form von Stärke abgelagert. Bei den „Stärkebäumen“ – dazu zählen die meisten Harthölzer (wie Eiche, Ulme, Esche) – bleibt die Stärke den Winter über erhalten. Anders die „Fettbäume“ – dazu zählen die weichholzigen Laubbäume (z. B. die Birke und die Linde) sowie die Nadelhölzer –, bei ihnen wird die Stärke bei Eintritt der Winterruhe großenteils in Fett umgewandelt. Im tierischen Organismus inden sich Fette in einer besonderen Gewebsform, dem Fettgewebe, gespeichert. Das Fettgewebe besteht aus kugeligen Fettzellen (Adipozyten), die durch ein Netzwerk von Kollagenfasern zusammengehalten werden. Fettgewebe weist eine dichte Kapillarisierung auf. Bei der Entspeicherung des Fettgewebes bleibt retikuläres Bindegewebe zurück.
22.2.8
Technische Gewinnung von Fetten und Ölen
Allgemeines Zur technischen Gewinnung von Planzenfetten bzw. Ölen gibt es grundsätzlich zwei Verfahren: das Auspressen und die Extraktion. Fruchtleischfette, dazu zählen Avocadoöl, Olivenöl und Palmöl, gewinnt man durch Auspressen. Zur Gewinnung von Samenfetten werden heute beide Verfahren – Pressung und Extraktion – kombiniert angewendet. Bei Samenfetten wird die zerkleinerte Saat zunächst mit Wasserdampf vorbehandelt. Dadurch zerreißen noch intakt gebliebene Zellen, Enzyme werden inaktiviert, das im Gewebe eingeschlossene Öl wird dünnlüssiger, vereinigt sich leichter zu Tropfen und läut rascher ab; durch die Feuchtigkeit verliert das Samengewebe viel von seiner fettaufsaugenden Wirkung, sodass die Ausbeuten höher ausfallen. Mit Schneckenpressen wird der Hauptteil des Öles abgepresst; das im Pressrückstand verbliebene Öl wird anschließend extrahiert. Als Extraktionsmittel verwendet
man niedrigsiedende Kohlenwasserstofe (Benzin, vorzugsweise die Hexanfraktion).
Raffination der Öle Die PhEur 5 unterscheidet bei einer Reihe fetter Öle zweierlei Produkte: rainierte Öle (Olea rainata) und nicht rainierte Öle (Olea virginalia). Bei den Olea virginalia handelt es sich um kaltgepresste Öle, die je nach Ausgangsmaterial wechselnde Mengen an Begleitstofen enthalten können. Die Begleitstofe können erwünscht sein (Vitamine, natürliche Antioxidanzien), sind aber häuig unerwünscht (Lecithine, Schleime, freie Fettsäuren, Wachse, Farbstofe [insbesondere Chlorophyll und Carotinoide], Geruchs- und Geschmackstofe, Pestizide und andere Umweltkontaminanten, Wasser). Der technologische Prozess der Raination ist von Öl zu Öl unterschiedlich. In jedem Fall handelt es sich um einen mehrstuigen Prozess, der in der Regel die folgenden Schritte umfasst: x Vorreinigen zur Entfernung von Lecithinen und Schleimen: Die Lecithine (Phospholipide) sind ursprünglich im Öl gelöst, Proteine und Kohlenhydrate (Schleim) feinst verteilt. Durch Zusatz von Wasser quellen Lecithine und Kohlenhydrate auf: Proteine werden durch Zusatz von wenig Phosphorsäure ausgefällt. Der nach längerer Lagerung ausgeschiedene „Schlamm“ wird durch Zentrifugieren abgetrennt. Rohöl aus Sojabohnen ist besonders reich an Phospholipiden; der „Schlamm“ stellt hier ein Rohlecithin dar, das nach entsprechender Reinigung Planzenlecithin liefert. x Entsäuerung: Die freien Fettsäuren können durch Extraktion mit Natronlauge als Seifen entfernt werden. In Sonderfällen ist die Abtrennung freier Fettsäuren mittels Wasserdampfdestillation wirtschatlicher. x Bleichung: Nach der Entschleimung und Entsäuerung behalten einige Öle eine dem Verbraucher ungefällige Eigenfarbe. Man entfärbt in der Regel mittels fester Adsorptionsmittel wie Aluminiumsilikaten (sog. Fuller-Erden) und/oder Aktivkohlen (sog. Entfärbungskohlen). Die Bleichung führt u. a. auch zu intra- bzw. intermolekularer Abspaltung von Wasser aus den Phytosterinen der sog. unverseibaren Fraktion. Die entstandenen 3-Dehydrosterole und 3-Disterylether können zur analytischen Erkennung rainierter Öle herangezogen werden.
22.2 Triacylglyceride (Fette und Öle)
x Dämpfung: Es handelt sich im Prinzip um eine im Vakuum durchgeführte Wasserdampfdestillation (Druck 0,5–10 mbar; Temperatur 190–250 °C), die mit dem Ziel durchgeführt wird, unerwünschte Aromastofe abzutrennen.
22.2.9
Verwendung in Pharmazie und Medizin
22
zielen. Ölige Lösungen bilden keinen Nährboden für Mikroorganismen und sind daher leicht keimarm zu halten; man braucht kein Konservierungsmittel zuzusetzen. Auch ist keine Einstellung von Tonizität und pH-Wert erforderlich. Dennoch werden Öle als Vehikel für Augentropfen selten verwendet (Rote Liste 2003): Der Nachteil, dass Öle vorübergehende Sichttrübungen verursachen, wiegt ofensichtlich die Vorteile nicht auf.
Öle für Injektionszwecke
Ölhaltige Externa
Lipophile Arzneistofe, die nicht peroral zugeführt werden können, verabreicht man in einer injizierbaren Form als ölige Lösung. Wegen der Gefahr einer Fettembolie dürfen sie jedoch nie in die Blutbahn oder in den Liquor injiziert werden. Welche Öle als Lösungsmittel verwendet werden können, hängt wesentlich von deren thermischer Resistenz ab, da die Parenteralia vor ihrer Verwendung einer Heißlutsterilisation unterzogen werden müssen. Vorzugsweise verwendet werden Erdnuss-, Oliven-, Rizinusund Sesamöl. Die Verwendbarkeit im konkreten Fall ist an die Säurezahl (SZ) gebunden. Nach PhEur 1997 müssen die zur parenteralen Anwendung bestimmten Öle hinsichtlich der SZ folgenden Anforderungen entsprechen: x Erdnussöl: SZ höchstens 0,5, x Olivenöl: SZ höchstens 0,5, x Sesamöl: SZ höchstens 0,3.
Eine weitere Verwendung beruht auf der fettenden Wirkung ölhaltiger Externa. Besonders in emulgierter Form dringen Planzenfette in die Haut ein, durchfetten sie, was vor allem bei rauer, schuppiger und „trockener“ Haut angenehm lindernd empfunden wird. Das Gleiche gilt, wenn die Haut in starkem Maße durch Tenside oder Lösungsmittel entfettet ist (Gloor et al. 2000). Allerdings ist das Eindringungsvermögen in die Interzellularräume des Stratum corneum (Hornschicht) nicht für alle Öle gleich ( > Tabelle 22.7). Die fettende Wirkung von Planzenölen wird sodann in den Badeölen ausgenutzt. Badeöle sollen das nach dem Baden autretende Gefühl der Trockenheit der Haut beseitigen, eine sog. Rückfettung der Haut erreichen. Badeöle bestehen aus dem eigentlichen Öl (Weizenkeimöl, Erdnussöl, Rizinusöl), dem 10–20% Emulgator beigemischt werden. Mit Wasser bilden sich milchähnliche Emulsionen; ohne Emulgatorzusatz würde das Öl auf dem Badewasser schwimmen und als fettiger Film auf der Haut zurück bleiben. Lokal verwendet man Planzenöle, insbesondere das Olivenöl, zur Entfernung von Krusten und Borken sowie zur Reinigung der Haut von anhatenden Salben.
Besonders Sexualhormone mit Depotwirkung werden in Form öliger Lösungen (Ampullen zur i.m.-Applikation) angeboten. Am häuigsten scheinen Rizinus- und Erdnussöl verwendet zu werden. Hinweis. Nach der neuen PhEur 5 werden Erdnuss- und Olivenöl nicht mehr als Öle für Injektionszwecke aufgeführt.
Öle für Augentropfen Verwendet werden sterilisiertes Erdnuss- und Rizinusöl, die hinsichtlich Säurezahl den Anforderungen für Parenteralia entsprechen müssen. Ölige Lösungen von Wirkstofen haben eine höhere Viskosität als wässrige Lösungen, was an und für sich ein Vorteil ist, weil die Wirkstolösung nach dem Eintropfen ins Auge nicht so rasch abließt wie eine rein wässrige Lösung. Es lassen sich Depotefekte er-
. Tabelle 22.7 Eindringungsvermögen verschiedener Öle in die Interzellularräume des Stratum corneum (Jacobi 1971) Fett/Öl
Eindringungsvermögen
Erdnussöl
Nahezu fehlend
Olivenöl
Gering
Avocadoöl
Mäßig
Mandelöl
Gut
Sesamöl
Gut
Rizinusöl
Sehr gut
769
770
22
Lipide
Milde Laxanswirkung In Dosen von 30–60 ml wirken planzliche Öle innerlich gegeben als mildes Laxans (z. B. Olivenöl, Erdnussöl, Leinöl). Sie wirken in unverseiter Form als Gleitmittel, nach Hydrolyse (durch hohe Konzentration an freien Fettsäuren) im Darmlumen leicht reizend auf die Darmschleimhaut. Fette, bei denen hydrolytisch Hydroxyfettsäuren freigesetzt werden, sind antiabsorptiv und hydragog wirksam. Glyceride der Ricinolsäure (d-12-Hydroxyölsäure) sind außer im Rizinusöl ( > S. 776) auch im Traubenkernöl (von Vitis vinifera L., Vitaceae >IIB2a@) und im afrikanischen Dingilöl (von Cephaloctroton cordofanus Muell. Arg., Euphorbiaceae >IIB12c@) enthalten. Bei Stuhlverhalten (Dyschezie) werden Planzenöle zur Erweichung von hartem Kot rektal appliziert.
Anwendung als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke. Mehrfach ungesättigte Fettsäuren kann der menschliche Organismus nicht selbst synthetisieren, weshalb man sie als essentiell bezeichnet. Gebraucht werden sie als Bestandteile von Zellmembranen und als Ausgangssubstanzen für die Eicosanoide ( > Abschn. 22.1.5). Für eine ergänzende bilanzierte Diät werden die folgenden Planzenöle empfohlen: Boretschöl, Leinöl, Hanföl, Nachtkerzensamenöl und Perillaöl ( > Infobox). Infobox Für eine gesunde Lebensführung spielt neben der Menge der zugeführten Fette auch deren nähere Zusammensetzung eine Rolle. Man empfiehlt heute, maximal 30% der täglichen Gesamtkalorien in Form von Fett aufzunehmen. Dabei sollten die Glyceride so verteilt sein, dass jeweils 8–10% auf ungesättigte (Typus: Stearin- und Palmitinsäure), 12–15% auf Monoensäuren (Typus: Ölsäure) und wiederum 8–10% auf mehrfach ungesättigte Fettsäuren (Typus: Linol- und D-Linolensäure) entfallen. Gesättigte Fettsäuren erhöhen stark den LDL-Spiegel; Monoene wie Ölsäure, enthalten in Oliven- und in Rapsöl, senken Gesamt- und LDL-Cholesterol, aber nicht HDL, und verbessern somit den Quotienten LDL/HDL. Mehrfach ungesättigte Fettsäuren drücken auch die HDL-Fraktion, was
6
unerwünscht ist. Z-3-Fettsäuren (enthalten in Hanföl, Leinöl und Perillaöl) senken den Triglyceridspiegel. Als grobe Regel der Lebensführung ergibt sich: 1. Reduktion des Gesamtfettverbrauchs. 2. Den Anteil der ungesättigten Fettsäuren (enthalten vor allem in tierischen Fetten) soweit als möglich gegen einfach ungesättigte Fettsäuren (enthalten im Olivenöl) eintauschen.
22.2.10 Pflanzliche Fette und Öle Capryl- und caprinsäurereiche Öle Fette oder Öle, die Caprylsäure (8:0) oder Caprinsäure (10:0) als mengenmäßig vorherrschende Bestandteile der Triacylglyceride enthalten, werden in der Natur nicht gefunden. Im Kokos- und im Palmkernfett entfallen 6–8% bzw. 4–6% auf die beiden Säuren. Sie lassen sich nach Verseifung anreichern und zu mittelkettigen Triglyceriden verarbeiten. Mittelkettige Triglyceride. Mittelkettige Triglyceride,
Triglycerida saturata media, PhEur bestehen aus Triacylglyceriden gesättigter Fettsäuren, hauptsächlich der Capryl- (8:0) und der Caprinsäure (10:0). Es handelt sich um ein partialsynthetisches Produkt. Palmkernfett oder Kokosfett werden zunächst hydrolytisch gespalten, die Laurin- und Myristinsäurefraktion wird weitgehend abgetrennt, die hauptsächlich aus C6- bis C10-Fettsäuren bestehende Fraktion wird schließlich mit Glycerin (Glycerol) wieder verestert. Mittelkettige Triglyceride müssen nach PhEur 50–80% Capryl- und 20–50% Caprinsäure enthalten. Für Gehalte an Capron-, Laurin-, und Myristinsäure werden Grenzwerte festgesetzt. Das Produkt ist eine klare, farblose bis schwach gelb gefärbte Flüssigkeit, nahezu ohne Geruch und Geschmack. Mischbar mit Alkohol und fetten Ölen, unlöslich in Wasser. Verträgt Hitzesterilisation bei Temperaturen bis 150 °C (1 h). Mittelkettige Fettsäuren verwendet man als Energieträger bei der parenteralen Ernährung von schwerkranken Patienten, ferner als Diätetika bei Zuständen von ungenügender Fettresorption – Steatorrhoe, Enteritis, nach Dünndarmresektion – anstelle der üblichen Speisefette. Die Triacylglyceride mit mittelkettigen Fettsäuren werden im Organismus leichter hydrolysiert als die mit
22.2 Triacylglyceride (Fette und Öle)
22
. Abb. 22.26
Resultat: Intensitätsabnahme der Spektrallinie Durchstrahlung: Spektrallinie, deren Energie Atome anregen konnte, wurde absorbiert
„angeregte“ Atome Lichtenergie
Fluoreszenz
Emission
Wärmeenergie thermisch, elektrisch
Atomdampf Wärmeenergie thermisch, elektrisch zur Atomisierung des Elements
Molekülverband Das Grundprinzip der Atomabsorptionsspektrometrie (AAS) ist das Kirchhoffsche Prinzip der Resonanzabsorption. Nach diesem Prinzip absorbieren Atome Strahlungen derjenigen Wellenlänge, die sie auch zu emittieren vermögen. Weiteres > Text
den üblichen C18-Fettsäuren; zudem können sie vom Magen-Darm-Trakt aus auch ohne Hilfe von Gallenlüssigkeit und Pankreassat resorbiert werden. Allerdings können sie nach Resorption so gut wie nicht gespeichert werden, und zwar weder als Triacylglycerid noch als Phosphatid. Als unerwünschte Nebenwirkungen treten nicht selten Bauchschmerzen und Diarrhoe auf. Bei Patienten mit Leberinsuizienz kommt es zu überhöhten Fettgehalten im Blut sowie u. U. zum Leberkoma. Ein weiteres Anwendungsbeispiel für mittelkettige Triglyceride liegt auf pharmazeutisch-technologischem Gebiet. Man löst oder suspendiert in ihnen oral anzuwendende Arzneistofe, die gegenüber Wasser instabil sind. Analytik. An die zur parenteralen Ernährung bestimmten mittelkettigen Triglyceride werden nach PhEur besondere Anforderungen bezüglich der Reinheit gestellt: nicht nur hinsichtlich Säurezahl (höchstens 0,2) und Peroxidzahl (höchstens 1,0), sondern auch hinsichtlich der Gehalte an Schwermetallen. Geprüt werden muss, dass bestimmte festgelegte Höchstwerte für Blei, Chrom, Kupfer, Nickel und Zinn nicht überschritten werden. Die Prüfung muss nach PhEur mittels Atomabsorptionsspektrometrie (AAS) erfolgen.
Hinweis. Atomabsorptionsspektrometrie: Grundlage der
AAS bildet das Gesetz, dass ein durch ein angeregtes Atom ermitteltes Lichtquant von einem nicht angeregten Atom des gleichen Elements absorbiert wird ( > Abb. 22.26). Die Analysenprobe wird verdampt, und durch diesen Dampf wird Licht desjenigen Elements geschickt, das man bestimmen will, beispielsweise im Falle der Bestimmung von Blei das Licht einer Bleihohlkathodenlampe. Gemessen wird die Extinktion, die entsprechend dem Lambert-BeerGesetz proportional der Konzentration der freien Bleiteilchen und damit der Konzentration von Blei in der verdampten Lösung ist.
Laurin- und myristinsäurereiche Fette In diese Gruppe gehören Kokos-, Palmkern- und Babassufett sowie die partialsynthetischen mittelkettigen Triglyceride ( > S. 770). Kokosfett. Kokosfett wird aus einem als „Kopra“ bezeich-
neten Handelsprodukt gewonnen. Kopra wiederum besteht aus dem zerkleinerten und getrockneten Nährgewebe der Kokosnuss, das ist die Steinfrucht der in den Tropen heimischen Kokospalme, Cocos nucifera L. (Familie: Arecaceae >IIA7a@). Oizinell ist Cocois oleum rainatum,
771
772
22
Lipide
rainiertes Kokosfett (eng.: Coconut oil, Reined) in der PhEur 5. Kokosfett ist durch hohe Gehalte an Laurinsäure (12:0) und Myristinsäure (14:0) charakterisiert, mit zugleich relativ hohen Anteilen der noch kürzerkettigen Capryl- (8:0) und Caprinsäure (10:0). Da der Anteil der gesättigten Fettsäuren sehr hoch ist (etwa 90%), ist Kokosfett bei Raumtemperatur fest („Palmin“); es wird aber wegen des niedrigen Schmelzpunktes von 23–38 °C leicht lüssig. Es schmilzt unter Aufnahme einer erheblichen Schmelzwärme, was sich im Mund als angenehmer Kühlefekt äußert, der Grund, weshalb man Kokosfett gerne bestimmten Süßwaren (als Wafelfüllung, als „Eiskonfekt“) zusetzt. Gereinigtes Kokosfett ist neben dem Palmkernfett ein wichtiger Bestandteil von Planzenmargarinen. Palmkernfett. Palmkernfett ist ein Nebenprodukt bei der Gewinnung des Palmöles aus den Früchten der Ölpalme Elaeis guineensis Jacq. (Familie: Arecaceae, früher Palmae). Während das aus dem Fruchtleisch (Mesokarp) erhältliche Öl zur Hauptsache aus Triacylglyceriden der Öl- und Palmitinsäure besteht, gleicht das aus den Samenkernen (Endosperm) gewonnene Palmkernfett in seiner chemischen Zusammensetzung weitgehend dem Kokosfett. Das rainierte Fett ist bei Raumtemperatur fest (Erstarrungstemperatur zwischen 20 und 24 °C). Für Speisezwecke ungeeignete Chargen verwendet die Industrie zur Herstellung von Seifen oder zur Gewinnung von Laurinsäure, dem Grundstof für verschiedene Tenside [Natriumlaurylsulfat, Polyethylenglycolsorbitanmonolaurat (Tween 20), Sorbitanmonolaurat (Span 20, Arlacel 20) u. a.]. Babassufett. Babassufett wird aus den Samenkernen der 80–250 g schweren Steinfrüchte der Babassupalme, Orbignya speciosa (Mart.) Barb. Rodr. (Arecaceae = Palmae), gewonnen. Die Planze ist in Brasilien beheimatet und bildet in manchen Gegenden geschlossene Bestände. Nur 9% des Fruchtgewichts entfallen auf die Samen, deren Freilegen aus den sehr harten Steinkernen hohen Krataufwand erfordert. Das aus den Samen ausgepresste Fett ist wasserhell und riecht nussartig. In der Zusammensetzung ähnelt es stark dem Kokos- und dem Palmkernfett. Von den Triacylglyceriden entfallen im Mittel 44% auf die Laurinsäure, 15% auf die Myristinsäure, 16–18% auf die Öl- und 8– 9% auf die Palmitinsäure. In der Lebensmittelindustrie ist Babassufett, wie andere Palmfette (Kokosfett, Palmkern-
fett) auch, sehr begehrt zur Herstellung von Planzenmargarine. Palmfette sind zum Unterschied von allen übrigen planzlichen Fetten bei Raumtemperatur fest und müssen daher, um ein streichfähiges Produkt zu liefern, nicht einem Hydrierungsprozess unterzogen werden. Hinweis. Margarine ist im Prinzip eine Wasser/Öl-Emul-
sion). Es gibt recht unterschiedliche Sorten. Standardmargarine enthält zum Unterschied von Planzenmargarine und von linolsäurereicher Margarine hohe Anteile tierischer Fette.
Palmitin- und stearinsäurereiche Fette In diese Gruppe gehören Kakaobutter und Kakaobutteraustauschfette. Kakaobutter, Cacao oleum, DAB 1999 ist das durch Abpressen gewonnene, iltrierte und zentrifugierte Fett aus Kakaokernen oder Kakaomasse von Samen von heobroma cacao L.: ein gelblich gefärbtes, schwach nach Kakao riechendes Fett. Bei Raumtemperatur ist Kakaobutter fest und spröde, sodass die Bezeichnung als „Butter“ wenig trefend ist. Kakaobutter kristallisiert ausgeprägt polymorph: Sie bildet 6 Kristallformen mit Schmelzpunkten zwischen 17,3 und 36,3 °C. Zur Bestimmung der Schmelztemperatur schreibt das DAB 1999 genaue Randbedingungen vor, um die zwischen 31 und 35 °C schmelzende stabile Modiikation zu erfassen. Das enge Schmelzintervall macht sich im Mund sensorisch durch einen angenehm empfundenen Kühlefekt bemerkbar. Die relativ hohe Stabilität gegenüber Autoxidation und mikrobiellem Verderb wird aus der Fettsäurezusammensetzung der Triacylglyceride verständlich, die aus hohen Anteilen von Palmitinsäure (25%) und Stearinsäure (37%) besteht. Ein weiteres Drittel (34%) entfällt auf die Ölsäure, die Ursache dafür, dass Kakaobutter v. a. im geraspelten Zustand allmählich dem Fettverderb unterliegt. Das Arzneibuch lässt auf Verdorbenheit prüfen: Die Substanz darf nicht ranzig riechen und schmecken, und die Peroxidzahl darf nicht größer als 3 sein. Der zur Familie der Sterculiaceae gehörende Kakaobaum wird im wilden Zustand bis zu 15 m hoch; in den Planzungen wird er durch starkes Beschneiden auf 4–8 m Wuchshöhe gehalten, um die Ernte der Früchte zu erleichtern. Bemerkenswert ist die als Kaulilorie bekannte Erscheinung: Die Blüten entspringen direkt dem Stamm. Ihre Bestäubung scheint vorwiegend durch kleine Fliegen
22.2 Triacylglyceride (Fette und Öle)
zu erfolgen. Aus den Fruchtknoten entwickeln sich etwa 25 cm lange, gurkenartige Beeren. Nach der Ernte überlässt man die Früchte einer kurzen Nachreife, öfnet sie dann und entnimmt die Samen. Die Samen werden fermentiert, d. h. 3–9 Tage eng gepackt sich selbst überlassen: Erst durch die Fermentation erhalten sie das feine Aroma; der ursprünglich vorhandene bittere Geschmack wird gemildert, die Farbe verändert sich von weiß nach braunrot. Nach der Fermentation röstet man die Samen, was das Aroma weiter verbessert, außerdem die Entfernung der Samenschalen (Kakaoschalen) erleichtert. Die eigentliche Droge besteht demnach praktisch nur aus dem Keimling, dessen dicke Kotyledonen mit dem Nährgewebe den Hauptanteil ausmachen. Zur Gewinnung von Kakaomasse, Massa cacaotina, wird das sandig schmeckende Würzelchen des Embryos entfernt und der Rest sehr fein gemahlen. Durch den reichlichen Fettgehalt und die Erwärmung beim Mahlen entsteht ein Brei, der anschließend in Blöcke gegossen wird und die Massa cacaotina darstellt. Diese Kakaomasse enthält 1–2% heobromin und etwa 0,2–0,3% Cofein. Durch Zusatz von Zucker und Gewürzen wird aus der Kakaomasse die Schokolade hergestellt. Massa cacaotina besteht zur Hälte aus Kakaobutter, Oleum cacao. Die Kakaobutter wird durch Pressen mit hydraulischen Pressen aus den Samenkernen gewonnen. Die Pressrückstände werden zu Kakaopulver vermahlen. In der Pharmazie wurde Kakaobutter als Suppositoriengrundlage, für Arzneistäbchen und Vaginalkugeln verwendet, ist jedoch heute weitgehend durch Hartfett PhEur verdrängt worden. In der Lebensmittelindustrie dienen Kakaobutter und Kakaobutteraustauschstofe zur Herstellung von Schokoladenerzeugnissen, Süß- und Konditorwaren. Borneo-Talg, im Welthandel auch als Illipé-Butter und Tengkawangfett bezeichnet, ein Kakobutteraustauschfett, wird aus den Samen von Shorea stenoptera Burck (Dipterocarpaceae >IIB16c@) und anderen Shorea-Arten gewonnen. Die Shorea-Arten sind Holzgewächse, die einsamige Nüsse ausbilden. Von den Gesamtglyceriden entfallen auf Palmitinsäure 18–22%, auf Stearinsäure 39–44% und auf Ölsäure 37–38%. Ähnlich zusammengesetzt ist die Sheabutter (Schibutter). Sie wird aus den ölreichen Samen von Vitellaria paradoxa Gaertn. f. (Synonym: Butyrospermium parkii Kotschy) gewonnen. Die Stammplanzen, Bäume, die zur Familie der Sapotaceae >IIB20c@ gehören, sind im tropischen Afrika beheimatet. Schibutter enthält Triacylglyceride mit Ölsäure als Hauptkomponente (ca. 50%); auf Ste-
22
arinsäure entfallen 38% und auf Palmitinsäure 7%. Hervorzuheben ist der hohe Anteil an Unverseibarem (bis 11%). Schibutter wird anstelle von Kakaobutter verwendet. Sie stellt ansonsten für die einheimische Bevölkerung der westafrikanischen Savannengebiete ein wichtiges Nahrungsmittel dar.
Ölsäurereiche Öle Die Öle dieser Gruppe enthalten in der Regel über 50% Ölsäure, daneben noch nennenswerte Mengen an Palmitin- und/oder Linolsäure ( > Tabelle 22.8). Anhangsweise wird das Rizinusöl besprochen, das reich an Glyceriden der Hydroxyölsäure ist. Avocadoöl. Avocado oleum DAC 2003 ist gleich dem Oli-
venöl ein Fruchtleischöl. Stammplanze ist Persea americana Mill. (Lauraceae >II5b@), eine Nutzplanze, die auf dem Gebiete des heutigen Mexiko, Guatemala und Honduras schon in prähistorischer Zeit, etwa um 8000 v. Chr., wegen ihrer ölreichen Früchte kultiviert wurde (Herrmann 1983). Es handelt sich um ein immergrünes Holzgewächs (Strauch oder bis 15 m hoher Baum) mit Beerenfrüchten von Birnengestalt von bis zu 12 cm Länge (Avocadobirnen). Das Fruchtleisch des Mesokarp enthält bis zu 30% fettes Öl. Das Avocadoöl ähnelt in der Fettsäurezusammensetzung dem Olivenöl ( > Tabelle 22.8), von dem es aber durch den höheren Gehalt (1–10%) an Palmitoleinsäure [16:1 (9)] unterschieden ist. Als Speiseöl hat es keine Bedeutung, sehr wohl hingegen in der Kosmetik. Hautcremes mit Avocadoöl zeichnen sich durch ein besonders gutes Spreitvermögen, gutes Eindringen in die Hornschicht der Haut und hydratisierende Wirkung aus. . Tabelle 22.8 Ölsäurereiche Öle. Gehalte an Stearin-, Öl- und Linolsäure (Gehalte an weiteren Säuren sind in die Tabelle nicht aufgenommen) Öl
16:0 [%]
18:1 (9) [%]
18:2 (9, 12) [%]
Avocadoöl
10–26
44–76
8–25
Erdnussöl
6–12
42–65
13–34
Mandelöl
3–5
67–86
7–25
Olivenöl
8–20
65–85
4–20
Rüböl, neu
3–6
52–66
17–25
773
774
22
Lipide
Raffiniertes Erdnussöl. Rainiertes Erdnussöl, Arachidis oleum rainatum, ist nach PhEur 5 das aus den geschälten Samen von Arachis hypogaea l. (Familie: Fabaceae >IIB9a@) gewonnene rainierte, fette Öl. Zur neuesten Benennung von rainierten und nicht rainierten Ölen > Abschn. 22.2.8. Die Erdnüsse enthalten 42–50% Öl, das früher ausschließlich durch Pressung gewonnen wurde. Die erste, kalte Pressung liefert ein beinahe farbloses Öl von sehr angenehmem Geschmack; die zweite, warme Pressung liefert ein eben noch brauchbares Speiseöl, während die dritte Pressung ein an freien Fettsäuren reiches, nur für technische Zwecke verwendbares Produkt ergibt. Heute wird Erdnussöl bevorzugt durch Extraktion mit Lösungsmitteln (Hexan) gewonnen und dann einem Rainationsprozess unterworfen. Da sich kalt gepresste Öle von extrahierten Ölen nach deren Raination analytisch nicht mehr unterscheiden lassen, verzichtet die PhEur auf die Forderung, für pharmazeutische Zwecke nur kalt gepresstes Öl zuzulassen. Erdnussöl gehört zu den nichttrocknenden Ölen; es ist durch einen hohen Anteil an Ölsäure (42–62%) gekennzeichnet. Charakteristisch ist das Vorkommen längerkettiger (C > 18) Fettsäuren, wie der Arachinsäure 20:0, der Gadoleinsäure (Eicosensäure) 20:1 (9), der Behensäure 22:0 und der Lignocerinsäure 24:0. Arachin- und Behensäure gelten als analytische Leitstofe zum Nachweis von Erdnussöl. Durch Mikroorganismenbefall der Erdnüsse können Alatoxine in das rohe Erdnussöl gelangen; sie werden bei der Raination entfernt.
In der PhEur 5 sind Monographien für 2 unterschiedliche Mandelölqualitäten aufgeführt: x naturbelassenes, kaltgepresstes Mandelöl (Amygdalae oleum virginale), x rainiertes Mandelöl (Amygdalae oleum rainatum), ein geruchlos gemachtes Öl, dem ein geeignetes Antioxidans zugesetzt werden darf. Art und Menge des Zusatzes müssen deklariert werden. Sowohl das naturbelassene als auch das rainierte Mandelöl bleiben bis zu einer Temperatur von –10 °C klar und erstarren erst bei –18 °C. Beide Öle sind lichtempindlich und müssen daher nach PhEur vor Licht geschützt aubewahrt werden. Mandelöl kann mit Aprikosen- und Pirsichkernöl, auch mit Sesamöl verschnitten sein. Nach einer inzwischen fallengelassenen Arzneiprüfvorschrit musste auf Anwesenheit dieser Öle geprüt werden. Mit Salpetersäure geschüttelt darf keine der beiden Phasen rot oder braun verfärbt sein (Aprikosen- und Pirsichkernöl). Die Baudouin-Reaktion ( > S. 762) muss negativ ausfallen (Prüfung auf Sesamöl). Mandelöl enthält im Unverseibaren fast ausschließlich D-Tocopherol, Aprikosenkernöl überwiegend J-Tocopherol. Mandelöl wird in der Pharmazie als Lösungs- und Dispersionsmittel für ölige Injektionen verwendet. In der Kosmetik indet das Öl u. a. zur Herstellung von Cold Creams, Hautölen und Salben Verwendung, dabei ist nachteilig, dass es vergleichsweise leicht ranzig wird, sodass es immer mehr von synthetischen Ölen verdrängt wird.
Mandelöl. Mandelöl, Amygdalae oleum, kann nach PhEur
sowohl aus süßen als auch aus bitteren Mandeln oder aus einem Gemisch beider hergestellt werden. Je nach Gehalt der Früchte an dem bitter schmeckenden Amygdalin unterscheidet man vom Mandelbaum, Prunus dulcis (Mill.) (D.A.) Webb (Rosaceae >IIB11a@), 2 Varietäten: x var. dulcis und x var. amara (DC.) Buchheim. Die samtig behaarten grünen Steinfrüchte des Mandelbaums enthalten einen harten Steinkern mit einem Samen. Bei der Reife platzt das äußere Perikarp an der Verwachsungsnaht auf, sodass der Kern (Endokarp plus Samen) herausfallen kann. Um die mit einer dünnen braunen Samenschale und mit Speicherkeimblättern versehenen Samen zu gewinnen, müssen die Kerne aufgebrochen werden.
Olivenöl. Olivenöl, ist das aus den reifen Steinfrüchten von Olea europaea L. (Oleaceae >IIB23e@) durch Kaltpressung oder durch andere geeignete mechanische Verfahren gewonnene fette Öl. Nach PhEur 5 sind zwei unterschiedliche Sorten von Olivenöl oizinell: x Olivae oleum virginale, ein aus reifen Oliven kaltgepresstes Öl und x Olivae oleum rainatum, ein kaltgepresstes Öl, das einer zusätzlichen Raination ( > dazu Abschn. 22.2.8) unterworfen wurde. Es darf einen Zusatz an Antioxidanzien enthalten.
Der Ölbaum wird in zahlreichen Kulturvarietäten im Mittelmeergebiet sowie in Ländern ähnlichen Klimas (Südafrika, Kalifornien, Australien) gezogen. Es handelt sich um einen kleinen, immergrünen Baum, der durch seinen
22.2 Triacylglyceride (Fette und Öle)
knorrigen, vielfach gedrehten Stamm und durch die grausilberne Behaarung der Blätter an Weiden erinnert. Der Ölbaum wächst sehr langsam. Die ersten Früchte setzt er in einem Alter von etwa 10 Jahren an; weitere 2 Jahrzehnte sind notwendig, bis die Ernten voll ergiebig werden. Bäume, die 100 Jahre alt sind und darüber, sind in den Kulturen keine Seltenheit. Olivenöl enthält hauptsächlich Glyceride der Ölsäure, die 65–85% ( > Tabelle 22.8) der Gesamtfettsäuren ausmachen. Neben Glyceriden der Palmitin- und der Linolsäure kommen auch geringe Mengen freier Fettsäuren vor. Der Gehalt des Öles an diesen freien Fettsäuren ist eine Art Maßstab für die Güte des Öles, da die zweite und dritte Pressung mit ihren energischen Bedingungen (Temperatur, Druck) Öle höheren Säuregehaltes mit entsprechend strengerem Geschmack liefern. Ein das Olivenöl analytisch besonders charakterisierender Bestandteil ist das Squalen, das in Mengen bis zu 1,5% enthalten sein kann. Bemerkenswert ist auch das Autreten von Cholesterol (bis zu 0,5%), ein Sterol, das ansonsten charakteristisch für tierische Fette ist. In erster Linie ist Olivenöl ein sehr begehrtes Speiseöl. In der Pharmazie dient es zur Herstellung von Linimenten, Salben und Plastern; auch zieht man es als Vehikel zur Herstellung öliger Lösungen und Suspensionen (für Injektionszwecke) heran. Olivenöl als Hauptfettquelle ist die Basis der sog. „mediterranen Ernährung“. Charakteristisch für diese Ernährungsweise ist neben Olivenöl die große Fülle an planzlichen Lebensmitteln, wie Obst und Gemüse, Nudeln, Hülsenfrüchte und Nüsse; hinzu kommen mäßige Mengen an Fisch, Gelügel, Fleisch, Milchprodukte, Eier und Wein. Im Hinblick auf die Zufuhr an Fettsäuren ist somit für die mediterrane Ernährung der hohe Anteil an einfach ungesättigten Fettsäuren typisch. In experimentellen Studien konnte eindeutig belegt werden, dass ein Ersatz von Fetten gesättigter Fettsäuren durch ölsäurereiche Öle, insbesondere durch Olivenöl, in gleichem Maße die Serumcholesterolkonzentration senkt wie ein Ersatz durch Fette mehrfach ungesättigter Fettsäuren (Kasper 1996). Gemäß Arzneibuchdeinition darf Olivenöl PhEur 5 nicht durch Extraktion hergestellt werden. Etwa 25% des in den Handel gelangenden Olivenöls werden durch Extraktion gewonnen. Durch mechanische Pressverfahren gelingt es nicht, dem Pressgut das Öl quantitativ zu entziehen. Daher wird der Presskuchen anschließend mit Lösungsmittel extrahiert. Ob ein Extraktionsöl vorliegt, dafür erhält man Hinweise durch eine Erhöhung des unver-
22
seibaren Anteils, der nach PhEur 5 den Wert von 1,5% nicht überschreiten darf. In der Lebensmittelchemie ist es üblich, zur analytischen Diferenzierung von kaltgepressten und extrahierten Olivenölen die Gehalte an bestimmten Begleitstofen heranzuziehen, insbesondere die Gehalte an Wachsestern, Sitosterolestern und Triterpenalkoholen (Erythrodiol und Uvaol). Olivenöl soll an einem dunklen Ort bzw. in dunklen Flaschen und bei Temperaturen, die 25 °C nicht überschreiten, gelagert werden. Öl, das zu kalt gelagert wird, „gefriert“, d. h. es bildet weiße Flocken. Bei Raumtemperatur lösen sich die Flocken wieder auf: Weder Geschmack noch Qualität des Öles werden dadurch beeinträchtigt. Auf Vorrat gehaltenes und für die parenterale Anwendung bestimmtes Olivenöl muss unter einem inerten Gas aubewahrt werden. Rüböl (Rapsöl). Zwei botanisch verwandte, zur Familie
der Kreuzblütler (Brassicaceae >IIB15a@, auch Cruciferae) zählende Arten liefern in ihren Samen ein Fett mit nahezu identischer Zusammensetzung: x Brassica napus L. var. napus (der Raps oder Ölraps) und x Brassica rapa L. var. silvestris (Lam.) Briggs, ssp. oleifera DC. (der Rübsen oder Ölrübsen). Beide Arten sind gelbblühende Kräuter mit den typischen vierzähligen Cruciferenblüten. Der Rübsen hat grasgrüne Blätter, er wird etwa 80 cm hoch; der Raps hat mehr blaugrüne Blätter, er erreicht die doppelte Höhe. Der kleinere Rübsen benötigt eine kürzere Vegetationsperiode, er ist widerstandsfähiger gegen Frost, Krankheiten und Schädlinge. Das Öl ist in den Keimblättern der (endospermlosen) Samen lokalisiert. Das aus Raps und Rübsen gewonnene Rohöl ist bräunlich gefärbt und von stechendem Geruch, bedingt durch seinen Gehalt an Allylsenföl. Durch geeignete Verfahrenslenkung gelingt es heutzutage, das für die Spaltung der Glucosinolate ( > S.173 u. > Abb. 7.14) verantwortliche Enzym, eine hioglucosidase (EC 3.2.3), zu inaktivieren. In geringem Umfang trotzdem gebildete Senföle werden bei der Raination weitgehend beseitigt. Die chemische Zusammensetzung des Rüböls hängt stark von der Sorte ab. Züchtungen liefern Öle mit Anteilen von 50% Erucasäure, 22:1 (13), eine Fettsäure, von der man aufgrund tierexperimenteller Untersuchungen annimmt, dass sie für den Menschen gesundheitsschädlich ist. Neue Züchtungen liefern Öle mit Erucasäuregehalten
775
776
22
Lipide
unter 2%. Bei erucasäurearmen Ölen („Rüböl, neu“) verteilen sich die Fettsäuren auf die Öl-, Linol- und Linolensäure ( > Tabelle 22.8). Erucasäurearme Rüböle (IIB12c@). Wie auch bei anderen Fetten werden von Rizinusölen verschiedene Qualitäten angeboten. Arzneibuchware muss durch Pressen ohne Wärmezufuhr hergestellt werden. Die Herstellung durch Kaltpressung soll sicherstellen, dass das toxische Lectin Ricin im Presskuchen zurückbleibt. Eine weitere Raination ist möglich und führt zum Rainierten Rizinusöl DAB 1997. Rizinusöl weist einen sehr schwachen, aber charakteristischen Geruch auf; der Geschmack ist zunächst mild, später kratzend. Die Glyceride des Rizinusöls bestehen zu einem Anteil von 77% aus dem einsäurigen Triricinolein. Am Aubau der gemischtsäurigen Triacylglyceride sind Ricinol-, Öl-, Linol-, Stearin- und Dihydroxystearinsäure beteiligt.
durch Lösungsmittelextraktion gewonnenes, stark rafiniertes Öl vor. Ursache der Absorptionszunahme ist die Bildung von Triensäuren durch Zersetzung von Hydroperoxiden sowie Dehydratisierungen als Folge einer intensiven Raination mit aktiven Bleicherden. x Messung der optischen Drehung. Das die sekundäre OH-Gruppe tragende C-Atom der Ricinolsäure ist chiral; es werden positive Drehwerte gemessen. Alle anderen Öle sind unter den angegebenen Messbedingungen optisch inaktiv, sodass es sich bei Bestimmungen des Drehwertes zugleich um eine Prüfung auf Identität und Reinheit handelt. Wirkungen. In physiologischen Eigenschaten besteht zwischen dem Rizinusöl und den anderen Fetten kein grundsätzlicher Unterschied. Rizinusöl bewirkt wie alle Öle eine brüske Entleerung der Gallenblase und in deren Gefolge verstärkte Peristaltikkontraktionen des Dünndarms. Die Triacylglyceride werden durch die Pankreaslipasen gespalten, Ricinolsäure wird resorbiert und metabolisch verwertet. Allerdings bestehen quantitative Unterschiede: Bedingt durch die größere Polarität ist die Resorptionsquote kleiner mit dem Ergebnis, dass größere Darmabschnitte eine längere Zeit hindurch dem stimulierenden Efekt der Ricinolsäure ausgesetzt sind. Ricinolsäure besitzt antiabsorptive und hydragoge Wirkungen. Es gibt molekularpharmakologische Hinweise für ein Zustandekommen dieser Wirkungen über x eine Hemmung der Adeninnukleotidtransferase und über x eine Stimulierung der Prostaglandinbiosynthese (EReihe).
Damit die wirksame Ricinolsäure freigesetzt wird, bedarf es des Zusammenwirkens von Gallenlüssigkeit und Pankreassat; daher hat Rizinusöl keine laxierende Wirkung dann, wenn die physiologische Fettverdauung insuizient ist. Anwendungsgebiete.
Analytik, Prüfung und Reinheit. Ergänzend zur gaschro-
x Innerlich als Laxans. Je nach Dosis tritt die laxierende
matographischen Prüfung auf Zusammensetzung der Fettsäuren und ergänzend zu Ermittlung der für Fette üblichen Kennzahlen sind die folgenden Prüfungen vorgeschrieben: x Messung der Absorption, die bei 269 nm einen bestimmten Wert nicht überschreiten darf. Werden höhere Werte gefunden, liegt ein durch Heißpressung oder
Wirkung unterschiedlich rasch ein: nach Einnahme von 1 Teelöfel voll nach etwa 8 h, nach Einnahme von 15–30 g (1–2 Esslöfel) innerhalb von 2–4 h. Es bilden sich weiche, selten wässrige Stühle; auch treten selten unerwünschte kolikartige Schmerzen auf. Höhere Dosen führen zu keiner weiteren Verstärkung der Abführwirkung, da das Öl nicht mehr voll verseit wird,
22
22.2 Triacylglyceride (Fette und Öle)
schnell über den Darminhalt hinwegläut und so einen Pseudodurchfall erzeugt. Unerwünschte Wirkungen: Es können sich dyspeptische Beschwerden einstellen. In Stadien fortgeschrittener Schwangerschat können höhere Dosen die Wehen auslösen. x Äußerlich in der Dermatologie, in fetthaltigen Salben als Emolliens; wegen seiner Löslichkeit in Ethanol als Fettzusatz in alkoholischen Externa, besonders in alkoholhaltigen Haartonika. Anmerkung: Man versteht unter einem Emolliens ein Mittel, das die Haut weich und geschmeidig macht. Hinzu kommt eine „abdeckende Wirkung: Öle bilden einen mechanischen Schutz gegen Wasser und hydrophile Schadstofe; Schrunden und Fissuren heilen unter der durch das Öl gebildeten Schutzdecke besser. x In der kosmetischen Industrie. Die hohe Viskosität in Verbindung mit der guten Löslichkeit in Ethanol macht das Öl zu einem geeigneten und erwünschten Zusatz für zahlreiche Kosmetika (Haarbrillantinen, Plegemittel für Augenwimpern u. a.). x In der Technik, wegen seiner gleichbleibenden, von der Temperatur weitgehend unabhängigen Viskosität als Schmieröl für Motoren (z. B. Düsentriebwerke), auch für hydraulische Pumpen und als Bremslüssigkeit. Große Mengen werden partialsynthetisch modiiziert. Dehydratisierung führt zu einem trocknenden Öl mit der technischen Verwertbarkeit trocknender Öle. Sodann dient Rizinusöl zur Darstellung von Sebacinsäure (1,8Octandicarbonsäure), die u. a. bei der Weichmacherfabrikation gebraucht wird. Aufbewahrung. Vor Licht geschützt, in dicht verschlossenen, dem Verbrauch angemessenen, möglichst vollständig gefüllten Gefäßen. Öle aus verschiedenen Lieferungen dürfen nicht miteinander gemischt werden. Bei der Lagerung von rainierten Ölen muss die Autoxidation so weit wie möglich verhindert werden. Das erfordert Schutz vor Licht, Lut und Feuchtigkeit. Oberläche und damit, indirekt, Zutritt von Lut sind gering zu halten. Unrainiertem Ricinusöl (Oleum Ricini virginale) darf nach PhEur 5 ein geeignetes Antioxidans zugesetzt werden.
Linolsäurereiche Öle Die in diese Gruppe gehörenden Öle enthalten mengenmäßig vorherrschend Triacylglyceride der Linolsäure, da-
. Tabelle 22.9 Linolsäurereiche Öle. Gehalte an Palmitin-, Öl- und Linolsäure Öl Baumwollsamenöl Hanföl Maiskeimöl Mohnöl Kürbiskernöl Safloröl
16:0 [%]
18:1 (9) [%]
18:2 (9, 12) [%]
21–27
14–21
45–58
3–7
8–14
55–60a
9–12
25–35
40–60
28–30
58–63
25–35
40–56
ca. 5 6–13
14–24
63–79
Sesamöl
ca. 4 8–10
35–46
40–48a
Sojaöl
8–12
18–25
49–57a
Sonnenblumenöl
5–8
14–34
55–73
Walnussöl
4–5
14–30
47–83a
ca. 30
40–55a
Weizenkeimöl 10–14 a
Öle, die außerdem ca. 5–15% D-Linolensäure 18: 3 (9, 12, 15) enthalten.
neben Glyceride der Öl- und Palmitinsäure. Bei einigen Ölen entfallen sodann nennenswerte Mengen auf die DLinolensäure ( > Tabelle 22.9). Die mehrfach ungesättigten Fettsäuren sind sauerstofempindlich: Es kommt zu Polymerisationen und Vernetzungen über Sauerstof- und Kohlenstobrücken. In dünner Schicht aufgetragen wirkt das Öl irnisartig. Die in > Tabelle 22.9 aufgeführten Öle zählt man zu den „halbtrocknenden Ölen“: Ihr Verharzen erfolgt zeitlich minder schnell als die der „trocknenden Öle“, deren Prototyp das Leinöl ist ( > S. 783). Baumwollsamenöl. Baumwollsamenöl (engl. „cottonseed
oil“), gewinnt man als ein Nebenprodukt des Baumwollanbaues. Die Rohbaumwolle (Kapselhaare von Gossypium herbaceum L. und G. hirsutum L., Malvaceae >IIB16b@) muss vor der Weiterverarbeitung „entkernt“ werden, d. h. es müssen die Samen abgetrennt werden, was maschinell erfolgt. Die 4–5 mm großen Samen enthalten etwa 15% Öl, das hauptsächlich aus Glyceriden der Linolsäure und aus verhältnismäßig hohen Anteilen an Glyceriden der Palmitinsäure besteht ( > Tabelle 22.9). Das nichtrainierte Öl ist von dunkler, meist tiefroter Farbe und weist einen charakteristischen Geruch auf. Im Unverseibaren ist u. a. das toxische Gossypol enthalten, das bei der Raination
777
778
22
Lipide
abgetrennt werden muss. Ein weiterer Begleitstof ist die Malvaliasäure, der Leitstof zum Nachweis von Verfälschungen teuerer Öle mit Baumwollsamenöl (HalphenReaktion, > S. 763). Beispielsweise lässt die USP 28 Maiskeimöl auf Verschnitt mit Baumwollsamenöl prüfen. Baumwollsamenöl ist Ausgangsmaterial zur Herstellung von Gehärtetem Baumwollsamenöl, Gossypii oleum hydrogenatum. Das Produkt indet in der pharmazeutischen Technologie Anwendung, beispielsweise bei der Herstellung von retardierten Arzneiformen als Retardierungsmittel oder bei der Direkttablettierung als Schmierund Formentrennmittel.
. Abb. 22.27 OH HO H3C
OH
Maiskeimöl. Maiskeimöl gehört zu den Weizenkeimölen,
ist aber billiger als Reis- oder Weizenkeimöl. Es fällt in größeren Mengen an, da beim Mais, Zea mays L. (Poaceae >IIA9a@ = Gramineae), der Fettgehalt des Kornes höher ist (ca. 5%) und der Embryo einen gewichtsmäßig höheren Anteil des Gesamtkorns ausmacht. Die Abtrennung der Keime erfolgt bei der Gewinnung von Maisstärke. Aus den Keimen wird das Öl durch Pressen und Extrahieren gewonnen. Durch langsames Abkühlen (Winterisieren) werden höher schmelzende Triglyceride und Wachse abgetrennt. Die USP 28 fordert, dass „corn oil“ aus gereinigtem Maiskeimöl bestehen muss.
CHO
OH
OH
CH3 CH3 H3C
OH H3C
CH3
(−) Gossypol, C34H34O8
Anhang: Gossypol. Gossypol hemmt in einer Dosierung
von 10 mg/Tag reversibel die Spermatogenese des Mannes („Pille für den Mann“). Die Anwendbarkeit erwies sich aufgrund erheblicher Nebenwirkungen, darunter Libidoverlust, als nicht sinnvoll. Im Tierexperiment – auf der Mäusehaut – erwies sich Gossypol als potente Tumorinitiator- und Promotorsubstanz. Die beiden enantiomeren Gossypolformen ( > Abb. 22.27) unterscheiden sich erheblich in ihren pharmakologischen Daten. Die Unterschiede in der Halbwertszeit diferieren um den Faktor 30. Selbst 8 Tage nach einer Einmalgabe von 10 mg (+)-Gossypol sind noch 15% im Blut des Menschen nachweisbar. Bei wiederholter Gabe muss es daher zur Kumulation kommen. Die fertilitätshemmende Wirkung kommt überraschenderweise aber nicht dem kumulierenden (+)-Gossypol zu, sondern dem rascher eliminierbaren (-)-Gossypol. Die Antifertilitätswirkung der (-)-Form ist andererseits ein Summationsefekt, da sie erst nach einer 3-monatigen Medikation autritt (Tang et al. 1980; Wang et al. 1987; Wu et al. 1986).
CHO
OH OHC
CHO
OH
HO OH
CH3
HO
CH3
HO
CH3 H3C
CH3
CH3 (+) Gossypol, C34H34O8
In nichtraffiniertem Baumwollsamenöl kommt bis zu 3% Gossypol vor. Die Substanz ist in speziellen Drüsen der Samen lokalisiert, gelangt bei der Ölgewinnung in das Öl und bildet dort einen Teil des Unverseifbaren. Gossypol liegt in 3 tautomeren Formen vor: der Hydroxyaldehydform (formelmäßig wiedergegeben), der zyklischen Lactolform und der Enolform. Gossypol zeigt Atropisomerie, weil das Molekül um die Einfachbindung, die die beiden Naphthalinhälften verbindet (in der Formel dick gezeichnet), nicht frei rotieren kann. Die Rotationsbehinderung beruht auf den orthoständigen raumbeanspruchenden Substituenten CH3 und OH. Die beiden spiegelbildisomeren (enantiomeren) Gossypole unterscheiden sich stark in ihren pharmakologischen und pharmakokinetischen Eigenschaften. Anmerkung: Die Zuordnung der Formel zur linksdrehenden (–)-Form bzw. zur rechtsdrehenden (+)-Form erfolgte willkürlich, d. h. die Absolutkonfiguration ist nicht bekannt
22.2 Triacylglyceride (Fette und Öle)
In den Triacylglyceriden des Maiskeimöls liegen als Säurekomponenten vor: Linolsäure (40–60%), Ölsäure (25–35%) und Palmitinsäure (9–12%). Maiskeimöl enthält wie das Weizenkeimöl hohe Mengen an Tocopherolen, wobei das Tocopherolspektrum der beiden Getreidekeimöle allerdings unterschiedlich ist. Kennzeichnend für Maiskeimöl ist ein mengenmäßiges Vorherrschen von J-Tocopherol zusammen mit dem Autreten von Tocotrienol. An diesem Tocopherol kann die Anwesenheit von Maiskeimöl in anderen Speiseölen erkannt werden. Auch Maiskeimöl enthält Phytosterole, hauptsächlich D-, E- und J-Sitosterol. Maiskeimöl gilt als diätetisch wertvoll: Der Gehalt an Sitosterol und Tocopherolen sowie das günstige Verhältnis von ungesättigten Fettsäuren beeinlussen die LDL-Cholesterin-Werte weniger ungünstig als andere Fette und Öle. Sitosterol ist eine dem Cholesterol chemisch nahestehende Substanz. Den lipidsenkenden Efekt des Sitosterols versucht man damit zu erklären, dass Sitosterol mit der Resorption und Reresorption von Cholesterol im Dünndarm interferiert. Mohnöl. Mohnöl, Papaveris oleum, wird aus den Samen
des Schlafmohns, Papaver somniferum L. (Papaveraceae >IIB1c@), durch Auspressen gewonnen. Wegen des angenehmen Geschmacks und Geruchs ist es ein beliebtes Speiseöl. In dünner Schicht aufgetragen, trocknet es an der Lut. Wegen der nur langsamen Trocknung und der guten Mischbarkeit mit verschiedenen Pigmentfarben dient es als Basis für Ölfarben. Hinweis. Für die Eigenschat des „Trocknens“, besser Verharzens, von Ölen ist der Gehalt an Linol- und Linolensäure verantwortlich. Es lassen sich unterscheiden: x nichttrocknende fette Öle, bis etwa 20% Linolsäure und Linolensäure enthaltend, x halbtrocknende fette Öle, bis etwa 50% Linolsäure und Linolensäure enthaltend, x trocknende fette Öle, über 50% Linolsäure und Linolensäure enthaltend. Kürbiskernöl. Die Samen verschiedener kultivierter Cu-
curbita-Arten (Familie: Cucurbitaceae >IIB8a@ enthalten neben Eiweiß bis zu 35% fettes Öl. In unterschiedlichen Teilen der Erde werden unterschiedliche Arten und Sorten zur Ölgewinnung herangezogen, in Südosteuropa samenreiche Varianten von Cucurbita pepo L., insbesondere der sog. Ölkürbis, Cucurbita pepo L. var. oleifera Pietsch, eine
22
weichschalige Varietät. Die Samenschale des Ölkürbis unterscheidet sich von normalen C. pepo dadurch, dass die 4 äußeren Zellschichten nicht verholzt und verdickt sind. Das kaltgepresste Öl ist dunkel gefärbt mit leicht rötlicher Fluoreszenz, mit nussartigem Geschmack. Der hohe Gehalt an J-Tocopherol stabilisiert das Öl gegen eine Lipidperoxidation, sodass Kürbiskernöl vergleichsweise gut haltbar ist. Safloröl, Distelöl. Saloröl, Carthami oleum, wird aus den Samen der Färberdistel, Carthamus tinctorius L. (Asteraceae >IIB28b@), durch Kaltpressen gewonnen. Gleich dem Maisöl und dem Leinöl gehört es zu den sog. trocknenden Ölen. Salor oder Färberdistel ist eine anspruchslose krautige Planze, die auch in trockenen Gebieten kultiviert wird (Iran, Nordafrika, Westen der USA). Die bis zu 1 m hohen Planzen haben sonnenblumenähnliche Früchte; in den Embryonen der Achänen wird Fett gespeichert, das zu etwa 70% aus Glyceriden der Linol- und zu etwa 10% aus Glyceriden der Linolensäure besteht. Saloröl ist als Speiseöl gut geeignet. Als Diätspeiseöl, unter der Bezeichnung Distelöl, verwendet man es zur Behandlung von Hyperlipoproteinämien. Sesamöl. Rainiertes Sesamöl, Sesami oleum rainatum
PhEur 5, ist das aus den reifen Samen von Sesamum indicum L. (Familie: Pedaliaceae >IIB23 g@) durch Pressung oder durch Extraktion und anschließende Raination erhaltene Öl. Sesamum indicum ist eine in tropischen Regionen (Indien, Burma, Ostafrika) viel kultivierte Planze. Die Planze erinnert in Habitus und Blütenbau an den roten Fingerhut (Digitalis purpurea L.). Die 2–3 cm langen Kapselfrüchte enthalten zahlreiche, kaum 2 mm große Samen, die einen Fettgehalt von 45–63% aufweisen. Das Öl besteht bis zur Hälte (35–50%) aus Glyceriden der Linolsäure. Es ist, wenn schonend rainiert, wasserhell und gilt als eines der besten Speiseöle. Es ist gut haltbar, da es neben Tocopherolen ein weiteres natürliches Antioxidans, das Sesamol ( > Abb. 22.19) enthält. Sojaöl. Rainiertes Sojaöl, Soiae oleum rainatum PhEur 5, ist das rainierte Öl aus den Samen von Glycine soja Sieb. et Zucc. oder von Glycine max (L.) Merr. Die Deinition der PhEur nennt 2 verschiedene Stammplanzen. Die Glycine soja (Fabaceae >IIB9a@) wird als Wildform der kultivierten Glycine max betrachtet. Manche Autoren vereinigen beide Arten zu einer Art, die dann Glycine soja (L.) Sieb et Zucc. heißen muss (Schultze-Motel 1986).
779
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Lipide
Abweichend von der PhEur wird ganz überwiegend als Stammplanze der Sojaprodukte nur Glycine max (L.) Merr. genannt. Wildvorkommen sind keine bekannt. Die Domestikation erfolgte in China, wahrscheinlich während der Shang-Dynastie, etwa 1700–1100 v. Chr. (Schultze-Motel 1986). Zur wichtigsten Öl- und Eiweißplanze wurde die Sojabohne erst nach dem 2. Weltkrieg. Hauptanbaugebiete sind heute die USA, die zwei Drittel der Weltproduktion erzeugen, es folgen China, Japan und Brasilien. Soja max ist einjährig, wächst sich verzweigend bis 80 cm Höhe und trägt dreizählige Blätter, aus deren Achseln Büschel von lilafarbigen oder weißen Schmetterlingsblüten entspringen. Nach Selbstbestäubung wachsen ca. 10 cm große, behaarte Hülsen heran, in denen 2–4 rundlich-ovale Samen enthalten sind. Neben 40% Eiweiß enthalten die Samen 13–26% Öl. Als Nebenprodukt der technischen Ölgewinnung fallen große Mengen Planzenlecithin (Sojabohnenlecithin) an, das daher ein wohlfeiles Produkt darstellt. Die Triacylglyceride des Sojaöls verteilen sich auf die Palmitinsäure (ca. 10%), die Ölsäure (ca. 20%) und die Linolsäure (> 50%); bemerkenswert ist der relativ hohe Gehalt (ca. 8%) an D-Linolensäure [18:3, (9, 12, 15)], einer Z3-Fettsäure.
Anwendung indet es als Speiseöl, auch als Diätspeiseöl bei Hyperlipoproteinämien. Raffiniertes Sonnenblumenöl. Rainiertes Sonnenblu-
menöl, Helianthi annui oleum rainatum, wird aus den Samen (Achänen) der Sonnenblume, Helianthus annuus L., (Asteraceae >IIB28b@) durch Pressung oder Extraktion gewonnen. Das Produkt wird anschließend einer Raination unterworfen. Die Sonnenblume ist in der Neuen Welt beheimatet; sie wurde erstmals im Jahre 1596 nach Europa gebracht. Heute wird sie in vielen Ländern der Erde, voran in Südrussland kultiviert, wo sie als Steppengewächs ihr zusagende Wachstumsbedingungen vorindet. Ähnlich dem Salor- und dem Sojaöl weist Sonnenblumenöl hohe Linolsäuregehalte auf und gehört somit zu den langsam trocknenden Ölen. Der Gesamtsterolgehalt beträgt 0,3%, darunter als Hauptbestandteil E-Sitosterol (Sitosterin), interessanterweise auch geringe Mengen Cholesterol (Cholesterin), ein ansonsten typisches Zoosterol. Walnussöl. Walnussöl (Synonym: Nussöl) wird aus Walnusskernen, das sind die Kotyledonen des Embryos, durch Pressung oder Extraktion gewonnen.
Infobox
Margarine. Partiell hydriertes Sojaöl wird neben anderen Pflanzen- und Seetierölen in großem Maßstabe zur Herstellung von Margarine herangezogen. Die Infobox erklärt die Herkunft des Namens Margarine und sodann, was heute unter Margarine und speziell unter einer Pflanzenmargarine zu verstehen ist. Der Gedanke, anstelle der leicht verderblichen Butter einen haltbaren Butterersatz zu entwickeln, geht auf Kaiser Napoleons III. (1809–1873) zurück, der für Heer und Flotte einen haltbare Kunstbutter einzuführen wünschte. Französische Chemiker lösten im Jahre 1867 das Problem auf folgende Weise: Rindertalg wurde geschmolzen, nach dem Erstarren wurden feste Bestandteile (Stearin) von der öligen als „Oleomargarin“ bezeichneten Phase getrennt; die Oleomargarinfraktion wurde mit Milch zu einer Emulsion vereinigt und sodann wie Kuhmilch verbuttert. Diese Kunstbutter wurde später in Margarine umgetauft in der irrigen Meinung, dass „Oleomargarin“ eine zwischen Palmitin- und Stearinsäure stehende Heptadecansäure (17: 0) sei, für die der Trivialname „Margarinsäure“ (gr.: márgaron >Perle@) eingeführt wurde.
Integrierende Bestandteile unserer modernen Margarinesorten sind hydrierte oder partiell hydrierte Pflanzenund/oder Seetieröle (Trane). Der als Fetthärtung bezeichnete Prozess der Umwandlung von flüssigen in feste Fette besteht in einer Hydrierung von Doppelbindungen mit Nickel als Katalysator. Warum die Hydrierung von Doppelbindungen im Falle der Fettsäuren mit einer Erhöhung der Schmelzpunkte einhergeht, erläutert die > Abb. 22.17: Glyceride mit gesättigten Fettsäuren sind im Gitter dichter gepackt, ungesättigte Fettsäureketten sind gekrümmt, wodurch die regelmäßige Anordnung gestört ist. In der Margarine (Haushaltsmargarine) liegen die Glyceride teilweise in kristalliner Form vor. Ansonsten ist Margarine im Wesentlichen eine Wasser-in-Öl-Emulsion, die durch das dreidimensionale Netzwerk aus Fettkristallen zusammen mit Emulgatoren stabilisiert wird. Es gibt eine Reihe unterschiedlicher Margarinesorten: Bei Produkten die als Pflanzenmargarine angeboten werden, müssen mindestens 98% des Fettanteils aus Pflanzenfetten mit einem Mindestgehalt von 15% Linolsäure bestehen.
22.2 Triacylglyceride (Fette und Öle)
Die Frucht des Walnussbaumes, Juglans regia L. (Juglandaceae >IIB10c@), ist eine einsamige Steinfrucht; Periund Mesokarp bilden die grüne, faserige, bei der Reife aufspringende Hülle; die „eigentliche Walnuss“ stellt den Steinkern, bestehend aus dem holzigen, netzig-runzeligen Endokarp und dem Samen, dar. Der Samen besteht aus dem mit großen, wulstig gefurchten Speicherkeimblättern versehenen gelblichen Embryo. Die Samenschale ist ein dünnes gelbliches Häutchen, das sich den Falten der Kotyledonen eng anlegt. Kaltgepresstes Walnussöl hat einen angenehmen Geruch und Geschmack; es ist daher ein begehrtes Speiseöl. Neben Öl- und Linolsäure ( > Tabelle 22.9) enthält es 3–10% Linolensäure; es kann somit ebenfalls als ein Diätspeiseöl angesehen werden. Anhang. Die Bezeichnung Nussöl wird in zweierlei Be-
deutungen angewendet, einmal als gleichbedeutend mit Walnussöl und sodann als Synonym für Walnussschalenöl, ein durch Infundieren hergestellter öliger Auszug der grünen und unreifen hydrojuglonhaltigen Walnussfruchtschalen (Oleum juglandis nucum infusum). Diese öligen Auszüge werden in der Kosmetik als Hautbräunungsmittel verwendet.
22
14% auf Frucht- und Samenschale und bloß 2% auf den Keimling. Die Triacylglyceride weisen die folgende Fettzusammensetzung auf: Linolsäure (40–55%), Ölsäure (ca. 30%), Palmitinsäure (12–14%) und Linolensäure (ca. 7%). Der unverseibare Anteil ist relativ groß (3,5–6,0%) und setzt sich v. a. aus Sterolen und Tocopherolen zusammen. Wichtigstes Sterol ist E-Sitosterol, das vom Vorkommen im Weizenkorn seinen Namen herleitet, von griech. sitos Korn, Weizen. Hervorzuheben ist sodann der hohe Gehalt an Tocopherolen, wobei D-Tocopherol (0,13%) dominiert. E-, J- und G-Tocopherol machen zusammen etwa die gleiche Menge aus. Weizenkeimöl hat als Speiseöl keine Bedeutung. In der Diäternährung kann es wie Vitamin E verwendet werden. Die noch nicht völlig aufgeklärte Funktion des Vitamin E im menschlichen Organismus beruht im Wesentlichen auf seinen Wirkungen als Antioxidans und Radikalfänger, es schützt z. B. mehrfach ungesättigte Fettsäuren und Vitamin A vor der Oxidation. Der Tocopherolbedarf steigt mit zunehmendem Gehalt der Nahrung an mehrfach ungesättigten Fettsäuren. Zu einer Mangelversorgung kommt es jedoch nicht, da Öle mit mehrfach ungesättigten Fettsäuren in der Regel zugleich reich an Tocopherolen sind.
Weizenkeimöl. Weizenkeimöl ist ein Nebenprodukt bei
der Herstellung von Weizenmehl. Man gewinnt es durch Auspressen bei niedrigen Temperaturen, seltener durch Extraktion, aus den Embryonen (Keimlingen) der Weizenkörner, das sind die Früchte der Weizenplanze, Triticum aestivum L. (Poaceae >IIA9a@). Die Ölgewinnung wurde erst lohnend, als Verfahren gefunden wurden, den relativ fettreichen Teil der Weizenfrucht, eben den Keimling, mechanisch abzutrennen. Die modernen Mahlprozesse sind so angelegt, dass sich außer Mehl und Kleie zusätzlich die Embryonen als eine besondere Fraktion anreichern. Die Weizenkörner stellen wie alle Getreidefrüchte sog. Karyopsen dar, Schließfrüchte, bei denen Frucht- und Samenschalen zu einem einheitlichen Gewebe verwachsen sind. Die Samen- bzw. Fruchtschalen umschließen ein mächtiges Endosperm und einen kleinen unscheinbaren Embryo. Die äußerste Zellschicht des Endosperms bezeichnet man als Aleuronschicht; sie ist eiweißreich und enthält die Eiweißverbindungen in Form der sog. Aleuronkörner. Die darunter liegenden Zellreihen des Endosperms sind mit Stärkekörnern angefüllt. Gewichtsmäßig fallen 84% des Weizenkorns auf das Endosperm,
Linolsäurereiche Öle mit zugleich hohen Gehalten an γ-Linolensäure Biochemischer Hintergrund. Vergleiche dazu auch die
Abschn. 22.1.4 (Desaturasen, S. 750) und 22.1.5 (Eicosanoide). Die Enzymausstattung des Menschen ermöglicht es, dass die mit der Nahrung zugeführte Linolsäure [18:2 (9, 12), Z6] in die essentielle Dihomo-J-Linolensäure [20:3 (9, 12, 15), Z6] und Arachidonsäure [20:4 (5, 8, 11, 14), Z6] umgewandelt werden kann. Das erste Umwandlungsprodukt ist die J-Linolensäure ( > Abb. 22.28), eine Reaktion, die durch die G-6-Desaturase katalysiert wird. Die Desaturaseaktivität hängt von zahlreichen Faktoren ab: Aktivierend wirken beispielsweise Insulin und proteinreiche Kost, hemmend u. a. Glucagon, Glucocorticoide und hyroxin. Ferner kann die Desaturase ganz oder teilweise blockiert sein bei Diabetes, bei exzessiver Zufuhr von Kohlenhydraten sowie im Alter (Brenner 1977, 1982). Bei verminderter Enzymaktivität kommt es zu einem Überwiegen des Prostaglandins, der Prostacycline und hromboxane der Z3-Reihe. Wichtig zum weiteren Verständnis ist:
781
782
22
Lipide
. Abb. 22.28
Beispiel: Wirkung auf die Haut. Meerschweinchen, die
18 : 2 ω6 Linolsäure
18 : 3 ω3 α - Linolensäure
δ - 6 - Desa turase
18 : 3 ω6 γ - Linolensäure
Elongase
18 : 4 ω3 Octadecatetraensäure
Cyclooxygenase produkte
20 : 3 ω6 Dihomo - γ Linolensäure
Lipoxygenase produkte
20 : 4 ω3 Eicosatetra ensäure
PGE1 PGF1 TXA1
LTA3 LTC3 LTD 3
PGE2 PGF2 PGI2 TXA2
LTA4 LTB4 LTC4 LTD 4
20 : 5 ω3 Eicosapentaensäure
PGE3 PGF3 δ - 17- Prosta cyclin TXA3
LTA5 LTB5 LTC5
22 : 5 ω3 Docosapentaensäure
δ - 5 - Desa turase
20 : 4 ω6 Arachidonsäure Elongase
22 : 4 ω6 Docosatetraensäure
22 : 5 ω6 Docosapentaen säure
Stoffwechselwege der essentiellen Fettsäuren und der sich von ihnen ableitenden Mediatoren (nach Becker 1993 und Wright 1991). Die biosynthetischen Veränderungen, die von der γ-Linolensäure (ω-6-Säure) und der α-Linolensäure (ω-3-Säure) ausgehen, finden immer in Richtung zum Carboxylende statt, während das Methylende und sein Abstand zur nächsten Doppelbindung gleich bleiben. Beide Reihen können nicht ineinander übergeführt werden
x Mediatoren der Z3- und der Z6-Reihe können nicht wechselseitig ineinander umgewandelt werden ( > Abb. 22.28). x Es kann zu einer Verschiebung des Prostaglandin- und Leukotrienmusters kommen, dem pathophysiologische Bedeutung zugeschrieben wird.
mit einer Diät gefüttert wurden, die als einzigen Fettbestandteil nur gehärtetes Kokosfett enthielt, entwickelten Hautveränderungen wie Akanthose, Hypergranulose und Hyperkeratose. Diese Veränderungen können durch eine Diät mit Zusatz von je 4% Saloröl (reich an Linolsäure) oder Nachtkerzenöl rückgängig gemacht werden, jedoch nicht mit Fischöl, das keine Fettsäuren der Z6-Reihe enthält. Auch die Zusammensetzung der Hautlipide normalisiert sich unter der Salor- und Nachtkerzenölbehandlung. Unter Fischöl kam es dagegen zu einem Anstieg des Verhältnisses von Ölsäure/Linolsäure (Ziboh u. Chapkin 1987; Becker 1993). Nachtkerzensamenöl. Das Öl wird, vermutlich vorzugsweise durch Extraktion, aus den Samen der Nachtkerze, Oenothera biennis L. (Onagraceae >IIB17b@), gewonnen. Die in Nordamerika heimische, nach Europa eingeschleppte Planze ist zweijährig. Sie bildet im 1. Jahr eine dem Boden anliegende Laubblattrosette und treibt dann im 2. Jahr einen bis zu 1 m hohen dicht beblätterten Stängel, am Ende mit einer Traube mit gelben Blüten. Aus den Blüten entwickeln sich lineallängliche bis etwa 3 cm lange Kapseln, in denen 200–300 winzige Samen heranreifen. Das Öl erinnert in Geruch und Geschmack an Mohnöl. Von den Triacylglyceriden entfallen im Mittel auf die Palmitinsäure 9%, Ölsäure 7%, Linolsäure 71% und auf die J-Linolensäure 10%. Nachtkerzensamenöl wird innerlich zur Behandlung und symptomatischen Erleichterung des atopischen Ekzems (Neurodermitis) verwendet. Die Präparate werden auf J-Linolensäuregehalte standardisiert, im typischen Fall auf 40–80 mg/Weichgelatinekapsel. Biochemischer Hintergrund der Anwendung ist die PGE1-Hypothese der Atopie. Danach beruht die Basisstörung auf einem G-6-Desaturase-Defekt; wichtigste Folge ist ein Mangel an dem Prostaglandin PGE1. PGE1 fördert die Diferenzierung bzw. Reifung der T-Lymphozyten und insbesondere die Funktion der T-Suppressorzellen. Eine infolge des G-6-Desaturase-Defekts gehemmte Bildung von PGE1 könnte daher für die verminderte Zahl bzw. Funktion der T-Suppressorlymphozyten verantwortlich sein, die zu einer mangelhaten Kontrolle der B-Lymphozyten und dadurch zu der für die Atopie typischen überschießenden IgE-Synthese führt (Melnik u. Plewig 1989; Melnik 1990).
22.2 Triacylglyceride (Fette und Öle)
Boretschöl. Borago-oicinalis-Samenöl oder Boretschöl
zeichnet sich ebenfalls durch hohe Gehalte an J-Linolensäure aus. Es stammt aus den Samen von Borago oicinalis L. (Boraginaceae >IIB24c@); charakteristische Fruchtform sind Früchte aus 2×2 Klausen, die je einen Samen einschließen. Das mittlere Samengewicht beträgt 19,2 mg (Janick et al. 1989). Die Triacylglyceride des Boretschöls enthalten (Mittel aus 13 Proben) Palmitinsäure (11,3%), Ölsäure (16,3%), Linolsäure (38,1%) und J-Linolensäure (22,8%). Damit ist der J-Linolensäuregehalt im Boretschöl etwa doppelt so hoch wie im Nachtkerzensamenöl. Es ist überdies preiswerter. Boretschöl wird als diätetisches Lebensmittel und Nahrungsergänzungsmittel angeboten. Ein Nutzen, der Einnahme ist bei gesunden, nicht an G-Desaturase-Mangel leidenden Personen nicht belegt.
α-linolensäurereiche Öle In diese Gruppe gehören Hanföl, Leinöl und Perillaöl. Leinöl oder Leinsamenöl wird aus den zerkleinerten Samen des Leins, Linum usitatissimum L. (Linaceae >IIB12d@), durch Pressen in einer Ausbeute von 20–30% gewonnen. Die dem Öl anhatenden Schleimstofe werden durch Filtrieren mit Bleicherde entfernt. Das durchschnittliche Fettsäuremuster zeigt > Abb. 22.29. Wegen seines hohen Gehalts an D-Linolensäure gehört Leinsamenöl zu den Diätölen. Linolensäure gehört zu den essentiellen Fettsäuren. Man schätzt den Tagesbedarf auf 290–990 mg (Kasper 1991). Sie kann zwar voll in Biomembranen eingebaut werden, doch kann sie nur zum Teil – genannt werden Werte bis maximal 10% (Singer u. Wirth 2003) – in die essentielle Eicosapentaensäure umgewandelt werden. Der Grund dafür ist: Beim Menschen werden zur . Abb. 22.29 16 : 0 18 : 0 18 : 1 (9) 18 : 2 (9, 12) 18 : 3 (9, 12, 15) 0
10
20
30
40
50
60 [%]
Durchschnittliches Fettsäurenmuster des Leinsamenöls
22
Umwandlung in die Eicosanoide der Serie 1 und 2 dieselben Enzyme benötigt wie zur Bildung der Serie-3-Eicosanoide. Speziell limitierend ist die '-6-Desaturase, Somit wirkt die Zufuhr von Z-6-Fettsäuren als konkurrierendes Substrat für die Bildung von Reihe-3-Eicosanoiden. Somit können die Seetieröle nicht vollwertig durch Leinöl ersetzt werden. Frisches Leinöl lässt sich nur kurze Zeit unzersetzt lagern. Verkapseltes, oxidationsgeschütztes Leinöl wird bisher nicht angeboten. Hanföl wird aus „Hankörnern“ durch Kaltpressung hergestellt. Die Hankörner stellen aus botanischer Sicht kleine Nussfrüchtchen dar. Stammplanze ist Cannabis sativa l. (Familie: Cannabaceae >IIB11d@), also die bekannte auch den Haschisch liefernde Planzenspezies, womit es zusammenhängt, dass nach dem letzten Krieg (1945) – wohl unter dem Einluss der USA – in Deutschland und zahlreichen anderen europäischen Ländern der Anbau von Hanf verboten wurde. Erst seit 1996 dürfen von Landwirten bestimmte Hanfsorten – sog. Nutzhanfsorten – wieder angebaut werden, worunter man Sorten versteht, die einen besonders niedrigen Gehalt ( Tabelle 22.9), enthält Hanföl D-Linolensäure (16–23%) und die essentielle J-Linolensäure (= Gamolensäure; 2–4%). Aufgrund des hohen Gehalts an ungesättigten Fettsäuren weist das Öl einen niedrigen Rauchpunkt (bei 165 °C) auf; bei darüber liegenden Temperaturen werden Fettsäuren zerstört, weshalb Hanföl nicht zum Braten oder Frittieren verwendet werden sollte, sondern nur als direkt zu verwendendes Speiseöl für Salatdressings, Marinaden und Dips. Hanföl gehört zu den trocknenden Ölen, d. h. es neigt bei unsachgemäßer Lagerung zum Ranzigwerden. Nach dem Öfnen einer Flasche muss es daher kühl und vor Licht geschützt aubewahrt werden. Wegen hoher Gehalte an essentiellen Fettsäuren wird das Öl in Apotheken als diätetisches Lebensmittel – für eine ergänzende bilanzierte Diät – angeboten. Perillaöl (fettes Perillaöl) gewinnt man aus den Samen von Perilla frutescens (L.) Britton (Familie: Lamiaceae >IIB23d@, einer mit unseren einheimischen Minzen botanisch verwandten Planzenart. Perilla frutescens, deutsch Schwarznessel, wurde zuerst in China in Kultur genommen, sie wird aber heute in vielen weiteren, vor allem asiatischen Ländern (Korea, Japan, Indien), angebaut. Die
783
784
22
Lipide
Infobox
Linolsäurereiche Öle. Pflanzliche Öle mit hohen Anteilen an D-Linolensäure gelten als diätetische Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke, speziell als Ersatz für Seetieröle, wenn Patienten die Einnahme von Seefischöl widersteht. Wie das Beispiel der Eskimodiät ( > Abschnitt 22.1.5) zeigt, lassen sich über eine Änderung des Fettsäureangebots in der Nahrung gesundheitsrelevante Effekte erzielen. Klinische Studien sprechen für günstige Effekte einer Zufuhr der langkettigen Z-3-Fettsäuren Eicosapentaensäure (Abkürzung: EPA) sowie der Docosahexaensäure (DHA) bei Vorliegen folgender Störungen bzw. Leiden: x bei Fettstoffwechselstörungen (Hypertriglyceridämie), x bei arteriosklerotischen Gefäßerkrankungen, x bei Bluthochdruck, x bei chronisch entzündlichen Erkrankungen (Arthritis) und x bei allergischen Erkrankungen. Bei Tagesdosen von 1–10 g Z-3-Fettsäuren lassen sich antithrombotische und lipidsenkende Effekte eindeutig messen. Den Schlüssel zum Verständnis dafür, auf welche Weise diese Wirkungen zustande kommen, entnimmt man der
Samen enthalten etwa 40% eines schnell trocknenden Öles, das unserem Leinöl ähnelt, das in der Technik auch ähnlich verwendet wird: z. B. zur Herstellung von Lacken, Lackfarben, Kunstleder, japanischem Ölpapier und Linoleum. Zur Hauptsache besteht Perillaöl aus D-Linolensäure (52–65%), Linolsäure (13–20%) und aus Ölsäure (4–22%). In Form von magensatresistenten Kapseln, und, um Ranzigwerden zu verhindern, mit Antioxidanzienzusätzen (Ascorbinsäure, Tocopherole) versehen, wird Perillaöl als diätetisches Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke angeboten (Schwedes et al. 2004). Perillaöl-Präparate fördern, vergleichbar den Fischöl-Kapseln, die Bildung von Serie-3-Eicosanoiden ( > Abb. 22.15). Wie bereits unter Leinöl vermerkt, kann der Körper nur eine Teilmenge der zugeführten D-Linolensäure zum Aubau von Serie-3-Eicosanoiden verwerten.
> Abb. 22.15. Die drei Eicosanoidvorstufen werden, abhängig von der Art der Fettzufuhr, zunächst in unterschiedlichen Konzentrationen in die Lipide der Zellmembran eingebaut und dann bei Bedarf unter dem Einfluss spezieller Stimuli freigesetzt, um für die Biosynthese von Eicosanoiden zur Verfügung zu stehen. Das Spektrum der synthetisierten Eicosanoide, d. h. die Verteilung auf die drei Reihen, hängt einmal von der unterschiedlichen Enzymausstattung der verschiedenen Gewebsarten ab, sodann aber in hohem Maße auch von dem Substratangebot: Das Verhältnis aus Z-3- zu Z-6-Fettsäuren im Nahrungsangebot ist somit wesentlich mitbestimmend dafür, wie sich Prostaglandine, Thromboxane und Leukotriene auf die drei Reihen verteilen. Hinzu kommt: Die Wirkungen der jeweils biosynthetisierten Eicosanoide auf Organ- und Stoffwechselfunktionen, auf Vaso- und Bronchokonstriktion, auf Blutfettwerte, auf den Verlauf von Entzündungsreaktionen und auf weitere Funktionen sind nicht selten geradezu gegensätzlich, je nachdem, ob es sich um Eicosanoide aus Z-3- oder aus Z-6-Fettsäuren handelt. Über Änderungen der Fettsäurezufuhr mit der Nahrung oder durch Einnahme diätetischer Mittel (Fischölkapseln, Lein- oder Perillaöl) lassen sich auf diese Weise quasi pharmakologische Wirkungen erzielen.
22.3
Phospholipide
22.3.1
Phosphoglyceride (Phosphatidylsäurederivate)
Im Unterschied zu den Triacylglyceriden ist bei den Phosphoglyceriden das 3-OH des Glycerols mit Phosphorsäure verestert. Die l-Phosphatidsäuren sind die einfachsten Vertreter dieser Stofgruppe, die übrigen stellen Phosphorsäurediester dar ( > Abb. 22.30), da der Phosphatrest der Phosphatidsäure mit einem weiteren Alkohol verknüpt ist. Die Variation ist einmal wie bei den Triacylglyceriden durch unterschiedliche Substitution mit Fettsäuren gegeben und sodann durch den an Phosphat geknüpten Alkoholrest ( > Abb. 22.31). In den Lecithinen ist die Phosphatidsäure mit Cholin verknüpt. Lecithine sind Bauelemente aller planzlichen und tierischen Membranen. Besonders hoch ist der Phosphatidylgehalt im Nervengewebe, im Eidotter und in der Sojabohne. Beim Phosphatidylethanolamin und Phosphatidylserin sind Ethanolamin bzw. Serin mit dem Phosphat veres-
22.3 Phospholipide
. Abb. 22.30
. Abb. 22.31
O
1-sn
O R1
O R2
O
OH
O O
P
OR1
OH
R2O
O
3-sn
L-α-Phosphatidyl-D-glycerole
OR1 R2O
O OH
O O O
R1
O
O O
P
H OPO3H
OH
R2
22
P
OH O O
O
R4
O
O
O
O
O X
R3
O
OH O Diphosphatidylglycerole (Cardiolipine)
Bauprinzip der Phosphatidyl- und der Diphosphatidylglycerole (Cardiolipine). R1, R2, R3 und R4 bedeuten Fettsäurereste. Phosphatidylglycerol kommt in den Chloroplasten vor, Cardiolipine in den Mitochondrien
tert. Diese beiden Phosphatidylsäurederivate wurden früher als Kephaline (griech.: képhalon [Kopf]) bezeichnet, da sie im Nervengewebe des ZNS vorkommen. Beim Phosphatidylinositol ist der Phosphorsäurerest mit dem zyklischen sechswertigen Alkohol Inositol verknüpt. Dieses Phosphoglycerid ist ein wichtiger Membranbaustein ( > Abschn. 22.4). Dank weiterer OH-Gruppen fungiert Phosphatidylinositol in Säugetierzellen als „Membrananker“ für eine Reihe an der Außenseite der Zellmembran lokalisierter Enzymproteine. Vor allem aber spielt es als Muttersubstanz von sekundären Botenstofen („second messenger“) eine wichtige Rolle beim molekularen Mechanismus der Signalübertragung. In der Pharmazie begegnen wir der Substanz als Bestandteil von Rohlecithinpräparaten ( > Abb. 22.34). Cardiolipine (1,3-Bisphosphatidylglycerole; > Abb. 22.30) wurden erstmals aus Mitochondrienmembranen des Herzmuskels isoliert. Auch bei Planzen sind sie Bausteine der Mitochondrienmembranen, und zwar beschränkt auf die inneren Membranen, die die Cristae bilden und die Matrix der Mitochondrien einhüllen.
OR3
P
R3
Phosphoglycerid
-CH2-CH2-NH3
Phosphatidylcholine (Lecithine) Phosphatidylethanolamine (Kephaline)
-CH2-CH-NH3
Phosphatidylserine
-CH2-CH2-N(CH3)3
HO
COO OH OH OH OH
Phosphatidylinositole
Obere Hälfte: In der Lipidnomenklatur hat sich für asymmetrische Glycerolderivate die sog. stereospezifische Nummerierung, abgekürzt sn-, eingebürgert. Das Molekül wird im Sinne der Fischer-Projektion so angeordnet, dass die 2-OH-Gruppe des Glycerols nach links zeigt. Untere Hälfte: Häufig vorkommende von der Phosphatidsäure sich ableitende Phosphoglyceride (Glycerophospholipide). R1 und R2 bedeuten Fettsäurereste; dabei ist R2 meist der Acylrest einer ungesättigten Fettsäure
Katabolismus von Phospholipiden Wie alle Körperbestandteile unterliegen auch die Phospholipide einem ständigen Auf- und Abbau. Der Abbau der Phosphoglyceride wird durch die in allen Geweben vorkommenden, unterschiedliche Speziität zeigenden Phospholipasen katalysiert ( > Abb. 22.32). Neben ihrer Funktion im Stof wechsel haben die Phospholipasen Bedeutung für die Einleitung der Abwehrreaktionen. Die durch eine Reihe von Signalen vermittelte Aktivierung der Phospholipase A2 führt zur Arachidonsäurefreisetzung aus Membranphospholipi-
785
786
22
Lipide
. Abb. 22.32 A2
Phospholipide in der pflanzlichen Zellmembran
B CH2 O
R2
C
. Abb. 22.33
A1
O
C
H
C O
R1 Phospholipase
D α-Linolensäure
O
O CH2 O
P
OR3
Lipoxygenase
OC
Die Hydrolyse von Phospholipiden erfolgt durch Phospholipasen mit unterschiedlichen Spezifitäten. Die Phospholipasen A1 und A2 spalten die Fettsäuren an C-1 bzw. C-2 ab. Phospholipase B ist ein Gemisch aus den beiden Phospholipasen A1 und A2. Die Phospholipase C führt zum 1,2Diacylglycerol. Die Phospholipase D spaltet die Bindung zwischen Phosphat und dem Alkohol R3-OH unter Freisetzung der Phosphatidsäure. Die Spaltprodukte haben unterschiedliche Bedeutung im Signaltransfer über biologische Membranen hinweg
OOH H3C
COOH 13-Hydroperoxy-α-linolensäure Cyclodehydrase
COOH CH3 O
den und liefert damit die Substrate für die Biosynthese von Eicosanoiden, die in der Tierzelle bei Entzündungsreaktionen und Verwundung freigesetzt werden. Ein Analogon zur Arachidonatkaskade stellt bei den Planzen die Jasmonatbildung dar. Durch Stresssignale wird aus der planzlichen Zellmembran D-Linolensäure durch Phospholipase freigesetzt und nach einem Oxygenierungsschritt durch Lipoxygenase, Ringbildung und Seitenkettenverkürzung zur 3R, 7S(+)-Jasmonsäure umgewandelt ( > Abb. 22.33). Die Ähnlichkeiten zur Prostaglandin- und Leukotriensynthese sind aufallend. Aspirin inhibiert die wundinduzierte Jasmonatbildung, ähnlich wie die der Prostaglandinbildung (Übersicht: Hock 1995). Von Jasmonsäure und verwandten Verbindungen ist eine Vielzahl unterschiedlichster Wirkungen nachgewiesen worden. In physiologischen Konzentrationen scheinen sie eine Rolle als Auslöser der Signalkette Verwundung o Wundheilung zu spielen. Extrazelluläre Lipasen des Typus A kommen neben anderen toxisch wirkenden Stofen in Bienen- und Schlangengiten vor. Sie hydrolysieren Membranlipide der Erythrozyten und lösen Hämolyse aus. Bestimmte bakterielle Infektionen, zum Beispiel Clostridiensepsis, führen zu To-
12-Oxophytodiensäure (Oxo-PDA) Oxo-PDA-Reduktase
COOH CH3 O β-Oxidation
COOH CH3 O
(+)-Jasmonsäure
Biosynthese von (+)-Jasmonsäure
xinschäden, bei denen die Hämolyse im Vordergrund steht; die Hämolyse kann zu einer akuten Zerstörung des größten Teils der Erythrozytenpopulationen führen. Ursächlich verantwortlich dafür ist eine Phospholipase C, die die Phospholipide der Erythrozytenmembran enzymatisch spaltet.
22.3 Phospholipide
22.3.2
Sojabohnenlecithin
Das Kunstwort Lecithin (griech.: lékithos [Eidotter)] wird in zweierlei Weise verwendet: einmal als chemische Gruppenbezeichnung für Phosphatidylcholine und sodann als Name für Handelsprodukte, die Gemische von Phosphatidylcholinen mit zahlreichen anderen lipophilen Begleitstofen ( > Abb. 22.34) darstellen. Im konkreten Fall des Sojabohnenlecithins kommt hinzu, dass es sehr unterschiedlich zusammengesetzte Handelprodukte gibt. Im pharmazeutischen Bereich erfolgt die Bewertung nach deren Gehalten an Phosphatidylcholinen, im Lebensmittelbereich nach deren HLB-Werten („hydrophil-lipophil balance“). Bei den HLB-Werten handelt es sich um die relative Stärke der hydrophilen und lipophilen Gruppen von Emulgatoren, die aus Dielektrizitätskonstanten oder aus dem chromatographischen Verhalten ermittelt werden. Gewinnung. Sojalecithin (Lecithinum vegetabile) fällt bei
der sog. Entlecithinisierung des Sojaöls an. Sojaöl seinerseits wird aus den Samen von Glycine max (L.) Merr. (Familie: Fabaceae >IIB9a@ gewonnen. Das roh gepresste Öl
22
wird mit Wasser versetzt (2–5%); darauhin setzen sich die Phospholipide in der Grenzschicht Öl/Wasser ab und können im so genannten Separator abzentrifugiert werden. Das Rohlecithin ließt mit der wässrigen Phase („Nassschlamm“) ab und wird nach Abdampfen des Wassers als lüssig-ölartiges Produkt erhalten. Dieses Rohprodukt unterwirt man für die verschiedenen Anwendungsbereiche unterschiedlichen Reinigungsprozeduren; beispielsweise lassen sich durch Extraktion mit Aceton dem Rohprodukt die Triglyceride entziehen. Frisch gewonnen sind Lecithinprodukte weiß, verändern sich an der Lut jedoch bald zu bräunlich-gelben, hygroskopischen, wachsartigen Massen. Zusammensetzung. Für die Zusammensetzung des Roh-
lecithins gibt > Abb. 22.34 ein typisches Beispiel. Für die pharmazeutische Verwendung sind im Handel die verschiedensten Qualitäten und Typen erhältlich. Deklariert wird jeweils der Gehalt an 3-sn-Phosphatidylcholin. Angeboten werden 2 Haupttypen mit Gehalten von ca. 70% und ca. 50%. Der Fettsäureanteil im Sojabohnenlecithin entfällt zur Hauptsache auf Linolsäure (62–66%), daneben auf Palmitin- und Stearinsäure (16–20%), auf Ölsäure (8–2%) und auf Linolensäure (6–8%).
. Abb. 22.34
E 210
8
Anwendung. Anwendung indet Sojabohnenlecithin wegen des Gehalts an essentiellen Fettsäuren bei leichten Formen von Hypercholesterinämien und als Emulgator für parenterale Fettemulsionen. In der pharmazeutischen Technologie und kosmetischen Industrie als Emulgator und Suspensionsstabilisator sowie als Ausgangsmaterial für Liposomen. In der Lebensmittelindustrie als Zusatzstof für zahlreiche Lebensmittel, z. B. zu Schokolade, um die Fließeigenschaten zu verbessern, zur Margarine, um das Spritzen beim Erhitzen zu verhindern, zu Backwaren zur Verbesserung der Wasserbindung.
13
2,3 1 4 5 6
9
7
11,12
10
14
0
10
20
30
40
Hinweis. Zum Begrif „Liposom“
> Abb. 22.5 (S. 792).
50 [min]
HPLC-Analyse eines Rohlecithins aus Soja (aus Belitz et al. 2001, nach Sotirhos et al. 1986). 1 Triacylglyceride, 2 freie Fettsäuren, 3 Phosphatidylglycerol, 4 Cerebroside, 5 Phytosphingosin, 6 Diphosphatidylglycerol, 7 Digalactosyldiacylglyceride, 8 Phosphatidylethanolamin, 9 Phosphatidylinositol, 10 Lysophosphatidylethanolamin, 11 Phosphatidsäure, 12 Phosphatidylserin, 13 Phosphatidylcholin, 14 Lysophosphatidylcholin
22.3.3
Etherphospholipide
Die Etherphospholipide enthalten in Position C-1 des Glycerols anstelle einer Fettsäure entweder einen Fettsäurealdehyd oder einen Fettsäurealkohol gebunden: Im Falle des Aldehyds liegt eine Enoletherbindung vor, im Falle des Alkohols eine Alkyletherbindung ( > Abb. 22.35). Die Enoletherbindung wird im Unterschied zur Etherbindung
787
788
22
Lipide
. Abb. 22.35
Stearylaldehyd 1
O
H3C
O O P O
O
Arachidonsäure
CH3
O
O
N(CH3)3 Cholin
Alk-1-enylacylphospholipid (Plasmalogen) 1
Rest wie oben
CH3
O
Alkylacylphospholipid
Beispiele für den Aufbau eines Alk-l-enyl- und eines Alkylacylphospholipids. Die Substituenten am C-1 des Glycerols leiten sich von der 16: 0-Säure (Palmitinsäure), 18: 0-Säure (Stearinsäure) oder 18: 1-Säure (Ölsäure) ab; die an C-2 von der 16: 0-Säure, 18: 1-Säure, 18: 2-Säure (Linolsäure) oder 20: 4-Säure (Arachidonsäure) ab
schon durch schwache Säuren hydrolysiert. Die Enoletherphospholipide führen den Trivialnamen Plasmalogene. Der Ausdruck bezieht sich darauf, dass es sich um Stofe handelt, die im Zellplasma gefunden wurden und wie Zellkernbestandteile mit dem Feulgen-Reagens (zur Erkennung der Zellkerne) reagieren. Hinweis: Feulgen-Reagens besteht aus Fuchsin/ schweliger Säure, das mit Aldehyden einen intensiv rotvioletten Farbstof bildet. Etherphospholipide sind Bestandteile tierischer Zellen, kommen aber auch in einigen Mikroorganismen vor. Sie inden sich in den Geweben wohl sämtlicher Organe. Beim Menschen entfallen von den Phospholipiden des Gehirns und der Muskeln über 10% auf die Plasmalogene. In den zellulären Elementen des Blutsystems und des Immunsystems ist die Konzentration an Alkylestern wesentlich höher als an Alken-l-estern. Die Alkylester fungieren als Vorstufen eines zellulären Signalstofes, des sog. „platelet activating factor”, abgekürzt PAF.
Plättchenaktivierender Faktor (PAF) Als weitere Bezeichnungen sind üblich PAF-Acether und AGEPC (Acetylglyceryletherphosphatidylcholin). Wirkungen. Die Bezeichnung PAF ist wenig aussagekräftig: Seine Wirkungen erstrecken sich nicht nur auf die hrombozyten, sondern auf alle Zellen, die entzündliche
und allergische Reaktionen vermitteln, insbesondere auf die Granulozyten (Neutrophile, Eosinophile), auf Monozyten (Makrophagen) und auf Mastzellen; die Wirkungen erstrecken sich auch auf Endothelzellen der Gefäßwände, die für die Kontrolle der Hämostase, für die Gefäßpermeabilität sowie für den Ablauf akuter und chronischer Entzündungsreaktionen von Bedeutung sind. Membranständige Rezeptoren für PAF wurden auf den entsprechenden Zellen gefunden (Snyder 1987). PAF reagiert mit vielen Zelltypen in sehr niedrigen Konzentrationen, die im Nano- und Picomolbereich liegen. Von pathophysiologischer Bedeutung sind u. a. die folgenden Wirkungen (Greger 1996; Rang et al. 2000): x Rekrutierung von Eosinophilen in die Bronchialschleimhaut bei Asthma bronchiale, x Bronchokonstriktionen, x Verengung der Herzkranzgefäße, x Zunahme der Gefäßpermeabilität und Ödembildung, x Blutdruckabfall. Substanzen mit PAF-antagonistischer Wirkung hemmen die durch PAF ausgelösten Reaktionen: Sie wirken u. a. entzündungswidrig, antiasthmatisch und gefäßerweiternd. Physiologische Gegenspieler von PAF sind die Glucocorticoide. Sie entfalten ihre Wirkung indirekt, indem sie die Bildung eines antiinlammatorischen Mediatorstofs mit Proteinstruktur, des Lipocortins l, induzieren; Lipocortin hemmt die Phospholipase A2, sodass es nicht zur Freisetzung von lyso-PAF aus den Alkylphosphatid-
22
22.4 Glykolipide
. Abb. 22.36
. Abb. 22.37
Alkylacylphospholipid
CH3O
Phospholipase A2 Arachidonsäure
CH3O
CH3
O HO
O O P O
H3C CH3O
H O OH
H3C
O O
O O
O
CH3CO—SCoA
CH2
Kadsurenon
N(CH3)3 lyso-PAF
O
O
O
O
OH But
OH
Acetyltransferase Ginkgolid B
O CH3
O H3C
O
O O P O O
Zwei natürliche PAF-Rezeptorantagonisten. Kadsurenon gehört in die Gruppe der Lignane (Bauprinzip: 2-mal C6–C3), Ginkgolid B in die der Diterpene ( > Abb. 26.61)
N(CH3)3 PAF
Biosynthese von PAF aus Alkylphospholipidvorstufen. Die Biosynthese erfolgt nur als Antwort der Zelle auf bestimmte Reize oder Noxen. PAF selbst ist ähnlich wie die Prostanoide (Prostaglandine) ein Signalstoff
vorstufen kommen kann ( > Abb. 22.36). Im Planzenreich kommen kompetitive PAF-Antagonisten vor. Zu den potentesten Vertretern gehören Ginkgolid B und Kadsurenon. Ginkgolide, sind charakteristische Inhaltsstofe der Ginkgoblätter ( > S. 1223). Sie hemmen kompetitiv in vivo und ex vivo (isolierte Membranen) die Bindung von tritiummarkiertem [3H]-PAF an Kaninchenthrombozyten. Am stärksten bindet Ginkgolid B ( > Abb. 22.37) mit einer IC50 = 2,5×10–7 (Braquet 1988). Diese Bindung an PAF-Rezeptoren ist hochspeziisch: Ginkgolide binden an keine anderen der bisher bekannten Rezeptortypen. Systemische Gabe von 40 µg PAF/kg KG an Mäuse bewirkt hrombozytenaggregation mit nachfolgender hrombozytopenie, Erhöhung der Gefäßpermeabilität, Hämokonzentration, Blutdruckabfall und Bronchokonstriktion. Diese PAF-bedingten Reaktionen, die unbehandelt letale Folgen haben, können durch Gabe von Ginkgolid B mit
einer ED50 von ca. 13 mg/kg KG verhindert werden (Myers et al. 1988). Es wird angenommen, dass die PAF-antagonistische Wirkung der Ginkgolide zur Gesamtwirkung des Ginkgo-Extrakts einen Beitrag leistet ( > Abb. 26.63). Kadsurenon ist ein Inhaltsstof der Stängel von Piper futokadsura Sieb. et Zucc. (Familie: Piperaceae >II3b@, einer in der traditionellen chinesischen Medizin verwendeten Droge Piperis futokadsurae caulis, Hai-fung-teng. Dekokte und mittels Wein hergestellte Mazerate wurden oral bei rheumatischen Beschwerden und Bronchialasthma verwendet. Kadsurenon ( > Abb. 22.37), ein Neolignan, ist ähnlich dem Ginkgolid B ein potenter, speziischer PAF-Antagonist.
22.4
Glykolipide
Glykolipide ist eine Gruppenbezeichnung für Lipide, die als hydrophilen Bestandteil Kohlenhydrate besitzen. Zum Unterschied von den Lipopolysacchariden der gramnegativen Bakterien sind die Glykolipide wesentlich kleinere Moleküle. Sie sind überwiegend Bestandteile biologischer Membranen. Je nach der in den Glykolipiden autretenden Lipidstruktur unterscheidet man x Glyceroglykolipide und x Sphingolipide.
789
790
22 22.4.1
Lipide
Glyceroglykolipide
Der Lipidanteil der Glyceroglykolipide besteht aus 1,2-Diacylglycerol. Die 3-OH-Gruppe ist glykosidisch an Monooder Disaccharide, seltener an Tri- oder Tetrasaccharide gebunden ( > Abb. 22.38). Glyceroglykolipide dieses Bauprinzips kommen v. a. in Bakterien und in Planzen vor. In planzlichen Vertretern der Gruppe dominiert als Baustein die Galactose (Gal), die am häuigsten als Monogalactosyldiacylglycerol (MGDG) und als Digalactosyldiacylglycerol (DGDG) autritt. Gut wasserlösliche Glycerolglykolipide sind die Sulfolipide (SL), die als Zuckerbaustein die 6-Sulfochinovose enthalten. Wie sich die genannten Lipi. Abb. 22.38
O
O R1
O R2
O O
>1
Gal
Monogalactosyldiacylglycerol (MGDG) O O R2
R1
O O O
>1
6 >1
Gal
Gal
Digalactosyldiacylglycerol (DGDG) O O R2
O O
O
O HO SO3H
R1
OH
OH
Sulfolipid 1,2-Diacyl-(6-sulfo-α-D-chinovosyl-1,3-) L-glycerol
Häufig vorkommende Glyceroglykolipide
de auf die verschiedenen planzlichen Membranen verteilen, darauf wird in Abschn. 22.6 eingegangen.
22.4.2
Sphingolipide
Sie enthalten anstelle des Glycerols das langkettige Aminodiol Sphingosin ( > Abb. 22.41). Die Vorsilbe „Sphingo“ ist von dem altägyptischen Fabelwesen der Sphinx abgeleitet; ofensichtlich erschienen den Erstentdeckern dieser Gehirnbestandteile Bau und Funktionen entsprechend rätselhat. Es gibt drei Haupttypen von Sphingolipiden, deren Grundgerüst wie folgt aussieht: x Ceramid-Zucker: Sphingoglykolipide; x Ceramid-Phosphat-Base: Sphingophospholipide; x Ceramid-Phosphat-Zucker: Sphingophosphoglykolipide. Relativ einfache Sphingoglykolipide, auch als Glykosphingolipide bezeichnet, sind die Cerebroside: Ihr Zuckeranteil besteht aus Galactose. Sie kommen in hohen Konzentrationen im Gehirngewebe vor, inden sich aber auch in vielen anderen Geweben. Die Variation der Cerebroside ist durch unterschiedliche Fettsäurereste gegeben. Ganglioside enthalten anstelle der Galactose einen komplexen, häuig verzweigten Oligosaccharidrest. Als Bausteine des Oligosaccharidrests kommen Glucose, Galactose, Galactosamin und N-Acetylneuraminsäure (Sialinsäure) vor ( > Abb. 22.39 und 22.40). Hinweis: Ganglioside sind in den Membranen von Nervenzellen angereichert. Bestimmte Bakteriengite haben zu bestimmten Gangliosiden eine hohe Ainität, sodass von Rezeptoren, beispielsweise für Tetanustoxin, gesprochen werden kann (van Heynigen 1974). Im Nervengewebe des Menschen kommen mehrere Gangliosidtypen vor, die sich in ihrem Sialinsäuregehalt und in ihrer Toxinbindungskapazität unterscheiden. Tetanustoxin hat eine besonders hohe Ainität zu Gangliosiden, bei denen 2 Sialinsäurereste an einem Lactosebaustein hängen. Die Sphingomyeline gehören zu den Sphingophospholipiden. Sie tragen an der endständigen Gruppe des Ceramidanteils einen Phosphorylcholinrest ( > Abb. 22.41). Bevorzugte Fettsäuren sind Lignocerinsäure (24:0) und Nervonsäure [24:1 (15)]. Der Name Sphingomyelin leitet sich vom typischen Vorkommen dieser Lipide in den Myelinscheiden des Nervengewebes ab.
22
22.5 Beteiligung von Lipiden am Aufbau von Membranen
. Abb. 22.39
D - Gal
N - Acetylgalactosamin
D - Galactosamin
. Abb. 22.40
COOH C
COOH
H
C
H2N
OH R2O CH3
OH H
H2N
OH
HO
OH
OH
CH2 OH
OH
2-Amino-D-mannose (offenkettig)
CH2 OH HO
H
HO H2N H H2O
. Abb. 22.41
O
CH2
O
CH3
HO
Ceramid
N - Acetylneuraminsäure
Struktur eines Gangliosids
O
D - Glc
COOH
OH O
OH
HO
Neuraminsäure
Neuraminsäure entsteht durch Aldoladdition aus Pyruvat und 2-Amino-D-mannose; über die Ketogruppe des Pyruvats bildet sich ein pyranoider Halbacetalring aus. Neuraminsäure, die in der Natur nicht in freier Form vorkommt, ist Bauelement von Zellwänden, Glykoproteinen und Glykolipiden. Als Sialinsäure bezeichnet man N- und O-Acetylderivate der Neuraminsäure; sie sind Bestandteile vor allem der Ganglioside
Sphingophosphoglykolipide kommen im Planzenreich vor. Isoliert wurden Vertreter aus Sojabohnen und Erdnüssen. Sie sind kompliziert gebaut. Eine Totalhydrolyse ergab Sphingosin, Inositol, Phosphorsäure, Galactose, Arabinose, Mannose und Glucuronsäure.
N
R1
R1
R2
H Fettsäurerest (Acyl) Fettsäurerest
H H
Sphingosin
Phosphorylcholin D-Galactose
Sphingomyeline
Fettsäurerest
Ceramide
Cerebroside
Bauprinzipien der wichtigsten Sphingolipide. Grundelement ist das langkettige Sphingosin = D-erythro-1,3-Dihydroxy-2-amino-4-octadecen. Geht die Aminogruppe eine Säureamidbindung mit meist ungesättigten Fettsäuren ein, entstehen die Ceramide. Durch Veresterung der Ceramide mit Phosphorylcholin entstehen die Sphingomyeline, durch Glykosidbindung mit D-Galactose die Cerebroside
22.5
Beteiligung von Lipiden am Aufbau von Membranen
22.5.1
Einheitliches Bauprinzip biologischer Membranen
Phosphoglyceride und Sphingolipide haben amphiphile Struktureigenschaten: Es sind Moleküle aus 2 funktionellen Teilen, einem polaren Kopf und einem hydrophoben Schwanz. Der polare Kopteil wird durch eine negative Ladung des Phosphats hervorgerufen oder durch Kohlenhydratbausteine mit ihren vielen OH-Gruppen. Der hydro-
791
792
22
Lipide
. Abb. 22.42a–d Luft, Öl
H 2O
a
H 2O
b
Monomolekulare Schicht
Micelle H 2O
H 2O
H 2O
c
d Doppelschicht
Liposom / Vesikel
Selbstorganisation von amphiphilen Lipiden. a Anordnung amphiphiler Moleküle als monomolekularer Film an der Grenzschicht Wasser/Luft. b–d Möglichkeiten der Anordnung in wässriger Phase. d Homogene Populationen von Vesikeln bezeichnet man als Liposomen (aus Löffler u. Petrides 2003)
phobe (lipophile) Schwanzteil besteht aus der langen Kohlenwasserstokette der Fettsäurekomponenten. Amphiphile Moleküle (griech. ampho beide), zu denen auch die Diacylglyceride und die Alkalisalze von Fettsäuren gehören, breiten sich auf der Oberläche wässriger Lösungen in monomolekularen Filmen aus, in denen die Molekülteile mit polarem Kopf mit dem Wasser in Kontakt stehen, die lipophilen Fettsäureschwänze vom Wasser abgewandt sind ( > Abb. 22.42). Innerhalb einer wässrigen Lösung lagern sie sich zu Doppelschichten zusammen, mit den hydrophoben Bereichen nach innen. Sie liegen dann, aus energetischen Gründen, aber nicht als Lamellen, sondern als Vesikel (lat. vesiculum Bläschen) vor. Relativ homogene Populationen solcher Lipidvesikel stellen die Liposomen dar. Zur künstlichen Erzeugung lamellarer Strukturen, synthetischer Lipiddoppelschichten, sind besondere Verfahren entwickelt worden, von denen ein besonders gut einsichtiges in > Abb. 22.43 wiedergegeben ist.
Lipiddoppelschichten sind auch die Grundstruktur aller zellulären Membranen. Die heutige Vorstellung von einer biologischen Membran basiert auf dem „FlüssigMosaik-Modell“, das S.J. Singer und G.L. Nicolson 1972 konzipierten. Was bedeutet in diesem Modell der Terminus „Flüssig“? Bei Lipiddoppelschichten lassen sich zwei bestimmte Zustände unterscheiden: die kristalline und die lüssig-kristalline Phase. Die kristalline Phase ist durch gerade ausgerichtete gesättigte Fettsäuremoleküle in hexagonaler Anordnung gekennzeichnet. Die Einführung von cis-Doppelbindungen in die Fettsäureketten führt zu abgeknickten Molekülen, wodurch der hohe Ordnungsgrad aufgehoben wird: Die Fluidität nimmt zu. In dieser luiden beweglichen Membran „schwimmen“, lateral frei, die Membranproteine, einige von ihnen durchdringen die gesamte Struktur der Membran ( > Abb. 22.44). Der Schmelzpunkt biologischer Membranen liegt zwischen 10 und 40 °C. Er steigt mit zunehmender Kettenlänge und
22.5 Beteiligung von Lipiden am Aufbau von Membranen
. Abb. 22.43
wässrige Proteinlösung
22
. Abb. 22.44
Phospholipid in Heptan
wässrige Proteinlösung
Konstruktion einer synthetischen Lipiddoppelschicht. Eine Schicht (Monolayer) bildet sich an der Grenzfläche Wasser/ Heptan, die andere um einen Tropfen einer wässrigen Lösung, die in das Heptan hineinpipettiert wird. Beim Zusammentreffen beider Schichten formt sich eine echte Doppelschicht (aus v. Sengbusch 1979)
abnehmender Zahl der Doppelbindungen in den Fettsäuren. Cholesterol, als wichtiger Bestandteil tierischer Membranen, schiebt sich zwischen die Alkanketten, die polare 3-OH orientiert sich wie die polaren Gruppen der Phospholipide und Sphingolipide. Einbau von Cholesterol senkt die Membranluidität.
22.5.2
Unterschiede in der Zusammensetzung
Dem einheitlichen Aubau der Membranen stehen Verschiedenheiten gegenüber, was verständlich ist, da Membranen die unterschiedlichsten Aufgaben erfüllen müssen. Zunächst seien die wichtigsten Membrantypen aufgezählt: x Plasmalemma (Plasmamembran), äußere Zellmembran, x Kernmembran, x Membranen der Myelinscheide, x Virusmembranen, x bakterielle Membranen, x endoplasmatisches Retikulum,
Nach dem Membranmodell von Singer u. Nicolson („fluid mosaic membrane model“) befindet sich die gesamte Struktur der Membran nicht in einem starren, sondern in einem äußerst fluiden und dynamischen Zustand. Die Membranlipide können rotieren, lateral diffundieren und – sehr selten – auch von der Außen- zur Innenseite wechseln oder umgekehrt („flip-flop“). Die Membranproteine (z. B. Enzyme) „schwimmen“ lokal frei in der Doppelschicht, einige durchdringen die Membran auf nur einer Seite, andere zur Gänze. Die aus der Membranebene herausragenden Oligosaccharidketten sind Bestandteile der Glykolipide und Glykoproteine (aus Dose 1996)
x Golgi-Apparat, x erregbare Membran (Nervenmembranen), x Rezeptoren, bei höheren Planzen Elicitorrezeptorstrukturen zur Induktion von Abwehrstrukturen,
x Mitochondrienmembranen (äußere und innere), x Chloroplastenmembranen.
Nicht alle Virionen besitzen eine Membran, man diferenziert zwischen nackten Viren und den membrantragenden, umhüllten Viren („enveloped viruses“). Die Umhüllung stammt aus Teilen der Wirtszellmembran. Die bakterielle Zytoplasmamembran unterscheidet sich von derjenigen der eukaryotischen Zellen, da sie Sitz der Enzyme für den Elektronentransport und für die oxidative Phosphorylierung ist. Die Zellmembran tritt damit an die Stelle der Mitochondrien. Bakterienzellen enthalten keine Organellen. Die DNA liegt im Zytoplasma und ist von keiner Kernmembran umgeben. Ihrem chemischen Aubau nach unterscheidet sich die bakterielle Zytoplasmamembran von Membranen anderer Organismen durch die folgenden Merkmale:
793
794
22
Lipide
x Es sind keine Sterole eingebaut. x Es fehlen nahezu ganz Phosphatidylcholine (Lecithine) und Sphingomyeline.
x Es kommen in mannigfacher Ausgestaltung andere Phospholipide und amphipolare (amphiphile) Lipide mit Kohlenhydratkomponenten vor. x In die Lipidschicht sind nur geringe Mengen mehrfach ungesättigter Fettsäuren eingebaut, dafür aber relativ hohe Anteile an Cyclopropanfettsäuren und an verzweigtkettigen Fettsäuren. Zum chemischen Bau der äußeren Membran von gramnegativen Bakterien > Abschn. 22.6. Mitochondrien besitzen eine äußere und eine innere Mitochondrienmembran, die unterschiedlich zusammengesetzt sind. Die unterschiedliche Zusammensetzung kommt bereits im ProteinLipid-Verhältnis zum Ausdruck. Die äußere Membran enthält, neben viel Phospholipiden, relativ viel Cholesterol; die innere Membran zeichnet sich neben einem insgesamt geringeren Phospholipidanteil und dem Fehlen von Cholesterol durch den Besitz von Cardiolipin ( > Abb. 22.30) aus, einem ansonsten typischen bakteriellen Phospholipid. Bei höheren Planzen lassen sich aufgrund der Lipidzusammensetzung chemisch-analytisch 3 Typen von Membranen unterscheiden (Mazliak 1977): x die innere Mitochondrienmembran ist durch Einbau von Cardiolipin gekennzeichnet; x die innere Membran der Chloroplasten, die hylakoide, enthalten Phosphatidylglycerole, bei denen die 2-OH des Glycerols mit trans-3-Hexadecensäure verestert ist; x die restlichen Membranen der Zelle, einschließlich äußerer Mitochondrienmembran und äußerer Chlo-
roplastenmembranhülle, setzen sich alle aus ähnlichen Bausteinen – Phospholipiden, Galactolipiden und Sterolen (Phytosterinen) – zusammen.
22.5.3
Oxidative Schädigung von Membranlipiden
Der atmosphärische Sauerstof ist aufgrund seiner speziellen Elektronenkoniguration chemisch relativ reaktionsträge. Erst durch Aktivierungsprozesse ist eine geordnete Verwertung von Sauerstof im Zellstofwechsel möglich. Ohne Sauerstofaktivierung ist aerobes Leben nicht möglich. Auf der anderen Seite sind die reaktionsfähigen Radikale ( > Tabelle 22.10) auch imstande, nahezu alle in lebenden Strukturen vorkommenden Verbindungen oxidativ zu verändern und funktionell schwer zu beeinträchtigen. Die in > Tabelle 22.10 aufgezählten Sauerstofradikale können mit zahlreichen biologischen Molekülen reagieren, sie können u. a. eine oxidative Kettenreaktion in Gang setzen, die als Lipidperoxidation bezeichnet wird ( > Abb. 22.45).
Biologische Konsequenzen der Lipidperoxidation Biochemische Reaktionen inden in membranumgrenzten Räumen statt. Führt ein Angrif auf Membranen zur Aufhebung der Kompartimentierung, so hat das immer den Zelltod zur Folge. Daher ist die Integrität der Biomembranen der Zelle von vitaler Bedeutung. Anfällige Stellen in der Lipiddoppelschicht gegenüber radikalischem Angrif
. Tabelle 22.10 Biologisch aktive reaktive Sauerstoffspezies (nach Löffler u. Petrides 2003) Spezies O x–
Name
Bemerkungen
Superoxidradikal
HO2x
Perhydroxyl
Wird bei vielen Autoxidationsreaktionen gebildet Protonierte Form von O2x–
H2O2 HOx ROx
Wasserstoffperoxid
Zwei-Elektronen-Reduktionszustand; häufig enzymatisch gebildet
Hydroxylradikal
Drei-Elektronen-Reduktionszustand, Entstehung metallkatalysiert
R-Oxyl-Radikal
Organisches Radikal; z. B. als Alkoxylradikal bei Lipidoxidation gebildet
ROOx
R-Peroxyl-Radikal
Organisches Radikal; z. B. als Alkylperoxylradikal bei Lipidoxidation gebildet
ROOH
R-Hydroperoxid
Protonierte Form von Peroxylradikalen; z. B. Lipidperoxid
2
22
22.5 Beteiligung von Lipiden am Aufbau von Membranen
. Abb. 22.45
H
R
Kettenstart
R R (L )
(LH) OO Kettenfortpflanzung
R (L )
+
L
L
+
LOO
LOO
+
R
R (LOO )
L Kettenabbruch
OOH
LH
O2
L
nichtradikalische Endprodukte
(LOOH)
Folgereaktionen
LOO
Entstehung von Lipidperoxiden (schematische Darstellung). Der Kettenstart besteht in der Abstraktion eines H•-Radikals unter der Einwirkung reaktiver O2-Spezies aus mehrfach ungesättigten Fettsäuren. Addition von Sauerstoff an das Lipidradikal L• führt zur Bildung eines Lipidperoxylradikals LOO•, das ein H•-Radikal von einer benachbarten Fettsäure abzieht. Es entsteht ein neues Lipidradikal L• (Kettenreaktion) und Lipidhydroperoxid LOOH. Es kommt autokatalytisch zur Bildung von immer mehr Lipidperoxiden. Die Lipidperoxide können weitere Sekundärreaktionen eingehen. Eine von zahlreichen Folgereaktionen zeigt Abb. 22.47. Die Reaktion von radikalischen Zwischenstufen untereinander oder mit „entgiftenden“ Antioxidanzien führt zum Kettenabbruch (nach Marquardt u. Schäfer 1994)
sind die Vinylgruppen mehrfach ungesättigter Fettsäuren ( > Abb. 22.46). Der Einbau von Hydroperoxidgruppen hat zur Folge, dass die hydrophoben Alkangruppen polarer werden; die Wasser- und Ionenpermeabilität wird erhöht. Peroxidationen in räumlich benachbarten Fettsäureresten führt zu Bindungen zwischen den Fettsäureresten und damit durch permanente Assoziation zum Verlust der Fluidität, was wiederum Funktionsverlust nach sich zieht. Die Peroxidation der Lipide kann schließlich so weit gehen, dass die Fettsäureketten verkürzt werden und sich Malondialdehyd bildet ( > Abb. 22.47). Malondialdehyd wiederum kann mit den Funktionsproteinen der Membranen reagieren und sie funktionsunfähig machen ( > Abb. 22.48). Von besonderer Bedeutung für den Zelluntergang scheint dabei die Beeinträchtigung membrangebundener, ATP-abhängiger Calciumtransportproteine zu sein: Ihre Hemmung führt zu einer intrazellulären Anreicherung von Calcium, womit ein irreversibler Schritt der Zellschädigung eingeleitet wird.
Zelluläre Schutzmechanismen gegen freie Radikale Reaktive Sauerstofspezies sind toxisch. Dafür hat die Natur zahlreiche Systeme entwickelt – enzymatische und nichtenzymatische –, die freie Radikale direkt abfangen und inaktivieren, oxidative Prozesse unterbinden oder aber bereits eingetretene Schäden durch Neubiosynthese reparieren. Beispiel. Abfangen von Fettsäureradikalen in der hyla-
koidmembran. In der hylakoidmembran übernimmt DTocopherol die Entgitung von Fettsäureradikalen (Fx). Die Chromanolgruppe ist in der Lage, mit Peroxyl- und Alkoxylradikalen zu reagieren und auf diese Weise die Lipidperoxidationsreaktion zu unterbrechen ( > Abb. 22.49). Die aktive Form des D-Tocopherols, das Monodehydrotocopherolradikal, wird durch Reduktion mittels Ascorbinsäure wiederhergestellt. Auch E-Carotin-Moleküle können gleich den Tocopherolmolekülen Radikalketten unterbrechen.
795
796
22
Lipide
. Abb. 22.46
CH
c
RH
R
CH CH2
CH
Polysäureradikal
Polyensäureteil mit aktiviertem H in Allylstellung
OOH CH
R
CH CH
O2 RH
CH CH
O O CH
Hydroperoxid
CH CH
Hydroperoxidradikal
O2
HOO c t
Hydroperoxid der Linolsäure
c
c
Phosopholipidmolekül, halbsymbolisch polarer Kopf;
lipophiler Schwanzteil
Schema zur radikalischen Oxidation einer ungesättigten Fettsäure durch Angriff in Allylstellung zu einer Doppelbindung. Herkunft und Natur der Starterradikale R• sind nicht bekannt. In vivo sind vor allem ungesättigte Fettsäurereste der Phospholipide, die die Membrandoppelschicht aufbauen, ein wichtiges Substrat für radikalische Hydroperoxidbildung. Eine mäßige Lipidoxidation, bei der nicht mehr als 2–5% der ungesättigten Membranlipide involviert sind, stellt einen physiologischen (und damit erwünschten) Vorgang dar. Die Membran wird durch die Polaritätserhöhung im Lipidteil beweglicher (fluider), sodass Konformationsänderungen membranständiger Enzyme erleichtert werden. Eine gemäßigte Lipidperoxidation ist nicht nur wichtig zur Kontrolle membranständiger Enzyme; sie dient dem Umbau und Abbau der Membran und damit der Erneuerung, sie spielt eine Rolle bei der Biosynthese der Prostaglandine und Leukotriene sowie bei Phagozytose- und Pinozytosevorgängen (Meerson 1984)
22.5 Beteiligung von Lipiden am Aufbau von Membranen
. Abb. 22.47
11 13
1
22
R 9
R RH R 13
2
9
O2
9
O
O
R
13
O
3a
9 13
O R
3b
17
14 16
18
10
15
13
O
O
> < 4
17
9
R
18
16
O
10
O
9
12
13
5
R
11
R , O2 H
H
RH 14
O
O
Malondialdehyd (7)
H⊕
O O
18
12
10
9
18
OOH 10
12
13
17 16
17 16
15
6
11
9
R
R
11
8
OOH
R= -CH2-(CH2)6-COOH
Beispiel für eine Lipidperoxidation, die zur Verkürzung der Fettsäurenkette und zur Bildung von Malondialdehyd führt. Ein Radikal reagiert mit einer mehrfach ungesättigten Fettsäure unter Bildung eines Fettsäureradikals (1→2). Das Pentadienylradikal 2 nimmt O2 auf unter Bildung der Peroxylradikale 3a und 3b, die sich über 4 und 5 zum bizyklischen Endoperoxid 6 umlagern, das leicht zum Malondialdehyd fragmentiert. Nach diesem Reaktionsweg verläuft auch die Autoxidation von Fettsäuren mit 3 und mehr Doppelbindungen
797
22
Lipide
. Abb. 22.48
1
2
3
4
O2 + O
O
O
HO
798
5 CH
N
CH
HOC O
Protein Membranschädigung durch Lipidperoxidation (1→2→3) unter Bildung von Malondialdehyd 4 (vgl. Abb. 22.47). Die Funktionsfähigkeit der Membran wird außer durch die Kettenverkürzung zusätzlich durch die Inaktivierung von membranständigen Enzymen beeinträchtigt. Die Schäden durch Änderungen in den Fettsäurenketten sind bis zu einem gewissen Ausmaß reversibel, indem neue Fettsäuren eingebaut werden: hingegen sind die Proteinschäden allenfalls durch Denovo-Synthese behebbar (aus Meerson 1984)
! Kernaussagen x
x
x x
Phospholipide sind Derivate von Phosphatidsäuren. Phosphatidsäuren ihrerseits sind Glycerinderivate, die in 1-sn- und in 2-Stellung mit Fettsäuren verestert sind, wobei in der Regel die 1-sn-Position mit einer gesättigten Fettsäure besetzt ist. Phosphatidsäuren kommen höchst selten frei vor. In der Regel ist der Phosphatrest mit unterschiedlichen Alkoholen verestert: entsprechende Ester mit Aminoalkoholen (Cholin) bilden die Lecithine, mit Serin die Phosphatidylserine, mit Ethanolamin die Kephaline und mit Inositolen die Phosphatidylinositole. Glykolipide sind Derivate von Phosphatidsäuren, deren Phosphatgruppe mit Kohlenhydratkomponenten verestert ist. Das Gehirn benötigt so genannte essentielle Phospholipide (EPL), worunter man Phosphatidylcholine (Lecithine) mit hochungesättigten Fettsäuren ver-
x
x x
x
steht. Die verstärkte Zufuhr von EPL in Form von Sojabohnenlecithin soll bei erhöhten Blutcholesterinwerten nützlich sein. Phospho- und Glykolipide enthalten im Molekül sowohl hydrophile als auch hydrophobe Gruppen. Sie sind daher befähigt, im wässrigen Millieu geordnete Strukturen (Micellen) auszubilden. Dieser amphiphile Charakter der Phospho-und Glykolipide spielt auch beim der Zellmembranen Lipiddoppelschicht) eine Rolle. Reaktive Sauerstoffspezies schädigen Biomoleküle aller Art (man spricht von oxidativem Stress), darunter die ungesättigten Fettsäurekomponeneten von Biomembranen. Diese Schädigung ist auf molekularer Ebene bestens untersucht und als Lipidperoxidation in der Literatur bekannt. Antioxidanzien (z.B. Tocopherole) und bestimmte Enzyme (Katalase, Glutathion-Peroxidase) wirken diesem „oxidativen Stress“ entgegen.
22.5 Beteiligung von Lipiden am Aufbau von Membranen
22
. Abb. 22.49 ROOH
ROO
CH3
CH3 O
HO R O
H3C CH3
R H3C
CH3
O
α-Tocopherol
α-Tocopherolradikal
OH
OH
OH
OH
O
O
HO
CH3
CH3
HO
O
OH
Ascorbat (AA)
Monodehyascorbatradikal (MDHA)
spontan
OH OH
oder
AA
O
+
O NADP-H / H⊕ MDHA
Dehydroascorbinsäure
NAHP⊕
MDHA-Reduktase
O
AA
Nichtenzymatische Unterbrechung der Lipidperoxidationskette durch α-Tocopherol (Vitamin E). Peroxydradikale von Fettsäuren reagieren mit dem lipophilen Tocopherol unter Bildung des entsprechenden Radikals, das seinerseits mit Ascorbat reagiert. 2 Monodehydroascorbatradikale (MDHA) dismutieren (disproportionieren) spontan zu Ascorbat und Dehydroascorbat. MDHA kann aber auch durch die NADP-H/H+-abhängige Monodehydroascorbatreduktase wieder zu Ascorbat reduziert werden. R = 4,8,12-Trimethyltridecyl
799
800
22
Lipide
22.6
Lipopolysaccharide
22.6.1
Vorkommen
Lipopolysaccharide (LPS) sind Bestandteile der äußeren Membran der Zellhülle von gramnegativen Bakterien ( > Abb. 22.50). Die äußere Membran ist asymmetrisch aufgebaut. Während die innere Lamelle aus Phospholipiden aufgebaut ist, sind die Phospholipide in der äußeren Lamellenhälte durch Lipopolysaccharide ersetzt. Die Lipopolysaccharide sind somit charakteristische Bestandteile dieser äußeren Membran.
22.6.2
Chemischer Aufbau
Lipopolysaccharide setzen sich aus 3 unterschiedlichen makromolekularen Regionen zusammen ( > Abb. 22.51): der inneren Lipid-A-Region, der mittleren Kernpolysaccharidregion und der äußeren, hydrophilen Region der O-speziischen Kette. Lipid A besteht aus einer Kette von Glucosamin-Disaccharid-Einheiten, die jedoch zum Biopolymer nicht über glykosidische Bindungen aufgebaut werden, sondern über Diphosphatbindungen. Kohlenhydrat zusammen mit den Phosphatgruppen bilden den polaren Kopf des amphiphilen Moleküls. Die hydrophobe Seite wird von Fettsäureresten gebildet. Mehrfach vertreten ist die 2-Hydroxymyristinsäure, die allein oder an andere Fettsäuren gebunden vorliegen kann ( > Abb. 22.52).
An das Lipid A ist das Kernpolysaccharid gebunden. Das Kernpolysaccharid besteht aus 2 Untereinheiten, dem inneren und dem äußeren Kernpolysaccharid. Das innere Kernpolysaccharid weist als Besonderheit einen LPS-speziischen Zucker, das Keto-desoxy-oktonat (KDO), auf. Ein aus 3 Molekülen KDO bestehendes Trisaccharid bildet die Brücke zwischen Kernpolysaccharid und dem LipidA-Teil. Daneben treten Heptose, Phosphat und Ethanolamin auf. Das äußere Kernpolysaccharid baut sich aus Galactose und N-Acetylglucosamin auf. An das Kernpolysaccharid schließen sich als äußere Region Ketten von sich wiederholenden Oligosaccharideinheiten, die O-speziischen Ketten an. Diese aus 3–20 Hexosen bestehenden Ketten sind die Ursache für die Bildung der jeweiligen Bakterienantigene. Infolge der großen Variationsmöglichkeit in der Art der Zucker, ihrer Zahl, ihrer Sequenz und infolge der unterschiedlichen Verknüpfungsmöglichkeiten gibt es eine große Zahl von unterschiedlichen O-Antigenen mit verschiedener serologischer Speziität. Bei Salmonellen hat man über 1000 Antigenvarianten gefunden. Im Wirbeltierorganismus induzieren die O-Antigene die Bildung O-speziischer Antikörper. Für die Bakterien stellen die O-Antigene eine Art von Schutzmechanismus gegenüber der Immunabwehr des Wirtsorganismus dar. Aus der Sicht des Wirtes bedingen die O-Antigene die besondere Virulenz von O-tragenden Stämmen (S-Stämme), und zwar dadurch, dass sie aus der Bakterienoberläche herausragen. Im Wirtsorganismus sind die O-Antigene Angrifspunkt von Antikörpern und Komplement; wenn jedoch
. Abb. 22.50 Lipopolysaccharid
äußere Membran Lipoprotein
Peptidoglykan (Murein)
periplasmatischer Spalt cytoplasmatische (innere Membran)
Modell für die Wand einer gramnegativen Zelle (aus Jawetz-Melnik-Adelberg 1980). Die Zellhülle besteht aus 2 Lipidmembranen: der Zytoplasmamembran und der sog. äußeren Membran. Die äußere Membran ist im Vergleich zur Zytoplasmamembran hinsichtlich ihrer Lipidmatrix asymmetrisch
22.6 Lipopolysaccharide
22
. Abb. 22.51 CH2OH OH
HO
O
HO
COOH KDO
HO OH OH
Kernpolysaccharid
Lipid A
(KDO)3
innerer Kern
O-spezifische Kette
äußerer Kern
.......
Phosholipide
Kohlenhydrate
Schema des Aufbaus eines Lipopolysaccharidmoleküls mit den 3 Hauptregionen: Lipid A, Kernpolysaccharid und O-spezifischer Kette. Ketodesoxyoktonat (KDO), eine Komponente des inneren Kerns, verknüpft das Kernpolysaccharid mit dem Lipid A
diese Reaktion in ziemlich weitem Abstand von der eigentlichen Körperoberläche stattindet, versagt das Komplement in seiner lytischen Funktion. Bakterienstämme ohne herausragende O-Antigene (sog. R-Stämme) sind daher nicht virulent. Hinweis. Das Präix „O“ der O-Antigene ist die Abkür-
zung für „ohne Hauch“. Bakterien mit Geißeln sind beweglich und breiten sich über Nährböden wie ein Hauch aus; Bakterien ohne Geißeln sind nicht beweglich und wachsen auf Nährböden „ohne Hauch“.
22.6.3
Biologische Wirkungen von LPS bzw. von Endotoxinen
Die Lipopolysaccharide (LPS) von gramnegativen Bakterien werden auch als Endotoxine bezeichnet. Die Vorsilbe „endo“ (griech.: éndo [innen]) weist darauf hin, dass es sich bei diesen bakteriellen Gitstofen um integrale Bestandteile der Bakterienzellen handelt, die in der Regel erst
dann frei werden, wenn die Bakterienzelle zerfällt. Nach Abtötung von bakteriellen Infektionserregern im menschlichen Körper, beispielsweise nach einer Antibiotikabehandlung, können Endotoxine das Blut überschwemmen und einen „Endotoxinschock“ auslösen. Der Begrif Endotoxin als synonym mit LPS hat sich eingebürgert, obwohl nur der Lipid-A-Teil für die toxischen Wirkungen verantwortlich ist. In der Literatur wird Endotoxin daher auch im Sinne von Lipid A verwendet. Genaugenommen ist das Lipid A für sich allein nicht toxisch, d. h. dass es nicht direkt an den toxischen Reaktionen beteiligt ist; vielmehr löst es, sobald es in den allgemeinen Kreislauf gelangt, immunologisch bedingte Reaktionen aus. Endotoxine reagieren mit Rezeptoren auf Zellen des Immunsystems, die Zellen werden stimuliert und lösen eine Kaskade von Folgereaktionen aus: x Lipopolysaccharide (LPS) stimulieren Makrophagen, die darauhin eine Anzahl von Mediatoren wie Prostaglandine, hromboxane, freie Radikale und Interleukine freisetzen. Interleukin 1 löst Fieber aus und stimuliert die T-Helferzellen. Solange die Stimulation
801
802
22
Lipide
. Abb. 22.52 6
OAc O
O O
P OH
O O
P
O
OKern
O
O
1
NH
OH
O
6
AcO
O
O
P
OH
OAc
O
P
Ac = je eine der Ac-Reste: Lauroyl, Myristoyl und Lauroylmyristoyl
O O
OH O
HN OH
n
O O
O HO
Hydroxymyristoyl
CH3 H3C CH3 H3C
Ein Segment aus Lipid A, das die Anordnung der wichtigsten Bestandteile zeigt. Lipid A besteht aus einer Kette von Disacchariden, die über Diphosphatbrücken miteinander verbunden sind. Die Disaccharideinheit baut sich aus 2 Molekülen 2-D-Glucosamin auf, die β-1,6-glykosidisch miteinander verknüpft sind. Die Aminogruppen sind säureamidartig an 2-DHydroxymyristinsäure gebunden. Weitere freie OH-Gruppen des Disaccharids sind mit Fettsäuren verestert. Typisch ist die Substitution von einigen Fettsäureresten mit weiteren Fettsäuren, sodass auf 1 monomere Einheit des Lipids A insgesamt 7 Fettsäuresubstituenten entfallen. Über eine 3-OH-Gruppe ist der Lipid-A-Teil an den Kern des Lipopolysaccharids gebunden
dieser unspeziischen Entzündungsmechanismen in Grenzen bleibt, kann sie für den Wirtsorganismus günstig sein. Endotoxine sind somit der Prototyp von Immunstimulanzien, die die unspeziische Infektabwehr steigern. x LPS führen im Tierexperiment über die Makrophagenstimulation zu einer Ausscheidung von TNF (Tumornekrosefaktor). Partiell gereinigtes TNF aus Mäusen tötet menschliche Tumorzellen in vitro ab, nicht aber normale Zellen. x LPS reagieren direkt mit B-Zell-Rezeptoren und setzen dadurch einen starken Proliferationsreiz: Sie sind sog. B-Zell-Mitogene. Sie können auf diese Weise die Immunantwort verstärken.
x LPS wirken auf das Kinin- und das Blutgerinnungssystem. Durch Freisetzung von Kinin kommt es zur Gefäßerweiterung mit Permeabilitätssteigerung. Die Aktivierung der Blutgerinnung führt zur Bildung von Mikrothromben und zur Aktivierung der Fibrinolysekaskade. Auch für LPS als toxisches bakterielles Agens gilt der altberühmte Satz: Dosis facit venenum. Die Dosierung entscheidet, ob eine Substanz schädlich oder nützlich ist. Die toxischen Efekte sind gut untersucht. Applikation von LPS enthaltenden Vakzinen führt bei Kaninchen, Hunden, Afen und Schweinen zu raschem Fieberanstieg, Verminderung der weißen Blutkörperchen (Neutropenie) und
22.7 Wachse und wachsähnliche Stoffe
Blutdruckabfall. Bei entsprechender Dosierung wird der tödliche Endotoxinschock ausgelöst. Die schwere, u. U. tödliche Endotoxinvergitung kommt auch beim Menschen bei Sepsis mit gramnegativen Erregern vor. Nützliche Efekte von LPS könnten damit in Zusammenhang stehen, dass sie einen permanenten Stimulus für das Immunsystem bilden, das Immunsystem quasi permanent trainieren. Fest steht: gramnegative Bakterien und deren Endotoxine sind von Geburt an im Verdauungstrakt des Menschen sowie in seiner Umwelt permanent präsent. Aus In-vitro-Versuchen mit kultivierten Zellen sind die folgenden Efekte bekannt (Drößler u. Gemsa 2000): x Intensivierung der Phagozytose, x Steigerung der Zytotoxizität von Makrophagen gegenüber Tumorzellen und x polyklonale Aktivierung von B-Lymphozyten (mitogener Efekt, > oben). Die hese über eine mögliche „physiologische Rolle“ von LPS basiert ofenbar auf einer Extrapolation vielfältiger tierexperimenteller Studien über die Nützlichkeit eines ausgiebigen, natürlichen Trainings der Infektabwehr und über die Schädlichkeit (Infektionsanfälligkeit!), wenn eine entsprechende Auseinandersetzung mit der Umwelt fehlt.
! Kernaussagen
Lipopolysaccharide (LPS) sind die aus Lipiden und Kohlenhydraten aufgebauten Bestandteile der Zellmembranen gramnegativer Bakterien, die nach Zerfall der Bakterien frei werden und für den Wirt stark toxisch sind. LPS verursachen u. a. Fieber, Komplementaktivierung, Verbrauchkoagulopathie und eine Induktion von Entzündungsmediatoren. Kommerziell hergestellte Bakterienlysate dienen als Arzneistoffe zur Auslösung von Fieber. Diese Fiebertherapie dient in der Naturheilkunde als immunologisches Instrument zur Behandlung von onkologischen Erkrankungen (Kölmel et al. 1991)
22
22.7
Wachse und wachsähnliche Stoffe
22.7.1
Definitionen, Übersicht
Der Begrif Wachs wird in dreierlei Bedeutung verwendet. Chemisch sind Wachse Ester von Fettsäuren mit aliphatischen, unverzweigten einwertigen Alkoholen, gewöhnlich Cetylalkohol (Hexadecanol) und Octadecylalkohol (Octadecanol), ot auch höheren Alkoholen bis zu C36. Als Fettsäurekomponente – meist handelt es sich um gesättigte Fettsäuren – kommt am häuigsten die Cerotinsäure (Hexacosansäure) vor; gelegentlich werden auch Hydroxysäuren gefunden ( > Abb. 22.53). In vielen natürlichen Wachsen haben die Fettsäure und der Alkohol die gleiche Kettenlänge. In planzenphysiologischer Sicht sind Wachse wasserabweisende, bei normaler Temperatur feste Stofausscheidungen oberirdischer Planzenteile. Die Wachsbildung steht in engem Zusammenhang mit der Bildung der Cuticula (Häutchen), einer die Epidermis kontinuierlich überziehenden lipophilen Schicht aus Cutin und Wachsen. Die Cuticula besteht aus 3 Schichten, die chemisch unterschieden sind: x Cutin + Pectin + Cellulose (den Epidermiszellen aufliegend), x Cutin + Wachs (mittlere Schicht), x Wachs (epicuticuläre Schicht). Die Cutine sind hochpolymere Polyester, die sich aus 2 Gruppen von Hydroxy- und Epoxyfettsäuren mit Kettenlängen von C16 und C18 zusammensetzen ( > Abb. 22.54). Daneben inden sich noch kleine Mengen an mit Cutin veresterten Phenolcarbonsäuren, die bei einem Cutinaseangrif durch pathogene Pilze freigesetzt werden und eine toxische Wirkung auf Parasiten entfalten können. Die lipophile Barriere der Cuticula wird durch artspeziische Aulagerung von epicuticulären Wachsen, die in sehr unterschiedlichen Mengen vorhanden sein können, gebildet. Von einer zarten Wachsschicht überzogen sind beispielsweise Früchte von Plaumen, Kirschen oder Trauben; der glänzende Reif dieser Früchte besteht aus einem oberlächlichen, leicht abziehbaren Überzug. Auf den Blättern bestimmter Planzen wird Wachs in solcher Menge erzeugt, dass es durch einfaches Abbürsten gewonnen werden kann. Bei manchen Kakteen (Ariocarpus-Arten) bilden die Wachsüberzüge so dicke und feste Krusten, dass die lebende
803
804
22
Lipide
. Abb. 22.53 Bereich der Kettenlänge
Verbindungstyp n-Alkane
H3C (CH2)n CH3
C25 - C35
Isoalkane
H3C CH
C25 - C35
(CH2)n CH3
CH3 (CH m 2)
Alkene
H3C (CH2)n CH
Monoketone
H3C (CH2)n C
β-Diketone
O H3C (CH2)n C CH2 C (CH2)m CH3
sekundäre Alkohole
H3C (CH2)n C (CH2)m CH3
CH
CH3
(CH2)m CH3
O
C17 - C33 C24 - C33 C31 - C33
O C20 - C33
OH Wachsester
H3C (CH2)n C
O (CH2) m CH3
C30 - C60
O primäre Alkohole
H3C (CH2) n CH2 OH
normale Fettsäuren
H3C (CH2)n C
O
C12 - C36 C12 - C36
OH ω-Hydroxyfettsäuren
CH2 (CH2)n C OH
O
C10 - C34
OH
Häufig auftretende Bestandteile pflanzlicher Cuticularwachse. Es handelt sich durchweg um Stoffe mit hydrophoben Eigenschaften. Der Nutzen für die Pflanze ist offensichtlich: der Wachsüberzug bietet – zusammen mit der Cuticula – einen Schutz gegen Verdunstung; überdies ist das Festsetzen und Eindringen pathogener Mikroorganismen erschwert. Während die Cuticula ein Biopolymeres darstellt, setzt sich der Wachsüberzug aus vergleichsweise kleinen und einfach gebauten Molekülen zusammen
Planze leicht anzündbar ist und beim Löschen der Flamme einen an Kerzenrauch erinnernden Geruch verbreitet. Die Cuticularwachse bestehen nicht nur aus Estern; als Begleitkomponenten treten Triterpensäure, Sterinester, freie Fettsäuren und Kohlenwasserstofe auf ( > Abb. 22.53). Bei bestimmten Weintraubensorten enthält der Wachsüberzug an die 70% Oleanolsäure. In technologischer Hinsicht, von der Anwendung her gesehen, nennt man Wachs alle Produkte, die in ihren physikalisch-chemischen Eigenschaten dem Prototyp aller Wachse, dem Bienenwachs ähneln. Dazu zählen x tierische Wachse wie Wollwachs, Walrat, Bürzeldrüsenfett,
x Mineralwachse wie Hartparain, Ozokerit, Ceresin, x lüssige Wachse, das sind synthetisch hergestellte Fettsäureester, die bei Raumtemperatur lüssig sind, wie z. B. Oleyloleat (Oleylis oleas) DAB 1999 oder Isopropylmyristat PhEur und Isopropylpalmitat PhEur, x rekonstruierte Wachse wie z. B. Cetylesterwachse (synthetisches Walrat), x höhere Fettalkohole (Lanette-Wachse) wie z. B. Cetylstearylalkohol PhEur, ein Gemisch aus Cetylalkohol C14H33OH und Stearylalkohol C18H37OH: Die Synthese geht von gesättigten Fettsäuren aus, die katalytisch hydriert wurden.
22.7 Wachse und wachsähnliche Stoffe
22.7.2
. Abb. 22.54 C16-Familie H3C
(CH2)14 COOH
CH2 (CH2)14 COOH OH CH2 (CH2)x CH (CH2)y COOH OH
OH
y = 8,7,6 oder 5; x + y = 13
C18-Familie H3C (CH2)7 CH CH
(CH2)7 COOH
CH2 (CH2)7 CH CH
(CH2)7 COOH
OH CH2 (CH2)7 CH CH (CH2)7 COOH OH
O
CH (CH2)7 CH CH (CH2)7 COOH OH
OH OH
Carnaubawachs
Es indet sich als Überzug auf den bis zu 2 cm langen Fächerblättern der in Nordbrasilien wild vorkommenden Carnaubapalme Copernicia cerifera Mart., Synonym, Copernicia prunifera (Mill.) H.E. Moore (Familie: Arecaceae >IIA7a@). Die Ernte erfolgt in der Trockenzeit. Die Blätter werden abgeschnitten und auf Matten getrocknet. Sobald die Blätter zu schrumpfen beginnen, werden die feinen Wachsschuppen locker und lassen sich abklopfen; weiteres Wachs wird abgeschabt. Der Wachsstaub wird durch Kochen in Wasser gereinigt, geschmolzen und nach dem Festwerden in Stücke gebrochen. Nach PhEur 5 wird es außer als harte Masse auch in Pulver- und Flockenform angeboten. Carnaubawachs besteht zu etwa 80% aus Estern der Cerotinsäure C25H51COOH mit 1-Triacontanol (Myricylalkohol) C30H61OH. Der Rest entfällt auf Ester von Z-Hydroxycarbonsäuren und von Zimtsäuren mit den genannten Wachsalkoholen. Carnaubawachs ist ein sehr hartes Wachs: Unter allen natürlichen Wachsen besitzt es den höchsten Schmelzpunkt, weshalb man es weichen Wachsen zusetzt, um deren Schmelzpunkt zu erhöhen. Verwendung. In der pharmazeutischen Technologie als
CH2 (CH2)4 CH CH CH2 CH CH (CH2)7 COOH O
OH
22
usw.
Es lassen sich 2 Familien von Cutinsäuren unterscheiden: die C16-Familie mit Palmitinsäure und die C18-Familie mit Ölsäure. Charakteristisch ist die ω-Hydroxylierung. Die Cutinsäuren sind die monomeren Bausteine des Cutins, das ein Biopolyester aus Hydroxyfettsäuren darstellt. Die sekundären Hydroxyle im Inneren der Fettsäuremoleküle ermöglichen die Quervernetzung zu polymeren Ketten. ωHydroxyfettsäuren treten auch als Komponenten der Pflanzenwachse auf
Poliermittel für Dragees, meist zusammen mit Bienenwachs.
22.7.3
Jojobaöl
Ein natürliches, lüssiges Wachs, das aus den Früchten der „Jojoba“, Simmondsia chinensis (Link) Schneid. (Familie: Simmondsiaceae >IIB3f@), gewonnen wird. Der kleine (0,6–3 m), trockenresistente Strauch wächst wild in den Trockengebieten Kaliforniens, Mexikos und Arizonas. Die Frucht ist eine etwa 4 cm große Kapsel mit 1–3 Samen. Das physiologisch Ungewöhnliche besteht darin, dass die Embryonen als Reservestof nicht Triacylglyceride, sondern eben lüssiges Wachs (etwa 50%) enthalten; es wird während der Keimung wie sonst Fett verwertet. Technisch gewinnt man das Wachs durch Pressen als hellgelbe Flüssigkeit, die nicht ranzig wird und die bis 300 °C temperaturbeständig ist. Jojobaöl ist ein komplexes Gemisch an Wachsestern mit Kettenlängen zwischen C38 und C44, wobei die C42-Ester mit einem Anteil von ca. 50% dominieren. Die Fettsäurekomponente dieser Wachsester besteht
805
806
22
Lipide
aus einfach ungesättigten Säuren (Z9) und der Eicosensäure [20:1 (9)] (Gadoleinsäure) als Hauptkomponente. Als Alkoholkomponenten fungieren die entsprechenden Reduktionsprodukte dieser Fettsäuren, hauptsächlich Eicosenol [20:1 (9)-OH] und Docosenol [22:1 (9-OH)]. Jojobawachs ähnelt in seinen physikalischen Eigenschaten dem Walratöl, dessen Verwendung aus Tierschutzgründen untersagt ist. Es wird als Ersatz für Walratöl verwendet, insbesondere als Schmiermittel für hochtourige Präzisionsgeräte wie z. B. Herzschrittmacher. Anstelle von Walratöl wird Jojobaöl auch in der Kosmetik für Gesichtscremes, Sonnenschutzöle und Haaröle eingesetzt. Weiterhin dient Jojobawachs als Trägermaterial zum Verdünnen ätherischer Öle, die zur äußeren Anwendung bestimmt sind. Die Indianer plegten das Jojobaöl, das angenehm riecht und schmeckt, als Speiseöl zu verwenden. Allerdings kann es, anders als die Triacylglyceride, durch Lipasen nicht gespalten, daher auch nicht verdaut und kalorisch verwertet werden. Es wurde daher mehrfach die Empfehlung ausgesprochen, Jojobaöl als Reduktionskost einzusetzen. Tierexperimentelle Studien (Übersicht: Kämpfer u. Hänsel 1994) erbrachten jedoch den Befund, dass eine längere Zufuhr zu pathologischen Veränderungen im Blutbild, im Dünndarmbereich und v. a. in der Leber führt. Die Leber war blass verfärbt und von „muskatnussartigem Aussehen“, was auf fettige Iniltration hindeutete. Flüssiges Jojobawachs wegen seiner Unverdaulichkeit als diätetisches Lebensmittel zu verwenden, ist wegen seiner zu erwartenden schädlichen Nebenwirkungen nicht zu empfehlen.
22.7.4
Blütenwachse
Blütenwachse sind Rückstände der Blütenextraktionsöle (der konkreten Öle), die bei deren Reinigung mittels Alkohol als unlösliche Rückstände anfallen. In der kosmetischen Industrie werden Rosenblütenwachs und Jasminblütenwachs zur Herstellung von Festparfüms, Lippenstiften und Pomaden verwendet.
! Kernaussagen
Wachs ist ein technologischer Begriff, und zwar eine Sammelbezeichnung für eine Reihe natürlicher (pflanzlicher, tierischer, mineralischer) oder synthetisch gewonnener Stoffe, die dem Prototyp aller Wachse, dem Bienenwachs ähneln. In einem engeren Sinne versteht man unter Wachsen Ester langkettiger Fettsäuren mit langkettigen Alkoholen, die verbreitet in Pflanzen und Tieren vorkommen. Beispiele für pflanzliche Wachse sind Carnaubawachs und das bei Raumtemperatur flüssige Jojobaöl. Beispiele für tierische Wachse sind Bienenwachs, Walrat und Wollwachs. Wachse schützen die Oberfläche von Blättern, Blüten, Samen und Früchten (Obst) gegen Austrocknung und gegen Mikroorganismenbefall. Bei der Ölgewinnung gehen Wachse in das Rohöl über und können unerwünschte Trübungen verursachen. Blütenwachse bilden den nicht flüchtigen Rückstand von Blütenextraktionsölen.
Schlüsselbegriffe Arachidonsäure Carnaubawachs Chaulmoograsäure Cutin Desaturierung Docosahexaensäure (DHA) Eicosanoide Eicosapentaensäure (EPA) Einfach ungesättigte Fettsäuren Endotoxine Erucasäure Eskimodiät Essentielle Fettsäuren Fettgewebe
Z-3- und Z-6-Fettsäuren Fettsäuresynthase Freie Radikale Fruchtfleischölpflanzen Gamolensäure Gemischtsäurige Triacylglyceride Glykopipide Jojobaöl Kaltpressung von Ölen Kreis-Test Leukotriene D-Linolensäure Lipiddoppelschicht Lipidoxidation, Lipopolysaccharide
Mehrfach ungesättigte Fttsäuren Mittelkettige Triglyceride Peroxidzahl Pflanzenmargarine Phosphatidylsäure Phosphoglyceride Plättchenaktivierender Faktor Prostaglandine Radikalfängereigenschaften Ricinolsäure Samenölpflanzen, Säurezahl Thromboxane Triacylglyceride Verseifungszahl, Wachse.
Literatur
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23 23 Isoprenoide als Inhaltsstoffe O. Sticher 23.1
Terminologie, Isoprenregel, Biosynthese, Einteilung, Vorkommen und biologische Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 810
23.2
Mono- und Sesquiterpene, die in ätherischen Ölen vorkommen ( > Kap. 25) . . . . . . . . . 815
23.3
Iridoide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.3.1 Terminologie, Biosynthese, Unterteilung 23.3.2 Iridoidglykoside . . . . . . . . . . . . . . 23.3.3 Secoiridoidglykoside . . . . . . . . . . . . 23.3.4 Nichtglykosidische Iridoide . . . . . . . .
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815 815 817 832 838
23.4
Sesquiterpene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.4.1 Häuig vorkommende Strukturvarianten, Einteilung, Vorkommen . . . . 23.4.2 Biologische Aktivitäten von Sesquiterpenen – Wirkungsmechanismen . . 23.4.3 Sesquiterpene als Reinstofe und Inhaltsstofe planzlicher Arzneidrogen
. . . .
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847 847 850 855
23.5
Diterpene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.5.1 Einige häuige Strukturtypen, biologische Aktivitäten, Vorkommen 23.5.2 Beispiele biologisch aktiver Diterpene . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.5.3 Diterpene als Inhaltsstofe planzlicher Arzneidrogen . . . . . . . . .
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882 882 885 889
23.6
Triterpene einschließlich Steroide ( > Kap. 24) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 892
23.7
Tetraterpene: Carotinoide und biochemisch verwandte Planzenstofe . . . . . . . . . 23.7.1 Chemischer Aubau, Einteilung, Nomenklatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.7.2 Physikalische und chemische Eigenschaten, Stabilität . . . . . . . . . . . . . . 23.7.3 Analytische Kennzeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.7.4 Vorkommen, Lokalisation. Hinweise auf Carotinoidführung in Arzneidrogen 23.7.5 Biosynthese der Carotinoide. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.7.6 Schicksal der Carotinoide im Säugetierorganismus . . . . . . . . . . . . . . . . 23.7.7 Wirkungen und Anwendungsgebiete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.7.8 Apocarotinoide und andere Carotinoidabbauprodukte . . . . . . . . . . . . . .
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892 892 892 896 896 899 899 900 903
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 908
810
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
> Einleitung Isoprenoide (Terpene, Terpenoide) sind Naturstoffe, deren Struktur sich durch Vervielfachung von C5-Isopreneinheiten aufbaut. Sie entstehen via den klassischen Acetat-Mevalonat(Ac-MVA)- oder den alternativen Nicht-Mavalonat-(DXP/MEP-)Biosyntheseweg. Von den bekannten Terpenen haben die Mono-, Sesqui- und Triterpene als Inhaltsstoffe von Arzneidrogen die größte Bedeutung. Die stärker lipophilen Mono- und Sesquiterpene finden sich vorwiegend als Bestandteile von ätherischen Ölen, die hydrophilen Mono- und Triterpene in Form von Gly-
23.1
Terminologie, Isoprenregel, Biosynthese, Einteilung, Vorkommen und biologische Funktion
Isoprenoide, auch als Terpene und Terpenoide bezeichnet, sind Naturstofe, deren Struktur sich durch Vervielfachung von C5-Isopreneinheiten (Isopren = 2-Methylbutadien) aubaut ( > Abb. 23.1 und 23.2).
kosiden (Iridoide, Saponine, Steroide). Wegen der sehr unterschiedlichen chemischen und physikalischen Eigenschaften der Isoprenoide lassen sich keine allgemeinen Aussagen bezüglich ihrer Wirkung und therapeutischen Bedeutung machen. Erwähnenswert sind Wirkungen auf Herz und Kreislauf (herzwirksame Steroide), antiphlogistische Wirkung (Sesqui- und Triterpene), Bitterwirkung (Mono-, Di-, Triterpene). Der Übersicht halber werden Mono- und Sesquiterpene, die in ätherischen Ölen vorkommen, sowie Triterpene einschließlich Steroide in den Kapiteln 24 und 25 behandelt.
Die Gruppeneinteilung der Terpene orientiert sich jedoch nicht an diesem biologischen Bildungsprinzip aus C5-Bausteinen. Basiseinheit bilden die aus 10 Kohlenstofatomen, d. h. aus 2 C5-Einheiten, bestehenden Monoterpene ( > Abb. 23.3). Nach der Anzahl der zum weiteren Aubau verwendeten C5-Bausteine unterscheidet man die Sesquiterpene (lat.: sesqui [eineinhalb]), die Di-, Tri-, Tetra- und Polyterpene. Innerhalb jeder Gruppe unterteilt man weiter in azyklische und zyklische Terpene; bei den
. Abb. 23.1 CH3 1
H2C O
OH
2
C
3
CH
4
CH2
Isopren
O O
Thymol, C10H14O
Santonin, C15H18O3
Isopren, vereinfachte Schreibweise
β-Carotin, C40H56
Zu den Isoprenoiden gehören Naturstoffe mit unterschiedlichsten physikalisch-chemischen Eigenschaften und unterschiedlichem chemischem Aufbau. Die Abbildung bringt 3 Beispiele dafür. Thymol ist eine wasserdampfflüchtige Substanz der Aromatenreihe. Santonin ist farb- und geruchlos, chemisch ein Lacton mit dem C-Gerüst eines partiell hydrierten Naphthalins. β-Carotin ist ein rot gefärbter Stoff, der chemisch zu den Kohlenwasserstoffen gehört. Gemeinsam ist den 3 Substanzen ihr Aufbau aus Isoprenen. Das Kohlenwasserstoffatom C-1 ist jeweils durch , das C-4 durch
symbolisiert
23.1 Terminologie, Isoprenregel, Biosynthese, Einteilung, Vorkommen
23
. Abb. 23.2 4 4
2 1
1
3
4
2
1
3
(1→4)-Verknüpfung; unsymmetrisch Kopf
Schwanz
4 4
2 1
3
4
4
2 1
3
(4→4)-Verknüpfung; symmetrisch
Isoprenmoleküle können im Zuge der Biosynthese auf zweierlei Weise miteinander verknüpft werden: Entweder wird das C-1 der einen Einheit mit dem C-4 der anderen verbunden (= Kopf-Schwanz-Verknüpfung; K-S), oder die Kondensation erfolgt über die beiden C-4-Enden (= Schwanz-Schwanz-Verknüpfung; S-S)
. Abb. 23.3
Polyprene hemiprensubstituierte Pflanzenstoffe
n × K-S
C5 C5
K-S C10
Monoterpene C5
K-S C15
Sesquiterpene C5
Diterpene
Einbau in andere Naturstoffe
Triterpene
2× S-S Steroide
K-S C20
2× S-S
Carotinoide
Einbau in Hydrochinonderivate Tocopherole Übersicht über die Hauptgruppen der Isoprenoide. Die Einteilung erfolgt nach der Zahl der C-Atome, wobei man von einem C10-Körper als Grundeinheit ausgeht, in Monoterpene, Sesquiterpene (sesqui = eineinhalb), Di-, Tri-, Tetra- und Polyterpene. Die Grundeinheiten der jeweiligen Isoprenoidgruppe kommen durch 1,4-Verknüpfung (Kopf-SchwanzVerknüpfung) zustande, die Dimerisierungen hingegen über eine 4,4-Verknüpfung
811
812
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.4
Schematische Darstellung des klassischen Acetat-Mevalonat(Ac-MVA)-und des alternativen Nicht-Mevalonat(DXP/MEP)Biosyntheseweges von Isopren. Beim Ac-MVA-Biosyntheseweg werden 2 Moleküle Acetyl-CoA zu Acetoacetyl-CoA kondensiert. Addition eines dritten Acetyl-CoA führt zu 3-Hydroxy-3-methylglutaryl-CoA (HMG-CoA). HMG-CoA wird zu Mevalonsäure (MVA) reduziert. MVA wird durch zweimalige Phosphorylierung in MVA-diphosphat (MVAPP) umgewandelt. Beim DXP/MEP-Biosyntheseweg sind Pyruvat und D-Glycerinaldehyd-3-phosphat (GA3P) die Präkursoren. Sie werden zu 1-Deoxy-D-xylulose-5-P (DXP) kondensiert. In einem zweiten Schritt erfolgt die Umwandlung von DXP in 2C-Methyl-Derythritol-4-P (MEP). In weiteren Schritten werden CDP-Methyl-D-erythritol (CDP-ME), CDP-Methyl-D-erythritol-2-P (CDPMEP) und 2C-Methyl-D-erythritol-2,4-cyclodiphosphat (ME-cPP) sowie Hydroxymethylbutenyl-4-diphosphat (HMBPP) gebildet. Für die an den Reaktionen beteiligten Enzyme wird auf die Abbildung, für die sie codierenden Gene und die an den Reaktionen beteiligten Coenzyme auf die Literatur verwiesen. Isopentenyldiphosphat (IPP) entsteht einerseits aus MVAPP und andererseits aus HMBPP. Im Ac-MVA-Weg wird IPP durch eine Isomerase in Dimethylallyldiphosphat (DMAPP) umgewandelt (= Starterverbindung der Isoprenoide). Im alternativen Weg kann HMBPP durch das Enzym IDS auch direkt in DMAPP umgewandelt werden (vgl. Übersicht von Rodríguez-Concepción u. Boronat 2003 und darin zitierte Literatur; Löffler u. Petrides 2003)
zyklischen Vertretern trit man die weitere Unterscheidung nach der Zahl der carbozyklischen Ringe im Molekül (bi-, tri-, tetra-, pentazyklisch). Die Isoprenregel besagt, dass man durch schematische Ringöfnung eines Terpens azyklische Strukturformeln erhält, die sich formal in Isoprenbausteine zerlegen
lassen, d. h. in bestimmten Abständen an C4-Resten Methylgruppen tragen. Wenn dabei das Kohlenstofskelett dem des jeweiligen Grundkohlenwasserstofs entspricht ( > Abb. 23.5), spricht man von regulär verknüpten Terpenen; andernfalls bezeichnet man den Aubau als irregulär ( > Abb. 25.9).
23
23.1 Terminologie, Isoprenregel, Biosynthese, Einteilung, Vorkommen
. Abb. 23.5 OH
HOOC
OPP
Mevalonsäurediphosphat (MVAPP)
H3C
O
OH H
C
C
C
H
OH
OPP CH2OP
OPP
Isopentenyldiphosphat
Dimethylallyldiphosphat
(IPP)
(DMAPP)
1-Deoxy-D-xylulose-5-phosphat
DMAPP + IPP
OPP Geranyldiphosphat (GPP)
GPP + IPP
OPP Farnesyldiphosphat (FPP)
FPP + IPP
OPP Geranylgeranyldiphosphat (GGPP)
2 x FPP
Squalen 2 x GGPP
15-cis-Phytoen
Biosynthese der azyklischen Kohlenwasserstoffe, die die Muttersubstanzen der Terpene darstellen. IPP entsteht entweder via Mevalonsäure oder via 1-Deoxy-D-xylulose-5-phosphat (vgl. > Abb. 23.4). GPP ist die Muttersubstanz der Monoterpene, FPP der Sesquiterpene, Squalen der Triterpene und Steroide, Phytoen der Carotinoide und vieler Carotinoidabbauprodukte. Zyklische Terpene, die nach formaler Öffnung der Ringe dieselbe Verteilung der Methylgruppen aufweisen wie die Muttersubstanz der jeweiligen Reihe, sind regulär gebaut; andernfalls spricht man von irregulärem Aufbau
813
814
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
Neue Untersuchungen der letzten 10 Jahre haben ergeben, dass die Biosynthese der Terpene nicht immer via den klassischen Acetat-Mevalonat-Weg erfolgt. Es existiert ein alternativer Biosyntheseweg, der heute als DXP-, MEP- oder als DXP/MEP-Weg (Abkürzung von 1-Deoxyd-xylulose-5-phosphat/2C-Methylerythritol-4-phosphat) bezeichnet wird ( > Abb. 23.4). Die Bildung von Terpenen via den DXP/MEP-Biosyntheseweg konnte in Organismen mit Photosynthese (z. B. in grünen Algen, höheren Planzen), ferner in Bakterien, Cyanobakterien und Diatomeen, nicht aber in Tieren und beim Menschen, nachgewiesen werden. Er indet in den Plastiden statt und führt zur Biosynthese von Hemi-, Mono-, Di- und Tetraterpenen, während Sesqui- und Triterpene sowie Sterole im Zytoplasma via den Ac-MVA-Weg gebildet werden (Ubichinone in den Mitochondrien). Neue Untersuchungen ergaben, dass die kompartimentelle Trennung der beiden Biosynthesewege nicht absolut ist. Es scheint ein Austausch von Terpenvorstufen zwischen den beiden Kompartimenten und damit Biosynthesewegen zu existieren, wobei der Grad des Austausches von der Spezies und der Gegenwart und Konzentration von Vorstufen abhängt (vgl. Übersicht von Rodríguez-Concepción u. Boronat 2003 und darin zitierte Literatur).
Heute sind die wesentlichen Enzyme, die die einzelnen Teilschritte der Terpenbiosynthese katalysieren, bekannt ( > Abb. 23.4). Substanzen, die in Teilschritte der Biosynthese eingreifen können, sind von medizinischer und biologischer Bedeutung. Beispiel dafür sind beim Ac-MVA-Weg die HMG-CoA-Reduktase-Hemmer (Cholesterol-Synthese-Enzym-Hemmer = CSE-Hemmer) wie die Statine, die zur Senkung des Cholesterolblutspiegels eingesetzt werden. Da der DXP/MEP-Weg von vielen pathogenen Mikroorganismen (z. B. Mycobacerium tuberculosis) und auch vom Malariaparasit Plasmodium falciparum verwendet wird, gilt er als ideales Ziel für die Entwicklung neuer Antibiotika und Antimalariamittel sowie in Planzen für neue Herbizide. Beispiel ist das Herbizid Fosmidomycin, das die DXP-Reduktoisomerase hemmt. Terpenoid ist eine Erweiterung des Begrifs Terpen, um auch natürliche Abbau- und Umlagerungsprodukte der Terpene in dieselbe Naturstoklasse wie die eigentlichen Terpene einordnen zu können. Beispiele: x Secoiridoidglykoside bei den Cyclopentanmonoterpenen ( > Abschn. 23.3.3), x Cholesterol und die anderen Steroide bei den tetrazyklischen Triterpenen ( > Kap. 24.4),
. Abb. 23.6 Ablagerung in Idioblasten, z.B. Ölzellen, Ölräumen, Milchröhren
Alkaloide mit Terpenoid als Nichtaminkomponente Inaktivierung durch Verknüpfung mit Aminen
Terpenkohlen wasserstoffe
Oxidation
Derivatbildung (Carotinoide, Sterine, Prenyllipide)
Bestandteil von Organellen
Einbau in Membranen
reaktionsfähige Abbau Oxidationsprodukte („Veratmung“)
CO2
Inaktivierung durch Glykosidierung
Speicherung in Vakuolen als Terpenglykyoside
Die ersten Biosyntheseprodukte, die Terpenkohlenwasserstoffe ( > Abb. 23.5), werden taxonspezifisch modifiziert und gespeichert. In Öldrüsen, Ölzellen und Ölräumen werden vorzugsweise lipophile Mono- und Sesquiterpene gespeichert; in Milchröhren lipophile Triterpene und Polyterpene. Je stärker die Terpene oxidativ verändert werden, umso reaktionsfreudiger und auch umso zelltoxischer werden sie; durch Bindung an Zucker oder an Amine verlieren sie an Reaktionsfreudigkeit, zugleich werden sie im Vakuolenraum speicherungsfähig. In allen Organen, Geweben und Zellen kann mit dem Vorkommen von Terpenoiden gerechnet werden. Alle Lipophilitätsstufen sind vertreten, sodass im Hexanextrakt als auch im Wasserextrakt Terpenoide enthalten sein können
23.3 Iridoide
x Loliolid (C11-Inhaltsstof der Spitzwegerichblätter) bei den Tetraterpenen ( > Abschn. 23.7.8, S. 903), x Ionone (C13-Dutstofe) bei den Tetraterpenen ( > Abschn. 23.7.8, S. 906). Vorkommen und biologische Funktion. Isoprenoide
kommen in allen Organismen vor, in größter Mannigfaltigkeit jedoch in den grünen Planzen ( > Abb. 23.6). Gegenwärtig sind mehr als 30.000 natürlich vorkommende Isoprenoide bekannt (Rohdich et al. 2001). Es handelt sich dabei um die größte Naturstofgruppe. Sie sind nicht wahllos über das ganze Planzensystem verteilt; bestimmte Isoprenoide oder deren Kombinationen sind ot charakteristisch für einzelne Planzenarten, sodass Isoprenoidmuster als „biochemische Merkmale“ in der Chemotaxonomie zur Kennzeichnung herangezogen werden. Die biologische Funktion von Terpenoiden ist sehr vielfältig. Sie dienen als Pigmente – bestimmte Carotinoide sind essentiell für den Photosyntheseprozess der Planzen – andere, wie die Gibberelline, fungieren als Hormone, weitere als Abwehrstofe, Bestandteile von Membranen, Komponenten von Signaltransduktionsnetzwerken oder als Lichtschutzstofe (Sacchettini u. Poulter 1997). Tierische Organismen enthalten ebenfalls Terpenoide: Sie werden entweder mit der Nahrung aufgenommen oder biosynthetisiert. Charakteristische Isoprenoide des Tierreichs sind Cholesterol und Steroidhor-
23
mone. Taxoncharakteristische Isoprenoide inden sich unter den Insektenlockstofen (Pheromonen). Auf das Cantharidin, das toxikologisch interessiert, sei hingewiesen. Bedeutung für Medizin und Pharmazie. Wegen der sehr unterschiedlichen chemischen und physikalischen Eigenschaten der Isoprenoide lassen sich keine allgemeinen Aussagen machen. Es muss in diesem Zusammenhang auf die einzelnen Kapitel verwiesen werden.
! Kernaussagen
Isoprenoide sind aus C5-Isopreneinheiten aufgebaut (Isoprenregel). Sie entstehen via den klassischen Ac-MVA- oder den alternativen DXP/MEP-Biosyntheseweg. Ihre Einteilung erfolgt nach der Zahl der C-Atome. Die Verknüpfung der Isopreneinheiten erfolgt Kopf-Schwanz (C-1/C-4) bzw. Schwanz-Schwanz (C-4/C-4). Die Blockierung von Enzymen im Ac-MVA bzw. DXP/MEP-Biosyntheseweg durch Substanzen sind von medizinischer (z. B. HMG-CoA-ReduktaseHemmer) und biologischer (Herbizide) Bedeutung. Isoprenoidmuster werden in der Chemotaxonomie als „biochemische Merkmale“ herangezogen. Die biologische Funktion von Isoprenoiden in der Pflanze, aber auch bei Mensch und Tier sind sehr vielfältig.
Schlüsselbegriffe Ac-MVA-Biosyntheseweg Dimethylallyldiphosphat (DMAPP) DXP/MEP-Biosyntheseweg HMG-CoA-Reduktase-Hemmer Isopentenyldiphosphat (IPP)
Isoprenoide Isoprenoidmuster Isoprenregel Kopf-Schwanz-Verknüpfung Mevalonsäure
23.2
Mono- und Sesquiterpene, die in ätherischen Ölen vorkommen ( > Kap. 25)
23.3
Iridoide
23.3.1
Terminologie, Biosynthese, Unterteilung
Iridoide sind Naturstofe mit einem Cyclopenta[c]pyranKohlenstofgerüst sowie mit mindestens 2 O-Funktionen im Molekül. Es handelt sich biogenetisch um Monoter-
Schwanz-Schwanz-Verknüpfung Squalen Statine Terpene Terpenoide
penabkömmlinge. Von dem einfachsten Grundkörper der Reihe, dem Iridodial (C10H16O2), das im Abwehrsekret von Iridomyrmex-Arten (Ameisen) gefunden wurde, leitet die Stofgruppe ihre Bezeichnung her. Im typischen Fall besteht somit das Molekülgerüst aus 10 Kohlenstofatomen; doch gibt es neben den C10-Iridoiden (z. B. Loganin) auch Vertreter mit 9, seltener auch mit 8 Kohlenstofatomen (Aucubin bzw. Unedosid). Im Verlauf der Biosynthese werden C1-Bruchstücke als CO2, eliminiert. Eine weitere Modiikation besteht in der oxidativen Aufspaltung des Cyclopentanringes: Man gelangt zu den Secoiridoiden. Für die Secoiridoide trit die oben gegebene Deinition für
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816
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.7 11
6
5
4 3
7 8 9
1
11
10
2 6
4 5
10
zum Vergleich: Geranyldiphosphat, Bezifferung entsprechend dem Iridoidskelett
Iridoidskelett und seine Bezifferung
CH
OPP
9
OH
C
1
8
7
3
O
H
CH
OH
O
O
O
OH
Enolform
Dialdehydform Iridodial
Lactolform (Enolhalbacetal) H
COOH a
a
HO
O
HO
OH
Rest
COOH
CHO
b
HO
O
b
CO2
O C
HO
OH C10-Iridoid
C9-Iridoid
O HO
OH
H2O
CH2
Secoiridoid
Iridoidglykoside
Secoiridoidglykoside
nichtglykosidische Iridoide
Alkaloide mit Secoiridoid als Nichtaminkomponente
Naturstoffe mit Iridoidskelett (Cyclopenta[c]pyrangerüst) lassen sich – im Sinne der Isoprenregel – nach formaler Öffnung der Bindungen zwischen C-5 und C-9 sowie zwischen C-1 und 2-O in ein reguläres azyklisches Monoterpen zerlegen. Iridoide enthalten mindestens 2 O-Atome. Weitere Oxidation an zahlreichen Stellen des Moleküls führt zu reaktionsfähigen Verbindungen, die mit anderen (nichtterpenoiden) Stoffwechselprodukten reagieren. Glykosidierung führt zur Stabilisierung des Lactolringes; außerdem werden die Verbindungen dadurch hinreichend hydrophil und müssen nicht mehr, wie die lipophilen Monoterpene, in speziellen Öldrüsen und Ölbehältern abgelagert werden. Iridoidglykoside sind daher im Pflanzenreich weiter verbreitet als ätherische Öle; sie können in allen Organen – von der Wurzel bis zu den Samen – gespeichert werden. Verknüpfung der Secoiridoide mit Glucose führt zu Secoiridoidglykosiden, von denen pharmazeutisch die Gentianaceenbitterstoffe am bekanntesten sind. Verknüpfung mit Tryptamin führt zu therapeutisch wichtigen Indolalkaloiden
23.3 Iridoide
Iridoide nicht mehr zu. Die nahe biosynthetische Verwandtschat liefert jedoch einen tritigen Grund, sie zu den Iridoiden (im weiten Sinne) zu zählen. Es existieren 2 Hauptbiosynthesewege: Der erste führt vom Iridodial via Iridotrial zu Deoxyloganinsäure, was die Vorstufe der meisten Iridoide mit einer 8E-Stereochemie darstellt; der zweite Weg geht aus von 8-Epiiridodial und führt via 8-Epiiridotrial und 8-Epideoxyloganinsäure zu Verbindungen mit 8D-Stereochemie und insbesondere zu decarboxylierten Verbindungen wie z. B. Aucubin und Catalpol ( > Übersicht von Jensen et al. 2002 und darin zitierte Literatur). Schwerpunkt der Verbreitung von Iridoiden/Secoiridoiden im Planzenreich ist die Unterklasse Asteridae der Angiospermen mit den pharmazeutisch wichtigen Planzenfamilien der Ericaceae, Loganiaceae, Gentianaceae, Rubiaceae, Verbenaceae, Lamiaceae, Oleaceae, Plantaginaceae, Scrophulariaceae, Valerianaceae und den Menyanthaceae. Bei der Klassiikation der Rosopsida (Eudicotyledoneae) werden die Iridoide als chemotaxonomische Leitsubstanzen (Marker) verwendet (Frohe u. Jensen 1998). Die Iridoide werden in die 3 Gruppen Iridoidglykoside, Secoiridoidglykoside und nichtglykosidische Iridoide ( > Abb. 23.7) unterteilt (vgl. dazu Inouye u. Uesato 1986; Junior 1990).
23.3.2
Iridoidglykoside
Etwa 70% der bisher bekannten Iridoide gehören in diese Gruppe. Sie haben die folgenden Eigenschaten: x farblose Kristalle oder weiße, gelegentlich weißbraun oder weißgrün gefärbte, hygroskopische Pulver; x gut löslich in Wasser und Ethanol; praktisch unlöslich in Chloroform, Ether und Petrolether; x optisch aktiv; x durch Säuren oder E-Glucosidasen werden sie zersetzt und liefern ein nicht fassbares Aglykon, das zu schwarzen Massen polymerisiert (Ausnahme: Verbenalin liefert Verbenalol, das fassbar ist); x sie weisen einen stark bitteren Geschmack auf. Analytische Kennzeichnung. Als vergleichsweise hydro-
phile Planzenstofe lassen sich die Iridoidglykoside mit Wasser, Methanol oder Ethanol aus der Droge herauslösen. Mit extrahiert werden dabei freie Zucker und Aminosäuren sowie Flavonoide, Phenole und Gerbstofe. Die
23
. Schema 23.1
Droge mit Ethanol heiß extrahieren Eindampfen Rückstand in Wasser aufnehmen Mit Ether ausschütteln (zur Entfernung lipophiler Extraktivstoffe) Wässrige Lösung über Aluminiumoxid filtrieren Filtrat eindampfen
Rückstand in organischem Lösungsmittel aufnehmen; aliquoten Teil auf DC-Platte auftragen. Extraktion und Anreicherung
Abtrennung der phenolischen Substanzen kann, soweit erwünscht, durch adsorptive Filtration über Aluminiumoxid erfolgen ( > Schema 23.1; vgl. Sticher u. Junod-Busch 1975). Zur DC eignen sich die zur Trennung polarer Stofe bekannten Fließmittel, beispielsweise Ethylacetat–Methanol–Wasser (77:15:8). Zur Sichtbarmachung nimmt man Sprühreagenzien, die Mineralsäuren enthalten, beispielsweise Phloroglucin-Salzsäure oder Vanillin-Schwefelsäure. Zur quantitativen Bestimmung wurden im Laufe der Zeit verschiedene Methoden vorgeschlagen, die alle auf der durch Hydrolyse der Iridoidglykoside mit Säure erzeugten Farbe der Lösung beruhen, die spektrophotometrisch ausgewertet wird (vgl. Sticher 1977). Die Methode der Wahl ist heute die HPLC, wobei die Probenaubereitung durch Festphasenextraktion über Aluminiumoxid, Polyamid und/oder Octadecylkieselgel erfolgen kann. Iridoide als Leitstoffe in Drogen und Fertigarzneimitteln. Viele alte Arzneidrogen – einige von ihnen sind bis
heute in Gebrauch ( > Tabelle 23.1) – enthalten Iridoidglykoside. Sie sind in der analytischen Phytochemie von Bedeutung: x Das Iridoidmuster ist artspeziisch und kann daher zur Identitätsprüfung herangezogen werden. x Unsachgemäßes Trocknen der Droge oder Aubewahrung in feuchter Atmosphäre führt zu Verfärbung des Drogengutes, was sich auch analytisch durch Abnahme des Iridoidgehaltes anzeigt.
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818
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Tabelle 23.1 Iridoidglykoside als Leitstoffe von Drogen. Der dünnschichtchromatographische Nachweis kann zur Identitätsprüfung der Droge herangezogen werden; das Vorkommen in Extrakten und Fertigarzneimitteln lässt auf eine schonende Verarbeitung schließen Arzneidroge
Stammpflanze (Familie)
Iridoidglykoside ( > Abb. 23.8)
Mönchspfefferfrüchte (PhEur 5.4)
Vitex agnus-castus L. (Verbenaceae)
Aucubin, Agnusid
Augentrostkraut (DAC 2003)
Euphrasia rostkoviana HAYNE und andere europäische Euphrasia-Arten (Orobanchaceae)
Aucubin, Catalpol, Ixorosid, Mussaenosid, Euphrosid, Eurostosid
Baldrianwurzel (PhEur 5)
Valeriana officinalis L. s.l. (Valerianaceae)
Valerosidatum (bis 1,5%)
Ehrenpreiskraut (DAC 2004)
Veronica officinalis L. (Plantaginaceae)
Catalpol, Veronicosid, Verprosid, Mussaenosid, Ladrosid
Eisenkraut (DAC 2004)
Verbena officinalis L. (Verbenaceae)
Verbenalin, Hastatosid, Dihydrocornin
Herzgespannkraut (PhEur 5)
Leonurus cardiaca L. (Lamiaceae)
Ajugol, Ajugosid, Galiridosid, Reptosid
Kurukraut
Picrorhiza kurrooa ROYLE ex BENTH (Scrophulariaceae)
6’-Cinnamoylcatalposid (Picrosid I), 6-Vanilloylcatalposid (Picrosid II)
Spitzwegerichblätter (PhEur 5)
Plantago lanceolata L. (Plantaginaceae)
Aucubin, Catalpol
Teufelskrallenwurzel (PhEur 5)
Harpagophytum procumbens DC. und H. zeyheri DECNE. (Pedaliaceae)
Harpagosid, Harpagid, Procumbid
Valeriana-wallichii-Wurzel
Valeriana wallichii DC. (Valerianaceae)
Valerosidatum (bis 5%)
Waldmeisterkraut
Galium odoratum (L.) SCOP. (Rubiaceae)
Asperulosid, Monotropein
Wollblume (PhEur 5)
Verbascum thapsus L., V. densiflorum BERTOL. (V. thapsiforme SCHRAD) und V. phlomoides L. (Scrophulariaceae)
Aucubin, 6-E-D-Xylosylaucubin, Catalpol, 6-E-D-Xylosylcatalpol
x Nur bei sorgfältiger Extraktherstellung bleiben die Iridoide erhalten, sodass sie ein Indikator für die Qualität des Herstellungsverfahrens sind. Beispiel: Ein frisch hergestelltes Spitzwegerichinfus enthält 75–85% des in der Droge enthaltenen Aucubins (Miething et al. 1986). Viele käuliche Tees vom Typ der sofortlöslichen Tees sind dagegen aucubinfrei. Metabolismus und Pharmakokinetik. Untersuchungen über das Schicksal von Iridoidglykosiden im menschlichen Organismus nach peroraler Zufuhr liegen bisher nur wenige vor. Aus diesen Experimenten kann abgeleitet werden, dass die glykosidische Bindung in den meisten Fällen durch Enzyme von Mikroorganismen der Darmlora gespalten wird ( > Abb. 23.9). Ausnahmen scheinen u. a. Esteriridoidglykoside darzustellen. Harpagosid z. B. scheint nach p.o.-Verabreichung eines Harpagophytumextraktes als genuines Glykosid resorbiert zu werden (vgl. S. 825 unter Teufelskrallenwurzel).
Wirkungen und Wirkungsmechanismus. Iridoidglykoside enthaltende Arzneiplanzen werden seit Jahrhunderten in der Volksmedizin als Bitter-, Beruhigungs-, Schmerzund Hustenmittel sowie zur Behandlung von Wunden und zur Senkung des Blutdrucks verwendet. Pharmakologische Wirkungen sind erst in neuerer Zeit für eine Reihe von Reinstofen beschrieben worden. Es sind dies u. a. antimikrobielle (antibakterielle, antifungale, antivirale), analgetische, antiphlogistische, choleretische, laxative, immunmodulierende, hypotensive, antioxidative Wirkungen. Pharmakokinetische Untersuchungen machen es wahrscheinlich, dass in der Regel nicht die intakten Iridoidglykoside, sondern Hydrolyseprodukte resorbiert werden ( > unter Metabolismus und Pharmakokinetik). Es wird angenommen, dass die Hemiacetalstruktur der Iridoidaglykone eine entscheidende Rolle spielt, sodass die biologische Aktivität von Iridoidglykosiden mindestens teilweise durch ein glutaraldehydähnliches Cross-linking mit Proteinen zustande kommt. Andererseits scheinen auch
23
23.3 Iridoide
. Abb. 23.8 O
COOCH3
R
H
COOH
O H3C
CHO
O Glc
Verbenalin (R = H) Hastatosid (R = OH)
H
COOCH3
O
O HO
H
R
HO
H CH2OH O Glc
CH3
Monotropein
O HO
H
OR
H CH3
O Glc
OH
O O HO Mussaenosid (R = H) Ladrosid (R = Caff)
Euphrosid (R = OH) Ixorosid (R = H)
OH
O O
C H
H
O
CH2O
H CH3
O
H3C
CH3 O
O H
H3C
O Glc
O Glc
Procumbid
Galiridosid HO
H
H
O
CH3
Valerosidatum
R2O
OH
O
O
HO
Asperulosid
HO
OH O
HO
H CH2OAc O Glc
Glc
R1O
R1
H O
O
O H CH2OR1 O Glc
R1
R2
H
H
HO-Bz
H
H p-Cum
R2O
H
CH3
R2
Aucubin
H
H
Ajugol
Agnusid
H
Ac
Ajugosid
β-D-Xylp 6-Xylosylaucubin
OH
H
Harpagid
OH
Cinn Harpagosid
Eurostosid
H CH2OH O HO
O Glc
R1
H
O
R1
OR2 OH
O OH
R2
H H Van H H Cinn H Bz Di-OH-Bz H β-D-Xylp H
Catalpol Picrosid II Picrosid I Veronicosid Verprosid 6-Xylosylcatalpol
Konstitutions- und Konformationsformeln von Iridoidglykosiden, die in > Tabelle 23.1 als Leitstoffe von Drogen aufgeführt sind. Valerosidatum unterscheidet sich von allen anderen Iridoidglykosiden darin, dass die β-D-Glucopyranose an das primäre 11-CH2OH gebunden ist, während sonst das acetalische 1-OH des Iridoidskeletts glykosidisch verschlossen ist. Die Variation der Iridoide ist einmal durch die unterschiedliche Ausgestaltung des C-4-Substituenten gegeben: 4-CH3, 4-CH2OH, 4-CHO, 4-COOH, 4-COOCH3, 4-H (C9-Iridoide, z. B. Aucubin). Weitere Variationsmöglichkeiten bietet der Cyclopentanring: er kann zwischen C-7 und C-8 einen Epoxidring tragen; die Positionen 6, 7 oder 8 können hydroxyliert sein. Schließlich können alkoholische Gruppen des Iridoidaglykons oder der β-D-Glucose (vorzugsweise die 6-CH2OH) mit aromatischen Carbonsäuren verestert sein. Abkürzungen: Glc = β-D-Glucosyl, Ac = Acetyl, Bz = Benzoyl, HO-Bz = p-Hydroxybenzoyl, Van = Vanilloyl, Di-OH-Bz = Protocatechuoyl, Cinn = (E)-Cinnamoyl, Caff = (E)-Caffeoyl, p-Cum = p-(E)-Cumaroyl
819
820
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.9 HO
H
O H CH2OH
β-Glucosidasen der Darm- bzw. Fäkalflora − Glucose
HO
O H CH2OH
O Glc
Aucubin
HO
H
OH CHO CH2OH
OH
Aucubigenin + NH3
O
O
HO
N H3C
CH2OH
Aucubinin B
H
Geniposid
O Glc
N CH2OH
Aucubinin A
COOCH3
O H CH2OH
N
β-Glucosidasen der Darm- bzw. Fäkalflora − Glucose
H
COOCH3
H
O H CH2OH
OH
Genipin
COOCH3
NH H CH2OH Genipinin
Transformation von Aucubin (oben) bzw-. Geniposid (unten) durch Bakterien der menschlichen Darmflora. Bei anaerober Inkubation von Aucubin mit einzelnen Bakterienstämmen der Darmflora oder mit menschlicher Fäkalflora wurde die Substanz in Aubcubigenin sowie Aucubinin A (Hauptmetabolit) und Aucubinin B umgewandelt. Aucubinin A und B können auch durch Einwirkung von β-Glucosidasen in Gegenwart von Ammoniak erzeugt werden. In ähnlicher Weise wird Geniposid in Genipin und Genipinin (Stickstoff enthaltender Metabolit) umgewandelt (vgl. Übersicht von Ghisalberti 1998 und darin zitierte Literatur)
strukturelle Unterschiede (OH-, COOH-, COOMe-, Ketogruppen etc.) beispielsweise bei der antiphlogistischen Wirkung von Bedeutung zu sein (vgl. Übersicht von Ghisalberti 1998 und darin zitierte Literatur; Ju et al. 2003; Ling et al. 2003). In neuerer Zeit sind In-vitro-Untersuchungen zum molekularen Mechanismus von Iridoidglykosiden im Falle der antiphlogistischen Wirkung durchgeführt worden. So konnte von Aucubin (Jeong et al. 2002) und Ca-
talposid (An et al. 2002) gezeigt werden, dass sie die Aktivierung des Transkriptionsfaktors NF-NB (vgl. > Abb. 23.43, 23.44) sowie die Produktion und Sezernierung von Zytokinen [Tumornekrosefaktor D (TNFD), Interleukine (IL-6, IL-1E] hemmen. Aucubin (Modell: antigenstimulierte RBL-2H3 Mastzellen) blockiert die NF-NB-Aktivierung durch Hemmung von Phosphorylierung/Abbau von INB. Catalposid (Modell: Lipopolysaccharid-stimulierte RAW 264.7 Makrophagen) hemmt die NF-NB-
23.3 Iridoide
Aktivierung durch Blockierung der Translokation der p65-Untereinheit von NF-NB in den Nucleus. Die therapeutische Relevanz dieser Testergebnisse muss allerdings in Frage gestellt werden, da im Falle von Aucubin andere Autoren gefunden haben, dass NF-NB (Lipopolysaccharid- und IFN-J-stimulierte RAW 264.7-Makrophagen) nur durch das Hydrolyseprodukt von Aucubin nach Behandlung mit E-Glucosidase gehemmt wird (Park u. Chang 2004).
23
! Kernaussagen
Iridoide sind Monoterpene mit einem Cyclopenta[c]pyran-Kohlenstoffskelett sowie mit mindestens 2 O-Funktionen im Molekül. Sie werden in die 3 Gruppen Iridoidglykoside, Secoiridoidglykoside und nichtglykosidische Iridoide unterteilt. Wenn man von der Bitterwirkung der Substanzen absieht, zeigen sie keine auffallenden pharmakologischen Wirkungen. Im Vordergrund stehen antimikrobielle und antiphlogistische Eigenschaften, die nicht auf die genuinen Glykoside, sondern auf Hydrolyseprodukte zurückzuführen sind.
Schlüsselbegriffe Cyclopenta[c]pyrangerüst Iridoide Iridoidglykoside Nichtglykosidische Iridoide
Secoiridoide Secoiridoidglykoside Transkriptionsfaktor NF-NB
Eisenkraut
Analytische Kennzeichnung. Dünnschichtchromatogra-
Herkunft. Eisenkraut (Verbenae herba DAC 2004) be-
steht aus den zur Blütezeit gesammelten, getrockneten Laubblättern und oberen Stängelabschnitten von Verbena oicinalis L. (Familie: Verbenaceae [IIB23c]). Die Stammplanze, ein ein- oder mehrjähriges Kraut, kommt in allen gemäßigten Zonen der Erde vor. Der Stängel der 30–60 cm hoch werdenden Planze ist vierkantig; die gegenständig angeordneten Blätter sind iederartig gespalten (am unteren Teil der Planze); die blasslila, manchmal weißen Blüten stehen in endständigen, lockeren Ähren. Sensorische Eigenschaften. Adstringierender, bitterer
Geschmack. Inhaltsstoffe
x Iridoidglykoside (0,2–0,5%) Verbenalin, Hastatosid und Dihydrocornin (Formeln vgl.
Wirkungen (antimikrobiell, antiphlogistisch, Bitterwirkung) Zytokine
> Abb. 23.8);
x Phenylethanoidglykoside (ca. 0,8%) Verbascosid (Formel vgl. > Abb. 26.13), Isoverbascosid und Martynosid; x Flavonoide, insbesondere Luteolin-, Apigenin- und Acacetin-7-O-diglucuronide (vgl. Wichtl 1999), daneben methoxylierte Flavone; x Triterpene, Phytosterole.
phischer Nachweis (DAC) von Verbenalin [Fließmittel: Ethylacetat–Methanol–Wasser (77:13:10); Referenzsubstanz: Phenazon; Nachweis: Anisaldehydreagens]. Verbenalin erscheint im UV bei 254 nm knapp unterhalb der Referenzsubstanz Phenazon und färbt sich nach dem Besprühen grauviolett. Falls besonderer Wert auf den Nachweis der Kafeesäurederivate (Phenylethanoide) und der Flavonoide gelegt wird, eignet sich Ethylacetat–Essigsäure 99%–Ameisensäure–Wasser (100:11:11:27) als Fließmittel und Diphenylboryloxyethylamin/Macrogol 400 als Sprühreagens. Bei anschließender Betrachtung im UV 365 nm erscheinen die Flavonoide als gelbgrün oder orange luoreszierende Zonen und die Kafeesäurederivate mit blaugrüner oder blauer Fluoreszenz. Für die quantitative Bestimmung einzelner Substanzen oder Substanzklassen eignet sich die HPTLC oder die HPLC mit Gradientenelution (Mende u. Wichtl 1998; Deepak u. Handa 2000a). Eine Monographie für die PhEur, die eine quantitative Bestimmung von Verbenalin vorsieht, ist in Bearbeitung. Wirkungen. Für Eisenkrautextrakte sind insbesondere se-
kretolytische, antitussive, antiphlogistische, antibakterielle, antivirale, immunmodulierende und uteruskontrahierende Wirkungen beschrieben worden (vgl. Übersicht von Wichtl 1999). Die Relevanz dieser Efekte für die therapeu-
821
822
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
tische Anwendung ist in den meisten Fällen nicht belegt Wissenschatlich nachgewiesen ist die entzündungshemmende Wirkung bei topischer Anwendung des Extrakts (Modell: TPA-induziertes Mausohrödem). Über die dafür in Frage kommenden Wirkstofe herrscht keine Klarheit (Calvo et al. 1998; Deepak u. Handa 2000b). Anwendung. In der Volksmedizin vorwiegend als Diure-
tikum, Galactagogum und Antirheumatikum. Die Monographie der Kommission E beschreibt eine ganze Reihe von weiteren Anwendungsgebieten. Die Wirksamkeit bei den beanspruchten Gebieten ist allerdings nicht belegt.
Nordwestindien verbreitet ist. Die Blätter sind gestielt und 5- bis 7-zählig handförmig geteilt; sie verfärben sich postmortal aufallend schwarz. Die meist liederfarbigen Blüten sind in einem dichten, endständigen Blütenstand zusammengefasst. Die Früchte sind etwa 0,5 cm große, schwarze, kugelige Steinbeeren mit 4 Samen. Das Exokarp ist mit kurzgestielten Drüsenhaaren besetzt, die unter dem Mikroskop an die Drüsenköpfchen der Lamiaceen erinnern. Sensorische Eigenschaften. Geruch: aromatisch. Ge-
schmack: scharf, etwas pfeferartig und aromatisch. Inhaltsstoffe
Mönchspfefferfrüchte
x Iridoidglykoside (etwa 1%) Aucubin und Agnusid
Herkunft. Die Droge besteht aus den reifen, getrockneten
x lipophile Flavonoide, insbesondere Casticin (Quer-
Früchten (Agni casti fructus PhEur 5.4) von Vitex agnuscastus L. (Mönchspfefer, Keuschlamm; Familie: Verbenaceae [IIB23c]). Die Stammplanze ist ein 3–5 m hoher Strauch, der im Mittelmeergebiet und in Asien bis nach
cetagetin-3,6,7,4c-tetramethylether; PhEur = mindestens 0,08%; > Abb. 23.10), daneben hydrophile Flavonoide, u. a. Apigenin und das Glykosyllavonoid Isoorientin;
(Formeln vgl.
> Abb. 23.8);
. Abb. 23.10 OR
O CH3
H3C
H CH3
CH3
OH CH3
OH CH3
O
H CH3
H3C
OCOCH3
H3CO
O
H3CO OCOCH3
Vitexilacton
Rotundifuran
O
OH OCH3
OH
O
Casticin (R = CH3) Chryososplenol D (R = H) OR
HO H3CO
O
OCH3
H3CO OCOCH3 OCOCH3 Vitetrifolin D
OH
O
6-Hydroxykämpferol-3,6,7,4'-tetramethylether (R = CH3) Penduletin (R = H)
Charakteristischer Inhaltsstoff des Mönchspfeffers ist das Iridoidglykosid Agnusid, das neben Aucubin (Formeln vgl. > Abb. 23.8) als Hauptinhaltsstoff der Droge gilt. Typisch sind außerdem lipophile Flavonoide mit Casticin als Hauptsubstanz. Zu den potentiellen Wirkstoffen zählen lipophile Diterpene vom Clerodan- (insbesondere Clerodadienole; Wuttke et al. 2003) und Labdan-Typ
23.3 Iridoide
23
x lipophile Diterpene (Rotundifuran, Vitexilacton, Vite-
Wirkung und hypothetischer Wirkungsmechanismus.
trifolin D; > Abb. 23.10) sowie das Labdanditerpenalkaloid Vitexlactam A (Li et al. 2002); x ätherisches Öl (0,7–1,8%) mit hauptsächlich Monound Sesquiterpenen; x fettes Öl mit Linol- und weiteren Fettsäuren.
Extrakte von Agni casti fructus hemmen die Prolaktinfreisetzung in den lactotropen Zellen des Hypophysenvorderlappens. Es kommt zu einer Senkung des während des PMS ot pathologisch erhöhten Prolaktinspiegels und damit zur einer Besserung bzw. Normalisierung gestört verlaufender Menstruationszyklen (Normalisierung des gestörten Hormonhaushalts). Der Wirkungseintritt erfolgt im Allgemeinen erst nach einigen Wochen der Anwendung entsprechender Präparate. Es wird postuliert, dass die prolaktininhibitorische Aktivität auf einem dopaminergen Wirkungsmechanismus beruht. Nach Untersuchungen mit einem Radioligand-Dopamin-D2-Rezeptor-in-vitro-Testsystem konnten als dopaminagonistische Extraktbestandteile Diterpene nachgewiesen werden. Hinweis: In der Achse Hypothalamus–Hypophyse ist Dopamin der primäre physiologische Faktor der Prolaktinsekretion. Abhängig von der Dopaminkonzentration am Dopamin-D2-Rezeptor wird das stimulierende bzw. das hemmende Übertragungssystem aktiviert (Shin et al. 1999). Bei Störungen im hypothalamischen Dopaminsystem kann die herapie mit Dopaminagonisten zu einer Normoprolaktinämie (Senkung des Prolaktinspiegels) führen. Schon in früheren Untersuchungen (vgl. dazu Übersicht von Upton et al. 2001) wurde dem Mönchspfeferfruchtextrakt eine schwache östrogene Wirkung zugeschrieben. Diese steht in neuen Untersuchungen wieder zur Diskussion, allerdings kontrovers. Während Liu et al. (2001, 2004) in Rezeptorbindungsstudien eine signiikante kompetitive Bindung des Extrakts an die Östrogenrezeptoren ERD und ERE nachweisen konnten, fanden Jarry et al. (2003) eine selektive Wirkung an ERE. Sie identiizierten das Flavonoid Apigenin als die Substanz mit der stärksten ERE-Bindung, während Liu et al. (2004) fanden, dass Linolsäure speziischer Ligand für die ERD- und ERERezeptoren darstellt und östrogeninduzierbare Gene (ERE mRNA, Progesteronrezeptor mRNA) in entsprechenden Zelllinien stimuliert. Die Autoren sind der Ansicht, dass diese Resultate mindestens teilweise die Anwendung von Mönchspfeferfruchtextrakten zur Behandlung des PMS erklären. Inwieweit diese und mögliche weitere „Phytoöstrogene“ zur Wirkung beitragen, muss im Augenblick ofen gelassen werden (vgl. dazu auch unter CimicifugaTriterpene, Kap. 24.5.2).
Analytische Kennzeichnung Identitätsprüfung. Chromatographischer Nachweis
(PhEur) von Agnusid und Aucubin [Fließmittel: Wasser–Methanol–Ethylacetat (8:15:77); Referenzsubstanz: Aucubin, Agnusid; Nachweis: Ameisensäure]. Beide Iridoidglykoside erscheinen nach Besprühen mit Ameisensäurereagens und Erhitzen auf 120 qC im Tageslicht als blaue Zonen. Gehaltsbestimmung. Die Gehaltsbestimmung (PhEur)
erfolgt mit Hilfe der HPLC unter Verwendung von octadecylsilyliertem Kieselgel (3 µm) als Säulenmaterial, einem Methanol-Wasser-H3PO4-Gradient als mobile Phase und Casticin als äußerem Standard. Die quantitative Bestimmung von Casticin beruht auf der HPLC-Methode von Hoberg et al. (2001). Weitere Möglichkeiten sind die Bestimmung von Agnusid (Hoberg et al. 2000a) oder der Diterpene (Hoberg et al. 2000b). Verwendung. Die Droge wird ausschließlich zur Her-
stellung von wässrig-alkoholischen Auszügen verwendet, die zu Fertigarzneimitteln zur Behandlung des prämenstruellen Syndroms ( > folgende Infobox) konfektioniert werden. Infobox Prämenstruelles Syndrom (PMS). Der Begriff PMS umschreibt das gemeinsame Auftreten verschiedener psychischer und somatischer Beschwerden in der zweiten Hälfte des Menstruationszyklus. Leitsymptome sind Nervosität, Reizbarkeit, Unpässlichkeit, Brustschmerzen und Ödemneigung. Frauen, die an PMS leiden, weisen häufig einen erhöhten Prolaktinspiegel auf (Hyperprolaktinämie). Hyperprolaktinämie induziert Zyklusstörungen. Die Ursachen sind vielfältig, u. a. können Störungen des hypothalamischen Dopaminsystems Hyperprolaktinämie auslösen. Als therapeutische Maßnahme kommt die Behandlung der psychischen und somatischen Beschwerden in Betracht. Eingesetzt werden u. a. Psychopharmaka, Hormone, Dopaminagonisten, Serotoninwiederaufnahmehemmer sowie Phytopharmaka.
Anwendungsgebiete. Regeltempoanomalien (Oligome-
norrhoe, Polymenorrhoe, azyklische Blutungen), prä-
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Isoprenoide als Inhaltsstoffe
menstruelle Beschwerden, Mastodynie (Kommission E). Gemäß ESCOP sind die Indikationen: PMS einschließlich Mastodynie oder Mastalgie, Zyklusstörungen. In plazebokontrollierten, randomisierten Doppelblindstudien sowie in verschiedenen experimentellen pharmakologischen Tier- und In-vitro-Modellen konnte die Senkung des erhöhten Prolaktinspiegels nachgewiesen werden. Der Wirksamkeitsnachweis ist bei der Indikation Mastodynie (zyklisch wiederkehrende Brustschmerzen) durch GCP-konforme Doppelblindstudien belegt, bei weiteren prämenstruellen Störungen wie Zyklusunregelmäßigkeiten liegen Einzelfallberichte, ofene Studien und Anwendungsbeobachtungen vor, die für eine therapeutische Wirksamkeit sprechen (vgl. Übersichten von Upton et al. 2001; Gorkow et al. 2002; Wuttke et al. 2003 und darin zitierte Literatur). Präparate aus Vitex-agnus-castusExtrakten stellen bei diesen Indikationen eine Alternative zu den bei der Hyperprolaktinämie häuig verwendeten synthetischen Prolaktinhemmern (Dopaminagonisten) dar. Unerwünschte Wirkungen. Ernsthate Nebenwirkungen wurden nicht beobachtet. Gelegentlich können Kopfschmerzen, Müdigkeit, Hautmanifestationen und Beschwerden im Magen-Darm-Kanal und im Unterleib autreten.
! Kernaussagen
Charakteristischer Inhaltsstoff der Mönchspfefferfrüchte ist das Iridoidglykosid Agnusid, das neben Aucubin als Hauptinhaltsstoff der Droge gilt. Typisch sind außerdem lipophile Flavonoide mit Casticin als Hauptsubstanz. Iridoide und lipophile Flavonoide gelten als analytische Marker, während lipophile Diterpene vom Clerodan- und Labdan-Typ als potentielle Wirkstoffe bei der Anwendung von Extraktpräparaten zur Therapie des PMS ( > Hinweis) gelten. Inwieweit die nachgewiesene phytoöstrogene Wirkung des Mönchspfefferfruchtextrakts von klinischer Relevanz ist, ist im Augenblick unklar.
Hinweis. Die klinische Wirksamkeit von Mönchspfeferfruchtrextraktpräparaten bei klimakterischen Beschwerden wird kontrovers diskutiert.
Ehrenpreiskraut Herkunft. Ehrenpreiskraut (Veronicae herba DAC 2004)
besteht aus den zur Blütezeit gesammelten, getrockneten oberirdischen Teilen von Veronica oicinalis L. (Familie: Plantaginaceae [IIB23h], früher Scrophulariaceae). Waldehrenpreis kommt in gebirgigen Gegenden, besonders an sonnigen Waldrändern, in Europa, Vorderasien und Nordamerika vor. Die Laubblätter sind verkehrt eiförmig mit gesägtem Rand und sehr kurz gestielt. Die kleinen, blasslila, selten weiß gefärbten Blüten sitzen in aufrechten, ährenähnlichen Blütenständen. Sensorische Eigenschaften. Schwach aromatischer Ge-
ruch; leicht bitterer, etwas zusammenziehender Geschmack. Inhaltsstoffe
x Iridoidglykoside (0,5–1%), darunter Mussaenosid, Ladrosid, Catalpol, Veronicosid und Verprosid (AiiYazar 1979; Formeln vgl. > Abb. 23.8); x Flavonoide (etwa 0,7%), hauptsächlich Glykoside des Luteolins; x Phenolcarbonsäuren, darunter Chlorogensäure und Kafeesäure; x Triterpensaponine. Analytische Kennzeichnung. DC-Identitätsprüfung
(DAC) [Fließmittel: Ethylacetat–Wasser–wasserfreie Ameisensäure–Essigsäure 98% (72:14:7:7); Referenzsubstanzen: Hyperosid, Kafeesäure, Rutosid; Nachweis: Diphenylboryloxyethylamin/Macrogol 400]. Mit der DACVorschrit werden keine speziischen Inhaltsstofe nachgewiesen, sondern nur ein Fingerprintchromatogramm bestimmter Farbzonen beschrieben. Anwendungsgebiete. Gemäß Kommission E existieren
verschiedenste Anwendungsgebiete, u. a. bei Erkrankungen im Bereich der Atemwege, des Magen-Darm-Traktes und bei rheumatischen Beschwerden. Pharmakologische und klinische Untersuchungen fehlen. Die therapeutische Anwendung kann nicht befürwortet werden.
Augentrostkraut Herkunft. Augentrostkraut (Euphrasiae herba DAC 2003)
besteht aus den zur Blütezeit gesammelten, getrockneten
23.3 Iridoide
oberirdischen Teilen verschiedener Euphrasia-Arten, besonders der Gruppen Euphrasia stricta D. Wolff ex F. J. Lehm, E. rostkoviana Hayne (Familie: Orobanchaceae [IIB23f], früher Scrophulariaceae), sowie deren Bastarden oder Mischungen davon. Beide Augentrostarten sind in Europa heimisch. Beim häuiger vorkommenden RostkovsAugentrost handelt es sich um eine 5–25 cm hohe, ästige Planze mit fein gezähnten Blättern. Die Blütenkrone ist in der Regel weiß, mit gelbem Fleck und violetten Adern. Sensorische Eigenschaften. Schwach bitterer, leicht wür-
ziger Geschmack. Inhaltsstoffe
x Iridoidglykoside, darunter Aucubin, Catalpol, Ixorox x x x
sid, Mussaenosid, Euphrosid, Eurostosid (Salama 1982; vgl. > Abb. 23.8); Flavonoide, darunter Quercetin- und Apigeninglykoside; Lignane (Dehydrodiconiferylalkohol-4-E-d-glucosid); Phenylethanoide (Leucosceptosid A; früher fälschlicherweise als Eukovosid beschrieben); Phenolcarbonsäuren, darunter Kafee-, Ferula- und Gentisinsäure.
Analytische Kennzeichnung. DC-Identitätsprüfung
(DAC) wie bei Ehrenpreiskraut (vgl. Abschn. Ehrenpreiskraut), mit der Ausnahme, dass anstelle der Kafeesäure Chlorogensäure als Referenzsubstanz verwendet wird. Anwendungsgebiete. Gemäß Kommission E werden
Augentrostzubereitungen insbesondere äußerlich zu Umschlägen und Augenbädern (bei Augenkrankheiten, die mit Entzündungen verbunden sind) verwendet. Es handelt sich um Indikationen aus der Volksmedizin. Da eine Wirksamkeit bei den beanspruchten Anwendungsgebieten nicht belegt ist, kann die therapeutische Anwendung gemäß Kommission E nicht befürwortet werden. In der anthroposophischen Medizin werden Augentropfen auf der Basis von E. rostkoviana zur Behandlung entzündlicher und katarrhalischer Konjunktivitis verwendet. In einer ofenen, multizentrischen klinischen Studie an einer Kohorte von 65 Patienten trat bei 81,5% der Patienten eine vollständige Genesung, bei 17% eine deutliche Verbesserung ein (Stoss et al. 2000), woraus die Autoren Wirksamkeit und Sicherheit der verwendeten EuphrasiaAugentropfen ableiten.
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Teufelskrallenwurzel Herkunft. Teufelskrallenwurzel (Harpagophyti radix
PhEur 5) besteht aus geschnittenen, getrockneten, knollenförmigen, sekundären Wurzeln von Harpagophytum procumbens DC. und/oder H. zeyheri Decne. (Familie: Pedaliaceae [IIB23g]). In getrocknetem Zustand lassen sich die sekundären Speicherwurzeln (= Knollen der Seitenwurzeln) nur sehr schwer zerschneiden oder pulverisieren; sie werden daher nach dem Graben sofort, noch frisch, zerkleinert, sodass sie für die Verwendung als Tee geeignet werden. Die große Nachfrage nach Harpagophytumdroge hat das Wildvorkommen der Teufelskralle stark dezimiert. Es werden daher heute Anstrengungen unternommen, die den Anbau (Schmidt et al. 1998) bzw. Gewächshauskulturen (Levieille u. Wilson 2002) zum Ziel haben. Die Teufelskralle ist eine im südlichen Afrika vorkommende krautige Planze. Ihr Hauptverbreitungsgebiet sind die Savannen der Kalahari Südafrikas und Namibias. Aus der großen, knolligen Wurzel kommen bald nach den ersten Regenfällen die grünen Triebe hervor. Sie liegen lach am Boden auf und erreichen eine Länge von 1–1,5 m. Die Blätter sind meist gegenständig und gebuchtet. In ihren Achseln inden sich einzelne, aufallende, große, ingerhut- oder gloxinienähnliche, leuchtend rotviolette Blüten. Nach der Befruchtung bilden sich aus der holzig werdenden Frucht lange verzweigte Arme, die mit Widerhaken versehen sind. Deshalb hat die Planze den deutschen Namen „Teufelskralle“ erhalten. Auch der Gattungsname – abgeleitet vom griechischen Wort „harpagos“ (= Enterhaken) – nimmt Bezug auf die Widerhaken der Früchte. Sensorische Eigenschaften. Die Droge ist graubraun bis
dunkelbraun und schmeckt bitter. Inhaltsstoffe
x 1,1–3,6% Iridoidglykoside: Harpagosid (PhEur = mindestens 1,2%), Harpagid, 8-O-p-Cumaroylharpagid, 8-O-Feruloylharpagid, 8-O-Cinnamoylmyoporosid, Procumbid, 6c-O-p-Cumaroylprocumbid, Procumbosid und Pagosid ( > Abb. 23.11); x Phenylethanoidglykoside (2–3%): Verbascosid (= Acteosid; Formel vgl. > Abb. 26.13), Isoacteosid, 6c-OAcetylacteosid, 2c,6c-O-Diacetylacteosid; x Diterpene mit einem Abietan- bzw. Totarangrundgerüst (Clarkson et al. 2003);
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Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.11
Die charakteristischen Inhaltsstoffe der Teufelskralle sind Iridoidglykoside. Das mengenmäßig vorherrschende Harpagosid schmeckt sehr stark bitter, während dessen Deacylderivat Harpagid einen schwach süßen Geschmack aufweist. Beim Procumbosid handelt es sich um ein Iridoid mit einer selten vorkommenden Ätherbrücke zwischen C-3 und C-6. Kürzlich isolierte Iridoidglykoside sind 8-O-Feruloylharpagid und 8-O-Cinnamoylmyoporosid sowie das Glykosid Pagosid, bei dem es sich wahrscheinlich um eine Substanz handelt, die im Iridoidbiosyntheseweg entsteht, bevor das bizyklische Hemiacetalgrundgerüst zustande kommt (Boje et al. 2003). Droge von H. zeyheri kann anatomisch/morphologisch nicht von derjenigen von H. procumbens unterschieden werden. Die Unterscheidung kann mit Hilfe der HPLC durchgeführt werden. Hauptiridoidglykosid in H. procumbens ist Harpagosid (HS) mit einem mittleren Gehalt von 1,85%, während H. zeyheri neben Harpagosid (mittlerer Gehalt 1,09%) 8-O-p-Cumaroylharpagid (PCHG) als zweites Hauptiridoid enthält. Dadurch ergibt sich für beide Drogen ein charakteristisches HS/PCHG-Verhältnis von ca. 28 (H. procumbens) bzw. ca. 1,3 (H. zeyheri). Dieser Quotient hat allerdings eine größere Streuung als ursprünglich angenommen worden ist. Aufschlussreicher soll der prozentuale Anteil von PCHG an den Gesamtiridoiden (PCHG-Kennzahl) sein, dessen oberer Grenzwert bei H. procumbens auf 9 vorgeschlagen wurde (vgl. Schmidt et al. 1998 und darin zitierte Literatur). Nach Boje et al. (2003) soll das Phenylethanoidglykosid 6’-O-Acetylacteosid in H. zeyheri nicht vorkommen
x Kohlenhydrate, insbesondere Stachyose, Rainose, Saccharose, Glucose; ferner x Flavonoide, Triterpene, Phenolcarbonsäuren (Kafee-, Zimtsäure) u. a. Analytische Kennzeichnung Identitätsprüfung. DC-Nachweis von Harpagosid (PhEur)
[Fließmittel: Wasser–Methanol–Ethylacetat (8:15:77); Referenzsubstanz: Harpagosid; Nachweis: UV 254 nm und
Phloroglucin-Salzsäure-Reagens]. Das Harpagosid erscheint im UV 254 nm als Fluoreszenz mindernde und nach Besprühen mit Phloroglucin-Salzsäure als grün gefärbte Zone. Daneben können gelb bis braun gefärbte Zonen vorkommen. Gehaltsbestimmung. Harpagosid wird mit Hilfe der HPLC (PhEur) unter Einsatz von octadecylsilyliertem Kieselgel (5 µm) als Säulenmaterial, Methanol–Wasser
23.3 Iridoide
(50:50) als mobile Phase und Methylcinnamat als internem Standard quantitativ bestimmt. Verwendung. Die geschnittene Droge unter Bezeich-
nungen wie Teufelskrallentee und Harpagotee zur Herstellung eines Infuses. Als Pulverdroge oder in Extraktform zur Herstellung von Phytopharmaka, die u. a. zur unterstützenden herapie der Osteoarthritis (vgl. Infobox „Osteoarthritis“) Verwendung inden. Infobox Osteoarthritis (Arthrose). Bei der im angloamerikanischen Sprachgebrauch als Osteoarthritis, im deutschsprachigen Raum meist noch als Arthrose bezeichneten Krankheit handelt es sich um eine degenerative Veränderung des Gelenkknorpels (Matrix bestehend aus Proteoglykanen, Kollagen, Chondrozyten), u. a. der Knie- (Gonarthrose), Hüft- (Coxarthrose) und der Fingergelenke, die Schmerzen verursacht und die Beweglichkeit einschränkt. Dabei werden übermäßig viel Zytokine wie Interleukin-1E und Tumornekrosefaktor D (TNFD) produziert. Diese stimulieren in den Chondrozyten die Expression lysosomaler Enzyme, die die Matrix des Gelenkknorpels abbauen. TNFD seinerseits stimuliert die Expression der Cyclooxygenase vom Typ 2 (COX-2) und die Lipoxygenase, die für die Synthese von Entzündungs- und Schmerzmediatoren (Leukotriene, Prostaglandine) verantwortlich sind. Ihre Synthese kann medikamentös gehemmt werden, u. a. durch Glucocorticoide und nichtsteroidale Antiphlogistika (NSAIDs). Als unterstützende Alternative kommen pflanzliche Präparate mit Teufelskrallenwurzel- und Weidenrindenextrakten ( > Kap. 26.2.1, S. 1151) in Frage.
Wirkung und Wirkungsmechanismus. Die Kommissi-
on E nennt als Wirkungen: Appetitanregend, choleretisch, antiphlogistisch, schwach analgetisch. In pharmakologischen Untersuchungen an bekannten Tiermodellen (Rattenpfotenödem, Granulombeutel der Ratte, Brennstrahltest u. a.) und in In-vitro-Modellen konnten für Gesamtextrakte von H. procumbens und H. zeyheri analgetische und antiphlogistische Wirkungen nachgewiesen werden. Die älteren tierexperimentellen Arbeiten ergaben widersprüchliche Resultate. Die Wirkung ist ofenbar vom Tiermodell, vom Applikationsort und dem gewählten Untersuchungsmaterial (wässriger, wässrig-alkoholischer Extrakt bzw. Reinstof Harpagosid) abhängig. Während bei i.p.- und i.v.-Applikation
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die Wirkung vergleichbar war mit derjenigen der getesteten Modellsubstanzen Indometacin, Phenylbutazon und Acetylsalicylsäure, ergab die p.o.-Applikation häuig negative Resultate. Die analgetische Wirkung ist schwächer als der antiphlogistische Efekt, weshalb Teufelkrallenextrakte weniger bei akuten als bei chronischen Entzündungsmodellen wirken. Verschiedentlich wurde der Einluss von Teufelskrallenwurzelextrakt in vitro auf den Arachidonsäuremetabolismus untersucht. Zwei Extrakte mit verschiedenen Harpagosidgehalten (7,3 und 2%) sowie Harpagosid hemmten konzentrationsabhängig die hromboxanbiosynthese (Cyclooxygenaseweg) und die Cysteinyl-Leukotrien-Biosynthese (5-Lipoxygenaseweg). Die Hemmung dieser Systeme scheint vom Harpagosidgehalt abhängig zu sein. Es konnte aber gezeigt werden, dass einzelne Extraktfraktionen einen stärkeren Hemmefekt aufweisen als Harpagosid. Ein Harpagophytumextrakt (60% Ethanol) hemmte ferner an primären humanen Monozyten dosisabhängig die durch Lipopolysaccharide (LPS) stimulierte Synthese von TNFD. Harpagid und Harpagosid allein zeigten bis zu einer Dosis von 10 µg/ml keinen Efekt (vgl. Übersichten von Wegener u. Winterhof 2001; Buechi u. Wegener 2002 und darin zitierte Literatur). Eine kürzlich erschienene Arbeit (Jang et al. 2003), bei der ein wässriger Teufelskrallenwurzelextrakt in verschiedenen (insbesondere molekularbiologischen) In-vitro-Testsystemen an der Fibroblastenzellline L929 der Maus untersucht wurde, ergab eine Unterdrückung der Prostaglandin-E2-(PGE2-)Synthese durch Hemmung des durch LPS-Stimulierung hervorgerufenen Anstieges der COX-2-Aktivität und der induzierbaren Nitroxid-Synthase-(iNOS-)Expression. PGE2 ist eine Schlüsselsubstanz im Entzündungsgeschehen. Bezüglich der Wirkstofe herrscht nach wie vor Unklarheit. Die meisten Resultate lassen vermuten, dass der Extrakt neben Harpagosid bisher unbekannte Substanzen enthält, die an der Wirkung mitbeteiligt sind. Gemäß Kaszkin et al. (2004) sind für die Hemmung der iNOS-Expression zwar Extrakte mit hohen Harpagosidgehalten erforderlich, allerdings genügt Harpagosid allein nicht für diesen Efekt. In Zukunt muss der Auindung der Wirkstofe mehr Beachtung geschenkt werden, damit eine vergleichende Bewertung verschiedener Extrakte möglich wird – ein Postulat das für eine ganze Reihe weiterer Planzenextrakte gleichermaßen gültig ist.
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Isoprenoide als Inhaltsstoffe
Metabolismus und Pharmakokinetik. Untersuchungen
mit künstlichem Magen- und Darmsat ergaben, dass Harpagosid bei einer Inkubationsdauer bis 90 min stabil bleibt. Daraus kann abgeleitet werden, dass die früher beobachtete Unwirksamkeit nach p.o-Gabe nicht auf der Instabilität des Extrakts bzw. Harpagosids (Hydrolyse bei saurem pH-Wert im Magen) beruhen kann, sondern mit dem verwendeten Untersuchungsmaterial in Zusammenhang stehen muss. Nach oraler Gabe von 600 mg Harpagophytumextrakt mit 7,3% Harpagosid konnten im Vollblut eines Probanden bereits nach 15 min Konzentrationen von 4 ng/ml Harpagosid gemessen werden. Das Blutspiegelmaximum lag nach 2 h bei 15,4 ng/ml. Eine weitere pharmakokinetische Studie ergab nach oralen Gaben von 600–1800 mg Extrakt eine maximale Hapagosid-Plasmakonzentration im Vollblut eines Probanden nach 1,3–2,5 h, die terminale Halbwertszeit (t1/2) war mit 3,7–6,4 h kurz. Plasmaspiegel waren erst ab einer Dosis von 50 mg Harpagosid messbar, was für einen Firstpass-Metabolismus spricht. Die erhaltenen Resultate sprechen für einen enterohepatischen Kreislauf, da nach 7 h ein zweiter Peak nachweisbar war (Loew et al. 1996, 2001). Anwendungsgebiete. Appetitlosigkeit, dyspeptische Be-
schwerden (1,5 g Droge/Tag); unterstützende herapie degenerativer Erkrankungen des Bewegungsapparates (4,5 g Droge/Tag) (Kommission E). Gemäß ESCOP sind die Indikationen: Symptomatische herapie der schmerzhaten Osteoarthritis (Arthrose), Linderung von Rückenschmerzen sowie bei Appetitlosigkeit und dyspeptischen Beschwerden. Die Anwendung bei Appetitlosigkeit und dyspeptischen Beschwerden beruht auf der Bitterwirkung der Iridoide. Die Anwendung bei rheumatischen Beschwerden und Arthrosen wird mit der analgetischen und antiphlogistischen Wirkung begründet. Insgesamt liegen mehr als 20 Publikationen (wässrige oder ethanolische Extrakte bzw. pulverisiertes Drogenmaterial) zu klinischen Studien vor. Die meisten wurden unkontrolliert oder ofen durchgeführt, einige neuere Studien entsprechen jedoch den heutigen Anforderungen an GCP-konforme Prüfdesigns. 11 der Studien wurden doppelblind, randomisiert und im Vergleich mit Plazebo (9) oder mit nichtsteroidalen Antiphlogistika [2, Diacerhein, Rofecoxib (Rofecoxib oder Vioxx wurde 2004 wegen erhöhter Anfälligkeit von Testpersonen auf Herzinfarkt und Schlaganfall vom Markt genommen)] durchgeführt. Die
Mehrzahl der Studien betraf die Indikationsgebiete Arthrose und degenerative Erkrankungen, Rückenschmerzen, Arthritiden. In den kontrollierten Studien zeigte sich gegenüber Plazebo eine deutliche Verbesserung des Schmerzes und der Beweglichkeit. Für eine optimale Wirkung ist eine herapiedauer von vier bis sechs Wochen zu empfehlen. Auf zwei Beispiele soll kurz eingegangen werden: In einer randomisierten, kontrollierten klinischen Studie konnte bei 4 Wochen dauernder, täglicher Einnahme eines Harpagophytumextrakts, der 50 mg Harpagosid/Tag enthielt, eine analgetische Wirkung bei Patienten mit akuten Rückenschmerzen festgestellt werden. Die Verumtherapie war der Plazebotherapie signiikant überlegen und gut verträglich. In einer weiteren, kürzlich publizierten GCPkonformen Studie im Indikationsgebiet Arthrosen wurde die Efektivität einer sukzessiven Reduktion der Ibuprofen-Tagesdosis während einer gleich bleibenden Dosierung mit einem alkoholischen Extrakt geprüt. Nach 20 Wochen zeigte sich eine herapie-Responderrate unter der Harpagophytum-Medikation von 71% gegenüber 41% unter Plazebo. Die Ergebnisse zeigen, dass eine analgetische und mobilitätsverbessernde Wirkung bereits nach einigen Wochen herapie erwartet werden kann, sodass die gleichzeitige Gabe von NSAIDs reduziert werden kann (für Details und weitere Beispiele vgl. Übersichten von Wegener u. Winterhof 2001; Buechi u. Wegener 2002; Chrubasic et al. 2003 und darin zitierte Literatur). Gemäß Chrubasik et al. ist die Qualität keiner der klinischen Studien ausreichend um eindeutige Empfehlungen für die herapie mit Teufelskrallenprodukten machen zu können. In Zukunt müssen größere, GCP-konforme klinische Studien über eine längere Periode und mit höheren täglichen Dosen durchgeführt werden. Der Evidenzgrad für die möglichen Indikationen ist gemäß Gagnier et al. (2004), die eine systematische Bewertung von 12 klinischen Studien durchgeführt haben, unterschiedlich. Hoch ist er nur für die Anwendung eines wässrigen Teufelskrallenwurzelextrakts mit einer Tagesdosis entsprechend 50 mg Harpagosid bei der Behandlung von Patienten mit einer akuten Verschlechterung chronischer Rückenschmerzen. Unerwünschte Wirkungen. In den publizierten klinischen Studien wird den eingesetzten Teufelskrallenpräparaten eine gute bis sehr gute Verträglichkeit bescheinigt. Unerwünschte Wirkungen waren gastrointestinale Beschwerden wie Übelkeit, Blähungen oder Durchfall.
23.3 Iridoide
! Kernaussagen
Teufelskrallenwurzelextraktpräparate wirken antiphlogistisch, schwach analgetisch und appetitanregend. Die Anwendung bei Appetitlosigkeit und dyspeptischen Beschwerden beruht auf der Bitterwirkung der Iridoide, diejenige bei rheumatischen Beschwerden und Arthrosen ( > Hinweis) auf der antiphlogistischen und analgetischen Wirkung. Über die Wirkstoffe herrscht Unklarheit. Neben Harpagosid sind weitere bisher unbekannte Substanzen an der Wirkung beteiligt. Klinische Studien ergaben, dass bei Verabreichung von Teufelskrallenwurzelextraktpräparaten die gleichzeitige Gabe von NSAIDs reduziert werden kann. Allerdings sind für eindeutige Empfehlungen für die Therapie größere GCP-konforme Studien über eine längere Periode und mit höheren täglichen Dosen notwendig.
Hinweis. Die klinische Wirksamkeit von Teufelskrallen-
wurzelextraktpräparaten zur herapie degenerativer Erkrankungen des Bewegungsapparates wird kontrovers diskutiert.
Spitzwegerich Herkunft. Spitzwegerichblätter (Plantaginis lanceolatae
folium PhEur 5) bestehen aus den getrockneten Blättern von Plantago lanceolata L. s.l. (Familie: Plantaginaceae [IIB23h]). Spitzwegerich ist in ganz Europa, Nord- und Mittelasien verbreitet. Die Planze hat schmal lanzettliche Blätter, die durch eine parallele Nervatur gekennzeichnet sind und eine Grundrosette bilden. Die Droge kommt heute hauptsächlich aus dem Anbau. Sensorische Eigenschaften. Leicht salziger und schwach
bitterer Geschmack. Inhaltsstoffe
x Iridoidglykoside (ca. 2–3%) mit Aucubin und Catalpol als Hauptsubstanzen (Formeln vgl. > Abb. 23.8), ferner Asperulosid, Globularin und Deacetylasperulosidsäuremethylester (Handjieva et al. 1991); x Phenylethanoidglykoside (3–8%) mit Verbascosid (= Acteosid) als Hauptglykosid (Formel vgl. > Abb. 26.13), daneben Cistanosid F, Lavandulifoliosid, Plantamajosid und Isoacteosid (Murai et al. 1995). Nach
x x x x
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PhEur = mindestens 1,5% Gesamt-o-Dihydroxyzimtsäurederivate, berechnet als Acteosid; Flavonoide mit Apigenin- und Luteolinglykosiden; Polysaccharide mit einem Rhamnogalacturonan, Rhamnoarabinogalactan, Arabinogalactan, Glucomannan u. a.; Phenolcarbonsäuren (p-Hydroxybenzoe-, Protocatechu-, Gentisinsäure u. a.); ferner Gerbstofe, Aesculetin (Cumarin), Loliolid (Xanthophyllabbauprodukt) u. a.
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität und Reinheit. DC-Nachweis
(PhEur) von Acteosid und Aucubin [Fließmittel: Essigsäure–wasserfreie Ameisensäure–Wasser–Ethylacetat (11:11:27:100); Referenzsubstanzen: Acteosid, Aucubin; Nachweis: Tageslicht, UV 365 nm]. Acteosid und Aucubin erscheinen im Tageslicht als gelbe bzw. blaue Zonen in der Höhe der Referenzsubstanzen. Nach Erhitzen der Platte auf 120 °C darf im UV bei 365 nm in der Untersuchungslösung keine leuchtend blau luoreszierende Zone genau unterhalb der rötlich braun luoreszierenden Zone des Aucubins (in der Referenzlösung) erscheinen (Test auf Verfälschung mit Blättern von Digitalis lanata). Gehaltsbestimmung. Die PhEur bestimmt den Gehalt an
o-Dihydroxyzimtsäurederivaten (berechnet als Acteosid) spektrophotometrisch bei 525 nm. Der Gehalt an Aucubin und Catalpol wird heute (falls erwünscht) mit der HPLC ermittelt (vgl. z. B. Rischer et al. 1998). Wirkungen. Spitzwegerichpräparate haben insbesondere
antibakterielle, entzündungshemmende, reizmildernde und immunmodulierende Wirkungen. Die antibakterielle Wirkung wird vom Aucubigenin hervorgerufen. Dieses entsteht unter Einwirkung von Enzymen der Darmlora bzw. von Säure (vgl. S. 818 und > Abb. 23.9). Entzündungshemmende Efekte konnten in einer Reihe von In-vitro-Untersuchungen mit in Spitzwegerich vorkommenden Iridoiden, Flavonoiden, Phenylethanoiden sowie mit Kafeesäurederivaten nachgewiesen werden [z. B. Hemmung von 5-Lipoxygenase und Proteinkinase C, Hemmung der Produktion des interzellulären Adhäsionsmoleküls 1 (ICAM-1)]. Spitzwegerichextrakte sowie die Reinsubstanzen Aucubin und einige Phenylethanoide (Verbascosid, Plantamajosid) zeigten auch in In-vivo-Testmodellen [Carrageenan-, TPA(12-O-Tetradecanoylphorbol-13-acetat)-, Arachidonsäure-induziertes
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Isoprenoide als Inhaltsstoffe
Mausohrödem] eine antiinlammatorische Wirkung. Plantagoluidextrakt-Lyophilisate sind im HET-CAM Test („hen’s egg chorioallantoic membrane test“) in einer zehnfach höheren Konzentration mit der Wirkung etablierter Antiphlogistika wie Hydrocortison, Phenylbutazon und Diclofenac-Na vergleichbar (vgl. dazu Marchesan et al. 1998; Wegener u. Krat 1999 und darin zitierte Literatur). In einem Ex-vivo-Bioadhäsionsassay an buccalen Membranen des Schweins konnten moderate konzentrationsabhängige Adhäsionsefekte an das Epithelgewebe und histologisch die Adsorption von Polysaccharidschichten auf der Membranläche nachgewiesen werden (Schmidgall et al. 2000). Verschiedene Inhaltsstofe (z. B. Aucubin, Phenolcarbonsäuren) zeigten an humanen peripheren mononuklearen Blutzellen (PBMC = „human peripheral blood mononuclear cells“) eine immunstimulierende Wirkung (Chiang et al. 2003). Schmidgall et al. leiten aus ihren Experimenten eine reizmildernde Wirkung, Chiang et al. eine Wirkung bei der Anwendung von Plantago-Präparaten zur Behandlung von Infektionskrankheiten ab. Wie weit diese Interpretation klinische Relevanz beanspruchen kann, muss ofen gelassen werden. Kontrollierte klinische Studien zum Wirkungsnachweis von Spitzwegerichzubereitungen liegen bisher nicht vor.
tern. Von den 5 Staubblättern sind die 3 kürzeren stark wollig behaart, die beiden längeren kahl. Die Droge stammt vorwiegend aus Kulturen.
Anwendungsgebiete. Spitzwegerichpräparate werden
Analytische Kennzeichnung. DC-Fingerprintchromato-
innerlich bei Katarrhen der Lutwege und entzündlichen Veränderungen der Mund- und Rachenschleimhaut sowie äußerlich bei entzündlichen Veränderungen der Haut verwendet (Kommission E). Die Volksmedizin kennt die äußerliche Anwendung des Presssates des frischen Krautes als wundheilendes, entzündungshemmendes Mittel.
gramm (PhEur) der Flavonoide [Fließmittel: Wasser–wasserfreie Ameisensäure–Ethylmethylketon–Ethylacetat (10:10: 30:50); Referenzsubstanzen: Kafeesäure, Hyperosid, Rutosid; Nachweis: Diphenylboryloxyethylamin/Macrogol 400]. Die Flavonoide werden nach dem Besprühen mit dem Reagens im UV bei 365 nm nachgewiesen. Die PhEur beschreibt verschiedene gelb, gelblichgrün, bläulich und grünlich luoreszierende Zonen, die nicht näher beschrieben werden.
Sensorische Eigenschaften. Geruch: süß und honigar-
tig.; Geschmack: süßlich und schleimig. Inhaltsstoffe
x Iridoidglykoside (0,13–0,56%) mit Aucubin, 6-O-Xy-
x x x x x x
lopyranosylaucubin, Catalpol, 6-O-Xylopyranosylcatalpol (Formeln vgl. > Abb. 23.8), Speciosid, Phlomoidosid u. a.; Phenylethanoidglykoside mit Verbascosid (Formel vgl. > Abb. 26.13), Arenariosid, Forsythosid B, Leucosceptosid B u. a.; Polysaccharide mit 1 Xyloglucan und 2 Arabinogalactanen; Triterpensaponine mit einer 13E,28-Epoxyoleanenstruktur ( > Abb. 23.12); Flavonoide (0,5–4%): Apigenin, Luteolin und ihre 7-O-Glucoside, Tamarixetin-7-O-glucosid und als Hauptglykosid Tamarixetin-7-O-rutinosid u. a.; Phenolcarbonsäuren, darunter Kafee-, Ferula-, Protocatechusäure; Sterole (E-Sitosterol, Stigmasterol), Digiprolacton u. a.
Königskerzenblüten, Wollblumen Wirkung und Anwendungsgebiete. Reizmildernd, exHerkunft. Wollblumen (Verbasci los PhEur 5) besteht aus
den getrockneten, auf die Kronblätter mit angewachsenen Staubblättern reduzierten Blüten von Verbascum thapsus L. (kleinblütige Königskerze), V. densilorum Bertol. (V. thapsiforme Schrad.; großblumige Königskerze) und V. phlomoides L. (gemeine Königskerze; Familie: Scrophulariaceae [IIB23i]). Die drei Königskerzenarten sind heimisch in fast ganz Europa, Kleinasien und Nordafrika. Die Planzen haben zahlreiche, gelbe, zu einer langen, aufrechten Ährentraube angeordnete, 5-zählige Blüten mit 2 kleineren oberen und 3 größeren unteren Blütenblät-
pektorierend, antibakteriell. Bei Katarrhen der Lutwege (Kommission E). Zur Wirkung vgl. auch unter Spitzwegerich (S. 829). Für wässrige Auszüge von Wollblumen (V. thapsiforme) wurde eine antivirale Wirkung gegen verschiedene Inluenza-Viren nachgewiesen. Der Wollblumenauszug ist in der Lage, die Wirkung von Amantadin, einem selektiven Hemmstof der Virusreproduktion, zu potenzieren (Serkedjieva 2000). Solange die dafür verantwortlichen Inhaltsstofe nicht bekannt sind, ist das therapeutische Potential von Wollblumen als Virustatikum nicht beurteilbar.
23.3 Iridoide
23
. Abb. 23.12
Wollblumen enthalten neben den charakteristischen Iridoidglykosiden (vgl. > Abb. 23.8) auch eine ganze Reihe von Saponinen. Bei der ersten bekannten Verbindung (Verbascosaponin) handelt es sich um ein neutrales, monodesmosidisches Triterpensaponin, das erstmals 1980 aus V. phlomoides isoliert worden ist. Entgegen früherer Annahme weist das Aglykon dieser Substanz nicht eine 11,12-Oleanen-, sondern eine 13β,28-Epoxyoleanenstruktur auf. Glykoside mit dieser Grundstruktur werden auch als Saikosaponine bezeichnet. Daneben wurden aus Handelsware von Verbasci flos (ohne Angabe der Stammpflanzen) auch Derhamnosylverbascosaponin sowie das 16-Hydroxyderivat des Verbascosaponins (= Verbascosaponin B; identisch mit Buddlejasaponin I) isoliert (Schröder u. Haslinger 1993). Aus V. thapsiforme konnten neben Verbascosaponin (identisch mit Mimengosid A, Ilwensisaponin A) und Derhamnosylverbascosaponin die Songarosponine C und D sowie Buddlejasaponin IV isoliert werden (Miyase et al. 1997). Für verschiedene Saikosaponine, u. a. für Buddlejasaponin I, konnte in verschiedenen In-vivo- und In-vitro-Modellen eine antiphlogistische Wirkung nachgewiesen werden (Benito et al. 1998). Zusätzlich kommen in Wollblumen auch Triterpensaponine mit einer 12,13-Oleanenstruktur (u. a. Verbascosaponin A; identisch mit Ilwensisaponin C) vor.
Schlüsselbegriffe Agni casti fructus Agnusid Arachidonsäurekaskade Arthrose Aucubin Augentrostkraut Casticin COX-2 Dyspeptische Beschwerden Ehrenpreiskraut Eisenkraut Euphrasia-Arten Euphrasiae herba Harpagophyti radix Harpagophytum procumbens Harpagophytum zeyheri
Harpagosid Hyperprolaktinämie Iridoidglykoside Katarrhe der Luftwege Königskerzenblüten Leukotriene Lipoxygenase Mastodynie Mönchspfefferfrüchte Osteoarthritis Phenylethanoide Plantaginis lanceolatae folium Plantago lanceolata Prämenstruelles Syndrom (PMS) Prostaglandine Spitzwegerichblätter
Stickstoffmonoxid Teufelskrallenwurzel Transkriptionsfaktor NF-NB Verbasci flos Verbascum-Arten Verbena officinalis Verbenae herba Veronica officinalis Veronicae herba Vitex agnus-castus Wirkungen (antiphlogistisch, appetitanregend, entzündungshemmend) Wollblumen Zytokine
831
832
23 23.3.3
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
Secoiridoidglykoside
Secoiridoidglykoside leiten sich formal von den Iridoidglykosiden ab, indem die Kohlenstof-KohlenstofBindung zwischen den Atomen C-7 und C-8 des Cyclopentanringes gespalten ist (vgl. > Abb. 23.7 und 23.13). Secoiridoidglykoside, wie Amarogentin, Gentiopicrosid oder Oleuropein, stellen in reiner Form farblose, optisch aktive Kristalle dar, die in Wasser – anders als die Iridoidglykoside – nur mäßig löslich sind. Einige Secoiridoidglykoside – insbesondere die pharmazeutisch interessanten Glykoside Amarogentin, Amaroswerin, Amaropanin, Centapicrin und Oleuropein – enthalten Phenolcarbonsäuren, die esterartig an die Glucose gebunden sind. Sie lassen sich nach Umsetzung mit Phenolreagenzien auf Chromatogrammen nachweisen oder nach Elution photometrisch quantitativ bestimmen (vgl. auch > Tabelle 23.2). Allgemein anwendbar ist die HPLC (Sticher u. Meier 1978, 1980), die allerdings zum Nachweis und zur Gehaltsbestimmung von Secoiridoidglykosiden in die Monographien der Arzneibücher bisher nicht Eingang gefunden hat. Metabolismus und Pharmakokinetik. Der Metabolismus
der Secoiridoidglykoside verläut analog wie bei den Iridoidglykosiden beschrieben (vgl. Kap. 23.3.2). Gentiopicrosid z. B. wird durch die menschliche Darmlora je nach vorhandenen Bakterienstämmen in verschiedene Metaboliten umgewandelt, u. a. in Gentiopicral (Gentiogenal), das antibakterielle, antifungale und Antitumorwirkungen hat (El-Sedawy et al. 1989a). Bei Swertiamarin ensteht bei der Einwirkung einzelner Bakterienstämme auch der
. Tabelle 23.3 Bitterwerte einiger Reinstoffe. (Nach Münzing-Vasirian 1974) Reinstoff
Bitterwert
Amarogentin
58.000.000
Amaroswerin
58.000.000
Amaropanin
20.000.000
Gentiopicrosid
12.000
Zum Vergleich: Brucin–HCI
3.000.000
Chinin–HCI
200.000
N-haltige Metabolit Gentianin (El-Sedawy et al. 1989b), bekannt als Artefakt bei der ammoniakalischen Aufarbeitung von Enziandroge. Wirkungen. Drogen mit Secoiridoidglykosiden ver-
wendet man aufgrund ihres intensiv bitteren Geschmackes (vgl. > Tabelle 23.3) als Bittermittel (vgl. Infobox „Bitterwirkung, Bitterwert“). Durch einen von den Geschmacksknospen der Zunge ausgehenden Relex führen sie zu verstärkter Sekretion von Speichel- und Magensat. Neben der Bitterwirkung sind für Secoiridoide ähnliche Wirkungen nachgewiesen worden wie für Iridoide (vgl. Kap. 23.3.2), u. a. antimikrobielle (antibakterielle, antifungale, antivirale), analgetische, antiphlogistische, antioxidative, hepatoprotektive, hypotensive Wirkungen (vgl. Übersicht von Ghisalberti 1998).
. Tabelle 23.2 Secoiridoidglykoside als Leitstoffe von Drogen. Der dünnschichtchromatographische Nachweis kann zur Identitätsprüfung der Droge herangezogen werden Stammpflanze (Familie)
Secoiridoidglykoside
Bitterkleeblätter (PhEur 5)
Arzneidroge
Menyanthes trifoliata L. (Menyanthaceae)
Dihydrofoliamenthin, Menthiafolin sowie Iridoide (z. B. Loganin)
Enzianwurzel (PhEur 5)
Gentiana lutea L. (Gentianaceae)
Gentiopicrosid, Amarogentin
Olivenblätter
Olea europaea L. (Oleaceae)
Oleuropein, Oleacein
Tausendgüldenkraut (PhEur 5, revidiert 5.5)
Centaurium erythraea RAFN s.l. einschließlich C. majus (H. et L.) ZELTNER und C. suffruticosum (GRISEB.) RONN. (syn.: Erythraea centaurium PERS.; C. umbellatum GILIB., C. minus GARS.) (Gentianaceae)
Swertiamarin, Gentiopicrosid, Swerosid, Centapicrin, Deacetylcentapicrin, Centaurosid
. Abb. 23.13
O
O
O
H
O
R1 OH O
H
O
O H
Glc
Swerosid
R2
O O
O C
HO
H
COOCH3
H
O 7
H
COOCH3
O
Reduktion 7-CHO → 7-CH2OH → Zyklisierung
OH
OR3 OH
Bitterstoffe der Gentianaceae HO
7
O
O 8
H3C
H
Loganin
O Glc
H
O
Glc
Secologanin
Oxidation 7-CHO → 7-COOH HO −
OOC
H
COOCH3 HO
O
O H
COOCH3
HO O H
O
H
O
Glc O Glc
Oleuropein, ein Bitterstoff der Olivenblätter
23
Schema der biosynthetischen Verwandtschaft zwischen Iridoiden (Loganin) und Secoiridoiden (Secologanin). Der Mechanismus der Ringöffnung zwischen C-7 und C-8 ist nicht im Detail bekannt. Oxidation am C-7 führt zu den Bitterstoffen des Ölbaumes; Reduktion und Lactonisierung zu den Bitterstoffen der Gentianaceen (vgl. Übersicht von Inouye 1991)
23.3 Iridoide
O
833
834
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
Infobox Bitterwirkung, Bitterwert. Die Geschmacksempfindung „bitter“ wird über die Geschmacksknospen empfunden. Diese befinden sich am Zungengrund. Bitterstoffe regen dort via Bitterrezeptoren reflektorisch über den Nervus vagus die Speichel- und Magensaftsekretion und damit den Appetit an. Im Magen bewirken sie zusätzlich eine vermehrte Ausschüttung des gastrointestinalen Gewebehormons Gastrin, das die Motorik des Magens und des Dünndarms und die Produktion von Galle und Pankreassaft stimuliert. Der Speisebrei wird besser verarbeitet und auch ausgewertet, dyspeptische Beschwerden (Völlegefühl, Luft, Druck und Schmerzen im Oberbauch, Übelkeit) werden verringert. Zu hohe Konzentrationen an Bitterstoffen können aber auch gegenteilige Effekte (Sekretionsund Appetithemmung) auslösen (Reher u. Stahl 1987; Seitz et al. 2005). Da die Bitterstoffe den verschiedensten chemischen Stoffgruppen angehören, erfolgt die quantitative Bitterwertbestimmung auf physiologischem Wege mit Hilfe des menschlichen Geschmackssinns. Das Prinzip besteht darin, die Verdünnungsreihe eines Bitterstoffs durchzutesten, bis bei einer Verdünnung ein deutlich bitterer Geschmack wahrnehmbar ist. Der Bitterwert ist gemäß PhEur 5 (2.8.15) definiert als der reziproke Wert jener Verdünnung einer Verbindung, einer Flüssigkeit oder eines Extrakts (ausgehend von 1,0 g), der eben noch bitter schmeckt. Zum Vergleich dient Chininhydrochlorid, dessen Bitterwert mit 200.000 festgesetzt wird. Die PhEur bestimmt den Bitterwert bei Bitterkleeblätter (mind. 3000), Enzianwurzel (mind. 10.000), Tausendgüldenkraut (mind. 2000) und Wermutkraut (mind. 10.000).
Erwähnenswert ist speziell die starke antioxidative Wirkung von Secoiridoidglykosiden mit einer phenolischen Partialstruktur wie z. B. Oleuropein (Le Tutour u. Guedon 1992; Visioli u. Galli 1994). Eine solche scheint aber auch für Gentiopicrosid vorhanden zu sein. Im CCl4- und Lipopolysaccharid/Bacillus-Calmette-Guérin(LPS-BCG-)induzierten Hepatitismodell zeigte Gentiopicrosid eine hepatoprotektive Wirkung. Während der protektive Efekt bei den durch CCl4-verursachten Leberschäden nicht erklärt werden kann, unterdrückte Gentiopicrosid im LPS-BCG-Modell den Anstieg des TNFD (Tumornekrosefaktor D) im Serum. Es wird angenommen, dass Gentiopicrosid dabei als Antioxidans wirkt (Kondo et al. 1994).
Oleacein, ein Secoiridoid aus Olea europaea, erwies sich als potenter ACE-Hemmer (Hansen et al. 1996). Während lange Zeit die hypotensive Wirkung der Olivenblätter allein dem Oleuropein zugeschrieben worden ist, muss heute davon ausgegangen werden, dass diese durch Substanzen mit verschiedenen Wirkmechanismen hervorgerufen wird. Neben Oleuropein und dem ACE-Hemmer Oleacein enthalten die Olivenblätter auch 3,4-Dihydroxyphenylethanol (Esterteil von Oleuropein und Oleacein), eine phenolische Substanz, die sich als Calciumantagonist erwiesen hat (Rauwald et al. 1994). Bei Oleacein und den weiteren iridoiden ACE-Hemmern Sambacein I-III, die aus Jasminum-Spezies isoliert worden sind, handelt es sich um Substanzen, die erst bei der Trocknung und Aufarbeitung des Planzenmaterials entstehen. Sie gehören mit IC50-Werten zwischen 26–36 Pmol/l zu den am stärksten wirkenden planzlichen ACE-Hemmern (Somanadhan et al. 1998).
Enzianwurzel Herkunft. Enzianwurzel (Gentianae radix PhEur 5) be-
steht aus den getrockneten, zerbrochenen unterirdischen Organen von Gentiana lutea L. (gelber Enzian; Familie: Gentianaceae [IIB22b]). Der gelbe Enzian ist eine bis 140 cm hohe Staude mit gegenständigen Blättern, gelben, in den oberen Blattachseln stehenden Blüten und einer mehrköpigen bis armdicken Pfahlwurzel. Die Planze ist heimisch in den alpinen Regionen und in höheren Mittelgebirgen Süd- und Mitteleuropas sowie Kleinasiens. Der gelbe Enzian steht in verschiedenen europäischen Ländern unter Naturschutz und wird deshalb heute zur Drogengewinnung z. T. angebaut; z. T. wird die Wurzel nach wie vor in Frankreich, Spanien und den Balkanländern im Frühjahr von wildwachsenden Planzen gegraben und möglichst rasch, ohne dass fermentative Prozesse in Gang kommen, getrocknet. Als Drogenlieferanten kommen auch andere Gentiana-Arten in Frage, die früher in einzelnen Arzneibüchern oizinell waren. Wegen ihrer geringeren Wurzelmasse spielen sie allerdings keine große Rolle: x G. asclepiadea L., der Schwalbenwurzenzian; blaublühend; heimisch in den gebirgigen Teilen Mittel- und Osteuropas sowie in Vorderasien; x G. pannonica Scop., der Ungarische Enzian; Blüten dunkelpurpurn mit schwarzen Punkten; in den Ostalpen vorkommend;
23
23.3 Iridoide
. Abb. 23.14
O
O
O
O
R1
R1
R2
R3
H OH H H OH H H
H H A B B C C
H H H H H D H
O
O H
Swerosid Swertiamarin Amaropanin Amarogentin Amaroswerin Centapicrin Deacetylcentapicrin
O
O Glc
3'''
O
Gentiopicrosid HO
OH
OH
H
2'
OR2
3'
OH 5''
A
B
OR OH 3
C O
2''
C
3''
O
OH
OH
O C C
D
OCCH3
OH
Übersicht über die Bitterstoffe der Gentianaceendrogen Gentianae radix und Centaurii herba. Hauptkomponente in den Wurzeln der Enzianarten ist das Gentiopicrosid und im Tausendgüldenkraut das Swertiamarin. Daneben kommen neben weiteren ähnlichen Secoiridoidglykosiden Swerosid- und Swertiamarinester vor, bei denen das 2-OH der Glucose mit aromatischen Carbonsäuren (Dihydroxy- bzw. Trihydroxydiphenylcarbonsäure, m-Hydroxybenzoesäure) verestert ist. Centapicrin ist zusätzlich am 3-OH acetyliert. Die Esterbitterstoffe Amarogentin, Amaroswerin, Amaropanin, Centapicrin und Deacetylcentapicrin haben im Vergleich mit den Nichtestern einen erheblich höheren Bitterwert (vgl. > Tabelle 23.3). Der Bitterwert der Drogen wird deshalb durch den Gehalt an Esterbitterstoffen bestimmt
x G. punctata L., der Tüpfelenzian; Blüten hellgelb mit schwarzbraunen Punkten; heimisch in den Alpen der Schweiz und Österreichs; x G. purpurea L., der Purpurenzian; Blüten innen gelblich und außen purpurrot mit Punkten; in den Alpen Frankreichs, der Schweiz und Österreichs vorkommend. Sensorische Eigenschaften. Die Droge hat einen charak-
teristischen Geruch und schmeckt anhaltend stark bitter. Der Bitterwert beträgt mindestens 10.000 (PhEur).
meren Secoiridoide (S)-(+)- und (R)-(–)-Gentiolacton (Kakuda et al. 2003); x Xanthonderivate (etwa 0,25%; > Abb. 23.15); x Zucker, darunter das schwach bitter schmeckende Trisaccharid Gentianose (2,5–5%), das beim Trocknen der Wurzel durch Abspaltung des Fructoseteils in die stärker bitter schmeckende Gentiobiose übergeht (Gehalt 1–8%). Abspaltung der endständigen Glucose führt zur süß schmeckenden Saccharose, die ebenfalls in der Enzianwurzel vorkommt; x Polysaccharide, Phytosterole, Triterpene, mineralische Bestandteile (etwa 8%).
Inhaltsstoffe
x Secoiridoidglykoside (2–4%) mit Gentiopicrosid (ca. 2,5%) als Hauptkomponente neben wenig Amarogentin (0,025–0,04%; > Abb. 23.14), ferner die 2 enantio-
In den Wurzeln der anderen Enzianarten kommen zusätzlich Varianten des Amarogentins vor wie Amaroswerin und Amaropanin (vgl. > Abb. 23.14).
835
836
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.15 O
anderer Gentiana-Arten). Zum Nachweis des Amarogentins eignet sich auch das Fließmittelgemisch Ethylacetat– Methanol–Wasser (77:15:8; vgl. Wagner u. Bladt 1996).
OH
R2O
OR1
O
Gentisin (R1 = CH3; R2 = H) Isogentisin (R1 = H; R2 = CH3) Gentiosid (R1 = Primverosyl; R2 = CH3) OR
O
1
8
H3CO
OH
7 3
H3CO
6 5
O
OCH3
OCH3 Eustomin (R = CH3) Demethyleustomin (R = H)
Einige der in Gentianaceen vorkommenden Xanthone. Die aus den Wurzeln des gelben Enzians isolierten Xanthone sind alle in 1-, 3- und 7-Stellung oxidiert. Es handelt sich um zuckerfreie (Gentisin, Isogentisin u. a.) oder um glykosidierte (Gentiosid u. a.; Primverosylrest = β-D-Xylopyranosyl(1o6)-β-D-Glucopyranose)-Verbindungen. Sie stellen, in reiner Form isoliert, gelb gefärbte Kristalle dar (λmax = 410 nm). Die zuckerfreien Xanthone sind sublimierbar. Die früher übliche Mikrosublimation (Xanthone ergeben gelbe Nadeln, in KOH-Lösung mit intensiv goldgelber Farbe) ist nicht zur Identitätsprüfung für Gentiana lutea L. geeignet, kann aber zur Reinheitsprüfung verwendet werden (gelegentlich vorkommende Verfälschungen mit Rumex alpinus L.; Sublimat färbt sich mit KOH rot)
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität und Reinheit. DC-Nachweis von
Amarogentin und Gentiopicrosid (PhEur) [Fließmittel: Wasser–wasserfreie Ameisensäure–Ameisensäureethylester (4:8:88); Referenzsubstanzen: Phenazon, Hyperosid; Nachweis UV 254 nm sowie Kaliumhydroxid- und Echtblausalz-B-Reagens]. Die Zone des Amarogentins färbt sich nach dem Besprühen mit den beiden Reagenslösungen violettrot (Echtblausalz B ist ein Diazoniumsalz; es reagiert mit dem phenolischen Diphencarbonsäureteil von Amarogentin). Unmittelbar über der Amarogentinzone dürfen keine violetten Zonen autreten (Nachweis
Gehaltsbestimmung. Die PhEur bestimmt nur den Extraktgehalt (mindestens 33%). Die Gehaltsbestimmung der Secoiridoidglykoside erfolgt am besten mit der HPLC (Sticher u. Meier 1980). Verwendung. Nur zur oralen Anwendung bestimmte Formen, und zwar am besten in gewürzten, wohlschmeckenden Mischungen, deren Geschmack zur Auslösung einer Relexsekretion beitragen kann. Zur Herstellung von Enziantinktur (PhEur 5) und von Enziantrockenextrakt (Helv 10). Wirkungen. Die Bitterstofe führen über eine Stimulierung der Geschmacksrezeptoren relektorisch zur Anregung der Speichel- und Magensatsekretion. Nach Gebhardt (1997) stimuliert der wässrige Enzianextrakt die Säureproduktion durch die gastrale Mukosa direkt, während die Stimulierung der Geschmacksrezeptoren nur von untergeordneter Bedeutung ist. Anwendungsgebiete. Verdauungsbeschwerden wie Ap-
petitlosigkeit, Völlegefühl, Blähungen (Kommission E, ESCOP). Unerwünschte Wirkungen. Gelegentlich können bei emp-
indlichen Personen Kopfschmerzen ausgelöst werden. Gegenanzeigen. Magen- und Zwölingerdarmgeschwüre. Neigung zur Magenübersäuerung.
! Kernaussagen
Die Gentianaceenesterbitterstoffe vom Typ des Amarogentins haben einen Bitterwert von 58 Millionen und sind damit die am stärksten bitter wirkenden Naturstoffe. Es handelt sich um Secoiridoidglykoside, bei denen das 2-OH der Glucose mit aromatischen Carbonsäuren verestert ist. Zur Anwendung gelangen nur p.o zu verabreichende Arzneiformen. Obwohl die Wurzeln anderer Enzianarten höhere Bitterwerte aufweisen, sind sie von der PhEur nicht zugelassen. In der Praxis spielen sie wegen ihrer geringen Wurzelmasse keine große Rolle.
23
23.3 Iridoide
Tausendgüldenkraut
Anwendungsgebiete. Bei Appetitlosigkeit und dyspeptischen Beschwerden (Kommission E, ESCOP).
Herkunft. Tausendgüldenkraut (Centaurii herba PhEur 5,
revidiert 5.5) besteht aus den getrockneten oberirdischen Teilen blühender Planzen von Centaurium erythraea Rafn s.l. einschließlich C. majus (H. et L.) Zeltner und C. suffruticosum (Griseb.) Ronn. (syn.: Erythraea centaurium Pers.; C. umbellatum Gilib., C. minus Gars.); Familie: Gentianaceae [IIB22b]). Bei C. erythraea handelt es sich um ein 2-jähriges Kraut mit 5-zähligen rosaroten Blüten, das in Europa heimisch, in Nordamerika eingebürgert ist.
Bitterkleeblätter Herkunft. Bitterkleeblätter (Menyanthidis trifoliatae foli-
um PhEur 5) bestehen aus den getrockneten Blättern von Menyanthes trifoliata L. (Familie: Menyanthaceae [IIB28a]), einer ausdauernden, in Europa heimischen Sumpfplanze mit 3-teiligen Blättern.
Sensorische Eigenschaften. Geruch: schwach eigenartig.
Sensorische Eigenschaften. Bitterkleeblätter sind ge-
Geschmack: stark bitter. Der Bitterwert beträgt mindestens 2000 (PhEur).
ruchlos und schmecken stark bitter. Der Bitterwert beträgt mindestens 3000 (PhEur).
Inhaltsstoffe
Inhaltsstoffe
te, bis über 5%; Nikolova-Damyanova u. Handjieva 1996), daneben Gentiopicrosid und Swerosid, neben wenig Centapicrin, Deacetylcentapicrin (vgl. > Abb. 23.14) und Centaurosid (vgl. Übersicht von Schimmer u. Mauthner 1994); x polymethoxylierte Xanthone, darunter Eustomin und Demethyleustomin (vgl. > Abb. 23.15); ferner x Flavonoide, Phenolcarbonsäuren, Triterpene, Phytosterole, Cumarine, hydroxylierte Terephthalester u. a.
komponente) und Menthiafolin ( > Abb. 23.16), daneben das Iridoidglykosid Loganin (Formel vgl. > Abb. 23.13; Junior 1989). Je nach Jahreszeit können Bitterkleeblätter weitere Iridoide und Secoiridoide enthalten; ferner x Flavonoide, Cumarine, Phenolcarbonsäuren, Gerbstofe, Triterpene u. a.
x Secoiridoidglykoside Swertiamarin (Hauptkomponen-
Analytische Kennzeichnung. DC-Nachweis (PhEur) von
Swertiamarin [Fließmittel: Wasser–wasserfreie Ameisensäure–Ethylformiat (4:8:88); Referenzsubstanzen: Rutosid, Swertiamarin; Nachweis: UV 254 nm, Anisaldehydreagens]. Die Zone des Swertiamarins ist im UV 254 nm stark Fluoreszenz mindernd und färbt sich nach Besprühen mit Anisaldehydreagens im Tageslicht braun. Valentão et al. (2002) schlagen vor, bei der qualitativen und quantitativen Analyse die methoxylierten Xanthone nachzuweisen, da Swertiamarin kein exklusiver Marker für Tausendgüldenkraut darstellt. Wirkungen. Analog wie Enzian zur Steigerung der Magen-
sat- und Speichelsekretion. Untersuchungen an verschiedenen Tiermodellen ergaben bei einem wässrigen Extrakt entzündungshemmende und antipyretische Wirkungen (Berkan et al. 1991). Für diesen Efekt sind polare Substanzen verantwortlich, deren Identität noch nicht bekannt ist. Daraus kann die in der Volksmedizin übliche äußerliche Anwendung zur Wundheilung abgeleitet werden.
x Secoiridoidglykoside Dihydrofoliamenthin (Haupt-
. Abb. 23.16 HO RO
O
O
6''
Z
OH
OH O
H
O
Glc
CH2
R
R O Dihydrofoliamenthin
O Menthiafolin
Die Secoiridoide der Menyanthaceendroge Bitterkleeblätter zeichnen sich z. T. gegenüber den Gentianaceenbitterstoffen (vgl. > Abb. 23.13, 23.14) dadurch aus, dass sie eine zweite Monoterpeneinheit in Form einer Monoterpencarbonsäure in Esterbindung mit dem Secoiridoidgrundgerüst aufweisen. Die Monoterpencarbonsäure von Dihydrofoliamenthin besitzt an der ∆6”-Doppelbindung Z-Konfiguration und leitet sich formal vom Nerol ab (Junior 1989)
837
838
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
Analytische Kennzeichnung. DC-Fingerprintchromato-
gramm (PhEur) [Fließmittel: Ethylacetat–Methanol–Wasser (77:15:8); Referenzsubstanz: Loganin; Nachweis: Vanillin-Schwefelsäure-Reagens. Die PhEur beschreibt Zonen für die Iridoide/Secoiridoide ohne nähere Charakterisierung.
haltsstofe Loganin und Dihydrofoliamenthin) ergab eine PAF-antagonistische Aktivität sowie eine Hemmung der LTB4-Synthese. Die damit postulierte entzündungshemmende Wirkung wird zur Erklärung der in der schwedischen Volksmedizin gebräuchlichen Anwendung zur Behandlung von Glomerulonephritis herangezogen (Tunón et al. 1994).
Wirkungen. Analog wie Enzian zur Förderung der Ma-
gensat- und Speichelsekretion. Eine Studie mit einem Heißwasserextrakt von Bitterkleeblattrhizom (Hauptin-
Anwendungsgebiete. Als Bittermittel bei Appetitlosigkeit und dyspeptischen Beschwerden (Kommission E).
Schlüsselbegriffe ACE-Hemmer Amarogentin Bitterkleeblätter Bitterwirkung, Bitterwert Centaurii herba Centaurium-Arten
23.3.4
Enzianwurzel Gentiana lutea Gentianae radix Gentiopicrosid Menyanthes trifoliata Menyanthidis trifoliatae folium
Nichtglykosidische Iridoide
Bei den nichtglykosidischen Iridoiden handelt es sich um Aldehyde, Alkohole, Lactone, aber auch um Monoterpenalkaloide ( > Abb. 23.17). Sie kommen in höheren Planzen, und z. T. bei Tieren vor. Iridomyrmecin z. B. wurde aus der argentinischen Ameise Iridiomyrmex humilis Mayr isoliert; es ist der wirksame Bestandteil des Abwehrsekrets. Die Substanz weist einen aromatischen, an die Katzenminze erinnernden Geruch auf und wirkt insektizid und antibakteriell. Nepetalacton ist der Hauptbestandteil des durch Destillation mit Wasserdampf gewonnenen ätherischen Öles der Katzenminze, Nepeta cataria L. (Familie: Lamiaceae [IIB23d]). Der Geruch lockt Katzen und Feliden (katzenartige Raubtiere) an. Die erregende Wirkung kommt aber nur zustande, wenn die Substanz über die Einatmungslut auf die Geruchsrezeptoren einwirkt; nach p.o.-Zufuhr oder nach i.p.-Applikation bleiben die typischen Zeichen der Erregung aus. Nepetalacton wirkt antiviral und antibakteriell. Während viele nichtglykosidische Iridoide als Signalstofe (Pheromone) von biologischer Bedeutung sind, sind nur wenige von pharmazeutischem Interesse. Zu nennen sind z. B. Allamandin, ein Iridoidlacton aus Allamanda cathartica L. (Familie: Apocynaceae [IIB22c]) mit antileukämischer Wirkung, die Valepotriate, Triester aus Valeriana-Arten (vgl. Abschn. Baldrianwurzel) sowie Oleacein, ein Secoiridoid aus Olea europaea L. (vgl. Abschn. 23.3.3).
Oleuropein Secoiridoidglykoside Tausendgüldenkraut Wirkungen (hypotensiv, Bittermittel)
Baldrianwurzel Herkunft. Baldrianwurzel (Valerianae radix PhEur 5) besteht aus den getrockneten unterirdischen Teilen – Wurzelstock, Wurzeln und Ausläufern – von Valeriana oicinalis L. s.l. (Familie: Valerianaceae [IIB26b]). Baldrian ist ein mehrjähriges, in Europa und Asien heimisches, 30– 150 cm hoch wachsendes Kraut. Von einem kurzen, vertikalen Rhizom entspringen nach allen Richtungen zahlreiche Faserwurzeln. Im Frühjahr entwickelt sich zunächst eine Rosette grundständiger, unpaarig geiederter Laubblätter, im Sommer dann Stängel, deren Nodien dekussierte, unpaarig geiederte Laubblätter tragen; die hellrosa, seltener weißen Blüten sind zu rispigen Trugdolden vereinigt. Die kleine Einzelblüte besteht aus der 5-zähligen, leicht asymmetrischen Krone, 3 Staub- und 3 Fruchtblättern, wovon aber nur eines fertil ist. Stammpflanze. Die PhEur fasst Valeriana oicinalis als Sammelart auf; darauf weisen die Buchstaben s.l. (sensu latiore) hin. Dies hat folgenden Hintergrund: Die in der Art zusammengefassten Populationen sind morphologisch und zytologisch ziemlich unterschiedlich, sodass man mehrere Kleinarten unterscheidet: Valeriana sambucifolia, V. procurrens, V. collina, V. exaltata und V. pratensis. Maßgeblich für diese Untergliederung sind Verbreitungsgebiet, Ansprüche an Boden und Klima, morphologische Merkmale wie Wuchshöhe, Anzahl der
23.3 Iridoide
23
. Abb. 23.17 H
R1 R 2
H
O O
H3C
H3C
H
Actinidin
HO
COOCH3
H
COOCH3 OH
O
O
HO
H
O
O O
CHO
H
OH
CHO O
Genipin
H3C
O
Nepetalacton
Iridomyrmecin (R1 = H; R2 = CH3) Isoiridomyrmecin (R1 = CH3; R2 = H)
H CH2OH
N
O
H
H
CH3
CH3
CH3
CH3 Allamandin
Oleacein
Beispiele von nichtglykosidischen Iridoiden. Es handelt sich um lipophile Substanzen wie Iridodial (Grundkörper der Iridoide, vgl. Abschn. 23.3.1 und > Abb. 23.7), Iridomyrmecin, Nepetalacton, Actinidin und Allamandin. Einige stabile Aglykone von Iridoidglykosiden wie das Genipin und die Valepotriate (Abschn. 23.3.4, > Abb. 23.18) sowie das Secoiridoidaglykon Oleacein (vgl. Abschn. 23.3.3) gehören auch zu dieser Gruppe
Fiederblättchen pro Blatt sowie Frucht- und Blütengröße; ferner zytologische Merkmale: als octaploid erwiesen sich V. sambucifolia und V. procurrens (2 n = 56), als tetraploid V. collina (2 n = 28), als diploid V. exaltata (2 n = 14). So wichtig die Untergliederung der Sammelart V. oficinalis auch sein mag, z. B. für den Züchter, pharmazeutisch hat sie so lange keine Relevanz, wie sie nicht eindeutig mit signiikanten Unterschieden im Wirkstofgehalt korreliert ist. Es existieren heute Zuchtsorten mit hohen Gehalten an ätherischem Öl, Valerensäuren bzw. Valepotriaten. Drogengewinnung. Die Droge stammt zum größten Teil aus Kulturen. Bedeutende Anbaugebiete beinden sich in Belgien, Holland, Polen, Ungarn, Rumänien sowie in Deutschland insbesondere in hüringen. Auch in anderen Ländern (Russland, Japan, USA) wird Baldrian angebaut. Zur Ernte, die im Herbst oder auch im Frühjahr erfolgt, werden die Wurzelstöcke ausgeplügt, aufgelesen, gut abgeklopt und vom Kraut durch Abdrehen mit der Hand
befreit. Die Rhizome schneidet man häuig der Länge nach in 2 Hälten: dadurch lässt sich die besonders auch im Rhizomkopf hatende Erde besser entfernen. An das mechanische Reinigen schließt sich ein Waschvorgang an, z. B. durch Abspritzen mit dem Schlauch oder in speziellen Anlagen. Alle diese Prozeduren müssen hinreichend intensiv erfolgen, um keinen zu hohen Anteil an mineralischer Substanz in die spätere Handelsware gelangen zu lassen (nach PhEur beträgt der zulässige Aschehöchstgehalt 12,0%), jedoch darf das Erntegut nicht durch zu intensives Wässern ausgelaugt werden. Das sich anschließende Trocknen ist für die chemische Zusammensetzung der späteren Handelsdroge wichtig. Wenn Baldrian bei nicht zu hohen Temperaturen (30–45 °C) getrocknet wird, erreicht man zweierlei: einmal, dass ein möglichst hoher Anteil an thermolabilen und lüchtigen Inhaltsstofen erhalten bleibt; zugleich aber, dass enzymatische Prozesse ablaufen können, die der Droge das bekannte dunkle Aussehen verleihen. Zugleich entwickelt sich das für Baldrian typische Baldrianaroma.
839
840
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.18
R2O
CH2OR3
R4 R2O
7 1
O
Valtrat Isovaltrat 1α-Acevaltrat 7β-Acevaltrat
H3C
H
O
O
R3
R1
R2
R3
R4
Iv Iv α-Aiv Iv
Iv Ac Iv β-Aiv
Ac Iv Ac Ac
Didrovaltrat Iv IVHD-Valtrat Iv
Ac Ac
Iv 2-Iiv
H OH
OCOCH3
HC CH
α-Aiv = α-Acetoxyisovaleryl
H3C
H3COCO
C CH2 CO
H3C
O
HC CH2 C H3C
H3C
CO
Iv = Isovaleryl
Ac = Acetyl
OR1
R2
H3C
CO
H
R1
H3C
H3C
O
OR1
H3C
HC CH2 CO
CH2OR3
β-Aiv = β-Acetoxyisovaleryl
H3C O
CH
CH3
CH CO
2-Iiv = 2-(Isovaleroxy)-isovaleryl
Die Valeriana-officinalis-Wurzel enthält ein Gemisch von Valepotriaten, das hauptsächlich aus Valtrat und Isovaltrat im Verhältnis 1:1–1:4 besteht (Bos 1997). Didrovaltrat, Acevaltrat [Gemisch aus 1α- und 7β-Acevaltrat (Lin et al. 1991)] und IVHD-Valtrat treten neben weiteren Substanzen nur in kleiner Konzentration auf. Bei den Valepotriaten handelt es sich um nichtglykosidische Iridoide, bei denen die halbacetalische sowie 2 weitere OH-Gruppen mit Isovaleriansäure und anderen Säureresten verestert sind. Von dieser Triesterstruktur in Verknüpfung mit dem Epoxidring leitet sich die Gruppenbezeichnung her (Valeriana-Epoxy-Triester). Die chemische Struktur der Valepotriate kann in einen Dien- (Valtrat, Isovaltrat, Acevaltrat) und einen Monoentyp (Didrovaltrat, IVHD-Valtrat) unterteilt werden. Heute sind über 20 Valepotriate und über 10 nahe verwandte Strukturen ohne Epoxidring bekannt
Sensorische Eigenschaften. Geruch: durchdringend nach Isovaleriansäure mit an Campher erinnernder Beinote [charakteristischer Geruch (PhEur)]. Geschmack: süßlich mit einem schwach bitteren Nachgeschmack. Frisch gegrabener Baldrian ist geruchlos. Die Biochemie der Aromastobildung ist nicht untersucht. Man vermutet, dass Umlagerungsreaktionen, an denen die Valepotriate beteiligt sind, eine Rolle spielen (vgl. > Abb. 23.19). Verseifungsreaktionen unter Bildung freier Isovaleriansäure, Isocapronsäure und Buttersäure könnten mit zu-
nehmender Lagerdauer den unangenehmen Geruch der überalterten Droge bedingen. Zu bedenken ist außerdem, dass die Droge einen relativ hohen Gehalt an langkettigen Fettsäuren aufweist, die den bekannten oxidativen Veränderungen unterliegen. Inhaltsstoffe
x Iridoide: Esteriridoide [= Valepotriate (0,8–1,7%; vgl. Bos 1997; > Abb. 23.18 u. 23.19)] und das Iridoidglykosid Valerosidatum (bis 1,5%; Formel vgl. > Abb. 23.8);
23.3 Iridoide
. Abb. 23.19 Valtrat Isovaltrat Acevaltrat
23
CH2OCOCH3 +
H
Lagerung
O CHO Baldrinal Polymerisate CH2OCOCH2CH(CH3)2
+
IVHD-Valtrat
H
Lagerung
O CHO Homobaldrinal
Bei den Valepotriaten handelt es sich um instabile Substanzen. Sie sind thermolabil und werden unter Säure- bzw. Alkalieinfluss sowie in alkoholischen Lösungen leicht abgebaut. Neben Valerian- und Isovaleriansäure sind die Hauptabbauprodukte undefinierte Polymerisate. Daneben können sich geringe Mengen Baldrinale bilden. Die Baldrinale unterscheiden sich von den Valepotriaten durch den Ersatz der Epoxidgruppe durch eine Aldehydgruppe und durch die Elimination von 2 der 3 Esterseitenketten (Positionen 1 und 7) unter Ausbildung von 2 Doppelbindungen. In den üblichen galenischen Zubereitungen und Fertigarzneimitteln des offizinellen Baldrians sind die Valepotriate nicht mehr enthalten, sodass sie als Wirkstoffe nicht in Frage kommen (Hölzl 1996). Physiologisch werden die Valepotriate rasch in die Baldrinale umgewandelt, die durch Glucuronidierung bzw. Sulfatierung metabolisiert werden (Dieckmann 1988)
x ätherisches Öl [0,5–2,0% (vgl. Bos 1997; PhEur = min-
x
x x x x x
destens 5 ml u kg–1 für die ganze und 3 ml u kg–1 für die geschnittene Droge)], mit hauptsächlich Monound Sesquiterpenen, daneben kurzkettige Carbonsäuren wie Essig-, Valerian-, Isovalerian- und Myristicinsäure sowie Ester dieser Säuren mit Eugenol, Isoeugenol, (–)-Borneol u. a. ( > Abb. 23.20); Schwer lüchtige Sesquiterpencarbonsäuren (0,05– 0,9%; Bos 1997; PhEur = mindestens 0,17% Sesquiterpensäuren, berechnet als Valerensäure): Valerenund Acetoxyvalerensäure, daneben (–)-3E,4E-Epoxyvalerensäure und wenig Hydroxyvalerensäure ( > Abb. 23.21); Mono- und Diepoxylignane ( > Abb. 23.22); Flavonoide (6-Methylapigenin, 2S(–)-Hesperidin (Marder et al. 2003); Phenolcarbonsäuren (Chlorogen-, Kafee-, Isoferulasäure); Aminosäuren, darunter Arginin, Glutamin und GABA (J-Aminobuttersäure); Alkaloide vom Monoterpentyp [0,01–0,1%; z. B. Actinidin (Formel vgl. > Abb. 23.17]. Bei den Monoter-
penalkaloiden handelt es sich wahrscheinlich um Artefakte; ferner x freie Fettsäuren (Öl-, Stearin-, Linol-, Linolen-, Behen- und Arachidonsäure); x Kohlenhydrate, darunter Stärke sowie hohe Anteile an Glucose (1,5%), Fructose (1%), Saccharose (5%) und Rainose (3%). Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Nachweis (PhEur) der Va-
leren- und Hydroxyvalerensäure (nach Verseifung der Acetoxyvalerensäure mit KOH) [Fließmittel: Essigsäure 99%–Ethylacetat–Hexan (0,5:35:65); Referenzsubstanzen: Fluorescein, Sudanrot G; Nachweis: Anisaldehydreagens). Das Chromatogramm der Untersuchungslösung zeigt die violettblaue Zone der Hydroxyvalerensäure und die violette Zone der Valerensäure in der Höhe des Fluoresceins bzw. von Sudanrot G im Chromatogramm der Testlösung. Der Nachweis der Valerensäurederivate, aber auch der Valepotriate, erfolgt heute in einem Run am einfachsten mit der HPLC (Bos et al. 1996).
841
842
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.20 CH3
CH3
CH3
CH3 O
CH3
CH3
CH3
Valeranon H
OH
CH3
CH3
OH
Valerianol CH3
H
O
CH3 CH3
CH3
Cryptofauronol CH3 H3C
CH3 CH3
H3C
H3C
CH3 CHO
Valerenal
CH3 OR
CH2OR
Bornylacetat (R = Acetyl) Bornylisovalerat (R = Isovaleryl)
R H COCH3 COCH2CH(CH3)2 CO(CH2)3CH3 COC5H11
Valerenol E-Valerenylacetat E-Valerenylisovalerat Valerenylvalerat Valerenylhexanoat
Im ätherischen Öl der Baldrianwurzel sind bisher über 150 Substanzen (hauptsächlich Mono- und Sesquiterpene) nachgewiesen worden. Es handelt sich dabei um azyklische, monozyklische und bizyklische Kohlenwasserstoffe, Alkohole, Aldehyde, Ester, Ketone, Phenole und Oxide. Die Zusammensetzung des Öles hängt sehr stark von der Herkunft des Pflanzenmaterials (Genotyp, Bodenbeschaffenheit, Klima) sowie der Gewinnungsmethode (frisches oder getrocknetes Pflanzenmaterial, Extraktion, Destillation) ab. Es können 4 Chemotypen unterschieden werden: Valeranon-, Valerianol-, Cryptofauronol- und Valerenaltyp (Bos 1997). Erwähnenswert ist insbesondere das Vorkommen von charakteristischen flüchtigen Cyclopentansesquiterpenen wie Valerenal, Valerenol und weitere. Hauptkomponenten des ätherischen Öls sind meist Bornylacetat und Valerianol. Borneol liegt in der rechtsdrehenden (1R-endo)-Konfiguration vor. (+)-(1R-endo)Bornylisovaleriansäureester ist bei Raumtemperatur eine ölige Flüssigkeit mit dem typischen, unangenehmen Geruch der Baldriandroge; der Geschmack ist campherähnlich
Gehaltsbestimmung. Die PhEur bestimmt den Gehalt an
ätherischem Öl. Danben werden die Sesquiterpensäuren mit der HPLC unter Einsatz von octadecylsilyliertem Kieselgel (5 µm) als Säulenmaterial sowie einem linearen Gradient aus einer Mischung von Acetonitril und Phosphorsäure als mobile Phase quantitativ bestimmt. Als Referenzsubstanz dient das Anthrachinon Dantron, die Berechnung erfolgt als Valerensäure. Eine Gehaltsbestimmung der Valepotriate kann ebenfalls mit der HPLC erfolgen (vgl. Übersicht von Bos et al. 2002 und darin zitierte Literatur).
Anmerkung: In der Zukunt sollen nur noch ein Minimalgehalt für das ätherische Öl von mindestens 4 ml u kg–1 vorgesehen und die Referenzsubstanzen Fluorescein/ Sudanrot G (Identitätsprüfung) durch Acetoxyvalerensäure/Valerensäure sowie Dantron (Gehaltsbestimmung) durch Valerensäure ersetzt werden. Verwendung. Zur Herstellung von Infus, Tinktur (Valeri-
anae tinctura DAB 2003) sowie wässrigen oder wässrigalkoholischen Extrakten (Valerianae extractum siccum DAB 2003; hergestellt mit Ethanol 70%; Droge-Extrakt-
23
23.3 Iridoide
843
. Abb. 23.21 R
H
CH3
H
3 CH3
H3C
CH3
CH3
4 O
CH3 COOH
COOH R Valerensäure Hydroxyvalerensäure Acetoxyvalerensäure
H OH OCOCH3
(–)-3β, 4β-Epoxyvalerensäure
Typisch für die Baldrianwurzel ist das Vorkommen der schwer flüchtigen Cyclopentansesquiterpencarbonsäuren Valerensäure, (–)-3β,4β-Epoxy-, Acetoxy- und Hydroxyvalerensäure. Es handelt sich dabei um spezifische Inhaltsstoffe von V. officinalis L. s.l. und einigen anderen europäischen Valeriana-Arten, weshalb sie als Leitsubstanzen bei der Qualitätskontrolle von Baldrianpräparaten verwendet werden können. Bei der Hydroxyvalerensäure handelt es sich möglicherweise um einen Artefakt, der unter ungünstigen Lagerungsbedingungen aus Acetoxyvalerensäure entstehen kann (Bos 1997)
. Abb. 23.22
OCH3
OCH3 OR2
OH
4
4
O H
8
O HO
R3
8
H
HO
OH
9 O 4' R1O
6"
GIcO OCH3
8-Hydroxypinoresinol Pinoresinol-4-O-β-D-glucosid Pinoresinol-4,4'-di-O-β-D-glucosid 8-Hydroxypinoresinol-4'-O-β-D-glucosid 8-Hydroxypinoresinol-4-O-β-D-glucosid
OCH3 R1
R2
R3
H H GIc GIc H
H GIc GIc OH GIc
OH H H OH OH
OH
O
4'
O
O
HO
HO
HO HO
4'-O-β-D-Glucosyl-9-O-(6"-deoxysaccharosyl)olivil
Beispiele von Lignanen der Baldrianwurzel. Aus Valeriana-officinalis-Wurzel sind verschiedene Mono- und Diepoxylignane isoliert worden. Es handelt sich um Substanzen, die in der Natur weit verbreitet sind, für die Baldrianwurzel aber nicht beschrieben waren. Es wird postuliert, dass die Lignanfraktion, insbesondere das in der Abbildung aufgeführte Olivilderivat, teilweise für die sedative Wirkung von Baldrianpräparaten verantwortlich ist (vgl. dazu Text)
844
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
Verhältnis 3–6:1), die ihrerseits Ausgangsprodukte für sehr unterschiedliche Fertigarzneimittel darstellen: für sofortlösliche Tees und für andere Präparate in verschiedenen Darreichungsformen, meist in Kombination mit Hopfen, Melisse und Passilora. Wirkungen und Wirkungsmechanismus. Im Laufe der
Zeit wurden neben wässrigen und hydroalkoholischen Gesamtextrakten von Baldrian verschiedene Einzelsubstanzen, insbesondere die Valepotriate, Valeranon, die Valerensäuren und auch Aminosäuren in mehreren pharmakologischen Modellen, an Enzymsystemen (GABA-Transaminase) und mit Hilfe von Rezeptorbindungsstudien auf ihre Wirkung getestet (vgl. Übersichten von Morazzoni u. Bombardelli 1995; Hölzl 1996). Dabei wurden zentral dämpfende, antikonvulsive, spasmolytische, muskelrelaxierende u. a. Wirkungen festgestellt. Trotz aller Anstrengungen gelang es bisher aber nicht, die für die sedierende Wirkung verantwortlichen Substanzen konkret einer Inhaltsstoklasse zuzuordnen. Nach aktueller Ansicht sind mehrere Stofgruppen, und hier vor allem Lignane, Flavonoide und Sesquiterpensäuren vom ValerensäureTyp sowie lipophile Bestandteile des ätherischen Öls an der Wirkung beteiligt. Es wurde postuliert, dass der sedative Efekt durch Inhaltsstofe des Baldrians zustande kommt, die am GABAARezeptorkomplex angreifen. Eine Beteiligung dieses Transmittersystems am Wirkmechanismus von hypnosedativ wirkenden Arzneimitteln gilt u. a. für Benzodiazepine und Barbiturate. Die Baldrianwirkstofe sollen die GABA-Ausschüttung aus den Synaptosomen anregen sowie die Wiederaufnahme in die Vesikel hemmen, womit die GABA-Konzentration im synaptischen Spalt erhöht wird. Die Vorstellung, dass die Valerensäuren am GABAARezeptor binden, ließ sich im Experiment – im Gegensatz zu 6-Methylapigenin ( > unten) – nicht bestätigen; neuere Arbeiten belegen aber eine serotonerge Aktivität dieser Inhaltsstofe ( > unten). Weitere In-vitro-Bindungsstudien mit dem GABAA-Rezeptor haben ergeben, dass wässrige und hydroalkoholische Extrakte sowie einige Aminosäuren am Rezeptor gebundenes [3H]Muscimol verdrängen (Cavadas et al. 1995; Modell: [3H]Muscimol-Bindung an Synapsenmembranen der Hirnrinde der Maus). Von den untersuchten Aminosäuren erzeugte GABA einen 99%igen Verdrängungsefekt. Der relativ hohe GABAGehalt der Extrakte (~5 mmol/l) gibt eine Erklärung für die erhöhte GABA-Konzentration im synaptischen Spalt nach Verabreichung von wässrigen Baldrianextrakten,
aber auch für die meisten der früher erhaltenen positiven Resultate mit Baldrianextrakten. Alkoholische Extrakte zeigen den Efekt nicht, da in diesen die Aminosäure GABA fehlt (Ferreira et al. 1996). Die beruhigende Wirkung der Extrakte ist damit folglich nicht erklärt, zumal GABA die Blut-Hirn-Schranke nur in Dosen im Bereich von g/kg durchdringen kann. Neuere Untersuchungen ergaben eine In-vitro-Ainität von Baldrianlignanen, insbesondere von 8-Hydoxypinoresinol, zum 5-HT1A-Rezeptor, allerdings in niedriger mikromolarer Konzentration. Dieser Serotoninrezeptorsubtyp gilt auch als Angrifspunkt von Psychopharmaka. Experimente mit einem hydroalkoholischen Extrakt an Adenosinrezeptoren (AR) ergaben eine Bindung am ARA1 sowie die Verdrängung des am Rezeptor gebundenen [3H]N6-Cyclohexyladenosin (Modell: [3H]N6-Cyclohexyladenosin-Bindung an Membranen der Hirnrinde der Maus). Ein neu isoliertes Olivilderivat ( > Abb. 23.22) erwies sich als potentieller partieller Agonist am ARA1 (Modell: [3H]2-Chloro-N6-cyclopentyladenosin-Bindung an Membranen der Hirnrinde der Maus) und ist damit das erste Beispiel für einen Nichtnucleosid-Adenosinrezeptor-Agonist, der strukturell dem Adenosin nicht verwandt ist (Schumacher et al. 2002; Müller et al. 2002). Bei ARA1 handelt es sich um einen G-Protein gekoppelten Rezeptor, der über eine Hemmung der Adenylatcyclase und einer Aktivierung der Phospholipase C zu einer Hemmung der Aktivität cholinerger Neuronen im basalen Vorderhirn führt. Die Aktivität des wachheiterzeugenden Systems wird gehemmt und der Schlaf induziert (Porkka-Heiskanen et al. 2002). Sowohl die Ainität der Lignane zum 5-HT1A-Rezeptor als auch die partielle agonistische Aktivität am ARA1 spielen möglicherweise eine Rolle bei der schlainduzierenden Wirkung von Baldrian. Der Nachweis, dass ein Extrakt aus einer ixen Kombination von Hopfen und Baldrian (Extrakt Ze91019) im EEG gesunder Probanden den A1-Antagonisten Cofein von seinem Rezeptor verdrängt (Schellenberg et al. 2004), weist möglicherweise darauf hin. Ob eine hydrophile Substanz (Olivilderivat) nach oraler Gabe resorbiert und die Blut-HirnSchranke überwindet, müssen zuküntige pharmakokinetische Studien zeigen. Nach Scholle (1998) kann 4c-O-E-dGlucosyl-9-O-(6s-deoxysaccharosyl)olivil unter Berücksichtigung seiner Konzentration in der Wurzeldroge (ca. 0,05%) und seiner Polarität nicht als Wirksubstanz des Baldrians angesehen werden. Weitere als Wirkstofe diskutierte hydrophile Substanzen sind die Flavonoide 6-Methylapigenin (MA) und 2S(–)-Hesperidin (HN), die so-
23.3 Iridoide
wohl aus V. oicinalis als auch aus V. wallichii isoliert worden sind. MA weist eine mittlere bis hohe Ainität zum Benzodiazepinrezeptor am GABAA-Rezeptorkomplex auf, während der Mechanismus von HN bisher nicht bekannt ist. Es wird postuliert, dass ein Synergismus zwischen MA (anxiolytische Aktivität) und HN (sedative, schlafördernde Wirkung) besteht, der trotz der geringen Dosis (ca. 60 µg/g Droge für MA) therapeutisch signiikant sei (Marder et al. 2003). Eine erst kürzlich publizierte Arbeit (Dietz et al. 2005) zeigt nun, dass Valerensäuren partielle Agonisten am 5-HT5a-Rezeptor sind (In-vitro-Zellassay und funktionelle Rezeptorbindungsstudien; IC50 von Valerensäure = 17 µM), und damit Efekte auf den Schlaf-WachRhythmus über das serotonerge System entfalten können. Weil sich Valerensäuren insbesondere im Petrolätherextrakt beinden, stehen mit diesem Ergebnis wieder lipophile Substanzen als Wirkstofe zur Diskussion. Ob man mit diesen neuen Erkenntnissen bei der Lösung des Rätsels um die Baldrianwirkstofe einen Schritt weiter gekommen ist, muss die Zukunt weisen. Bis die erhaltenen Resultate durch In-vivo-Untersuchungen bestätigt sind, bleibt das Grundprinzip der Phytotherapie – der Extrakt ist der Wirkstof – für Baldrian nicht nur aktuell, sondern liefert der Baldrian auch ein gutes Beispiel für das wahrscheinliche parallele Vorhandensein von mehreren Wirkprinzipien ganz unterschiedlicher Polarität in einem Planzenextrakt. Anwendungsgebiete. Unruhezustände sowie nervös bedingte Einschlafstörungen (Kommission E, ESCOP). Baldrianwurzelpräparate wirken dabei beruhigend und fördern die Schlabereitschat. Als weiteres Anwendungsgebiet gelten nervös bedingte Schmerzen im Magen- und Darmbereich. Es existieren in der Literatur 14 kontrollierte Studien mit Baldrian-Monopräparaten. Aufgrund der Heterogenität der verwendeten Zubereitungen wie auch der Studien wurde der klinische Nachweis der Wirksamkeit von Baldrian bei Patienten mit Schlafstörungen in einer Metaanalyse als unbefriedigend eingestut. Das Ergebnis neuerer Studien deutet darauf hin, dass Baldrian sich nicht zum akuten Gebrauch als Ein- oder Durchschlafmittel eignet. Erst nach 2- bis 4-wöchiger herapie lässt sich eine subjektive Verbesserung von Beindlichkeit und Schlafqualität feststellen, was zu einem physiologischen Schlaf zurückführen kann. Der verzögerte Wirkungseintritt grenzt in diesem Sinne die Baldrianwurzelpräparate insbesondere von den Benzodiazepinen ab, obwohl in einer randomi-
23
sierten Doppelblindstudie nach 4-wöchiger Einnahme die schlainduzierende Wirkung nicht schlechter als diejenige von Oxazepam war. Baldrianpräparate geeigneter pharmazeutischer Speziikation bieten sich daher als risikoarme Alternative für die Pharmakotherapie von Unruhezuständen und Schlafstörungen an (Schulz u. Hänsel 2004 und darin zitierte Literatur). Anstelle von Baldrian-Monopräparaten werden häuig Fertigarzneimittel mit Baldrianwurzelextrakten in Kombination mit Hopfen-, Melissen- oder Passionsblumenkrautextrakten verwendet. Neuerdings wird die ixe Kombination von Baldrian und Hopfen auch als Anxiolytikum anstelle von Kava-Kava empfohlen (vgl. Übersicht von Wegener 2003) bzw. als wirksame Alternative zu Benzodiazepinen (vgl. Übersicht von Kubisch et al. 2003). Nebenwirkungen. Für die Valepotriate sind alkylierende,
zytotoxische und mutagene Eigenschaten nachgewiesen worden. Diese in vitro erhaltenen Resultate haben im Falle von Valeriana-oicinalis-Präparaten keine Bedeutung. Der Gehalt an Valepotriaten in der oizinellen Baldrianwurzel ist relativ niedrig. Die Valepotriate sind aufgrund ihrer Unstabilität in Extrakten und Tinkturen nur in kleinen Mengen oder gar nicht vorhanden, werden nach p.o.Applikation kaum resorbiert und wenn, dann in kurzer Zeit in nichtzytotoxische Metaboliten abgebaut (vgl. Hölzl u. Godau 1990; Bos 1997). Bei der Verabreichung von hochdosierten Extraktpräparaten wurden in seltenen Fällen Magenunverträglichkeiten und Kopfschmerzen registriert. Hinweis. Die klinische Wirksamkeit von Baldrianwurzel-
präparaten zur herapie von Unruhezuständen und Schlafstörungen wird kontrovers diskutiert.
! Kernaussagen
Baldrianwurzelpräparate gelten als Alternative zu Benzodiazepinen für die Langzeittherapie von Unruhezuständen und Schlafstörungen ( > Hinweis). Von hydroalkoholischen und wässrigen Extrakten konnten zentral dämpfende, antikonvulsive, spasmolytische und muskelrelaxierende Wirkungen nachgewiesen werden. Bisher gelang es nicht, die für die beruhigende Wirkung verantwortlichen Inhaltsstoffe zu finden. Nach aktueller Ansicht sind mehrere Stoffgruppen (u. a. Bestandteile des ätherischen Öls, Valerensäuren,
6
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Isoprenoide als Inhaltsstoffe
Lignane und Flavonoide) an der Wirkung beteiligt. Die schwer flüchtigen Valerensäuren sind charakteristisch für V. officinalis und einige andere europäische Baldrianarten. Sie gelten als Leitsubstanzen bei der Qualitätskontrolle. Die Valepotriate sind in den üblichen galenischen Zubereitungen und Fertigarzneimitteln nicht mehr enthalten und kommen somit weder als Wirkstoffe noch als toxische Substanzen in Frage.
Valepotriate enthaltende Präparate Ausgangsmaterial zur industriellen Gewinnung der Valepotriate enthaltenden Extrakte sind x die Wurzeln von Valeriana wallichii DC. (Synonym: V. jatamansi Jones) (pakistanischer Baldrian) und x die unterirdischen Organe der in Mexiko wild vorkommenden Valeriana-Art Valeriana edulis Nutt. ex Torr. & Gray ssp. procera (H.B.K) F. G. Meyer (Synonym: V. mexicana DC.; mexikanischer Baldrian), davon insbesondere die Subspezies V. edulis ssp. procera (H.B.K.) F. G. Meyer. Die Valepotriatgehalte der Drogen dieser Valeriana-Arten sind im Vergleich zum Gehalt des oizinellen europäischen Baldrians viel höher. Der pakistanische Baldrian enthält 3–6% und der mexikanische 5–8% Valepotriate (für weitere Inhaltsstofe vgl. Bos 1997). Diese Baldrianarten wurden ursprünglich zur Isolierung der Valepotriate verwendet, die zur Beeinlussung psychovegetativer und psychosomatischer Störungen, bei Unruhe, Angst- und Spannungszuständen sowie gegen Konzentrationsschwäche zur Anwendung kamen. Schlüsselbegriffe Adenosinrezeptor-Agonist Allamandin Baldrianlignane Baldrianwurzel Baldrinale Iridodial
Präparate auf der Basis von pakistanischem und mexikanischem Baldrian enthalten lipophile Extrakte, die Valepotriate angereichert enthalten; daneben als Hydrolyseprodukte wechselnde Mengen an Baldrinal und Homobaldrinal (Dieckmann 1988). Baldrinal und Homobaldrinal haben mutagene Eigenschaten. Sie sind nicht nur in den Fertigarzneimitteln enthalten, sondern werden auch im Magen-Darm-Trakt aus den Valepotriaten gebildet. Die Baldrinale sind daher als die Wirkstofe, aber auch als die mutagen wirkenden Metaboliten der Valepotriate anzusehen. Möglicherweise haben auch undeinierte Polymerisate an der Wirkung Anteil. Die Baldrinale werden fast vollständig metabolisiert und unterliegen einem hohen First-pass-Efekt. Dabei bildet sich als Hauptmetabolit beider Substanzen ein identisches Esterglucuronid, das sich im Experiment nicht mehr genotoxisch erwies. Daraus kann zwar abgeleitet werden, dass der Valepotriat- und Baldrinalgehalt von Fertigarzneimitteln kein zytotoxisches Risiko darstellen, jedoch ist ein solches für den Magen-Darm-Trakt sowie die Leber nicht auszuschließen, da diese Organe bei p.o.-Applikation der entsprechenden Präparate noch vor der Metabolisierung zum inaktiven Glucuronid den Baldrinalen ausgesetzt sind (Dieckmann 1988; vgl. dazu auch Hänsel 1992). Wegen des Potentials an Nebenwirkungen, eines geringen therapeutischen Nutzens und des Fehlens von pharmakokinetischen Daten am Menschen, sollten Präparate mit Valepotriaten als Reinstofe bzw. in Form von hochkonzentrierten Extrakten aus dem mexikanischen und pakistanischen Baldrian mindestens solange nicht mehr verwendet werden, bis entsprechende Daten vorliegen und In-vivo-Langzeitstudien die Unbedenklichkeit bestätigen.
Iridomyrmecin Nepetalacton Nichtglykosidische Iridoide Oleacein Sesquiterpencarbonsäuren Valepotriate
Valeriana edulis Valeriana officinalis Valeriana wallichii Valerianae radix Wirkung (beruhigend)
23.4 Sesquiterpene
23.4
Sesquiterpene
23.4.1
Häufig vorkommende Strukturvarianten, Einteilung, Vorkommen
23
x Sesquiterpenalkohole: in der Regel mit Wasserdampf unzersetzt lüchtig; bei Raumtemperatur ölige Flüssigkeiten oder kristallisierend; in Ethanol besser löslich als die Kohlenwasserstofe; x stark oxidierte Sesquiterpene: in der Regel mehrere funktionelle Gruppen (alkoholische Gruppen, Epoxide, Aldehyde, Carbonsäuren, Lactone, Ester mit kurzkettigen Fettsäuren); nur schwer oder gar nicht durch Destillation mit Wasserdampf abtrennbar; Anreicherung kann durch Extraktion mit Lipidlösungsmitteln, wie Chloroform oder Dichlormethan, und anschließender Flüssig/Flüssig-Verteilung (Methanol–Wasser–Chloroform) erfolgen; bei Raumtemperatur kristalline Verbindungen; in Arzneizubereitungen infolge ihrer Reaktionsfreudigkeit meist wenig stabil; biologisch meist aktiv: schmecken bitter oder scharf, wirken sehr stark lokal hautreizend, viele wirken allergisierend, viele sind nach systemischer Zufuhr relativ toxisch; x Sesquiterpenglykoside: nur mit polaren Lösungsmitteln (Ethylacetat, Ethanol) extrahierbar. Bisher sind nur ganz wenige Vertreter bekannt (Beispiel: Taraxinsäureglucosid (Formel vgl. ( > Abb. 23.39).
Das Kohlenstofskelett der Sesquiterpene besteht aus 15 Kohlenstofatomen ( > Abb. 23.23), die sich in 3 Isoprene zerlegen lassen (regulär gebaute Sesquiterpene), die aber vielfach durch Wanderung von Methylgruppen ( > Abb. 23.24: Pseudoguajane) oder durch sekundäre Spaltung von Ringen ( > Abb. 23.24: Xanthane) keinen regulären Aubau mehr erkennen lassen (irregulär gebaute Sesquiterpene). Die Sesquiterpene sind mit mehreren tausend Vertretern und über 100 verschiedenen Ringskeletten die umfangreichste Gruppe der Terpene. Man teilt sie nach unterschiedlichen Gesichtspunkten ein: nach chemischen Gesichtspunkten unter Berücksichtigung der Zahl der Ringe (azyklisch, mono-, bi-, tri-, oder tetrazyklisch) und/oder der funktionellen Gruppen (Sesquiterpenkohlenwasserstofe, Sesquiterpenalkohole, Sesquiterpenlactone) und nach biosynthetischen Gesichtspunkten unter besonderer Berücksichtigung der Farnesolvorstufe und der Zyklisierungsweise ( > Abb. 23.23–23.27). Die stolichen Eigenschaten der Sesquiterpene hängen wesentlich von der Art und der Zahl der O-Funktionen ab, mit denen das Sesquiterpenskelett substituiert ist. Es lassen sich unterscheiden: x Sesquiterpenkohlenwasserstofe: mit Wasserdampf unzersetzt lüchtige Substanzen; bei Raumtemperatur ölige Flüssigkeiten;
Sesquiterpene sind in der artenreichen Familie der Asteraceae, zu der auch die Stammplanzen der pharmazeutisch verwendeten Arzneidrogen gehören, nahezu ubiquitär verbreitet. Daneben kommen sie bei weiteren Planzenfamilien der Samenplanzen, aber auch bei Lebermoosen (Hepaticae), Ständerpilzen (Basidiomycetes), Algen und in Meeresorganismen vor.
. Abb. 23.23
OPP OPP OPP 2E,6E-Farnesyldiphosphat
Nerolidyldiphosphat
2Z,6E-Farnesyldiphosphat
Als Muttersubstanz der Sesquiterpene gilt das Farnesol bzw. das Farnesyldiphosphat. Die 3 Isoprenbausteine, die diesen Grundkörper aufbauen, können sich geometrisch unterschiedlich addieren, sodass stereoisomere Farnesylderivate entstehen. Die Biosynthese der zyklischen Sesquiterpene basiert auf der Zyklisierung von 2 E,6 E- und 2Z,6 E-Farnesyldiphosphat oder Nerolidyldiphosphat via kationische Intermediärprodukte (vgl. Fraga 1991)
847
848
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.24
1→10
Driman / Iresan
Bisabolan
2→7 6→11
Cadinan
1→6
1
14
14 8 9
7
10
6
3 4
7
≡
5
8
6
4
9
1
3
5
11 15
13
2
1→11
2→10
2 10
12
13
11
Farnesan
15
12
Humulan
Caryophyllan
14 1
9
2
≡
8
10
1→5
5
7
5 4
11
6
15
12
Germacran (geänderte Zählung)
Xanthan
Guajan 5→10
2
Eleman
4
13
3
CH3 : 4 ~ 5
3
Selinan / Eudesman Pseudoguajan
Die häufiger vorkommenden Typen von monozyklischen und bizyklischen Sesquiterpenen und ihre formalen Beziehungen zum offenkettigen Farnesanskelett
23.4 Sesquiterpene
23
. Abb. 23.25 OH -H 7
Oxidation
COOH
+
C
OH Sesquiterpenvorstufe (1)
(2)
(3)
OH
O 8
8
O
6
6
OH
O O
8−Lacton (4)
6−Lacton (5)
14
14
1
1
9
2
8
10 3
4
7
6
5
2
13
11
O
Elemanolide
3
4
5
6
O O
7 13
11
O
15
O
8
10
12
O
15
9
O
12
O Eudesmanolide
Germacranolide
Eremophilanolide
14 2
4 15
O
10
1
3
5
6
O
Xanthanolide
7
Guajanolide
8
O
11 12
O
O
9
13
O
O O
Ambrosanolide
Helenanolide
Oxidative Veränderungen von Germacrankohlenwasserstoffen führen zu Sesquiterpenlactonen. Obere Hälfte: Das Cyclodecadienkation 1 oder sein biologisches Äquivalent ist die Muttersubstanz vieler mono- und bizyklischer Sesquiterpene. Stabilisierung durch Abgabe eines Protons führt zum Germacratrien 2, das an den mit einem Pfeil gekennzeichneten Stellen oxidiert werden kann. Zwei Typen von Lactonen (4 und 5) sind in der Natur verwirklicht. Untere Hälfte: Die Kohlenwasserstoffskelette von häufig vorkommenden Sesquiterpenlactonen
849
850
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.26
O
O 7
Furanoeudesmantyp
Germacrantyp
Furanogermacrantyp O
Furanoelemantyp
Eine weitere Variationsmöglichkeit, die unter Einbeziehung der 7-Isopropylgruppe erfolgt, besteht in der Ausbildung von Furanringen. Die C-Skelette der 3 häufiger vorkommenden Furanosesquiterpentypen sind formelmäßig wiedergegeben
. Abb. 23.27
23.4.2 10 1
O 4
5
HO
Germacren-4,5-epoxid
Guajan-1(10)-en-4α-ol
H
H 1
1
5
5
HO
H
cis-1,5-verknüpftes Guajan-4α-ol
HO
H
trans-1,5-verknüpftes Guajan-4α-ol
Zur großen Mannigfaltigkeit an Strukturtypen tragen bei den Sesquiterpenen der Guajanreihe die unterschiedliche Verknüpfung der beiden Ringe bei
Biologische Aktivitäten von Sesquiterpenen – Wirkungsmechanismen
Innerhalb der Sesquiterpene sind insbesondere die Sesquiterpenlactone von pharmazeutischem Interesse. Bis heute sind annähernd 5000 natürlich vorkommende Vertreter dieser Stoklasse bekannt (Schmidt 1999, 2004). Das charakteristische Strukturelement der Mehrheit der Sesquiterpenlactone ist eine D-Methylen-J-lacton-Gruppe. Viele Lactone enthalten auch D,E-ungesättigte Carbonyl- oder Epoxidgruppen. Diese funktionellen Gruppen sind reaktive Bindungsstellen für biologische Nucleophile wie hiole und Aminogruppen. Davon kann ein breites Spektrum an biologischen und pharmakologischen Wirkungen abgeleitet werden. Diese können von ökologischem oder medizinisch-pharmazeutischem Interesse sein. Zur 1. Gruppe gehören die wachstumsregulierenden und fraßhemmenden Aktivitäten der Sesquiterpene, zur 2. Gruppe u. a. zytotoxische, antitumorale, antibakterielle, antifungale, parasitizide, anthelmintische, antiphlogistische, antihyperlipidämische, atemanaleptische und kardiotonische Eigenschaten. Sesquiterpenlactone wirken ferner häuig allergen (vgl. Übersichten von Picman 1986; Willuhn 1987; Kolodziej 1993). Die antimikrobielle, antiphlogistische und antitumorale, aber auch die allergene Wirkung beruht auf der Zyto-
23
23.4 Sesquiterpene
. Abb. 23.28
H
CH3
GSH S
δ+
H
CH3
O
OH
CH3
O
OH H2C
+
O
7
H3C
O
S Cys
Protein
δ−
O
bzw.
13
8
O
H3C
O
CH3
2
Protein
O
H
HS-Cys/GSH
Protein
Monoaddukt
O δ−
OH H2C
δ+
Helenalin
GHS/Cys S
H
Protein
CH3
2
O O Ablauf der Kontaktallergie: 1. Kontakt des Vollantigens mit T-Lymphozyt 2. Bildung von sensibilisierten T-Lymphozyten 3. Ausschüttung von Lymphokinen und Cytokinen 4. Entzündung
H3C
O
OH 13
S Cys/GSH Protein Diaddukt
Reaktion von Helenalin mit SH-Gruppen von Proteinen. Wie am Beispiel Helenalin wiedergegeben ist, reagieren bifunktionelle Sesquiterpenlactone z. B. mit Cystein und Glutathion zu Mono- und Diaddukten. Dabei existieren Unterschiede in der chemischen Reaktivität der SH-Gruppen gegenüber den beiden elektrophilen Zentren von Helenalin. NMR-Untersuchungen haben ergeben, dass die Reaktivität der Cyclopentanon-(CP-) und der α-Methylen-γ-lactongruppe (ML) stark von der chemischen Umgebung der zu alkylierenden SH-Gruppen abhängig ist. Im Falle von Cystein (Cys) reagiert zuerst die ML-Gruppe, im Fall von Glutathion (GSH) die CP-Struktur. Erst bei größerem Überschuss (und viel langsamer) bildet sich in beiden Fällen auch ein Diaddukt mit Beteiligung des jeweils anderen reaktiven Zentrums. Die Addition findet sowohl an C-2 wie auch an C-13(11) von der β-Seite des Moleküls statt (Schmidt 1997). Es ist davon auszugehen, dass auch bei einer Reaktion mit Proteinen in Abhängigkeit von der chemischen Umgebung der zu alkylierenden SH-Gruppe solche Unterschiede bestehen. Im Kasten: Hauptpunkte beim Ablauf einer Kontaktallergie (zur Erklärung dazu vgl. Abschn. 23.4.2)
toxizität bzw. der alkylierenden Potenz der Sesquiterpenlactone. Sie können nach Art einer Michael-Addition kovalent an die nucleophilen Gruppen der Aminosäurenreste von Proteinen – insbesondere an deren exponierten SH-Gruppen – zu einem Sesquiterpen-Protein-Konjugat gebunden werden ( > Abb. 23.28). Die antimikrobielle Wirkung scheint dabei vornehmlich auf eine Hemmung von Schlüsselenzymen zurückzuführen zu sein, die in der Zytoplasmamembran lokalisiert sind, während die antitumorale Wirkung mit einer selektiven Alkylierung von Enzymen erklärt wird, die die Zellteilung regulieren. Während bei der antitumoralen Wirkung sowohl die D-Methylen-J-lacton-Gruppierung als
851
auch das D,E-ungesättigte Cyclopentanringsystem von Bedeutung sind, ist bei der antibakteriellen Wirkung vielfach der Cyclopentanring das entscheidende Strukturelement, bei der antiphlogistischen andererseits der D-MethylenJ-lacton-Ring. Außer den genannten reaktiven Gruppen dürten weitere Faktoren für die biologische Aktivität von Bedeutung sein, insbesondere die Konformation, die Lipophilie oder die Anwesenheit weiterer elektrophiler Zentren im Molekül. Die antihyperlipidämische Aktivität wird auf eine Hemmung der HMG-CoA-Reduktase und verschiedener Enzyme des Lipidstofwechsels zurückgeführt. Als Wirkungen auf Herz-Kreislauf sind sowohl positivinotrope als auch kardiotoxische Wirkungen beobachtet
852
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
worden. Die Kontraktionskratsteigerung scheint auf einer indirekten sympathomimetischen Wirkung zu beruhen. Sesquiterpenlactone wie z. B. Helenalin beeinlussen den zellulären Calciumstofwechsel (vgl. dazu hapsigargin, S. 859). Zur parasitiziden Wirkung vgl. Artemisinin (S. 855). Sesquiterpenlactone bilden die Hauptgruppe an Planzenstofen, die als Phytoekzematogene bezeichnet werden, worunter chemisch deinierte niedermolekulare Stofe mit
Molgewichten zwischen 100 und 1000 zusammengefasst werden, die ein allergisches Kontaktekzem (Allergie vom Typ IV = Allergie vom zellvermittelten oder Spättyp) hervorrufen können (vgl. Hausen u. Vieluf 1998; Hausen 1991). Dieses ist daran erkenntlich, dass die Reaktion mit einer starken Verzögerung nach dem Kontakt mit dem Allergen autritt. Der Terminus Kontaktekzem besagt, dass sich die Ekzemreaktion primär an der Kontaktstelle mit der allergenen Substanz entwickelt, beispielsweise
. Abb. 23.29
O
H3C
O
O
CH3
CH3
β-D-Glc
CH2
CH2 O
CH2
O
CH3
O
CH3 O
O Parthenolid: Tanacetum parthenium OH CH3
O
Costunolid: in Früchten und Öl von Laurus nobilis OH
Taraxinsäureglucosid: Taraxacum officinale CH3
CH3
O O
CH3
H
CH2 O
CH2
H
CH2 CH2
CH3
O
O
O
Santamarin: Tanacetum parthenium
Reynosin: Tanacetum vulgare
CH3 OH
H
Alantolacton: Inula helenium
CH2
H
CH3
HO
H
CH3
O O
H3C
CH2
O
H2C
H
CH2
O
O
H3C
O
OH H2C
O Parthenin: Parthenium hysterophorus
O HO
H3C
O
OH H2C
O Dehydrocostuslacton: im Öl von Laurus nobilis
Helenalin: Arnica montana
Deacetylchamissonolid: Arnica chamissonis
Einige Sesquiterpenlactone mit einer exozyklischen Methylengruppe, von denen nachgewiesen wurde, dass sie allergische Kontaktdermatitiden hervorrufen (vgl. Rodriguez et al. 1976; Hausen u. Vieluf 1998). Während früher angenommen worden ist, dass Sesquiterpene ohne α-Methylen-γ-lactonstruktur keine allergische Kontaktdermatitis erzeugen können, ist seit einiger Zeit erwiesen, dass auch Substanzen wie beispielsweise 11α,13-Dihydrohelenalin, die nur die Cyclopentanonstruktur oder eine Epoxygruppe besitzen, allergen wirkende Monoaddukte bilden (vgl. Willuhn 1986). Davon kennt man heute bei den Asteraceen etwa 50 Substanzen, womit mit den ca. 600 Verbindungen mit einer exozyklischen Methylengruppe ungefähr 700 potentiell allergisierende Sesquiterpenlactone beschrieben sind (vgl. Übersicht von Warshaw u. Zug 1996)
23.4 Sesquiterpene
durch direkten Kontakt mit Planzen (z. B. mit Chrysanthemum) oder durch topische Applikation von entsprechenden Medikamenten (z. B. Arnika-Präparate), wobei an der Kontaktstelle bzw. der Autragstelle von Salben, Lotionen oder kosmetischen Präparaten örtlich begrenzte Rötungen, Schwellungen, Blasen sowie Schuppungen, verbunden mit Juckreiz, entstehen. Das Ekzem kann akut sein und rasch abklingen, es kann auch chronisch werden. Schließlich gibt es Formen, die sich nicht auf die Kontaktstelle beschränken, sondern Formen, die „springen“, und Formen, die generalisieren. Von praktischer Bedeutung ist das Phänomen der Kreuzallergie. Hierbei handelt es sich um immunologische Kreuzreaktionen gegen Substanzen, die dem Erstallergen chemisch nahe verwandt sind. Es scheint so, als wären Kreuzreaktionen gegenüber allen Sesquiterpenlactonen möglich, sofern sie eine exozyklische Methylengruppe in Konjugation zur Lactonfunktion aufweisen. Sesquiterpenlactone mit exozyklischer Methylengruppe kommen bei den Asteraceen weit verbreitet vor; über 200 allergieinduzierende Arten sind in der Literatur beschrieben. Die allergene Potenz ist allerdings unterschiedlich: stark sensibilisierend wirken Chrysanthemumund Arnica-Arten, schwach sensibilisierend Löwenzahn und Beifuß. Möglicherweise ist die Konzentration wichtig, in der sie zur Einwirkung gelangen. Auch sind einige der an sich sensibilisierend wirkenden Sesquiterpenlactone chemisch unbeständig, was z. B. für die Taraxinsäurederivate des Löwenzahn zutrit; damit würde verständlich, warum beim Umgang mit frischen Planzen Kontaktallergien häuiger beobachtet werden als beim Umgang mit den entsprechenden Drogen. Wie kommt es, dass so vergleichsweise winzige Substanzmengen an Sesquiterpenlactonen derart schwerwiegende Entzündungen hervorrufen können? Kurz skizziert läut die Reaktion beim allergischen Kontaktekzem folgendermaßen ab (vgl. Willuhn 1986; Hausen u. Vieluf 1998; Hausen 1991): Nach perkutaner Resorption werden Sesquiterpenlactone (= Haptene) über ihre funktionellen Gruppen (vgl. > Abb. 23.28) an epidermale Proteine gebunden (= Antigen). Dieses Vollantigen wird von den Makrophagen der Epidermis, den sog. Langerhans-Zellen, einem zufällig vorbeiwandernden T-Lymphozyten präsentiert. Die durch den Antigenkontakt stimulierten Lymphozyten stimulieren ihrerseits im Lymphgewebe die Bildung neuer Lymphozyten (T-Efektorlymphozyten), die dann den identischen antigenerkennenden Rezeptor auf ihrer Oberläche tragen (= Sensibilisierung). Diese Induktionsphase läut
23
vom Patienten unbemerkt ab. Kommt aber das nunmehr sensibilisierte Individuum erneut mit dem gleichen Antigen in Kontakt, so tritt innerhalb von 24–28 h an der Kontaktstelle eine entzündliche Reaktion ein. Die sensibilisierten Lymphozyten haben das Antigen „erkannt“. Der Erkennungsprozess besteht wesentlich in einer Bindung des Antigens an den speziischen Rezeptor der Lymphozytenoberläche. Dies wiederum ist ein Signal zur Freisetzung verschiedener Mediatoren (Lymphokine, Zytokine), die alle erreichbaren Lymphozyten, Makrophagen und Leukozyten anlocken und aktivieren, wobei diese zur Freisetzung weiterer Mediatoren angeregt werden. Als Folge wird innerhalb von 3 Tagen am Ort des Geschehens eine Entzündungsreaktion hervorgerufen. Am Ende der Freisetzung der Mediatoren inden sich wiederum Faktoren, die schließlich auch die Entzündungsreaktion zum Abklingen bringen. Präsentationen der wichtigsten Planzenspezies, die Kontaktdermatitis hervorrufen können, inden sich in der Literatur beispielsweise bei Hausen u. Vieluf (1998). Strukturformeln von Sesquiterpenen mit allergischem Potential inden sich in > Abb. 23.29, solche mit toxischem Potential in > Abb. 23.30.
! Kernaussagen
Das Kohlenstoffskelett der Sesquiterpene besteht aus 15 Kohlenstoffatomen, die sich in 3 Isoprene zerlegen lassen (regulär gebaute Sesquiterpene), die aber vielfach durch Wanderung von Methylgruppen oder durch sekundäre Spaltung von Ringen keinen regulären Aufbau mehr erkennen lassen (irregulär gebaute Sesquiterpene). Von pharmazeutischem Interesse sind insbesondere die Sesquiterpenlactone der artenreichen Familie der Asteraceae. Das charakteristische Strukturelement der Mehrheit der Sesquiterpenlactone ist eine D-Methylen-J-lacton-Gruppe, teilweise auch eine D,E-ungesättigte Carbonyl- oder Epoxidgruppe. Diese funktionellen Gruppen sind reaktive Bindungsstellen für biologische Nucleophile wie Thiole und Aminogruppen. Davon kann ein breites Spektrum an biologischen und pharmakologischen Wirkungen abgeleitet werden, von denen insbesondere antimikrobielle, antitumorale und antiphlogistische Wirkungen von Bedeutung sind. Sesquiterpenlactone bilden die Hauptgruppe von Pflanzenstoffen, die ein allergisches Kontaktekzem hervorrufen können (Phytoekzematogene).
853
854
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.30
Beispiele toxischer Sesquiterpene. Während akute Vergiftungen durch sesquiterpenlactonhaltige Pflanzen bei Tieren nicht selten sind – erwähnenswert ist die große Toxizität von Hymenoxon und Mexicanin E für Weidetiere – spielen sie beim Menschen eine unwesentliche Rolle. Vergiftungssymptome bei Säugetieren sind gastrointestinale Reizungen, Atemstörungen, Arrhythmien, Krämpfe und schließlich Tod durch Kreislauflähmung und Atemstillstand. Bei arzneilicher Verwendung sind Intoxikationen mit tödlichem Ausgang bei einigen Sesquiterpenlactonen vorgekommen. Hierzu zählen Santonin (von Artemisia cina), das heute nur noch selten als Mittel zu Behandlung von Askariden eingesetzt wird, die Dilactone Pikrotoxinin (von Anamirta cocculus) und Anisatin sowie Neoanisatin [von Illicium religiosum (I. anisatum)]. Pikrotoxin [= Pikrotoxinin und Pikrotin (ungiftig)] wirkt ähnlich wie Strychnin – in kleinen Dosen atemanaleptisch, in größeren als Krampfgift. Bei Picrotoxinin sowie bei Anisatin/Neoanisatin handelt es sich um Chloridionenkanalblocker (GABA-Antagonisten). Vergiftungsgefahr durch die „Anisatine“ besteht bei der Verwechslung der Früchte von Sternanis, Illicium verum, mit denen von I. religiosum [vgl. Kolodziej 1993; Teuscher u. Lindequist 1994; Schmidt 1999]. In neuerer Zeit sind auch Vergiftungen nach Einnahme von Sternanis (in der Regel als Tee) beschrieben worden, vorzugsweise bei Kleinkindern, teilweise aber auch bei Erwachsenen. Sternanis enthält, wenn auch in geringen Mengen, die neurotoxischen Veranisatine. In einigen europäischen Ländern (z. B. Frankreich, Spanien) ist der Verkauf von Sternanis theoretisch seit November 2001 verboten. In einer neuen Arbeit von Ize-Ludlow et al. (2004) sind mehrere Vergiftungsfälle beschrieben. Warum die Vergiftungen entstanden sind, konnte nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden. Die Autoren kommen zum Schluss, dass entweder eine Überdosis von I. verum, eine Kontamination mit I. anisatum (in einem Fall nachgewiesen) oder eine Kombination von beidem Ursache der Vergiftungen war. Sie empfehlen keinen Tee von Sternanis mehr an Kinder zu verabreichen. Im November 2003 hat die FDA eine Notiz im Internet veröffentlicht, das die Konsumenten anweist, keinen Tee mit Sternanis mehr zu konsumieren, da bei 40 Personen gesundheitliche Probleme damit entstanden waren
23.4 Sesquiterpene
Die bisher bekannten Wirkungsmechanismen von Sesquiterpenen und Sesquiterpenlactonen sind sehr vielfältig. Für Details dazu wird dafür auf die einzelnen Abschnitte und Abbildungen verwiesen, insbesondere auf die Abschnitte Artemisinin (S. 855), Petasites-Extrakte (S. 860), Arnikablüten (S. 872), und Mutterkraut (S. 878) sowie auf die > Abbildungen 23.28, 23.37, 23.43, 23.44,
23
23.46 und 23.47. Eine große Anzahl neuerer Untersuchungen beschätigt sich mit den antitumoralen Efekten von Sesquiterpenlactonen sowie mit den für diese Wirkungen verantwortlichen Mechanismen (vgl. dazu Übersicht von Zhang et al. 2005 und darin zitierte Literatur sowie Infobox „Tumorhemmendes Potential von Planzenstofen“; S. 979).
Schlüsselbegriffe D-Methylen-J-lacton-Gruppe Allergie vom Typ IV Allergisches Potential Exozyklische Methylengruppe Farnesyldiphosphat Helenalin-Protein-Addukt
23.4.3
Kontaktallergie Kontaktdermatitis Kreuzallergie Michael-Addition Phytoekzematogene Nucleophile
Sesquiterpene als Reinstoffe und Inhaltsstoffe pflanzlicher Arzneidrogen
> Tabelle 23.4 enthält eine Auswahl von Arzneidrogen, die Sesquiterpene enthalten. In der Tabelle sind insbesondere solche Beispiele aufgeführt, die als Arzneidrogen sowie in Form von Extrakt- oder Reinstofpräparaten Anwendung inden. Ausschließlich toxisch wirkende Drogen sind nicht berücksichtigt (vgl. dazu > Abb. 23.30).
Artemisinin Vorkommen, Struktur. Artemisinin (= Qinghaosu) ist ein
Inhaltsstof einer alten chinesischen Arzneidroge, dem Kraut von Artemisia annua L. (Familie: Asteraceae [IIB28b]). Bei der Planze handelt es sich um eine einjährige, 40–150 cm hoch werdende Staude, die über die nördliche Halbkugel verbreitet ist. Sie wird seit etwa 2000 Jahren in China unter dem Namen Qinghao als Fieber- und Malariamittel verwendet. Artemisinin ist neben anderen Sesquiterpenen (u. a. Arteannuinsäure, Arteannuin B, Artemisiten) in Wildplanzen zu 0,01–0,5% enthalten (vgl. Übersicht von Bharel et al. 1996). Das chemische Grundgerüst von Artemisinin stellt ein Cadinan dar ( > Abb. 23.31). Die O-Funktionen entfallen auf einen Oxepanring, einen 6-gliedrigen Lactonring und auf eine Peroxidbrücke. Die Substanz kristallisiert in Nadeln, ist optisch aktiv und sehr schlecht wasserlöslich; ihr Lactonring wird in protischen Lösungsmitteln geöfnet.
Sesquiterpene Sesquiterpenlactone Toxische Sesquiterpene Wirkungen (antimikrobiell, antiphlogistisch, antitumoral)
Artemisininderivate. Wegen der ungenügenden Löslich-
keit von Artemisinin und zur Verbesserung der Wirkung wurden verschiedene Derivate hergestellt. Semisynthetische Abwandlungsprodukte der ersten Generation sind Dihydroartemisinin (Reduktion der Ketogruppe) und seine Derivate Artemether (Methylether), Arteether (Äthylether), Artelinat (Natriumsalz der Artelinsäure) und Artesunat (Hemisuccinat) (vgl. > Abb. 23.31). Eine Totalsynthese der komplexen Ringstrukturen ist zwar möglich, aber aufwendig und nicht ökonomisch. In den letzten Jahren sind Hunderte von einfacheren Strukturen mit z. T. besserer Stabilität und In-vitro-Wirkung synthetisiert worden, die als Endoperoxide der 2. Generation in die Literatur Eingang gefunden haben. Das Grundgerüst des Artemisinins wurde dabei abgeändert oder ersetzt, weil es zur Wirkung nichts beiträgt (vgl. Übersicht von Meshnick et al. 1996; Borstnik et al. 2002). Eine viel versprechende Substanz scheint das 1,2,4-Trioxalanderivat OZ277 ( > Abb. 23.31) zu sein. OZ277 hat im Gegensatz zu den heute gebräuchlichen Artemisininderivaten eine gute orale Bioverfügbarkeit, ist schneller und besser wirksam, dabei aber deutlich einfacher herstellbar (auch in industriellem Maßstab sowie ohne teure Ausgangsmaterialien) – und daher billiger als jene (Vennerstrom et al. 2004). Analytik. Zum Nachweis von Artemisinin sind chemische, spektrophotometrische, chromatographische und biologische Methoden in der Literatur beschrieben worden (vgl. Übersicht von Woerdenbag et al. 1994). Für eine schnelle Bestimmung von Artemisinin, Artemisininmeta-
855
856
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Tabelle 23.4 Arzneidrogen mit Sesquiterpenen sowie Reinstoffe, die in der Therapie oder als Modellsubstanz verwendet werden. Ohne Angabe der Familie der Stammpflanze handelt es sich um Asteraceen Arzneidroge
Stammpflanze
Sesquiterpentypen
Seite
Alant
Inula helenium L.
Eudesmanolide
–
Arnikablüten (PhEur 5)
Arnica montana L.
Pseudoguajanolide (Helenanolide)
S. 872
Beifußkraut
Artemisia vulgaris L.
Eudesmanolide, 4,5-Secopseudoguajanolide
–
Kamillenblüten (PhEur 5)
Matricaria recutita (L.) RAUSCHERT
Guajanolide
S. 1084
Benediktenkraut (DAC 2003)
Cnicus benedictus L.
Germacranolide
S. 865
Lorbeerfrüchte
Laurus nobilis L. (Lauraceae)
Guajanolide, Germacranolide
–
Löwenzahn (DAC 2004)
Taraxacum officinale WEBER
Eudesmanolide, Germacranolide
S. 866
Mutterkraut (PhEur 5)
Tanacetum parthenium (L.) SCHULTZ BIP.
Germacranolide, Eudesmanolide, Guajanolide
S. 878
Rainfarnkraut
Tanacetum vulgare L.
Eudesmanolide, Germacranolide
–
Römische Kamille (PhEur 5)
Chamaemelum nobile (L.) ALL.
Germacranolide (Heliangolide), Guajanolide
S. 1066
Schafgarbe (PhEur 5)
Achillea millefolium L.
Germacranolide, Guajanolide, Eudesmanolide, Longipinenderivate
S. 868
Wermutkraut (PhEur 5)
Artemisia absinthium L.
Guajanolide, Germacranolide, Eudesmanolide
S. 870
Stammpflanze
Anwendung
Seite
Artemisinin
Artemisia annua L.
Malariamittel
S. 855
Petasites-Extrakte
Petasites hybridus (L.) GAERTN., MEY. et SCHERB.
Krämpfe im Gastrointestinalund Urogenitaltrakt u. a.
S. 860
Thapsigargin
Thapsia garganica L. (Apiaceae)
Modellsubstanz zur Untersuchung der Ca2+-Regulation
S. 859
Reinstoff/Extrakt
boliten und ähnlicher Verbindungen in einer komplexen Matrix (Planzenmaterial und biologische Flüssigkeiten) eignen sich insbesondere HPLC/MS-Methoden (vgl. Chi et al. 1991; Maillard et al. 1993; Souppart et al. 2002; Rajanikanth et al. 2003). Wirkung. In breit angelegten pharmakologischen, toxiko-
logischen und klinischen Prüfungen erwies sich Artemisinin in nanomolekularen Konzentrationen als ein wirksames Mittel gegen Plasmodien, während die Substanz gegen menschliche und tierische Zellen erst in mikromolekularen Konzentrationen toxisch ist. Grund dafür ist die selektive Aufnahme der Substanz durch Erythrozyten, die mit dem Malariaerreger iniziert sind. Im Gegensatz zu nichtinizierten Erythrozyten wird Artemisinin durch in-
izierte in mehr als 100facher Konzentration aufgenommen. Artemisinin ist dadurch in der Lage, die im Blut beindlichen Parasiten (erythrozytäre, asexuelle Stadien) zuverlässig abzutöten, jedoch nicht die exoerythrozytären, in der Leberzelle sich beindlichen Schizonten. Artemisinin ist auch wirksam gegen die Gametozyten, die von der stechenden Mücke aus dem Blut Inizierter aufgenommen werden und in der Mücke zum vermehrungsfähigen Gameten heranreifen. Dadurch kann der Infektionsweg Mensch-Mücke-Mensch unterbrochen werden (vgl. Übersichten von Woerdenbag et al. 1994; Meshnick et al. 1996). Wirkungsmechanismus. Die Endoperoxidstruktur ist essentiell für die Wirkung. Metaboliten ohne die Peroxid-
23.4 Sesquiterpene
23
. Abb. 23.31
Vorgeschlagener Biosyntheseweg von Artemisinin und semisynthetische Artemisinin-Derivate. Farnesyldiphosphat wird durch das Schlüsselenzym Amorpha-4,11-dien-Synthase in das Cadinanderivat Amorpha-4,11-dien umgelagert. Die plausibelsten weiteren Biosyntheseschritte sind: Amorpha-4,11-dien o Artemisininalkohol (AOH; Hydroxylierung) o Artemisininaldehyd (AA; Oxidation) o Dihydroartemisininaldehyd (DHAA; Reduktion der Doppelbindung C-11-C-13) o Dihydroartemisininsäure (DHAS; Oxidation). DHAS wird nichtenzymatisch durch Photooxidation mit Singulett-Sauerstoff unter Umlagerung der Doppelbindung in Dihydroartemisininhydroperoxid umgewandelt. Daraus entsteht Artemisinin durch Luftoxidation mit Triplet-Sauerstoff unter Ringspaltung und Reorganisation der Ringstruktur (Wallaart et al. 2001; Bertea et al. 2005). Bei den semisynthetischen Verbindungen der ersten Generation handelt es sich um Derivate des Dihydroartemisinins. Arteether und Artemether sind stärker wirksam als Artemisinin, aber schlecht wasserlöslich. Das Esterderivat Artesunat ist zwar wasserlöslich, aber hydrolytisch instabil, während Artelinat gut wasserlöslich, stabil in wässriger Lösung und besser wirksam als Artemisinin ist (vgl. Übersicht von Woerdenbag u. Pras 1991). Bei den Verbindungen der zweiten Generation handelt es sich um synthetische Substanzen, wie z. B. das Trioxolanderivat OZ277. OZ277 besteht aus einem Adamantanring (zum Schutz der für die Wirkung notwendigen Endoperoxidgruppe) und einer Seitenkette (R), die der Substanz bessere pharmazeutische Eigenschaften (u. a. Wasserlöslichkeit) verleiht (vgl. Vennerstrom et al. 2004)
brücke sind unwirksam. Gemäß neueren Untersuchungen scheinen die Endoperoxide einen 2-stuigen Wirkungsmechanismus aufzuweisen, bei dem Hämin, das in den Parasiten in größerer Menge vorkommt bzw. molekulares Eisen, eine zentrale Rolle spielt ( > Abb. 23.32). Neuerdings wird Artemisinin neben der antiparasitäten auch
eine entzündungshemmende Wirkung wie verschiedenen anderen Sesquiterpenen (insbesondere Sesquiterpenlactonen) zugeschrieben. Artemisinin hemmt die Aktivierung von NF-NB und damit die induzierbare Nitroxidsynthase (iNOS) [Modell: LPS/zytokinstimulierte humane Astrozytom-T67-Zellen]. Die Autoren der Studie (Aldieri
857
858
23 . Abb. 23.32
Artemisininoide (Endoperoxide)
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
Aktivierung durch Fe (frei oder an Hämin gebunden)
freies Radikal oder elektrophiles Zwischenprodukt
alkylierte „Malaria zielproteine“
Alkylierung
„Malaria zielproteine“
Zweistufiger Wirkungsmechanismus der Artemisininoide (Artemisinin und Derivate). In einem ersten Schritt werden die Endoperoxide durch Hämin oder molekulares Eisen aktiviert unter Bildung von C-4-zentrierten freien Radikalen bzw. elektrophilen, alkylierenden Zwischenprodukten. In einem zweiten Schritt verursachen diese reaktiven Produkte Membranschäden durch Alkylierung von spezifischen Proteinen („malaria target proteins“). Artemisininoide sind damit Substanzen, die freie Radikale bilden, unterscheiden sich aber von solchen, die O-Radikale, wie z. B. das Superoxidanion, erzeugen und oxidative Schäden verursachen (vgl. Meshnick et al. 1996, Übersicht von Wright u. Warhurst 2002). Für die möglichen chemischen Strukturen der diskutierten Artemisininradikale wird auf die Übersicht von Robert et al. (2002) verwiesen. Gemäß kürzlich durchgeführten Untersuchungen wird durch die gebildeten Artemisinin-Radikale ähnlich wie durch Thapsigargin (vgl. S. 859) die sarcoplasmatische Retikulum Ca2+-ATPase (SERCA) gehemmt. In diesem Fall handelt es sich um die Hemmung des SERCA-Orthologen PfATP6, das die einzige SERCA-Typ Ca2+-ATPase Sequenz im Genom von Plasmodium falciparum darstellt. (Eckstein-Ludwig et al. 2003)
et al. 2003) leiten daraus einen möglichen therapeutischen Efekt bei den durch Malaria hervorgerufenen neurologischen Komplikationen ab.
. Abb. 23.33
Metabolismus und Pharmakokinetik. Es liegen nur we-
H3C
nige pharmakokinetische Daten vom Menschen vor. Es scheint, dass die Substanz eine schlechte orale Bioverfügbarkeit und eine kurze Halbwertszeit hat. Der Metabolismus erfolgt hauptsächlich in der Leber, die Ausscheidung von etwa 80% der oralen Dosis erfolgt innerhalb 24 h mit dem Urin. Aus humanem Urin sind 4 Metaboliten isoliert worden ( > Abb. 23.33). Ether- und Esterderivate ergaben Dihydroartemisinin als Hauptmetaboliten. Sie können daher als Prodrug bezeichnet werden, da Dihydroartemisinin als Endoperoxid wirksam ist. Etherderivate ergeben auch hydroxylierte Metaboliten (vgl. Übersichten von Lee u. Huford 1990 sowie Titulaer et al. 1991; Chi et al. 1991). Für weitere Studien zu den Ether- und Esterderivaten > Übersichten von van Agtmael et al. (1999) sowie Wright u. Warhurst (2002). Anwendung, Richtlinien der WHO. Artemisinin und ins-
besondere die Derivate der ersten Generation werden heute weltweit in Gegenden, wo multidrugresistente Parasiten häuig vorkommen, zur Malariatherapie eingesetzt. Sie wirken schnell und werden auch schnell wieder ausgeschieden. Die Beseitigung des Fiebers und die parasitäre Clearance werden daher mit diesen Präparaten schneller erreicht als mit den herkömmlichen Malariamitteln (z. B.
A
H
CH3
B
O
O
H3C O
O H
H
O
H
CH3
H
O
CH3 OH
O C
H3C
OH
D OH
O
H3C
H
CH3
O C
O H
CH3
H
H
O
CH3 O
H3C
O
O
CH3
Nach peroraler Verabreichung von Artemisinin konnten aus dem menschlichen Harn die 4 unwirksamen Metaboliten A (Deoxyartemisinin), B (Deoxydihydroartemisinin), C (9,10-Dihydroxydihydroartemisinin) und D ohne Endoperoxidstruktur isoliert werden (vgl. Lee u. Hufford 1990). Beim Metabolismus von Arteether bei der Ratte ergaben sich 12 verschiedene (wirksame und unwirksame) Metaboliten (Chi et al. 1991)
23.4 Sesquiterpene
Chloroquin, Chinin, Meloquin). Es können damit auch Fälle von Plasmodium-falciparum-Malaria geheilt werden, die gegenüber anderen Chemotherapeutika resistent sind. Artemisinin und Derivate haben eine hohe Rezidivrate und eignen sich daher nicht zur Monotherapie, sondern nur in Kombination [Artemisinin Combination herapy (ACT)] mit anderen, lange wirkenden Malariamitteln wie z. B. Meloquin, Lumefantrin. Damit deckt man zwei asexuelle Erregerzyklen ab. Gegenwärtig existieren noch keine Resistenzen gegenüber Artemisinin und seine Derivate. Gründe dafür sind ihre kurze Halbwertszeit, die Wirksamkeit gegenüber Gametozyten und die erwähnte Kombination mit anderen Malariamitteln. Im Rahmen einer ACT ist schon die dreitägige Gabe von Artemisininderivaten Erfolg versprechend (Miniübersicht von Meshnick 2002; Garner 2004). Nach wie vor gelten daher auch heute noch die von der WHO 1994 und 1998 erlassenen Richtlinien für die Artemisininanwendung, von denen die wichtigsten die Abgabe betrefen (vgl. Phillips-Howard 2002 und darin zitierte Literatur). Artemisinin und seine Derivate sollten x nur in Gegenden mit multidrugresistenter P.-falciparum-Malaria eingesetzt werden; x möglichst mit anderen Malariamitteln kombiniert werden;
23
x nicht ohne Verschreibung erhältlich sein; nie zur Malariaprophylaxe eingesetzt werden, um die Entwicklung neuer resistenter Stämme nicht zu beschleunigen.
! Kernaussagen
Bei Artemisinin und seinen Derivaten (Artemisininoide) handelt es sich um Sesquiterpene mit einem Cadinangrundgerüst, die eine Endoperoxidstruktur aufweisen, die für die Antimalariawirkung essentiell ist. Die Artemisininoide haben einen zweistufigen Wirkungsmechanismus, bei dem Hämin eine zentrale Rolle spielt. Durch das Eisen werden die Substanzen zu freien Radikalen aktiviert, die durch Alkylierung von spezifischen Proteinen der Plasmodien Membranschäden verursachen. Der medizinische Einsatz der Artemisininoide zur Malariatherapie ist gemäß WHO zur Behandlung von multidrugresistenten Parasiten vorbehalten. Die Artemisininoide haben eine hohe Rezidivrate und eignen sich daher nicht zur Monotherapie, sondern nur in Kombination mit anderen, lange wirkenden Malariamitteln, z. B. Mefloquin oder Lumefantrin. Gegenwärtig exisistiert keine Resistenz gegenüber Artemisinin und seine Derivate.
Schlüsselbegriffe Arteether Artelinat Artemether Artemisia annua Artemisinin Artemisininderivate Artemisininoide Artesunat
C-4-zentrierte freie Radikale Cadinangerüst Dihydroartemisinin Endoperoxidstruktur Hämin Kombinationstherapie (ACT) Malariatherapie Malariazielproteine
Thapsigargin Herkunft, Struktur, Wirkung. hapsigargin ist der Haupt-
inhaltsstof von hapsia garganica L., einer in Nordafrika heimischen, gelbblühenden Apiaceae [IIB25a] mit einem Sat, der stark lokal reizende, blasenziehende Eigenschaten hat. In der traditionellen arabischen und europäischen Medizin, v. a. Frankreichs, wurden Zubereitungen aus dem Harz, vergleichbar dem Cantharidenplaster, äußerlich gegen rheumatische Leiden verwendet. Bei hapsigargin ( > Abb. 23.34) handelt es sich um ein 6 Hydroxyl-
Multidrugresistente P.-falciparumMalaria Plasmodium falciparum Qinghaosu SERCA Trioxalane WHO-Richtlinien der Anwendung Wirkung (Antimalariawirkung)
gruppen aufweisendes Guajanolid, von denen 4 verestert sind. Die Substanz ist stark hautreizend, gilt aber nicht als Phorbolester-Typ-Tumorpromotor und kann schon in geringer Konzentration Histamin aus Gewebemastzellen freisetzen und den Arachidonsäuremetabolismus stimulieren. hapsigargin ist somit ein potenter Aktivator verschiedener Zelltypen, die am Entzündungsgeschehen beteiligt sind. Die Substanz stimuliert die Produktion von Lipoxygenaseprodukten (z. B. von Leukotrien B4 und 12-Hydroxyeicosatetraensäure) wie auch von Cyclooxygenaseprodukten (z. B. von Prostaglandin E2 und 6-Keto-
859
860
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.34 H3C H
R1O 2
OR4 10
R2O
OR3 7
H3C
O
11
OH CH3 OH
O Thapsigargin
Thapsigargicin
R1 = H3C (CH2)6 CO
R1 = H3C (CH2)4 CO
R2 = H3C CH
C(CH3)CO
R3 = H3C (CH2)2 CO R4 = H3C
CO
Thapsigargin und Thapsigargicin sind Beispiele von Tetraestern eines Hexahydroxyguajanolids. Sie gehören einer selten vorkommenden Gruppe von Guajanoliden an, die eine α-orientierte C-7-C-11-Bindung aufweisen (vgl. Übersicht von Christensen et al. 1997)
prostaglandin F1D). Die gute Lipoidlöslichkeit der Substanz ermöglicht eine ausgezeichnete Penetration durch biologische Membranen. Verwendung. Heute wird hapsigargin zur Untersuchung der Calciumkanäle, der intrazellulären Calciumfreisetzung, der Wiederaufüllung der Calciumspeicher sowie der Calciumregulation in verschiedenen Geweben und Zelltypen verwendet. Es handelt sich beim hapsigargin um einen selektiven Hemmstof der sarcoplasmatischen Retikulum Ca2+-ATPasen [engl.: Sarco-Endoplasmic Reticulum Ca2+-ATPases (SERCAs)]. Wie aus Hunderten von aktuellen Publikationen der letzten Jahre hervorgeht, hat sich die Substanz dank ihrer Hemmwirkung auf die
! Kernaussagen
Thapsigargin gehört einer selten vorkommenden Gruppe von Guajanoliden an, die eine D-orientierte C-7/C-11-Bindung aufweisen. Die Substanz hat dank ihrer Eigenschaft als selektiver Hemmstoff der sarcoplasmatischen Retikulum Ca2+-ATPasen eine große biochemische Bedeutung als Modellsubstanz zur Untersuchung des Calciumstoffwechsels.
Ca2+-Pumpe als Modellsubstanz zur Untersuchung der Calciumregulation etabliert (vgl. Übersichten von Christensen et al. 1997; Treiman et al. 1998). Heute ist auch die Bindungsstelle von hapsigargin auf molekularer Ebene an der Ca2+-ATPase bekannt (vgl. Übersicht von Lee 2002).
Petasites-Extrakte Herkunft, Inhaltsstoffe. Petasites-Extrakte werden aus
dem Rhizom und aus Blättern von Petasites hybridus (L.) Gaertn., B. Mey. et Scherb. (Familie: Asteraceae [IIB28b]) durch CO2-Extraktion bzw. durch Extraktion mit 90% Ethanol und anschließender Entfernung der im Extrakt enthaltenen lebertoxischen Pyrrolizidinalkaloide (PA; vgl. Kap. 27.2) hergestellt. Die Extrakte dienen zur Herstellung von Fertigarzneimitteln. Die Drogen selbst (Petasitidis rhizoma; Petasitidis folium) dürfen heute als Teedroge nicht mehr verwendet werden, da der Gehalt an PA die pro Tag zugelassenen 0,1 µg übersteigen würde. Die charakteristischen und wirksamkeitsbestimmenden Inhaltsstofe von P. hybridus sind Sesquiterpene vom Eremophilan-Typ ( > Abb. 23.35 und 23.36). Herstellung eines PA-freien Extraktes. Zur Herstellung des PA-freien Blattextraktes Ze 339 werden die gemahlenen Blätter von P. hybridus aus kontrolliertem Anbau (Petasin-Chemovarietät) durch Extraktion mit lüssigem Kohlendioxid unter erhöhtem Druck (65 bar) extrahiert und anschließend mit einem speziellen Adsorber zur Enntfernung eventuell verbliebener PA nachgereinigt (PANachweisgrenze: 35 ppb). Der Pestwurz-Blattextrakt Ze 339 hat einen Gesamt-Petasingehalt von 20%. Pharmakokinetik. Humanpharmakokinetische Untersu-
chungen nach p.o.-Verabreichung von Pestwurz-Blattextrakt Ze 339 (standardisiert auf 8 mg/Tabl in 58 mg Extrakt) zeigten eine rasche Bioverfügbarkeit der Petasine. Die maximale Plasmakonzentration (cmax) wurde nach 1,6 h erreicht, die Halbwertszeit (t1/2) lag bei ca. 7 h (Käufeler et al. 2000). Wirkung und Wirkungsmechanismus. Petasites-Extrakte (Wurzel- und Blattextrakte) haben eine spasmolytische und entzündungshemmende Wirkung. Bei den wirksamen Inhaltsstofen handelt es sich insbesondere um die Petasine (Petasin, Isopetasin, Neoisopetasin). Petasine
23
23.4 Sesquiterpene
. Abb. 23.35
H3C
CH3
O
CH3
2
9
R2
R1
H
Furanoeremophilane
Furanopetasinchemotyp H3C
CH3
O
CH3
8
O H
R
H
Eremophilanlactone Petasites hybridus
H3C
CH3
CH3 R 3
H2C O Petasolderivate H3C Petasinchemotyp
CH3
CH3 R
H2C O Neopetasolderivate H3C
CH3
CH3 R
H3C O Isopetasolderivate
Von Petasites hybridus existieren nach heutiger Kenntnis 2 Chemotypen, der Petasin- und der Furanopetasintyp. Aus der Petasinvarietät wurden bisher 21 Derivate der Sesquiterpenalkohole Petasol, Neopetasol und Isopetasol isoliert, die über die 3-OH-Gruppe verestert sind. Die Vertreter der Furanopetasinvarietät sind Furanoeremophilane, die in 2- und/oder 9-Stellung substituiert sind. Sie können bei der Trocknung in die entsprechenden Eremophilanlactone umgelagert werden (vgl. > Abb. 23.36)
861
862
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.36 Neopetasole
Petasole H3C
CH3
CH3
H3C
CH3
R 3
H2C
CH3
H3C
Furanoeremophilane: 9-Hydroxyfuranoeremophilane H3C
OH
H
CH3
CH3
H3C
O
R
H
9-Hydroxyfuranoeremophilan (1) Furanopetasin (2) 2-Methylthioacryloylhydroxyfuranoeremophilan (3)
H
4α − −
8β-Hydroxylactone
H3C
8
O
R = OH R = Ang R = Mta
Eremophilanlactone: 8β-H-Lactone
O
2
9
Isopetasol Isopetasin Iso-S-petasin
8α-H-Lactone
CH3
R
O Neopetasol Neopetasin Neo-S-petasin
Petasol Petasin S-Petasin
CH3
CH3
H3C O
H3C
CH3
R
H2C
O
O
Isopetasole
R
O O
O H
OH
4β 5β −
6 − −
R=H R = Ang R = Mta
CH3
CH3 O
O O
CH3
Angeloyl (= Ang)
O
SCH3
Thiomethylacryloyl (= Mta)
Die in Petasites hybridus vorkommenden Sesquiterpene liegen in der Pflanze zum größten Teil nicht frei, sondern mit verschiedenen Säuren, insbesondere mit Angelikasäure (Ang) und Methylthioacrylsäure (Mta), verestert vor. Bei der Petasinvarietät ist in der Regel Angeloylpetasol (= Petasin) mit einem Anteil von 25% die Hauptkomponente. Das frische Rhizom der Furanopetasinvarietät zeichnet sich durch das Vorhandensein von hauptsächlich 9-Hydroxyfuranoeremophilan (1), Furanopetasin (2, Hauptsubstanz) und wenig 2-Methylthioacryloylhydroxyfuranoeremophilan (3) aus. Demgegenüber weisen Extrakte aus der Handelsdroge eine wesentlich komplexere Zusammensetzung auf. Neben den im Frischextrakt enthaltenen Verbindungen des 9-Hydroxyfuranoeremophilantyps 1 bis 3, konnten die sich von 1 und 2 durch Umlagerung und Oxidation ableitenden Eremophilanlactone 4a, 4β, 5β und 6 isoliert werden (Siegenthaler u. Neuenschwander 1996)
23
23.4 Sesquiterpene
und Pestwurzextrakte hemmen folgende Moleküle und Zellfunktionen: x intrazelluläre Calciumfreisetzung; x enzymatische Aktivierung der Phospholipase A2 ; x Leukotriensynthese; x Bindung von Histamin zum H1-Rezeptor; x Degranulierung entzündeter Zellen.
. Abb. 23.37
Der Mechanismus der antiinlammatorischen Wirkung scheint speziisch zu sein. Pestwurzextrakt (Wurzel- und Blattextrakt) hemmt in vitro (humane neutrophile und eosinophile Leukozyten, Makrophagen) die 5-Lipoxygenase (5-LOX), nicht aber die Cyclooxygenase. Dadurch resultiert eine Hemmung der Synthese der CysteinylLeukotrien-(Cys-LT-)Entzündungsmediatoren. Petasin hemmt die durch C5a und PAF induzierte intrazelluläre Freisetzung von Calcium aus dem endoplasmatischen Retikulum, wodurch die calciumabhängige 5-LOX der Leukozyten inhibiert wird ( > Abb. 23.37; für Abkürzungen > Legende). Zusätzlich hemmt Petasin die Freisetzung von ECP aus eosinophilen Granulozyten. Da alle drei Petasine die Cys-LT-Synthese hemmen, wird angenommen, dass die 5-LOX durch die isomeren Petasine zusätzlich auf einem zweiten Weg gehemmt wird. Als Positivkontrolle wurde der 5-LOX-Hemmer Zileuton verwendet. Die Petasites-Extrakte sowie alle drei Petasine vermochten die Cys-LT-Synthese in der gleichen Größenordnung wie Zileuton zu hemmen. Die antiinlammatorische Wirkung der Petasine kann mit derjenigen von Leukotrienrezeptorantagonisten verglichen werden, die die Synthese der Cys-LTs (LTC4, LTD4) und LTE4 blockieren. Petasine und synthetische 5-LOX-Hemmer blockieren die Synthese aller Leukotriene, womit auch die leukotaktische Wirkung von LTB4 verhindert wird. Der Mechanismus der spasmolytischen Wirkung ist nicht abschließend geklärt. Neuere In-vitro-Untersuchungen von S-Petasin zeigten eine vasodilatierende Wirkung, die wahrscheinlich auf einer direkten Hemmung der Calciumkanäle (vom L-Typ) in Zellmembranen der glatten Gefäßmuskulatur beruht (vgl. Übersichten von Käufeler et al. 2000; homet 2002; homet u. Simon 2002 und darin zitierte Literaturen). Nach Fiebich et al. (2005) hemmen lipophile Pestwurz-CO2-Wurzelextrakte, welche zur Migräneprophylaxe verwendet werden, selektiv in vitro die durch COX-2 verursachte Freigabe von PGE2. Die COX-2-Synthese wird durch direkte Interaktion von bisher nicht bekannten Substanzen mit dem Enzym und durch Hemmung der p42/44
Petasin
Lipidmediatoren Komplementfaktoren a
PIP2 PLCβ
b
IP3
DAG
Ca 2+
PKC
AA
c
PLA 2
5-LOX Isopetasin Neopetasin Petasin?
LTA 4
Cysteinyl-LTs
ECP
Vereinfachtes Schema der Aktivierung von Entzündungsmediatoren und postulierte Hemmeffekte der Petasine (Modell: eosinophile Granulozyten; nach Thomet u. Simon 2002). Lipidmediatoren bzw. Komplementfaktoren (z. B. PAF, C5a) aktivieren die intrazelluläre Signalübertragung, die zur Synthese von Cysteinyl-LTs und zur ECP-Degranulierung führt. In der Abbildung sind drei Wege aufgeführt: a Inositol-Polyphosphat-Kaskade, b Leukotrien-Synthese und c Degranulierung. Der Einfachheit halber ist die MAPK(Mitogen-aktivierte-Proteinkinase-)Kaskade nicht berücksichtigt ( > dazu Thomet 2002). In vorklinischen Studien zeigten Petasin, Isopetasin und Neopetasin eine hemmende Wirkung (Balken). Nur Petasin, nicht aber Isopetasin und Neopetasin hemmten die durch die Mediatoren erzeugte Calciumfreisetzung und die Freisetzung von ECP. Im Gegensatz dazu hemmten alle drei Substanzen die LT-Synthese. LTs Leukotriene, PAF blutplättchenaktivierender Faktor, C5a Komplementfaktor, PLCβ Phospholipase Cβ, PIP2 Phosphatidylinositol-4,5-diphosphat, IP3 Inositoltriphosphat, DAG Di-acylglycerol, PKC Proteinkinase C, PLA2 Phospholipase A2 , AA Arachidonsäure, 5-LOX 5-Lipoxygenase, LTA4 Leukotrien A4 , ECP eosinophiles kationisches Protein
863
864
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
Mitogen-aktivierten Proteinkinase (MAPK) verursacht (Modell: primäre Mikrogliazellen des ZNS der Ratte). Ob dieser neu postulierte Wirkungsmechanismus auch für Blattextrakte zutrit, muss im Augenblick ofen gelassen werden. Anwendungsgebiete. Extrakte aus dem Pestwurzrhizom
werden vorwiegend zur Behandlung von Spasmen des Urogenital- und Vertrauungstraktes, von Spannungskopfschmerzen und zur Migräneprophylaxe verwendet. Ein zufällig beobachteter lindernder Efekt bei Heuschnupfen (saisonale allergische Rhinitis; vgl. Infobox) führte zur Entwicklung des Spezialextraktes Ze 399 aus Pestwurzblättern. Zur Migräneprophylaxe und Behandlung der allergischen Rhinitis existieren randomisierte, plazebokontrollierte Doppelblindstudien. Die Verminderung der Attackenfrequenz und der Zahl der Migränetage ist bei Behandlung mit Petasites-Wurzelextrakt (75 mg) efektiver als mit Plazebo (Abnahme der Anzahl der Migräneattacken während einer 4-wöchigen herapie: 45% gegenüber 28% für Plazebo; Lipton et al. 2004 und darin zitierte Literatur). Die Wirkung von Petasites-Blattextrakt bei allergischer Rhinitis ist vergleichbar mit derjenigen der H1-Antihistaminika Cetirizin und Fexofenadin. Die Invivo-Relevanz der in > Abb. 23.37 beschriebenen In-vitro-Untersuchungen konnte in kontrollierten klinischen Studien belegt werden. Es resultierten verminderte Werte von Cys-LTs, LTB4 und Histamin in der Nasenlüssigkeit, was die Wirkung bei den behandelten Patienten mindestens zum Teil erklärt (homet u. Simon 2002). Eine Detailbeschreibung der klinischen Studien mit Petasites-Blattextrakt beindet sich bei Schapowal (2004). Infobox Allergische Rhinitis. Die allergische Rhinitis [Allergie Typ I (Sofortreaktion); Freisetzung verschiedener Mediatoren (u. a. Histamin, Leukotriene, Prostaglandine, ECF, PAF) aus Mastzellen, eosinophilen und basophilen Granulozyten] ist eine der häufigsten chronischen Erkrankungen in Industrienationen, die in Europa ungefähr 10–20% (USA 15–20%) der Bevölkerung mit steigender Tendenz betrifft. Als entzündliche Reaktion der Nasenschleimhaut ist sie hauptsächlich gekennzeichnet durch Niesen, Juckreiz in der Nase, vermehrte Bildung von wässrigem und schleimigem Nasensekret sowie nasale Obstruktion (Verstopfung).
6
Häufig sind die Augen mit den Symptomen Juckreiz, Tränenfluss und Rötung der Bindehaut beteiligt (Rhinokonjunktivitis). Weitere Begleiterscheinungen sind Müdigkeit und Kopfschmerzen, die das allgemeine Wohlbefinden, die Arbeitsfähigkeit und Lebensqualität stark beeinträchtigen. Nicht zuletzt ist die allergische Rhinitis als chronische Erkrankung der Atemwege auch ein erheblicher Risikofaktor für die Entwicklung eines Asthma bronchiale. Die für die saisonale allergische Rhinitis (Heuschnupfen) relevanten Allergene sind Pollen. Bei der perennialen allergischen Rhinitis sind Hausstaubmilben die häufigsten Allergene, gefolgt von Katzenepithelien. Die Behandlung der allergischen Rhinitis basiert auf der Allergenvermeidung und der medikamentösen Therapie (Antihistaminika, Corticosteroide u. a.). Als nebenwirkungsarme Alternative steht in der Schweiz seit 2003 ein Petasites-Blattextraktpräparat zur Verfügung.
Unerwünschte Wirkungen. Gelegentlich sind leichte
gastrointestinale Beschwerden aufgetreten. In einigen Fällen wurde eine cholestatische Hepatitis in wahrscheinlichen Zusammenhang mit der Langzeiteinnahme eines Pestwurz-CO2-Wurzelextraktes zur Migräneprophylaxe gebracht (vgl. Übersicht von Kälin u. Sulger Büel 2002). Aufgrund des Schweregrades der Fälle und des möglichen Zusammenhangs zwischen Leberschädigungen und Einnahme der Pestwurz-Wurzelpräparate wurde in der Schweiz im Jahre 2002 ein Überprüfungsverfahren aller zugelassenen Arzneimittel (basierend auf Wurzel- und Blattextrakten) eröfnet. Als Resultat der Untersuchungen wurde 2004 die weitere Zulassung von zwei Präparaten mit einem bestimmten CO2-Wurzelspezialextrakt widerrufen. Begründet wurde die Maßnahme wie folgt (Swissmedic 2004): x Die toxikologischen Daten geben Hinweise auf ein relevantes Organschädigungspotential des verwendeten speziellen CO2-Wurzelextraktes; x die gemeldeten Leberschädigungen sind selten, aber schwerwiegend und sie traten bei den vorgeschriebenen Dosen und der empfohlenen herapiedauer auf; x der Zusammenhang von Leberschädigungen mit der Anwendung von Präparaten mit dem CO2-Wurzelextrakt wurde als möglich bis wahrscheinlich beurteilt; x der Mechanismus und die verantwortlichen Inhaltsstofe sind nicht bekannt und der Verlauf der Leber-
23.4 Sesquiterpene
schädigungen ist nicht vorhersehbar, sodass weitere Maßnahmen – wie z. B. eine regelmäßige Kontrolle der Leberwerte u. a. – die Sicherheit der Anwendung der Präparate nicht gewährleisten. Alle schwerwiegenden Nebenwirkungen standen mit demselben CO2-Wurzelspezialextrakt in Verbindung, der auch in Deutschland verwendet wird. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hält diese Maßnahme bislang nicht für nötig und übt „watchful waiting“. Die gemeldeten Hepatitisfälle entsprechen für den Spezialextrakt einer berechneten Inzidenz von 0,8 pro 100.000 Anwendungen. Diese Inzidenzrate liegt niedriger als bei den nichtsteroidalen Antirheumatika (Ibuprofen 1,6; Diclofenac 3,8). Im Falle des Entscheides der Swissmedic wird wie häuig bei Phytotherapeutika mit dem Nutzen-Risiko-Verhältnis argumentiert (nichtvitale Indikation; vorhandene Alternativen zur Migräneprophylaxe). Gemäß Diener (2005) ergeben die Wirksamkeits- und Verträglichkeitsstudien der drei vorliegenden klinischen Studien mit dem Spezialextrakt sowie die geringe Inzidenz der Hepatitisverdachtsfälle eine positive Nutzen-RisikoBewertung.
! Kernaussagen
Bei den wirksamkeitsbestimmenden Inhaltsstoffen von Petasites-Extrakten handelt es sich um Sesquiterpene vom Eremophilan-Typ. Sie liegen in der Pflanze zum größten Teil nicht frei, sondern mit verschiedenen Säuren, z. B. Angelika- und Methylthioacrylsäure, verestert vor. Die spasmolytische und entzündungshemmende Wirkung basiert insbesondere auf den im Petasin-Chemotyp vorkommenden Petasinen. Sie hemmen in eosinophilen Granulozyten eine Reihe von Molekülen und Zellfunktionen, u. a. die intrazelluläre Calciumfreisetzung und die Leukotriensynthese. Die Wirkung von Petasites-Blattextrakt bei allergischer Rhinitis ist vergleichbar mit derjenigen der H1-Antihistaminika Cetirizin und Fexofenadin. Indikationen für die Anwendung von Petasites-Wurzelextrakten sind Migräneprophylaxe sowie Spasmen des Urogenitalund Verdauungstraktes. In einigen Fällen wurde eine cholestatische Hepatitis in wahrscheinlichen Zusammenhang mit der Langzeiteinnahme (Migräneprophylaxe) eines bestimmten Pestwurz-CO2-Wurzelspezialextraktes gebracht, was in der Schweiz 2004 zur Widerrufung von zwei Präparaten führte.
23
Benediktenkraut Herkunft. Benediktenkraut (Cnici benedicti herba DAC
2003) besteht aus den zur Blütezeit gesammelten, getrockneten oberirdischen Teilen von Cnicus benedictus L. (Familie: Asteraceae [IIB28b]), einem 1-jährigen, im Mittelmeergebiet heimischen, 40–60 cm hohen distelartigen Kraut mit gelben Korbblüten und schrotsägezähnigen, gewellten, großen Blättern, welche sich dem 5-kantigen Stängel eng anschmiegen. Die Droge stammt aus dem Anbau. Sensorische Eigenschaften. Geschmack: Stark und an-
haltend bitter. Drogenstaub verursacht ein unangenehmes Kratzen im Hals. Inhaltsstoffe
x Sesquiterpenlactone (0,2–0,7%) mit dem bitter schmeckenden Cnicin neben Salonitenolid und Artemisiifolin ( > Abb. 23.38); x Lignanlactone (Arctigenin, Trachelogenin, Nortrachelosid, 2-Acetylnortrachelosid; ( > Abb. 23.38); x wenig ätherisches Öl mit dem Acetylenderivat Dodeca-1,11-dien-3,5,7,9-tetrain als Hauptbestandteil; daneben p-Cymen, Citral, Citronellal, Benzoesäure und Zimtaldehyd; x pentazyklische Triterpene, Phytosterole und Flavonoide; hohe Konzentrationen an Mineralstofen (10– 18%), besonders an Kalium- und Magnesiumsalzen. Analytische Kennzeichnung. DC-Nachweis von Cnicin
(DAC) [Fließmittel: Ethylacetat–wasserfreie Ameisensäure (98:2); Referenzsubstanzen: Scopoletin, Phenazon und hymol; Nachweis: Anisaldehydreagens]. Nach dem Besprühen mit dem Reagens erscheint Cnicin im Tageslicht als bräunliche Zone. Weitere violett, gelbgrün, grünlich oder braunviolett gefärbte Zonen können autreten. Verwendung. Die geschnittene Droge zur Infusbereitung.
Als Bestandteil gemischter Tees, z. B. der Species amaroaromaticae sowie von industriell hergestellten Leber- und Galletees. Zusammen mit anderen Kräutern für bittere Spirituosen. Zur Herstellung von Extrakten, die zu planzlichen Cholagoga (Kombinationspräparate) weiterverarbeitet werden. Wirkungen, Anwendungsgebiete. Förderung der Spei-
chel- und Magensatsekretion. Als Amarum-Aromatikum
865
866
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.38 CH3
CH3
CH2
OR
R CH2
CH2OH O
O
OH
CH2OH O
CH2OH OH O
CH2
Artemisiifolin
Cnicin (R = Dihydroxyethylacryl) Salonitenolid (R = H) H
H3CO
3 2
R3O
R2
4
O 1
O
(−)-Arctigenin (−)-Trachelogenin Nortrachelosid 2-Acetylnortrachelosid
R1
R2
R3
H H Glc Glc
H OH OH OAc
CH3 CH3 H H
OCH3 OR1
Sesquiterpenlactone von C. benedictus gehören zu den Germacranoliden. Cnicin, der Hauptinhaltsstoff, ist über die Hydroxylgruppe am C-8 mit 2-(1,2-Dihydroxyethyl)acrylsäure verestert. Salonitenolid ist das Deacylderivat des Cnicins. Zur Bitterwirkung des Benediktenkrauts tragen auch die Lignanlactone bei
bei Appetitlosigkeit, dyseptischen Beschwerden (Kommission E). Die Anwendung als „harntreibendes Mittel“ dürte, ähnlich wie im Falle des Brennesselkrauts, ihre Berechtigung im hohen Gehalt an Kaliumsalzen haben. Die volksmedizinische Anwendung als lokales Wundmittel kann durch die stark entzündungshemmende Wirkung von Cnicin sowie mit der antibakteriellen Wirkung der Sesquiterpenlactone und des ätherischen Öls erklärt werden. Unerwünschte Wirkungen. Benediktenkraut enthält Sesquiterpene mit D-Methylen-J-lacton-Anordnung, von denen bekannt ist, dass sie Allergien, insbesondere solche vom verzögerten Typ, hervorrufen können (vgl. Abschn. 23.4.2). Auch wenn Benediktenkraut-Zubereitungen nur geringe Gehalte aufweisen dürten, sollten sie – bei Vorliegen von Überempindlichkeit gegen andere Asteraceen-Arten – zumindest als rezidiv-auslösend in Betracht gezogen werden.
Löwenzahn Herkunft. Der Löwenzahn (Taraxaci herba cum radice
DAC 2004) besteht aus den im Frühjahr vor der Blüte geernteten, getrockneten, oberirdischen Teilen von Taraxacum oicinale Weber mit dem Wurzelstock, der Pfahlwurzel oder mit deren Teilen (Familie: Asteraceae [IIB28b]). Löwenzahn wächst kosmopolitisch in allen Zonen mit gemäßigtem Klima. Die Planze hat eine milchsatreiche, spindelförmige Pfahlwurzel, große Rosetten aus schrotsägeförmigen Blättern und hohle glatte Schäte mit goldgelben Köpfchen aus lauter Zungenblüten. Die Droge stammt aus Wildvorkommen und von Kulturen. Sensorische Eigenschaften. Geruch: schwach eigenartig.
Geschmack: bitter. Inhaltsstoffe
x Sesquiterpenlactone, und zwar Sesquiterpensäuren
mit Esterbindung an E-d-Glucose [Taraxinsäure-, Dihydrotaraxinsäureglucosid und Ainsliosid (Isomer
23
23.4 Sesquiterpene
Analytische Kennzeichnung. DC-Fingerprintchromatogramm (DAC) [Fließmittel: Toluol–Ethylacetat (93:7); Referenzsubstanzen: Guajazulen, Linalool; Nachweis: Anisaldehydreagens]. Nach dem Besprühen mit dem Reagens erscheinen im Tageslicht graue, graugrüne und violette Zonen, die nicht näher charakterisiert werden
von Taraxinsäureglucosid)] sowie das Glucosid des Taraxacolids und Tetrahydroridentin B ( > Abb. 23.39); Triterpene in der unterschiedlichsten Ausgestaltung: u. a. pentazyklische Triterpenalkohole ( > Abb. 23.39) und tetrazyklische Triterpenoide (Cycloartenoltyp) neben Phytosterolen und Carotinoiden; phenolische Verbindungen: Dihydroconiferin, Syringin, Dihydrosyringin, Taraxacosid, Phenolcarbonsäuren (u. a. Mono- und Dicafeoylchinasäure- sowie Cafeoylweinsäurederivate), Flavonoide (u. a. Luteolin- und Quercetinglucoside), Cumarine; Kohlenhydrate: Inulin (im Herbst bis 40%, im Frühjahr etwa 2%), Fructose; Mineralstofe mit hohem Gehalt an Kaliumsalzen (etwa 5%).
x
x
x x
Verwendung. Als geschnittene Droge zur Herstellung eines Infuses; zusammen mit anderen Drogen zur Herstellung von Teemischungen, z. B. Species cholagogae; zur Herstellung von Fluid-, Spissum- und Trockenextrakten, die als Bestandteile von Kombinationspräparaten der Indikationsgruppe Cholagoga und Urologika verwendet werden. Die frische Planze ist Ausgangsmaterial zur Herstellung von Löwenzahnplanzensat.
. Abb. 23.39 O
O
OH
β-D-glc
Glc
CH3
14
O
CH3
Rest 13
11
CH3
CH3
CH2 O
O
CH3
Taraxinsäureglucosid
CH3 O O
CH3
O HO
CH3 O O
Tetrahydroridentin B
Taraxacolidglucosid CH3
CH2
OH
O
H
O
11,13-Dihydrotaraxinsäureglucosid
O
p-Hydroxyphenylessigsäure
H
O
O
HO
HO
O
CH3
O
OH
β-D-Glucose
H3C
H3C
CH3
O Butanolid
CH3 CH3
Taraxacosid HO H3C
Rest
R
ψ-Taraxasterol (R = H) Faradiol (R = OH)
CH3
Taraxasterol (R = H) Arnidiol (R = OH)
Charakteristische Inhaltsstoffe des Löwenzahns sind die in anderen Pflanzen bisher nicht gefundenen Germacranolide Taraxinsäure-β-D-glucopyranosid und sein 11,13-Dihydroderivat, die Eudesmanolide Tetrahydroridentin B und Taraxacolid-β-D-glucopyranosid sowie Taraxacosid, ein γ-Butyrolactonglucosid, ferner die Guaianolide Ixerin D und 11,13-Dihydrolactucin (Kisiel u. Barszcz 2000). Die Taraxinsäure ist dadurch bemerkenswert, dass die 14-CH3-Gruppe zur Carboxylgruppe oxidiert ist und somit mit Glucose esterartig verknüpft sein kann. Weitere auffallende Inhaltsstoffe sind pentazyklische Triterpenalkohole vom Ursantyp
867
868
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
Wirkungen, Anwendungsgebiete. Choleretische und
diuretische Wirkungen sowie appetitanregende Eigenschaten. Bei Störungen des Gallenlusses, Appetitlosigkeit und dyspeptischen Beschwerden; zur Anregung der Diurese (Kommission E). Für ältere In-vivo-Experimente bezüglich der Cholerese/Diurese sei auf die ESCOP-Monographien verwiesen. ESCOP beschreibt 2 Monographien für Löwenzahn (Taraxaci folium und T. radix). Die therapeutischen Indikationen für die Löwenzahnblätter sind rheumatische Beschwerden sowie die Vorbeugung von Nierengrieß, für die Löwenzahnwurzel Wiederherstellung der Leber- und Gallenfunktion, dyspeptische Beschwerden sowie Appetitlosigkeit. Die diuretische Wirkung dürte auf den hohen Gehalt an Kaliumionen, die appetitanregende auf die Bitterwirkung der Sesquiterpenlactone zurückzuführen sein. Nach Kim et al. (2000) hemmen Extrakte aus T. oicinale den Tumornekrosefaktor D (TNFD) durch Hemmung der Produktion von Interleukin-1. Es ist anzunehmen, dass die damit in Zusammenhang stehende entzündungshemmende Wirkung den Triterpenalkoholen vom Typ Faradiol zuzuschreiben ist (vgl. Kap. 24.5.6, Ringelblumenblüten). Unerwünschte Wirkungen. Taraxinsäureglucosid ist ein
sehr potentes Kontaktallergen. Hautekzeme wurden allerdings nur bei intensivem Kontakt mit Löwenzahnmilchsat beobachtet, allem Anschein nach hingegen bisher nicht bei der Verwendung von Fertigarzneimitteln. Das hängt möglicherweise mit der großen Unbeständigkeit des Allergens zusammen. Das Sensibilisierungspotential des Löwenzahns wird als schwach eingestut (vgl. Hausen u. Vieluf 1998).
Schafgarbenkraut Herkunft. Schafgarbenkraut (Millefolii herba PhEur 5)
besteht aus den getrockneten, blühenden Triebspitzen von Achillea millefolium L. (Familie: Asteraceae [IIB28b]). Die Planze, ein bis 80 cm hohes, ausdauerndes Kraut, ist weit verbreitet (Europa, Asien, Nordamerika), hat 2- bis 3fach geiederte Blätter und kleine Blütenköpfchen mit weiß oder rosa gefärbten Zungenblüten in vielköpiger Doldentraube. Die Droge stammt aus Wildbeständen und aus Kulturen.
es sich um eine morphologisch, zytogenetisch und auch chemisch sehr polymorphe Sammelart handelt (vgl. dazu Übersicht von Orth et al. 1994). Die Deinition der PhEur geht nur insofern darauf ein, dass ein Mindestgehalt an Proazulenen gefordert wird, wodurch proazulenfreie Sippen ausgeschlossen werden. Sensorische Eigenschaften. Die Droge weist einen schwachen aromatischen Geruch und einen leicht bitteren Geschmack auf (kein Hinweis in der PhEur). Inhaltsstoffe. Die Zusammensetzung variiert je nach Her-
kunt (Kleinart) ziemlich stark.
x Ätherisches Öl (0,1 bis >1%; PhEur = mindestens 2 ml
ukg–1) mit sehr variabler Zusammensetzung. Hauptkomponenten sind Monoterpene (E-Pinen, Sabinen, 1,8-Cineol, Campher) und Sesquiterpene (E-Caryophyllen, Germacren D). Es sind über 100 Bestandteile des ätherischen Öls identiiziert worden (vgl. Kastner et al. 1992). Proazulenhaltige Sippen liefern bei der Wasserdampfdestillation ein ätherisches Öl, das aus 10–25% Chamazulen besteht; x Sesquiterpenlactone (PhEur = mindestens 0,02% Proazulene, berechnet als Chamazulen), insbesondere Guajanolide (Achillicin; > Abb. 23.40) sowie ähnliche Guajanolidester, ferner Achillin, 8D-Angeloxyachillicin, Leucodin, 8D-Angeloxyleucodin, D-Peroxyachifolid, 3-Oxa-achillicin u. a., Germacranolide (Millein, Achillifolin, Dihydroparthenolid, Balchanolid), Eudesmanolide (Dihydroreynosin, Tauremi. Tabelle 23.5 Versuch zur systematischen Einteilung der Arten des Achillea-millefolium-Komplexes aufgrund des Ploidiegrades und der Proazulenführung (vgl. Orth et al. 1994 und darin zitierte Literatur) Proazulenfrei
Proazulenhaltig
Diploid
Ploidiegrad
A. setacea
A. aspleniifolia A. roseo-alba
Tetraploid
A. pratensisa
A. collina
Hexaploid
A. millefolium s. str.
A. millefolium
A. distans Octaploid a
Stammpflanze. A. millefolium L. müsste richtigerweise
mit dem Zusatz s.l. (sensu latiore) gekennzeichnet sein, da
A. pannonica
Die hier nicht aufgeführten proazulenfreien tetraploiden Subspecies A. roseo-alba und A. collina sind mit A. pratensis identisch.
23
23.4 Sesquiterpene
. Abb. 23.40 H3C
3
8
H3C
H3C
OH
O
OR
O
CH3
H3C
OH
O
H3C
OR
8
H3C
CH3
O
H
O
O
11
O
R
CH3
O
Achillicin (= 8α-Acetylartabsin) (R = Acetyl) 3-Oxa-achillicin (R = Acetyl) 8α-Angeloxy-3-oxa-artabsin (R = Angeloyl) 8α-Angeloxyartabsin (R = Angeloyl) 8α-Tigloxy-3-oxa-artabsin (R = Tigloyl) 8α-Tigloxyartabsin (R = Tigloyl)
Achillin (11β) 8α-Angeloxyachillin (11β) Leucodin (11α) 8-α-Angeloxyleucodin (11α)
R=H R = OAng R=H R = OAng
CH3 CH3
O O
H3C
OH OCOCH3
O2
H3C
H
CH2
O
CH3
H3COCO CH3
CH3 H
H3COOC
CH3
O
O α-Peroxyachifolid
OH O
O Millefin
CH2
O
Achimillsäuremethylester A
Die Sesquiterpenlactone der Schafgarbe (über 30 verschiedene Strukturen) sind insbesondere Guajanolide, daneben Germacranolide und Eudesmanolide. Proazulene sind u. a. Achillicin sowie ähnliche Guajanolidester. Daneben kommen nicht azulenogene Guajanolide (z. B. Achillin, Leucodin), Guajanolidperoxide [z. B. α-Peroxyachifolid (0,25–0,6% in den Blütenköpfchen); Rücker et al. 1994] und 3-Oxaguajanolide (z. B. 3-Oxa-achillicin und ähnliche Ester) vor. Germacranolide sind z. B. Millefin. Von der Struktur her ungewöhnliche Sesquiterpene der Schafgarbe sind die Achimillsäuremethylester A, B und C
sin) und Longipinenderivate. Eine Unterteilung der proazulenfreien und der proazulenhaltigen Subspezies indet sich in > Tabelle 23.5; x Polyacetylene, darunter Ponticaepoxid, cis- und transMatricariaester; x Flavonoide, insbesondere 7-O-Glykoside und 7-OMalonylglykoside von Apigenin und Luteolin, C-Glykosyllavone (Orientin, Isoorientin u. a.), Flavonoidaglykone (Apigenin, Luteolin, Centaureidin, Casticin, Artemetin u. a.); ferner x Phenolcarbonsäuren, Sterole, Triterpene und Verbindungen mit N im Molekül (Betaine, ca. 0,4% mit der Hauptsubstanz Betonicin, daneben Stachydrin u. a.).
Analytische Kennzeichnung Identitätsprüfung. Die PhEur prüt auf das Vorkom-
men von Proazulenen und macht ein Fingerprintchromatogramm. Beim Erhitzen mit Dimethylaminobenzald-Lösung entsteht aus den Proazulenen Chamazulen, das mit dem Reagens blaue oder grünlich-blaue, wasserlösliche Produkte liefert. Fingerprint-DC [Fließmittel: Ethylacetat–Toluol (5:95); Referenzsubstanzen: Cineol und Guajazulen; Nachweis: Anisaldehydreagens]. Das Fingerprint-DC hat wenig speziische Aussagekrat. Es werden bestimmte Farbzonen (violett, rötlichviolett, grauviolett bis grau) ohne Zuordnung beschrieben. Sie entsprechen Bestandteilen des äthe-
869
870
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
rischen Öls, Sesquiterpenlactonen und lipophilen Flavonoiden. Der Nachweis einer proazulenhaltigen Droge kann nach Saukel (1993) durchgeführt werden: Beim Aukochen der Drogenpartikel mit einer Mischung von 60%iger Chloralhydratlösung und 85%iger Phosphorsäure (2:1) lassen sich proazulenhaltige Drüsenhaare unter dem Mikroskop an ihrer tieblauen, violetten bzw. violettgrauen bis schwarzvioletten Färbung erkennen. Gehaltsbestimmung. Die PhEur lässt eine Bestimmung
des ätherischen Öls mit Wasser–Ethylenglycol (1:9) als Destillationslüssigkeit und eine photometrische Bestimmung des Chamazulens (= indirekte Proazulenbestimmung) durchführen. Zur quantitativen Bestimmung einzelner Sesquiterpenlactone, z. B. des allergenen D-Peroxyachifolids eignet sich am besten die HPLC (Rücker et al. 1994). Verwendung. Schafgarbe ist häuiger Bestandteil von industriell hergestellten Teemischungen; sie wird ferner in Form von Kräuterdragees sowie als Planzensat angeboten. Sie wird sodann zu Fluid- und Trockenextrakten verarbeitet, die ihrerseits Bestandteil zahlreicher Kombinationspräparate sind. Wirkungen. Die Wirkung der Schafgarbe ist entzündungshemmend (Sesquiterpenlactone, Azulene), spasmolytisch (ätherisches Öl, Flavonoide), antimikrobiell und antifungal (ätherisches Öl, Sesquiterpenlactone, Polyacetylene), choleretisch (Kombination verschiedener Substanzen, inkl. der Betaine; vgl. dazu Übersicht von Kastner et al. 1995) und antioxidativ (Candan et al. 2003). Neuere Untersuchungen belegten insbesondere die entzündungshemmende und antiödematöse Wirkung der Sesquiterpenfraktion sowie von reinen Guajanoliden, 3-Oxaguajanoliden und Peroxyguajanoliden (Kastner et al. 1993a, 1993b). Anwendungsgebiete. Schafgarbe gilt als Ersatz für die Kamille (vgl. S. 1084). Die Indikationen für die Anwendung der beiden Drogen und daraus hergestellter Präparate stimmen weitgehend überein. Der Schafgarbe fehlt allerdings der Desodoranscharakter, das angenehme Dutaroma, das die Kamille für die äußere Anwendung so geeignet macht. Hauptanwendungsgebiete (Kommission E) sind Appetitlosigkeit und dyspeptische Beschwerden wie leichte krampfartige Beschwerden im Magen-
Darm-Bereich. Ferner zu Sitzbädern bei schmerzhaten Krampfzuständen psychovegetativen Ursprungs im kleinen Becken der Frau. In der Volksmedizin äußerlich auch zur Wundheilung und zur Behandlung entzündlicher Hauterkrankungen. Unerwünschte Wirkungen. Schafgarbe kann Allergien
vom verzögerten Typ auslösen (vgl. Abschn. 23.4.2). Sie gehört zu den Planzen mit mittlerer allergener Potenz. Hauptverantwortlich für die allergene Wirkung sind das Sesquiterpenlacton D-Peroxyachifolid sowie ähnliche Verbindungen (Hausen et al. 1991). Die Forderung der Arzneibücher nach proazulenführenden Drogen garantiert nach den bisherigen Kenntnissen eine Arzneibuchware, die frei von allergenen Sesquiterpenlactonen ist, wenn nicht Mischungen verschiedener Achillea-Sippen vorliegen, was allerdings häuig der Fall ist (vgl. Jurenitsch u. Kastner 1994).
Wermutkraut Herkunft. Wermutkraut (Absinthii herba PhEur 5) be-
steht aus den getrockneten, basalen Laubblättern oder den getrockneten, zur Blütezeit gesammelten, oberen Sprossteilen und Laubblättern von Artemisia absinthium L. (Familie: Asteraceae [IIB28b]) oder aus einer Mischung der aufgeführten Planzenteile. A. absinthium ist ein in trockenen Gebieten Europas und Asiens heimischer Halbstrauch von 0,5–1 m Höhe. Die Planze hat einen verzweigten, am Grunde verholzten Stängel, beiderseits weißseidig behaarte Blätter und zahlreiche gelbe, in aufrechter Rispe angeordnete, kleine Blütenköpfchen. Die Droge stammt vorwiegend aus dem Anbau. Anmerkung: Der Erntezeitpunkt ist für die Drogenqualität wichtig. Mit dem Übergang zur Blüte und später zur Fruchtreife ist eine Umstimmung der Stofwechselvorgänge verbunden, die sich ot in einem Ansteigen oder auch Absinken pharmazeutisch interessierender Stofe äußern kann. Beim Wermut steigt mit der Vollblüte der Bitterstofgehalt auf annähernd das Doppelte an. Die höchste Konzentration indet man in den Sprossspitzen, die niedrigste in den Stängelanteilen (vgl. Übersicht von Hose 2002 und darin zitierte Literatur). Sensorische Eigenschaften. Die Droge riecht durchdrin-
gend aromatisch (deutlicher beim Zerreiben). Der Geschmack ist aromatisch und intensiv bitter. Der Bitterwert
23
23.4 Sesquiterpene
beträgt mindestens 10.000 (PhEur). Der für den Bitterwert maßgebende Inhaltsstof ist das Absinthin. Es ist wesentlich bitterer als Artabsin (26:1), sodass bei dem üblichen Mengenverhältnis von 3:1 etwa 99% des Bitterwerts auf Absinthin entfallen.
. Abb. 23.41
Inhaltsstoffe
H3C
x Sesquiterpenlactone (0,15–0,4%), in erster Linie die
H3C
sin und Absinthin [Fließmittel: Aceton–Essigsäure 99%– Toluol–Dichlormethan (10:10:30:50); Referenzsubstanzen: Methylrot und Resorcin; Sprühreagens: Acetanhydrid-Schwefelsäurereagens]. Die Zone des Artabsins, die wenig oberhalb des Methylrots liegt, ist im Tageslicht nach Besprühen mit Acetanhydrid-Schwefelsäure blau. Während des anschließenden Erhitzens des Chromatogramms auf 100–105 qC erscheint Absinthin im Chromatogramm der Untersuchungslösung als rote bis braunrote Zone mit einem ähnlichen Rf-Wert wie Resorcin im Chromatogramm der Referenzlösung. Gehaltsbestimmung. Bestimmung des Gehalts an ätheri-
schem Öl. Verwendung. In Form von Tees, zur Herstellung von
Tinkturen und Trockenextrakten (z. B. Absinthii tinctura DAC 2005) sowie zur Gewinnung des ätherischen Öls (für die Parfümindustrie). Zur Herstellung von Wermutwein wird hauptsächlich A. pontica (römischer Wermut) verwendet. Die Herstellung geschieht entweder durch
H3C
CH3
O
Guajanolide Absinthin und Artabsin ( > Abb. 23.41);
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Nachweis (PhEur) von Artab-
H3C
≡
O
CH3
O
O
x ätherisches Öl (0,2–1,5%; PhEur = mindestens 2 ml u kg–1), hauptsächlich aus Mono- und Sesquiterpenen bestehend und je nach Chemotyp [E-hujon (1S,4Shujan-3-on, Formel > Abb. 25.50), trans-Sabinylacetat, cis-Epoxyocimen oder Chrysanthenylacetat können bis über 40% des Öls ausmachen] verschieden zusammengesetzt. Neuerdings sind auch cis-Epoxyocimen/cis-Chrysanthenylacetat- sowie cis-Epoxyocimen/E-hujon-Chemotypen beschrieben worden. Der cis-Epoxyocimen/cis-Chrysanthenyl-Chemotyp enthält kein hujon (Juteau et al. 2003); x Flavonoidglykoside und lipophile Flavone wie z. B. 3,3c,4,5,6,7-Hexamethoxylavon (Artemisitin); x Phenolcarbonsäuren, Cumarine, Lignane vom Sesamin-Typ.
HO
OH
Artabsin C15H20O3
HO
CH3
H
HH
H3C
OH
H R H3C O
H CH3
O CH3
O O Absinthin (R = CH3) C30H40O6 (Diels-Alder-Dimeres von Artabsin)
Hauptkomponente der Sesquiterpenlactone von Artemisia absinthium ist das Guajanolid Absinthin (0,24%), ein Dimeres des ebenfalls vorkommenden Artabsins (0,10%). Die Bildung von dimeren Derivaten kann man sich in Analogie zu einer Diels-Alder-Adduktbildung vorstellen. Es handelt sich um relativ labile Substanzen, die leicht Umlagerungen erfahren können. Absinthin lagert sich beim Trocknen (H+-Ionen-katalysiert) teilweise in das Anabsinthin (Formel nicht abgebildet) um: Die alkoholische Gruppe addiert sich an die Doppelbindung, sodass sich ein Tetrahydrofuranring ausbildet. Neben Absinthin und Artabsin kommen nahezu 15 weitere Guajanolide neben einzelnen Germacranoliden und Eudesmanoliden vor (vgl. Marco u. Barbera 1990). Die meisten Guajanolide sind bei der Wasserdampfdestillation (saures Milieu) unbeständig und gehen in das blau gefärbte Chamazulen über (vgl. unter Kamillenblüten, S. 1084). Absinthin kann heute in 9 Stufen mit einer Ausbeute von ca. 20% synthetisch hergestellt werden (Zhang et al. 2005)
871
872
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
Extraktion mit gärendem Most oder Wein oder durch Zusatz eines Wermutextrakts zum Wein. Auch ist es üblich, weitere bittere oder aromatische Kräuter (wie z. B. Bitterorangenschalen, Enzian, Nelken, Zimt, römische Kamille) zuzusetzen. Wirkung und Anwendungsgebiete. Wermut regt relek-
torisch die Magensat- und Gallensekretion an. Als Amarum aromaticum (Bitterstofe und ätherisches Öl) bei Appetitlosigkeit, dyspeptischen Beschwerden, Dyskinesien der Gallenwege (Kommission E), bei Appetitlosigkeit infolge einer Krankheit und bei dyspeptischen Beschwerden (ESCOP). Unerwünschte Wirkungen. Wermutöl führt zu degenerativen Erscheinungen im ZNS mit Kopfschmerzen, Schwindel, Krämpfen und Epilepsie, was zu Beginn des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Ländern zum Verbot der Herstellung und des Vertriebs von Absinth führte. In einer neueren Arbeit konnte gezeigt werden, dass die neurotoxische Wirkung von hujon (insbesondere von D-hujon, das toxischer ist als E-hujon) und seinen Metaboliten
(insbesondere 7-Hydoxy-D-thujon) durch eine Modulation von GABAA-Rezeptoren ähnlich wie bei Picrotoxinin (Formel vgl. > Abb. 23.30) zustande kommt (Höld et al. 2000). Seit 1998 sind in Deutschland, seit 2004 in der Schweiz Spirituosen mit Absinthöl wieder zugelassen. Mit der Renaissance des Absinths, der in vielen Kulturstaaten seit anfangs des 20. Jahrhunderts verboten war, sind daher zuküntig bei übermäßigem Genuss unerwünschte neuround nephrotoxische Wirkungen zu erwarten (vgl. Hein et al. 2001). Allerdings müssen die niedrigen zugelassenen D- und E-hujongehalte im Absinth berücksichtigt werden, die weniger zur Toxizität beitragen als der Alkoholgehalt (vgl. dazu auch Lachenmeier et al. 2006). Wenn Wermut in zu konzentrierter Form oder über zu lange Zeit hin (kurmäßig) eingenommen wird, kann sich eine ausgesprochene Abneigung gegen die weitere Einnahme entwickeln. Akute oder chronische Vergitungen durch hujon sind daher bei der Verwendung von Drogenextrakten allein schon aus diesem Grund nicht zu befürchten. Wermutweine enthalten nur Spuren von hujon bzw. anstelle von hujon als Hauptbestandteil cis- und trans-Epoxyocimen.
Schlüsselbegriffe Absinthii herba Achillea millefolium Allergische Rhinitis Amarum aromaticum H1-Antihistaminika Artemisia absinthium Benediktenkraut Calciumstoffwechsel Cetirizin Cnici benedicti herba Cnicus benedictus CO2-Extraktion
Dyspeptische Beschwerden Eremophilane Fexofenadin Guajanolide Hemmung der Cysteinyl-LT-Synthese Heuschnupfen Kontaktdermatitis Leukotrienrezeptorantagonisten 5-Lipoxygenase Löwenzahn Migräneprophylaxe Millefolii herba
Arnikablüten Herkunft. Die Droge (Arnicae los PhEur 5) besteht aus
den getrockneten Blütenständen von Arnica montana L. (Familie: Asteraceae [IIB28b]). A. montana gehört in verschiedenen Ländern Europas zu den geschützten Planzen und wurde daher teilweise durch die Unterart foliosa der nordamerikanischen Wiesen-Arnika (A. chamissonis) ersetzt, die ähnliche Inhaltsstofe aufweist. Anbauerfolge mit A. montana und die Erkenntnis, dass die Inhaltsstofe von
Petasine Petasites hybridus Schafgarbenkraut SERCAs Sesquiterpenlactone Taraxaci herba cum radice Taraxacum officinale Thapsia garganica Thapsigargin Wermutkraut Wirkungen (entzündungshemmend, spasmolytisch)
A. chamissonis ssp. foliosa größereVariabilität aufweisen, haben dazu geführt, dass die Droge der PhEur (seit Nachtrag 4.7 der PhEur) wieder aus der in Europa traditionell verwendeten A. montana gewonnen wird. Stammpflanze. A. montana ist ein 20–60 cm hohes, aus-
dauerndes Kraut mit grundständiger Blattrosette, einem unverzweigten Stängel mit gegenständigen, verkehrt eiförmigen Blättern und 1–3 Blütenkörbchen mit goldgelben Röhren- und Zungenblüten. Im Unterschied dazu ist
23
23.4 Sesquiterpene
A. chamissonis Less ssp. foliosa (Nutt.) Maguire 20– 90 cm hoch, hat zahlreiche kreuzgegenständige, lanzettliche bis umgekehrt lanzettliche Blätter und 3–15 wesentlich kleinere Blütenkörbchen.
Inhaltsstoffe
x Sesquiterpenlactone vom Pseudoguajanolidtyp [A. montana 0,3–1,0%; PhEur = mindestens 0,4%, berechnet als Dihydrohelenalintiglat (A. montana); A. chamissonis ssp. foliosa 0,07–1,4% (Willuhn et al. 1994)], insbesondere Ester des Helenalins und Dihydrohelenalins mit kurzkettigen Fettsäuren, ferner Arnifoline und Chamissonolide ( > Abb. 23.42);
Sensorische Eigenschaften. Geruch: schwach aroma-
tisch. Geschmack: herb-bitter, etwas scharf. . Abb. 23.42 H
CH3
H
CH3
O H3C
O
11
O O
OR
O
H3C
H3C
H2C
11α,13-Dihydrohelenaline
Helenaline (R = H (Helenalin), Acetyl, Isobutyryl, α-Methylacryloyl, Tigloyl, Isovaleryl, 2-Methylbutyryl, Angelicoyl*)
HO
H
O
OR
CH3
Hinweis * nur bei Arnicachamissonis-Blüten
(R = H (Dihydrohelenalin), Rest wie unter Helenaline + Senecionyl, Propionyl*)
HO
H
CH3
R1O
H
CH3
2
O O
H3C
O
OR H2C
Arnifoline (R = Tigloyl, Angelicoyl*, Senecioyl*)
O
O O
H3C
O
OR H3C
11α,13-Dihydroarnifoline (R = Tigloyl*, Angelicoyl*, Senecioyl*, Isovaleryl*)
R2O
H3C
R3
O H2C
Chamissonolide* (R1, R2 = entweder H bzw. Acetyl; R3 = entweder H, OH oder Acetoxy)
Wirksamkeitsbestimmende Inhaltsstoffe der Arnikablüten sind in erster Linie die Sesquiterpenlactone vom Pseudoguajanolidtyp aus der Untergruppe der Helenanolide. Ihr pharmakologisches Wirkungsprofil korreliert weitgehend mit den Indikationsgebieten der Arnikablüten. Die Blütenkörbchen von Arnica montana führen Helenalin und 11α,13-Dihydrohelenalin sowie deren Esterderivate (= Helenaline und Dihydrohelenaline). Diese und ähnliche Verbindungen (*) zusammen mit Helenanoliden, die eine 2-Hydroxy-4-oxo-Substitution am Cyclopentanring (Arnifoline/Dihydroarnifoline) bzw. eine 2,4,6-Tri- oder 2,4-Dihydroxystruktur (Chamissonolide; ganz oder teilweise verestert) aufweisen, sind terpenoide Inhaltsstoffe von A. chamissonis. Mitteleuropäische Blüten von A. montana enthalten vorwiegend Helenalinester; in Blüten spanischer Herkunft dominieren Dihydrohelenaline. Das ist von Bedeutung für die Qualität der Droge. Das bifunktionelle Helenalin und seine Esterderivate haben in fast allen Wirkungsbereichen stärkere Wirkungen als die entsprechenden monofunktionellen Dihydrohelenalinverbindungen, die andererseits keine oder nur eine bedeutend geringere kontaktallergene Potenz besitzen (vgl. Willuhn et al. 1994)
873
874
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
x ätherisches Öl (0,2–0,3%), zur Hauptsache (etwa 50%)
x x x x x
aus Fettsäuren und Alkanen bestehend, neben hymolderivaten, Mono- und Sesquiterpenen, Polyacetylenen; Flavonoide (0,4–0,6%), darunter Quercetin-3-O-glucosid (Isoquercitrin), Kämpferol-3-O-glucosid (Astragalin) und Luteolin-7-O-glucosid; Phenolcarbonsäuren, darunter Chlorogensäure, Cynarin und ähnliche Chinasäurederivate; Cumarine (Scopoletin und Umbelliferon), Triterpene und Sterine; Blütenfarbstofe vom Carotinoidtyp (Xanthophylle); in Spuren nichttoxische Pyrrolizidinalkaloide (Tussilaginsäure, Isotussilaginsäure, 2-Pyrrolidinessigsäure (Paßreiter 1992).
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität und Reinheit. Sie basiert auf
dem DC-Nachweis (PhEur) [Fließmittel: wasserfreie Ameisensäure–Wasser–Ethylmethylketon–Ethylacetat (10:10:30:50); Referenzsubstanzen: Chlorogen- und Kaffeesäure, Rutin; Nachweis: Diphenylboryloxyethylamin/ Macrogol 400, UV 365 nm] der Chlorogensäure und des Flavonglykosidtripletts Luteolin-7-glucosid, Isoquercitrin und Astragalin. Im unteren Rf-Bereich, d. h. auf gleicher Höhe oder unterhalb der Rutosidzone dürfen keine orangegelb luoreszierenden Zonen autreten, was auf Verunreinigungen mit Ringelblumenblüten (von Calendula oicinalis L.) oder mit mexikanischer Arnika (von Heterotheca inuloides Cass.) hindeuten würde. Beide enthalten u. a. Rutosid (fehlt in oizineller Arnika; vgl. Merfort et al. 1990). Gehaltsbestimmung. Zur quantitativen Bestimmung der Sesquiterpenlactone existieren photometrische (Umsetzung mit Dinitrobenzol bzw. Hydroxylamin) und chromatographische (GC, HPLC) Verfahren (Willuhn u. Leven 1991). Die PhEur verwendet zur Gesamtbestimmung der Sesquiterpenlactone die HPLC unter Einsatz von octadecylsilyliertem Kieselgel (4 Pm) als Säulenmaterial, ein Wasser-Methanol-Gradient als Fließmittel und Santonin als interner Standard. Eine für die Routineanalyse optimierte HPLC-Methode wird von Douglas et al. (2004) beschrieben. Verwendung. Arnikablüten werden zur Herstellung von
wässrigen und öligen Auszügen sowie der Arnikatinktur (Arnicae tinctura PhEur 5.1) verwendet. Häuigste An-
wendungsform ist die Tinktur (extrahierte Menge an Sesquiterpenlactonen = ca. 92%; Willuhn u. Leven 1995), die zur Anwendung verdünnt werden muss (1 Esslöfel auf 0,25 l Wasser). Arnikazubereitungen sind Bestandteile einer Vielzahl von Phytopharmaka im Marktsegment Antivaricosa und Antirheumatika (vgl. Übersicht von Wijnsma et al. 1995). Wirkungen und Wirkungsmechanismus. Bei topischer
Applikation wirken Arnikapräparate antiphlogistisch, konsekutiv analgetisch bei Entzündungen und antiseptisch (Kommission E). Als Hauptwirkstofe gelten die Sesquiterpenlactone, Hauptwirkung ist die entzündungshemmende Wirkung. Das bifunktionelle Helenalin zeigt sowohl in vitro als auch in vivo im Vergleich zum monofunktionellen Dihydrohelenalin eine stärkere Aktivität (vgl. dazu auch Legende der > Abb. 23.42). Die entzündungshemmende Wirkung der Helenaline wurde in verschiedenen In-vivo-Assays wie z. B. Carrageenan-Ödem der Rattenpfote, Adjuvans-Arthritis-Test, Mausohrödem untersucht, wobei die Ödemhemmung bis zu viermal stärker war als mit der Vergleichssubstanz Indometacin (vgl. Übersicht von Willuhn 1991; Klaas et al. 2002). Helenalin und einzelne Derivate greifen in verschiedene Stofwechselprozesse ein, die bei Entzündungsprozessen eine Rolle spielen [In-vitro- und Ex-vivo-Testsysteme; in Konzentrationen zwischen 10–4 bis 10–7; vgl. Übersicht von Merfort 2003]. Sie hemmen die x Leukozytenwanderung und Chemotaxis; x Freisetzung von lysosomalen Enzymen und deren Aktivität; x Serotoninfreisetzung aus hrombozyten; x Histaminfreigabe aus Mastzellen; x Prostaglandinsynthese, Blutplättchenaggregation (Hemmung von Phospholipase A2, COX-1); x 5-LOX und die Leukotrien C4-Synthase; x Transkriptionsfaktoren NF-NB und NF-AT. Neuere Untersuchungen ergaben detaillierte Erkenntnisse zum Wirkungsmechanismus. Sesquiterpenlactone (SLs) vom 10D-Methylpseudoguaianolid-Typ wie Helenalin, 11D,13-Dihydrohelenalin und ihre Esterderivate greifen an zentraler Stelle in das Entzündungsgeschehen ein, in dem sie in mikromolaren (10 µM) Konzentrationen (damit auch bei topischer Anwendung von Arnikatinktur) die Aktivierung der Transkriptionsfaktoren NF-NB ( > Abb. 23.43, 23.44) und NF-AT hemmen. Mit der Hemmung dieser zentralen Mediatoren der menschli-
23.4 Sesquiterpene
23
. Abb. 23.43
Funktionen des Transkriptionsfaktors NF-κB bei der Entstehung von Krankheiten. Verschiedene Stimuli wie Zytokine (IL-1, TNFα), Wachstumsfaktoren, bakterielle Toxine, virale Infektionen, physiologischer, psychischer und oxidativer Stress, UV, ionisierende Stahlung sowie verschiedene Chemikalien [Lipopolysaccharid (LPS)] und Arzneimittel (Mitogene) führen durch die Aktivierung von NF-κB zu einer Überproduktion von Zytokinen und anderen Molekülen, welche die Immunantwort regulieren. Zusammen mit dem Schutz von Zellen vor Apoptose kann dies zu Entzündungskrankheiten wie rheumatische Arthritis und Asthma führen. Die Hemmung der Apoptose kann zusammen mit vermehrter Proliferation und der indirekten Inaktivierung von Tumorsuppressoren zu einer Rolle von NF-κB in der Tumorentstehung führen (vgl. Übersicht von Perkins 2000). Substanzen, die die Aktivierung von NF-κB hemmen, haben daher entzündungshemmende und/oder chemopräventive Wirkungen
chen Immunantwort resultiert eine Verminderung der Entzündungsreaktion. Der Mechanismus der SLs für die entzündungshemmende Wirkung ist damit ähnlich wie bei den Corticosteroiden, unterscheidet sich aber von demjenigen der nichtsteroidalen Antiphlogistika (NSAIDs). Mit der Hemmung der beiden Transkriptionsfaktoren wird simultan die Produktion von verschiedenen Zytokinen [z. B. Interleukin 1E (IL-1E), Interleukin 2 (IL-2), Tumornekrosefaktor D (TNFD)], von Zelladhäsionsmolekülen oder Enzymen wie induzierbare NO-Synthase (iNOS), Cyclooxygenase 2 (COX-2), 5-Lipoxygenase (5-LOX) vermindert sowie die Kontrolle der Aktivierung
und Diferenzierung von T-Zellen beeinlusst. Das gilt vor allem bei chronischen Entzündungen, wie z. B. der rheumatischen Arthritis, bei denen erhöhte Spiegel von IL-1, IL-6 und TNFD autreten. Die SLs mit Helenalin als der aktivsten Verbindung modiizieren selektiv den NF-NB/INB-Komplex ( > Abb. 23.44) und verhindern die Freigabe von INB durch Alkylierung des in der DNA-bindenden Domäne liegenden Cystein 38 der p65-Protein-Unterheinheit von NF-NB. Dieser Angrif erfolgt höchstwahrscheinlich nach Art einer Michael-Addition über die Sulhydrylgruppen von Cysteinen. Die dadurch bedingte Konformationsän-
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23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.44
Schematisches Modell der Hemmung des Transkriptionsfaktors NF-κB im Zusammenhang mit entzündlichen Krankheiten (abgeändert nach Perkins 2000). NF-κB ist ein zentraler Mediator im Entzündungsgeschehen, der die Gene für Zellädhäsionsmoleküle, Immunorezeptoren, Akute-Phase-Proteine, proinflammatorische Zytokine wie IL-1, IL-2, IL-6, IL-8 und TNF α sowie für Enzyme wie COX-2 und iNOS aktiviert. NF-κB setzt sich aus den zwei Untereinheiten p50 und p65 zusammen und liegt in den meisten Zellen im Zytoplasma in einer inaktiven Form vor. Eine dritte Untereinheit, das IκB, verhindert die Wanderung in den Zellkern. Verschiedene Noxen ( > Legende Abb. 23.43) wie bakterielle und virale Infektionen, Entzündungsmediatoren wie Zytokine oder TNFα führen zum Abbau der inhibitorischen Untereinheit IκB (via Phosphorylierung, Ubiquitinilierung und Abbau durch ein Proteasom). Aktiviertes NF-κB wandert nach Freisetzung in den Zellkern, bindet an die DNA und leitet die Transkription verschiedener Gene von Entzündungsmediatoren ein (vgl. Übersicht von Merfort 2003). Naturstoffe wie Betulinsäure, Boswelliasäuren oder SLs modifizieren selektiv den NF-κB/IκB-Komplex ( > Text)
derung des Proteins macht dessen Bindung an die entsprechende Sequenz der DNA unmöglich. Daneben wird zu einem geringen Teil (~6%) der Abbau von INB gehemmt. Der NF-AT („nuclear factor of activated T cells“) kommt im Komplex mit dem Aktivator-Protein-1 (AP-1) vor und ist an der Transkription von Genen und Entzündungsmediatoren wie IL-2, IL-3, GMCSF, IFN-J und TNF
D beteiligt (vgl. Rüngeler et al. 1999; Klaas et al. 2002; Übersicht von Merfort 2003 und darin zitierte Literatur). Anwendungsgebiete. Zur äußerlichen Anwendung bei Verletzungs- und Unfallfolgen, z. B. bei Hämatomen, Distorsionen, Prellungen, Quetschungen, Frakturödemen, bei rheumatischen Muskel- und Gelenkbeschwerden. Entzündungen der Schleimhäute von Mund- und Rachenraum.
23.4 Sesquiterpene
Furunkulose und Entzündungen als Folge von Insektenstichen; Oberlächenphlebitis (Kommission E). Ähnlich werden die Anwendungsgebiete von ESCOP beschrieben: Äußerlich zur Behandlung von Blutergüssen, Verstauchungen, Entzündungen als Folge von Insektenstichen sowie bei Zahnleischentzündung, Aphthen und zur symptomatischen Behandlung von rheumatischen Beschwerden. Häuigste Anwendungform ist die Arnikatinktur. Es konnte gezeigt werden (Modell: Jurkat-T-Zellen), dass durch 100 µl Arnikatinktur pro 5 ml Testlösung (31 µM Sesquiterpenlactone) eine vollständige Hemmung von NF-NB resultiert (Klaas et al. 2002 und darin zitierte Literatur), dass bei topischer Anwendung von Arnikatinktur eine genügende Menge von SLs zur Auslösung einer antiphlogistischen Wirkung durch die Haut eindringt und dass ihre Anwendung gegenüber Reinstofen vorteilhat ist (Wagner et al. 2004b). Während die antiphlogistische Wirkung von Arnikatinktur experimentell gut belegt ist, fehlen dazu aussagekrätige klinische Studien. Andererseits ist die Wirksamkeit von Arnikasalbe und -gel zur Behandlung chronisch-venöser Insuizienz klinisch nachgewiesen, während es über den Mechanismus der Venenwirksamkeit bisher keine schlüssigen Vorstellungen gibt (Brock 2000). Eine ofene multizentrische klinische Studie ergab, dass Arnikagel bei milder bis moderater Osteoarthritis des Knies eine therapeutische Option darstellt [ähnliche Wirkung wie Diclofenac (WOMAC-Index); Knuesel et al. 2002]. In dieser Studie wurde das allergene Potential des verwendeten Arnikagels als gering eingestut (1 Patient von total 79 = 1,3%). Die früher übliche orale Verabreichung von Arnikazubereitungen sollte wegen toxischen Nebenwirkungen vermieden werden. Die Helenaline und ihre Ester sind zytotoxisch, wirken antitumoral, kardiotonisch und atemanaleptisch.
23
men, sondern v. a. bei Personen, die Arnikatinktur unverdünnt benützen. Unverdünnte Arnikatinktur unter Kompressen und Umschlägen kann zu einer Blasenbildung und zu Ekzemen führen. Eine Sensibilisierung durch Arnikaplaster oder durch arnikahaltige Hautsalben ist bisher nicht bekannt. Kreuzallergie mit anderen Asteraceen, insbesondere mit Rainfarn, Schafgarbe, Chrysanthemen, Mutterkraut und Sonnenblumen, werden häuig beobachtet (vgl. Hausen u. Vieluf 1998; Übersicht von Willuhn 1986).
! Kernaussagen
Arnikazubereitungen werden ausschließlich zur äußerlichen Anwendung zur Behandlung von Blutergüssen, Verstauchungen, Entzündungen als Folge von Insektenstichen sowie bei Zahnfleischentzündung, Aphthen und zur symptomatischen Behandlung von rheumatischen Beschwerden verwendet. Sie wirken antiphlogistisch, analgetisch und antiseptisch. Für die entzündungshemmende Wirkung sind die Sesquiterpenlactone (SLs), insbesondere Helenalin und Derivate, verantwortlich. Sie greifen in verschiedene Stoffwechselprozesse ein, die bei Entzündungen eine Rolle spielen, u. a. hemmen sie die 5-LOX, die Leukotrien C4-Synthase sowie die Transkriptionsfaktoren NF-NB und NF-AT in mikromolaren Konzentrationen. Die SLs mit Helenalin als der aktivsten Verbindung modifizieren selektiv die Untereinheit p65 des NF-NB/INB-Komplexes durch Alkylierung nach Art einer MichaelAddition. Mit der Hemmung der beiden Transkriptionsfaktoren wird simultan die Transkription verschiedener Gene von Entzündungsmediatoren unterbunden. In Zukunft sind vermehrt GCP-konforme klinische Studien mit Arnika-Zubereitungen notwendig, welche ihre Sicherheit und Wirksamkeit belegen, damit das Nutzen-Risiko-Verhältnis ( > Hinweis) besser abgeschätzt werden kann.
Unerwünschte Wirkungen. Arnika gehört innerhalb der
Asteraceen zu den wichtigsten kontaktallergieinduzierenden Arten. Die Sensibilisierungspotenz ist stark. Nicht nur berufsbedingt kann es zu einer Sensibilisierung kom-
Hinweis. Das Nutzen-Risiko-Verhältnis von Arnika-Zubereitungen wird kontrovers diskutiert.
Schlüsselbegriffe Aktivator-Protein-1 Arnica chamissonis Arnica montana Arnicae flos Arnikablüten Arnikatinktur
Blutergüsse Helenalin 5-Lipoxygenase Michael-Addition NFNB/INB-Komplex Pseudoguajanolide
Sesquiterpenlactone Transkriptionsfaktoren NF-NB/NF-AT Verstauchungen Wirkung (entzündungshemmend) Zahnfleischentzündung Zytokine
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23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
Mutterkraut Herkunft. Mutterkraut (Tanaceti parthenii herba PhEur 5) besteht aus den getrockneten oberirdischen Teilen von Tanacetum parthenium (L.) Schultz Bip. (Familie: Asteraceae [IIB28b]). T. parthenium – ursprünglich aus dem ostmediterranen Raum (v. a. aus Kleinasien) stammend – ist seit dem Mittelalter über ganz Europa verbreitet. Die Droge stammt vorwiegend von Kulturen. Stammpflanze. T. parthenium ist eine mehrjährige, 30–80 cm hohe Planze mit einem aufrechten, gerillten Stängel, der sich im oberen Teil verzweigt und kahl oder
. Abb. 23.45
OH
CH3
1
zerstreut behaart ist. Sie hat breiteiförmige, iederteilige Blätter, gelbe Röhren- und weiße Zungenblüten. Kulturplanzen bestehen häuig nur aus weißen Zungenblüten. Mutterkraut wurde schon von Dioscurides als Fiebermittel empfohlen. Seit dem 18. Jahrhundert nahm man Mutterkraut (= „feverfew“) in England zur Behandlung von Kopf- und Zahnschmerzen (analgetische Wirkung) und bei rheumatoider Arthritis (entzündungshemmende Wirkung). Nach Berry (1984) kann Feverfew als das Aspirin des 18. Jahrhunderts bezeichnet werden. Sensorische Eigenschaften. Geruch: aromatisch, nach Campher. Geschmack: stark bitter.
OH
CH2
CH3
5
O
H3C
CH2
O
H3C
O
CH2 O
O Parthenolid
CH3
CH2 O
O
O
Epoxyartemorin
H3C O
H
H3C O
OH
Santamarin OH
O
H3C
OH
O
O
H3C
OH
O
O
O CH3
H
CH2
O
CH3
CH2
O O
O Canin
H
Artecanin
CH3
H
CH2
O O
Tanaparthin-α-peroxid
CH3
H
CH2
O O
Tanaparthin-β-peroxid
Als Wirkstoffe von Tanacetum parthenium gelten die Sesquiterpenlactone, die alle eine α-Methylen-γ-lactonstruktur aufweisen. Hauptinhaltsstoff (bis zu 84% der Totalmenge der Sesquiterpenlactone) ist das Germacranolid Parthenolid. In saurem Milieu kann die Epoxidgruppe leicht eine transannulare Zyklisation zwischen C-1 und C-5 eingehen, sodass ein kationisches bifunktionelles Zwischenprodukt entsteht, das als eigentliche Wirksubstanz mit Nucleophilen reagieren kann (vgl. Wagner et al. 2004a und darin zitierte Literatur) Bei den restlichen Substanzen (annähernd 30) handelt es sich um eine komplexe Mischung, insbesondere von Metaboliten des Parthenolids und von Guajanoliden, bei denen die αSerie (z. B. Canin, Tanaparthin-α-peroxid) gegenüber der β-Serie (z. B. Artecanin, Tanaparthin-β-peroxid) überwiegt (vgl. Übersicht von Knight 1995). Neben Parthenolid erwies sich Epoxyartemorin als potenter Hemmstoff der Prostaglandinsynthese (Sumner et al. 1992). In Pflanzen nordamerikanischer und mexikanischer Herkunft kann das Parthenolid auch fehlen, dafür ist das Eudesmanolid Santamarin der Hauptinhaltsstoff. Nach Cutlan et al. (2000) schwankt der Parthenolidgehalt zwischen 0 und 1,68% bezogen auf das Trockengewicht
23.4 Sesquiterpene
Inhaltsstoffe
x Sesquiterpenlactone vom Germacranolid- (insbesondere Parthenolid), Eudesmanolid- und Guajanolidtyp (0,8–2,0%; PhEur = mindestens 0,2% Parthenolid; > Abb. 23.45); x ätherisches Öl (bis 0,8%) mit bis über 40% (–)-Campher (Formel > Abb. 25.54), trans-Chrysanthenylacetat, daneben weitere Mono- und Sesquiterpene; x Flavonoide, hauptsächlich Apigenin- und Luteolinglykoside sowie lipophile Flavone und Flavonole [hauptsächlich die Kämpferolderivate 6-Hydroxykämpferol3,6-dimethylether und Santin, sowie die Quercetagetinderivate Axillarin, Centaureidin und Jaceidin (Long et al. 2003 und darin zitierte Literatur]; x Sterole (Sitosterol, Campesterol, Stigmasterol u. a.); Melatonin (Tryptophanderivat). Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Nachweis (PhEur) von Par-
thenolid [Fließmittel: Aceton–Toluol (15:85); Referenzsubstanz: Parthenolid; Sprühreagens: Vanillin-Schwefelsäure-Reagens]. Das Parthenolid erscheint im Tageslicht als blaue Zone. Gehaltsbestimmung Die PhEur bestimmt das Partheno-
lid mit Hilfe der HPLC unter Einsatz von octadecylsilyliertem Kieselgel (5 µm) als Säulenmaterial, Acetonitril–Wasser (40:60) als Fließmittel und Parthenolid als externem Standard (zur HPLC von Parthenolid > Zhou et al. 1999). Der Parthenolidgehalt der Droge ist starken Schwankungen unterworfen, weshalb eine Standardisierung von Mutterkrautpräparaten erforderlich ist. Biologische Wertbestimmungsmethoden ( > z. B. Marles et al. 1992) sind erst dann einsetzbar, wenn die Wirkstofe und ihre Angrifspunkte im Detail bekannt sind. Verwendung. Mutterkraut indet Verwendung in Form frischer Blätter (hauptsächlich in England), pulverisierter Blätter oder Kraut in Kapseln und Tabletten (z. B. 200 mg pulverisiertes Kraut, standardisiert auf mindestens 0,1% Parthenolid) sowie als Phytopharmaka auf Extraktbasis zur Migräneprophylaxe. Zur Migräne vgl. Infobox „Ergotamin und Migräne“ (Abschn. 27.10.6) sowie > Abb. 23.46. Wirkungen und Wirkungsmechanismus. Entzündungs-
hemmend, analgetisch, antisekretorisch, antimikrobiell. Die entzündungshemmende und analgetische Wirkung
23
von Parthenolid wurde in verschiedenen In-vitro- und In-vivo-Assays nachgewiesen. Mutterkrautextrakte und/ oder reines Parthenolid greifen ähnlich wie Helenalin und Derivate (vgl. Abschn. Arnikablüten, S. 872) in verschiedene Stofwechselprozesse ein, die im Entzündungsgeschehen eine Rolle spielen; sie x hemmen die Prostaglandinsynthese, Blutplättchenaggregation (Hemmung von Phospholipase A2, COX-2); x hemmen die Histaminfreigabe aus Mastzellen; x hemmen die Kontraktilität der glatten Gefäßmuskulatur (durch selektive Blockierung der spannungsabhängigen Kaliumkanäle); x reduzieren die Freisetzung von Serotonin aus hrombozyten und polymorphkernigen Leukozyten (durch Aktivierung der Proteinkinase C). Parthenolid bindet schwach an 5-HT2A-Rezeptoren; x hemmen die Aktivierung des Transkriptionsfaktors NF-NB; x Parthenolid zeigte im TPA (TPA = 12-O-Tetradecanoylphorbol-13-acetat) Mausohrödem-Test und im Carrageenan-induzierten Mauspfotenödemtest eine antiphlogistische Wirkung. Die neuesten Erkenntnisse bezüglich der antiinlammatorischen Wirkung von Mutterkrautextrakten bzw. dem Reinstof Parthenolid betrefen die Hemmung der Aktivierung des Transkriptionsfaktors NF-NB (vgl. > Abb. 23.43, 23.44) und damit die Hemmung verschiedener Gene, die beim Entzündungsprozess eine Rolle spielen [Tumornekrosefaktor D (TNFD), Interleukine IL-1, IL-2, IL-4, IL-6, IL-8, IL-12; induzierbare NO-Synthase (iNOS); interzelluläres Adhäsionsmolekül 1 (ICAM-1)]. Der exakte molekulare Mechanismus, wo Parthenolid in der NF-NB-Kaskade angreit, ist immer noch nicht vollständig aufgeklärt. Zur Diskussion stehen die direkte Bindung an Cystein 38 der p65 Untereinheit von NF-NB wie bei Helenalin (vgl. Abschn. Arnikablüten S. 872 und > Abb. 23.44), die Hemmung der p42/44 mitogenaktivierten Proteinkinase (MAPK), die Hemmung des Abbaus des INB-Kinasekomplexes (IKK) [sowohl der IKKD- als auch der IKKE-Untereinheit; bei der IKKE-Untereinheit = Hemmung der Phosphorylierung, Ubiquitinilierung und des Proteosoms 26S durch Modiizierung der Aminosäure Cystein 179A]. Bei der Hemmung des IKK-Komplexes soll die Aktivierung der MAP3 Kinase NIK und MEKK1 verhindert werden. Mit dem Eingrif in die NF-NB-Kaskade wird mindestens teilweise die entzündungshemmende Wirkung von Parthenolid erklärt (vgl. Kwok et al. 2001; Li-Weber et al.
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23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.46
Hypothetischer Mechanismus des Migränekopfschmerzes und verwandter Symptome sowie Angriffspunkte von 5-HT1B/1D-Rezeptor-Agonisten (abgeändert nach Hargreaves u. Shepheard 1999; Goadsby u. Hargreaves 2000). In der Dura (Hirnhaut) befindet sich das wichtigste schmerzerzeugende intrakraniale Gewebe mit den meningealen Blutgefäßen. Stimulierung der meningealen Blutgefäße durch endogene und exogene Reize (= Triggerfaktoren: u. a. Umweltfaktoren, Wettereinflüsse, psychischer Stress, Alkoholgenuss, Tyramin-haltige Speisen und hormonelle Veränderungen) erzeugt eine Gefäßerweiterung (1) und als Folge eine Freisetzung (2) verschiedener vasoaktiver Neuropeptide [Calcitonin Gene Related Peptide (CGRP), Substanz P, vasoaktives intestinales Polypeptid (VIP)], Stickstoffmonoxid (NO) und eine Abnahme der Aktivität des körpereigenen schmerzhemmenden Systems. Die Neuropeptide aktivieren das perivaskuläre trigeminale Nervensystem, wodurch eine Schmerzübertragung (3) via Nucleus caudalis resultiert. 5-HT1B/1D-Agonisten bewirken bei Migräneanfällen eine Vasokonstriktion durch Aktivierung der 5-HT1B/1D-Rezeptoren auf der glatten Muskulatur der meningealen Gefäße sowie eine Hemmung der Freisetzung von vasoaktiven Neuropeptiden und der Schmerzsignalübertagung durch Blockierung von präsynaptischen 5-HT1D-Rezeptoren (vgl. > Abb. 23.47) im Trigeminusganglion
2002; Fiebich et al. 2002 und darin zitierte Literatur). Substanzen wie Aspirin und Parthenolid bekämpfen durch die Hemmung der NF-NB-Kaskade eine meningeale Entzündung und Migränekopfweh (Reuter et al. 2002). Daneben gilt eine verminderte Serotoninfreisetzung als wesentlicher Faktor ( > Abb. 23.47). Anwendungsgebiete. Mutterkraut gilt als Migräneprophylaktikum (ESCOP). Trotz der verschiedenen positiven Ansätze in den Gebieten Wirkung/mögliche Wirkungsmechanismen sind die vorliegenden klinischen Untersuchungen kontrovers. Ernst u. Pittler (2000) kamen nach einer systematischen Analyse der vorliegenden sechs randomisierten, plazebokontrollierten Doppelblindstudien [inklusive Resultate der Studie von Pfafenrath
( > unten)] zum Schluss, dass die therapeutische Wirksamkeit von Mutterkrautpräparaten als Migräneprophylaktikum nicht hinreichend belegt ist. Allerdings wird den meisten dieser GCP-konformen Studien eine Überlegenheit gegenüber Plazebo zugestanden. Gemäß Ernst u. Pittler fehlt allerdings ein schlüssiger Zusammenhang zwischen der Ätiologie der Migräne und Partenolid sowie allen übrigen Inhaltsstofen von Mutterkraut. Pfafenrath et al. (2002) fanden eine allgemeine signiikante Wirkung des von ihnen untersuchten Extraktpräparates (MIG-99). Eine Wirksamkeit konnte allerdings nur bei einer durch die Anzahl von mindestens vier Attacken pro Monat deinierten Patientengruppe (n = 49) festgestellt werden. Als Positivum dieser Studie kann vermerkt werden, dass die Häuigkeit von unerwünschten Wirkungen
23.4 Sesquiterpene
23
. Abb. 23.47
Mögliche Angriffspunkte von Parthenolid und weiteren Inhaltsstoffen des Mutterkrautextrakts im serotonergen System. Die verminderte Serotoninfreisetzung gilt als wesentlicher Faktor für die Antimigränewirkung. Serotoninantagonisten wie z. B. Methysergid (5-HT2-Antagonist) werden als Migräneprophylaktika, Serotoninagonisten wie die Triptane und Ergotaminderivate als Migränetherapeutika eingesetzt. Im Unterschied zu den Ergotaminderivaten (Angriff an verschiedenen serotonergen, adrenergen und dopaminergen Rezeptoren) wirken die Triptane selektiv und spezifisch als Agonisten an 5-HT1B/1D-Rezeptoren (Lokalisation vgl. > Abb. 23.46; hier Blockierung der 5-HT1D-Rezeptoren des Trigeminusganglions). Für Parthenolid konnte eine schwache Affinität an 5-HT2A-Rezeptoren nachgewiesen werden. In nächster Zukunft muss der Wirkstofffrage vermehrt Beachtung geschenkt werden, da Untersuchungen ergaben, dass die entzündungshemmende Wirkung durch mehrere Substanzen verursacht wird, da auch Parthenolid-freie Extrakte aktiv sind. Ebenfalls muss die Affinität von Parthenolid und anderen Inhaltsstoffen von Mutterkraut zu weiteren 5HT-Rezeptoren, insbesondere zu 5-HT1D-Rezeptoren näher abgeklärt werden
in der Verumgruppe ähnlich war wie bei der Plazebogruppe. Eine routinemäßige Anwendung sollte deshalb erst dann in Erwägung gezogen werden, wenn vermehrt klinische Langzeit- und Toxizitätsstudien vorliegen, die die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Präparate eindeutig belegen. Nebenwirkungen. Beobachtet worden sind Aphthen,
Schwindel, saures Aufstoßen. Bei Hautkontakt mit T. parthenium kann es zu Dermatitis kommen. Parthenolid und die anderen Sesquiterpenlactone des Mutterkrauts haben allergene Eigenschaten. Das Allergiepotential ist
stark, Allergien treten allerdings nur gelegentlich auf (vgl. Hausen u. Vieluf 1998). Für Kreuzreaktionen vgl. Abschn. 23.4.2. Kontraindikationen. Mutterkraut ist bei Schwangerschat und in der Laktation kontraindiziert. Patienten mit Kontaktallergie gegen Asteraceen muss auch von einer oralen Anwendung von Mutterkrautpräparaten abgeraten werden.
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Isoprenoide als Inhaltsstoffe
! Kernaussagen
Mutterkraut gilt als Migräneprophylaktikum. Als wirksamkeitsbestimmende Inhaltsstoffe gelten die Sesquiterpenlactone mit einer D-Methylen-J-lactonstruktur, insbesondere Parthenolid. Die entzündungshemmende Wirkung entsteht erst nach metabolischer Aktivierung in Substanzen mit einem bifunktionellen Guajanskelett. Parthenolid greift ähnlich wie Helenalin in verschiedene Stoffwechselprozesse ein, wobei die Hemmung des Transkriptionsfaktors NF-NB und damit die Hemmung verschiedener Gene, die beim Entzündungsprozess eine Rolle spielen sowie die verminderte Serotoninfreiset-
zung von besonderer Bedeutung sind. Die verminderte Serotoninfreisetzung gilt als wesentlicher Faktor für die Antimigränewirkung. Serotoninantagonisten wie z. B. Methysegid (5-HT2-Antagonist) werden als Migräneprophylaktika, Serotoninagonisten wie die Triptane und Ergotaminderivate als Migränetherapeutika eingesetzt. Für Parthenolid konnte eine schwache Affinität an HT2A-Rezeptoren nachgewiesen werden. Obwohl in den meisten GCP-konformen klinischen Studien Mutterkraut eine Überlegenheit gegenüber Plazebo zugestanden wird, ist die Wirkung von Mutterkrautpräparaten als Migräneprophylaktikum nicht hinreichend belegt ( > Hinweis).
Hinweis. Die klinische Wirksamkeit von Mutterkraut-
präparaten als Migräneprophylaktikum wird kontrovers diskutiert. Schlüsselbegriffe Germacranolide Guajanolide Migräneprophylaxe Mutterkraut Neuropeptide
Parthenolid Serotoninagonisten Serotoninantagonisten Serotoninfreisetzung Sesquiterpenlactone
23.5
Diterpene
23.5.1
Einige häufige Strukturtypen, biologische Aktivitäten, Vorkommen
All-trans-Geranylgeranyldiphosphat (2 E,6 E,10 E) ist der allgemeine Precursor für die pharmazeutisch bedeutsamen Diterpene. Je nach Vorfaltung des Geranylgeranyldiphosphats eröfnen sich Biosynthesewege in 2 Hauptgruppen (vgl. Übersichten von Tasdemir 1997; Dewick 2002;), die makrozyklischen und die zyklischen Diterpene ( > Abb. 23.48 und 23.49). Bis jetzt kennt man um die 3000 Diterpene mit einer Vielzahl von verschiedenen Ringskeletten. Wenn man vom weit verbreiteten Phytol absieht, kommen fast nur zyklische Diterpene vor. Am häuigsten trit man auf das dizyklische Labdangerüst, in dem, gemäß der Isoprenregel, die Methylgruppenverteilung der Muttersubstanz Geranylgeraniol vorliegt. Die große strukturelle Vielfalt in der Diterpenreihe kommt aber durch sekundäre Reaktionen zustande: Sie bestehen in Ringerweiterungen, Ring-
Tanaceti parthenii herba Tanacetum parthenium Wirkungen (analgetisch, entzündungshemmend)
verengungen, Ringöfnungen sowie in Umlagerungen (1,2-Verschiebungen) von Methylgruppen. Aus phytochemischer und pharmazeutischer Sicht ist die Lipophilie bzw. Polarität der Diterpene bedeutsam: einmal haben sich daran die Anreicherungs- und Trennverfahren zu orientieren; des Weiteren hängen davon biologische, pharmakologische und toxikologische Eigenschaten in besonderem Maße ab. Wie bei den Sesquiterpenen lassen sich 2 Haupttypen, lipophile und hydrophile Verbindungen, unterscheiden. Die lipophilen Diterpene enthalten keine oder nur eine kleine Zahl von Sauerstoffunktionen im Molekül. Als Vertreter sind zu nennen: azyklische Derivate, z. B. Phytol, ein integrierender Bestandteil des Chlorophyllmoleküls sowie Baustein der Tocopherole und des Vitamins K1 , wie auch Abietantyp-Derivate, z. B. Abietinsäure als Beispiel für einen Balsaminhaltsstof. Während Sesquiterpene in ihrer Mehrzahl lüchtig sind, bleiben die Diterpene als „Harz“ zurück. Die weitaus größte Zahl an lipophilen Diterpenoiden kommt als Bestandteil der Wachsschicht grüner Planzen vor. Mengenmäßig kann der Diterpenanteil der Wachsschicht 30–50% ausmachen. Bei der Trocknung
23.5 Diterpene
23
. Abb. 23.48 +
H
+
OPP GGPP
Taxenylkation
Taxan (Beispiel: Taxol)
OPP
+
GGPP Cembrankation (Beispiele: Cembranoide)
Ingenan (Beispiele: Ingenolester)
Daphnan (Beispiel: Daphnetoxin)
Casben
Tiglian (Beispiele: Phorbolester)
Beispiele makrozyklischer Diterpengerüste (ohne Berücksichtigung der Stereochemie) und ihre biogenetischen Beziehungen. Bei dieser Gruppe (engl.: „lower terpenes“) entsteht der Ringschluss durch Abspaltung der endständigen Diphosphatgruppe vom Geranylgeranyldiphosphat (GGPP). Das entstandene Kation alkyliert eine Doppelbindung, oft diejenige der Startisopropylideneinheit. Je nach vorliegendem Enzymmuster entsteht dabei der Cembrantyp und durch weitere Zyklisierung die Cembranoide sowie makrozyklische Diterpene verschiedenster Struktur. Taxadiensynthase, ein Enyzm, das aus Taxus brevifolia NUTT. isoliert worden ist, überführt GGPP in Taxadien (Taxantyp; Vorstufe von Taxol) (vgl. Dewick 2002)
von Blattdrogen, vorzugsweise bei der Fermentation, werden sie freigesetzt und sind dann Träger der typischen Aromen, z. B. bei Virginia- und Burley-Tabaksorten die Cembranoide, bei anderen Tabaksorten Kohlenwasserstofe vom Labdanoidtyp. Die polaren Diterpene sind Substanzen, die mit Hydroxy-, Epoxy-, Carbonyl- und Carboxylgruppen substi-
tuiert sind. Es handelt sich in der Regel um chemisch und biologisch sehr aktive Verbindungen. Von ökologischem Interesse sind u. a. wachstumsregulierende Substanzen wie die über 100 bekannten Gibberelline, die das Streckungswachstum und die Zellteilung höherer Planzen fördern, sowie die Antheridogene. Phytoalexine, planzliche Abwehrstofe gegenüber Erregern von
883
884
11
12
13
14
20
15
1
16
2
10
A 3
23
. Abb. 23.49
5
4
9
B
8
17
7
6
H 19
H
18
ent-Labdan
OPP
H H
H
CH2OPP
H
oder
CH2OPP
+
H
H Labdadienyl-PP (normale Serie)
GGPP
Copalyl-PP (ent-Serie)
Gibberellan
H
H
H
H
H
H
H
H
Abietan
Pimaran
ent-Pimaran
H H
ent-Kauran
Beispiele zyklischer Diterpene (mit Berücksichtigung der Stereochemie) und ihre biogenetischen Beziehungen. Bei dieser Gruppe (engl.: „higher terpenes“) erfolgt die Zyklisierung durch Protonierung der Doppelbindung, wobei dizyklische Perhydronaphthalenderivate entstehen. Dabei wird unterschieden zwischen zyklischen Diterpenen mit normaler Stereochemie [abgeleitet vom Labda-8(17),13-dien-15-yl-diphosphat (= Labdadienyldiphosphat = LDPP)] und den entsprechenden Antipoden der enantio-Serie (mit Vorsilbe ent), die in ähnlicher Weise vom enantiomeren LDPP abgeleitet werden, das unter dem Namen Copalyldiphosphat bekannt ist. Beispiele beider Serien kommen in der Natur häufig vor, oft zusammen in derselben Pflanzenart. Zyklisierung von LDPP (oder Copalyl PP) führt zu den dizyklischen (Labdan und Clerodan; Formel nicht wiedergegeben), zu den trizyklischen (Pimaran, Abietan u. a.) sowie zu den tetrazyklischen (Kauran, Gibberellan u. a.) Diterpenen
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
Labdan
23
23.5 Diterpene
Planzenkrankheiten, sind beispielsweise Oryzalexine, Momilactone und Casben. Ferner haben Pheromone (tierische Lockstofe), Termitenabwehrstofe und verschiedene Substanzen mit fraßschutzhemmender und insektenvertreibender Wirkung diterpenoide Grundkörper. Von pharmakologischem Interesse sind Diterpene mit zytotoxischer, antitumoraler, antimikrobieller, antifungaler, antiparasitischer, antiviraler, entzündungshemmender, spasmolytischer, kardiotonischer, hypotensiver und PAFantagonistischer Wirkung sowie mit Bitter- beziehungsweise Süßwirkung. Von größerem Interesse sind davon v. a. zyklische Vertreter, so dizyklische Diterpene vom Labdantyp (z. B. Forskolin, Marrubiin), vom Spiro[4.4]nonantyp (Ginkgolide, vgl. S. 1223), trizyklische Diterpene vom Taxantyp (z. B. Taxol) und tetrazyklische Diterpene vom Kaurantyp (z. B. Steviosid). Vorwiegend von toxikologischem Interesse sind Diterpene mit zytotoxischer, cokarzinogener (tumorinduzierender), karzinogener, mutagener, hautreizender, entzündungserregender und halluzinogener Wirkung. Von Interesse sind die toxischen Inhaltsstofe der Ericaceen (Andromedanderivate, z. B. die Grayanotoxine), die systemische Gite und Allergene darstellen; ferner Tiglian-, Ingenan- und Daphnanderivate der Euphorbiaceen und der hymelaeaceen (z. B. Phorbol- und Ingenolester, Daphnetoxin). Dabei handelt es sich um Hautreizstofe mit cokar-
! Kernaussagen
Das Kohlenstoffgerüst der Diterpene besteht aus 20 Kohlenstoffatomen, die sich in vier Isoprene zerlegen lassen (regulär gebaute Diterpene). Die größte strukturelle Vielfalt in der Diterpenreihe kommt durch sekundäre Reaktionen zustande: Sie bestehen in Ringerweiterungen, Ringverengungen, Ringöffnungen sowie in Umlagerungen (1,2-Verschiebungen) von Methylgruppen (irregulär gebaute Diterpene). Wenn man vom weit verbreiteten Phytol absieht, kommen fast nur zyklische Diterpene vor, bei denen Substanzen mit einem Labdangerüst am häufigsten sind. Von pharmazeutischem Interesse sind insbesondere Diterpene mit antitumoraler, entzündungshemmender, kardiotonischer, PAF-antagonistischer Wirkung sowie mit Bitter- bzw. Süßwirkung. Beispiele sind dizyklische Diterpene vom Labdantyp (Forskolin, Marrubiin), vom Sprio[4.4]nonantyp (Ginkgolide), trizyklische Verteter vom Taxantyp (Taxol) und tetrazyklische Diterpene vom Kaurantyp (Steviosid).
zinogener Wirkung. Das Kauranderivat Atractylosid ist für den Menschen toxisch, das Neoclerodanditerpen Divinorin, das in einer mexikanischen Salbeiart vorkommt, hat eine für Diterpene außergewöhnliche halluzinogene Wirkung (vgl. Übersichten von Buchbauer et al. 1990; Alcaraz u. Ríos 1991; Ghisalberti 1997; Tasdemir 1997). Diterpene sind bei höheren Planzen weit verbreitet, kommen aber auch in Pilzen, Insekten, Moosplanzen, Algen und in Meeresorganismen vor. Von pharmazeutischem und toxikologischem Interesse sind v. a. die Diterpene der Lamiaceen, Asteraceen, Ginkgoaceen, Ericaceen, Euphorbiaceen und hymelaeaceen sowie einer Reihe von Planzenfamilien, die sog. Koniferen- und Angiospermenharze enthalten. Diterpenalkaloide inden sich bei den Ranunculaceen und Taxaceen.
23.5.2
Beispiele biologisch aktiver Diterpene
Atractylosid und verwandte Glykoside Atractylosid (Atr) ist ein für den Menschen hochgitiges Diterpenglykosid ( > Abb. 23.50) mit einem ganz spezii. Abb. 23.50 HOH2C KO3SO KO3SO
O 2'
CH2
CH3
O 2
H
O 4
H3C
O
R
OH H COOH
CH3 Atractylosid (R = H) Carboxyatractylosid (R = COOH)
Atractylosid ist eine kristalline Substanz, die für den Menschen hochgiftig ist. Sie ist löslich in Wasser, wenig löslich in Alkohol. Mit Vanillin-Schwefelsäure färbt sie sich intensiv rot an. Bei der Hydrolyse zerfällt sie in 1 Mol Atractyligenin, 1 Mol D-Glucose, 1 Mol Isovaleriansäure und 2 Mol Kaliumhydrogensulfat. Atractyligenin ist ein C19-Diterpen, dem – im Vergleich zum Kauran – eine der beiden geminalen Methylgruppen am C-4 fehlt. Die zweite Methylgruppe des Kaurans liegt im Atractyligenin als α-Carboxylgruppe vor. Beim Carboxyatractylosid liegen beide C-4-Methylgruppen des Kaurans als α- bzw- β-Carboxylgruppen vor
885
886
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
schen primären Angrifspunkt. Atr hemmt den Adeninnukleotid-Carrier in den Mitochondrien durch Blockierung der oxidativen Phosphorylierung in einer Konzentration von 20 µM. Atr bindet dabei selektiv an die Phosphoryltransferase (Nukleosidmonophosphokinase) in der äußeren Mitochondrienmembran und verhindert auf diese Weise, dass das in den Mitochondrien gebildete ATP aus den Mitochondrien herausgeschleust werden kann. Dank der sehr speziischen Hemmung des ADP/ATPCarriers hat Atr eine Bedeutung als Modellsubstanz zur Untersuchung biochemischer Transportprozesse in den Mitochondrien erlangt. Es konnte nachgewiesen werden, dass für die Hemmung des Enzymsystems verschiedene Strukturelemente wie die Carboxyl- und die freie Hydroxylgruppe an C-4 bzw. C-15, die Methylengruppe an C-16, die freie C-6 Hydroxylgruppe am Glucoserest, die Sulfatgruppen sowie die Isovaleriansäuregruppe eine wichtige Rolle spielen. Das Fehlen der Isovaleriansäuregruppe führt
zu einer merklichen Reduktion der Aktivität und zum Verlust der Toxizität (vgl. Übersicht von Obatomi u. Bach 1998 und darin zitierte Literatur). Vergitungen äußern sich beim Menschen in schweren Krämpfen, die an Strychninvergitungen erinnern. Blutdruckabfall, Hypoglykämie, Nephro- und Hepatotoxizität sowie Atemlähmung sind weitere Intoxikationserscheinungen. Atr wurde erstmals zusammen mit dem Carboxyatractylosid aus dem Rhizom der Asteracee [IIB28b] Atractylis gummifera L., einer in der traditionellen Medizin der Mittelmeerländer zur Behandlung von Furunkeln und Abszessen verwendeten Droge, isoliert. In der Zwischenzeit sind ist Reihe mit dem Atr eng verwandter Atractyligeninglykoside, wie auch das Aglykon selbst, aus anderen in der Volksmedizin oder als Gitplanzen bekannten Asteraceen und Caryophyllaceen isoliert worden. Atractyligeninglykoside sind auch aus grünen und gerösteten Kafeebohnen (Familie: Rubiaceae [IIB28d]) in geringer Menge
. Abb. 23.51 OH
CH3
O CH3
CH3 O
OH
CH2
CH3
H CH3
CH3 O
CH2
OH
OH
H3C
CH3
O
OCONHCH3
OAc H3C
OR
Forskolin (R = H) NKH 477 (R = COCH2CH2N(CH3)2 · HCl)
CH3
HIL 568
O
OH
OH
OH
O
A
OAc
O
OH
OH
O OH
B
OAc
Forskolin und wasserlösliche Forskolinderivate. Forskolin selbst ist schlecht löslich in Wasser, während z. B. die beiden Forskolinderivate der zweiten Generation, ∆5–6-Deoxy-7-de-acetyl-7-methyl-aminocarbonyl-forskolin (HIL 568) [Substanz mit Antiglaukomwirkung] und 6-(3-Dimethylaminopropionyl)forskolin HCl (NKH 477) [kardiotonische Wirkung] gut wasserlösliche Verbindungen darstellen (vgl. de Souza 1993). Forskolin liegt in fester Form in der All-Sesselkonformation (A) vor, während in Lösung der Ring C in der Wannenkonformation (B) vorliegt
23
23.5 Diterpene
(ca. 0,1% Actractyligenin in handelsüblichem Röstkafee) isoliert worden. Ob die chronische Zufuhr kleiner Mengen dieser Substanzen gesundheitlich unbedenklich ist, kann mit letzter Sicherheit nicht belegt werden.
. Abb. 23.52
Forskolin
hypotensive Wirkung
Beim Forskolin ( > Abb. 23.51) handelt es sich um ein Diterpen mit einem Labdangrundgerüst, das aus der Wurzel von Coleus forskohlii (Poir.) Briq., einer in Indien heimischen Lamiacee [IIB23d], isoliert worden ist und heute auch auf biotechnologischem Wege und durch Totalsynthese zugänglich ist. Dieser Naturstof hat seit seiner Entdeckung in den letzten 25 Jahren in der Arzneimittelforschung großes Interesse v. a. deshalb gefunden, weil eine Substanz vorliegt, die in vivo und in vitro die Adenylatcyclase (AC) nach einem Mechanismus aktiviert, der sich von denjenigen anderer AC-Aktivatoren unterscheidet. Forskolin greit direkt an der katalytischen Untereinheit der AC oder an einem damit nahe verwandten Protein an. Die wichtigsten Wirkungen von Forskolin sind in > Abb. 23.52 wiedergegeben. Trotz der intensiven Forschungsanstrengungen, bei denen auch Hunderte von Derivaten (vgl. > Abb. 23.51) synthetisiert worden sind, die bessere Eigenschaten (z. B. bessere Wasserlöslichkeit) und/oder eine stärkere Wirkung aufweisen, konnte sich Forskolin in der herapie bis heute nicht etablieren. Dank der speziischen Aktivierung der AC ist Forskolin heute eine der wichtigsten Modellsubstanzen zum Studium der Rolle von cAMP in physiologischen Funktionen (z. B. in Ionenkanälen, im Stofwechsel, beim Zellwachstum, bei Muskelkontraktionen, bei der Ausscheidung u. a.). Die Fähigkeit von Forskolin und Forskolinanaloga Membrantransportproteine cAMP-unabhängig zu beeinlussen (vgl. > Abb. 23.52), hat ein weiteres breites Forschungsgebiet im Bereich seiner möglichen therapeutischen Anwendung eröfnet (vgl. Übersicht von Bhat 1993). Seit der Entdeckung, dass Forskolin die AC aktiviert (1981), sind über 15.000 Publikationen erschienen (Medline Search 2004).
Gibberelline Gibberelline (GA) sind Wuchsstofe, die von Pilzen und grünen Planzen gebildet werden. Die Entdeckung geht auf die Erforschung einer Planzenkrankheit – der Bakanae-Reiskrankheit – zurück, die durch den Pilz Gibberella
blutplättchenaggregations hemmende Wirkung
Senkung des Augen innendrucks Gefäßerweiterung (Bronchien)
positiv - inotrope Wirkung
antihypertensive Wirkung cAMP Aktivierung der Adenylatcyclase Forskolin
Hemmung von Membrantransportproteinen Hemmung von Kanalproteinen
Wirkungen von Forskolin. Pharmakologische Wirkungen mit therapeutischer Bedeutung sind vorwiegend solche, die durch Aktivierung der Adenylatcyclase und der damit in Zusammenhang stehenden Erhöhung der cAMP-Konzentration verursacht werden. Forskolin hemmt zusätzlich, aber auch durch cAMP-unabhängige Mechanismen Membrantransportproteine und Kanalproteine wie z. B. Glucosetransportproteine, den nikotinischen Acetylcholinrezeptor, spannungsabhängige K+-Kanäle, GABAA-Rezeptoren, P170-Glykoprotein-Multidrug-Transportsystem u. a. (vgl. Bhat 1993)
fujikuroi verursacht wird und bei der ein übersteigertes Längenwachstum der erkrankten Planzen autritt. Weitere Forschungen zeigten, dass GA auch Stofwechselprodukte der höheren Planzen sind und dass sie zusammen mit anderen Phytohormonen an der planzlichen Stofwechselregulation beteiligt sind. Es kommen auch wasserlösliche GA-Glucose-Konjugate vor, die physiologisch inaktiv sind und als Transport- bzw. Lagerungsmetaboliten betrachtet werden. Technisch gewinnt man Gibberellin GA3 ( > Abb. 23.53) nach dem Submersverfahren durch Züchtung von G. fujikuroi; durch Beimischung von Vorstufen [z. B. (–)Kauren bzw. (–)-Kaurenol] zum Nährmedium lassen sich die Ausbeuten steigern. GA produziert man in der Größenordnung mehrerer Tonnen jährlich. In der Brauindustrie verwendet man sie als Keimungsaktivator. In Mengen von 0,01–0,25 mg/kg der Gerste zugesetzt, bewirken sie eine rasche und vermehrte Enzymbildung während des
887
888
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.53
OC19 HO CH3
Samen. Einzelne GA erzeugen bei Nagern karzinogene und östrogene Efekte (Schoental 1994). Bisher ist keine medizinische Anwendung bekannt geworden.
H
O 10
OH
H
COOH
Andromedotoxin
CH2
Gibberellin GA3 H3C H
OH RO
HO H3C
OH CH3
CH3 OH
OH
Grayanotoxin I (R = COCH3) Grayanotoxin III (R = OH)
Man kennt bisher ~130 verschiedene Gibberelline (GA). Gemeinsames Strukturmerkmal ist das tetrazyklische Gibberellangerüst, das sich vom Kaurangerüst durch Kontraktion des Ringes B ableitet (vgl. Abb. 23.49). Unterteilt werden die GA in die beiden Hauptgruppen der C20- und C19-Gibberelline. Die C19-GAs haben ein pentazyklisches Ringgerüst mit einem C-19,10-Lactonring (z. B. GA3). GA3 ist ein Vertreter, der technisch durch Fermentation mittels des Pilzes Gibberella fujikuroi gewonnen wird und der als Handelspräparat zur Verfügung steht (vgl. Übersicht von Mander 2003). Grayanotoxin I und die weiteren toxischen Diterpene der Ericaceen, von denen heute über 30 bekannt sind, besitzen einen Andromedangrundkörper. Dieser leitet sich vom Kauran durch Erweiterung des Ringes B und durch Oxidationen ab. Er kann bis zu acht Hydroxylgruppen tragen, die teilweise mit Essig-, seltener mit Propionsäure oder Milchsäure verestert sein können (vgl. Teuscher u. Lindequist 1994). Die Grayanotoxine färben sich mit Mineralsäuren intensiv rot an.
Mälzprozesses. Als Folge der vermehrten Enzyminduktion kann die Keimzeit von bisher 7 auf 4–5 Tage verkürzt werden. In der Gärtnereitechnik lässt sich bei Zierplanzen die Blütenbildung zu einem gewünschten Zeitpunkt auslösen; bei Weintrauben erzielt man große Früchte; bei Gurken, Tomaten, Weintrauben, Bananen, Apfelsinen und einigen anderen Früchten induziert Gibberellinbehandlung Parthenokarpie, d. h. die Bildung von Früchten ohne
Andromedotoxin (Grayanotoxin I; vgl. > Abb. 23.53) ist der verbreitetste Wirkstof der toxischen Ericaceen [IIB20a]. Er kommt in zahlreichen Arten der Gattungen Andromeda (Lavendel- oder Rosmarinheide), Kalmia (Lorbeerrosen), Leucothoe (Traubenheide) und Rhododendron (Azaleen und Rhododendren) vor. Der Gehalt an Grayanotoxin ist von Art zu Art sehr unterschiedlich; daher sind einige Arten hochtoxisch – z. B. die nordamerikanische Kalmia latifolia L. oder Rhododendron luteum Sweet, eine gelbblühende, stark dutende Rhododendronart Kleinasiens. Die Gitstofe sind hauptsächlich in den Blättern enthalten, doch können auch Nektar und Blütenpollen beachtliche Gehalte aufweisen, mit denen sie in den Azaleenhonig gelangen können. Honig, der Grayanotoxine enthält, gibt sich bereits durch einen bitteren Geschmack zu erkennen. Die Reinstofe schmecken stark bitter und scharf. Historische Anmerkung: Die wohl älteste Beschreibung einer Vergitung durch „Tollhonig“ indet sich bei Xenophon (450–354 v. Chr.). Sie bezieht sich wahrscheinlich auf einen von Rhododendron luteum Sweet (früher Azalea pontica L.) stammenden Honig, den die von einem verunglückten Feldzug heimkehrenden, hungrigen griechischen Soldaten in der Nähe des heutigen Trapezunt (Trabzon) gegessen hatten: „Da waren viele Bienenschwärme, und die Soldaten, welche von dem Honig aßen, verloren sämtlich die Sinne, erbrachen und bekamen Durchfall, und keiner von ihnen war fähig, aufrecht zu stehen. Die, welche zuviel gegessen hatten, waren wie Wahnsinnige und manche sogar wie Sterbende. So lagen viele darnieder, als ob eine wilde Flucht stattgefunden hätte, und es herrschte große Mutlosigkeit. Es starb jedoch niemand, am folgenden Tag aber, um die gleiche Stunde kamen sie wieder zu Sinnen. Am dritten und vierten Tage standen sie auf, gleich als ob sie eine Arznei genommen hätten.“ Die LD50 von Grayanotoxin I bei der Maus (intraperitoneal) beträgt 1,31 mg/kg KG. Das Vergitungsspektrum beim Menschen ist durch schmerzhate Irritation der Schleimhäute in Mund und Magen mit Übelkeit, Erbrechen und Durchfällen gekennzeichnet; Ausfallserscheinungen in Form von Schwindel, Kopfschmerzen, Fieber-
23.5 Diterpene
anfälle und Behinderung der Atmung können hinzukommen. Die Vergitungen haben selten einen tödlichen Ausgang. Die Grayanotoxine können auch Allergien vom Soforttyp auslösen.
Steviosid Steviosid ( > Abb. 23.54) ist der Hauptinhalts- und Süßstof der Blätter von Stevia rebaudiana (Bertoni) Hemsl. (Familie: Asteraceae [IIB28b]), in denen es bis zu 10% enthalten sein kann. Stevia rebaudiana ist ein 1-jähriges, ca. 40 cm hohes Kraut, das in den höheren Lagen Paraguays beheimatet ist. Die Blätter sind lanzettlich, 2–3 cm lang, gekerbt bis ganzrandig. Beim Kauen schmeckt das Blatt intensiv süß. Stevia rebaudiana wird heute in mehreren Ländern, so z. B. in Brasilien, Südkorea, China, Taiwan, hailand, Malaysia u. a. angebaut (vgl. Kinghorn 2002). Die Blätter werden in technischem Maßstab mit Wasser extrahiert. Nach verschiedenen Konzentrations- und Reinigungsschritten kann das Steviosid aus einer methanolischen Lösung auskristallisiert werden. Steviosid hat eine Süßkrat, die etwa 250- bis 300-mal stärker als die des Rohrzuckers ist. Von der einheimischen Bevölkerung werden die Blätter zum Süßen von Tee verwendet. Extrakte aus den Blättern und reines Steviosid sind in Japan, Südkorea, Paraguay, Argentinien und Brasilien als Süßungs. Abb. 23.54 13
CH3
OR2 CH2
H H3C
19
H COOR1
Steviosid (R1 = Glc; R2 = Glc2 → 1Glc) (Glc = β-D-Glucose)
Steviosid, ein pflanzlicher Süßstoff, stellt eine 13-α-Hydroxykauran-19-carbonsäure dar; das 19-Carboxyl ist mit dem 1-β-OH eines D-Glucopyranosemoleküls verestert; das 13-Hydroxyl ist an das 1-β-OH eines Disaccharids, der Sophorose, gebunden. Weitere süß schmeckende Diterpene von Stevia rebaudiana sind die Rebaudioside und die Dulcoside. Sie unterscheiden sich vom Steviosid durch die Anzahl und Art der Zuckerreste
23
mittel zugelassen, in der EU gemäß Kommissionsentscheid vom 22. Februar 2000 aufgrund fehlender toxikologischer Daten (u. a. mögliche mutagene Wirkung durch Metaboliten von Steviosid, insbesondere Steviol) verboten. Aufgrund der Expertenberichte der EU sowie der WHO sind Steviakraut und Steviosid auch in der Schweiz mangels toxikologischer Daten als Süßungsmittel nicht allgemein zugelassen. Einzig als Beigabe zu Kräutertees kann Steviakraut in kleinen Mengen (1–2%) als zulässig erachtet werden. Aus demselben Grund wie in der EU sind Steviakraut und Steviosid auch in den USA und in Kanada als Süßungsmittel nicht zugelassen. Eine Ausnahme bildet die Verwendung von Steviakraut als Nahrungsergänzungsmittel (Dietary Supplement). Die Situation scheint kontrovers. Es konnte nachgewiesen werden, dass nach oraler Verabreichung Steviosid beim Menschen nicht absorbiert wird. Steviosid wird durch die Enzyme im Gastrointestinaltrakt nicht zu Steviol abgebaut. Eine Metabolisierung zu Steviol ist gemäß Fütterungsexperimenten an Ratten und Hamstern durch die Flora des Caecums möglich. Obwohl Bakterien aus dem Kolon des Menschen in vitro Steviosid zu Steviol metabolisieren können, ist bisher weder bewiesen, dass das auch in vivo möglich ist noch dass eventuell im Kolon gebildetes Steviol ins Blut aufgenommen wird. Neue In-vivo-Untersuchungen an Hühnern ergaben, dass nach oraler Verbreichung Steviosid fast vollständig unverändert (nur 2% als Steviol) ausgeschieden wird. Im Unterschied dazu wird die Substanz von Schweinen durch die Flora des Dickdarms vollständig zu Steviol metabolisiert. In beiden Fällen konnte weder Steviosid noch Steviol im Blut nachgewiesen werden ( > Übersicht von Geuns 2003 und darin zitierte Literatur). Bei einer Detektionslimite von 50 pg Steviol wird möglicherweise nicht detektiertes Steviol im Blut als sehr gering eingeschätzt (unter 1 µM, d. h. unter 318 ng/ml). Daraus wird geschlossen, dass die In-vivo-Aufnahme von Steviol aus dem Kolon vernachlässigbar ist und dass die Verwendung von Steviosid als nicht kariogener Süßstof unbedenklich ist.
23.5.3
Diterpene als Inhaltsstoffe pflanzlicher Arzneidrogen
Andornkraut Herkunft. Andornkraut (Marrubii herba PhEur 5.1) be-
steht aus den zur Blütezeit gesammelten, getrockneten oberirdischen Teilen von Marrubium vulgare L. (Familie:
889
890
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
Lamiaceae [IIB23d]). M. vulgare ist eine aus dem Mittelmeergebiet stammende, in ganz Europa eingebürgerte, 30–60 cm hohe, dicht weißilzig behaarte Planze mit eiförmigen Blättern und zahlreichen kleinen, weißen Labiatenblüten. Die Droge stammt von Wildsammlungen und aus dem Anbau. Sensorische Eigenschaften. Bitterer, leicht scharfer Ge-
schmack. Inhaltsstoffe
x Diterpene vom Labdan-Typ mit Premarrubiin bzw.
x x x x x
Marrubiin als Hauptinhaltsstof (PhEur = mindestens 0,7% Marrubiin; > Abb. 23.55), ferner Premarrubenol/Marrubenol (vgl. Knöss 1994); Flavonoid-O- und C-Glykoside sowie Flavonoidlactate; Phenylethanoidglykoside [Verbascosid (Formel > Abb. 26.13), Forsythosid B, Arenariosid, Ballotetrosid, Marrubosid]; Phenolcarbonsäuren (Chlorogensäure, Kafeesäure u. a.); Spuren von ätherischem Öl mit Monoterpenen; N-haltige Verbindungen (Betonicin, Stachydrin u. a.).
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Nachweis von Marrubiin
(PhEur), vor und nach der Umwandlung von Premarrubiin in Marrubiin [Fließmittel: Methanol–Toluol (5:95); Referenzsubstanzen: Cholesterol, Guajazulen; Nachweis: Vanillin-Schwefelsäure-Reagens]. Marrubiin erscheint im Tageslicht als blauviolette Zone fast auf gleicher Höhe der Referenzsubstanz Cholesterol.
relaxierende Wirkung beruht auf einer Blockierung der Calciumkanäle vom L-Typ (de Jesus et al. 2000 und darin zitierte Literatur; El Bardai et al. 2003a, 2003b). Für die Phenylethanoide wurden in In-vitro-Testsystemen antioxidative, COX-2-hemmende (im Vergleich zu Nemesulid) und zytoprotektive (Hemmung der Oxidation von Phospholipiden der Zellmembran) Efekte nachgewiesen (Sahpaz et al. 2002 und darin zitierte Literatur; MartinNizard et al. 2003). Gemäß einzelnen Autoren dieser Arbeiten können damit die in der Volksmedizin gebräuchlichen Anwendungen bei dyspeptischen Beschwerden, bei Katarrhen der Lutwege und anderen entzündlichen Prozessen erklärt werden. Eine in der älteren Literatur postulierte choleretische Wirkung, die durch ein Abbauprodukt von Marrubiin, der Marrubinsäure, zustande kommen soll, bedarf der Überprüfung.
Herzgespannkraut Herkunft. Herzgespannkraut (Leonuri cardiacae herba
PhEur 5) besteht aus den getrockneten, blühenden oberiridischen Teilen von Leonurus cardiaca L. (Familie: Lamiaceae [IIB23d]). L. cardiaca ist eine in Europa verbreitete, ausdauernde, 0,5–2 m hohe Planze mit handförmigen, gezähnten Blättern und weiß- bis rosafarbenen Labiatenblüten. Die Droge stammt vorwiegend von Wildsammlungen. Sensorische Eigenschaften. Leicht bitter. Inhaltsstoffe
x Diterpene vom Labdantyp mit dem C-15-Epimeren-
Gehaltsbestimmung. Der Gehalt an Marrubiin (PhEur)
wird mit der HPLC unter Verwendung von nachsilanisiertem, octadeylsilyliertem Kieselgel (5 µm) als Säulenmaterial, einem Gradienten von Acetonitril (A)/Wasser mit H3PO4 angesäuert (B) und Marrubiin als externer Referenzsubstanz bestimmt.
x x
Wirkungen und Anwendungsgebiete. Als Amarum bei
x
Appetitlosigkeit, dyspeptischen Beschwerden wie Völlegefühl und Blähungen, ferner bei Katarrhen der Lutwege (Kommission E). Für hydroalkoholische Extrakte des Andornkrauts konnten spasmolytische, analgetische und gefäßrelaxierende Wirkungen nachgewiesen werden. Als Wirkstofe gelten Marrubiin und Marrubenol. Die gefäß-
x
x
gemisch Leocardin (vgl. > Abb. 23.55), ferner (+)-Leosibiricin, 19-Hydroxygaleopsin, 19-Acetoxypregaleopsin u. a.; Iridoidglykoside wie Ajugol, Ajugosid, Galiridosid (Formeln vgl. > Abb. 23.8), Reptosid; Phenylethanoidglykoside (Lavandulifoliosid); Triterpene (Ursolsäure, Oleanolsäure), Sterole (E-Sitosterol, Stigmasterol); Flavonoidglykoside und lipophile Flavonoide wie Genkwanin; N-haltige Verbindungen (Betonicin, Stachydrin u. a.).
Analytische Kennzeichnung. DC-Fingerprint von Irido-
iden (PhEur) [Fließmittel: Essigsäure 99%–Wasser–Ethylacetat (20:20:60); Referenzsubstanzen: Naphtholgelb S,
23.5 Diterpene
. Abb. 23.55
23
O 15
CH3
O
O CH3 OAc
OH
CH3
O
O
JonesReagens
CH3
O O
Leopersin I (C15/16-Lacton; isoliert aus L. persicus)
OAc O
H
H3C
O
H
H3C
15
O
+
H
O
CH3
Leocardin (hemiacetalisches Labdan; Gemisch der 15α- und 15β-Epimeren)
OH CH3
O
OAc O
H
H3C
O O
Leopersin E (Furanolabdan; isoliert aus L. persicus)
13
CH3
O
CH3 Trocknung, Isolierung oder H+
H
H3C
O
CH3
O O
Premarrubiin (Prefuranolabdan; 13R + S)
OH CH3
O
H
H3C
O O
Marrubiin (Furanolabdan)
Obere Hälfte: Bei den heute bekannten Hauptditerpenen von Leonurus cardiaca handelt es sich um das C-15-Epimerengemisch (α- und β-OH) Leocardin vom Labdantyp. Solche Diterpene sind relativ instabil und kommen auch in anderen Leonurus-Arten vor (vgl. Tasdemir 1997). Durch Oxidation mit Jones-Reagens lässt sich das Molekül unter Ausbildung einer C-15-Ketogruppe stabilisieren. Durch Säure wird der Epoxidring unter Bildung eines Furanolabdanderivates aufgespalten. Eine Arbeitsgruppe in Bonn fand als Hauptditerpen in Untersuchungen von Pflanzen aus eigenen Kulturen sowie aus Drogenmaterial immer Leosibiricin (vgl. Knöss u. Zapp (1998). Untere Hälfte: Hauptditerpen von Marrubium vulgare ist das Furanolabdan Marrubiin. Marrubiin kommt genuin in der Pflanze als 13R- und/oder 13S-Prefuranolabdan (= Premarrubiin) vor, aus dem es leicht beim Trocknen des Pflanzenmaterials, bei der Aufarbeitung oder auch durch Zugabe von verdünnter Säure entsteht (Laonigro et al. 1979). Marrubiin ist ein Diterpen, von dem kürzlich nachgewiesen werden konnte, dass es auf dem Nicht-MVA-Biosyntheseweg gebildet wird (Knöss et al. 1997; vgl. dazu auch Abschn. 23.1 und > Abb. 23.4). Der in der älteren Literatur erwähnte „Wirkstoff “ von M. vulgare, die Marrubinsäure, kommt in der Pflanze nicht vor
891
892
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
Catalpol; Sprühreagens: Dimethylaminobenzaldehydlösung]. Die Iridoide erscheinen nach Besprühen mit Dimethylaminobenzaldehydlösung und Erhitzen im Tageslicht als graublaue Zonen. Anwendungsgebiete. Zur Behandlung nervöser Herz-
beschwerden sowie als Adjuvans im Rahmen einer Schild-
drüsenüberfunktion (Kommission E). Weitere Indikationen sind z. B. klimakterische Beschwerden mit Hitzewallungen. Hinweis. Inhaltsstofe, Analytik, Wirkung sowie Indikationen von Herzgespannkraut bedürfen einer Überprüfung.
Schlüsselbegriffe Adenylatcyclase-Aktivierung c-AMP Andornkraut Andromedotoxin Atractylis gummifera Atractylosid Coleus forskohlii Forskolin Gibberelline
Grayanotoxine Hemmung des ADP/ATP-Carriers Herzgespannkraut Labdangerüst Leonuri cardiacae herba Leonurus cardiaca Marrubii herba Marrubiin Marrubium vulgare
Modellsubstanz Premarrubiin Stevia rebaudiana Steviosid Süßungsmittel Toxikologie Wirkungen (Bitterwirkung, Süßwirkung)
23.6
Triterpene einschließlich Steroide ( > Kap. 24)
trans-ständig angeordnet sind. Dieses konjugierte System bedingt die intensiv gelbe bis rote Farbe.
23.7
Tetraterpene: Carotinoide und biochemisch verwandte Pflanzenstoffe
23.7.1
Chemischer Aufbau, Einteilung, Nomenklatur
Zur Nomenklatur. Als Grundgerüst für sämtliche C40-Carotinoide kann Lycopin angenommen werden. Von der ofenkettigen Grundstruktur leiten sich die verschiedenen Derivate durch unterschiedliche Ausgestaltung der beiden C9-Enden ab (vgl. Übersicht von Weedon u. Moss 1995). Diese C9-Enden, man kennt insgesamt 9 natürliche Varianten, symbolisiert durch 2 griechische Buchstaben, die man der Stammbezeichnung „Carotin“ voranstellt ( > Abb. 23.56 und 23.57). Das Präix „apo“ weist auf das Carotinoid hin, aus dem die Verbindung durch den oxidativen Abbau eines Strukturteils entstanden ist (Beispiel: > Abb. 23.58). Diese semisystematische Nomenklatur verwendet man zusätzlich oder an Stelle der historischen Trivialnamen.
Carotinoide sind fettlösliche, gelbe bis rote Farbstofe, die aus 8 Isoprenbausteinen aufgebaut sind. Da sie symmetrisch aufgebaut sind, handelt es sich, genau genommen, nicht um Tetraterpene, sondern um Bisditerpene, die über das jeweils endständige C-4-Atom der C20-Kette S-S miteinander verknüpt sind. Die Carotinoide unterteilt man in 2 Hauptgruppen: in die Carotine, das sind reine Kohlenwasserstofe, und in die Xanthophylle, das sind O-haltige Derivate. Häuiger autretende O-Funktionen sind Hydroxy-, Methoxy-, Epoxy- und Carbonylgruppen. Die Carotinalkohole (Hydroxyderivate) können frei oder mit Fettsäuren, beispielsweise mit Palmitinsäure, verestert vorliegen. Nativ können sowohl die Carotine als auch die Xanthophylle komplex an Proteine oder Lipoproteine (z. B. der Chloroplasten) gebunden vorliegen. Carotinoide enthalten eine größere Zahl – meist 9, 10 oder 11 – konjugierte Doppelbindungen, die in der Regel
23.7.2
Physikalische und chemische Eigenschaften, Stabilität
In reiner Form bilden die Carotinoide braunrote bis dunkel purpurfarbene Kristalle. In Wasser sind sie praktisch unlöslich; wenig löslich in Methanol, Ethanol und fetten Ölen; gut löslich in Schwefelkohlenstof und Chloroform. Carotinoide sind sehr empindlich gegen Einwirkung von Lut, oxidierenden Substanzen und Licht. Emulgierte
23
23.7 Tetraterpene: Carotinoide und biochemisch verwandte Pflanzenstoffe
893
. Abb. 23.56 19 7
20
9
R
11 10
8
15
13 14
12
12'
14' 13'
15'
10'
8' 9'
11'
20' 17
16
17
2
16 6
3
5 4
16
2
6
R bzw. R' 3
19'
1
1
18
R' 7'
5 4
5
17
1
18
1 2
18
18
17
6
16
4
3
5
2
4
6
3
β
ε
κ
ψ
beta
epsilon
kappa
psi
CH3
CH3
CH3
CH3 CH3
H3C CH3
CH3
CH3
CH3
ψ,ψ-Carotin (Trivialname: Lycopin)
H3C
CH3
CH3
H3C
CH3
CH3
CH3
H3C
CH3
CH3
β,ε-Carotin (Trivialname: α-Carotin) O CH3
CH3
H3C
4
H3C
CH3
CH3
CH3
CH3
4′
H3C
CH3
O β,β'-Carotin-4,4'-dion (Trivialname: Canthaxanthin)
Die in Pflanzen vorkommenden Carotinoide werden nomenklatorisch als Derivate einer aliphatischen C22-Kette (oberste Formel) aufgefasst. Für R und R’ sind insgesamt 9 Varianten bekannt; doch treten im Pflanzenreich nur 4 Varianten (β, ε, κ und ψ) auf. Drei Beispiele für die Anwendung dieser semisystematischen Nomenklatur sind wiedergegeben
894
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.57 H3C
CH3
CH3
CH3 CH3 5'
HO
CH3
CH3
CH3
CH3
CH3
Rubixanthin (3R)-β,ψ-Carotin-3-ol; 5'-cis-Isomere = Ganzaniaxanthin H3C
CH3
CH3
4'
H3C
CH3
OH
5'
3'
6'
2'
1'
HO
CH3
CH3
Lutein (3R,3'R,6'R)-β,ε-Carotin-3,3'-diol
CH3 H3C
Rest wie Lutein H3C
CH3 H3C
CH3
OH 5'
O
3'
6'
CH3 H
C
CH3
6 3
CH3
OH
H3C
Zeaxanthin (3R,3'R)-β,β-Carotin-3,3'-diol
H3C
CH3
H3C
CH3
CH3
5
HO
OH CH3
Neoxanthin (3S,5R,6R,3'S,5'R,6'S)-5',6'-Epoxy-6,7-didehydro-5,6,5',6'-tetrahydro-β,β-carotin-3,5,3'-triol HO
CH3 5'
H3C
6 3
CH3
CH3
5
HO
7
6'
CH3
H
C H3C
8
O
O CH3
OH 3'
CH3
CH3
CH3
Fucoxanthin (3S,5R,6S,3'S,5'R,6'R)-3'-Acetoxy-5,6-epoxy-3,5'-dihydroxy-6',7'-didehydro-5,6,7,8,5',6'-hexahydro-β,β-carotin-8-on H3C
CH3
CH3
H3C
CH3
OH
8
5
HO
O
H
CH3
CH3
H Flavoxanthin (3S,3'R,5R,6'R,8R)-5,8-Epoxy-5,8-dihydro-β,ε-carotin-3,3'-diol (= 5,8-Epoxylutein)
H3C
CH3
23.7 Tetraterpene: Carotinoide und biochemisch verwandte Pflanzenstoffe
. Abb. 23.58
23
OH 3'
H3C
CH3
CH3
8'
3
HO
CH3
CH3
5'
H3C
CH3
6'
CH3 CH3 O
CH3
Capsanthin (3R,3'S,5'R)-3,3'-Dihydroxy-β,κ-carotin-6'-on
H3C
CH3
CH3
CH3
H O
HO
CH3
CH3
CH3
β-Citraurin (3R)-3-Hydroxy-8'-apo-β-carotin-8'-al
H3C
CH3
CH3
CH3
H O
O
CH3
CH3
CH3
3-Keto-8'-apo-β-carotin-8'-al
kurzkettige Verbindungen
Drogen, die Carotinoide enthalten, verändern beim Lagern ihre Farbe. Der oxidative Abbau des Capsanthins bei der Lagerung von Paprika wurde näher studiert (Philip u. Francis 1971). Unter den kurzkettigen Verbindungen finden sich u. a. auch Aromastoffe
9 Weitere im Abschn. 23.7 erwähnte Tetraterpene. Neoxanthin und Fucoxanthin sind durch 2 kumulative Doppelbindungen charakterisiert. Da der Allenteil 4 unterschiedliche Substituenten trägt, sind jeweils 2 optisch aktive Formen existent, die analog wie bei Vorliegen asymmetrischer C-Atome durch die Symbole R und S gekennzeichnet werden. Bezüglich der Konfigurations-Nomenklatur von Allenen ist die der Sequenzregel übergeordnete Regel zu beachten, wonach nahe Gruppen Vorrang vor entfernten haben. Rubixanthin ist das Pigment verschiedener Rosenarten. Das 5’-cis-Isomere wurde zuerst aus Hagebutten isoliert; sein Name Gazaniaxanthin nimmt Bezug auf das Vorkommen in Gazania-Arten (Asteraceae [IIB28b]). Neoxanthin ist in allen grünen Pflanzen enthalten. Fucoxanthin ist der charakteristische Farbstoff vieler Meeresalgen, besonders der Braunalgen (Phaeophyceae)
895
896
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
oder durch Lösungsvermittler hergestellte feine Suspensionen sind gegen Oxidation weniger empindlich, wenn Antioxidanzien, beispielsweise Tocopherole, zugesetzt werden. Beschleunigt wird dagegen der oxidative Abbau durch radikalische Intermediate, wie sie bei der Lipidperoxidation (Ranzigwerden von fetten Ölen) autreten. Der oxidative Abbau der verschiedenen Carotinoide ist gut untersucht. Beispielsweise verliert Paprikapulver beim Lagern seine leuchtend rote Farbe in dem Maße, wie das Capsanthin zu kurzkettigen Verbindungen abgebaut wird (vgl. > Abb. 23.58). Der oxidative Abbau kann auch durch planzeneigene Enzyme vom Typ der Lipoxygenasen katalysiert werden. Licht induziert, abhängig von Wellenlänge und Intensität, die verschiedensten Reaktionen. Zunächst einmal ist hier das Phänomen der cis-trans-Isomerisierung zu erwähnen. Die 9 Doppelbindungen der Kette des E-Carotins könnten theoretisch jeweils in der cis- oder in der transForm vorliegen, sodass 81 cis-trans-Isomere denkbar sind. Infolge sterischer Hinderung sind allerdings nur einige der theoretisch möglichen Isomere stabil. Die partielle Umlagerung gibt sich im Absorptionsspektrum durch hyperund hypochrome Verschiebung der Hauptabsorptionsbande zu erkennen, dem bloßen Auge durch ein leichtes Blasswerden der Farbtiefe. Licht hoher Intensität führt zum Molekülabbau. Es wurden C15-Abbauprodukte isoliert, wie sie auch nach Lipoxygenaseeinwirkung gefunden werden.
23.7.3
Analytische Kennzeichnung
Die Extraktion aus planzlichem Material erfolgt mit einem wasserfreien Lösungsmittel (Methanol, Aceton). Durch Verteilung zwischen 2 miteinander nicht mischbaren organischen Lösungsmitteln oder durch Adsorptionschromatographie reinigt man die Extrakte weiter; ot lässt sich eine Vortrennung in 3 Fraktionen erreichen: in die der Carotine (Kohlenwasserstofe), in die der Xanthophyllester und in die der freien Xanthophylle. Prüfung auf Identität. Mit Antimon(III)-chlorid in Cyc-
lohexan färben sich Carotinoide intensiv blau; die Farbe ist wenig beständig. Diese Farbreaktion entspricht der CarrPrice-Reaktion auf C20-Stofe der Vitamin-A-Reihe. Ansonsten spielen Farbreaktionen in der Carotinoidanalytik eine untergeordnete Rolle, da sich Carotinoide durch ihre Eigenfärbung hinreichend gut lokalisieren lassen. DC-
Prüfmethoden für Carotinoide enthaltende Drogen haben die Pharmakopöen nicht vorgesehen. Die DC-Bedingungen wären ähnlich, wie sie die PhEur 5 für Vitamin A (ölige Lösung) angibt [Fließmittel: Ether–Cyclohexan (20:80)]. In der Literatur inden sich eine große Anzahl von DC(vgl. Schiedt 1995) und HPLC-Vorschriten (vgl. Pfander u. Riesen 1995). Gehaltsbestimmung. Eine Gehaltsbestimmung der Carotinoide in Drogen wird von den Arzneibüchern nicht gefordert. Für ihre quantitative Bestimmung in pharmazeutischen und kosmetischen Produkten sowie im Lebensmittelsektor existieren spektrophotometrische und chromatographische Methoden. Ein Beispiel ist die Bestimmung von E-Carotin in Milch mit HPLC (Granelli u. Helmersson 1996).
23.7.4
Vorkommen, Lokalisation. Hinweise auf Carotinoidführung in Arzneidrogen
Die größten Mengen an Carotinoiden werden in den photosynthetisch aktiven Geweben der Planzen und Algen gebildet. Teilweise können auch Bakterien und Pilze, die mehrheitlich photosynthetisch nicht aktiv sind, Carotinoide aubauen. Die Carotinoidkonzentration in planzlichem Material liegt durchschnittlich zwischen 0,02% und 0,1%, bezogen auf die wasserfreie Droge. Es wird geschätzt, dass in der Natur jährlich etwa 108 Tonnen Carotinoide produziert werden, v. a. Fucoxanthin (durch Braunalgen), Lutein, Violaxanthin und Neoxanthin (vgl. Britton et al. 1995). Lokalisation. In der Regel kommen die Carotinoide an
Chromoplasten gebunden vor, die bekanntlich die Gelbbis Rotfärbung zahlreicher Blüten und Früchte, aber auch die von Wurzeln (Beispiel: Karotten von Daucus carota), bedingen. Chromoplasten gehen häuig aus Chloroplasten hervor. Die Umbildung beginnt, sobald die anfangs grünen Blüten und Früchte reifen. Das Chlorophyll verschwindet; es kommt zu einer Änderung der Feinstruktur; Carotinoide und Fette reichern sich in feinen Tröpfchen an. Ähnliches spielt sich bei der Herbstfärbung der Blätter ab: das Chlorophyll wird abgebaut, die Carotinoide bleiben erhalten und bestimmen die Pigmentierung (mit Ausnahme der Anthocyane führenden Arten).
23
23.7 Tetraterpene: Carotinoide und biochemisch verwandte Pflanzenstoffe
Die Karotte oder Möhrenwurzel ist ein Beispiel für die Umwandlung von Leukoplasten zu Chromoplasten. In dem Maße, wie der Carotingehalt zunimmt, nimmt der Stärkegehalt ab, schließlich werden die Chromoplasten zu kristallartigen, platten- oder nadelförmigen Gebilden, die Doppelbrechung aufweisen. Schließlich gibt es auch noch die Speichermöglichkeit von Carotinoiden in Vakuolen als wasserlösliche Derivate. Wasserlösliche Carotinoide entstehen durch Anlagerung an Proteine oder (seltener) durch Bindung an Zucker. An Proteine gebundene Carotinoide lassen sich in wässrigem Medium physikalisch feinst dispergieren und pigmentieren auf diese Weise die wässrige Phase. Beispiele dafür sind die Carotinoide in Orangen, Tomaten und Karotten, sowie in den daraus hergestellten Fruchtsäten. In dieser an Protein gebundenen Form sind die Carotinoide im Übrigen wesentlich stabiler, als wenn
sie in Substanz Licht, Lut und Oxidanzien ausgesetzt sind. Durch Glykosidierung wasserlöslich ist das Crocin, das in den Narben bestimmter Crocus-Arten vorkommt, und dort im Zellsat gespeichert wird. Auch die Pigmente, denen die Königskerzen (Verbascum-Arten) ihre gelbe Farbe verdanken, gehören zu den glykosidierten Carotinoiden. Das Gleiche dürte für die gelb blühenden Rosensorten zutrefen. Carotinoidführung allgemein. Die Blätter höherer
Planzen unterscheiden sich in der Carotinoidführung relativ wenig, d. h. taxonspeziische Muster treten nicht auf. Es dominieren als Blattcarotinoide E-Carotin (vgl. > Abb. 23.60), Lutein (3,3c-Dihydroxy-D-Carotin; vgl. > Abb. 23.57), Neoxanthin (vgl. > Abb. 23.57) und Violaxanthin ( > Abb. 23.59).
. Abb. 23.59 H3C
CH3
CH3
CH3
H O
HO
CH3
CH3
CH3
β-Citraurin, C30H40O2 H3C
CH3
CH3 O
HO
H3C
OH
CHO
CH3
CH3
CH3
O
2-cis-(+)-Xanthoxin, C15H22O3
CH3
COOH
(+)-Abscisinsäure, C15H20O4
C15 H3C
CH3
CH3 O
HO
CH3
H3C
CH3
OH
O
CH3
CH3
H3C
CH3
Violaxanthin, C40H56O4
Durch den oxidativen Abbau von Carotinoiden und/oder durch einen unvollständigen Aufbau resultieren den Carotinoiden biosynthetisch nahestehende Naturstoffe mit verkürzten Ketten. β-Citraurin, das Hauptpigment der Orangenschalen, stellt sich als ein um einen C10-Rest verkürztes Zeaxanthin oder Lutein dar. Xanthoxin, eine in höheren Pflanzen weit verbreitete Substanz, hat ähnliche Eigenschaften als Wachstumsregulator wie die Abscisinsäure. Beide Stoffe sind formal Sesquiterpene. Xanthoxin bildet sich photolytisch aus Violaxanthin, sodass zumindest in diesem Falle ein Carotinoidprodukt vorliegt
897
898
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.60 H3C
CH3
CH3
H3C
CH3
CH3
CH3
CH3
H3C
CH3
β,β'-Carotin (Trivialname: β-Carotin, auch Betacaroten) Spaltung: Oxidation über Aldehyd (= Retinal) zum Alkohol (= Retinol)
H3C
CH3
CH3
CH3 CH2OH
2 CH3 2 Moleküle Vitamin A1 (Axerophthol, Retinol)
Carotine mit mindestens einem β-Iononring sind Provitamine A. Solche Carotine können im menschlichen und tierischen Organismus in der Mitte des Moleküls gespalten werden. Spalthälften mit dem β-Iononring können durch Oxidation in Vitamin A umgewandelt werden. Aus β-Carotin mit 2 β-Iononringen entstehen 2 Moleküle Vitamin A, während α-Carotin (Formel vgl. > Abb. 23.56) nur ein Molekül Vitamin A ergibt
Für das Organ Blatt sind Carotinoide lebenswichtige Bestandteile: Blütenblätter hingegen sind nur bei einem Teil aller Planzenarten carotinoidführend. Die carotinoidführenden Blüten lassen sich in 2 Hauptgruppen einteilen: x Blüten, die stark oxidierte Xanthophylle enthalten, insbesondere 5,8-Epoxide vom Typus des Flavoxanthins. Beispiel: Calendula-oicinalis-Sorten mit gelben Blüten; x Blüten, die Carotinoide (Kohlenwasserstofe), vorzugsweise Lycopin, enthalten. Beispiel: orangeblühende Calendula-oicinalis-Sorten. Daneben gibt es „Spezialisten“, wie die bereits erwähnten Crocus-Arten, die Crocin, den Bisgentiobiosylester der Di-Apo-Carotinsäure Crocetin (vgl. > Abb. 23.62) enthalten. Früchte sind in ihrem Carotinoidmuster außerordentlich vielgestaltig. Insgesamt hat man 11 Typen aufgestellt (Goodwin 1980); darunter gibt es einen Typus mit taxonspeziischen Pigmenten. Beispiele: x 3-Hydroxy-J-carotin wurde bisher nur in Früchten von Rosa-Arten gefunden;
x Capsanthin und Capsorubin kommen nur in den roten Paprikasorten der beiden Arten Capsicum frutescens und C. annuum vor. Krustentiere wie Hummer und Crevetten, Fische wie Lachs und Goldisch verdanken ihre Färbung z. T. Carotinoiden, die im stöchiometrischen Verhältnis 1:1 an Proteine gebunden sind. Man fand, dass diese hauptvalenzgebundenen Carotinproteine einen Carotinteil enthalten, der in den Positionen 4 und 4c der Ionenringe eine Ketogruppe trägt [z. B. Canthaxanthin ( > Abb. 23.56), Astaxanthin]. Carotinoidführung in Arzneidrogen. Nachdem Caro-
tinoide im Planzenreich überall vorkommen, darf man erwarten, dass sie auch in sehr vielen Drogen als Inhaltsstofe autreten. Besondere Erwähnung verdienen die in > Tabelle 23.6 aufgeführten Arzneidrogen.
23.7 Tetraterpene: Carotinoide und biochemisch verwandte Pflanzenstoffe
. Tabelle 23.6 Arzneidrogen mit Carotinoiden und Xanthophyllen Arzneidroge
Nachgewiesene Carotinoide
Arnikablüten
Xanthophylle
Brennesselkraut
E-Carotin, Xanthophylle
Hagebutten
Carotinoide und Xanthophylle, darunter Lycopin und Neoxanthin
Löwenzahnkraut
Carotine, Xanthophylle, Flavoxanthin
Bitterorangenschale
Cryptoxanthin, E-Apo-8’-carotinal, E-Citraurin
Primelblüten
„Carotinoide”
Ringelblumen
Carotine und Xanthophylle, darunter Lycopin (orange Varietäten) und Flavoxanthin
Stiefmütterchenkraut
Violaxanthin, Zeaxanthin u. a.
Wollblumen
Carotinoide und Xanthophylle
23.7.5
Biosynthese der Carotinoide
Die einzelnen Schritte der Biosynthese sind bereits in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts beschrieben worden. In neuerer Zeit ist es gelungen, die Gene für alle involvierten Enzyme zu lokalisieren und zu sequenzieren. Die Genexpression in geeigneten Organismen, in erster Linie in Escherichia-coli-Bakterien, ermöglicht die Herstellung und ot auch die Reinigung der einzelnen Enzyme. Da jetzt die Gene für die Enzymcodierung von IPP bis zu den Xanthophyllen bekannt sind (vgl. dazu auch > Abb. 23.4), lässt sich die Biosynthese durch Gentransfer eizienter gestalten. Transgene Tomaten, die wesentlich mehr Lycopin produzieren, sind bereits Realität. Die biotechnologische Produktion kann gegenüber der chemischen Synthese an Bedeutung gewinnen. Geranylgeranyldiphopsphat dimerisiert unter Wirkung der Phytoensynthase zu Phytoen (vgl. > Abb. 23.5), womit das C40-Carotinoidgerüst ausgebildet ist. Für die Überführung von Phytoen in Lycopin (Formel von Lycopin > Abb. 23.56) ist in Bakterien und Pilzen nur ein Enzym involviert. Die Phytoendesaturase bewirkt die sequenzielle Einführung von vier Doppelbindungen, die alternierend in der einen oder anderen Hälte des Moleküls eingeführt werden. Planzen und Algen brauchen für diesen Schritt zwei Enzyme. Die Phytoendesaturase pro-
23
duziert ]-Carotin, welches von ]-Carotindesaturase in Lycopin umgewandelt wird. Zyklisierung von Lycopin an einem bzw. an zwei Enden der C40-Kette führt zu den zyklischen Carotinoiden, welche weiter zu den Xanthophyllen oxidiert werden. Die entsprechenden Enzyme sind ebenfalls bekannt (vgl. dazu Übersicht von Meyer 2002).
23.7.6
Schicksal der Carotinoide im Säugetierorganismus
Carotinoide der unterschiedlichsten Konstitution werden dem menschlichen Organismus tagtäglich mit Nahrungsmitteln planzlicher und auch tierischer Herkunt zugeführt; ein weiterer Teil ist synthetischer Herkunt, da einige Carotinoide als Lebensmittelfarbstofe zugelassen sind. Im menschlichen Organismus sind mindestens 18 verschiedene Carotinoide nachgewiesen worden, wobei E-Carotin und Lycopin am häuigsten vorkommen. Ihre unterschiedlichen Strukturelemente und physikalischen Eigenschaten beeinlussen Resorption, Verteilung, Metabolismus und Ausscheidung (zur Bioverfügbarkeit > Übersicht von Yeum u. Russell 2002). Fett aus der Nahrung ist der wichtigste Faktor, der die Resorption beeinlusst: Carotinoide als fettlösliche Substanzen brauchen Nahrungsfett als Träger zur Resorption. Außerdem wird durch Fett in der Nahrung die Sekretion von Gallensäuren stimuliert. Nahrungsfett bzw. allgemein fettlösliche Substanzen wie die Carotinoide können nur in Gegenwart von Gallensäuren resorbiert werden. Die Rate der Resorption aus Lebensmitteln wird auf 2–50% geschätzt. Ballaststofe aus der Nahrung können die Resorption hemmen, gleichzeitig beeinlusst auch die Matrix, in die die Carotinoide eingebunden sind, die Resorptionsrate. Aus unaufgeschlossenem planzlichem Material, beispielsweise aus Karotten, wird wesentlich weniger E-Carotin aufgenommen, als wenn es auf einer Matrix (z. B. in Form eines industriell hergestellten Lebens- oder Arzneimittels) fein dispergiert angeboten wird. Nach der Resorption werden Carotinoide und Vitamin A ( > unten und > Abb. 23.60) in der Dünndarmschleimhaut zusammen mit resorbierten Nahrungsfetten in Chylomikronen inkorporiert, über Lymphsystem und Blutkreislauf zur Leber transportiert und in die Leber aufgenommen. Im Blutkreislauf werden Carotinoide mit den verschiedenen Lipoproteinen (z. B. LDL) transportiert. Hauptspeichergewebe sind Leber und Fettgewebe. Carotinoide kommen aber auch in der Lunge und in anderen
899
900
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
Geweben wie dem Corpus luteum (Gelbkörper), Nebennieren, Prostata und in der Retina und Makula [hier insbesondere Lutein und Zeaxanthin (vgl. dazu unter Lutein; Kap. 23.7.7)] im Auge vor. E-Carotin beansprucht als Provitamin A besonderes Interesse ( > Abb. 23.60). Ein Teil des resorbierbaren E-Carotins wird in den Zellen der Dünndarmwand in Vitamin A umgewandelt. Überschüssiges E-Carotin gelangt in den Blutkreislauf; etwa 85% werden im subkutanen Fettgewebe und etwa 10% in der Leber gespeichert. Überdosierung führt zu einer Hypercarotinämie, kenntlich an der gelben Verfärbung der Haut, v. a. auch an der aufallenden Anfärbung von Handtellern und Fußsohlen. Die Verfärbung ist nach Absetzen der Carotinzufuhr reversibel. Wichtig ist, dass die Hypercarotinämie zu keiner Hypervitaminose führt: E-Carotin gilt als ein toxikologisch weitgehend unbedenklicher Stof.
23.7.7
Wirkungen und Anwendungsgebiete
Bisher wurden über 700 Carotinoide identiiziert, von denen etwa 50 eine Vitamin-A-Wirkung aufweisen. Daneben sind verschiedene weitere Wirkungen bekannt. Hervorzuheben sind insbesondere die antioxidativen Eigenschaten als Radikalfänger von Singulettsauerstof (vgl. Miller et al. 1996), wodurch z. B. dem E-Carotin eine prophylaktische Bedeutung im Rahmen der Krebsprävention und bei immunologischen Prozessen zugeschrieben wird [vgl. dazu auch Infobox „Antioxidanzien“ (Kap. 26.5.8)]. Daneben sind aber auch Efekte auf die Haut bei Photodermatosen sowie Schutzwirkungen gegen arteriosklerotisch bedingte Herz-Kreislauf-Erkrankungen und ihre Folgen (Herzinfarkt) u. a. beschrieben worden (vgl. Übersicht von Mayne 1996). Zu protektiven Wirkungen von Carotinoiden vgl. auch Übersicht von Siems et al. 2005.
β-Carotin Von den Carotinoiden hat E-Carotin, auch als E-Caroten bezeichnet, die größte Bedeutung erlangt. E-Carotin kommt zusammen mit D- und J-Carotin in Karotten, Palmöl und wohl den meisten grünen Planzen vor. Es hat für alle Säugetiere – die Katze bildet eine Ausnahme – Provitamin-A-Eigenschat. Mohrrüben- bzw. Karottenplanzensäte werden zur Vorbeugung gegen Vitamin-A-
Mangel empfohlen. Die Möhre, Daucus carota L. ssp. sativa (Familie: Apiaceae [IIB25a]) ist eine sehr alte Kulturplanze, die heute in zahlreichen Spielarten gezogen wird (Karotten, Riesenmöhren u. a. m.). Der verwendete Planzenteil stellt botanisch-morphologisch eine leischig verdickte Rübe dar, an deren Bildung Hypokotyl und die Primärwurzel beteiligt sind. Frische Karotten enthalten etwa 88% Wasser und 10–20 mg/100 g (10–20 ppm) Carotin. Aus Karotten lassen sich durch Vergärung mit Hefen (Saccharomyces-Arten) oder Milchsäurebakterien E-Carotinkonzentrate gewinnen. Die Mikroorganismen bauen die Zucker ab, ohne dabei das E-Carotin anzugreifen, das dann in konzentrierter Form zurückbleibt (Rehm 1980). E-Carotin und die meisten anderen Carotinoide können heute vergleichsweise billig auf rein synthetischem Wege hergestellt werden. Sie sind als Farbstofe in Lebensmitteln zugelassen (vgl. Bertram 1989). Dazu gehören Carotine wie D-, E- und J-Carotin, Bixin, Norbixin, Capsanthin, Capsorubin und Lycopin, aber auch Xanthophylle wie Flavoxanthin, Lutein, Cryptoxanthin, Rubixanthin, Violaxanthin, Rodoxanthin und Canthaxanthin. In der pharmazeutischen Technologie verwendet man sie ebenfalls als Farbstofe, und zwar zum Färben von Dragees, Kapseln, Suppositorien, Salben und Emulsionen. In der Medizin wird reines E-Carotin als Arzneistof zur systemischen Behandlung von Photodermatosen (erythropoetische Protoporphyrie), als Begleitmedikation bei der Verabreichung phototoxischer Pharmaka und zur Vermeidung chronischer Lichtschäden, Präkanzerosen und Epitheliome eingesetzt. Canthaxanthin wurde als Bräunungsmittel verwendet. Die Canthaxanthinpigmentierung kommt einer natürlichen Bräunung nahe. Allerdings wurden dabei in Großversuchen am Menschen unerwünschte Nebenwirkungen wie das „Goldlitterphänomen“ (Autreten goldlitterartiger Farbpunkte am Augenhintergrund) beobachtet. Als Folge dieser Farbstofeinlagerung im Auge wurden Störungen der Hell-Dunkel-Adaptation beschrieben. Epidemiologische Studien ergaben, dass die Verabreichung von reinem E-Carotin das Krebs-, insbesondere das Lungenkrebsrisiko vermindert. Die Substanz verhindert die Initiierung der DNA-Schädigung (Wirkung als Radikalfänger), der Promotion in Tumorzellen (Hemmung der Adenylatcyclase von Tumorzellen) und die Konversion von prämalignen zu malignen Zellen (E-Carotin induziert die Bildung regulatorischer Proteine). Zu anderen Ergebnissen kamen in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts die
23.7 Tetraterpene: Carotinoide und biochemisch verwandte Pflanzenstoffe
in Finnland durchgeführte ATBC-Studie (D-TocopherolE-Carotene Cancer Prevention Study) und die in den USA durchgeführte CARET-Studie (E-Carotene and Retinol Eicacy Trial), welche einen möglichen tumorprotektiven Efekt von zusätzlichem E-Carotin bei Rauchern untersuchten. In beiden Fällen zeigte sich für die Interventionsgruppe (Einnahme von E-Carotin) eine höhere Inzidenz für Lungenkrebs (ATBC 18%, CARET 28% mehr Lungenkrebsfälle als in der unbehandelten Vergleichsgruppe). Die Gründe für den Anstieg des Lungenkrebsrisikos bei Rauchern nach der Einnahme von hohen Dosen von E-Carotin glauben amerikanische Forscher in In-vivo-Untersuchungen an Frettchen gefunden zu haben. Frettchen und
23
Mensch sind sich ähnlich in Bezug auf die Resorption und Akkumulation von E-Carotin, der DNA-Sequenzen verschiedener Gene u. a. Es konnte nachgewiesen werden, dass durch den Zigarettenrauch oxidative Spaltprodukte von E-Carotin via Induktion von Cytochrom P 450 in die Retinoidkaskade eingreifen und via Aktivatorprotein-1 (AP-1) erhöhte Zellproliferation und Karzinogenese verursachen ( > Abb. 23.61). Dieser Vorgang scheint dosisabhängig zu sein, da kleine Dosen von E-Carotin keine Zellveränderungen erzeugen (vgl. Übersicht von Russell 2004 und darin zitierte Literatur). Daraus lässt sich ableiten, dass nicht das E-Carotin, sondern die durch den Zigarettenrauch entstehenden Oxidationsprodukte (Aldehyde,
. Abb. 23.61
Schematische Darstellung der Lungenkrebsentstehung bei Rauchern nach der Einnahme von β-Carotin (abgeändert nach Russell 2004). Durch den Zigarettenrauch entstehen nach Einnahme von β-Carotin vermehrt oxidierte β-Carotinmetaboliten, die die Cytochrom P 450 Enzymaktivität induzieren, sodass der Retinsäurespiegel in der Lunge gesenkt wird. Dadurch wird die Retinoidsignaltransduktionskaskade beeinflusst, bei der neben den Retinoidrezeptoren (RAR und RXR) die Proonkogene c-Fos und c-Jun (Proteine von AP-1) beteiligt sind. AP-1-Bindungsstellen sind in einer Anzahl von Genen enthalten, die für die Kontrolle der Zellproliferation von Bedeutung sind. Es konnte nachgewiesen werden, dass bei einer Abnahme der Retinsäurekonzentration in der Lunge eine verminderte Retinoidsignaltransduktionskaskade (n c-Fos, n c-Jun, p RAR-β Expression) und damit ein Anstieg der Zellproliferation und eine präkanzeröse Veränderung des Lungengewebes entstehen (vgl. Übersicht von Russell 2004). Normalerweise ist die Retinsäure an einen der Retinoidrezeptoren (z. B. RAR-β) gebunden, wobei durch Blockade von AP-1 die Zellproliferation gehemmt wird, da AP-1 nicht an die DNA binden kann (vgl. Kasten in der Abbildung). Diese Art von Protein-Protein-Wechselwirkung ist verantwortlich für bestimmte antiproliferative und antikarzinogene Eigenschaften der Retinsäure
901
902
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
Epoxide u. a.) zu einem erhöhten Lungenkrebsrisiko führen können. Ähnlich wie bei den erwähnten ATBC- und CARETStudien kommt eine kritische Wertung der hauptsächlichsten randomisierten Studien mit E-Carotin bei koronaren Herzkrankheiten („coronary heart disease“ = CHD) zum Schluss, dass antioxidative Substanzen wie E-Carotin und D-Tocopherol zur Verhütung oder Behandlung der CHD nicht empfohlen werden können (vgl. Übersicht von Kritharides u. Stocker 2002). Die Verabreichung von E-Carotin zur Vorbeugung von Arteriosklerose und Krebs, insbesondere bei Rauchern, kann daher nicht mehr länger empfohlen werden. An dessen Stelle empiehlt das National Cancer Institute zur Minderung des Krebsrisikos eine fettarme, obst-, gemüse- und getreidereiche Ernährung. Es ist davon auszugehen, dass bei täglicher Einnahme mehrerer Portionen Obst und Gemüse andere Nahrungsbestandteile, wie Vitamin C, zu den positiven Wirkungen beitragen, die nicht einfach durch eine E-Carotin-herapie in höheren Dosen ersetzt werden können (vgl. dazu Übersicht von Mayne 1996).
Lycopin Im Gegensatz zu E-Carotin und Lutein ( > unten), die in sehr vielen grünen Planzen vorkommen, indet sich Lycopin hauptsächlich in Tomaten, in geringerer Konzentration aber auch in einigen anderen Obst- und Gemüsesorten sowie in einigen Arzneidrogen [u. a. in der Hagebutte, in Ringelblumen (orange Varietäten)]. Das Lycopin ist ein mit Carotin isomerer aliphatischer Kohlenwasserstof mit 11 konjugierten Doppelbindungen, das keine Vitamin-A-Aktivität zeigt. In der Natur liegt Lycopin zur Hauptsache in der all-trans-Koniguration vor ( > Abb. 23.56). Aufgrund seiner vielen konjugierten Doppelbindungen ist Lycopin den anderen Carotinoiden als Radikalfänger überlegen (zweimal so efektiv wie E-Carotin). Neueren Studien zufolge hat Lycopin ähnlich wie E-Carotin eine antikanzerogene Wirkung und hemmt die LDL-Oxidation. Die Ergebnisse mehrerer epidemiologischer Studien sowie einige Tier- und In-vitro-Studien bestätigen eine protektive Rolle von Lycopin bei HerzKreislauf-Krankheiten und Krebserkrankungen. Bei Hypertonie konnte einge mäßige blutdrucksenkende Wirkung festgestellt werden (vgl. Übersicht von Grünwald et al. 2002).
Lutein Lutein, das 3,3c-Dihydroxyderivat des D-Carotins (zur Stereochemie ( > Abb. 23.57), kommt frei oder als Ester in allen grünen Planzen sowie in Rotalgen vor. Freies Lutein bestimmt die Farbe des Eidotters. Da der tierische Organismus auf die exogene Zufuhr von Carotinoiden angewiesen ist, spielt luteinreiches Futter in der Gelügelzucht eine große Rolle. Als Futtermittelzusatz für Eidotter- und Hautpigmentierung von Mastgelügel nimmt man hauptsächlich pulverisiertes Luzernenmehl. Die Luzerne (engl.: „alfalfa“), Medicago sativa L. (Familie: Fabaceae [IIB9a]), ist eine in Gegenden mit warmem Klima viel angebaute Futterplanze. Reich an Lutein sind ferner x die Brennessel, Urtica urens L. und U. dioica L. (Familie: Urticaceae [IIB11e]); x verschiedene Rotalgen, die auch sonst als Nutzplanzen wichtig sind (z. B. als Rohstof für Hydrokolloide); x das Palmöl, das aus den Früchten der Ölpalme, Elaeis guineensis Jacq. (Familie: Arecaceae [IIA7a]), durch Auspressen gewonnen wird und ein wichtiges Handelsprodukt darstellt (für die Margarineherstellung; für Kerzen und Seifen). Das rohe Palmöl ist durch den hohen Carotingehalt tief rot gefärbt und weist bei Raumtemperatur fettartige Konsistenz auf. Im Zuge der Rainade, zur Speiseölgewinnung, entzieht man ihm die Carotinoide. Luteinreiches Öl oder andere Ölextrakte aus luteinreichen Rohstofen dienen zur Färbung von Lebensmitteln (Butter, Teigwaren) und von pharmazeutischen Produkten; x die Blüten von Tagetes-Arten (Familie: Asteraceae [IIB28b]), in denen Lutein sowohl frei als auch – mengenmäßig vorherrschend – als Dipalmitinsäureester (= Helenien) vorkommt. Dieses Esterderivat wurde erstmalig aus den Blütenblättern von Helenium autumnale L. (ebenfalls eine Asteraceae) isoliert. Lutein und Zeaxanthin (vgl. Abschn. 23.7.6) sind die einzigen Carotinoide, die nach Einnahme Carotinoide enthaltender Nahrung, in die Netzhaut des Auges (Retina) transportiert werden, wo sie mit einer Konzentration von etwa 1 mM die Macula lutea, den so genannten „gelben Fleck“ bilden. Die Macula lutea ist der Bereich der höchsten Sehschärfe. Kommt es an dieser Stelle zu einer Degeneration der lichtempindlichen Elemente, so hat das drastische Auswirkungen auf das Sehvermögen. Die altersbedingte Makuladegerneration (AMD) ist eine Netz-
23.7 Tetraterpene: Carotinoide und biochemisch verwandte Pflanzenstoffe
hauterkrankung des Auges, die vorwiegend ältere Menschen betrit. Daten einer kürzlich durchgeführten prospektiven Studie (Lutein Antioxidant Supplementation Trial) weisen darauf hin, dass eine Supplementierung von Lutein und/oder Zeaxanthin, in der Lage zu sein scheint, das Sehvermögen von Patienten mit AMD signiikant zu verbessern (vgl. dazu Übersicht von Reinke u. Schalch 2005).
! Kernaussagen
Carotinoide stellen eine große Gruppe natürlich vorkommender farbiger Verbindungen dar, die aus 8 Isopreneinheiten aufgebaut sind und die Pflanzen, aber auch verschiedenen Tieren ihre charakteristischen gelben bis roten Farben geben. Obwohl insgesamt mehr als 700 verschiedene Carotinoide identifiziert worden sind, findet man nur eine begrenzte Anzahl von Carotinoiden in nennenswerten Mengen in menschlichem Blut und in Gebweben. Die wichtigsten Carotinoide in diesem Zusammenhang sind E-Carotin, Lutein und Lycopin. Die biologische Wirksamkeit von Carotinoiden wird unter anderem auf ihre Interaktion mit freien Radikalen zurückgeführt. Carotinoide können die Erzeugung freier Radikale verhindern oder freie Radikale abfangen (Radikalfängereigenschaften) und so oxidative, d. h. durch freie Radikale erzeugte Schäden begrenzen. Aufgrund dieser Wirkung wird ihnen eine prophylaktische Bedeutung im Rahmen der Prevention von Krebs (tumorhemmend) und der Arteriosklerose (lipidsenkend) zugeschrieben. Zu weiteren antioxidativen Abwehrsstoffen aus dem Pflanzenreich gehören die Vitamine C und E sowie phenolische Stoffe (Flavonoide, Polyphenole).
23.7.8
Apocarotinoide und andere Carotinoidabbauprodukte
In lebenden Organen und postmortal vor sich gehende Abbauvorgänge Biosynthetische Vorgänge sind nicht immer gleichzusetzen mit zunehmender Vergrößerung des Molekulargewichtes; nicht selten sind molekülabbauende Schritte dazwischengeschaltet, wie sich am wohlbekannten Beispiel der Cardenolidbiosynthese ( > Abb. 24.43) aufzeigen lässt: Aubau eines C30-Triterpens, Abbau über die C27-Choles-
23
terolstufe bis zum C21-Pregnenolonderivat und Verknüpfung mit Acetyl-CoA zum C23-Cardenolid. In vergleichbarer Weise, d. h. enzymatisch gelenkt, lässt sich die Bildung einer Reihe von Planzenstofen denken, die über die C40-Stufe der Carotinoide zu kürzerkettigen Planzeninhaltsstofen führen. In Frage kommen: die Apocarotinoide, wie das E-Citraurin, die „Sesquiterpene“ vom Typus des Xanthoxins, möglicherweise darunter auch die (R)(+)-Abscisinsäure selbst (vgl. > Abb. 23.59). Schreitet der Abbau des Carotinoidmoleküls von den beiden Molekülenden zur Molekülmitte hin fort, so erhält man „Carotinoidsäuren“ mit dem Norbixin und dem Crocetin als pharmazeutisch interessierende Vertreter (vgl. > Abb. 23.62). Von diesem In-vivo-Abbau sind postmortale Veränderungen zu unterscheiden. Nach Plasmolyse der Zellen kommen die Carotinoide mit Enzymen und oxidierend wirkenden Zellinhaltsbestandteilen in engen Kontakt; sie sind dem Lutsauerstof und u. U. auch dem Licht ausgesetzt: die Ursache für die unterschiedlichste Metabolitenbildung. Unterschiedlich deshalb, da die Cosubstrate – bei der einen Art vielleicht ungesättigte Fettsäuren, bei der anderen 3-Hydroxylavone – unterschiedlich sind, abgesehen von der Enzymausstattung. Die Konzentration an entsprechenden Carotinoidabbauprodukten ist vergleichsweise gering; sie hängt überdies von Trocknungs- und Lagerungsbedingungen ab. So kann das Loliolid im Spitzwegerichblatt in der einen Charge nachweisbar sein, in einer anderen aber fehlen. Bei der „Fermentation“ bestimmter Nahrungs- und Genussmittel (Teeblatt, Tabak) werden entsprechende Vorgänge künstlich verstärkt. So entstehen im Zuge der Teefermentation aus Xanthophyllen und Carotinoiden Stofe wie E-Ionon, Hydroxy-E-ionon, Dihydroactinidiolid und heaspiron, die zusammen mit anderen das Teearoma des Schwarzen Tees prägen. In anderen Fällen sind Carotinoidabbauvorgänge unerwünscht, so wenn bei der Lagerung von Paprikapulver die rote Farbe langsam braun wird (vgl. > Abb. 23.58). Auf ähnliche Weise dürten auch durch Carotinoide farbige Blütendrogen (Arnikablüten, Calendulablüten) beim Lagern unansehnlich werden.
Bixin (Annatto) Als Annatto bezeichnet man die gelb gefärbten öligen oder wässrig-alkalischen, Bixin enthaltenden Auszüge aus den Samen des Ruku- oder Orleanstrauches, Bixa orellana L. (Familie: Bixaceae [IIB16a]). Heimat dieser Farbplanze ist
903
904
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.62 CH3
CH3 CH3
O CH3
OH R = H : Norbixin R = CH3 : Bixin, C25H30O4
CH3
O
OR
OR2
CH3
R1O
O O
CH3
R1
R2
Gen Gen Gen Glc H
Gen Glc H CH3 H
β-D-Glc
Crocin-1 Crocin-2 Crocin-3 Crocin-4 Crocetin
H3C
1→6
CH3
H3C
CH3
COOH
1→
β-D-Glc
CH3
HO Gentiobiose (Abkürzung: Gen)
H3C
CH3
OH
Crocusatin H
H3C
CH3
CHO
CH3
CHO
CHO
CH3
CH3
1
β-D-Glc
1→
4
O Picrocrocin (Safranbitter)
CH3
HO
2
4-Hxdroxycyclocitral
Safranal
Norbixin ist eine 6,6’-Diapo-c,c-carotindicarbonsäure, Bixin deren Monomethylester. Die genuine cis-Form lagert sich leicht in die stabile all-trans-Form um (Übergang in Isobixin). Crocetin ist eine 8,8’-Diapocarotin-8,8’-dicarbonsäure. Im Crocin ist diese Säure an 4 Glucosemoleküle gebunden, was die gute Wasserlöslichkeit dieses Farbstoffs bedingt. Die Crocusatine F–I (in der Abbildung Formel von Crocusatin H) wurden erst kürzlich von Li u. Wu (2002) aus Safran isoliert. Ob es sich dabei um Umwandlungsprodukte von Safranal handelt, wie die Autoren vermuten, oder ob sie aus C31-Triterpenen entstanden sind wie die Irone ( > Abb. 23.64), muss offen gelassen werden. Picrocrocin, eine nichtflüchtige Substanz, wird beim Trocknen der Droge in Glucose und Safranal gespalten: in dem Maße, wie der bittere Geschmack abfällt, wird der typische Safrangeruch, für den Safranal verantwortlich ist, intensiver. Für weitere glykosidische Aromavorstufen > Straubinger et al. 1998, für weitere Aromastoffe > Tarantilis u. Polissiou 1997
Zentral- und Südamerika. Kultiviert wird sie in Indien, Sri Lanka und Indonesien. Die walnussgroßen, zweilappigen stacheligen Kapseln enthalten 30–40 erbsengroße Samen, deren äußere Samenschale etwas leischig ist; in diesem äußeren Teil der Samenschale ist der rote Farbstof lokalisiert. Bixin (vgl. > Abb. 23.62) bildet rote Kristalle, die sich leicht in Chloroform oder Aceton, schlecht in Wasser
lösen. Es handelt sich um den Monoester einer Dicarbonsäure mit einem System von 9 konjugierten Doppelbindungen. Im nativen Bixin liegen 8 dieser Bindungen in der trans-, eine in der cis-Form vor. Mono-cis-Bixin ist labil und geht leicht in die entsprechende all-transVerbindung, das ist Isobixin, über. Bixin und Isobixin bilden in Wasser lösliche Alkalisalze, unter allmählicher Verseifung des Methylesters. Somit lassen sich sowohl
23.7 Tetraterpene: Carotinoide und biochemisch verwandte Pflanzenstoffe
Lipid- als auch wasserlösliche Bixinpräparationen herstellen. Fettlösliche Handelspräparate dienen zum Färben von Teigwaren, Fleischprodukten, Mayonnaisen, Karamelbonbons u. a. m. Das K+- oder Na+-Salz des Norbixins liefert das „wasserlösliche Bixin“, das zum Färben von Fruchtsäten, Suppen und Backwaren geeignet ist. Annatto ist auch zur Verwendung in Pharmazie und Kosmetik zugelassen.
Safran Herkunft. Safran (Croci stigma DAC 2005) besteht aus
den getrockneten, meist durch ein kurzes Grifelstück zusammengehaltenen Narben von Crocus sativus L. (Familie: Iridaceae [IIA6c]), einer mit Sprossknollen ausdauernden, im Oktober blühenden Planze. Die Droge stammt aus Kulturen (hauptsächlich aus Spanien). Um 1 kg Safran zu gewinnen, werden die Narben von 100.000–150.000 Blüten benötigt. Sensorische Eigenschaften. Die Droge ist dunkelorange
gefärbt. Sie riecht krätig, eigenartig (durch eine an Jodoform erinnernde Beinote) und besitzt einen würzigen, leicht scharfen und bitteren Geschmack. Anmerkung: Die frischen Narben sind geruchlos, sie liefern bei der Wasserdampfdestillation nur Spuren eines aus Pinen und 1,8-Cineol bestehenden Öles. Erst während der Trocknung der Narbenschenkel bildet sich der typische Safrangeruch durch Spaltung des Picrocrocins ( > Abb. 23.62). Inhaltsstoffe
x Farbstofe, darunter Crocin (~2%) und verwandte Derivate ( > Abb. 23.62); ferner geringe Mengen „normaler“ Carotinoide: D- und E-Carotin, Lycopin und Zeaxanthin; x Geschmacks- und Aromastofe: Frischer Safran enthält 4% Picrocrocin, das leicht, v. a. beim Erwärmen, in Glucose und Safranal gespalten wird. Gute Droge enthält 0,4–1,3% ätherisches Öl mit Safranal als Hauptkomponente; daneben Hydroxysafranal, 2-Phenylethanol, Naphthalin, 3,5,5-Trimethylcyclohexenon und andere ungewöhnliche Nebenstofe. Bei längerer oder unsachgemäßer Lagerung des Safrans verlüchtigt sich das ätherische Öl; x Crocusatine F–I (Li u. Wu 2002);
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x Flavonoide mit Kämpferol und Kämpferol-3-O-sophorosiden;
x Vitamine B1 und B2 (0,01%); x fettes Öl (bis 7%); Analytische Kennzeichnung.
x Crocin lässt sich, als gut wasserlöslicher Farbstof, leicht und vollständig mit Wasser extrahieren. Die intensiv gelbe Lösung entfärbt sich beim Erwärmen mit verdünnter Mineralsäure: es bildet sich infolge hydrolytischer Spaltung ein roter, wasserunlöslicher Niederschlag von Crocetin; x konzentrierte Schwefelsäure färbt Safranpulver intensiv blau; x DC-Prüfung auf Crocin, Crocetin und Picrocrocin im methanolischen Drogenauszug (Wagner u. Bladt 1996) [Fließmittel: Ethylacetat–Isopropanol–Wasser (65:25:10); Nachweis: Anisaldehyd-Schwefelsäure-Reagens]. Crocin und Crocetin erscheinen im Tageslicht als gelbe und nach Besprühen mit dem Reagens zusammen mit Picrocrocin als dunkel violett-blau gefärbte Zonen. In der DAC-Monographie wird nur ein Fingerprintchromatogramm im Tageslicht und im UV bei 254 nm ausgewertet. Zum Nachweis von Picrocrocin, Safranal und einzelner Crocine sowie von Crocetin bzw. zu ihrer quantitativen Bestimmung existieren in der Literatur verschiedene HPTLC-, GC-, HPLC- und HPLC/MS-Methoden. Zum sicheren Nachweis von Safranverfälschungen wird von Ma et al. (2001) der Nachweis der DNA-Sequenzen mit Hilfe der PCR vorgeschlagen. Wirkungen. Safranextrakte und einzelne Safraninhalts-
stofe, insbesondere Crocin und Crocetin, sind tumorhemmend und lipidsenkend und weisen Radikalfängereigenschaten auf (vgl. Übersichten von Nair et al. 1995; Ríos et al. 1996; Abdullaev 2002). Daneben sind die Stimulierung der Uteruskontraktion sowie abortive Wirkungen beschrieben worden. Anwendung. Safran wird in der Volksmedizin als Nerven-
beruhigungsmittel, bei Krämpfen und als Expektorans bei Asthma angewendet (Kommission E). Die Wirksamkeit bei diesen Indikationsgebieten ist nicht belegt. In der chinesischen Medizin wird Safran v. a. bei schmerzhater Menstruation sowie schmerzlindernd bei Nachwehen angewendet.
905
906
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
Safran wird heute kaum noch medizinisch verwendet; auch als Farbstofdroge ist Safran in der pharmazeutischen Technologie durch synthetische Farbstofe ersetzt worden. Als Zusatz zu bitteren Magentonika, auch zu Wermutweinen, insbesondere aber zum Färben und Aromatisieren nichtalkoholischer Getränke sowie als Küchengewürz ist Safran nach wie vor in Gebrauch. Toxikologische Hinweise. Bis zu einer maximalen Tages-
dosis von 1,5 g sind bislang keine unerwünschten Wirkungen dokumentiert. Die letale Dosis für den Menschen beträgt 20,0 g, die abortive Dosis 10,0 g. Vergitungen äußern sich in Erbrechen, blutigen Diarrhoen, profusen Metrorrhagien, Hämaturie; in Schwellung der Lippen, Lider und Gelenke, in Schwindel, Benommenheit oder auch in rauschartigen Zuständen.
Ionone, Irone, Iriswurzel Formalchemisch handelt es sich bei den Iononen und Ironen um oxidative Metaboliten von Carotinoiden. Biosynthetisch leiten sich die Irone allerdings von Triterpenen ab. Ionone sind C13-Ketone, die in zahlreichen ätherischen Ölen, wenn auch nur in sehr geringen Mengen, aufgefun-
den wurden ( > Tabelle 23.7; ( > Abb. 23.63). Sie sind leicht zu synthetisieren: Entsprechende Produkte inden als Riechstofe vom Veilchentyp eine breite Anwendung in der Parfumindustrie. Die Irone sind homologe Ionone, und zwar ist der Ringteil durch eine Methylgruppe substituiert. Dadurch erscheint ein weiteres Chiralitätszentrum im Molekül mit neuen Isomeriemöglichkeiten. Einige Isomere kommen in den ätherischen Ölen und Resinoiden von Iris-Arten vor ( > Abb. 23.64). Bei den Vorstufen der Irone handelt es sich um Cycloiridale, die aus C31-Triterpenen entstehen (Marner et al. 1988). Iriswurzel oder Veilchenwurzel besteht aus dem von Stängeln, Blättern, Wurzeln und der Korkschicht befreiten Rhizom von Iris germanica L., Iris lorentina L. oder Iris pallida Lam. (Familie: Iridaceae [IIA6c]), 3 im Mittelmeergebiet heimischen Stauden. Die im Herbst geernteten Rhizome werden noch frisch ins Wasser gelegt, sorgfältig geschält und mehrere Tage lang an der Sonne getrocknet. Nach dem Trocknen lagert man sie an die 3 Jahre lang, damit sie ihr volles Aroma entwickeln können. Die Aromenentwicklung und damit die Umwandlung der Cycloiridale (u. a. D- und J-Irigermanal, Irisgermanicale A–C) in die entsprechenden Irone kann heute in 8 Tagen mit Hilfe von Bakterien (Serratia liquefaciens) im Fermenter in größerer Ausbeute als durch 3-jährige Lagerung erhalten
. Tabelle 23.7 Inhaltsstoffe pflanzlicher Produkte, die sekundär durch oxidativen Abbau von Carotinoiden entstehen. Die Zahlen in Klammern verweisen auf die Strukturformeln in > Abb. 23.63 Vorstufen Carotinoide mit Iononring
Inhaltsstoff
Vorkommen
D-Damascon (1)
Teeblätter, Weintraube, Kaffee, Bier, Rosenöl
Carotinoide mit Iononring
E-Damascon (2)
Carotinoide mit Iononring
Damascenon (3)
Carotinoide mit Iononring
Dihydroactinidiolid (6)
Schwarzer Tee Schwarzer Tee, Tomate, Himbeere, Brombeere
D-Carotin
D-Ionon (4)
E-Carotin
E-Ionon (5)
Lycopin
6-Methyl-3,5-heptadien 2-on (7)
Tomate
Xanthophylle mit 4 E-OH (z. B. Zeaxanthin, Lutein, Auroxanthin)
Loliolid (Synonym: Digiprolacton (8)
In Blättern zahlreicher Arten: Digitalis purpurea, Lolium perenne, Menyanthes trifoliata, Nicotiana tabacum, Plantago lanceolata. In den Blüten von Verbascum-Arten
Xanthophylle mit 4 E-OH (z. B. Zeaxanthin, Lutein, Auroxanthin)
Theaspiron (9)
In Teeblättern
23
23.7 Tetraterpene: Carotinoide und biochemisch verwandte Pflanzenstoffe
907
. Abb. 23.63 H3C
O
CH3
H3C
CH3
O
H3C
CH3
CH3
β-Damascon (2) CH3
H3C
Damascenon (3) CH3
CH3
O
H3C
CH3
O
CH3
O O
CH3
α-Ionon (4)
CH3
CH3
CH3
α-Damascon (1) CH3
O
CH3
CH3
H3C
CH3
CH3
β-Ionon (5)
Dihydroactinidiolid (Desoxyloliolid) (6)
H3C
H3C H3C
CH3
CH3
CH3 O
O H3C
O
O
HO
6-Methyl-3,5-heptadien-2-on (7)
CH3
O
CH3
Theaspiron (9)
Loliolid (Digiprolacton) (8)
Strukturformeln von Pflanzeninhaltsstoffen, die beim oxidativen Abbau von Carotinoiden entstehen. Diese Stoffe treten meist in nur geringer Konzentration auf; man vermutet, dass es sich um „postmortale“ Metaboliten entsprechender Carotinoide handeln könnte. Damascenon (3) ist in einer Konzentration von 0,05% ein wichtiger Bestandteil des bulgarischen Rosenöls. α- und β-Ionon kommen in zahlreichen ätherischen Ölen, aber stets nur als Spurenstoff vor . Abb. 23.64 H3C
CH3
CH3
H3C 2
H3C O
6
CH3 (+)-(2R,6S)-cis-α-Iron
CH3
CH3
H3C
H3C O
H3C
CH3 (+)-(2S,6S)-trans-α-Iron
CH3
CH3
O CH3
(+)-(2R)-β-Iron
H3C
CH3
CH3
H3C
O CH2
(+)-(2R,6S)-cis-γ-Iron
Irone sind homologe Ionone ( > Abb. 23.63), bei denen sich eine zusätzliche Methylgruppe am Cyclohexanring befindet. Im Irisöl kommt ein komplexes Isomerengemisch vor. Hauptträger des Veilchengeruches ist das cis-γ-Iron. Die Substanzen stellen bei Raumtemperatur schwach gelblich gefärbte, leicht viskose Flüssigkeiten dar. Sie sind sehr beständig. Hinweis. Die Symbole cis bzw. trans geben die relative Konfiguration bezüglich der Kohlenstoffatome C-2 und C-6 wieder
908
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
werden (Belcour et al. 1993). Frisch geerntete Rhizome sind geruchlos; sie weisen einen scharfen Geschmack auf. Der mit Wasserdampf lüchtige Anteil der Droge beträgt 0,1–0,2%, wobei etwa 10% des Öles auf die Ironfraktion und etwa 80% auf die geruchlose Myristinsäure, eine gesättigte C14-Fettsäure, und weitere Inhaltsstofe entfallen. Die Iriswurzel setzt man fertigen Teemischungen als
Geruchskorrigens zu. Mit Lipidlösungsmitteln hergestellte Resinoide oder das ätherische Öl dienen als „Fixativ“ für künstliche Parfumkompositionen auf Veilchenbasis. Obwohl genuine Iridale sowie Isolavonoide der Iriswurzel verschiedene Aktivitäten aufweisen (z. B. antiplasmodiale, piscizide, chemopräventive) hat die Wurzel medizinisch keine Bedeutung mehr.
Schlüsselbegriffe Apocarotinoide ATBC-Studie Bixa orellana Bixin CARET-Studie E-Carotin Carotine Carotinoide Croci stigma
Crocin Crocus sativus Cycloiridale Ionone Iris-Arten Iriswurzel Irone Lutein Lycopin
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24 24 Triterpene einschließlich Steroide O. Sticher 24.1
Übersicht über die pharmazeutisch interessierenden Stofgruppen . . . . . . . . . . . . . .
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24.2
Allgemeine Nachweisreaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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24.3
Squalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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24.4
Phytosterole (Phytosterine) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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24.5
Triterpene verschiedener Struktur. 24.5.1 Cucurbitacine . . . . . . . . 24.5.2 Cimicifuga-Triterpene . . . 24.5.3 Quassinoide . . . . . . . . . 24.5.4 Boswelliasäuren . . . . . . . 24.5.5 Betulinsäure . . . . . . . . . 24.5.6 Ringelblumenblüten . . . .
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927 927 930 934 935 938 940
24.6
Saponine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.6.1 Begrifsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.6.2 Vorkommen, chemische und physikalische Eigenschaten, Einteilung. 24.6.3 Analytik von Saponindrogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.6.4 Saponine als Hämolysegite, hämolytischer Index, Strukturspeziität . 24.6.5 Metabolismus, Pharmakokinetik und Toxikologie der Saponine . . . . 24.6.6 Wirkungen der Saponine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.6.7 Arzneidrogen mit Saponinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.6.8 Triterpensaponine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.6.9 Steroidsaponine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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943 943 943 944 946 948 949 951 951 980
24.7
Herzwirksame Steroide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.7.1 Begrifsbestimmung, Geschichtliches . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.7.2 Aubau der herzwirksamen Steroidglykoside . . . . . . . . . . . . . 24.7.3 Einige chemische Eigenschaten, Farbreaktionen . . . . . . . . . . . 24.7.4 Verbreitung im Planzenreich, verwendete Extrakte/Reinstofe . . . 24.7.5 Pharmakokinetik und Metabolismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.7.6 Wirkungen auf biochemischer Ebene und Anwendungsgebiete . . 24.7.7 Analytische Kennzeichnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.7.8 Digitalis lanata und Lanataglykoside . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.7.9 Digitalis purpurea und Purpureaglykoside . . . . . . . . . . . . . . 24.7.10 Strophanthin und andere Reinglykoside mit großer Abklingquote . 24.7.11 Weitere Drogen mit herzwirksamen Steroiden . . . . . . . . . . . .
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989 989 990 992 996 996 998 1000 1001 1005 1007 1008
24.8
Verschiedene Substanzen mit einem Steroidgerüst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1013 24.8.1 Uzarawurzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1013 24.8.2 Condurango- oder Kondurangorinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1014
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916
24
Triterpene einschließlich Steroide
> Einleitung Die Triterpene gehören zur Naturstoffgruppe der Isoprenoide (vgl. Kap. 23). Sie stellen eine außerordentlich umfangreiche Klasse von Terpenen dar. Sie werden in diesem Kapitel zusammen mit den sich davon ableitenden Steroiden zusammengefasst. Die Muttersubstanz aller Triterpene ist der azyklische C30-Kohlenwasserstoff Squalen. Seine Zyklisierung wird durch Epoxidierung einer endständigen Doppelbindung eingeleitet. Da die Squalen-2,3-Epoxidstufe vor der Zyklisierung obligat durchlaufen werden muss, enthalten nahezu alle Triterpene und Steroide in Position C-3 eine Sauerstofffunktion. Vom Squalen ausgehend lassen sich zwei Hauptwege erkennen: Der eine führt zu den tetra- und pentazyklischen Triterpenen, der andere über Cycloartenol zu den Cucurbitacinen und via das wichtigste Stoffwechselintermediärprodukt, das Cholesterol, zu den Phytosterolen, Cardenoliden und Bufadienoliden sowie zu den Steroidsapogeninen.
24.1
Übersicht über die pharmazeutisch interessierenden Stoffgruppen
Die Triterpene sind eine außerordentlich umfangreiche Klasse von Terpenen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, kommen fast nur tetra- und pentazyklische Vertreter vor. Soweit man weiß, synthetisieren alle Organismen die Muttersubstanz aller Triterpene, das Squalen ( > Abb. 24.1 und 24.2), auf dieselbe Weise: durch hydrierende Dimerisierung von Farnesyldiphosphat. Somit handelt es sich bei den Triterpenen, aus biochemischer Sicht, eigentlich um Disesquiterpene. Zu den Triterpenen werden auch jene Terpene gezählt, die weniger als 30 Kohlenstofatome haben. Das Hauptkontingent an Triterpenen mit verminderter C-Zahl stellen die Steroide, die dadurch charakterisiert sind, dass von der C30-Zwischenstufe 3 Methylgruppen oxidativ abgespalten werden: Man erreicht die Stufe der C27-Steroide mit dem wichtigen Cholesterol. Vom Cholesterol leiten sich alle übrigen Steroide ab. Es können aus C30-Triterpenen auch größere Struktureinheiten abgespalten werden, wofür die Quassiabitterstofe ( > Kap. 24.5.3) als Beispiel genannt werden können. Die physikalisch-chemischen Eigenschaten der Triterpene und, davon abhängig, ihre physiologischen Eigen-
schaten (Ort der Speicherung, Reaktionsfähigkeit in biologischen Systemen) hängen von der weiteren Variation der lipophilen Vorstufen ab. Es lassen sich der Polarität und der näheren Ausgestaltung nach 3 Hauptgruppen unterscheiden: x Lipophile Triterpene. Sie kommen als Ausscheidungen unterschiedlicher Art vor: Phytosterole und Phytosterolester höherer Fettsäuren im Blattwachs höherer Planzen; Triterpensäuren und Triterpenalkohole in den Harzen, in Milchsäten sowie in Borken von Holzgewächsen (Beispiele: > Abb. 24.3). x Hochoxidierte Triterpene. Sie stellen Verbindungen mittlerer Polarität dar, die weder in Wasser noch in Petrolether sonderlich gut löslich sind, besser in Dichlormethan, Ether und Ethanol. Analog wie in der Sesqui- und Diterpenreihe führt die Beladung des Triterpenmoleküls mit Hydroxy-, Epoxy-, Carbonyl-, Carboxyl- und Lactongruppen zu biologisch sehr aktiven, ot auch hochtoxischen Derivaten. Von Interesse sind die Cucurbitacine ( > Kap. 24.5.1). x Hydrophile, glykosidische Triterpene. In diese Gruppe gehören die Saponine ( > Kap. 24.6).
24.2
Allgemeine Nachweisreaktionen
Triterpene und Steroide sind farblose Substanzen, die sich aber mit vielen Reagenzien zu farbigen Verbindungen umsetzen lassen. Diese Farbreaktionen spielen in der Drogenanalytik eine Rolle: x als Reagenzglas- oder als Tüpfelreaktion zur Vorprüfung; in den Pharmakopöen gelegentlich auch zur Identitätsprüfung; x als Sprühreagenzien zum Nachweis auf Chromatogrammen; x zur photometrischen Gehaltsbestimmung (Rosskastaniensamen, Digitalis-purpurea-Blätter). Farbreaktionen mit aromatischen Aldehyden. Bei der
Umsetzung von Hydroxytriterpenen mit Anisaldehyd, Vanillin und anderen aromatischen Aldehyden in starken Mineralsäuren (z. B. Schwefelsäure, Schwefelsäure-Phosphorsäure-Ggemisch, Perchlorsäure) bilden sich Farbstoffe, deren Absorptionsmaximum, je nach Reaktionspartner, zwischen 510 und 620 nm liegt. Wahrscheinlich handelt es sich primär um eine Dehydrationsreaktion; die durch Doppelbindungen aktivierten Methylengruppen könnten
24
24.2 Allgemeine Nachweisreaktionen
917
. Abb. 24.1 2 x C15
Squalen C30 Konformationsänderungen, Zyklisierung
H
H
syn
anti
H
H
Kation 1
Kation 2
H
H
trans-anti-trans-Verknüpfung
trans-syn-trans-Verknüpfung
CH3-Verschiebungen, Ringverengung
29
30
19 12
1 10
3
14
9
2 5
H
H 24
8
H
12
H
11
H
1
16
HO
HO
H
23
Dammarenol C30
Cycloartenol C30
13
H 26 16
14
9
15
8 32
5
7
4
HO
H
17
H
19
10
3
6 30
β-Amyrin C30
H
2
H
27
6
H
22 17
15
7
4
HO
18
26
25
18
H
13
11 25
23
20
21
28
24
22
21
20
31
5,24-Cucurbitadien-3β-ol C30
− 3 C1
C28 C29 C23
Phytosterole
Cardenolide
C24 Bufadienolide
H
Seitenkette erweitert
H H
Seitenkette verkürzt HO
Seitenkette oxidiert und Ketalbildung
Steroidsapogenine
C27
Cholesterol C27
Übersicht über die Hauptklassen der Triterpene. Es lassen sich aufgrund von Strukturvergleichen und Biosynthesestudien 2 Hauptreihen bilden. Die über die Zwischenstufe 1 bzw. deren biosynthetisches Äquivalent führende Reihe führt zu den tetra- und pentazyklischen Triterpenen. Die Seitenkette wird nicht verkürzt. Das zyklische Gerüst kann mit O-Funktionen besetzt werden. Die über die Zwischenstufe 2 bzw. deren biosynthetisches Äquivalent führende Reihe führt zum Cycloartenol, der Muttersubstanz aller pflanzlichen Steroide. Hinweis: Man achte auf die Bezifferung des Cucurbitadienolskeletts. Es besteht die Vereinbarung, 2 Ziffern zu überspringen, um bei Derivaten mit weiteren C-Atomen in der Seitenkette die Plätze frei zu halten
27
918
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.2
HO
HO 4
1b β-Amyrin
1a
HO
4
Dammarenol (5α-Euphan-24-en) H 9 10 5
HO
H
HO
8 14
H
13
H Cycloartenol
5,24-Cucurbitadien-3β-ol
Konformationsformeln der 4 in der vorhergehenden > Abb. 24.1 angeführten Haupttypen der Triterpene. In den starren tetra- und pentazyklischen Ringsystemen sind Konfiguration und Konformation wechselseitig festgelegt. Konformationsformeln lassen sich unterschiedlich wiedergeben, abhängig davon, von welcher Seite man das Molekülmodell betrachtet. Beispiel: β-Amyrin (1a bzw. 1b)
dann mit Aldehyden farbige Kondensationsprodukte bilden (Beispiel: zur dünnschichtchromatographischen Untersuchung von Süßholzwurzeln). Die Aldehyd-SäureReaktion ist wenig speziisch. Es reagieren zahlreiche andere Stofgruppen: Sesqui- und Diterpene, Oleine, Phenole, Indolderivate u. a. m.
dung konjugierter Polyensysteme, die ein Proton addieren. Die Farbstofe zerfallen leicht in Gegenwart von Wasser, weshalb sich auch Farbzonen auf Chromatogrammen nicht konservieren lassen.
Reaktion mit Schwefelsäure und Acetanhydrid. Unge-
gesättigte und hydroxylierte Triterpene und Steroide geben nach Umsetzung mit anorganischen Säuren und Oxidationsmitteln Färbungen, die aber nur eine gewisse Zeit, im Mittel etwa 30 min lang, beständig sind. Als Oxidationsmittel nimmt man meist Eisen(III)-Salze, seltener Kupfer(II)- oder Cer(IV)-Sulfat. Der Reaktionsmechanismus ist in Einzelheiten nicht bekannt. Wahrscheinlich inden Oxidations- und Dehydrationsreaktionen statt, die zu konjugierten Polyensystemen führen. Im Falle des Cholesterols gelang es, das Hauptreaktionsprodukt als
sättigte und hydroxylierte Triterpene und Steroide ergeben bei der Umsetzung mit Acetanhydrid und Schwefelsäure rote, blaue oder grüne Färbungen ( > Tabelle 24.1). Die Reaktion ist in der Literatur als Liebermann-Burchard-Reaktion (LBR) bekannt. Als die farbgebenden Komponenten der LBR sieht man Carbeniumionen an ( > Abb. 24.4). Zunächst inden Dehydrationen statt; es kommt – evtl. nach Umlagerung und/oder Kondensation mehrerer Moleküle – zur Ausbil-
Reaktion mit anorganischen Säuren und Oxidationsmitteln [Zlatkis-Zak-Reaktion (ZZR)]. Zahlreiche un-
24
24.2 Allgemeine Nachweisreaktionen
. Abb. 24.3
H3C
CH2
CH3 H3C
CH3 H CH3 O CH3
H
H
CH3
H
CH3 HO
CH3
CH3
H HO H3C
Taraxasterol, C30H50O; im Milchsaft des Löwenzahns (Taraxacum officinale)
H
CH3
CH3
CH3
H CH3
H3C
Friedelin, C30H50O; im Kork der Korkeiche (Quercus suber)
H
CH3
CH3
CH3
H CH3
Betulin, C30H50O2; in der Rinde von Birke und Erle
CH3
H3C
H
H3C
CH3
HO
CH3
H3C CH3
H
CH2OH
COOH
H HO HOOC
CH3
CH3
CH3
CH3 H
CH3
H CH3
β-Boswelliasäure, C30H48O3; im Weihrauch
O H3C
H
CH3 HO
H CH3
H3C
Masticadienonsäure, C30H46O3; im Mastix
H
CH3
CH3
COOH
CH3
H CH3
Siaresinolsäure, C30H48O4; in der Siambenzoe
Beispiele für Triterpene, die lipophile Eigenschaften aufweisen. Sie kommen in der Wachsschicht von Blättern, in verkorkten Geweben, Milchsäften und Harzen vor . Tabelle 24.1 Farbreaktionen einiger Triterpene und Steroide Steroid
Farbtöne
E-Sitosterin
Intensiv violett o blaugrün o smaragdgrün
Stigmasterin
Rot o blau o intensiv grün
3,3c-Bis-(cholesta-2,4-dien) zu identiizieren. Die Protonierung dieses Tetraens führt zu einem gefärbten Carbeniumion. Das DAB benutzt die ZZR zur Aescinbestimmung in Rosskastaniensamen. Verwendet wird dabei das Eisen(III)-chlorid-Essigsäure-Reagens (vgl. Kap. 24.6.3).
Digitoxin
Braun o grün
Reaktion mit Antimon(III)-chlorid. Als Reagens dient
Digoxin
Rot oviolett o dunkelviolett o blaugrün
Gitoxin
Gelb o braun o grün
Diosgenin
Rötlich o braungelb o braun
Ouabain
Gelblich okräftig orangegelb
eine 20- bis 30%ige Lösung des Salzes in einem Essigsäure 99%-Acetanhydrid-Gemisch oder in Chloroform bzw. Dichlormethan. Hydroxytriterpene und Hydroxysteroide geben mit dem Reagens farbige Produkte, deren Absorptionsmaxima zwischen 560 und 680 nm liegen. Durch Wasser werden die Farbkomplexe zerstört. Die Reaktion ist wenig speziisch. Es reagieren außer Terpenen und Steroiden die Carotinoide, die Vitamine A und D sowie viele Flavonoide (sie bilden stabile Chelate).
Scillarenin
Rosa o grün
Scillarosid
Intensiv violett o blau o blaugrün
Vorgehen: Man suspendiert etwa 0,5 mg Substanz in 1 ml Essigsäureanhydrid und fügt unter Kühlung 2 Tropfen konz. Schwefelsäure dazu. Es treten der Reihe nach die in der Tabelle wiedergegebenen Farben auf.
919
920
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.4
H2SO4 in CH3COOH − H2O
HO
− H2O
SO3 SO2 +
Tetradienylkation (tieffarbig)
Vorstellungen zum Ablauf der Liebermann-Burchard-Reaktion. Konzentrierte Schwefelsäure in Essigsäure 99% wirkt dehydratisierend und oxidierend. Ausgehend von im Molekül vorhandenen alkoholischen Gruppen und Doppelbindungen bildet sich ein System von konjugierten Doppelbindungen aus. Das nach Anlagerung eines Protons mesomeriestabilisierte Carbeniumion absorbiert im sichtbaren Bereich
24.3
Squalen
Es handelt sich um einen azyklischen C30-Kohlenwasserstof mit 6 trans-ständigen Doppelbindungen, der zuerst aus Haiischleber (Haie: zoologisch Squaloideae) isoliert worden ist. In kleinen Konzentrationen kommt Squalen als Begleitstof in planzlichen Ölen sowie in einigen weiteren planzlichen Produkten vor: in Olivenöl (0,1–0,7%), in Getreidekeimölen und in medizinischer Hefe. Der menschliche Hauttalg enthält 5% Squalen. Squalen ist bei Raumtemperatur eine farblose, ölige Flüssigkeit, die sich in Wasser praktisch nicht, in Lipidlösungsmitteln gut löst. Ähnlich wie ungesättigte Fettsäuren ist auch Squalen bei Zutritt von Lutsauerstof autoxidabel. Es hat einen schwachen, angenehmen Geruch und weist bakterizide Eigenschaten auf. Die quantitative Bestimmung des Squalens erfolgt am besten gaschromatographisch. In der pharmazeutischen Technologie, mehr noch in der kosmetischen Industrie, verwendet man das hydrierte Squalen (Perhydrosqualen, Squalan), für Hautcremes, Hautöle, lüssige Emulsionen,
Lippenstite und andere Produkte. Es fungiert als Lösungsmittel für fettlösliche Farbstofe oder Wirkstofe; es wirkt zudem „hautglättend“ und ist v. a. sehr gut hautverträglich. Squalen ist aus biochemischer Sicht ein wichtiger Körper, da es ein Intermediärprodukt des Stofwechsels ist, das zur Biosynthese von Triterpenen und Steroiden führt. Seine Zyklisierung wird durch Epoxidierung einer endständigen Doppelbindung (vermittelt durch eine mischfunktionelle Oxygenase) eingeleitet. Da die Squalen-2,3-Epoxidstufe vor der Zyklisierung obligat durchlaufen werden muss, enthalten – gleichsam als Relikt – nahezu sämtliche Triterpene und Steroide in Position C-3 eine Sauerstoffunktion.
24.4
Phytosterole (Phytosterine)
Unter Phytosterolen (PS) oder Phytosterinen versteht man die in höheren Planzen vorkommenden Substanzen mit einem Steroidgerüst ( > Abb. 24.5), die dem Prototyp
24.4 Phytosterole (Phytosterine)
24
. Abb. 24.5 12 13
11 1
C
9
D 14
2
A 3
10
B
17
8
β
β
β Ringebene
15
7
5 4
β
16
α
α
α
α
6
10-Methylsteran
Substituenten an Nachbaratomen
bedeutet CH3 angulare Substituenten
betroffene Ringe 5 und 10 9 und 8 14 und 13
A/B cis oder trans B/C cis oder trans C/D cis oder trans
10
syn oder anti syn oder anti
10 und 9 8 und 14
10
10
H 5
5
5
H
4
10
10
5
5
10
5
H 5α-Reihe (Ringe A / B trans)
H 5β-Reihe (Ringe A / B cis)
4
ungesättigte Steroide (4-En-derivat)
Den Steroiden liegt das Sterangerüst (Cyclopentanoperhydrophenanthrengerüst) zugrunde. Es hat 6 in einer Reihe miteinander verbundene „asymmetrische“ C-Atome (C-5, C-10, C-9, C-8, C-14 und C-13), sodass theoretisch 32 Enantiomerenpaare denkbar sind; allerdings sind in der Natur nur eine kleine Anzahl davon verwirklicht. Zur Kennzeichnung der relativen Konfiguration zweier benachbarter C-Atome verwendet man die Symbole cis und trans, wenn es sich um C-Atome handelt, die beiden Ringen gemeinsam sind; für die cis-Stellung benachbarter angularer Substituenten ist die Bezeichnung syn, für die trans-Stellung das Präfix anti in Gebrauch. Die cis- oder trans-Stellung beliebig anderer (nicht benachbarter) Substituenten wird in Bezug auf die Methylgruppe an C-10 festgelegt: α bedeutet trans-Stellung, β bedeutet cis-Stellung. Untere Hälfte: Die Reihe mit der Verknüpfung der Ringe A und B in trans-Stellung wird auch als 5α-Reihe bezeichnet; die Reihe mit der Verknüpfung in cis-Stellung als 5β-Reihe. Einführung einer Doppelbindung in 4,5- (oder 5,6-)Stellung führt zu ungesättigten Steroiden
aller Sterole, dem Cholesterol, nahe stehen. Cholesterol (Formel vgl. > Abb. 24.1) ist ein C27-Steroid; dabei entfallen 17 C-Atome auf das tetrazyklische Ringsystem, 2 C-Atome auf die beiden E-Methylgruppen an C-10 und an C-13 und 8 C-Atome auf die Alkylseitenkette an C-17. Die Mehrzahl der in höheren Planzen vorkommenden Sterole ( > Abb. 24.6–24.8) enthalten eine C10-Seitenkette
und die Mehrzahl der in Pilzen vorkommenden Sterole einen C9-Rest. Daher teilte man früher die Sterole ein in die C27-Zoosterine, die C28-Mykosterine und in die C29-Phytosterine. Diese Unterteilung hat ihren Sinn verloren, seitdem auch in höheren Planzen C27- und C28-Sterole gefunden worden sind. Beispielsweise ist in Solanum- und Nicotiana-Arten nicht wie üblich Sitoste-
921
922
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.6
R
R
R
H
H H
4
HO
4
HO
H
4,4-Dimethylsterine (Cycloartenoltyp)
10
H
H
13
H
HO
H
Demethylsterine − Phytosterine im engen Sinn (β-Sitosteroltyp)
4-Methylsterine (Gramisterol)
R = Alkyl- oder Alkenylkette mit 8, 9 oder 10 C-Atomen (s. Abb. 24.7)
Die pflanzlichen Sterole (Synonyme: Phytosterole, Phytosterine) unterteilt man in 3 Klassen, wobei die Methylgruppensubstituenten am C-4 die Einteilung liefern. Am weitesten verbreitet sind die Demethylsterole: Die verbleibenden beiden Methylgruppen an C-10 und C-13 sind in allen Fällen β-ständig angeordnet . Abb. 24.7 24 20
24
H
H
Ergosterol C9-Seitenkette (24R)
Brassicasterol C9-Seitenkette (24R)
17
Cholesterol C8-Seitenkette
242 29
241 28 24
H
22
21 20
26
24 23
H
25
24
H
27
Stigmasterol C10-Seitenkette (24S)
β-Sitosterol C10-Seitenkette (24R)
γ-Sitosterol (= Clionasterol) C10-Seitenkette (24S)
Variation der C-17-Seitenkette. Grundkörper der Reihe sind Steroide mit einer C8-Seitenkette, wie sie im Cholesterol vorliegt. Die in Pilzen vorkommenden Sterine („Mykosterine“) haben eine C9-Seitenkette (z. B. Ergosterol), doch kommen Vertreter auch in höheren Pflanzen vor (z. B. Brassicasterol). Die Mehrzahl der in höheren Pflanzen vorkommenden Phytosterine ist am C-17 mit einer C10-Seitenkette substituiert. Die Ethylsubstitution der C8-Kette erfolgt, wie nähere Biosynthesestudien ergaben, in 2 Schritten, durch sukzessive Übertragung von Methylgruppen. Eine weitere Variation ist gegeben durch die Einführung einer Doppelbindung und durch die Konfiguration am C-24 (β- bzw. γ-Sitosterol). Hinweis: Man achte auf die Nummerierung der Seitenkette. Der Ethylseitenrest erhält nach IUPAC-IUB 1976 die Ziffern 28 und 29 bzw. nach den neueren IUPAC-Empfehlungen (IUPAC-IUB 1989) 241 und 242 (vgl. Übersicht von Goad 1991)
24
24.4 Phytosterole (Phytosterine)
. Abb. 24.8
R H3C
22
CH3 H3C
CH3
23
H
HO
Rest
CH3
3
H
O
O
OH H
3
H
OH
HO
OH
R = C2H5 : β-Sitosterol, C29H50O R = CH3 : Campesterol, C28H48O
Sitosterylglucosid
O O
Rest 6
O
O
OH Rest OH O
O
Sitosterylpalmitat
OH 6-O-Palmitoyl-β-D-glucosyl-sitosterol
β-Sitosterol ist ein vermutlich in allen grünen Pflanzen vorkommendes Phytosterol. Weitverbreitet ist auch das chemisch nahe verwandte Stigmasterol (= 22,23-Dehydro-β-sitosterol) sowie das Campesterol (= 29-Nor-β-sitosterol). Phytosterole kommen in sehr unterschiedlicher Bindung vor: als D-Glucoside, als Fettsäureester und als 6-Acylglucoside
rol, sondern Cholesterol das Hauptsterol. Auch viele Rotalgen synthetisieren und speichern bevorzugt Cholesterol. Vorkommen und Gewinnung. PS wurden aus allen nur
denkbaren Organen und Geweben isoliert: aus Blättern, Stängeln, Wurzeln, Blüten, Früchten und Samen. Die Hauptmenge ist in den intrazellulären Organellen und in den Plasmamembranen lokalisiert. Präparativ oder im technischen Maßstab gewinnt man PS am bequemsten aus dem sog. unverseibaren Anteil von Planzenfetten bzw. Planzenölen. Der Anteil
liegt zwischen 0,1 und 1%. Die Art des Sterols sowie das Mengenverhältnis bestimmter Sterole zueinander (Quotient aus Stigmasterol/Campesterol) ist für ein bestimmtes Planzenfett charakteristisch. Als Rohstof zur Gewinnung von E-Sitosterol kommen das Baumwollsaatöl und das Wachs des Zuckerrohrs in Frage. Sojabohnenöl enthält 0,2% Sitosterole, hauptsächlich J-Sitosterol, d. i. das 24-Epimere des E-Sitosterols. In kleiner Menge kommen in der Natur neben den PS auch die hydrierten Verbindungen vor, die als Stanole bezeichnet werden. Stanole werden aus dem sog. Tallöl, einem Nebenprodukt der holzverarbeitenden Industrie, durch Hydrierung der da-
923
924
24
Triterpene einschließlich Steroide
rin enthaltenen PS erhalten. Sie bestehen aus einem Gemisch von Sitostanol und Campestanol. Die heute häuig verwendeten fettlöslichen Ester von PS und von Stanolen gewinnt man durch Veresterung von Sitosterol bzw. dem aus Tallöl erhaltenen Sitostanol-Campestanol-Gemisch mit Fettsäuren. Wirkungsspektrum. Als Bestandteil von Biomembranen
kommt den Sterolen eine wichtige Funktion zu. Durch ihre Wechselwirkung mit Phospholipiden sind sie für die Stabilität der Membranen wesentlich. PS und insbesondere von Sterolen oder tetrazyclischen Triterpenen abgeleitete Oxysterole zeigen ein breites Wirkungsspektrum. So werden ihnen u. a. cholesterolsenkende, entzündungshemmende, antibakterielle, antifungale und tumorhemmende Eigenschaten zugeschrieben. Oxysterole sind wahrscheinlich für die Aufrechterhaltung eines stabilen inneren physiologischen Gleichgewichts (Homöostase) des Cholesterolhaushalts verantwortlich. Cholesterolsenkung: Früher wurden zur Senkung des Cholesterolspiegels wegen der geringen Löslichkeit und Resorption von freien PS Tagesdosen von bis zu 30 g, in der Regel 3-mal 3 g/Tag, verwendet. Heute werden PS und insbesondere Stanole zur Erhöhung der Löslichkeit und Resorption mit Fettsäuren verestert [= Phytosterol-/Stanolester (PSE)]. Dadurch kann die tägliche Einnahme auf 2–3 g reduziert werden. PSE hemmen kompetitiv die Resorption des Cholesterols im Dünndarm, und zwar die des exogenen, mit der Nahrung zugeführten Cholesterols sowie die Rückresorption des aus dem enterohepatischen Kreislauf stammenden Cholesterols. Von den verschiedenen diskutierten heorien zum Wirkungsmechanismus stehen die Verdrängung des Cholesterols in den „gemischten Mizellen“ (engl.: „dietary mixed micelles“) durch PS/PSE sowie der Rücktransport von Cholesterol in den Dünndarm im Vordergrund ( > Abb. 24.9). Wegen der geringen Löslichkeit muss Cholesterol vor der Resorption in Mizellen aus amphiphilen Molekülen (Mono- und Diacylglycerole, freie Fettsäuren, Phospholipide, Gallensäuresalze) inkorporiert werden. Cholesterol wird in diesen Mizellen durch die besser löslichen PS, insbesondere durch deren Ester, ersetzt, wodurch ein niedrigerer Cholesterolgehalt in den Mizellen und damit eine reduzierte Cholesterolresorption resultiert. PS/PSE werden nur zu einem geringen Anteil resorbiert (0,02–3,5%). Im Vergleich dazu beträgt die Resorption von Cholesterol 35–70%. Der Grund dafür liegt wahrscheinlich in der geringen Veresterung der Sterole durch AcylCoA-Cholesterolacyltransferase, was eine Voraussetzung
für die Inkorporation in Chylomikronen darstellt. Der Transfer von Cholesterol aus den Mizellen durch die Bürstensaummembran der Dünndarmenterozyten ist nicht vollständig aufgeklärt. Während bisher eine passive Difusion angenommen worden ist, sprechen neuere Untersuchungen für die Existenz eines speziischen Cholesteroltransporters in der Dünndarmmukosa, der für den Transport des Cholesterols in die Zelle verantwortlich ist. Der Weg von der Zelle in die Leber ist ein komplexer Vorgang (vgl. dazu Lehrbücher der Physiologie bzw. Pharmakologie). Biliäres Cholesterol kann durch sog. ABC-Transporter wie ABCA1 u. a. (vgl. > Abb. 24.9) wieder in den Dünndarm zurücktransportiert werden. Neue klinische Studien mit PSE ergaben, dass der LDL-Gehalt zwischen 10–15% gesenkt wird, während der HDL-Gehalt unverändert bleibt. Eine kürzlich durchgeführte Metaanalyse hat ergeben, dass eine tägliche Dosis von 2 g PSE als optimal betrachtet wird. Diese 2 g/Tag werden in den USA von den Richtlinien des „National Cholesterol Education Program“ empfohlen (vgl. Übersichten von Moreau et al. 2002; de Jong et al. 2003; Trautwein et al. 2003). Zur Senkung des Cholesterolspiegels vgl. auch die folgende Infobox „Cholesterolsenkung“. Infobox Cholesterolsenkung. Die LDL-Cholesterolkonzentration im Plasma resultiert aus der Cholesterolbiosynthese in der Leber und aus der Cholesterolmenge, die aus dem Dünndarm resorbiert wird. Zur Cholesterolsenkung kommen daher im Wesentlichen zwei Mechanismen in Frage: die Hemmung der Cholesterolsynthese sowie die Hemmung der Cholesterolresorption. Die Cholesterolsynthesehemmer senken den Cholesterolplasmaspiegel (Gesamt- und LDL-Cholesterol) über die Hemmung der HMG-CoA-Reduktase (vgl. Kap. 23.1 und > Abb. 23.4) als Schlüsselenzym der hepatischen Cholesterolbiosynthese. Kompensatorisch exprimieren Leberzellen auf ihrer Oberfläche mehr LDL-Rezeptoren, die LDL-Cholesterol aus dem Blut in die Hepatozyten aufnehmen. Die Cholesterolresorptionshemmer hemmen im Dünndarm die Resorption von Nahrungsund biliärem Cholesterol. Als Lipidsenker werden heute vorwiegend Statine, Nicotinsäure und Nicotinsäurederivate, Fibrate (Cholesterolsynthesehemmung und Abbausteigerung) sowie Anionenaustauscher und Ezetimib (Cholesterolresorptionshemmer) eingesetzt. Zu den pflanzlichen Lipidsenkern gehören Phytosterole, Knoblauch und Artischockenextrakte.
24.4 Phytosterole (Phytosterine)
24
. Abb. 24.9
Potentielle Effekte von Phytosterolen und Stanolen auf den Lipid- und Lipoproteinstoffwechsel (abgeändert nach de Jong et al. 2003). Tier- und In-vitro-Studien haben ergeben, dass Phytosterole und Stanole, die in der chemischen Struktur mit dem Cholesterol verwandt sind, die Inkorporation von Cholesterol in gemischte Mizellen im Dünndarmlumen reduzieren und die Expression des Cholesteroltransporters ABCA1 erhöhen. Daraus resultieren eine reduzierte Resorption von Cholesterol und ein eingeschränkter Cholesterolfluss mit Chylomikronen in die Leber, was zu einem Anstieg der endogenen Cholesterolsynthese und der Expression von LDL-Rezeptoren in der Leber führt. Als Gesamteffekt dieser Änderungen im Metabolismus ergibt sich eine Reduktion der Konzentration von LDL-Cholesterol im Serum. Tierstudien haben ferner ergeben, dass eine erhöhte Zufuhr von Phytosterolen und Stanolen arteriosklerotische Läsionen des Gefäßendothels (Bildung von Plaques, Schaumzellen) erniedrigt (vgl. Übersicht von de Jong et al. 2003). Abkürzungen: LDL „low density lipoprotein“, ABCA1 ein Cholesteroltransporter (ABC von „ATP-binding cassette“)
Sitosterol (Sitosterin). Die Handelsprodukte sind nicht
einheitlich. Für arzneiliche Zwecke geeignete Präparate müssen mindestens 95% Gesamtsterole und mindestens 85% ungesättigte PS enthalten, berechnet als E-Sitosterol. Die Substanz stellt ein weißes, geruch- und geschmackloses Pulver dar; unlöslich in Wasser, etwas löslich in Ethanol, gut löslich in Chloroform. Etwa 0,5% des p.o. verabreichten E-Sitosterols werden resorbiert (vgl. Übersicht von Trautwein et al. 2003). Zur cholesterolsenkenden Wirkung von E-Sitosterol > unter Wirkungsspektrum. In Tagesdosen von 20–50 mg
wird E-Sitosterol bei der Behandlung der benignen Prostatahyperplasie (BPH) eingesetzt. Während verschiedene Autoren zum Schluss kommen, dass die Substanz die subjektiven Symptome eines Prostataadenoms verbessert, eine schnellere und vollständigere Entleerung der Blase ermöglicht und die Behandlungserfolge – ohne bekannten Wirkungsmechanismus – mit denjenigen von 5D-Reduktasehemmern vergleichbar sind (vgl. z. B. Berges et al. 1995), wird von anderer Seite das Vorliegen von zuverlässigen wissenschatlichen Belegen einer über den Plazeboefekt hinausgehenden Wirksamkeit nicht nur für Sitoste-
925
926
24
Triterpene einschließlich Steroide
rol, sondern für alle Phytopharmaka mit der Indikation BPH bezweifelt (Brom 1996). Inwiefern die therapeutische Anwendung von 20–50 mg E-Sitosterol enthaltenden Phytopharmaka zur Behandlung der BPH relevant ist, ist schwierig zu beurteilen, da die tägliche Einnahme von Phytosterolen mit der Nahrung im Durchschnitt bei ~250 mg liegt (vgl. Übersicht von Moreau et al. 2002) und ihre Resorption nur gering ist.
men vor, beispielsweise im unverseibaren Anteil des Sojabohnenöls. Beispiele für oxidierte Phytosterole. In jeder Stofgrup-
pe kommen neben den sauerstofarmen Derivaten mehr oder weniger stark oxidierte Vertreter vor, die in der Regel biologisch und pharmakologisch aktiv sind. Auch bei den Phytosterolen inden sich entsprechende O-Varianten, wofür als Beispiel Withaferin A und Carpesterol angeführt seien. Withaferin A ist ein Vertreter der über 100 bekannten Withanolide ( > Abb. 24.10). Withanolide, ursprünglich aus Withania-Arten und inzwischen auch aus verschiedenen anderen Gattungen der Familie Solanaceae [IIB24a] isoliert, weisen das Kohlenstofskelett des Ergostans (C28) auf. Typische funktionelle Merkmale der Withanolide sind eine Oxogruppe an C-1, eine Doppel-
Stigmasterol (Stigmasterin). Es unterscheidet sich vom
E-Sitosterol durch eine Doppelbindung in der Seitenkette. Im Vergleich zu Sitosterol erleichtert dies den chemischen Abbau der Kette, weshalb Stigmasterol als Ausgangsmaterial zur Partialsynthese von Hormonen von Interesse ist. Es kommt mit den Sitosterolen, denen es in seinen physikalischen Eigenschaten weitgehend ähnlich ist, zusam-
. Abb. 24.10
CH3
OH
CH3
OH H3C
22
20
CH3 O
CH3
O
CH3
17
H
H
H
CH3
H3C
26
O
H
CH3
CH3 H
H
H RO
O OH
Withaferin A, C28H38O6
4
H CH3
Carpesterol, R = C37H54O4
O CO
OH
H2 =
Oxidation OH
COOH
17
C9-Seitenkette
Withaferin A ist ein oxidativ modifiziertes Phytosterol mit einer C9-Seitenkette (Typus: Brassicasterol, > Abb. 24.7). Die 22-OH und das 26-Carboxyl bilden einen 6-gliedrigen Lactonring; das Vorkommen in Withania-Arten zusammen mit dem Lactonmerkmal, das in der Chemie durch das Suffix „-olid“ gekennzeichnet wird, hat der ganzen Stoffgruppe den Namen Withanolide eingebracht. Im Carpesterol, einem Steroid der 4-Methylklasse mit einer C10-Seitenkette ist die Oxidation weniger weit fortgeschritten
24.5 Triterpene verschiedener Struktur
bindung zwischen C-2 und C-3, ein hoher Oxidationsgrad sowie ein 6- oder 5-gliedriger Lactonring. Withaferin A und chemisch ähnliche Withanolide zeigten in Laborstudien antiarthritische, antiphlogistische, antitumorale, antibakterielle, antifungale und immunsuppressive Wirkungen (vgl. Übersicht von Christen 1989). Carpesterol ( > Abb. 24.10) wurde aus den Früchten mehrerer Solanum-Arten isoliert. In reiner Form bildet es farblose Kristalle, die sich in Wasser und in Alkohol sehr schlecht
! Kernaussagen
Unter Phytosterolen (PS) versteht man die in höheren Pflanzen vorkommenden Substanzen mit einer dem Cholesterol nahe verwandten chemischen Struktur. PS tragen durch ihre Wechselwirkung mit Phospholipiden wesentlich zur Stabilität von Membranen bei. Sie haben cholesterolsenkende, entzündungshemmende, antibakterielle, antifungale und tumorhemmende Eigenschaften, wovon die cholesterolsenkende Wirkung am besten untersucht ist. Zur Senkung des Cholesterolspiegels wer-
24
lösen. Seine antiphlogistische Wirkung im Mauspfotenödemtest war wesentlich stärker als diejenige von Hydrocortison und Withaferin A (Bhattacharya et al. 1980). Withanolide enthaltende Planzen werden in der Volksmedizin mehrerer Länder bei verschiedenen Indikationen angewendet. Ob das erwähnte viel versprechende Wirkungsspektrum der Withanolide allerdings therapeutisch genutzt werden kann, ist im Augenblick nicht absehbar.
den PS und ihre hydrierten Verbindungen, die Stanole, zur Erhöhung von Löslichkeit und Resorption mit Fettsäuren verestert [= Phytosterol-/Stanolester (PSE)]. PSE hemmen die Resorption des Cholesterols im Dünndarm. Klinische Studien mit PSE ergaben, dass der LDL-Gehalt zwischen 10–15% gesenkt wird, während der HDL-Gehalt unverändert bleibt. Eine tägliche Dosis von 2 g PSE wird heute nach den Richtlinien des „National Cholesterol Education Program“ in den USA empfohlen. PSE werden vorwiegend als Nahrungsergänzungsmittel (Functional Food) vertrieben.
Schlüsselbegriffe ABC-Transporter Benigne Prostatahyperplasie Carpesterol Cholesterol Cholesterolsenkung Nachweisreaktionen
24.5
Phytosterole Phytosterolester Sitosterol Squalen Stanole Stanolester
Triterpene verschiedener Struktur
Unter den Triterpenen sind in den letzten Jahren nichtglykosidische, pentazyklische Triterpene mit entzündungshemmender Wirkung (vgl. Übersicht von Safayhi u. Sailer 1997), aber auch mit antiviraler, immunmodulierender und antitumoraler Wirkung besonders intensiv untersucht worden. Dazu zählen Substanzen wie die Boswelliasäuren, die Betulinsäure und die Triterpenalkohole der Ringelblumenblüte (von Calendula oicinalis L.). Sie werden zusammen mit den Cucurbitacinen, Cimicifuga-Triterpenen und den Quassinoiden in diesem Kapitel besprochen. Dieselben bzw. ähnliche Wirkungen zeigen häuig auch pentazyklische Triterpenaglykone von Saponinen (vgl. dazu Kap. 24.6.8).
Stigmasterol Triterpenbiosynthese Triterpenklassen Withaferin A
24.5.1
Cucurbitacine
Cucurbitacine sind C30-Triterpene der 4,4-Dimethylklasse, die gehäut in Planzenarten aus der Familie der Kürbisgewächse (Familie: Cucurbitaceae [IIB8a]) auftreten. Sie stehen biogenetisch dem Cycloartenol nahe (Formel vgl. > Abb. 24.1); dessen Cyclopropanring ist geöfnet, aber so, dass die Methylgruppe an C-9 steht. Durch diese formale Verschiebung der 10-ständigen Methylgruppe in die 9E-Position unterscheiden sich die Cucurbitacine von allen übrigen Triterpenen. Eine weitere wesentliche Variation liegt im Reichtum der Cucurbitacine an O-Funktionen, womit ihre Reaktionsfreudigkeit sowie ihre biologischen und pharmakologischen Aktivitäten zusammenhängen (vgl. Übersicht von Miró 1995).
927
928
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Tabelle 24.2 Übersicht über Drogen und ihre Stammpflanzen, die Cucurbitacine enthalten (vgl. Bauer u. Wagner 1983). Ohne Angabe der Familie der Stammpflanze handelt es sich um Cucurbitaceen Pflanzenart
Arzneidroge
Frühere Verwendung in der Allopathie
Homöopathie
Bryonia cretica L. (Rote Zaunrübe)
Wurzeln
Als drastisches Purgans, Emetikum
Bei akuten fieberhaften, katarrhalischen und rheumatischen Erkrankungen
Cayaponia tayuya (MART.) LOGN.
Wurzeln
Als Purgans, bei Rheuma, Arthritis
Citrullus colocynthis (L.) SCHRAD. (Koloquinte)
Geschälte Beerenfrüchte mit Samen
Als drastisches Abführmittel, Wurmmittel
Gegen Krämpfe der glatten Muskulatur, bei Neuralgien und Neuritiden
Ecballium elaterium (L.) A. RICH. (Spritzgurke)
Früchte
Als Drastikum
Bei Diarrhoen und Koliken
Gratiola officinalis L. (Gottesgnadenkraut; Scrophulariaceae)
Kraut
Als Drastikum und Anthelmintikum, bei Leberleiden, chronischen Hautleiden
Bei Gastroenteritis, Nieren- und Blasenkatarrh
Iberis amara L. (Brassicaceae)
Samen
Zur Anregung der Magensaftsekretion, als Amarum
Bei Herzmuskelschwäche, Verdauungsstörungen
Luffa purgans MART. (Synonym: L. operculata COGN.)
Früchte
Als Purgans, Diuretikum
Gegen Erkrankungen der oberen Luftwege, als Heuschnupfenmittel
Vorkommen. Außer in Cucurbitaceen ( > Tabelle 24.2)
sporadisch in Arten weiterer Familien, z. B. in Begoniaceae, Brassicaceae, Datiscaceae, Scrophulariaceae. Sie können in jedem Organ – Wurzel, Stängel, Blatt, Früchten, Samen – gespeichert sein. Chemische Eigenschaften. Die Cucurbitacine ( > Abb. 24.11) liegen im lebenden Gewebe als 2-O-Glykoside vor, die schwer kristallisierbar sind. Die nach Enzymeinwirkung (Elaterase, eine E-Glucosidase) sich bildenden Aglykone sind hingegen kristallisierfreudig. Sie bilden farblose Kristalle, die sich gut in Ethanol lösen. Die Lösungen können die Ebene des polarisierten Lichtes nach rechts drehen (Cucurbitacin B), oder sie sind linksdrehend (z. B. Cucurbitacin E). In Gegenwart von Schwefelsäure (Tüpfelreaktion, als Sprühreagens, Lösung) werden Cucurbitacine intensiv rot oder rotviolett. Nach ihrem Verhalten Fe(III)-Salzen gegenüber lässt sich ein Diosphenoltyp [Fe(III)-positiv, z. B. Cucurbitacin E] von einem D-Ketoltyp [Fe(III)-negativ, z. B. Cucurbitacin B] unterscheiden. Analytische Kennzeichnung. DC-Nachweis der Cucurbi-
tacine [Fließmittel: Chloroform–Methanol (95:10) bzw.
Toluol–Ethylacetat (25:75); Schicht: HPTLC-Platten Kieselgel 60 F254; Nachweis: Vanillin-Phosphorsäure; Triphenyltetrazoliumchloridlösung in NaOH; FeCl3-Lösung]. Mit Vanillin-Phosphorsäure luoreszieren '-Cucurbitacine im UV 365 nm rot und 23,24-Dihydrocucurbitacine gelb. Cucurbitacine mit D-Ketolstruktur färben sich mit Triphenyltetrazoliumchloridlösung/NaOH rot, solche mit Diosphenolstruktur erscheinen als rotbraune Zonen auf gelbem Grund nach Besprühen mit FeCl3-Lösung. Zur sicheren Identiizierung der Cucurbitacine (insbesondere geringer Mengen) gilt heute die HPLC-MS als Standardmethode. Zur quantitativen Bestimmung eignet sich am besten die RP-HPLC (vgl. Übersicht von Dinan et al. 2001 und darin zitierte Literatur). Biologische Wirkungen. Alle Cucurbitacine weisen einen bitteren Geschmack auf. Sie wirken lokal reizend, insbesondere auf die Schleimhäute des Magen-Darm-Traktes. Cucurbitacine wirken zytotoxisch und hemmend auf das Wachstum von experimentell erzeugten Tumoren (kanzerostatische Wirkung). Ferner sind entzündungshemmende, antimikrobielle, antifungale, anthelmintische, hepatoprotektive und antifertile Wirkungen nachgewiesen wor-
24.5 Triterpene verschiedener Struktur
. Abb. 24.11
24
O HO OAc
O HO
H
9
H
OH
H
HO
Rest
O
O
Cucurbitacin E (Rest wie Cucurbitacin B)
Cucurbitacin B, C32H46O8 Ac = −COCH3 Zur biosynthetischen Einordnung : Squalen
Rest wie 1
+ H⊕ − H
24
HO H⊕
H
Lanosterol Rest wie 1
⊕
10 5
HO
9
H
H − H⊕
6
HO
H 1
H
Cycloartenol Rest wie 1
10−CH3 ~ 9−CH3 5−αH ~ 10−αH − 6-H⊕
H
H
HO
Cucurbita-5,24-dien-3β-ol
Die Cucurbitacine sind „echte“ Sterole insofern, als sie in enger biosynthetischer Beziehung zu den beiden Grundkörpern der Sterole, dem Lanosterol und dem Cycloartenol, stehen: Ein hypothetisches Carbeniumion 1 könnte sich in 3facher Weise durch Abspaltung eines Protons stabilisieren. Das Cucurbita-5,24-dien-3β-ol, von dem sich die bisher bekannten Cucurbitacine durch Oxidations- und Dehydrierungsreaktionen herleiten lassen, wurde bisher noch nicht als Pflanzeninhaltsstoff nachgewiesen
929
930
24
Triterpene einschließlich Steroide
den. Cucurbitacine wirken ferner wachstumsregulierend, fraßschutzhemmend und insektizid (vgl. Übersicht von Miró 1995). Neue Untersuchungen ergaben, dass die Cucurbitacine, insbesondere Cucurbitacin B, im Vergleich mit Adriamycin eine starke Hemmung der Proliferation von humanen Krebszelllinien [Kolon (HCT-116), Brust (MCF-7), Lunge (NCI-H460), ZNS (SF-268)] und die Curcurbitacine B, D, E und I im Vergleich mit Ibuprofen, Naproxen und Vioxx (Anm.: Vioxx wurde 2004 wegen erhöhter Anfälligkeit von Testpersonen auf Herzinfarkt und Schlaganfall vom Markt genommen) eine bemerkenswerte selektive COX-2-Hemmung aufweisen (Jayaprakasam et al. 2003). Die potente Antitumoraktivität der Cucurbitacine beruht nach Sun et al. (2005) auf einer selektiven Hemmung des Jak/STAT-Signalweges (Jak = Janus-Kinase; STAT = „signal transducer and activator of transcription“). Auf einzelnen dieser Wirkungen beruht die frühere Anwendung der Koloquinten und der Zaunrübe als Emetikum, als drastisches Purgans und als Emmenagogum. Die Koloquinten wurden auch als Wurmmittel und zur Ungezieferbekämpfung eingesetzt. Andere Planzen wurden bei rheumatischen und allergischen Krankheiten, zur Behandlung von Leberleiden, Asthma, Arthritis sowie Magen-Darm-Beschwerden empfohlen (vgl. auch > Tabelle 24.2). Trotz der starken kanzerostatischen Wirkung einzelner Cucurbitacine scheiterte der therapeutische Einsatz an ihrer relativ hohen Toxizität. Aus dem gleichen Grund sollten cucurbitacinhaltige Drogen nicht mehr verwendet werden.
24.5.2
Cimicifuga-Triterpene
Cimicifuga-Triterpene ( > Abb. 24.12) sind C30-Triterpene, die biogenetisch ebenfalls wie die Cucurbitacine (Kap. 24.5.1) dem Cycloartenol (Formel vgl. > Abb. 24.1) nahestehen.
wendeten den in Scheiben geschnittenen Wurzelstock für unterschiedliche Krankheitsbilder. Die Planze gehört heute an natürlichen Standorten zu den gefährdeten Spezies und sollte daher wegen des vermehrten Bedarfs in Kultur genommen werden (Popp et al. 2003). Inhaltsstoffe
x Triterpenglykoside( > Abb. 24.12)vom9,19-Cyclolanostan(Cycloartan)-Typ [USP-Entwurf (PF 30(4) 2004) = mindestens 0,4% Triterpenglykoside berechnet als 23-epi-26-Desoxyactein]. Bis heute sind ca. 40 verschiedene Glykoside isoliert worden (vgl. z. B. Shao et al. 2000; Chen et al. 2002b; Watanabe et al. 2002); x Phenolcarbonsäuren (Kafee-, Ferula-, Isoferulasäure); x Phenylpropanoide: Hydroxyzimtsäureester der Fukiaund Piscidiasäure ( > Abb. 24.12), z. B. Fukinolsäure, Cimicifugiasäuren A, B, E, F, Cimiracemate A–D; ferner Cimiciphenol und Petasiphenol (3,4-Dihydroxyphenyl-2-oxopropylester); Cytisin, Methylcytisin. Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. Fingerprint-DC insbesondere der
Cycloartanderivate (USP-Entwurf) [Fließmittel: obere Phase einer Mischung von Butanol–Wasser–Essigsäure 99% (50:40:10); Referenzsubstanzen: Black Cohosh Extrakt RS sowie Aescin, Isoferulasäure; Nachweis: UV 365 nm, Sprayreagens = Mischung von Methanol–Essigsäure 99%–Schwefelsäure–Anisaldehyd (85:10:5:0,5)]. Die Hauptzonen der Untersuchungslösung müssen in Laufstrecke, Farbe und Größe den Hauptzonen des Referenzextrakts entsprechen. Es erfolgt keine Zuordnung der einzelnen Triterpenglykoside. Als aussagekrätigere Fingerprintmethode, aber auch zur quantitativen Bestimmung einzelner Triterpenglykoside, bieten sich heute verschiedene LC/MS- bzw. LC/MS/MS-Methoden an (vgl. Wang et al. 2005b und darin zitierte Literatur). Gehaltsbestimmung. Quantitative Bestimmung (USP-
Herkunft. Die Cimicifuga-Triterpene kommen in Cimici-
fuga-(Actaea)-Arten, insbesondere im Wurzelstock (Black Cohosh USP, in Vorbereitung; Cimicifugae rhizoma PhEur, in Bearbeitung) von Actaea racemosa L. (Cimicifuga racemosa L. Nutt.), der Traubensilberkerze (Familie: Ranunculaceae [IIB1a]), vor. Heimat der Traubensilberkerze ist das östliche Nordamerika, wo sie in schattigen Laubwäldern verbreitet ist. Die Planze gehörte zum Arzneischatz der nordamerikanischen Indianer. Diese ver-
Entwurf) der 6 wichtigsten Triterpenglykoside (berechnet als 23-epi-26-Desoxyactein) mit der HPLC unter Verwendung eines ELSD-Detektors. Sie basiert auf der Methode von Li et al. (2002), die die Trennung und quantitative Bestimmung von insgesamt 18 Substanzen (Triterpene und Phenole) erlaubt. Verwendung. Zur Herstellung von alkoholischen und isopropanolischen Extrakten, die für die Produktion von
24
24.5 Triterpene verschiedener Struktur
. Abb. 24.12
OAc CH3 12
19
H3C
CH3
17
O
24
25
F 26 O
23
23
O
27
CH3
O
H3C
25
24
F 26 O
E
OH
23
O
27
CH3
25
F 26 O
9
CH3
Actein (26R)
23-epi-26-Desoxyactein
H CH3
OH H HO COOH COOH
CH3
23
O
H
O
24
25
OH
CH3
O
OH
CH3
CH3
Fukiasäure (R = OH) Piscidiasäure (R = H)
R
H
H3C
H3C
E
R2
Actein (26S) (R1= β-D-Xylose; R 2= OH) 26-Desoxyactein (R1= β-D-Xylose; R2= H) Acetylacteol (R1= H, R2= OH) 26-Desoxyacetylacteol (R1= R2= H)
RO
O
H3C
27
24
E
H 10
R1O
O
H3C
R1O
O
OH
H CH3
HO HO
Cimicifugosid (R = β-D-Xylose) Cimicifugosid M (= Cimiaracemosid C) (R = α-L-Arabinose) Cimigenol (R = H)
H
Fukinolsäure (R = H) Cimicifugiasäure A (R1= CH3, R2= OH) Cimicifugiasäure C (R1= OH, R2= H)
COOH COOH
R2
OH
Bei den Hauptinhaltsstoffen der Traubensilberkerze handelt es sich um Triterpenglykoside vom 9,19-Cyclolanostan-Typ und um Phenylpropanoide. Charakteristisch für die Triterpenglykoside ist ein Cyclopropanring, der die strukturelle Verwandtschaft zum Cycloartenol ( > Abb. 24.1) dokumentiert. Als Zuckerkomponente sind bisher Xylose und Arabinose gefunden worden. Von den bisher bekannten Aglykonen kommen Acetylacteol, 26-Desoxyacetylacteol und Cimigenol häufig vor. Bei der früher unter der Bezeichnung 27-Desoxyactein bekannten Verbindung handelt es sich nach heutiger Nomenklatur um 23-epi-26-Desoxyactein (Chen et al. 2002a). Actein kommt in der 26(S)- (Hauptsubstanz) und 26(R)Konfiguration vor (vgl. Li et al. 2002). Bei den Phenylpropanoiden handelt es sich neben ubiquitär vorkommenden Phenolcarbonsäuren insbesondere um Ester der Fukia- und Piscidiasäure, die strukturelle Ähnlichkeit mit der Rosmarinsäure (vgl. > Abb. 26.12) aufweisen
Phytopharmaka zur Behandlung klimakterischer Beschwerden (vgl. Infobox „Klimakterische Beschwerden“) Verwendung inden. Wirkungen und Wirkungsmechanismus. Östrogenartig
[Reduktion der LH-Sekretion (LH = „luteinizing hormone“), osteoprotektiv], antiproliferativ. Während HRT mit Östrogenen bei östrogensensitiven Brustkrebspatientinnen heute kontraindiziert ist, gelten Extrakte aus dem Cimicifuga-racemosa-Wurzelstock (CR-Extrakte) als Al-
ternative zur HRT. Die aufgrund von Tier- und In-vitroVersuchen postulierte östrogene Wirkung der CR-Extrakte wird allerdings kontrovers diskutiert. Während in verschiedenen neueren Untersuchungen keine östrogenen bzw. sogar antiöstrogene Efekte nachgewiesen werden konnten, wurde in kürzlich durchgeführten In-vitro-Rezeptorbindungsstudien festgestellt, dass bisher nicht bekannte Substanzen an einen noch unbekannten Östrogenrezeptor (ER) binden (vgl. Übersichten von Borelli et al. 2003; Piersen 2003 und darin zitierte Literatur). Seidlová-
931
932
24
Triterpene einschließlich Steroide
Infobox Klimakterische Beschwerden. Mit Klimakterium (Wechseljahre) wird die Übergangsphase von der reproduktiven zur nichtreproduktiven Phase im Leben der Frau bezeichnet. Es umfasst die Menopause (Zeitpunkt der letzten Menstruation) sowie die Prä- und Postmenopause. Dabei treten wichtige hormonelle Änderungen (Stopp der Östrogenund Progesteronproduktion, vermehrte Produktion von Gonadotropinen) auf, die eine Reihe von Beschwerden erzeugen können. Etwa ein Drittel der Frauen im Klimakterium ist subjektiv symptomfrei. Ein Drittel leidet unter vegetativen Beschwerden und ein weiteres Drittel unter der gesteigerten Form des Menopausensyndroms, d. h. Hitzewallungen, Schwindel und Schweißausbrüche; daneben auch psychonervöse (Schlafstörungen, Nervosität, Reizbarkeit, allgemeine Leistungs- und Gedächtnisminderung) sowie somatische und atrophische Störungen. Bei den klinischen
Wuttke et al. (2003) konnten mit einem ethanolischen CRExtrakt an ovarektomierten Ratten unter Einsatz der Realtime-PCR-Technologie die schon früher festgestellten östrogenen Efekte in der Achse Hypothalamus–Hypophyse (Reduktion der LH-Sekretion) und in den Knochen (osteoprotektive Eigenschaten) belegen, während im Uterus keine festgestellt werden konnten. In In-vitro-Untersuchungen wurde festgestellt, dass CR-Extrakte u. a. die durch Östrogene induzierte Proliferation von humanen östrogenrezeptorpositiven Brust-
Studien wird im Allgemeinen die Beeinflussung folgender Indizes und Scores gemessen: Menopauseindex nach Kupperman (Erfassung klimakterischer Symptome), Hamilton Anxiety Scale (HAMA; Bewertung von Angstzuständen), Profile of Mood Scale (POMS; Selbstbeurteilungsskala zur Erfassung wechselnder Stimmungszustände), die Clinical Global Impression Scale (CGI; Nutzen-Risiko-Bewertung der Behandlung) sowie die Menopause Rating Scale (MRS; erfasst zehn Kardinalsymptome, eingeteilt in die Symptomgruppen Hot Flushes, psychische atrophische und somatische Beschwerden). Als therapeutische Maßnahme kommen die Hormonersatztherapie [„hormone replacement therapy“ (HRT)] mit Östrogenen, selektiven Östrogenrezeptormodulatoren (z. B. Raloxifen) sowie Phytotherapeutika in Betracht [ > dazu auch Infobox „Prämenstruelles Syndrom (PMS)“; Kap. 23.3.2].
krebszelllinien (T47D und MCF-7) hemmen. Untersuchungen von ethanolischen und isopropanolischen CR-Extrakten mit MCF-7 und östrogenrezeptornegativen (MDA-MB231) Brustkrebszelllinien ergaben, dass die antiproliferative Wirkung auf einer Induktion der Apoptose (programmierter Zelltod) beruht, die durch Caspasen hervorgerufen wird (vgl. dazu > Abb. 24.15). Die antiproliferative Wirkung des Extrakts war vergleichbar mit derjenigen des Östrogenrezeptorantagonisten Tamoxifen (vgl. Hostanska et al. 2004a und darin zitierte
Infobox Selektive Östrogenrezeptormodulatoren (SERM). Der SERM-Begriff („selective estrogen receptor modulators“) wird für synthetische, östrogenartig wirkende Substanzen, z. B. Raloxifen, verwendet. Mit SERM-Eigenschaften werden selektive, organspezifische und östrogenähnliche Wirkungen verbunden, die im Gegensatz zum natürlichen Liganden Estradiol nicht generalisiert wirken, d. h. dass sie nur einen Teil der Östrogenwirkungen auslösen, andere dagegen unterdrücken. Die davon abgeleitete „Phyto-SERM-Theorie“ besagt, dass Phytoöstrogene und östrogenartig wirkende Pflanzenextrakte wie z. B. die Extrakte von C. racemosa je nach Organgewebe östrogenagonistische bzw. -antagonistische Effekte auslösen. Im Unterschied zu einer Östrogentherapie sollen die Phyto-SERMs ausschließlich die erwünschten Östrogenwirkungen im ZNS, dem kardiovaskulären und Urogenitalsystem sowie an den Knochen ohne die
schwerwiegenden Nebenwirkungen der Hormontherapie in der Brust und am Uterus aufweisen (vgl. Übersichten von Wuttke et al. 2002; Piersen 2003 und darin zitierte Literatur). Bei der Indikation Menopausebeschwerden gilt es z. B. Hitzewallungen und Schlaflosigkeit zu unterdrücken, die Knochenmasse und Knochendichte bzw. die funktionelle Integrität des Gefäßsystems zu erhalten, ohne gleichzeitig das Risiko für Brust- und Endometrium-(Gebärmutterschleimhaut-)karzinome zu erhöhen. Mit der Übertragung des SERM-Begriffs auf Phytoöstrogene werden diese Substanzen als Wunderdrogen – z. B. bei allen Menopausebeschwerden – geradezu mystifiziert und Estradiol mit seinen Krebs erregenden Eigenschaften im Gegensatz dazu verteufelt. Diese Klassifizierung in „gut“ und „böse“ gipfelt darin, dass Phytoöstrogene für Marketingzwecke völlig unkorrekt als „östrogenfrei“ apostrophiert werden (Vollmer u. Zierau 2004).
24.5 Triterpene verschiedener Struktur
Literatur). Andere Autoren (Burdette et al. 2003) kommen zum Schluss, dass die Wirkung von CR-Extrakten bei Hitzewallungen nicht via ER-, sondern via Serotoninrezeptoren zustande kommt. Die bisher noch unbekannten CR-Liganden zeigten die größte Ainität zu den 5-HT1A-, 5-HT1D- und 5-HT7-Rezeptoren, mit der größten Selektivität zum 5-HT7-Rezeptor. Serotonin hemmt die LH-Sekretion vom Hypothalamus via den 5-HT1ARezeptor. Das „Östrogenproblem“ kann erst vollständig aufgeklärt werden, wenn die dafür verantwortlichen Inhaltsstofe bekannt sind. Als wertbestimmende Inhaltsstofe wurden bisher die Triterpenglykoside bzw. Isolavonoide (Formomonetin) angesehen. Isolavonoide konnten in neueren Untersuchungen nicht mehr nachgewiesen werden (vgl. dazu Kenelly et al. 2002). Triterpenglykoside, insbesondere Actein, 23-epi-26-Desoxyacetein und Cimiracemosid A sowie die Zimtsäureester sind nach neuen Untersuchungen für die nachgewiesene antiproliferative Wirkung verantwortlich (Einbond et al. 2004; Hostanska et al. 2004b). Ester der Fukia- und Piscidiasäure zeigen vasoaktive und antioxidative Efekte. Das Postulat, dass in CR-Extrakten Substanzen mit einer ähnlichen Wirkung wie Raloxifen vorhanden sind, die je nach Organgewebe eine selektive Östrogenrezeptormodulation (vgl. Infobox „Selektive Östrogenrezeptormodulatoren“) bewirken, ist bis heute nicht bewiesen. Anwendungsgebiete. Zubereitungen aus dem Cimicifuga-racemosa-Wurzelstock gelten als planzliche Gynäkologika. Sie werden bei prämenstruellen und dysmenorrhoischen sowie klimakterisch bedingten neurovegetativen Beschwerden verwendet (Kommission E). Gemäß ESCOP sind die Indikationen: klimakterische Beschwerden wie Wallungen, Schwitzen, Schlafstörungen, Nervosität, Reizbarkeit. Wie neuere Studien zeigen, scheinen die CR-Extrakte positiv hinsichtlich des Erhalts von Knochenmasse und Knochendichte bei Patientinnen mit Osteoporose zu sein (Wuttke et al. 2003). Nach Borelli u. Ernst (2002) entsprechen von den 2002 vorliegenden 9 kontrollierten Studien zur klinischen Wirksamkeit von Cimicifuga-Extrakten im Vergleich zu Plazebo bzw. zur Östrogentherapie nur 4 Studien dem heute gültigen Standard. Drei davon inden für den Extrakt ähnliche Efekte wie für eine HRT, während die vierte den Extrakt für unwirksam im Menopauseindex fand. Die Autoren kommen zum Schluss, dass die klinische Wirksamkeit zur Behandlung klimakterischer Be-
24
schwerden in allen durchgeführten Studien nicht überzeugend dargestellt werden konnte und dass Langzeitstudien bisher fehlen. Andere Autoren (vgl. Übersicht von Wuttke et al. 2002, 2003; Osmers et al. 2005) kommen zum Schluss, dass die bisher durchgeführten klinischen Studien die therapeutische Wirksamkeit bei guter Verträglichkeit und einem geringen Risiko von Nebenwirkungen bestätigen. Nebenwirkungen. Gelegentlich sind Magenbeschwerden,
Kopfschmerzen, Schwindel und Gewichtszunahme beobachtet worden. Das in der Literatur (Whiting et al. 2002) beschriebene Autreten einer akuten Hepatitis bei einer 47-jährigen Frau in Australien nach einer zweiwöchigen Einnahme einer Traubensilberkerzenmedikation (ohne nähere Angaben, ohne analytische Überprüfung) muss mit Vorsicht interpretiert werden. Osmers et al. (2005) konnten in einem RCT mit einem isopropanolischen Extrakt keine klinisch relevanten Veränderungen wichtiger Leberenzyme (J-Glutamyltranspeptidase, Aspartataminotransferase, Alaninaminotransferase) im Vergleich zu Plazebo feststellen.
! Kernaussagen
Alkoholische und isopropanolische Extrakte von Cimicifuga racemosa werden zur Behandlung klimakterischer Beschwerden als Alternative zu einer HRT verwendet. Neben einer östrogenartigen Wirkung der Extrakte wird eine SERM postuliert, die von bisher nicht bekannten Wirkstoffen durch Bindung an einen nicht näher charakterisierten ER erzeugt werden soll. Im Unterschied zu einer Östrogentherapie sollen Phyto-SERMs ausschließlich die erwünschten Östrogenwirkungen (Linderung der während der Menopause auftretenden Unannehmlichkeiten) ohne die schwerwiegenden Nebenwirkungen der HRT (Brustund Endometriumkarzinome) aufweisen. Der Cimicifuga-Extrakt soll auch die postmenopausal gesteigerte Knochenresorption (Osteoporose) positiv beeinflussen ( > Hinweis). Die bisher als wertbestimmende Inhaltsstoffe geltenden Triterpenglykoside vom Cycloartantyp sind als Leitsubstanzen anzusehen. Sie spielen bei der Qualitätskontrolle eine Rolle.
Hinweis. Die klinische Wirksamkeit von Cimicifuga-Prä-
paraten zur Linderung klimakterischer Beschwerden wird kontrovers diskutiert.
933
934
24 24.5.3
Triterpene einschließlich Steroide
Quassinoide
(Surinam-Bitterholz) (Familie: Simaroubaceae [IIB18f]). P. excelsa ist ein stattlicher, 15–20 m hoch wachsender Baum Westindiens (Jamaika, Martinique, Barbados); Q. amara, ein 2–5 m hoch wachsender Strauch, der in Guayana, dem nördlichen Brasilien und Venezuela heimisch ist. Die Droge besteht aus dem Holz der Stämme. Daneben gibt es eine Anzahl von Planzen der Familie Simaroubaceae, die in der traditionellen Medizin verschiedener Länder für die Behandlung der Malaria und der Amöbenruhr verwendet werden.
Quassinoide sind C18- bis C25-Terpenoide, die sich von Triterpenen ableiten und zusammen mit Indolalkaloiden weit verbreitet in der Familie der Simaroubaceae vorkommen. Sie haben wie das Carpesterol (Formel vgl. > Abb. 24.10) nur eine Methylgruppe am C-4. Die meisten der bisher über 150 bekannten Quassinoide haben ein C20-Grundgerüst ( > Abb. 24.13). Der Name Quassinoide leitet sich von Quassin, der ersten bekannten Substanz aus dieser Naturstofgruppe, ab.
Anwendungsgebiete und Wirkungen. Bitterholz wird,
wie der Name sagt, aufgrund des bitteren Geschmacks als anregendes Bittermittel bei Appetitlosigkeit und dyspeptischen Beschwerden verwendet.
Vorkommen. Pharmazeutisch von Interesse ist einmal das
Bitterholz (Quassiae lignum) von Picrasma excelsa (Sw.) Planch (Jamaika-Bitterholz) und von Quassia amara L. . Abb. 24.13
OH HO 11 11
13 13
COOCH3
CH3
O 15 15
88 44
O OR H
O O
HO
O O
CH3 CC2020-Grundgerüst -Grundgerüstder derQuassinoide Quassinoide
H
H
H3CO
O CH3 H
CH3 Quassin
H
OCH3 CH3
CH3
O H3CO
O
H
CH3
CH3
H O
O
Brucein A (R = COCH2CH(CH3)2) Bruceantin (R = COCH=C(CH3)CH(CH3)2)
OCH3 O
O
H
CH3 H
O CH3
H
H H
O
OH H
Neoquassin
Bei den Quassinoiden handelt es sich um Triterpenabkömmlinge, die aus tetrazyklischen Triterpenen durch oxidative Veränderungen entstehen. Bei den Hauptbitterstoffen von Quassiae lignum (Quassin, Neoquassin) sowie den antileukämisch und Anti-Malaria-wirksamen Quassinoiden aus Brucea javanica handelt es sich um tetrazyklische C20-δ-Lactone mit zahlreichen O-Funktionen im Molekül. Die Wirksamkeit wird verstärkt, wenn zusätzlich ein weiterer Ring vorliegt, in dem die C-8-Methylgruppe mit dem C-11 bzw. C-13 durch eine O-Brücke verknüpft ist (z. B. bei Brucein A, Bruceantin). Der Oxidationsgrad und das Substitutionsmuster des A-Rings ist ebenfalls für die Wirkung wesentlich. Die am besten wirksamen Verbindungen haben eine Hydroxylgruppe entweder am C-1 oder C-3 und eine einer Doppelbindung benachbarte Carbonylgruppe. Viele aktive Quassinoide weisen auch eine Esterfunktion auf. Ein Verlust dieser Funktion ist mit einer starken Verminderung der Wirkung verbunden (vgl. Polonsky 1985; Phillipson et al. 1993)
24.5 Triterpene verschiedener Struktur
Daneben haben die Quassinoide eine Reihe von speziischen Wirkungen. Nachgewiesen worden sind u. a. amöbizide, herbizide, insektizide, antimikrobielle, antivirale (Anti-HIV), antiphlogistische, Antitumor- (antileukämisch) und Anti-Malaria-Wirkungen (vgl. Übersichten von Polonsky 1985; Phillipson et al. 1993; Okano et al. 2000). Von diesen Wirkungen sind insbesondere die antileukämische und die starke In-vitro-Aktivität gegen Plasmodium falciparum erwähnenswert (vgl. Text > Abb. 24.13). Der klinische Einsatz von Bruceantin scheiterte Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts aus Wirksamkeits- und Toxizitätsgründen. Dennoch bilden die . Abb. 24.14
H3C
Quassinoide auch heute noch eine interessante Naturstofgruppe bei der Suche nach neuen Wirkstofen (vgl. Cuendet u. Pezzuto 2004; Übersicht von Guo et al. 2005).
24.5.4
Boswelliasäuren
Herkunft. Boswelliasäuren ( > Abb. 24.14) sind C30-Tri-
terpene vom Oleanan- und Ursan-Typ, die in verschiedenen Boswellia-Arten, insbesondere in Boswellia carteri Birdw. und Boswellia serrata Roxb. (Familie: Burseraceae [IIB18b]) gefunden wurden. Von der ersten Stammplanze CH3
CH3 H3C
Oleanantyp
CH3 H
RO
CH3
CH3
CH3
H
CH3 RO
H CH3
HOOC
HOOC
α-Boswelliasäure (R = H) Acetyl-α-boswelliasäure (R = Acetyl)
CH3 CH3
H CH3
β-Boswelliasäure (R = H) Acetyl-β-boswelliasäure (R = Acetyl)
CH3
CH3
H3C
CH3
3
RO HOOC
H3C
H
O 11
H
CH3
Ursantyp
H
H CH3
24
H
HO CH3
CH3
H
CH3
4
H CH3
11-Keto-β-boswelliasäure (R = H) 3-Acetyl-11-keto-β-boswelliasäure (R = Acetyl)
CH3
HO HOOC
CH3 CH3
H CH3
11-α-Hydroxy-β-boswelliasäure
Gummiharze von Boswellia carteri (Weihrauch, Adenharz) und B. serrata (indischer Weihrauch, Salai Guggal) enthalten neben ätherischem Öl und Gummi bis zu 60% Harz, dessen Hauptbestandteile pentazyklische Triterpensäuren (Boswelliasäuren; BA, von „boswellic acid“) darstellen. Die beiden Harze weisen ein unterschiedliches Spektrum an BAs auf. Stärkste Hemmwirkung der 5-LOX und von NF-κB zeigte die nur im Harz des indischen Weihrauchs vorhandene 3-Acetyl-11-ketoβ-boswelliasäure. Wirksam sind auch Acetyl-α- und Acetyl-β-boswelliasäure, 11-Keto-β-boswelliasäure sowie Diole, bei denen anstelle der Carboxylgruppe an C-4 eine Hydroxymethylgruppe vorliegt. Neben pentazyklischen finden sich im Harz von Boswellia-Arten auch tetrazyklische Triterpene, z. B. die Tirucallsäuren, die ebenfalls biologische Effekte aufweisen (vgl. Übersicht von Ammon et al. 2003)
935
936
24
Triterpene einschließlich Steroide
wird ein Gummiharz, bekannt unter dem Namen Olibanum (Weihrauch), gewonnen. Die zweite Stammplanze liefert indischen Weihrauch (Indian Olibanum oder Salai Guggal). Olibanum ist in modernen Arzneibüchern lange Zeit nicht mehr aufgeführt worden. Heute ist neben Olibanum indicum (Indischer Weihrauch von B. serrata; DAC 2005) eine Monographie für die PhEur in Bearbeitung. Im Vordergrund des Interesses stehen heute verschiedene Boswelliasäuren (BAs), insbesondere 11-KetoE-boswelliasäure (KEBA) und 3-Acteyl-11-keto-E-boswelliasäure (AKEBA) sowie Acetyl-D- (ADBA) und Acetyl-E-boswelliasäure (AEBA). Gewinnung. Zur Herstellung reiner BAs eignet sich eine
einfache, aber eiziente kombinatorische Strategie, bei der in einer 2-Stufen-Semisynthese die BAs im Gummiharzgemisch z. B. in AKEBA überführt werden können. Je nach Boswellia-Art kann damit der AKEBA-Gehalt von 0,1–3% auf 25–35% gesteigert werden (Jauch u. Bergmann 2003). Traditionelle Verwendung von indischem Weihrauch, Wirkungen. Salai Guggal (von B. serrata) ist ein traditio-
nelles Arzneimittel aus der ayurvedischen Medizin, das in Indien für eine Reihe von entzündlichen Erkrankungen, wie z. B. chronische Polyarthritis, Osteoarthritis und zervikale Spondylosis, verwendet wird. In der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) wird das Gummiharz von B. carteri auch als Krebsmittel verwendet. Die bisher bekannten pharmakologischen Wirkungen von Olibanum werden als entzündungshemmend, analgetisch, antiarthritisch, antiproliferativ, immunmodulatorisch, hepatoprotektiv und antimikrobiell beschrieben. Wirkungsmechanismen
x Entzündungshemmende Wirkung. Die entzündungshemmende Wirkung von Salai Guggal konnte in einer Vielzahl von Tiermodellen und in In-vitro-Untersuchungen nachgewiesen werden. Verantwortlich dafür sind die BAs, die als speziische Nichtredoxhemmstofe der 5-Lipoxygenase (5-LOX) gelten, die dieses Enzym über einen nichtkompetitiven Mechanismus blockieren. Die 12-LOX und die Cyclooxygenase werden durch die BAs nicht gehemmt. Aus den durchgeführten Untersuchungen geht hervor, dass das pentazyklische Triterpengerüst der BAs für die Bindung an das Enzym erforderlich ist, während funktionelle Gruppen, insbesondere die Kombination der 11-Ketofunktion mit einer hydrophilen Gruppe an C-4, für die Hemmung
der 5-LOX essentiell sind. Durch die Hemmung der 5-LOX kann die Entstehung von Leukotrienen reduziert bzw. unterbunden werden. Vermehrte Leukotrienproduktion wird bei einer Reihe von chronisch-entzündlichen Erkrankungen wie z. B. bei Colitis ulcerosa, Morbus Crohn, allergische Rhinitis (vgl. Infobox S. 864) Asthma bronchiale und rheumatoider Arthritis beobachtet, und es scheint, dass diese Leukotriene für die Aufrechterhaltung der chronischen Entzündung verantwortlich sind. Heute scheint allerdings die Hemmung der 5-LOX nicht mehr im Vordergrund zu stehen. Neue Untersuchungen ergaben, dass die entzündungshemmende Wirkung der BAs ähnlich wie bei den Sesquiterpenen (vgl. S. 872; Arnikablüten) durch Hemmung der Aktivierung des Transkriptionsfaktors NF-NB erfolgt. AKEBA und ADBA modiizieren selektiv den NF-NB/INB-Komplex durch Hemmung des INB-Kinase-Komplexes (vgl. dazu > Abb. 23.44). Durch die Hemmung der Phosphorylierung von IKKD und der p65-Protein-Untereinheit wird die Wanderung von NF-NB in den Zellkern und die anschließende Freisetzung von Entzündungsmediatoren wie TNFD reduziert (vgl. Übersicht von Ammon 2003; Syrovets et al. 2005a und darin zitierte Literatur). x Antitumorwirkung. Neben der entzündungshemmenden Wirkung konnte in verschiedenen Arbeiten gezeigt werden, dass BAs eine Antitumorwirkung haben ( > dazu auch Infobox „Tumorhemmendes Potential von Planzenstofen“; S. 979). In-vitro-Untersuchungen von BAs an Tumorzelllinien zeigten eine Hemmung der Proliferation von Leukämie-, Glioblastom- und anderen Krebszellen. AKEBA zeigte in einer niedrigen Konzentration (IC50 von 2–4 PM) eine zytotoxische Wirkung auf humane Meningiomzellkulturen. Die Antitumorwirkung scheint auf die Hemmung der Topoisomerasen I und IID, von NF-NB sowie auf die Induktion des programmierten Zelltodes (Apoptose) zurückzuführen zu sein. An Dickdarmkrebszelllinien (HAT 29) konnte einerseits gezeigt werden, dass die BAs die Apoptose durch die Aktivierung der beiden klassischen Apoptosesignalkaskaden ( > Abb. 24.15) auslösen. Dabei sind die Caspasen-3, -8 und -9 involviert. Andererseits konnte am Beispiel von AKEBA und AEBA nachgewiesen werden, dass die Substanzen den INB-Komplex (IKKD) von NF-NB hemmen. In diesem Falle wird die Expression der antiapoptotischen Proteine Bcl-2 und Bcl-xL abreguliert und von Cyclin D1 (Regulator des Zellwachstums) reduziert.
24.5 Triterpene verschiedener Struktur
24
. Abb. 24.15
Signalkaskaden zur Auslösung der Apoptose (abgeändert nach Löffler u. Petrides 2003). Unter Apoptose (programmierter Zelltod) versteht man im Gegensatz zur Nekrose den durch genetische Informationen einer Zelle regulierten Zelluntergang bzw. „Zellselbstmord“. Sie dient der gezielten Eliminierung von Zellen. Die Apoptose wird über verschiedene Signalkaskaden reguliert, wobei ein gemeinsamer Endpunkt aller Wege die Aktivierung von proteolytisch wirkenden Caspasen ist. Die zwei klassischen Signalkaskaden zur Auslösung der Apoptose sind der Todesrezeptorweg („death receptor“) und der mitochondriale Weg. Beim mitochondrialen Weg kommt es infolge eines externen Signals zu einer Aktivierung der Bcl-2-Proteinfamilie und der Bax-Subfamilie. Sie führt zur Anheftung dieser Proteine an die Mitochondrienmembran, was zu einer Freisetzung von Cytochrom c führt. Cytochrom c bindet an das cytosolische Protein Apaf-1, das Caspasen aktiviert (Caspase 9 o Caspase 3 u. a.). Der Todesrezeptorweg läuft über einen Liganden-Rezeptor-Komplex (Fas/CD95) in der Plasmamembran. Dabei interagiert das Adaptorprotein FADD mit dem Todesrezeptor CD95. Bindung der inaktiven Caspase 8 an den Komplex führt zur Spaltung und Aktivierung der Caspase 8 und der Aktivierung weiterer Caspasen (Caspase 3 u. a.). Die Initiatorcaspasen 8 und 9 sind damit in der Lage, eine proteolytische Caspasekaskade auszulösen, was zum programmierten Zelltod führt. Antiapoptotische Vertreter der Bcl-2-Proteinfamilie können die mitochondriale Freisetzung von Cytochrom c verhindern. Abkürzungen: Apaf-1 „apoptotic protease activating factor 1“, FADD „fast-associated death domain“, Bid, Bax proapoptotische Vertreter der Bcl-2-Proteinfamilie
937
938
24
Triterpene einschließlich Steroide
Diese Mechanismen sind für die durch BAs erzeugte Apoptose der Zellen in vitro und in vivo verantwortlich [Modelle: humane Prostatakrebszellen (PC-3), Lungenibroblasten (MRC-5) und Xenotransplantate]. Von 11-Keto-BAs wurde ferner nachgewiesen [Modell: humane polymorphkernige Leukozyten (PMNL)], dass sie Mitogen-aktivierte Proteinkinasen (MAPKs) aktivieren (vgl. dazu Kap. 24.5.5; Betulinsäure). MAPKs sind involviert in Zellwachstum, -diferenzierung, -proliferation und -tod (vgl. Altmann et al. 2004; Syrovets et al. 2005b und darin zitierte Literatur). Klinik, mögliche Anwendungsgebiete. Alkoholische Ex-
trakte (100 mg) aus dem Gummiharz von B. serrata zeigten im Tierversuch bei der Behandlung von chronischen Entzündungen etwa die gleiche Wirkung wie Phenylbutazon (100 mg). Sie erwiesen sich auch in klinischen Versuchen bei Patienten mit chronischer Polyarthritis, Colitis ulcerosa und Hirntumoren (Astrozytome) wirksam. Bei Patienten mit chronischer Polyarthritis ergab sich in 60–70% der Fälle ein Rückgang der Schmerzen, der Schwellungen und der Gelenksteiigkeit. Bei Patienten mit Colitis ulcerosa ergaben sich ähnliche Ergebnisse wie bei der Behandlung mit dem Standardpräparat Sulfasalazin: in 80% der Fälle trat eine Remission auf. Bei Patienten mit Astrozytomen konnte das peritumorale Hirnödem stark reduziert werden (Verringerung des Ödemvolumens um durchschnittlich ein Drittel), während der Tumor selbst nicht beeinlusst wurde. Mit Ausnahme zweier neuerer klinischer Studien bei Patienten mit Morbus Crohn und Bronchialasthma waren die bisherigen klinischen Untersuchungen bei chronischer Polyarthritis, chronischer Kolitis, Colitis ulcerosa, peritumoralem Hirnödem sowie Hirntumoren nicht GCPkonform. In einer doppelblindkontrollierten, randomisierten Studie bei Patienten mit Morbus Crohn war ein Weihrauchprodukt im Vergleich mit dem Standardpräparat Mesalazin vergleichbar. In einer doppelblinden, plazebokontrollierten Studie bei Patienten mit chronischem Asthma bronchiale zeigten 70% der mit Boswelliaharz behandelten Patienten eine gegenüber der Plazebogruppe signiikante Verbesserung der Krankheitssituation (vgl. Ammon 2003 und darin zitierte Literatur). Eine erst kürzlich durchgeführte doppelblinde, plazebokontrollierte klinische Studie eines Extrakts von indischem Weihrauch ergab bei Patienten mit Osteoarthritis eine signiikante Abnahme der Schmerzen im Knie sowie eine Verbesserung der Beweglichkeit (Kimmatkar et al. 2003). In Zukunt sind weitere Untersuchungen zur richtigen Dosierung mit standardi-
sierten Produkten bzw. mit reinen BAs und vermehrt GCP-konforme klinische Studien notwendig, um die Wirksamkeit bei den einzelnen Indikationen sowie die Unbedenklichkeit der BAs und der Harzprodukte zu belegen. In China wird gegenwärtig ein Gemisch von AcetylD-BA und Acetyl-E-BA (1:1) auf die Eignung zur Chemoprävention untersucht (Zhao et al. 2003). Nebenwirkungen. Bei den BAs handelt es sich um ent-
zündungshemmende Substanzen, die im Gegensatz zu den klassischen Antiphlogistika/Antirheumatika keine schwerwiegenden Nebenwirkungen aufweisen. Beobachtet wurden gastrointestinale Beschwerden und allergische Reaktionen.
! Kernaussagen
Boswelliasäuren sind pentazyklische Triterpensäuren des Gummiharzes von Boswellia-Arten. Sie besitzen insbesondere entzündungshemmende und antiproliferative Eigenschaften. Alkoholische Extrakte aus dem Gummiharz des indischen Weihrauchs (Olibanum indicum von B. serrata) zeigten im Tierversuch bei der Behandlung von chronischen Entzündungen etwa die gleiche Wirkung wie Phenylbutazon. Sie erwiesen sich auch in klinischen Versuchen bei Patienten mit chronischer Polyarthritis, Colitis ulcerosa, Morbus Crohn, Bronchialasthma, Osteoarthritis und pertitumoralem Hirnödem wirksam. Die BAs sind viel versprechende Modellsubstanzen zur Entwicklung neuer entzündungshemmender Wirkstoffe. Ob sich einzelne BAs dank ihrer Antitumorwirkung auch zur Chemoprävention eignen, muss in weiteren Untersuchungen abgeklärt werden.
24.5.5
Betulinsäure
Betulinsäure ( > Abb. 24.16) zeigt eine Reihe von biologischen Aktivitäten, darunter entzündungshemmende, Invitro-Anti-Malaria- und antivirale Wirkungen sowie eine speziische Zytotoxizität gegen verschiedene Tumorzelllinien: x Zytotoxische Wirkung. Im Jahre 1995 wurde von Betulinsäure (BS) erstmals in In-vitro- und In-vivo-Untersuchungen die Hemmung des Wachstums verschiedener menschlicher Melanomzellen nachgewiesen ( > dazu auch Infobox „Tumorhemmendes Potential
24.5 Triterpene verschiedener Struktur
. Abb. 24.16
H CH3
CH3 H HO H3C
H
R
CH3
H CH3
Betulin (R = CH2OH) Betulinsäure (R = COOH)
Betulinsäure ist ein pentazyklisches Triterpen vom Lupantyp. Die Substanz ist in der Pflanzenwelt weit verbreitet; allerdings wird sie in der Regel nur in kleinen Mengen gebildet. Es ist jedoch relativ einfach, Betulinsäure halbsynthetisch aus Betulin zu gewinnen, das der Hauptinhaltsstoff der Birkenrinde ist (bis zu 22% in Rinde verschiedener Betula-Arten)
von Planzenstofen“; S. 979). Ursprünglich wurde eine selektive Zytotoxizität gegenüber Melanomzellen bei vollständigem Fehlen einer Toxizität angenommen [Hemmung von MEL-4 (primärer Hauttumor), MEL1 (Lymphknoten), MEL-2 (Pleuralüssigkeit), MEL-3 (Leber); ED50-Werte im Bereich 1–5 µg/ml–1]. BS zeigte auch eine potente antiproliferative Aktivität bei anderen Tumorarten, z. B. bei epithelialen Hirntumoren (Glioblastom, Medulloblastom, Neuroblastom), ferner bei einer ganzen Palette weiterer humaner neoplastischer Zelllinien von Eierstock (Ovarium), Gebärmutter (Uterus), Lunge (vgl. Übersicht von Cichewicz u. Kouzi 2004 und darin zitierte Literatur, berücksichtigt bis 2002) sowie von schuppenförmigen menschlichen Zelllinien von Kopf und Nacken (hurnher et al. 2003). Die Wirkung scheint insofern selektiv, als das Wachstum normaler Zellen durch BS nicht gehemmt wird. x Wirkungsmechanismen der zytotoxischen Aktivität. Als Wirkungsmechanismen stehen heute der durch BS induzierte programmierte Zelltod (Apoptose) und die Hemmung der Aktivierung von NF-NB im Vordergrund. BS induziert die Apoptose durch Änderungen im Membranpotential der Mitochondrien [= mitochondrialer Weg der Apoptoseauslösung (vgl. > Abb. 24.15)]. Andererseits wird eine Caspase-unabhängige Apoptose für BS postuliert, bei der mitogenaktivierte
24
Proteinkinasen (MAPKs) beteiligt sind (vgl. dazu auch Boswelliasäuren, Kap. 24.5.4). BS aktiviert in einem frühen Stadium der Apoptose die Proteinuntergruppen p38 MAPK und JNK. Es scheint, dass die MAPKKaskade von BS durch die Produktion von ROS (reaktive Sauerstofspezies) ausgelöst wird. SAR-Untersuchungen von BS und BS-Derivaten haben ergeben, dass für die apoptotischen Efekte am C-17 eine Carbonylgruppe essentiell ist. Der Transkriptionsfaktor NF-NB ist für die Regulation der Expression verschiedener Gene verantwortlich, deren Produkte an der Karzinogenese beteiligt sind [z. B. Anti-ApoptoseGene (u. a. Bcl-2), COX-2, Matrixmetalloproteinase-9 (MMP-9), Adhäsionsmoleküle, Chemokine, proinlammatorische Cytokine, iNOS]. Substanzen wie BS, die die NF-NB-Aktivierung hemmen, haben daher das Potential, die Karzinogenese zu unterdrücken (vgl. > Abb. 23.43). BS hemmt die durch TNFD/Karzinogene induzierte Aktivierung von IKK (vgl. > Abb. 23.43, 23.44), womit die Phosphorylierung sowie der Abbau von INBD und damit die ganze NF-NB-Kaskade unterdrückt wird. BS zeigte in weiteren Untersuchungen eine Hemmung der Topoisomerasen I und IID. Kürzlich wurde an menschlichen Tumorzelllinien [DU145 (Prostata), L132 (Lunge), A549 (Lunge), PA-1 (Eierstock)] für BS und einzelne Derivate auch eine antiangiogene Aktivität nachgewiesen (Tan et al. 2003; Takada u. Aggarwal 2003; hurnher et al. 2003; Mukherjee et al. 2004; Übersicht von Cichewicz u. Kouzi 2004 und darin zitierte Literatur]. x Antivirale Aktivität. Eine weitere Hauptwirkung von BS ist die antivirale Aktivität. BS und Derivate hemmen selektiv die HIV-1-, nicht aber die HIV-2-Replikation. Die bisher nachgewiesenen Angrifspunkte und Wirkungsmechanismen sind vielfältig, scheinen aber mit dem Viruseintritt in die Zelle und mit dem Reifeprozess verknüpt zu sein. So konnte von einzelnen Derivaten gezeigt werden, dass sie den Eintritt des HIV-1-Virus in die Zelle durch Interaktion mit dem viralen Glykoproteinkomplex gp120–gp41 blockieren (vgl. Aiken u. Chen 2005). Antivirale Wirkung zeigt BS auch bei Herpes-simplex-(HSV-1-) und Inluenza-A-Viren. x Entzündungshemmende Wirkung. BS zeigte im Carrageenan- und Serotonin-induzierten Mauspfotenödemtest sowie im TPA- (TPA = 12-O-Tetradecanoylphorbol-13-acetat) und EPP-(Ethylphenylpropiolat) Mausohrödemtest eine corticoidähnliche antiphlogistische Wirkung, die in diesen Testsystemen mit der
939
940
24
Triterpene einschließlich Steroide
Wirkung von Phenylbutazon und Indometacin vergleichbar ist. Es ist davon auszugehen, dass die antiphlogistische Wirkung ebenfalls durch den Eingrif von BS in die Transkription von Zytokinen erfolgt (vgl. dazu > Abb. 23.44). x Antiplasmodiale Wirkung. In vitro wurde eine AntiMalaria-Wirkung (IC50 = 10,46 Pg/ml) auf das asexuelle Erythrozytenstadium bei Plasmodium falciparum nachgewiesen, die sich aber in einem murinen Invivo-Modell mit P. berghei nicht reproduzieren ließ. Neue Untersuchungen an P. falciparum ergaben, dass BS und einzelne Derivate die Erythrozytenmembran modiizieren. Durch die Interaktion (Wasserstobrückenbindung) von BS mit der Lipidbilayerschicht der Erythrozytenmembran wird das Parasitenwachstum gestört, da durch die modiizierten Erythrozytenmembranen das Eindringen der Merozoiten in die Erythrozyten gehemmt wird. Die Autoren der Studie (Ziegler et al. 2004) glauben, dass der festgestellte Link zwischen der Membranmodifzierung und der antiplasmodialen Aktivität ein neuer Ansatzpunkt für die Entwicklung von Anti-Malariamitteln darstellt. Dank der einzigartigen In-vitro-Zytotoxizität, der signiikanten In-vivo-Aktivität, der geringen Toxizität sowie der interessanten Wirkungsmechanismen handelt es sich
! Kernaussagen
Betulinsäure ist ein in der Pflanzenwelt weit verbreitetes Triterpen vom Lupan-Typ, das nur in kleinen Mengen vorkommt und deshalb heute aus Betulin (von Betula-Arten) gewonnen wird. BS und eine Reihe halbsynthetischer Derivate haben in vitro und in vivo eine potente antiproliferative Aktivität. Als Wirkungsmechanismen werden der durch BS induzierte programmierte Zelltod (Apoptose) bzw. die Hemmung der Aktivierung von NF-NB angenommen. Neben der entzündungshemmenden Wirkung ist insbesondere die selektive Hemmwirkung von HIV-1 nachgewiesen. BS blockiert den Eintritt des HIV-1-Virus in die Zelle durch Interaktion mit dem viralen Glykoproteinkomplex gp120–gp41. BS und einzelne Derivate sind viel versprechende Modellsubstanzen zur Behandlung von Tumoren sowie von viralen Affektionen. Leider ist trotz der großen Anstrengungen der letzten Jahre das Ziel einer therapeutischen Anwendung von BS kaum näher gerückt.
bei BS um eine viel versprechende neue Modellsubstanz. Obwohl in den letzten Jahren Hunderte von halbsynthetischen Derivaten hergestellt wurden und auf ihre Wirkung untersucht worden sind, ist das Ziel einer therapeutischen Anwendung von BS weder als Krebsmittel noch als Virustatikum kaum näher gerückt. Das National Cancer Institute der USA ist im Rahmen des „Rapid Access to Intervention Development Program“ bemüht, BS in klinischen Studien testen zu lassen.
24.5.6
Ringelblumenblüten
Herkunft. Ringelblumenblüten (Calendulae los PhEur 5) bestehen aus den völlig entfalteten, getrockneten und vom Blütenstandboden befreiten Einzelblüten von Calendula oicinalis L. (Familie: Asteraceae [IIB28b]). Bei C. oicinalis handelt es sich um eine 30–50 cm hohe, von der Mitte an verzweigte, meist einjährige Kultur- und Zierplanze Mittel- und Südeuropas mit breitlanzettlichen Blättern und gelb bis orange gefärbten Blüten mit vielen Zungenund wenigen Röhrenblüten. Die PhEur lässt als Droge nur die Blüten kultivierter, gefüllter Formen zu. Sensorische Eigenschaften. Die Droge ist gelb bis orange
gefärbt und hat einen aromatischen Geruch. Inhaltsstoffe
x Triterpenalkohole (4–5%) mit Mono-, Di- und Triolen
x x x x x x
verschiedener Grundstruktur, frei und mit Fettsäuren verestert ( > Abb. 24.17; vgl. Übersichten von Isaac 1994 und 2000); Triterpensaponine (2–10%), als Saponoside bzw. Calenduloside A–F und Calendasaponine A–D (Yoshikawa et al. 2001) bezeichnet ( > Abb. 24.17); Flavonoide (0,3–0,8%; PhEur = mindestens 0,4%), darunter Isorhamnetin- und Quercetinglykoside; Carotinoide mit orangefarbenen Carotinen und gelben Xanthophyllen; Polysaccharide mit Rhamnoarabinogalactan- und Arabinogalactanstruktur; ätherisches Öl (ca. 0,2–0,3%), vorwiegend aus Sesquiterpenen bestehend; ferner Polyacetylene, Cumarine, Phenolcarbonsäuren, Sterole und Sterolglykoside, Ionon- und Sesquiterpenglykoside (Marukami et al. 2001).
24
24.5 Triterpene verschiedener Struktur
. Abb. 24.17
CH3 H3C
H3C
H
H
3
HO H3C
E
E H
CH3
CH3
CH3
16
H
H
Rest
CH2R1
CH3
R2
Taraxasterol (R1 = R2 = H) Arnidiol (R1 = H, R2 = OH) Heliantriol B1 (R1 = R2 = OH)
H CH3
H
3
HO
H3C
CH3
CH3 H
H
CH3
H3C
ψ-Taraxasterol (R1 = R2 = H) Faradiol (R1 = H, R2 = OH) Heliantriol B0 (R1 = R2 = OH)
CH3
4
CH3 Helianol
H
CH3
CH3
H β-D-Glc
CH3
H3C
CH2
1→2
β-D-Glu 3 ↑ 1
β-D-Gal
1→
O H3C
←1
28
C
CH3
O
β-D-Glc *
O
H CH3
Oleanolsäure
Calendulosid A, * Calendulosid B (Deglucosylcalendulosid A)
Bei den Hauptwirkstoffen der Ringelblumenblüte handelt es sich um Mono-, Di- und Triterpenalkohole, die zu 98% als 3-Monoester (hauptsächlich Laurin-, Myristin- und Palmitinsäureester) vorkommen. Für die entzündungshemmende Wirkung sind insbesondere freie und veresterte Monole (Typ Taraxasterol) und Diole (Typ Faradiol/Arnidiol) verantwortlich. Die freien Monole sind weniger aktiv als die Diole. Bei den Monolen ist ψ-Taraxasterol die aktivste Substanz, bei den Diolen Faradiol. Die antiphlogistische Wirkung wird bei Substanzen verstärkt, die eine 16-OH-Gruppe aufweisen. Zugleich wird die Wirkung durch eine Veresterung über die 3-OH-Gruppe vermindert (Della Loggia et al. 1994; ZitterlEglseer et al. 1997). Ebenfalls für die tumorhemmende Wirkung scheint die 16-OH-Gruppe ein wesentliches Strukturmerkmal zu sein (Yasukawa et al. 1996). In den Röhrenblüten ist Helianol (3,4-seco-Triterpenalkohol) mit einem Euphangrundgerüst der Hauptbestandteil der Triterpenalkoholfraktion. Die Saponine der Ringelblumenblüte sind relativ einfach gebaute Glykoside der Oleanol-, Moron, Cochalin- und Machaerinsäure. Die 3-OH- der Oleanolsäure ist glykosidisch an Glucuronsäure (Glu) gebunden, die ihrerseits an Glucose und/ oder Galactose gebunden ist. Die 28-Carboxylgruppe kann, wie im Falle des Calendulosid A und der Calendasaponine A–D (nicht abgebildet), mit Glucose verestert sein
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. Fingerprint-DC (PhEur) von
Flavonoiden und Phenolcarbonsäuren [Fließmittel: wasserfreie Ameisensäure–Wasser–Ethylacetat (10:10:80); Referenzsubstanzen: Kafeesäure, Chlorogensäure, Rutin; Nachweis: Diphenylboryloxyethylamin/Macrogol 400]. Die Substanzen erscheinen im UV bei 365 nm als verschiedenfarbig luoreszierende Banden.
Gehaltsbestimmung. Die Gehaltsbestimmung der Fla-
vonoide erfolgt wie in Kap. 26.5.5 unter Aluminiumchelatkomplex beschrieben. Anstelle der Flavonoide sollten die freien sowie die 3-O-veresterten Triterpenalkohole nachgewiesen und quantitativ bestimmt werden. HPLCMethoden zum Nachweis und zur Bestimmung der Triterpenester sind bei Reznicek u. Zitterl-Eglseer (2003) und bei Neukirch et al. (2004) beschrieben. Im ersten Fall werden drei Faradiol-3-monoester, im zweiten acht Faradiol-,
941
942
24
Triterpene einschließlich Steroide
Arnidiol- und Calenduladiol-3-monoester simultan quantitativ bestimmt. Verwendung. Als Teedroge (auch als Schmuckdroge für
Teemischungen), zur Herstellung von Tinkturen [Calendulae tincturae (DAC 2005)], hydroalkoholischen [Calendulae extractum luidum (DAC 2005)] und CO2-Extrakten sowie von Calendulaöl. Wirkungen. Bei lokaler Anwendung Förderung der
Wundheilung, entzündungshemmende und granulationsfördernde Efekte (Kommission E). Für Extrakte, Tinkturen und Fraktionen bzw. für Reinstofe wurden antiphlogistische, wundheilende, antibakterielle, antifungale, antivirale, immunstimulierende und antitumorale Wirkungen nachgewiesen (vgl. Übersichten von Isaac 1994, 2000). Als Hauptwirkstofe für die antiphlogistische Wirkung gelten die freien und veresterten Triterpenalkohole, die lipophiler Natur sind. Nach Untersuchungen am Crotonöl-Mausohr-Dermatitis-Testmodell erwies sich Faradiol (im Extrakt nicht enthalten) als aktivste Substanz. Faradiol zeigte dosisabhängig dieselben entzündungshemmenden Efekte wie Indometacin. Allerdings gelten die Faradiolmonoester, die bei den Triterpenen quantitativ vorherrschen (2–4%), als die entzündungshemmenden Hauptinhaltsstofe (Della Loggia et al. 1994; Zitterl-Eglseer et al. 1997). Taraxasterol und insbesondere Faradiol und Helianol zeigten auch eine starke entzündungs- und tumorhemmende Wirkung am TPA-induzierten Mausohrödemtestmodell. Als potentielle Wirkstofe für die Wundheilungsförderung gelten die Carotinoide, während für die antibakteriellen und an-
tifungalen Wirkungen das ätherische Öl, Flavonoide und Saponine verantwortlich sind. Die immunstimulierende Wirkung wird der Polysaccharidfraktion und dem Calendulosid B zugeschrieben. Anwendungsgebiete. Als Tinktur, Infus oder Fluidex-
trakt zur lokalen Anwendung bei entzündlichen Veränderungen der Mund- und Rachenschleimhaut sowie äußerlich als Tinktur und in Form von Salben bei schlecht heilenden Wunden und bei Ulcus cruris (Kommission E). Gemäß ESCOP sind die Indikationen: zur symptomatischen Behandlung leichter Entzündungen der Haut und der Schleimhaut sowie zur Unterstützung bei der Wundheilung.
! Kernaussagen
Präparate der Ringelblumenblüten werden lokal bzw. äußerlich bei entzündlichen Veränderungen der Mund- und Rachenschleimhaut sowie zur Behandlung schlecht heilender Wunden verwendet. Als wirksamkeitsbestimmende Inhaltsstoffe für die entzündungshemmende Wirkung gelten die Triterpenalkohole. Die stärkste antiphlogistische Wirkung haben die freien Diole (z. B. Faradiol). Sie ist im Crotonöl-MausohrDermatitis-Testmodell vergleichbar mit der Wirkung von Indometacin. Allerdings gelten die Faradiol-3monoester (hauptsächlich Laurin-, Myristicin- und Palmitinsäureester), die bei den Triterpenen quantitativ vorherrschen, als die für die entzündungshemmende Wirkung verantwortlichen Hauptinhaltsstoffe.
Schlüsselbegriffe Actaea racemosa Actein Apoptose Betulinsäure Bittermittel Boswellia carteri, B. serrata Boswelliasäuren Brucea javanica Calendula officinalis Calendulae flos Chemoprävention Chronische Entzündung Cimicifuga racemosa Cimicifugae rhizoma Cimicifuga-Triterpene
Cimicifugoside Cucurbitacine Östrogenrezeptormodulation, selektive (SERM) Faradiol Faradiolmonoester Hormone replacement therapy (HRT) Klimakterische Beschwerden Leukotriensynthesehemmung Mesalazin Mitochondrialer Weg NF-NB Olibanum indicum Phyenlbutazon Phyto-SERM-Theorie
Quassinoide Raloxifen Ringelblumenblüten Salai Guggal Sulfasalazin Tamoxifen Todesrezeptorweg Triterpenalkohole Triterpenglykoside Wirkungen (antiplasmodial, antiproliferativ, antiviral, zytotoxisch, entzündungshemmend, östrogenartig, osteoprotektiv) Wundheilung
24.6 Saponine
24.6
Saponine
24.6.1
Begriffsbestimmung
Unter Saponinen (Saponosiden) versteht man glykosidische Planzeninhaltsstofe (und Inhaltsstofe einiger mariner Invertebraten), die in Wasser gelöst – ähnlich wie Seifen beim Schütteln – einen haltbaren Schaum geben, auf Öle emulgierend und auf Suspensionen stabilisierend wirken. Die Glykosidnatur der Saponine lässt sich durch das Suix „osid“ ausdrücken, weshalb man dem französischen Sprachgebrauch folgend trefender den Ausdruck Saponoside verwenden sollte. Dieser hat sich aber in der deutschen Literatur nicht eingebürgert. Saponine sind optisch aktiv. Sie weisen eine besondere Ainität zu Cholesterol auf; die Spirostanol-Cholesterol-Komplexe sind in 96%igem Ethanol sehr schwer löslich, sodass man wechselseitig Spirostanol oder Cholesterol aus alkoholischen Lösungen ausfällen kann. Viele Saponine vermögen noch in großer Verdünnung rote Blutkörperchen aufzulösen (hämolytische Aktivität). Für Fische, Kaulquappen und andere im Wasser lebende Tiere sind Saponine toxisch. Fische sterben an Hydrämie, weil es zu einer pathologischen Permeabilitätserhöhung der Kiemenepithelien kommt. Viele Saponine wirken antimikrobiell, vornehmlich gegen niedere Pilze. Saponine schmecken kratzend und/oder bitter. Als Staub reizen sie zum Niesen; auch können sie Tränenluss und Augenentzündungen hervorrufen. Viele Saponine haben zelltoxische Eigenschaten und wirken, intramuskulär oder subkutan appliziert, gewebsschädigend und lokal entzündungserregend. Die aufgezählten Eigenschaten trefen nicht auf sämtliche Saponine in gleichem Maße zu. Es gibt zahlreiche Ausnahmen; in einigen Fällen, wie z. B. beim Glycyrrhizin, wird man nur sehr bedingt von einem Saponin sprechen können. Auf der anderen Seite gibt es Stofe, wie Digitoxin und Digoxin, die mit den Saponinen viele Eigenschaten teilen, die aber wegen ihrer speziischen Wirkungen nicht zu den Saponinen gezählt werden. Der Saponinbegrif ist somit nicht präzise deiniert.
24.6.2
24
Vorkommen, chemische und physikalische Eigenschaften, Einteilung
Saponine sind im Planzenreich außerordentlich weit verbreitet, und zwar rechnet man, dass etwa 3 von 4 Planzenarten Saponine führen. Der Konzentrationsbereich von 0,1–30%, ist, verglichen mit den Konzentrationen anderer sekundärer Planzenstofe, sehr hoch. Lokalisiert sind sie in noch lebendem Gewebe als Lösungsbestandteil des Zellsates. In einer bestimmten Planzenart und einem bestimmten Planzenorgan treten Saponine ot als komplizierte Mischung zahlreicher, meist schwer trennbarer Einzelverbindungen auf. Saponine sind in Wasser molekular- oder kolloidaldispers löslich; sie lösen sich gut in Mischungen von Wasser mit Methanol oder Ethanol; sie sind unlöslich in Lipidlösungsmitteln wie Ether, Chloroform oder Petrolether. Durch Kochen mit verdünnter Mineralsäure (Hydrolyse) zerfallen sie in einen Geninteil (= Sapogenin) und in 1–12 Mol Monosaccharide. Ein Teil der Saponine enthält, esterartig gebunden, aliphatische Carbonsäuren, die durch Verseifung abspaltbar sind. Die Sapogenine sind, im Unterschied zu den Saponinen, unlöslich in Wasser und leicht löslich in absolutem Ethanol, zumeist auch in Ether und Chloroform. Die chemische Konstitution der Sapogenine liefert für Saponine ein Einteilungsprinzip. Gemäß der Geninstruktur unterscheidet man die 3 Gruppen: x Triterpensaponine ( > Abb. 24.18 und 24.19), x Steroidsaponine (= Spirostanolsaponine > Abb. 24.35), x Steroidalkaloidsaponine. Man unterscheidet 3 verschiedene Typen: x Monodesmoside (“Einketter”), Saponine, die nur eine einzige Zuckerkette tragen; x Bisdesmoside (“Zweiketter”) mit 2 unabhängigen Zuckerketten; x Tridesmoside (“Dreiketter”) mit 3 Zuckerketten (Anm.: Kommen bei den nachfolgend besprochenen Saponinen nicht vor). Gebräuchlich ist auch die Einteilung der Saponine in neutrale, saure und basische Saponine. Dabei sind die Spirostanolsaponine immer neutral, die Steroidalkaloidsaponine immer basisch, während die Triterpensaponine entweder neutral oder sauer sein können. Der saure Charakter kann auf der Anwesenheit einer freien Carboxylgruppe
943
944
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.18
21
H CH3 2
HO H3C
24
CH3 H
H
22
16
CH3
H3C
CH3
H3C
CH3
R 2
CH3
19
CH3 H
16
COOH
CH3 27
HO
H CH3
H H3C
23
R
R
Weitere OH-Gruppen
Trivialname
R
Weitere OH-Gruppen
Trivialname
CH3 CH3 CH2OH CH2OH CH2OH CH2OH CHO CHO
24 24, 22β 16α 2α, 23 16α, 21β, 22α 16α, 21β, 22α, 24 16α 16α, 22α
Sojasapogenol C Sojasapogenol B Primulagenin A Barringtogenol A Barringtogenol C Protoaescigenin Primulagenin D Priverogenin A
CH3 CH3 CH3 CH2OH CH2OH COOH COOH COOH
− 16α 19α − 2β, 16α − 2β 2β, 16α
COOH
2β, 27
Oleanolsäure Echinocystsäure Siaresinolsäure Hederagenin Polygalasäure Gypsogensäure Medicagensäure 16-Hydroxymedicagensäure Presenegenin
Übersicht über pentazyklische Triterpensapogenine vom Typus der 12,13-Dehydrooleanane (Oleanan-12-en): Linke Formel: neutrale, rechte Formel: saure Vertreter
im Triterpenteil beruhen oder darauf, dass der Zuckerteil eine Uronsäure enthält (Glycyrrhizin, > Abb. 24.22). Für Saponine, die niedere Carbonsäuren an das Aglykon gebunden enthalten, hat sich die Bezeichnung Estersaponin eingebürgert (z. B. Aescin, > Abb. 24.27). In Saponinen wurden bisher folgende Monosaccharide als Bauelemente gefunden: d-Glucopyranose (Glcp), d-Galactopyranose (Galp), d-Xylopyranose (Xylp), d-Xylofuranose (Xylf), l-Arabopyranose (Arap), l-Arabofuranose (Araf), l-Rhamnopyranose (Rhap), l-Fucopyranose (Fucp) sowie die Uronsäuren d-Glucuronsäure (Glup) und d-Galacturonsäure (GalpA). Im Gegensatz zu den herzwirksamen Steroidglykosiden ( > Kap. 24.7) enthalten Saponine somit keine seltenen Zucker. Art und Anzahl der Monosaccharide, Reihenfolge und Verknüpfungsart variieren in vielfältiger Weise. Je nach Anzahl der monomeren Zuckerbausteine charakterisiert man Saponine als Mono-, Di-, Tri- oder Tetraoside; ab der Tetraosidstufe – man kennt Saponine mit bis zu 12 Zuckerbausteinen – spricht man auch von Oligosiden (oligosidischen Saponinen). In Oligosiden ist das endständige Monosaccharid sehr häuig eine Pentose. Die Verknüpfungsart der Zucker
untereinander und an das Sapogenin ist acetalisch, und zwar in der Regel D-l- oder E-d-glykosidisch. Hinsichtlich der Bindung Zucker–Sapogenin lassen sich 2 Fälle unterscheiden: Bindung an eine (meist sekundäre) Hydroxylgruppe des Sapogenins oder esterglykosidisch an die OHGruppe eines Carboxyls (= Acylglykoside).
24.6.3
Analytik von Saponindrogen
Der qualitative Nachweis von Saponinen in Drogen wird heute in erster Linie mit Hilfe der Dünnschichtchromatographie durchgeführt. Andere Identitätsprüfungen, wie z. B. Farbreaktionen und insbesondere die früher übliche Schaumprobe sowie der Hämolyseversuch, inden in den modernen Arzneibüchern keine Anwendung mehr oder im besten Fall noch in einzelnen Fällen (z. B. Schaumprobe bei Seifenrinde in der Helv 10). Prüfung auf Identität. Da es sich bei den Saponinen um vergleichsweise polare Stofe handelt, kommen Trennbedingungen in Frage, die eine Verteilungschromatographie
24
24.6 Saponine
. Abb. 24.19
30
29
H3C
CH3
CH3 H3C 28
O
Rest wie Oleanolsäure
•
CH3
16
OH
CH3
Trivialname
− 22α-OH 30-CHO
H3C
27
Trivialname
Weitere Substituenten
Ursolsäure Chinovasäure Madasiatsäure Asiatsäure Tormentsäure 6-Hydroxyasiatsäure
− 27-COOH 2α-OH, 6β-OH 2α-OH, 23-CH2OH 2α-OH, 19α-OH 2α-OH, 6β-OH, 23-CH2OH
CH3 O
23
O
CH3
Rest wie Oleanolsäure
COOH
CH3
Rest wie Oleanolsäure
Weitere Substituenten
Protoprimulagenin A Priverogenin B Cyclamiretin A (Aglykon des Cyclamins)
20
22
13
CH3
19
H
28
H
• 16
HO
CH3
16
H 20
H 29
Trivialname
Weitere Substituenten
Saikogenin E Saikogenin F Saikogenin G
16 β-OH 16β-OH, 23-CH2OH 16α-OH, 23-CH2OH
30
Konformationsformel (16-Desoxyprotoprimulagenin A)
Übersicht über pentazyklische Triterpensapogenine (Fortsetzung von > Abb. 24.18). Eine 13β-OH-Gruppe kann mit der 28β-CH2OH-Gruppe einen Tetrahydrofuranring bilden. Wenn die Ringe A, B und C als die Hauptebene des Moleküls betrachtet werden, dann steht der Tetrahydrofuranring β-ständig nahezu senkrecht zu dieser Ebene; der Ring E ist α-ständig, vom Betrachter weg, angeordnet (die Konformationsformel ist die des 16-Desoxyprotoprimulagenin A). Die Saikosaponine aus der Wurzel von Bupleurum falcatum L. (Apiaceae [IIB25a]) enthalten im Ring D eine Doppelbindung. Die Ursolsäurederivate unterscheiden sich von denen der Oleanolsäure dadurch, dass anstelle der geminalen CH3-Gruppen an C-20 die Methylgruppen vicinal, als 19β-CH3 und als 20α-CH3, angeordnet sind. Cyclamiretin ist die Aglykonkomponente des Cyclamins, eines Saponins mit außerordentlich hoher Hämolysewirkung. Die an 3-OH angeheftete Zuckerkette ist verzweigt. Sie besteht aus Glucose (3 Mol), Xylose (1 Mol) und Arabinose (1 Mol)
darstellen, auf Kieselgelplatten vorzugsweise die Oberphase des Gemisches Essigsäure 99%–Wasser–1-Butanol (10:40:50) als Fließmittel. Saure Saponine lassen sich besser in basischen Fließmittelsystemen trennen. Beispiel: DC der Süßholzwurzel nach PhEur: konzentrierte Ammoniaklösung–Wasser–Ethanol 96%–Ethylacetat (1:9:25:65). Zum Sichtbarmachen der Zonen steht eine große Auswahl
an Sprühreagenzien zur Verfügung: oxidierend wirkende Mineralsäuren, Lewis-Säuren, aromatische Aldehyde zusammen mit oxidierend wirkenden Säuren u. a. m. PhEur und DAB bevorzugen das Anisaldehydreagens. Die Saponinzonen färben sich im Tageslicht blau, blauviolett, rot oder gelbbraun bzw. sind im UV 365 nm blau, violett oder grün luoreszierend.
945
946
24
Triterpene einschließlich Steroide
Gehaltsbestimmung. In den Pharmakopöen inden sich
unterschiedliche Methoden: z. B. kolorimetrische, spektrophotometrische und vermehrt auch HPLC-Verfahren. Die kolorimetrische Methode des DAB beruht auf der Farbreaktion mit Eisen(III)-chlorid-Essigsäure-Reagens (Rosskastaniensamen). Die Triterpene werden mit Methanol–Wasser aus der Droge extrahiert, durch Verteilen im System 0,1N Salzsäure-Propanol-Chloroform angereichert und der Rückstand der organischen Phase in Essigsäure 99% aufgenommen. Die Gehaltsbestimmung der Ginsenoside (Ginsengwurzel) und der Glycyrrhizinsäure (Süßholzwurzel) erfolgt in der PhEur 5 mit der HPLC. Eine Übersicht zur Chromatographie der Saponine (DC, GC, HPLC, LC-MS, LC-NMR) beindet sich bei Oleszek (2002).
24.6.4
Saponine als Hämolysegifte, hämolytischer Index, Strukturspezifität
Hämolyse Man versteht unter Hämolyse die Zerstörung der roten Blutkörperchen: Hämoglobin und die anderen Bestandteile der Erythrozyten ergießen sich aus dem Zellinneren in das umgebende Medium. Man unterscheidet verschiedene Arten der Hämolyse: x Mechanische Hämolyse. Sie erfolgt in physiologischer Weise im gesunden Organismus nach einer Lebensdauer von ca. 120 Tagen, bedingt durch die mechanische Beanspruchung des Zirkulierens in den Gefäßen. Artiiziell tritt mechanische Hämolyse immer dann auf, wenn Erythrozytenkonzentrat durch sehr feine Kanülen mit automatischen Pumpen transfundiert wird. Daraus resultieren bestimmte Risiken der Bluttransfusion und der Dialysatoren (künstliche Nieren). x Osmotische Hämolyse. Zum Verständnis dieses Phänomens muss man wissen, dass die Proteinkonzentrationen im Erythrozyten höher ist als im umgebenden Plasma, ferner, dass die osmotische Wirkung der höheren Proteinkonzentration durch eine niedrigere Konzentration von K+-Ionen kompensiert wird, und schließlich, dass die Erythrozytenmembran für Ionen durchlässig, für die hochmolekularen Proteine aber undurchlässig ist. Nach Ausgleich der extra- und intrazellulären Konzentrationsunterschiede der Ionen
wird der kolloidosmotische Druckgradient – der intrazelluläre höhere Proteingehalt bleibt bestehen – voll wirksam. Wasser strömt vermehrt in die Zelle, die zuvor bikonkaven Erythrozyten werden kugelförmig und platzen schließlich. Osmoseänderung kann auch in vivo zur Hämolyse führen. Beim Ertrinken in Süßwasser wird das Wasser rasch resorbiert, verdünnt das Plasma und verursacht intravaskuläre Hämolyse (Meerwasser ist deutlich hyperton, zieht Flüssigkeit aus dem Gefäßsystem heraus und vermindert das Plasmavolumen). Die Toxizität gegenüber Fischen und anderen Kiementieren beruht auf einem vergleichbaren Phänomen. Saponine bewirken eine Permeabilitätserhöhung des Kiemenepithels, wodurch lebensnotwendige Ionen in das umgebende Milieu gelangen. x Membranhämolyse. Sie tritt ein als Folge der Einwirkung stolicher Faktoren. Stofe, die die Erythrozytenmembran schädigen und hämolysierend wirken, bezeichnet man als Hämolysegite. Zu den Hämolysegiften gehören u. a. bestimmte bakterielle Enzyme (Lysine von „hämolysierenden“ Strepto- und Staphylokokken), Insekten- und Schlangengite, auch einige Pilzgite (z. B. die des Knollenblätterpilzes). Eine ganze Reihe chemischer Substanzen, darunter auch Arzneistofe (Sulfonamide, Chloramphenicol, Phenacetin, Penicilline, Cephalosporine u. a. m.), kann in vivo über unterschiedliche Mechanismen – immunologische und auch nichtimmunologische – eine Zerstörung von Erythrozyten hervorrufen. In vivo und in vitro hämolysierend wirksam sind oberlächenaktive Stofe, Seifen, synthetische Detergenzien und Saponine. Deren Wirkung beruht auf der Herabsetzung der Oberlächenspannung zwischen der wässrigen und der Lipidphase der Erythrozytenmembran. Die Lipide werden emulgiert und aus der Membran herausgehoben. Durch die Membranlücken strömen Na+-Ionen und Wassermoleküle in die Zelle hinein, K+-Ionen aus der Zelle heraus, so lange, bis die Membran platzt und Hämoglobin in das Plasma übertritt. In ähnlicher Weise können Lipidlösungsmittel wie Chloroform oder Ether durch Herauslösen von Lipidanteilen der Membran zu Lecks und damit zur Hämolyse führen. Es ist wahrscheinlich, dass Saponine auch Bestandteile der Erythrozytenmembran – v. a. Cholesterol, möglicherweise auch Protein – durch Komplexbildung herauslösen.
24.6 Saponine
. Tabelle 24.3 Qualitative Angaben zur hämolytischen Aktivität der verschiedenen Saponintypen Saponintyp
Bestimmung der hämolytischen Wirkung. Die In-vitro-
Hämolyse kann zur quantitativen Bestimmung von Saponinen als eine Art „Wertbestimmung, vielleicht besser biologische Standardisierung, ausgenutzt werden, die allerdings heute nur noch von wenigen Arzneibüchern vorgeschrieben wird (z. B. Helv, nicht aber PhEur oder DAB). Da vielerlei Faktoren den Hämolysevorgang beeinlussen, muss das Verfahren genormt werden; Tagesschwankungen werden ausgeschaltet durch Vergleich mit einer Standardsaponinlösung. Das Standardsaponin wird aus den Wurzeln von Gypsophila paniculata L. (Familie: Caryophyllaceae [IIB3a]) gewonnen; man teilt ihm per deinitionem eine hämolytische Wirkung von 30.000 zu. Die Hämolyseversuche werden in Reagenzgläsern mit frischem Rinderblut (deibriniert, 1:50 verdünnt) durchgeführt. Durch Reihenverdünnung wird die Grenzkonzentration bestimmt, die eben noch eine Totalhämolyse bewirkt. Die hämolytische Aktivität (H.I.) errechnet sich nach der Formel 30.000 u a/b. Dabei bedeutet a = die Menge an Standardsaponin in Gramm, b = die Menge an Droge in Gramm oder einer Zubereitung in Milliliter, die eine
Hämolytische Aktivität
Triterpensaponine Monodesmoside
x x x
Neutrale
Sehr stark
Saure
Sehr schwach
Acylglykoside
Sehr schwach
Bisdesmoside
x x
Neutrale
Sehr schwach
Saure
Mittel bis stark
Steroide Monodesmosid
Sehr stark
Bisdesmoside
Sehr schwach
Alkaloide
Stark
24
. Tabelle 24.4 Hämolytische Aktivität einiger Saponine (Wulff 1968; verändert). Messparameter: Hämolytischer Index (H.I.) bestimmt nach Helv V, bezogen auf Schweizer Standard-Saponin (H.I. = 25.000) bei einer Blutverdünnung von 1:200 Saponin
Saponintyp
Strukturformel
Vorkommen
Hämolytischer Index
Gypsosid A
Triterpen, bisdesmosidisch, sauer
–
Gypsophila-Arten
D-Hederin
Triterpen, monodesmosidisch, sauer (durch Aglykon)
> Abb. 24.25
Hedera helix (Blätter)
Primulasaponin (Gemisch)
Triterpen, monodesmosidisch, sauer (durch Zucker)
> Abb. 24.20
Primula elatior (Wurzel, Rhizom)
50.000
Aescin (Gemisch)
Triterpen, monodesmosidisch, Estersaponin (durch Aglykon)
> Abb. 24.27
Aesculus hippocastanum (Samen)
98.000
Glycyrrhizinsäure
Triterpen, monodesmosidisch, sauer (durch Zucker und Aglykon)
> Abb. 24.22
Glycyrrhiza-Arten (Wurzel)
Abb. 24.19
Cyclamen europaeum (Knollen)
Sarsaparillosid
Steroid, bisdesmosidisch, neutral
> Abb. 24.37
Smilax-Arten (Wurzel)
Abb. 24.36
Digitalis purpurea (Samen)
88.000
Tomatin
Steroidalkaloid, alkalisch
–
Lycopersicon esculentum (Tomatenpflanze: Blätter)
170.000
29.300 150.000
390.000
947
948
24
Triterpene einschließlich Steroide
vollständige Hämolyse hervorrufen (PhEur II 1974). Die Helv 10 bestimmt die hämolytische Wirksamkeit saponinhaltiger Arzneidrogen und Arzneizubereitungen in PhHelv-Einheiten. Dabei bedeutet 1 PhHelv-Einheit die hämolytische Wirksamkeit von 10 mg des Saponinstandards PhHelv. Strukturspezifität. Die Hämolysefähigkeit der Saponine
ist an das Aglykon gebunden und variiert stark in Abhängigkeit von der Struktur. Der Zuckeranteil hat nur einen verstärkenden oder auch abschwächenden Einluss. Erhebliche hämolytische Aktivität weisen die monodesmosidischen Steroid- und Triterpensaponine auf (Ausnahmen sind z. B. Acylglykoside und Glycyrrhizin). Keine oder nur geringe Wirksamkeit indet sich bei den bisdesmosidischen Furostanolsaponinen und bei den neutralen Triterpensaponinen ( > Tabellen 24.3 und 24.4). Durch die Anhetung einer 2. Zuckerkette am „anderen“ Molekülende gehen demnach die Saponineigenschaten bei den Bisdesmosiden weitgehend verloren. Estersaponine haben ot eine starke hämolytische Aktivität. Bei den Triterpensaponinen ist die hämolytische Aktivität auch dann stark herabgesetzt, wenn die Ringe D und E freie polare Gruppen tragen, wie z. B. eine Carboxylgruppe oder mehrere alkoholische Hydroxylgruppen. Es ist allerdings schwierig, allgemein gültige Regeln zur Strukturwirkung der Saponine bei der Hämolyse zu machen, da in einzelnen Fällen z. B. Bisdesmoside die stärkere hämolytische Aktivität aufweisen als Monodesmoside [vgl. Übersichten von Tschesche u. Wulf 1973; Hostettmann u. Marston 1995; Lacaille-Dubois u. Wagner (2000) und darin zitierte Literatur]. Der zeitliche Verlauf der Hämolyse ist unterschiedlich für Steroid- und Triterpensaponine. Bei den Ersteren ist er schnell, bei den Letzteren langsam, was auf strukturelle Unterschiede zurückgeführt wird. Die Steroidsaponine haben eine höhere Ainität für Cholesterol an den Erythrozytenmembranen als die Triterpensaponine, da die Strukturen der Steroide denjenigen des Cholesterols ähnlicher sind als diejenigen der Triterpene (Takechi u. Tanaka 1995).
24.6.5
Metabolismus, Pharmakokinetik und Toxikologie der Saponine
Metabolismus und Pharmakokinetik. Die Untersuchung
der Pharmakokinetik und des Metabolismus der Saponine ist bisher nur sehr lückenhat erfolgt. Insbesondere gibt
es wenig humanpharmakokinetische Studien und Untersuchungen über die Beziehung zwischen Struktur und Pharmakokinetik der Saponine. Die älteren Arbeiten wurden fast ausschließlich an Tieren (Ratte, Maus) durchgeführt. Dabei wurde festgestellt, dass nach der p.o.-Applikation die Saponinglykoside in der Regel bereits im Gastrointestinaltrakt chemischen bzw. enzymatischen Veränderungen unterliegen. Beispiele dazu bei Ginsenosiden, Saikosaponinen, Asiaticosid und Glycyrrhizinsäure sind Zuckerabspaltung durch Enzyme der intestinalen Mikroorganismen, Deacylierung, Oxidationsprozesse und Isomerisierung. Entgegen älteren Vorstellungen können Saponine nach p.o.-Zufuhr aus dem Magen-Darm-Trakt heraus absorbiert werden. Die Resorptionsquote ist allerdings in jedem Falle niedrig. Ginsengsaponine z. B. mit 3 Molekülen Zucker (Ginsenosid Rb1) werden aus dem Magen-Darm-Trakt der Ratte zu lediglich 0,1% resorbiert. Zuckerärmere Ginsenoside mit nur 2 Molekülen Zucker (Ginsenosid Rg1) werden etwas besser, und zwar mit einem Anteil von 1,9–20% der zugeführten Dosis (100 mg/kg KG) absorbiert. Daneben sind bei einzelnen Saponinen enterohepatische Kreisläufe beschrieben worden (z. B. Aescin, Asiatsäure), sodass sich möglicherweise aus diesem Grund keine hohen Blutspiegelwerte aubauen können. Bei einzelnen Verbindungen (Aescin, Ginsenosid Rb1 und Glycyrrhizinsäure) wurden Plasmaproteinbindungen beobachtet (vgl. Bader 1994 und darin zitierte Literatur). Im Falle von Aescin hängt die Bioverfügbarkeit beim Menschen von der gewählten galenischen Form der Produkte ab. Nach Gabe einer Retardform liegt sie bei 5%, nach Applikation in Lösung bei 15% (Oschmann et al. 1996). Absorption und Metabolismus sind nicht nur zwischen Mensch (falls Untersuchungen vorliegen) und Tier, sondern auch von Tierart zu Tierart unterschiedlich; auch sind sie stark vom individuellen Aubau der Saponine abhängig. Recht häuig ist auch die Interpretation der vorliegenden Daten schwierig, da zufriedenstellend interpretierbare pharmakokinetische Daten erst durch moderne analytische Methoden ermöglicht werden, wie an einigen Beispielen (vgl. in Kap. 24.6.8 die Abschnitte zu Süßholzwurzel, Rosskastaniensamen und Ginsengwurzel) aufgezeigt werden kann. Toxikologie. Wegen der schlechten Resorbierbarkeit der Saponine führen beim Menschen orale Gaben von Saponinen in Dosen, die bei intravenöser Zufuhr Intoxikationen hervorrufen würden, nicht zu akuten Vergitungserscheinungen. Wunden oder Entzündungen im Bereich des
24.6 Saponine
Rachens, des Magens oder des Darms bringen jedoch die Gefahr mit sich, dass größere Dosen als beim Gesunden in die Blutbahn gelangen. Von besonderem Interesse ist es, ob eine Langzeitzufuhr von Saponinen unbedenklich ist, einmal, weil Saponine enthaltende Arzneimittel (z. B. Ginsengpräparate) ot über lange Zeiträume genommen werden, sodann deshalb, weil Saponine in einigen unserer Lebensmittel enthalten sind, beispielsweise in Erdnüssen, in grünem Tee (0,04%) sowie in den Gemüsesortenn Spinat, rote Beete und Spargel. Bockshornkleesamen von Trigonella foenum-graecum L., die 0,1–0,2% Steroidsaponine enthalten, sind ein viel verwendetes Gewürz – regelmäßiger Bestandteil von Curry und anderen scharfen Gewürzmischungen. In Äthiopien und in Ägypten setzt man Bockshornkleesamen dem Brot zu. Die Samen der Reismelde, Chenopodium quinoa Willd., die in den Regionen über 3500 m in Chile und Peru das Hauptnahrungsmittel für Millionen Menschen bilden, enthalten Saponine; allerdings entfernen die Indios die Hauptmenge der bitter schmeckenden Saponine durch Auswaschen der Meldesamen in alkalischen Lösungen. Ferner werden in verschiedenen Ländern saponinhaltige Extrakte wegen ihrer Eigenschat, einen dauerhaten Schaum zu erzeugen, Limonaden und Bieren zugesetzt. Zu der Frage, ob kleine Saponinmengen bei lange dauernder Zufuhr Schädigungen hervorrufen, liegen somit seit Jahrhunderten durchgeführte Versuche vor, ohne dass je über schädigende Wirkungen berichtet wurde. Einschränkend muss allerdings hinzugefügt werden, dass eine chronische Gitwirkung durch bloße Empirie wesentlich schwieriger aufzudecken ist als eine akute Vergitung.
24.6.6
Wirkungen der Saponine
Neben den schon in den Kapiteln 24.6.1 und 24.6.4 aufgeführten allgemeinen Saponineigenschaten (Schaumbildung, hämolytische Aktivität, Bildung von Cholesterolkomplexen) liegt heute eine Fülle von Untersuchungsergebnissen zur biologischen Aktivität und Pharmakologie der Saponine vor ( > Tabelle 24.5 und dazu aufgeführte Literatur). herapeutische Relevanz haben davon insbesondere die expektorierend-sekretolytische, antiödematös-exsudative, entzündungshemmend-antiulzerogene Wirkung sowie die Wirkung als allgemeines Tonikum, die in erster Linie auf einer Stimulierung von Lernfähigkeit, Gedächtnis und motorischer Aktivität basiert. Daneben tragen verschiedene der in der Tabelle für einzelne Rein-
24
stofe oder Saponinfraktionen aufgeführten Wirkungen zu einem Gesamtarzneimittelbild bei, sind aber für den therapeutischen Einsatz kaum entscheidend. Recht häuig lässt sich damit aber z. B. eine in der Volksmedizin übliche Indikation begründen. Über die Bedeutung von Saponinen als Adjuvanzien zur Herstellung von Impfstofen und zur Förderung der Resorption von Peptiden und Aminoglykosidantibiotika ( >unter Quillajasaponine, S. 966). Expektorierende Wirkung. Expektoranzien (= auswurf-
fördernde Mittel) sollen das „Aushusten“ von Schleim oder Fremdstofen aus dem Bronchialsystem erleichtern. Dabei unterteilt man in die Sekretomotorika, die den Abtransport des Schleimes fördern – dazu zählt das Ephedrin (es stimuliert die Zilienbewegung) – und in die Sekretolytika, die den Schleim verlüssigen. Von den Saponinen wird postuliert, sie würden, wie Emetin, eine Sezernierung von Sekret durch die serösen Zellen der Bronchialschleimhaut relektorisch über den Parasympathikus, vom Magen aus, induzieren. Ein solcher Mechanismus impliziert, dass lokal irritierende Saponine in Dosen angewandt werden, die die sensiblen Nervenendigungen so stark erregen, dass tatsächlich das Vorstadium einer Nausea (= Nauseola) ausgelöst wird. Viele Fertigarzneimittel mit Saponindrogen dürten dafür zu schwach dosiert sein. Der Mechanismus für die expektorierende Wirkung ist bis heute nicht zweifelsfrei geklärt. D-Hederin soll ein indirekter E2-adrenerger Efekt zukommen (vgl. S. 965). Entzündungshemmende Wirkung. Eine größere Gruppe
von Saponinen (von etwa 50 Planzen) erwiesen sich im Carrageenan- oder Dextran-induzierten Rattenpfotenödemtest, im Crotonöl-induzierten Mäuseohrödemtest und/oder in anderen Testmodellen als entzündungshemmend. Für die antiphlogistische Wirkung scheinen eine verminderte Exsudation, eine direkte oder indirekte glucocorticoidartige Wirkung sowie die Hemmung der enzymatischen Bildung oder Freisetzung von Entzündungsmediatoren verantwortlich zu sein. Aus der Sicht der Phytotherapie können die wichtigeren Arzneidrogen/Saponine mit entzündungshemmenden Eigenschaten in die 2 Gruppen mit antiödematös/antiexsudativer und antiphlogistisch/antiulzerogener Wirkung eingeteilt werden ( > Tabelle 24.5). Die Saponine der ersten Gruppe haben die Fähigkeit, experimentelle Ödeme zu verhindern sowie auch bereits vorhandene Ödeme teilweise zu beseitigen. Diese ödem-
949
950
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Tabelle 24.5 Saponinwirkungen mit therapeutischer Relevanz und in der Literatur beschriebene Wirkungen der Saponine (vgl. Übersichten von Bader 1994; Hostettmann u. Marston 1995; Lacaille-Dubois u. Wagner 2000; Francis et al. 2002) Hauptwirkungen mit therapeutischer Relevanz
Beispiele von Arzneidrogen bzw. wirksamen Saponinen
Expektorierend/sekretolytisch
Efeublätter, Senegawurzel, Süßholzwurzel, Primelwurzel
Antiödematös/antiexsudativ
Rosskastaniensamen, Mäusedornwurzelstock, Aescin
Entzündungshemmend/antiulzerogen
Süßholzwurzel, Glycyrrhizinsäure, Ginsenoside, Saikosaponine
Stimulierung von Lernfähigkeit, Gedächtnis und motorischer Aktivität
Ginsengwurzel, Ginsenoside
Verschiedene Aktivitäten Antiviral
Beispiele von wirksamen Saponinen Glycyrrhizinsäure, Saikosaponine, Calendula-Saponine
Antibakteriell, antifungal
D-Hederin, Calendula-Saponine, Sapindoside
Zytotoxisch, antitumoral, chemopräventiv, antimutagen
Glycyrrhizinsäure, Saikosaponine, Ginsenoside, D-Hederin, Tubeimosid 1, Virgaureasaponin E
Immunmodulierend bzw. als Immunoadjuvans
Ginsenoside, Calendulosid B bzw. Quillajasaponine
Hepatoprotektiv, zytoprotektiv
Ginsenoside, Glycyrrhizinsäure
Antioxidativ, neuroprotektiv
Ginsenoside
Blutzuckersenkend
Ginsenoside, Aescin, Senegasaponine
Molluscizid, piscizid
Monodesmosidische Oleanolsäureglykoside
Blutplättchenaggregationshemmend
Ginsenoside
Wirkung auf Herz- und Kreislauf
Ginsenoside
Süßwirkung
Glycyrrhizinsäure
Weiter nachgewiesene Aktivitäten sind: sedativ, analgetisch, antipyretisch, spermizid und empfängnisverhütend, anthelmintisch, insektizid, insektenwachstumshemmend, diuretisch, cholesterol- und triglyceridsenkend, Wirkung auf das endokrine System, Hemmung der Ethanolresorption, Hemmung bzw. Verstärkung der Süßempfindung, antipsychotisch.
protektiven Eigenschaten beanspruchen Interesse, weil sie dazu herangezogen werden, die Verwendung bestimmter Saponine in Venenmitteln pharmakologisch zu begründen. Substanzen mit antiexsudativen und ödemprotektiven Eigenschaten bilden eine Untergruppe der entzündungshemmenden Stofe, indem sie die Initialstadien der Entzündung beeinlussen. Die Wirkungsweise wird heute in erster Linie damit erklärt, dass sie in vitro eine Hemmwirkung auf die lysosomalen Enzyme Elastase und Hyaluronidase ausüben, was zu einer verminderten Gefäßpermeabilität führt. Hyaluronidase ist für den Abbau der Hyaluronsäure (= Hauptsubstanz des die Gefäße umgebenden Bindegewebes) verantwortlich, und Elastase (eine Endopeptidase) für die hydrolytische Spaltung verschiedener Substanzen der extrazellulären Matrix (Elastin, Kollagen, Proteoglykane) sowie auch von Proteinen, die an den Endothelzellmembranen haten (u. a. Fibronectin;
Facino et al. 1995). Daneben spielt wahrscheinlich auch der Einluss auf Enzyme des Prostaglandinmetabolismus eine nicht unwesentliche Rolle. Hier spielt vermutlich wie bei den Flavonoiden ( > Abb. 26.62) die Regulierung des Gleichgewichts zwischen hromboxan A2 (TXA2) und Prostacyclin, das für die hrombozyten-Gefäßwand-Interaktion in Richtung einer Hemmung der hrombozytenaggregation von Bedeutung ist, eine Rolle. Die entzündungshemmende Wirkung der 2. Gruppe basiert auf einer Freisetzung des adrenocorticotropen Hormons (ACTH) und der damit verbundenen verstärkten Ausschüttung und Biosynthese von Glucocorticoiden in der Nebennierenrinde (z. B. durch Saikosaponine) bzw. einer Hemmung von Enzymen, die für den Cortisolabbau in der Leber verantwortlich sind (durch Glycyrrhizinsäure). Beides stellen indirekte glucocorticoide Wirkungen dar ( > dazu auch Kap. 24.6.8, Abschnitt Süßholzwurzel).
24.6 Saponine
Von geringerer Bedeutung ist eine direkte Ainität zu Glucocorticoidrezeptoren, die für Saikosaponine und Ginsenoside nachgewiesen wurde. Diese Saponine hemmen auch die Freisetzung von Entzündungsmediatoren des Prostaglandinzyklus (z. B. TXA2). Die in der Literatur erwähnte „resorptionsfördernde Wirkung“ der Saponine, die schon sehr früh an verschiedenen Arzneistofen wie z. B. Cantharidin, Strophanthin, Curarealkaloiden, Magnesiumsulfat und Ferrosalzen, in Gegenwart von Saponingemischen gezeigt werden konnte, ist bis heute nicht eingehend studiert. Es handelt sich aber wohl kaum um eine echte Änderung der physiologischen Resorptionsvorgänge. Wahrscheinlich spielen zwei Efekte eine Rolle: die Änderung der Bioverfügbarkeit, indem die Teilchengröße von in Wasser schwer löslichen Arzneistofen verkleinert wird, und der schleimhautirritierende Efekt, wodurch die Difusion von Substanzen in die Blutbahn erleichtert wird. Ob Saponine als Begleitstoffe in Ganzdrogenzubereitungen zur Resorption von Stoffen führen, die, in reiner Form appliziert, nicht oder kaum resorbierbar sind, über diese für die Anwendung von Extrakten in der Phytotherapie so wichtige Frage, liegen keine systematischen Untersuchungen vor. Postuliert wird eine „Resorptionsverbesserung“ u. a. für Flavone, Phytosterole und Kieselsäure. Die bedeutendste Entwicklung der letzten Dekade ist die Erkenntnis, dass Saponine in einer Reihe neu entwickelter Bioassays mit Enzymen oder Zellen insbesondere bei Tumoren, Entzündungen und Leberkrankheiten Wirkungen zeigen. Für diese und weitere Aktivitäten von Saponinen wird auf die > Tabelle 24.5 und die zitierte Literatur verwiesen. Auf einzelne Wirkungen, die in der
24
Tabelle aufgeführt sind, wird näher im Kapitel 24.6.8, Abschnitte Süßholzwurzel, Seifenrinde, Quillaja-Saponine und Ginsengwurzel eingegangen. Bisher sind nur in wenigen Fällen auch die der Wirkung zugrunde liegenden Mechanismen auf molekularer Ebene untersucht worden. Interessant ist die Tatsache, dass Saponine mit einer oder mehrerer Acylgruppen im Molekül die stärksten Wirkungen zeigen.
! Kernaussagen
Saponine sind glykosidische Pflanzeninhaltsstoffe mit einem Steroid- bzw. Triterpengrundgerüst, die aufgrund ihres amphiphilen Charakters Oberflächenaktivität aufweisen, in Wasser gelöst beim Schütteln einen haltbaren Schaum geben, mit Cholesterol Komplexe eingehen und eine hämolytische Aktivität aufweisen. Die Zucker sind in 1–3 Ketten über eine Hydroxylgruppe des Sapogenins oder esterglykosidisch an die OH-Gruppe eines Carboxyls verknüpft. Die Hämolysefähigkeit ist an das Aglykon gebunden und variiert stark in Abhängigkeit von der Struktur. Wegen der geringen Resorption der Saponine führen beim Menschen orale Gaben nicht zu akuten Vergiftungserscheinungen. Pharmakokinetik und Metabolismus der Saponine sind bisher nur sehr lückenhaft untersucht. Neben den typischen Saponineigenschaften ist heute eine ganze Reihe von Saponinwirkungen bekannt. Therapeutische Relevanz haben davon insbesondere die expektorierend-sekretolytische, antiödematösexsudative, entzündungshemmend-antiulzerogene Wirkung sowie die Wirkung als allgemeines Tonikum.
Schlüsselbegriffe Analytik von Saponindrogen Bisdesmoside Hämolyse Hämolytischer Index (H.I.) Metabolismus
24.6.7
Monodesmoside Pharmakokinetik Steroidsaponine Strukturspezifität Toxikologie
Arzneidrogen mit Saponinen
In den Arzneibüchern sowie verschiedenen anderen Monographiesammlungen existiert eine große Anzahl von Arzneidrogen mit Saponinen als Hauptinhaltsstofen. In der Mehrzahl davon kommen Triterpensaponine vor. Die wichtigeren Saponindrogen sind in > Tabelle 24.6 aufgelistet.
Triterpensaponine Wirkungen (entzündungshemmend, expektorierend, indirekt glucocorticoid, resorptionsfördernd)
24.6.8
Triterpensaponine
Triterpensaponine sind bei den zweikeimblättrigen Planzen (Rosopsida = Eudicotyledoneae) weit verbreitet, insbesondere aber in Arten der folgenden Planzenfamilien: Araliaceae, Caryophyllaceae, Polygalaceae, Primulaceae, Sapindaceae, Sapotaceae. Saponine können in höherer
951
952
Arzneidroge/Reinstoff Bruchkraut (DAC 2003)
Stammpflanze (Familie)
Saponintyp (Aglykone)/ Verwendung
Seite
Herniaria glabra L. (Caryophyllaceae)
Triterpensaponine (Medicagensäure, Gypsogensäure, 16-Hydroxymedicagensäure)
–
Hedera helix L. (Araliaceae)
Triterpensaponine (Hederagenin, Oleanolsäure)
964
Panax ginseng C. A. MEYER (Araliaceae)
Triterpensaponine (Protopanaxadiol und -triol, Oleanolsäure)
970
Goldrutenkraut (PhEur 5, korrigiert 5.2, revidiert 5.3; zwei verschiedene Monographien)
Solidago virgaurea L. bzw. S. gigantea AIT. und S. canadensis L. (Asteraceae)
Triterpensaponine (Polygalasäure, Bayogenin)
1234
Mäusedornwurzelstock (PhEur 5)
Ruscus aculeatus L. (Convallariaceae)
Steroidsaponine (Neoruscogenin, Ruscogenin)
986
Primelwurzel (PhEur 5)
Primula veris L. oder P. elatior (L.) HILL (Primulaceae)
Triterpensaponine (Protoprimulagenin A, Priverogenin B, Priverogenin-B-22-acetat, Anagalligenin A)
953
Ringelblumenblüten (PhEur 5)
Calendula officinalis L. (Asteraceae)
Triterpensaponine (Oleanolsäure)
940
Rosskastaniensamen (DAB 1999)
Aesculus hippocastanum L. (Sapindaceae)
Triterpensaponine (Protoaescigenin, Barringtogenol C)
967
Sarsaparillwurzel
Smilax-Spezies (Smilacaceae)
Steroidsaponine (Sarsapogenin, Smilagenin)
982
Seifenrinde (Helv 10, DAC 2005)
Quillaja saponaria MOL. (Rosaceae)
Triterpensaponine (Quillajasäure)
966
Seifenwurzel, rote
Saponaria officinalis L. (Caryophyllaceae)
Triterpensaponine (Quillajasäure, Gypsogenin)
–
Senegawurzel (PhEur 5)
Polygala senega L. (Polygalaceae)
Triterpensaponine (Presenegenin)
953
Süßholzwurzel (PhEur 5)
Glycyrrhiza glabra L. (Fabaceae)
Triterpensaponine (Glycyrrhetinsäure u. a.)
956
Wassernabelkraut, asiatisches (PhEur 5)
Centella asiatica (L.) URBAN (Apiaceae)
Triterpensaponine (Asiatsäure, 6-Hydroxyasiatsäure, Madasiatsäure, Terminolsäure, Centellsapogenol A)
961
Wollblume (PhEur 5)
Verbascum thapsus L., V. densiflorum BERTOL. und V. phlomoides L. (Scrophulariaceae)
Triterpensaponine (Verbascogenin; 13E,28-Epoxyoleanen)
830
Aescin (DAC 2003)
Aesculus hippocastanum L. (Sapindaceae)
Venenmittel
967
Asiaticosid
Centella asiatica (L.) URBAN (Apiaceae)
Wundheilmittel
961
Digitonin
Digitalis purpurea L. (Plantaginaceae)
Reagens
982
Diosgenin
Dioscorea-Spezies (Dioscoreaceae)
Grundstoff für Semisynthesen von Steroiden
982
Gypsophila-Saponine
Gypsophila-Spezies (Caryophyllaceae)
Standardsaponin zur Bestimmung der hämolytischen Aktivität
–
Quillaja-Saponine
Quillaja saponaria MOL. (Rosaceae)
Adjuvans
966
Triterpene einschließlich Steroide
Efeublätter (PhEur 5.1) Ginsengwurzel (PhEur 5.1)
24
. Tabelle 24.6 Arzneidrogen mit Saponinen sowie Reinstoffe/Reinstoffgemische und ihre Verwendung
24.6 Saponine
Konzentration in allen Organen autreten, vorzugsweise in Wurzeln, Rinden und Samen. Bei der Ginsengwurzel sind die Saponine in eigenen Exkretgängen lokalisiert; doch ist dies eine Ausnahme von der Regel, da ansonsten Idioblasten, in denen Saponine abgelagert würden, fehlen, ein Hinweis vielleicht darauf, dass Saponine eine physiologische Funktion zu erfüllen haben. Man vermutet, diese Funktion könne in einer Schutzwirkung planzenpathogenen Mikroorganismen, insbesondere Pilzen, gegenüber bestehen. Antibiotisch bzw. fungizid wirksam sind allerdings lediglich die monodesmosidischen Saponine. Die unwirksamen Bisdesmoside würden folglich die Transportform darstellen: Bei Infektion der Planze können sie rasch an die betrofene Gewebspartie herangeführt werden und dann auch schnell enzymatisch in die antibiotisch sehr wirksamen monodesmosidischen Saponine übergehen. Andererseits haben Mikroorganismen, z. B. die Pilze, Strategien gegen die Saponine entwickelt, u. a. in der Zusammensetzung ihrer Membranen (ein hoher Sterolgehalt erhöht die Resistenz) sowie saponinabbauende Enzyme (Hydrolasen) (vgl. Übersicht von Osbourn 1996).
24
Inhaltsstoffe
x Triterpensaponine (3–10%) mit unterschiedlichem Aglykonteil, je nachdem ob Primula-veris-Wurzel oder Primula-elatior-Wurzel vorliegt ( > Abb. 24.20); x Phenolglykoside (Primverosid, Primulaverosid), die bei der Trocknung durch enzymatischen Abbau zu den charakteristischen, an Methylsalicylat erinnernden Geruchsstofen der Droge führen können; x Methoxylierte Flavone (3c,4c,5c-Trimethoxylavon in P. veris) Zucker und Zuckeralkohole. Analytische Kennzeichnung. Fingerprint-DC (PhEur)
auf Saponine [Fließmittel: obere Phase einer Mischung von Essigsäure 99%–Wasser–1-Butanol (10:40:50); Referenzsubstanz: Aescin; Nachweis: UV bei 365 nm und Anisaldehydreagens]. Im ultravioletten Licht bei 365 nm dürfen keine hellblau oder grünlich luoreszierenden Zonen sichtbar sein (Beimengungen von Vincetoxicum-hirundinaria-Wurzeln). Die Saponine erscheinen im Tageslicht nach Besprühen mit Anisaldehydreagens als verschieden gefärbte Zonen. Verwendung. Als Teedroge, zur Herstellung von Extrak-
Primelwurzel
ten und Tinkturen (Primulae radicis tinctura DAC 2005), die als Bestandteil von Fertigarzneimitteln Verwendung inden.
Herkunft. Primelwurzel (Primulae radix PhEur 5) be-
steht aus dem getrockneten Wurzelstock mit den Wurzeln von Primula veris L. oder Primula elatior (L.) Hill (Familie: Primulaceae [IIB20b]). Beide Primula-Arten sind ausdauernde Planzen mit länglich eiförmigen, runzeligen Blättern in Rosetten. Die Blüten sitzen, als Dolde angeordnet, auf einem etwa 10–20 (30) cm hohen Stiel, der Kelch ist glockenförmig aufgeblasen, fünkantig, hellgrün. Die Blumenkrone ist wenig länger als der Kelch, radförmig mit 5 Zipfeln; im radförmigen Teil bei P. veris (Frühlingsschlüsselblume) tief goldgelb mit orangefarbenen Flecken am Schlundrand (Blüte wohlriechend), bei P. elatior (Waldschlüsselblume) gleichmäßig schwefelgelb (Blüte geruchlos). Beide Arten sind in ganz Europa und Asien, mit Ausnahme des hohen Nordens, verbreitet.
Wirkungen, Anwendungsgebiete. Sekretolytisch, expek-
Sensorische Eigenschaften. Primula-elatior-Wurzel ist
Herkunft. Senegawurzel (Polygalae radix PhEur 5) besteht aus der getrockneten und meist zerkleinerten Wurzel sowie dem Wurzelkopf von Polygala senega L. (Familie: Polygalaceae [IIB9b]), aus bestimmten anderen Arten oder aus einer Mischung verschiedener Arten der Gat-
entweder geruchlos oder sie riecht schwach nach Methylsalicylat; Primula-veris-Wurzel riecht schwach anisartig. Geschmack: stark kratzend. Das Drogenpulver reizt beim Verstäuben stark zum Niesen.
torierend. Bei Katarrhen der Lutwege (Kommission E). Gemäß ESCOP sind die Indikationen: Husten mit Auswurf, Katarrh der Lutwege, chronische Bronchitis. Zur expektorierenden Wirkung > Kap. 24.6.6. Für dieselben Indikationen werden auch Schlüsselblumenblüten (Primulae los cum calyce DAC 2005) verwendet, die allerdings nur wenig Saponine, dafür bis 3% Flavonoide enthalten. Nebenwirkungen. Magenbeschwerden und Übelkeit
können vereinzelt vorkommen.
Senegawurzel
953
954
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.20
28
O
H 1→2
β-D-Gal
1→3
β-D-Glu 2 ↑ 1
β-D-Glc
1→
O H3C
R2
•
CH3
CH3
α-L-Rha
CH3
H3C
R1 16
CH3
OH
H CH3
Primulasaponin (R1 = R2 = H) Priverosaponin B (R1 = OH, R2 = H) Priverosaponin B 22-acetat (R1 = OAc, R2 = H) Primacrosaponin (R1 = OH, R2 = OH)
Hauptsaponin der Primula-elatior-Wurzel ist das Primulasaponin, dessen Aglykon Protoprimulagenin A an Glucuronsäure (Glu) gebunden ist. Somit liegt ein durch Uronsäure saures, monodesmosidisches Triterpensaponin vor. Die aus 4 Zuckern bestehende Kohlenhydratkette ist verzweigt. Nebensaponine unterscheiden sich in der Zuckerkette. Neben Primulasaponin kommen in Primula-veris-Wurzel Priverosaponin B, Priverosaponin B 22-acetat und Primacrosaponin mit derselben Zuckerkette, aber unterschiedlichen Aglykonen (Priverogenin B, Priverogenin-B-22-acetat und Anagalligenin A) vor (Calis et al. 1992). Aus einem kommerziell erhältlichen Primula-Wurzelextrakt (Herkunft: P. veris oder P. elatior) konnte kürzlich als zweites Hauptsaponin ein Primulasaponinderivat mit einer zusätzlichen Xylose (gebunden über die 4-OH-Gruppe der Glucose) isoliert werden (Siems et al. 1998)
tung Polygala. Bei P. senega handelt es sich um ein kleines, 20–30 cm hohes, ausdauerndes Kraut, das aus einem ganz kurzen Wurzelschopf mehrere Stängel treibt; die Blätter sind lanzettlich; die Blüten, die in ihrer Form etwas an Schmetterlingsblüten erinnern, sind weiß gefärbt. Beheimatet ist die Art in den Prärien und Wäldern Nordamerikas. Die Droge wird aus den nördlichen USA und Kanada importiert; die in Asien heimischen und in Japan verwendeten und kultivierten Arten P. tenuifolia Willd. und P. senega L. var. latifolia Torr. et Gray können medizinisch-pharmazeutisch als gleichwertig angesehen werden.
x x x x
nega werden als Senegine ( > Abb. 24.21), diejenigen von P. tenuifolia als Onjisaponine und die Glykoside von P. senega var. latifolia als Senegasaponine a–c (neben den Seneginen II–IV) bezeichnet; Phenolglykoside: Senegosen A–O (P. senega var. latifolia) bzw. Tenuifoliosen A–Q (P. tenuifolia); Xanthone und Xanthonglykoside (u. a. verschiedene O- und C-glykosidierte Polygalaxanthone; Jiang et al. 2005a und darin zitierte Literatur; P. tenuifolia); Mono- und Oligosaccharide; 5% fettes Öl mit Ölsäure als Hauptbestandteil (den leicht ranzigen Geruch einer überlagerten Droge bedingend).
Sensorische Eigenschaften. Geruch: schwach aroma-
tisch (an Salicylsäuremethylester erinnernd), nach längerer Lagerung auch leicht ranzig. Geschmack: zunächst süßlich, später unangenehm, kratzend. Bei längerem Kauen den Speichelluss anregend (sialagoger Efekt). Der Staub der pulverisierten Droge wirkt niesenerregend.
Hinweis. In der frischen Planze kommt Primverosid vor,
Inhaltsstoffe
Analytische Kennzeichnung. Fingerprint-DC (PhEur)
x 6–12% Triterpensaponine, die Presenegenin ( > Abb. 24.18) als Aglykon enthalten. Die Saponine von P. se-
aus dem sich beim Trocknen durch die Einwirkung einer planzeneigenen Glucosidase Methylsalicylat bildet, das der nicht überlagerten Droge einen schwachen aromatischen Geruch verleiht.
der Saponine [Fließmittel: obere Phase einer Mischung von Essigsäure 99%–Wasser–1-Butanol (10:40:50); Refe-
24
24.6 Saponine
. Abb. 24.21
H3C
CH3
H
H β-D-Glc
1→
O H3C
28
CH3
CH3
HO
C CH2OH
O
←1
β-D-Fuc
2←1
α-L-Rha
4←1
β-D-Xyl
4←1
β-D-Gal
4
O
O CO
H COOH Presenegenin
OCH3 OCH3
Senegin II α-L-Rha *
α-L-Rha
Rest wie Senegin II
←1
1 ↓ 3
β-D-Fuc
2←1
1 ↓ 3
α-L-Rha
4←1
β-D-Xyl
4←1
β-D-Gal
4
O CO Senegin IV * Senegin III (= Derhamnosylsenegin IV)
OCH3
Hauptglykosid der Wurzel von Polygala senega ist das Senegin II, ein bisdesmosidisches Estersaponin. Das Aglykon Presenegenin ist mit der 3-OH-Gruppe an ein β-D-Glucosemolekül und mit dem 28-Carboxyl esterartig an ein lineares Tetrasaccharid gebunden. Die 4-OH-Gruppe des Fucosylrestes ist mit 3,4-Dimethoxyzimtsäure verestert. Die Senegine III (= Onjisaponin B) und IV enthalten einen verzweigten Penta- bzw. Hexasaccharidrest. Sie sind, abweichend vom Senegin II, im Fucoseteil nicht mit Dimethoxy-, sondern mit 4-Methoxyzimtsäure verestert. Die Onjisaponine (von P. tenuifolia) und die Senegasaponine (von P. senega var. latifolia) unterscheiden sich nur geringfügig im Zuckeranteil bzw. in der Substitution des Zimtsäurerests. Bei den Seneginen II–IV sowie den Senegasaponinen a–c kommen die Zimtsäurereste in der E- und Z-Form vor (Yoshikawa et al. 1995; 1996a)
955
956
24
Triterpene einschließlich Steroide
renzsubstanz: Aescin; Nachweis: Anisaldehydreagens]. Die Saponine erscheinen im Tageslicht als rote Banden, die sich bei der Nachbehandlung mit Molybdatophosphorsäure blau färben. Verwendung. Als Teedroge (fein geschnittene oder grob
pulverisierte Droge) und zur Herstellung von Sirup (z. B. Polygalae sirupus Helv 10) und Trockenextrakt (z. B. Polygalae extractum siccum normatum Helv 10). Viele Herstellungsverfahren für Senegaextrakte (auch diejenigen der Helv 10) schreiben einen Zusatz von Ammoniak vor, ofenbar, um die Bildung von Niederschlägen zu verhindern. Als Estersaponine dürten die Senegawirkstofe unter diesen Bedingungen kaum stabil sein, falls der pH-Wert nicht genau überprüt wird. Wirkungen und Anwendungsgebiete. Sekretolytisch, expektorierend. Bei Katarrhen der oberen Lutwege (Kommission E). Gemäß ESCOP sind die Indikationen: Husten mit Auswurf, Katarrh der Lutwege, chronische Bronchitis. Zur expektorierenden Wirkung > Kap. 24.6.6. Anmerkung. In der Kampo-Medizin in Japan sowie in der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) werden die Wurzeln von P. tenuifolia u. a. wegen ihrer neuroprotektiven Wirkung zur Vorbeugung von Demenz verwendet. Neue Untersuchungen ergaben, dass der Wurzelextrakt von P. tenuifolia in vitro die Sekretion von E-Amyloid (vgl. dazu Infobox „Demenz“ und Text Wirkungsmechanismen; S. 1226 und 1228) hemmt (Jia et al. 2004 und darin zitierte Literatur). Nebenwirkungen. Magen- und Darmreizung bei längerer
Anwendung.
Süßholzwurzel Herkunft. Süßholzwurzel (Liquiritiae radix PhEur 5, revi-
diert 5.5) besteht aus den getrockneten, ungeschälten oder geschälten Wurzeln und Ausläufern von Glycyrrhiza glabra L. und/oder G. inlata Batalin und/oder G. uralensis Fisch. (Familie: Fabaceae [IIB9a]). Die Droge stammt heute vorwiegend aus Kulturen. Stammpflanzen. G. glabra, die bisher von der PhEur al-
lein zugelassene Stammplanze der Süßholzwurzel, ist eine mehrjährige, 1–1,5 m hohe, holzige Staude mit einem aus-
gedehnten Wurzelsystem, das aus Pfahlwurzeln, Nebenwurzeln und zahlreichen, meterlangen Ausläufern besteht. Die Laubblätter sind unpaarig geiedert mit deutlich iedernervigen, kurz stachelspitzen Blättchen in 4–8 Paaren. Aus den Blattachseln entspringen die aufrechten, 10–15 cm langen Blütentrauben mit 20–30 Einzelblüten, die (je nach Varietät) unterschiedlich gefärbt sein können (blaulila, violett, weißrosa). Die Planze liebt sandige Böden und indet sich auf Ödland, in ausgetrockneten Flusstälern und Überschwemmungsgebieten. G. glabra ist im Mittelmeergebiet sowie in Teilen Russlands und Kleinasiens heimisch. Sie hat den Charakter einer Sammelart, die taxonomisch in mehrere Unterarten und Varietäten gegliedert wird. Dazu sowie bezüglich der verschiedenen geographischen Herkünte machen die Arzneibücher allerdings keine Vorschriten. Der Handel unterscheidet: x Spanisches Süßholz stammt von G. glabra var. typica Reg. et Herd. x Russisches Süßholz stammt von G. glabra var. glandulifera Waldst. et Kit. bzw. von G. uralensis Fisch. x Chinesisches Süßholz stammt von G. glabra und daneben insbesondere von G. inlata Batalin und G. uralensis (beide seit dem Nachtrag 5.5 der PhEur als Stammplanzen zugelassen). x Türkisches Süßholz ist in seinen geschmacklichen Qualitäten dem besten spanischen Süßholz ebenbürtig. Es stammt überwiegend von G. glabra var. glandulifera. Sensorische Eigenschaften. Geruch: schwach, aber cha-
rakteristisch mit einer schwer zu beschreibenden Geruchsnote. Geschmack: aufallend süß, mit leicht bitterem Nebengeschmack, ot auch etwas kratzend (in der PhEur nicht aufgeführt). Inhaltsstoffe. Anmerkung: Die Süßholzwurzel gehört zu den am intensivsten untersuchten Drogen mit dem Ergebnis, dass ca. 400 Inhaltsstofe beschrieben sind. Die Bedeutung vieler Untersuchungen ist schwer einzuordnen. Etliche dieser isolierten Stofe sind wahrscheinlich Artefakte, die bei der Aufarbeitung entstehen; in anderen Fällen ist die botanische Herkunt nicht gesichert, sodass nicht abzuschätzen ist, ob die betrefende Substanz in allen Sorten autritt; und schließlich fehlen sehr ot Konzentrationsangaben, sodass es sich um bloße Spurenstofe handeln könnte. Im Folgenden sind nur mengenmäßig relevante Inhaltsstofe berücksichtigt. Auf die Unterschiede des In-
24
24.6 Saponine
. Abb. 24.22
HOOC
H
O CH3
11
H RO H3C
HOOC
CH3
Glycyrrhizinsäure R =
18
1''
O
OH 2'
HO HO
CH3
CH3
O
HO HO
1'
O
HOOC O
CH3 Carbenoxolon R =
H CH3
HO O
OR HO
O
HO
O Liquiritigenin (R = H) Liquiritin (R = β-D-Glucose)
OH
OR
O Isoliquiritigenin (R = H) Isoliquiritin (R = β-D-Glucose)
Charakteristischer Inhaltsstoff der Süßholzwurzel ist Glycyrrhizinsäure (GZ), die 170-mal stärker süß schmeckt als Rohrzucker (Mizutani et al. 1998) und eine dreibasische Säure darstellt, wobei zwei Carboxyle auf die beiden Glucuronsäuremoleküle (Glu) entfallen. Beide Glucuronsäuremoleküle liegen in der β-D-Form vor. Glycyrrhizinsäure zeigt kaum ausgeprägte Saponineigenschaften und besitzt praktisch keine hämolytische Aktivität. In der Pflanze liegt Glycyrrhizinsäure als Kalium- und Calciumsalz vor. Bei saurem pH fällt freie Glycyrrhizinsäure aus, der Hauptgrund dafür, warum bei der Extraktherstellung durch NH3-Zusatz die nötige Basizität aufrechterhalten werden muss. Die stärkste Süßwirkung besitzt 3-Monoglucuronylglycyrrhizinsäure (941-mal süßer als Rohrzucker). Das Aglykon Glycyrrhetinsäure (GA) weist keinen süßen Geschmack mehr auf; andere Eigenschaften, wie antimikrobielle, mineralcorticoide und antiphlogistische Wirkung bleiben erhalten. Carbenoxolon, der Halbester der Bernsteinsäure mit GA, ist ein partialsynthetisches Produkt, das in Form des Dinatriumsalzes vorliegt. Seit Protonenpumpenhemmer und H2-Rezeptorantagonisten zur Ulcustherapie zur Verfügung stehen ( > unter Risiken bei der Anwendung), hat die Substanz ihre medizinische Bedeutung weitgehend verloren. Im Carbenoxolon liegt wahrscheinlich ein Gemisch von 18α- und 18β-GA vor, in dem das β-Isomere überwiegt. Das Chalconderivat Isoliquiritigenin ist hauptverantwortlich für die spasmolytische Wirkung von Succus liquiritiae
haltsstofspektrums der von der PhEur zugelassenen drei Arten wird nicht eingegangen. x Triterpensaponine [2–15%; PhEur = mindestens 4,0% Glycyrrhizinsäure (GZ)], besonders Kalium- und Calciumsalze der Glycyrrhizinsäure (Glycyrrhizin) mit Glycyrrhetinsäure (GA) als Aglykon ( > Abb. 24.22); daneben kommen Saponine mit anderen Aglykonen vor; x Flavonoide (1–2%), darunter das gelb gefärbte Isoliquiritin und das isomere Liquiritin ( > Abb. 24.22; > auch Kap. 26.5.3) sowie prenylierte Flavonoide und Isolavonoide, u. a. Glabren, Glabridin, Licoricidin;
x saure Polysaccharide (Glycyrrhizan GA, Polysaccharide GP I und II); ferner
x Sterole, Cumarine, lüchtige Aromastofe, mineralische Bestandteile, Zucker und Stärke. Analytische Kennzeichnung Identitätsprüfung. DC-Nachweis (PhEur) von GA und
Isoliquiritigenin nach Hydrolyse mit verdünnter Salzsäure [Fließmittel: konzentrierte Ammoniaklösung–Wasser–Ethanol 96%–Ethylacetat (1:9:25:65); Referenzsubstanzen: GA, hymol; Nachweis UV 254 nm und Anisaldehydreagens]. Die GA wird durch Fluoreszenzminde-
957
958
24
Triterpene einschließlich Steroide
rung im UV 254 nm nachgewiesen. Sie erscheint nach Besprühen mit Anisaldehydreagens im Tageslicht als violette Zone, Isoliquiritigenin als gelbe Zone.
und eingedickt. Nach Formgebung (durch Gießen oder maschinelles Pressen) zu Stangen, Bändern oder Figuren wird nachgetrocknet.
Gehaltsbestimmung. Der GZ-Gehalt wird in der PhEur mit der HPLC unter Verwendung von octadecylsilyliertem Kieselgel (5 µm) als Säulenmaterial, Essigsäure 99%–Acetonitril–Wasser (6:30:64) als Fließmittel und Monoammoniumglycyrrhizinat CRS als Referenzsubstanz bestimmt.
Metabolismus, Bioverfügbarkeit. Studien über den Me-
Verwendung
x Als Teedroge – allein oder in industriell hergestellten Mischungen – zur Herstellung eines Infuses;
x zur Herstellung von Süßholzextrakten. Es lassen sich unterscheiden: Süßholztrockenextrakte [Liquiritiae extractum siccum normatum (DAC 2005); 5–7% GZ], dicklüssige Süßholzextrakte (= Succus Liquiritiae) und Fluidextrakte. Der Süßholzwurzelluidextrakt der PhEur 5 (Liquiritiae extractum luidum ethanolicum normatum), herstellbar durch ein geeignetes Verfahren mit Ethanol 70%, ist normiert und enthält mindestens 3,0 und höchstens 5,0% GZ (HPLC). Trockenextrakte stellt man heute bevorzugt mittels Sprühtrocknung her; x zur Herstellung von Lakritze. Bei traditioneller Herstellung wird das Erntegut zerkleinert und mit Wasser zu einem feinen, faserigen Brei zerrieben, der dann viele Stunden lang ausgekocht wird. Nach dem Kolieren und Absitzenlassen wird der Auszug in lachen Schalen über kleinem Feuer eingedickt. Heute erfolgt das Eindampfen in entsprechenden Verdampfern unter vermindertem Druck. Den noch warmen, zählüssigen Extrakt gießt man in Formen, wo er erstarrt (Succus liquiritiae in Blockform). Zur Herstellung der Stangenform (Lakritzen) wird die halbfeste Masse maschinell durch Düsen verschiedener Größe gepresst und in Stücke geschnitten. Über Feuer eingedickter Succus hat gegenüber den durch Vakuumeinengung gewonnenen Präparaten einen geringeren Gehalt an GZ (10–15% gegenüber 20–25%); auch ist der Anteil der glykosidisch gebundenen Flavonoide vermindert. Vakuumpräparate haben zudem eine hellere Farbe. Lakritzwaren bestehen nur zum geringen Teil aus Lakritze oder Süßholzextrakt (5–ca. 50%; in der BRD mit einem Höchstgehalt an GZ von 0,2 g/100 g Lakritz). Zur Herstellung wird Mehl verkleistert und mit Zucker, Stärkesirup, Gelatine und eingedicktem Süßholzsat vermischt
tabolismus von GZ bei Mensch und Tier ergaben unterschiedliche Resultate. Nach oraler Verabreichung wird GZ beim Menschen durch die intestinale Flora, direkt oder via Glycyrrhetinsäuremonoglucuronid, zu GA abgebaut und in Form von GA resorbiert. Nach p.o.-Applikation von GZ an die Ratte wird GZ zum Teil resorbiert, allerdings ist die Bioverfügbarkeit niedriger als diejenige von GA ( > Okamura et al. 2003 und darin zitierte Literatur). In Japan werden GZ-enthaltende Präparate entweder i.v. in Form von Injektionen oder p.o. in Form von Tabletten (herapie chronischer Hepatitis) verwendet. Zur Verbesserung der Bioverfügbarkeit werden neben der parenteralen Verabreichung neue Anwendungsformen vorgeschlagen, z. B. die nasale oder rektale Verabreichung sowie die Zugabe von resorptionsfördernden Stofen (z. B. Fettsäuren) zu Tabletten (Sasaki et al. 2003). Wirkungen und Anwendungsgebiete. Für Süßholzex-
trakte sowie für einzelne Inhaltsstofe sind im Laufe der Zeit in verschiedenen In-vitro- und In-vivo-Testmodellen eine ganze Palette von Wirkungen nachgewiesen worden, u. a. sekretolytische, expektorierende, antiulzerogene, antiphlogistische, spasmolytische, antimikrobielle, antivirale und antioxidative Wirkungen. Aus der Sicht der Phytotherapie sind insbesondere die folgenden Wirkungen hervorzuheben: sekretolytisch/ expektorierend, antiulzerogen/antiphlogistisch, antiviral und spasmolytisch. Darauf basiert mindestens teilweise die Anwendung als Expektorans bei Husten und Bronchialkatarrh und als Adjuvans zur herapie von Magen- und Duodenalgeschwüren sowie von Gastritis (ESCOP). Weitere Anwendungen von Süßholz und Süßholzextrakten sind der Einsatz als Geschmackskorrigenzien für Arzneimittel sowie in der Süßwarenindustrie. Als Wirkstofe für die sekretolytisch/expektorierende, antiphlogistisch/antiulzerogene und antivirale Wirkung gelten sowohl GZ als auch GA, während für die spasmolytische Aktivität die Flavonoide im Vordergrund stehen: x Sekretolytisch/expektorierende Wirkung: Der Wirkungsmechanismus der sekretolytisch/expektorierenden und insbesondere der sekretomotorischen Wirkung ist wissenschatlich nicht belegt. Er dürte aber auf der Oberlächenaktivität der Saponine beruhen.
24.6 Saponine
x Antiulzerogene Wirkung: Die antiulzerogene Wirkung wird in erster Linie mit der antiphlogistischen Wirkung der GZ und GA erklärt. Nachweisbar sind eine Verminderung der Pepsinaktivität, eine Erhöhung der Viskosität des Magenschleimes sowie eine Verlängerung der Lebensdauer der Epithelzellen der Magenschleimhaut. Neben einer Hemmung von 5-Lipoxygenase, Radikalbildung und Lipidperoxidation steht hauptsächlich die Hemmung von Enzymen im Vordergrund, die den Steroidstofwechsel beeinlussen. Die Hauptwirkung beruht darauf, dass GZ und GA die Inaktivierung von Nebennierenrindenhormonen in der Leber hemmen. Damit wird eine indirekte Corticoidwirkung entfaltet ( > Abb. 24.23). Inwieweit die antiulzerogene Wirkung mit der wachstumshemmenden Wirkung gegenüber Helicobacter pylori (Fukai et al. 2002) zusammenhängt, muss durch weitere experimentelle Untersuchungen abgeklärt werden. x Antivirale Wirkung: In neuerer Zeit steht insbesondere die antivirale Wirkung der GZ im Vordergrund des Interesses. GZ hemmt in vitro das Wachstum einer Reihe von DNA- und RNA-Viren, wie z. B. das HIV-1-, Hepatitis-C- (HCV), Herpes-simplex-Typ-1- (HSV-1-) und das Epstein-Barr-Virus (EBV), ferner Flaviviren (Gelb- und Dengue-Fieber, Hirnhautentzündung) und Coronaviren (SARS-CoV = „SARS-associated coronavirus“). GZ erwies sich von fünf getesteten Substanzen (neben GZ = Ribavirin, 6-Aza-Uridin, Pyrazofurin, Mycophenolsäure) als diejenige mit der größten Wirksamkeit gegen die Vermehrung des SARS-CoV. GZ verminderte dabei nicht nur die Virusreplikation, sondern auch die Adsorption des Virus an und die Penetration in die Wirtszelle. Am wirksamsten war GZ, wenn die Substanz sowohl während wie auch nach der Adsorptionsphase an die Wirtszelle verabreicht wurde. Als Wirkungsmechanismus wird die Hemmung bzw. die Induktion von Botenstofen des Zellstofwechsels postuliert (Cinatl et al. 2003 und darin zitierte Literatur). Neben HSV-1 ist GZ in der Lage, die latente Infektion beim Kaposi-Sarkom assoziierten Herpesvirus (KSHV) zu beenden. GZ reduziert dabei die Synthese eines viralen Latenzproteins, was schlussendlich zur Apoptose der inizierten Zellen führt. Ob GZ oder GZ-Derivate zur Behandlung von Krankheiten eingesetzt werden können, die durch latente Virusinfektionen verursacht werden, ist im Augenblick nicht absehbar (vgl. Curreli et al. 2005). Das-
24
selbe gilt für Derivate von GZ, z. B. GZ-Glykopeptide, die die Aktivität gegen SARS-CoV stark erhöhen (Hoever et al. 2005). Bisher wurde GZ an Patienten mit HIV-1 und chronischen HCV-Infektionen verabreicht. x Spasmolytische Wirkung: Die spasmolytische Wirkung wird durch die Aglykone der Flavonoide, insbesondere durch das Isoliquiritigenin, verursacht. Zu weiteren Wirkungen (z. B. östrogene, antihepatotoxische, antiproliferative (vgl. dazu Infobox „Tumorhemmendes Potential von Planzenstofen“; S. 979), zytoprotektive, immunstimulierende) von Süßholzextrakten bzw. einzelner Inhaltsstofe sowie den dazu postulierten Wirkungsmechanismen liegen Dutzende von neuen Arbeiten vor, auf die hier nicht näher eingetreten werden kann. Risiken bei der Anwendung. Unerwünschte Wirkungen
sind in erster Linie bei Missbrauch zu befürchten. Bei längerer Anwendung und höherer Dosierung können mineralocorticoide Wirkungen autreten (vgl. > Abb. 24.23). Die gesteigerte Wasserretention führt zu einer vermehrten Wassereinlagerung mit Schwellungen im Bereich von Gesicht und Fußgelenken, nicht selten auch zu Bluthochdruck mit dem Warnsymptom Kopfschmerzen. Die gesteigerte Kaliumausscheidung bewirkt eine Hypokaliämie mit Folgeerscheinungen wie Müdigkeit und Muskelschwäche. Die Anwendung von Süßholz und Süßholzpräparaten darf nicht langfristig und unkontrolliert erfolgen. Da die indirekte Corticoidwirkung bei längerer Einnahme ausgeprägt eintritt, muss die herapiedauer auf 4–6 Wochen eingeschränkt werden. Zur Behandlung peptischer Ulzera sollten heute Protonenpumpenhemmer (H/K-ATPase-Blocker) und H2-Rezeptorantagonisten eingesetzt werden. Bei cholestatischen Lebererkrankungen, Leberzirrhose, Hypertonie, Hypokaliämie, schwerer Niereninsufizienz und während der Schwangerschat muss gänzlich von einer Anwendung abgesehen werden (Kommission E). Sowohl Carbenoxolon (Kommission B5) als auch GZ (Kommission B6) wurden von den entsprechenden Aufbereitungskommissionen negativ beurteilt. Wechselwirkungen. Bei gleichzeitiger Einnahme von
Saluretika oder von Digitalisglykosiden wird durch Kaliumverluste die Wirkung dieser Medikamente verstärkt.
959
960
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.23
CH2OH
CH2OH CH3
HO 11
CH3
C
O OH
H
H
CH3
5α- und 5βReduktase H
5
HO
O Cortisol
CH3
HO
Wirkung: Hemmung der Biotransformation von Cortisol
C
O OH
H H
H
H
5β (+ 5α)-Tetrahydrocortisol
11β-HydroxycorticosteroidDehydrogenase
CH2OH CH3
O CH3
C
O
Konjugation mit Glucuronsäure Ausscheidung zu 99% mit Urin
OH
H H
H
O Cortison
Glycyrrhizinsäure (GZ) und Glycyrrhetinsäure (GA) erzeugen bei längerer Einnahme von Süßholzpräparaten einen Pseudoaldosteronismus. Die dabei auftretende Natriumretention wird durch Veränderung des Cortisolmetabolismus erzeugt. Die Substanzen hemmen die Aktivität der 11β-Hydroxycorticosteroid-Dehydrogenase, die für den Abbau von Cortisol zu Cortison verantwortlich ist. Daneben werden weitere Enzyme wie die 5α-/5β-Reduktasen sowie die 3α-/3β-Hydroxysteroid-Dehydrogenasen gehemmt, was eine verzögerte Ausscheidung von Aldosteron und Cortisol zur Folge hat. Durch die Hemmung dieser Enzyme resultiert ein hoher Cortisolspiegel. Dieser erzeugt Natriumretention durch Bindung an den Typ 1 der renalen Mineralcorticoidrezeptoren und damit verbunden die bekannten Mineralcorticoideffekte (vgl. z. B. Kageyama et al. 1992 sowie Übersicht von Størmer et al. 1993). Unklarheiten existieren immer noch bezüglich der eigentlichen Wirkstruktur. Nach älteren Angaben ist GA wirksamer als GZ und wirkt insbesondere in der β-Form. Neuere Angaben tendieren dahin, dass 18α- und 18β-GA eine unterschiedliche Hemmwirkung auf einzelne Enzyme aufweisen (z. B. Akao et al. 1992) bzw. dass weder GZ noch GA, sondern 3-Monoglucuronylglycyrrhizinsäure für die Erzeugung des Pseudoaldosteronismus hauptverantwortlich ist (Kato et al. 1995)
24.6 Saponine
! Kernaussagen
Süßholzpräparate werden als Expektorans und als Adjuvans zur Therapie von Magen- und Duodenalgeschwüren sowie von Gastritis verwendet. Als wirksamkeitsbestimmende Inhaltsstoffe für die sekretolytisch/ expektorierende sowie die antiphlogistisch/antiulzerogene Wirkung gelten Glycyrrhizinsäure (GZ) und Glycyrrhetinsäure (GA), für die spasmolytische insbesondere das Chalconderivat Isoliquiritigenin. GZ und GA erzeugen bei längerer Einnahme von Süßholzpräparaten aufgrund einer indirekten Corticoidwirkung einen Pseudoaldosteronismus, weshalb die Therapiedauer auf 4–6 Wochen eingeschränkt werden muss. Zur Behandlung peptischer Ulzera sollte daher heute der Verabreichung von Anticholinergika und H2-Antagonisten der Vorzug gegeben werden. GZ gilt dank einer ausgeprägten antiviralen Wirkung als Virustatikum. Aufgrund seiner starken Süßwirkung werden Süßholz und Süßholzextrakte als Geschmackskorrigenzien für Arzneimittel sowie in der Süßwarenindustrie verwendet.
24
dischen Teilen von Centella asiatica (L.) Urban (Familie: Apiaceae [IIB25a]). C. asiatica (syn. Hydrocotyle asiatica L.) ist eine in tropischen Teilen Asiens (besonders Indiens, Indonesiens und Südchinas) sowie auf Madagaskar heimische Planze. Sie wächst an sumpigen Stellen und an Bachläufen. Das immergrüne, kriechende Kaut hat einen auf dem Boden liegenden Stängel, der an den Knoten wurzelt und lang gestielte, nierenförmige Blätter sowie eine gestielte Blütendolde mit kleinen, hellvioletten Doldenblüten aufweist. Centella-asiatica-Kraut wurde auf Madagaskar zur Behandlung lepröser Wunden verwendet; in Indien außerdem gegen Syphilis. Man verwendete den frischen Planzensat innerlich und äußerlich. Asiaticosid wurde 1942 von J. Bontemps in reiner Form isoliert; die Konstitutionsauklärung gelang ebenfalls einer französischen Arbeitsgruppe um J. Polonsky (1951–1959). Sensorische Eigenschaften. Wassernabelkraut hat einen
scharfen, würzigen Geschmack. Inhaltsstoffe
x Triterpensaponine sowie freie Triterpensäuren [1 bis Asiatisches Wassernabelkraut Herkunft. Asiatisches Wassernabelkraut (Centellae asiati-
cae herba PhEur 5) besteht aus den getrockneten, oberir-
8% (vgl. Übersicht von Brinkhaus et al. 2000); PhEur = mind. 6,0% Gesamt-Triterpenderivate, berechnet als Asiaticosid; > Abb. 24.24]; x Flavonoide [verschiedene Quercetin- (z. B. Petuletin) und Kämpferolderivate (z. B. Kämpferol-3-O-E-dglucuronid)];
Wassernabelkraut enthält als therapeutisch wichtige Inhaltsstoffe pentacyclische Triterpensaponine. Bei den Haupt7 inhaltsstoffen Asiaticosid bzw. Madecassosid ist ein Trisaccharid esterartig mit der Säuregruppe eines Triterpens vom Ursantyp (Asiatsäure bzw. 6-Hydroxyasiatsäure) verknüpft. Je nach Herkunft der Pflanzen existieren verschiedene chemische Rassen, bei denen der Gehalt und die Zusammensetzung der Triterpene stark variieren kann (vgl. Übersicht von Brinkhaus et al. 2000). Neu beschriebene Esterglykoside aus in Sri Lanka und Vietnam kultivierten Pflanzen sind die Centellasponine A, B, C und D sowie Scheffoleosid A (Matsuda et al. 2001a, 2001b). Die Asiaticoside C–F und Scheffursosid B konnten kürzlich aus in China gesammelten Pflanzen isoliert und in der Struktur aufgeklärt werden (Jiang et al. 2005b). Scheffeolosid A und Scheffursosid B wurden erstmals aus Schefflera octophylla (LOUR.) HARMS (Araliaceae [IIB25b]) von Maeda et al. (1994) isoliert. 6-Hydroxyasiatsäurearabinosid ist das erste Triterpenglykosid von C. asiatica, bei dem der Zucker (Arabinose) über das Hydroxyl an C-3 glykosidisch verknüpft ist (Shukla et al. 2000). Betulinsäure ( > Abb. 24.16), ein Triterpen vom Lupantyp, ist bisher nur in Form der freien Säure isoliert worden. Da die Trennung und Reindarstellung der Esterglykoside aus C. asiatica früher schwierig war, finden sich in der älteren chemischen Literatur viele überflüssige Namen und widersprüchliche Angaben (vgl. dazu auch Hegnauer 1973). So müssen z. B. das Vorkommen und die Strukturen von Brahmosid, Brahminosid, Thankunisid und Isothankunisid überprüft werden. Der Name Asiaticosid A sollte gestrichen werden, da Madecassosid für diese Struktur Priorität hat. Anmerkung: Die Aglykone ohne Trivialnamen von Scheffoleosid A, Scheffursosid B, Centellasponin D, Asiaticosid C, D und F sind in der Abbildung nicht aufgeführt (vgl. dazu Maeda et al. 1994; Matsuda et al. 2001b; Jiang et al. 2005b)
961
962
24 . Abb. 24.24
Triterpene einschließlich Steroide
24.6 Saponine
x ätherisches Öl (0,1% mit Mono- und Sesquiterpenkohlenwasserstofen; Hauptkomponenten sind E-Caryophyllen, trans-E-Farnesen, Germacren D); x Stigmasterol, Sitosterol, 2,5-Dihydroxybenzoesäure, verschiedene Aminosäuren, wenig D-Tocopherol.
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. Fingerprint-DC der Triterpende-
rivate (PhEur) [Fließmittel: Essigsäure–Ameisensäure– Wasser–Ethylacetat (11:11:27:100), Referenzsubstanz: Asiaticosid; Nachweis: Anisaldehyd-Reagens]. Nach dem Besprühen mit dem Reagens erscheinen die Zonen für die beiden Saponine Asiaticosid und Madecassosid im Tageslicht grünlichblau bzw. violett und diejenigen für die freien Triterpensäuren Asiatsäure und Madecasssäure hellblau bzw. rosaviolett gefärbt. Gehaltsbestimmung. Quantitative HPLC-Bestimmung
(PhEur) von Asiaticosid unter Verwendung von octadecylsilyliertem Kieselgel (5 µm) als Säulenmaterial, einem Gemisch aus Acetonitril und 0,25% Phosphorsäure als mobile Phase, und Asiaticosid als Referenzsubstanz. Verwendung. Zur Herstellung von alkoholischen und
wässrigen, meistens Triterpen angereicherten Extrakten (TTF), die zu Phytopharmaka in Form von Kapseln, Tabletten, Tropfen, Salben und Puder, insbesondere für die Indikationen Wundheilung und chronische venöse Insufizienz [vgl. Infobox „Chronische venöse Insuizienz (CVI)“; S. 969], verarbeitet werden. Metabolismus und Pharmakokinetik. Eine Studie zum
Metabolismus und zur Pharmakokinetik einer angereicherten Triterpenfraktion von C. asiatica nach p.oVerabreichung an den Menschen ergab, dass Asiaticosid in Asiatsäure umgewandelt wird (Grimaldi et al. 1990). Eindeutig interpretierbare Resultate zur Pharmakokinetik sind erst nach einer noch ausstehenden Untersuchung der Reinstofe Asiaticosid und Madecassosid zu erwarten. Wirkungen und Wirkungsmechanismen. Für Extrakte
von C. asiatica sind insbesondere antiulzeröse (ulkusprotektive), antimikrobielle, wundheilungsfördernde und antiphlogistische Wirkungen nachgewiesen worden. Als Wirkstofe gelten die Triterpene (Esterglykoside und freie Säuren; vgl. Übersicht von Brinkhaus et al. 2000). Als mögliche Mechanismen der Wirkung von Asiaticosid
24
(0,2%, topische Anwendung) bei der Wundheilung, werden u. a. die Anregung der Kollagenbiosynthese, die Erhöhung der antioxidativen Kapazität des Gewebes, die Stimulierung der Angiogenese durch Anregung von Wachstumsfaktoren sowie die Hemmung der Expression und Aktivität von iNOS diskutiert (Guo et al. 2004 und darin zitierte Literatur). Die Behandlung von Psoriasis wird einer antiproliferativen Wirkung von Asiaticosid und Madecassosid (vergleichbar mit Dithranol) zugeschrieben (Sampson et al. 2001). In einer kürzlich durchgeführten Arbeit wurde die Veränderung der Expression von 1053 Humangenen an menschlichen Fibroblasten (Zellkultur) mit der Gen-Microarray-Technologie und der „real-time reverse transcription polymerase chain reaction“ (Real-time-RT-PCR) unter Verwendung einer deinierten Triterpenfraktion [„tritrated extract“ von C. asiatica (TECA = 40% Asiaticosid, 30% Asiatsäure, 30% Madecasssäure)] sowie den Reinstoffen Asiaticosid, Asiatsäure, Madecassosid und Madecasssäure untersucht. Die Behandlung mit TECA beeinlusste Gene verschiedener Wachstumsfaktoren sowie solche, die an der Angiogenese und der Modulation der extrazellulären Matrix beteiligt sind. Von den 1053 analysierten Genen wurden 7,8% (82) durch TECA moduliert, am stärksten TNFAIP6 (= Tumor-Nekose-Faktor-Alpha-induziertes Protein 6). TNFAIP6 spielt eine zentrale Rolle bei der Modulation der extrazellulären Matrix und im Entzündungsgeschehen (antiinlammatorische Eigenschaten). Die Resultate ergaben, dass die reine Asiatsäure und etwas weniger die Madecasssäure die stärkste Genmodulation erzeugten und dass die Veränderungen der Genexpression die klinischen und biochemischen Daten zur Anwendung von Centalla-asiatica-Triterpenen bei CVI, Mikroangiopathie und Ödemen unterstützen (Coldren et al. 2003). Anwendungsgebiete. Klinik: p.o. zur Behandlung der CVI, topisch zur Beschleunigung der Wundheilung, bei Verbrennungen, Ekzemen, Geschwüren sowie bei Psoriasis. Die bisher durchgeführten klinischen Studien sind mit Extrakten bzw. TTF-Präparaten durchgeführt worden, insbesondere bei Patienten mit CVI. Die Dosierung lag zwischen 30 und 60 mg/Tag. Neben Plazebo wurde als Vergleichspräparat Venoruton (Hydroxyethylrutinpräparat) eingesetzt. Zur Beurteilung des Behandlungserfolgs wurden plethysmographische Messungen sowie Messungen des Knöchelumfangs, des vaskulären Tonus, des Ve-
963
964
24
Triterpene einschließlich Steroide
nendrucks, der Kapillarpermeabilität und der Mikrozirkulation verwendet. In den meisten Fällen waren die Studienergebnisse signiikant besser als mit Plazebo. Die Studien sind allerdings nicht miteinander vergleichbar, da sie mit unterschiedlich hergestellten und zusammengesetzten, ot nichtstandardisierten Präparaten erfolgt sind. Neue, GCP-konforme Studien sind erforderlich, bevor die therapeutische Anwendung bei CVI vertreten werden kann. Untersuchungen zur besseren Wundheilung wurden mit dem Präparat Madecassol durchgeführt. Es handelt sich dabei um einen Extrakt aus C. asiatica mit 40% Asiaticosid, 29–30% Asiat-, 29–30% Madecasssäure und 1% Madasiatsäure. Die wundheilungsfördernde Wirkung wird dem Asiaticosid bzw. dem Triterpengemisch zugeschrieben. Die Substanzen sollen über die Regulation der Fibroblastenaktivität direkt in den Vernarbungsprozess eingreifen und regulierend auf die Bildung neuen Bindegewebes einwirken (vgl. Übersicht von Brinkhaus et al. 2000). Unerwünschte Wirkungen. Vereinzelt sind Magenbeschwerden und Übelkeit, nach topischer Anwendung seltene Fälle von Kontaktdermatitis beobachtet worden.
! Kernaussagen
Asiatisches Wassernabelkraut enthält als wirksamkeitsbestimmende Inhaltsstoffe Triterpensaponine sowie freie Triterpensäuren. Die Anwendung geschieht in Form von Triterpen angereicherten Extrakten entweder p.o. zur Behandlung der chronischen venösen Insuffizienz oder topisch zur Beschleunigung der Wundheilung. Die Triterpene wirken ulkusprotektiv, wundheilungsfördernd und antiphlogistisch, wobei der Asiatsäure die stärkste Wirkung zugeschrieben wird.
Efeublätter Herkunft. Efeublätter (Hederae folium PhEur 5.1) beste-
hen aus den im Frühling geernteten, getrockneten Blättern von Hedera helix L. (Familie: Araliaceae [IIB25b]). Der Efeu ist eine in Europa heimische, bis 20 m hoch werdende und mit Hatwurzeln kletternde immergrüne Holzplanze. Die Laubblätter der Planze sind verschieden gestaltet: die unteren, jugendlichen, dunkelgrünen, ledrigen Blätter sind
gelappt; die oberen, länglich-eiförmigen, hellgrünen, an blühenden Zweigen sitzenden Blätter, sind ganzrandig. Sensorische Eigenschaften. Die Droge weist einen schwachen, eigenartigen Geruch auf; sie schmeckt bitter und etwas kratzend. Inhaltsstoffe
x Triterpensaponine [4–5%); vorwiegend bisdesmosidische Glykoside mit Hederagenin und Oleanolsäure als Aglykone ( > Abb. 24.25); PhEur = mindestens 3,0% Hederacosid C]. Aus Frischmaterial hergestellte Auszüge enthalten im Wesentlichen Hederacosid C, daneben kommen in kleinen Mengen Hederacosid B, die Hedera-Saponine D–I sowie Monodesmoside [u. a. D-Hederin (vgl. Legende zu > Abb. 24.25)] vor; x Flavonoidglykoside mit Rutin, Kämpferol-3-O-rhamnoglucosid, Isoquercitrin, Astragalin; daneben die Aglykone Quercetin und Kämpferol; x Phenolcarbonsäuren (Chlorogen-, Neochlorogen-, 4,5- und 3,5-o-Dicafeoylchinasäure, Rosmarin-, Kaffee- und Protocatechusäure); ferner x Polyacetylene (Falcarinon, Falcarinol), ätherisches Öl mit hauptsächlich Mono- und Sesquiterpenen, Sterole und Cumarine. Analytische Kennzeichnung Identitätsprüfung. DC-Nachweis (PhEur) von Hederaco-
sid C und D-Hederin [Fließmittel: wasserfreie Ameisensäure–Methanol–Aceton–Ethylacetat (4:20:20:30); Referenzsubstanzen: Hederacosid C und D-Hederin; Nachweis: ethanolische Schwefelsäure]. Hederacosid C erscheint nach dem Besprühen im Tageslicht als violette, D-Hederin als sehr schwache violette Zone.
Gehaltsbestimmung. Quantitative HPLC-Bestimmung (PhEur) von Hederacosid C unter Verwendung von octadecylsilyliertem Kieselgel (5 µm) als Säulenmaterial, einem Gradienten bestehend aus Acetonitril–Wasser (140:880; eingestellt mit Phosphorsäure auf einen pH von 2,0) sowie Phosphorsäure–Acetonitril (2:998) als mobile Phase und Hederacosid C als Referenzsubstanz. Verwendung. Zur Herstellung insbesondere eines Efeu-
blättertrockenextrakts (Prospan£, 30% Ethanol, DEV 5–7,5:1), der in Form von Hustensat, Tropfen, Tabletten und Suppositorien Anwendung indet.
24.6 Saponine
. Abb. 24.25
H3C
24
CH3
H CH3
CH3 H α-L-Rha 1→2 α-L-Ara 1→ O
C CH3
OR2
O
H R1
H3C
Oleanolsäure (R1 = CH3) Hederagenin (R1 = CH2OH) α-Hederin: R1 = CH2OH, R2 = H β-Hederin: R1 = CH3, R2 = H Hederacosid C: R1 = CH2OH, R2 = Hederacosid B: R1 = CH3, R2 =
←1
β-D-Glc 6←1 β-D-Glc 4←1 α-L-Rha
←1
β-D-Glc 6←1 β-D-Glc 4←1 α-L-Rha
Die genuinen Saponine des Efeublatts gehören zu den Bisdesmosiden. Die Glykosidesterbindung an C-28 ist relativ locker; bereits beim Trocknungsvorgang sowie bei der Aufarbeitung von frischen Efeublättern kann die Kette abgespalten werden: Es entstehen die sauren Monodesmoside α- und β-Hederin. Lässt man z. B. bei der Aufarbeitung frische Efeublätter im zerkleinerten Zustand über Nacht im Wasser stehen, findet man kein Hederacosid C mehr, sondern nur noch α-Hederin (Wagner u. Reger 1986). In geringen Mengen ist neben weiteren Hederasaponinen Hederacosid B vorhanden, das beim enzymatischen Abbau β-Hederin liefert
Wirkungen. Efeublätterextrakt wirkt expektorierend und
leicht spasmolytisch. Daraus hergestellte Fertigarzneimittel sollten in erster Linie die genuinen bisdesmosidischen Triterpensaponine enthalten. Neue In-vitro-Untersuchungen ergaben, dass dem Monodesmosid D-Hederin ein indirekter E2-adrenerger Efekt zukommt, wodurch sich gemäß Runkel et al. (2005) die in klinischen Studien nachgewiesene sekretolytische und bronchospasmolytische Wirkung des Extrakts plausibel erklären lässt. Folge der Stimulation der E2-adrenergen Rezeptoren ist eine vermehrte Bildung von Surfactant in den Alveolarepithelzellen (sekretolytischer Efekt) sowie eine Reduktion des intrazellulären Ca2+-Spiegels in den Bronchialmuskelzellen (bronchospasmolytischer Efekt). Über den Gehalt an D-Hederin in den Handelspräparaten existieren keine wissenschatlichen Mitteilungen. Er sollte allerdings aus toxikologischen Gründen ( > unten) nur gering sein. Die Forderung der PhEur nach einem Mindestgehalt von 3,0% Hederacosid C ist sinnvoll, obwohl die Substanz selbst keinen Einluss auf die regulatorischen Prozesse der
E2-adrenergen Rezeptoren hat. Hederacosid kann als Prodrug aufgefasst werden, da es in vivo durch Esterasen in D-Hederin umgewandelt wird (Übersicht von Runkel et al. 2005). Biopharmazeutische Untersuchungen zu den Efeutriterpenen am Menschen liegen bisher nur in Form einer Pilotstudie (Schmidt 2003) vor. Erst detaillierte pharmakokinetische Studien werden mehr Klarheit über die Bioverfügbarkeit der Saponine und den postulierten Wirkungsmechanismus ergeben. Natives Hederacosid C und das Folgeglykosid D-Hederin unterscheiden sich in ihren Eigenschaten außerordentlich: D-Hederin ist wesentlich toxischer sowie wesentlich stärker hämolytisch wirkend (H.I. = 150.000, vgl. > Tabelle 24.4); es weist (im Tierexperiment) ferner antiexsudative (ödemausschwemmende) Eigenschaten auf, die dem Hederacosid C völlig fehlen; es wirkt ferner schleimhautreizend und ist zytotoxisch. Die Aglykone der Hedera-Saponine erwiesen sich in vitro als potente Inhibitoren der lysosomalen Enzyme Elastase und Hyaluronidase (Facino et al. 1995) [vgl. dazu auch Abschnitt Ross-
965
966
24
Triterpene einschließlich Steroide
kastaniensamen und Aescin (S. 967) und Abschnitt Mäusedornwurzelstock (S. 986)]. Anwendungsgebiete. Efeublätterextrakte werden bei
Katarrhen der oberen Lutwege sowie symptomatischer Behandlung chronisch-entzündlicher Bronchialerkrankungen angewendet (Kommission E). Gemäß ESCOP sind die Indikationen Husten mit übermäßig starker Sekretion von viskösem Schleim; Adjuvans zur Behandlung entzündlicher Bronchialerkrankungen. Efeuextrakte und Hederine enthaltende Präparate eignen sich aufgrund der antiödematösen Wirkung zur äußerlichen Anwendung, z. B. zur Behandlung von Cellulitis. Es wird postuliert, dass im Falle der topischen Anwendung von Extraktpräparaten auch die Saponinglykoside auf der Haut zur Wirkung kommen, da die Aglykone durch Hydrolasen in der Zellmembran freigesetzt werden (Facino et al. 1995). Eine Besprechung der mit Efeuextraktpräparaten (insbesondere mit Prospan£) durchgeführten kontrollierten klinischen Studien (versus Ambroxol als Standard bzw. plazebokontrolliert) indet sich bei Schulz u. Hänsel 2004. Gemäß einer dieser Studien ist der Efeublätterextrakt in seiner Wirksamkeit dem synthetischen Mukolytikum Ambroxol ebenbürtig. Unerwünschte Wirkungen. Allergische Kontaktdermati-
tis ist insbesondere bei intensivem Kontakt mit Efeuplanzen beobachtet worden. Die Sensibilisierungspotenz ist mittelstark. Hauptallergen ist das Falcarinol.
Seifenrinde, Quillaja-Saponine Herkunft, Eigenschaften. Ausgangsmaterial zur Herstel-
lung der Quillaja-Saponine ist die Quillaja-, Panama- oder Seifenrinde (Quillaiae cortex Helv 10, Quillajae cortex DAC 2005), die 9–10% Saponine enthält. Die QuillajaRinde besteht aus der getrockneten, von Kork und Außenrinde weitgehend befreiten Rinde von Stämmen und Ästen von Quillaja saponaria Mol. (Familie: Rosaceae [IIB11a]), das sind immergrüne, stattliche, in Chile, Peru und Bolivien heimische Bäume. Die Quillaja-Saponine ( > Abb. 24.26) stellen ein weißes, stark zum Niesen reizendes Pulver von anfangs süßem, dann bitterem Geschmack dar. Sie bilden mit Wasser noch in großer Verdünnung sehr stabile Schäume.
Wirkungen, Anwendungsgebiete. Die Seifenrinde wird nur noch selten als Expektorans verwendet. Heute werden vorwiegend Quillaja-Saponine dank ihrem starken Schäumungsvermögen u. a. als Suspensionsstabilisator verwendet, z. B. bei der Herstellung der Steinkohlenteerlösung (Tinctura oder Liquor carbonis detergens) bzw. in der kosmetischen Industrie als Zusatz zu Haarwässern und Shampoos, um das Nachfetten der Haare zu verzögern. Die Quillaja-Saponine haben eine Bedeutung als Adjuvanzien zur Herstellung von Impfstofen und zur Förderung der Resorption von Peptiden und Aminoglykosidantibiotika erlangt. Quillaja-Saponine wie QS-21 verstärken, Impfstofen in geringen Mengen zugesetzt, deren Immunogenität. Insbesondere bei der Entwicklung eines erfolgreichen Impfstofes gegen das HIV-1-Virus ist ein wirksamer Hilfsstof, der die humorale und zellvermittelte Immunantwort induziert, erforderlich. Für die Erzeugung einer Immunantwort sind die intakten genuinen Saponine erforderlich. Deacylierte Verbindungen wie die Saponine DS-1 und DS-2 (vgl. > Abb. 24.26) zeigen diese Wirkung nicht mehr (Cleland et al. 1996). DS-1 eignet sich aber zur Resorptionsförderung von Arzneistofen, die wie die Peptide bei oraler oder topischer Anwendung nicht wirksam sind. Im Gegensatz zu Detergenzien und Cholaten haben Saponine wie DS-1 keine Reizwirkung bei topischer Anwendung. DS-1 erzeugt keine Immunantwort, fördert aber die systemische Aufnahme von Aminoglykosidantibiotika bei nasaler Applikation und von Peptiden wie Insulin bei topischer Anwendung an der Nase und am Auge in sehr kleinen Konzentrationen (Pillion et al. 1995). Der Wirkungsmechanismus ist bisher nicht im Detail aufgeklärt. Es wird angenommen, dass die von QS-21 und DS-1 erzeugten Wirkungen durch eine Interaktion der Substanzen mit biologischen Membranen (Oberlächenaktivität der Saponine) zustande kommen, was zur Stimulierung einer Immunantwort bzw. zur Förderung der Resorption führt (Pillion et al. 1996; Kensil et al. 1996). In neueren Arbeiten wurde die Stimulierung verschiedener Zytokine nachgewiesen (Villacres-Eriksson et al. 1997; Behboudi et al. 1999; Boyaka et al. 2001).
! Kernaussagen
Quillaja-Saponine haben neben ihrem technischen Einsatz als Suspensionsstabilisator eine Bedeutung als Adjuvanzien von Impfstoffen sowie zur Förderung der Resorption von Peptiden und Aminoglykosidantibiotika.
24
24.6 Saponine
. Abb. 24.26
H3C
CH3
H
H
β-D-Xyl
1→3
β-D-Glu
1→
2 ↑ 1
β-D-Gal
O
H3C
28
CH3
CH3
16
CH3
C O OH
H CHO
O
←1
β-D-Fuc
2←1
α-L-Rha
3/4
DS-1 DS-2
3 ↑ 1
O 1C
4←1
β-D-Xyl
3←1
β-D-Apif
oder β-D-Xyl
β-D-Glc *
O
OH CH3
Quillajasäure (= 16α-Hydroxygypsogenin)
5
6
O 1'
Genuine Saponine Quillajasaponin-21 (QS-21; ohne *Glc) Quillajasaponin-18 (QS-18) Alkalische Hydrolyseprodukte Deacyl-QS-21 (DS-1) Deacyl-QS-18 (DS-2)
CH3 O
OH CH3 5'
O
↑ 1
6'
CH3
α-L-Araf
Die Saponine der Seifenrinde stellen ein komplexes Gemisch dar. Bei den Hauptsubstanzen handelt es sich um bisdesmosidische Saponine, deren Aglykon Quillajasäure mit der 3-OH-Gruppe an ein verzweigtes Trisaccharid (über Glucuronsäure; Glu) und mit dem 28-Carboxyl esterartig an ein lineares Tetra- bzw. verzweigtes Pentasaccharid verknüpft ist. Die 3- bzw. 4-OH-Gruppe des Fucosylrestes ist über eine Fettsäurekette, bestehend aus 2 Molekülen (3S, 5S, 6S)-3,5-Dihydroxy-6-methyloctansäure (C-9-Säure), verknüpft, deren Kettenabschluss Arabinose darstellt. In Lösung findet an der Fucose ein Acyltransfer statt. Bei der Hauptkomponente (QS-21A; 94%) ist die Fettsäurekette über die 4-OH-Gruppe, bei der Nebenkomponente (QS-21B; 6%) über die 3-OH-Gruppe der Fucose gebunden. Als Endzucker der Acylsaccharidkette liegt zu 65% Apiose bzw. zu 35% Xylose vor (Cleland et al. 1996). QS-21A mit einer Apiose als Endzucker kann heute synthetisch hergestellt werden (Wang et al. 2005a). Neben den in der Abbildung formelmäßig wiedergegebenen Quillajasaponinen QS-18 und QS-21 kommen weitere Saponine in der Seifenrinde vor. Zwischen 1998 und 2003 sind ca. 50 Saponine mit einer ähnlichen Struktur bekannt geworden (vgl. Nyberg et al. 2003 und darin zitierte Literatur). Häufig handelt es sich um regioisomere Verbindungen, bei denen eine Acylwanderung stattgefunden hat. Einzelne Saponine haben an C-3 bzw. C-4 der Fucose eine O-Acetylgruppe, was die Acylwanderung verunmöglicht, bei anderen konnte Phytolaccagensäure als Aglykon nachgewiesen werden, wiederum bei anderen wurde anstelle der C-9- eine C-5-Acylgruppe [(S)-2-Methylbuttersäure] bzw. eine Disaccharidkette an der 3-OH-Gruppe gefunden. Neben den Bisdesmosiden kommen auch Monodesmoside (ohne C-28-Substitution) vor
Rosskastaniensamen Herkunft. Rosskastaniensamen (Hippocastani semen
DAB 1999) bestehen aus den getrockneten Samen von Aesculus hippocastanum L. (Familie: Sapindaceae [IIB18e], bisher Hippocastanaceae). Die Rosskastanie ist auf dem
Balkan, im Kaukasus und in Vorderasien beheimatet. Die großen Blätter des bis 30 m hoch werdenden Baumes sind 5- bis 7-zählig geiedert und die Teilblätter am Rande gezähnt. Die Blüten sind zygomorph und vereinigen sich zu aufrechten Rispen. Die Frucht ist eine mit Stacheln besetzte, grüne Kapselfrucht, die sich bei der Reife mit 2 oder 3
967
968
24
Triterpene einschließlich Steroide
Klappen öfnet. Sie enthält i. d. R. nur einen Samen mit einer glänzend rotbraunen Samenschale und einer weißen, vom Nabel herrührenden Stelle. Eine Monographie Hippocastani semen für die PhEur ist in Bearbeitung. Sensorische Eigenschaften. Rosskastaniensamen haben einen anfangs mehligen, dann kratzend und anhaltend bitteren Geschmack. Inhaltsstoffe
x Triterpensaponine (3–6%; DAB = mindestens 3,0%) mit Protoaescigenin und Barringtogenol C als Aglykone ( > Abb. 24.27);
x Flavonoide, v. a. Glykoside des Quercetins und Kämpferols (Hübner et al. 1999);
x Gerbstofe und Cumarine (in der Samenschale), Vitamine B und C, Sterole, wenig ätherisches Öl; ferner
x Zucker, Stärke und andere Polysaccharide, fettes Öl, Purine, Proteine, Mineralstofe. Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Nachweis von Aescin (DAB)
[Fließmittel: die obere Phase einer Mischung von Essigsäure 98%–Wasser–1-Butanol (10:40:50); Referenzsubstanz: Aescin; Nachweis: UV 254 nm, Anisaldehydreagens]. Das Aescin ist im UV 254 nm als Fluoreszenz mindernde Zone
. Abb. 24.27
CH3
H3C
OR1 H CH3 HOH2C HO HO
Aescin Ia Aescin Ib Aescin IIa Aescin IIb
Glc
HOOC
O
1''' O OH HO
Glu O 2'
R1
R2
R3
Tigloyl Angeloyl Tigloyl Angeloyl
OH OH OH OH
Glc Glc Xyl Xyl
1' O OR3 R H C 2 2
22
OAc 28 CH2OH
CH3 H
3
21
CH3
OH
H CH3 Protoaescigenin (R2 = OH) Barringtogenol C (R2 = H)
Glu = β-D-Glucuronsäure Glc = β-D-Glucose Xyl = β-D-Xylose
Rosskastaniensamen enthalten ein komplex zusammengesetztes Gemisch von Triterpensaponinen. Nach Untersuchungen der Arbeitsgruppe von Yoshikawa (Yoshikawa et al. 1996b u. 1998; Übersicht von Yoshikawa u. Matsuda 2000) konnten aus den Rosskastaniensamen 9 Aescine (Ia, Ib, IIa, IIb, IIIa, IIIb, IV, V, VI) und drei Isoaescine (Ia, Ib, V) isoliert und in der Struktur aufgeklärt werden. Die in der Formel wiedergegebenen Aescine Ia/b und IIa/b stellen die Hauptsubstanzen dar. Die Aglykone der Aescine sind Diester des Protoaescigenins und Barringtogenols C, die über die OH-Gruppe an C-3 mit einem verzweigten Trisaccharid aus Glucuronsäure und 2 Glucosen oder Glucose und Galactose bzw. Xylose verknüpft sind. Die OH-Gruppe an C-21 ist mit kurzkettigen Fettsäuren (Tiglin-, Angelica-, Isobutter- oder 2-Methylbuttersäure), die OH-Gruppe an C-22 mit Essigsäure verestert (Ausnahme: Isoaescine, vgl. unten). Nach einer früher durchgeführten Lösungsmittelfraktionierung wurde zwischen den drei Aescinfraktionen β-Aescin, α-Aescin und Kryptoaescin unterschieden. Mit β-Aescin wird ein leicht erhältliches, in Wasser schwer lösliches Mischkristallisat bezeichnet. Nach Griffini et al. (1997) entsprechen die Aescine Ia/b und IIa/b den bei der LC-MS-Analyse erhaltenen Hauptprodukten von β-Aescin. Mit α- und Kryptoaescin werden gut wasserlösliche Substanzgemische bezeichnet, bei denen die Essigsäure durch Acylwanderung von C-22 an C-28 verschoben ist. Die genaue Zusammensetzung von α- und Kryptoaescin ist allerdings bisher nie mit modernen spektroskopischen Methoden abgeklärt worden. Möglicherweise sind sie mit den Isoaescinen identisch, bei denen es sich wahrscheinlich um Artefakte handelt, die durch Acylwanderung der Essigsäure (C-22oC-28) während des Isolierungsprozesses (in schwach saurer Lösung) entstehen (vgl. Übersicht von Yoshikawa u. Matsuda 2000)
24.6 Saponine
und nach Besprühen mit Anisaldehydreagens im Tageslicht als blauviolett gefärbte Zone erkennbar. Die DAB-Vorschrit hat keine Aussagekrat über die Zusammensetzung des Aescingemisches, da sich die Saponine nicht autrennen lassen. Dazu eignet sich heute am besten die HPLC in Kombination mit der Massenspektrometrie (LC-MS). Die LC-MS ermöglicht ein Fingerprintchromatogramm der Haupt- und Nebensubstanzen von Aescin (Griini et al. 1997). Gehaltsbestimmung. Die Triterpensaponine werden
nach Abtrennung der Saponine aus einer salzsauren Lösung durch Ausschütteln mit 1-Propanol-Chloroform und Reaktion mit Eisen(III)-chlorid-Essigsäure photometrisch bei 540 nm bestimmt. Wegen der komplexen Zusammensetzung von Aescin sind chromatographische Methoden zur Gehaltsbestimmung weniger geeignet. Für die Aescinbestimmung bei pharmakokinetischen Studien ist es gelungen, speziische Antikörper gegenüber den Säuresubstituenten an C-21, C-22 und C-28 des Triterpenteils herzustellen und daraus eine RIA-Methode (Radioimmunosorbent-Assay) zu entwickeln (vgl. Oschmann et al. 1996 und darin zitierte Literatur). Mit dieser Methode ist die Bestimmung von Aescin im Plasma im Bereich von 10–200 ng/ml möglich. Verwendung. Rosskastaniensamenkerne oder Samen-
schrot ist Ausgangsmaterial zur Herstellung von Aescin (E-Aescin; DAC 2003) und zur Herstellung von Extrakten, z. B. des eingestellten Rosskastaniensamentrockenextrakts (Hippocastani extractum siccum normatum DAB 2003). Maximale Aescinausbeuten werden durch Extraktion mit Ethanol-Wasser- oder Methanol-Wasser-Gemischen (Ethanol- bzw. Methanolgehalt etwa 40–60%) erzielt. Aescin enthaltende Präparate bzw. Rosskastaniensamenextrakte werden in verschiedenen galenischen Formen als Monopräparate (Aescin) oder als Bestandteil von Kombinationspräparaten (Extrakte) für die Indikationsgruppe chronische venöse Insuizienz (vgl. Infobox) angeboten; ferner zur äußerlichen Anwendung als Gel und Salbe. Hinweise zur Bioverfügbarkeit und Pharmakokinetik.
Aescin, als Extrakt gegeben, wird zu etwa 10% aus dem Magen-Darm-Trakt aufgenommen. Die Absorptionsquote der Reinsubstanz, die in röntgenamorpher Form vorliegt, ist wenig höher. Die Plasmahalbwertszeit ist kurz. Eine Besonderheit des Aescins besteht darin, dass die vol-
24
Infobox Chronische venöse Insuffizienz (CVI). Venenerkrankungen zählen zu den häufigsten Krankheitsbildern in der mitteleuropäischen Bevölkerung. Unter dem Begriff CVI werden unterschiedliche Störungen des venösen Abflusses zusammengefasst. Sie wird heute meist nach ihrer Erscheinungsform in drei Schweregrade eingeteilt, wobei Grad I charakterisiert wird durch tagsüber auftretende Knöchelund Unterschenkelödeme, Schwere- und Spannungsgefühl oder Schmerzen in den Beinen sowie die Erweiterung subkutaner Venen (Corona phlebectatica). Dauerhafte Ödeme, zusätzliche Hyper- und Depigmentierung der Haut und/oder Induration (Verhärtung und Verdichtung) des Unterhautgewebes zeigen den Grad II der CVI an. Floride bzw. abgeheilte Geschwüre sind die Zeichen für den III. Schweregrad. Nichtoperative Therapieansätze sind Kompressionstherapie, physikalische und medikamentöse Therapie, u. a. mit Extrakten aus asiatischem Wassernabelkraut, Mäusedornwurzelstock, Rosskastaniensamen, Steinkleekraut, Buchweizenkraut, rotem Weinlaub sowie mit isolierten Flavonoiden wie Diosmin, Hesperidin, Rutin und Rutinderivaten.
le Wirkung einer Dosis erst nach 15–20 h erreicht wird. Aescin hatet lang am Gefäßendothel (Halbwertszeit der Wirkung zwischen 3 und 5 Tagen; Felix 1992). Humanpharmakokinetische Resultate, die auf dem RIA (vgl. unter Gehaltsbestimmung) beruhen, ergaben, dass nach p.o.Verabreichung von Rosskastaniensamenextrakt entsprechend 50 mg Aescin nach 2 h maximale Serumspiegel von 9–10 ng/ml erhalten wurden, was einer Bioverfügbarkeit um 5% entspricht. Die terminale Halbwertszeit lag bei ca. 20 h, diejenige in der D-Phase bei 8 h. Zwischen Retardformulierungen (z. B. Retard-Filmtablette, Pellet) und schnell freisetzenden Formulierungen (Lösung) waren nur minimale Unterschiede (im maximalen Serumspiegel, Streuung der Serumspiegelwerte) feststellbar. Daher besteht keine Veranlassung, für eine herapie mit Rosskastanienextrakt den Einsatz eines Retardpräparates zu fordern, wie es in der Monographie der Kommission E erfolgt ist (Dittgen et al. 1996; Oschmann et al. 1996; Bässler et al. 2003). Zur Pharmakokinetik und Bioäquivalenz von Rosskastanienzubereitungen vgl. auch Übersicht von Loew u. Schrödter 1999.
969
970
24
Triterpene einschließlich Steroide
Wirkungen. Aescin wirkt in verschiedenen experimen-
Nebenwirkungen. Aescin weist als Saponin schleimhaut-
tellen Modellen (z. B. Rattenpfotenödem) antiexsudativ und gefäßabdichtend. Durch Senkung der Gefäßpermeabilität wird die Filtration kleinmolekularer Proteine, Elektrolyte und Wasser in das Interstitium verhindert (Kommission E). Rosskastaniensamenextrakte besitzen ödemprotektive, venentonisierende, entzündungshemmende und antioxidative Wirkungen (vgl. Übersicht von Bombardelli et al. 1996). Aescin hemmt in vitro ähnlich wie Hedera-helix- und Ruscus-aculeatus-Saponine ( > S. 964 und 986) lysosomale Enzyme. Dadurch wird die Gefäßwand wieder abgedichtet und der Übertritt von Flüssigkeit in das Gewebe verhindert. Aescin hemmt allerdings nur die Hyaluronidase, während die Aktivität der Elastase nicht beeinlusst wird (Facino et al. 1995).
reizende Eigenschaten auf. Daher können nach Einnahme Aescin enthaltender Präparate Magenbeschwerden autreten.
Anwendungsgebiete. Fertigarzneimittel auf Extrakt- und
Aescinbasis (Tagesdosis 100 mg Aescin) werden zur Behandlung von Beschwerden bei Erkrankungen der Beinvenen (CVI), z. B. Schmerzen und Schweregefühl in den Beinen, nächtliche Wadenkrämpfe, Juckreiz und Beinschwellungen verwendet (Kommission E; ESCOP). Es liegen dazu verschiedene randomisierte, kontrollierte Doppelblindstudien vor (vgl. systematischer Review von Pittler u. Ernst 1999, 2004), die die kurzfristige klinische Wirksamkeit belegen. Gemäß den Empfehlungen der Kommission E sollten bei einer herapie mit Rosskastanienpräparaten weitere vom Arzt verordnete nichtinvasive Maßnahmen wie z. B. Wickel an den Beinen, Stützstrümpfe oder kalte Wassergüsse unbedingt eingehalten werden. Eine neuere Studie ergab, dass die Einnahme von Rosskastaniensamenextrakt bei CVI genauso gut gegen Ödeme wirkt wie eine Behandlung mit Kompressionsstrümpfen, mit einer zudem besseren Compliance (Diehm et al. 1996). Topische Zubereitungen werden bei traumatischen Schwellungen (z. B. Sportverletzungen) sowie bei Veneninsuizienz eingesetzt.
! Kernaussagen
Rosskastaniensamen enthalten als wirksamkeitsbestimmende Inhaltsstoffe Triterpensaponine (Aescin). Aescin hat antiexsudative und gefäßabdichtende, Rosskastaniensamenextrakte besitzen ödemprotektive, venentonisierende und entzündungshemmende Wirkungen. Hauptanwendungsgebiet ist die CVI.
Ginsengwurzel Herkunft. Ginsengwurzel (Ginseng radix PhEur 5, revidiert 5.1) besteht aus den getrockneten (weißer Ginseng) oder den mit Dampf behandelten und getrockneten (roter Ginseng) Wurzeln von Panax ginseng C. A. Meyer (Familie: Araliaceae [IIB25b]). P. ginseng ist eine mehrjährige Staudenplanze, die in den Bergwäldern der Mandschurei und Nordkoreas wild vorkommt. Die in Europa angebotene Handelsware kommt ausschließlich aus Kulturen; Hauptproduzent ist Südkorea, daneben kommt heute immer mehr Droge auch aus China. Stammpflanze und Ginsengkulturen. Panax-ginsengPlanzen werden etwa 60 cm hoch, der Stängel trägt 3–4 Verzweigungen, die jeweils 4–5 Blätter besitzen, die wie Kastanienblätter angeordnet sind. Die grünlich-gelben Blüten bilden eine Dolde; der Fruchtknoten ist unterständig und entwickelt sich zu einer roten, etwa erbsengroßen Beere, die 2 Samen enthält. Von der Aussaat der Samen bis zur Ernte der Wurzel liegt ein Zeitraum von 4–6 Jahren. Die Planzen gedeihen ihrem natürlichen Vorkommen entsprechend nur im Halbschatten und müssen deshalb künstlich beschattet werden. Die Wurzeln sind bei der Ernte 8 bis maximal 20 cm lang und etwa 2 cm dick; sie weisen Verzweigungen auf. Zur Gewinnung der Ganzdroge werden die dünneren Enden von Haupt- und Nebenwurzeln abgeschnitten. Die abgeschnittenen Teile bilden als „slender tails“ ein eigenes Handelsprodukt. Sensorische Eigenschaften. Die Droge hat einen schwa-
chen, eigenartigen Geruch und schmeckt schwach würzig, anfangs leicht bitter, dann süßlich und etwas schleimig. Handelssorten. Abhängig von der Art der Drogenverar-
beitung nach der Ernte unterscheidet man weißen und roten Ginseng. x Weißer Ginseng: Die frisch geernteten Wurzeln werden gewaschen, die Nebenwurzeln entfernt. Nach dem Abschaben und einem Bleichprozess mit SO2 erfolgt Trocknen an der Sonne oder auch künstlich bei 100– 200 °C. Bei dieser Prozedur gehen die äußeren dunkel-
24.6 Saponine
24
. Tabelle 24.7 Verteilung der Ginsenoside in Panax ginseng C.A. MEYER (nach Soldati u. Sticher 1980) % Gehalt Blätter
Rg1
Re
Rf
Rg2
Rb1
Rc
Rb2
Rd
Gesamt
1,078
1,524
–
–
0,184
0,736
0,553
1,113
5,188
Blattstiele
0,327
0,141
–
–
–
0,190
–
0,107
0,765
Stängel
0,292
0,070
–
–
–
–
0,397
–
0,759
Hauptwurzel
0,379
0,153
0,092
0,023
0,342
0,190
0,131
0,038
1,348
Seitenwurzeln
0,406
0,668
0,203
0,090
0,850
0,738
0,434
0,143
3,532
Wurzelhaare
0,376
1,512
0,150
0,249
1,351
1,349
0,780
0,381
6,148
gefärbten Schichten des Korkgewebes verloren. Eine Wurzel wiegt durchschnittlich 8–10 g. x Roter Ginseng: Bei dieser Zubereitungsart handelt es sich im Grund um eine uralte, empirisch gefundene Konservierungsmethode. Die geernteten Wurzeln werden noch frisch mit Wasserdampf von 120–130 °C 2–3 h lang behandelt und danach getrocknet. Sie erhalten dadurch ein glasiges und rötliches Aussehen. Die Farbentwicklung lässt sich als Maillard-Reaktion deuten. Durch einen besonders hohen Ginsenosidgehalt zeichnen sich die Seitenwurzeln und die Wurzelhaare, die sog. „slender tails“ aus ( > Tabelle 24.7). Sie enthalten im Vergleich mit der Hauptwurzel höhere Anteile an Rindenparenchym, in denen die Ginsenoside lokalisiert sind. Eigenartigerweise werden die Seitenwurzeln in der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) von der Hauptwurzel entfernt; ofensichtlich aber nicht aus rationalen Gründen, sondern vermutlich deshalb, um im Sinne der Signaturenlehre die menschenähnliche Gestalt der Hauptwurzel besser zur Geltung zu bringen. Zur Herstellung von Ginsengextrakten andererseits sind die Seitenwurzeln mit ihren hohen Ginsenosidgehalten natürlich verwertbar. Neben den Wurzeln von P. ginseng (Koreanischer Ginseng) werden auch Wurzeln anderer Panax-Arten medizinisch verwendet. Die Hauptbedeutung kommt dabei P. quinquefolium L. (Amerikanischer Ginseng; USA, Kanada und von dort auch Export nach Ostasien), P. notoginseng (Burk.) F. H. Chen (Sanchi Ginseng; China) und P. japonicus C. A. Meyer (Chikusetsuninjin; Japan) zu. Inhaltsstoffe
x Triterpensaponine (Ginsenoside) [2–3%; PhEur = mindestens 0,4% einer Mischung von Ginsenosid Rg1
x
x x x
und Ginsenosid Rb1], deren Aglykone vorwiegend zum tetrazyklischen Dammarantyp ( > Abb. 24.28 und 24.29), teilweise zum pentazyklischen Oleanolsäuretyp (z. B. Ro; Formel von Oleanolsäure > Abb. 24.18) gehören; Polysaccharide, hauptsächlich die Panaxane A–U (= Peptidoglykane) und die Ginsenane PA, PB, S-IA und S-IIA. Die Struktur der Polysaccharide ist erst teilweise bekannt. Panaxan A weist eine Hauptkette aus D-1o6-verknüpten d-Glucoseeinheiten auf, während Ginsenan A aus einer Hauptkette mit E-1o 3-verknüpten d-Galactoseresten besteht; Polyacetylene mit Panaxytriol, Panaxynol und Panaxydol als Hauptsubstanzen ( > Abb. 24.30); ätherisches Öl mit den Sesquiterpenkohlenwasserstoffen Eremophilen und E-Elemen, die zum eigentümlichen Geruch der Droge beitragen; ferner phenolische Substanzen, Triglyceride, Fettsäuren, Zucker, Stärke, Pektine, Aminosäuren, Peptide, Proteine, Mineralstofe.
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität und Reinheit. DC-Nachweis der
Ginsenoside Rg1/Rg2 , Rf, Re, Rd, Rc, Rb1/Rb2 (PhEur) [Fließmittel: Ethylacetat–Wasser–1-Butanol (25:50:100); Referenzsubstanzen: Aescin, Arbutin; Nachweis: Anisaldehydreagens]. Die Ginsenoside erscheinen nach dem Besprühen mit Anisaldehydreagens im Tageslicht als violette Zonen. Die PhEur lässt auf eine eventuelle Substitution von P. ginseng durch P. quinquefolium (Fehlen von Ginsenosid Rf) prüfen (HPLC). Gehaltsbestimmung. Die Gehaltsbestimmung (PhEur) erfolgt mit Hilfe der HPLC unter Verwendung von octadecylsilyliertem Kieselgel (5 µm) als Säulenmaterial,
971
972
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.28 Glykoside
Sekundäre Aglykone
Rb1, Rb2, Rb3, Rc, Rd
Säurehydrolyse
Re, Rf, Glc-Rf, Rg1, Rg2
Säurehydrolyse
Panaxadiol
Panaxatriol
genuine Aglykone
Artefakte
CH3 H3C HO
HO
H3C
HO
H3C
20 (R)
CH3
CH3
CH3
HO
O
CH3
20 (S)
12
3
CH3
CH3 CH3
H
CH3
+
6
CH3 R
Protopanaxadiol (R = H) Protopanaxatriol (R = OH)
CH3 HO H3C
CH3 R
Panaxadiol (R = H) Panaxatriol (R = OH)
Die Saponine der Ginsengwurzel basieren, ihrem chemischen Aufbau nach, auf dem Dammarenol, einem tetrazyklischen Triterpen ( > auch > Abb. 24.1). Die Benennung der Saponine – als Ginsenoside Ra, Rb, bis Rh – nimmt Bezug auf deren Rf-Folge auf Dünnschichtchromatogrammen, wobei die Polarität vom Index a zum Index h abnimmt, was sich bereits an der Zahl der Zucker ablesen lässt, die mit dem Triterpen verbunden sind. Die intermediär nach Abspaltung der Zucker aus den Ginsenosiden frei werdenden genuinen Aglykone Protopanaxadiol und Protopanaxatriol zyklisieren spontan durch Addition der sekundären 20-OH-Gruppe an die 23,24-Doppelbindung zu den Pyranderivaten Panaxadiol und Panaxatriol. Dabei erfolgt eine Konfigurationsumkehr von der 20(S)- zur 20(R)-Verbindung. Panaxadiol und Panaxatriol sind folglich sekundäre Aglykone und als Artefakte aufzufassen
einem Acetonitril-Wasser- (mit Phosphorsäure auf pH 2 eingestellten) Gradienten als Fließmittel und der Ginsenoside Rg1, Re, Rf und Rb1 als Referenzsubstanzen. Anmerkung. Art und Mengenverhältnis der Ginsenoside erlauben Rückschlüsse auf eine Verarbeitung minderwertiger oder verfälschter Ginsengdroge in Extrakten und Fertigarzneimitteln. Die Ginsenosidspektren von rotem und weißem Ginseng, aber auch diejenigen von Wurzeln
anderer Panax-Arten oder von Ginsengblättern sind unterschiedlich. Zur Abklärung solcher Unterschiede eignet sich heute am besten die HPLC. Es existieren verschiedene HPLC- bzw. HPLC-MS-Methoden, mit denen bis über 20 Ginsenoside in einem Run getrennt werden können. Sie erlauben sowohl qualitatitv (z. B. Vorliegen von weißem oder rotem Ginseng) als auch quantitativ (Einzelbestimmung der 8 wichtigsten Ginsenoside) detaillierte Aussagen über die Qualität der Ginsengwurzel und daraus herge-
24.6 Saponine
. Abb. 24.29
CH3 HO R2O H
CH3
20 (S)
OR2 H3C
CH3
20 (R)
CH3
CH3 CH3
CH3 H
3
R1O H3C
24
CH3
H CH3
Protopanaxadiolderivate
Name
R1
R2
Rb1 Rb2 Rc Rd mRb1 mRb2 mRc
-Glc2−Glc
-Glc6−Glc -Glc6−Ara(p) -Glc6−Ara(f) -Glc -Glc6−Glc -Glc6−Ara(p) -Glc6−Ara(f)
-Glc2−Glc -Glc2−Glc -Glc2−Glc -Glc2−Glc6−Ma -Glc2−Glc6−Ma -Glc2−Glc6−Ma
Weitere Diole: Ra1, Ra2, Ra3, Rb3, Rg3, Rh2, Rs1, Rs2, Q-R1, NG-R4, mRd
HO
R2O H
CH3
CH3
20 (S)
OR2 H3C
CH3
20 (R)
CH3 CH3
CH3
3
H 6
HO H3C
H CH3 OR 1
Protopanaxatriolderivate
CH3
CH3
Name
R1
R2
Re Rf Glc-Rf Rg1 Rg2 Rh1 NG-R1
-Glc2−Rha -Glc2−Glc -Glc2−Glc -Glc -Glc2−Rha -Glc -Glc2−Xyl
-Glc -H -Glc -Glc -H -H -Glc
Aus der Ginsengwurzel konnten bisher über 30 Ginsenoside isoliert werden. Sie gehören mehrheitlich zu den neutralen bisdesmosidischen Saponinen (z. B. die im weißen Ginseng mengenmäßig vorherrschenden Ginsenoside Rb1, Rc, Re, Rg1), einige hingegen zu den monodesmosidischen Vertretern (z. B. Rf, Rg2); die Zuckerketten liegen jeweils unverzweigt vor. Bei den vom Protopanaxadiol sich ableitenden Ginsenosiden sind die Zucker sowohl mit der 3-OH- als auch mit der 20-OH-Gruppe verknüpft; ungewöhnlich ist die Stellung der Glykosidbindung bei den Protopanaxatriolglykosiden, indem die 3-OH-Gruppe frei bleibt und die Zucker außer am C-20 auch am C-6 gebunden sind. Mit einigen Ausnahmen [Rg3, Rg2, Rh1 = 20(S+R)] sind alle Ginsenoside Derivate von 20(S)-Protopanaxadiol und 20(S)Protopanaxatriol. 20(R)-Verbindungen stellen Artefakte dar, die beim Herstellungsprozess entstehen. Sie sind daher, mit Ausnahme von 20(R)-Rg3, dessen Vorkommen im weißen Ginseng überprüft werden muss (vgl. Sticher 1998 und darin zitierte Literatur), charakteristische Ginsenoside für roten Ginseng. Malonylginsenoside (z. B. mRb1, mRb2, etc.) kommen nur im weißen Ginseng vor. Die Malonylgruppe wird beim Erhitzen mit Wasserdampf abgespalten. Es scheint, dass in der frischen Ginsengwurzel noch weitere Ginsenoide als Malonylderivate (z. B. Rb3, Ra1, Ra2) vorkommen (Fuzzati et al. 1999)
973
974
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.30 Panaxytriol
OH
HO 3
H
17 1
H
OH
H HO
Panaxynol 3
H 1
H
H
17
H
H
HO
Panaxydol 3
H 1
H
H
17
O
Während früher vorwiegend die Ginsenoside als wirksamkeitsbestimmende Inhaltsstoffe der Ginsengwurzel betrachtet worden sind, konnte in neuerer Zeit gezeigt werden, dass auch andere Inhaltsstoffe (Polyacetylene und Polysaccharide) zur Gesamtwirkung beitragen. Bei den lipophilen Polyacetylenen sind das insbesondere Panaxytriol, Panaxynol und Panaxydol. Sie gehören zur Gruppe der C17-Acetylenderivate mit einer oder mehreren sekundären Alkoholgruppen im Molekül. Sie sind offensichtlich eng mit entsprechenden Acetylenderivaten bestimmter Apiaceen verwandt, wie überhaupt die zwischen Araliaceen und Apiaceen bestehende taxonomische Verwandtschaft sich auch in deren stofflichen Zusammensetzung widerspiegelt (vgl. Frohne u. Jensen 1998)
stellter Produkte (vgl. Übersicht von Sticher 1998; Fuzzati et al. 1999; Li et al. 2000). Verarbeitung, Arzneiformen. In den Ursprungsländern
wurde traditionell die zerkleinerte Droge des roten Ginseng als solche oder in Form der Teezubreitung verwendet. Heute indet man in den „Ginseng-Shops“ in Korea, China oder Japan sämtliche nur denkbaren Präparate in den Bereichen von Kosmetik, Lebensmitteln und Pharmazeutika. In Europa werden mehrheitlich Präparate angeboten, für die weißer Ginseng als Ausgangsmaterial dient. Fein pulverisierte Droge wird entweder direkt zu Kapseln oder Dragees verarbeitet oder weit häuiger zu Flüssig-, Spissum- bzw. Trockenextrakten, die in den verschiedensten Formen von Fertigarzneimitteln auf den Markt gelangen. Die meisten Fertigarzneimittel enthalten Trocken- (in Bearbeitung für PhEur) oder Sprühextrakt. Spissum- und Fluidextrakte eignen sich zur Herstellung von Ginsengwein und anderen Alkohol enthaltenden Tonika.
Metabolismus und Pharmakokinetik. Viele der älteren Untersuchungen über die Pharmakokinetik und den Metabolismus der Ginsenoside sind unkritisch und mit unrealistisch hohen Dosierungen durchgeführt worden. Aus diesem Grund werden in den > Abbildungen 24.31–24.33 nur einige in neuerer Zeit erhaltene Resultate (Tier und Mensch) zusammengefasst (vgl. Übersicht von Sticher 1998 und darin zitierte Literatur; Bae et al. 2000, 2002; Abdel Tawab et al. 2003). Die im Plasma und im Urin identiizierten Substanzen entstehen im Gastrointestinaltrakt entweder durch Darmbakterien oder -enzyme bzw. durch den Magensat. Die wesentliche Erkenntnis dabei ist, dass Protopanaxadiol- und Protopanaxatriolsaponine verschieden metabolisiert und nach p.o.-Verabreichung in erster Linie in Form von Metaboliten absorbiert und ausgeschieden werden. Es ist erwähnenswert, dass sowohl bei den Protopanaxadiol- als auch den Protopanaxatriolsaponinen hauptsächlich monoglucosidierte Abbauprodukte (Substanz K, Ginsenosid Rh1, Ginsenosid F1) zur Resorption gelangen und nicht die entsprechenden Aglykone. Sie können daher innerhalb der Ginsenoside als die eigentlichen Wirkstofe angesehen werden. Substanz K
24.6 Saponine
24
. Abb. 24.31 Rb1 Rb2
R = −Glc R = −Ara(p)
R−6Glc−O
Glc−O
OH
OH Rg1
3
HO
Glc−2Glc−O
6
O−Glc Halbwertszeit von Protopanaxadioltyp- und Protopanaxatrioltyp-Ginsenosiden im Serum Ginsenosid
Versuchstier (intravenöse Applikation) Ratte
Rb1 Rb2 Rg1
Kaninchen
14,5 h 6,3 min
Minischweinchen 16 h
8h 69,5 min
27 min
Rb1 = hoher Plasmaproteinbindungsgrad
Pharmakokinetische Studien mit Diol- und Triol-Typ-Ginsenosiden. Die Halbwertszeit der Protopanaxadiol- und der Protopanaxatrioltyp-Ginsenoside ist unterschiedlich. Rg1 (Trioltyp) hat eine sehr kurze Halbwertszeit von 27 min nach i.v.-Applikation an Minischweinchen (Einkompartimentmodell). Im Gegensatz dazu zeigt Rb1 einen biphasischen Verlauf der Blutspiegelkurve mit einer Halbwertszeit in der β-Phase von 16 h (Zweikompartimentmodell). Diese Resultate korrelieren mit den pharmakokinetischen Daten bei Ratten und Kaninchen. Die lange Verweildauer von Rb1 im Serum wird einem hohen Plasmabindungsgrad zugeschrieben (vgl. Sticher 1998 und darin zitierte Literatur)
(vgl. > Abb. 24.33) ist gemäß Tohda et al. (2004) in vitro und in vivo für die Reaktivierung neuronaler Funktionen verantwortlich. Nach Hasegawa et al. (2000) werden die resorbierten Substanzen in der Leber mit Fettsäuren verestert (ähnlich dem Cholesterolmetabolismus). Wirkungen und Toxizität. Die Ginsenoside zeigen nur
sehr schwach ausgeprägte Hämolysewirkung. Ihre Toxizität ist sehr gering: Nach p.o.-Zufuhr ist tierexperimentell eine LD50 nicht messbar (>5 g/kg KG, Maus); intraperitoneal liegt die LD50 (Maus) zwischen 305 mg/kg KG im Falle des Ginsenosids Rb2 und 1340 mg/kg KG im Falle des Ginsenosids Rf. Die Ginsenoside gehören zu den wenigen Naturstofen, die tierexperimentell (Maus, BeagleHunde) auf chronische Toxizität geprüt worden sind: Es ergaben sich keine Anhaltspunkte für pathologische Veränderungen. Die Hauptwirkungen von Ginsengextrakten und Ginsengpräparaten sind in der > Tabelle 24.8 zusammen-
gefasst. Aus den schon längere Zeit zurückliegenden Untersuchungen, von denen allerdings recht häuig eine Relevanz für die medizinische Anwendung fehlt oder mangelhat ist (z. B. durch unrealistisch hohe Dosierung, i.v. oder i.p. anstelle der p.o.-Applikation, Tierexperimente ohne Bezug zum therapeutischen Wert am Menschen), geht hervor, dass hauptsächlich die Ginsenoside Rb1 und Rg1 an der Wirkung beteiligt sind. Rg1 stimuliert das ZNS, steigert die Protein-, DNA- und RNA-Synthese, während Rb1 beruhigende Wirkung auf das ZNS ausübt und zerebrale Funktionen des kognitiven Bereichs (Aufmerksamkeit, Konzentration, Merkfähigkeit, Gedächtnis) aktiviert. Unter weiter beschriebenen Ginsengwirkungen sind u. a. die Hemmung von hrombozytenaggregation und Lipidperoxidation, antioxidative Wirkung, Radikalfängereigenschaten, Neuroprotektion und Vasorelaxation besonders erwähnenswert. Diese Aktivitäten werden in der englischen Sprache unter der Bezeichnung „anti-aging activity“ zusammengefasst. Damit werden Wirkungen beschrie-
975
24
976
Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.32 Rg1 (perorale Verabreichung)
Glc−O OH
schnelle Resorption (30 % nach 1 h)
niedrige Konzentration
hohe Konzentration HO
sehr niedrige Konzentration
6
-Blut -Leber -Galle -Subkutis etc.
O-Glc Rg1 HO OH
-Muskel -endokrine Organe
-Gehirn
Rg1 wird schnell metabolisiert HO OH
Ausscheidung in Urin und Fäzes
Rg1 = sehr niedrige Konzentration 5 Metaboliten = hohe Konzentration HO
6
O-Glc Rh1
HO O-Glc 25-OH-Rh1
Metabolismus von Ginsenosid Rg1. Ginsenosid Rg1 wird nach p.o.-Verabreichung an Mäuse schnell resorbiert. Die Konzentration von Rg1 und seinen Metaboliten ist hoch im Blut, in Leber, Galle, Unterhaut und Bindehaut, im Epithel von Mundund Nasenhöhle sowie in der Speiseröhre, während sie im Muskelgewebe und in endokrinen Organen bzw. im Gehirn tief bzw. sehr tief ist. Rg1 wird schnell metabolisiert und nur in geringen Mengen unverändert ausgeschieden. Der Hauptanteil wird via Urin und Fäzes in Form von 5 Metaboliten (Rh1, 25-OH-Rh1 und andere) ausgeschieden (vgl. Sticher 1998 und darin zitierte Literatur). Nach neuen Untersuchungen beim Menschen (p.o.-Verabreichung eines Extrakts) wird das Ginsenosid Rg1 ebenfalls vorwiegend in Rh1 und 25-OH-Rh1 umgewandelt. Daneben gelangt ein Teil von Rg1 unverändert in den Dickdarm, wo es zu Ginsenosid F1 (Glucoserest an OH-C-20 anstelle von OH-C-6) hydrolysiert wird. Die Ginsenoside Rh1 und F1 entstehen auch nach p.o.-Verabreichung von Ginsenosid Re, hier allerdings über die Zwischenstufen von Rg2 und Rg1 (Abdel Tawab et al. 2003)
ben, die sich insbesondere in der späteren Lebensphase positiv auf die Gesundheit auswirken können. In Kombination mit der Hemmwirkung auf die Proliferation von Krebszellen und den Efekten auf das Immunsystem kann die Verwendung von Ginseng in Ostasien zur Erlangung eines langen Lebens in Gesundheit eine gewisse Plausibilität beanspruchen (vgl. Übersicht von Sticher 1998 und darin zitierte Literatur). In neueren Untersuchungen sind vermehrt einzelne Inhaltsstofe von Ginseng (Ginsenoside, Polyacetylene, Polysaccharide) auf ihre Wirkungen untersucht worden. Polyacetylene zeigten in vitro zytotoxische, entzündungs-
hemmende und blutplättchenaggregationshemmende Wirkungen, während für Polysaccharide vorwiegend immunmodulierende (gesteigerte Aktivität natürlicher Killerzellen, eine vermehrte Interferon- und Komplementproduktion, eine Zunahme der Phagozytoseaktivität des retikuloendothelialen Systems sowie eine Hemmung der alkalischen Phosphatase), zytoprotektive und zytotoxische Wirkungen nachgewiesen werden konnten. In den letzten Jahren wurden vermehrt einzelne Ginsenoside und Polyacetylene in verschiedensten In-vitro-Assays (z. B. Rezeptorbindungsstudien, Zelllinien) auf mögliche Wirkungsmechanismen untersucht, auf die hier nicht nä-
OH
. Abb. 24.33
24.6 Saponine
24
977
978
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Tabelle 24.8 In der Literatur beschriebene Hauptwirkungen von Ginseng und Beispiele nachgewiesener Aktivitäten einzelner Inhaltsstoffe Hauptwirkungen
x x x x x x
Wirkung als allgemeines Tonikum Wirkung auf Immun- und Kreislaufsystem Wirkung auf Fett- und Alkoholmetabolismus Blutzuckersenkende Wirkung Wirkung auf Hypophyse und Nebennierenrinde Tumorhemmende Wirkung
Aktivitäten Hemmung der Thrombozytenaggregation
Verantwortliche Inhaltsstoffe Ro, Rg1, Rg2, Polyacetylene
Antioxidative Wirkung
Rg1, Rb1, Rc
Neuroprotektive Wirkung
Saponingemisch, Rb1 (Substanz K), Rg1, Rg3
Zytotoxische Wirkung
Polyacetylene, Polysaccharide, Rg3, Rh2, Substanz K und andere Ginsenosidmetaboliten
Immunmodulierende Effekte
Rg1, Polysaccharide
Zytoprotektive Wirkung
Polysaccharide
Blutzuckersenkende Wirkung
Peptidoglykane
Hemmung von Ionenkanälen
Rf, Re, Rg3
her eingegangen werden kann. In Ostasien scheint die in verschiedenen In-vitro- und in Tiermodellen nachgewiesene tumorhemmende Wirkung, insbesondere des Metaboliten Substanz K, eine bevorzugte Stellung einzunehmen (vgl. dazu folgende Infobox „Tumorhemmendes Potential von Planzenstofen“).
Die Anwendung als Tonikum bei Erschöpfungszuständen basiert weitgehend auf dem stimulierenden Effekt einzelner Ginsenoside, der sich in der Verbesserung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit äußert, während die Beschleunigung von Genesungsvorgängen wahrscheinlich der immunmodulierenden Wirkung von Ginsenosiden und Polysacchariden im Sinne einer Erhöhung der Abwehrkräte des menschlichen Körpers zugeschrieben werden muss. Da die experimentell nachgewiesenen Efekte vollständig nur mit einem Gesamtextrakt erhalten werden können, sind bisher keine Ein-
Anwendungsgebiete. Als Tonikum zur Stärkung und
Krätigung bei Müdigkeits- und Schwächegefühl, nachlassender Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit sowie in der Rekonvaleszenz (Kommission E, ESCOP).
9 Metabolismus der Ginsenoside Rb1 und Rb2 durch die menschliche Intestinalflora. Das Abbauschema kann für Ginsenoside vom Diol-Typ als Modellbeispiel gelten, wobei in Betracht gezogen werden muss, dass der Metabolismus je nach der Zusammensetzung der menschlichen Intestinalflora abweichend verlaufen kann. Anaerobe Inkubation der Ginsenoside Rb1, Rb2 und Rc (Struktur nicht abgebildet) mit menschlicher Darmflora ergibt als Hauptmetaboliten die Substanz K, daneben 20(S)-Protopanaxadiol. Eubacterium- und Bifidobacterium-Spezies können Gentiobiose (Glc–6Glc–) besser als Sophorose (Glc–2Glc–) spalten. Der Metabolismus von Ginsenosid Rb1 führt daher über Ginsenosid Rd zu Substanz K. Andererseits können Fusobacterium-K-60- und Bacteroides-Spezies Sophorose leichter spalten als Gentiobiose. Der Metabolismus führt daher via Gypenosid XVIII. Ähnliche Verhältnisse finden sich beim Metabolismus von Ginsenosid Rb2 . Eubacterium- und Bifidobacterium-Spezies metabolisieren Ginsenosid Rb2 via Ginsenosid Rd, Fusobacterium-K-60- und Bacteroides-Spezies via Substanz O zu Substanz K (Bae et al. 2000, 2002). Das Ginsenosid Rb1 konnte im Plasma und im Urin auch unverändert nachgewiesen werden (Abdel Tawab et al. 2003)
24.6 Saponine
Infobox Tumorhemmendes Potential von Pflanzenstoffen. In der traditionellen Medizin sämtlicher Kulturen werden Pflanzenextrakte zur Vorbeugung, aber auch zur Therapie von malignen Krankheiten verwendet. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass insbesondere in der neueren Literatur Hunderte von wissenschaftlichen Arbeiten publiziert wurden, in denen unter Einsatz moderner In-vitro-Assays und von verschiedenen In-vivo-Modellen sowie in epidemiologischen Studien beim Menschen antikarzinogene Wirkungen von Extrakten bzw. von einzelnen isolierten Reinstoffen nachgewiesen wurden. Beispiele von Arzneidrogen mit einem chemopräventiven Potential sind Süßholz- und Ginsengwurzel, Javanische Gelbwurz und Curcumawurzelstock sowie Teeblätter von Camellia sinensis. Beispiele von Reinstoffen sind einzelne Flavonoide und Polyphenole (z. B. Epigallocatechingallat), Betulinsäure, Boswelliasäuren, Cannabinoide, Carnosol, Curcumin, [6]-Gingerol, Ginsenosidmetaboliten (Substanz K), Hypericin, Sesquiterpenlactone (z. B. Parthenolid), Silibinin, Xanthohumol u. a. Viele dieser Substanzen sind Hemmstoffe verschiedener Enzyme, die mit der Entstehung von Krebs in Zusammenhang stehen. Auf biochemischer Ebene stehen die Hemmung der Zellproliferation, von Zellzyklen und verschiedener Signaltransduktionswege, z. B. von Wachstumsfaktoren, NF-NB („nuclear factor” NB), AP-1 (Aktivatorprotein-1) und Jak/STAT (Janus-Kinase 1/„signal transducer and activator of transcription”), die Hemmung der Angiogenese und von COX-2 (Cyclooxygenase-2) sowie die Induktion der Apoptose im Vordergrund (vgl. dazu Dorai u. Aggarwal 2004). Ebenfalls spielt die antioxidative Wirkung häufig eine wichtige Rolle (vgl. Infobox „Antioxidanzien“, Kap. 26.5.8). Obwohl im Falle einiger Beispiele chemopräventive Effekte in experimentellen wie auch in epidemiologischen Studien nachgewiesen werden konnten, gibt es bis heute keine schlüssigen Beweise für eine chemopräventive Wirkung komplementärer bzw. alternativer Therapien beim Menschen. Das Potential unkonventioneller Therapien liegt vielmehr in einer unterstützenden Prävention und in der palliativen Pflege (vgl. dazu auch Ernst u. Cassileth 1999; Shin et al. 2000). Ob sich dereinst einzelne dieser Reinstoffe für eine Tumortherapie eignen, wird die Zukunft zeigen. Auszuschließen ist das nicht, finden doch Naturstoffe wie Taxol, Vinca-Alkaloide oder Lignanderivate seit längerer Zeit eine therapeutische Anwendung.
24
zelsubstanzen als Monopräparate im Handel. Alle kommerziell erhältlichen Fertigarzneimittel sind Extraktpräparate. Kontrollierte klinische Studien bestätigen verschiedene der in den pharmakologischen Untersuchungen erhaltenen Erkenntnisse und damit die oben erwähnten Anwendungsgebiete. So konnten die im Tierversuch gefundene Leistungssteigerung sowie schützende und regenerierende Efekte nachgewiesen werden (vgl. Übersicht von Sonnenborn u. Proppert 1990). Zur Verbesserung zerebraler Funktionen des kognitiven Bereichs wie Aufmerksamkeit, Konzentration, Merkfähigkeit und Gedächtnis werden heute vermehrt Kombinationspräparate mit Extrakten von Ginsengwurzeln und Ginkgoblättern verabreicht (vgl. z. B. Scholey u. Kennedy 2002).
! Kernaussagen
Hauptinhaltsstoffe der Ginsengwurzel sind die Ginsenoside, deren Aglykone vorwiegend zum tetrazyklischen Dammarantyp gehören. Die intermediär nach Abspaltung der Zucker aus den Ginsenosiden frei werdenden genuinen Aglykone Protopanaxadiol und Protopanaxatriol zyklisieren spontan unter Konfigurationsumkehr [20(S)- o 20(R)-] durch Addition der sekundären 20-OH-Gruppe an die 23,24-Doppelbindung zu den Pyranderivaten Panaxadiol und Panaxatriol. Metabolismus und Pharmakokinetik der Hauptginsenoside Rb1, Rb2, Rc, Rg1, Re sind relativ gut untersucht. Protopanaxadiol- und Protopanaxatriolsaponine werden verschieden metabolisiert und nach p.o.-Verabreichung in erster Linie in Form von Metaboliten absorbiert [monoglucosidierte Ginsenoside (Substanz K, Ginsenosid Rh1, Ginsenosid F1)]. Die Ginsenoside weisen ein breites Wirkungsspektrum auf mit den Hauptwirkungen ZNS-stimulierend (Rg1) und ZNS-dämpfend (Rb1). Neben den Ginsenosiden tragen Polyacetylene und Polysaccharide zur Wirkung bei. Die Hauptanwendung geschieht als Tonikum und Geriatrikum zur Stärkung und Kräftigung bei Müdigkeits- und Schwächegefühl, nachlassender Leistungsund Konzentrationsfähigkeit sowie in der Rekonvaleszenz. Das Arzneimittelbild von Ginseng entspricht der ostasiatischen Vorstellung zur Erlangung eines langen Lebens in Gesundheit ( > Hinweis).
979
980
24
Triterpene einschließlich Steroide
Nebenwirkungen. Bei hoher Dosierung oder Anwen-
dung über sehr lange Zeit sind Schlalosigkeit, Nervosität, Hypertonie und Durchfall beobachtet worden.
Hinweis. Die Anwendung von Ginseng zur Förderung der Lebensqualität wird in der westlichen Medizin kontrovers diskutiert (vgl. dazu auch Coleman et al. 2003).
Schlüsselbegriffe D-Hederin Aescin Aesculus hippocastanum Ambroxol Asiaticosid Asiatisches Wassernabelkraut Asiatsäure Atemwegserkrankungen Bronchitis Centella asiatica Centellae asiaticae herba Chronische venöse Insuffizienz (CVI) Cortisol-Metabolismus Dammarangrundgerüst Efeublätter Expektorans Gastritis Geriatrikum Geschmackskorrigens Ginseng radix Ginsengwurzel Glycyrrhetinsäure (GA) Glycyrrhiza glabra
24.6.9
Glycyrrhizinsäure (GZ) Hedera helix Hederacosid C Hederae folium Husten Impfstoff Adjuvans Isoliquiritigenin Lakritze Lebensqualität Liquiritiae radix Magen- und Duodenalgeschwüre Onjisaponine Panax ginseng Polyacetylene Polygala senega Polygala tenuifolia Polygalae radix Polysaccharide Primelwurzel Primula elatior Primula veris Primulae radix Protopanaxadiolsaponine
Steroidsaponine
Struktur und Vorkommen Die Steroidsaponine gehören zu den C27-Steroiden; sie lassen sich als Abkömmlinge des Cholesterols aufassen, dessen C8-Seitenkette so modiiziert ist, dass sich O-Heterozyklen ausbilden können. Nach der Ausgestaltung der Seitenkette unterscheidet man den Furostan- und den Spirostantyp ( > Abb. 24.34). Furostanderivate geben mit Ehrlichs-Reagens (Dimethylaminobenzaldehyd in 20%iger Salzsäurelösung) eine Rotfärbung; Spirostanderivate reagieren nicht. Bei den Spirostanen ergeben sich zahlreiche Isomeriemöglichkeiten, bedingt durch die Chiralitätszentren 20, 22 und 25 ( > Abb. 24.35). Alle nativen Sapogenine scheinen übereinstimmend die 20 (S), 22 (R)-Koniguration aufzuweisen; hingegen kommen beide 25-epimeren Va-
Protopanaxatriolsaponine Pseudoaldosteronismus Quillaiae cortex Quillaja saponaria Quillaja-Saponine Rosskastaniensamen Roter Ginseng Seifenrinde Senegawurzel Senegine Süßholzwurzel Tonikum Triterpensaponine Weißer Ginseng Wirkungen (anti-aging, antiexsudativ, antioxidativ, immunmodulierend, ödemprotektiv, resorptionsfördernd, Süßwirkung, tumorhemmend, venentonisierend) Wundheilung
rianten in der Planze vor, ja sie treten in der Regel gemeinsam auf. Die Vertreter der 25 (S)-Reihe bezeichnet man als „normale“ Sapogenine oder als Neosapogenine, die epimeren Vertreter der 25 (R)-Reihe als Isosapogenine. Bei den Rosopsida (Eudicotyledoneae) hat man bisher nur in wenigen Familien und Gattungen Vertreter mit Steroidsaponinen gefunden. Zu diesen seltenen Vorkommen zählen Arten der Gattung Digitalis (Familie: Plantaginaceae [IIB23 h], bisher Scrophulariaceae) sowie Trigonella foenum-graecum L. (Familie: Fabaceae [IIB9a]). Gehäut treten Steroidsaponine bei Familien auf, die zu den Liliopsida (Monocotyledoneae) zählen, insbesondere Familien aus der Ordnung der Dioscoreales, Asparagales und Liliales. Zu nennen sind hier v. a. die Gattungen Smilax (Smiliacaceae [IIA5a], bisher Liliaceae), Dioscorea (Dioscoreaceae [IIA3a]) sowie Agave und Yucca (Agavaceae [IIA6f]).
24
24.6 Saponine
. Abb. 24.34 22
21
OH
OH 24
20
26
20
25
23
27
27
Hydroxylierung
D
OH
H2O
Rest wie im Cholesterol (Abb. 24.1)
HO O
OH
27
20
CH3
F
20
O
D
20
27 22
22
E
HO
O
H2O
Spirostantyp (Spiroketal)
27
E D
22
O
Furostantyp
Die Steroidsapogenine sind formal Derivate des Cholesterols, dessen C8-Seitenkette modifiziert ist. Es kommen 2 Typen vor: der Furostan- und der Spirostantyp; Letzterer ist durch eine Spiroketalgruppierung charakterisiert
. Abb. 24.35
CH3
H3C
O 22
E
H
CH3
O
H
H H HO
H
H
ein Neosapogenin: 25 (S)-Spirostan H
H3C CH3 17
H
O
20
22
E
25
H
CH3
25
CH3
O H
H ein Isosapogenin: 25 (R)-Spirostan
9 Konfiguration von Spirostanen. In den nativen Spirostanen wird an den Chiralitätszentren 17 und 20 die Konfiguration beibehalten, wie sie im Cholesterol vorliegt (17-α-H und 20-α-CH3). Die Ringe D/E sind cis-verknüpft; das bedeutet, dass der Ring E über die Molekülebene, die durch Ring A bis D gebildet wird, herausragt. Der Pyranring F ist etwas senkrecht gegen E verdreht zu denken: der durch die C-Atome 22, 23 und 24 gebildete Teil des Pyranringes ist dem Betrachter zugewendet zu denken, gleichermaßen wie die Methylgruppen an C-10 und C-13. Die natürlich vorkommenden Spirostane teilt man, entsprechend der Konfiguration am C-25, in die Neosapogenine und die Isosapogenine ein. Sapogenine mit abweichenden Merkmalen kennzeichnet man als Pseudosapogenine
981
982
24
Triterpene einschließlich Steroide
Digitonin Digitonin ( > Abb. 24.36) bedeutet zweierlei: Einmal kennzeichnet es einen chemisch deinierten Stof und sodann verschieden zusammengesetzte Handelsprodukte ( > Tabelle 24.9), von denen das Digitonin otmals nur 40% ausmacht. Gute Handelsprodukte sind wie folgt zusammengesetzt: 70–80% Digitonin, 10–20% Tigonin plus Gitonin und weitere Begleitsaponine (wie z. B. Deglucodigitonin). Trotz ihrer uneinheitlichen Zusammensetzung stellen die Handelspräparate rein weiße, sehr schön kristallisierende Produkte dar. Ausgangsprodukt zur Gewinnung sind die Blätter von Digitalis purpurea L. Digitonin ist ein nützliches Reagens aufgrund seiner bemerkenswerten Eigenschat, mit Cholesterol einen unlöslichen, stöchiometrisch (1:1) zusammengesetzten Komplex zu bilden. Cholesterolester lassen sich mit Digitonin nicht ausfällen, hingegen zahlreiche andere E-Hydroxysteroide. Dass im Handelsdigitonin eine Saponinmischung vorliegt, ist für die Verwendung als Reagens zur quantitativen Bestimmung ohne Belang, da die Fällbarkeit der Begleitsaponine mit Cholesterol sehr ähnlich ist. Lediglich bei der Berechnung muss der Molgewichtsunterschied berücksichtigt werden; man setzt einen um 10% erniedrigten Faktor ein.
Smilax-Saponine Man kennt zurzeit an die 200 Smilax-Arten (Familie: Smilacaceae [IIA5a], bisher Liliaceae). Es handelt sich um Kletterplanzen mit einem ausdauernden holzigen Wurzelstock, stacheligen Stängeln und herzeiförmigen oder pfeilförmigen Blättern. Beheimatet sind Smilax-Arten in den Tropen und in den wärmeren Gegenden der nördlichen Hemisphäre. . Tabelle 24.9 Bestandteile von Digitoninhandelsprodukten Glykoside
Aglykon
Zucker
Digitonin
Digitogenin
2 Gal, 2 Glc, 1 Xyl
Tigonin
Tigogenin
2 Gal, 2 Glc, 1 Xyl
Gitonin
Gitogenin (= 15-Desoxydigitogenin)
3 Gal, 1 Xyl
Als Drogen verwendet man die getrockneten Wurzeln bestimmter Smilax-Arten. x Sarsaparille oder Sarsaparillwurzel besteht aus den ot meterlangen Wurzeln einiger mittelamerikanischer S.-Arten, insbesondere der Smilax aristolochiaefolia Mill. (Veracruzsorte), Smilax regelii Kill. et C. V. Morton (Hondurassorte), Smilax febrifuga Knuth neben unbekannten Smilax-Arten (Guayaquil- und Costa-Rica-Sorten); x In der chinesischen Medizin verwendet man Wurzeln und/oder Rhizome der folgenden in China heimischen Arten: S. sieboldi Miq., S. stans Maxim, S. scobinicaulis C. H. Wright, S. glabra Roxb. Wurzeln und Rhizomteile von Smilax-Arten enthalten, soweit sie bisher untersucht wurden, 1–3% Steroidsaponine, in denen Sarsapogenin und Smilagenin ( > Abb. 24.36) als Aglykone autreten. Wenn man die im Falle der Veracruz-Sarsaparille gefundenen Ergebnisse verallgemeinern darf, so liegen primär bisdesmosidische Saponine vor; die monodesmosidischen Spirostanole dürten Folgeglykoside darstellen ( > Abb. 24.37). In der rationalen Pharmakotherapie spielen weder Sarsaparille noch andere Smilax-Arten eine Rolle. Hingegen sind sie wichtige Arzneistofe in der Volksmedizin, und zwar aufallenderweise in der Volksmedizin sehr unterschiedlicher Kulturkreise (Neue Welt, Indien, China) für je gleiche Indikationen. So gehörte Sarsaparille während Jahrhunderten in Europa zu den Basismitteln der Luestherapie; in China verwendete man das Rhizom von S. glabra gegen das Primärstadium der Syphilis. Weitere volksmedizinische Indikationsgebiete sind: Psoriasis, chronische Hautausschläge, Furunkulose und Rheumatismus, überhaupt Krankheiten mit chronisch-entzündlichem Verlauf. Sarsaparillwurzel soll den Stofwechsel anregen und deshalb eine günstige Wirkung bei gewissen Hauterkrankungen und bei Rheumatismus haben. Ihre heutige Anwendung im Rahmen einer oralen Reizkörpertherapie bezweckt die Anregung der unspeziischen Abwehr. Die damit verbundene immunologische Wirkbasis muss allerdings wissenschatlich noch belegt werden (vgl. Hänsel 1984).
Glykoside des Diosgenins und verwandter Spirosta-5-ene Von den vorhergehend beschriebenen Steroidsapogeninen unterscheidet sich das Diosgenin (vgl. > Abb. 24.36)
. Abb. 24.36
H
H3C
O
CH3
H
H
O
CH3
CH3 O
CH3
H
H
H
HO
H
5
HO H
Tigogenin: 25 (R), 5α
H
5
HO
H
H
O
O
H
H
H H
5
HO
5
HO
H
H
β-D-Gal 1→2 β-D-Glc
Digitonin = β-D-Xyl
1→4
OH
H
H
O H
CH3
CH3 R
O
O
CH3
H
O
H
H 5
H
H
HO H R = H : Diosgenin 25 (R), 5-en R = OH : Ruscogenin
β-D-Gal 1→3 Digitogenin
24.6 Saponine
1→3
H
H3C
H
Sarsapogenin: 25 (S), 5β
Smilagenin: 25 (R), 5β
β-D-Glc
H
H
H
O
H
CH3
CH3 CH3
H
Digitogenin: 25 (R), 5α H3C
CH3
CH3
H
H
H
CH3
CH3
HO
H
O
CH3
O
Hecogenin: 25 (R), 5α H3C
CH3
CH3
H
H
H3C
O
CH3
H 5
H
H3C
1→3
Die wichtigsten natürlich vorkommenden Steroidsapogenine. Digitonin als Beispiel für ein neutrales, monodesmosidisches Steroidsaponin
24 983
984
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.37
27
H3C
CH3
OH
26
CH3 CH3
H
H
H
CH2O−β-D−Glc
O H
β-D-Glc
1→6
5
1→ α-L-Rha 1→4 β-D-Glc O
β-D-Glc
H3C
Sarsaparillosid (bisdesmosidisches Furostanolsaponin)
H⊕ oder Enzym
CH3 OH
CH3 H
H
H
1→2
β-D-Glc
H
26
H O
CH3
H3C
CH2OH
O
25
H
CH3 spontan
H
H H Rest wie Sarsaparillosid
O H
H Parillin (monodesmosidisches Spirostanolsaponin)
Biosynthetischer Zusammenhang zwischen bis- und monodesmosidischen Steroidsaponinen. Die Bisdesmoside stellen gleichsam die Vorstufen für die Monodesmoside dar: Der Zucker der Seitenkette wird enzymatisch, aber auch durch Säuren, sehr viel leichter abgespalten als die Zucker an 3-OH; die dabei entstehende Verbindung mit einer Diolseitenkette stabilisiert sich sofort zum Spiroketal. Die biologischen Unterschiede zwischen den beiden Saponinen sind beträchtlich: Parillin wirkt hämolysierend und fungistatisch; Sarsaparillosid ist hämolytisch und antimikrobiell weitgehend inaktiv
wesentlich dadurch, dass im Ring B eine Doppelbindung vorliegt. Weitere Vertreter der Spirosta-5-en-Reihe sind in > Tabelle 24.10 aufgeführt. Spirosta-5-ene lassen sich leicht von den sie begleitenden 5,6-Dihydroderivaten durch eine Farbreaktion mit Antimontrichlorid in Nitrobenzol-Methanol unterscheiden. Die selektive Rot- oder Rosafärbung der Spirosta-5ene mit Antimon (III)-Ionen dient zugleich als Basis einer möglichen photometrischen Bestimmung. In zahlreichen Dioscorea-Arten kommt Diosgenin in Form der beiden Trioside Dioscin und Gracillin vor. Dioscin enthält 1 Mol d-Glucose und Mol l-Rhamnose, während Gracillin 2 Mol d-Glucose und Mol l-Rhamnose enthält.
Dioscorea ist eine zu Ehren des griechischen Arztes Dioskurides (40–90 n. Chr.) benannte tropische Planzengattung. Bisher sind 250 Arten beschrieben. Wenn man von einigen der Stärke wegen kultivierten DioscoreaArten (Yamswurzel) absieht, die Rhizomknollen bilden, sind die anderen Dioscorea-Arten durch Wurzelknollen gekennzeichnet, die aus sprossbürtigen Wurzeln der Stängelbasis hervorgehen; sie sind von keuliger Gestalt, 30–70 cm lang und bis zu 20 kg schwer. Dioscorea-Arten haben einjährige, windende Stängel mit meist großen herzförmigen Blättern und getrenntgeschlechtlichen Blüten, die in lockeren Trauben stehen und 2-häusig oder 1-häusig verteilt sind; die Früchte sind 3-fächerige Kapseln.
24
24.6 Saponine
. Tabelle 24.10 Sapogenine der Spirosta-5-en-Reihe Trivialname
Konfiguration an C-25
Ringsubstitution
Diosgenin
25 (R)
3E-ol
Yamogenin (Neodiosgenin)
25 (S)
3E-ol
Ruscogenin
25 (R)
1E, 3E-diol
Neoruscogenin
25-en
1E, 3E-diol
Yuccagenin
25 (R)
2D, 3E-diol
Lilagenin (Neoyuccagenin)
25 (S)
2D, 3E-diol
Botogenin
25 (R)
3E-ol,12-on
Neobotogenin (Correlogenin)
25 (S)
3E-ol,12-on
. Abb. 24.38
H
H3C
H
CH3
CH3
O
H
H H
H3C
O
CH3 CH3
Einige Arten werden in Gewächshäusern ihrer schönen Blüten wegen als Zierplanzen gezogen; andere haben in tropischen Gegenden Bedeutung als Nahrungsmittel (Yams), vergleichbar unserer Kartofel, so D. alata L., D. bulbifera L., D. cayennensis Lam., D. esculenta (Lour.) Burk., D. opposita Thunb. (Synonym: D. batatas Decne.). Andere Dioscorea-Arten spielen in der Volksmedizin als Arzneidrogen eine Rolle, insbesondere die getrockneten unterirdischen Teile von D. villosa L., einer in den östlichen und mittleren Regionen der USA beheimateten Art. Infuse gelten als spasmolytisch, entzündungswidrig, antirheumatisch und cholagog wirksam. Als Indikationen werden genannt: rheumatoide Arthritis, Muskelrheuma, Cholezystitis, Dysmenorrhoe. Wurzeln von Dioscorea-Arten, die zur Diosgeningewinnung gesammelt werden ( > Tabelle 24.11), bezeichnet man in Mexiko als Barbasco. Ursprünglich versteht man
H
CH3
H
H
CH3 O OAc
H
Acetanhydrid, 200˚C Acetolyse
H
H
HO
AcO
Diosgenin (1)
Pseudodiosgeninacetat (2)
CrO3
H3C
O CH3
CH3 CH3
H
CH3 CH3
16
H
H
HO
AcO
16-Dehydropregnenolon (4)
Dioson (3)
O CH3
H
H
CH3COOH, ∆ H
O
H
OAc
Abbau von Diosgenin (1) zum 16-Dehydropregnenolon (4), einer Muttersubstanz, die partialsynthetisch zu Corticosteroiden, Pregnenen, Androstenen und 19-Norsteroiden umwandelbar ist. Diosgenin wird im Druckkessel bei 200 °C mit Acetanhydrid gekocht. Dabei bricht der Spiroketalring unter Ausbildung einer 20,22-Doppelbindung auf: es bildet sich das als Pseudodiosgenin (c-Diosgenin) bezeichnete Furostanderivat 2, das bei niederen Temperaturen mit Chromsäure zum Diketon 3 (= Dioson) abbaubar ist. Erhitzen mit Essigsäure führt zu 4 bzw. 4-Acetat. 4 wird in mehreren Schritten in Cortexolon umgewandelt und anschließend durch 11β-Hydroxylierung mit Hilfe von Mikroorganismen in Cortisol übergeführt
985
986
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Tabelle 24.11 Dioscorea-Arten mit industrieller Bedeutung als Rohstoff zur Diosgeningewinnung Art
Geographische Herkunft
D. composita HEMSL.
Mexiko, Guatemala
D. deltoidea WALL.
Indien, Pakistan, Nepal
D. floribunda M. MART. et GAL.
Mexiko, Mittelamerika
D. mexicana GUILL.
Mexiko, Mittelamerika
D. panthaica PRAIN. et Burk.
China
D. prazeri PRAIN. et BURK.
Indien
D. spiculiflora HEMSL.
Mexiko, Mittelamerika
D. zingiberensis C.H. WRIGHT
China
in den spanisch sprechenden Ländern der neuen Welt unter Barbasco jede als Fischgit zum Fischfang verwendbare Wurzel, gleichgültig, um welche Planzenart es sich handelt. Einen Teil der auf dem Weltmarkt angebotenen Arzneistofe vom Typus der Steroide – Corticosteroide, Sexualhormone und Ovulationshemmer – stellt man partialsynthetisch aus Diosgenin ( > Abb. 24.38), andere aus Sitosterol, Gallensäuren und weiteren Naturstofen her. Bei allen Verfahren werden Mikroorganismen für stereospeziische Reaktionsschritte eingesetzt.
Mäusedornwurzelstock Herkunft. Mäusedornwurzelstock (Rusci rhizoma
PhEur 5, korrigiert 5.3) besteht aus den unterirdischen Teilen von Ruscus aculeatus L. (Familie: Convallariaceae [IIA6a], bisher Asparagaceae). Die Stammplanze, ein bis 1 m hoch werdender, immergrüner Halbstrauch ist in Frankreich und im Mittelmeergebiet (inklusive Nordafrika) heimisch. Charakteristisch sind die eigentümlich gestalteten, blattförmigen Kurztriebe (Phyllokladien), die in den Achseln stark reduzierter Blätter sitzen und in eine scharfe Spitze auslaufen. Von dieser Eigentümlichkeit leitet sich die botanische Artbezeichnung ab (aculeatus = stachelig). Inhaltsstoffe
x Steroidsaponine (4–6%; PhEur = mindestens 1,0% Sapogenine) mit den Aglykonen Neoruscogenin und Ruscogenin ( > Abb. 24.39 und 24.40);
x Sterole und Sterolglykoside, Triterpene, 2,5-Diacetyl6-hydroxybenzofuran (Euparon), Chrysophansäure;
x wenig ätherisches Öl, C22-C26-Fettsäuren.
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Nachweis (PhEur) der Rusco-
genine nach Hydrolyse mit verdünnter Salzsäure [Fließmittel: Methanol–Methylenchlorid (7:93); Referenzsubstanzen: Ruscogenine CRS und Stigmasterol; Nachweis: Vanillin-Schwefelsäure-Reagens]. Die Ruscogenine erscheinen nach Besprühen mit dem Vanillin-Schwefelsäure-Reagens im Tageslicht als gelbe Zone. Gehaltsbestimmung. Die Gehaltsbestimmung der Rus-
cogenine (PhEur) erfolgt mit der HPLC unter Verwendung von octadecylsilyliertem Kieselgel (5 µm) als Säulenmaterial, einem Wasser-Acetonitril-Gradienten und einer Mischung der Ruscogenine [Ruscogenine CRS (Ruscogenin + Neoruscogenin)] als externer Standard. Verwendung. Aus dem Mäusedornwurzelstock werden hydroalkoholische Extrakte sowie Neoruscogenin/ Ruscogenin-Reinstofpräparate, deklariert als „Ruscogenine“, hergestellt, die durch hydrolytischen Abbau der Saponine gewonnen werden. Deglucoderhamnoruscin und weitere zuckerarme Saponine werden durch Behandlung mit geeigneten Enzymen hergestellt (Di Lazzaro et al. 2001). Pharmakokinetik. Zur Pharmakokinetik der Saponine von R. aculeatus am Menschen liegt bisher nur eine Pilotstudie vor. Dabei wurde an 3 Probanden je 1 g RuscusExtrakt p.o. verabreicht. Die höchste Plasmakonzentration an Deglucoruscin (~2 µg/ml) konnte mit der HPLC zwischen 90–120 min nachgewiesen werden. Dieser Versuch zeigt, dass Spirostanolglykoside vom Menschen nach p.o.-Verabreichung resorbiert werden (Rauwald u. Grünwidl 1991). Diese vorläuigen Resultate müsssen durch eine größere Studie und unter Berücksichtigung der heute bekannten genuinen Hauptinhaltsstofe bestätigt werden. Wirkungen. Im Tierexperiment konnten eine Erhöhung
des Venentonus, kapillarabdichtende, antiphlogistische und diuretische Wirkungen nachgewiesen werden (Kommission E). Als Wirkstofe gelten insbesondere Deglucoderhamnoruscin und weitere zuckerarme Saponine sowie die Aglykone Neoruscogenin und Ruscogenin. Die Agly-
24
24.6 Saponine
. Abb. 24.39 H3C
OR2
CH3
O O
R1O O
α L-Ara H3C HO R3O
OR 4 E
CH3
H
H
H
26
22
O
Grundgerüst = Spirosta-5,25(27)-dien; Aglykon = Neoruscogenin, C27H40O4
OR2
R3
R4
H H
GIc H
H H
H
H
O
R1
R2
R3
H H
H H
GIc H
25 (R)
CH3
H
H3C
25 (R)
O E
23
24
CH3
O
H
HO OH
26
27
H H
O
3 (Ruscin) 4 (Deglucoruscin)
OGIc OR4 E
CH3
1
α-L-Rha
R2
H H
CH3
O
H3C HO R3O
R1
H3C
O
24
H
1 (Ruscosid) 2 (Deglucoruscosid)
α-L-Ara
CH2
25
O
OGlc
α L-Rha
O
23
E
Grundgerüst = Furosta-5,25(27)-dien
R1O
O
25
HO OH
27
H3C
H
1
O
27 CH 2
Grundgerüst = 25 (R)-Furosta-5-en
Grundgerüst = 25 (R)-Spirosta-5-en; Aglykon = "Ruscogenin" (1β-Hydroxydiosgenin), C27H42O4
Mäusedornwurzelstock enthält als charakteristische und pharmakologisch aktive Inhaltsstoffe ein sehr komplexes Gemisch von ca. 30 Steroidsaponinen mit Furosta-5,25(27)-dien-, Spirosta-5,25(27)-dien-, (25R)-Furosta-5-en- und (25R)-Spirosta-5-en-Grundstrukturen (vgl. Mimaki et al. 1998a,b,c,d; Mimaki et al. 1999 und darin zitierte Literaturen). Die Zuckerkette ist bei allen Ruscus-aculeatus-Saponinen nicht über das 3-OH, sondern über das 1-OH an das jeweilige Genin gebunden, die Ringe A–E (C-1 bis C-21) sind identisch (Ringverknüpfung: B/C, C/D = trans; D/E = cis). Bei den mengenmäßig vorherrschenden Hauptsaponinen handelt es sich um die bisdesmosidischen Furostanolglykoside Ruscosid (1) und Deglucoruscosid (2) sowie die monodesmosidischen Spirostanolglykoside Ruscin (3), Deglucoruscin (4) und Deglucoderhamnoruscin (Aglykon: Neoruscogenin) (vgl. de Combarieu et al. 2002). Als Nebenglykoside kommen die (25R)-25,27-Dihydroderivate der aufgeführten Verbindungen vor (in der Abbildung = Formeln unten; ohne Trivialnamen), ferner Steroidsaponine, die am OH-C-22 methyliert, 23-Hydroxy- bzw. 23,24-Dihydroxyneoruscogenin als Aglykon aufweisen, Arabinose durch β-D-Galactose ersetzt ist, der Substitutent R1 β-D-Xylose darstellt, die an einem der Zuckerbausteine sulfatiert, acetyliert oder mit einer 2-Hydroxy-3-methylpentanoyl-Gruppe substituiert bzw. am Aglykon (1-OH) mit einem Sulfatrest verestert sind. Es ist nicht abgeklärt, ob 22-Oxyfurostanol als 22-OH wie in Ruscosid/Deglucoruscosid oder als 22-OCH3 genuin in der Pflanze vorkommt. Enzymatische oder säurehydrolytische Abspaltung der Zucker führt bei den Furostanolglykosiden unter Zyklisierung der Seitenkette nicht zum freien Furostandientetraol, sondern zu Neoruscogenin. Gemäß Rauwald u. Janßen (1988) werden bei der Hydrolyse eines Ruscus-Extrakts 75% Neoruscogenin und 25% Ruscogenin als Aglykone erhalten. Die Bezeichnung „Neoruscogenin“ für das Spirosta-25(27)-dien-Grundgerüst ist verwirrend, da der Name Neoruscogenin für das Aglykon mit einem 25(S)-∆5-Spirostaengerüst verwendet werden sollte (vgl. > Abb. 24.35)
987
988
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.40
Von besonderem Interesse ist das Aculeosid A. Es handelt sich dabei um ein bisdesmosidisches Spirostanolglykosid mit einer seltenen Deoxyaldoketose (6-Deoxy-D-glycero-L-threo-4-hexosulose), die über das 24-OH des 23,24-Dihydroxyneoruscogenins verknüpft ist (Horikawa et al. 1994; Mimaki et al. 1998d). Es zeigt eine starke zytostatische Aktivität an menschlichen HL-60-Leukämiezellen (IC50-Wert = 0,48 μg/ml–1). Kürzlich wurden zwei strukturell interessante AculeosidA-Derivate mit einer 1,3-Dioxolan-Spirostruktur isoliert, die Spilacleoside A und B. Sie sind aus Aculeosid A und (2R, 3S)2,3-Dihydroxy-3-methylpentansäure zusammengesetzt (Kameyama et al. 2003)
kone der Ruscus-Saponine („Ruscogenine“) erwiesen sich in vitro als Hemmstofe der Elastase (vgl. dazu auch Kap. 24.6.8, Abschnitte Efeublätter und Rosskastaniensamen; Facino et al. 1995). Übersichten über die bis 1997/98 vorliegenden pharmakologischen und klinischen Untersuchungen inden sich bei van Rensen (2000) und bei Noé (2000). In den vorliegenden Anwendungsbeobachtungen und meist ofenen, nicht GCP-konformen klinischen Studien sowie den pharmakologischen Untersuchungen wurden Extrakte von Mäusedornwurzelstock fast immer als Bestandteil von Kombinationspräparaten untersucht (z. B. Ruscusextrakt, Hesperidinmethylchalkon, Ascorbinsäure; für neue Literatur dazu vgl. Bouaziz et al. 1999; Jäger et al. 1999; Parrado u. Buzzi 1999; Beltramino et al. 2000 und darin zitierte Literatur). Eine erst kürzlich durchgeführte randomisierte, plazebokontrollierte Doppelblindstudie (Vanscheidt et al. 2002) ergab signiikante Unterschiede zwischen dem Ruscusextrakt (mind. 4,5 mg Gesamtrus-
cogenine pro Dosis) und Plazebo in der Behandlung von Patienten mit chronischer venöser Insuizienz [vgl. Infobox „Chronische venöse Insuizienz (CVI)“; S. 969]. Anwendungsgebiete. Zur unterstützenden herapie von
Beschwerden bei CVI wie Schmerzen und Schweregefühl in den Beinen, nächtliche Wadenkrämpfe, Juckreiz und Schwellungen. Unterstützende herapie von Beschwerden bei Härmorrhoiden wie Juckreiz und Brennen (Kommission E, ESCOP). Hydroalkoholische Trockenextrakte, die Saponine enthalten, werden vergleichbar mit Rosskastanienextrakten in verschiedenen Zubereitungsformen als Venenmittel angeboten, während Ruscogeninpräparate zu Hämorrhoidalmitteln verarbeitet werden. Nebenwirkungen. In seltenen Fällen können Magenbe-
schwerden und Übelkeit autreten.
24.7 Herzwirksame Steroide
! Kernaussagen
Mäusedornwurzelextrakte werden zur unterstützenden Behandlung von Beschwerden bei CVI verwendet. Hauptinhaltsstoffe sind Steroidsaponine mit den Aglykonen Ruscogenin und Neoruscogenin, bei denen die Zuckerkette nicht über das 3-OH, sondern über das 1-OH an das Aglykon gebunden ist. Zuckerarme Steroidsapo-
24
nine wie Deglucoderhamnoruscin und die Aglykone Neoruscogenin und Ruscogenin haben insbesondere kapillarabdichtende und antiphlogistische Wirkungen. Metabolismus und Pharmakokinetik der Steroidsaponine müssen am Menschen in einer größeren Studie untersucht werden, bevor zuverlässige Aussagen über die Wirkstoffe gemacht werden können.
Schlüsselbegriffe Chronische venöse Insuffizienz (CVI) Deglucoderhamnoruscin Digitonin Dioscorea-Arten Diosgenin Furostanole Isosapogenin Mäusedornwurzelstock
Mikrobielle Steroidhydroxylierung Neosapogenin Parillin Paritalsynthese von Corticosteroiden Reizkörpertherapie Ruscogenine Ruscus aculeatus Sarsaparillosid
24.7
Herzwirksame Steroide
24.7.1
Begriffsbestimmung, Geschichtliches
Unter herzwirksamen Steroiden versteht man eine Gruppe meist glykosidischer Planzeninhaltsstofe, die speziische Wirkungen auf den Herzmuskel von Kalt- und Warmblütlern entfalten. Der üblicherweise verwendete Begrif “herzwirksame Glykoside” für diese Stofgruppe ist ungenau, da in der Natur auch nichtglykosidische Steroide sowie Glykoside ohne Steroidgerüst mit einer Wirkung auf das Herz vorkommen. Niedrige (therapeutische) Dosen der herzwirksamen Steroidglykoside wirken kardiotonisch. Ein isoliertes Froschherz beispielsweise, das unter zunehmender Belastung langsam größer wird und in Diastole stehen bleibt, nimmt nach Gabe von einem Tropfen einer Glykosidlösung seine Arbeit wieder auf und verkleinert sich bereits nach wenigen Schlägen. Ähnlich kann beim Menschen der insuiziente Herzmuskel aus einem Zustand chronischer Erschöpfung erneut zur notwendigen physiologischen Leistung stimuliert werden. Höhere (toxische) Dosen haben eine speziisch toxische Wirkung auf das Herz: Es kommt zu einer dauernden Erhöhung des Herztonus, wobei die diastolische Erschlaffung zunehmend geringer wird. Hinzu treten Rhythmusstörungen und eine Blockierung des Reizleitungssystems mit
Sarsapogenin Smilagenin Smilax-Arten Smilax-Saponine Spirostanole Steroidsaponine
ungeordnetem Funktionieren des Herzens. Schließlich steht das Herz in halbkontrahiertem Zustand (Säugetierherz) oder in maximaler Systole (Froschherz) still. Beide Wirkungen, die kardiotonische als auch die toxische, waren in der vornaturwissenschatlichen Ära bekannt. Die Meerzwiebel, Scillae bulbus, wird in allen größeren medizinisch-botanischen Werken der Antike erwähnt; Dioskurides empiehlt sie Wassersüchtigen, ebenso Celsus und Scribonius Largus. Das Maiglöckchen, Convallaria majalis, spielt im Mittelalter eine vergleichbare Rolle. Der purpurrote Fingerhut (Digitalis purpurea) wurde zuerst in der Volksmedizin der britischen Inseln verwendet. Durch das Wirken des englischen Arztes William Withering – seine bekannte Schrit „An account of the foxglove, and some of its medical uses with practical remarks on dropsy, and other diseases“ erschien im Jahre 1785 – wurden die therapeutischen Efekte der Digitalis-Blätter in der Medizin allgemein bekannt. Getrocknetes Sekret der Haut- und Ohrspeicheldrüsen von Kröten (Bufonidae) – eine tierische Droge mit typischer Digitaliswirkung – war ein wichtiges Herzmittel der chinesischen Medizin lange vor Christi Geburt. Auch die toxischen Wirkungen von herzwirksamen Steroiden waren bekannt. Man verwendete entsprechende Planzenextrakte zur Herstellung von Pfeilgiten, so auf Borneo von Antiaris toxicaria (Pers.) Lesch. (Familie: Moraceae [IIB11c]), in Westafrika von Strophanthuskombé-Samen.
989
990
24 24.7.2
Triterpene einschließlich Steroide
Aufbau der herzwirksamen Steroidglykoside
( > Abb. 24.42) weisen cis-trans-Verknüpfung auf, wie sie auch für die Gallensäuren (Coprostanreihe) typisch ist. Die cis-Verknüpfungsweise der Ringe C/D hingegen kommt außerhalb der herzwirksamen Steroidglykoside fast nicht vor (Ausnahme: Holarrhena-Alkaloide). An funktionellen Gruppen trägt das Steroidgerüst 2 E-ständige Hydroxylgruppen an C-3 und C-14 sowie einen Butenolidring E-ständig an C-17. Die Variation dieses Prototypmoleküls umfasst im Wesentlichen 2 Typen: a) Abwandlung des Butenolidringes und b) Abwandlung durch Oxidation (Substitutionsmuster).
Herzwirksame Steroidglykoside sind C23- oder C24-Steroide, die über die alkoholische 3-Hydroxylgruppe in glykosidischer Bindung mit der zyklischen Halbacetalform eines Mono-, Di-, Tri- oder Tetrasaccharidrestes verknüpt sind. Aglykon. Als Prototyp kann das Digitoxigenin gelten: Bei ihm sind alle Struktureigentümlichkeiten, die zur Herzwirksamkeit erforderlich sind, voll ausgebildet ( > Abb. 24.41). Die Ringe A/B/C des Steroidgerüstes . Abb. 24.41
O O O CH3
CH3 H 5
H CH3
20
H
CH3
H
H
H
O
H
O
O 23
H CH3
20
H
24 23
21
22
CH3
14
H
20
H
22
14
14 5
5β,14β-Cardanolid
H
H
5
H
Konformationsformel
H
H
H 5β,14β-Bufanolid
Konfigurationsformel O O R1
CH3
12
CH3
3
CH3 17
H H
O
O
16
R2
CH3
OH 3
HO R2
H OH H OH
H H OH OH
H
14
OH
HO
H
R1
H
3β,14β-Dihydroxybufa-4,20,22-trienolid (Scillarenin) Digitoxigenin Digoxigenin Gitoxigenin Diginatigenin
Zur Nomenklatur der Aglykone. Nach den IUPAC-Regeln von 1967 wird der gesättigte Grundkörper der C23-Steroide als Cardanolid bezeichnet; die Bezeichnung Bufanolid wird für C24-Steroide verwendet, die an C-17 einen 6-gliedrigen Lactonring tragen. Damit die von den beiden Grundkörpern sich ableitenden Derivate die typische Herzwirkung aufweisen, müssen bestimmte strukturelle und räumliche Merkmale vorliegen: 1) β-ständige ungesättigte Lactonringe an C-17; 2) mindestens 2 β-ständige Hydroxylgruppen an C-3 und C-14
24
24.7 Herzwirksame Steroide
9 Schattenriss von Dreiding-Modellen. Die Ringe A mit B
. Abb. 24.42
•
• HO 3
• •
•
•
•
sowie C mit D sind bei den herzwirksamen Steroiden cisverknüpft, die Ringe B mit C hingegen trans-verknüpft. Dies bedeutet für den räumlichen Bau des Cyclopentanoperhyodrophenanthrenteils, dass nur die Ringe B und C annähernd flächig-eben gebaut sind, die Ringe A und D hingegen beide stark abgewinkelt sind. Zum Vergleich: ein mit Digitoxigenin isomeres Molekül mit durchgehender trans-Verknüpfung sämtlicher Ringe. B Butenolidring
•
• •
•
•
• • OH • 14
B 17
•
•
•
•
991
Digitoxigenin •
• •
HO 3
•
•
•
• •
•
• •
•
•
• • 14
•
•
• 17
B
•
OH
Vergleich: alle Ringe trans-verknüpft
. Abb. 24.43
O
O 21
CH3
CH3 CH3
CH3
CH3
H
CH3
H
Cholesterol H
C27
H
5
O
H
H
HO
H 5β-Pregnan-3β-ol-20-on (2)
Progesteron (1)
O O CH3 CH3
HO
H
Digitoxigenin
CH3
OH CH3
H H
O
COOH
OH
OH
CH3−COOH
CH3
H H
OH 2 H2O
OH
OH
HO
H 5β-Pregnan-3,14,21-triol-20-on (3)
Biosynthetisch lassen sich die Cardenolide als Derivate des Cholesterols auffassen. Wie der tierische Organismus, so sind auch Pflanzen befähigt, Cholesterol zum C21-Progesteron abzubauen. Hydroxylierung an C-14 und C-21 der Zwischenstufe 2 führt zum Triol 3. Die beiden Kohlenstoffatome der C23-Cardenolide stammen aus Acetyl- bzw. Malonyl-CoA. Die C3-Kette der Bufadienolide stammt aus Propionyl- oder Methylmalonyl-CoA
992
24
Triterpene einschließlich Steroide
Zu a): Anstelle des 5-gliedrigen Lactonringes kann auch ein D-Pyron-Ring (Cumalinring; Pentadienolidring) vorkommen. Dementsprechend teilt man die herzwirksamen Steroide in die Gruppe der Cardenolide und in die der Bufadienolide ein. Zu b): Das Steroidgerüst kann an zahlreichen weiteren Stellen hydroxyliert (und sekundär acyliert) sein; v. a. betrofen sind dabei die Positionen C-1, C-5, C-11, C-12 und C-16. Sodann kann anstelle der Methylgruppe an C-10 eine Hydroxymethyl- oder eine Aldehydgruppe vorliegen, wie das für die Cardenolide aus Strophanthus- und Convallaria-Arten charakteristisch ist. Von den etwa 100 bekannten Aglykonen unterscheiden sich einzelne auch durch das Autreten von Doppelbindungen im Ringsystem, zusätzlichen Epoxy- oder Oxogruppen und seltener durch trans-trans-cis-Verknüpfung der Ringe. Auf weitere Abweichungen bei seltener vorkommenden und therapeutisch nicht verwendeten Glykosiden kann hier nicht eingegangen werden. Der biosynthetischen Verwandtschat nach sind die Aglykone zwischen dem Cholesterol und den Pregnanen einzuordnen. Stammverbindung ist das C27-Cholesterol, das zunächst zu einem C21-Steroid abgebaut und durch Verknüpfung mit Acetyl- bzw. Malonyl-CoA bzw. einem C3-Donator zu den C23-Cardenoliden und den C24-Bufadienoliden wieder aufgebaut wird ( > Abb. 24.43). Zuckerteil der herzwirksamen Steroidglykoside. Es kommt neben d-Glucose, l-Rhamnose und d-Fucose eine Reihe sonst sehr seltener 2,6-Didesoxyzucker sowie deren 3-Methylether vor ( > Abb. 24.44). In allen bisher bekannten Glykosiden ist das Aglykon entweder E-d-glykosidisch oder D-l-glykosidisch mit der Zuckerkette verbunden, was bedeutet, dass in allen Glykosiden die Absolutkoniguration am Anomeriezentrum C-1 stets die gleiche ist. Die Zucker der E-d-Reihe liegen in der 4C1-, die der D-lReihe in der 1C4-Konformation vor ( > Abb. 24.44). Wenn seltene Desoxyzucker und „normale“ Zucker, wie d-Glucose nebeneinander in der Zuckerkette autreten, dann ist das Aglykon an einen seltenen Zucker gebunden, wohingegen die d-Glucosemoleküle endständig angeordnet sind. Enzyme spalten bevorzugt die E-d-Glucose ab. Bereits während der Aufarbeitung der Droge können sich aus den genuinen Primärglykosiden die glucosefreien Sekundärglykoside bilden. Glykosidnatur. Die glykosidische Verknüpfung der herz-
wirksamen Steroide mit Zuckern ist für die Herzwirk-
samkeit nicht unbedingt notwendig, die Aglykone allein sind auch wirksam. Sie sind allerdings therapeutisch nicht brauchbar, da sie im Organismus sehr rasch metabolisiert werden. Die Zucker beeinlussen nicht nur die physikochemischen Eigenschaten der Glykoside (Resorption, Proteinbindung, Verteilung im Organismus, Biotransformation und Ausscheidung) wesentlich, sie sind auch für die Ainität der Substanzen mit dem Digitalisrezeptor essentiell (vgl. Kap. 24.7.6). Erst der Umstand, dass die Aglykone mit seltenen Zuckern verknüpt sind, die im Organismus nicht oder nur sehr langsam abgebaut werden, ermöglicht die therapeutische Verwendung dieser Planzenstofe. Die am 3-OH glykosidisch gebundene Zuckerkette verhindert nicht nur die Inaktivierung des Genins, sie erschwert auch dessen Hydroxylierung – einen entscheidenden metabolischen Schritt zur rascheren Elimination aus dem menschlichen Organismus. Wären die Genine beispielsweise direkt an d-Glucose, einen im menschlichen und tierischen Organismus vorkommenden Zucker, gebunden, so wäre höchst wahrscheinlich die Metabolisierung dieser herzwirksamen Steroide nicht allzusehr verzögert und ihre therapeutische Wirksamkeit somit höchst lüchtig.
24.7.3
Einige chemische Eigenschaften, Farbreaktionen
Die herzwirksamen Steroidglykoside sind farblose, kristallisierbare Substanzen, die einen bitteren Geschmack aufweisen. Sie sind leicht löslich in Ethanol, Chloroform und Pyridin, mäßig löslich in Ethylacetat. In Wasser sind sie, sobald sie in reiner Form vorliegen, nur schwer löslich; doch sind sie aus planzlichem Material durchaus mit Wasser extrahierbar. In wässriger oder alkoholischer Lösung sind sie nur bei neutralem sowie sehr schwach basischem und sehr schwach saurem pH-Bereich beständig. In stark saurem Bereich, v. a. bei höherer Temperatur (Hydrolysebedingungen), erfolgt leicht Dehydratisierung zu den unwirksamen 14-Anhydroverbindungen. Alkalieinwirkung führt zunächst zur Öfnung des Lactonringes; unter Verschiebung einer Doppelbindung bildet sich eine Aldehydcarbonsäure, die nach Wiederansäuern zu den unwirksamen Isocardanoliden rezyklisiert ( > Abb. 24.45). Herzwirksame Steroidglykoside geben mit vielen Reagenzien Farbreaktionen, wobei der Steroidteil, der Zu-
24
24.7 Herzwirksame Steroide
. Abb. 24.44 H3C
HOH2C HO
O OH
OH H3C OH
β-D-Fucose
OH H3C OH
OH
β-D-Digitalose
HO
O
H3CO
α-L-Rhamnose
OH
Aglykon
O OH
H3CO
OH H3C HO
4
C1
OH
OH
H3C HO
O
H3CO
1
C4
α-L-Oleandrose
α-L-Thevetose
3→1
C1
β-D-Diginose
OH O
4
β-D-Cymarose
O
H3CO
OH
H3C HO
OH OCH3
β-D-Digitoxose
O
O
HO
OH
β-D-Glucose
HO
OH
OH
HO
OH H3C
H3C
O
HO
DOZ − DOZ − DOZ − Glc
DOZ = Desoxyzucker
Primärglykosid pflanzeneigene Enzyme
Aglykon − DOZ − DOZ − DOZ
⊕ H Glc Aglykon
+
DOZ − Glc
+
2 DOZ
Biose
Obere Hälfte: Beispiele von Zuckern der herzwirksamen Steroidglykoside. Die Zucker der D-Reihe sind β-glykosidisch, die Zucker der L-Reihe α-glykosidisch mit dem Aglykon verknüpft. Dabei liegen die Zucker bei den β-D-Glykosiden in der 4C Konformation vor, die der α-L-Reihe überraschenderweise bevorzugt in der 1C -Konformation. Dies bedeutet, dass in 14 der α-L-Reihe der raumerfüllende Cardenolidrest eine axiale Position einnimmt. Untere Hälfte: In der Pflanze liegen die herzwirksamen Steroidglykoside genuin in einer zuckerreichen Form, als Tetra- oder Pentaoside, vor. Wenn die Zuckerkette Desoxyzucker (DOZ) neben „normalen“ Hexosen enthält, so sind die DOZ unmittelbar mit dem Genin verknüpft. Pflanzen, die herzwirksame Glykoside führen, enthalten zugleich Enzyme, die selektiv die endständigen „normalen“ Hexosen – in der Regel handelt es sich um β-D-Glucose – abspalten: Die Primärglykoside gehen in Sekundär- oder Folgeglykoside über. Gegen Säurehydrolyse erweist sich die Bindung Aglykon-DOZ als ziemlich empfindlich, sodass neben dem Aglykon intakte Bioside nachgewiesen werden können
993
994
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.45
O
O O
O O
CH3
O
CH3
CH3
⊕ H ,∆T
17
+
OH
1
2a OH
2b unwirksame Anhydroderivate
−
COOH 22
CH3
CH3
OH 17
20
20
21
OH
OH
21
3
COOH OH
4
H CH3
H
H 20
17
O
22
17
O 21
CH3
22
20 17
O
O
CH3
22
COOH
21
6
22
O
OH
COOH
H
OH Isocardanolid 7, unwirksames Acylal
20 17
5
In stark saurer Lösung, insbesondere bei erhöhter Temperatur (Hydrolysebedingungen) erfolgt unter Abspaltung der tertiären 14-OH-Gruppe Dehydratisierung zu unwirksamen 14-Anhydroverbindungen (2a und 2b). Durch Einwirkung von Alkali wird der Lactonring zerstört unter Bildung der unwirksamen Acylale (7). Man nimmt an, dass die Reaktion mit einer Hydrolyse des Butenolidringes (1o3) und einer Umlagerung der Doppelbindung von C-20(22) nach C-20(21) (3o4) beginnt, der sich eine Tautomerisierung des intermediär gebildeten Vinylalkohols zum Aldehyd anschließt (4o5). Der Aldehyd 5 reagiert mit der 14-OH-Gruppe zum 6-gliedrigen, zyklischen Halbacetal 6, das zum Isocardenolid 7 lactonisiert
ckerteil oder der Lactonring für die Reaktion verantwortlich sein kann. Die Farbreaktionen sind nützlich: x zur Charakterisierung isolierter Glykoside bzw. entsprechender Arzneistofe; x zum DC-Nachweis bei der Prüfung von Arzneistofen, Arzneimitteln und Drogen auf Identität und Reinheit; x zur quantitativen photometrischen Bestimmung in Drogen und daraus hergestellten Arzneimitteln.
Gebräuchliche Nachweis- und Bestimmungsreaktionen sind die folgenden: x Kedde-Reaktion: Versetzt man die alkoholische Lösung eines Cardenolids mit 3,5-Dinitrobenzoesäureund Natriumhydroxidlösung, so entsteht eine intensive Färbung: z. B. violett beim Digoxin und Digitoxin (PhEur 5). x Raymond-Reaktion: Wie Kedde-Reaktion, jedoch anstelle von Dinitrobenzoesäure 1,3-Dinitrobenzol: z. B. blau beim Ouabain (PhEur 5).
24.7 Herzwirksame Steroide
x Baljet-Reaktion: Sie besteht in einer orangeroten
Carbeniat-Anion der aktivierten (aciden) Methylengruppe reagiert mit dem aromatischen Reagens, wobei gefärbte Komplexanionen entstehen ( > Abb. 24.46) x Die Farbreaktion nach Keller-Kiliani besteht im Erscheinen einer grünen, später blauen Färbung beim Unterschichten des in Essigsäure 99% gelösten Cardenolids mit dem gleichen Volumen Schwefelsäure unter Zusatz von 1 Tropfen Fe(III)-chloridlösung. Anwendung: Prüfung auf Identität von Digitoxin und Digoxin nach PhEur 5.
Färbung, die D, E-ungesättigte Lactone beim Umsetzen mit einer alkalischen Pikrinsäurelösung zeigen. Anwendungsbeispiele: Gehaltsbestimmung von Ouabain (g-Strophanthin), Digitoxin und Digoxin nach PhEur 5.
Die Kedde-, Raymond- und Baljet-Reaktionen zeigen aktivierte Methylengruppen an. Sie fallen daher bei Cardenoliden, nicht aber bei Bufadienoliden positiv aus. Das . Abb. 24.46
24
O2N
O2N R'
R
CO
NO2
+
CH2 R'
OH
R
CO CH
NO2
H 1 −2H
O2N
O2N
R' R
R'
CO CH
NO2
H
R
CO C
3
NO2
2
O
O O
H
COO
O
NO2
H Cardenolidrest
O2N Meisenheimer-Komplex (farbig)
NO2
O2N
NO2
OH Zimmermann-Verbindung (farbig)
Wie bereits im Jahre 1886 erstmals beschrieben (Janovsky u. Erb 1886), reagieren Verbindungen, die eine aktivierte Methylengruppe enthalten, mit m-Dinitrobenzol in Lauge unter Bildung farbiger Chinoide 2; bei der Bildung von 2 über die Zwischenstufe 1 wirkt das im Übermaß vorhandene Nitroderivat als Oxidationsmittel (Kakáč u. Vejdělek 1974). Die Methylengruppe des Butenolidrings herzwirksamer Steroide reagiert in ähnlicher Weise mit aromatischen Nitroderivaten: mit 1,3-Dinitrobenzol (Raymond-Reaktion), mit 3,5-Dinitrobenzoesäure (Kedde-Reaktion) oder mit Pikrinsäure (1,3,5-Trinitrophenol; Baljet-Reaktion). Mit Pikrinsäure verläuft die Reaktion über einen Meisenheimer-Komplex oxidativ zur farbigen Zimmermann-Verbindung. Mit Raymond- und Kedde-Reagens erfolgt keine Oxidation. Die Farbreaktionen erfordern basisches Milieu; im sauren Bereich findet Entfärbung statt unter Bildung substituierter Nitroderivate 3
995
996
24
Triterpene einschließlich Steroide
Mit dem Keller-Kiliani-Reagens wird sowohl der 2-Desoxyzucker als auch der Steroidteil nachgewiesen. Die Reaktionsmechanismen sind nicht im Detail erforscht. Die 2-Desoxyzucker werden durch die Einwirkung starker Säuren zu Furfuralderivaten abgebaut, wobei die Fe(III)-Ionen den Abbau bis zu einfachen Aldehyden (z. B. Malonaldehyd) weiter treiben. Die reaktionsfähigen Aldehyde gehen Kondensations- und Polymerisationsreaktionen ein, die zur Bildung blauer Farbprodukte führen. Zur Reaktion des Steroidteils > Zlatkis-Zak-Reaktion (Kap. 24.2). x Farbreaktion auf Desoxyzucker mit Xanthydrol und Essigsäure. 2-Desoxy- und 2,6-Didesoxyzucker sowie Glykoside mit diesen Desoxyzuckern als Komponente bilden bei Umsetzung mit Xanthydrol in Gegenwart von Säuren – man verwendet meist Salzsäure oder 4-Toluolsulfonsäure in Essigsäure 99% – eine Rotfärbung mit einem Absorptionsmaximum bei 530 nm. Die Reaktion eignet sich zur Identitätsprüfung von Cardenoliden in Drogenauszügen; sie ist auch Basis für quantitative Bestimmungen. Der Reaktionsverlauf ist nicht geklärt. x Rosenheim-Reaktion: Löst man etwas Substanz in 90%iger Trichloressigsäure, so färben sich Steroide, die in ihrem Ringsystem ein Diensystem aufweisen (z. B. Ergosterol) oder die ein solches leicht zu bilden vermögen (z. B. Scilla-Glykoside), zunächst rosa, dann violett und schließlich tieblau. Modiizierte Reaktionen dienen als allgemeines Steroidreagens. Trichloressigsäure in Ethanol ist ein Reagens zum Nachweis von Steroiden auf Dünnschichtchromatogrammen. x Reagens nach Jensen-Kny (Kny 1963). Es besteht im Wesentlichen aus Trichloressigsäure, der jedoch Chloramin T (Tosylchloramid-Na) zugesetzt ist. Nach PhEur 5 wird es als Sprühreagens bei der DC-Prüfung von Digitalis-purpurea-Blättern herangezogen. Es bilden sich im UV-Licht charakteristisch blau oder gelb luoreszierende Verbindungen. Der Reaktionsmechanismus ist nicht abschließend geklärt: Durch die wasserentziehende Wirkung der Trichloressigsäure werden vermutlich die Aglykone in Anhydroverbindungen übergeführt. Aus dem Gitoxigenin entsteht beispielsweise ein Dianhydroderivat mit einem System von 4 konjugierten Doppelbindungen (Trienonsystem), das bereits mit Trichloressigsäure allein blau luoresziert. Digitoxin- und Digoxinderivate zeigen hingegen erst nach Zusatz des Oxidationsmittels gelbe bzw. weiß-blaue Fluoreszenzen.
24.7.4
Verbreitung im Pflanzenreich, verwendete Extrakte/Reinstoffe
Herzwirksame Steroidglykoside sind im Planzenreich weit verbreitet, und zwar sowohl bei den Rosopsida (= Eudicotyledoneae) als auch bei den Liliopsida (= Monocotyledoneae). Planzenfamilien, in denen glykosidführende Gattungen vertreten sind, sind die folgenden: Convallariaceae [IIA6a] (Convallaria), Hyacynthaceae [IIA6d] (Urginea), Ranunculaceae [IIB1a] (Adonis, Helleborus), Brassicaceae [IIB15a] (Cheiranthus, Erysimum), Apocynaceae [IIB22c] (Acokanthera, Apocynum, Nerium, Strophanthus, hevetia, ferner Asclepias, Gomphocarpus, Marsdenia, Xysmalobium, bisher Asclepiadaceae), Plantaginaceae [IIB23 h] (Digitalis, bisher Scrophulariaceae), Scrophulariaceae [IIB23i] (Penstemon). Viele Hunderte von Planzenarten wurden auf ihre Glykosidführung hin untersucht mit dem Ergebnis, dass heute über 500 verschiedene Varianten bekannt sind. Durchwegs handelt es sich um Glykoside, die hinsichtlich ihres Hydroxylierungsgrades dem Strophanthin näher stehen als dem Digitoxin: Glykoside des Digitoxigenins wurden nur höchst selten gefunden. Als Arzneimittel verwendet man 3 Gruppen: x Extrakte oder Extraktfraktionen aus den folgenden Drogen: Adonis vernalis (Kraut), Convallaria majalis (Kraut), Digitalis purpurea (Blätter), Nerium oleander (Blätter), Urginea maritima (Zwiebel); x Reinglykoside: Digitoxin, Digoxin, Proscillaridin, Cymarin, g-Strophanthin (Ouabain), k-Strophanthin; x partialsynthetische Glykoside: D-Acetyldigoxin, E-Acetyldigoxin, Pentaacetylgitoxin, Meproscillarin, E-Methyldigoxin.
24.7.5
Pharmakokinetik und Metabolismus
Der Polaritätsgrad eines Arzneistofes und seine enterale Resorptionsgeschwindigkeit stehen in engem Zusammenhang. Die wesentliche Barriere, die ein Stof bei seiner Resorption zu überwinden hat, bilden die Zellmembranen des Mukosaepithels, an deren Aubau in großem Maße Lipide beteiligt sind. Die Absorptionsgeschwindigkeit eines herzwirksamen Steroids wird daher um so größer sein, je besser lipidlöslich (d. h. je apolarer) das Glykosid ist, wobei man voraussetzen muss, dass Difusion (nichtaktiver Transport) für die Überwindung der Lipidbarriere
24
24.7 Herzwirksame Steroide
. Tabelle 24.12 Korrelation zwischen Polaritätsgrad und Resorptionsquote herzwirksamer Steroidglykoside. Ein grobes Maß für den Polaritätsgrad ist der relative Gehalt an freien Hydroxylgruppen im Molekül, d. h. das Verhältnis der Anzahl der Kohlenstoffatome pro freie Hydroxylgruppe im Molekül (C/OH). Abnehmende Polarität bzw. zunehmende Lipophilie äußert sich in größerer Wanderungsgeschwindigkeit im Dünnschichtchromatogramm (mod. nach Lauterbach 1977) Bruttoformel
Freie OHGruppen n
C/OH
Rf-Bereicha
Resorptionsquote [%]
k-Strophanthosid
C42H64O19
12
3,5
0,1
~4
Convallosid
C35H52O15
8
4,2
0,2
~10
Lanatosid C
C49H76O20
9
5,4
0,4
35–40
Digoxin
C41H64O14
6
6,8
0,5
70–80
Digitoxin
C41H64O13
5
8,2
0,7
100
Glykosid
a
Kieselgel, Dichlormethan–Methanol–Formamid (80:9:1).
ausschlaggebend ist. Ein Maß für den Polaritätsgrad ist die Zahl an polaren Gruppen im Aglykon- und Zuckerteil des Glykosids. Ein besseres Maß für den Polaritätsgrad bzw. den Lipophilitätsgrad ergibt sich aus den Wanderungsgeschwindigkeiten in chromatographischen Verteilungssystemen. Aus > Tabelle 24.12 lässt sich entnehmen, dass Rf-Werte, C/OH-Quotienten und Resorptionsquoten miteinander korrelieren. Die pharmakologischen Eigenschaten eines bestimmten herzwirksamen Steroids werden aber nicht allein von der Lipophilie determiniert. Wichtig sind auch die absolute Löslichkeit in Wasser sowie die Lösungsgeschwindigkeiten (aus der Arzneiform heraus) während der MagenDarm-Passage. Der Difusionsvorgang durch die Lipidmembran hindurch setzt voraus, dass sich das Glykosid zuvor in wässrigen Verdauungssäten molekulardispers
löst. Bei den lipophilen Glykosiden (Digitoxin, Digoxin) kann eine zu geringe Lösungsgeschwindigkeit der die Absorption begrenzende Faktor sein. Die Löslichkeiten in Wasser lassen sich nicht aus der Konstitution vorhersagen. Digoxin und Gitoxin sind isomer und enthalten eine sekundäre OH-Gruppe mehr als Digitoxin: Digoxin löst sich besser, Gitoxin aber schlechter in Wasser als Digitoxin. Verschließt man im Digoxin eine OH-Gruppe durch Methylierung, so steigt überraschend die Wasserlöslichkeit stark an ( > Tabelle 24.13). Ähnlich wie zwischen Lipophilie und Resorptionsquote, so besteht auch ein Zusammenhang zwischen Lipophilie (Verteilungskoeizient) und Elimination aus dem Körper. Nimmt man als Maß die Abklingquote, so ergeben sich die in > Abb. 24.47 graphisch dargestellten Zusammenhänge. Abklingquote bedeutet die Glykosidmenge in
. Tabelle 24.13 Löslichkeiten einiger herzwirksamer Steroidglykoside in Wasser (Schaumann 1978; Megges et al. 1977). Als grobes Maß der Lipophilie wird der aus der Bruttoformel zu entnehmende Quotient aus der Zahl der Kohlenstoffatome und der Zahl der Sauerstoffatome gebildet Nr.
Glykosid
Bruttoformel
Quotient C/O
Löslichkeit in Wasser [mg/l]
1
Digitoxin
C41H64O13
3,15
8
2
E-Methyldigoxin
C42H66O14
3,00
640
3
Digoxin
C41H64O14
2,92
40
4
Gitoxin
C41H64O14
2,92
2
5
Pentaacetylgitoxin
C51H74O19
2,68
12
6
Lanatosid C
C49H76O20
2,45
86
7
Ouabain
C29H44O12
2,40
11.100
997
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.47 Digitoxin
90 80 70 60
0
Acetyldigoxin
10
Digoxin
20
Digi toxin
30
Acetyldigoxin
50
Proscillaridin
Digoxin
50 Strophanthin
40 30 20 10 0
40
60 70
Proscillaridin Strophanthin Convallatoxin
Abklingquote [%]
100
Resorption [%]
998
80 90 100
Abhängigkeit von Resorption und Abklingquote einiger gebräuchlicher Glykoside. Entsprechend der zunehmenden Größe des Verteilungskoeffizienten n-Octanol/Wasser (= Lipophilie) nimmt die orale Resorptionsquote zu, die Abklingquote ab (mod. nach Niedner 1973)
Prozent, die täglich durch Inaktivierung oder Ausscheidung eliminiert wird. Ein Begrif der Praxis ist die so genannte Steuerbarkeit eines Glykosids: Steuerbarkeit ist in etwa gleichbedeutend mit der Eliminationshalbwertszeit. Bei Überdosierung liefert die Eliminationshalbwertszeit einen Anhaltspunkt dafür, wie rasch mit dem Abklingen der Vergitungserscheinungen zu rechnen ist. Im Falle einer Intoxikation durch ein stärker polares Glykosid gelangt der Patient rascher aus dem Bereich eines toxischen in den Bereich eines therapeutischen Wirkspiegels als bei einer Digitoxinüberdosierung: Das betrefende Glykosid ist „besser steuerbar“. Die Eliminationshalbwertszeiten sind in > Tabelle 24.14 zusammengestellt. . Tabelle 24.14 Eliminationshalbwertszeiten einiger Cardenolide Glykosid
Tage
Digitoxin
Etwa 5
Digoxin
Etwa 2
Acetyldigoxin
Etwa 2
k-Strophanthin
Etwa 1,8
Proscillaridin
Etwa 1,5
Oleandrosid
Etwa 1
Abklingquote und Eliminationshalbwertszeit hängen mit dem Metabolismus der Substanzen zusammen. Die polaren Glykoside werden beim Menschen zum größten Teil unverändert mit dem Urin ausgeschieden (z. B. Strophanthin nach i.v.-Applikation) bzw. vor der Ausscheidung bis zu etwa 30% durch Biotransformation umgewandelt (z. B. bei Digoxin nach p.o.-Applikation). Die apolaren Glykoside (z. B. Digitoxin) werden bis zu 60% der nach p.o.-Verabreichung resorbierten Menge metabolisiert. Ein Teil der Metaboliten wird der Ausscheidung durch Eintritt in den enterohepatischen Kreislauf entzogen (vgl. Scheline 1991). Der Metabolismus ist je nach Substanz unterschiedlich. Abspaltung der Desoxyzucker, Epimerisierung der OH-Gruppe an C-3, Einführung von OH-Gruppen (z. B. an C-12), Hydrierung der Doppelbindung im Lactonring sowie Konjugation mit Glucuron- und Schwefelsäure sind Schritte, die häuig vorkommen.
24.7.6
Wirkungen auf biochemischer Ebene und Anwendungsgebiete
Wirkungen. Die wesentlichste Wirkung der herzwirksamen Steroidglykoside am Herzen beruht auf einer Steigerung der Kontraktionskrat (positiv-inotrope Wirkung), die zur Senkung der Schlagfrequenz und einer Verbesserung des Wirkungsgrades führt. Die für diese Wirkung auf biochemischer Ebene verantwortlichen Mechanismen scheinen viel komplexer zu sein, als bisher angenommen wurde. Es ist davon auszugehen, dass die direkten positivinotropen Efekte auf das Herz durch einen mehrfachen Mechanismus verursacht werden, und dass je nach Testbedingung verschiedene Wirkungsmechanismen vorliegen. Nach allgemeiner Übereinkunt wird die positiv-inotrope Wirkung der herzwirksamen Steroidglykoside durch einen Efekt ausgelöst, der zu einem Anstieg von Ca2+Ionen im sarkoplasmatischen Retikulum des Myokards führt. Dafür in Frage kommen verschiedene Mechanismen wie die Hemmung der Na+/K+-ATPase, die Hemmung der Ca2+/Mg2+-ATPase, die Stimulierung des Na+/ K+/Cl–-Cotransportsystems und die Freisetzung von membrangebundenem Ca2+. Sowohl die Na+/K+-ATPase als auch der Na+/K+/Cl–-Cotransporter sind für den aktiven Transport von Na+ in den Extrazellularraum und K+ in den Intrazellularraum verantwortlich. Der Anstieg der intrazellulären Na+-Konzentration führt zu einer Aktivierung des Na+/Ca2+-Austauschproteins und damit zu einer
24.7 Herzwirksame Steroide
. Abb. 24.48 Tropomyosin
Actin dünnes Filament
Troponin - I komplex C T
Ca2+
ATP
Myosin dickes Filament
Schematische Darstellung der Herzmuskelfilamente. Ca2+Ionen spielen für die Kontraktion des Herzmuskels eine zentrale Rolle. In Abwesenheit von Ca2+-Ionen verhindern die Proteine Tropomyosin und Troponin aufgrund ihrer räumlichen Anordnung im dünnen Filament die Interaktion von Actin und Myosin. Ca2+-Ionen binden an Troponin C, eines von 3 Polypeptiden des Troponinkomplexes, wodurch die oben beschriebene hemmende Wirkung von Tropomyosin/Troponin auf die Muskelkontraktion aufgehoben wird. Es wird angenommen, dass die globulären Teile des Troponinkomplexes ihre Konformation ändern. Sie bleiben dabei über Troponin T mit dem dünnen Filament verbunden, lösen aber eine Veränderung der räumlichen Anordnung des Tropomyosins aus. Dadurch wird unter ATP-Verbrauch die Wechselwirkung zwischen Actin und Myosin und somit die teleskopartige Verschiebung der beiden Filamente ermöglicht (vgl. Übersicht von Buschauer 1989)
Erhöhung der intrazellulären Ca2+-Konzentration. Beim insuizienten Herz verursacht dieser Anstieg an Ca2+Ionen die positiv-inotrope Wirkung ( > Abb. 24.48 und 26.59). Die therapeutischen und die toxischen Efekte z. B. von Digoxin werden beim Menschen in Konzentrationen in der Größenordnung von 1–2 u 10–9 mol/l erreicht, während bei Versuchen am isolierten Myokard vom Tier mit ähnlicher Empindlichkeit wie beim Menschen viel höhere Konzentrationen notwendig sind. Diese Tatsache lässt vermuten, dass „klinische“ Konzentrationen einen positiv-inotropen Efekt durch einen Mechanismus auslösen (z. B. durch Stimulierung des Na+/K+/Cl–-Cotransporters) und Laboratoriumsversuche durch einen anderen (z. B. durch Hemmung der Na+/K+-ATPase).
24
Obwohl der Wirkungsmechanismus umstritten ist, gibt es keinen Zweifel an der Existenz eines sehr speziischen Rezeptors (Digitalisrezeptor) an der extrazellulären Seite der Na+/K+-ATPase. Bei der Na+/K+-ATPase handelt es sich um ein Membranprotein mit 2 Untereinheiten: eine große katalytische Untereinheit D mit einem Molekulargewicht von ca. 110.000 und eine kleinere glykosidierte Untereinheit E mit einem Molekulargewicht von ca. 35.000. Die Digitalisrezeptoren („binding sites for cardiac glycosides“) beinden sich extrazellulär an der D-Untereinheit, die aus verschiedenen Isoformen (D1 , D2 , D3 u. a.) besteht. Die einzelnen Bindungsdomänen (z. B. H1-H2 , H3-H4) sind bis heute nur teilweise näher beschrieben. SAR-Studien ergaben, dass die Steroidglykoside in 3 Bindungsregionen eingeteilt werden können: Eständiger Lactonring, Steroidgerüst und Zuckerteil. Alle 3 Regionen scheinen sich an der Bindung an den Rezeptor zu beteiligen. Die anfängliche Bindung erfolgt durch eine Interaktion zwischen dem E-ständigen Lactonring des Steroidgerüsts („lactone binding site“) und einem Tryptophanring der H3-H4-Domäne. Dieser Schritt führt zu einem Konformationswechsel in dieser Region, der die Hemmung des Enzyms zur Folge hat. Es scheint, dass ein 2. Bindungsprozess nach dem anfänglichen Kontakt mit dem Rezeptor notwendig ist. Dieser erfolgt zwischen einem Zucker („sugar binding site“) und wahrscheinlich der H1-H2-Domäne. Für eine detailliertere Erklärung zu diesem hypothetischen Rezeptorbindungsmodell sowie einzelner Varianten dazu > Übersichten von homas 1992, 1996, sowie darin zitierte Literatur. An die Digitalisrezeptoren können Steroide mit bestimmten strukturellen Voraussetzungen, wie sie bei den herzwirksamen Steroidglykosiden vorliegen, aber auch andere Substanzen (z. B. Erythrophleum-Alkaloide) mit entsprechenden strukturellen Merkmalen, binden. Bei den herzwirksamen Steroiden zeigen Verbindungen die größte Ainität zum Rezeptor, die über das Hydroxyl an C-3 direkt mit einer D-l-Rhamnose verknüpt sind (z. B. Digitoxigenin-D-l-rhamnosid). Es konnte gezeigt werden, dass der direkt mit dem Genin verknüpte Zucker am meisten zur Bindung beiträgt und dass Steroidglykoside mit 6-Desoyzuckern (d. h. mit einer C-5-Methylgruppe) die stärkste Wirkung aufweisen. Es wird daraus geschlossen, dass die Methylgruppe eine Schlüsselrolle bei der Bindung des Zuckers zum Rezeptor aufweist. Das ist auch der Grund dafür, dass die Wirkung von Steroidgeninen nur kurz und weniger stark ist als diejenige der Glykoside. Daneben scheinen auch die 3- oder 4-OH-Gruppen dieses
999
1000
24
Triterpene einschließlich Steroide
Zuckers und die D-glykosidische Bindung von Bedeutung zu sein. Die bisher angenommene cis-Verknüpfung der Ringe A/B scheint für die positiv-inotrope Wirkung nicht essentiell zu sein. So weist z. B. 5DH-Digitoxigenin (Uzarigenin) dieselbe Wirkung wie Digitoxigenin auf. Sobald diese Genine an der 3-OH-Gruppe glykosidiert sind, ergeben sich allerdings andere Wirkungsstärken. Monoglucosidierung von Digitoxigenin verstärkt die Wirkung um das 300fache, bei Uzarigenin wird sie um das 60fache verringert. Andererseits ist das Monorhamnosid des Uzarigenins 7,8-mal stärker wirksam als das entsprechende Genin (vgl. Übersichten von homas 1992, 1996). Neben dem beschriebenen direkten oder extrazellulären Wirkungsmechanismus werden in den letzten Jahren vermehrt auch indirekte bzw. intrazelluläre Mechanismen diskutiert. Intrazelluläre Wirkungen wurden lange Zeit ignoriert, tragen wahrscheinlich aber entscheidend zur inotropen Wirkung bei. Diskutiert werden verschiedene Aspekte: x eine Beteiligung von Phospholipasen (Phospholipase A2 , Phospholipase C, Proteinkinase C), x eine Zunahme der Glykosidsensitivität der Na+/K+ATPase bei chronischer Glykosidaussetzung, x eine zelluläre Aufnahme der Steroidglykoside, und ein damit zusammenhängender Efekt auf das sarkoplasmatische Retikulum (vgl. Übersicht von Levi et al. 1994) und x eine Beeinlussung des autonomen Nervensystems (vgl. Übersicht von homas 1996). Mit zunehmender Hemmung der Membran-ATPase (= abnehmende Energiezufuhr für die Natriumpumpe) kommt es zu einer toxischen Wirkung. Intrazelluläres Na+ steigt an, was aus Gründen der Aufrechterhaltung des osmotischen Gleichgewichts eine Ausschleusung des intrazellulär vorhandenen K+ zur Folge hat und zu Kaliumverlusten führt. Die Ablachung des Na+- und K+-Gradienten wiederum bedingt einen Abfall des Membranruhepotentials und führt in der Folge davon zur Erniedrigung der Reizschwelle und zur Abnahme der Leitungsgeschwindigkeit. Störungen der Herzrhythmik stehen im Vordergrund von Vergitungserscheinungen. Bedingt durch die Hemmung der Na+/K+-ATPase in den Darmepithelien kommt es zu Störungen des Elektrolyttransports auch im Dünnund Dickdarm, womit sich die Durchfälle erklären, die als unerwünschte Wirkung, wenn auch selten, autreten können. Lipophile Glykoside (Digitoxin und Meproscillarin) wirken eher laxierend als polare Glykoside.
Anwendungsgebiete. Die ideale positiv-inotrope Sub-
stanz gibt es bisher nicht. Herzwirksame Steroidglykoside haben eine geringe therapeutische Breite und müssen deshalb sehr exakt dosiert und sollten nur bei klaren Indikationen angewandt werden. Diese sind die chronische Herzmuskelinsuizienz (NYHA-Stadien II und III) und Arrhythmien (Vorholimmern, Vorholattern), insbesondere wenn Arrhythmien von einer Herzinsuizienz begleitet sind. Der Wirkungsmechanismus bei Arrhythmien ist bisher nicht bekannt. Grundpfeiler der medikamentösen Behandlung der chronischen Herzinsuizienz ist heute eine Gabe von ACE-Hemmern. Bei schweren Fällen umfasst eine optimale herapie häuig die Kombination von herzwirksamen Steroidglykosiden, Diuretika und ACE-Hemmern (Erdmann 1995). Bei akuter Herzinsuizienz und anderen Herzkrankheiten sind die herzwirksamen Steroide nicht mehr Mittel der ersten Wahl. Hier inden andere Kardiaka wie z. B. E-Blocker, Calciumantagonisten, Vasodilatatoren oder ACE-Hemmer Verwendung.
24.7.7
Analytische Kennzeichnung
Die PhEur und das DAB kennen die Monographien Adoniskraut, Digitalis-purpurea-Blätter, Maiglöckchenkraut und Meerzwiebel. Die Prüfung auf Identität dieser 4 Arzneidrogen ist in > Tabelle 24.15 zusammengestellt. Daneben sind Digitalis-lanata-Blätter als Ausgangsmaterial zur Glykosidgewinnung von Bedeutung. Zur quantitativen Bestimmung von Reinstofen und cardenolidhaltigen Drogen und Extrakten existieren photometrische und HPLC-Methoden. Die PhEur verwendet: x alkalische Pikrinsäurelösung (Baljet-Reagens) zur Gehaltsbestimmung von Digitoxin und Ouabain; x alkalische Dinitrobenzoesäurelösung (Kedde-Reagens) zur Gesamtglykosidbestimmung der Cardenolide in Digitalis-purpurea-Blättern. x HPLC bei Digoxin und E-Acetyldigoxin (PhEur 5.5) Zur Anreicherung werden die Glykoside bei Digitalis-purpurea-Blättern nach PhEur mit Wasser bei Raumtemperatur extrahiert; Ballaststofe entfernt man durch Zusatz von Blei(II)-acetat, den Überschuss an Bleiionen mit Natriummonohydrogenphosphat. Im Filtrat werden die Glykoside hydrolysiert und die Aglykone mit Chloroform ausgeschüttelt. Der Rückstand der Chloroformlösung wird mit
24.7 Herzwirksame Steroide
24
. Tabelle 24.15 Prüfung auf Identität nach DAB 1999 bzw. PhEur 5 Adoniskraut (DAB)
Maiglöckchenkraut (DAB)
Meerzwiebel (DAB)
Digitalis-purpurea-Blätter (PhEur)
Extraktion
Ethanol 70%
Ethanol 70%
Ethanol 70%
Ethanol 50%
Ballaststoffentfernung
Blei(II)-acetat
Blei(II)-acetat
Blei(II)-acetat
Blei(II)-acetat
Fließmittel
Wasser–Methanol– Ethylacetat (8:11:81)
Wasser–Methanol– Ethylacetat (8:11:81)
Wasser–Methanol– Ethylacetat (8:11:81)
Wasser–Methanol–Ethylacetat (7,5:10:75)
Referenzsubstanzen
Cymarin, Convallatoxin
Convallatoxin
Lanatosid C, Proscillaridin
Digitoxin, Gitoxin, Purpureaglykosid A und B
Reagens
Kedde
Kedde
Chloramin T/Trichloressigsäure
Chloramin T/Trichloressigsäure
Nachweis von
Cymarin als rotviolette Zone im Tageslicht
Convallatoxin als rotviolette Zone im Tageslicht
Proscillaridin und Scillaren A als gelb fluoreszierende Zone im UV bei 365 nm
Purpureaglykosid B und Gitoxin als hellblau fluoreszierende Zone, Purpureaglykosid A und Digitoxin als bräunlichgelb fluoreszierende Zone im UV bei 365 nm
Kedde-Reagens umgesetzt. Die bei 540 nm gemessene Extinktion wird mit der Extinktion eines Hydrolysats einer bekannten Digitoxinmenge in Bezug gesetzt. Die erwähnten photometrischen Methoden sollten durch die HPLC ersetzt werden. Wie von Wiegrebe u. Wichtl (1993) gezeigt werden konnte, lassen sich damit unter Verwendung eines internen Standards (E-Methyldigoxin) bei Digitalis-lanata-Blättern über 50 Cardenolide in etwa 2 mg pulverisiertem Blattmaterial schnell und exakt bestimmen. Allerdings scheint auch mit der HPLC eine Probenaubereitung mit Reversed-phase-Material zur Entfernung von Ballaststofen nicht immer möglich, sodass man bei einzelnen Drogen wie z. B. bei Maiglöckchenkraut nach wie vor Blei(II)-acetat dafür einsetzen muss (Krenn et al. 1996). Das DAB kennt keine Gehaltsbestimmung bei den Cardenoliddrogen, sondern schreibt noch immer eine biologische Methode der Wirkwertbestimmung vor, obwohl ihre praktische Relevanz sehr gering ist. Als Kriterium wird eine charakteristische toxische Wirkung dieser Stofgruppe, der systolische Herzstillstand, bestimmt. Bezugsgröße ist ein Reinglykosid. Die Bestimmung des Wirkwertes ist in einer allgemeinen Vorschrit beschrieben (2.7.N1; DAB) und wird jeweils in einer eigenen Monographie „Eingestelltes Adonis-, Digitalis-purpurea-, Maiglöckchen- und Meerzwiebelpulver“ vorgeschrieben, wobei der Wirkwert am Meerschweinchen sich aus dem Vergleich der letalen Do-
sen von Droge und Referenzglykosid (Cymarin, Digitoxin, Convallatoxin bzw. Proscillaridin) ergibt, z. B. bei Adonis vernalis im Bereich 1,67–2,40 mg/g liegen muss. Das DAB hält an der heute überholten und auch unethischen (pro Testserie werden 20 Meerschweinchen benötigt) Wirkwertbestimmung fest, obwohl bei einzelnen Drogen eine Korrelation zwischen photometrischer Gehaltsbestimmung und Wirkwert besteht. Eine solche könnte mit HPLC-Methoden, wie sie z. B. für das Maiglöckchen entwickelt worden sind (Krenn et al. 1996), ebenfalls erreicht werden, da auch zwischen den Resultaten der HPLC und der Photometrie eine gute Korrelation besteht. Heute muss nicht nur die biologische Wirkwertbestimmung als obsolet angesehen werden, sondern generell auch die Verwendung von Extraktpräparaten cardenolidhaltiger Drogen. Reinstofpräparate verdienen zur Einstellung auf einen Vollwirkspiegel im Interesse einer Dosierungsgenauigkeit den Vorzug.
24.7.8
Digitalis lanata und Lanataglykoside
Herkunft der Digitalis-lanata-Blätter. Digitalis-lanata-
Blätter (Digitalis lanatae folium DAB 10) bestehen aus den getrockneten Laubblättern von Digitalis lanata Ehrh. (Familie: Plantaginaceae [IIB23 h], bisher Scrophulariaceae).
1001
1002
24
Triterpene einschließlich Steroide
Stammpflanze. D. lanata ist ein 2- bis mehrjähriges
Kraut. Im ersten Jahr bildet sich eine dem Boden angedrückte Blattrosette, deren Blätter auch im Winter grün bleiben. Im 2. Jahr entwickelt sich der etwa 120 cm hohe aufrechte Stängel mit sitzenden Blättern, die in ihrer Form den Spitzwegerichblättern ähneln, und mit glockigen Blüten, die in einer lockeren Traube angeordnet sind. Blüten: gelbockerfarbene Kronröhre mit braunen Adern
Hinweis. Ausgangsmaterial zur Drogengewinnung sind
. Abb. 24.49 β-D-Glc
1→4
durchzogen; große Unterlippe, weißlich, nach abwärts gebogen. Die Blütenteile und Blütenstandsachsen sind drüsigwollig behaart („wolliger“ Fingerhut = D. lanata). Als „pontisches Florenelement“ ist D. lanata in Südosteuropa beheimatet; zur Drogengewinnung wird sie in zahlreichen Ländern – u. a. in den Niederlanden, in Italien, in Nordafrika sowie in Nord- und Südamerika – kultiviert.
β-D-Dox
1→4
β-D-Dox
1→4
β-D-Dox
1→3
Aglykon
3 ↓
die im Herbst geernteten Blätter des ersten Kulturjahres (Rosettenplanzen). Sensorische Eigenschaften. Die Droge schmeckt stark
Acetyl
bitter.
Aglykon
Primärglykosid
Gehalt [%]
Digitoxigenin Digoxigenin Gitoxigenin
Lanatosid A Lanatosid C Lanatosid B
0,05 − 0,25 0,1 − 0,3 0,01 − 0,05
Aufbau der Lanatoside, der wichtigsten Primärglykoside der Digitalis-lanata-Blätter
Inhaltsstoffe
x Über 70 Cardenolidglykoside mit den fünf Aglykonen Digitoxigenin (A-Reihe), Gitoxigenin (B-Reihe), Digoxigenin (C-Reihe), Diginatigenin (D-Reihe) und Gitaloxigenin (E-Reihe) und einem Gesamtgehalt von 0,5–1,5% ( > Abb. 24.49–24.52); ferner
. Abb. 24.50
Die pharmakologisch bedeutsamen herzwirksamen Steroide, die in den Blättern von Digitalis lanata und/oder D. purpurea vorkommen bzw. aus diesen Drogen als Ausgangsmaterial darstellbar sind. β-Glc β-D-Glucoserest
24.7 Herzwirksame Steroide
. Abb. 24.51
Acetyldigitoxin
Acetylgitoxin Acetyldigoxin
Digitalis purpurea
24
Abspaltung von
Digitalis lanata Glucose Lanatosid
A
B
C
D
E Acetyl
Purpureaglykosid A
Purpureaglykosid B
Glucogitaloxin
Desacetyllanatosid C
Desacetyllanatosid D
Digitoxin
Gitoxin
Gitaloxin
Digoxin
Diginatin
Glucose 3 Mol Digitoxose Digitoxigenin
Gitoxigenin
Gitaloxigenin
Digoxigenin
Diginatingenin Digitalose
Odorosid H
Strospesid
Verodoxin
Glucose Digitalinum verum
A
B C
Glucoverodoxin
E
D
-Reihe
Glykosidstufen der Hauptsteroidglykoside von Digitalis lanata und D. purpurea und gegenseitige Beziehungen. Vergleicht man das Glykosidspektrum von D. lanata mit dem von D. purpurea, so fallen verschiedene Unterschiede auf. D. purpurea: a) Glykoside der C- und D-Reihe fehlen; b) Acetyldigitoxose als Zuckerkomponente tritt nicht auf. D. lanata: a) Enzymatische Abspaltung der endständigen Glucose durch pflanzeneigene β-Glucosidase führt bei den Lanatosiden A–C zu den acetylierten Sekundärglykosiden Acetyldigitoxin, Acetylgitoxin und Acetyldigoxin. Als Folge der Abspaltung der endständigen β-D-Glucose findet eine partielle Isomerisierung der nunmehr endständigen 3-O-Acetyldigitoxose zur 4-O-Acetyldigitoxose statt (vgl. > Abb. 24.52); b) Die genuinen Lanatoside können durch Verseifung in die genuinen D.-purpurea-Glykoside sowie Desacetyllanatosid C und D überführt werden
x herzunwirksame Pregnanglykoside (Digitanolglykoside;
> Abb. 24.53), Steroidsaponine, Flavonoide u. a.
Verwendung. Als Ausgangsmaterial zur Gewinnung von
Reinstofen, insbesondere von Digoxin, Acetyldigoxin und Lanatosid C. Digoxin wiederum liefert partialsynthetische Acetyl- und Methylderivate. Digoxin (PhEur 5, revidiert 5.5; vgl. > Abb. 24.50) ist ein Abbauprodukt des ursprünglich in der Planze genuin enthaltenen Lanatosid C (vgl. > Abb. 24.51). Die Abspaltung der endständigen d-Glucose und des Acetylrestes erfolgt ezymatisch durch planzeneigene Glucohydrolasen und Acetylesterasen. Diese sind nicht – wie früher angenommen wurde – fest an die Zellmembran gebunden, sondern in der Zellwand lokalisiert (Kreis u. May 1990). Zur Extraktion von Digoxin werden die pul-
verisierten Blätter in Wasser bei 30–37 °C der Mazeration unterworfen. Dann extrahiert man die Glykosidfraktion mit Wasser-Ethanol und fällt die Ballaststofe vom Typus phenolischer Verbindungen (Flavone, Phenolcarbonsäuren, Gerbstofe) mittels Bleihydroxid aus. Nach Extraktion des Glykosidgemisches mit einem organischen Lösungsmittel (Chloroform-Methanol) erfolgt die Isolierung mittels Säulenchromatographie oder Gegenstromverteilung. Eine völlige Reindarstellung ist sehr kompliziert und unwirtschatlich: Daher enthält das handelsübliche Digoxin stets noch Nebenglykoside, hauptsächlich Digitoxin und Gitoxin. Die PhEur erlaubt Beimengungen bis zu 6%. Zum Lösen von 1 g Digoxin benötigt man 25 l Wasser. Relativ gut löst es sich in 80%igem Ethanol; darin ist es besser löslich als das isomere Gitoxin.
1003
1004
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.52
O
OH
O O
HO HO
OH 6
O
1
3
O
1
O
1
O
O
OH
6
β-D-Glc
O
1
Digoxigenin
6
OH
3-O-AcetylDox
O
Dox
Dox
R H2O β-D-Glc
β-Glucosidase
O O
O
OH
3
3
HO
OR 4
O
O
α-Acetyldigoxin
OR O
4
β-Acetyldigoxin
Die Umwandlung von α-Acetyldigoxin in das mit ihm stellungsisomere β-Acetyldigoxin wird verständlich, wenn die Konformationseffekte der 3-O-Acetyldigitoxose berücksichtigt werden. Die 3-Acetyl-4-glucosyldigitoxose liegt in der 1C Konformation vor, sodass die raumerfüllenden Substituenten (Digitoxose an 1-OH; Glucose an 4-OH) eine äquatoriale 4Position einnehmen. Kommt es zur enzymatischen Abspaltung der endständigen Glucose, so wird die zum axialen 3-Acetoxysubstituenten benachbarte äquatoriale OH-Position frei. Die Energiedifferenz zwischen e-OH plus α-O-Acetyl einerseits und α-OH plus e-O-Acetyl andererseits ist die treibende Kraft für die Wanderung des Acetylsubstituenten von der 3- zur 4-Position. Es stellt sich eine Gleichgewichtslage ein. Methylgruppen sind als bloße Valenzstriche gezeichnet
β-Acetyldigoxin (PhEur 5.5) wird partialsynthetisch durch selektive Acetylierung der 4-OH-Gruppe der terminalen Digitoxose im Digoxinmolekül erhalten, beispielsweise durch Umsetzung mit Essigsäure in Gegenwart von Dicyclohexylcarbodiimid. α-Acetyldigoxin erhält man partialsynthetisch durch enzymatische Hydrolyse des Lanatosid C (Abspaltung der endständigen Glucose) unter pH-Wertbedingungen, die die Acetylgruppe intakt lassen. Es stellt sich ein Gleichgewicht zwischen der D- und der E-Form ein (vgl. > Abb. 24.52). Einfacher ist die Acetylierung von Digoxin mit Orthoessigsäureethylester in Tetrahydrofuran unter Verwendung kleiner Mengen p-Toluolsulfonsäure als Katalysator.
β-Methyldigoxin (Medigoxin) erhält man durch selektive Methylierung von Digoxin. Analog wie im Falle des E-Acetyldigoxins wird die terminale 4-OH-Gruppe der endständigen Digitoxose verschlossen. Im Allgemeinen führt die Methylierung von alkoholischen Gruppen zu Derivaten mit geringer Löslichkeit in Wasser. Sehr überraschend steigt aber im Falle des Digoxins die Wasserlöslichkeit stark an: Es lösen sich 460 mg Medigoxin in 1 l Wasser, aber nur 40 mg Digoxin. Metabolismus der Lanataglykoside. Digoxin und die Di-
goxinderivate zeichnen sich durch eine gute orale Bioverfügbarkeit aus. Sie werden in den heute üblichen galenischen Zubereitungsformen zu etwa 70–90% resorbiert. Die
24.7 Herzwirksame Steroide
. Abb. 24.53
CH3
CH3
O
CH3
O CH3
OH
CH3
O
CH3
H H
H
OH
OH
HO
HO
Purprogenin, 5-Pregnen-3β,14β,15α-triol-12,20-dion
Digacetigenin
H
O
CH3
O CH3
O R2
CH3
O
O
24
CH3
H H
H
O
R1O
R1
R2
H Digitalosyl Diginosyl Diginosyl
H H H OH
Diginigenin Digitalonin Diginosid Digifolein
Außer den herzaktiven Steroiden vom Cardenolidtyp finden sich im Digitalis-lanata- und Digitalis-purpurea-Blatt C21-Pregnanglykoside, die unter der Bezeichnung Digitanolglykoside zusammengefasst werden. Als Zuckerkomponente tragen sie dieselben seltenen Desoxyzucker wie die Cardenolidglykoside (Struktur der Zucker > Abb. 24.44). Sie zeigen keine Herzwirkung (Lactonring fehlt), werden aber bei der Gehaltsbestimmung, sofern keine Abtrennung erfolgt, miterfasst
Abklingquote beträgt ca. 20%. Die Metaboliten von Digoxin entstehen zur Hauptsache durch Zuckerabspaltung, Hydrierung der Doppelbindung im Lactonring und Konjugation. Die Acetyldigoxine werden in der Leber deacetyliert und dann weiter wie Digoxin metabolisiert. Im Unterschied zum Digitoxin (vgl. Kap. 24.7.9) spielt beim Digoxin der enterohepatische Kreislauf nur eine untergeordnete Rolle (vgl. Scheline 1991). Im Falle von E-Methyldigoxin wird die Methylgruppe im Organismus nur langsam abgespalten. Im Vergleich zu Digoxin weist Medigoxin eine etwas längere Halbwertszeit der Elimination auf, auch scheint die erhöhte Lipophilie eine unerwünschte Tendenz zur Anreicherung im Zentralnervensystem zu haben.
24.7.9
Digitalis purpurea und Purpureaglykoside
trockneten Blättern von Digitalis purpurea L. (Familie: Plantaginaceae [IIB23 h], bisher Scrophulariaceae). Sie enthalten mindestens 0,3% Cardenolidglykoside, berechnet als Digitoxin. Stammpflanze. Der rote Fingerhut ist ein 2- bis mehr-
jähriges Kraut; im 1. Jahr bildet sich eine mächtige Blattrosette aus und erst im 2. Jahr ein etwa 100 cm hoher, meist unverzweigter, blütentragender Stängel. Der Stängel trägt eiförmig-längliche, am Rande gekerbte und unterseits behaarte Blätter mit hervortretender Nervatur. Die in einseitswendigen Trauben stehenden Blüten sind monosymmetrisch; die Blumenkrone ist glockig mit nur wenig ausgezogener Unterlippe, leuchtend karminrot gefärbt (zuweilen hellrot, seltener weiß), innen geleckt. Heimat. Westeuropa bis westliches Mitteleuropa. Die
Herkunft der Digitalis-purpurea-Blätter. Die Droge
(Digitalis purpureae folium PhEur 5) besteht aus den ge-
Droge stammt ausschließlich aus Kulturen in Holland, England, Deutschland und Afrika.
1005
1006
24
Triterpene einschließlich Steroide
Hinweis. Ausgangsmaterial zur Drogengewinnung sind hauptsächlich die im Herbst geernteten Blätter des ersten Kulturjahres (Rosettenblätter). Sensorische Eigenschaften. Die Droge hat einen bitteren
Geschmack. Inhaltsstoffe
x Bisher wurden an die 30 Cardenolidglykoside isoliert. Sie leiten sich von den Aglykonen Digitoxigenin (A-Reihe), Gitoxigenin (B-Reihe) und Gitaloxigenin (16-Formylgitoxigenin; E-Reihe) ab (vgl. > Abb. 24.50 und 24.51; 24.54); ferner x herzunwirksame Pregnanglykoside (Digitanolglykoside; vgl. > Abb. 24.53), Steroidsaponine, Flavonoide, Phenolglykoside u. a. Verwendung. Digitalis-purpurea-Blätter sind Ausgangs-
material zur Isolierung von Digitoxin und Gitoxin; Letzteres wird partialsynthetisch durch Acetylierung in Pengitoxin und durch Formylierung in Gitiformat übergeführt. Galenische Zubereitungen aus der Droge, wie die Tinktur oder das Infus, werden so gut wie nicht mehr verwendet und sind als obsolet zu betrachten; gegebenenfalls ist das standardisierte eingestellte Digitalis-purpurea-Pulver DAB 1999 abzugeben. Digitoxin. Digitoxin (PhEur 5) lässt sich als Abbaupro-
dukt zweier genuiner Glykoside aufassen: des Lanatosids A der Digitalis-lanata-Blätter und des Purpureaglykosids A der Digitalis-purpurea-Blätter (vgl. > Abb. 24.51). Somit können die Blätter beider Digitalis-Arten als Rohstof zur Digitoxingewinnung herangezogen werden, wobei heute die Lanata-Blätter industriell die wesentlich wichtigere Quelle darstellen. Die als Arzneistofe dienen. Abb. 24.54 β-D-Glc
1→4
β-D-Dox
1→4
β-D-Dox
1→4
β-D-Dox
1→3
Aglykon
Aglykon
Primärglykosid
Gehalt [%]
Digitoxigenin Gitoxigenin Gitaloxigenin (16-Formylgitoxigenin)
Purpureaglykosid A Purpureaglykosid B Purpureaglykosid E
0,02 − 0,12 0,02 − 0,08 0,01 − 0,1
Aufbau der wichtigen Primärglykoside der Digitalis-purpurea-Blätter
den Digitoxinpräparationen sind in der Regel nicht 100%ig rein. Sie enthalten Begleitglykoside, wobei die jeweiligen Pharmakopöen einen unterschiedlichen Spielraum lassen: nach PhEur 5 8%, nach USP 28 (2005) 11%. Die „Verunreinigungen“ können durchaus akzeptiert werden, da die Lösungsgeschwindigkeit verbessert wird. Zum Lösen von 1 g Digitoxin bei 20 °C benötigt man 40 ml Chloroform oder 60 ml Ethanol oder 77 l Wasser. Metabolismus von Digitoxin. Digitoxin wird nach p.o.-
Applikation praktisch zu 100% resorbiert. Die Abklingquote beträgt ca. 7%. Die Metaboliten von Digitoxin entstehen in erster Linie durch schrittweise Zuckerabspaltung. Daneben laufen alle in Kap. 24.7.5 beschriebenen Reaktionsschritte wie 12-Hydroxylierung, 3-OH-Epimerisierung und Konjugation ab. In kleinen Mengen inden auch 5E-, 1E- und 16E-Hydroxylierungen statt. Interessanterweise ist die Hydrierung der C-20,22-Doppelbindung im Lactonring, ein wesentlicher Schritt bei Digoxin, bei Digitoxin nur von untergeordneter Bedeutung (vgl. Scheline 1991). Digitoxin wird entweder unverändert oder in Form der Metaboliten mit dem Urin bzw. in Form von Konjugaten (Hauptkonjugat ist das Glucuronid von Digitoxigeninmonodigitoxosid) biliär ausgeschieden. Die anschließend durch die Tätigkeit der Darmbakterien wieder freigesetzten Glykoside können dann erneut resorbiert und in den Kreislauf eingeschleust werden (enterohepatischer Kreislauf). Die lange Wirkdauer von Digitoxin wird dadurch verständlich. Gitoxin (16-Hydroxydigitoxin) ist an und für sich ein therapeutisch interessantes Glykosid, weil seine zentrale Toxizität gering ist und daher bei der therapeutischen Verwendung weniger mit dem Autreten unerwünschter Nebenwirkungen von Seiten des Zentralnervensystems zu rechnen ist. Der peroralen Anwendung steht jedoch die schlechte Bioverfügbarkeit entgegen. Die Löslichkeit in Wasser ist noch geringer als die des Digitoxins – sie beträgt nur etwa ein Viertel; und zugleich ist auch die Lipidlöslichkeit gering – sie beträgt ein Füntel derjenigen des Digitoxins. Folglich sind sowohl Lösungsgeschwindigkeit als auch Resorptionsquote außerordentlich niedrig. Durch Acetylierung des Gitoxins zum Pentaacetylderivat (Pengitoxin) steigt die Wasserlöslichkeit um das 4fache, die Lipidlöslichkeit um das 20fache. Die Bioverfügbarkeit von Pengitoxin ist entsprechend gut. Die kardiotonische Wirkung bleibt voll erhalten, da das Glykosid nach Resorption rasch zu Gitoxin desacetyliert wird. Pengitoxin ist somit ein Arzneistof mit typischem „Prodrug-
24
24.7 Herzwirksame Steroide
charakter“, hat aber keine Vorteile gegenüber den besser charakterisierten Glykosiden wie Digoxin oder Digitoxin.
. Abb. 24.55
O CH3
HOHO OH
24.7.10 Strophanthin und andere Reinglykoside mit großer Abklingquote
H
eine farblose, kristalline Substanz von stark bitterem Geschmack. Etwas löslich in Wasser (1:70) und Ethanol (1:100), in lipophilen Lösungsmitteln praktisch unlöslich. Die wässrige Lösung ist linksdrehend. Wenig beständig in Gegenwart von Säuren, Alkalien oder Oxidationsmitteln. Die Substanz färbt sich in Schwefelsäure rot bis rotbraun; die Lösung luoresziert bei 365 nm grün. Ermöglicht die Unterscheidung von k-Strophanthin, das sich grün färbt. Weitere Reaktionen nach PhEur 5: x Prüfung mit Raymond-Reagens, x hydrolytische Spaltung und Nachweis der l-Rhamnose durch die Reduktionsprobe, x DC-Vergleich mit authentischem Ouabain.
O
α-L-Rha
Ouabain (g-Strophanthin)
Eigenschaften und Prüfung auf Identität. Ouabain ist
H
1 3
Ouabain (PhEur 5) oder g-Strophanthin ( > Abb. 24.55) kommt in den Samen der im tropischen Westafrika verbreiteten Liane Strophanthus gratus (Wall. et Hook.) Franch. vor (Familie: Apocynaceae [IIB22c]). Die ausgereiten Samen sind 11–19 mm lang und 3–5 mm breit, im Gegensatz zu den Samen der meisten anderen Strophanthus-Arten kahl, von leuchtend goldgelber bis gelbbrauner Farbe. Der Geschmack ist ganz außerordentlich und lange anhaltend bitter. Strophanthus-gratus-Samen enthalten 4–5% Cardenolidglykoside; das Gemisch besteht zu 90– 95% aus g-Strophanthin, das sich daher aus dieser Droge sehr leicht kristallin darstellen lässt. Historische Anmerkung: Aus den Samen von Strophanthus gratus gewannen die Pahuins, ein Volksstamm des westlichen Äquatorialafrika, ein Pfeilgit. Den ostafrikanischen Somalis diente ein Extrakt aus der Rinde des Ouabaiobaumes, Acokanthera ouabaio Boiss. (Familie: Apocynaceae [IIB22c]) in gleicher Weise als Ingredienz für Pfeilgite. Das aus der Ouabaiorinde isolierte Git – der französische Wissenschatler Arnaud belegte es mit dem Namen Ouabain – erwies sich als mit g-Strophanthin identisch.
O
H3C HO HO
OH
OH
O OH
Ouabain ( = g-Strophanthin, C29H44O12) O
O
CH3 OHC
H H
O Cymarose Glucose(β) Glucose(β)
OH
OH
Cymarin k-Strophanthin β k-Strophanthosid
Gemisch der 3 Glykoside = k-Strophanthin
Strophanthus-Glykoside. Von allen therapeutisch verwendeten Cardenoliden enthält Ouabain (g-Strophanthin) das Aglykon mit der größten Zahl an Hydroxylgruppen. Die α-L-Rhamnose nimmt die 1C4-Konformation ein. Unter k-Strophanthin versteht man ein Gemisch, das zur Hauptsache aus dem triosidischen k-Strophanthosid, dem biosidischen k-Strophanthin β und dem monoglykosidischen Cymarin besteht
Hinweise zur Bioverfügbarkeit. Die Resorptionsquote
bei p.o.-Verabreichung von Ouabain liegt unter 5%. Die Substanz kann daher rationell nur durch intravenöse Injektion zugeführt werden. Die Wirkung von i.v. verabreichtem Ouabain beim Menschen setzt innerhalb weniger Minuten ein; die Vollwirkung wird nach etwa 60 min erreicht. Die Hatfähigkeit des Ouabains am Herzmuskel ist gering; es wandert rasch in periphere Kompartimente ab und difundiert von dort relativ langsam ins Blut zurück. Die Wirkungsdauer beträgt 2–3 Tage, was einer Ab-
1007
1008
24
Triterpene einschließlich Steroide
klingquote von etwa 40% entspricht. Die Elimination erfolgt beim Menschen ausschließlich über die Nieren; im Harn lässt sich der Hauptteil des zugeführten Ouabains in unveränderter Form wiederinden.
winnen. Da die bi- und triosidischen Glykoside abgebaut sind, wird Cymarin auch nach oraler Gabe besser resorbiert. Ansonsten wirkt es strophanthinartig.
Anwendung. In Ampullenform i.v. zur Behandlung schwerer Formen der Herzinsuizienz, bei denen eine rasch einsetzende Wirkung erwünscht ist. Die Strophanthintherapie hat allerdings die ursprüngliche Bedeutung heute weitgehend verloren. Die i.v.-Injektion von Ouabain kann in den meisten Fällen durch eine orale Applikation von Digitalisglykosiden ersetzt werden. Für die Arzneimittel zur peroralen Strophanthustherapie gelten hypoxische Herzkrankheiten sowie Prophylaxe des Herzinfarkts als Indikationsgebiete. Man vermutet als Wirkungsbasis eine spezielle Wirkung auf den Herzmuskelstofwechsel; dieser Efekt müsse nicht notwendigerweise mit der Aufrechterhaltung eines bestimmten Wirkspiegels, wie er für die positiv-inotrope Wirkung essentiell ist, verbunden sein. Die perorale Strophanthintherapie ist umstritten.
Proscillaridin
k-Strophanthin k-Strophanthin ist keine einheitliche Substanz, vielmehr handelt es sich um ein standardisiertes Gemisch dreier Glykoside, die sich durch die Zuckerkomponente unterscheiden; gemeinsam ist ihnen das Aglykon Strophanthidin. Geringe Mengen weiterer Glykoside, die sich vom Strophanthidol und Periplogenin ableiten, können im Gemisch enthalten sein (vgl. > Abb. 24.55). Zur Gewinnung dienen die Strophanthus-kombé-Samen, vielleicht auch Samen verwandter Strophanthus-Arten. Strophanthus kombé Oliv. (Familie: Apocynaceae [IIB22c]) ist ein kletternder, im Raum der ostafrikanischen Seen heimischer Strauch. k-Strophanthin wird in gleicher Weise angewendet wie Ouabain. Nachteilig ist die leichte Autoxidierbarkeit der Aglykonkomponente in wässriger Lösung, bedingt durch die Aldehydgruppe an C-10 (Oxidation zur Carboxylgruppe und Decarboxylierung zum unwirksamen C20-Steroid).
Cymarin Cymarin ist eine Teilkomponente des k-Strophanthins. Es lässt sich ebenfalls aus Strophanthus-kombé-Samen ge-
Proscillaridin (DAC 2005) bildet sich aus Glucoscillaren und aus Scillaren A durch ein in der Meerzwiebel vorkommendes Enzym, die Scillarenase ( > Abb. 24.56). Technisch gewinnt man folglich Proscillaridin aus feingeschnittenen Meerzwiebeln erst nach vorhergehender Fermentation (wässrige Suspension 2 h bei etwa 40 °C sich selbst überlassen) durch Extraktion mit Ethylacetat. Weißes bis schwach gelbliches, kristallines, hygroskopisches Pulver. Die Substanz schmilzt zwischen 190 und 225 °C unter Zersetzung; sie reizt stark die Schleimhäute. Proscillaridin besitzt grundsätzlich die gleichen Herzwirkungen wie die Digitalis- und Strophanthusglykoside. Die Resorptionsquote (30–35%) ist bedeutend höher als die der Strophanthine. Als Vorzug gegenüber Digitoxin und Digoxin gilt die „gute Steuerbarkeit“: toxische Erscheinungen bei Überdosierung verschwinden bereits nach einem Tag. Nachteilig dürte sein, dass Diarrhöen etwas häuiger aufzutreten plegen. Proscillaridin ist auch Ausgangsmaterial zur Überführung in das halbsynthetische Meproscillarin (4c-O-Methylproscillaridin).
24.7.11 Weitere Drogen mit herzwirksamen Steroiden Das DAB führt die Monographien Adoniskraut, Maiglöckchenkraut und Meerzwiebel sowie die entsprechenden eingestellten Pulver als Drogen mit herzwirksamen Steroiden auf. Alle 3 Arzneidrogen sind bezüglich Wirkung und Anwendungsgebieten mehr oder weniger gleich zu werten. Wirkungen und Anwendungsgebiete. Als Hauptwir-
kung aller 3 Drogen wird in den entsprechenden Monographien der Kommission E die positiv-inotrope Wirkung aufgeführt. Alle 3 Drogen (als Pulvis normatus) werden zur Herstellung von alkoholischen Fluidextrakten und von Trockenextrakten und diese wiederum zur Herstellung phytotherapeutischer Kombinationspräparate verwendet.
24.7 Herzwirksame Steroide
24
. Abb. 24.56 HO HO
OH D
β-D-Glc 4
C1
O β
HO
Scillarenin
O CH 3
α-L-Rha 1
CH3
L
HO
O
C4
O
O
O
O
CH3 OH
O α
HO Scillaren A
D-Glc
H2O Scillarenase oder Pilzenzyme
OH CH
3
HO
CH3
L
O
CH3 OH
O α
HO Proscillaridin
In der Meerzwiebel liegt zunächst als Primärglykosid Glucoscillaren A vor (nicht eingezeichnet); bereits beim Trocknen tritt weitgehende Hydrolyse durch die pflanzeneigene β-Glucosidase zum Scillaren A ein. Scillaren A ist somit als Sekundärglykosid anzusehen. Enzymatische Spaltung durch die pflanzeneigene Scillarenase oder (künstlich) durch Zusatz von Pilzhydrolasen führt zum Tertiärglykosid Proscillaridin
Die Anwendung der Phytopharmaka geschieht bei leichteren Formen der Herzinsuizienz sowie beim Altersherz. Da weder für Monodrogenpräparate noch für Kombinationspräparate kontrollierte klinische Studien zur Wirksamkeit vorliegen und pharmakokinetische Daten nur partiell von einzelnen Inhaltsstofen, nicht aber von Kombinationspräparaten vorliegen, kommt die Kommission E zum Schluss, dass aufgrund dieser fehlenden Untersuchungen Wirksamkeit, Unbedenklichkeit und Risiko solch ixer Kombinationen nicht beurteilbar seien. Es liegen auch keine klinischen Studien vor, die Aufschluss darüber geben würden, ob solche Drogen/Drogengemische aufgrund des Glykosidgemisches (inkl. Zusatzstofe) ein qua-
litativ oder auch quantitativ partiell unterschiedliches Wirkungsspektrum im Vergleich zu Monosubstanzen (einzelne Cardenolide/Bufadienolide) aufweisen (vgl. dazu Saller et al. 1995).
Adoniskraut Adoniskraut (Adonidis herba DAB 1999) besteht aus den zur Blütezeit gesammelten und getrockneten oberirdischen Teilen von Adonis vernalis L. (Familie: Ranunculaceae [IIB1a]). Die Stammplanze ist ein 10–30 cm hohes, ausdauerndes Kraut mit stark zerschlitzten Blättern
1009
1010
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.57
O
und großen, goldgelben, radiären Blüten. Die Planze steht in Mitteleuropa fast überall unter Naturschutz. Adoniskraut enthält 0,2–0,8% Cardenolidglykoside mit 5 verschiedenen Aglykonen ( > Abb. 24.57), daneben Flavonoide, Planzensäuren, Zuckeralkohole. Hinweis: Wird Adoniskraut verordnet, so ist, wenn aus der Verordnung nichts anderes hervorgeht, eingestelltes Adonispulver (Adonidis pulvis normatus DAB 1999) zu verwenden.
O
CH3 OHC
H H
Z
O
Glykosid Cymarin Adonitoxin
R2 OH
R1 Aglykon k-Strophanthidin Adonitoxigenin
R1
R2
Zucker (Z)
OH H
H OH
β-D-Cymarose α-L-Rhamnose
Maiglöckchenkraut
Adonis-vernalis-Kraut enthält über 25 Cardenolidglykoside. Die beiden Hauptglykoside sind Cymarin und Adonitoxin. Die Aglykone dieser beiden Glykoside, k-Strophanthidin und Adonitoxigenin, sind stellungsisomere Cardenolide mit einer β-Hydroxyl-Gruppe am C-5 bzw. am C-16. Cymarose (vgl. > Abb. 24.44) ist gleich wie Digitoxose ein 2,6-Didesoxyzucker
. Abb. 24.58
O
R2
H H
O
O
CH3
R1
Z
Maiglöckchenkraut (Convallariae herba DAB 1999) besteht aus den während der Blütezeit gesammelten und getrockneten, oberirdischen Teilen von Convallaria majalis L. oder nahestehender Arten. Die Gattung Convallaria (Familie: Convallariaceae [IIA6a]) umfasst lediglich 3 Arten. Unter „nahestehend“ ist die in Japan heimische C. kreiskei Miq. gemeint. Es handelt sich um krautige Planzen mit kriechenden Wurzelstöcken, einem mit ganzrandigen Blättern besetzten Stängel und traubig angeordneten Blüten mit oberständigem Fruchtknoten, aus dem sich eine kugelige, 3- bis 6-samige Beere entwickelt. Maiglöckchenkraut enthält 0,2–0,5% Cardenolidglykoside mit
OH
OH
Glykoside
Aglykone
R1
R2
Zucker (Z)
Convallosid Convallatoxin Desglucocheirotoxin Convallatoxol Lukundjosid
Strophanthidin Strophanthidin Strophanthidin Strophanthidol Bipindogenin
H H H H OH
CHO CHO CHO CH2OH CH3
β-D-Glc-(1→4)-α-L-Rha-(1→) α-L-Rha-(1→) β-D-Gulomethylosyl-(1→) α-L-Rha-(1→) α-L-Rha-(1→)
Die mengenmäßig vorherrschenden Glykoside des Maiglöckchenkrauts. Je nach Herkunft der Droge macht Convallatoxin bis 40% des Gesamtglykosidgehaltes aus, die weiteren 4 in der Abbildung aufgeführten Glykoside bis ca. die Hälfte davon. Man beachte die seltene 11α-Hydroxylgruppe im Lukundjosid, die auch für das Ouabain typisch ist. 6-Desoxy-DGulose (Synonym: Gulomethylose; Struktur nicht abgebildet) ist ein Vertreter der seltenen Zucker
24.7 Herzwirksame Steroide
Meerzwiebel
8 verschiedenen Aglykonen ( > Abb. 24.58). Die von C. kreiskei stammende Droge hat bis zu 1% Gesamtglykoside. Weitere Inhaltsstofe sind Saponine vom Furostanoltyp, Flavonoide und Planzensäuren (u. a. Chelidonsäure). Hinweis: Wird Maiglöckchenkraut verordnet, so ist, wenn aus der Verordnung nichts anderes hervorgeht, eingestelltes Maiglöckchenpulver (Convallariae pulvis normatus DAB 1999) zu verwenden. . Abb. 24.59
Meerzwiebel (Scillae bulbus DAB 1999) stammt von der nach der Blütezeit gesammelten Zwiebel der weißzwiebligen Rasse von Urginea maritima (L.) Bak. (Synonyme: Drimia maritima (L.) Stearn und Scilla maritima L. (Familie: Hyacinthaceae [IIa6d]). Die Meerzwiebel ist in den Mittelmeerländern beheimatet. U. maritima ist als Sam-
O
O
O
O
CH3 CH3
CH3
H H
Z
24
OHC OH
H H
O
R OH
O −β−D−Glc
Glykoside
Z
Glykoside
R
Scillaren A Proscillaridin A Scillarenin
β-D-Glc-(1→4)-α-L-Rha-(1→) α-L-Rha-(1→) H (Aglykon)
Scilliglaucosid Scillicyanosid
H OCOCH3
O O
CH3 CH3
OH H
OH
O β−D−Glc
OCOCH3
Scillirosid
Die in der Meerzwiebel vorkommenden Glykoside sind C24-Steroide mit einem C-17-Pentadienolidring, sie gehören der Bufadienolidreihe an. Bis heute sind über 80 Verbindungen bekannt. Die mengenmäßig vorherrschenden Glykoside Scillaren A, Proscillaridin A und Glucoscillaren A (Struktur nicht abgebildet) leiten sich vom Aglykon Scillarenin ab. Alle 3 Glykoside sind herzwirksam, obwohl das für die Wirkung als obligat betrachtete Merkmal cis-ständiger Substituenten an C-5 und C-10 (d. h. Ringe A/B cis-verknüpft) nicht vorliegt. Begleitsteroide sind u. a. Glykoside, die durch eine 5β-Glucosylgruppe gekennzeichnet sind; dadurch liegt cis-Verknüpfung der Ringe A/B vor. Ungewöhnlich ist das Fehlen der 3β-OH-Gruppe; sie ist durch eine 3,4-Doppelbindung ersetzt (formale Bildung nach Austritt von 1 Mol H2O). Die Monographie des Arzneibuchs muss revidiert werden, da die Annahme, dass bestimmte Inhaltsstoffe wie Scillirosid (Acetoxygruppe am C-6) nur von der sog. „rotzwiebligen“ Varietät gebildet wird, nicht mehr zutrifft. Varietäten mit einem hohen Proscillaridin-A- und Scillaren-A-Gehalt können für pharmazeutische Zwecke, jene mit einer hohen Konzentration an Scillirosid dagegen für die Verwendung als Rodentizid verwendet werden (Kopp et al. 1990)
1011
1012
24
Triterpene einschließlich Steroide
melart aufzufassen, die aus mindestens 6 Arten besteht (vgl. Kopp et al. 1990). Die Planze wird ca. 50–100 cm hoch. Ihre Zwiebel ragt teilweise aus dem Boden und besteht aus zahlreichen (etwa 40) leischig-schleimigen, weißen Schuppen, die außen von braunen, trockenhäutigen Schuppen umgeben sind. Die Droge besteht lediglich aus den mittleren, leischigen Zwiebelschuppen, die zur Beschleunigung des Trocknungsvorgangs in Streifen geschnitten werden. Die äußeren Schuppen sind hautig und wertlos; die inneren wegen ihres hohen Schleimgehalts sehr schwer zu trocknen. Meerzwiebel enthält 0,1–4% Bufadienolide mit den Hauptglykosiden Scillaren A und Proscillaridin A, auf die annähernd zwei Drittel der Glykosidfraktion entfallen ( > Abb. 24.59), ferner Schleim-
! Kernaussagen
Herzwirksame Steroide sind glykosidische Pflanzeninhaltsstoffe mit einer spezifischen Wirkung auf den Herzmuskel (positiv-inotrope Wirkung). Aufgrund der Struktur des Lactonringes werden sie in die Cardenolide (5-gliedriger Lactonring) und die Bufadienolide (6-gliedriger Lactonring) eingeteilt. Der Zuckerteil der herzwirksamen Steroidglykoside besteht neben ubiquitären Zuckern wie Glucose und Rhamnose aus seltenen 2,6-Desoxyzuckern. Die Herzwirksamkeit kommt durch die Aglykone zustande, die Zucker beeinflussen die physikochemischen Eigenschaften der Glykoside (Resorption, Proteinbindung, Verteilung, Biotransformation, Ausscheidung). Die positiv-inotrope Wirkung wird durch Effekte ausgelöst, die zu einem Anstieg von Ca2+-Ionen im sarkoplasmatischen Retikulum des Myo-
stofe, vorwiegend Glucogalactane und andere Polysaccharide, (Fructosane), fettes Öl, Flavonoide, organische Säuren (u. a. Chelidonsäure). Hinweis: Wird Meerzwiebel verordnet, so ist, wenn aus der Verordnung nichts anderes hervorgeht, eingestelltes Meerzwiebelpulver (Scillae pulvis normatus DAB 1999) zu verwenden. Der heute gültige Name der Stammplanze ist Drimia maritima (L.) Stearn. Die Droge müsste daher eigentlich Drimiae bulbus heißen. Man hat jedoch den traditionellen Namen beibehalten, der aus einer Zeit stammt, als die Meerzwiebelplanze zur Gattung Scilla gestellt wurde. Die Gattungen stehen sich taxonomisch sehr nahe. Ein gutes Unterscheidungsmerkmal sind die zusammengedrückten oder kantigen Samen.
kards führen (Hemmung von Na+/K+-ATPase bzw. Ca2+/ Mg2+-ATPase, Stimulierung des Na+/K+/Cl–-Cotransportsystems, Freisetzung von membrangebundenem Ca2+). Die Wirkung kommt durch die Bindung der Steroide an Digitalisrezeptoren („binding site for cardiac glycosides“) zustande. Die in der Therapie verwendeten Reinstoffe stammen von Digitalis lanata (Digoxin und Derivate), Digitalis purpurea (Digitoxin, Gitoxin) und Strophanthus gratus (g- und k-Strophanthin). Die therapeutische Bedeutung der herzwirksamen Steroide hat gegen Ende des letzten Jahrhunderts durch den möglich gewordenen Einsatz von ACE-Hemmern, E-Blockern, Calciumantagonisten und Vasodilatatoren stark abgenommen. Indikationen sind in erster Linie die chronische Herzmuskelinsuffizienz und Arrhythmien (Vorhofflimmern, Vorhofflattern).
Schlüssselbegriffe Abklingquote Adonidis herba Adonis vernalis Adoniskraut Adonitoxin Baljet-Reaktion Bufadienolide Ca2+/Mg2+-ATPase Cardenolide Convallaria majalis Convallariae herba Convallatoxin Coprostanreihe
Cymarin Desoxyzucker Digitalis lanata Digitalis lanatae folium Digitalis purpurea Digitalis purpureae folium Digitalis-lanata-Blätter Digitalis-purpurea-Blätter Digitalisrezeptor Digitoxin Digoxin und Derivate Eliminationshalbwertszeit Enterohepatischer Kreislauf
Gitoxin Herzwirksame Steroide Herzmuskelfilamente Kedde-Reaktion Keller-Kiliani-Reaktion 1C -Konformation 4 4C -Konformation 1 Lanatoside Maiglöckchenkraut Meerzwiebel Na+/K+-ATPase Na+/K+/Cl–-Cotransportsystem Proscillaridin A
24.8 Verschiedene Substanzen mit einem Steroidgerüst
Purpureaglykoside Quabain Raymond-Reaktion Reagens nach Jensen-Kny Resorptionsquote Rosenheim-Reaktion
Scillae bulbus Scillaren A Scillirosid Steroidglykoside g-Strophanthin k-Strophanthin
24.8
Verschiedene Substanzen mit einem Steroidgerüst
24.8.1
Uzarawurzel
Herkunft. Uzarawurzel (Uzarae radix) besteht aus den
getrockneten, meist 2-jährigen Wurzeln verschiedener in Südafrika heimischer Xysmalobium- und Pachycarpus(Gomphocarpus-)Arten (Familie: Apocynaceae [IIB22c], bisher Asclepiadaceae). Die Wurzeln werden von den Medizinmännern Südafrikas zur Uzara-Medizin verarbeitet und gegen Dysenterie, als Antidiarrhoikum sowie als „uterines Sedativum“ verwendet. Zum Einsatz kommen die Wurzeln von Pachycarpus schinzianus (Schltr.) N. E. Br. und von Xysmalobium undulatum R. Br., wobei ofenbar je nach Gegend nur eine oder auch beide Planzen als Ausgangsmaterial zur Drogengewinnung dienen. Demgegenüber wird für die Gewinnung des bereits 1911 in die hiesige Phytotherapie eingeführten alkoholisch-wässrigen Extraktes ausschließlich Xysmalobium undulatum als Stammplanze eingesetzt, deren Kultivierung aus klimatischen Gründen bis heute in Südafrika erfolgt. Sensorische Eigenschaften. Die Droge besitzt einen ganz
schwachen, eigenartigen Geruch und einen rein bitteren Geschmack, der nach längerem Kauen schwach brennend sein kann. Inhaltsstoffe
x Steroidglykoside vom Uzarigenintyp ( > Abb. 24.60 und 24.61), die von den Wurzeln überwiegend als polare Glykoside [1–3 Mol Glucose; mit Ausnahme von Asclepiosid (= Uzarigenin-3-O-E-d-allomethylosid)] mit einem Gehalt von mindestens 6% akkumuliert werden; ferner biogenetisch eng verwandte, an C-19 oxidierte Steroidglykoside wie Coroglaucigenin-E-dglucosid und Pachygenol-E-d-glucosid (Pauli u. Fröhlich 2000); x Pregnanderivate.
24
Strophanthus gratus Strophanthus kombé Urginea maritima Verteilungskoeffizient Wirkung (positiv inotrop)
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. Die Prüfung auf Identität erfolgt
mit DC [Fließmittel: Ethylmethylketon–Toluol–Methanol–Wasser–Essigsäure 98% (80:10:6:5:2); Referenzsubstanzen: Uzarin und Uzarigenin; Nachweis: Chloramin T-Trichloressigsäure-Reagens; UV 365 nm]. Die Steroidglykoside ergeben eine gelbe Fluoreszenz (Schmitz et al. 1992). Gehaltsbestimmung. Die Gehaltsbestimmung erfolgt
durch Auswertung der Kedde-Reaktion, deren Berechnung wegen der Schwierigkeiten bei der Gewinnung von epimerenreinem Uzarin besser auf Uzarigenin bezogen werden sollte. Wirkungen und Toxikologie. Uzara wirkt über eine
Hemmung der Darmmotilität und durch Normalisierung der Darmpassage antidiarrhoisch (vgl. Schmitz et al. 1992). Die ausgeprägte spasmolytische Wirkung, wie sie in der jahrzehntelangen herapie beobachtet und im Tierversuch vielfach nachvollzogen wurde, geht einher mit einer Verringerung der Pendel- und Mischbewegungen der Darmmuskulatur. Paradoxerweise reagieren isolierte glattmuskuläre Organe in vitro auf Uzara-Extrakte durch spontane Erregung oder Kontraktion. Gegenüber den klassischen herzwirksamen Steroidglykosiddrogen, deren Inhaltsstofe sich vom Digitoxigenin ableiten, zeichnet sich Uzara bei oraler Applikation durch eine deutlich verringerte Herzwirkung und das Fehlen einer toxischen Wirkung aus. Sowohl bei der Zuordnung der Wirkstofe als auch bei der toxikologischen Beurteilung von Uzara und seinen Cardenoliden verbleiben allerdings einige Unklarheiten: Zu berücksichtigen sind insbesondere die neu bekannt gewordenen Struktur-Wirkungs-Beziehungen von Cardenoliden (vgl. Übersicht von homas 1992), wonach Uzarigeninderivate auch in glykosidischer Bindung grundsätzlich als inotrop-aktive Wirkstofe mit z. T. hoher Potenz anzusprechen sind. Als Grund für eine Verringerung der inotropen Aktivität von
1013
1014
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.60
O
A/B = trans-Verknüpfung R
3
H
13
R
CH3 17
H
H
H
H
O
H H
O α-ständiger Butenolidring
Allouzarigenin
Uzarigenin (R = CH3)
H
OH
HO
14 5
H
17
OH
B
A
HO
O
CH3
H
Coroglaucigenin (R = CH2OH) O
R
H
OH
HO
H
5
H
O
CH3
R H
CH3 H OH
HO
6
H
H
O
H O
Xysmalogenin (R = CH3)
Alloxysmalogenin
Pachygenol (R = CH2OH)
Aglykone der Uzarasteroidglykoside. Die bitter schmeckenden und für die antidiarrhoische Wirkung der Uzarawurzel verantwortlich gemachten Steroidglykoside leiten sich vom Uzarigenin und Xysmalogenin als niedrigst substituierte Aglykone ab. Uzarigenin unterscheidet sich vom Digitoxigenin (vgl. > Abb. 24.42) durch die trans-Verknüpfung der Ringe A und B, d. h. das H-5 ist im Uzarigenin α-ständig angeordnet, wohingegen das Digitoxigenin ein H-5β aufweist. Dementsprechend ist die in beiden Steroiden β-ständige C-3-OH-Gruppe im Uzarigenin äquatorial, im Digitoxigenin hingegen axial angeordnet. Im Xysmalogenin/Alloxysmalogenin liegt gleich wie im Progesteron eine 5,6-Doppelbindung vor, während aus den systematisch nahestehenden Gomphocarpus-Arten isolierte Steroide eine ∆7,8-ungesättigte Partialstruktur aufweisen. Weiter akkumuliert die Uzarawurzel auch biogenetisch eng verwandte, an C-19 oxidierte Steroidglykoside, die sich vom Coroglaucigenin (Coroglaucigenin-β-D-glucosid) bzw. Pachygenol (Pachygenol-β-D-glucosid) ableiten (Pauli u. Fröhlich 2000)
Uzara können die nachfolgenden 3 Punkte angesehen werden: x die für Cardenolide ungewöhnlichen, einer verzweigten Struktur entsprechenden Zuckerkomponenten der Sophorose (vgl. > Abb. 24.61); x das Vorkommen von nachweislich schwächer wirksamen 17EH-allo-Cardenoliden wie Allo-Uzarin; x die hohe Polarität der glykosidischen Inhaltsstofe und ein daraus resultierender pharmakokinetischer Efekt (schlechte Resorption, Beschränkung auf orale Anwendung, > oben).
Anwendungsgebiete. Unspeziische, akute Durchfallerkrankungen (Kommission E).
24.8.2
Condurango- oder Kondurangorinde
Herkunft. Condurango cortex (Condurangorinde DAC
2003; Kondurangorinde Helv 10) besteht aus der getrockneten Rinde der Zweige und Stämme von Marsdenia cundurango Rchb. il. (DAC) bzw. Marsdenia reichenbachii Triana (M. cundurango Rchb. il.) (Helv) (Familie: Apocynaceae [IIB22c], bisher Asclepiadaceae), einer auf den
24.8 Verschiedene Substanzen mit einem Steroidgerüst
. Abb. 24.61
O
O
O
CH3 CH3
5
Z
O
H
CH3
H H
OH Z
H 1
OH
O
2 O
O
O
Z
O
CH3
H H
Z
Uzarin (1) Xysmalorin (2) Allouzarin (3) Alloxysmalorin (4)
OH
O
3 Glykoside
H H
OH
H
O
CH3
CH3 CH3
O
CH3
17
H
24
4 Aglykone Uzarigenin Xysmalogenin Allouzarigenin Alloxysmalogenin
HOH2C HO HO
O 2'
{ Aglykon O
1''
OH
O
HOH2C
OH OH
Z = Sophorose
Die nach Extraktion der Uzarawurzel durch Kristallisation gewonnenen Hauptglykoside „Uzarin“ und „Xysmalorin“ erwiesen sich in HPLC-Untersuchungen als Epimerenmischungen (Ghorbani et al. 1997). Als Hauptinhaltsstoffe der Droge sind sie zwar strukturell eng mit Dixgitoxigenin, dem C-5-Epimeren des Uzarigenins, verwandt, weisen aber insbesondere stereochemische Besonderheiten auf (vgl. > Abb. 24.60). Bei beiden Kristallisaten handelt es sich um Sophoroside (= β-D-Glucosido-(1o2)-β-D-glucoside) der an C-17 epimeren Steroide Uzarigenin und Allouzarigenin bzw. Xysmalogenin und Alloxysmalogenin
Westhängen der Kordilleren in Südamerika (Ecuador, Peru, Kolumbien) heimischen Liane. Die Droge stammt aus Kulturen. Sensorische Eigenschaften. Condurangorinde riecht
schwach süßlich-aromatisch; sie schmeckt bitter und schwach kratzend.
Inhaltsstoffe
x 1–3% eines als „Condurangin“ bezeichneten Gemisches verschiedener Steroidesterglykoside (DAC/Helv = mindestens 1,8%, berechnet als Condurangoglykosid A) mit einem C21-Steroidgerüst und einer linearen Tri-, Tetra- oder Pentasaccharidkette ( > Abb. 24.62);
1015
24
1016
Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.62
H3C
R3O
R2O CH3
11
12
H
20
O R2O
17
H
H R1O
H
H
CH3
H
CH3
OH
3
R1O
CH3
H3C OH
R3O
OH
H
Glykoside
Aglykone
R1
R2
R3
Glykoside
Aglykone
R1
R2
R3
Condurangosid A Condurangosid A0 Condurangosid B Condurangosid B0 Condurangoglykosid A Condurangoglykosid A0
Gagaimogenin A Gagaimogenin A Gagaimogenin B Gagaimogenin B Condurangogenin A Condurangogenin A
SA SC SA SC SA SC
A A B B A A
A A A A C C
Condurangosid C Condurangosid C0 Condurangoglykosid C Condurangoglykosid C0
Gagaimogenin C Gagaimogenin C Condurangogenin C Condurangogenin C
SA SC SA SC
A A A A
B B C C
H3C
R3O R2O
CH3
SA =
O
H
OH
SD =
1→4
β-D-Ole
1→4
β-D-Cym 1→
SB =
β-D-Pac
1→4
β-D-Ole
1→4
β-D-Cym
1→4
β-D-Cym
SC =
β-D-Glc
1→4
β-D-Pac
1→4
β-D-Ole
1→4
β-D-Cym
β-D-Pac
1→4
β-D-Ole
1→4
β-D-Cym
1→4
β-D-Cym
H
CH3
β-D-Pac
β-D-Glc
1→4
1→ 1→
1→
R1O
Glykoside Condurangosid D01 Condurangoglykosid Condurangoglykosid Condurangoglykosid Condurangoglykosid
E E0 E2 E3
Aglykone
R1
R2
R3
Marsdenin Condurangogenin E Condurangogenin E Condurangogenin E Condurangogenin E
SD SA SC SB SD
H A A A A
H C C C C
Abkürzungen: Cym Cymarose; Ole Oleandrose; Pac Pachymonose = 3-O-Methy-6-desoxyallose; Glc Glucose; A Acetyl; B Benzoyl; C Cinnamoyl
„Condurangin“ ist ein komplexes Gemisch einer großen Anzahl von C21-Steroidglykosiden (Pregnanderivate), die als Condurangoside bzw. Condurangoglykoside bezeichnet werden. Es handelt sich um Substanzen, die sich von verschiedenen Aglykonen ableiten (Condurangogenine B und D nicht berücksichtigt). Die meisten Glykoside sind Diester mit Essigsäure, Benzoesäure oder Zimtsäure an der C-11- bzw. C-12-Hydroxylgruppe. Die lineare Tri-, Tetra- oder Pentasaccharidkette ist über das OH-C-3 verknüpft und besteht vorwiegend aus seltenen 1o4-verknüpften Zuckern (Berger et al. 1988; Umehara et al. 1994). Es ist unklar, ob die früher beschriebenen Condurangoglykoside A1 und C1 (Pentasaccharide; Zuckerkette nicht abgebildet) in der Condurangorinde vorkommen, da sie in den zitierten neueren Arbeiten nicht mehr aufgeführt werden. Weiter kommen in der Droge in sehr kleiner Menge ähnlich gebaute Steroidalkaloidglykoside (Condurangamin A und B; Formeln nicht wiedergegeben) vor, die an C-11 bzw. C-20 mit Nicotinsäure verestert sind
Literatur
x x x x
Sterole (E-Sitosterol) und Triterpene (E-Amyrin); Flavonolglykoside, C-Glykosyllavone, Cumarine; Alkaloide (Condurangamin A und B); Carbonsäuren (Chlorogen- und Kafeesäure), Vanillin, Cyclite (u. a. Conduritol).
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. Die als “Condurangin” bezeich-
neten Bitterstofe sind in heißem Wasser schwerer löslich als in kaltem. Darauf beruht ein Nachweis (Helv): Droge mit kaltem Wasser extrahieren; Filtrat erwärmen; bei 80 °C entsteht eine Trübung, die beim Abkühlen wieder verschwindet. DC-Fingerprintchromatogramm (DAC) [Fließmittel: Ethylacetat–Methanol–Wasser (80:15:5); Referenzsubstanzen: Phenazon, Hydrochinon; Nachweis: Anisaldehydreagens]. Im Tageslicht erscheinen braune, graue, grüne und violette Zonen, die allerdings den entsprechenden Conduranginen nicht zugeordnet werden.
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Gehaltsbestimmung. DC-Spektrophotometrie (DAC, Helv) [Fließmittel: Heptan–Toluol (1:1); Nachweis: Fluoreszenzlöschung im UV 254 nm]. Die Conduranginfraktion bleibt am Start, während Begleitstofe wandern. Die luoreszenzmindernde Zone am Start wird abgekratzt, extrahiert und spektrophotometrisch bei 280 nm gegen eine Kompensationslösung bestimmt. Verwendung. Fein geschnittene oder auch grob gepulver-
te Droge zur Herstellung eines Infuses, Mazerats, Fluidextrakts (Condurango extractum luidum Helv 10) oder eines Weins (Condurango vinum Helv 10). Wirkungen. Zur Anregung der Speichel- und Magensat-
sekretion (Kommission E). Anwendungsgebiete. Als Amarum und magenberuhi-
gendes Mittel bei Appetitlosigkeit und nervöser Dyspepsie. Die homöopathische Arzneimittellehre kennt die speziische Verwendung gegen Rhagaden (Hautläsionen) an Lippen und Mundwinkeln.
Schlüsselbegriffe Amarum Antidiarrhoikum Condurangin Condurango cortex Condurangorinde
Condurangoside Kondurangorinde Marsdenia cundurango Marsdenia reichenbachii Pachycarpus schinzianus
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25 25 Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten O. Sticher 25.1
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.1.1 Natürliche und künstliche Öle. . . . . . . . . . . . . 25.1.2 Terpentinfreie Öle, naturbelassene Öle . . . . . . . 25.1.3 Extraktionsöle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.1.4 Extrakte aus Ätherischöldrogen . . . . . . . . . . . 25.1.5 Blütenwässer, Blütenwasseröle, aromatische Wässer 25.1.6 Aromastofe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.1.7 Parfüms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.1.8 Vorkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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25.2
Eigenschaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.2.1 Einige physikalische und organoleptische Eigenschaten 25.2.2 Chemische Zusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . . 25.2.3 Qualitätskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.2.4 Hinweise zur Lagerung und Aubewahrung . . . . . . . 25.2.5 Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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25.3
Gewürze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.3.1 Gewürze, Gewürzmischungen, Gewürzzubereitungen, gesundheitliche Aspekte des Würzens . . . . . . . . . . 25.3.2 Galgant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.3.3 Ingwerwurzelstock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.3.4 Koriander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.3.5 Majoran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.3.6 Piment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.3.7 Vanille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.3.8 Zimtrinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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25.4
Stomachika, Cholagoga, Carminativa 25.4.1 Stomachika . . . . . . . . . . . 25.4.2 Cholagoga . . . . . . . . . . . . 25.4.3 Carminativa . . . . . . . . . . .
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25.5
Ätherische Öle als Expektoranzien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.5.1 Vorstellungen zur Wirkweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.5.2 Ätherische Öle, die bevorzugt inhalativ angewendet werden . . . 25.5.3 Bevorzugt systemisch oder relektorisch wirkende ätherische Öle 25.5.4 Ätherische Öle in Arzneiformen zum Lutschen . . . . . . . . . . 25.5.5 Ätherischöldrogen als Bestandteile von Brusttees . . . . . . . . .
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25.6
Ätherische Öle zur Mundplege und zum Gurgeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.6.1 Allgemeines über Mundsprays, Mundwässer und Gurgelwässer (Gargarismen) 25.6.2 Ätherische Öle aus Mentha-Arten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.6.3 Salbei und Salbeiöl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.6.4 hymianöl und hymol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.6.5 Wintergrünöl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.6.6 Myrrhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.6.7 Benzoe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25.7
Ätherische Öle in Rhinologika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1125
25.8
Ätherische Öle als Zusatz zu Externa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.8.1 Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.8.2 Hyperämisierende Einreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.8.3 Juckreizstillende Mittel (Antipruriginosa) . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.8.4 Mittel zur Durchblutung der Kophaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.8.5 Antiseptika und Antiphlogistika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.8.6 Anhang: Nelkenöl und Eugenol in der konservierenden Zahnheilkunde
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1125 1125 1125 1128 1131 1132 1133
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1135
25.1 Einführung
> Einleitung Ätherische Öle sind Stoffgemische, deren Hauptbestandteile (Mono- und Sesquiterpene) zur Naturstoffgruppe der Isoprenoide gehören (vgl. Kap. 23). Sie werden zusammen mit den Ätherischöldrogen in diesem Kapitel zusammengefasst. Neben der Besprechung allgemeiner Problemkreise werden die Ätherischöldrogen und die phytogenen ätherischen Öle nach Anwendungsgebieten wie Gewürze, Stomachika, Cholagoga, Carminativa, Expektoranzien, Mund- und Gurgelmittel, Rhinologika sowie als Zusatz zu Externa behandelt.
25.1
Einführung
25.1.1
Natürliche und künstliche Öle
In Medizin und Pharmazie versteht man unter ätherischen Ölen lüchtige, stark riechende Stofgemische von ölartiger Konsistenz, die in Wasser schwer löslich sind und aus planzlichen Ausgangsstofen dargestellt werden. Diese Begrifsbestimmung deckt sich mit der Deinition der ISO (International Standard Organization), wonach unter ätherischen Ölen nur die durch Wasserdampfdestillation von Planzenteilen gewonnenen Produkte sowie die durch Auspressen der Fruchtschalen einiger CitrusArten gewonnenen Öle zu verstehen sind. In der Praxis erlangen neben diesen natürlichen Ölen planzlicher Herkunt, d. h. den phytogenen ätherischen Ölen, in zunehmendem Maße synthetische ätherische Öle Bedeutung. Die synthetischen Öle können entweder mit phytogenen Ölen (weitgehend) identisch sein – man spricht dann von „naturidentischen Ölen“ – oder es kann sich um künstliche Öle ohne natürliches Vorbild handeln. Die arzneilich verwendeten ätherischen Öle, soweit sie als Arzneibuchqualität deklariert sind, stellen natürliche (phytogene) ätherische Öle dar. Naturidentische Produkte sind nur zugelassen, wenn es sich um Monosubstanzen handelt, wie im Falle von Vanillin, hymol oder Campher. Rein künstliche ätherische Öle verwendet man ausgiebig für Dutkompositionen (Parfüms). Pharmazeutische Produkte aus dem Grenzgebiet zu den Kosmetika wie beispielsweise die Badesalze und Badeöle dürten, je nach Hersteller, phytogene oder künstliche ätherische Öle enthalten.
25
In zunehmendem Maße muss heute damit gerechnet werden, dass anstelle phytogener ätherischer Öle verdünnte Öle und solche mit naturidentischen Aromastoffen angeboten werden, die mit Herkunt und Wirkung echter ätherischer Planzenöle außer einer gewissen Ähnlichkeit im Dut wenig gemeinsam haben (vgl. z. B. Schild et al. 1997).
25.1.2
Terpentinfreie Öle, naturbelassene Öle
Bestimmte ätherische Öle – Wacholderöl, Fichtennadelöl, Öl von Citrus-Arten (Agrumenöle) – enthalten Terpenkohlenwasserstofe, die selbst wenig zum Aroma beitragen, aber leicht autoxidieren und polymerisieren, sodass die Öle rasch verharzen. Durch fraktionierte Destillation oder andere Verfahren lässt sich die Kohlenwasserstoffraktion abtrennen. Die terpentinfreien Öle sind geruchsstärker als die naturbelassenen Öle. Bei den oizinellen Ölen mit den Qualitätsmerkmalen der Arzneibücher handelt es sich um naturbelassene Öle.
25.1.3
Extraktionsöle
Bei Rohstofen, deren Gehalt an ätherischem Öl gering ist oder bei denen wesentliche Dutstofe bei der Wasserdampfdestillation verloren gehen würden, erfolgt die Abtrennung durch Extraktion mit leicht lüchtigen Lösungsmitteln. Zur Wahl stehen Hexan, Dichlormethan, Aceton, Ethanol oder fette Öle. Hervorragend eignet sich lüssiges CO2 ; es wird v. a. zur Herstellung von Hopfen- und Gewürzextrakten herangezogen. Nach Verdunsten der lüchtigen Lösungsmittel hinterbleibt das Extraktionsöl, auch kurz als Extrakt bezeichnet. In der Parfümerie ist für Extraktionsöle die Bezeichnung Resinoide üblich, oder, falls das Extraktionsgut aus Blüten besteht, die Bezeichnung konkretes Blütenöl („essence concrete“). Beim Extrahieren mittels leichtsiedender Lösungsmittel löst man aber nicht nur Inhaltsstofe heraus, die für den vorgesehenen Verwendungszweck erwünscht sind, sondern es werden viele geruchlose lipophile Planzenbestandteile wie Sterole, Wachse und Farbstofe mitextrahiert, die häuig 90% des Extraktgewichts ausmachen. Der Extrakt wird daher in einigen Fällen weiter gereinigt: durch Chromatographieren, durch Gegenstromverteilung oder durch Behandeln mit Ethanol (Fette und Wachse fallen beim
1025
1026
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Abkühlen ethanolischer Lösungen aus und können abiltriert werden). Extraktionsöle stehen im Allgemeinen in ihren geruchlichen Qualitäten der frischen Droge bedeutend näher als Destillationsöle.
25.1.4
Extrakte aus Ätherischöldrogen
Von den Extraktionsölen zu unterscheiden sind die für Fertigarzneimittel viel verwendeten Extrakte aus Ätherischöldrogen. Zur Extraktherstellung dient als Extraktionsmittel in der Regel Methanol-Wasser oder Ethanol– Wasser, ein polares Lösungsmittelgemisch, das neben lipophilen Stofen in erster Linie polare Inhaltsstofe wie Zucker, Glykoside oder Phenole herauslöst. Beim Einengen der Auszüge und der sich anschließenden Walzenund Sprühtrocknung gehen die lüchtigen ätherischen Öle verloren mit dem Ergebnis, dass nicht selten Extrakte aus Ätherischöldrogen keine genuinen ätherischen Öle mehr enthalten. Es gibt allerdings auch Extrakthersteller, die die bei der destillativen Konzentrierung lüchtigen ätherischen Öle aufangen, konzentrieren und dem Extrakt (mikroverkapselt) wieder zusetzen.
25.1.5
Blütenwässer, Blütenwasseröle, aromatische Wässer
Die mittels Wasserdampf lüchtigen Bestandteile aromatischer Planzen scheiden sich nicht quantitativ in der Ölphase ab; stärker polare Stofe, insbesondere Alkohole, bleiben zu einem beachtlichen Anteil im Destillationswasser gelöst. Man bezeichnet diese Destillationswässer als aromatische Wässer. In der Kosmetik werden sie zu Lotionen, kühlenden Hautcremes und Gesichtswässern verarbeitet. In der Pharmazie verarbeitet man Destillate aus Kamillen- und Arnikablüten zu Wundsalben. Wird das Destillationswasser mit einem lipophilen Lösungsmittel extrahiert, so lösen sich die Terpene heraus und liefern nach Abdestillieren des Extraktionsmittels das sog. Blütenwasseröl. Beispiele: Rosenwasseröl, Orangenblütenwasseröl, Lavendelblütenwasseröl. Die aromatischen Wässer (Aquae aromaticae) der Pharmazie sind stark verdünnte, kolloidale Lösungen von ätherischen Ölen in Wasser, die durch Schütteln des Öls mit lauwarmem Wasser hergestellt werden. Es handelt sich um sehr verderbliche, rasch verharzende Produkte,
die früher in der Rezeptur als Geruchs- und Geschmackskorrigenzien verwendet wurden – wie z. B. das Aqua Menthae piperitae, das Aqua Rosarum und das Aqua Foeniculi. Eine dritte Möglichkeit, aromatische Wässer zu gewinnen, besteht in der Destillation von Drogen, die nicht zu den Ätherischölplanzen gehören und die daher, unterwirt man sie der Wasserdampfdestillation, nur Spuren aromatischer und anderer lüchtiger Stofe liefern, z. B. Hamameliswasser. Dieses Destillat aus frischen Zweigen von Hamamelis virginiana L. wird durch Zusatz von 12– 15% Ethanol haltbar gemacht.
25.1.6
Aromastoffe
Unter dem Aroma versteht man im alltäglichen Sprachgebrauch den charakteristischen, angenehmen Geruch eines Gewürzes, eines Getränks oder einer Speise. In der Lebensmittelchemie wird der Ausdruck Aromastof wertfrei gebraucht, da ein bestimmter Stof in einem Lebensmittel erwünscht, in einem anderen hingegen an dessen Fehlgeruch beteiligt sein kann. Deiniert sind Aromastofe als lüchtige Verbindungen, die mit den Geruchsrezeptoren wahrgenommen werden können (Belitz u. Grosch 2001). Ätherische Öle können somit zugleich auch Aromastofe sein; doch ist der Begrif Aromastof umfassender, da er Stofe umfasst, die ot nur in winzigen Mengen im Dampfraum über dem Lebensmittel vorkommen. Unter einem Aromafehler in Lebensmitteln versteht man unerwünschte Änderungen des Aromas bei der Herstellung oder bei der Lagerung. Kräutertees und Planzensäte haben ihren jeweils charakteristischen „lavour“. Ein Teeaufguss aus einer überalterten oder schlecht gelagerten Droge kann im Geschmack ganz erheblich von dem aus einer frischen Ernte stammenden Droge abweichen. Bei der Herstellung von Planzensäten treten nicht selten unerwünschte Aromafehler auf; die Charge muss dann vernichtet werden, da der Patient oder der Verbraucher ein Produkt mit ungewohntem „lavour“ ablehnt. Die Ursachen für das Autreten artfremder Gerüche in planzlichen Arzneizubereitungen sind bisher so gut wie nicht erforscht. Vermutlich liegen die Verhältnisse ähnlich wie bei planzlichen Lebensmitteln: x Abhängig vom Zerkleinerungsgrad der Droge, der Trocknungstemperatur und anderen Faktoren können
25.1 Einführung
planzeneigene Enzyme stoliche Umsetzungen katalysieren, oder es können erwünschte Umsetzungen unterbleiben. Es sei an die handelsüblichen Knoblauchpräparate erinnert, die in ihren „Aromaqualitäten“, aber auch hinsichtlich ihrer Inhaltsstofe, untereinander und mit frischem Knoblauch nicht ohne weiteres vergleichbar sind. x Fremdgerüche können mikrobiellen Befall anzeigen. x Lutsauerstof und Licht können zu autoxidativen Veränderungen von Aromastofen führen ( > Abb. 25.1). Aromastofe sind wichtige Hilfsstofe bei der Verarbeitung von Arzneistofen zu Fertigarzneimitteln; mit ihrer Hilfe lässt sich ein unangenehmer, der Einnahme hinderlicher „lavour“ übertönen.
25.1.7
25
Parfüms
Die Bezeichnung Parfüm wird für zweierlei Produkttypen gebraucht: für die Parfümöle und für alkoholisch-wässrige Lösungen von Parfümölen. Ein „Extrait“ ist eine 10- bis 20%ige Lösung eines Parfümöls in 90- bis 95%igem Ethanol; ein „Eau de toilette“ (Eau de parfum) enthält etwa 7–10% Parfümöl in 80- bis 90%igem Ethanol; und ein „Eau de Cologne“ (Kölnisch Wasser) bis zu 4% Parfümöl in 70- bis 85%igem Ethylalkohol. Rohstofe der Parfümerie sind die ätherischen Öle, Extrakte aus Planzen und animalischen Drogen (Ambra, Moschus, Zibet, Castoreum), aus planzlichen Rohstofen isolierte Einzelstofe und rein synthetische Stofe. In der kosmetischen Industrie ist zumindest der teilweise Ersatz von natürlichen ätherischen Ölen durch synthetische Produkte am weitesten fortgeschritten.
. Abb. 25.1 O CH2 CH3
CH3
Metallkatalyse
CH2
CH3
CH3
Valencen
CH3
CH3
Nootkaton (Grapefruitnote)
CH3
CH3
CH3 O
Autoxidation
H3C
CH2
Limonen (zitronenartig)
OH +
H3C
CH2
H3C
Carvon
CH2
Carveol Terpennote
Bei der Herstellung sowie bei der Lagerung von Produkten, die Terpene enthalten (Ätherischöldrogen, ätherische Öle, Pflanzensäfte u. a. m.), können sich autoxidativ Folgeprodukte bilden, die die sensorischen Eigenschaften des Produkts ändern. In der Lebensmittelchemie bezeichnet man Änderungen des „flavour“ als Aromafehler („off-flavour“). Beispielsweise kann Orangensaft eine Grapefruitnote oder eine Terpennote annehmen. Entsprechende Aromafehler treten auch in der Pharmazie bei Pflanzensäften und Teezubereitungen auf; bis auf wenige Ausnahmen sind die Ursachen nicht näher untersucht. Zubereitungen aus Salbeiblättern können bitter schmecken oder auch nicht, je nachdem, ob sich im Verlaufe der Aufbereitung die genuine Carnosolsäure autoxidativ in das lactonische Carnosol umwandelt ( > Abb. 25.51; Brieskorn 1966)
1027
1028
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Ein Parfüm – es gilt dies sinngemäß auch für ätherische Öle und Aromastofe – erweist sich bei einer Geruchsprobe im zeitlichen Ablauf als nicht homogen. Der Parfümeur unterscheidet: x Kopfnote (Spitze, Angeruch; „top note“), x Bouquet (Mittelnote; „body“), x Fond (Nachgeruch; „end note“). Geruchstofe wirken sensorisch als Einzelstof anders als in Kombination mit anderen Stofen. Beispielsweise verhalten sich Lösungen von Menthol und Campher (1:1) in Ethanol wie folgt (Novák 1981): Bei der Geruchsprobe herrscht der Campher vor, der jedoch angenehmer, weniger holzig und dumpf wirkt als allein; der Mentholgeruch ist modiiziert, indem er v. a. viel frischer wirkt sowie weniger gewürzhat und fruchtig. Die Geruchsnote eines Stofes hängt sodann von der Konzentration (Dampfdichte) ab, in der er zur Einwirkung gelangt: Reines D-Ionon riecht nach Zedernholz, nach Verdünnen mit Ethanol dagegen nach Veilchen. Skatol ist konzentriert eine widerliche (fäkalienartig) riechende Substanz, deren Geruch in hochgradiger Verdünnung angenehm empfunden wird (Roseburg u. Fikentscher 1977). Bei Parfüms und Kölnisch Wasser ist der Dut funktioneller Selbstzweck; in der Pharmazie interessieren Parfümöle als Hilfsstofe für dermatologische Arzneimittel und für Körperplegemittel mit medizinisch-protektivem Charakter.
25.1.8
und selbst Familien charakteristisch, sodass sie ein wertvolles diagnostisches Hilfsmittel bei der mikroskopischen Drogenuntersuchung darstellen. Man unterscheidet: x einzellige Exkretbehälter (z. B. Ölzellen bei Zingiberaceae, Lauraceae, Piperaceae u. a. m.); x interzelluläre Exkretbehälter. Es handelt sich um kugelige Gebilde, die nicht selten schon mit bloßem Auge sichtbar sind: – schizogene (z. B. bei Apiaceae, Myrtaceae); – lysigene (bei Rutaceae); x Exkretbehälter zwischen Kutikula und Zellmembran (z. B. Drüsenhaare und Drüsenschuppen der Lamiaceae, Verbenaceae und Asteraceae und vieler anderer Familien).
25.2
Eigenschaften
25.2.1
Einige physikalische und organoleptische Eigenschaften
x Ätherische Öle stellen, frisch destilliert, farblose Flüsx
Vorkommen x
Geringe Mengen von wasserdamplüchtigen Stofen dürften in allen Planzen enthalten sein. Technisch oder pharmazeutisch interessieren im Allgemeinen aber nur Planzen, aus denen größere Mengen (0,01–10%) Öl destillierbar sind. Von den Planzenfamilien, die bisher auf das Vorkommen von ätherischen Ölen geprüt wurden, enthalten etwa 30% ölführende Arten. Fast durchweg führen ätherisches Öl die Arten aus den Familien der Apiaceae, Lamiaceae, Lauraceae, Myrtaceae, Pinaceae, Piperaceae, Rutaceae und Zingiberaceae. Seit langem ist bekannt, dass hauptsächlich solche Planzen Öl liefern, die sich durch das Vorkommen morphologisch diferenzierter Gebilde auszeichnen, die als Exkretbehälter – auch als Ölbehälter und Öldrüsen – bezeichnet werden. Die Exkretbehälter sind in der Regel histologisch gut erkennbar; ihr anatomischer Bau ist für ganze Gattungen
x x
x
sigkeiten dar; einige wenige sind braun, rot, grün oder blau, z. B. Nelkenöl (rotbraun), Kamillenöl (blau). Bei Zutritt von Lutsauerstof – besonders rasch bei Sonnenlicht – nehmen ätherische Öle Sauerstof auf: Sie beginnen sich zu verfärben, ihre Viskosität nimmt zu und ihre Geruchsnote ändert sich, ot in Richtung terpentinölartig. Besonders Öle mit hohen Gehalten an ungesättigten Terpenkohlenwasserstofen tendieren zur autoxidativen Verharzung. Das speziische Gewicht der ätherischen Öle liegt zwischen 0,84 und 1,18. Die Mehrzahl der Öle ist leichter als Wasser, einige wie Zimtöl, Nelkenöl und Allylsenföl sind speziisch schwerer. Ätherische Öle sind bei Raumtemperatur lüchtig; sie erzeugen daher nicht wie fette Öle auf Papier einen bleibenden „Fettleck“. Der Siedepunkt liegt verhältnismäßig hoch (von 150 °C bis über 300 °C), sodass beim Destillieren unter Normaldruck eine Reihe von Bestandteilen Zersetzung erleidet. Ätherische Öle lösen sich leicht in allen Lipidlösungsmitteln wie z. B. fettem Öl, Petrolether, Chloroform, Benzol, Ether und hochprozentigem Ethanol (>90%). Die Löslichkeit in Wasser ist gering, doch lösen sich sauerstohaltige Moleküle, insbesondere Alkohole und Carbonsäuren, soweit, dass sie in einem Infus
25
25.2 Eigenschaften
(„Tee“) enthalten sind. Durch Begleitstofe – von besonderem Interesse sind Zucker – wird die Löslichkeit in Wasser gesteigert. Verreiben der Öle mit Kieselgur oder Talk erleichtert die Herstellung gesättigter Lösungen, sog. aromatischer Wässer. x Da die Bestandteile ätherischer Öle optisch aktiv sind, sind auch die Öle selbst optisch aktiv. Vorzeichen der Drehung und Größe des Drehwerts variieren selbst bei Ölen derselben Stammplanze; das Mengenverhältnis der Stofe variiert und dementsprechend auch die Summe der Einzeldrehwerte, aus denen sich das Stofgemisch aubaut. x Die ätherischen Öle zeichnen sich durch einen intensiven Geruch aus. Der Geruch des Öls erinnert an den . Abb. 25.2
C1, C4 - Verknüpfungen
A
B
Geruch der Planze, von der das Öl stammt, ist aber in der Regel weniger angenehm. Ätherische Öle weisen in der Regel einen scharfen, beißenden oder brennenden Geschmack auf, der aber nach Verdünnung der Öle meist als angenehm empfunden wird.
25.2.2
Chemische Zusammensetzung
Übersicht Ätherische Öle sind Stofgemische aus 20–200 Einzelsubstanzen, die nach ihrer Konzentration in den Ölen grob in Hauptkomponenten (20–95%), Nebenkomponenten
Beispiele für Terpene:
C
CH2
D
CH3 4
4 1
1
1
1
H3C
C10; Monoterpene C15; Sesquiterpene
H3C
C20; Diterpene
β-Phellandren; C10H16 in Myrtaceenölen
E
Z
CH3
4
CH3
OPP S
OH
Geraniol; C10H18O im Rosenöl
H
CH3 OH
OPP
CH3
S
H CH3
Neryldiphosphat
Geranyldiphosphat
H3C
CH3
α-Bisabolol; C15H26O im Kamillenöl
6
H3C
COOH CH3
Valerensäure; C15H22O2 im Baldrianöl
OPP 2
OPP Ein Farnesyldiphosphat (2 Z, 6 E )
Geranylgeranyldiphosphat
Die in ätherischen Ölen vorkommenden Terpene leiten sich von methylsubstitutierten Alkenen ab, die eine Kettenlänge aufweisen, die ein n-faches von 4 beträgt. Die Ketten können sich auf Enzymoberflächen in unterschiedlicher Weise falten (rechte Hälfte), sodass die räumlichen Voraussetzungen für Zyklisierungen gegeben sind. Diterpene, insbesondere wenn sie Sauerstoff im Molekül enthalten, kommen als Bestandteile von ätherischen Ölen, die mittels Wasserdampfdestillation gewonnen werden, nur selten vor; in Extraktionsölen können sie einen höheren Prozentsatz ausmachen
1029
1030
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
(1–20%) und Spurenkomponenten (unter 1%) eingeteilt werden können (vgl. Übersicht von Stahl-Biskup u. Reher 1987). Bei einzelnen Ölen kann einer der Bestandteile mengenmäßig so überwiegen, dass der Gesamtcharakter des Öls – seine geruchlichen Qualitäten, seine chemischen und physikalischen Eigenschaten sowie seine pharmakologischen Wirkungen – weitgehend vom Hauptbestandteil allein bestimmt wird. Häuig weisen aber Neben- und v. a. Spurenkomponenten einen intensiven Geruch auf und runden den typischen Gesamtgeruch eines Öls ab. Bisher wurden über 3000 deinierte chemische Verbindungen als Bestandteile ätherischer Öle nachgewiesen (vgl. Carle 1996). Obwohl alle diese Substanzen die gemeinsame physikalische Eigenschat Flüchtigkeit haben, ist nicht zu erwarten, dass sie alle das gleiche chemische Aubauprinzip zeigen. Man wird eher damit rechnen, Stoffe aus allen biologischen Stoklassen (Acetogenine, Terpene, Phenylpropane, Substanzen mit N und S im Molekül) als Bestandteil anzutrefen, und zwar jeweils diejenigen Glieder der Reihe, die das kleinere Molekulargewicht aufweisen, die kleinere Zahl an Sauerstoffunktionen im Molekül besitzen und die nicht glykosidisch gebunden an
Zucker vorliegen. Diese Merkmale trefen auf Monoterpene, Sesquiterpene und auf Phenylpropane zu, die daher besonders häuige Bestandteile ätherischer Öle sind. Ähnlich mannigfaltig sind die Bestandteile ätherischer Ole in Bezug auf das Vorkommen funktioneller Gruppen im Molekül: Alkane, Alkene und Alkine; Epoxide, Phenole, Alkohole, Aldehyde, Carbonsäuren, Ether und Ester; zahlreiche Bestandteile sind polyfunktionell, d. h. der Grundkörper ist durch mehrere funktionelle Gruppen substituiert. Hinsichtlich der biosynthetischen Herkunt des Grundkörpers lassen sich 4 Gruppen bilden: x Acetogenine oder Polyketide sind vertreten als geradkettige Alkane und Alkene, als Acetylenderivate und die jeweiligen Folgeprodukte. Im chemischen Aubau lässt sich die nahe Verwandtschat zu den Fettsäuren erkennen. x Terpene sind dadurch gekennzeichnet, dass das Grundgerüst durch Methylgruppen substituiert ist; sie entstehen biosynthetisch durch Kondensation aus methylverzweigten Butadienderivaten, den Isoprenbausteinen ( > Abb. 25.2; Näheres > S. 1032). +
. Abb. 25.3 R
H COOH
CH2 OH
R
HO
HO
R = H: p-Cumarsäure R = OCH3: Ferulasäure
R = H: p-Cumarylalkohol R = OCH3: Coniferylalkohol
R
CH2
HO
R
Allylbenzole; R = OCH3: Eugenol R
+
H CH3
HO
HO Propenylbenzole; R = H: Desmethylanethol
Bildung von Allyl- und Propenylbenzolderivaten. Biosynthesevorstufen sind die verschiedenen aromatischen Aminosäuren (Phenylalanin, Tyrosin, Dihydroxyphenylalanin), die durch das Enzym Ammoniumlyase in die entsprechenden Zimtsäuren überführt werden; deren Reduktion führt zu den entsprechenden C6-C3-Alkoholen. Zimtalkohole wiederum können in höheren Pflanzen weiter zu Alkenderivaten reduziert werden
25
25.2 Eigenschaften
x Phenylpropanderivate sind Abkömmlinge der aromatischen Aminosäuren Phenylalanin, Tyrosin und Dihydroxyphenylalanin, d. h. ihr Kohlenwasserstofskelett besteht formal aus einem Benzolring und einer n-Propylseitenkette ( > Abb. 25.3 und 25.4). Cumarine sind stärker modiizierte Phenylpropane (vgl. Kap. 26.3), nichtglykosidische Cumarine kommen in ätherischen Ölen vor, beispielsweise das Bergapten in Agrumenölen (das sind Öle aus Citrus-Arten). x Heteroatome im Molekül enthaltende Bestandteile. Bei den Heteroatomen handelt es sich um Stickstof und um Schwefel. Durch N im Molekül zeichnen sich bestimmte Indol- und Anthranilsäurederivate aus, die biosynthetische Beziehungen zum Stofwechsel der Aminosäure Tryptophan aufweisen. S im Molekül enthalten die Disulide und die Polysulide, die sich als übelriechende Artefakte bei der Destillation von Knoblauch, Stinkasant oder Galbanum bilden ( > Abb. 25.5).
. Abb. 25.5 c C11H18
1 c
t
H2C
CH3
C11H18
2
CH3
H3C
S
S
S
S
CH3
. Abb. 25.4 CH2
R2
Myristicin Eugenol Methyleugenol Elemicin R1
O CH2 OCH3 OCH3 OCH3
O OH OCH3 OCH3
OCH3 H H OCH3
CH3
CH3
N
N
OCH3 6
R2 R3
Isomyristicin Isoeugenol Methylisoeugenol Isoelemicin
H3C
CH3
5
R3 R3
S
S
CH3
R2
CH3
4 S
H3C
R1
CH3
S 3
H3C
R1
CH3
t
H2C
R1
R2
R3
O CH2 OCH3 OCH3 OCH3
O OH OCH3 OCH3
OCH3 H H OCH3
Gemeinsames Auftreten von Propenyl- und Allylbenzolderivaten in der Muskatnuss (Myristicae semen) und im ätherischen Muskatöl (Myristicae aetheroleum)
Einige Beispiele für Inhaltsstoffe ätherischer Öle, die weder zur Gruppe der Terpene noch zur Gruppe der Phenylpropane gehören. Die Undecatriene 1 und 2 prägen das Aroma des Galbanumharzes von Ferula gummosa BOISS. Für das Aroma des Asafoetida-Öls (des Stinkasants) sind Schwefel enthaltende Stoffe verantwortlich, und zwar 1-(1-Methylthiopropyl)propenyldisulfid (3), 2-sec-Butylpropenyldisulfid (4) und 2-sec-Butyl-3-methylthioallyldisulfid (5). Geruch und Geschmack der grünen Paprikafrüchte werden durch das Pyrazin 6 bedingt; die Pyrazine sind häufig vorkommende Geruchssubstanzen in Gemüsearten (Kartoffeln), in fermentierten Nahrungsmitteln (Kaffee) sowie in gerösteten und gebratenen Produkten
1031
1032
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Terpene als Bestandteile ätherischer Öle, Isoprenregel Isopentenyldiphosphat (IPP) und Dimethylallyldiphosphat (DMAPP) stellen die beiden C5-Grundbausteine dar, aus denen im planzlichen und tierischen Organismus lebenswichtige Produkte wie die Sterole, die Carotinoide oder das Phytol (Bestandteil des Chlorophylls) aufgebaut werden. Das C5-Bauelement dient der Planze zugleich zum Aubau einer kaum übersehbaren Fülle von Sekundärprodukten, die als Terpene, Isoprenoide, Terpenoide oder auch als Polyprenylverbindungen bezeichnet werden.
Ihrem Aubau aus C5-Bausteinen entsprechend bestehen die Terpene im typischen Fall aus einer Zahl von Kohlenstofatomen, die durch 5 teilbar ist (vgl. Kap. 23.1). Die Zahl der Bausteine liefert zugleich ein erstes Einteilungsprinzip (vgl. > Abb. 25.2). Als Bestandteil ätherischer Öle kommen nur ganz bestimmte Terpene vor, und zwar die mit Wasserdampf lüchtigen, lipophilen, niedermolekularen Vertreter, in erster Linie Monoterpene und Sesquiterpene ( > Abb. 25.6, 25.7 und 25.8). Im typischen Fall sind die einzelnen C5-Bausteine regulär verknüpt, d. h. das endständige C-4-Atom des ei-
. Abb. 25.6 H3C
OH C
CH
=
CH2 OH
H3C 3,3-Dimethylallylalkohol O
H3C C
CH
CH2 O
H3C
P
O O
OH
P
OPP OH
=
OH
3,3-Dimethylallyldiphosphat H3C
OH C
CH2
CH2 OH
=
H2C 3-Methyl-3-buten-1-ol O
H3C C
CH2
CH2
O
H2C
P OH
O O
P
OPP OH
=
OH
Isopentenyldiphosphat
C5H8; Isopren
C5H9; Prenylrest
Die C5-Grundbausteine der Terpene; die rechte Hälfte zeigt die übliche abgekürzte Schreibweise. Ursprünglich wurden nur Verbindungen mit 10 Kohlenstoffatomen, die heutigen Monoterpene, als Terpene bezeichnet. Heute bevorzugt man für diese umfangreiche Gruppe von Naturstoffen die Bezeichnung Isoprenoide, obwohl nicht eigentlich das Isopren das biosynthetische Bauelement darstellt. Isopren kommt im Pflanzenreich nicht vor. Prenylsubstituenten an Naturstoffen finden sich ziemlich häufig
25
25.2 Eigenschaften
. Abb. 25.7
CH2
CH3
CH3 β-Pinen
α-Pinen
OH
CH3
OH +
+
H
H
Borneol
⊕
⊕ H2
H3C
CH3
3-H
+
CH3
Caren
O
7
CH3
1
10-H +
6
2
5
3
⊕
Campher
4 8
9
H3C
+
10
OH
CH2
Limonen
4-H+ CH3
CH3
CH3
≡
H3C
CH3
1,4-Menthadien
H3C
OH
CH3
+
H
CH3
OH O
1,8-Cineol
α-Terpineol
Sekundäre Reaktionen, wie Hydroxylierungen, Dehydrierungen und weitere C-C-Verknüpfungen, führen zu der großen Mannigfaltigkeit der monozyklischen und bizyklischen Monoterpene
nen Bausteins kondensiert mit dem Kopfatom C-1 der zweiten Einheit. Dadurch bedingt stehen im „fertigen“ Naturstof die Methylgruppen an ganz bestimmten, gleichsam vorausberechenbaren Positionen. Dieser Naturstof folgt der Isoprenregel: Man sagt auch, er ist regulär gebaut. Naturstofe, deren Methylverzweigungen nicht der Iso-
prenregel entsprechende Stellen besetzen, sind irregulär aufgebaut. Irregulärer Aubau kann zweierlei Ursachen haben: Die Kondensation der C5-Bausteine erfolgt nicht an den Positionen C-4oC-1, sondern an anderen Positionen, beispielsweise von C-4 nach C-2 oder von C-4 nach C-3 ( > Abb. 25.9). Es kann aber auch eine zunächst re-
1033
1034
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
. Abb. 25.8 CH3 +
⊕
t
2
H
c
CH3
OP P OH 2-cis-6-transFarnesyldiphosphat (1)
H3C
2
CH3 Bisabolen (3)
CH3 OH
Sesquiterpene vom Germacrantyp
CH3
weitere Sesquiterpene vom Bisabolantyp H3C
CH3 Bisabolol (4)
t t
+
H
OH 2
⊕ O P P
2-trans-6-transFarnesyldiphosphat (5)
6
Sesquiterpene vom Guajantyp
7
OH
⊕
OH 8
Die unterschiedliche Geometrie der olefinischen Doppelbindungen in den verschiedenen Farnesyldiphosphatisomeren in Verbindung mit der unterschiedlichen Vorfaltung der C15-Kette auf Enzymoberflächen führt zu einer großen Mannigfaltigkeit von zyklischen Sesquiterpenen. Die Zyklisierung der monozyklischen Verbindung 7 vom Germacrantyp zum bizyklischen Guajanderivat 8 ist als H+-katalysierte Cycloaddition formuliert. Der Biosynthesemechanismus ist bisher allerdings nicht näher abgeklärt
25
25.2 Eigenschaften
. Abb. 25.9 A
3 4
2 3
1
A
1 2
4
4 4
B
B irreguläre Verknüpfung A 4
2 3
PPO
A 1
A
⊕ PPO
+
a
PPO
H
b
− PPO
B
+
H
4
PPO
B
B
2 3
1
a,b-Öffnung
O
CH3 HO
CH2
H3C Lavandulol
CH3
CH3
HO
CH3
H3C
CH3
Chrysanthemumcarbonsäure
Durch irreguläre 4,4’-Verknüpfung leiten sich zahlreiche Monoterpene ab, von denen Abkömmlinge mit dem Chrysanthemyl-, Lavandulyl- und Artemisylskelett als Inhaltsstoffe von Drogen bzw. Arzneipflanzen von Interesse sind. Beispiele: Lavandulol und Chrysanthemumcarbonsäure (Stereochemie nicht berücksichtigt). Lavandulol ist ein Nebenbestandteil (~0,1%) verschiedener Lavendel- und Lavendinöle. Chrysanthemumcarbonsäure bildet als (+)-trans-Chrysanthemumsäure die Säurekomponente der (+)-trans-Pyrethrine, das sind Ester mit alkylsubstituierten 4-Oxo-2-cyclopenten-1-olen. Pyrethrine sind rasch wirkende Kontaktinsektizide. Sie kommen in den getrockneten Blütenköpfchen von Chrysanthemum coccineum WILLD. und einigen verwandten Chrysanthemum-Arten (Familie: Asteraceae [IIB28b]) vor
gulär gebaute Kette sekundär modiiziert werden, indem bestimmte Substituenten, vorzugsweise Methylgruppen, „wandern“, d. h. 1,2-Verschiebungen unterliegen, wodurch eine irreguläre Biosynthese gleichsam vorgetäuscht wird. Bei den Triterpenen und Steroiden ist diese Art von irregulärem Aubau die Regel (vgl. dazu Kap. 24). Aus der Konstitutionsformel eines irregulären Terpens lässt sich natürlich nicht ablesen, ob bereits die Kette irregulär aufgebaut wurde oder ob es sich um eine sekundäre Modiikation handelt.
Die große Mannigfaltigkeit an Strukturen innerhalb der Reihe der Monoterpene und der Sesquiterpene kommt dadurch zustande, dass sowohl die ofenkettigen als auch die zyklisierten Muttersubstanzen in unterschiedlicher Weise mit Sauerstoffunktionen beladen werden. Und je stärker der Oxidationsgrad, umso reaktionsfähiger werden die Stofe und umso stärker tendieren sie zu mannigfachen Umlagerungen.
1035
1036
25 25.2.3
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Qualitätskontrolle
Möglichkeiten der Verfälschung und Streckung phytogener Öle Es dürte keine andere Stofgruppe geben, die so vielen Verfälschungen ausgesetzt ist wie gerade die ätherischen Öle. Grob lassen sich 4 Methoden unterscheiden, um ein ätherisches Öl zu verfälschen und zu verschneiden: „Strecken“ bzw. Verdünnen x mit billigen synthetischen Stofen wie Benzylalkohol, Phthalsäureester und halogenhaltigen Kohlenwasserstofen; x mit einem oder mehreren anderen ätherischen Ölen oder Fraktionen daraus; x mit synthetischen Stofen, die der Hauptkomponente des Öls entsprechen; x mit einem durch Mischen synthetisierter Stofe rekonstruierten ätherischen Öl. Nach einer Schätzung sollen weit über 80% aller im Handel beindlichen teuren Öle nichts mehr mit ihrem eigentlichen Ursprung zu tun haben (Karg 1981). Der gleiche Autor gibt ein Rezeptbeispiel für ein gestrecktes Rosmarinöl: synthetischer Campher 8 Teile, Dipenten 6, Eucalyptol 6, Isotridecylalkohol 4, Orangenterpene 4, Terpenylacetat 4, Borneol 3, Isobornylacetat 3, Pinen 2, Geranylacetat 1, Benzylacetat 1, Bornylacetat 1, D-Amylacetat unter Prüfung auf Reinheit) vor. Die DC, wie sie zur Untersuchung ätherischer Öle eingesetzt wird, ist eine Adsorptionschromatographie mit Kieselgel als stationärer Phase. Als mobile Phasen dienen wenig polare Lösungsmittel wie Hexan oder Toluol mit geringen Zusätzen (5–15%) polarer Lösungsmittel wie Ethylacetat, Methanol oder Ethanol. Die Komponenten eines ätherischen Öls werden nach ihrer Polarität (Einluss der funktionellen Gruppen, Koniguration) getrennt. Die Identiizierung der Ölkomponenten wird anhand von Referenz- oder Leitsubstanzen vorgenommen, der Nachweis geschieht im UV-Licht bei 254 nm (Fluoreszenzminderung) oder nach Besprühen mit Anisaldehyd-, Vanillin/Schwefelsäure- oder Molybdatophosphorsäurereagens, anschließendem Erhitzen bei 105 °C und Beurteilung im Tageslicht oder im UV bei 365 nm. Terpene und Phenylpropane reagieren unter Bildung charakteristisch blau-, violett-, rot- oder braungefärbter Farbstokomplexe. Cumarine enthaltende ätherische Öle zeigen im UV bei 365 nm Eigenluoreszenz. Bei Tageslicht allein kann nur das blaugefärbte Chamazulen des Kamillenöls ausgewertet werden (vgl. Übersicht von Stahl-Biskup u. Wilhelm 1996). Prüfung auf Reinheit. Neben der Bestimmung physika-
lischer und chemischer Kennzahlen wird heute ein „chromatographisches Proil“ (Beispiele > Tabelle 25.2) mit Hilfe der GC ermittelt. Gegenüber der DC hat die GC den großen Vorteil, dass neben einer wesentlich besseren Auftrennung der Einzelkomponenten auch Aussagen über die quantitative Zusammensetzung möglich sind. Dementsprechend wird sie in den neuen Vorschriten der Arzneibücher zur Prüfung auf Identität und Reinheit sowie als Gehaltsbestimmung (Angaben in Prozent) eingesetzt. Bei Anis-, Sternanis- und Bitterfenchelöl ist ein typisches Gaschromatogramm zur Information und als Anleitung zum Analyseverfahren im Arzneibuch (PhEur 5) abgebildet.
. Tabelle 25.2 Chromatographisches Profil verschiedener ätherischer Öle (Beispiele) Öl
Vorschrift in
Quantitative Angabe für
Anisöl
PhEur 5
7 Bestandteile
Citronellöl
PhEur 5
8 Bestandteile
Kamillenöl
PhEur 5
2 Öltypen, je 6 Bestandteile
Lavendelöl
PhEur 5
10 Bestandteile
Nelkenöl
PhEur 5
3 Bestandteile
Neroliöl (bisher Bitterorangenblütenöl)
PhEur 5, revidiert 5.3
10 Bestandteile
Pfefferminzöl
PhEur 5
10 Bestandteile
Teebaumöl
PhEur 5
11 Bestandteile
Thymianöl
PhEur 5
7 Bestandteile
Die neuen Vorschriten der Arzneibücher verwenden ausschließlich Kapillarsäulen. Sie enthalten Angaben über die folgenden Parameter: Säulengröße, stationäre Phase, Trägergas, Strömungsgeschwindigkeit, Detektor, Injektionsvolumen, Temperaturprogramm. Die Qualität der Säule ist durch Anforderungen an die Zahl der theoretischen Böden (>30.000) und an die Aulösung kritischer Substanzpaare (z. B. Limonen/1,8-Cineol, Estragol/D-Terpineol) festgelegt. Die Peak-Identiizierung der charakteristischen Komponenten erfolgt durch den Vergleich der Retentionszeiten mittels Referenzsubstanzen. Die quantitative Berechnung wird durch Peak-Flächenermittlung (unkorrigierte Peak-Flächen) und Normalisierung (100%Methode) erreicht (vgl. dazu Übersicht von Stahl-Biskup u. Wilhelm 1996). Als physikalische Kennzahlen schreiben die Arzneibücher in den meisten Fällen die Bestimmung von relativer Dichte, Brechungsindex und optischer Drehung vor. Verschiedene andere Kennzahlen wie Erstarrungstemperatur, Säurezahl, Wasser in ätherischen Ölen, Nachweis von fetten und verharzten ätherischen Ölen, Löslichkeit in Ethanol, Bestimmung des Verdampfungsrückstandes, Estergehalt, fremde Ester in ätherischen Ölen u. a. m. sowie spezielle Reinheitsprüfungen werden in einzelnen Monographien aufgeführt. Die nachfolgenden Beispiele beziehen sich auf das Kap. „Allgemeine Methoden“ der PhEur 5 (in Klammer Kapitelnummer):
25.2 Eigenschaften
x die relative Dichte d 20 20 (2.2.5), deiniert als das Verhält-
nis zwischen Masse eines bestimmten Volumens einer Substanz bei 20 °C und der Masse eines gleichen Volumens Wasser bei derselben Temperatur (liegt im Intervall 0,690–1,118); x der Brechungsindex nD20 (2.2.6), bestimmt in einem Refraktometer mit einer Ablesegenauigkeit von mindestens 3 Dezimalstellen (liegt im Intervallbereich 1,450–1,590); x Als optische Drehung [D]D20 (2.2.7) wird die Eigenschat bestimmter Substanzen, die Ebene des polarisierten Lichtes zu drehen, bezeichnet. Sie ist keine Konstante im strengen Sinne, vielmehr legt die Pharmakopöe einen Erwartungsbereich fest, innerhalb dessen der ermittelte Drehwert liegen muss. Beispiele zeigt > Tabelle 25.3; x Bestimmung des Verdampfungsrückstands (2.8.9): Als Verdampfungsrückstand eines ätherischen Öls wird der in Prozent (m/m) angegebene Rückstand bezeichnet, der nach Verdampfen auf dem Wasserbad unter genau festgelegten Bedingungen erhalten wird. Auf diese Weise sind Zusätze von Harzen und fetten Ölen zu erkennen. Auch alte und schlecht gelagerte Öle hinterlassen einen Verdampfungsrückstand (nichtlüchtige Oxidations- und Polymerisationsprodukte).
. Tabelle 25.3 Optische Drehung verschiedener ätherischer Öle Vorschrift in Arzneibuch
[α] D20
Citronellöl
PhEur 5
+1,5° bis –4°
Citronenöl
PhEur 5
+57° bis +70°
Eucalyptusöl
PhEur 5
0° bis +10°
Fenchelöl, bitteres
PhEur 5
+10° bis +24°
Öl
Kümmelöl
PhEur 5.3
+65° bis +81°
Lavendelöl
PhEur 5
–12,5° bis –7°
Nelkenöl
PhEur 5
0° bis –2°
Neroliöl (bisher Bitterorangenblütenöl)
PhEur 5, revidiert 5.3
+1,5° bis +11,5°
Pfefferminzöl
PhEur 5
–10° bis –30°
Rosmarinöl
PhEur 5
–5° bis +8°
Salbeiöl
Helv 10
–3° bis +26°
25
x Die Erstarrungstemperatur (2.2.18) ist die höchste während der Erstarrung einer unterkühlten Flüssigkeit autretende Temperatur. Im Falle der ätherischen Öle ist sie eine geeignete Stokonstante für diejenigen Öle, bei denen ein bestimmter Einzelstof rein mengenmäßig vorherrscht. Beispiel: Anethol im Anisöl (PhEur 5 = +15 bis +19 °C). x Löslichkeit in Ethanol (2.8.10): Die einzelnen Monographien legen fest, in welcher Ethanol-Wasser-Mischung bei 20 ± 0,2 °C welche Menge ätherisches Öl sich klar oder „mit Opaleszenz“ löst. Diese Prüfung auf Löslichkeit ist eine einfache, schnell durchzuführende Methode auf Verfälschungen durch Öle, Mineralöle oder fremde ätherische Öle. In absolutem Ethanol sind alle ätherischen Öle gut löslich, während ihre Löslichkeit in verdünntem Ethanol sehr verschieden ist: Kohlenwasserstofreiche Öle erweisen sich als wesentlich schlechter löslich als Öle mit Bestandteilen, die reich an O-Funktionen (Alkohole, Epoxide etc.) sind. Gehaltsbestimmung. Zur Bestimmung der wirksam-
keitsmitbestimmenden Bestandteile eines ätherischen Öles fanden in den Arzneibüchern früher verschiedene Verfahren zur quantitativen Erfassung einzelner Inhaltsstofe bzw. von Stofgruppen Anwendung (vgl. dazu Übersicht von Stahl-Biskup u. Wilhelm 1996). In neuerer Zeit ist an deren Stelle in der Regel die Ermittlung eines chromatographischen Proils ( > unter Prüfung auf Reinheit) getreten. Bei den Drogen, die ätherisches Öl führen, setzen die Pharmakopöen einen Mindestgehalt an ätherischem Öl fest. Die Abtrennung des ätherischen Öls aus der zerkleinerten Droge erfolgt mittels Wasserdampfdestillation in einer Rücklaufdestillationsapparatur (PhEur 5, 2.8.12) und direkte volumetrische Ablesung der überdestillierten Ölmenge. Die Gehaltsangaben erfolgen in ml ukg–1. Das im Zuge der Gehaltsbestimmung gewonnene ätherische Öl wird nach bestimmten Kriterien dünnschichtchromatographisch untersucht. Bei der Besprechung der Einzeldrogen und der ätherischen Öle wird, sofern es sich um wichtige Arzneibuchdrogen handelt, auf die dünnschichtchromatographische Identitätsprüfung sowie die Gehaltsbestimmung einzelner Ölbestandteile hingewiesen werden.
1039
1040
25 25.2.4
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Hinweise zur Lagerung und Aufbewahrung
Ätherische Öle sind möglichst kühl und unter Ausschluss von Licht und Lutsauerstof aufzubewahren, um die Veränderung ihrer Zusammensetzung und damit ihrer sensorischen Qualitäten möglichst gering zu halten. Zur Stabilität der Bestandteile ätherischer Öle in den Ätherischöldrogen liegen keine umfassenden Untersuchungen vor. Handelt es sich um noch lebende Organe, wie Samen und Früchte in unzerkleinertem Zustand, dann kann mit nur sehr geringen qualitativen und quantitativen Änderungen gerechnet werden. Beispielsweise dürte eine Lagerdauer für Umbelliferenfrüchte mit 3 Jahren nicht zu lang bemessen sein. Tote Drogenorgane – Blätter, Kräuter, Blüten – zeigen viel rascher organoleptische Veränderungen, insbesondere dann, wenn das ätherische Öl in Drüsenköpfchen lokalisiert ist, die die Oberläche der Organe besetzen und dementsprechend der Licht- und Sauerstofeinwirkung stark ausgesetzt sind. Neben der Einwirkung planzeneigener Enzyme spielen v. a. autoxidative Prozesse, die durch Metallionen katalysiert werden, eine große Rolle (Beispiel: „Aromafehler“ beim Lagern von Orangensat, vgl. ( > Abb. 25.1). Zu den Drogen mit einer besonders kurzen Lagerfähigkeit zählen die Hopfenzapfen, deren Inhaltsstofe sich vom Zeitpunkt der Ernte an autoxidativ zersetzen, sodass nach spätestens einem Jahr die charakteristischen Inhaltsstofe Humulon und Lupulon praktisch fehlen. In Extrakten sind die Hopfeninhaltsstoffe wesentlich stabiler, woraus sich ergibt, dass Kofaktoren die Instabilität bedingen.
25.2.5
Wirkungen
Wirkungen ätherischer Öle und Wirkungen galenischer Zubereitungen aus Ätherischöldrogen Die pharmakologischen Untersuchungen wurden in der Regel mit den ätherischen Ölen durchgeführt. Die entsprechenden Ergebnisse dürfen nur nach kritischer Prüfung der jeweiligen Dosis-Wirkungs-Beziehung auf Präparate extrapoliert werden, die Extrakte aus Ätherischöldrogen (Tee, Tinktur, Extrakt im Fertigarzneimittel) darstellen. Teeaufgüsse sowie Handelsextrakte enthalten viel geringere Mengen an ätherischem Öl, als man aufgrund der Gehalte theoretisch errechnet. Es liegt dies einmal an der
geringen Löslichkeit der ätherischen Öle in Wasser, dann aber an den Wirkstofverlusten während der Extraktherstellung. Beispiel: hymian muss nach PhEur 5 12 ml u kg–1 ätherisches Öl, wovon mindestens 40% hymol und Carvacrol entsprechen, enthalten. Der hymianluidextrakt (1:2–3) des DAB 2003 enthält 0,03% Phenole; dies bedeutet, dass mindestens 85% an ätherischem Öl bzw. an hymol bei der Extraktherstellung verloren gehen. Die pharmakologischen Wirkungen ätherischer Öle oder von aus ätherischen Ölen isolierten Einzelsubstanzen (Menthol, Eucalyptol u. a. m.) lassen nicht auf vergleichbare Wirkungen von Drogenextrakten schließen, da in der Regel mit Extrakten die pharmakologisch wirksamen Dosen nicht erreicht werden können. Diese Aussage darf aber keineswegs dahingehend verallgemeinert werden, als ließen sich mit Ätherischöldrogen, d. h. mit niedrigen Dosen ätherischer Öle, keine Wirkungen erzielen. Für Wirkungen, die auf relektorischem Wege zustande kommen, sowie für Wirkungen, die als Antwort auf Reize entstehen, gelten besondere Dosis-Wirkungs-Beziehungen.
Hinweise zur Pharmakokinetik Als stark lipophile Substanzen sind die ätherischen Öle vom Magen-Darm-Trakt aus gut resorbierbar; auch werden Terpenoide leicht über die Haut aufgenommen, wobei in quantitativer Hinsicht die perkutane Resorption – etwa aus planzlichen Badezusätzen – der oralen vergleichbar ist. Quantitative Messungen über Resorptionsgeschwindigkeit, Verteilung auf die einzelnen Organe und über die Eliminationsgeschwindigkeit der wichtigen und viel verwendeten Terpene fehlen nach wie vor weitgehend. Qualitativ kann aus Vergitungsfällen geschlossen werden, dass nach der Resorption die Verteilung auf alle Organe erfolgt und dass lipophile Terpenoide auch in das Zentralnervensystem gelangen. Ein Teil der zugeführten Dosis wird unverändert über die Nieren und durch die Atemwege ausgeschieden, der größte Teil wird oxidativ metabolisiert und erscheint im Urin in Form zahlreicher Metaboliten, teilweise an Glucuronsäure und an Glycin gebunden. Die Metabolitenbildung in der Leber folgt den bekannten Mechanismen (Scheline 1991). > Abb. 25.10 zeigt dies am Beispiel eines monozyklischen Monoterpens, > Abb. 25.11 am Beispiel eines Phenylpropans.
25
25.2 Eigenschaften
. Abb. 25.10 CH3
CH3
CH3
CH3 HO
H2C
CH2O-Glu
β-D-Glucuronid von 2
H2C
HO
H2C
CH2OH
HO
CH3
p-Mentha-1,8dien-6-ol (3)
p-Mentha-1,8dien-10-ol (2) 7
CH3 CH2OH
p-Mentha-1-en6,8,9-triol (4)
CH3 1 2
6
10
9
H2C
8
CH3
(+)-Limonen (1)
COOH
COOH
HO
CH3 CH2OH
Perillasäure-8,9-diol (6)
H2C
CH3
Perillasäure (5)
CH3
CH3
HO
CH3 CH2OH
p-Mentha-1-en-8,9-diol (Uroterpenol; 7)
HO
CH3 CH2O-Glu
β-D-Glucuronid von 7
Die Metabolisierung von Monoterpenen folgt den bekannten Regeln, wonach lipophile Verbindungen hydroxyliert und an D-Glucuronsäure gepaart mit dem Harn ausgeschieden werden. Hauptmetabolit (28%) beispielsweise von Limonen beim Menschen ist das Glucuronid von 7, beim Hund das Uroterpenol (7), beim Hamster das Glucuronid von 5, beim Meerschweinchen das Glucuronid von 7 und das Glycinkonjugat von 5 und bei der Ratte Perillasäure-8,9-diol (6) (nach Scheline 1991)
Wirkungen, Wirkungsmechanismen, unerwünschte Wirkungen, Anwendungsgebiete Diese hemenkreise sind in einigen Übersichtsarbeiten zusammengefasst worden (vgl. dazu Schilcher 1984 u. 1986; Teuscher et al. 1990; Hänsel 1993; und bei diesen Autoren zitierte Literatur).
Wirkung, Wirkungsmechanismus. Bei der Vielzahl an
chemischen Strukturen, die in den ätherischen Ölen enthalten sind, kann ein die ganze Gruppe umfassendes einheitliches Wirkungsspektrum nicht erwartet werden. Immerhin sind einige Eigenschaten allen ätherischen Ölen gemeinsam, und zwar diejenigen, die mit ihren Grundeigenschaten der Lipidlöslichkeit und Flüchtigkeit
1041
1042
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
. Abb. 25.11 H3CO
HO CH3
CH3 4
Anethol HO
COOH 1 O H3CO
COOH
2
H3CO
C
N H
CH2
COOH
3
Beispiel für Biotransformationsschritte eines Phenylpropankörpers (Anethol). Oxidation der endständigen Methylgruppe zum Carboxyl und Entmethylierung sind die beiden Hauptreaktionen, die das Molekül polar und harngängig machen. Auf dem ersten Weg (Versuchstier Ratte; 100 mg/kg KG p.o.) wird 60–65% der verabreichten Dosis in die Metaboliten 1, 2 und 3 umgewandelt; auf dem zweiten Weg (40–50%) entstehen die Metaboliten 1 und 4 (vgl. Scheline 1991). Nach einer kürzlich durchgeführten Studie an Mäusen und Ratten konnten insgesamt 18 verschiedene Metaboliten nachgewiesen werden (nach Bounds u. Caldwell 1996)
(hoher Dampfdruck) zusammenhängen. Diese werden im Folgenden zusammengefasst. In den Kapiteln 25.3 bis 25.8 wird auf solche allgemeinen Wirkungen (z. B. antimikrobiell, antifungal, antiviral) nur eingetreten, sofern sie im Zusammenhang mit der üblichen Anwendung von Bedeutung sind. x Die meisten ätherischen Öle können, in geeigneter Konzentration angewandt, Mikroorganismen schädigen: Antibakterielle, antimykotische und viruzide Wirkungen sind bekannt. Zubereitungen (Salben, Cremes, Gele, Linimente), die dem Befall durch Schimmelpilze oder Bakterien unterliegen, bedürfen ot nicht des Zusatzes eines chemischen Konservierungsmittels, wenn sie bestimmte ätherische Öle (z. B. Nelkenöl, Eucalyptusöl, Senföl, Rosmarinöl, Methylsalicylat) als Arzneistof enthalten. Bereits Dämpfe können keimtötend wirken; als Aerosole („Medizinalraumsprays“) werden sie zur Lutdesinfektion benutzt. x Die meisten ätherischen Öle zeichnen sich durch eine mehr oder weniger stark ausgeprägte örtliche Reizwirkung aus. Auf der Haut wirken sie hyperämisierend bis entzündungserregend, eine Eigenschat, die zu therapeutischen Zwecken ausgenutzt wird.
x Inhalativ wirken ätherische Öle reizend auf die Schleimhäute der Atemwege. In schwacher Dosierung angewandt kommt es zu einer Vermehrung der Tracheobronchialsekretion, womit sich die Wirksamkeit inhalativer Expektoranzien erklären lässt. x Auch innerlich genommen kommt die lokal reizende Wirkung ätherischer Öle, und zwar auf die Schleimhäute des Mundes und des Magen-DarmTrakts, zur Geltung. Sie äußert sich in scharfem, brennendem Geschmack und vom Magen her in Wärmegefühl. x Die örtliche Reizwirkung ätherischer Öle induziert auf relektorischem Wege eine Reihe von sekundären Efekten: Von der Haut aus können innere Organe im Sinne einer besseren Durchblutung beeinlusst werden. Die Reizwirkung auf die Schleimhäute des Mundraumes in Verbindung mit der Erregung der Geschmacks- und Geruchsrezeptoren kann die Sekretion von Speichel, von Magensat sowie von Gallenund Pankreaslüssigkeit in Gang setzen. Es handelt sich um komplizierte Prozesse, an denen sowohl unbedingte als auch bedingte Relexe beteiligt sind. Mit den Wirkungen ätherischer Öle auf die relektorische
25.2 Eigenschaften
Phase der Verdauung inden die folgenden Anwendungen eine zumindest partielle Begründung: als Stomachika (appetitanregende Mittel), als Cholagoga sowie v. a. als Gewürze. x Gemeinsam ist allen ätherischen Ölen eine Reizwirkung auf Chemorezeptoren, d. h. sie reizen die chemischen Sinne, den Geruchs- und den Geschmackssinn. Daher inden Präparate mit ätherischen Ölen in der Pharmazie ausgiebige Verwendung als Geruchs- und Geschmackskorrigenzien für Arzneimittel, in der Krankenplege zur Verdeckung unangenehmer Gerüche in Räumen. x Chemorezeptorische Reize können Stimmungsänderungen auslösen; einige können beruhigend, andere stimmungsauhellend wirken. Tierexperimentell wurde gezeigt, dass bedingte Reize, die zusammen mit Gerüchen gesetzt werden, efektiver sind als der bedingte Reiz ohne Geruchsstof, d. h. durch den zusätzlichen olfaktorischen Reiz wird die physiologische Bedeutung des bedingten Reizes erhöht und damit auch seine Efektivität bei der Auslösung der bedingten Reaktion. Präparate, bei denen die sensorischen Efekte zur Geltung kommen (Kräuterkissen, Teeaufguss, Riechläschchen), können als Adjuvanzien bei allen funktionellen Erkrankungen sowie als Hilfsmittel in der psychosomatischen herapie angewendet werden. Über die der Geruchswahrnehmung zugrundeliegenden molekularen Mechanismen sind heute recht detaillierte Kenntnisse vorhanden, insbesondere über die Transduktion olfaktorischer Reize (vgl. Übersicht von Buchbauer u. Selos 1997). Teuscher et al. (1990) fassen ihre Untersuchungen zum Wirkungsmechanismus ätherischer Öle wie folgt zusammen: Primäre Angrifspunkte ätherischer Öle sind die Membransysteme der menschlichen Zellen. In niedrigen Konzentrationen beeinlussen sie speziisch die Aktivitäten bestimmter Enzyme, Carrier, Ionenkanäle oder Rezeptoren bestimmter Zellen. In höheren Konzentrationen unterdrücken sie durch Abdichtung der Membran, bei weiterer Konzentrationserhöhung durch Beeinträchtigung von deren Barrierefunktion die Reizbarkeit von Zellen. Dadurch kommen ihre Allgemeinwirkungen zustande. Zur Veriizierung dieser Hypothese bedarf es weiterer Untersuchungen, besonders des Einlusses ausgewählter Komponenten ätherischer Öle auf die Aktivität von Membranproteinen, insbesondere von Enzymen (Proteinkinasen, Carrier) und Rezeptoren.
25
Im Unterschied zu anderen Gebieten der Phytopharmazie gibt es bei den ätherischen Ölen relativ wenig neue Arbeiten bezüglich Wirkungen/Wirkungsmechanismen, bei denen heute übliche biologische Testsysteme (Zellen, Enzyme, Rezeptoren etc.) eingesetzt worden sind. Ausnahmen sind eine Reihe von Reinstofen wie z. B. Curcumin (S. 1074) und Monoterpene wie Menthol (S. 1077 und 1130), Menthon, Borneol, Campher, D- und E-hujon sowie Carvon. Unerwünschte Wirkungen. Auch die unerwünschten, insbesondere die toxischen Wirkungen ätherischer Öle stehen in Zusammenhang mit ihrer Lipophilie und ihrer lokalen Reizwirkung. Nach Einnahme toxischer Dosen kommt es zu Reizerscheinungen von Seiten des MagenDarm-Trakts mit Übelkeit, Erbrechen und Durchfall. Mit der Gastroenteritis ist auch eine Hyperämie der Gebärmutter verbunden, worauf die missbräuchliche Verwendung bestimmter Ätherischöldrogen als Abortiva zurückzuführen ist; jedoch sind auch Stofwechsel- und Gefäßschädigungen Mitursache, wenn es zu einer Fehlgeburt kommt. Nach Resorption kann es zu Nierenreizung mit Harnverhaltung, Albuminurie und Hämaturie kommen. Zufuhr toxischer Dosen kann mit einer Schädigung der Leber verbunden sein. Als lipophile Stofe gelangen ätherische Öle ins Zentralnervensystem: Vergitungen geben sich durch Kopfschmerzen und Schwindel zu erkennen; es kann zu Erregung, Krämpfen und schließlich Atemlähmung kommen. Ätherische Öle und Ätherischöldrogen einschließlich der Kosmetika und der Gewürze spielen als Auslöser von Allergien eine Rolle (vgl. Hausen u. Vieluf 1998). Externa können zu Kontaktdermatitiden führen. Innerliche Anwendung kann zu Nahrungsmittelallergien führen. Anwendungsgebiete. Die Ätherischöldrogen bzw. die
ätherischen Öle sind in den Kap. 25.3–25.8 nach Anwendungsgebieten zusammengefasst. Diese Darstellung ist für den Praktiker von Vorteil, hat allerdings den Nachteil, dass Wiederholungen und Hinweise nicht zu vermeiden sind. Die aufgeführten Anwendungsgebiete sind: x Gewürze (Kap. 25.3); x Stomachika, Cholagoga, Carminativa (Kap. 25.4); x Expektoranzien (Kap. 25.5); x Mundplege- und Gurgelmittel (Kap. 25.6); x Rhinologika (Kap. 25.7); x Zusatz zu Externa (Kap. 25.8).
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25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Für weitere Anwendungsgebiete der Ätherischöldrogen und der ätherischen Öle sei auf die einzelnen Kapitel sowie auf die Literatur verwiesen (vgl. Übersichten von Schilcher 1984 u. 1986; Hänsel 1993). Auf die sog. „Aromatherapie“, d. h. die Anwendung von Dutstofen zur Heilung, Linde-
! Kernaussagen
Ätherische Öle sind Stoffgemische, die in erster Linie aus Mono- und Sesquiterpenen sowie Phenylpropanoiden zusammengesetzt sind. Es handelt sich um flüchtige, stark riechende Produkte von ölartiger Konsistenz, die in Wasser schwer löslich sind und von Pflanzen stammen. Sie sind im pflanzlichen Gewebe in Exkretbehältern abgelagert. Da ätherische Öle häufig verfälscht oder gestreckt werden, benötigt man neben der Bestimmung
rung oder Verhütung von Krankheiten, Infektionen oder Unwohlsein lediglich durch Inhalation dieser Substanzen, wird nicht speziell eingegangen (vgl. dazu Kap. 17 sowie z. B. die Übersichten von Buchbauer 1996; Lis-Balchin 1997 und darin zitierte Literaturen).
der traditionellen physikalisch-chemischen Kennzahlen moderne analytische Methoden wie z. B. enantioselektive GC, IRMS oder SNIF-NMR. Kenntnisse zur Pharmakokinetik und zu Wirkungsmechanismen von ätherischen Ölen liegen nur teilweise vor. Die wichtigsten Anwendungsgebiete sind die Verwendung als Gewürz sowie der medizinisch-pharmazeutische Einsatz als Stomachika, Cholagoga, Carminativa, Expektoranzien sowie als Mund- und Gurgelmittel, Rhinologika und als Zusatz zu Externa.
Schlüsselbegriffe Analytik Aromastoffe Aromatische Wässer Ätherisches Öl Authentizitätsnachweis Autoxidation Chromatographisches Profil Deuterium-Kernresonanz-Spektroskopie (SNIF-NMR)
Exkretbehälter Extraktionsöle Flüchtigkeit Geruchskorrigenzien Geschmackskorrigenzien Isoprenregel Isotopenverhältnismassenspektrometrie (IRMS) Lipoidlöslichkeit
25.3
Gewürze
25.3.1
Gewürze, Gewürzmischungen, Gewürzzubereitungen, gesundheitliche Aspekte des Würzens
Gewürze sind naturbelassene Teile (Wurzeln, Wurzelstöcke, Zwiebeln, Rinden, Blätter, Kräuter, Blüten, Früchte, Samen oder Teile davon) einer Planzenart – auch getrocknet und/oder mechanisch bearbeitet –, die wegen ihres aromatischen Geschmacks oder Geruchs als würzende und geschmacksverbessernde Zutaten zur menschlichen Nahrung geeignet und bestimmt sind (zitiert nach Glatzel 1968). Zu den Gewürzen, die bevorzugt in frischem Zustande verwendet werden, gehören neben dem Knoblauch und der Küchenzwiebel die sog. Gewürzkräuter. Beispiele für Gewürzkräuter sind in > Tabelle 25.4 aufgelistet.
Monoterpene Parfüm Phenylpropane Sesquiterpene Sinnesprüfung Streckung Verfälschung Wasserdampfdestillation
Gewürzpulver sind getrocknete Gewürze, die grob oder fein gemahlen in den Handel gelangen. Ihre Haltbarkeit ist begrenzt: Sie verlieren schnell an Aroma; sie absorbieren leicht fremde Aromastofe; die Keimzahlen liegen häuig sehr hoch. Man geht daher immer häuiger dazu über – v. a. bei der industriellen Verarbeitung von Lebensmitteln – anstelle von Gewürzpulvern Gewürzextrakte einzusetzen. Gewürzmischungen und Gewürzzubereitungen werden neben den „Monogewürzen“ angeboten. Gewürzmischungen sind für spezielle Lebensmittel zusammengesetzte Mischungen aus Gewürzen (z. B. Leberwurstgewürz, Lebkuchengewürz, Gulaschgewürz). Setzt man Gewürzmischungen weitere Stofe hinzu, z. B. Kochsalz, Stärkemehl oder Drogen, die keine Gewürze im eigentlichen Sinne sind (Bockshornkleesamen), dann spricht man von Gewürzzubereitungen. Neben dem Speisesenf sind die verschiedenen Currypulver sehr häuig verwendete Ge-
25.3 Gewürze
. Tabelle 25.4 Beispiele für Gewürzkräuter Deutsche Bezeichnung Basilikum
Stammpflanze Ocimum basilicum L.
Bibernelle
Pimpinella saxifraga L.
Bohnenkraut
Satureja hortensis L.
Borretsch
Borago officinalis L.
Dill
Anethum graveolens L.
Estragon
Artemisia dracunculus L.
Kerbel
Anthriscus cerefolium (L). HOFFM.
Liebstöckel
Levisticum officinale W.D.J. KOCH
Pfefferminze
Mentha × piperita L.
Blatt- oder Gartenpetersilie
Petroselinum crispum (MILL.) (NYM. ssp. crispum)
Schnittlauch
Allium schoenoprasum L.
Sauerampfer
Rumex acetosa L.
Zitronenmelisse
Melissa officinalis L.
würzzubereitungen. Hauptkomponente eines Currypulvers ist Curcuma-domestica-Rhizom, daneben Chillies, Paprika, Pfefer, Ingwer, Koriander, Piment, Zimt, Stärke, Kochsalz (bis 5%) und Leguminosenmehle (Fabales, bisher Leguminosae), häuig in Form von pulverisiertem Trigonella-foenum-graecum-Samen. Das Currypulver eigens zu nennen, ist aus 2 Gründen angebracht: x In der phytotherapeutischen Literatur wird Currypulver fast immer mit dem Curcuma-domestica-Rhizom gleichgesetzt, was zu falschen Folgerungen bezüglich Wirksamkeit und Unbedenklichkeit führt. x Der Kochsalzgehalt der Currypulver ist zu berücksichtigen, wenn es um die Aufstellung eines kochsalzarmen Diätplanes geht. Gewürze haben im Allgemeinen einen nur geringen Nährwert; hingegen tragen sie zur Versorgung des Organismus mit Mineralstofen und Vitaminen bei. Das Würzen der Speisen erfüllt ganz bestimmte Funktionen: Schmackhafte, wohlriechende und schön angerichtete Speisen induzieren relektorisch die Sekretion mehr oder weniger aller Verdauungssäte (Speichel, Magensat, Pankreassat, Gallenlüssigkeit). Bedingte und unbedingte Relexe wirken in dieser psychischen Vorphase der Verdauung zusammen
25
(Bykow 1953): beim Reiz von der Mundhöhle aus verläut der Relexbogen durch das verlängerte Mark, beim Reiz vom Auge aus durch die Großhirnrinde. Bei reizloser Kost kommen die sekretorischen Funktionen nur langsam in Gang, die Nahrungsmittel bleiben länger als notwendig im Verdauungskanal und geraten u. U. in Gärung (Eichholtz 1957). Aus Notzeiten ist bekannt, dass der Widerwille gegen ein monotones „geschmackloses“ Essen stärker werden kann als der Hunger und dass dann selbst dem Verhungern nahe Personen die weitere Nahrungsaufnahme verweigern können (Glatzel 1982). Neben ihrer ernährungsphysiologischen Bedeutung beanspruchen Gewürze medizinisches oder pharmazeutisches Interesse in folgender Hinsicht: x Bei der Zusammenstellung einer kochsalzarmen Diät z. B. für Hochdruckkranke: Gewürzkräuter in frischem oder getrocknetem Zustand können helfen, die reizlose Kost schmackhater zu machen. x Bei der Zusammenstellung einer kalorienarmen Kost sind Gewürze nützlich, die Monotonie der Kost zu mildern. x Bei bestimmten Diäten werden Gewürze, besonders Pfefer, Paprika und Senf gemieden, obwohl ein schädigender Einluss nie bewiesen wurde. Sicher ist jedoch, dass bestimmte Gewürze – insbesondere Knoblauch, Paprika, Meerrettich und scharfer Senf – die Salzsäureproduktion im Magen signiikant steigern (Kasper 1996). x Zahlreiche Gewürze haben antioxidative Eigenschaften und tragen daher zur Haltbarkeit von Nahrungsmitteln und Pharmazeutika (Salben auf Fettbasis) bei. Ausgeprägt antioxidativ wirksam sind Salbei und Rosmarin; daneben Majoran, Curcuma, Muskatnuss, hymian und Oregano. x Gewürze dienen als Hausmittel: z. B. gegen übelriechenden Atem (Kauen von Kardamomen, Gewürznelken, Zimt), gegen Aufstoßen (Galgant, Zitwerwurzel). Man kann hierher auch die Stomachika, Carminativa und Cholagoga rechnen; sie sind an anderer Stelle ausführlich behandelt. x Gewürze sind die möglichen Ursachen bei einer Nahrungsmittelsensibilisierung.
25.3.2
Galgant
Herkunft. Galgant (Galangae rhizoma Helv 10, DAC 2004)
besteht aus den getrockneten Rhizomen von Alpinia oi-
1045
1046
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
cinarum Hance (Familie: Zingiberaceae [IIA10a]). Die Stammplanze ist in Südchina beheimatet und wird heute in hailand, Vietnam, auf Sri Lanka und in Indien angebaut. Das lange Rhizom wird gegraben und in 5–10 cm lange Stücke geschnitten; beim Trocknen verfärben sie sich intensiv braun (Phlobaphenbildung). Sensorische Eigenschaften. Geruch: aromatisch. Geschmack: würzig, schwach brennend, etwas bitter.
. Abb. 25.12
O 7
1 3 2
5
R2 R1 = H, R2 = OH R1 = R2 = H R1 = OCH3, R2 = OH O
OH
Inhaltsstoffe
x Ätherisches Öl (0,3–1,5%; Helv, DAC = mind. 5 ml u
x x x
x
kg–1), hauptsächlich aus Mono- und Sesquiterpenen sowie Phenylpropanen bestehend. Im getrockneten Rhizom sind die Hauptbestandteile E-Caryophyllen, 1,8-Cineol, Chavicol und Chavicolacetat, im frischen Rhizom 1,8-Cineol; nichtwasserdamplüchtige, lipophile Stofe, besonders Diarylheptanoide ( > Abb. 25.12); Monoterpenglykoside, u. a. Cineol-, Chavicol- und Demethyleugenolderivate (Ly et al. 2002); Flavonoide (Galangin, Galangin-3-methyläther, Galangin-3,5-dimethyläther, Quercetin-3-methyläther, Kämpferol-7-methyläther, Kämpferid) u. a.; ferner Fett, Zucker, Stärke (20–30%), Gerbstofrot.
R1
R
R2 R1 = R2 = H R1 = OCH3, R2 = OH OH 3
OH 5
R
R
HO O H3CO
OH R
HO
Analytische Kennzeichnung. DC-Nachweis von Cineol
(Helv) und weiteren, nicht identiizierten Verbindungen [Fließmittel: Toluol–Methanol (95:5); Referenzsubstanz: Cineol; Nachweis: UV 254 und 365 nm, Molybdatophosphorsäurereagens). Cineol erscheint nach Besprühen mit dem Molybdatophosphorsäurereagens im Tageslicht als blaue Zone. Wirkung und Anwendung. Spasmolytisch, antiphlogis-
tisch (Diarylheptanoide) und antibakteriell (ätherisches Öl). Wässrige und methanolische Extrakte hemmen ähnlich wie H2-Antagonisten (z. B. Cimetidin) die Säuresekretion im Magen (Sakai et al. 1989). Pharmazeutisch zur Behandlung von dyspeptischen Beschwerden, bei Appetitlosigkeit (Kommission E). Als Gewürz für Spirituosen vom Typus der Magenbitter und für alkoholfreie oder alkoholarme Bittergetränke. Anmerkung. In Ostasien werden insbesondere als Gewürz
auch Rhizome anderer Alpinia-Arten, so z. B. von Alpinia galanga Willd., verwendet. Inhaltsstofe und nachgewie-
R1
6
4
OCH3
OH
Beispiele von Diarylheptanoiden aus dem Wurzelstock von Galgant (Itokawa et al. 1985; Uehara et al. 1987). Diarylheptanoide mit ungeklärter Stereochemie an C-5 sind in der Abb. nicht berücksichtigt. Einige Vertreter, und zwar die mit dem Substitutionsmuster des Vanillins (4-Hydroxy3-methoxyphenyl) weisen einen scharfen Geschmack auf. Alle Diarylheptanoide hemmen die Prostaglandinbiosynthese (Kiuchi et al. 1992)
sene Wirkungen weichen von denjenigen, die für A. oicinarum beschrieben sind, teilweise ab.
25.3.3
Ingwerwurzelstock
Herkunft. Ingwerwurzelstock (Zingiberis rhizoma PhEur
5) besteht aus den getrockneten Wurzelstöcken von Zingiber oicinale Roscoe (Familie: Zingiberaceae [IIA10a]), die entweder vollständig oder nur an beiden Flachseiten vom Kork befreit sind. Hierbei handelt es sich um eine
25
25.3 Gewürze
in vielen tropischen Gebieten der Erde – insbesondere auf Jamaika, in Südchina, Indien und Westafrika – kultivierte Staude. Der pharmazeutisch verwendete Ingwer kam traditionell aus Jamaika. Heute ist Jamaika-Ingwer schwer erhältlich; die aus China importierte Ware soll jedoch qualitativ ebenbürtig sein. Bei der Droge handelt es sich um bis zu 10 cm lange, ingerförmig verzweigte, von der Seite zusammengedrückte Stücke mit faserigem Bruch. Außen schmutzig-grau bis hellbraun (ungeschälter Ingwer) oder außen weiß bis hellgelb (vom Korkgewebe befreiter, geschälter Ingwer).
. Abb. 25.13 H
aromatisch-würzig, wobei die Geruchsnote je nach Sorte unterschiedlich ist; der Jamaika-Ingwer und der aus China stammende Ingwer zeichnen sich durch eine blumigzitronenartige Geruchsnote aus. Ingwer schmeckt brennend-scharf. Inhaltsstoffe
x Ätherisches Öl (bis 3%; PhEur = mindestens 15 ml u kg–1) mit mehr als 150 Komponenten, besonders (–)-D-Zingiberen (30%), (–)-E-Bisabolen (10–15%), (–)-E-Sesquiphellandren (15–20%) und (+)-ar-Curcumen als Hauptbestandteilen ( > Abb. 25.13); x nichtwasserdamplüchtige, lipophile Arylalkane (bis 2,5%), darunter Scharfstofe, insbesondere 5-Hydroxy-1-(4-hydroxy-3-methoxyphenyl)-3-decanon und Homologe (= Gingerole); daneben die den Gingerolen entsprechenden Anhydroverbindungen (= Shogaole), Vanillylaceton (= Zingeron) ( > Abb. 25.14), Gingerdiole, Gingerdiolglucoside und Diarylheptanoide (Formeln vgl. > Abb. 25.12; Galgant) sowie zyclische Diarylheptanoide. Nach neuen Untersuchungen kommen die Gingerole und Shogaole auch in einer sulfatierten Form vor (Hori et al. 2003); x organische Säuren, Diterpenlactone, Fette, Zucker (~50%) und Schleimstofe. Analytische Kennzeichnung. DC-Nachweis (PhEur) der
Gingerole und Shogaole [Fließmittel: Heptan–Ether (40:60); Referenzsubstanzen: Citral, Resorcin; Nachweis: Vanillin/ Schwefelsäurereagens]. Nach dem Besprühen mit dem Vanillin/Schwefelsäurereagens färben sich die Gingerole im Tageslicht intensiv violett, die Shogaole schwächer violett (vgl. dazu auch Übersicht von Germer u. Franz 1997).
CH3
CH3
H3C
(−)-α-Zingiberen C15H24
H
CH2
CH3
H3C
R
Sensorische Eigenschaften. Der Geruch der Droge ist
CH3
OH
H
CH3
Zingiberol C15H26
CH3
H H2C H3C
CH3
R = H: (−)-β-Sesquiphellandren C15H24 R = OH: trans-β-Sesquiphellandrol C15H24O CH3
H
CH2
S
H3C
H3C H3C
CH3
(+)-ar-Curcumen C15H22
H3C
CH3
(−)-β-Bisabolen C15H24
Die Zusammensetzung des ätherischen Öls des Ingwerrhizoms ist je nach Herkunft starken Schwankungen unterworfen. Hauptbestandteile und prägende Aromastoffe sind monozyklische Sesquiterpenkohlenwasserstoffe des Bisabolantyps, v. a. (–)-α-Zingiberen neben (–)-β-Sesquiphellandren, (–)-β-Bisabolen, (+)-ar-Curcumen und das azyklische α-Farnesen. Der Gehalt an (+)-ar-Curcumen nimmt im Verlauf der Lagerung des ätherischen Öls zu, während der Gehalt an (–)-α-Zingiberen abnimmt, sodass aus dem Mengenverhältnis dieser Verbindungen Rückschlüsse auf das Alter des ätherischen Öls gezogen werden können. Das Öl enthält weiter oxidierte Sesquiterpene (z. B. trans-β-Sesquiphellandrol und Zingiberol), die zu den Geruchsträgern zählen. Der zitronenähnliche Geruch des Jamaika-Ingwers beruht auf dem Vorkommen von Monoterpenen, wie Geranial und Neral. Das ätherische Öl macht ca. 20–25% des Oleoresins aus (vgl. Übersichten von Germer u. Franz 1997; Schuhbaum u. Franz 2000)
1047
1048
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
. Abb. 25.14
O
H
HO
H3CO
S
(CH2)nCH3
HO allgemeine Struktur der Gingerole (n = 1,2,3,4,6,8,10); n = 4:[6]-Gingerol
O
H
HO
H3CO
CH3
HO [6]-Gingerol Dehydratisierung
Retroaldolreaktion
O H3CO
O CH3
HO
H3CO
HO [6]-Shogaol
Zingeron O
CH3
+
H
CH3 Hexanal
Verwendung. In Form der gemahlenen Droge, zur Her-
stellung von Ingweröl (Wasserdampfdestillation), IngwerOleoresin (Extraktion mit Ethanol oder Aceton) sowie Ingwerextrakten. Wirkungen und Wirkungsmechanismen. Das Spektrum
der pharmakologischen Wirkungen von Ingwer und daraus isolierten Inhaltsstofen ist sehr vielfältig. Davon können die antiemetische, die gastrointestinale (gastrokinetische) und die entzündungshemmende Wirkung von Ingwer als belegt angesehen werden und dürten auch aus der Sicht der Praxis im Vordergrund stehen (vgl. dazu
Übersichten von Langner et al. 1997; Falch et al. 1997; Schuhbaum u. Franz 2000). x Antiemetische Wirkung: Insbesondere [6]-, [8]- und [10]-Gingerole und Shogaole ergaben einen signiikanten Schutz vor Erbrechen. Es wurde postuliert, dass die Alkylgruppen dieser Substanzen für den antiemetischen Efekt verantwortlich sein könnten. Der antiemetische Efekt wurde mit einer D2-Rezeptorblockade in Verbindung gebracht. Neuerdings wird vermutet, dass die antiemetische Wirksamkeit des Ingwers auch auf einer antagonistischen Wirkung an 5-HT3-Rezeptoren beruht. Für einen Ingwer-Ace-
25.3 Gewürze
25
9 Die Hauptkomponente der Scharfstofffraktion des Ingwer-Rhizoms (ca. 25% des Oleoresins) ist die homologe Reihe der Gingerole [(S)-Konfiguration am chiralen Kohlenstoffatom der Seitenkette]. Innerhalb der Gingerole stellt [6]-Gingerol (zur Nomenklatur: [6] etc. ist von der Biosynthese abgeleitet = Verlust von 2×CO2) das scharfe Prinzip dar, während die längerkettigen Gingerole praktisch keine Scharfwirkung erzeugen. Insgesamt ist die Schärfe aber im Vergleich zu Capsaicin moderat. Während der Lagerung von Ingwer bzw. des Oleoresins kommt es temperaturabhängig durch Dehydratisierung der Gingerole leicht zur Bildung von Shogaolen, die ihrerseits in Analogie zu den Gingerolen eine homologe Reihe darstellen. Die Schärfe der Shogaole übertrifft deutlich die der Gingerole. Hauptverbindung ist ebenfalls das entsprechende [6]-Shogaol. Die trans-Verknüpfung überwiegt. In frischem Ingwer oder frisch hergestellten Oleoresinen sind Shogaole nur in geringen Konzentrationen zu finden. Aufgrund der Labilität der Gingerole bietet das Verhältnis der Konzentrationen der Gingerole zu denen der Shogaole einen nützlichen Index zur Beurteilung der Frische von Ingwer und erlaubt eine Aussage über die Trocknung, die Aufarbeitung und das Alter der Droge. Eine erhöhte Konzentration an Shogaolen ist aber nicht kategorisch als qualitätsmindernd anzusehen, denn Shogaole besitzen ebenfalls verschiedene pharmakologische Wirkungen (u. a. Schärfe, > oben). Strukturanaloge Verbindungen der Shogaole mit fehlender aliphatischer Doppelbindung werden als Paradole bezeichnet. Unter ungünstigen Bedingungen kann es zu einer Zersetzung der Gingerole im Sinne einer Retroaldolreaktion zu Zingeron und den korrespondierenden Alkanalen kommen. Zingeron selbst ist nicht mehr scharf. Insgesamt deutet das Vorhandensein größerer Mengen von Zingeron auf eine minderwertige Ware hin. Zingeron stellt das gemeinsame Strukturmerkmal der Gingerole, Shogaole, Paradole und vieler Diarylheptanoide (vgl. > Abb. 25.12) dar (vgl. Übersichten von Germer u. Franz 1997; Schuhbaum u. Franz 2000)
tonextrakt und daraus isolierten Substanzen (z. B. [6]-, [8]- und [10]-Gingerole) konnte eine antiserotoninerge Aktivität am isolierten Meerschweinchenileum beobachtet werden (vgl. zitierte Übersichten). Eine 5-HT3-Rezeptor-Blockade konnte durch Gingerole sowie durch Shogaole in einem In-vitro-Assay (Modell: N1 E-115 Neuroblastomzellen der Maus) nachgewiesen werden. Nach den Autoren dieser Arbeit (Abdel-Aziz et al. 2005) ist daher eine Stabilisierung von Ingwerpräparaten zur Verhinderung einer Umwandlung der Gingerole in Shogaole nicht notwendig. Auch bei Prokinetika (= Peristaltikanreger), wie z. B. Metoclopramid, spielt der antiserotoninerge Wirkungsmechanismus – neben der Dopaminrezeptorenblockade – eine entscheidende Rolle. x Gastrointestinale Wirkung: Die Scharfstofe des Ingwers erregen die Wärmerezeptoren in der Mundschleimhaut. Daher wird angenommen, dass die Speichel- und Magensatsekretion durch Ingwer relektorisch gesteigert wird. Hemmung der Magenmotilität, Beschleunigung der gastrointestinalen Transitzeit sowie antiulzeröse Wirkungen durch Ingwer und einzelne Inhaltsstofe sind beschrieben worden. Außer einer möglichen Synthesehemmung von PGF2D sind in diesem Zusammenhang keine Wirkmechanismen beschrieben. x Entzündungshemmende Wirkung: In-vitro-Untersuchungen ergaben, dass Ingwerextrakte und einzelne
Inhaltsstofe die Prostaglandinsynthese, die hrombozytenaggregation sowie die hromboxansynthetase hemmen, Produkte der Lipoxygenase reduzieren und den Prostacyclinspiegel anheben. Es wurde deshalb postuliert, dass Ingwer die Cyclooxygenasen und die Lipoxygenase inhibiert. Ebenfalls hier scheint die hydrophobe Alkylgruppe der Gingerole und Shogaole eine wichtige Rolle zu spielen, indem sie die Bindung des Inhibitors an das Enzym unterstützt. Die entzündungshemmende Wirkung konnte auch in In-vivoModellen (u. a. am Carrageenan-induzierten Rattenpfotenödem) nachgewiesen werden. Anmerkung. Ingwer hat sich in den letzten Jahren als potentieller Lieferant für antitumorale Wirkstofe erwiesen (vgl. dazu Übersicht von Schuhbaum u. Franz 2000 und darin zitierte Literatur; Kim et al. 2005). Als wirksamste Verbindungen erwiesen sich [6]-Gingerol und [6]-Paradol. Zum Problemkreis „Tumorhemmendes Potential von Planzenstofen“ vgl. Infobox S. 979. Die meisten der beschriebenen Ingwerwirkungen werden auf die Scharfstofe zurückgeführt. Auf biochemischer Ebene werden für diese folgende Mechanismen postuliert: x Unterbrechung der Prostaglandin- und Leukotrienbiosynthese durch Hemmung der Cyclooxygenasen (COX-1 und COX-2) und der 5-Lipoxygenase;
1049
1050
25 x x x x
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Unterbrechung der hromboxanbiosynthese; Förderung der Prostacyclinbiosynthese; antiserotonerge Aktivität; Verhinderung der LDL- und Linolensäureoxidation.
Hinweise zur Bioverfügbarkeit und Pharmakokinetik, Metabolismus. Tierexperimentell wurde [6]-Gingerol
untersucht. Die Daten, die nach einer Bolusinjektion (i.v.) von 3 mg [6]-Gingerol/kg KG an Ratten gewonnen wurden, konnten am besten mit einem ofenen Zwei-Kompartiment-Modell beschrieben werden. [6]-Gingerol wurde sehr schnell aus dem Plasma mit einer terminalen Halbwertszeit von 7,23 min entfernt. Die totale Körperclearance betrug 16,8 ml/min/kg KG und die Serumproteinbindung lag bei 92,4% (vgl. Übersicht von Falch et al. 1997). Die Untersuchung des Metabolismus von [6]-Gingerol nach p.o.-Verabreichung an Ratten ergab, dass der Hauptmetabolit in der Galle das [6]-Gingerolglucuronid (48%) darstellt. Der mit E-Glucosidase behandelte Harn enthielt phenolische Säuren wie Vanillin- und Ferulasäure u. a., aber auch Gingerolderivate wie 9-Hydroxy-[6]-gingerol (total 16% der verabreichten Dosis). Die Metaboliten von [6]-Gingerol entstehen in erster Linie durch Konjugation und E-Oxidation der phenolischen Seitenkette (Nakazawa u. Ohsawa 2002). Anwendungsgebiete. Die Hauptanwendungsgebiete von
Ingwerpräparaten liegen in der westlichen Medizin v. a. auf dem Gebiet dyspeptischer Beschwerden, z. B. als Stomachikum, Tonikum und Digestivum, als Antiemetikum zur Prophylaxe von Übelkeit und Erbrechen der Reisekrankheit sowie zur Linderung von postoperativer und arzneimittelbedingter Übelkeit. Die Kommission E nennt als Anwendung die Behandlung von dyspeptischen Beschwerden und die Verhütung der Symptome der Reisekrankheit, ESCOP die Prophylaxe von Übelkeit und Erbrechen sowie als postoperatives Antiemetikum nach kleineren chirurgischen Eingrifen. Es liegen über 15 klinische Studien zur Wirkung von Ingwer bei Übelkeit verschiedener Ursachen [Reise- und Bewegungskrankheit (Kinetose), Übelkeit und Erbrechen in der Schwangerschat sowie Übelkeit und Erbrechen in der postoperativen Phase (PONV)] vor. Ingwerrhizom erwies sich dabei besser als Plazebo und in vielen Fällen als ebenso efektiv wie verschiedene Antiemetika (z. B. Dimenhydrinat, Meclozin, Metoclopramid). Neue systematische Bewertungen der Literatur ergaben allerdings, dass für die Prophylaxe und herapie von PONV und Kinetose
keine überzeugenden Fakten vorliegen während der Einsatz von Ingwer gegen Übelkeit und Erbrechen in der Schwangerschat Erfolg versprechend scheint (Betz et al. 2005; Chrubasik et al. 2005 und darin zitierte Literatur). Fein gemahlen wird Ingwer als Gewürz für Süßwaren (Lebkuchen, Printen, Biskuits), Suppen und Fleischgerichte verwendet sowie als Bestandteil von Gewürzmischungen, insbesondere des Currypulvers. Ingwerextrakt verwendet man zur Herstellung von Likören und des in den angelsächsischen Ländern beliebten Ginger Ale, eines alkoholfreien Getränkes.
25.3.4
Koriander
Herkunft. Koriander (Coriandri fructus PhEur 5) besteht aus den getrockneten Früchten von Coriandrum sativum L. (Familie: Apiaceae [IIB25a]). Die Planze ist ein meist einjähriges Kraut aus dem Mittelmeergebiet, das heute weltweit als Gewürzplanze angebaut wird. Bei der Droge (Doppelachänen) handelt es sich um kugelige Früchte, die etwa 1,5–3 mm Durchmesser haben. Sensorische Eigenschaften. Reife getrocknete Früchte
riechen aromatisch-gewürzhat mit einer blumigen Beinote. Der Geschmack ist süßlich und etwas brennend. Die unreifen Früchte weisen, wie die ganze Planze, einen unangenehmen wanzenähnlichen Geruch auf; er soll durch das Vorkommen von Tridecen-2-al hervorgerufen sein. Inhaltsstoffe
x Ätherisches Öl (bis 1%; PhEur = mindestens 3 ml u kg–1) mit hauptsächlich Monoterpenalkoholen neben Monoterpenkohlenwasserstofen und kleinen Mengen aliphatischer Aldehyde. 60–70% des ätherischen Öls besteht aus Linalool ( > Abb. 25.15); x Phenolcarbonsäuren (Chlorogen-, Kafee-, Vanillinund Ferulasäure), Flavonoide (Quercetin- und Kämpferolglykoside), 2-C-Methyl-d-erythritol- und Monoterpenglykoside, wenig Cumarine (Scopoletin, Umbelliferon), Phthalide (Neocnidilid), Triterpenalkohole (Coriandrinondiol); x Zucker (Glucose, Fructose, Saccharose), Proteine (11–17%), fettes Öl (20–21%). Analytische Kennzeichnung. DC-Nachweis (PhEur) von
Monoterpenen und Triglyceriden [Fließmittel: Ethylacetat–Toluol (5:95); Referenzsubstanzen: Linalool, Olivenöl;
25
25.3 Gewürze
. Abb. 25.15 H3C
H3C
OH
CH3
CH3
OH
CH3 CH2OH
3
CH2
H3C
CH2
CH3
H3C
(+)-(3S)-Linalool
CH3
(−)-(3R)-Linalool
H3C
CH3
γ-Terpinen
O H3C
(CH2) n
H3C
(CH2)n
CH
t
CH2
H3C
CH3
Geraniol
Limonen O CH
H n = 7: Nonanal n = 8: Decanal
H3C
H n = 6: trans-Decen-2-al n = 8: trans-Dodecen-2-al n = 9: trans-Tridecen-2-al
Einige charakteristische Bestandteile des Korianderöls. Der Hauptbestandteil und das Aroma in erster Linie bestimmend ist der Monoterpenalkohol Linalool. Linalool liegt im genuinen Öl zur Hauptsache in der (+)-(3S)-Form, Limonen als Racemat vor. In kommerziell erhältlichen Korianderölen sind die Enantiomerenverhältnisse dieser 2 Ölbestandteile oft anders, was auf Verfälschung hinweist und mit GC-IRMS nachgewiesen werden kann (Frank et al. 1995). (+)-(3S)-Linalool weist, rein dargestellt, einen an Maiglöckchen erinnernden Geruch auf. Die Geruchsnote der enantiomeren (–)-(3R)-Form weicht im Aroma deutlich ab (Ohloff u. Klein 1962). Der Carbonylgehalt des Korianderöls, zurückzuführen auf das Vorkommen von Campher (Formel > Abb. 25.54), ist für das Aroma abträglich und sollte 6% nicht übersteigen. Einige ungesättigte und gesättigte Aldehyde kommen zwar nur in geringen Mengen vor, sind aber für das typische Korianderaroma wesentlich
Nachweis: Anisaldehydreagens]. Nach dem Besprühen mit Anisaldehydreagens sind die Monoterpene und Triglyceride im Tageslicht als violette bis grauviolette (Linalool), bläulichviolette (Triglyceride), violettgraue bis bräunliche Zonen (u. a. Geraniol) sichtbar. Weitere schwach violettgraue Zonen können vorkommen. Verwendung. Als Droge, zur Herstellung von Extrakten
und von Korianderöl (Coriandri aetheroleum PhEur 5). Wirkungen. Das ätherische Öl wirkt antimikrobiell und
schwach spasmolytisch. Anwendung. In der Pharmazie zur Behandlung dyspep-
tischer Beschwerden und bei Appetitlosigkeit (Kommission E). Koriander ist als Geruchs- und Geschmackskorrigens auch für Teemischungen geeignet. Korianderfrüchte sind ein viel verwendetes Gewürz: als Brotgewürz, als Bestandteil von Lebkuchengewürzen, von Fischgewürzen und Wurstgewürzmischungen; zum Aromatisieren von
Likören und medizinischen Spirituosen, wie des bekannten Karmelitergeistes. Unerwünschte Wirkungen. Koriander gehört zu den
Gewürzen, die Allergien auslösen können. Verantwortlich dafür sind Monoterpene (Linalool, Limonen); das Sensibilisierungspotential ist jedoch sehr gering. Photoaktive Furano- und Furanoisocumarine kommen nur im frischen Kraut vor (Ceska et al. 1988), das als Gewürz (Cilantro) Verwendung indet. Das ätherische Öl von Cilantro enthält vorwiegend C10–C16-Aldehyde, hauptsächlich (E)-2-Decenal (Potter 1996).
25.3.5
Majoran
Herkunft. Majoran (Majoranae herba) besteht aus den zur
Blütezeit gesammelten und von den Stängeln abgestreiten Blättern und Blüten von Majorana hortensis Moench (Familie: Lamiaceae [IIB23d]). M. hortensis ist in seiner
1051
1052
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
9 Beim Majoranöl muss zwischen dem genuinen ätherischen
. Abb. 25.16 10
HO
CH3
3
2
4
5
1
6
H3C
R 8
R
R 9
7
H3C
CH2
OH
CH3
H3C
CH3
CH3
(+)-Sabinen (C10H16)
Thujanol-4 (C10H18O) (+)-cis-Sabinenhydrat
H3C
(+)-trans-Sabinenhydrat
7
CH3
CH3
1 2
6
5
4
R 9
H3C
3
S
OH 8
10
CH3
(−)-Terpinen-4-ol
H3C
OH CH3
(+)-Terpinen-4-ol
von Persien bis hin zum Mittelmeergebiet reichenden Heimat ein ausdauernder Halbstrauch (20–80 cm hoch). Die Planze wird heute weltweit als meist einjähriges Kraut (15–35 cm hoch) als Gewürzplanze angebaut. Sensorische Eigenschaften. Majoran hat einen aromati-
schen Geruch und einen charakteristisch würzigen, leicht brennenden Geschmack.
Öl und dem durch Extraktion oder Wasserdampfdestillation gewonnenen Öl unterschieden werden. Die genuinen Substanzen weisen ein Sabinenhydratgrundgerüst auf. Zwei aktivierte Verbindungen sind hauptverantwortlich für die Bildung von Umlagerungsprodukten während der Aufarbeitung des Pflanzenmaterials: eine „gebundene“ Form, vermutlich cis-Sabinenhydratpyrophosphat, und eine „freie“ Form (cis-Sabinenhydratacetat). Je nach den Bedingungen bei der Gewinnung des ätherischen Öls werden verschiedene Umlagerungsprodukte erhalten. Die Hauptinhaltsstoffe des mit einer Kapillare aus den Drüsenschuppen direkt gewonnenen Öls sind die bizyclischen Monoterpene cis-Sabinenhydrat (40–50%), cis-Sabinenhydratacetat (20–30%) und Sabinen (10%) neben wenig trans-Sabinenhydrat (2%). Ein Acetonextrakt (a), Ethanolextrakt (b) oder Ammoniumhydrogencarbonatextrakt (c) und Hydrolyse mit Wasser (a), Säure (b) oder Natriumtetraborat (c) ergaben cis-Sabinenhydrat/Terpinen-4-ol (a), Terpinen-4-ol/γ-Terpinen (b) bzw. cis-Sabinenhydrat/cisSabinenhydratacetat (c) als Hauptbestandteile. Bei der Wasserdampfdestillation (Hitze, saures Milieu) wird vorwiegend das cis-Sabinenhydratacetat in Monoterpenalkohole und Monoterpenkohlenwasserstoffe umgelagert. Neben cis-Sabinenhydrat sind dabei Terpinen-4-ol [Hauptkomponente; überwiegend (+)-Form; Ravid et al. 1992] sowie α- und γ-Terpinen vorherrschend. Im Vergleich zum genuinen Majoranöl besteht daher das durch Wasserdampfdestillation erhaltene Öl vorwiegend aus Artefakten (Fischer et al. 1988). Cis-Sabinenhydrat scheint entscheidend für das typische Majoranaroma verantwortlich zu sein, das durch höhere Gehalte an Terpinen-4-ol verschlechtert wird (vgl. Fischer et al. 1987). Hinweis: Man beachte die unterschiedliche Bezifferung des Menthanund des Thujongerüstes
Inhaltsstoffe
x Ätherisches Öl (je nach Herkunt zwischen 0,5–3,5%) mit hauptsächlich Monoterpenalkoholen und Monoterpenkohlenwasserstofen. Bei der Gewinnung des ätherischen Öls durch Wasserdampfdestillation entstehen verschiedene Umlagerungsprodukte. Die Zusammensetzung des ätherischen Öls ist daher in der Literatur sehr unterschiedlich angegeben ( > Abb. 25.16); x Phenolcarbonsäuren (u. a. Chlorogen-, Kafee-, pCumarsäure), Rosmarinsäure, Phenole und Phenolglykoside (Hydrochinon, Arbutin u. a.), Flavonoide (Flavon- und Flavonolglykoside), Triterpene, Sterole, Saponine und Kohlenhydrate.
Wirkung und Verwendung. Antimikrobiell, antiviral und antioxidativ. Majoran ist ein bekanntes Wurstgewürz. Wegen des Vorkommens der antioxidativ wirksamen Rosmarinsäure macht es darüber hinaus die Wurstwaren haltbarer. Anmerkung. Majoran ähnelt in seiner chemischen Zu-
sammensetzung sehr dem Dostenkraut, das daher auch wilder Majoran genannt wird (Origanum vulgare; > Kap. 25.5.5).
25.3 Gewürze
25.3.6
Piment
Herkunft. Piment, volkstümlich als Nelkenpfefer, Gewürzkörner, Allgewürz oder Neugewürz bezeichnet, besteht aus den Beerenfrüchten des 6–13 m hoch werdenden Pimentbaums Pimenta dioica (L.) Merr. (Familie: Myrtaceae [IIB17a]), der in Mittelamerika heimisch ist und besonders auf Jamaika kultiviert wird. Die Früchte werden kurz vor der Reife geerntet und rasch getrocknet; in ausgereitem Zustand haben sie nur wenig Aroma. Sensorische Eigenschaften. Geruch und Geschmack er-
innern gleichzeitig an Nelken, Muskat und Zimt (daher die Bezeichnung Allgewürz, engl.: „allspice“). Beim längeren Kauen macht sich auf der Zungenspitze ein leicht anästhesierendes Gefühl bemerkbar. Inhaltsstoffe
x Ätherisches Öl (3–5%) mit Eugenol als Hauptbestandteil (65–80%; Formel > Abb. 25.18). Weitere Bestandteile sind: Methyleugenol und weitere Phenylpropanoide, Eucalyptol (Synonym: 1,8-Cineol), Chavicol, Linalool, Caryophyllen und zahlreiche andere Monound Sesquiterpene; x Stärke, Zucker, fettes Öl und Gerbstof (Catechine und Galloylglucoside). Verwendung. Als Gewürz für Gebäck (Lebkuchen), für Fisch- und Wurstwaren sowie in der Spirituosenindustrie. In der Pharmazie wird es als Geruchs- und Geschmackskorrigens, allerdings selten, verwendet.
25.3.7
Vanille
Herkunft. Vanilla planifolia Andr. [Synonym: V. fragrans (Salisb.) Ames] ist eine tropische Orchidee (Familie: Orchidaceae [IIA6 h]) Zentralamerikas, Mexikos und des nördlichen Südamerika. Sie ist eine kletternde Schlingplanze. Historische Anmerkung: Schon in der ersten Hälte des 19. Jahrhunderts hat man Kulturen in anderen Weltteilen angelegt, so v. a. auf Réunion (Ile de Bourbon), aber auch auf Madagaskar und Mauritius. Die Kulturen auf Java, Sri Lanka, Tahiti usw. sind weniger bedeutend. Bei den ersten Kulturversuchen auf Réunion ergab sich folgende Merkwürdigkeit: Man erhielt zwar gut gedeihende Planzen, die auch zur Blüte kamen, aber keine Früchte
25
ansetzten. Die Blüte der Vanille ist so gebaut, dass eine Befruchtung in der Natur nur durch Kolibris und ganz bestimmte Insekten möglich ist. Das Fehlen dieser Tiere in den Ländern, in denen man neue Kulturen der Vanille angelegt hatte, erklärte den ausbleibenden Fruchtansatz. Man ist daher auf künstliche Befruchtung angewiesen, die durch Andrücken der Pollensäcke auf die Narben ausgeführt wird. Gewinnung. Man erntet die Frucht in noch unreifem Zu-
stand, wenn sie sich gelb zu färben beginnt, da sie ausgereit als einfächrige Kapsel aufspringen würde. Zu diesem Zeitpunkt ist die Frucht geruchlos. Die dunkle Farbe und der typische Geruch entstehen erst durch Fermentationsprozesse, die hauptsächlich auf 2 verschiedene Arten durchgeführt werden. x Mexikanisches oder Trockenverfahren: Die unreifen, angewelkten Früchte werden tagelang der prallen Sonne ausgesetzt, dann – in Decken gehüllt – in sog. Schwitzkästen gebracht, wobei sich die Fermentation unter Temperaturerhöhung vollzieht. Dieser Prozess wird mehrmals wiederholt. x Südamerikanisches oder Heißverfahren (Réunion, Madagaskar usw.): Man taucht die unreifen Früchte einmal oder mehrmals während einiger Sekunden bis zu 3 min je nach Temperatur in Wasser von 65–90 °C. Dabei wird das Gewebe abgetötet. Die abgetropten Früchte werden zu Haufen geschichtet oder über Nacht in Behälter verpackt, wobei sie einen Schwitzprozess durchmachen, und anderntags zwischen Wolldecken in dünner Lage der Sonne ausgesetzt. Anschließend werden sie noch mehrere Wochen getrocknet. Je nach der Gegend werden die beiden Verfahren etwas variiert. Sensorische Eigenschaften. Riecht angenehm blumig
nach Vanillin, jedoch viel feiner und voller als die Reinsubstanz. In Lebensmitteln, wie z. B. Speiseeis, gibt sich Vanille durch die kleinen, höchstens 0,3 mm dicken, schwarzbraunen Samen zu erkennen. Inhaltsstoffe. Vanillin (1–3%). Mexikanische Vanille ent-
hält 1,3–1,8%, die Bourbon-Vanille (aus Madagaskar) bis zu 3% Vanillin. Das charakteristische Aroma wird auch durch Begleitstofe mitgeprägt wie p-Hydroxybenzaldehyd und andere Fermentationsprodukte ( > Abb. 25.17). Die Aromastofe, derentwegen die Vanille geschätzt wird,
1053
1054
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
. Abb. 25.17 R1
R1 CHO
Fermentation R2
R2
O-Glc
OH O
Glucoside
R1
R2
Aglyka (= Aromastoffe)
Glucovanillin Glucovanillinsäure Glucovanillinalkohol p-Hydroxybenzaldehyd-β-D-glucosid p-Hydroxybenzoesäure-β-D-glucosid
CHO COOH CH2OH CHO COOH
OCH3 OCH3 OCH3 H H
Vanillin Vanillinsäure Vanillinalkohol p-Hydroxybenzaldehyd p-Hydroxybenzoesäure
O Piperonal
Der typische Geruch der Vanille entsteht erst im Verlaufe eines Fermentationsprozesses. Chemisch betrachtet besteht der enzymatische Prozess darin, dass aus den geruchlosen Vorstufen die Duftstoffe – wohl meist durch Glucosidasewirkung – in Freiheit gesetzt werden. Aus frischen Früchten wurde beispielsweise Vanillin als Vanillinmonoglucosid (Glucovanillin; Hauptkomponente) isoliert. Die glykosidischen Vorstufen sind geruchlos. Neben Vanillin enthält die Vanille noch viele weitere Duftstoffe, die ihr ein feines ausgeglichenes Aroma verleihen, darunter in erster Linie p-Hydroxybenzaldehyd. Bisher wurden über 180 Aromastoffe aus der Bourbonvanille identifiziert, von denen lediglich 26 in Konzentrationen über 1 ppm in der Schote enthalten sind (vgl. Taylor 1993). Als minderwertig gelten die Schoten von V. pompona und V. tahitensis, die ein deutlich abweichendes blumig-parfümartiges Aroma besitzen, das dem Vorkommen von Piperonal zugeschrieben worden ist. Das natürliche Vorkommen dieser Substanz ist aber umstritten (vgl. Ehlers et al. 1995)
sind innerhalb der Frucht in sog. Papillen lokalisiert, mit denen die innere Fruchtwand besetzt ist. Auf weitere Inhaltsstofe wird hier nicht eingegangen. Analytische Kennzeichnung. Zum einfachen Nachweis des Vanillins in Vanille eignet sich die DC mit Dichlormethan–Aceton (95:5) als Fließmittel, Vanillin als Referenzsubstanz und Dinitrophenylhydrazinreagens zum Nachweis. Der dem Vanillin entsprechende Fleck färbt sich nach dem Besprühen mit Dinitrophenylhydrazinreagens im Tageslicht orangebraun. Vanillin, die weiteren Aromastofe sowie die entsprechenden glykosidischen Vorstufen können mit der HPLC (vgl. z. B. Taylor 1993; Brodelius 1994), aber auch mit anderen chromatographischen und spektroskopischen Methoden nachgewiesen und quantitativ bestimmt werden. Zum Nachweis der Authentizität von Vanilleextrakten genügen diese Methoden allerdings nicht. In der Lebensmittelindustrie werden dafür heute Methoden zur Isotopenbestimmung (GC-IRMS und SNIF-NMR; vgl. S. 1036) eingesetzt ( > z. B. Remaud et al. 1997; Kaunzinger et al. 1997).
Verwendung. Vanille ist zum Aromatisieren von Schoko-
lade, Feingebäck und Speiseeis sehr geeignet. Auch in der Pharmazie wird sie zum Aromatisieren süß schmeckender Präparate eingesetzt. In der Lebensmittelindustrie (zum Aromatisieren) und in der Pharmazeutischen Industrie (als Zwischenprodukt) wird heute in erster Linie reines Vanillin verwendet. Der weltweite Bedarf beträgt ca. 12.000 Tonnen/Jahr, wovon weniger als 1% aus Vanille gewonnen wird. Der größte Teil wird synthetisch (u. a. aus Lignin, Eugenol) oder auf biotechnologischem Wege durch ein zweistuiges Fermentationsverfahren (aus Ferulasäure) hergestellt.
25.3.8
Zimtrinde
Herkunft. Unter Zimtrinde (Cinnamomi cortex PhEur 5) versteht man die getrocknete, vom äußeren Kork und dem darunter liegenden Parenchym befreiten Rinde junger, auf zurückgeschnittenen Stöcken wachsenden Schößlinge von Cinnamomum zeylanicum Nees (Familie: Lauraceae
25
25.3 Gewürze
[IIA5b]). Die oizinelle Zimtrinde wird auch als CeylonZimt oder allgemein als Zimt bezeichnet. Stammpflanze. C. zeylanicum (Synonym: C. verum J. S. Presl) ist ein immergrüner, in Süd- und Südostasien heimischer Baum mit schönen lederartigen Blättern und rispig angeordneten weißlichgrünen Blüten. In den Kulturen wird die Planze zurückgeschnitten, um sie strauchartig niedrig zu halten; durch das Abschneiden des Hauptstamms erzielt man, dass sich mehr lange, dünne Triebe entwickeln, die die beste Droge liefern. Die Rinde dieser Triebe wird mit dem Messer abgelöst und von den Rindenstückchen das äußere Gewebe bis auf den Steinzellenring abgeschabt. Beim Trocknen verfärbt sich die ursprünglich helle Rinde braunrot, ofenbar infolge enzymatischer Phlobaphenbildung aus reichlich vorhandenen Catechinen. Sensorische Eigenschaften. Geruch: balsamisch-würzig.
Geschmack: würzig-brennend und leicht süßlich. Weitere Zimthandelssorten. Neben dem wegen seines
feinen aromatischen Geruchs und seines würzig-brennenden, süßlich – nicht herben – Geschmacks am höchsten geschätzten Ceylon-Zimts liefern auch andere Cinnamomum-Arten Zimt. Folgende Handelssorten werden insbesondere als Gewürz angeboten: x Chinesischer Zimt von C. aromaticum Nees (Synonym: C. cassia Blume), x Padang- oder Burma-Zimt von C. burmanii Blume, x Saigon-Zimt von C. loureirii Nees. Inhaltsstoffe
x Ätherisches Öl (0,5–2,5%; PhEur = mindestens 12 ml
u kg–1) mit Zimtaldehyd als Hauptkomponente (65– 75%); weitere 4–10% entfallen auf Phenole, hauptsächlich auf Eugenol. Im ätherischen Öl kommen ferner o-Methoxyzimtaldehyd, Zimtalkohol und dessen Acetat, sowie geringe Mengen an Mono- und Sesquiterpenen vor ( > Abb. 25.18); x Phenolcarbonsäuren (verschiedene Hydroxybenzoeund Hydroxyzimtsäuren), Diterpene (Cinnzeylanol, Cinnzeylanin), Proanthocyanidine (weniger als 2%), E-Sitosterol; x Zucker (Mannit), Kohlenhydrate (l-Arabino-d-xylane, d-Glucane), Stärke.
. Abb. 25.18 R2
R1
Zimtaldehyd o-Methoxyzimtaldehyd Zimtalkohol
R1
R2
H OCH3 H
CHO CHO CH2OH
CH2
HO OCH3 Eugenol
Einige Bestandteile des ätherischen Öls der Zimtrinde von Cinnamomum zeylanicum NEES. Hauptgeruchsträger des typischen Zimtaromas ist der Zimtaldehyd (vgl. Übersicht von Schneider 1988). Das Aroma wird aber nicht ausschließlich durch die Hauptbestandteile bestimmt; an Nebenbestandteilen wurden u. a. nachgewiesen: Methyln-amylketon, Furfural, α-Pinen, Phellandren, Cymen, Nonylaldehyd, Linalool und Caryophyllen
Analytische Kennzeichnung. DC-Nachweis (PhEur) von Zimtaldehyd, o-Methoxyzimtaldehyd und Eugenol [Fließmittel: Dichlormethan; Referenzsubstanzen: Zimtaldehyd, Eugenol; Nachweis: UV 254 und 365 nm, PhloroglucinSalzsäure-Reagens]. Zimtaldehyd und Eugenol erscheinen im UV-Licht bei 254 nm als Fluoreszenz mindernde Zonen. Im UV bei 365 nm erscheint o-Methoxyzimtaldehyd als hellblau luoreszierende Zone. Beim Besprühen mit dem Phloroglucin-Salzsäure-Reagens färbt sich die Zimtaldehydzone gelblichbraun, die o-Methoxyzimtaldehydzone violett. Verwendung. Als Droge, zur Herstellung von Zimtöl
(Cinnamomi zeylanici corticis aetheroleum PhEur) und von Zimttinktur (Cinnamomi corticis tinctura PhEur). Anmerkung: Die PhEur führt auch Chinesisches Zimtöl (Cinnamomi cassiae aetheroleum, von C. cassia) sowie ein Öl aus Blättern des Zimtbaumes (Cinnamomi zeylanici folii aetheroleum) auf.
1055
1056
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Wirkung und Anwendungsgebiete. Antibakteriell, fungistatisch und motilitätsfördernd. Bei Appetitlosigkeit, zur Behandlung von dyspeptischen Beschwerden wie leichten krampfartigen Beschwerden im Magen-Darm-Bereich, bei Völlegefühl und Blähungen (Kommission E), zusätzlich bei Durchfall (ESCOP). Als Geruchs- und Geschmackskorrigens sowie als Bestandteil in Alkohol enthaltenden Magentonika. Als Gewürz für süße Backwaren, Gewürzkuchen, Kompotte, Süßspeisen, Bowlen und Glühwein.
! Kernaussagen
In Kap. 25.3 sind Ätherischöldrogen zusammengefasst, die in erster Linie als Gewürze verwendet werden. Sie induzieren reflektorisch die Sekretion mehr oder weniger aller Verdauungssäfte (Speichel, Magensaft, Pankreassaft, Gallenflüssigkeit). Sie haben insbesondere antimikrobielle, antifungale, antioxidative und spasmolytische Eigenschaften und werden daher pharmazeutisch als Mittel zur Behandlung von dyspeptischen Beschwerden, bei Appetitlosigkeit sowie als Geruchs- und Geschmackskorrigiens verwendet.
Anmerkung. Der Nachweis, dass die tägliche Einnahme von 3–6 g Zimtrinde als Diät die Blutwerte von Glucose, Triglyceriden, Gesamtcholesterin und LDL bei Patienten mit Typ-2-Diabetes vermindert, womit Risikofaktoren von Diabetes Typ 2 vermindert werden (Khan et al. 2003), muss in pharmakologischen und weiteren klinischen Studien belegt werden. Nebenwirkungen. Allergische Haut- und Schleimhaut-
reaktionen.
Ausnahmen bilden Vanille und der Ingwerwurzelstock. Vanille wird aufgrund seines Vanillingehaltes zum Aromatisieren verwendet. Die Indikationsgebiete für den Ingwerwurzelstock und daraus hergestellte Pharmazeutika sind neben dyspeptischen Beschwerden die Prophylaxe von Übelkeit und Erbrechen. Als pharmakologisch bedeutendste Inhaltsstoffe gelten die Scharfstoffe, deren Hauptkomponenten die homologen Reihen der Gingerole und Shogaole darstellen (insbesondere [6]-Gingerol und [6]Shogaol). Gingerole und Shogaole sind für die bemerkenswerte antiemetische, aber auch für die entzündungshemmende und gastrokinetische Wirkung verwantwortlich.
Schlüsselbegriffe Antiemetikum Appetitlosigkeit Aromatikum Ätherisches Öl Cinnamomi cortex Cinnamomum sp. Cinnamomum zeylanicum Coriandri fructus Coriandrum sativum Curry Diarylheptanoide Dyspeptische Beschwerden Eugenol Galangae rhizoma
Galgant Gewürze Gingerole Ingwerwurzelstock Koriander Linalool Majoran Majorana hortensis Majoranae herba Monoterpene Nelkenpfeffer Origanum vulgare Phenylpropanoide Piment
Pimenta dioica Rosmarinsäure Sesquiterpene Shogaole Vanilla planifolia Vanille Vanillin Wirkungen (antimikrobiell, antioxidativ, antiviral) Zimtaldehyd Zimtrinde Zingiber officinale Zingiberis rhizoma
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
25.4
Stomachika, Cholagoga, Carminativa
Stomachika, Cholagoga und Carminativa sind Begrife der alten Medizin, die die Arzneimittel unter dem therapeutischen Gesichtspunkt des leitenden Symptoms einteilt. Die Grenzen zwischen Stomachika, Cholagoga und Carminativa sind heute verwischt, gleichgültig, ob man die Wirkweise oder die chemische Zusammensetzung ins Auge fasst.
25.4.1
Stomachika
Arzneistofe, die vor allem Appetit und Verdauung anregen, nennt man Stomachika (Arzneimittel gegen Magenbeschwerden). Stomachika umfassen u. a. Aromatika (Wirkung über die Geruchsempindung „aromatisch“), Amara (Wirkung über die Geschmacksempindung „bitter“) sowie Amara-Aromatika (bei kombinierter Wirkung). Infobox Stomachika. Unter Stomachika (hier Amara-Aromatika; aromatische Bittermittel) versteht man vorzugsweise Bittermittel und aromatische Bittermittel. Die in den aromatischen Bittermitteln (Amara-Aromatika) kombiniert vorliegenden Geruch- und Geschmackstoffe lösen Reflexe aus, die über den Nervus vagus die Magensaftsekretion in Gang bringen. Diese „psychische“ Sekretion ist nicht auf die Verweildauer des Stomachikums in der Mundhöhle und im Magen beschränkt, sondern sie kann 2–3 h lang anhalten. Die Lust zur Nahrungsaufnahme wird dadurch gesteigert. Angewendet werden Stomachika bei Dyspepsie, einem Beschwerdekomplex mit Appetitlosigkeit, Übelkeit, Druck- und Völlegefühl im Oberbauch, mit Aufstoßen, Sodbrennen und schlechtem Geschmack im Mund. Eine neuere Übersicht über Phytotherapeutika zur Behandlung dyspeptischer Beschwerden befindet sich bei Saller et al. (2001).
Hopfenzapfen Herkunft. Hopfenzapfen (Lupuli los PhEur 5) sind die getrockneten, weiblichen Blütenstände von Humulus lupulus L. (Familie: Cannabaceae [IIB11d]). Hopfen stammt ausschließlich aus dem Anbau.
25
Stammpflanze. Hopfen ist eine zweihäusige, ausdauernde, rechtswindende Kletterplanze. In Hopfenkulturen (vgl. Übersicht von Breitner 1992) baut man nur weibliche Planzen an (vegetative Vermehrung); dadurch wird vermieden, dass reife Samen (bis 6 cm lange Nüsse), die viel wiegen, aber keinen Nutzwert haben, in die Hopfenernte gelangen. Die weiblichen Blütenstände sind dichtblütige Kätzchen; das zapfenartige Aussehen bekommen sie durch die zahlreichen Bracteen (Hochblätter als „Zapfenschuppen“). Jede Einzelblüte ist von einem Tragblatt, dem Vorblatt, umschlossen. Hoch- und Vorblätter sind mit becherförmigen Drüsenschuppen bedeckt, die sowohl ätherisches Öl als auch Bitterstofe enthalten. Sensorische Eigenschaften. Aromatischer Geruch, wür-
zig bitterer Geschmack. Mit zunehmender Lagerdauer ändert sich der Geruch; alter Hopfen kann unangenehm nach Isovaleriansäure riechen. Inhaltsstoffe
x Ätherisches Öl (0,3–1%) mit Mono- und Sesquiterpenen, wobei Terpene ohne Sauerstofunktionen (Myrcen, Humulen, Caryophyllen) überwiegen ( > Abb. 25.19); x Bitterstofe (Acylphloroglucide) mit D-Bittersäuren (3–7%) und E-Bittersäuren (2,5–4%) sowie teilweise ihre Autoxidationsprodukte. Im Gemisch bilden sie das Hopfenharz, das in den Hopfenzapfen zu 15–30%, in den Hopfendrüsen zu 50–80% enthalten ist. Der Bitterwert des frisch geernteten Hopfens beruht hauptsächlich auf dem Gehalt an D-Säuren (Humulongruppe). Sowohl D- als auch E-Säuren stellen Stofgemische dar, deren Einzelbestandteile in der Seitenkette variieren: Isovalerianylrest in Humulon/Lupulon, Isobutyrylrest in Cohumulon/Colupulon und 2-Methylbutyrylrest in Adhumulon/Adlupulon ( > Abb. 25.20 und 25.21); x Flavonoide (0,5–1,5%): Glykoside des Quercetins und Kämpferols, ferner 23 prenylierte Flavonoide, davon 13 Chalkone, u. a. Xanthohumol ( > Kap. 26.5.3; Formel in > Abb. 26.35; bis zu 1% in getrockneten Hopfenzapfen bzw. 80–90% der Gesamtlavonoide) und 10 Flavanone, u. a. Isoxanthohumol, 6-Prenylnaringenin, 8-Prenylnaringenin (Stevens et al. 2000; Zhao et al. 2005); x Gerbstofe (Proanthocyanidine; 2–4%), ferner Phenolcarbonsäuren, Polysaccharide, Eiweißstofe und Lipide.
1057
1058
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
. Abb. 25.20
. Abb. 25.19 CH3
CH2
H3C CH2
H3C
H2C
OH
OH 2
CH3
2-Methyl-3-buten-2-ol (= Methylbutenol) C5H10O
Myrcen C10H16
OH
3 x C2
HO
OH
O
Phloroglucin (Enolform)
H
H
OH
(Ketoform)
CH3
CH3
1
CH3 H3C CH3
2
H H3C
Oxidation
H
CH2
O
H
H
CH3
Ringverengung
H Humulen C15H24
Caryophyllen C15H24
Das Hopfenaroma beruht wesentlich auf dem ätherischen Öl, das frisch, würzig-aromatisch und leicht balsamisch riecht. Bisher wurden über 200 Verbindungen nachgewiesen. Hauptbestandteile sind Myrcen und Humulen, das hier, wie in anderen Drogen auch (z. B. im Nelkenöl), vom isomeren Caryophyllen begleitet ist. Nach dem Mengenverhältnis dieser Hauptterpene teilt man den Hopfen in myrcenreiche und humulenreiche Sorten ein. Die humulenreichen Sorten (Hallertauer, Saazer, Spalt) haben ein besonders feines Aroma. Beim Lagern des Hopfens nimmt der Ölgehalt ab und der Anteil sauerstoffhaltiger Verbindungen zu. Zwei Jahre gelagerter Hopfen kann bis zu 0,15% des flüchtigen 2-Methyl-3-buten-2-ols enthalten, ein Kunstprodukt, das sich bei der autoxidativen Zersetzung aus den Hopfenbitterstoffen bildet
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Nachweis (PhEur) der Hopfenbitterstofe sowie des Xanthohumols [Fließmittel: Wasserfreie Essigsäure–Ethylacetat–Cyclohexan (2:38:60); Referenzsubstanzen: Sudanorange, Curcumin, Dimethylaminobenzaldehyd; Nachweis: UV 254 und 365 nm, Molybdat-Wolframat-Reagens]. Im UV bei 254 nm erscheinen die Hopfenbitterstofe als luoreszenzlöschende Zonen; im UV bei 365 nm luoreszieren die Lupulone blau, die Humulone braun und Xanthohumol dunkelbraun. Nach dem Besprühen mit Molybdat-Wolframat-Reagens und unter Einluss von Ammoniakdampf erscheinen die
HO OH H
O
H O
H
OH
OH
O C5-Baustein: Hemiprenkation H3C H3C
+
CH2
Humulone: 3 x C2 plus 3 x C5 Lupulone: 3 x C2 plus 4 x C5
Die genuinen, d. h. die in der frischen Droge vorkommenden Hopfenbitterstoffe, die Humulone und die Lupulone, stellen Derivate der Diketoform des Phloroglucins dar. Der Phloroglucinteil ist durch Hemiprene in unterschiedlichem Maße substituiert. Es handelt sich durchwegs um instabile Verbindungen. Während der Trocknung, Lagerung und Verarbeitung entstehen durch Isomerisierung, Oxidation und Polymerisation eine große Zahl von Folgeprodukten, die sich vom Cyclopentanon ableiten ( > auch > Abb. 25.19 und 25.21)
Zonen für die Hopfenbitterstofe im Tageslicht bläulichgrau und für Xanthohumol grünlichgrau gefärbt. Gehaltsbestimmung. Die PhEur lässt nur einen Extrakt-
gehalt (25,0%) bestimmen. Hopfenzapfen für pharmazeutische Zwecke sollten mindestens 0,82% D-Säuren, 0,43% E-Säuren und 0,28% Xanthohumol enthalten (Hänsel u.
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
Schulz 1986). Gelagerter Hopfen (>1 Jahr), Hopfenextrakte und Hopfenextrakte enthaltende Fertigarzneimittel enthalten, sofern keine besonderen Vorsichtsmaßnahmen getrofen werden, keine nachweisbaren Mengen genuiner Bitterstofe. In den erwähnten Präparationen können jedoch 2-Methyl-3-buten-2-ol, Xanthohumol und Flavonoide noch analytisch fassbar sein. Der Nachweis und die quantitative Bestimmung von 2-Methyl-3-buten-2-ol erfolgt heute am besten mit der Gaschromatographie (Hänsel et al. 1982), diejenige der Hopfenbitterstofe und der analytischen Leitsubstanz Xanthohumol hingegen mit HPLC (Hänsel u. Schulz 1986; Hermans-Lokkerbol u. Verpoorte 1994). Verarbeitung. Der für Brauereizwecke verwendete Hop-
fen wird, um Qualitätsverluste zu vermeiden, raschest getrocknet (Heißlut bei 65 °C) und weiterverarbeitet. Auch bei sachgemäßer Lagerung erleidet Hopfen Qualitätsverluste, sodass man zu einem hohen Prozentsatz Hopfenextrakte – und zwar mit Ethanol als Extraktionsmittel oder heute vorzugsweise mit überkritischem CO2 hergestellt – zum Bierbrauen einsetzt (vgl. Übersicht von Forster 1992). Die Hauptfunktionen des Hopfens sind beim Bierbrauen die folgenden: x das Bier enthält den charakteristischen bitteren Geschmack (Bitterstofe); x es gewinnt ein charakteristisches, angenehmes Aroma (ätherisches Öl); x es wird haltbarer (das Wirkungsspektrum der Bittersäuren erstreckt sich auf grampositive Bakterien). Für pharmazeutische Zubereitungen werden Trockenextrakte verwendet, die meist aus methanolischen bzw. ethanolischen (30–70% Alkohol) Auszügen aus Hopfenzapfen oder Hopfenpellets stammen und die verfahrensbedingt höheren Temperaturen ausgesetzt waren. Im Normalfall sind in diesen Präparationen ursprüngliche hopfenspeziische Inhaltsstofe nicht mehr enthalten. Vor allem die Aquosaextrakte sind unzweckmäßig, da der Zusatz des wasserlöslichen Extraktanteils zum lipophilen Extraktanteil die Abbaureaktionen von Hopfenbitterstofen ganz erheblich beschleunigt. Es wird daher empfohlen, auch für die Herstellung von Hopfenspezialitäten das Extraktionsverfahren mit überkritischem CO2 zu nutzen (vgl. Übersicht von Forster 1992).
25
Verwendung. Hopfen wird sowohl innerlich als auch äußerlich angewendet. Innerlich in Form der Droge als Teeaufguss oder Tinktur. Extrakte werden als Bestandteil vorzugsweise von in Drageeform hergestellten Kombinationspräparaten, sog. ixen Kombinationen aus Baldrianwurzel und Hopfenzapfen oder Baldrianwurzel, Hopfenzapfen und Melissenblättern (Kommission E), verwendet. Die äußere Anwendung als Hopfenkissen und als Lipidextrakt zur Duttherapie stellt psychodynamische Efekte in Rechnung. Wirkungen. Beruhigend, schlafördernd, antimikrobiell.
Die für die beruhigende Wirkung verantwortlichen Inhaltsstofe sind derzeit nicht bekannt. Das während der Lagerung aus den Hopfenbitterstofen entstehende 2-Methyl-3-buten-2-ol erwies sich im Tierversuch in hohen Dosierungen als sedierend wirksam. Die im Hopfen bzw. in den entsprechenden Zubereitungen enthaltene Menge dieser Substanz ist für eine Wirkung in der Regel allerdings zu gering. Es wurde bisher nicht abgeklärt, ob Methylbutenol auch in vivo nach p.o.-Verabreichung von Hopfen aus den Hopfenbittersäuren entsteht. In einer ofenen, multizentrischen Studie mit einer ixen Kombination aus Hopfenzapfen, Baldrianwurzel und Melissenblättern konnte die aus der Volksmedizin und verschiedenen Erfahrungsberichten bekannte beruhigende Wirkung nachgewiesen werden (Orth-Wagner et al. 1995). Welchen Anteil der Hopfen zu dieser Wirkung beiträgt, wurde dabei allerdings nicht abgeklärt. Anmerkung. Bedingt durch den Gehalt an phenolischen
Substanzen (Chalkone, Flavonoide, Proanthocyanidine) hat der Hopfen ein hohes antioxidatives Potential. Insbesondere die Chalkone vom Typ des Xanthohumols zeigten in verschiedenen In-vitro-Untersuchungen und in einem Ex-vivo-Brustdrüsenorganmodell der Maus (MMOC) ein breites Spektrum an Hemmmechanismen in der Initiierungs-, Promotions- und Progressionsphase der Karzinogenese (für Details > Gerhauser et al. 2002). Zum Problemkreis „Tumorhemmendes Potential von Planzenstofen“ vgl. Infobox S. 979. 8-Prenylnaringenin und wahrscheinlich auch Chalkone wie Xanthohumol sind für die östrogene Wirkung von Hopfen verantwortlich (vgl. dazu Nikolic et al. und darin zitierte Literatur 2005). Anwendungsgebiete. Zur Behandlung von Beindens-
störungen wie Unruhe, Angstzustände und Schlafstörungen (Kommission E, ESCOP). Als aromatische Bittermit-
1059
1060
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
. Abb. 25.21 CH3
OH
H3C
3
4
O R
2 1
5
6
HO
O
HO CH3
[%]
α-Säuren
Acyl R
Humulon Cohumulon Adhumulon Prähumulon Posthumulon
CH2CH(CH3)2 CH(CH3)2 CH(CH3)CH2CH3 CH2CH2CH(CH3)2 CH2CH3
β-Säuren
Acyl R
Lupulon Colupulon Adlupulon Prälupulon Postlupulon
CH2CH(CH3)2 CH(CH3)2 CH(CH3)CH2CH3 CH2CH2CH(CH3)2 CH2CH3
35-70 20-65 10-15 1-10 1-3
CH3 CH3
OH
O R
H3C HO
O
H3C
CH3 CH3
[%] 35-55 20-55 10-15 1-3 ?
CH3
OH
O
OH
CH3
O
CH3
O
CH3
O
CH3
HO
H3C O
O OH
O
H3C CH3
H3C H3C
H3C
OH
Oxidationsprodukt des Humulons
Hulupon O
CH3
O
CH3 CH3
H3C HO
O
CH3
CH3 CH3
H3C HO
OH
O
OH
O
CH3
CH3
H3C cis-Isohumulon
O
H3C trans-Isohumulon
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
tel erweisen sich Infus und Tinktur aus möglichst frischem Hopfen bei atonischer Dyspepsie als nützlich. Die Fertigarzneimittel, die Hopfenextrakte in Kombination mit Baldrian- bzw. Melissenextrakten enthalten, gelten als wirksam bei nervös bedingten Einschlafstörungen und Unruhezuständen (Kommission E).
. Abb. 25.22 OCH3
Herkunft. Kalmus (Calami rhizoma Helv 10) besteht aus
dem von den Wurzeln und Blattresten befreiten, getrockneten Rhizom bestimmter Zytotypen von Acorus calamus L. (Familie: Acoraceae [IIA2a]). Eine Monographie Calami rhizoma (Kalmuswurzelstock) ist auch im DAC 2004 aufgeführt. Stammpflanze. A. calamus ist eine etwa 1 m hoch wer-
dende Sumpfplanze, die in Europa, Nordamerika und Ostasien heimisch ist. Es existieren 3 verschiedene Zytotypen: Die var. americanus (Raf.) Wulff ist diploid (2 n = 24), die var. calamus L. triploid (2 n = 36) und die var. angustatus Bess. tetraploid (2 n = 48). Die verschiedenen Zytotypen unterscheiden sich in der Zusammensetzung des ätherischen Öls (insbesondere im Gehalt an E-Asaron; vgl. Text zu > Abb. 25.22). Aufgrund morphologischer und molekularer Daten wurde A. calamus aus der Familie der Araceae ausgegliedert und zur monogenerischen Familie der Acoraceae zugeordnet (vgl. Frohne u. Jensen 1998).
CH3
H
H3CO OCH3
α-Asaron (trans-Isoasaron) OCH3
H H
Z
CH3
H3CO
Kalmus
H E
Unerwünschte Wirkungen. Bei der Anwendung von Fer-
tigarzneimitteln sind keine bekannt. Frische Hopfenzapfen können die Ursache der sog. Hopfenplückerkrankheit sein, die durch Kopfschmerz, Schläfrigkeit, Konjunktivitis, evtl. Blasenbildung auf der Haut sowie Gelenkbeschwerden gekennzeichnet ist.
25
OCH3 β-Asaron (cis-Isoasaron)
1,2,4-Trimethoxy-5-(1-propenyl)benzol kommt in der Natur in 2 stereoisomeren Formen vor. Das E-Isomer, in dem die beiden H-Atome trans-ständig angeordnet sind, erhielt die Trivialbezeichnung α-Asaron; für das Z-Isomer ist international die Bezeichnung β-Asaron eingeführt. Im deutschen Schrifttum sind auch die Bezeichnungen trans-Isoasaron und cis-Isoasaron üblich (Keller u. Stahl 1982). Der Anteil von β-Asaron (0–8,6% bezogen auf die Droge) steigt im ätherischen Öl vom diploiden zum tetraploiden Zytotypus. Die amerikanische Art enthält kein β-Asaron, was erwünscht ist, da β-Asaron toxikologisch nicht unbedenklich ist (vgl. unter unerwünschte Nebenwirkungen). Der Asarongehalt des europäischen Zytotypus (var. calamus L.), der im Drogenhandel vorwiegend vorkommt, beträgt weniger als 14% des ätherischen Öls (d. h. durchschnittlich 0,3% bezogen auf die Droge). Nicht verwenden sollte man den tetraploiden indischen Zytotypus, wo β-Asaron die Hauptkomponente des ätherischen Öls darstellt (bis 96,5%) (vgl. Übersicht von Schneider u. Jurenitsch 1992)
9 Im frischen Hopfen liegen die Bitterstoffe vorwiegend in Form der Humulone (α-Bittersäuren) und der Lupulone (β-Bittersäuren) vor. Die β-Säuren kommen im Unterschied zu den α-Säuren in zwei tautomeren Formen vor. Der Einfachheit halber ist in der Abbildung die vorherrschende Dienolform gezeichnet, die derjenigen der α-Säuren entspricht (vgl. Verzele u. De Keukeleire 1991). Die Humulone schmecken sehr bitter, die Lupulone hingegen kaum. Man kann sie aber als „Probitterstoffe“ auffassen, da sie beispielsweise beim Bierbrauen in bitter schmeckende Isomerisierungs- und Oxidationsprodukte übergehen. Beim Lagern des Hopfens verändern sich die Bittersäuren; autoxidativ bildet sich beispielsweise aus Humulon unter Absprengung einer C6-Kette ein Tetraketotetrahydroxyderivat. Beim Würzkochen des Biers gehen die Humulone in die Isohumulone über, die Lupulone in die Hulupone
1061
1062
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Sensorische Eigenschaften. Geruch aromatisch. Geschmack würzig und bitter; nicht scharf. Inhaltsstoffe
x Ätherisches Öl (stark schwankend von 1,7 bis 9,3%;
Helv = mindestens 20 ml u kg–1) mit Phenylpropanen ( > Abb. 25.22), Monoterpenen (darunter Myrcen und Campher) sowie zahlreichen Sesquiterpenkohlenwasserstofen (E-Caryophyllen, Humulen, Guajen, arCurcumen, G-Cadinen, E-Selinen und E-Sesquiphellandren) sowie Sesquiterpenketonen [Acoragermacron (thermolabil), verschiedene Shyobunone (Artefakte), Acoron und Isoacoron, ferner Acorenon und Calamenon; > Abb. 25.23]. Die Geruchsnote des Kalmus beruht auf Stofen, die in nur geringer Konzentration vorliegen und die sich nach Abtrennung rasch zersetzen; wesentlich zum eigentlichen Aroma trägt eine Verbindung bei, die mit Citral isomer ist, und zwar das (Z,Z)-4,7-Decadienal. Sie entsteht wahrscheinlich beim Trocknen der Droge aus ungesättigten Fettsäuren (vgl. Übersicht von Schneider u. Jurenitsch 1992); x Gerbstof (0,6 bis etwa 1%), Fettsäuren, Zucker, Schleim, Stärke. Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Reinheit (Gehalt an Asaron). Nachweis und
semiquantitative Bestimmung (Helv) von Asaron [Fließmittel: Ether–Hexan (20:80); Referenzsubstanz: Asaron; Nachweis: UV bei 254 nm]. Im UV bei 254 nm wird auf die Abwesenheit von Asaron bzw. auf dessen Überschreitung einer Grenzdosis von 0,5% geprüt (im Vergleich zur Referenzlösung). Asaron weist im UV 254 nm eine stark Fluoreszenz mindernde Zone auf. „Asaron“ ist in der Reagenzienliste der Helv als E-Asaron deiniert. Der DAC ermittelt den Gehalt an cis-Isoasaron (E-Asaron) mit der HPLC. Dieser ist wie in der Helv auf höchstens 0,5% limitiert. Gehaltsbestimmung. Wie bei den meisten Ätherischöldrogen wird nur der Gehalt an ätherischem Öl bestimmt. Verarbeitung und Verwendung. Die ausgegrabenen
Rhizome werden vor dem Trocknen geschält, die größeren Stücke der Länge nach gespalten. Während des Trocknens – es soll bei mäßigen Temperaturen erfolgen – verliert das Rhizom etwa 75% an Gewicht; der Durchmesser
schrumpt auf etwa die Hälte zusammen. Geruch und Geschmack verbessern sich im Zuge des Trocknungsvorgangs. Verarbeitung zu Tinkturen, Fluid- und Trockenextrakten, zu Sprühextrakten für sofortlösliche Tees, zur Gewinnung des ätherischen Öls (in der Parfümerie). Die Extrakte sind Bestandteile von fertigen Kombinationspräparaten, die als Magen-Darm-Mittel oder als Cholagoga deklariert sind. Wirkungen und Anwendungsgebiete. Für die Wirkung
von Kalmus ist das ätherische Öl verantwortlich. E-Asaron-freies bzw. E-Asaron-armes Kalmusöl zeigte insbesondere analgetische, sedative und spasmolytische Wirkungen. Bezüglich der spasmolytischen Wirkung scheint asaronfreies Öl dem asaronhaltigen Öl überlegen zu sein (vgl. Übersicht von Schneider u. Jurenitsch 1992). Kalmuszubereitungen regen aufgrund ihres Gehalts an Bitterstofen und ätherischem Öl relektorisch die Magensatsekretion (vermutlich auch die Gallensekretion) an. Innerlich: Als Amarum-Aromatikum bei dyspeptischen Beschwerden funktioneller Natur. Äußerlich: Zu Mund- und Gurgelwässern. In der Veterinärmedizin (Helv = mindestens 15 ml u kg–1) wird die Droge (als Pulver, Tinktur oder Infus) bei Fressunlust und Verdauungsschwäche verwendet. Unerwünschte Wirkungen. Chronische Toxizitätsprüfungen an der Ratte mit E-Asaron-reichem Kalmusöl führten nach einer Applikationsdauer von ca. 60 Wochen zu Tumoren im Zwölingerdarmbereich. Als kanzerogenes Agens wurde das E-Asaron erkannt. Obwohl nicht bekannt ist, ob sich die Versuche am Versuchstier Ratte auf den Menschen übertragen lassen – die Metabolisierung und damit die Bildung der eigentlich kanzerogenen Metaboliten müssen nicht identisch ablaufen –, wurde in den USA die Verwendung von Kalmus, auch des asaronfreien, untersagt. In den neuesten Lebensmittelbüchern von Österreich und der Schweiz wird Kalmus als Gewürz nicht mehr aufgeführt. In der Bundesrepublik Deutschland besteht ein Anwendungsverbot von Kalmus für Bäder. Ein vollständiges, undiferenziertes Kalmusverbot ohne Berücksichtigung des E-Asarongehalts erscheint nicht gerechtfertigt, da mit allen bisherigen Untersuchungen kein kanzerogenes Risiko für den Menschen festgestellt werden konnte. Der Ausschluss asaronreicher Sorten ist jedoch gerechtfertigt, die Festlegung von Grenzwerten sollte sich primär an Art und Dauer der
25
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
CH3
. Abb. 25.23 H2C Shyobunon C15H24O
H2C
CH3 CH3
H
O
CH3
CH3 H2C Epishyobunon
CH3
H2C CH3
Hitze Säure
CH3 CH3
O
CH3 H
O
CH3
CH3 H2C
CH3 Diepishyobunon
Acoragermacron, C15H24O
H2C
CH3 CH3
H
O
CH3
CH3 H2C Isoshyobunon
H3C
CH3 CH3
CH3 H3C
O
CH3
H3C
O O
O H3C
O H3C
Acoron, C15H24O2
CH3
H3C
CH3
Isoacoron
Das ätherische Öl des Kalmusrhizoms ist durch das Vorkommen einer Palette von Sesquiterpenkohlenwasserstoffen und Sesquiterpenketonen gekennzeichnet; nur einige Vertreter sind formelmäßig wiedergegeben. Die Mehrzahl ist regulär aufgebaut, d. h. sie folgen der Isoprenregel, indem 3 Hemiterpene durch 2 1,4-Verknüpfungen miteinander verbunden sind. Das irregulär gebaute Shyobunon ist ein Artefakt, das aus dem regulär aufgebauten Acoragermacron bei der Destillation des Öls entsteht. Als charakteristisch für Kalmus der diploiden und triploiden Zytotypen können die Sesquiterpenketone vom Typus des Acoragermacrons und des Acorons und Isoacorons angesehen werden. Für das Öl besonders kennzeichnend sind die isomeren Acorone (Kalmusbitterstoffe), Diketone mit einer Spiroverknüpfung zweier Ringe
1063
1064
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Anwendung von Kalmus (innerlich-äußerlich, kurzfristig-langfristig, ätherisches Öl, wässriger-alkoholischer Drogenauszug, Arzneidroge-Gewürz-Aroma-Parfüm etc.) orientieren (vgl. Übersicht von Schneider und Jurenitsch 1992).
. Abb. 25.24 CH3
CH3
4
S
Bitterorangenschale Herkunft. Bitterorangenschale (Aurantii amari epicarpi-
um et mesocarpium PhEur 5) besteht aus dem getrockneten, teilweise vom weißen, schwammigen Gewebe des Mesokarps und Endokarps befreiten Epikarp und Mesokarp der reifen Früchte von Citrus aurantium L. ssp. aurantium (Synonym: Citrus aurantium L. ssp. amara Engl.) (Familie: Rutaceae [IIB18d]). Stammpflanzen. Citrus-Arten sind immergrüne Bäume
(6–12 m hoch) mit intensiv dutenden, weißen Blüten, die in tropischen und subtropischen Regionen Asiens beheimatet sind. Heute werden sie in verschiedenen Gebieten der Erde mit ähnlichen klimatischen Bedingungen, z. B. in den Mittelmeerländern, kultiviert. Im Vergleich zur bekannten Apfelsine sind die Früchte der Bitterorange oder Pomeranze klein und dunkelorangefarben; sie zeichnen sich ferner durch eine stark grubige und dicke Schale aus. Zur Drogengewinnung wird die schwammige, weiße Albedoschicht weitgehend entfernt, obwohl gerade sie besonders reich an Bitterstofen ist. Dafür enthält die bevorzugt aus der Flavedoschicht (der äußeren Fruchtwand) bestehende Droge vergleichsweise mehr ätherisches Öl als dem Verhältnis Öl/Bitterstof des Gesamtperikarps entspricht. Sensorische Eigenschaften. Bitterorangenschale hat einen aromatischen Geruch und einen würzigen bitteren Geschmack.
H2C
R
H H2C
CH3
(−)-Limonen
C10H16
H CH3
(+)-Limonen
O OCH3 NH2
CH3−(CH2)n−CHO n = 7: Nonanal n = 8: Decanal n = 10: Dodecanal
Anthranilsäuremethylester
Mengenmäßig dominiert mit etwa 90% im Bitterorangenschalenöl das (+)-Limonen, ein regulär gebautes, monozyklisches Monoterpen mit zitronenartiger Geruchsnote. Für die Charakteristik des Duftes sind aber oft gerade die nur in sehr kleinen oder Spurenmengen vorkommenden Bestandteile wichtig. Aliphatische Aldehyde beispielsweise verleihen dem Bitterorangenschalenöl die frische Note; Anthranilsäuremethylester duftet in starker Verdünnung – an Orangenblüten und Jasmin erinnernd – und verleiht dem Öl auch eine gewisse süße Note
bittere Geschmack der Bitterorangenschale beruht. Die Albedoschicht, die in der Droge möglichst nicht vorliegen soll, enthält bitter schmeckende Limonoide; x Pektin, Carotinoide, zyclische Peptide.
Inhaltsstoffe
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Fingerprintchromatogramm
20 ml u kg–1) mit hauptsächlich (+)-Limonen neben zahlreichen anderen Monoterpenen, wie Citral, Linalool und Linalylacetat, Neryl-, Geranyl- und Citronellylacetat. Die Geruchsnote bestimmen sodann wesentlich aliphatische C9-, C10- und C12-Aldehyde (0,8%) sowie Methylanthranilat ( > Abb. 25.24); x Flavonoide mit Naringin, Neohesperidin ( > Abb. 25.25) und Neoeriocitrin ( > Abb. 26.37), worauf der
(PhEur) der für die Bitterorangenschale typischen Flavonoidglykoside [Fließmittel: Wasser–wasserfreie Ameisensäure–Ethylacetat (10:15:75); Referenzsubstanzen: Naringin, Kafeesäure; Nachweis: Diphenylboryloxyethylamin/ Macrogol 400]. Die Flavonoide werden nach Besprühen mit Diphenylboryloxyethylamin im UV bei 365 nm aufgrund ihrer charakteristischen Fluoreszenzfarben nachgewiesen. Naringin erscheint als dunkelgrün und Neoeriocitrin als rot luoreszierende Zone.
x Ätherisches Öl (1 bis über 2,5%; PhEur = mindestens
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
a
. Abb. 25.25 OH H3C HO
6
HOH2C
O OH
OH β-D-Glucose
OH
HOH2C OH
O a
O
HO HO
6
H3C HO
OH
O
b
O O
HO
OH
2
b
α-L-Rhamnose
H3C HO
O
HO HO
HO
HO HO
O HO
OH
OH
Neohesperidose. Neohesperidoside schmecken stark bitter
Rutinose. Rutinoside sind nicht oder kaum bitter
OCH3
OH O
RO
OH
25
RO
O
O
OH
OH
O
R = H: Hesperetin R = Rutinosyl: Hesperidin
R = H: Naringenin R = Rutinosyl: Naringeninrutinosid
R = Neohesperidosyl: Neohesperidin
R = Neohesperidosyl: Naringin Bitterstoffe
Die Bitterstoffe der Bitterorangenschale gehören zu den Flavonoiden ( > auch Kap. 26.5.4), und zwar zur Untergruppe der Flavanone. Der bittere Geschmack hängt auffallenderweise von der Zuckerkomponente ab. Neohesperidosylderivate schmecken bitter; die isomeren Rutinosylglykoside sind geschmacklich neutral. Naringin bildet farblose Kristalle, die optisch aktiv (linksdrehend) sind; Lösungen schmecken noch in der Verdünnung 1:10.000 bitter. Der Bitterwert des Neohesperidins ist um den Faktor 10 niedriger
Gehaltsbestimmung. Neben dem Gehalt an ätherischem Öl werden (unter Prüfung auf Reinheit) die extrahierbaren Stofe bestimmt (= mindestens 6,0%).
tionspräparaten sind. Auch in Teemischungen und in Sirupen (Bitterorangenschalensirup Helv 10). Dragees und Perlen dürten kaum sinnvoll sein.
Verarbeitung. Zu Tinkturen (Bitterorangenschalentink-
Anmerkung. Die besonders in England beliebte Orangen-
tur PhEur) und Extrakten (eingestellter Bitterorangenluidextrakt Helv 10), die meist Bestandteil in Kombina-
marmelade wird ebenfalls aus Schalen der Bitterorange (Pomeranze), nicht etwa der Apfelsine, hergestellt.
1065
1066
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Wirkung und Anwendung. Aufgrund ihrer angenehmen
sinnesphysiologischen Eigenschaten steigern Zubereitungen aus Pomeranzenschale relektorisch die Magensatsekretion (und möglicherweise auch die Gallensekretion). Anwendung (Kommission E): bei Appetitlosigkeit, dyspeptischen Beschwerden. Hauptsächlicher Verwendungszweck dürte der Einsatz als Geschmackskorrigens sein.
x
Nebenwirkungen. Aufgrund des hohen Limonengehalts
ist eine Photosensibilisierung möglich.
x Römische Kamille Herkunft. Römische Kamille (Chamomillae romanae los
PhEur 5) besteht aus den getrockneten Blütenköpfchen der kultivierten, gefülltblütigen Varietät von Chamaemelum nobile (L.) All. (Synonym: Anthemis nobilis L.) (Familie: Asteraceae [IIB28b]).
x
x
Stammpflanze. C. nobile ist heimisch im südlichen und
westlichen Europa sowie in Nordafrika. Ihr Aussehen ist recht ähnlich dem der Echten Kamille ( > S. 1084). Sie wird ebenfalls 20–50 cm hoch, riecht intensiv aromatisch und hat eine ähnliche Blattform. Sie ist allerdings nicht einjährig, sondern ausdauernd und hat in der Wildform größere Blütenköpfchen als die Echte Kamille. Der Blütenboden ist gefüllt. Die Wildform weist zahlreiche Röhrenund Zungenblüten auf. Zur Drogenzubereitung wird allerdings eine fast nur weiße Zungenblüten bildende Varietät kultiviert. Sensorische Eigenschaften. Römische Kamille hat einen
starken, angenehmen, charakteristischen Geruch [völlig verschieden von dem Geruch der Kamillenblüten, die von Matricaria recutita ( > S. 1084) stammen]. Der Geschmack ist bitter, aromatisch. Sorgfältig getrocknete Ware ist weiß. Licht und Lutfeuchtigkeit bewirken rasch Gelb- oder Braunfärbung. Inhaltsstoffe
x Ätherisches Öl (0,4 bis über 2%; PhEur = mindestens
7 ml u kg–1) mit Mono- und Sesquiterpenen [u. a. entstehen bei der Wasserdampfdestillation wie bei der Echten Kamille geringe Mengen an Chamazulen ( > Abb. 25.37)], ansonsten aber weicht die Zusammensetzung von Kamillenöl der Matricaria recutita völlig ab. Die Zusammensetzung wird durch Ester be-
x
stimmt. Als Säurekomponenten fungieren insbesondere Angelikasäure, Isobuttersäure, Tiglinsäure und Methylacrylsäure, als Alkoholkomponenten (C3-C6Alkohole) Isobutylalkohol, Isoamylalkohol und 3-Methylamylalkohol. Mengenmäßig dominiert der Angelikasäureisobutylester ( > Abb. 25.26); Sesquiterpenlactone (0,6%), vorwiegend vom Germacranolidtyp, insbesondere Nobilin und 3-Epinobilin ( > Abb. 25.27). Sie weisen einen bitteren Geschmack auf und machen damit die Römische Kamille zu einer Bitterdroge; Hydroperoxide [sowohl von Estern als auch von Terpenen abgeleitet (z. B. 1E-Hydroperoxyisonobilin, Formel vgl. > Abb. 25.27)]; Hydroxyzimtsäurederivate, insbesondere Glucoseester und Chinasäurediester der Anthenobilinsäure (2,3-Dihydroxyzimtsäure), z. B. 6-Anthemoylglucose, 1,3-, 1,5- und 3,5-Dianthemoylchinasäure (Tschan Schmitter 1997); Flavonoide, vorwiegend Apigenin- und Luteolinglykoside [z. B. Apigenin-7-O-glucosid und sein 3-Hydroxy-3-methylglutarsäurederivat Chamaemelosid (Tschan et al. 1996; Tschan Schmitter 1997), Luteolin7-O-glucosid, Apiin u. a.]; Polyacetylene, Cumarine, Triterpene, Lipide, Schleimstofe, Cholin.
Analytische Kennzeichnung. DC-Fingerprintchromatogramm (PhEur) der Flavonoide [Fließmittel: Essigsäure 99%–Wasser–1-Butanol (17:17:66); Referenzsubstanzen: Apigenin, Apigenin-7-O-glucosid; Nachweis: Diphenylboryloxyethylamin/Macrogol 400]. Die Flavonoide werden wie bei der Bitterorangenschale ( > oben) nach Besprühen mit Diphenylboryloxyethylamin im UV bei 365 nm aufgrund ihrer charakteristischen Fluoreszenzfarben nachgewiesen. Chamomillae romanae los kann heute am besten mit einer HPLC-Fingerprintmethode identiiziert und auf Reinheit überprüt werden. Die Flavonoide [insbesondere Chamaemelosid (Hauptlavonoid), Apigenin-7-O-glucosid und Apigenin] sowie die Chinasäurediester ergeben ein für die Römische Kamille typisches Proil, das sich von verwandten Arten deutlich unterscheidet. Ebenso können Mischungen mit anderen Kamillenarten, z. B. der Echten Kamille und dem Mutterkraut, erkannt werden (Tschan Schmitter 1997).
25
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
. Abb. 25.26 O
NH2
Transaminierung
COOH
H3C
O
CO2 COOH
H3C
H
H3C
CH3
CH3
CH3
H
Isoleucin
E
Oxidoreduktion
COOH
H3C
H2
CH3 Tiglinsäure
COOH
H3C
+
CH3
CH3 Z
COOH
H
CH3
2-Methylbutanol-1 (ein Gärungsamylalkohol)
2-Methylbuttersäure
H2
CH2 OH
H3C
CH3 Angelikasäure
Analog: H3C
H3C
NH2
CH2 OH H3C
COOH
H3C
H3C
H3C
+
COOH
COOH H3C
H2C
H2
Isobutylalkohol
Valin
CH3 H3C
Leucin
Methacrylsäure
CH3
NH2
COOH
H3C
CH3 CH2 OH
3-Methylbutanol-1 (ein Gärungsamylalkohol)
+ H3C
COOH
Isovaleriansäure
Das ätherische Öl der Römischen Kamille besteht überwiegend aus Estern der Methacryl-, Angelika-, Tiglin- und Isobuttersäure mit aliphatischen C3- bis C6-Alkoholen. Biogenetisch leiten sich sowohl die Säuren als auch die Alkohole von den aliphatischen Aminosäuren Valin, Leucin, Isoleucin und Homologen ab. Von der Hefe weiß man, dass sie Aminosäuren in die um 1 C-Atom ärmeren Alkohole überführt („Fuselöle“ bei der Alkoholgärung). Diese Reaktion führt, von den Aminosäuren ausgehend, über die entsprechenden Ketosäuren unter Decarboxylierung zum nächst niedrigen Aldehyd. Durch Reduktion entsteht der Alkohol. Die Annahme liegt nahe, dass aus dem Aldehyd durch Oxidation die entsprechende Säure entsteht. Hauptkomponente (36%) im Römischen Kamillenöl ist der Ester der Angelikasäure mit dem Isobutylalkohol
1067
1068
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
. Abb. 25.27
CH3
CH3
O
3
O CH2
R CH3
CH3
O O
R = β-OH: Nobilin R = α-OH: 3-Epinobilin R = Keto: 3-Dehydronobilin HOO
CH3
CH2
O
1
O CH2
HO CH3
CH3
O O
1β-Hydroperoxyisonobilin
Die für die Asteraceae typischen Sesquiterpenlactone liegen in der Römischen Kamille als Sesquiterpen-Hydroxyesterlactone vor, die mit Angelikasäure verestert sind. In den Anthemideae dominieren Germacranolide und Guajanolide. In der römischen Kamille kommen v. a. Heliangolide vor, eine Untergruppe der Germacranolide, deren wichtigster Vertreter das Nobilin, ein regulär gebautes monozyklisches Sesquiterpen, ist
Verwendung. Als Schmuckdroge für Teemischungen. Zur
Herstellung von Fluidextrakten und Tinkturen. Zum Aromatisieren der sog. aromatisierten Weine vom Typ der Wermutweine. Gewinnung des Römischen Kamillenöls („essence de camomille romaine“, „oil of chamomile“), das in der Parfümerie sehr geschätzt ist. Wirkungen und Anwendungsgebiete. Römische Kamil-
le ist ein Amarum-Aromatikum mit einer schwach spasmolytischen (Apigeninderivate) und antibakteriellen (u. a. Nobilin, Hydroperoxide) Begleitwirkung. Daneben sind sedative, entzündungshemmende (Sesquiterpenlactone), diuretische, zytotoxische und insektizide (Polyacetylene) Wirkungen (vgl. Tschan Schmitter 1997) sowie kürzlich für Chamaemelosid eine blutzuckersenkende Wirkung (König et al. 1998) nachgewiesen worden. Innerlich (als
Infus) ist die Droge angezeigt bei dyspeptischen Beschwerden, bei Völlegefühl und Blähungen sowie bei leichten krampfartigen Bauchschmerzen. Das Infus verwendet man auch zu Spülungen bei Entzündungen im Mund- und Rachenraum. Die Römische Kamille hat – mit zusätzlicher Bitterwirkung aufgrund der Sesquiterpenlactone vom Typus des Nobilins – dieselben Anwendungsgebiete wie die Echte Kamille. Sie wird besonders in Westeuropa (Großbritannien, Frankreich, Belgien) an Stelle der Echten Kamille verwendet. Gemäß Kommission E ist die Wirksamkeit der Römischen Kamille bei den beanspruchten Gebieten nicht belegt, weshalb eine therapeutische Anwendung nicht befürwortet werden kann. Unerwünschte Wirkungen. Mit allergischen Reaktionen vom verzögerten Typ (Kontaktdermatitiden) muss in Einzelfällen gerechnet werden, da Sesquiterpenlactone mit einer exozyklischen Methylengruppe im Lactonteil des Moleküls (z. B. Nobilin) in der Droge vorkommen. Die Sensibilisierungspotenz ist mittelstark, die Häuigkeit selten (Hausen u. Vieluf 1998).
! Kernaussagen
In Kap. 25.4.1 sind Ätherischöldrogen zusammengefasst, die in erster Linie als Stomachika (Bittermittel) bzw. Amara-Aromatika (aromatische Bittermittel) verwendet werden. Die in den Amara-Aromatika kombiniert vorliegenden Geruch- und Geschmackstoffe lösen Reflexe aus, die über den N. vagus die Magensaftsekretion in Gang bringen. Neben der Bitterwirkung haben die Stomachika eine leichte spasmolytische und eine antibakterielle Wirkung. Sie werden bei Dyspepsie, einem Beschwerdenkomplex mit Appetitlosigkeit, Übelkeit, Druck- und Völlegefühl im Oberbauch, mit Aufstoßen, Sodbrennen und schlechtem Geschmack im Mund, angewendet. Eine Ausnahme bilden Hopfenzapfenpräparate, die in Kombinationen mit Baldrian- bzw. Melissenextrakten zur Behandlung von nervös bedingten Einschlafstörungen und Unruhezuständen verwendet werden. Die dafür verantwortlichen Inhaltsstoffe sind nicht bekannt. Ihre Wirksamkeit bei diesen Indikationen wird kontrovers diskutiert (vgl. dazu auch unter Baldrianwurzel; Kap. 23.3.4).
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
25
Schlüsselbegriffe Acoragermacron Acoron Acorus calamus Amara-Aromatika Angelikasäureisobutylester Anthemis nobilis Appetitlosigkeit E-Asaron Ätherisches Öl Aurantii amari epicarpium et mesocarpium Bitterdroge Bitterorangenschale D-Bittersäuren E-Bittersäuren Calami rhizoma
Chamaemelum nobile Chamomillae romanae flos cis-Isoasaron Citrus aurantium Dyspeptische Beschwerden Epinobilin Fixe Kombinationen Geschmackskorrigens Hopfenzapfen Humulone Humulus lupulus Hydroxyperoxide Isoacoron Kalmus Kalmuswurzelstock Kontaktdermatitis
Über Salbeiblätter und dreilappiger Salbei sowie über Wermutkraut, die auch als Amara-Aromatika verwendet werden, > Kap. 25.6.3 bzw. S. 870.
25.4.2
Cholagoga
Arzneidrogen mit sensorisch aufallenden Inhaltsstofen – ätherischem Öl, Bitterstofen, Scharfstofen – stimulieren nicht nur Speichelluss und Magensatsekretion; der stimulierende Efekt kann sich auch auf den Gallenluss und auf die Ausscheidung von Verdauungsenzymen des Pankreas erstrecken. Arzneistofe, die eine Ausschüttung von Gallenlüssigkeit in den Darm induzieren, nennt man Cholagoga. Infobox Cholagoga. Cholagoga – wörtlich: gallentreibende Mittel – unterteilt man gewöhnlich in die Choleretika und in die Cholekinetika. Choleretika regen den Gallenfluss aus der Leber an; Cholekinetika führen zu einer Kontraktion der Gallenblase und damit zu einer Entleerung der gespeicherten Gallenflüssigkeit ins Duodenum. Oder anders: Choleretika führen zur Ausscheidung einer dünnflüssigen Lebergalle, Cholekinetika zur Ausscheidung einer dickflüssigen Blasengalle. In sehr vielen Fällen ist nicht bekannt, ob der Arzneistoff cholekinetisch oder choleretisch wirkt; daher ist es sinnvoll, den Terminus Cholagoga als übergeordneten Begriff beizubehalten.
6
Limonen Lupuli flos Lupulone Monoterpene Nobilin Phenylpropane Römische Kamille Sesquiterpene Shyobunone Stomachika Toxikologie von E-Asaron Wirkungen (antimikrobiell, antioxidativ, schlaffördernd, spasmolytisch) Xanthohumol
Die Konzentrationen, in denen pflanzliche Cholagoga eingenommen werden, sind – verglichen mit den synthetischen Choleretika oder mit der partialsynthetischen Dehydrocholsäure – gering. Man muss zur Erklärung der Wirksamkeit eine Verstärkung durch körpereigene Mechanismen postulieren. Die Gallensekretion wird durch verschiedene Reize stimuliert, z. B. auf humoralem Weg, durch die Nahrungsaufnahme, Gallensäuren, erhöhtes Blutangebot sowie Einfluss des Nervensystems. Es liegt nahe, an die Ausbildung von bedingten Reflexen via N. vagus – induziert durch sensorische Reize – zu denken (vgl. Gürtler et al. 1989). Cholagoga werden, insbesondere in Form von Kombinationspräparaten, noch viel verwendet, allerdings vorzugsweise bei unklaren Oberbauchbeschwerden mit Völlegefühl, Druck im Oberbauch und Blähungen. Die Anwendungsgebiete der Cholagoga decken sich weitgehend mit denjenigen der Stomachika und der Carminativa.
Boldoblätter Herkunft. Boldoblätter (Boldi folium PhEur 5, revidiert
5.1, korrigiert 5.3) bestehen aus den getrockneten Blättern von Peumus boldus Molina (Familie: Monimiaceae [II5a]). Die Stammplanze ist ein aus Chile stammender, etwa 6 m hoch werdender immergrüner Baum oder Strauch mit ledrigen Blättern.
1069
1070
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Sensorische Eigenschaften. Beim Zerreiben riechen
. Abb. 25.28
Boldoblätter eigenartig würzig, etwas an Phenol erinnernd. Sie schmecken brennend würzig, etwas bitter.
O
O 8
1
CH3 H3C H3C
Inhaltsstoffe
x Ätherisches Öl (2,0–2,6%; PhEur = höchstens 40,0 ml
u kg–1) mit je nach regionaler Herkunt sowie jahreszeitlich sehr variabler Zusammensetzung. Gemäß Vogel et al. (1999) enthalten Blätter aus Nordchile vorwiegend Ascaridol (27–50%; > Abb. 25.28), solche aus Südchile daneben p-Cymen. Nach Vila et al. (1999) sind die Hauptbestandteile (bis über 90%) Monoterpene mit vorwiegend Limonen, p-Cymen, 1,8-Cineol und E-Phellandren, während Ascaridol nur in sehr kleiner Menge (1,0%) gefunden wurde; x Aporphinalkaloide (0,2–0,5%; PhEur = mindestens 0,1% Gesamtalkaloide, berechnet als Boldin; > Abb. 25.28), ferner Isoboldin, Laurotetanin, N-Methyllaurotetanin, Isocorydin, Isocorydin-N-oxid u. a. Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Nachweis (PhEur) von Boldin
[Fließmittel: Diethylamin–Methanol–Toluol (10:10:80); Referenzsubstanz: Boldin, Scopolaminhydrobromid; Nachweis: Dragendorfs-Reagenz R 2 und Natriumnitritlösung]. Boldin erscheint im Tageslicht als braune Zone. Weitere braune bis gelbe Zonen werden als Fingerprintchromatogramm beschrieben.
H3C
O 8
1
CH3
CH3 1,8-Cineol C10H18O (=Eucalyptol)
Ascaridol (endo-Konfiguration)
CH3
CH3 HO−OH 1,4-Cycloaddition
H3C
O
H3C
CH3
α-Terpinen C10H16
O
CH3
Ascaridol (Strukturformel) C10H16O2
HO N
H3CO
CH3
H
H3CO OH Boldin C19H21NO4
Gehaltsbestimmung. Neben der Bestimmung des Gehalts an ätherischem Öl (unter Prüfung auf Reinheit) lässt das Arzneibuch die Gesamtalkaloide mit Boldin CRS als externem Standard mit der HPLC unter Einsatz von octadecylsilyliertem Kiegelgel (5 µm) unter isokratischen Bedingungen bestimmen (vgl. dazu Betts 1990). Verarbeitung. Zu Extrakten, auch Sprühtrockenextrak-
ten; Weiterverarbeitung zu Dragees, Granulaten und sofortlöslichen Tees. Zur Gewinnung des ätherischen Öls, das in der Parfümerie verwendet wird (Boldo absolut, Superessence Boldo). Wirkungen. Extrakte aus Boldoblättern ergaben in Unter-
suchungen an Mäusen und Ratten hepatoprotektive, entzündungshemmende und antioxidative Wirkungen, während eine choleretische Wirkung nicht nachgewiesen werden konnte (Lanhers et al. 1991; Speisky et al. 1991). Die Gesamtwirkung eines Boldoextrakts muss in erster Linie
Im ätherischen Öl der Peumus-boldus-Blätter kommt neben 1,8-Cineol und p-Cymen (Formel > Abb. 25.47) Ascaridol vor. Ascaridol weist das Kohlenstoffskelett der Terpinene (monozyklisch, regulär) auf; es stellt ein organisches Peroxid dar. Biogenetisch kann man es sich als ein Diels-Alder-Addukt von O2 an α-Terpinen vorstellen, womit auch die Endokonfiguration im Einklang steht. Die Wirkung der Boldoblätterextrakte kommt weniger durch das ätherische Öl als durch Boldin und ähnliche Nebenalkaloide zustande. Bei Boldin handelt es sich um ein Aporphinalkaloid mit (S)-Konfiguration [(S)-2,9-Dihydroxy1,10-dimethoxyaporphin]
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
dem Boldin zugeschrieben werden. Reines Boldin erwies sich als potenter Radikalfänger (Hydroxyl-, Lipid- und Peroxidradikale), worauf seine zytoprotektiven, hepatoprotektiven und antioxidativen Wirkungen beruhen (vgl. Übersicht von Speisky u. Cassels 1994; Backhouse et al. 1994; Gotteland et al. 1997; Kang u. Cheng 1998). Anwendungsgebiete. Verwendet werden Boldoextrakte
als Bestandteil planzlicher Kombinationspräparate der Indikationsgruppe „Cholagoga und Gallenwegstherapeutika“. Die Kommission E nennt als Anwendungsgebiete leichte krampfartige Magen-Darm-Störungen und dyspeptische Beschwerden, ESCOP zusätzlich leichte hepatobiliäre Funktionsstörungen.
25
cuma-domestica-Rhizome werden Curcuma-xanthorrhiza-Rhizome nicht gebrüht, sodass sie keine verkleisterte Stärke enthalten. Stammpflanze. Nach dem internationalen Code der Bo-
tanischen Nomenklatur (ICBN) ist die wissenschatlich richtige Schreibweise der Stammplanze der Javanischen Gelbwurz Curcuma zanthorrhiza. In der phytochemischen und pharmazeutischen Literatur hat sich die ethnologisch korrekte (griech.: xanthos [gelb]) Schreibweise xanthorrhiza eingebürgert. Sensorische Eigenschaften. Die Droge hat einen aroma-
tischen Geruch und einen leicht bitteren Geschmack. Beim Kauen färbt sie den Speichel gelb.
Unerwünschte Wirkungen. Gemäß Kommission E sind
keine Nebenwirkungen bekannt. Obwohl eine kurzfristige Anwendung von Boldopräparaten risikofrei ist, stellt sich allerdings die Frage, ob nicht besser darauf verzichtet werden sollte, da es eine Reihe anderer planzlicher Arzneidrogen mit cholagogen Eigenschaten gibt, die – anders als Boldoblätter – keine gitigen Bestandteile (Ascaridol) enthalten. Als mögliche Variante müssten ascaridolarme Extrakte gefordert werden. Ascaridol, das früher in Form des amerikanischen Wurmsamenöls, (Aetheroleum chenopodii, von Chenopodium ambrosioides L.) als Wurmmittel viel verwendet wurde, wirkt hyperämisierend auf die Schleimhäute des Magen-DarmTrakts; in höheren Dosen entzündungserregend. Bei Überdosierung ist das Zentralnervensystem betrofen: Erste Warnzeichen sind Ohrensausen; dann folgen Gehstörungen, Benommenheit und Koordinationsstörungen. Auch Leberschäden wurden beschrieben. Langzeitanwendung über mehrere Wochen führt zu psychischen Alterationen, Farb- und Tonhalluzinationen und Sprachstörungen.
Javanische Gelbwurz Herkunft. Javanische Gelbwurz (Curcumae xanthorrhizae rhizoma PhEur 5), besteht aus den in Scheiben geschnittenen, getrockneten Wurzelstöcken von Curcuma xanthorrhiza Roxb. (Synonym: C. xanthorrhiza D. Dietrich) (Familie: Zingiberaceae [IIA10a]). C. xanthorrhiza, auch als Temu lawak bzw. Temoe lawak bezeichnet, ist im tropischen Südostasien heimisch und wird in tropischen und subtropischen Gebieten angebaut. Anders als die Cur-
Inhaltsstoffe
x Ätherisches Öl (3–12%; PhEur = mindestens 50 ml
u kg–1) mit den monozyklischen Bisabolentyp-Sesquiterpenen (–)-ar-Curcumen und Xanthorrhizol ( > Abb. 25.29) als Hauptkomponenten, daneben E-Curcumen, Germacron und andere Substanzen (Zwaving u. Bos 1992); x Curcuminoide [1–2%; PhEur (DicinnamoylmethanDerivate) = mindestens 1,0%], insbesondere Curcumin (Curcumin I, Diferuloylmethan) und Monodemethoxycurcumin (Curcumin II, p-Cumaroylferuloylmethan) ( > Abb. 25.29), ferner nichtphenolische Diarylheptanoide; x Stärke (30–40%), Mineralstofe.
Curcumawurzelstock Herkunft. Curcumawurzelstock (Curcumae longae rhi-
zoma DAC 2003) besteht aus den nach dem Ernten gebrühten und getrockneten Wurzelstöcken von Curcuma domestica Val. (Synonym: C. longa L.) (Familie: Zingiberaceae [IIA10a]), die in weiten Teilen Ostasiens und Afrikas kultiviert wird. Das frische Rhizom lässt sich nur schlecht trocknen. Das von einer dicken Korkschicht umgebene innere Gewebe gibt das Wasser nur schwer ab, weshalb man die Wurzelstöcke vor dem Trocknen abbrüht (kocht). Durch das heiße Wasser verkleistert die massenhat vorhandene Stärke, sodass die Droge nach dem Trocknen eine „hornartige“ Beschafenheit aufweist. Auch diffundieren die gelben Farbstofe aus den Idioblasten und färben den Querschnitt gleichmäßig gelb.
1071
1072
25 . Abb. 25.29
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
CH3
CH3
CH3 HO
R
H3C
H3C H3C
H3C
CH3
H3C
β-Curcumen C15H24
CH3
(−)-ar-Curcumen C15H22 O
H3C
CH3
Xanthorrhizol C15H22O (Hydroxy-ar-curcumen)
O
R1
R2 H
Diketoform
H
HO
OH
O
H
O
R1
R2 Keto-Enol-Form H
HO
R1 Curcumin Monodemethoxycurcumin Bisdemethoxycurcumin
OH R2
OCH3 OCH3 OCH3 H H H
Die charakteristischen Bestandteile des ätherischen Öls der Javanischen Gelbwurz (Curcuma-xanthorrhiza-Rhizom) sind mit denen des Curcumawurzelstocks (Curcuma-domestica-Rhizom) chemisch eng verwandt. Es handelt sich um Sesquiterpene des Bisabolentyps. Artspezifisch ist das Xanthorrhizol, das im ätherischen Öl anderer Curcuma-Arten nicht vorkommt. Xanthorrhizol ist ein Phenol, das dem Carvacrol vergleichbar aufgebaut ist. Die Curcuminoide sind nichtflüchtige, gelborange gefärbte Stoffe (Farbstoffe der Droge). Es handelt sich dabei um Dicinnamoylderivate bzw. phenolische Diarylheptanoide, die prinzipiell in einer Diketo- oder in einer Keto-Enol-Form vorliegen können. Alle Curcuminoide liegen überwiegend in der durch eine Wasserstoffbrücke stabilisierten Keto-Enol-Form vor (vgl. Übersicht von Hänsel 1997)
Sensorische Eigenschaften. Schwacher, an Ingwer erin-
nernder Geruch. Die Geruchsnote wird entscheidend von den Turmeronen ( > Abb. 25.30) geprägt. Der Geschmack ist brennend bitter. Beim Kauen wird der Speichel wie bei der Javanischen Gelbwurz gelb gefärbt. Inhaltsstoffe
x Ätherisches Öl (2–7%; DAC = mindestens 25 ml u kg–1) mit den Bisabolentyp-Sesquiterpenketonen arTurmeron sowie D- und E-Turmeron ( > Abb. 25.30)
als Hauptkomponenten, daneben Turmerol, E-Curcumen u. a. Substanzen (Zwaving u. Bos 1992); x Curcuminoide [3–5%; DAC (Dicinnamoylmethan-Derivate) = mindestens 2,5%], insbesondere Curcumin, Monodemethoxycurcumin und Bisdemethoxycurcumin (Curcumin III, Di-p-Cumaroylmethan; fehlt in der Javanischen Gelbwurz; Formeln > Abb. 25.29), daneben weitere Diarylheptane und Diarylpentane; x Reservestofe (Stärke 30–40%, Zucker, Polysaccharide (Glykane Ukonan A-D), fettes Öl), Mineralstofe.
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
. Abb. 25.30 H
CH3
H
25
Domestica-Droge auf Verfälschung mit C. xanthorrhiza (Abwesenheit von Xanthorrhizol) geprüt.
CH3
Gehaltsbestimmung. Neben der Bestimmung des GeH3C
O
H2C
CH3
H3C
O CH3
H3C β-Turmeron C15H22O
α-Turmeron C15H22O CH3
H
CH3
halts an ätherischem Öl wird bei beiden Drogen auf spektrophotometrischem Wege der Gehalt an Dicinnamoylmethanderivaten ermittelt. Als Alternative, die auch eine eindeutigere Aussage bei der Prüfung auf das Vorliegen einer Verfälschung ergibt, bietet sich heute die HPLC (vgl. z. B. Tønnesen et al. 1991) oder die Kapillarelektrophorese an (Lechtenberg et al. 2004). Wirkungen. Javanische Gelbwurz und Curcumawurzel-
H3C
O H3C
ar-Turmeron C15H20O
CH3
H3C H3C
CH3
(−)-α-Zingiberen C15H24
Die Hauptkomponenten des ätherischen Öls des Curcumawurzelstocks sind ebenfalls Sesquiterpene vom Bisabolentyp, vorwiegend Sesquiterpenketone. Die eigenartige Geruchsnote der Droge beruht auf dem Vorkommen von α- und β-Turmeron und ar-Turmeron. Durch diese charakteristischen Bestandteile lässt sich eine Verfälschung der Javanischen Gelbwurz mit Domestica-Droge durch GC oder HPLC gut nachweisen
stock weisen durch den Gehalt an ätherischem Öl und Curcuminoiden eine choleretische und cholecystokinetische Wirkung auf. In einer neueren Arbeit konnte die choleretische Wirkung von Curcumin und Bisdemethoxycurcumin nachgewiesen werden, wobei die stärkere Wirkung durch Bisdemethoxycurcumin verursacht wurde (Siegers et al. 1997). Curcumazubereitungen in Form von Tee oder von Liquidapräparaten haben einen gewissen Amarum-Aromatikum-Charakter. Der angenehme Geschmack führt, so darf man annehmen, zu einer vermehrten Speichelsekretion, die ihrerseits durch relektorische Mechanismen mit der Stimulation anderer sekretorischer Drüsen, insbesondere der Bauchspeicheldrüse, einherzugehen plegt (vgl. Übersichten von Maiwald u. Schwantes 1991; Hänsel 1997). Auf weitere Wirkungen wird unter „Curcuminoide“ eingegangen.
Analytische Kennzeichnung. Die beiden Drogen, Curcu-
ma-xanthorrhiza-Rhizom und Curcuma-domestica-Rhizom, ähneln sich weitgehend in der chemischen Zusammensetzung; andererseits bestehen aber quantitative und qualitative Unterschiede. Das Curcuminoidspektrum und die Xanthorrhizolführung können zur Unterscheidung der beiden verwandten Drogen dienen. Prüfung auf Identität und Reinheit. DC-Nachweis
(PhEur und DAC) der Curcuminoide [Fließmittel: Essigsäure 99%–Toluol (20:80); Referenzsubstanzen: Fluorescein, hymol (PhEur) bzw. Fluorescein, Curcumin, hymol (DAC); Nachweis: Dichlorchinonchlorimid-Reagens/ Ammoniakdämpfe (PhEur/DAC). Auf dem DC von Extrakten sind bei Xanthorrhiza-Herkünten 2, bei Domestica-Herkünten 3 Curcuminoide zu erkennen (Farbe: gelblichbraun bis braun). Bei der Prüfung auf Reinheit wird bei der Xanthorrhiza-Droge auf Verfälschung mit C. domestica (Abwesenheit von Bisdemethoxycurcumin), bei der
Metabolismus. Pharmakokinetische Studien für Curcuma-Gesamtextrakte liegen nicht vor. Anwendungsgebiete. Zur Behandlung dyspeptischer Be-
schwerden (Kommission E). Während früher die Domestica-Droge in erster Linie als Farbstofdroge und Gewürz (Currypulver) und die Xanthorrhiza-Droge zur Behandlung von Leber- und Gallenleiden verwendet worden ist, was mit der teilweise unterschiedlichen Curcuminoidführung begründet wurde, sind heute beide Drogen aufgrund der Inhaltsstofe als gleichwertig anzusehen. Als Anwendungsgebiete kommen ähnlich wie bei der Pfeferminze Magen-Darm-Galle-Beschwerden in Frage. ESCOP führt bei Curcumawurzelstock als zusätzliche Indikation kleinere biliäre Funktionsstörungen an.
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25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Curcuminoide
et al. 2004) berichtet (vgl. dazu auch Infobox „Demenz“; S. 1226).
Wirkungen und Wirkungsmechanismen. Curcuminoide
(vgl. > Abb. 25.29) sind die Hauptwirkstofe der Javanischen Gelbwurz und von Curcumawurzelstock. In der letzten Dekade gehören sie zu den am intensivsten wissenschatlich untersuchten Naturstofen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass in der Literatur eine kaum mehr überblickbare Anzahl von Publikationen über Wirkungen und mögliche Wirkungsmechanismen von Curcumin bzw. Curcuminoiden erschienen sind. Die in der Literatur beschriebenen Hauptwirkungen sind: x Förderung der Verdauung, Stimulation der Cholerese, Verbesserung der Gallensekretion; x lipidsenkende Eigenschaten, Verhinderung der LDLOxidation; x antioxidative, radikalfangende und entzündungshemmende Efekte; x Unterdrückung von Symptomen im Zusammenhang mit Diabetes Typ 2, rheumatoider Arthritis, Alzheimer-Krankheit u. a.; x Antitumorwirkung. Die größte Anzahl der neueren Publikationen befasst sich mit der entzündungshemmenden, chemopräventiven und antikarzinogenen Wirkung von Curcumin und Curcuminderivaten. Die sowohl in vitro als auch in vivo nachgewiesenen Efekte von Curcumin auf Zellwachstum und Zelltod verschiedener menschlicher und tierischer Zelltypen, auf verschiedene Enzyme, Faktoren sowie Signaltransduktionswege sind bei Aggarwal (2003) tabellarisch zusammengefasst. Beispiele molekularer Angrifspunkte der Curcuminoide im Zusammenhang mit der Antitumorwirkung sind in der > Abb. 25.31 aufgeführt. Die Kanzerogenese steht auch im Zusammenhang mit entzündlichen Prozessen und der Entstehung von reaktiven Sauerstofspezies (ROS), daher beschätigen sich viele neue Arbeiten über Curcumin mit der antioxidativen und antiphlogistischen Wirkung. Dazu sei auf die zitierten Übersichtsarbeiten verwiesen. Zum Problemkreis „Freie Radikale und Kanzerogenese“ vgl. Kap. 15.4.7. In neuesten Arbeiten wird ferner über eine mögliche Korrektur (bei Mäusen) eines defekten Allels bei der cystischen Fibrose [Mutation ∆F508 im Cystic Fibrosis Transmembrane Conductance Regulator (CFTR)] durch Curcumin (vgl. z. B. Egan et al. 2004) und der Hemmung der Produktion von E-Amyloid-Fibrillen (in vitro und in vivo) bei der Alzheimer-Krankheit (vgl. Übersicht von Cole
Metabolismus. Schon seit längerer Zeit ist bekannt, dass Curcumin während der Absorption in Metaboliten umgewandelt wird. Die Substanz wird durch ein endogenes Reduktasesystem schrittweise reduziert und anschließend glucuronidiert. Hauptmetaboliten sind Curcumin-, Dihydrocurcumin- und Tetrahydrocurcuminglucuronid sowie Tetrahydrocurcumin. Der Abbau von Curcumin scheint pH-abhängig zu sein (Pan et al. 1999). Die Bioverfügbarkeit von Curcumin nach oraler Verabreichung ist sehr gering. Medizinisches Potential von Curcumin. In einer großen
Anzahl von In-vivo-Studien konnte eine Tumorprävention und Reduktion der Tumorinzidenz bei verschiedenen Krebsarten nachgewiesen werden. Dazu sei auf neuere Übersichten verwiesen (z. B. Aggarwal 2003, Joe et al. 2004 und darin zitierte Literatur). Klinische Studien zur Chemoprävention (Phase I) haben ergeben, dass die Substanz bis zu einer Dosis von 8 g/Tag nicht toxisch ist. Aufgrund der vorliegenden wissenschatlichen Arbeiten handelt es sich bei Curcumin um eine Substanz, die theoretisch aufgrund der Beeinlussung einer Reihe von Signalkaskaden und Zellregulationsmechanismen mit verschiedenen zentralen Proteinen des menschlichen Körpers interagieren und damit auch auf die Ätiologie von Krankheiten Einluss haben kann. Die biochemischen, molekularbiologischen und pharmakologischen Forschungsanstrengungen der letzten Jahre haben eine große Anzahl neuer Kenntnisse über mögliche Wirkungsmechanismen der Substanz gebracht. Ob es sich bei den bisherigen positiven Resultaten um eine Überbewertung von Laborstudien handelt (vgl. dazu Kap. 15.1.4) oder ob daraus klinisch relevante Wirkungen abgeleitet werden können, ist zurzeit schwierig zu beurteilen, das kann erst in klinischen Studien nachgewiesen werden ( > dazu auch Infobox „Tumorhemmendes Potential von Planzenstofen“; S. 979). Hofnung dazu besteht aufgrund epidemiologischer Studien auf dem indischen Subkontinent, wo Curcuma eine große Rolle in der täglichen Ernährung spielt. Diese haben ergeben, dass in Indien Kolon-, Brust-, Prostata- und Lungenkarzinome im Gegensatz zu Europa und Amerika relativ wenig vorkommen. Zur Vorbeugung der Alzheimer-Krankheit beindet sich Curcumin in einer klinischen Studie Phase II (Cummings 2003).
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
25
. Abb. 25.31
Molekulare Angriffspunkte und Effekte von Curcumin (nach Übersichten von Aggarwal 2003; Dorai und Aggarwal 2004 und seither publizierter Arbeiten). Curcumin (Gemisch von Curcumin I, I, III) ist ein Hemmstoff verschiedener Enzyme, Proteine, Faktoren und Signaltransduktionswege, die mit der Entstehung von Krebs in Zusammenhang stehen. Curcumin hemmt die Aktivität verschiedener Proteinkinasen (u. a. PKC, PKA, PKB, PTK, PI3K, MAPK, JNK, Jak-STAT, cdks) sowie die Expression von Cyclin D1, MDR-1, Wachstumsfaktoren wie EGF, HER2 und VEGF und damit die Angiogenese. Curcumin hemmt bzw. unterdrückt das Zellwachstum und induziert den Zelltod [u. a. durch Cytochrom-c-Freigabe, Bid-, Bax-Aktivierung, PARP-Spaltung, Caspase-Aktivierung (3, 8, 9), Hemmung antiapoptotischer Proteine wie Bcl-2, Bcl-xL] einer großen Anzahl von menschlichen und tierischen Tumorzellen, aktiviert Antionkogene wie z. B. das p53 Protein, verursacht die Abregulierung von Transkriptionsfaktoren/Signalwegen [z. B. NF-κB (IκBα-Kinase), AP-1, Erg-1, c-jun, c-fos, c-myc] und der damit verbundenen Hemmung der Expression von COX-2, iNOS, ROS, MMP-9, TNF, Chemokinen und Zell-Adhäsionsmolekülen. AP-1 Transkriptionsfaktor Aktivatorprotein-1; Bcl-2, Bcl-xL bzw. Bax, Bid antiapoptotische bzw. proapoptotische Proteine der Bcl-2-Familie; Caspasen 3,8,9 apoptotische Effektor- bzw. Initiatorcaspasen; cdks cyclinabhängige Kinasen; c-jun, c-fos, c-myc Transkriptionsfaktoren; COX-2 Cyclooxigenase-2; Cyclin D1 Zellzyklusprotein; EGFR „epidermal growth factor receptor“; Egr-1 Transkriptionsfaktor „early growth response-1“; HER2 HER2-Neu-Onkogen; IκBα Inhibitor von NF-κB; iNOS induzierbare Nitroxidsynthase; Jak/STAT „Janus kinase 1/Signal transducer and activator of transcription“ (Signalweg); JNK c-jun N-terminale Kinase; MAPK Mitogen-aktivierte Proteinkinasen; MDR-1 „multi-drug resistance gene 1“; MMP-9 Matrix-Metalloproteinase-9; NF-κB Transkriptionsfaktor „nuclear factor κB"; p53 Protein Antionkogen; PARP Poly(ADP)ribosepolymerase (Caspasesubstrat); PI3K Phosphatidylinositol-3-kinase; PKA, PKC Proteinkinasen A, C; PKB Serin-Threonin-Proteinkinase; PTK Proteintyrosinkinase; ROS Reaktive Sauerstoffspezies; TNF Tumornekrosefaktor; VEGFR vaskularer entdothelialer Wachstumsfaktorrezeptor
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Pfefferminzblätter Herkunft. Pfeferminzblätter (Menthae piperitae folium PhEur 5) bestehen aus den getrockneten Blättern von Mentha u piperita L. (Familie: Lamiaceae [IIB23d]). Die Droge stammt ausschließlich aus Kulturen. Stammpflanze. Mentha u piperita ist keine natürliche,
taxonomisch wohlumgrenzte Art, sondern eine durch Kreuzung aus mentholarmen und mentholfreien Eltern herausgezüchtete Kulturform. Ausgangsarten sind die Wasserminze (M. aquatica L.) und die grüne Minze (M. spicata L.). Die grüne Minze ist ihrerseits genetisch uneinheitlich. Sie ist selbst ein Bastard zwischen M. longifolia und M. rotundifolia. Die Pfeferminze ist somit ein Tripelbastard. Als Produkt einer Kreuzung zwischen 2 verschiedenen Arten kann die Vermehrung nur vegetativ durch Kopfstecklinge (Stolonen) erfolgen. Die Stammplanze Mentha u piperita ist im Verlauf der Zeit durch Anbau und Selektionierung der Planzen mit dem schönsten Wuchs, dem größten Ölgehalt usw. so weit verändert worden, dass die heute angebaute Pfeferminze den ehemals entstandenen Bastarden relativ wenig gleicht. Durch den Anbau sind mehrere morphologisch und chemisch verschiedene Typen und Formen entstanden, die alle ein mentholreiches ätherisches Öl enthalten. Den heute kultivierten Formen der Pfeferminze lassen sich 2 Gruppensorten zuordnen, die in Deutschland als Typ „Mitcham-Minzen“ und als Typ „Pfälzer Pfeferminzen“ bekannt sind, im angelsächsischen Sprachraum als „black mint“ und als „white mint“. Die Gruppensorte „MitchamMinze“ wird taxonomisch als Mentha piperita (L.) Huds. var. ofcinalis Sole forma rubescens Camus klassiiziert, die grünen Pfeferminzen vom Typ „Pfälzer Minze“ analog als Mentha piperita (L.) Huds. var. oicinalis Sole forma pallescens Camus. Die Mitcham-Minzen sind durch ihre violett angelaufenen Blattnerven und Stängel gekennzeichnet. Sie stehen phänotypisch der Wasserminze näher als die grünen Pfeferminzen: Sie sind ertragreich, winterhart und liefern eine ölreiche Droge mit Ölgehalten meist über 1,7% (ml/100 g). Kulturen beinden sich in allen gemäßigten Klimazonen der Erde. Demgegenüber werden die grünen Pfeferminzen vom Typus der Pfälzer Minze vergleichsweise selten angebaut. Diese Sorte ist grünblättrig und ähnelt stärker der grünen Minze (M. spicata). Ihr Ölgehalt ist zwar geringer, jedoch im Geschmack milder, weshalb sie bei Verwendung als Teeaufguss der MitchamMinze vorzuziehen ist.
Sensorische Eigenschaften. Pfeferminzblätter besitzen einen charakteristischen Geruch (nach Menthol); sie schmecken zunächst brennend würzig, wobei sich rasch ein kühlender Nachgeschmack ausbildet. Inhaltsstoffe
x Ätherisches Öl [0,5–4%; PhEur = mindestens 12 ml u kg–1 (aus ganzen Blättern bestehende Droge) bzw. 9 ml u kg–1 (geschnittene Droge)] mit (–)-Menthol (Formel > Abb. 25.48 und 25.55) als charakteristischer Hauptkomponente ( > auch unter Kap. 25.6.2, Pfeferminzöl; vgl. Übersicht von Wichtl 2004 und darin zitierte Literatur). Die Ölbestandteile liegen in der Planze in kleinen Mengen glykosidisch gebunden vor; x Labiatengerbstofe (3,5–4,5%), u. a. vom Typ der Rosmarinsäure (Formel > Abb. 26.12), außerdem freie Phenolcarbonsäuren (u. a. Kafeesäure, Chlorogensäure); x Flavonoide, darunter Flavonoidglykoside (8,6–17,8%; mit dem Hauptglykosid Eriocitrin (= Eriodictyol-7-Orutinosid; 6,6–15,0%), ferner Luteolin-7-O-rutinosid, Luteolin-7-O-glucosid, Apigenin-7-O-rutinosid, Hesperidin u. a. Daneben kommen verschiedene hochmethylierte Flavonoidaglykone vor; x Triterpensäuren (u. a. Ursolsäure, Oleanolsäure), Sterole, Lipide, Carotinoide, mineralische Bestandteile. Analytische Kennzeichnung. DC-Fingerprintchromato-
gramm (PhEur) mit Nachweis der charakteristischen Terpene des Pfeferminzöls [Fließmittel: Ethylacetat–Toluol (5:95); Referenzsubstanzen: Menthol, Cineol, hymol, Menthylacetat; Nachweis: UV 254 nm, Anisaldehydreagens]. Die Hauptauswertung des Chromatogramms erfolgt im Tageslicht nach Besprühen mit dem Anisaldehydreagens. Die intensivsten Zonen entsprechen dem Menthol (dunkelblau bis violett) und dem Menthylacetat (blauviolett). Weitere, schwächer gefärbte Zonen werden in Relation zu den Referenzsubstanzen beschrieben, u. a. auch solche für Carvon und Pulegon, 2 Substanzen, deren Vorkommen früher als Hinweis einer Verfälschung mit Krauseminzblätter bzw. Poleiminzkraut angesehen worden ist. Eindeutigere Resultate als mit der DC können durch Aufnahme eines chromatographischen Proils mit der GC erhalten werden, wie von der PhEur bei Pfeferminzöl unter Prüfung auf Reinheit gefordert wird (vgl. Kap. 25.6.2).
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
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Verwendung. Als Concisdroge oder als grobes Pulver (im
Anwendung. Pfeferminzöl zeigt annähernd die gleichen
Filterbeutel) zur Infusbereitung; zusammen mit anderen Drogen als industriell hergestellte Teemischung, hier ot nur als Geschmackskorrigens; sprühgetrocknete Extrakte und Extraktmischungen als sofortlösliche Tees; Trockenextrakte für Kombinationspräparate der Indikationsgruppen: Gallenmittel, Magen-Darm-Mittel und planzliche Sedativa-Nervina. Die Droge ist ferner Ausgangsmaterial zur Gewinnung des Pfeferminzöls. Minze wird auch als Küchengewürz verwendet, so in der englischen „mint sauce“.
physiologischen, pharmakologischen und toxikologischen Eigenschaten wie Menthol ( > S. 1130). Allerdings ist seine lokal reizende Wirkung stärker ausgeprägt. Wegen seines angenehmeren Geschmacks bevorzugt man bei der inneren Anwendung das Pfeferminzöl; in äußerlich anzuwendenden Arzneiformen ist im Allgemeinen der Reinstof Menthol – er riecht wesentlich weniger intensiv – angebracht. Eine Ausnahme ist die Anwendung von Pfeferminzöl zur Behandlung von Migräne und Kopfschmerz vom Spannungstyp. Angewendet wird dazu eine 10%ige Lösung in 90%igem Ethanol. Diese Lösung wird gleichmäßig auf Stirn und Schläfen eingestrichen. Die herapie mit Pfeferminzöl soll zur Kupierung des Kopfschmerzes vom Spannungstyp eine wirksame, verträgliche Alternative zu den Standardmedikationen Paracetamol und Acetylsalicylsäure sein (vgl. Göbel et al. 2004). Innerlich wirken Pfeferminzöl und Menthol appetitanregend, cholagog und lokal spasmolytisch (auf Kardia und Ösophagus). Diese pharmakologischen Qualitäten sind in der praktisch-therapeutischen Situation aber nur dann relevant, wenn die Arzneistofe in wirksamer Dosierung angeboten werden. Die empfohlene Tagesdosis bei innerlicher Einnahme liegt zwischen 0,05 und 0,1 g Pfeferminzöl. Diese Dosierung wird in planzlichen Polykombinationspräparaten nicht erreicht. Anwendungsgebiete sind: krampfartige Beschwerden im oberen Gastrointestinaltrakt und der Gallenwege. Pfeferminzöl wird auch zur Behandlung des Reizdarmsyndroms [„irritable bowel syndrome“ (IBS)] verwendet (vgl. Übersicht von Van Rensen 2004). Eine Metaanlyse der fünf 1998 in Frage kommenden plazebokontrollierten Doppelblindstudien ergab, dass Pfeferminzöl gegenüber Plazebo eine signiikante (p < 0,001) globale Verbesserung ergibt, dass aber der Wert des Pfeferminzöls in der Behandlung des IBS noch nicht eindeutig belegt ist (Pittler u. Ernst 1998). Für weitere Anwendungen > Kap. 25.6.2 u. S. 1130.
Wirkung und Anwendungsgebiete. Insbesondere spas-
molytische, antimikrobielle, carminative und choleretische Wirkungen. Pfeferminzblätter gelten gemeinhin als eine Ätherischöldroge; im Teeaufguss kommen jedoch zusätzlich die schwach adstringierenden Geschmackswirkungen der Gerbstofe zur Geltung, sodass Pfeferminztee anstelle von schwarzem Tee als kofeinfreies Getränk weit verbreitet ist. Als die choleretischen Prinzipien der Blätter kommen die Phenolcarbonsäuren Chlorogen-, Kafeeund Rosmarinsäure in Frage. Hinzu kommen milde spasmolytische Qualitäten der Apigenin- und Luteolinglykoside sowie die relektorisch über Geschmack- und Geruchsreize sekretionsfördernden Efekte des ätherischen Öls. Neue Arbeiten haben ergeben, dass Menthol, Menthon und ähnliche Monoterpene stereoselektive Modulatoren von ionotropen Ionenkanälen (GABAA , Glycin-Rezeptoren) darstellen (Hall et al. 2004), worauf ihre neuroaktiven Eigenschaten beruhen sollen. Inwieweit damit die beruhigende Wirkung von Pfeferminzzubereitungen zusammenhängt, müssen weitere Untersuchungen zeigen. Anwendungsgebiete sind krampfartige Beschwerden im Magen-Darm-Bereich sowie der Gallenblase und Gallenwege (Kommission E). ESCOP nennt als Indikationen die symptomatische Behandlung von Verdauungsstörungen wie Dyspepsie, Blähungen und Gastritis, obwohl diese Indikationen nicht durch klinische Daten belegt sind.
Unerwünschte Wirkungen. In seltenen Fällen lösen Men-
Pfefferminzöl und Menthol Herkunt, Eigenschaten und weitere Anwendungsgebiete des Pfeferminzöls > Kap. 25.6.2; Menthol > S. 1130
thol und Pfeferminzöl allergische Reaktionen aus. Überdosierung führt zu Intoxikationen, die in erster Linie das Zentralnervensystem erfassen: Kältegefühl, rauschähnliche Zustände, Ataxie, Benommenheit.
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
! Kernaussagen
In Kap. 25.4.2 werden Ätherischöldrogen zusammengefasst, die den Gallenfluss anregen (= Cholagoga). Cholagoga werden, insbesondere in Form von Kombinationspräparaten, vorzugsweise bei unklaren Oberbauchbeschwerden mit Völlegefühl, Druck im Oberbauch und Blähungen verwendet. Die Anwendungsgebiete der Cholagoga decken sich weitgehend mit denjenigen der Stomachika und Carminativa. Von Besonderheit ist Curcumin, der Hauptinhaltsstoff der Javanischen Gelbwurz und des Curcumawurzelstocks. Es handelt sich dabei um ein interessantes phenolisches Diarylheptanoid mit
antiphlogistischer und chemopräventiver Wirkung. Curcumin hemmt in vitro und in vivo verschiedene Enzyme, Proteine, Faktoren und Signaltransduktionswege, die im Entzündungsgeschehen und bei der Krebsentstehung von Bedeutung sind. Die Substanz befindet sich in der klinischen Studie (Phase II) zur Prävention der AlzheimerKrankheit. Ob es sich bei den bisherigen positiven Resultaten um eine Überbewertung von Laborstudien handelt, oder ob daraus klinisch relevante Wirkungen abgeleitet werden können, ist zurzeit schwierig zu beurteilen, das kann erst in zukünftigen klinischen Studien ermittelt werden.
Schlüsselbegriffe Apoptose Ascaridol Ätherisches Öl Bisabolentyp Black Mint Boldi folium Boldin Boldoblätter Cholagoga Curcuma domestica Curcuma xanthorrhiza Curcumae longae rhizoma
25.4.3
Curcumae xanthorrhizae rhizoma Curcumawurzelstock Curcumin Curcuminoide Dicinnamoylderivate Diarylheptanoide (phenolische) Dyspeptische Beschwerden Gallenwegstherapeutica Javanische Gelbwurz Kopfschmerz vom Spannungstyp Mentha u piperita Menthae piperitae folium
Menthol Peumus boldus Pfefferminzblätter Pfefferminzöl Reizdarmsyndrom Temu lawak Transkriptionsfaktoren NF-NB, AP-1 White Mint Wirkungen (antioxidativ, antiviral, chemopräventiv, choleretisch, entzündungshemmend, spasmolytisch) Xanthorrhizol
Carminativa
Blähungstreibende Arzneimitel werden unter dem Begrif Carminativa zusammengefasst. Infobox Carminativa. Carminativa ist eine alte Bezeichnung für blähungstreibende Mittel. Blähungen äußern sich in häufigem Gasabgang aus dem Magen (Aufstoßen) und dem Enddarm (Abgang von Flatus). Wenn durch Spasmen am Mageneingang oder durch Verkrampfung des Darms der Gasabgang behindert ist, können kolikartige Leibschmerzen auftreten. Blähende Speisen (z. B. Hülsenfrüchte, Kohlarten) enthalten schäumende, oberflächenaktive Bestandteile, die Gase binden und deren Resorption verhindern. Eine andere mögliche Ursache für Blähungen ist das nervöse Luftschlucken (Aerophagie).
Carminativa enthalten ätherische Öle, die im MagenDarm-Trakt spasmolytisch, gärungswidrig und verdauungsfördernd wirken. Wird beispielsweise der Tonus des Ösophagus gesenkt, kann dadurch der Abgang von Luft aus dem Magen erleichtert werden. Besonders bei Säuglingen sind Carminativa oft gut wirksam, während sich bei Erwachsenen die Wirkungsstärke nicht immer als ausreichend erweist. Carminativa werden gerne Abführmittelkombinationen zugesetzt, um krampfartige Leibschmerzen, die insbesondere bei höherer Dosierung des Laxans auftreten, zu antagonisieren.
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
25
Anis
Inhaltsstoffe
Herkunft. Anis (Anisi fructus PhEur 5) besteht aus
kg–1) mit trans-Anethol ( > Abb. 25.32) [Hauptkomponente (80–>95%) sowie Geschmacks- und Geruchsträger]. Begleitet wird trans-Anethol von wenig cisAnethol, Estragol (Methylchavicol) und Anisaldehyd; daneben Mono- und Sesquiterpenkohlenwasserstofe. Anethol liegt in den Anisfrüchten in kleinen Mengen auch in Form von Anetholglycolglykosiden vor (Ishikawa et al. 2002); x Phenolcarbonsäuren (Chlorogen- und andere Chinasäurederivate); x Cumarine (Umbelliferon, Scopoletin; Strukturformeln > Abb. 26.17);
x Ätherisches Öl (1,5–5%; PhEur = mindestens 20 ml u
den trockenen, unversehrten, zweiteiligen Spaltfrüchten (= Doppelachänen) von Pimpinella anisum L. (Familie: Apiaceae [IIB25a]). P. anisum ist eine im östlichen Mittelmeergebiet beheimatete, bis 50 cm hoch werdende, einjährige Planze, die heute in der ganzen Welt angebaut wird. Sensorische Eigenschaften. Der Geruch ist angenehm
würzig (an Anethol erinnernd), der Geschmack aromatisch süß. . Abb. 25.32 H
CH3 H
E
H
OCH3 trans-Anethol
H
Z
CH2 CH3
OCH3
OCH3 Estragol (Methylchavicol)
cis-Anethol CH3
CH3 CH3
CHO O
2
CH3
2
O OCH3
O
Anisaldehyd
CH3 CH3
Foeniculin
OCH3 2-Methylbuttersäureester des 2-Hydroxyanethols (= Pseudoisoeugenyl-2-methylbutyrat)
Hauptbestandteil des Anisöls (Anisi aetheroleum) ist trans-Anethol, eine bei Raumtemperatur kristalline Masse, während das cis-Isomere, das in kleinen Mengen natürlich, in größeren Mengen als Verunreinigung enthalten sein kann, erst bei –23 °C erstarrt. Nebeninhaltsstoffe sind Estragol (Methylchavicol), dessen C3-Seitenkette Allylstruktur aufweist, sowie Anisaldehyd. An bestimmten Nebeninhaltsstoffen lässt sich feststellen, ob das Anisöl von Pimpinella anisum oder von Illicium verum stammt: Gemäß „chromatographischem Profil“ der PhEur fallen für das echte Anisöl ein Peak für Hydroxyanetholmethylbuttersäureester, für das Sternanisöl solche für größere Mengen an Linalool und Foeniculin auf. Echtes Anisöl enthält weniger als 1% Monoterpenkohlenwasserstoffe, Sternanisöl bis 5%
1079
1080
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
x Flavonoide (u. a. Glykoside und Glykosyle der Quercetins, Luteolins und Apigenins); x fettes Öl (20–30%; hauptsächlich Glyceride der Petroselinsäure), Lipide (darunter Sterole), ferner Proteine (etwa 18%), Kohlenhydrate (darunter Mannit, hingegen keine Stärke), mineralische Bestandteile.
Sternanisöl (Anisi stellati aetheroleum PhEur 5) ist das durch Wasserdampfdestillation gewonnene ätherische Öl der trockenen reifen Früchte von Illicium verum Hook. il. (Familie: Illiciaceae [II1a]). Die Stammplanze von Sternanis ist ein in Südchina beheimateter, bis 10 m hoch werdender, immergrüner Baum, der in verschiedenen Ländern der Tropen angebaut wird.
Analytische Kennzeichnung. DC-Prüfung (PhEur)
auf Vorkommen von Anethol und von Triglyceriden [Fließmittel: Toluol; Referenzsubstanzen: Anethol, Olivenöl; Nachweis: UV 254 nm, Molybdatophosphorsäurereagens]. Anethol erscheint im UV bei 254 nm auf hellem Grund als luoreszenzlöschender Fleck. Nach Besprühen mit dem Molybdatophosphorsäurereagens erscheint Anethol im Tageslicht als blauer Fleck auf gelbem Untergrund und kann aufgrund der Fleckengröße im Verhältnis zum Referenzanethol halbquantitativ bestimmt werden. Die Triglyceride erscheinen als blauer Fleck entsprechend dem Fleck der Triglyceride des Olivenöls. Verwendung. Bestandteil von industriell hergestellten
Teemischungen sowie Ausgangsmaterial für Extrakte, die zu sofortlöslichen Tees (Instanttees) weiterverarbeitet werden. Zur Gewinnung von „echtem“ Anisöl. Wirkung und Anwendungsgebiete. Expektorierend,
schwach spasmolytisch, antibakteriell. Bei dyspeptischen Beschwerden (innerlich) sowie Katarrhen der Lutwege (innerlich und äußerlich; Kommission E, ESCOP). Anis ist Bestandteil von Brusttees, Hustentees, Abführtees und carminativ wirkenden Tees. Wird auch anderen Teemischungen zur Geruchs- und Geschmacksverbesserung zugesetzt. Ferner als Gewürz z. B. für Brot, Backwaren oder eingemachte Früchte.
Anisöl und Sternanisöl Während die PhEur 4 eine Monographie Anisöl (von Pimpinella anisum oder Illicium verum) auführte, kennt die PhEur 5 je eine Monographie für Anis- und eine für Sternanisöl. Herkunft. Anisöl (Anisi aetheroleum PhEur 5) ist das
durch Wasserdampfdestillation gewonnene ätherische Öl der trockenen reifen Früchte von Pimpinella anisum L. (Familie: Apiaceae [IIB25A].
Sensorische Eigenschaften. Klare, farblose bis blassgelbe
Flüssigkeit, die in der Kälte zur Kristallisation neigt. Geschmack: aromatisch und süß. Geruch: charakteristisch „süße“ Geruchsnote. Zusammensetzung.
risches Öl) und
> unter
Inhaltsstofe bei Anis (äthe-
> Abb. 25.32.
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität (Anis- und Sternanisöl). DC- und
GC-Prüfung (PhEur [Fließmittel: Ethylacetat–Toluol (7:93); Referenzsubstanzen: Anethol, Anisaldehyd, Linalool; Nachweis: UV 254 nm, Acetylbenzoesäuremethylester-Reagens]. Anethol und Anisaldehyd können im UV bei 254 nm als Fluoreszenz löschende Flecken nachgewiesen werden. Nach dem Besprühen mit dem Reagens färben sich die dem Anethol, Anisaldehyd bzw. Linalool entsprechenden Flecken im Tageslicht braun, gelb bzw. grau. Gaschromatographischer Nachweis von 7 Substanzen (vgl. Prüfung auf Reinheit). Prüfung auf Reinheit (Anis- und Sternanisöl). Die Bestimmung der Erstarrungstemperatur ist eine indirekte Gehaltsbestimmung. Sie hängt unmittelbar mit dem Gehalt an Anethol zusammen. Die PhEur nimmt sowohl bei Anis- als auch Sternanisöl ein „chromatographisches Proil“ (vgl. Kap. 25.2.3 und > Tabelle 25.2) auf. Es werden 7 Substanzen mit der Angabe von zulässigen Grenzwerten bestimmt: x Anisöl: Linalool ( Abb. 23.30.
Fenchel Herkunt. Fenchel (Foeniculi fructus) besteht aus den trockenen Früchten von Foeniculum vulgare Miller (Familie: Apiaceae [IIB25a]). Die PhEur 5 kennt 2 verschiedene Fenchelmonographien: x Süßer Fenchel (Foeniculi dulcis fructus), bestehend aus den trockenen, ganzen Früchten und Teilfrüchten von Foeniculum vulgare Miller, ssp. vulgare var. dulce (Miller) Thellung. x Bitterer Fenchel (Foeniculi amari fructus), bestehend aus den trockenen, ganzen Früchten und Teilfrüchten von Foeniculum vulgare Miller, ssp. vulgare var. vulgare.
Metabolismus von Anethol. Zum Metabolismus von
Anethol vgl.
> Abb. 25.11.
Unerwünschte Wirkungen von Anis und Anis-/Sternanisöl. Gelegentlich können allergische Reaktionen an der
Fenchel ist eine ursprünglich aus dem Mittelmeergebiet stammende, 2- bis mehrjährige, bis 2 m hoch werdende Planze. Die Droge stammt ausschließlich aus dem Anbau.
Haut autreten. Sensorische Eigenschaften. Fenchelfrüchte der Varietät Toxikologische Aspekte. Toxikologische Daten erga-
ben, dass Estragol, das u. a. im ätherischen Öl von Anis, Sternanis und Fenchel vorkommt, ähnlich wie Safrol eine natürlich vorkommende kanzerogene Substanz darstellt (vgl. Übersicht von Iten u. Saller 2004 und darin zitierte Literatur). Bei den genotoxischen Substanzen
vulgare riechen würzig an Anis erinnernd. Der Geschmack ist zunächst süßlich, später leicht brennend. Der süße Fenchel (auch Gewürzfenchel oder römischer Fenchel) schmeckt feiner, milder und anisähnlicher.
1081
1082
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
. Tabelle 25.5 Das ätherische Öl des Süßen Fenchels (var. dulce) enthält viel süß schmeckendes Anethol und wenig Fenchon, das bitter und campherartig schmeckt. Der Bittere Fenchel (var. vulgare) ist durch hohe Gehalte an Fenchon gekennzeichnet. Charakteristische Unterschiede zeigen die beiden Varietäten auch im Gehalt an α-Pinen und Limonen (vgl. Melchior u. Kastner 1974) Bitter [%]
Süß [%]
trans-Anethol
60–75
80–95
(+)-Fenchon
12–22
Abb. 25.45), tragen wegen ihrer geringen Konzentration weniger zur Gesamtdrehung des ätherischen Öls bei
Inhaltsstoffe
x Ätherisches Öl [1,5–6%; PhEur = mindestens 20 ml u kg–1 mit mindestens 80,0% Anethol (süßer Fenchel) bzw. 40 ml u kg–1 mit mindestens 60,0% Anethol und mindestens 15,0% Fenchon (bitterer Fenchel)], ein Gemisch aus Phenylpropanen [trans-Anethol, Estragol (= Methylchavicol)] und Monoterpenen (Fenchon, Limonen und D-Pinen). Vgl. dazu > Tabelle 25.5 und > Abb. 25.33, 25.34. Anethol und verschiedene Monoterpene liegen in den Fenchelfrüchten auch in Form von Glykosiden vor; x phenolische Substanzen: verschiedene Flavonoidaglykone, Flavonoidmono- und -diglykoside, Flavonoidglucuronide, Hydroxyzimtsäure- und Chinasäurederivate u. a. (vgl. Parejo et al. 2004); x Cumarine (u. a. Scopoletin) und Furanocumarine (u. a. Bergapten, Psoralen); x fettes Öl (etwa 20%), Proteine (etwa 20%), Zucker (4–5%). Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Nachweis (PhEur) von Ane-
thol (süßer Fenchel) bzw. Anethol und Fenchon (bitterer Fenchel) [Fließmittel: Hexan–Toluol (20:80); Referenzsubstanzen: Anethol bzw. Anethol und Fenchon; Nachweis: UV 254 nm, Schwefelsäurereagens]. Anethol er-
scheint im UV bei 254 nm als Fluoreszenz mindernde Zone. Nach dem Besprühen mit Schwefelsäurereagens und Erhitzen auf 140 °C färbt sich die Anetholzone violett. Im bitteren Fenchel erscheint zusätzlich eine gelbe, dem Fenchon entsprechende Zone. Prüfung auf Reinheit. Gaschromatographische Bestimmung (PhEur) des Gehalts an Estragol (höchstens 10,0%) und Fenchon (höchstens 7,5%) [süßer Fenchel] bzw. an Estragol (höchstens 5,0%) [bitterer Fenchel] im ätherischen Öl. Der Estragolgehalt wird aus toxikologischen Gründen begrenzt (vgl. dazu unter Anis und Anis-/Sternanisöl). Gehaltsbestimmung. Neben der Bestimmung des Ge-
halts an ätherischem Öl (PhEur) erfolgt eine gaschromatographische Gehaltsbestimmung von Anethol (süßer Fenchel) bzw. von Anethol und Fenchon (bitterer Fenchel). Der Prozentgehalt wird mit Hilfe des Verfahrens „Normalisierung“ (vgl. S. 1038) berechnet. Verwendung. Zur Herstellung von Teepräparaten, vorzugsweise in Filterbeuteln. Zur Herstellung von Extrakten und Sprühtrockenextrakten, die zu Markenartikeln weiterverarbeitet werden: zu sofortlöslichen Tees, zu
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
. Abb. 25.34
25
Tropfen, Dragees, Bonbons, zu Sirupen und Fenchelhonig. Die Droge dient ferner zur Gewinnung des ätherischen Öls. Wirkungen und Anwendungsgebiete. Förderung der Ma-
gen-Darm-Motilität, in höherer Konzentration spasmolytisch. Anethol und Fenchon wirken experimentell im Bereich der Atemwege sekretolytisch; am Flimmerepithel des Frosches erhöhen wässrige Fenchelauszüge die mukoziliäre Aktivität. Zur Behandlung von dyspeptischen Beschwerden wie leichte, krampfartige Magen-Darm-Beschwerden, Völlegefühl, Blähungen. Bei Katarrhen der oberen Lutwege. (Kommission E, ESCOP). Fenchelsirup und Fenchelhonig: bei Katarrhen der oberen Lutwege bei Kindern. Vorzugsweise süßen Fenchel nimmt man zum Würzen von Brot, Gebäck, bestimmten Gemüsesorten und Salaten sowie zum Aromatisieren von Likören (Boonekamp, Stonsdorfer).
α - Pinen
O
(+) - Fenchon
H
OH
=
Fenchelöl Herkunft. Aus den beiden Fenchelvarietäten, der var. dul-
OH
O
H
Fenchylalkohol
Fenchon
Zur biogenetischen Einordnung des Fenchons. Fenchon ist ein irregulär gebautes, bizyklisches Monoterpen; irregulär deshalb, weil sich das Kohlenstoffskelett nicht in zwei 1,4-verknüpfte Isoprenbausteine zerlegen lässt. Der eine der beiden Bausteine stellt ein 2,2-Dimethylpropan dar. Fenchon ist nahe verwandt mit dem regulär gebauten α-Pinen, aus dem es durch Umlagerung über ein hypothetisches Kation entstehen könnte (hypothetisches Biosyntheseschema). α-Pinen und Fenchon kommen beide gemeinsam im Fenchelöl vor. Die Formelwiedergabe besteht in der abgekürzten Schreibweise, d. h. endständige Methylgruppen sind nur durch Strichsymbole gekennzeichnet
ce und der var. vulgare, gewinnt man 2 qualitativ unterschiedliche ätherische Öle, die beide im Handel angeboten werden. Beide Öle werden durch Wasserdampfdestillation der zerquetschten Früchte gewonnen. Die Arzneibuchware (Foeniculi amari fructus aetheroleum PhEur 5) muss aus dem Bitterfenchel hergestellt sein. Sensorische Eigenschaften. Das ätherische Öl der Varie-
tät vulgare hat einen würzigen, an Anis erinnernden Geruch und einen süßen, dann bitteren, campherartigen Geschmack. Das ätherische Öl der Varietät dulce, das süße Fenchelöl, ist geruchlich und geschmacklich kaum von Anisöl zu unterscheiden. Zusammensetzung. Beide Öle enthalten trans-Anethol als Hauptbestandteil; das bittere Fenchelöl daneben 12– 25% Fenchon. Weitere Inhaltsstofe > Tabelle 25.5 und > Abb. 25.33. Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Nachweis (PhEur) von Ane-
thol und Fenchon [Fließmittel: Ethylacetat–Toluol (5:95); Referenzsubstanzen: d-Fenchon, Anethol; Nachweis: Molybdatophosphorsäurereagens]. Anethol und Fenchon erscheinen nach dem Besprühen mit Molybdatophos-
1083
1084
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
phorsäurereagens und Erhitzen auf 150 °C als dunkelblaue bis dunkelviolette bzw. blaue bis blaugraue Zonen. Prüfung auf Reinheit. Die PhEur nimmt vom Fenchelöl ein „chromatographisches Proil“ (vgl. Kap. 25.2.3 und Tabelle 25.2) auf. Es werden 7 Substanzen mit der Angabe von zulässigen Grenzwerten bestimmt: D-Pinen (1,0– 10,0%), Limonen (0,9–5,0%), Fenchon (12,0–25,0%), Estragol (höchstens 6,0%), cis-Anethol (höchstens 0,5%), trans-Anethol (55,0–75,0%), Anisaldehyd (höchstens 2,0%). Das Verhältnis von D-Pinen zu Limonen ist größer als 1,0. Die Qualitätskriterien für ein gutes Fenchelöl sind bei Braun u. Franz (1999) ausführlich beschrieben. Anwendungsgebiete. Fenchelöl wirkt ähnlich wie Fenchelextrakte. Das Öl wirkt bakteriostatisch und trägt zur Haltbarkeit von Zubereitungen bei. Tierexperimentell konnte belegt werden, dass es die Expektoration beeinlusst. Fenchelöl gilt als ein mildes Carminativum. Seine häuige Verwendung dürte aber wohl damit zu tun haben, dass es ein hervorragendes Geschmacks- und Geruchskorrigens ist.
Kamillenkulturen und Züchtungsziele. Die Kamille wird
heute fast ausschließlich angebaut, um eine wertvollere Droge zu erhalten. An natürlichen Standorten bzw. in Bauern- oder Hobbygärten angeplanzt wird sie höchstens noch für den Hausgebrauch. Größere Kulturen beinden sich vorwiegend in Argentinien, Ägypten und Ungarn. Züchtungsziele sind insbesondere Chemotypen mit einem hohen Gehalt an ätherischem Öl (bis gegen 3%), Matricin bzw. Chamazulen, Bisabolol und Spiroethern. Zusätzlich sind gleichmäßiger Wuchs, einheitlicher Blühtermin, große Blütenköpfchen in einer Ebene (geeignet für maschinelle Ernte), am Blütenboden fest hatende Einzelblüten (geringe Grusbildung) und Krankheitsresistenz von Bedeutung (vgl. Schilcher 1987). Sensorische Eigenschaften. Geruch: angenehm mit der
Geruchsnote süß-krautig und fruchtig. Geschmack: aromatisch und schwach bitter. Inhaltsstoffe
x Ätherisches Öl (0,3–1,5%; PhEur = mindestens 4 ml
Anwendungseinschränkungen. Fenchelöl sollte bei
Säuglingen und Kleinkindern wegen der Gefahr eines Laryngospasmus, einer Dyspnoe und von Erregungszuständen nicht angewendet werden. Unerwünschte Wirkungen. Selten allergische Reaktionen
der Haut und der Atemwege.
Kamillenblüten
x
Herkunft. Kamillenblüten (Matricariae los PhEur 5, kor-
rigiert 5.1) bestehen aus den getrockneten Blütenköpfchen von Matricaria recutita L. (Synonym: Chamomilla recutita (L.) Rauschert; Familie: Asteraceae [IIB28b]). Stammpflanze. M. recutita, die Echte Kamille, ist eine einjährige, krautige, 20–50 cm hoch werdende Planze, die ursprünglich im östlichen Mittelmeergebiet beheimatet war und heute fast weltweit verbreitet ist. Die Planze hat 2- bis 3fach geiederte Blätter und zahlreiche Blütenköpfchen mit kegelförmigem Blütenboden sowie weißen Zungen- und gelben Röhrenblüten. Im Unterschied zu den Anthemis-Arten (vgl. S. 1066, Römische Kamille) ist der Blütenboden hohl.
x x x x
u kg–1 blaues Öl) von – je nach Provenienz und Sorte – etwas wechselnder Zusammensetzung: Bisaboloide (0–50%; > Abb. 25.35), Guajanolide [die Proazulene Matricin und Matricarin (nur in der Droge, nicht im ätherischen Öl enthalten; > Abb. 25.36) sowie die daraus bei der Wasserdampfdestillation entstehenden Azulene (2–18%, überwiegend Chamazulen; > Abb. 25.37)], Spathulenol [etwa 1%; ein trizyclisches Sesquiterpen (Guajangerüst; die C3-Seitenkette als Cyclopropan ausgebildet)], Spiroether, das sind Acetylenderivate mit Spiroketalgruppierung (20–30%; > Abb. 25.38); Flavonoide (bis zu 6%; hauptsächlich Apigenin und Apigenin-7-O-glucosid; daneben auch instabile Acylderivate von Apigenin-7-O-glucosid) neben Quercetin- und Luteolinglykosiden sowie methoxylierten, lipophilen Flavonoiden ( > Abb. 25.39); PhEur = mindestens 0,25% Apigenin-7-O-glucosid; Phenolcarbonsäuren (Kafeesäure, Vanillinsäure, Syringasäure u. a.); Cumarine [Umbelliferon, 7-Hydroxycumarin und Herniarin (7-Methoxycumarin); 0,01–0,08%]; Polysaccharide (Fructan vom Inulintyp, ein pektinähnliches Rhamnogalacturonan, 4-O-Me-Glucuronoxylan; Füller u. Franz 1993); Lipide, Phytosterole, Cholin, Aminosäuren, mineralische Bestandteile.
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
. Abb. 25.35
CH3
HO H S
25
2
S
CH3 OH
1'
≡ H3C
H3C H3C
CH3
H3C
CH3
(−)-α-Bisabolol
CH3
CH3
CH3
O H3C
O H3C
R CH3
O
H3C
H3C H3C
OH
CH3
(−)-α-Bisabololoxid A (R = OH) (−)-α-Bisabololoxid B (−)-α-Bisabolonoxid A (R = =O)
OH H3C
CH3
(−)-α-Bisabololoxid C
Im Kamillenöl vorkommende Bisaboloide. Mengenmäßig vorherrschend ist das (–)-α-Bisabolol (INN: Levomenol), das in der (1’S)-(2S)-Form vorliegt. Durch Oxidationsvorgänge bilden sich in der lebenden Pflanze die Bisabolol- und Bisabolonoxide, von denen bisher in der Kamille die (–)-α-Bisabololoxide A, B, und C sowie das (–)-α-Bisabolonoxid A nachgewiesen werden konnten
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Nachweis (PhEur) von Cha-
mazulen, Bisabolol (Levomenol) und En-in-dicyloether [Fließmittel: Ethylacetat–Toluol (5:95); Referenzsubstanzen: Chamazulen, Levomenol, Bornylacetat; Nachweis: Anisaldehydreagens]. Nach dem Besprühen mit dem Anisaldehydreagens erscheinen Chamazulen, En-in-dicycloether und Levomenol als rote bis rotviolette, braune bzw. rötlichviolette bis bläulichviolette Zonen. Weitere blaue bis bläulichviolette Zonen können vorkommen. Gehaltsbestimmung. Die PhEur lässt bei den Kamillenblüten den Gehalt an ätherischem Öl und mit der HPLC den Gehalt an Apigenin-7-O-glucosid bestimmen [unter Einsatz von octadecylsilyliertem Kieselgel (5 µm) als Säulenmaterial, einem Gradienten bestehend aus Phos-
phorsäure–Wasser (0,5:99,5) (A) und Phosphorsäure– Acetonitril (0,5:99,5) (B) als mobile Phase, Apigenin-7-Oglucosid als externe Referenzsubstanz]. Zur Bestimmung weiterer Inhaltsstofe existieren in der Literatur sowohl moderne GC- als auch HPLC-Methoden. Mit der GC lassen sich insbesondere die Bisaboloide, Chamazulen und die En-In-Dicycloether, mit der HPLC Matricin und die En-In-Dicycloether quantitativ bestimmen. Diese Methoden sind insbesondere zur Untersuchung der Stabilität und für die Standardisierung von Kamillenzubereitungen erforderlich (vgl. z. B. Schmidt u. Vogel 1992; Ness u. Schmidt 1995). Für eine reproduzierbare und efektive Kamillentherapie ist die Anwendung standardisierter Präparate mit garantierten Mindestgehalten an wirksamkeitsbestimmenden Inhaltsstofen unabdingbar.
1085
1086
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
. Abb. 25.36 H3C
H
H3C H O
HO CH3
H
OAc H
H H
CO CH3
CH3 O
H
CH3
O
H
H
HO
O
CH3
O
O
Matricin C17H22O5 CH3
O
Konformationsformel (Ac =
C
) CH3
CH3
H3C
O
4
2 1
3
2 1
4
4 3
3
2
H2C
O
1
Anthecotulid C15H20O3
Neben den monozyklischen Sesquiterpenen vom Bisabololtyp sind in Kamillenblüten auch trizyklische Sesquiterpenlactone vom Guajanolidtyp (vgl. auch > Abb. 23.41) enthalten, insbesondere Matricin. Matricin wird zu den Azulenbildnern (Proazulene) gerechnet ( > Abb. 25.37). Das Anthecotulid ist ein azyklisches (!) irregulär gebautes Sesquiterpenlacton; irregulär deshalb, weil 2 der Isoprenbausteine nicht die übliche 1,4-, sondern eine „ungewöhnliche“ (nicht der Isoprenregel entsprechende) 3,4-Verknüpfung aufweisen. Anthecotulid ist das allergene Prinzip von Anthemis cotula L., der Hundskamille, in der es bis zu 1,8% enthalten ist. Es kommt in M. recutita nicht oder nur in Spuren vor. Ausnahmen sind chilenische und argentinische Provenienzen vom sog. Bisabololoxid-B-Typ (Hausen et al. 1984; Hausen u. Vieluf 1998)
Verwendung
x In der Lebensmittelindustrie zur Herstellung von Teepräparaten, heute vorzugsweise in Aufgussbeuteln, als tägliches Getränk anstelle von schwarzem Tee oder Kafee. Die Kamillenblüten des Lebensmittelhandels enthalten in der Regel auch krautige Anteile (Sprossteile); dies wirkt sich wegen des geringen Bitterwertes auf die Geschmacksqualität günstig aus; x in der Kosmetikindustrie zur Herstellung öliger Extrakte (z. B. für Hautöle); x in der Pharmazie zur Herstellung von Tee (Infus), Fluidextrakt (Matricariae extractum luidum PhEur 5, korrigiert 5.1), Tinktur, ätherischem Kamillenöl (Matricariae aetheroleum PhEur 5, korrigiert 5.1), isopropanolisch-wässrigen Auszügen (Balneotherapie) und Fertigarzneimitteln (z. B. in Form ethanolisch-wässriger Auszüge) meist in Kombination mit anderen Extrakten.
Wirkungen. Experimentell belegt sind für Kamillenprä-
parate und einzelne Inhaltsstofe und Stofgruppen antiphlogistische, spasmolytische sowie antibakterielle und antifungale Wirkungen (vgl. Schilcher 1987). Sie sind das Ergebnis eines Zusammenspiels mehrerer Inhaltsstofe mit gleichen und z. T. unterschiedlichen Wirkungen und Wirkungsmechanismen (Ammon u. Kaul 1992): x antiphlogistische Wirkung: Kamillenextrakt, (–)-D-Bisabolol, Matricin, Chamazulen, Spiroether, Flavonoide (hauptsächlich Apigenin); x spasmolytische Wirkung: Kamillenextrakt, Apigenin und andere Flavonoide, (–)-D-Bisabolol, Spiroether; x antibakterielle und antifungale Wirkung: Kamillenextrakt, synergistische Wirkung mehrerer lipophiler Wirkstofe (u. a. (–)-D-Bisabolol, Spiroether, Cumarine). Die Kommission E nennt folgende Wirkungen: Antiphlogistisch, muskulotrop-spasmolytisch, wundheilungsför-
25
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
. Abb. 25.37 H
T ≥ 100˚C
OCO CH3
H HO
H
H3C COOH
H O
H
H HO
H2O
H
⊕ H O
⊕O H
O
O
O
Matricin H ⊕ H H2O
H⊕ O
CH3
CO2
H +
CH3
CH3
C O
H
Chamazulencarbonsäure
Chamazulen
Azuleniumkation
Kamillenblüten enthalten etwa 0,15% Proazulene, v. a. Matricin, das eine farblose, kristalline Substanz darstellt. Beim Erhitzen einer Matricin enthaltenden Lösung (Drogenauszug) entsteht aus Matricin unter Abspaltung von Essigsäure und Wasser die Chamazulencarbonsäure, die bereits das durchkonjugierte System der Azulene enthält und folglich tiefblau gefärbt ist. Ähnlich wie im Falle der β-Ketocarbonsäuren spaltet sie leicht CO2 ab; es entsteht Chamazulen, das somit abweichend von anderen natürlichen Azulenen nur noch 14 Kohlenstoffatome im Molekül enthält. Im sauren Milieu liegt Chamazulen mit dem Azuleniumkation im Gleichgewicht vor, dessen reaktionsfähige Methylenprotonen mit Aldehyden kondensieren. In der Arzneibuchanalytik verwendet man Dimethylaminobenzaldehyd: Es bildet sich ein intensiv gefärbtes Reaktionsprodukt. Das Reaktionsschema will nicht die Reaktionsfolge wiedergeben, die unbekannt ist. Vereinfachte Formelschreibweise; eine Methylsubstitution ist durch einen Strich symbolisiert
dernd, desodorierend, antibakteriell und bakterientoxinhemmend. Anregung des Hautstofwechsels. Wirkungsmechanismus. Die antiphlogistische Wirkung des Kamillenextrakts beruht auf einer antioxidativen Wirkung sowie einer Hemmung der Bildung von Produkten der 5-Lipoxygenase (Leukotriene, insbesondere LTB4) und der Cyclooxygenase (Prostaglandine). Apigenin und in absteigender Reihenfolge Chamazulen >Bisabolol >Bisabololoxid A >cis-En-In-Dicycloether hemmten die 5-Lipoxygenase, während nur Apigenin die Aktivität der 12-Lipoxygenase hemmte. Die Hemmung der Cyclooxygenase war etwa gleich stark durch Bisabolol, cis-En-In-Dicycloether und Apigenin, während eine ausgeprägte antioxidative Wirkung nur Chamazulen aufwies. In quantitativer Hinsicht kann den Untersuchungen entnommen werden, dass
die Wirkung sich hauptsächlich auf Bisabolol und Apigenin beschränkt, die in standardisierten Extrakten in der Regel in therapierelevanten Konzentrationen vorhanden sind (Ammon et al. 1996). Eine Voraussetzung für die topische Anwendung von Kamillenpräparaten als Antiphlogistika ist die Penetration der Wirkstofe in tiefere Hautschichten. Das konnte am Menschen mit Flavonoiden demonstriert werden. Insbesondere Apigenin wurde nicht nur an der Hautoberläche adsorbiert, die Substanz war in der Lage, in tiefere Hautschichten einzudringen (Merfort et al. 1994). In der Volksmedizin wird Kamillentee als Schlatrunk und leichtes Beruhigungsmittel verwendet. Nach neueren Untersuchungen erzeugt der Kamillenextrakt bei der Ratte eine Benzodiazepin-ähnliche Wirkung, wobei die dafür verantwortlichen Inhaltsstofe nicht bekannt sind. Es handelt sich dabei nicht, wie früher postuliert, um Apigenin,
1087
1088
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
. Abb. 25.38
C14 - Fettsäure
Dehydrierung, Decarboxylierung, Oxidation
⊕ H
⊕ H
HO
H3C
≡
O
O
H3C
HO
C13-En-in-ketoalkohol
H
O
H
O
O
O trans-(Z)-Spiroether
cis-(E)-Spiroether
H3C
H3C 2-Hexa-(2,4)-diin-1-yliden-1,6-dioxaspiro[4,4]non-3-en
zur Nomenklatur: Spiro-C mit je 4 Substituenten 1
R
2
• R
O Ylidenrest
Spiro-C
5 3
4
1
8
9
O •
7 6
Spiro [4,4] - nonan
2
8
9
O
7
5 3
4
O 6
1,6 - Dioxaspiro[4,4] - nonan
Die in der Kamille vorkommenden Acetylenderivate leiten sich von einer linearen C13-Vorstufe ab, die ihrerseits als partielles Abbauprodukt einer Fettsäure (vermutlich Ölsäure via C14-En-in-Fettsäure) aufgefasst werden kann. Eine isomerisierende Zyklisierung des C13-Ketoalkohols führt zu 2 diastereoisomeren Verbindungen, die zueinander im Verhältnis der cis-trans-Isomerie stehen. Allerdings wird die Torsionsisomerie der Doppelbindung der En-in-dicycloether in der Literatur mit einer uneinheitlichen cis-trans-Nomenklatur belegt. Bezeichnet man die Verbindungen nach IUPAC-Nomenklatur analog zu den Fettsäuren mit Priorität in der durchgehenden Kohlenstoffkette, so gilt hier, dass das E-Isomere cis und das Z-Isomere trans konfiguriert sind. In den Kamillenblüten kommen zwar beide Formen vor, doch überwiegt mengenmäßig die E-Form
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
. Abb. 25.39 OH
6''
R4OH2C R3O R2O
O
3''
O
O
7
OR1 O
Apigenin-7-O-β-D-glucosid-acetate: 2"-, 3"-, 4"- und 6"-Monoacetate 2"-, 3"- und 3"-, 4"-Diacetate (R =Ac) OH
H3CO
O
OCH3 OCH3
5
O
H
Mundhöhle und des Zahnleisches; Erkrankungen im Anal- und Genitalbereich (Bäder und Spülungen); entzündliche Erkrankungen und Reizzustände der Lutwege (Inhalationen). Unerwünschte Wirkungen. Autreten von Kontaktallergie
OH
H3CO
25
O
Chrysosplenetin C19H18O8
Flavonoide (Flavone und Flavonole) kommen in den Kamillenblüten in zahlreichen Varianten vor. Über 30 Derivate wurden bisher isoliert und identifiziert. Die spasmolytische Wirkung der Kamille im Magen-Darm-Bereich wird v. a. dem Apigenin und in geringerem Ausmaß seinen Glykosiden zugeordnet. Hauptglykosid ist das Apigenin-7-Oglucosid. Daneben kommen u. a. die relativ instabilen 2’’-, 3’’-, 4’’- und 6’’-Monoacetate sowie die 2’’, 3’’- und 3’’,4’’Di-acetate des Apigenin-7-O-glucosids vor (vgl. Carle et al. 1993). Das Chrysosplenetin ist ein Vertreter der in Wasser schwer löslichen Flavonoide. Man beachte, dass auch die 5-OH-Gruppe keinen Beitrag zur Wasserlöslichkeit leistet, da sie durch eine H-Brückenbindung zum benachbarten Carbonyl ähnlich „verschlossen“ ist, wie die phenolischen Gruppen in den Positionen 3,3’,6 und 7 durch Methylierung
da Apigenin den GABAA-Rezeptor nicht aktiviert (Avallone et al. 2000; Shinomiya et al. 2005). Anwendungsgebiete. Von der Kommission E und von
ESCOP werden folgende Anwendungsgebiete aufgeführt: x innerlich: gastrointestinale Spasmen und entzündliche Erkrankungen des Gastrointestinaltraktes; x äußerlich: Haut- und Schleimhautentzündungen sowie bakterielle Hauterkrankungen einschließlich der
durch die Echte Kamille ist sehr selten. Zwar kann Kamille chilenischer und argentinischer Provenienz 0,003–0,01% Anthecotulid enthalten (vgl. > Abb. 25.36), unter Berücksichtigung der häuigen Anwendung der Kamille und der geringen Zahl der Fallbeschreibungen (weltweit wenig mehr als 10 Arbeiten mit Echter Kamille) ist die Gefahr der Sensibilisierung durch Kamillenzubereitungen jedoch als sehr gering einzustufen. Eine Bestätigung dafür ergab eine mit einem lüssigen Kamillenpräparat an 540 Patienten durchgeführte Studie (Jablonska u. Rudzki 1996). Da bei zunehmendem Import von Kamille aus Argentinien ein ansteigender Anteil an Verfälschungen (speziell durch A. cotula) zu registrieren ist, ist allerdings mit einer Zunahme der Kamillenallergie zu rechnen. Als Kontaktallergen in Betracht kommt auch das Cumarin Herniarin (Hausen u. Vieluf 1998).
Kardamomenfrüchte Herkunft. Man versteht unter Kardamomen (Cardamomi
fructus DAC 2004) die kurz vor der Reife geernteten Früchte von Elettaria cardamomum (L.) Maton, einer v. a. in Südindien und auf Sri Lanka kultivierten Staude (Familie: Zingiberaceae [IIA10a]). Handelsprodukt sind die Früchte; verwendet werden hingegen die Samen. Man belässt sie bis zur Verwendung in den Kapseln; die Kapselwand schützt die Samenschale vor Verletzungen und stellt einen Verdunstungsschutz für das ätherische Öl dar, das im Samen peripher lokalisiert ist. Überdies sind Verfälschungen durch qualitativ minderwertige Kardamomen, beispielsweise durch die Früchte von Elettaria major Smith (lange Kardamomen) oder Amomum aromaticum Roxb. (Bengalkardamomen), leichter zu erkennen, solange die intakten Früchte vorliegen. Sensorische Eigenschaften. Kardamomen haben einen charakteristischen, aromatischen, als sehr angenehm empfundenen Geruch. Sie schmecken süßlich, krätig würzend und etwas brennend.
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25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Inhaltsstoffe
Kümmel
tens 40 ml u kg–1) mit den folgenden Hauptkomponenten: 1,8-Cineol (20–40%; Formel > Abb. 25.28), (+)-D-Terpinylacetat (30–35%), ferner Linalool, Linalylacetat, Sabinen, Limonen u. a. Anmerkung: Die für den charakteristischen Geruch und das feine Aroma verantwortlichen Stofe sind nicht genau bekannt. Beim Cultivar Mysore, der ein angenehmeres Aroma aufweist als der Cultivar Malabar, spielt evtl. ein höherer Gehalt an Linalylacetat (süßer, fruchtiger Geruch) und ein geringerer Gehalt an Cineol (campherartiger Geruch) eine Rolle (Govindarajan et al. 1982). Möglicherweise handelt es sich bei der den Geruchscharakter prägenden Komponente auch um eine mit Wasserdampf schwer lüchtige Substanz; Extraktionsöle sind daher auch in ihrer Aromaqualität angenehmer als Destillationsöle. x Reservestofe: Stärke (22–40%), fettes Öl (etwa 4%).
Herkunft. Kümmel (Carvi fructus PhEur 5) besteht aus den ganzen, trockenen Teilfrüchten von Carum carvi L. (Familie: Apiaceae [IIB25a]). C. carvi ist eine in Eurasien beheimatete, 30–80 cm hoch werdende, mehrjährige Planze. Die Droge stammt ausschließlich aus dem Anbau.
Analytische Kennzeichnung. DC-Nachweis von Cineol,
x
x Ätherisches Öl (in den Samen 2–8%; DAC = mindes-
D-Terpineol und D-Terpinylacetat (DAC) [Fließmittel: Toluol–Ethylacetat (93:7); Referenzsubstanzen: Cineol, D-Terpineol, D-Terpinylacetat; Nachweis: Vanillin-Schwefelsäurereagens]. Die Substanzen erscheinen nach Besprühen mit Vanillin-Schwefelsäurereagens im Tageslicht als grauviolette Zonen (Reihenfolge im DC von unten: D-Terpineol, Cineol, D-Terpinylacetat). Weitere violette Nebenzonen können vorkommen. Verwendung. Pharmazeutisch zur Herstellung einer
Tinktur, die hauptsächlich als Geschmackskorrigens verwendet wird; Bestandteil von industriell hergestellten Magentonika. Als Bestandteil von Gewürzmischungen für Backwaren (Lebkuchen, Gewürzplätzchen), Wurstwaren, Curry sowie in der Likörindustrie (Angostura, Chartreuse, Goldwasser u. a. m.). Wird in arabischen Ländern dem Kafee zum Aromatisieren zugefügt. Wirkung und Anwendung. Cholagog, virustatisch. Bei
dyspeptischen Beschwerden (Kommission E). Kardamomensamen wirken appetitanregend, carminativ und regen den Speichelluss an. Sie sind nützlich als Mundgeruchdesodorans; langsames, etwa 4 min langes Kauen von 3–4 Samen kaschiert beispielsweise den unangenehmen Knoblauchgeruch nach Verzehr knoblauchhaltiger Gerichte.
Sensorische Eigenschaften. Geruch: arteigen (nach Car-
von), aromatisch. Geschmack: beißend gewürzhat. Inhaltsstoffe
x Ätherisches Öl (3–7%; PhEur = mindestens 30 ml u
x
x x
kg–1) mit (+)-Carvon ( > Abb. 25.40) und (+)-Limonen (vgl. > Abb. 25.24) als Hauptbestandteile. Carvonderivate und andere Monoterpene liegen im Kümmel auch in Form von Glykosiden vor (Matsumura et al. 2002); Flavonoide (hauptsächlich Quercetin- und Kämpferolglykoside); Phenolcarbonsäuren (u. a. Kafeesäure und Chinasäurederivate); Furanocumarine (nur in Spuren; Tabelle 25.2) auf. Es werden 5 Substanzen mit Angabe von zulässigen Grenzwerten bestimmt: E-Myrcen (0,1–1,0%), (+)-Limonen (30,0–45,0%), trans-Dihydrocarvon (höchstens 2,5%), (+)-Carvon (50,0–65,0%), trans-Carveol (höchstens 2,5%). Verfälschung bzw. Streckung des Kümmelöls mit (–)-Carvon kann durch enantioselektive GC erkannt werden (Braun et al. 2000).
Sensorische Eigenschaften. Das frisch destillierte Öl
stellt eine klare, farblose, Flüssigkeit dar, die sich beim Stehen allmählich gelb färbt. Geruch: typisch nach Kümmel, Geschmack: würzig, beißend. Zusammensetzung. Hauptbestandteile sind (+)-Carvon
(45–65%) und (+)-Limonen (30–40%) (vgl. und 25.24).
Wirkung und Anwendungsgebiete. Wirkung und phar-
> Abb. 25.40
mazeutische Anwendung wie Kümmel. In der kosme-
. Abb. 25.40 CH3
CH3 O
2
O 2
≡
4
4
S
H3C
S
H CH2
H2C
H CH3
(+)-Carvon C10H14O
CH3
CH3
CH3 O
1
CH3
O
OH
OH
2 4
H3C
CH2
H3C
CH2
trans-Dihydro- C10H16O cis-Dihydrocarvon (1S, 4S) carvon (1R, 4S)
H3C
CH2
cis-Carveol (2S, 4S)
H3C
CH2
C10H16O trans-Carveol (2R, 4S)
Hauptbestandteile des Kümmelöls sind (+)-Carvon und (+)-Limonen (Formel > Abb. 25.24). Typische Nebenbestandteile sind neben Monoterpenkohlenwasserstoffen weitere sauerstoffhaltige Monoterpene wie Dihydrocarvon, Carveol und Dihydrocarveol. Bei cis- und trans-Carveol dominieren die (+)-Enantiomeren, beim Carvon kommt fast ausschließlich das (+)-Enantiomere (~98%) vor (König et al. 1990). Das (+)-Carvon bestimmt weitgehend den sensorischen Charakter des Öls. Die Begleitstoffe modifizieren Geruch und Geschmack nur unwesentlich
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1092
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
tischen Industrie zu Mundplegemitteln. In der Likörindustrie (z. B. für Aquavit).
. Abb. 25.41 CH3
CH3
E
Z
CHO
H
Melissenblätter H
Herkunft. Melissenblätter (Melissae folium PhEur 5) sind die getrockneten Laubblätter von Melissa oicinalis L. (Familie: Lamiaceae [IIB23d]). M. oicinalis stammt ursprünglich aus dem östlichen Mittelmeergebiet und aus Westasien. Die Planze variiert ziemlich stark in Wuchs, Größe, Behaarung, Geruch und im Gehalt an ätherischem Öl und folglich in der chemischen Zusammensetzung. Sie wird heute vorwiegend in Europa, Nordafrika und Amerika zur Drogengewinnung angebaut.
Geranial (Citral a)
Inhaltsstoffe
x Ätherisches Öl (ca. 0,05–0,2%; unter besonderen Klimabedingungen weisen bestimmte Formen Gehalte über 0,8% auf; vgl. Zänglein et al. 1995) mit den beiden stereoisomeren Aldehyden Geranial (Citral a) und Neral (Citral b) sowie Citronellal als mengenmäßig dominierenden Bestandteilen ( > Abb. 25.41); x Phenolcarbonsäuren [bis 11%; Chlorogen-, Ferula-, p-Cumar- und Kafeesäure; frei, teilweise verestert oder in glykosidischer Bindung; Rosmarinsäure (Formel vgl. ( > Abb. 26.12); PhEur = mindestens 4,0% Hydroxyzimtsäure-Derivate berechnet als Rosmarinsäure]; x [2-(3c,4c-Dihydroxyphenyl)-1,3-benzodioxol-5-aldehyd]; zerfällt leicht in 2 Moleküle Protocatechualdehyd (Tagashira u. Ohtake 1998), ferner; x Monoterpen- und geringe Mengen Flavonoidglykoside (Luteolinglykoside; 0,5%), Cumarine, Triterpene, Gerbstofe, Kohlenhydrate und Mineralstofe. Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Fingerprintchromatogramm
(PhEur) der typischen sauerstohaltigen Terpene [Fließmittel: Ethylacetat–Hexan (10:90); Referenzsubstanzen:
H3C
CH3
H3C
Neral (Citral b)
CH3
CH3
R
S
CHO
CHO
Sensorische Eigenschaften. Besonders deutlich beim
Zerreiben riecht das Melissenblatt frisch zitronenartig (daher auch der Name Zitronenmelisse) mit blumiger Nachnote. Bei längerer Lagerung der Droge kann der Geruch verschwinden, besonders bei Herkünten, die arm an ätherischem Öl sind. Die Droge schmeckt würzig und leicht bitter.
CH3
H3C
CHO
CH3
(+)-Citronellal
H3C
CH3
(−)-Citronellal
Echtes Melissenöl, das aus der Zitronenmelisse (Melissa officinalis) destilliert wird, enthält als charakteristische Hauptkomponenten Geranial und Neral (Citral a und b) sowie (+)-Citronellal. Sie sind biochemisch bei den azyklischen, regulär gebauten Monoterpenen einzuordnen. Bei den Citralen a und b handelt es sich chemisch um 3,7-Dimethyl-2,6-octadienale der Bruttoformel C10H16O, wobei dem Geranial die 6 E-, dem Neral die 6Z-Form zukommt. In der Natur treten sie in der Regel gemeinsam auf, so auch im Melissenöl. Beide Verbindungen sind bei Raumtemperatur leicht gelb gefärbte, ölige Flüssigkeiten. Das Verhältnis Geranial zu Neral ist recht konstant (4:3) (Schultze et al. 1989), während das Citral/Citronellal-Verhältnis stark schwanken kann. Bei der Mehrzahl der echten Melissenöle liegt es durchschnittlich bei 51,3:7,8 (Zänglein et al. 1995). Die 3 oxygenierten Monoterpene sind für den frischen, zitronenähnlichen Geruch des Öls verantwortlich. Geranial riecht intensiv nach Zitrone; Neral riecht zwar auch zitronenartig, jedoch weniger intensiv mit blumiger Nachnote. Reines Citronellal erinnert an Zitrone bzw. an die Zitronenmelisse
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
25
Citronellal, Citral; Nachweis: Anisaldehydreagens]. Citral (Doppelzone) und Citronellal werden anhand der Referenzsubstanzen lokalisiert. Sie färben sich nach dem Besprühen mit dem Anisaldehydreagens im Tageslicht als grauviolette bis bläulichviolette (Citral) bzw. graue bis grauviolette Zonen (Citronellal). Eine zwischen den beiden Substanzen vorkommende rötlichviolette Zone entspricht dem Caryophyllenepoxid. Diese Substanz gilt als speziischer Bestandteil des echten Melissenöls (vgl. Schultze et al. 1989).
Hinweis. Der Melissen- oder Karmelitergeist einzelner Arzneibücher, z. B. der Spiritus melissae compositus, ist kein Destillat, sondern eine Lösung von ätherischen Ölen in Ethanol-Wasser, wobei anstelle des echten Melissenöls das Citronell- und Lemongrasöl [von Cymbopogon-Arten, insbesondere von C. winterianus Jowitt (Familie: Poaceae [IIA9a])] verwendet wird. Die zutreffendere Bezeichnung ist die der Helv 10 als Citronellae spiritus compositus.
Gehaltsbestimmung. Auf eine Bestimmung des Gehalts an ätherischem Öl wird verzichtet, obwohl heute aufgrund der veränderten Marktsituation ein Mindestgehalt von 0,05% gefordert werden könnte (vgl. Zänglein et al. 1995). Anders als in den früheren Monographien der Arzneibücher führt die PhEur aber eine spektrophotometrische Bestimmung des Gesamtgehalts an Hydroxyzimtsäure-Derivaten auf, was im Hinblick auf neuere Erkenntnisse bezüglich der diskutierten Wirkstofe zu begrüßen ist. Anmerkung: Melissenverfälschungen lassen sich in der Regel mit DC nicht mehr erkennen. Diese können mit enantioselektiver multidimensionaler GC bzw. mit GC-IRMS nachgewiesen werden (Schultze et al. 1995; Hener et al. 1995). Citronellal liegt im echten Melissenöl zu 97,7–99% als (+)-Enantiomeres vor (= (+)-(R)Form). Liegen die Werte tiefer, handelt es sich um ge13 streckte Öle. Der G C-Wert für Substanzen des echten Melissenöls liegt zwischen –24 und –32‰, was weitgehend den Literaturdaten für Substanzen von C3-Planzen entspricht (Schultze et al. 1995). > dazu auch Kap. 25.2.3.
Herpes simplex. Durch das Herpes-simplex-Virus ausge-
Infobox löste, insbesondere an den Lippen (Herpes labialis; meist durch HSV-1 verursacht) und Genitalien (Herpes genitalis; vorwiegend durch HSV-2 ausgelöst) auftretende, gruppierte Bläschen auf gerötetem Grund. In Europa liegt die Durchseuchung mit Herpes-simplex-Viren bei rund 90%. Nach einer Erstinfektion können exogene Auslöser wie UV-Exposition oder lokale Traumen, aber auch akute Infekte und endogene Faktoren wie Stress ein Rezidiv auslösen. Die in den Ganglienzellen latent vorhandenen Viruspartikel wandern über die Nervenfasern in die entsprechenden Hautareale ein und führen zu einem Ausbruch der Infektion. Am Beginn steht das sog. Prodromalstadium, das einige Stunden dauert und mit einem lokalen Erythem und Spannungsgefühl einhergeht. Es folgt eine Schwellung mit der Bildung von hochkontaginösen Bläschen. Unangenehme Symptome wie Schmerzen und Brennen stellen sich ein. In der Heilungsphase kommt es zur Krustenbildung, die häufig von Juckreiz begleitet wird (vgl. Mohrig 1996). Als therapeutische Maßnahme kommt die Behandlung mit Nukleosidanaloga oder mit Melissenextrakt in Betracht.
Verwendung. In Form der Droge für Teezubereitungen,
z. T. auch für Melissenbäder (Phytobalneologie), zur Herstellung von sprühgetrockneten Extrakten für sofortlösliche Tees, Trockenextrakten (Melissae folii extractum siccum PhEur, in Vorbereitung) sowie eines Trockenextraktes (70:1) mit angereicherter Phenolcarbonsäurefraktion für Salben (Behandlung von Herpes labialis, > Infobox); zur Herstellung von echtem Melissenöl und von Destillaten, meist mit weiteren Drogen, die ätherisches Öl führen („Melissengeist“). Ein bekanntes Markenpräparat der Gruppe „Melissengeist“ wird hergestellt aus einer Mischung von Melissenblättern, Orangenschalen, Ingwerwurzel, Nelken, Zimtrinde u. a. m.; die Kräutermischung wird in Ethanol angesetzt und destilliert.
Wirkungen und Anwendungsgebiete. Beruhigend,
carminativ, antibakteriell, spasmolytisch. Diese Wirkungen sind dem ätherischen Öl zuzuschreiben (vgl. Übersicht von Koch-Heitzmann u. Schultze 1988), das wie die meisten ätherischen Öle, eine antibakterielle und spasmolytische Wirkung hat. Daneben wirken sowohl das ätherische Öl sowie auch der wässrige Extrakte antioxidativ. Zur Behandlung nervös bedingter Einschlafstörungen sowie funktioneller Magen-Darm-Beschwerden (Kommission E, ESCOP). Gemäß Kommission E können Kombinationen mit anderen beruhigend und/oder carminativ wirksamen Drogen sinnvoll sein [vgl. dazu auch Kap. 23.3.4
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
(Baldrianwurzel), 25.4.1 (Hopfenzapfen, S. 1236 (Passionsblumenkraut)]. Wässrige Extrakte weisen an verschiedenen Testmodellen eine antivirale Wirkung auf. Die antivirale Wirkung wird der Rosmarinsäure (vgl. auch S. 1160) und anderen gerbstoffreien Polyphenolen mit glykosidischer Struktur zugeschrieben (vgl. Übersicht von Mohrig 1996). Extrakte, in eine hydrophile Salbengrundlage verarbeitet, verwendet man daher lokal zur Behandlung von Herpes labialis. In verschiedenen klinischen Studien (vgl. z. B. Wölbling u. Leonhardt 1994) erwies sich der Melissenextrakt bei der topischen Behandlung von Herpes labialis als gleichwertige Alternative zu topisch anzuwendenden Präparaten auf der Basis von Nukleosidanaloga, wenn die herapie in einem sehr frühen Stadium der Infektion erfolgte. Die Vorteile dieser herapie gegenüber der Anwendung von Nukleosiden liegen darin, dass keine Nebenwirkungen, keine virale Re-
sistenz und keine Verkürzung der rezidivfreien Intervalle autreten. Melissengeist (Karmelitergeist) ist ein vielfältig brauchbares Hausmittel: innerlich bei nervösen Magen- und Darmbeschwerden; äußerlich als Einreibung bei Nervenschmerzen, Muskelkater und Hexenschuss. Hinweis: An der Wirkung von Melissengeist ist außer den ätherischen Ölen v. a. auch der Alkohol beteiligt. Bezüglich der pharmakologischen Eigenschaften des Alkohols > die Lehrbücher der Pharmakologie. Im vorliegenden Zusammenhang interessieren folgende Eigenschaten: Alkohol ist ein wirksames Stomachikum, das sowohl die psychische (kephale) Phase der Verdauung anregt als auch örtlich einen verstärkten Magensatluss induziert. Äußerlich wirkt Alkohol hyperämisierend (leicht entzündungserregend), aber zugleich auch leicht adstringierend (durch Wasserentzug) und kühlend (infolge Verdampfung).
. Abb. 25.42
Wirkungsmechanismus von Melissenextrakt bei Herpes labialis (nach NN 1998). Das Herpes-Virus (HSV-1) ist von einer Hülle umgeben, auf dem sich Rezeptoren befinden. Mit diesen Rezeptoren kann sich das Virus an die Hautzellen (Keratinozyten) anheften, die ihrerseits über die dazu passenden Rezeptoren verfügen. Die Phase der Adsorption ist notwendig, damit das genetische Material des Virus (DNA) in die Keratinozyten eindringen und sich dort vermehren kann. Bestandteile des Melissenextraktes (glykosidisch gebundene Phenolcarbonsäuren und deren Polymere) binden an die Rezeptoren sowohl des Virus als auch der Zelle. Sie verhindern die Adsorption und damit die Infektion der Zellen
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
Wirkungsmechanismus. Die antivirale Wirkung wird dem
Schutz nichtinizierter Zellen vor dem Eindringen der Viren durch im wässrigen Melissenextrakt enthaltene, glykosidisch gebundene Phenolcarbonsäuren und deren Polymeren zugeschrieben (= Verhinderung der Virusadsorption; > Abb. 25.42). Es wird postuliert, dass diese Substanzen im ersten Schritt der Infektion durch Herpesviren (HSV-1, HSV-2) durch Anlagerung an die Oberläche der Zellen und/oder Viren speziische Rezeptoren blockieren und somit das Anheten der Viren an die Zellen, das Eindringen der Viren in die Zellen, das Verändern des Zellstofwechsels und schließlich die Virusvermehrung verhindern (vgl. Übersicht von Mohrig 1996). Während man bei einer Reihe von antiviral wirksamen Stofen (z. B. Nukleosiden, Zinksulfat), aber auch bei Planzenstofen (z. B. Glycyrrhizin; vgl. S. 956) heute detaillierte Kenntnisse über die Wirkmechanismen hat, sind bei der Melisse sowohl die antiviral wirksamen Inhaltsstofe als auch die Wirkung und der Wirkungsmechanismus ungenügend erforscht. Unerwünschte Wirkungen. Bei Anwendung von alkohol-
freien Melissenzubereitungen sind Nebenwirkungen nicht zu befürchten, bei spirituösen Präparaten nur bei missbräuchlicher Verwendung: zur Ethanolwirkung kommt dann aber verstärkend die zentrale Terpenwirkung hinzu.
Wacholderbeeren Herkunft. Wacholderbeeren (Iuniperi pseudo-fructus
PhEur 5) besteht aus den reifen, getrockneten Beerenzapfen von Juniperus communis L. (Familie: Cupressaceae [IC1b]). Der gewöhnliche oder gemeine Wacholder ist ein in Europa, Nordasien und Nordamerika heimischer, 1–2 m hoher immergrüner diözischer Strauch. Die Beerenzapfen stellen aus botanisch-morphologischer Sicht eine Scheinfrucht dar; sie bildet sich, indem 3 leischig werdende Fruchtblätter zu einer kugeligen Scheinbeere verwachsen. Die Droge stammt von natürlichen Standorten. Sensorische Eigenschaften. Beim Zerreiben macht sich
ein koniferenartiger, an Terpentin erinnernder Geruch bemerkbar. Wacholderbeeren schmecken süß mit einem bitter-herben Nachgeschmack. Inhaltsstoffe
x Ätherisches Öl (0,5–2,5%; PhEur = mindestens 10 ml u kg–1), das hauptsächlich aus Monoterpenkohlen-
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wasserstofen (vgl. Schilcher et al. 1993), darunter D-Pinen (30–40%; Formel > Abb. 25.45), Sabinen (13–29%; Formel > Abb. 25.16), Myrcen (7–18%; Formel > Abb. 25.19) und Limonen (2,7–11%; Formel > Abb. 25.24), besteht und somit an das Terpentinöl ( > S. 1101 und 1126) erinnert. Daneben kommen sauerstohaltige Monoterpenderivate vor, u. a. Terpinen-4-ol (0,5–12,5%; Formel > Abb. 25.16) sowie Sesquiterpene, u. a. E-Caroyphyllen (Formel > Abb. 25.19). Während beim D-Pinen das (–)-(S)Enantiomere vorherrscht, ist beim Limonen die (+)-(R)- und beim Terpinen-4-ol die (–)-(R)-Form dominierend (Ravid et al. 1992; Sybilska et al. 1994); x Flavonoidglykoside und Bilavonoide (Hiermann et al. 1996), Proanthocyanidine, Catechingerbstofe; x Diterpensäuren mit dem seco-Abietangrundgerüst (z. B. Isocommunsäure), Invertzucker (etwa 30%). Analytische Kennzeichnung. DC-Fingerprintchroma-
togramm (PhEur) mit Nachweis von Terpinen-4-ol [Fließmittel: Ethylacetat–Toluol (5:95); Referenzsubstanzen: Guajazulen, Cineol; Nachweis: Anisaldehydreagens]. Aufgrund von Färbung und Fließverhalten in Bezug auf die beiden im Wacholderöl nicht vorkommenden Referenzsubstanzen werden Flecken für einzelne Substanzgruppen und von Terpinen-4-ol (grauviolette Zone) nachgewiesen. Verwendung. Pharmazeutisch verarbeitet man Wachol-
derbeeren zu Trockenextrakten, die Bestandteil verschiedener Fertigarzneimittel sind, und zur Gewinnung von Wacholderöl (Iuniperi aetheroleum PhEur 5). Wacholderöl dient zur Herstellung von Wacholdergeist (Iuniperi spiritus Helv 10) und von Fertigarzneimitteln. In der Lebensmittelindustrie werden Wacholderbeeren als Gewürz für Sauerkraut, Wild, Wildgelügel und Fischmarinaden sowie zur Herstellung von Wacholderbranntwein (Steinhäger, Genever, Doornkaat, Gin) verwendet. Wirkungen und Anwendungsgebiete. Wacholderbeeren
sollen nach älteren experimentellen Befunden harntreibende, antimikrobielle und choleretische Eigenschaten haben. Die Kommission E nennt dyspeptische Beschwerden als Anwendungsgebiet, ESCOP zusätzlich die vermehrte renale Auscheidung von Wasser. Gemäß ESCOP sind diese Indikationen bisher nicht durch adequate wissenschatliche Arbeiten belegt. Die traditionelle volksmedizinische Anwendungsweise als Aquaretikum, die aufgrund möglicher Neben-
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
wirkungen (nephrotoxische Wirkungen) durch einen zu hohen Gehalt an Monoterpenkohlenwasserstofen als obsolet gilt, wird neuerdings wieder postuliert (Schilcher et al. 1993; Übersicht von Schilcher u. Heil 1994). Die Autoren schlagen als weitere Indikation „zur Durchspülung bei bakteriellen und entzündlichen Erkrankungen der ableitenden Harnwege und zur Vorbeugung und Behandlung von Nierengrieß“ vor. Diese Anwendung ist vertretbar, falls, wie die Autoren fordern, ein phytochemisch exakt deiniertes terpenkohlenwasserstofarmes Wacholderöl (Verhältnis Terpinen-4-ol zu Monoterpenkohlenwasserstofen 1:3 bis 1:5) vorliegt, da neue Untersuchungen an Ratten (p.o.-Applikation) gezeigt haben, dass solche Öle, wie auch der Reinstof Terpinen-4-ol, keine nephrotoxische Wirkung aufweisen (Schilcher u. Leuschner 1997). Ein Nachweis der aquaretischen Wirkung muss allerdings noch mit gezielten klinischen Studien erbracht werden, ebenso fehlen weitgehend Untersuchungen über die aquaretische (diuretische) Wirkung von Terpinen-4-ol. Es wird angenommen, dass dafür neben Terpinen-4-ol auch hydrophile Inhaltsstofe verantwortlich sind. Zubereitungen aus Wacholderbeeren, soweit sie ätherisches Öl enthalten, wirken carminativ und appetitanregend. Wacholderbeeröl dient als Zusatz für Badeöle und Badesalze sowie in Salben inkorporiert zur lokalen Hyperämisierung.
! Kernaussagen
In Kap. 25.4.3 werden Ätherischöldrogen zusammengefasst, die als blähungstreibende Mittel (= Carminativa) verwendet werden. Carminativa enthalten ätherische Öle, die im Magen-Darm-Trakt spasmolytisch, gärungswidrig und verdauungsfördernd wirken. Carminativa werden auch Abführmittelkombinationen zugesetzt, um krampfartige Leibschmerzen, die insbesondere bei höherer Dosierung als Laxans auftreten, zu antagonisieren. Besonderheiten stellen die Kamille und die Melisse dar. Extrakte der Kamille weisen neben einer spasmolytischen eine antiphlogistische Wirkung auf. Kamillenzubereitungen werden daher sowohl innerlich als auch äußerlich bei entzündlichen Erkrankungen (Gastrointestinaltrakt, Haut- und Schleimhaut, Anal- und Genitalbereich, Luftwege) verwendet. Wässrige Extrakte der Melisse werden aufgrund ihrer antiviralen Wirkung zur lokalen Behandlung von Herpes labialis als Alternative zu Nukleosidanaloga verwendet. Glykosidisch gebundene Phenolcarbonsäuren (Rosmarinsäure) und deren Polymere verhindern die Adsorption des Virus und damit die Infektion der Zellen, unter der Voraussetzung, dass mit der Therapie in einem sehr frühen Stadium der Infektion begonnen wird.
Schlüsselbegriffe Anethol Anis Anisi fructus Anisöl Antiphlogistikum Apigenin Aquaretikum Ätherisches Öl Bisaboloide (–)-D-Bisabolol Blähungstreibende Mittel Carminativa Carum carvi Carvi aetheroleum Carvi fructus Carvon Chamazulen Dyspeptische Beschwerden
Estragol Fenchel Fenchelöl Fenchon Foeniculi fructus Foeniculum vulgare Geranial Geschmackskorrigens Haut- und Schleimhautentzündungen Herpes labialis Illicium verum Iuniperi pseudo-fructus Juniperus communis Kamillenblüten Katarrhe der Luftwege Kontaktallergie Kümmel Kümmelöl
Matricaria recutita Matricariae flos Matricin Melissa officinalis Melissae folium Melissenblätter Neral Pimpinella anisum Rosmarinsäure Spasmolytikum Sternanis Sternanisöl Stomachika Terpinen-4-ol Virusadsorption Wacholderbeeren Wirkungen (antibakteriell, antifungal, antiviral, expektorierend)
25.5 Ätherische Öle als Expektoranzien
25.5
Ätherische Öle als Expektoranzien
25.5.1
Vorstellungen zur Wirkweise
Lokale Reizwirkungen Zweiphasische Dosis-Wirkungs-Beziehungen (Umkehreffekt). Expektoranzien sollen bei Bronchitis oder
anderen obstruktiven Atemwegserkrankungen den zähen Schleim dünnlüssiger machen. Die Verwendung von Arzneimitteln, die ätherisches Öl enthalten, hängt eng mit der lokalen Reizwirkung der ätherischen Öle zusammen. Ob ein sekretverlüssigender Efekt erzielt wird, hängt entscheidend von der Dosis sowie von der Applikationsform ab. Bezüglich der Dosis gilt die Gesetzmäßigkeit, wie sie allgemein jede reiztherapeutische Maßnahme kennzeichnet: die als „Umkehrefekt“ bekannt gewordene zweiphasische Dosis-Wirkungs-Beziehung. Kleine Dosen eines
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lokal reizenden ätherischen Öls führen zu einer Mehrsekretion von Atemwegslüssigkeit und durch eine Art von Verdünnungsefekt zur Sekretverlüssigung; höhere Dosen führen zu einer Verminderung von Schleim und Exsudat. Die Bezeichnung zweiphasisch ist nicht ganz präzise, da es unterhalb der wirksamen Phasen einen unwirksamen Dosisbereich gibt, der die Reizschwelle nicht erreicht. Der Dosisbereich, innerhalb dessen es zum „Umkippen“ von der Förderung zur Hemmung kommt, ist – sieht man von der Anwendungsform der Dampinhalation ab ( > Kap. 25.5.2) – nicht hinreichend genau ermittelt. Ob es zu einer Verminderung des Expektorats kommt, ist allerdings nicht ausschließlich eine Dosisfrage: Bei Vorliegen einer Mischinfektion mit sekretzersetzenden Erregern können einzelne ätherische Öle bakterizid wirken mit dem natürlich erwünschten Ergebnis, dass sich die Menge des eitrigen Sekrets vermindert. In der Vorantibiotikaära hat man von der sekretvermindernden Wirkung
. Abb. 25.43
Richtung Kehlkopf Plaque
Plaque
Surfactant
Staubkorn
Bakterien
Gelphase Solphase
seröse Drüsen zellen
muköse Drüsen zellen submuköse Drüse
Becherzellen
Flimmerepithel mit Zilien
Schematische Darstellung der Transportvorgänge an der Bronchialschleimhaut (nach Kurz 1986). Eine wichtige Rolle bei der Selbstreinigung der Lunge spielen Schleimbildung und Schleimtransport durch die Tätigkeit der Zilien. Man nennt dies die mukoziliäre Clearance. Sie setzt sich hauptsächlich aus zwei Faktoren zusammen: a) dem oralwärts (Richtung Kehlkopf) gerichteten Zilienschlag des Flimmerepithels und b) der Mukusschicht, die aus einer dünnflüssigen Solphase und einer dickflüssigen Gelphase besteht. Der dickflüssige Schleim der Gelphase wird von den Becherzellen und den submukösen Drüsenzellen produziert. Er schwimmt in Form von Plaques auf der dünnflüssigen Solphase. Der dünnflüssige Schleim wird von den serösen Drüsenzellen sezerniert. Das Surfactant bewirkt durch seine grenzflächenaktiven Eigenschaften, dass die Plaques nicht miteinander verkleistern. Der Transport der Plaques erfolgt durch die Bewegung der Zilien in der Solphase. Dadurch wird der Schleim mit den darauf haftenden Staubteilchen oder Mikroorganismen nach außen transportiert
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
ätherischer Öle reichlich Gebrauch gemacht, indem man z. B. Terpentinöl inhalieren ließ. In der Praxis besteht aber das Problem seltener darin, dass die Dosis zu hoch gewählt wird. Der wohl häuigere Fall ist der, dass zu niedrig dosiert wird. Vor allem gilt dies für viele Hustensäte, Hustentropfen, Hustenpastillen und Lutschtabletten. Auch mit dem Teeaufguss dürte es kaum möglich sein, wirksame Dosen an den Wirkort Lunge heranzuführen ( > unten). Ob die zweiphasische Dosis-Wirkungs-Beziehung auch für die Tätigkeit des Flimmerepithels gilt, ist zwar nicht eingehend experimentell geprüt, doch lassen sich mit der Wirkungsumkehr zwanglos experimentelle Befunde erklären, die ansonsten in sich widersprüchlich wären. Nach Dolder (1978) lösen die meisten ätherischen Öle eine Lähmung der Zilien aus, was eine unerwünschte antisekretomotorische Wirkung darstellt. Andererseits verstärken zahlreiche ätherische Öle die Flimmerbewegung der Rachenschleimhaut. Auch eine dritte Möglichkeit indet sich: am Meerschweinchen sahen andere Untersucher weder Beschleunigung noch Hemmung der Flimmertätigkeit (Hauschild 1956).
scheidung eines Teils des zugeführten ätherischen Öls in Rechnung zu stellen, sodass nur ein Bruchteil die Lungen erreicht und dort ausgeschieden werden kann.
25.5.2
Ätherische Öle, die bevorzugt inhalativ angewendet werden
Allgemeines über inhalative Anwendung Inhalation. Die einfachste Form besteht darin, über einem
Direkte Stimulation der serösen Drüsenzellen
Topf mit heißem Wasser zu inhalieren. Der Patient leitet den aufsteigenden Dampf ins Gesicht, indem er über seinen Kopf und den Topf ein Badetuch deckt. Während der Anwendung wird krätig durch Mund und Nase geatmet. Bequemer sind Inhalationsgeräte. Die folgenden Arzneiformen sind zur inhalativen Anwendung geeignet: x die Droge selbst, die man mit dem heißen Wasser überbrüht und die aufsteigenden Dämpfe ( > oben) einatmet; x das ätherische Öl oder ein Gemisch ätherischer Öle, gelöst in Ethanol oder in Vaseline inkorporiert; x das ätherische Öl oder ein Gemisch ätherischer Öle in unverdünnter Form.
Die ätherischen Öle gehören überwiegend zu den direkt wirkenden Expektoranzien. Dies bedeutet, sie müssen – anders als die Relexexpektoranzien – die sezernierenden Drüsenzellen der Atemwege in ausreichender Konzentration erreichen. Nun gibt es 2 Typen von Drüsenzellen: die mukösen, die an der „pathologischen Schleimabsonderung“ beteiligt sind, und die serösen Drüsenzellen (vgl. > Abb. 25.43). Die ätherischen Öle stimulieren überwiegend die serösen Drüsenzellen, weniger hingegen die mukösen Drüsenzellen mit dem Ergebnis, dass sich Volumen und Zusammensetzung des Bronchialsekrets ändern (Schneider 1978); das Sekret wird lüssiger, was das Abhusten erleichtert, und die Volumenzunahme erzwingt die Abhustrelexe. Ätherische Öle wirken daher als Sekretolytika (Verbesserung des Sekretionsmodus der schleimproduzierenden Zellen) und als Sekretomotorika (Steigerung der mukoziliären Clearance) (vgl. dazu auch Siegers 1994; Pieper 1995). Am einfachsten lassen sich ätherische Öle durch die verschiedenen Formen von Inhalationen an den Wirkort heranführen. Bei oraler Anwendung ist die Verteilung im ganzen Körper, die Metabolisierung und renale Aus-
Die zuletzt genannte Anwendungsform ist deshalb wenig empfehlenswert, weil die Öle zu schlagartig in zu hoher Konzentration frei werden (cave: Umkehrefekt). Für die inhalative Anwendung ist es essentiell, die ätherischen Öle stark verdünnt anzuwenden, und zwar so stark verdünnt, dass der Geruch des Öls nur schwach wahrnehmbar ist (Boyd u. Sheppard 1970). Auch die modernste Form der Inhalation, die Zerstäuberinhalation, kann angewandt werden, sofern dafür Sorge getragen wird, dass kein Aerosol mit zu hoher Konzentration an ätherischem Öl eingeatmet wird (Umkehreffekt, ( > oben). Als Lösungs- und Verdünnungsmittel für die ätherischen Öle kommen Parainöl, Glycerin und Propylenglykol in Frage. Das günstigste Lösungsmittel dürte der Alkohol sein, der selbst bronchomukotrope Eigenschaten aufweist. Inhalativ wirksam sind die folgenden Arzneistofe (zur Pharmakokinetik nach Inhalation > Römmelt et al. 1988): x Camphen, enthalten in zahlreichen ätherischen Ölen; x Limonen, Citral, Citronellal und Geraniol, enthalten im Melissenöl, im Zitronenöl und in Grasölen;
25.5 Ätherische Öle als Expektoranzien
x D-Pinen und Limonen, enthalten im gereinigten Terpentinöl, im Latschenkiefernöl, in Ölen aus Pinus- sowie Abies-Arten (Fichtennadelölen) und im Muskatöl; x Cineol, enthalten im Eucalyptusöl und in Myrtaceenölen. Erkältungsbalsame (Erkältungssalben). Die „Balsame“ bestehen aus einer Lösung bestimmter ätherischer Öle vorzugsweise in Kohlenwasserstofen vom Typus der Vaseline. Häuige Bestandteile sind die folgenden Öle: Eucalyptusöl, Fichtennadelöl, Rosmarinöl, Terpentinöl, Lavendelöl neben den Reinterpenen Menthol, hymol, Campher und Eucalyptol (1,8-Cineol). Erkältungsbalsame oder Erkältungssalben können inhalativ oder cutan angewendet werden. Ein 5–10 cm langer Salbenstrang wird mit etwa 1 l Wasser überbrüht, die aufsteigenden Dämpfe sind einzuatmen. Zur kutanen Anwendung wird die Salbe auf Hals, Brust und Rücken einmassiert. Die kutane Applikationsform ist eine Art Mischform zwischen inhalativer und systemischer Zufuhr. Durch Verdunsten unter der Körperwärme gelangen bestimmte Anteile der ätherischen Öle zur Inhalation. Ein anderer Anteil wird durch die Haut resorbiert, wobei allerdings stofabhängige große Unterschiede in der Resorptionsquote und der Resorptionsgeschwindigkeit bestehen. Die Öle sind im Tierversuch spätestens 2 h nach cutaner Applikation in der Ausatmungslut nachweisbar. Badezusätze. Bei der Anwendung von Badeölen und Badesalzen werden ätherische Öle freigesetzt, die z. T. auch eingeatmet werden. Somit ist mit einem gewissen inhalativ-expektorierenden Efekt zu rechnen, zumindest, wenn Melissenöl, Citronellöl, Wacholder- oder Fichtennadelöle als Bestandteile des Badezusatzes enthalten sind. Es besteht ofenbar die Praxis, bestimmte Terpene als Ersatzstofe für qualitativ unzureichende Öle oder als Geruchsstof Bädern zuzusetzen, beispielsweise Borneol oder Bornylacetat im Falle von Koniferenöl oder Rosmarinöl. Die Kommission B8 hat diese Stofe negativ bewertet, da die pharmakologische Wirkung von Borneol und Bornylacetat als Badezusatz unklar ist ( > Übersicht von hesen et al. 1992).
25
Muskatnuss Herkunft. Die äußerlich einer Aprikose ähnliche Frucht
des Muskatbaums, Myristica fragrans Houtt. (Familie: Myristicaceae [II4a]), spaltet sich bei der Reife in 2 Hälten und lässt im lederartig-derben Fruchtleisch den mit einem leuchtend roten Samenmantel (Arillus) bedeckten Samen erkennen. Der Arillus wird getrocknet und kommt als Macis in den Handel. Die vom Arillus befreiten Samen werden 4–8 Wochen lang getrocknet, bis sich die Samenschalen vom Samenkern lösen; durch Aufschlagen wird der Samenkern von der Samenschale befreit und zum Schutz gegen Insektenfraß gekalkt. Diese dann mit einem weißlichen Überzug versehenen Samenkerne kommen als Muskatnuss in den Handel. Sensorische Eigenschaften. Krätig aromatischer Ge-
ruch; brennend-würziger, später etwas bitterer Geschmack. Inhaltsstoffe
x Ätherisches Öl (bis 16%) mit über 80% Monoterpenkohlenwasserstofen und Monoterpenalkoholen sowie etwa 10% Phenylpropanen (vgl. unter Muskatöl); x fettes Öl (= Muskatbutter; bis 40%) mit einem hohen Anteil (von etwa 75%) am Triglycerid der Myristinsäure, einer gesättigten C14-Fettsäure, ferner; x Neolignane, Sterole, Stärke (etwa 30%), Zucker, Pektine und Farbstofe. Verwendung. In Form alkoholischer Auszüge und zur
Gewinnung des ätherischen Muskatöls. Wirkungen und Anwendungsgebiete. Spasmolytisch, Hemmung von MAO und Cyclooxygenase (Prostaglandinsynthese). Muskatnuss und Macis werden bei Erkrankungen und Beschwerden im Bereich des Magen-DarmTraktes wie Durchfall, Magenkrämpfen, Darmkatarrh und Blähungen angewendet. Da die Wirksamkeit bei diesen Indikationen nicht belegt ist, ist eine therapeutische Anwendung unter Berücksichtigung der Risiken > unter toxikologische Aspekte) nicht vertretbar (Kommission E). Gegen die Verwendung als Gewürz (z. B. für Kartofelgerichte, Gemüse und Eintöpfe, auch für Fleisch und Wild) bestehen keine Bedenken. Toxikologische Aspekte. Größere Mengen der Muskat-
nuss sind gitig. Insbesondere in Kombination mit Alko-
1099
1100
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
hol kann es zu Halluzinationen, Euphorie und Angstzuständen kommen. Die für die toxische, aber auch die halluzinogene Wirkung verantwortlichen Inhaltsstofe sind Phenylpropane, insbesondere Myristicin, daneben auch Elemicin und Safrol. Die Substanzen werden im Köper zu Amphetaminderivaten metabolisiert. Aus Myristicin entsteht Methylendioxyamphetamin (MDA) oder 3-Methoxy-4,5-methylendioxyamphetamin (MMDA), aus Elemicin 3,4,5-Trimethoxyamphetamin (TMA) und aus Safrol 3,4-Methylendioxymethamphetamin (MDMA), besser unter dem Namen „Ecstasy“ bekannt. Unerwünschte Wirkungen. Übelkeit, Tachykardie, Hallu-
zinationen bei nichtbestimmungsgemäßem Gebrauch.
nen Zone auf der Höhe der Referenzsubstanz Myristicin können verschiedene violette und braune Zonen vorkommen. Prüfung auf Reinheit. Die PhEur nimmt bei Muskatöl ein
„chromatographisches Proil“ (vgl. Kap. 25.2.3 und > Tabelle 25.2) auf. Es werden 9 Substanzen mit der Angabe von zulässigen Grenzwerten bestimmt: D-Pinen (15–28%), E-Pinen (13–18%), Sabinen (14–29%), '3-Caren (0,5– 2,0%), Limonen (2,0–7,0%), J-Terpinen (2,0–6,0%), Terpinen-4-ol (2,0–6,0%), Safrol Abb. 25.16), D- und E-Pinen (Formeln > Abb. 25.45) sowie Terpinen-4-ol [Formel > Abb. 25.16; über 70% in der (+)(S)-Form (Ravid et al. 1992)]. Das früher als Hauptbestandteil angesehene (+)-Camphen kommt nach neueren Untersuchungen im Muskatöl nicht vor (vgl. König et al. 1992). Daneben kommen ca. 9 Phenylpropanderivate vor, mit Myristicin (Formel > Abb. 25.4) als Hauptbestandteil (bis 18%). Zur Toxikologie von Myristicin > unter Muskatnuss.
Citronellöl Herkunft. Citronellöl (Citronellae aetheroleum PhEur 5)
gewinnt man durch Wasserdampfdestillation der frischen oder partiell getrockneten oberirdischen Teile von Cymbopogon winterianus Jowitt (Familie: Poaceae [IIA9a]). Die Stammplanze des auch als Java-Typ bezeichneten Öls wird außer in Indonesien in China, Taiwan, Indien sowie in Mittel- und Südamerika angebaut. Daneben gibt es das Öl vom Ceylon-Typ. Es wird aus C. nardus (L.) Rendle gewonnen und ausschließlich in Sri Lanka produziert.
Analytische Kennzeichnung Sensorische Eigenschaften. Citronellöl ist eine blassgelb Prüfung auf Identität. Fingerprintchromatogramm
(PhEur) mit Nachweis von Safrol [Fließmittel: Ethylacetat–Toluol (5:95); Referenzsubstanz: Myristicin; Nachweis: Vanillin-Schwefelsäurereagens]. Das Safrol erscheint nach dem Besprühen mit dem Vanillin-Schwefelsäurereagens als bräunliche Zone. Neben einer rötlichbrau-
gefärbte Flüssigkeit, die einen angenehm frischen Geruch nach Citronellal aufweist. In der Parfümerie gilt der JavaTyp als das geruchlich feinere Öl. Zusammensetzung. Charakteristische Bestandteile sind
Citronellal (Formel
> Abb.
25.41;
> zum
Enantiome-
25.5 Ätherische Öle als Expektoranzien
25
renverhältnis > unter Prüfung auf Reinheit, Anmerkung) und Geraniol (Formel > Abb. 25.2). Für weitere Bestandteile > unter analytische Kennzeichnung, Prüfung auf Reinheit.
wie z. B. dem Citronellae spiritus compositus (Helv 10). Ferner zum Parfümieren von Haushaltprodukten und als Bestandteil von Insektenabwehrmitteln.
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. Fingerprintchromatogramm
Terpentinöl (gereinigtes Terpentinöl)
(PhEur) mit Nachweis von Citronellal [Fließmittel: Ethylacetat–Toluol (10:90); Referenzsubstanz: Citronellal; Nachweis: Anisaldehydreagens und UV 365 nm]. Das Citronellal erscheint nach dem Besprühen mit Anisaldehydreagens im UV bei 365 nm als violette Zone. Im unteren Viertel des Chromatogramms erscheint ferner eine orangefarbene Zone, die einer Mischung von Citronellol und Geraniol entspricht.
„Terpentinöl“ ist eine Sammelbezeichnung für unterschiedliche Produkte, die sich aus Koniferen, besonders aus Pinus-Arten, gewinnen lassen. Für arzneiliche Zwecke sind nach den Arzneibüchern ausschließlich Balsamterpentinöle zu verwenden. Unter Balsamen oder Oleoresinaten versteht man generell Lösungen von Harzen in ätherischen Ölen. Von Planzen werden sie sowohl spontan als „physiologische Produkte“ abgeschieden als auch in Beantwortung von Verletzungen oder anderen Reizen als „pathologische Produkte“.
Prüfung auf Reinheit. Die PhEur nimmt beim Citronellöl ein „chromatographisches Proil“ (vgl. Kap. 25.2.3 und > Tabelle 25.2) auf. Es werden 8 Substanzen mit der Angabe von zulässigen Grenzwerten bestimmt: Limonen (1,0–5,0%), Citronellal (30,0–45,0%), Citronellyacetat (2,0–4,0%), Neral ( S. 1092, Melissenblätter), v. a. als Komponente in Badezusätzen als Melissenbadeöl oder Melissenbadesalz; ferner zu hyperämisierenden Einreibungen,
Herkunft. Den bei der Verwundung von Koniferenstämmen austretenden Balsam bezeichnet man als Terpentin, pharmazeutisch als Terebinthina. Die wirtschatlich wichtigsten Terpentinquellen sind: x Pinus palustris Mill., die in Nordamerika vorkommende „longleaf pine“ (Sumpkiefer); x Pinus elliottii Engelm., die ebenfalls in Nordamerika vorkommende „slash pine“; x Pinus pinaster Aiton, die an der Mittelmeerküste, v. a. in Frankreich, wachsende Strandkiefer; x Pinus sylvestris L., die in weiten Teilen Europas vorkommende Gemeine Kiefer.
Die PhEur 5 führt ein Terpentinöl vom Strandkiefertyp (Terebinthini aetheroleum ab pinum pinastrum) auf, das durch Wasserdampfdestillation aus dem Harzbalsam von P. pinaster gewonnen wird. Terebinthinae aetheroleum rectiicatum (DAC 2005) ist das aus dem Balsam von Pinus-Arten, besonders P. palustris und P. pinaster, gewonnene ätherische Öl. In der unverletzten Planze beindet sich der Terpentinbalsam in schizogenen Exkretgängen von Rinde und Holz, die sich nach künstlich dem Baum beigebrachten Verwundungen entleeren. Dieser sog. primäre Harzluss ist allerdings wenig ergiebig und versiegt bald; nach etwa 14 Tagen aber – wenn sich als Folge des Wundreizes oberhalb der Wundstelle Neuholz mit vielen neuen Harzgängen gebildet hat – beginnt der Balsam erneut und reichlich zu ließen. In der Praxis geht man gewöhnlich so vor, dass man eine bestimmte Fläche des auszubeutenden Baumes
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
von der Rinde und den äußeren Anteilen des Splintholzes entblößt und an der Basis der Wundstelle eine Zinkrinne ixiert, um für den langsam herabrinnenden Balsam eine Führung in ein unterhängendes Tongefäß zu haben. Die Wundläche wird laufend erweitert, um zur Bildung immer neuer Exkretgänge anzuregen. Zahlreiche Modiikationen dieses Verfahrens der Terpentingewinnung sind bekannt, so die Methode, den Exkretluss durch Mineralsäuren zu stimulieren, wodurch das Setzen mechanischer Wunden eingespart wird. Das Rohterpentin ist dicklüssig und mit körnigen Ausscheidungen von Harzsäuren durchsetzt; als Verunreinigungen enthält es Wasser, Planzenteile, Insekten und mineralische Bestandteile. Durch Verlüssigen in der Wärme, Dekantieren und Filtrieren wird es weiter gereinigt und bildet dann das Terebinthina der Arzneibücher. Das Terebinthina der verschiedenen Pharmakopöen unterscheidet sich in Abhängigkeit von der botanischen Herkunt und den angewandten Gewinnungsund Reinigungsverfahren. Aus dem Terpentin wird das gereinigte Terpentinöl gewonnen ( > Abb. 25.44). Sensorische Eigenschaften. Frisch destilliertes und kurz-
zeitig gelagertes Terpentinöl ist eine farblose Flüssigkeit, die charakteristisch riecht und einen brennenden Geschmack aufweist. Bei längerer Lagerung, besonders unter Lutzutritt, wird das Öl gelblich verfärbt, in der Konsistenz dicker, Geruch und Geschmack werden intensiver und zugleich unangenehmer. . Abb. 25.44 Terpentin (= pharmazeutisch ein Balsam) Wasserdampfdestillation
flüchtiger Anteil (17–25%): Terpentinöl (Balsamterpentinöl)
Rückstand (75–83%): Kolophonium
Rektifizierung (155–162 ˚C)
gereinigtes Terpentinöl
Unterwirft man das von Pinus-Arten gewonnene Terpentin der Wasserdampfdestillation, so erhält man das Balsamterpentinöl. Als terpentinölfreier Rückstand bleibt Kolophonium zurück
. Abb. 25.45 CH3
CH3
S
R
H3C
H3C
H3C
H3C
(−)-α-Pinen [α]D= −51˚
(+)-α-Pinen [α]D= +51˚
CH2
CH2
S
H3C H3C (−)-β-Pinen [α]D= −22˚
R
H3C H3C (+)-β-Pinen [α]D= +22˚
Terpentinöl besteht zur Hauptsache aus α-Pinen und βPinen in einem Mischungsverhältnis von 4:1 bis 3:1. Jedes der beiden Pinene liegt in beiden enantiomeren Formen vor, allerdings nicht als Racemat, sondern stets so, dass eine der beiden Formen dominiert. Der Drehsinn des Öls hängt wesentlich davon ab, ob im Gemisch das rechtsdrehende (+)-α-Pinen oder das linksdrehende (–)-α-Pinen überwiegt. Während früher einzelne Arzneibücher Schwankungen der Drehwerte zugelassen haben, sodass sowohl die rechtsdrehenden Öle amerikanischer Herkunft als auch die linksdrehenden Öle französischer Provenienz zugelassen waren (z. B. die frühere Monographie Medizinal-Terpentinöl Helv 9: Drehwerte zwischen –40 °C und +40 °C), lässt die heute gültige Monographie der PhEur (Terebinthini aetheroleum ab pinum pinastrum) nur das linksdrehende Öl zu (–40 °C bis –28 °C). Die beiden Pinene besitzen 2 Asymmetriezentren im Molekül, sodass 22, also 4 optisch aktive α-Pinene möglich scheinen. Die beiden Kohlenwasserstoffatome sind aber Teil eines bizyclischen Ringsystems, und bei räumlicher Betrachtung (etwa im Modell) zeigt sich, dass sie voneinander abhängig sind: Die räumliche Anordnung des einen Atoms bestimmt zwangsläufig diejenige des zweiten. Die Isomerenzahl ist demnach herabgesetzt; es können sich nur 2 spiegelbildisomere Formen ausbilden
25.5 Ätherische Öle als Expektoranzien
Chemische Zusammensetzung. Terpentinöl besteht zum
25
dert. Um auch Einblick in die Stereodiferenzierung der einzelnen chiralen Ölbestandteile (Pinene, Limonen) zu erhalten, ist die enantioselektive multidimensionale GC heute die Methode der Wahl (Kreis et al. 1990a).
größten Teil aus D- und E-Pinen ( > Abb. 25.45). Begleitstofe sind andere Terpenkohlenwasserstofe wie '-Caren und Limonen (Formel > Abb. 25.24) sowie sauerstohaltige Terpenverbindungen wie Bornylacetat (Formel von Borneol > Abb. 25.46).
Verwendung. Terpentinöl ist ein wichtiger Rohstof in
der chemischen Industrie; D- und E-Pinen lassen sich nach Abtrennung partialsynthetisch in eine Vielzahl von Produkten überführen, wie Campher, Myrcen, Citronellal oder Citral, die als solche für Kosmetika und Pharmazeutika verwendbar sind, die aber auch als Ausgangsmaterialien zur Synthese von Vitaminen (E und A) und von Dutstofen für die Kosmetikindustrie herangezogen werden. Demgegenüber tritt die medizinische Verwendung zurück. Zur Anwendung als hautreizendes Mittel > Kap. 25.8.2. Zur inhalativen herapie verwendet man gereinigtes Terpentinöl kaum noch als Monopräparat, sondern als
Analytische Kennzeichnung. Die Arzneibücher lassen in
der Regel bei Terpentinöl physikalische Kennzahlen (z. B. relative Dichte, Brechungsindex, optische Drehung) ermitteln und einfache chemische Proben (z. B. Löslichkeit, Siedeverhalten, nichtlüchtige Bestandteile, Säure- und Peroxidzahl, Fette und verharzte ätherische Öle) durchführen. Daneben wird wie bei den ätherischen Ölen (vgl. Kap. 25.2.3 und > Tabelle 25.2) für die Prüfung auf Identität die DC und für die Prüfung auf Reinheit zur Festlegung von Grenzwerten einzelner Bestandteile die Aufnahme eines „chromatographischen Proils“ mit der GC gefor. Abb. 25.46 R 1
R
H3C
R OH 2
H
R
HO H
1
2
R
R
4
H
(+)-Borneol [α]D = +38˚
H R
R
OH
HO
H3C R
H3C
(−)-Isoborneol [α]D = −21˚
2
H
HO (+)-(1R, 2S, 4R)-Borneol H3C
CH3
CH3
Exoformen
R HO
(+)-Isoborneol [α]D = +21˚ R = CH3
1
CH3
(−)-(1S, 2R, 4S)-Borneol
H
4
Endoformen
R
R
CH3
1
2
OH (−)-Borneol [α]D = −38˚
H3C
CH3
H
CH3
(+)-(1S, 2S, 4S)-Isoborneol
OH
H3C H
(−)-(1R, 2R, 4R)-Isoborneol
Konfigurationsformeln (linke Hälfte) und Konformationsformeln (rechte Hälfte) der Borneole und Isoborneole. Borneol und Isoborneol stehen zueinander im Verhältnis der Endo-exo-Isomerie, was besser aus den Konformationsformeln ersichtlich wird: Die 2-OH-Gruppe steht entweder der inneren Seite des Cyclohexans in der Bootsform zugewandt – Endoform – oder zeigt mehr nach außen – Exoform. Während in einzelnen ätherischen Ölen (z. B. Fichtennadelöle, Thymianöl) vorwiegend die (–)-Formen von Borneol und Bornylacetat vorkommen, liegt in verschiedenen anderen Ölen (z. B. Salbeiöl, Citronellöl, Muskatöl) keine charakteristische Verteilung der Enantiomeren der beiden Verbindungen vor (vgl. Kreis et al. 1991; Ravid et al. 1996). Für Rosmarinöl ist die Verteilung unklar (vgl. dazu S. 1127, Anmerkung). (+)-Borneol riecht kampferähnlich mit einer leicht scharfen pfefferartigen Note, die beim (–)-Borneol weniger ausgeprägt ist. Borneol wird auch als synthetisches Produkt angeboten. Das synthetische Borneol enthält beachtliche Anteile an rac-Isoborneol
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Kombinationspräparat zusammen mit weiteren ätherischen Ölen, die in unterschiedlichen Arzneiformen angeboten werden. Beispiele: Lösungen in Propylenglykol zur Aerosoltherapie; in Vaseline eingearbeitet sowohl zum Einreiben als auch als Zusatz zum Inhalationswasser. Wirkungsweise. Geringe Dosen, inhalativ zugeführt, können expektorierend wirksam sein. Im Tierversuch (vgl. Übersicht von Buchbauer u. Hafner 1985) erwies sich der Hauptbestandteil D-Pinen als ein ausgezeichnetes schleimtreibendes Expektorans, das sowohl das Sekretionsvolumen steigert, als auch die Mukuskonzentration des expektorierten Schleims (bronchomukotrope Wirkung) erhöht. Ob sich diese Ergebnisse auf das Terpentinöl übertragen lassen, muss solange in Frage gestellt werden, bis entsprechende Untersuchungen vorliegen. Unerwünschte Wirkungen. In Anbetracht der geringen
Dosis bei der Inhalation oder bei Einreibungen kommen nur allergische Unverträglichkeitsreaktionen in Frage. Mit ihnen muss aber gerechnet werden. Die sensibilisierende Wirkung des Öls hängt nicht am D-Pinen, sondern an Oxidationsprodukten, weshalb verharztes Öl besonders stark allergisierend wirkt.
Fichtennadelöle Die Bezeichnung Fichtennadelöle ist insofern inkorrekt, als es sich nicht um Destillate ausschließlich aus Fichtenarten handelt. Ausgangsmaterial sind neben Fichten (Picea-Arten), auch Tannen (Abies-Arten), Kiefern (Pinus-Arten) und, wenn auch selten, Lärchen (Larix-Arten). Als Destillationsgut verwendet man möglichst frische nadeltragende Zweige und/oder Fruchtzapfen der erwähnten Koniferen. Latschenkiefernöl oder Latschenöl (Pini pumilionis aetheroleum DAC 2004, Helv 10) gewinnt man durch Wasserdampfdestillation frischer Nadeln, Zweigspitzen und Ästen von Pinus mugo ssp. mugo Zenari und/oder Pinus mugo ssp. pumilio (Haenke) Franco [DAC] bzw. Pinus mugo Turra (Synonym: P. pumilio Haenke) [Helv]. Latschenöl ist eine farblose bis gelbliche Flüssigkeit von aromatischem, an Bornylacetat erinnerndem Geruch. Mengenmäßig dominieren D- sowie E-Pinen (Formeln > Abb. 25.45) und '-Caren. Daneben kommen zahlreiche Nebenstofe vor, darunter E-Phellandren, Limonen (Formel > Abb. 25.24), Terpinolen, Bornylacetat (Formel
von Borneol > Abb. 25.46), E-Caryophyllen u. a. (Kartnig et al. 1996; Reichling u. Harkenthal 1998). Kiefernnadelöl (Pini silvestris aetheroleum PhEur 5.5) ist das durch Wasserdampfdestillation aus den frischen Nadeln und Zweigen von Pinus sylvestris L. (PhEur schreibt silvestris) gewonnene ätherische Öl. Kiefernnadelöl ist eine farblose bis schwach gelbe Flüssigkeit von terpenartigem, angenehmem, aromatischem Geruch und leicht bitterem, etwas ölig-seiigem Geschmack. Hauptbestandteile sind D-Pinen und '-Caren. Daneben kommen zahlreiche weitere Monoterpene vor, u. a. E-Phellandren, Camphen, Myrcen, Limonen und in geringerer Menge Bornylacetat. Fichtennadelöl (Piceae aetheroleum DAB 2002) ist das durch Wasserdampfdestillation aus den Nadeln, Zweigspitzen oder Ästen von Picea abies (L.) Karsten (Synonym: Picea excelsa [Lamarck] Link) und von Abies sibirica Ledebour oder anderen Arten der Gattungen Abies und Picea gewonnene ätherische Öl. Fichtennadelöl ist eine farblose bis schwach gelbe Flüssigkeit von angenehmem, aromatisch-erfrischendem Geruch und leicht bitterem, etwas kratzendem Geschmack. Hauptbestandteile sind Bornylacetat sowie D- und E-Pinen, daneben kommen u. a. Camphen, Borneol, Myrcen und Santen vor. Anmerkung. Im Handel werden weitere Öle angeboten,
die z. T. nur von einer Stammplanze oder von verschiedenen der genannten sowie weiteren Abies-, Picea- oder Pinus-Arten stammen. Viele davon lassen sich durch ihren Bornylacetatgehalt charakterisieren. Abies- und Picea-Arten haben in der Regel einen hohen Bornylacetatgehalt (bis ca. 45%). Analytische Kennzeichnung. Sie ist je nach Monographie
(Helv, DAB, DAC) unterschiedlich, zur Hauptsache aber ein DC-Nachweis von Bornylacetat mit dem Fließmittelsystem Ethylacetat–Toluol (5:95), den Referenzsubstanzen Bornylacetat und Borneol sowie Anisaldehydreagens zum Nachweis. Bornylacetat erscheint nach dem Besprühen mit Anisaldehydreagens im Tageslicht als braungraue bis braune Zone. Der Estergehalt (berechnet als Bornylacetat) wird nur noch beim Latschenöl (Helv) gefordert und muss zwischen 4,0 und 10,0% liegen. DAB und DAC nehmen chromatographische Proile mit Angabe von zulässigen Grenzwerten auf. Die Öle der verschiedenen Stammplanzen können durch die Ermittlung der Verhältniszahlen von (S)- zu
25.5 Ätherische Öle als Expektoranzien
(R)-D-Pinen bzw. -Limonen einigermaßen verlässlich zugeordnet werden. Diese liegen bei 56:44 bzw. 60:40 (Latschenkiefernöl), 73:27 bzw. 41:59 (Kiefernnadelöl) und 77:23 bzw. 80:20 (sibirisches Fichtennadelöl) (Kreis et al. 1990a). Santen kommt nur in den Ölen von Abies- und Picea-Arten vor (Reichling u. Harkenthal 1998). Ein chromatographischer Nachweis dieser Substanz wird aber in keiner Monographie aufgeführt. Anwendungsgebiete. Die Anwendungsgebiete sind bei
allen Ölen ähnlich. Sie werden zur Inhalation bei unspeziischen Afektionen der Atemwege und bei chronischer Bronchitis, zu Einreibungen bei rheumatischen und neuralgischen Beschwerden sowie zur Durchblutungsförderung angewendet ( > dazu auch Kap. 25.8). Ferner sind sie in vielen kosmetischen Körperplegemitteln enthalten, wie beispielsweise in Kräuterbädern (vgl. Übersicht von Uehleke 1996), Duschbädern, Seifen, Massageölen, Lotionen, Fußplegemitteln und Deodorants. Sie inden auch Verwendung als Bestandteile von Raumlutverbesserern.
25.5.3
Bevorzugt systemisch oder reflektorisch wirkende ätherische Öle
Übersicht über die Anwendungsformen Als Bestandteil von Hustentropfen, Hustensäten, Dragees und Hustentees (Bronchialtees) werden ätherische Öle dem Organismus zugeführt mit der Annahme, es lasse sich damit eine schleimlösende Wirkung erzielen. Zwei Wirkungsmechanismen werden diskutiert: x Resorption und direkte Wirkung auf die Sekretionsdrüsen bei der Ausscheidung über die Lunge ( > Kap. 25.5.1), x relektorische Stimulation der Bronchialsekretion über den Magen. Dass sich mit den üblicherweise zugeführten Dosen an ätherischem Öl expektorierende Efekte erzielen lassen, wurde insbesondere in der älteren Literatur angezweifelt (vgl. Boyd 1972). Mit einigen Fertigarzneimitteln wurden in neuerer Zeit kontrollierte klinische Studien durchgeführt. Dabei führte die herapie mit Terpenen bzw. mit ätherischen Ölen (z. B. Anethol, Cineol, Limonen, Menthol, Myrtol, Pinen, Latschenkiefernöl u. a.) verglichen mit Plazebo zu einer Steigerung der mukoziliären Clea-
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rance und zu verbesserter Sekretolyse (vgl. dazu Schulz u. Hänsel 2004 und darin zitierte Literatur). Dass die Arzneiformen, die zum Einreiben bestimmt sind, auch eine resorptive Wirkungskomponente aufweisen, wurde bereits erwähnt ( > Kap. 25.5.2). Am häuigsten verwendet man ätherische Öle bei Erkältung und gegen Husten in Arzneiformen, die zum Lutschen bestimmt sind ( > Kap. 25.5.4). Hierbei kommt es nicht darauf an, resorptive Wirkungen zu erzielen; auch sind keine relektorischen Wirkungen auf die Bronchialdrüsen über den Magen im Spiel. Die relektorische Auslösung der Speicheldrüsensekretion und des Schluckrelexes erleichtern es, einen sich anbahnenden Hustenstoß willkürlich zu unterdrücken.
Eucalyptusblätter, Eucalyptusöl und Eucalyptol Eucalyptusblätter (Eucalypti folium PhEur 5) bestehen aus den getrockneten Laubblättern (Folgeblätter) älterer Zweige von Eucalyptus globulus Labill. (Familie: Myrtaceae [IIB17a]). Eucalyptusöl (Eucalypti aetheroleum PhEur 5, revidiert 5.2) wird durch Wasserdampfdestillation und Rektiikation aus den frischen Blättern oder den frischen Triebspitzen verschiedener 1,8-cineolreicher Eucalyptusarten gewonnen. Die verwendeten Species sind E. globulus Labill., E. polybractea R. T. Baker und E. smithii R. T. Baker. Eucalyptol erhält man aus cineolhaltigen Ölen durch Ausfrieren mittels Kältemischung oder durch fraktionierte Destillation. Stammpflanzen. Während die Droge Eucalyptusblätter
ausschließlich von E. globulus stammt, liefern mehrere der etwa 400 bekannten Eucalyptusarten „Eucalyptusöle“. Einige enthalten (–)-Piperitenon, andere Citronellal oder Linalool/Linalylacetat als Hauptkomponente; sie werden vornehmlich in der Riechstoindustrie verwendet. Arten oder Unterarten, deren Öl einen Mindestgehalt von 70% Eucalyptol (= 1,8-Cineol oder allgemein Cineol) aufweist, liefern Eucalyptusöle, die pharmazeutisch verwendet werden bzw. pharmakopöegerecht sind. Sensorische Eigenschaften. Eucalyptusblätter haben
beim Zerreiben einen stark würzig-aromatischen Cineolgeruch. Die Droge schmeckt zusammenziehend und etwas bitter.
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Eucalyptusöl ist eine farblose bis schwach gelb gefärbte Flüssigkeit. Geruch: aromatisch-campherartig. Geschmack: zuerst brennend-campherartig, später kühlend. Inhaltsstoffe der Eucalyptusblätter
x Ätherisches Öl (1,5–3,5%; PhEur = mindestens 20 ml
x x x x x
u kg–1 bei Ganzdroge bzw. 15 ml u kg–1 bei geschnittener Droge) mit der Hauptkomponente Eucalyptol. Zusammensetzung > unter Eucalyptusöl); Phenolcarbonsäuren (Chlorogen-, Ferula-, Kafee-, p-Cumaroylchinasäure); Flavonoide (Rutin, Quercitrin, Quercetin); Triterpensäuren (Ursolsäure und Derivate); Phloroglucinterpenderivate (Euglobale, Macrocarpale, Eucalypton) mit u. a. antibakterieller und antiviraler Aktivität; ferner Gerbstofe und Polysaccharide.
Chemische Zusammensetzung von Eucalyptusöl. Rek-
tiizierte Eucalyptusöle enthalten hauptsächlich Eucalyptol (70–85%; Formel > Abb. 25.28) neben D-Pinen, Limonen u. a. Mono- und Sesquiterpenen. Die im nichtrektiizierten Öl enthaltenen Aldehyde, wie Butyraldehyd, Valeraldehyd und Capronaldehyd sind wegen ihrer Reizwirkung auf die Atemwege unerwünscht. Nichtrektiizierte Öle enthalten auch höhere Anteile an trizyklischen Sesquiterpenen vom Viridiloroltyp. Da die Blattdroge in der herapie heute keine große Bedeutung mehr hat, beziehen sich die folgenden Angaben auf das Eucalyptusöl. Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Prüfung (PhEur) auf das Vor-
kommen von Cineol [Fließmittel: Ethylacetat–Toluol (10:90); Referenzsubstanz: Cineol; Nachweis: Anisaldehydreagens]. Das DC der Testlösung muss nach Besprühen mit dem Anisaldehydreagens eine dem Cineol in Bezug auf Lage und Farbe entsprechende Hauptzone (Ausschluss cineolarmer Öle) aufweisen. Prüfung auf Reinheit. a) Prüfung auf das Vorkommen von Aldehyden (Kontrolle der Rektiikation): Vorhandene Aldehyde setzen sich mit Hydroxylaminhydrochlorid zu den entsprechenden Oximen um, wobei eine äquivalente Menge HCl freigesetzt wird, die titriert werden kann. b) Aufnahme eines chromatographischen Proils (vgl. Kap. 25.2.3 und > Tabelle 25.2) mit der Bestimmung von 6 Substanzen: D-Pinen (Spuren–9%), E-Pinen ( Abb. 25.15, 25.28 und 25.45). In der pharmazeutischen Literatur liegen zur botanischen Herkunt keine Angaben vor. Aufgrund der chemischen Zusammensetzung bestehen Ähnlichkeiten vor allem zum Eucalyptusöl (Schulz u. Hänsel 2004). Die Herkunt ist jedenfalls nicht Myrtus communis L. (Familie: Myrtaceae [IIB17a], obwohl der Merck Index 1996 Myrtol als eine bei 160–180 °C siedende Fraktion des ätherischen Öls der gewöhnlichen Myrte beschreibt. Myrtol wird als Fertigarzneimittel in dünndarmlöslichen Kapseln mit Einzeldosierungen von 120 und 300 mg angeboten. Wirkung und Anwendung. Myrtol steigert die mukozili-
äre Clearance, d. h. Schleimbildung und Schleimtransport durch die Tätigkeit der Zilien. Die Wirkung ist sekretolytisch und sekretomotorisch. Myrtol wird als Sekretolytikum zur Behandlung akuter und chronischer Erkrankungen der Atemwege wie Bronchitis und Sinusitis verwendet (vgl. Siegers 1994). Die Wirksamkeit von Myrtol ist durch GCP-konforme klinische Studien belegt (vgl. dazu Schulz u. Hänsel 2004 und darin zitierte Literatur).
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einen erfrischenden Geruch aus, der an den des Eucalyptus-globulus-Öls erinnert; der Geschmack ist aromatisch und bitter, etwas brennend, hinterher kühlend. Hauptbestandteil des rektiizierten Öls ist Eucalyptol (50–65%); (+)-D- und (–)-D-Terpineol kommen frei und an Valeriansäure gebunden vor (bis zu 30%). Gefunden wurden neben (+)- und (–)-D-Pinen auch Sesquiterpene: im Niaouliöl Viridilorol, im Cajeputöl bizyklische Sesquiterpene vom Cadalintyp. Nicht speziell rektiizierte Öle enthalten das antiseptisch wirkende 3,5-Dimethyl-4,6-di-O-methylphloracetophenon (bis zu 10%). Das Vorkommen dieser Verbindung erklärt die grüne Farbe des nichtrektiizierten Öls, wenn es aus einer Kupferblase destilliert wurde: Es bildet sich ein farbiger Cu-Chelatkomplex. Innerlich verwendet man die beiden Öle als wahrscheinlich relektorisch wirkendes Expektorans. Die Einnahme erzeugt nach dem Schlucken ein Gefühl von Wärme, der Pulsschlag wird voller und schneller, es kann zu profusem Schweißausbruch kommen. Das Öl wurde in der traditionellen Medizin Malaysias zum Schwitzen (als Sudoriikum) verwendet. Mehr gebräuchlich ist die Anwendung als hyperämisierendes Mittel (Rubefaciens) in Kombination mit anderen ätherischen Ölen zum Einreiben ( > auch Kap. 25.8).
Anwendungseinschränkungen. Es dürte weitgehend
das unter Eucalyptusöl Gesagte ( > S. 1106) zutrefen.
Thymian Cajeput- und Niaouliöl Melaleuca quinquenervia (Cav.) S. T. Blake, ein Holzgewächs aus der Familie der Myrtaceae [IIB17a], ist eine von Australien, Indonesien bis nach Indien reichende Art, deren Unterarten und Varietäten vielfach als eigene Arten beschrieben worden sind. M. quinquenervia liefert auf Neukaledonien das Niaouliöl, in Indonesien das Cajeputöl. Die auf Neukaledonien vorkommende Form ist auch als M. viridilora Soland. ex Gaertn. beschrieben, die das Cajeputöl liefernde, auf den malayischen Inseln, speziell auf der Insel Celebes vorkommende Form als M. leucadendra L. M. quinquenervia erreicht eine Höhe bis zu 15 m; zur Destillation bevorzugt man junge Planzen oder Planzen strauchartiger Bestände. Niaouliöl und Cajeputöl sind sich in ihren sensorischen Eigenschaten und in der chemischen Zusammensetzung außerordentlich ähnlich. Sie zeichnen sich durch
Herkunft. hymian (hymi herba PhEur 5) besteht aus den von den getrockneten Stängeln abgestreiten Blättern und Blüten von hymus vulgaris L., hymus zygis L. (Familie: Lamiaceae [IIB23d]) oder einer Mischung beider Arten. Die Droge stammt aus dem Anbau. Stammpflanzen. Die PhEur lässt bei hymian 2 Stammplanzen zu, den violett blühenden Echten oder Gartenthymian (von T. vulgaris), der von Portugal über Frankreich und Italien (in den Macchien) bis Griechenland verbreitet ist, sowie den weißblühenden hymian (von T. zygis), der in Spanien in der sog. Labiatenscheide (Tomillares) in Massenbeständen autritt. Beide Stammplanzen sind ein- oder mehrjährige Halbsträucher, die sich neben der Blütenfarbe auch bezüglich Form und Größe der Blätter sowie in der Behaarung unterscheiden. Von beiden Arten sind mehrere Chemotypen bekannt. Zur Drogengewinnung werden die Blätter und Blüten gerebelt (abgestreit).
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Sensorische Eigenschaften. Geruch: angenehm würzig,
eigenartig (Geruchsnote „phenolisch“). Geschmack: aromatisch, leicht bitter. Inhaltsstoffe
x Ätherisches Öl (1–2,5%; PhEur = mindestens 12 ml u
x x x x
kg–1) mit hymol (30–70%) und Carvacrol (3–15%) mengenmäßig dominierend (PhEur = mit einem Minimum von 40% hymol und Carvacrol). In größerer Menge kommen auch die Monoterpenkohlenwasserstofe p-Cymen und J-Terpinen (Präkursoren der Terpenphenole) vor ( > Abb. 25.47). hymolmethylether (1–2,5% in T. vulgaris; in T. zygis etwa 0,3%), ferner 1,8-Cineol, Borneol und Linalool (beide frei und als Acetat) sowie weitere Monoterpene (vgl. Übersicht von Czygan u. Hänsel 1993); ferner Monoterpenglykoside (Kitajiama et al. 2004); Flavonoide (verschiedene Aglykone, methylierte Flavone, Apigenin- und Luteolinglykoside); Triterpene (u. a. Ursol- und Oleanolsäure) frei und in glykosidischer Bindung; Phenolcarbonsäuren (u. a. Chlorogen-, Kafee- und Rosmarinsäure); ferner Biphenyle, Acetophenonglykoside, Polysaccharide.
. Abb. 25.47
OH
OR H3C
CH3
Thymol R = H Thymolmethylether R = CH3
H3C Carvacrol
CH3
H3C
(PhEur) mit Nachweis von hymol, Carvacrol und weiteren Terpenen [Fließmittel: Dichlormethan; Referenzsubstanzen: hymol, Carvacrol; Nachweis: UV 254 nm, Anisaldehydreagens]. hymol erscheint im UV bei 254 nm als Fluoreszenz mindernde Zone, die sich nach dem Besprühen mit dem Anisaldehydreagens rosabraun anfärbt. Die Zonen für hymol und Carvacrol (hellviolett) sind je nach der untersuchten Art mehr oder weniger ausgeprägt. Weitere gefärbte Zonen werden für Cineol/Linalool (violett) und Borneol (graubraun) beschrieben. Gehaltsbestimmung. Die PhEur bestimmt neben dem Gehalt an ätherischem Öl zum Ausschluss von nicht Monoterpenphenole enthaltenden Chemotypen einen Mindestgehalt an Phenolen (hymol plus Carvacrol) mit der Gaschromatographie. Hinweis: Das Verhältnis hymol zu Carvacrol variiert innerhalb weiter Grenzen, abhängig von Herkunt, Klima und Erntezeit; z. B. enthält Sommerthymian generell einen höheren Anteil Carvacrol als Winterthymian. Bei bestimmten hymus-Arten außerhalb des Formenkreises von T. vulgaris, aber auch beim Carvacrol-Chemotyp von T. zygis, besteht praktisch die gesamte Phenolfraktion aus Carvacrol. Diese Ware fällt durch einen strengen Geschmack auf. Verwendung. Als Teedroge sowie als Ausgangsmaterial
CH3
CH3
CH3
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Fingerprintchromatogramm
CH3
zur Gewinnung des hymianöls ( > Kap. 25.6.4), von Fluidextrakten (hymi extractum luidum DAB 2003; hymi extractum luidum normatum Helv 10) sowie von Trockenextrakten. Extrakte werden in Kombinationspräparate der Indikationsgruppe „Husten/Erkältung“ eingearbeitet: in sofortlösliche Tees, Dragees, Hustentropfen, Hustensäte.
p-Cymen
Die arzneilich verwendeten Thymian- und Quendelformen zeichnen sich dadurch aus, dass sie monozyklische Monoterpene enthalten, deren Cyclohexananteil voll bis zum aromatischen Ring dehydriert ist (Monoterpenphenole). Thymol, Carvacrol und p-Cymen verleihen diesen Drogen ihre typische phenolische („medizinische“) Geruchsnote. Thymol kommt neben Thymolether auch in anderen Arzneidrogen, insbesondere auch im Arnikablütenöl vor
Wirkungen und Anwendungsgebiete. Bronchospasmo-
lytisch, expektorierend, antibakteriell. Zur symptomatischen Behandlung von Bronchitis und des Keuchhustens; bei Katarrhen der oberen Lutwege (Kommission E). ESCOP nennt als zusätzliche Indikationen Stomatitis und übel riechender Mundgeruch. hymian ist ferner eine Gewürzdroge, beliebt und viel verwendet in der französischen und italienischen Küche. Anmerkung: Folgt man dem gängigen phytotherapeutischen Schrittum, so wirken hymianpräparate aufgrund ihres Gehalts an ätherischem Öl sekretolytisch und se-
25.5 Ätherische Öle als Expektoranzien
kretomotorisch; bei der Ausscheidung des hymols über die Lunge käme als zusätzlich erwünscht die antiseptische und antibakterielle Wirkung des hymians zum Tragen. Sodann zeigt der Extrakt eine gute spasmolytische Aktivität. Allerdings ist es bisher nicht gelungen, ein bronchodilatorisch wirksames Prinzip zu isolieren. Es ist aber davon auszugehen, dass hydrophile Substanzen, wie z. B. Flavonoide, zur spasmolytischen Wirkung beitragen bzw. diese verursachen. In-vitro-Assays (Modell: LPS- und IFN-J-stimulierte Makrophagen) ergaben, dass hymusextrakt entzündungshemmend wirkt durch Reduktion der NO-Produktion via Hemmung der iNOS mRNA-Expression (Vigo et al. 2004).
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Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Fingerprintchromatogramm
(PhEur) mit Nachweis der phenolischen Monoterpene [Fließmittel: Dichlormethan; Referenzsubstanzen: hymol, Carvacrol; Nachweis: UV 254 nm, Anisaldehydreagens]. hymol erscheint im UV bei 254 nm als Fluoreszenz mindernde Zone, die sich nach dem Besprühen mit dem Anisaldehydreagens bräunlichrosa anfärbt. Die Zonen für hymol und Carvacrol (hellviolett) sind je nach dem untersuchten Chemotyp mehr oder weniger ausgeprägt. Gehaltsbestimmung. Die PhEur bestimmt nur den Ge-
Quendelkraut
halt an ätherischem Öl, während die früher im DAB 1999 aufgeführte Monographie auch einen Mindestgehalt an Phenolen verlangt hat.
Herkunft. Quendelkraut (Serpylli herba PhEur 5) besteht
Verwendung. Zur Herstellung von Fluidextrakten, von
aus den getrockneten, oberirdischen Teilen von hymus serpyllum L. s.l. (Familie: Lamiaceae [IIB23d]). Die Droge stammt aus Wildsammlungen und aus Kulturen.
hydroalkoholischen und wässrigen Trockenextrakten. Diese Extrakte sind Bestandteil von Kombinationspräparaten (Hustentropfen, Hustensäten). Zur Herstellung des Quendelöls, das in der kosmetischen lndustrie verwendet wird.
Stammpflanze. T. serpyllum ist eine Sammelart, die von
den Botanikern in unterschiedlicher Weise in Arten, Unterarten, Varietäten und Formen aufgeteilt wird. Für arzneiliche Zwecke sind nur Quendelsorten zugelassen, die ätherisches Öl führen, das hymol und Carvacrol als Hauptbestandteile enthält (vgl. Prüfung auf Identität). Sensorische Eigenschaften. Geruch: stark würzig mit
phenolischer Geruchsnote. Geschmack: würzig-aromatisch, etwas bitter. Inhaltsstoffe
x Ätherisches Öl (0,1–0,6%; PhEur = mindestens 3 ml
u kg–1) mit Carvacrol (5–33%) und hymol (1–4%) als Hauptbestandteile; Formeln > Abb. 25.47), ferner in sehr variablen Anteilen weitere Monoterpene, u. a. Citral, Linalool, Linalylacetat, Borneol, 1,8-Cineol, Geraniol (vgl. Übersicht von Czygan u. Hänsel 1993); x Flavonoide (Luteolin-, Apigenin- und Scutellareinglykoside); x Triterpene (Ursolsäure, Oleanolsäure); x Phenolcarbonsäuren (u. a. Rosmarinsäure).
Wirkungen und Anwendungsgebiete. Antimikrobiell,
spasmolytisch. Bei Katarrhen der oberen Lutwege (Kommission E). Anmerkung: Das Wirkungsspektrum des Quendelkrauts ist damit ähnlich demjenigen des Echten hymian. Die antimikrobielle und spasmolytische Wirkung ist auf den Gehalt an ätherischem Öl zurückzuführen, wahrscheinlich aber auch auf hydrophile Inhaltsstofe wie beim Echten hymian. Die p.o. mit den Liquidaformen zugeführte Dosis an ätherischem Öl allein lässt eine Expektoranswirkung wenig wahrscheinlich erscheinen. Bedingt durch den aromatischen und leicht bitteren Geschmack wirken alkoholische Auszüge appetitanregend.
Anethol Anethol [(E)-1-Methoxy-4-(1-propenyl)benzol; DAB 1999] ist der Hauptbestandteil des Anis-, Sternanis- und Fenchelöls (Formel > Abb. 25.32); es ist auch synthetisch aus Anisol zugänglich. Anethol bildet eine weiße, kristalline Masse, die süß schmeckt und nach Anis riecht. Zum Metabolismus von Anethol > Abb. 25.11. Anethol wirkt sekretolytisch, sekretomotorisch, schwach antibakteriell
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
und spasmolytisch und wird daher als Expektorans und Carminativum eingesetzt.
Verwendung. Zur Herstellung eines Sirups (Balsami tolutani sirupus Helv 10) sowie zur Verarbeitung in Hustenpastillen.
Tolubalsam
Anwendungsgebiete. Zur Behandlung von Katarrhen
Herkunft. Tolubalsam (Balsamum tolutanum PhEur 5) ist
der Lutwege (Kommission E). Das Anwendungsgebiet müsste durch klinische Studien belegt werden.
der aus den Stämmen von Myroxylon balsamum (L.) Harms und Myroxylon balsamum var. pereirae (Royle) Harms (Familie: Fabaceae [IIB9a]) gewonnene Balsam. Stammpflanze, Gewinnung. Nach Tschirch (1925) stellen die den Tolubalsam liefernden Bäume bloße physiologische Varietäten (chemische Rassen) dar und gehören zur gleichen Art wie die den Perubalsam liefernden Planzen. Wildbestände der Bäume inden sich nur in einem kleinen Gebiet, in den Wäldern der Provinz Tolu (in Kolumbien) entlang des Magdalenenstroms und des Cauca. Um den Balsam zu gewinnen, macht man in den Baum tiefe V-förmige Einschnitte und fängt den ausließenden Balsam in kleinen tassenartigen Gefäßen auf, die unterhalb der Wundstelle angebracht werden. Einem einzelnen Baum können gleichzeitig bis zu 20 Wundstellen beigebracht werden. Sensorische Eigenschaften. Tolubalsam ist eine halbfeste, zähe Masse und hat einen balsamischen, an Vanille erinnernden Geruch. Inhaltsstoffe. Die Inhaltsstofe des Tolubalsams sind nur
ungenügend untersucht, was besonders für den Harzanteil gilt, der etwa 80% des Balsams (ätherisches Öl ca. 1,5–3%) ausmacht. An deinierten Inhaltstofen wurden Benzoesäure, Zimtsäure, Benzylbenzoat, Benzylcinnamat und Spuren von Vanillin nachgewiesen. Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität und Gehaltsbestimmung. DC-
Nachweis (PhEur) von Benzylcinnamat und Benzylbenzoat [Fließmittel: Petrolether–Toluol (5:95); Referenzsubstanzen: Benzylcinnamat, Benzylbenzoat; Nachweis: Vanillin-Schwefelsäurereagens]. Nach dem Besprühen mit dem Vanillin-Schwefelsäurereagens und Erhitzen auf 100–105 °C erscheinen im DC 2 Zonen, die in Rf-Wert und Anfärbung den Referenzsubstanzen entsprechen. Titrimetrische Bestimmung der freien oder gebundenen Säuren, bestimmt als Zimtsäure (PhEur = mindestens 25,0%, höchstens 50,0%).
Unerwünschte Wirkungen. Perubalsam enthaltende Pro-
dukte können Kontaktdermatitis auslösen.
25.5.4
Ätherische Öle in Arzneiformen zum Lutschen
Wesentlicher Bestandteil dieser Arzneiformen ist Zucker, wobei außer Saccharose und Stärkesirup (aus Maisstärke) auch Glucose, Maltose, Fructose und die Austauschstofe Sorbit und Xylit eine gewisse Rolle spielen. Es gibt 3 wichtige Formen: die Lutschtablette, die Bonbons und die Gummipastillen (Rahn 1982; Peters 1989). Lutschtabletten unterscheiden sich von den üblichen Tabletten durch eine wesentlich längere Aulösungszeit, was man durch Weglassen der Sprengmittel und durch einen wesentlich stärkeren Pressdruck erreicht. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass der Geschmack der Arzneistofe (lokal wirkende Antiseptika und Chemotherapeutika, Lokalanästhetika und Planzenschleime) weitgehend kaschiert wird. Zur Geschmacksverbesserung tragen außer den Zuckern die ätherischen Öle bei. In der Lutschtablette sind somit die ätherischen Öle im Wesentlichen bloße Geschmackskorrigenzien. Ihre antibakteriellen Eigenschaften sind allerdings eine sehr erwünschte Nebenwirkung. Die Bonbons gehören in lebensmittelchemischer Sicht zu den sog. Hartkaramellen, die dadurch charakterisiert sind, dass die verwendeten Zucker eine amorphe, festglasige Masse bilden, gleichsam einen festen Sirup mit einem sehr geringen Wassergehalt von 0,5–1,4%. In die vor dem Erkalten zählüssige Masse werden die ätherischen Öle eingearbeitet; die plastische Masse wird schließlich zu den fertigen Bonbons ausgeformt. Gummipastillen haben ihren Namen von dem in ihnen verarbeiteten Rohstof Acaciae gummi (Gummi arabicum). Die Grundmasse besteht aus Zucker, Gummi arabicum und evtl. anderen Hydrokolloiden. Die lüssige Masse wird mit festen Arzneistofen, mit Planzenextrakten und ätherischen Ölen vermischt; die Formgebung erfolgt durch Ausgießen.
25.5 Ätherische Öle als Expektoranzien
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In Hustenbonbons und in Gummipastillen können ätherische Öle die einzigen Arzneistofe sein, die inkorporiert sind. In Frage kommen v. a. die folgenden ätherischen Öle: x Anisöl ( > S. 1080); x Eucalyptusöl ( > S. 1105); x Fenchelöl ( > S. 1083); x Menthol ( > S. 1130); x Pfeferminzöl ( > S. 1077 und 1114); x hymianöl ( > S. 1120); x Tolubalsam ( > S. 1110).
enthält zwischen 7 und 20 Einzeldrogen, darunter die folgenden Drogen mit ätherischem Öl: x Anis ( > S. 1079); x Bibernellwurzel; x Dost; x Eukalyptusblätter ( > S. 1105); x Fenchel ( > S. 1081); x Kiefernsprossen (Pini turiones); x Quendelkraut ( > S. 1109); x Salbei ( > S. 1118); x hymian ( > S. 1107).
Hustenbonbons und Gummipastillen sind gleichfalls zum Lutschen bestimmt, d. h. zu einer längeren Verweildauer in der Mundhöhle von 20–60 min. Innerhalb dieser Zeitspanne lösen sie sich langsam und kontinuierlich auf. Sie unterscheiden sich darin von der alten Arzneiform der Eleosacchara. Darunter verstand man Verreibungen ätherischer Öle mit Zucker, dazu bestimmt, ätherische Öle, die schleimhautreizend wirken und daher nicht unverdünnt eingenommen werden dürfen, zu verdünnen und überdies wohlschmeckender zu machen. Im Fall der Hustenbonbons und der Gummipastillen besteht die Funktion der ätherischen Öle wesentlich darin, eine möglichst angenehme Geschmackssensation hervorzu rufen und dadurch die Speichelproduktion zu vermehren. Die vermehrte Speichelproduktion löst den Schluckrelex häuiger aus, willkürliches Schlucken aber kann einen sich anbahnenden Hustenstoß unterdrücken. Hustenbonbons und Hustenkaramellen erleichtern eine vom Patienten willensmäßig durchgeführte Hustendisziplin (Walther 1979); sie sind daher wertvolle Adjuvanzien bei jeder medikamentös angestrebten Hustenstillung. Ob die als Mikroinhalation bezeichnete Aufnahme von ätherischen Ölen in die Atemwege (Rahn 1982), wo sie sowohl antiseptisch als auch bronchialerweiternd zur Wirkung gelangen sollen, von irgendeiner therapeutischen Relevanz ist, dafür gibt es keine befriedigenden Belege.
Die Teeaufgusspulver (sofortlösliche Tees, Instanttees) enthalten ätherische Öle als Verreibung mit dem Kohlenhydrat der Teebasis oder als mikroverkapselten Zusatz. Beliebte Zusätze sind Anisöl ( > S. 1080), Fenchelöl ( > S. 1083) und hymianöl ( > S. 1120). Ob und gegebenenfalls auf welche Weise die Teeaufgüsse expektorierend und/oder hustenreizlindernd wirken, darüber liegen keine befriedigenden Untersuchungen vor. Es wird ot die Ansicht vertreten, dass die Flüssigkeitszufuhr allein schon einen sekretverlüssigenden Efekt habe (Habermann u. Löler 1979); tierexperimentell ließ sich allerdings durch orale Wasserzufuhr keine Volumenzunahme der Atemwegslüssigkeit erzielen (Boyd 1972). Dass bei Patienten, deren Wasseraufnahme ungenügend ist (krankhates Fehlen des Durstgefühls, gesteigerter Bedarf durch Schwitzen oder infolge forcierter Atmung), reichliches Trinken die Expektoration fördert, dürte einleuchten. Ätherische Öle sind in Wasser nur wenig löslich, zudem geht beim Übergießen der Droge mit heißem Wasser ein Großteil der Ölbestandteile – man schätzt 60–80% (Czetsch-Lindenwald 1945) – verloren. Bedenkt man ferner, dass von der eingesetzten Teemischung auf die Ätherischöldrogen nur ein Bruchteil entfällt, dann wird man bereits von der Dosis her eine pharmakologische Wirkung ausschließen dürfen. Sicher aber sind die ätherischen Öle als Geruchs- und Geschmackskorrigenzien für das Teeprodukt nützlich. Bibernellwurzel besteht aus getrockneten Wurzelstücken von Pimpinella major (L.) Huds., der großen Bibernelle, oder von Pimpinella saxifraga L., der kleinen Bibernelle (Familie: Apiaceae [IIB25a]). Die Droge riecht würzig-aromatisch und schmeckt würzig mit brennendscharfem Nachgeschmack. Sie enthält ätherisches Öl (0,4– 0,6%) mit Isoeugenolestern als charakteristischen Bestandteilen. Ferner sind Cumarine, Phenolcarbonsäuren (Kafee-, China- und Chlorogensäure) enthalten.
25.5.5
Ätherischöldrogen als Bestandteile von Brusttees
Unter Bezeichnungen wie Brusttee, Hustentee, Bronchialtee, Husten- und Bronchialtee, verwendet man Mischungen von planzlichen Arzneidrogen als Adjuvans bei Erkältungskrankheiten. Ein industriell hergestellter Tee
1111
1112
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Dost (Dostenkraut, wilder Majoran) besteht aus den zur Blütezeit geernteten, abgerebelten Blättern und Blüten von Origanum vulgare L. (Familie: Lamiaceae [IIB23d]) oder aus dem oberen Teil der Staude, aus der nach dem Trocknen Stiele ausgesondert werden. Die Blätter riechen beim Zerreiben aromatisch, an Majoran erinnernd; der Geschmack ist würzig, leicht bitter und brennend. Inhaltsstofe: ätherisches Öl [0,15–0,4%; hauptsächlich Monoterpenkohlenwasserstofe (Limonen, D- und E-Pinen, Ocimen, p-Cymen), Sesquiterpenkohlenwasserstoffe (Caryophyllen, E-Bisabolen), Linalool und Terpinen-4ol, aromatische Carbonsäuren, insbesondere Rosmarinsäure (Ester der Kafeesäure und der Hydroxydihydrokafeesäure). Kiefernsprossen bestehen aus jungen, im Frühjahr – solange sie noch lichtgrün sind – gesammelten Zweigspitzen von Pinus sylvestris L., der gemeinen Kiefer (Familie: Pinaceae [IC1a]). Inhaltsstofe: ätherisches Öl (0,15–0,6%; Zusammensetzung wie Fichtennadelöl, > S. 1104), Säuren (Shikimi-, China-, Pinifolsäure), Flavonoide (Procyanidin), Kohlenhydrate (Fructose 2,5%, Glucose, Xylose, Arabinose, Cyclite, Pinitol, Sequoyitol), Vitamine (Ascorbinsäure, E-Carotin, D-Tocopherol), Blätterwachs (Estolide).
! Kernaussagen
In Kap. 25.5 werden diejenigen Ätherischöldrogen zusammengefasst, die als Expektoranzien verwendet werden. Expektoranzien sollen bei Bronchitis oder anderen obstruktiven Atemwegserkrankungen den zähen Schleim dünnflüssiger machen. Die ätherischen Öle stimulieren dabei überwiegend die serösen Drüsenzellen in der Bronchialschleimhaut, mit dem Ergebnis, dass das Sekret flüssiger wird. Dadurch wird der Abtransport von zähflüssigem Schleim Richtung Kehlkopf gefördert. Ätherische Öle wirken daher als Sekretolytika und Sekretomotorika (Steigerung der mukoziliären Clearance). Die Anwendung geschieht äußerlich in Form von Inhalationen, als Erkältungsbalsame, Erkältungssalben oder als Badezusätze, innerlich als Bestandteil von Hustentropfen, Hustensäften, Dragees, Kapseln, Hustenbonbons, Gummipastillen, Lutschtabletten oder in der Form des Husten- bzw. Brusttees. Besprochene Drogen, Öle und Reinstoffe sind Thymian, Quendelkraut, Tolubalsam, Muskatöl, Citronellöl, Terpentinöl, Fichtennadelöle, Eucalyptusöl, Niaouliöl, Cajeputöl, Anethol, Eucalyptol und Myrtol.
Schlüsselbegriffe Amphetaminderivate Anethol Ätherisches Öl Badezusätze Balsamum tolutanum Bornylacetat Bronchitis Brusttee Cajeputöl Carvacrol Citronellae aetheroleum Citronellal Citronellöl Cymbopogon winterianus Ecstasy Erkältungsbalsame (-salben) Eucalyptol (1,8-Cineol) Eucalyptus sp. Eucalyptusblätter Eucalyptusöl Expektoranzien Fichtennadelöle
Geraniol Hautreizende Mittel Hustentee Inhalation Kiefernnadelöl Latschenkiefernöl (Latschenöl) Lutschtabletten Melaleuca sp. Mukoziliäre Clearance Muskatnuss Muskatöl Myristica fragrans Myristicae fragrantis aetheroleum Myristicin Myroxylum balsamum Myrtol Niaouliöl Piceae aetheroleum Pini aetheroleum Pini pumilionis aetheroleum Pinus sp. Quendelkraut
Sekretolytika Sekretomotorika Serpylli herba Stimulation der serösen Drüsenzellen Terebinthini aetheroleum ab pinum pinstrum Terpentinöl Therebinthinae aetheroleum rectificatum Thymi herba Thymian Thymol Thymus sp. Tolubalsam Umkehreffekt Wirkungen (u. a. antimikrobiell, antiseptisch, entzündungshemmend, expektorierend, halluzinogen, hyperämisierend, sekretolytisch, spasmolytisch)
25.6 Ätherische Öle zur Mundpflege und zum Gurgeln
25.6
Ätherische Öle zur Mundpflege und zum Gurgeln
25.6.1
Allgemeines über Mundsprays, Mundwässer und Gurgelwässer (Gargarismen)
Mundsprays und Mundwässer sind vorzugsweise als Hilfsmittel zur vorbeugenden Mundhygiene anzusehen. Die Gurgelwässer werden auch therapeutisch angewendet. Mundsprays bestehen aus Druckgaspackungen, die meist mit einem Dosierventil ausgestattet sind. Sie enthalten neben dem Treibgas verschiedene ätherische Öle in alkoholischen Lösungen. In Frage kommen Pfeferminzöl, Minzöl, Krauseminzöl, Menthol u. a. m. (Fiedler 1978). Sie dienen zur Erfrischung und dazu, üblen Mundgeruch zu kaschieren. Übler Mundgeruch kann sehr verschiedene Ursachen haben. Häuig ist der Foetor ex ore ein Begleitsymptom von Krankheiten. Natürlich sind in diesen Fällen Mundsprays kaum nützlich. Sodann können bestimmte Speisen, v. a. wenn Zwiebeln oder Knoblauch verwendet werden, Getränke (Bier), aber auch bestimmte Arzneimittel und nicht zuletzt starkes Rauchen einen schlechten Mundgeruch hervorrufen. Kardamomenöl (Kardamomenfrüchte, > S. 1089) soll besonders geeignet sein, Zwiebelund Knoblauchgerüche zu übertönen. Mundwässer sind alkoholische Lösungen von ätherischen Ölen, Harzen, Planzenextrakten und anderen Wirkstofen (Adstringenzien) in Ethanol. Billigere Erzeugnisse enthalten anstelle des Ethanols Isopropyl- oder Propylalkohol. Die folgenden ätherischen Öle sind besonders gebräuchlich (Janistyn 1974): Pfeferminzöl, Anisöl, Fenchelöl, Kümmelöl, Zimtöl, Nelkenöl, Krauseminzöl, Eucalyptusöl, Estragonöl, seltener Rosenöl, Kalmusöl, Salbeiöl, Kamillenöl und Wintergrünöl. An Reinstofen aus ätherischen Ölen kommen zur Anwendung: Menthol, Menthylacetat, Methylsalicylat, Piperiton, hymol, Carvacrol, Vanillin, Cumarin, Eugenol, Ionone, Anethol, Terpineol, Campher, Pimentöl u. a. m. Der Gehalt an ätherischem Öl beträgt im Durchschnitt 2–4%. An Drogenextrakten inden Anwendung: alkoholische Auszüge (Tinkturen) aus Arnikablüten, Bibernellwurzel, Benzoe, Galgant, Ingwer, Myrrhe, Macis, Pfefer, Quillajarinde, Ratanhiawurzel, Tormentillwurzel, Veilchenwurzel u. a. m. Ein Teil dieser Drogen enthält ebenfalls ätherische Öle; andere enthalten Gerbstofe (Ratanhiawurzel, > Kap. 26.8.5; Tormentillwurzel, > Kap. 26.8.5)
25
und wiederum andere Saponine als natürliche Lösungsvermittler (Quillajarinde, > S. 966). Heute dominieren allerdings synthetische Lösungsvermittler, hauptsächlich Tween 20. Zum Mundspülen nimmt man einen Spritzer des Mundwassers, etwa 5–20 Tropfen auf 1 Glas Wasser. Der Verbraucher erwartet, dass sich dabei die Lösung kolloidal trübt. Der Hersteller guter Präparate erreicht dies durch den Zusatz harziger Bestandteile, wie der Myrrhe- oder Benzoetinktur; die Trübung wird auch durch weitere Bestandteile der Mundwasserrezeptur mitbedingt, soweit diese in Wasser schwer löslich sind (Terpene, bestimmte Emulgatoren). Der Gebrauch eines Mundwassers hinterlässt das angenehme Gefühl eines frischen Atems. Übler Mundgeruch lässt sich ähnlich wie durch Mundsprays übertönen. Bei der Anwendung von Mundsprays und Mundwässern muss mit Unverträglichkeitsreaktionen allergischer Natur gerechnet werden. Ferner muss damit gerechnet werden, dass Munddesinizienzien Geschmacksstörungen hervorrufen können. Die Süßempindung wird am stärksten, die Bitterempindung am wenigsten geschädigt (Riethe et al. 1980). Gurgelwässer: Unter einem Gurgelwasser oder Gargarisma versteht man eine Arzneizubereitung, die zum Gurgeln bestimmt ist. Gurgeln ist die Aufnahme von Flüssigkeit in die Mundhöhle, ohne dabei die Flüssigkeit zu verschlucken, und das Hindurchblasen von Lut, indem man entsprechend ausatmet. Gurgeln bewirkt eine Art Massage des Rachenrings; die Mandeln werden hingegen kaum erreicht. Man wendet daher Gurgelwässer bei entzündlichen Erkrankungen des Mund- und Rachenraums an; sie sollen 2 Aufgaben erfüllen: den Mund und Rachenraum reinigen sowie auf die entzündeten Schleimhäute eine entzündungswidrige Wirkung entfalten. Anwendung inden Drogen mit antiphlogistischen Eigenschaten, in erster Linie Kamillenblüten ( > S. 1084), und Drogen, die Gerbstofe führen ( > Kap. 26.8.5). Häuigster Bestandteil der Rezepte sind ätherische Öle oder Ätherischöldrogen mit antibakteriellen Eigenschaten. Allerdings gehören desinizierende Maßnahmen im Bereich der Mundhöhle nicht mehr zu den herapiezielen, seit man weiß, dass sich selbst bei Anwendung wirksamer Dosen nachhaltige Wirkungen nicht erzielen lassen. Um eine Gurgellüssigkeit herzustellen, gibt es 2 Möglichkeiten: x Herstellung eines Teeaufgusses; mit dem noch warmen Aufguss wird gegurgelt;
1113
1114
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
x Verwendung von Fertigarzneimitteln, von denen 2 Haupttypen angeboten werden: Der eine Typ besteht aus einer Lösung ätherischer Öle in Alkohol-Wasser; in der Zusammensetzung entspricht er weitgehend dem typischen Mundwasser. Ein zweiter Typ besteht aus alkoholischen Drogenauszügen: Es liegt eine Tinktur zum Gurgeln vor, die der bloßen Lösung ätherischer Öle gegenüber den Vorzug hat, dass auch nichtlüchtige Wirkstofe wie die Gerbstofe in die Gurgellösung gelangen. Man spricht anstelle von Tinktur auch von Gurgeltropfen. Von diesen in Liquidaform angebotenen planzlichen Mitteln zum Gurgeln gießt man die angegebene Dosis, in der Regel 20–30 Tropfen, in ein halbes Glas warmes Wasser.
25.6.2
Ätherische Öle aus Mentha-Arten
Pfefferminzöl Herkunft. Das Pfeferminzöl (Menthae piperitae aetheroleum PhEur 5) wird aus frischen, blühenden oberirdischen Teilen von Mentha u piperita L. (Familie: Lamiaceae [IIB23d]) durch Wasserdampfdestillation gewonnen. Zur Stammplanze > S. 1076. Der Handel unterscheidet die Öle nach Herkuntsgebieten, z. B. englisches (Mitcham), französisches, italienisches (Italo-Mitcham), amerikanisches Pfeferminzöl. Sensorische Eigenschaften. Farblose, schwach gelbliche
bis schwach grüngelbliche Flüssigkeit mit dem krätigen, durchdringenden Geruch der Pfeferminzplanze. Der Geschmack ist brennend, hinterher kühlend, v. a. wenn man beim Probieren die Lut in den Mund zieht. Es darf nicht unangenehm bitter schmecken. Zusammensetzung. Die Zusammensetzung wird mitbe-
stimmt durch Varietät, Boden, Klima, Gewinnung (Trocknungsdauer der Planzen) und Rektiikation. Man muss zwischen den „Rohölen“ und den rektiizierten Ölen unterscheiden: Durch fraktionierte Vakuumdestillation gelingt es heute, bestimmte störende Bestandteile zu eliminieren, beispielsweise zu hohe Gehalte an Menthofuran. Mentha-piperita-Öle enthalten als Hauptkomponente (–)-Menthol, das sowohl frei vorliegt (30–55%) als auch
an Essig- und Isovaleriansäure gebunden (Estermenthol; 3–12%). Neben einer Anzahl weiterer monozyklischer Monoterpene mit O-Funktionen am C-3 des Moleküls ( > Abb. 25.48) kommen weitere Nebenstofe vor, darunter Eucalyptol (1,8-Cineol; Formel > Abb. 25.28), (–)-Limonen (Formel > Abb. 25.24), (–)-E-Caryophyllen und (–)-Caryophyllenepoxid (Synonym: Epoxyhydrocaryophyllen; Formeln ( > Abb. 25.56). Für Pfeferminzöl charakteristisch ist das Vorkommen kleiner Mengen (+)-trans-Sabinenhydrat (Formel ( > Abb. 25.16) und des Sesquiterpens (+)-Viridilorol. Zur Qualität des Pfeferminzöls sind insbesondere 3 Kriterien von Bedeutung: x Verhältnis von freiem zu verestertem Menthol, x Menge an Begleitstofen, v. a. Jasmon ( > Abb. 25.49), x möglichst tiefe Gehalte an Menthofuran. Für die organoleptischen Eigenschaten des Pfeferminzöls sind ferner auch einige nur in Spuren vorkommende Monoterpenlactone von Bedeutung (vgl. Legende zu > Abb. 25.49). Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. Es gelten dieselben Bedingungen
für die DC (PhEur) wie unter Pfeferminzblätter beschrieben (vgl. S. 1076). Insgesamt 8 Substanzen werden aufgrund ihrer Anfärbung und des Fließverhaltens beschrieben, womit das Pfeferminzöl zu den durch die DC am besten charakterisierten Ölen überhaupt gehört. Dennoch lässt die PhEur in einer weiteren Prüfung gaschromatographisch 10 Substanzen nachweisen (vgl. Prüfung auf Reinheit). Prüfung auf Reinheit. Die PhEur nimmt beim Pfefer-
minzöl ein „chromatographisches Proil“ (vgl. Kap. 25.2.3 und > Tabelle 25.2) auf. Es werden 10 Substanzen mit der Angabe von zulässigen Grenzwerten bestimmt: Limonen (1,0–5,0%), Cineol (3,5–14,0%), Menthon (14,0–32,0%), Menthofuran (1,0–9,0%), Isomenthon (1,5–10,0%), Menthylacetat (2,8–10,0%), Isopulegol (höchstens 0,2%), Menthol (30,0–55,0%), Pulegon (höchstens 4,0%), Carvon (höchstens 1,0%). Das Verhältnis des Cineolgehalts zum Limonengehalt muss mindestens 2 sein. Wie bei anderen Beispielen ersetzt die Aufnahme des chromatographischen Proils eine eigentliche Gehaltsbestimmung, wobei nicht nur Gesamtgehalte für freie Alkohole, Ester und Ketone wie bei den bisher eingesetzten Methoden erfasst werden können, sondern auch andere Terpene (z. B. Carvon, Pul-
25
25.6 Ätherische Öle zur Mundpflege und zum Gurgeln
. Abb. 25.48
1115
CH3
OH H3C
CH3
(+)-Neomenthol
CH3
CH3
CH3
CH3
CH3
CH3
CH3
OPP OH H3C
CH3
H3C
Geranyldiphosphat
CH2
(−)-Limonen
H3C
H3C
CH2
(−)-trans-Isopiperitenol
CH3
CH2
(−)-Isopiperitenon
CH3
HO
O
O H3C
O
CH2
H3C
(+)-cis-Isopulegon
CH3
(+)-Pulegon
CH3
O H3C
CH3
(−)-Menthon
7
CH3
CH3
O 1
2
6 5
OH H3C
CH2
(−)-trans-Carveol
H3C (−)-Carvon
CH2
H3C
CH3
H3C
CH3
(+)-Isomenthon
(+)-Isomenthol
3 4
O 10
H3C
OH 8
9
CH3
(−)-Menthol
CH3
OH H3C
CH3
(+)-Neoisomenthol
Biosynthetische Entstehung der C-3-oxidierten (z. B. in Pfefferminzöl, Minzöl) und der C-6-oxidierten (z. B. in Krauseminzöl) p-Menthanderivate (vgl. Übersicht von Croteau 1991). Die von der eigentlichen Muttersubstanz Geranyldiphosphat sich ableitenden Ketone und Alkohole bilden eine Reihe mit zunehmendem Hydrierungsgrad. Mengenmäßig dominiert im Pfefferminzöl (–)-Menthol, das frei und verestert – als Acetat und als Isovalerianat – vorliegt. Die diastereomeren Menthole kommen in geringer Konzentration vor: (+)-Neomenthol (~3%), (+)-Isomenthol (~3%) und (+)-Neoisomenthol (~2%). (–)-Menthon ist ein mengenmäßig wichtiger Inhaltsbestandteil (>10%). Alle C-3-oxidierten Monoterpene des Pfefferminzöls haben 1(R)-Konfiguration. (–)-Menthol ist (1R, 3R, 4S)-3-p-Menthanol. Das (4R)-(–)-Carvon ist Hauptbestandteil des Krauseminzöls (vgl. S. 1117)
1116
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
. Abb. 25.49 O
O
H
CH3 E
CH3
Z
CH3
H
H CH3
H
trans-Jasmon (Artefakt)
cis-Jasmon C11H16O (natürliches Jasmon) CH3
CH3
CH3
Verwendung und Anwendungsgebiete. Der größte Teil
6
O
O
H3 C
O
(–)-Mintlacton
O 3
H3 C
O
(+)-iso-Mintlacton
H3C
enantioselektiven GC mit IRMS (enantio-GC-IRMS; Faber et al. 1995). Mit Hilfe dieser Techniken kann insbesondere die ofenbar häuig vorkommende Zugabe von racemischem Menthylacetat zu Pfeferminzölen mit nicht der PhEur entsprechenden Menthylacetatgehalten erkannt werden. Genuines Pfeferminzöl enthält enantiomerenreines (–)-(1R,3R,4S)-Menthylacetat. 1S-Enantiomere [(+)-Menthol oder (+)-Menthylacetat] können mittels enantio-GC-IRMS eindeutig nachgewiesen werden.
O
Menthofurolacton 2 Diastereoisomere (3R, 6R ) und (3S, 6R )
Die besonders hohe sensorische Qualität des Pfefferminzöls wird durch die Art und Menge seiner Begleitstoffe, u. a. durch das Jasmon bestimmt, das in Mengen bis etwa 0,1% vorkommt. Jasmon wurde zuerst aus Blüten des Jasminstrauchs, Jasminum grandiflorum L. (Familie: Oleaceae [IIB23e]), isoliert. Das natürliche cis-Derivat ist der Träger des Jasminblütengeruchs. Begleitet wird das cis-Derivat vom trans-Isomeren. Für die organoleptischen Eigenschaften sind weiterhin Monoterpenlactone von Bedeutung, u. a. (–)-Mintlacton, (+)-iso-Mintlacton und das erst kürzlich in Pfefferminzöl nachgewiesene Methofurolacton (Frérot et al. 2002)
geon), für die das Arzneibuch Höchstgrenzen vorschreibt (Verfälschung mit Minzöl). Anmerkung: Verfälschungen von Pfeferminzöl (z. B. mit rektiizierten Minzölen, synthetischem Menthofuran, rac-Menthol, rac-Menthylacetat) können auch durch die Aufnahme des „chromatographischen Proils“ nicht eindeutig bzw. gar nicht erkannt werden. Der Authentizitätsnachweis kann einmal aufgrund der Enantiomerenverhältnisse chiraler Inhaltsstofe durch Einsatz der enantioselektiven multidimensionalen GC erbracht werden (Kreis et al. 1990b; Mosandl et al. 1991) oder durch Bestimmung der charakteristischen Isotopeningerprints der Öle mit GC-IRMS oder noch besser mit einer Kombination der
des Öls wird als Geruchs- und Geschmackskorrigens verwendet: in der kosmetischen Industrie zur Aromatisierung von Mundsprays, Mundwässern und Zahnpasten; in der Lebensmittelindustrie für Kaugummi, Schokoladen, Süßwaren und Liköre; in der pharmazeutischen Industrie als Korrigens für Pulver, Liquidapräparate und sofortlösliche Tees in einer Konzentration bis 0,1%; beliebter Bestandteil ( > Kap. 25.5.4) in Lutschtabletten und Lutschbonbons bei Pharyngitis und Husten. Zur innerlichen Anwendung und zur Verwendung von Pfeferminzöl zur Behandlung von Migräne und Kopfschmerz > S. 1076, zur Anwendung in der Rhinologie > Kap. 25.7. Zur Mentholgewinnung wird Mentha-piperita-Öl nicht herangezogen; hierzu nimmt man die Minzöle von Mentha arvensis var. piperascens, die wesentlich billiger sind. Unerwünschte Wirkungen. Pfeferminzöl kann, wenn
auch selten, allergische Reaktionen auslösen.
Minzöl Herkunft. Minzöl (Menthae arvensis aetheroleum partim mentholum depletum PhEur 5, revidiert 5.2) wird aus dem Kraut frischer, blühender Planzen von Mentha canadensis L. (syn. M. arvensis L. var. glabrata (Benth) Fern., M. arvensis var. piperascens Malinv. ex Holmes) (Familie: Lamiaceae [IIB23d]) durch Wasserdampfdestillation gewonnen. Es gelangen nicht die genuinen Öle in den Handel, sondern die partiell entmentholisierten und anschließend rektiizierten Produkte. Die ein- oder auch mehrfache Rektiizierung bezweckt eine Entbitterung und Normierung: Fraktionen verschiedener Öle werden gemischt, auf bestimmte Konstanten eingestellt und unter Typenbezeichnungen in den Handel gebracht. Die Handelsprodukte bedienen sich außer der Typen häuig auch
25.6 Ätherische Öle zur Mundpflege und zum Gurgeln
der Herkuntsbezeichnungen, z. B. japanisches, brasilianisches, chinesisches, indisches Pfeferminzöl. Man beachte, dass alle diese Minzöle als „Pfeferminzöle“ deklariert sind. Sensorische Eigenschaften. Zwar ähneln sich Minz- und
Pfeferminzöle geruchlich und geschmacklich in hohem Maße; dennoch sind deutliche, wenn auch schwer in Worten oder durch physikalische Konstanten beschreibbare Unterschiede zwischen den beiden Öltypen vorhanden. Geruch und Geschmack der Minzöle werden als bitterer und strenger schmeckend, geruchlich als weniger angenehm und harmonisch empfunden, sodass sie in der Lebensmittelindustrie und in der kosmetischen Industrie weniger hoch geschätzt werden. Zusammensetzung. Vorbemerkung: Frisch destilliertes
Minzöl enthält 80 bis >90% Menthol, das sich bereits beim Abkühlen des Destillationsprodukts teilweise abscheidet. In den Handel gelangen nur Produkte, denen weiteres Menthol entzogen ist und die durch Rektiikation von niedrig siedenden Terpenen (D-Pinen, E-Pinen, Limonen) und hochsiedenden (schlecht riechenden und schmeckenden) Harzen befreit sind. Wie die Pfeferminzöle vom Mentha-piperita-Typ enthalten die Pfeferminzöle vom Mentha-arvensis-Typ (= Minzöle) als Hauptkomponente linksdrehendes (–)-Menthol (vgl. > Abb. 25.48); es folgen (–)-Menthon mit Isomenthon (~33%) und (–)-Menthylacetat (~3%) als weitere charakteristische Bestandteile. Für Minzöl charakteristisch ist das Vorkommen von (+)-Isopulegol. Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. Zur DC-Prüfung (PhEur) > unter
Pfeferminzblätter und Pfeferminzöl (vgl. S. 1076 und Kap. 25.6.2). Das DC-Fingerprintchromatogramm ist prinzipiell ähnlich mit der Ausnahme, dass eine Cineolzone nicht sichtbar sein darf. Auf weitere Unterschiede kann hier nicht eingegangen werden. Zum Authentizitätsnachweis > Kap. 25.6.2. Prüfung auf Reinheit. Aufnahme eines chromatographi-
schen Proils (PhEur) (vgl. Kap. 25.2.3 und > Tabelle 25.2) mit der Bestimmung von 9 Substanzen: Limonen (1,5– 7,0%), Cineol (höchstens 1,5%), Menthon (17,0–35,0%), Isomenthon (5,0–13,0%), Menthylacetat (1,5–7,0%), Isopulegol (1,0–3,0%), Menthol (30,0–50,0%), Pulegon (höchstens 2,0%), Carvon (höchstens 2,0%). Das Verhält-
25
nis des Cineolgehalts zum Limonengehalt muss kleiner als 1 sein. Verwendung und Anwendungsgebiete. Im Gegensatz
zu den teuren Pfeferminzölen vom Piperita-Typ verwendet man Minzöle im großen Maßstab zur Gewinnung von natürlichem (–)-Menthol ( > S. 1130). In pharmazeutischen Präparaten verwendet man Minzöle ähnlich wie Pfeferminzöle als Korrigenzien. Unter phantasievollen Namen verwendet man auch die reinen Öle selbst; die gelblich-grüne Farbe der Öle wird in diesen Produkten gerne durch Chlorophyllfarbstofe verstärkt. Sie sind innerlich und äußerlich „bewährte Hausmittel“ bei einer Vielzahl alltäglicher Beschwerden, z. B. innerlich bei spastischen Beschwerden im Bereich des Magen-Darm-Kanals, zum Gurgeln und zur Inhalation bei Erkältungskrankheiten (Husten, Heiserkeit, Verschleimung), als schmerzstillende Einreibung bei Nerven- und Gliederschmerzen sowie Weichteilrheumatismus. Unerwünschte Wirkungen. Minzöl kann wie Pfefer-
minzöl in seltenen Fällen zu allergischen Reaktionen führen.
Krauseminzöl Krauseminzöl (Menthae crispae aetheroleum DAC 2005) wird durch Wasserdampfdestillation der frischen oberiridischen Teile von Mentha spicata L. var. crispa Benth., Mentha aquatica Hell. var. crispa L. (Benth.), Mentha longifolia Nath. var. crispa Benth. (Familie: Lamiaceae [IIB23d]), oder deren Mischungen gewonnen. Unter dem Namen Krauseminze fasst man verschiedene kultivierte Mentha-Arten bzw. deren Varietäten und Formen zusammen, die als gemeinsames morphologisches Merkmal „krause“ Blätter besitzen (lateinisch crispus = gekraust) und einen charakteristischen „krauseminzartigen“ Geruch aufweisen. Als Träger des Krauseminzgeruchs gilt das Acetat des Dihydrocuminalkohols in Verbindung mit Dihydrocarveolacetat. Mengenmäßig dominiert allerdings im Krauseminzöl das (–)-(R)-Carvon ( > Abb. 25.48). Krauseminzöl wird zum Aromatisieren von Mundwässern, Zahnpasten und Kaugummi verwendet. Pharmazeutisch verwendet man es ähnlich wie Pfeferminzöl als Carminativum sowie als Geschmacks- und Geruchskorrigens.
1117
1118
25 25.6.3
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Salbei und Salbeiöl
Die Gattung Salvia gehört zur Familie der Lamiaceae [IIB23d] und ist eine der artenreichsten Gattungen innerhalb dieser Familie (etwa 500 Arten umfassend). Im Folgenden interessieren 3 in Europa heimische Arten: x Salvia oicinalis L. liefert die Salbeiblätter (Salviae oficinalis folium PhEur 5) und das daraus destillierte Salbeiöl (Salviae aetheroleum Helv 10) bzw. Dalmatinische Salbeiöle (Salviae oicinalis aetherolea DAC 2005); x Salvia fruticosa Mill. (Synonym: S. triloba L. il.) liefert den Dreilappigen Salbei (Salviae trilobae folium PhEur 5) sowie das Griechische Salbeiöl (Salviae fruticosae aetheroleum); x Salvia lavandulifolia Vahl liefert das Spanische Salbeiöl (Salviae lavandulifoliae aetheroleum DAC 2005). x Salvia sclarea L. liefert das Muskatellersalbeiöl (Salviae sclareae aetheroleum PhEur 5). Sensorische Eigenschaften. Salbeiblätter von S. oicinalis
haben einen würzigen, an Campher und hujon erinnernden Geruch. Der Geruch der Blätter des Dreilappigen Salbeis von S. fruticosa erinnert beim Zerreiben an Eucalyptusöl. Beide Drogen weisen einen würzigen, schwach bitteren Geschmack auf. Inhaltsstoffe
x Ätherisches Öl [1–2,5% (S. oicinalis), PhEur = min-
destens 15 ml u kg–1 für die ganze und 10 ml u kg–1 für die geschnittene Droge; 2–3% (S. fruticosa), PhEur = mindestens 18 ml u kg–1 für die ganze und 12 ml u kg–1 für die geschnittene Droge] mit allerdings sehr unterschiedlicher Zusammensetzung (vgl. dazu z. B. Länger et al. 1996). Neben den Hauptbestandteilen hujon ( > Abb. 25.50), Campher ( > Abb. 25.54) und 1,8-Cineol ( > Abb. 25.28) werden, wie bei ätherischen Ölen üblich, eine große Zahl von Nebenstofen gefunden, darunter Monoterpenkohlenwasserstofe (D-Pinen, Camphen), Monoterpenalkohole und deren Ester [Borneol, Bornylacetat (Formeln und Enantiomerenv erhältnisse > Abb. 25.46)], Linalool sowie Sesquiterpene [Viridilorol, Humulen, Caryophyllen und Epoxidihydrocaryophyllen (Synonym: Caryophyllenepoxid)]; Strukturformeln > Abb. 25.56); x Diterpene [z. B. Carnosolsäure und Carnosol (trizyklische Diterpene mit o-Diphenolstruktur); ferner Carnosolsäure-12-methylether und das entsprechen-
. Abb. 25.50 CH3 5
CH3 O
4
O
3
3
5
1
1
H3C
4
CH3
H3C
CH3
(−)-α-Thujon (1S,4R,5R-Thujan-3-on) CH3
CH3 O
H3C
CH3
O
H3C
CH3
(+)-β-Thujon (1S,4S,5R-Thujan-3-on)
Thujon, 3-Thujanon, 4-Methyl-1-isopropyl-bicyclo[3.1.0]hexan-3-on, C10H16 – bei Raumtemperatur eine farblose oder nahezu farblose Flüssigkeit – kommt außer in bestimmten Salvia-Arten auch in vielen anderen ätherischen Ölen vor, beispielsweise auch im Öl von Thuja occidentalis L., in dem es zuerst entdeckt worden ist. Die beiden Thujone, α- und β-Thujon, unterscheiden sich lediglich in der Stereochemie der 4-Methylgruppe. Das ätherische Öl des Echten Salbeis (von S. officinalis) enthält einen hohen Thujon- (α- und β-Thujon) und Camphergehalt (Summe Thujone und Campher etwa 70%, wovon ca. 40% Thujone), das Öl des Dreilappigen oder Griechischen Salbeis (von S. fruticosa) dagegen einen relativ niedrigen (13%, wovon ca. 4% Thujone). Hauptbestandteil im Griechischen Salbeiöl ist 1,8-Cineol (ca. 70%, Formel > Abb. 25.28; vgl. dazu z. B. Länger et al. 1996). Zur Enantiomerenverteilung bei Campher > Legende zu > Abb. 25.54. Das Thujongemisch des ätherischen Öls von S. officinalis besteht aus ca. 2/3 α- und 1/3 β-Thujon, während im ätherischen Öl von Artemisia absinthium das β-Thujon vorherrscht (vgl. S. 870). Zur Numerierung des Thujangerüsts vgl. > Abb. 25.16
25.6 Ätherische Öle zur Mundpflege und zum Gurgeln
de J-Lacton. Ferner sind insbesondere aus Salvia oicinalis über 10 weitere Abietanditerpene (u. a. Rosmanol, Epirosmanol, Galdosol, Atuntzensin A, Rosmadial; > Abb. 25.51]) und 3 Apiananditerpene isoliert worden (vgl. Miura et al. 2002 und darin zitierte Literatur); x Triterpene, insbesondere Ursolsäure; x aromatische Verbindungen: Rosmarinsäure und verschiedene Rosmarinsäurederivate, u. a. Salvianolsäure K und L, Sagerininsäure, Melitrinsäure A, Methylmelitrinsäure A, Sagecumarin (vgl. Übersicht von Lu u. Foo 2002 und darin zitierte Literatur), Flavonoide (Luteolin, Apigenin und Glykoside, ferner methoxy-
25
lierte Flavonoidaglykone wie z. B. Genkwanin, Hispidulin, Salvigenin, Salvigeninmethyläther), wobei das „Flavonoidmuster“ artspeziisch zu sein scheint; x Polysaccharide (S. oicinalis). Analytische Kennzeichnung. Die 2 oizinellen Salbei-
arten, Echter und Dreilappiger Salbei, enthalten hujon (das ist D- und E-hujon), Cineol und Campher in unterschiedlichem Mengenverhältnis ( > dazu Legenden zu > Abb. 25.50 und 25.54). Prüfung auf Identität. Salbeidrogen PhEur [Fließmittel:
Ethylacetat–Toluol (5:95); Referenzsubstanzen: hujon,
. Abb. 25.51
Das bitter schmeckende Prinzip des Echten und des Dreilappigen Salbeis ist die Carnosolsäure (Abietantyp; vgl. > Abb. 23.49), die leicht autoxidativ in Carnosol (Synonym: Pikrosalvin) übergeht. Carnosol ist folglich ein Artefakt. Die autoxidative Hydroxylierung in C-7-Position (Benzylstellung) wird durch Ausbildung eines Phenoxyradikals am C-12 begünstigt. Carnosol und Carnosolsäure kommen auch in anderen Labiatendrogen vor, z. B. im Rosmarinblatt. Carnosol findet heute Interesse wegen seiner Antitumorwirkung (Moran et al. 2005; Huang et al. 2005; vgl. dazu auch Infobox „Tumorhemmendes Potential von Pflanzenstoffen“; S. 979)
1119
1120
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Cineol; Nachweis: Molybdatophosphorsäurereagens]. Nach dem Besprühen mit dem Molybdatophosphorsäurereagens erscheint bei beiden Drogen im Tageslicht Cineol als blaue Zone. hujon erscheint bei der Salvia-oicinalisDroge als rosaviolette, dem D- und E-hujon entsprechende Doppelzone. Bei der Salvia-triloba-Droge darf für hujon keine oder nur eine sehr schwache rosablaue Zone autreten. Salbeiöl: Während die Helv 10 für das Salbeiöl nur die DC unter Prüfung auf Identität auführt, enthalten die Monographien Salviae oicinalis aetherolea und Salviae lavandulifoliae aetheroleum (beide DAC 2005) sowie Salviae sclareae aetheroleum (PhEur) die Aufnahme eines „chromatographischen Proils“ (vgl. Kap. 25.2.3 und > Tabelle 25.2). Bei den ersten beiden Ölen werden Grenzwerte für 5, beim Muskatellersalbeiöl für 6 Substanzen festgelegt. Bei Salviae oicinalis aetherolea: Cineol (6,0–16%), D-hujon, E-hujon (Summe 20–40 bzw. 40–60%), Campher (14–37%), Bornylacetat und Borneol (je höchstens 5,0%); bei Salviae lavandulifoliae aetheroleum: Cineol (10–30%), D-hujon, E-hujon (Summe: höchstens 0,5%), Campher (11–36%), Linalool (5,0–9,0%), Borneol (0,5– 13%); bei Salviae sclareae aetheroleum: D-hujon, E-hujon ( Tabelle 25.2), unter Prüfung auf Reinheit] sind für hymol 36,0–55,0% und für Carvacrol 1,0–4,0%. hymianöl wirkt wegen seines hohen Phenolgehaltes keimhemmend und antiseptisch. Man verwendet es als antiseptischen und zugleich aromatisierenden Zusatz für Gurgel-, Mund- und Rasierwässer. Die örtlich reizenden Eigenschaten als Rubefaciens nutzt man aus, indem man hymol in Salben und andere Einreibemittel einarbeitet ( > auch Kap. 25.8.2).
25
Unerwünschte Wirkungen. Die akute resorptive Toxizität
von hymol ist ziemlich gering. Intoxikationserscheinungen in Form von Kopfweh, Schwindel, Übelkeit, Erbrechen und Durchfall machen sich beim Erwachsenen ab oralen Dosen über 4,0 g bemerkbar. Beachtenswert sind mögliche chronische Intoxikationen bei Langzeitanwendung thymolhaltiger Mundplegemittel; ihr Gebrauch kann hyreotoxikosen auslösen. Dass hymol die Schilddrüsenfunktion beeinlusst, wurde erstmalig bekannt, als man hymol zur Wasserdesinfektion einem Brunnen (in Gilgit, Iran) zusetzte und als nach längerem Genuss dieses Wassers die Kropbildung in der Bevölkerung aufallend zurückging (Hauschild 1956).
Thymol Herkunft. hymol (hymolum PhEur 5; 5-Methyl-2-
25.6.5
(methylethyl)phenol; C10H14O) kann aus thymolreichen ätherischen Ölen gewonnen werden. In Frage kommt heute allenfalls noch das Öl der Ajowanfrüchte. Es sind dies kleine, im Aussehen an Kümmel erinnernde Doppelachänen von Trachyspermum copticum (L.) Link (Familie: Apiaceae [IIB25a]). Ajowan wird v. a. in Indien als Gewürzplanze angebaut, daneben auch im Iran, in Südasien und in Nordafrika. Die Ajowanfrüchte enthalten 2,6–4,5% ätherisches Öl mit einem hymolgehalt von 35–60%, begleitet von Carvacrol, D-Pinen und p-Cymen. Heute wird hymol fast ausschließlich synthetisch (aus m-Cresol) hergestellt.
Unter der Bezeichnung Wintergrünöl laufen 3 Produkte unterschiedlicher Herkunt, wenn auch ähnlicher Zusammensetzung: x das aus Blättern von Gaultheria procumbens L. (Familie: Ericaceae [IIB20a]) durch Wasserdampfdestillation gewonnene ätherische Öl, x das aus der Rinde von Betula lenta L. (Familie: Betulaceae [IIB10b]) ebenfalls durch Wasserdampfdestillation gewonnene Öl, x synthetisches Methylsalicylat (Methylis salicylas PhEur 5).
Sensorische Eigenschaften. Bei Raumtemperatur farblo-
se Kristalle, die würzig-brennend schmecken. Geruch: intensiv „phenolisch-medizinisch“. In verdünnter Lösung, z. B. in kalt gesättigter wässriger Lösung, wird der hymolgeruch auch als blumenartig empfunden. Der hymolgeruch soll Fliegen anziehen. Verwendung und Anwendungsgebiete. hymol ist wichtig als Ausgangsmaterial zur Herstellung von synthetischem Menthol. In der kosmetischen und pharmazeutischen Industrie als Deodorant in Zahnpasten, Gurgelwässern, Mundwässern, Rasierseifen und Rasiercremes. Die bakteriostatische und fungizide Wirkung des hymols – sie erstreckt sich auch auf Hefen und Schimmelpilze – ist dabei sehr willkommen, da es sich im Allgemeinen erübrigt, den Produkten „synthetische“ Konservierungsmittel zuzusetzen. Gezielt ausgenutzt wird die fungizide Eigenschat des hymols als Wirkungskomponente in Streupudern zur Behandlung von Pilzinfektionen der Haut.
Wintergrünöl
Die natürlichen Wintergrünöle sind in ihren Duteigenschaten wegen des Vorkommens zahlreicher Neben- und Spurenstofe der Monosubstanz überlegen. Synthetisches Methylsalicylat wird äußerlich in Salben und Linimenten als hyperämisierendes Mittel verwendet ( > Kap. 25.8.2). Für kosmetische Produkte und als Zusatz für Mundplegemittel bevorzugt man hingegen die natürlichen Wintergrünöle. Wintergrünöl aus G. procumbens ist eine farblose oder schwach gelb gefärbte Flüssigkeit mit dem typischen phenolischen Geruch des Salicylsäuremethylesters, zwar etwas rauchiger, doch insgesamt feiner als das synthetische Produkt. Es enthält 96–99% Methylsalicylat (Formel der Salicylsäure > Abb. 26.6) neben kleinen Mengen Önanthalkohol (n-Heptanol-1), der frei und als Ester vorliegt. Önanthalkohol und Önanthester besitzen das charakteristische Aroma, durch das sich Wintergrünöl von synthetischem Methylsalicylat unterscheidet. Geschmack: süß, warm, aromatisch.
1121
1122
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Während Gaultheria-procumbens-Öle kaum noch in den Handel gelangen, werden Betula-lenta-Öle noch verwendet. Auch sie enthalten über 98% Methylsalicylat. Die beiden Produkte sind aber nicht völlig identisch und unterscheiden sich deutlich im Geruch. Weder in Gaultheria noch in Betula kommt Methylsalicylat genuin vor; vielmehr bildet es sich erst sekundär im Verlauf eines enzymatischen (fermentativen) Prozesses aus der geruchlosen Vorstufe Monotropitosid, das ist das Methylsalicylatprimverosid; Primverose ist 2-E-(6-E-Xylosido)-glucose. Verwendung. Zum Aromatisieren von Mundplegemit-
teln. In den USA sind Wintergrün-Krauseminz-Typen zum Aromatisieren von Mundwässern, Zahnpasten und Kaugummis sehr beliebt. In Europa bevorzugt man reine Pfeferminz- und Pfeferminz-Nelken-Typen. Unerwünschte Wirkungen. Überempindlichkeitsreak-
tionen, die an Allergien vom Soforttyp erinnern [Urtikaria, angioneurotisches (Quincke-)Ödem], sind nach Anwendung von Linimenten, Zahnpasten und Lutschbonbons mit Methylsalicylat in der Literatur beschrieben ( > Martindale 1989). Akute Vergitungen sind nur nach Einnahme größerer Mengen des reinen Arzneistofes beobachtet worden. Die tägliche Zufuhr von 0,5 mg/kg KG ist unbedenklich.
25.6.6
Myrrhe
Herkunft. Myrrhe (Myrrha PhEur 5) besteht aus dem an
der Lut gehärteten Gummiharz, das aus Stamm und Ästen von Commiphora molmol Engler und/oder anderen Commiphora-Arten (Familie: Burseraceae [IIB18b]) durch Anschneiden erhalten werden kann oder durch spontanes Austreten entsteht. Die Artzuordnung der Stammplanzen, die zur Drogengewinnung herangezogen werden, steht bis heute nicht mit Sicherheit fest; die Gattung umfasst etwa 100 Arten, von denen neben C. molmol, C. abyssinica (Berg) Engler und C. schimperi (Berg) Engler das Handelsprodukt liefern dürten. Die genannten Stammplanzen sind kleine Bäume mit schizogenen Exkretgängen in der Rinde. Zur Drogengewinnung wird die Rinde verletzt; der ausließende gelbe Balsam erstarrt an der Lut zu gelblich- oder rötlichbraunen Körnern, die gesammelt werden. Myrrhe stammt ausschließlich aus Wildsammlungen.
Sensorische Eigenschaften. Myrrhe riecht eigenartig
würzig, warm aromatisch. Beim Kauen schmeckt sie zunächst kratzend-sandig, sie wird dann weich und klebt an den Zähnen, wobei der aromatisch-bittere Geschmack deutlicher hervortritt. Inhaltsstoffe. Das Spektrum der Inhaltsstofe ist komplex
und lässt sich in 3 Stofgruppen einteilen (vgl. Übersicht von Wiendl u. Franz 1994): x Ätherisches Öl (2–10%) mit hauptsächlich Sesquiterpenen ( > Abb. 25.52). Myrrhengeruch und Bittergeschmack werden wesentlich durch das 5-Acetoxy-2methoxy-4,5-dihydrofuranodien-6-on mitbestimmt; x in Ethanol lösliche Harzfraktion (25–40%); diese besteht aus Diterpensäuren (u. a. Commiphorasäuren) und deren Estern sowie aus Triterpensäuren; x wasserlöslicher Gummenanteil (30–60%): Die Hauptfraktion besteht aus einem Proteinkern, an den über Hydroxyprolin langkettige, wenig bis unverzweigte (Galactose, 4-O-Methylglucuronsäure) und kurzkettige Zuckerreste (Arabinose) gebunden sind. . Abb. 25.52 CH3
CH3
O
O
CH3
H
CH3
CH3
Furanoeudesman-Typ: Furanoeudesma-1,3-dien C15H18O
H
O
CH3
Furanoeleman-Typ: Curzerenon C15H18O2
CH3
H3CO
O
CH3
CH3
Furanoguajan-Typ: 2-Methoxyfuranodien C18H22O2
Charakteristisch für die offizinelle Myrrhe sind Furanosesquiterpene vom Germacran-, Eleman-, Eudesman- und Guajantyp (Strukturtypen > Abb. 23.24). Bei den Hauptbestandteilen handelt es sich um Furanoeudesma-1,3dien, Curzerenon und 2-Methoxyfuranodien
25.6 Ätherische Öle zur Mundpflege und zum Gurgeln
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Fingerprintchromatogramm
(PhEur) mit Nachweis der für die Droge charakteristischen Sesquiterpene [Fließmittel: Ethylacetat–Toluol (2:98); Referenzsubstanzen: hymol, Anethol; Nachweis: Anisaldehydreagens]. Nach Besprühen mit dem Anisaldehydreagens erscheinen im Tageslicht u. a. 3 violett gefärbte Zonen, bei denen es sich, geordnet nach steigenden Rf-Werten, um 2-Methoxyfuranodien, Curzerenon und Furanoeudesma-1,3-dien (= dominierende Zone) handelt. Prüfung auf Reinheit. Im unteren Teil des DC ( > Prü-
fung auf Identität) dürfen im UV bei 365 nm keine intensiv blau bis violett luoreszierende Zonen vorhanden sein; C. mukul). Als Qualitätsmerkmal gilt die Menge der in Ethanol löslichen Anteile: Gute Myrrhe soll sich zu 30% in heißem Ethanol lösen. Verwendung. Zur Herstellung der Myrrhentinktur (Myrrhae tinctura PhEur 5). Anwendungsgebiete. In Form der Myrrhentinktur als
desinizierendes und desodorierendes Mittel zur lokalen Behandlung leichter Entzündungen der Mund- und Rachenschleimhaut (Kommission E, ESCOP). Die entzündeten Stellen werden mit Myrrhentinktur gepinselt, bzw. verdünnte Myrrhentinktur (1–2 Teelöfel auf 1 Glas Wasser) dient zum Mundspülen. Anmerkung: Eine an Mäusen (i.p.-Applikation) durchgeführte Studie ergab für die Sesquiterpene Furanoeudesma-1,3-dien und Curzerenon eine analgetische Wirkung, die durch gleichzeitige Gabe von Naloxon aufgehoben wurde. Daraus schlossen die Autoren (Dolora et al. 1996), dass beide Substanzen über eine Interaktion mit Opioidrezeptoren im Gehirn wirksam sind, was die in der Antike übliche Verwendung von Myrrhe als Schmerzmittel erklären könnte.
25.6.7
Benzoe
Handelssorten Unter Benzoe versteht man das nach Verwundung der Stämme bestimmter Styraxarten gebildete und erhärtete Exkret. Benzoe ist demnach eine Sammelbezeichnung für
25
Drogen verschiedener Herkünte. Zwei Handelssorten werden unterschieden: x Siambenzoe von Styrax tonkinensis (Pierre) Craib ex Hartwich und x Sumatrabenzoe von Styrax benzoin Dryander und Styrax paralleloneurum Perkins (Familie: Styracaceae [IIB20d]).
Siambenzoe Siambenzoe (Benzoe tonkinensis PhEur 5.2) wird in Laos in der Provinz Luang Prabang auf den Gebirgen im Osten des Mekonglusses in Höhen von 1200–1500 m gewonnen. An 6- bis 10-jährigen Bäumen setzt man Schnittwunden, die bis ins Holz gehen. Auf die Verletzung antwortet das Kambium zunächst mit der Bildung von reichlich neuem Gewebe. Schon bald beginnen sich in diesem Gewebe des Wundkallus in ringförmiger Anordnung Sekretgänge zu bilden, die sich durch Abbau des zwischen den schizogenen Sekretgängen beindlichen Gewebes lysigen erweitern. Die Bildung von Sekretgängen beschränkt sich nicht auf das neu entstandene Gewebe, sondern greit über die Markstrahlen auch auf andere Teile der Rinde über. Aus der Wunde tritt ein gelblich-weißer Balsam aus, der wegen des Gehalts an Benzoesäureester des Zimtalkohols lüssig ist. Das zuerst austretende Produkt wird verworfen. Erst der in der Folge entstehende Balsam gibt die gute Droge. An der Lut färbt er sich bräunlich, wird durch Verdunstung des Zimtalkohols allmählich fest und erhärtet in Form von Körnern oder Platten. Sensorische Eigenschaten. Die Droge besteht aus gelblichweiß bis rötlichbraun gefärbten Stücken; der Geruch erinnert an Vanillin. Der Geschmack ist anfangs süß, hinterher scharf. Inhaltsstoffe. Siambenzoe enthält 10–20% freie Benzoe-
säure, 6% D-Siaresinolsäure (19-Hydroxyoleanolsäure; Strukturformel > Abb. 24.3) und etwas Vanillin (etwa 0,3% als Oxidationsprodukt des Coniferylalkohols). Den mit 60–80% mengenmäßig dominierenden Bestandteil stellt aber das Coniferylbenzoat. Begleitet wird es von den korrespondierenden p-Cumar- und Zimtsäureestern ( > Abb. 25.53). Siambenzoe enthält mindestens 45,0% und höchstens 55,0% Gesamtsäuren, berechnet als Benzoesäure (PhEur).
1123
1124
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
. Abb. 25.53
O
O
OR
OR
1
2
CH2
H3CO
CH2
CH2
R= X
HO
a 1: R = a 1: R = a 1: R = b 2: R = a 2: R = b 2: R = c
c
b
Benzoesäurecinnamylester (X = H) Benzoesäurecoumarylester (X = OH) Benzoesäureconiferylester Zimtsäurecinnamylester Zimtsäureconiferylester Zimtsäurephenylpropylester
Siambenzoe enthält neben freier Benzoesäure (1, R = H) die Benzoesäureester (1, R = a; 1, R = b). In der Sumatrabenzoe kommt als Hauptbestandteil ebenfalls der Benzoesäureconiferylester (1, R = b) vor; als Begleitstoffe finden sich jedoch vornehmlich freie Zimtsäure (2, R = H) und deren Ester (2, R = a; 2, R = b; 2, R = c)
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität und Reinheit. DC-Nachweis
(PhEur) von Benzoesäure und Vanillin [Fließmittel: Essigsäure 99%–Diisopropylether–Hexan (10:40:60); Referenzsubstanzen: Benzoesäure, trans-Zimtsäure, Vanillin, Methylcinnamat; Nachweis: UV 254 nm]. Das Chromatogramm der Untersuchungslösung zeigt im UV bei 254 nm zwei dunkle Zonen (Benzoesäure, Vanillin). Leider geht die PhEur bei der Beschreibung des DC nicht auf den Hauptinhaltsstof (Coniferylbenzoat) ein, fordert aber (unter Prüfung auf Reinheit) die Abwesenheit einer der Zimtsäure im Chromatogramm der Referenzlösung entsprechenden Zone (Sumatrabenzoe).
elles Wirkungsspektrum richtet sich vorwiegend gegen Hefe und Pilze, weniger gegen Bakterien. Benzoesäureconiferylester hat antioxidative Eigenschaten. Anwendungsgebiete. Als Zusatz in Mundwässern und anderen kosmetischen Zubereitungen, in Form der Tinktur [Benzois tonkinensis tinctura PhEur 5.4 (aus Siambenzoe)] als Antiseptikum und Antiphlogistikum, als Fixateur in der kosmetischen Industrie. Unerwünschte Wirkungen. Coniferylbenzoat besitzt ein
starkes Sensibilisierungspotential, das aber heute wegen stark eingeschränkter Verwendung kaum noch von Bedeutung ist (vgl. Hausen u. Vieluf 1998).
Gehaltsbestimmung. Quantitative Bestimmung der Ge-
samtsäuren nach Verseifung der Ester (PhEur); Titration des Überschusses der zur Verseifung verwendeten NaOH mit 0,5 M HCl und Berechnung als Benzoesäure. Wirkungen. Desinizierende, antiphlogistische und anti-
oxidative Wirkung. Hauptträger der antimikrobiellen Wirkung dürte die Benzoesäure sein. Deren antimikrobi-
Sumatrabenzoe Sumatrabenzoe wird ganz wie Siambenzoe verwendet. In der kosmetischen Industrie stut man allerdings die an Perubalsam erinnernde Geruchsnote als weniger fein ein. Auch in der chemischen Zusammensetzung bestehen gro-
25.8 Ätherische Öle als Zusatz zu Externa
ße Ähnlichkeiten; jedoch treten die Zimtsäurederivate – Coniferylcinnamat, Zimtsäurecinnamat, freie Zimtsäure – im Vergleich zu den Benzoesäurederivaten stärker hervor. An Stelle der Siaresinolsäure tritt Sumaresinolsäure (6-Hydroxyoleanolsäure) auf. Monographien für Sumatrabenzoe und Sumatrabenzoetinktur für die PhEur sind in Vorbereitung.
25.7
Ätherische Öle in Rhinologika
Bei den rhinologischen Arzneiformen unterscheidet man zwischen lipophilen und hydrophilen Formen. Ölige Formen sind heute kaum noch wissenschatlich akzeptabel; nur hydrophile Formen gewähren ein ungestörtes Funktionieren der Ziliarbewegung (Dolder 1978). Als Träger ätherischer Öle werden in erster Linie lipophile Grundlagen eingesetzt, sodass schon von der Arzneiform her Rhinologika mit ätherischen Ölen kritisch zu sehen sind. Hinzu kommt, dass die meisten ätherischen Öle auch direkt eine die Zilientätigkeit lähmende Wirkung haben (Dolder 1978). Auch für Menthol trit dies zu. In Rhinologika wird v. a. Eucalyptusöl ( > S. 1105) eingearbeitet. Der Häuigkeit nach folgt Pfeferminzöl, Fichtennadelöl, Salbeiöl, hymianöl und Anisöl. In den Werbeprospekten für Pfeferminzöle und Minzöle ist die Empfehlung zu lesen, bei Schnupfen und verstopter Nase die inneren Nasenwände mit 1 Tropfen ätherischem Öl zu benetzen. Ob diese Art der Medikation die Ziliartätigkeit hemmt, ist anscheinend nicht untersucht. Dass sich subjektiv ein Gefühl der Erleichterung, des „besseren Durchatmenkönnens“ einstellt, wird vielfach bezeugt (vgl. z. B. Berger 1984). Bei Entzündungen der Kieferhöhle spielen ätherische Öle als Zusätze zu Wasserdampinhalationen eine Rolle; durch Sekretverlüssigung lässt sich eine Verbesserung des Sekretablusses aus der Kieferhöhle erreichen. Subjektiv besonders angenehm sind Kamillenblüten und Kamillenextrakt ( > S. 1084) sowie Salbeiblätter und Salbeiblätterextrakt ( > Kap. 25.6.3). Anwendungseinschränkungen. Säuglinge und Kleinkinder dürfen nicht konzentrierten Dämpfen von Minzöl, Pfeferminzöl, Menthol und Zubereitungen aus diesen Arzneistofen ausgesetzt werden; v. a. darf ihnen keine Salbe in die Nase eingestrichen und kein Nasenöl eingeträufelt werden, da sie zu einem Laryngospasmus und Kollaps führen können. Nach Berger (1984) sind die re-
25
gistrierten Nebenwirkungen von Menthol auf die Atmung von Säuglingen mit Infekten der oberen Lutwege allerdings nicht mentholspeziisch. Sie können auch durch andere Reize auf die Nasenschleimhaut ausgelöst werden.
25.8
Ätherische Öle als Zusatz zu Externa
25.8.1
Übersicht
Externa sind äußerlich anzuwendende Arzneimittel, wie Einreibungen, Salben, Lotionen, Gele, Lösungen, Linimente und Plaster. Als pharmakologisch wirksame Zusätze zu Externa kommen hauptsächlich Stofe mit folgenden Wirkungen in Frage: antimikrobielle, keratolytische, lokalanästhetische, antipruriginöse und hyperämisierende Wirkung. Die meisten ätherischen Öle zeichnen sich durch eine oder auch mehrere dieser Wirkungen aus. Einige Öle haben sich trotz Konkurrenz durch die synthetischen Arzneistofe wegen ihres besonderen Wirkungsproils bis heute in der praktischen herapie gehalten.
25.8.2
Hyperämisierende Einreibungen
Vorstellungen zur Wirkweise. Anwendungsformen und Anwendungsgebiete. Hyperämisierend wirkende Arz-
neistofe (Rubefacientia) sind gewebereizende Stofe, die jedoch – im Gegensatz zu den blasenziehenden, nekrotisierenden oder ätzenden Stofen – lediglich Hyperämie und Rötung (Erythem) hervorrufen: Begleitet wird die Applikation hyperämisierend wirkender Arzneistofe von subjektiv wahrnehmbaren Sensationen in Form von Wärmegefühl, Brennen, Juckempindung sowie u. a. auch leichtem Schmerz. Zu den Arzneistofen, die eine chemische Reizhyperämie erzeugen können, gehören: Arnikablütenöl, Eucalyptusöl, gereinigtes Terpentinöl, Campher, Menthol, Rosmarinöl, Wacholderbeeröl und Wintergrünöl. Das einfachste, billigste und wohl auch am häuigsten verwendete Hautreizmittel ist die Wärmehyperämie, wie sie sich mittels Wärmlaschen und Heizkissen, durch Aulegen eines Heublumensacks oder eines Kataplasmas erzeugen lässt. Eine weitere Möglichkeit, eine Hyperämie hervorzurufen, ist physikalisch-mechanischer
1125
1126
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Natur: durch Massagen (Relexzonenmassage), Reiben und Bürsten. Alle diese lokalen Hyperämieverfahren haben eines gemeinsam: Sie greifen zwar zunächst nur lokal im Bereich der Haut an; was aber eigentlich erreicht werden soll, sind therapeutische Wirkungen auf Gewebe und Organe, die weitab von der Applikationsstelle liegen. Diese Fernwirkungen sind im Wesentlichen relektorischer Natur. Über die Reizung von Hautrezeptoren, die Teil des animalischen Nervensystems sind, können Relexe des autonomen Nervensystems ausgelöst werden. Die Relexwirkung auf fernliegende Organe von der Haut aus ist in ihrer therapeutischen Relevanz schwer abzuschätzen; es hat zumindest den Anschein, als ließen sich kramplösende Wirkungen erzielen. Anwendungsgebiete für Hautreizmittel sind schmerzhate Zustände in verschiedenen Gebieten des menschlichen Körpers (z. B. Nabel, Unterbauch, Brust, Rücken, Nacken), ferner schmerzhate Zustände bei Neuralgien, Myalgien, Verstauchungen, Zerrungen, Prellungen, Sportverletzungen, Ischias, Muskel- und Gelenkrheumatismus.
Methylsalicylat Als Bestandteil hyperämisierend wirkender Fertigarzneimittel zur Schmerzlinderung bei Lumbago, Ischias sowie Muskel- und Gelenkschmerzen, wird anstelle des natürlichen Wintergrünöls ( > Kap. 25.6.5) synthetisches Methylsalicylat (Methylis salicylas PhEur 5) verwendet. Es wirkt schwach hautreizend. Allerdings kommt ihm auch eine systemische Wirkungskomponente zu, indem es leicht durch die Haut resorbiert und zu Salicylsäure metabolisiert wird ( > Martindale 2005).
Gereinigtes Terpentinöl Zu Herkunt, Zusammensetzung, übrigen Anwendungen und unerwünschten Wirkungen > S. 1101. Bringt man unverdünntes Terpentinöl auf die intakte Haut, so führt eine kurzdauernde Anwendung (0,5–1 h) nur zu Rötung und starkem Brennen; bei längerer Einwirkung kommt es zu einer serösen Entzündung mit Blasenbildung. Terpentinöl dringt rasch in tiefere Schichten der Haut ein, sodass die Wirkung sehr tiefgehend ist. Man verwendet es heute als Hautreizmittel nur noch selten und
dann stark verdünnt und gemeinsam mit anderen ätherischen Ölen. Arzneiformen: Badesalz, Badeöl, Liniment.
Campher Herkunft. Campher stellt ein kristallines Pulver dar oder
besteht aus farblosen Stücken. Das Arzneibuch lässt sowohl den rechtsdrehenden (+)-(1R)-Campher (PhEur 5) als auch den synthetischen rac.-Campher (PhEur 5) zu. Der natürliche (+)-(1R)-Campher stellt eine Teilfraktion – und zwar den bei Zimmertemperatur festen Anteil – des aus Cinnamomum camphora (L.) Siebold (Familie: Lauraceae [II5b]) destillierten ätherischen Öls dar. C. camphora ist ein bis 40 m hoher Baum mit immergrünen, ledrigen und aromatisch dutenden Blättern. Beheimatet ist die Art in den Küstengebieten Ostasiens. Führend in der Erzeugung von Naturcampher ist Formosa, gefolgt von Japan mit seinen Campherbaumbeständen auf Kyushu, der südlichsten der japanischen Inseln. Der Campher ist in den Ölzellen sämtlicher Organe des Baums enthalten, jedoch in jungen Zweigen zunächst nur in geringen Mengen; mit zunehmendem Alter der Organe verändert sich die Zusammensetzung des Öls, und zwar bildet sich immer mehr Campher auf Kosten anderer Ölbestandteile, vermutlich des Borneols. Wirtschatlich, zur technischen Gewinnung lohnend, ist nur das Holz von Stamm und Wurzel alter Bäume (50–60 Jahre). Man fällt die Bäume, zerkleinert das Holz und unterwirt es der Wasserdampfdestillation. Aus dem Öl scheidet sich ein Teil des Camphers unmittelbar aus; ein weiterer Anteil an Campher fällt bei der fraktionierten Destillation des Restöls an. Sensorische Eigenschaften. Kristallines Pulver oder
farblose, durchscheinende Kristalle mit einem charakteristischen, durchdringenden, etwas minzigen Geruch. Der Geschmack ist scharf brennend, hinterher kühlend und gefolgt von Salivation. Chemie.
> Abb. 25.54 mit Legende.
Wirkung und Anwendung. Äußerlich auf der Haut wirkt
Campher unterschiedlich, je nachdem in welcher Konzentration er appliziert wird. Im Konzentrationsbereich von 0,1–0,3% hemmt Campher die Hautrezeptoren; er kann daher zu lokal-analgetischen, lokal-anästhetischen und antipruriginösen Rezepturen verwendet werden. Er sollte
25.8 Ätherische Öle als Zusatz zu Externa
. Abb. 25.54 CH3 1
H3C
CH3 2
O
1
O
H3C
7
H3C
2
H3C 4
H
H
1,7,7-Trimethylbicyclo[2.2.1]heptan-2-on C10H16O H3C
CH3
(+)-1R-4R-Campher (Konfigurationsformel nach PhEur für D -Campher) H3C
CH3 4
4
1
1
O
CH3 Campher
(−)-1S,4S-Campher
H3C
O
Campher (+)-1R,4R-Campher
Konformationsformeln (Darstellung analog Formeln von Borneol; vgl. Abb. 25.46)
Das Molekül des Camphers weist 2 Chiralitätszentren auf, sodass sich formal 4 stereoisomere Formen als existent errechnen lassen; doch sind aus räumlichen Gründen die Konfigurationen an den beiden Zentren 1 und 4 abhängig voneinander, weil die Überbrückung der Kohlenstoffatome C-1 und C-4 die beiden Substituenten 1-CH3 und 4-H in cis-Stellung zueinander zwingt. Somit existieren vom Camphermolekül nur 2 Stereoisomere: die beiden Enantiomeren (+)-Campher und (–)-Campher. Beide kommen als Pflanzeninhaltsstoffe vor. Der aus Cinnamomum camphora isolierte Campher ist rechtsdrehend, jener aus Tanacetum parthenium ist linksdrehend ( > S. 878). Der im Rosmarinöl ( > unten) auftretende Campher stellt ein Gemisch aus prozentual hohen Anteilen (+)-Campher und geringen Anteilen (–)-Campher dar (= partielles Racemat), während beim Campherracemat des Salbeiöls (von Salvia officinalis; > Kap. 25.6.3) die (–)-Form als auch die (+)-Form vorherrschen können (vgl. Ravid et al. 1993). Die Absolutkonfiguration ist bekannt: Am Chiralitätszentrum C-1 liegt beim rechtsdrehenden Campher des Campherbaumes die 1R-Konfiguration vor, was für das Zentrum C-4 die 4R-Konfiguration nach sich zieht
25
nicht häuiger als 4-mal täglich angewendet werden. Reibt man Campher enthaltende Externa, deren Campherkonzentration >3% beträgt, in die Haut ein, so bringt er, auch auf intakter Haut, Rötung und Reizung hervor, die sich bei längerer Anwendung zur Entzündung steigern. Camphermonopräparate, wie der Campherspiritus (Spiritus camphoratus DAB 2003), Kampfergeist, Camphorae solutio ethanolica Helv 10), das Campheröl (Kampferöl, Camphorae solutio oleosa Helv 10) und die Camphersalbe (Kampfersalbe, Camphorae unguentum Helv 10), weisen einen Camphergehalt von 10% auf und stellen folglich Hautreizmittel dar. Campher ist Bestandteil von Kombinationspräparaten zum Einreiben in die Haut: bei Neuralgien, Myalgien, Prellungen, Hexenschuss und rheumatischen Schmerzen. Befriedigende Studien über die schmerzlindernde Wirkung bei den genannten Beschwerden liegen nicht vor. Unerwünschte Wirkungen und Anwendungseinschränkungen. Campher ist eine gitige Substanz: 1 g (oral) gilt
als minimale Letaldosis für Kleinkinder; für Erwachsene dürte sie bei 20 g liegen (Gossweiler 1982). Bei Säuglingen und Kleinkindern kommt es verhältnismäßig häuig zu Vergitungen infolge perkutaner Resorption und gleichzeitiger Inhalation durch Campherdämpfe aus campherhaltiger Salbe bei wiederholter exzessiver Anwendung im Rahmen einer Behandlung von Erkältungskrankheiten. Campherhaltige Erkältungsbalsame sollten auf den Beipackzetteln Hinweise enthalten, damit die Eltern von Kleinkindern auf die Gefahren aufmerksam gemacht werden. Säuglinge dürfen nicht mit campherhaltigen Salben behandelt werden.
Rosmarinöl Rosmarinöl (Rosmarini aetheroleum PhEur 5) ist das aus den blühenden oberirdischen Teilen von Rosmarinus oicinalis L. (Familie: Lamiaceae [IIB23d]) durch Wasserdampfdestillation gewonnene ätherische Öl. Sensorische Eigenschaften. Eine nahezu farblose oder
schwach gelbliche Flüssigkeit mit einer angenehm frischen balsamisch-krautigholzigen Geruchsnote; der Geschmack ist warm, campherartig und leicht bitter.
1127
1128
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Zusammensetzung. Die Zusammensetzung schwankt je
nach Provenienz. D-Pinen, 1,8-Cineol, Campher und Borneol (frei und als Acetat; Formeln > Abb. 25.45, 25.28, 25.54, 25.46) sind die mengenmäßig dominierenden Komponenten. Die angenehme Geruchsnote wird damit nicht erklärbar; sie hängt an den in großer Zahl vorkommenden Nebenstofen. Zu den Spurenstofen, die den Geruch stark beeinlussen, gehört (+)-Verbenon. In Ölen spanischer und tunesischer Herkunt kann Verbenon in ziemlich hoher Konzentration vorkommen.
französischer Branntwein). Heute ein Produkt, das künstlich durch Vermischen von verdünntem Alkohol und ätherischen Ölen oder aromatischen Tinkturen hergestellt wird und das daher im pharmazeutischen Sinne zu den Arzneispirituosen (Spiritus medicatae) gehört. Eine alte Apothekenrezeptur lautet wie folgt: Rp. Tinctura aromaticae 0,4 Spiritus aetheris nitrosi 0,5 Tinctura ratanhiae gtts. VI Spiritus (90 v/v) 100,0 Aqua dest. ad 200,0.
Analytische Kennzeichnung. DC-Fingerprintchromato-
gramm (PhEur) mit Nachweis charakteristischer Terpene [Fließmittel: Ethylacetat–Toluol (5:95); Referenzsubstanzen: Borneol, Bornylacetat, Cineol; Nachweis: VanillinSchwefelsäurereagens]. Die PhEur beschreibt die 3 den Referenzsubstanzen entsprechenden Terpene nach Besprühen mit dem Vanillin-Schwefelsäurereagens im Tageslicht hinsichtlich Lage, Farbe und etwa gleicher Intensität der Färbung [bläulich-grün (Bornylacetat), violettblau (Borneol) und intensiv blau (Cineol)]. Anmerkung: Die enantioselektive GC erlaubt die Bestimmung der Enantiomerenverhältnisse der chiralen Hauptkomponenten D-Pinen, Borneol und Campher, aber auch von verschiedenen chiralen Nebenkomponenten. Allerdings liegen bezüglich des Enantiomerenverhältnisses von Borneol widersprüchliche Angaben vor. Kreis et al. (1994) fanden, dass (–)-(1S)-Borneol hoher Enantiomerenreinheit (>90%) ein zuverlässiger Indikator für echte oizinelle Rosmarinöle darstellt und somit der Zusatz von Borneol als synthetisches Racemat oder aus artfremden ätherischen Ölen (bzw. Ölfraktionen) eindeutig nachgewiesen werden kann. Die Untersuchungen von Ravid et al. (1996) hingegen ergaben für Borneol im Rosmarinöl verschiedene Enantiomerenverhältnisse. Verwendung. Rosmarinöl wird in Form von Badesalzen,
Badeölen, Linimenten, Gelen und Salben verwendet. In der kosmetischen Industrie für Lavendelwasser, Kölnisch Wasser und als Seifenparfüm. Ob Rosmarinöl in diesen Zubereitungen hautreizend wirkt, ist strittig.
Franzbranntwein Ursprünglich ein Nebenprodukt der Cognac-Herstellung, ein Destillat aus billigen Weinen und Weintrestern (sog.
Die Ratanhiatinktur färbte das Produkt cognacfarben. Die modernen Markenartikel, die unter der Bezeichnung Franzbranntwein angeboten werden, sind entweder farblos oder grün gefärbt. Sie enthalten vorzugsweise Wacholderbeeröl, Fichtennadelöl, Latschenkiefernöl, Menthol, Campher und hymol. Hyperämisierend wirksam sind einmal die ätherischen Öle, v. a. aber auch der Alkohol: Alkohol wirkt in Konzentrationen über 50% leicht hautreizend und zugleich desinizierend. Franzbranntwein ist ein Einreibemittel zur lokalen Hyperämisierung bei Muskel- und Gelenkschmerzen, bei Muskelkater, Zerrungen und Prellungen; auch für die Sport- und Bindegewebsmassage geeignet. Waschungen mit Franzbranntwein entfalten bei Entzündungen eine kühlende Wirkung. In der Krankenplege wird Franzbranntwein auch als Schutz gegen Wundliegen (Dekubitus) verwendet. Zum Einreiben von Stirn, Schläfen und Nacken als Erfrischung an heißen Tagen.
25.8.3
Juckreizstillende Mittel (Antipruriginosa)
Abnorme Juckbereitschaft: Ursachen und künstliche Erzeugung Eine abnorme Juckbereitschat ist keine Krankheit für sich, sondern Begleitsymptom bei zahlreichen anderen Erkrankungen, in erster Linie bei Hauterkrankungen und Stofwechselstörungen. Mit planzlichen Produkten lässt sich der Juckreiz künstlich auslösen, z. B. mit den Sekreten der Brennessel [von Urtica dioica L. und U. urens L. (Familie: Urticaceae [IIB11e]); enthalten u. a. pruritogen wirkendes Histamin und andere biogene Amine]
25.8 Ätherische Öle als Zusatz zu Externa
25
Thymol
und der Juckbohne [von Mucuna pruriens (L.) DC. (Familie: Fabaceae [IIB10a]); enhält das pruritogen wirkende proteolytische Enzym Mucunain] sowie mit Crotonöl [von Croton tiglium L. (Familie: Euphorbiaceae [IIB12c]); enthält pruritogen und cocarcinogen wirkende Phorbolester].
Herkunt, Eigenschaten und weitere Anwendungsgebiete > Kap. 25.6.4. In Salben, verdünntem Alkohol oder Glycerin inkorporiert, in Konzentrationen von 0,25 bis maximal 40%, wurde hymol früher sehr häuig als juckreizstil-
. Abb. 25.55 H3C
H3C
CH3
HO H3C
1
3
CH3
CH3
CH3
1
≡
3
OH
3
HO
≡ 4
H3C
CH3
OH CH3
H3C
CH3
HO H3C
CH3
1c
1b CH3
CH3
CH3
OH H3C
CH3
3
(+)-Menthol = 1S,3S,4R-3p-Menthanol
CH3
1
H3C
OH
1
(−)-Menthol = 1R,3R,4S-3p-Menthanol (1a ) C10H20O
4
CH3
4
4
OH
OH
CH3
H3C
(+)-Neomenthol
H3C
CH3
(+)-Neoisomenthol
(+)-Isomenthol CH3
CH3
CH3
CH3
H3C
OH CH3 OH
CH3
CH3
CH3
CH3 OH
Konfigurationsformeln des natürlichen (–)-Menthols (1b und 1c). Die 1-CH3-Gruppe und die 3-OH-Gruppe sind cis-ständig angeordnet, die 4-Isopropylgruppe trans-ständig zu den beiden anderen Substituenten. 1b entsteht durch Drehung um 180° senkrecht zur Papierebene aus 1c und vice versa. 1a zeigt die Konformation des Cyclohexansessels, alle 3 NichtH-Substituenten sind äquatorial angeordnet, eine Konfiguration, die gegenüber der alternativen mit axialer Anordnung energetisch bevorzugt ist. Die Formeln geben zugleich die (1R,3R,4S)-Absolutkonfiguration richtig wieder. Gleiche Darstellung für (+)-Menthol (1S,3S,4R). Das racemische Menthol ist eine Mischung aus gleichen Teilen (1R,3R,4S)- und (1S,3S,4R)-3-p-Menthanol. Menthol kommt wegen der 3 am Cyclohexanring befindlichen Substituenten in 4 Paaren von Spiegelbildisomeren vor. Sowohl das enantiomere (+)-Menthol als auch die übrigen diastereoisomeren Menthole weichen in ihren organoleptischen Eigenschaften ab. Sie werden alle als „wenig frisch“ empfunden; auch geht ihnen der Kühleffekt des (–)-Menthols weitgehend ab
1129
1130
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
lendes Mittel verwendet. Durch Zusatz von Zitronensäure versuchte man, die juckreizstillende Wirkung zu erhöhen. Beispiel eines Rezepts: hymol 1,0, Acidum citricum 1,0, Spiritus dilutus ad 100,0.
selbst und auch ihrer Derivate, beispielsweise der 3,5-Dinitrobenzoate, unterschiedlich. Für diese und weitere Prüfungen auf Identität (DC, GC) und Reinheit (GC) sei auf die Monographien der PhEur 4 und 5 verwiesen. Wirkung und Anwendung. Bei der topischen Anwen-
Menthol Herkunft. Die PhEur 5 kennt eine Monographie für race-
misches Menthol (Mentholum racemicum), während in früheren Arzneibüchern auch eine Monographie für natürliches (–)-Menthol (Levomentholum) aufgeführt war. Racemisches Menthol erhält man durch Hydrieren von hymol nach Abtrennen der Diastereomere: Neomenthol, Isomenthol und Neoisomenthol > Abb. 25.55). Linksdrehendes (–)-Menthol gewinnt man aus Minzölen ( > S. 1116). Mentha-canadensis-Öle können an die 80% (–)-Menthol enthalten, das sich beim Abkühlen der Öle abscheidet und abgeschleudert wird. Das dem kristallinen Menthol anhatende Minzöl verleiht Menthol eine angenehme krautig-minzige Note. Die „Mutterlaugen“ enthalten (–)-Menthylacetat, das zu (–)-Menthol verseit werden kann, sowie größere Mengen (–)-Menthon, das sich zu einem Gemisch von (–)-Menthol und (+)-Neomenthol hydrieren lässt. Durch diese partialsynthetischen Prozeduren lässt sich weiteres (–)-Menthol aus dem Minzöl gewinnen. (–)-Menthol kann auch partialsynthetisch gewonnen werden. Die folgenden Verfahren sind technisch realisiert: aus (+)-Citronellal, Phellandren, (–)-Piperiton, (+)-'-Caren und aus racemischem Menthol. Sensorische Eigenschaften. Die beiden enantiomeren
Menthole (–)- und (+)-Menthol unterscheiden sich in ihren Geruchsnoten; das linksdrehende (–)-Menthol wird als süß-minzig, kühl, frisch beschrieben, das rechtsdrehende (+)-Menthol als schwach minzig, dumpf-kellerartig mit krautigem Unterton. Racemisches Menthol unterscheidet sich hingegen für den Ungeübten geruchlich vom natürlichen (–)-Menthol so gut wie gar nicht. (–)-Menthol und racemisches Menthol schmecken „nach Pfeferminze“. Aussehen: weißes, kristallines Pulver oder farblose Kristalle. Hinweise zur Analytik. Am einfachsten lassen sich (–)- und racemisches Menthol durch die Bestimmung der speziischen Drehung unterscheiden: (–)-Menthol zwischen –48 und –51°, rac-Menthol zwischen +0,2 bis –0,2°. Allerdings sind auch die Schmelzpunkte der Substanzen
dung erweitert Menthol die Blutgefäße und verursacht ein erfrischendes Kältegefühl, wodurch Juckreiz und Schmerzen vermindert werden. Die Kälteempindung auf der menschlichen Haut ist bei (–)-Menthol etwa 10-mal stärker als bei (+)-Menthol. Erst seit kurzem weiß man, dass die Kälteempindung durch Menthol auf einer Aktivierung des CMR1 bzw. TRPM8-Rezeptors beruht ( > Infobox). Für die topische Anwendung gilt als Faustregel: Im Konzentrationsbereich von 0,1 bis 1% wirken Mentholzubereitungen juckreizstillend; im höheren Konzentrationsbereich von 1,25 bis 16% als Hautreizmittel („counterirritant“). Die hauptsächliche Verwendung ist äußerlich bei juckenden Erkrankungen, Urtikaria, Pruritus usw., und zwar in 0,5- bis 1%igen Zubereitungen. Infobox TRP-Membranproteine – molekulare Grundlagen der Thermonozizeption. Vor mehr als 50 Jahren schlugen Hensel und Zotterman (zitiert in McKemy 2005) vor, dass die Wirkung von Menthol über einen Kälterezeptor zustande kommt. Erst kürzlich konnte nachgewiesen werden, dass Menthol und Kälte sensible Neuronen von afferenten Nervenfasern durch ähnliche Mechanismen aktivieren – durch den CMR1-(„cold- and menthol-sensitive receptor 1“) bzw. TRPM8-(„transient receptor potential melastatin 8“-)Rezeptor. Dieser neue Rezeptor gehört zur TRP-Familie, einer großen Familie von Membranproteinen. Eine bisher identifizierte Funktion von TRPM8 dient als Sensor für die Kälteempfindung an trigeminalen Ganglien und Nervenfasern der Zunge. TRPM8 ist ein ligandgesteuerter, nichtselektiver Kationenkanal, der für Ca2 permeabel ist. Die Aktivierung von TRPM8 durch Kälte oder Menthol resultiert in einer Zunahme des intrazellulären Ca2-Spiegels, wodurch verschiedene intrazelluläre Signale ausgelöst werden, die zu Kältempfindung und Schmerz führen. Die Aktivierung von TRPM8 durch Menthol liegt bei Temperaturen zwischen 25 und 28 °C. TRPM8 kann auch durch andere Kälte auslösende Naturstoffe wie z. B. durch Menthon oder Eucalyptol aktiviert werden. Zur TRP-Familie gehören auch weitere 5 thermosensitive Ionenkanäle, z. B. TRPV(V für Vanilloid)1, TRPV2,
6
25
25.8 Ätherische Öle als Zusatz zu Externa
TRPV3, TRPV4 und TRPA(A für Ankyrin)1. Für den Naturstoffbereich von Bedeutung sind dabei TRPV1 und TRPA1. TRPV1 hat eine Aktivierungsschwelle >43 °C und ist auch bekannt unter dem Namen Vanilloidrezeptor Subtyp 1 (VR1), der vom exogenenen Liganden Capsaicin aktiviert wird. TRPA1 hat eine Temperaturschwelle bei ~17 °C wird u. a. durch Zimtaldehyd, Isocyanate (z. B. Senföl) und Methylsalicylat aktiviert. Durch die Klonierung und Charakterisierung der thermosensitiven TRP-Ionenkanäle wird die Thermonozizeption vom molekularen Gesichtswinkel verständlicher obwohl bis heute nur bei TRPV1 bewiesen ist, dass die TRP-Kanäle in vivo in die Nozizeption involviert sind (vgl. dazu Tsuzuki et al. 2004; Abe et al. 2005; Übersichten von Tominaga u. Caterina 2004; McKemy 2005).
Gelenkschmerzen, Blutergüssen, Quetschungen – weist ein starkes Allergiepotential auf ( > dazu S. 872 sowie Hausen u. Vieluf 1998). Bayöl wird durch Wasserdampfdestillation aus den Blättern von Pimenta racemosa (Mill.) J. W. Moore (Familie: Myrtaceae [IIB17a]) gewonnen. Die Bay-RumBäume sind etwa 10 m hoch werdende immergrüne Bäume der Westindischen Inseln. Das Öl ist eine dunkelbraune Flüssigkeit mit phenolischem, an Gewürznelken erinnerndem Geruch. Die Hauptkomponenten des Öls sind Eugenol (etwa 50%) und Chavicol (etwa 22%), die u. a. von . Abb. 25.56 R2
CH2 H3C CH2 CO (CH2)4 CH3
R1
25.8.4
Mittel zur Durchblutung der Kopfhaut
In der herapie des Haarausfalls spielen ätherische Öle keine Rolle. Hingegen sind sie Bestandteil in den sog. Haarwässern, die dazu dienen, die Durchblutung der Haut zu fördern. Es ist denkbar, dass Arzneistofe, die auf die Gefäße der Haarpapillen durchblutungsfördernd wirken, bessere Bedingungen für das Leben des Haares schafen und damit der Neigung zum Haarausfall, wenn auch in nur bescheidenem Maße, entgegenwirken. In erster Linie ist es der Alkohol selbst, in Verbindung mit einer zweckmäßigen Massage, der die Durchblutung der Kophaut fördert. Als hautreizende Stofe kommen außer Salicylsäure, Resorcin, Nicotinsäureestern und Teerpräparaten planzliche Produkte in Frage: Oleoresin aus Paprika, Arnikatinktur, Rosmarinöl, Muskatnussöl und Bayöl. Die aufgezählten Arzneistofe sind, mit Ausnahme der Arnikatinktur und des Bayöls, an anderer Stelle beschrieben. Arnikatinktur (Arnicae tinctura PhEur 5.1) wird hergestellt aus 1 Teil Arnikablüten und 10 Teilen verdünntem Ethanol (60–70% V/V). Zur Droge Arnikablüten > S. 872. Arnikatinktur wird äußerlich als lokales Reizmittel angewendet. Bei zu hohen Konzentrationen treten schwere Entzündungen mit Blasenbildung und Gewebsnekrosen auf. Hinweis: Die äußerliche Anwendung der Arnikatinktur – sie ist u. a. beliebt zur Unterstützung der herapie von Zerrungen, Prellungen, Verstauchungen, Muskel- und
3-Octanon
Chavicol Eugenol Acetyleugenol
R1
R2
OH OH Ac
H OCH3 OCH3
CH3
CH3 1 2
CH3
H
H
H3C
CH2
H3C CH3
CH3
Humulen C15H24 CH3
Caryophyllen C15H24
O
H H
H
CH2
H3C CH3 Caryophyllenepoxid C15H24O
Formelübersicht über die im Bayöl und im Nelkenöl mengenmäßig dominierenden Stoffe. Eugenol, der Hauptbestandteil beider Öle, kommt u. a. auch im ätherischen Öl der Zimtrinde vor ( > Kap. 25.3.8 und > Abb. 25.18). Humulen und Caryophyllen sind regulär gebaute Sesquiterpene, die u. a. auch im ätherischen Öl von Hopfenzapfen vorkommen ( > Kap. 25.4.1 und Abb. 25.19)
1131
1132
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Limonen (etwa 1%), 3-Octanon (etwa 1%) und 1-Octen3-ol (etwa 1%) begleitet werden ( > Abb. 25.56). Eugenol und Chavicol sind Phenole und zeigen deshalb antiseptische und lokal hyperämisierende Eigenschaten. Außer zu Haarwässern wird Bayöl in der kosmetischen Industrie auch noch anderweitig verwendet, z. B. für Rasierwässer und zu Kompositionen von Parfüms mit herber Note. Brennnesselhaarwasser ist nichts anderes als eine Brennnesseltinktur, hergestellt aus Urtica urens L. und/ oder U. dioica L., dem ätherische Öle, z. B. Bergamottöl, zugesetzt werden. Das Vorkommen eines speziischen, den Haarwuchs fördernden Inhaltsstofs ist nicht bekannt und auch nicht sehr wahrscheinlich.
25.8.5
Antiseptika und Antiphlogistika
Teebaumöl Herkunft. Teebaumöl (Melaleucae aetheroleum PhEur 5)
ist das durch Wasserdampfdestillation aus den Blättern und Zweigspitzen von Melaleuca alternifolia Maiden und Betch Cheel, M. linariifolia Smith, M. dissitilora F. Mueller und/oder anderen Arten der Gattung Melaleuca (Familie: Myrtaceae [IIB17a]) gewonnene ätherische Öl. Stammpflanzen. Der bekannteste und ökonomisch be-
deutendste Vertreter ist der Australische Teebaum, M. alternifolia, ein 3–6 m hoher Baum, dessen natürliches Vorkommen sich auf Teile der subtropischen Küstenregionen von Neusüdwales beschränkt. Der Teebaum wird heute zur Drogengewinnung fast ausschließlich in Plantagen angebaut. Sensorische Eigenschaften. Klare, farblose bis schwach
gelbliche Flüssigkeit mit einem terpenartigen Geruch. Bestandteile. Hauptbestandteil des Teebaumöls ist mit
etwa 40% (+)-(S)-Terpinen-4-ol (Formel > Abb. 25.16). Daneben kommen weitere Monoterpene (hauptsächlich D- und J-Terpinen) sowie einzelne Sesquiterpene vor (vgl. Übersicht von Saller u. Reichling 1995; > auch unter analytische Kennzeichnung).
cetat–Heptan (20:80); Referenzsubstanzen: Cineol, Terpinen-4-ol, D-Terpineol; Nachweis: Anisaldehydreagens]. Die charakteristischen Ölbestandteile erscheinen nach dem Besprühen mit dem Anisaldehydreagens im Tageslicht als violette oder bräunlichviolette (D-Terpineol), bräunlichviolette (Terpinen-4-ol) bzw. violettbraune (Cineol) Zonen. Die Intensität der dem Cineol entsprechenden Zone muss weniger intensiv sein als die der Zone im Chromatogramm der Referenzlösung. Prüfung auf Reinheit. Die PhEur lässt ein „chromatographisches Proil“ (vgl. auch Kap. 25.2.3 und > Tabelle 25.2) aufnehmen. Es werden 11 Substanzen mit der Angabe von zulässigen Grenzwerten bestimmt: D-Pinen (1,0– 6,0%), Sabinen (< als 3,5%), D-Terpinen (5,0–13,0%), Limonen (0,5–4,0%), Cineol (< als 15,0%), J-Terpinen (10,0–28,0%), p-Cymen (0,5–12,0%), Terpinolen (1,5– 5,0%), Terpinen-4-ol (mindestens 30,0%), Aromadendren (< als 7,0%), D-Terpineol (1,5–8,0%). Mit dieser Prüfung wird insbesondere festgehalten, dass es sich beim PhEur-konformen Teebaumöl um einen Terpinen-4-olTyp handeln muss, bei dem hohe Gehalte an Cineol ausgeschlossen werden. Wirkung und Anwendungsgebiete. Das Teebaumöl stammt aus der Erfahrungsmedizin der australischen Ureinwohner. Es hat antiseptische, antibakterielle, antifungale und entzündungshemmende Eigenschaten. Teebaumöl und verdünnte Zubereitungen werden v. a. topisch als Antiseptika, z. B. in der Aknebehandlung und als Körperplegemittel, eingesetzt (vgl. Übersicht von Saller u. Reichling 1995). Anmerkung: In der Bundesrepublik Deutschland liegt derzeit keine Zulassung für Teebaumöl nach dem AMG vor, d. h. dass Produkte mit Teebaumöl nicht mit arzneilicher Zweckbestimmung in Verkehr gebracht werden dürfen (Mitteilung der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker 1997). Die derzeit propagierten Anwendungsgebiete sind nach heutigen Kriterien nicht ausreichend untersucht, v. a. fehlen umfassende humantoxikologische Daten. Als unerwünschte Wirkungen werden in erster Linie Kontaktdermatitiden genannt.
Kamillenöl, Bisabolol und Guajazulen Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Fingerprintchromatogramm
Herkunft. Kamillenöl (Matricariae aetheroleum PhEur 5,
(PhEur) zum Nachweis der Terpene [Fließmittel: Ethyla-
korrigiert 5.1) ist das durch Wasserdampfdestillation aus
25.8 Ätherische Öle als Zusatz zu Externa
den frischen oder getrockneten Blütenköpfchen von Matricaria recutita L. (Synonym: Chamomilla recutita (L.) Rauschert) gewonnene ätherische Öl. Da Kamillenöl für die äußerliche Anwendung – zumal wenn es sich um Kosmetika handelt – viel zu teuer ist, werden den Wirkstofen Bisabolol und Chamazulen nahestehende synthetische bzw. isolierte Stofe als preiswerter Ersatz angeboten. rac-Bisabolol erhält man durch säurekatalytische Zyklisierung von Farnesol oder von Nerolidol (nur noch selten anzutrefen; Carle 1996). (–)-D-Bisabolol wird aus Vanillosmopsis erythropappa Schultz Bip., einer holzigen Planze Brasiliens (Familie: Asteraceae [IIB28b]), isoliert. Da ofenbar für das Chamazulen eine einfache Darstellung bisher nicht bekannt ist, wird an dessen Stelle das sehr ähnliche Guajazulen verwendet. Guajazulen gewinnt man partialsynthetisch aus Guajol, dem Haupbestandteil des Guajakholzöls. Guajakholzöl wiederum ist durch Wasserdampfdestillation des zerkleinerten Holzes von Bulnesia sarmienti Lorentz (Familie: Zygophyllaceae [IIB6b]), bis 20 m hohe Bäume des Gran-Chaco-Gebietes (Südamerika), zugänglich. Auch aus Caryophyllen, einem Bestandteil des Nelkenöls, ist Guajazulen zugänglich. Sensorische Eigenschaften. Kamillenöl ist eine tieblaue
oder bläulichgrüne Flüssigkeit, deren Farbe bei Lut- und Lichteinluss in braun übergeht, von süß-krautigem Geruch und bitter-aromatischem Geschmack. Bisabolol (C15H26O), rac-2-Methyl-(4-methyl-3-cyclohexenyl)-6-hepten-2-ol, ist eine farblose, lutempindliche Flüssigkeit mit schwach blumigem Geruch. Guajazulen, 7-Isopropyl-1,4-dimethylazulen, C15H18 , ist kristallin in Form dunkelblauer Kristalle erhältlich; Handelsprodukte sind meist lüssig oder stellen Mischungen aus festen und lüssigen Anteilen dar. Guajazulen ist nahezu geruchlos. Zusammensetzung. Kamillenöl enthält die wasserdamplüchtigen Inhaltsstofe der Kamillenblüten (vgl. S. 1084 und Formeln in > Abb. 25.35, 25.36). Hauptkomponenten sind trans-E-Farnesen, Bisaboloide und Chamazulen. Analytische Kennzeichnung von Kamillenöl Prüfung auf Identität. DC-Nachweis (PhEur) von Levo-
menol, En-In-Dicycloether, Chamazulen [Fließmittel: Ethylacetat–Toluol (5:95); Referenzsubstanzen: Guaja-
25
zulen, Levomenol, Bornylacetat; Nachweis: Anisaldehydreagens]. Nach Besprühen mit dem Anisaldehydreagens färben sich im Tageslicht die Levomenol, En-In-Dicycloether und Chamazulen entsprechenden Zonen rötlichviolett bis bläulichviolett (Levomenol), braun (EnIn-Dicycloether) bzw. rot bis rötlichviolett (Chamazulen). Prüfung auf Reinheit. Die PhEur nimmt beim Kamil-
lenöl ein „chromatographisches Proil“ (vgl. Kap 25.2.3, > Tabelle 25.2) auf. Die Monographie beschreibt zwei Öltypen, einen Bisabololoxidtyp und einen Levomenoltyp. Der Bisabololoxidtyp muss 29–81% Bisabololoxide, der Levomenoltyp 10–65% Levomenol [= (–)-DBisabolol] enthalten. Der Chamazulengehalt muss bei beiden Typen t1,0% sein. Beim Levomenoltyp muss der Totalgehalt an Bisabololoxiden und Levomenol t 20% sein. Anmerkung: Da Kamillenöl recht häuig durch den billigen, isolierten Bisabololreinstof aus Vanillosmopsis erythropappa verfälscht wird, sind analytische Methoden zur Unterscheidung der beiden chemisch identischen Substanzen entwickelt worden. Aufgrund der charakteristischen Isotopendiskriminierung der Ausgangsplanzen ist mittels IRMS bzw. GC-IRMS der Nachweis dieser Verfälschung möglich. Der dabei erhaltene G13C-Wert liegt für Kamille bei –31‰, bei Vanillosmopsis bei –27‰ (Carle 1996). > dazu auch Kap. 25.2.3. Wirkung und Anwendungsgebiete. Entzündungshem-
mende Wirkung, die im Wesentlichen auf dem Gehalt an (–)-D-Bisabolol und Chamazulen beruht. Äußerlich in Hautcremes, in Hautölen oder als Bestandteil von Badezusätzen bei Entzündungen der Haut; auch in Mundwässern, Zahnpasten, Schminken und Shampoos.
25.8.6
Anhang: Nelkenöl und Eugenol in der konservierenden Zahnheilkunde
Herkunft. Nelkenöl gibt es in 3 verschiedenen Handelsfor-
men: x Nelkenblütenöl (Caryophylli loris aetheroleum PhEur 5) aus den getrockneten Blütenknospen; x Nelkenstielöl aus den als Abfall anfallenden Nelkenstielen, an denen sich die Nelkenknospen beinden; x Nelkenblätteröl aus den Blättern des Baumes.
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Stammplanze ist in allen 3 Fällen ein in tropischen Ländern vorkommender 15–20 m hoch werdender Baum aus der Familie der Myrtaceae [IIB17a]: Syzygium aromaticum (L.) Merrill et L. M. Perry [Synonym: Eugenia caryophyllus (Spreng.) Bullock ex S.G. Harrison]. Sensorische Eigenschaften. Eine klare gelb bis braun ge-
färbte Flüssigkeit mit einem stark phenolischen, für Eugenol charakteristischen Geruch (aromatisch-holzig). Das Nelkenblütenöl ist geruchlich feiner als das Nelkenstielund Nelkenblattöl. Alle 3 Herkünte zeichnen sich durch einen brennenden Geschmack aus. Zusammensetzung. Mit 70–90% dominiert als Hauptbestandteil Eugenol, gefolgt von Eugenolacetat (Formeln > Abb. 25.56); das geruchlich feinere Blütenöl weist einen höheren Acetatgehalt (10–15%) auf als die anderen oben aufgezählten Herkünte (2–3%). Die dem Nelkenöl im Vergleich mit reinem Eugenol zukommende frische Geruchsnote beruht auf dem Vorkommen von Methylheptylketon. Weitere Begleitstofe sind Caryophyllene (Humulen, Caryophyllen und Caryophyllenepoxid). Die 3 genannten Hauptbestandteile des Nelkenöls machen zusammen etwa 99% des Öls aus. Mischt man aber die 3 Reinsubstanzen in dem gleichen Mengenverhältnis miteinander, in dem sie im Nelkenöl vorliegen, so erhält man ein Kunstprodukt, dem der erfrischende, typische Geruch des echten Nelkenöls abgeht. Für den Geruch und den Geschmack des echten Nelkenöls sind noch weitere nur in Spuren vorkommende Inhaltsbestandteile mitverantwortlich. Bisher hat man mehr als 15 derartige Begleitstofe nachgewiesen, u. a. Methylsalicylat, Methylbenzoat, Furfurol, Vanillin und Methyl-n-heptylketon; der für das Nelkenaroma entscheidende Begleitstof jedoch ist das Methylamylketon CH3-CO-C5O11. Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Fingerprintchromatogramm
(PhEur) mit Nachweis von Eugenol (Hauptsubstanz) und Acetyleugenol [Fließmittel: Toluol; Referenzsubstanzen: Eugenol, Acetyleugenol; Nachweis: UV 254 nm, Anisaldehydreagens]. Im UV bei 254 nm erscheinen Eugenol (stark) und Acetyleugenol (schwach) als Fluoreszenz mindernde Zonen, die sich nach dem Besprühen mit dem Anisaldehydreagens im Tageslicht bräunlichviolett (Eugenol) bzw. schwach violettblau (Acetyleugenol) anfärben. Im oberen Teil des Chromatogramms erscheint ferner eine rötlichviolette Zone, die dem E-Caryophyllen
zugeschrieben wird. Weiterhin erfolgt ein gaschromatographischer Nachweis von 3 Substanzen (vgl. Prüfung auf Reinheit). Prüfung auf Reinheit. Die PhEur nimmt beim Nelkenöl
ein „gaschromatographisches Proil“ (vgl. Kap. 25.2.3 und > Tabelle 25.2) auf. Es werden 3 Substanzen mit der Angabe von zulässigen Grenzwerten bestimmt: E-Caryophyllen (5,0–14,0%), Eugenol (75,0–88,0%) und Acetyleugenol (4,0–15,0%). Das gaschromatographische Proil ersetzt die frühere quantitative Bestimmung von Phenolen im Cassiakölbchen. Verwendung. Zur Gewinnung von Eugenol (Eugenolum PhEur 5). Einige Eigenschaten des Eugenols: Frisch destilliertes Eugenol ist eine farblose Flüssigkeit mit den sensorischen Eigenschaten des Nelkenöls. An der Lut wird es mit der Zeit dunkler. Es besitzt eine in der konservierenden Zahnheilkunde ausgenutzte wertvolle Eigenschat, die darin besteht, dass es mit Zinkoxid angerührt zu einer festen Masse erhärtet, die sich als provisorisches Verschlussmittel für die Überkappung eignet (Riethe et al. 1980). Wirkungen und Anwendungen von Eugenol und Nelkenöl. Im Vergleich zum einfachen Phenol ist Eugenol in
Wasser weniger und in Lipidlösungsmitteln besser löslich. Seine desinizierende und lokalanalgetische Wirkung ist stärker, der entzündungserregende bzw. gefäßschädigende Efekt schwächer als der des Phenols.
! Kernaussagen
In den Kapiteln 25.6, 25.7 und 25.8 werden diejenigen Ätherischöldrogen und Reinstoffe zusammengefasst, die zur Mundpflege und zum Gurgeln, in Rhinologika und als Zusatz zu Externa (hyperämisierende Einreibungen, Antiprurinosa, Durchblutung der Kopfhaut, Antiseptika und Antiphlogistika, in der konservierenden Zahnheilkunde) Verwendung finden. Die Anwendung geschieht im ersten Fall in Form von Mundsprays, Mundwässer und Gurgelwässer (Pfefferminzöl, Minzöl, Krauseminzöl, Thymol, Wintergrünöl, Myrrhe, Benzoe), im zweiten Fall von Nasensalben und Nasentropfen (Eucalyptusöl, Pfefferminzöl, Fichtennadelöl, Salbeiöl, Thymianöl, Anisöl) und im dritten Fall von Einreibungen, Lotionen, Gelen, Lösungen, Linimenten und Pflastern (Methylsalicylat, Terpentinöl, Campher).
Literatur
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Schlüsselbegriffe Ätherisches Öl Benzoe Benzoe tonkinensis Betula lenta Bisabolol Campher Camphora Carnosolsäure Caryophylli aetheroleum Cinnamomum camphora Commiphora molmol Coniferylbenzoat Dreilappiger Salbei Eugenol Franzbranntwein Gaultheria procumbens Geschmackskorrigens Gujazulen Gurgelwässer Kamillenöl Krauseminze
Matricariae aetheroleum Melaleucae aetheroleum Melaleuca sp. Mentha sp. Menthae arvensis aetheroleum partim mentholi privum Menthae piperitae aetheroleum Menthol Mentholgewinnung Methylis salicylas Methylsalicylat Minzöl Mundsprays Mundwässer Myrrha Myrrhe Nelkenöl Pfefferminzöl Rosmarinöl Rosmarinus officinalis Salbei
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Salbeiblätter Salbeiöl Salvia sp. Salviae officinalis folium Salviae triloba folium Siambenzoe Styrax sp. Sumatrabenzoe Teebaumöl Terpentinöl Thujon Thymi aetheroleum Thymianöl Thymol Thymolum Wintergrünöl Wirkungen (u. a. antimikrobiell, antifungal, antiseptisch, antiviral, entzündungshemmend, hyperämisierend)
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26 26 Phenolische Verbindungen O. Sticher 26.1
Allgemeine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.1.1 Deinition, Eigenschaten . . . . . . . . . . . . . . . . 26.1.2 Dünnschichtchromatographie (DC), Farbreaktionen 26.1.3 Biosynthetische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . 26.1.4 Oxidative Kupplung von Phenolen . . . . . . . . . . . 26.1.5 Enzymatische Bräunungsreaktionen . . . . . . . . . . 26.1.6 Toxikologische Eigenschaten . . . . . . . . . . . . . .
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1143 1143 1143 1145 1145 1145 1145
26.2
Phenolcarbonsäuren und Derivate . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.2.1 Freie Phenolcarbonsäuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.2.2 Ester mit anderen Säuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.2.3 An Zucker glykosidisch gebundene Phenolcarbonsäuren . 26.2.4 Einfache Phenolglykoside – Bärentraubenblätter . . . . .
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1150 1150 1155 1161 1162
26.3
Cumarine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.3.1 Allgemeine Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . 26.3.2 Hinweise zur Analytik . . . . . . . . . . . . . . . 26.3.3 Beispiele für Cumarine als analytische Leitstofe 26.3.4 Wirkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.3.5 Lichtsensibilisierende Cumarine . . . . . . . . . 26.3.6 Cumarin, Cumarindrogen . . . . . . . . . . . . 26.3.7 Ammi-visnaga-Früchte . . . . . . . . . . . . . .
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1165 1165 1166 1166 1168 1169 1171 1176
26.4
Lignane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.4.1 Einführung . . . . . . . . . . . . 26.4.2 Lignane als analytische Leitstofe 26.4.3 Kubeben . . . . . . . . . . . . . . 26.4.4 Taigawurzel . . . . . . . . . . . . 26.4.5 Podophyllin . . . . . . . . . . . . 26.4.6 Indisches Podophyllin . . . . . . 26.4.7 Guajakharz . . . . . . . . . . . . 26.4.8 Larrea-tridentata-Kraut . . . . .
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1178 1178 1178 1178 1181 1184 1185 1186 1187
26.5
Flavonoide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.5.1 Geschichtliche Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.5.2 Bauprinzip, Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.5.3 Chalkone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.5.4 Flavanone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.5.5 Flavone und Flavonole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.5.6 Anthocyane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.5.7 Proanthocyanidine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.5.8 Wirkungen der Flavonoide . . . . . . . . . . . . . . . . 26.5.9 Bioverfügbarkeit, Metabolismus und Pharmakokinetik 26.5.10 Flavonoiddrogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1188 1188 1188 1188 1192 1193 1199 1201 1205 1208 1213
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26.6
Kava-Kava . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1241
26.7
Cannabinoide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1244
26.8
Gerbstofe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.8.1 Catechingerbstofe (kondensierte Proanthocyanidine) . . . . . . 26.8.2 Hydrolysierbare Gerbstofe (Gallotannine) . . . . . . . . . . . . . 26.8.3 Anwendung der Gerbstofdrogen und Wirkungen der Gerbstofe 26.8.4 Bioverfügbarkeit und Toxikologie von Gerbstofen . . . . . . . . 26.8.5 Gerbstofdrogen und Reinstofe . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1249 1249 1253 1254 1256 1257
26.9
Anthranoide. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.9.1 Einleitung, Begrife . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.9.2 Chemie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.9.3 Metabolismus und Pharmakokinetik . . . . . . . . . 26.9.4 Wirkweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.9.5 Anwendung, Risiken und unerwünschte Wirkungen 26.9.6 Faulbaumrinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.9.7 Kreuzdornbeeren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.9.8 Sennesblätter und Sennesfrüchte . . . . . . . . . . . . 26.9.9 Aloe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.9.10 Cascararinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.9.11 Rhabarberwurzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1269 1269 1270 1277 1278 1281 1283 1284 1285 1288 1292 1294
. . . . . . . . . . . .
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26.10 Johanniskraut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1296 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1306
26.1 Allgemeine Einführung
> Einleitung Phenole sind Verbindungen, die an einem aromatischen Ringsystem eine oder mehrere freie OH-Gruppen tragen. Der Häufigkeit ihres Vorkommens, der strukturellen Mannigfaltigkeit und auch der funktionellen Bedeutung nach bilden die Phenole eine der wichtigsten Naturstoffgruppen im Pflanzenreich. Auf DC-Platten mit Fluoreszenzindikator sind alle Phenole, bedingt durch ihren Benzolchromophor, als Fluoreszenz mindernde Zonen erkennbar. Die in Arzneidrogen bedeutendsten phenolischen Inhaltsstoffe werden in diesem Kapitel besprochen. Es handelt sich dabei um: Phenolcarbonsäuren und ihre Derivate, Phenolglykoside, Cumarine, Lignane, Flavonoide, Kavapyrone, Cannabinoide, Gerbstoffe, Anthranoide und Naphthodianthrone. Wegen der sehr unterschiedlichen chemischen und physikalischen Eigenschaften der phenolischen Verbindungen, lassen sich keine allgemeinen Aussagen bezüglich ihrer Wirkung und der therapeutischen Bedeutung machen. Erwähnenswert ist eine potente antioxidative Wirkung, die bei vielen Phenolen im Vordergrund steht. Daneben ist aber eine ganze Reihe anderer Aktivitäten (u. a. antiphlogistische, analgetische, lipidsenkende, antivirale, antiproliferative, chemopräventive, antiödematöse, neuroprotektive, adstringierende, laxierende, antidepressive) von Bedeutung.
26.1
Allgemeine Einführung
26.1.1
Definition, Eigenschaften
Phenole sind Verbindungen, die an einem aromatischen Ringsystem eine oder mehrere OH-Gruppen tragen. Auch funktionelle Derivate der Phenole – Methylether, Ester oder Glykoside – werden zu den Phenolen (im weiteren Sinne) gerechnet. Der Häuigkeit ihres Vorkommens, der strukturellen Mannigfaltigkeit und auch der funktionellen Bedeutung nach – man denke an das Lignin als einen integrierenden Bestandteil des Planzenkörpers – bilden die Phenole eine der wichtigsten Stofgruppen im Planzenreich. Da Phenole mannigfaltigster Struktur in jedem Planzenextrakt enthalten sind, stellen sie in der pharmazeutischen Analytik wichtige Leitstofe dar: Wahrscheinlich hat jede Planzenart ein sie charakterisierendes Phenolmuster.
26
Aufgrund der großen Zahl an Phenolen und ihrer sehr unterschiedlichen chemischen Konstitution lassen sich keine allgemeinen Aussagen über ihre physikalisch-chemischen Eigenschaten machen. Über die gesamte Löslichkeits- und Polaritätsskala hin inden sich Vertreter: lipophile Phenole, die mit Wasserdampf lüchtig sind und die daher als Bestandteile ätherischer Öle angetrofen werden (z. B. das Eugenol, > Kap. 25.8.6), glykosidische Phenole, die in Ethylacetat und Ethanol löslich sind, wasserlösliche Salze (z. B. die Anthocyanidine) und schließlich die weder in Wasser noch in organischen Lösungsmitteln löslichen hochpolymeren Gerbstofe („Phlobaphene“). Die Anreicherung aus Planzenmaterial muss dem jeweiligen Phenol entsprechend gewählt werden. In einigen Fällen ist es möglich, die Azidität der phenolischen Gruppe zur Abtrennung heranzuziehen, d. h. die Eigenschat von Phenolen, als Alkalisalze gut in Wasser löslich zu sein und nach Ansäuern (als nunmehr undissoziiertes Phenol) mit Diethylether oder Ethylacetat ausschüttelbar zu sein. Als allgemeines Verfahren ist die Extraktion mit verdünnter Lauge nicht brauchbar, da sich viele Phenole in alkalischem Milieu zersetzen. Überhaupt kann die Oxidationsempindlichkeit als eine allgemeine Eigenschat der Phenole gelten. Phenole geben mit neutralem und/oder basischem Bleiacetat schwer lösliche Niederschläge. Bleiacetat ist als Gruppenreagens brauchbar, um Phenole von Nichtphenolen zu trennen.
26.1.2
Dünnschichtchromatographie (DC), Farbreaktionen
Zur Trennung lipophiler Phenole eignen sich adsorptionschromatographische Verfahren wie z. B. Kieselgelschichten in Verbindung mit lipophilen Fließmitteln. Zur Trennung von Phenolen mittlerer Polarität eignen sich Systeme, bei denen zunehmend die Verteilung zwischen polarer stationärer Phase und mobiler lipophiler Phase wichtig wird. Säurezusatz drängt die Dissoziation der Polyphenole und Phenolcarbonsäuren zurück (Beispiele > Tabelle 26.1). Gelegentlich verwendete verteilungschromatographische Trennverfahren sind die folgenden Systeme: x Butanol–Essigsäure 99%–Wasser (40:10:50) an Cellulose. H2O an Cellulose gebunden bildet die stationäre Phase: Je polarer das Phenol ist, desto weniger rasch wandert es.
1143
1144
26
Phenolische Verbindungen
. Tabelle 26.1 Zur Dünnschichtchromatographie von Phenolen: Fließmittel der PhEur und ihre Anwendungsbereiche für Kieselgelschichten Stoffgruppe
Beispiele
Toluol
Fließmittel
Lipophile Alkenylphenolether
Anis (PhEur 5)
Methanol–Ethylacetat–Toluol (5:40:55)
Lipophile Flavonaglykone
Orthosiphonblätter (PhEur 5)
Essigsäure 99%–Toluol (20:80)
Curcuminoide
Javanische Gelbwurz (PhEur 5)
Wasserfreie Ameisensäure–Aceton– Dichlormethan (8,5:16,5:75)
Flavonolignane
Mariendistelfrüchte (PhEur 5)
Wasserfreie Ameisensäure–Wasser–Ethylmethylketon--Ethylacetat (10:10:30:50)
Flavonolglykoside, Glykosylflavone, Chlorogensäure
Weißdornblätter mit Blüten (PhEur 5)
Essigsäure 99%–Wasser–Ethylacetat– 1-Propanol (1:30:40:40)
Dianthronglykoside
Sennesblätter (PhEur 5)
x Wasser, dem etwas Essigsäure zugesetzt ist, an Cellulose. Die mobile Phase (Wasser) verhält sich stärker als die stationäre Phase (Wasser an Cellulose gebunden). Es bildet sich ein inverses System heraus, in dem ein Phenol um so rascher wandert, je polarer es ist. Sichtbarmachung von Phenolen. Einige in Planzen vorkommende Phenole wie die Anthocyane, die Curcuminoide, Aurone und bestimmte Chinone weisen eine starke Eigenfarbe auf, sodass man sie auf der Schicht im Tageslicht erkennt. Eine weitere Gruppe bilden die Phenole, die im UVLicht eine Eigenluoreszenz aufweisen. Fluoreszenzfarbe und Fluoreszenzintensität von Phenolatanion und undissoziiertem Phenol sind meist verschieden; daher ändert sich das Chromatogrammbild, wenn die Platte NH3Dämpfen ausgesetzt wird. Auf Dünnschichtplatten mit Fluoreszenzindikator sind alle Phenole, bedingt durch ihren Benzolchromophor, als Fluoreszenz mindernde Zonen erkennbar. Darüber hinaus gibt es zahlreiche chromogene Sprühreagenzien, die zu luoreszierenden und/oder im Tageslicht sichtbaren Farbstofen führen. Die chromogenen Reagenzien wiederum lassen sich unterteilen in Reagenzien, die mit chemisch unterschiedlichen Phenolen gleich gefärbte Zonen ergeben, und in Reagenzien, die mit chemisch unterschiedlichen Phenolen auch unterschiedlich reagieren. Das menschliche Auge ist imstande, Tausende von Farbnuancen zu unterscheiden; daher sind die chromogenen Reagenzien, die unterschiedliche Phenole auch unterschiedlich anfärben, in der phytochemisch-pharmazeutischen Analytik sehr nützlich.
Zu den nichtdiferenzierenden Reagenzien zählen u. a.: x Molybdatophosphorsäurereagens (PhEur 5): Phosphormolybdänsäure lässt die phenolischen Verbindungen als blaugraue Zonen auf gelber Schicht hervortreten. x Eisen(III)-chlorid (PhEur 5): Mehrwertige Phenole geben in pH-Bereichen >4 grünbraune bis blaugraue Färbungen (Komplexbildungen). Chromogene Reagenzien, die diferenzierend anfärben, sind u. a.: x Diphenylboryloxyethylamin (Neu 1956; PhEur 5): Es reagiert mit Phenolen, die zur Chelatbildung fähig sind, unter Bildung sehr charakteristischer, strukturabhängiger Fluoreszenzen und/oder Farben, z. B. gelb, gelborange, türkis, rot (Geiger 1985). Das Reagens wird auch als „Naturstofreagens“ bezeichnet. x Diazoniumsalze: Am gebräuchlichsten sind p-Diazoniumbenzosulfonat (diazotierte Sulfanilsäure; die PhEur 5 lässt Diazobenzolsulfonsäure als Benzolsulfonsäure-4-diazoniumchlorid in Lösung frisch herstellen) und 3,3c-Dimethoxybiphenyl-4,4c-bis-diazoniumdichlorid (PhEur 5; Echtblausalz B). Mit Phenolen, deren para- oder ortho-Stellung unsubstituiert ist, bilden sich gelbe, orange bis blauviolette Azofarbstofe. Die Kupplung kann auch in der Seitenkette von Zimtsäurederivaten stattinden. x Dichlorchinonchlorimid (Gibbs 1927; PhEur 5). Im alkalischen Milieu bilden sich blaue Indophenolatanionen (Beispiel: Capsaicin). Kupplungsstellen sind freie Positionen in para-Stellung zu einer freien phe-
26.1 Allgemeine Einführung
nolischen Gruppe. Es gibt aber einige Ausnahmen, zu denen das Capsaicin gehört (Kupplung in ortho-Position). Die mit Gibbs-Reagens auf den Platten entstehenden Farbzonen sind violett, blau oder blaugrün. x Vanillin und Salzsäure: Nach dem Erhitzen entwickeln sich gelbrote bis violette Farbzonen. Es reagieren nur aromatische Planzenstofe, die das Substitutionsmuster des Resorcins oder des Phloroglucins aufweisen. Die phenolischen Gruppen können auch verschlossen sein. Unter den gleichen Bedingungen reagieren Pyrrole, Indole, Amine sowie Verbindungen mit einer aktiven Methylengruppe.
26.1.3
Biosynthetische Einordnung
Zur Synthese aromatischer Verbindungen aus aliphatischen Vorstufen sind ausschließlich planzliche Organismen befähigt. Tierische Organismen sind auf die exogene Zufuhr lebenswichtiger Aromaten (Phenylalanin/Tyrosin, Tryptophan) angewiesen. Höhere Planzen sind in der Lage, aromatische Verbindungen auf 3 verschiedenen Wegen zu bilden: x Shikimisäureweg: Er ist der weitaus wichtigste, da er zu den aromatischen Aminosäuren führt ( > Abb. 26.1). x Acetat-Malonat-Weg: Er schließt sich eng an die Fettsäurebiosynthese an. Im Unterschied zur Fettsäurebiosynthese werden jedoch die durch Kondensation einer neuen C2-Einheit entstehenden β-Ketocarbonsäurederivate nicht reduziert, sodass sich Polyketoverbindungen bilden, die zu Phenolen zyklisieren können. x Acetat-Mevalonat-Weg ( > Abb. 23.4). Es ist einer der Wege, die zu den Isoprenoiden führen. Einige Terpene können zu Aromaten dehydriert werden (z. B. hymol oder Xanthorrhizol; > Abb. 26.2).
26.1.4
Oxidative Kupplung von Phenolen
Die nach einem der 3 Biosynthesewege entstandenen Phenole unterliegen mannigfaltigen weiteren Umwandlungen. Viele Strukturen lassen sich verstehen, wenn man eine oxidative Kupplung postuliert ( > Abb. 26.3). Ein einfaches Beispiel ist die Bildung der Ellagsäure aus Gallussäure ( > Abb. 26.4). Eine Rolle spielt die oxidative Kupplung sodann bei der Bildung der Lignane, der Catechingerbstofe (kondensierte Proanthocyanidine) und vieler
26
Alkaloide, soweit sie aromatische Ringe enthalten (z. B. bei der Morphinbiosynthese).
26.1.5
Enzymatische Bräunungsreaktionen
Planzenorgane unterliegen nach der Ernte äußerlich sichtbaren Veränderungen, von denen das Dunkelwerden besonders aufällt. Eine von mehreren Ursachen ist die Einwirkung von Monophenol-Monooxygenase (EC 1.14.18.1; früher Phenoloxidase oder Tyrosinase genannt) auf phenolische Inhaltsstofe in Gegenwart von Sauerstof. Sehr rasch geht z. B. die enzymatische Bräunungsreaktion vor sich, wenn man Bananen oder geschälte Äpfel einige Zeit an der Lut stehen lässt. Ähnlich rasch bräunen sich Kartofeln nach dem Schälen; man legt sie, um dies zu verhindern, bekanntlich in Wasser. Bevorzugtes Substrat für die Monophenol-Monooxygenase sind Phenole mit o-Diphenolstruktur, z. B. Chlorogensäure und Catechine. Die o-Diphenole werden zunächst zu o-Chinonen oxidiert, die als reaktionsfähige Verbindungen zu dunkelgefärbten Produkten polymerisieren. Monophenol-Monooxygenase besitzt eine weitere Speziität: Sie kann Monophenole zu o-Diphenolen oxidieren, sodass letztlich auch Monophenolate an der enzymatischen Bräunungsreaktion teilnehmen.
26.1.6
Toxikologische Eigenschaften
Phenole kommen in den Nahrungs- und Genussmitteln planzlicher Herkunt fast überall und ot in beachtlichen Konzentrationen vor. Für die Mehrzahl von ihnen gilt, dass es sich um toxikologisch weitgehend inerte Substanzen handelt. Ausnahmen bilden die folgenden Gruppen: x lipophile Phenole, die nicht hinreichend rasch entgitet werden können. Beispiele: Urushiole, Gossypol; x Phenole mit hohem Redoxpotential, die sehr reaktionsfähig sein können. Beispiele: Phenole mit Hydrochinon- oder Anthronstruktur; x reaktionsfähige Phenole dann, wenn sie in hohen Dosen in die Blutbahn gelangen. Beispiele: Missbrauch von Tocopherolen, Gerbstofe in der Wundbehandlung. Über die Resorptionsquoten von Phenolen lassen sich kaum generalisierende Aussagen machen, da sie stark von
1145
1146
26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.1 COO P
Phosphoenolpyruvat (PEP)
COO
O
P
O
O
HO
O
OH
OH
O
OH OH
3-Dehydrochinat
3-Desoxy-D-arabinoheptulosonat-7-phosphat
OH
O
OH
OH HO
COO
COO
O
+ P
HO
3-Dehydroshikimat
Erythrose-4-phosphat COO
COO
COO
COO
+ PEP HO
OH
O P
OH Shikimat
O
OH
P
OH
Shikimat-3-phosphat
O
COO
O
OH
OH
EPSP
Chorismat
COO
COO O
COO NH2
p-Cumarsäure
OH 4-Hydroxyphenylpyruvat COO COO
OOC
OH COO
L-Tyrosin
OOC
perizyklische Umlagerung
O
NH2 COO
O OH Chorismat
COO OH Prephenat
OH
NH2
L-Arogenat
Zimtsäure
COO L-Phenylalanin
O
Phenylpyruvat
26
26.1 Allgemeine Einführung
9 Bildung von Aromaten und Phenolen über den Shikimatweg (vgl. Dewick 2002 und darin zu Shikimatweg zitierte Literatur; Enzyme und Mechanismen unberücksichtigt). Die Biosynthese beginnt mit der Kondensation von Phosphoenolpyruvat (PEP) mit Erythrose-4 phosphat zu 3-Desoxy-D-arabinoheptulosonat-7-phosphat, das zu Dehydrochinat zyklisiert. Auf der Shikimatstufe wird unter Bildung von Chorismat ein weiteres Molekül PEP eingeführt, die spätere C3-Seitenkette der aromatischen Aminosäuren sowie der Zimtsäuren. Untere Hälfte: Aus Chorismat entsteht über eine perizyklische Umlagerung Prephenat. Decarboxylierung, Aromatisierung und reduktive Aminierung führen via Phenylpyruvat bzw. 4-Hydroxyphenylpyruvat oder via Arogenat zu den aromatischen Aminosäuren Phenylalanin und Tyrosin. Der dabei benutzte Weg hängt vom Organismus ab. Recht häufig ist bei derselben Spezies mehr als ein Weg möglich, was von den zur Verfügung stehenden Enzymsets abhängt. Aus den aromatischen Aminosäuren bilden sich die korrespondierenden Zimtsäuren unter der Einwirkung der Ammoniumlyase (oxidative Desaminierung). Die Bildung von Tryptophan aus Chorisminsäure ist nicht berücksichtigt
. Abb. 26.2 Dihydroxyphenylalanin
Tyrosin
O
O
O COOH
R Polyketid OH
OH OH OH
R
O
HOOC R
R
R HO
(3)
para-substituiertes Phenol (1)
Resorcin-Muster mit meta - OH zur Kette R (5)
OH
OH
Resorcin-Muster mit ortho - OH zur Kette R (2)
H3C
R PyrogallolSubstitutionsmuster (4)
H
HO
H3C
HO
OH
OH
PhoroglucinMuster (6)
CH3 OH
HO
R
HO
OH
H3C
CH3
Thymol; C10H14O
Xanthorrhizol; C15H22O
Am Substitutionsmuster des aromatischen Ringes lässt sich oft dessen biogenetische Herkunft erkennen. Phenole mit den Substitutionsmustern 1, 2, 3 und 4 entstehen aus Aminosäuren oder direkt aus Shikimisäure (Shikimatweg); Phenole mit Resorcin- bzw. Phloroglucin-Substitutionsmuster (5 und 6) entstehen aus Polyketovorstufen (Polyketidweg). Aus Isopren sich aufbauende Phenole wie Thymol und Xanthorrhizol kommen nur selten vor
1147
1148
26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.3 •
HO -e, - H
O
O
O
R
•
R
1
•
A •
R
H R
R
•
R
R 2d
2c
O O
O
O
R
2b
2a
•
O
O
OH
A R
B
B
2d
2b
R
R 3
O
HO
OH Dienon-PhenolUmlagerung
R
4
O
HO
H HO
R
R
R
R 4
R
5a
5b
Reduktion
H HO
OH
HO
Dienon-BenzolUmlagerung
R
R R
R 6
7
Oxidative Kupplung von Phenolen. Phenole können leicht zu Arylradikalen oxidiert werden. Das ungepaarte Elektron dieser Radikale (2a, 2b, 2c, 2d) ist delokalisiert. Die Arylradikale dimerisieren leicht unter Ausbildung von C-C- oder auch von Aryletherbindungen (Letztere nicht formelmäßig wiedergegeben). Die Kupplung erfolgt, entsprechend der Spindichte, jeweils nur in ortho- oder in para-Stellung zur phenolischen Gruppe. Wenn an der Kupplungsstelle ein H-Atom zur Verfügung steht, kann sich das Ringketon aromatisieren (3→4, Ring B). Untere Hälfte: Das Dienon 4 kann sich aromatisieren entweder durch Umlagerung (4→5a→5b) oder durch Umlagerung nach Reduktion (4→6→7) (nach Herbert 1989)
26
26.1 Allgemeine Einführung
. Abb. 26.4
OH
OH COOH
HOOC
HO
HO
O
OH
− 2 H2O
−2H
2
O
OH
OH
HO
OH
OH
COOH
HO
O
OH
OH
Gallussäure (1)
O
Ellagsäure (3)
Hexahydroxydiphensäure (2)
Hexahydroxydiphensäure (2) bildet sich in der Pflanze wahrscheinlich durch oxidative Kupplung von 2 Molekülen Gallussäure (1). 2 liegt in der Pflanze in Form verschiedener Ester vor (Ellagitannine). Bei der Verseifung der Ellagitannine bildet sich nicht 2, sondern durch spontane Lactonisierung Ellagsäure (3)
. Abb. 26.5
HO
COOH HO
viel
COOH
m-Hydroxyphenylessigsäure
HO
wenig Homoprotocatechusäure
COOH HO p-Hydroxyphenylessigsäure
H3CO
HO COOH
COOH
HO
H3CO
HO 3,5-Dihydroxyphenylpropionsäure
Sinapinsäure
OH
O
HO 6
3
7
2
O Mangiferin (R = Glucoserest)
7
R
HO
OH
O
O
R
O
OH
Euxanthinsäure (R = Glucuronsäurerest)
Nach dem Verfüttern von Phenolen an verschiedene Versuchstiere konnten im Harn Metaboliten gefunden werden, die durch Eliminierung einer phenolischen Gruppe entstanden sind. Es handelt sich um Abbauprodukte, die durch die Mikroflora im Darm gebildet worden sind und anschließend einem enterohepatischen Kreislauf unterliegen. Bemerkenswert ist auch, dass als Glucosid gebundene Glucose durch Mikroorganismen abgespalten werden kann (Mangiferin → Euxanthinsäure). (Scheline 1991) Hinweis: Euxanthinsäure ist das 7-Glucuronid des Euxanthons (1,7-Dihydroxyxanthon)
1149
1150
26
Phenolische Verbindungen
der jeweiligen Konstitution des Moleküls abhängen. Die stark polaren Verbindungen werden in der Regel nicht resorbiert. Sie gelangen in die unteren Darmabschnitte und werden dort von Mikroorganismen verändert. Eine aufallende mikrobielle Reaktion stellt die Enthydroxylierung dar ( > Abb. 26.5).
26.2
Phenolcarbonsäuren und Derivate
Unter der Bezeichnung Phenolcarbonsäuren oder Phenolsäuren werden im Folgenden die in der Natur vorkommenden Hydroxyzimtsäuren und Hydroxybenzoesäuren . Abb. 26.6 Hydroxybenzoesäuren 5
6 1
4
3
COOH
2
Substituenten 2-OH 4-OH 2,5-Di-OH 3,4-Di-OH 3,4,5-Tri-OH 3-OCH3, 4-OH 3-OH, 4-OCH3 3,5-Di-OCH3, 4-OH
Salicylsäure p-Hydroxybenzoesäure Gentisinsäure Protocatechusäure Gallussäure Vanillinsäure Isovanillinsäure Syringasäure
Hydroxyzimtsäuren 5
6 1
4
3
CH
E
CH
COOH
zusammengefasst ( > Abb. 26.6). Die folgenden Derivate kommen als Drogeninhaltstofe vor: x Ester mit anderen Säuren, x Ester an Zucker gebunden, x Glykoside von decarboxylierten Säuren (Beispiel: Hydrochinonglykoside), x Ester mit Alkoholen, x mit Phenolcarbonsäuren acylierte Flavonoide.
26.2.1
Freie Phenolcarbonsäuren
Von den Hydroxybenzoesäuren kommen Gallussäure, Salicylsäure, p-Hydroxybenzoesäure, Protocatechusäure und Vanillinsäure in freier Form vor; im Allgemeinen aber nur in geringer Konzentration, sodass sie bei der Drogenanalytik nicht sonderlich in Erscheinung treten. Durch einen hohen Gehalt von 1–2% an Protocatechusäure zeichnen sich die braungelben Schalen von Zwiebeln (Allium cepa L.) aus. Freie Gallussäure kommt in allen Drogen als Begleitstof vor, die reich an Gallotanninen sind. Beispiele: x Bärentraubenblätter [von Arctostaphylos uva-ursi (L.) Spreng.] und x Hamamelisrinde (von Hamamelis virginiana L.). Gallussäure, ein farbloses bis schwach gelblich gefärbtes Pulver, geruchlos, löslich in Wasser, ist als Reagens in die PhEur aufgenommen worden. Es dient als Leitsubstanz bei der dünnschichtchromatographischen Prüfung der Bärentraubenblätter ( > Kap. 26.2.4). Die Hydroxyzimtsäuren sind im Planzenreich viel weiter verbreitet; sie kommen auch in höheren durchschnittlichen Konzentrationen vor: Somit ist bei der DCUntersuchung von Planzenextrakten mit ihrem Autreten zu rechnen ( > Tabelle 26.2).
2
Substituenten 2-OH 4-OH 3,4-Di-OH 3-OCH3, 4-OH 3-OH, 4-OCH3 3,5-Di-OCH3, 4-OH
o-Cumarsäure p-Cumarsäure Kaffeesäure Ferulasäure Isoferulasäure Sinapinsäure
Die im Pflanzenreich häufig vorkommenden Phenolcarbonsäuren (E = trans)
. Tabelle 26.2 Hydroxyzimtsäuren, die in ca. 500 geprüften Pflanzenarten besonders häufig auftraten Hydroxyzimtsäure
Häufigkeit [%]
Kaffeesäure
66
p-Cumarsäure
48
Ferulasäure
33
Sinapinsäure
26
26.2 Phenolcarbonsäuren und Derivate
Kafeesäure: geruchlose, weiße oder fast weiße Kristalle; leicht löslich in heißem Wasser oder Ethanol. Auf Chromatogrammen durch blaue Fluoreszenz im UV-Licht bei 365 nm erkennbar. Tritt analytisch in Erscheinung u. a. bei der DC-Prüfung der folgenden Drogen: x Lindenblüten (von Tilia sp.; > S. 1232) und x Holunderblüten (von Sambucus nigra L.; > S. 1232). Ferulasäure ist der Trivialname für die 4-Hydroxy-3-methoxyzimtsäure, die zuerst aus dem Gummiharz verschiedener Ferula-Arten (Familie: Apiaceae [IIB25a]) isoliert wurde. Die trans-Form ist eine farblose, kristalline Verbindung, die sich in heißem Wasser, Ethanol und Ethylacetat löst. In Lösung indet partielle Isomerisierung zur cis-Form statt, die nach Abtrennung ein gelbliches Öl liefert.
26
Sie tritt meist vergesellschatet mit Kafeesäure auf, beispielsweise in den Blättern von Eucalyptus globulus Labill. (Familie: Myrtaceae [IIB17a]), in der Rhabarberwurzel (von Rheum sp.; Familie: Polygonaceae [IIB3d]) und im Tausendgüldenkraut (von Centaurium erythraea Rafn; Familie: Gentianaceae [IIB22b]). Auf Chromatogrammen wandert sie etwas rascher als Kafeesäure. Ferulasäure ist ein wirksames Hydrocholeretikum. Sie soll sich ferner als Lebensmittelkonservierungsstof eignen. Ferulasäure wirkt, wie andere Phenole auch (vgl. Kap. 26.5.8 und 26.8.3), als Antioxidans (Radikalfängereigenschaten, UV-Absorption; Graf 1992). Zu den seltenen Hydroxyzimtsäuren zählen: o-Cumarsäure im Melilotuskraut (Steinklee) und Isoferulasäure in Wurzel und Rhizom des Baldrians (von Valeriana oicinalis).
Schlüsselbegriffe Acetat-Malonat-Weg Acetat-Mevalonat-Weg Bräunungsreaktionen o-Cumarsäure Ferulasäure
Gallussäure Hydroxyzimtsäuren Isoferulasäure Kaffeesäure Oxidative Kupplung
Phenolcarbonsäuren Phenole Shikimisäureweg
Weidenrinde
Inhaltsstoffe
Herkunft. Weidenrinde (Salicis cortex PhEur 5) besteht aus
11%; PhEur = mind. 1,5% Gesamt-Salicylalkohol-Derivate, berechnet als Salicin (auch als Salicin- bzw. Gesamtsalicin-Gehalt bezeichnet)]. Bei den Hauptverbindungen Salicortin, Tremulacin sowie 2c-O-Acetylsalicortin ( > Abb. 26.7) handelt es sich um Ester des Salicins; ferner 2c-O-Acetylsalicin und Salicin. Neben den Salicylaten kommen weitere Phenolglykoside wie Salireposid, Syringin und Purpurein vor; x Flavonoide, insbesondere Naringeninglucoside (Naringenin-5-O-glucosid, Naringenin-7-O-glucosid), Eriodictyol-7-O-glucosid und Isosalipurposid (Chalkon); x Phenolcarbonsäuren (4-Hydroxybenzoe-, Kafee-, Ferula-, 4c-Cumarsäure); x Catechingerbstofe (dimere und trimere Procyanidine).
der getrockneten Rinde junger Zweige oder aus getrockneten Stücken junger Zweige des laufenden Jahrs verschiedener Arten der Gattung Salix, einschließlich S. purpurea L. (Purpurweide), S. daphnoides Vill. (Reifweide) und S. fragilis L. (Bruchweide) (Familie: Salicaceae [IIB12 h]. Stammpflanzen. Von den über 300 Salix-Arten sind nur wenige zur Gewinnung einer der PhEur entsprechenden Droge geeignet, da die meisten nicht den geforderten Salicin-Gehalt aufweisen. Die für die Arzneibuchdroge geeigneten Weiden sind 6–10 m hohe diözische Bäume oder Sträucher, die in feuchten Wäldern und an Flussufern verbreitet vorkommen und heute zum Teil auch angebaut werden. Die im Handel häuig anzutrefende Rinde von S. alba L. (Silberweide) entspricht aufgrund ihres niedrigen Salicin-Gehaltes (meist Hinweis).
26
genschleimhaut zu erwarten. Ebenfalls wird im Unterschied zu ASS die hrombozytenaggregation durch WRE nur geringfügig beeinlusst, da die dazu notwendige Acetylgruppe zur Inaktivierung der COX-1 (= irreversible Acetylierung des Serinrestes in Position 530) fehlt. Als Kontraindikation gilt eine Überempindlichkeit auf Salicylate (Intoleranz), die zu Urtikaria, Quincke-Ödem und Bronchospasmus führen kann. Hinweis. Wirkstofe der Weidenrinde, Wirkungsmecha-
nismen und die klinische Wirksamkeit von WRE-Präparaten bei der Behandlung von chronischen Rückenschmerzen und rheumatischen Beschwerden werden kontrovers diskutiert.
Schlüsselbegriffe Chronische Rückenschmerzen Phenolglykoside Rheumatische Beschwerden
26.2.2
Salicis cortex Salicylate Salicylsäure
Ester mit anderen Säuren
Chlorogensäure und andere Caffeoylchinasäuren Ester aromatischer Hydroxycarbonsäuren werden auch als Depside bezeichnet. Am häuigsten vorkommend sind Ester zwischen der Kafee- und der Chinasäure ( > Abb. 26.9), mit der Chlorogensäure (5-O-Cafeoylchinasäure) als Prototyp. Chlorogensäure färbt sich in alkalischer Lösung grün, eine Eigenschat, von der sich der Trivialname ableitet (griechisch chloros grün, genao werden). Chlorogensäure und verwandte Depside kommen in fast allen planzlichen Geweben vor, jedoch in nicht allzu hoher Konzentration (bis etwa 0,01%). Eine bemerkenswerte Ausnahme stellen die grünen Kafeebohnen dar (von Cofea arabica L. und Cofea canephora Pierre ex Froehner, Familie: Rubiaceae [IIB22d]), mit Gehalten zwischen 3 und 8%. Im Rahmen der Drogenanalytik tritt die Chlorogensäure bei den folgenden Drogen in Erscheinung: Arnikablüten (S. 872), Artischockenblätter ( > unten), Birkenblätter (S. 1231), Holunderblüten (S. 1232), Weißdornblätter mit Blüten (S. 1218).
Salix sp. Weidenrinde Wirkungen (analgetisch, antiphlogistisch)
Cafeoylchinasäuren, aber auch ihre phenolischen Metaboliten wie Kafee-, Dihydrokafee-, Ferula-, Dihydroferulasäure u. a. haben antioxidative Eigenschaten. Sie hemmen verschiedene Enzyme, die bei entzündlichen und allergischen Reaktionen involviert sind (u. a. die Hyaluronidase, Lipoxygenase). In der traditionellen Medizin Japans und Koreas werden Arzneiplanzen mit diesen Inhaltsstofen daher zur Behandlung von entzündlichen und allergischen Krankheiten eingesetzt (vgl. dazu Übersicht von Morishita u. Ohnishi 2001 und darin zitierte Literatur). Hohe Dosen von Chlorogensäure führen bei Ratte und Maus zu einer vermehrten Gallenausscheidung (hydrocholeretischer Efekt). Das Cynarin der Artischocke ( > unten) wirkt gleichartig.
Artischockenblätter Herkunft. Artischockenblätter (Cynarae scolymi folium
PhEur 5.5) bestehen aus den getrockneten Blättern von Cynara scolymus L. (Familie: Asteraceae [IIB28b]). Cynara scolymus ist ein distelartiges, bis zu 2 m hohes Kraut. Die Planze hat große, meist einfach iederspaltige, grundständige Blätter. Die Blüten sind blau bis violett. Die Hüllblät-
1155
1156
26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.9 R1O
COOH
OR4 HOOC
1 3
5
cis
OR4
R1O
OR3
HOOC
4
1
5 4
R2O
5
3
OR4 OR3
1 3
OR1
OR3
OR2
cis
OR2
4
cis
C1-Konformation
O OH
OH Caffeoyl-(Abkürzung C)
R1
R2
R3
R4
H C H H H C C H
H H H H C C H C
H H H C H H H H
H H C H H H C C
(−)-Chinasäure 1-O-Caffeoylchinasäure Chlorogensäure (= 5-O-Caffeoylchinasäure; IUPAC-Nomenklatur) Kryptochlorogensäure Neochlorogensäure (= 3-O-Caffeoylchinasäure) 1,3-O-Dicaffeoylchinasäure (= Cynarin; Artefakt; IUPAC-Nomenklatur) 1,5-O-Diacaffeoylchinasäure 3,5-O-Dicaffeoylchinasäure
Als Alkoholpartner der Hydroxyzimtsäuren zur Esterbildung steht die (–)-Chinasäure mit ihren vier OH-Gruppen – der Häufigkeit des Vorkommens nach – an erster Stelle. Derivate, bei denen die Carboxylgruppe einer Hydroxyzimtsäure mit einer Hydroxylgruppe einer zweiten Säure verestert ist, werden auch Depside genannt. Die Benennung der Chinasäurederivate ist in der Literatur verwirrend, da meistens die traditionelle Bezeichnung, und nicht die IUPAC-Nomenklatur verwendet wird. Chlorogensäure ist gemäß IUPAC-Regeln 5-O-Caffeoylchinasäure (traditionell 3-O-Caffeoylchinasäure). 3-OH (axial) und 5-OH (equatorial) sind im NMR-Spektrum eindeutig unterscheidbar und die Moleküle liegen bevorzugt in der hier formulierten [4C1] Sessel-Konformation vor (Pauli et al. 1998). 1,5-O-Dicaffeoylchinasäure kommt in frischen Artischockenblättern vor; beim 1,3-O-Derivat, das unter dem Trivialnamen Cynarin bekannt ist, handelt es sich um einen Artefakt (vgl. > Abb. 26.10). Auch hier ist die traditionell verwendete Nummerierung umgekehrt. Cynarin ist eine Substanz mit auffallend süßem Geschmack
ter des Blütenköpfchens und der leischige Blütenboden werden als leicht bitteres Gemüse geschätzt. Die Laubblätter sind tiefgeteilt und als grundständige Rosette oder wechselständig angeordnet. Arzneilich wird nur dieser Planzenteil genutzt. Die Heimat der Artischocke vermutet man in Äthiopien. Jedenfalls war die Planze den Römern bekannt, geriet dann in Vergessenheit und wurde erst im 15. Jh. wieder in Kultur genommen.
Sensorische Eigenschaften. Artischockenblätterextrakt
schmeckt leicht salzig, dann stark bitter. Inhaltsstoffe
x Cafeoylchinasäuren (2,4–6,0%; Wagenbreth et al. 1996), insbesondere Chlorogensäure (PhEur = mind. 0,8%), 1,5-O-Dicafeoylchinasäure und sehr wenig Cynarin (vgl. > Abb. 26.9 und > Abb. 26.10);
26.2 Phenolcarbonsäuren und Derivate
. Abb. 26.10
26
O OH
O 5
HO
HOOC
OH
1
OH O
HO
OH
O
Umesterung
1,5-O-Dicaffeoylchinasäure (genuin) OH HO
HOOC
OH
1
OH
3
O
HO
O
O
OH O
1,3-O-Dicaffeoylchinasäure (= Cynarin)
H
CH2
HO
8
H2C
H
CH2
O
CH2OH
CH2
O O
Cynaropicrin
O
H
CH2
O
8
H2C
H
O
CH2
O
CH2OH
CH2
O O
Dehydrocynaropicrin
In frischen Artischockenblättern und nach Extraktion der Droge mit alkoholischen Lösungsmitteln sind Chlorogensäure und 1,5-O-Dicaffeoylchinasäure neben den Flavonoiden Scolymosid und Cynarosid (Formel des Aglykons Luteolin; vgl. > Abb. 26.32) und Sesquiterpenlactonen vorherrschend. Bei der Heißwasserextraktion entsteht durch Umesterung von 1,5-O-Dicaffeoylchinasäure neben anderen Isomeren das entsprechende 1,3-O-Derivat (Cynarin), das lange Zeit als eigentlicher Hauptwirkstoff galt (Nomenklatur nach IUPAC; vgl. > Abb. 26.9). Heute wird für die lipidsenkende Wirkung von ALE insbesondere das Flavonoidaglykon Luteolin, für die antioxidative Wirkung die phenolischen Inhaltsstoffe (Flavonoide, Hydroxyzimtsäurederivate) angesehen. Daneben sind die Sesquiterpenlactone vom Guajanolidtyp – falls sie als apolare Stoffe bei der Extraktherstellung nicht eliminiert werden – für die appetitanregende Bitterstoffwirkung der Extrakte verantwortlich. Cynaropicrin und Dehydrocynaropicrin sind an der C-8-Hydroxylgruppe mit 2-Hydroxymethylacrylsäure verestert (vgl. Übersicht von van Rensen u. Wittemer 2003 und darin zitierte Literatur)
1157
1158
26
Phenolische Verbindungen
x Flavonoide (0,35–0,75%; Wagenbreth et al. 1996),
Metabolismus und Pharmakokinetik. Nach oraler Ver-
darunter die Luteolinglykoside Scolymosid (Luteolin7-O-rutinosid), Cynarosid (Luteolin-7-O-glucosid) und Cynarotriosid (Luteolin-7-O-rutinosyl-4c-O-glucosid); x Sesquiterpenlactone (bis 5%), darunter Cynaropicrin als Hauptkomponente, ferner Dehydrocynaropicrin ( > Abb. 26.10), Aguerin B, Grosheimin und Sesquiterpenglykoside (u. a. die Cynarascoloside A–C; Shimoda et al. 2003).
abreichung von 2,4 g ALE (149,3 mg Cafeoylchinasäuren, 22,6 mg Luteolin-7-O-glucosid) an 14 Probanden konnten nach enzymatischer Spaltung der vorliegenden Phase-IIKonjugate Kafeesäure (KS), Dihydrokafeesäure (DHKS), Ferulasäure (FS), Dihydroferulasäure (DHFS), Isoferulasäure (IFS) und Luteolin im Plasma nachgewiesen werden. Der Vergleich der maximalen Plasmaspiegel (Cmax) und der Eliminationshalbwertszeit (t1/2) zeigt, dass die einzelnen Hydroxyzimtsäuren in zwei Gruppen eingeteilt werden können. Nach der enzymatischen Spaltung der Konjugate wurden für KF, FS und IFS Cmax nach ca. 1 h gemessen (KS: 6,5 ± 1,9 ng/ml; FS: 8,9 ± 1,7 ng/ml; IFS: 7,9 ± 2,2 ng/ml). Für DHKS und DHFS wurden etwa um einen Drittel höhere Cmax-Werte 6–7 h nach Applikation gemessen (DHKS: 21,3 ± 12,4 ng/ml; DHFS: 27,6 ± 13,8 ng/ml). Der Anteil an renal eliminierten Cafeoylchinasäurederivaten betrug 4–5% (berechnet als Kafeesäureäquivalente). Den Hauptanteil bildeten FS- und DHFSKonjugate sowie DHFS. Aufgrund eines deutlich ausgeprägten biphasischen Eliminationsproils resultierte für FS mit ca. 6 h eine im Vergleich zu den anderen Hydroxyzimtsäuren etwa doppelt so lange t1/2. Luteolin-Konjugate waren bereits 15 min nach Applikation von ALE im Plasma nachweisbar. Maximale Plasmaspiegel von 59,1 ± 32,8 ng/ml wurden nach 30–40 min erreicht. Die t1/2 betrug etwa 2,5. Bezogen auf die verabreichte Luteolin-Dosis wurden ca. 2% in Form von Luteolin-Konjugaten renal eliminiert (vgl. Übersicht von van Rensen u. Wittemer 2003). Aufgrund der verschiedenen tmax-Werte (tmax = Zeit bis zum Erreichen von Cmax) von 1 bzw. 6–7 h wird postuliert, dass die Absorption von KS, FS und IFS im Dünndarm stattindet, während DHKS und DHFS im Kolon absorbiert werden (Wittemer et al. 2005).
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Nachweis (PhEur) von Chlo-
rogensäure und Luteolin-7-O-glucosid [Fließmittel: Essigsäure 99%–wasserfreie Ameisensäure–Wasser–Ethylacetat (11:11:27:100); Referenzsubstanzen: Luteolin-7-Oglucosid, Chlorogensäure; Nachweis: Diphenylboryloxyethylamin/Macrogol 400, UV 365 nm]. Nach dem Besprühen mit dem Naturstofreagens erscheinen im UV bei 365 nm eine hellblau luoreszierende (Chlorogensäure) sowie eine gelb oder orange luoreszierende Zone (Luteolin-7-O-glucosid). Die qualitative und quantitative Analytik von Artischockenblätterextrakten wird heute am besten mit der HPLC durchgeführt (vgl. Häusler et al. 2003). Gehaltsbestimmung. Quantitative Bestimmung der
Chlorogensäure (PhEur) mit der HPLC unter Einsatz von octadecylsilyliertem Kieselgel (5 µm) als Säulenmaterial, einem Gradienten bestehend aus Phosphorsäure–Wasser (0,5:99,5%) (A) und Phosphorsäure–Acetonitril (0,5:99,5%) (B) als mobile Phase sowie Chlorogensäure als externe Referenzsubstanz. Verwendung. Zur Herstellung von wässrigen Trocken-
extrakten (ALE: „artichoke leaf extract“). Dafür werden heute nicht mehr die nach Abernten der Blütenköpfe anfallenden Blätter verwendet, sondern Blattmaterial von speziell für pharmazeutische Zwecke angebauten Planzen. Dadurch liegen die Gehaltswerte an Cafeoylchinasäuren und Flavonoiden deutlich über den Werten von üblicher Handelsware. Optimale Gehalte an Cafeoylchinasäuren (inkl. Cynarin) werden nur dann erreicht, wenn zur Herstellung der Extrakte Frischplanzenmaterial verwendet wird und die Heißwasserextraktion bei über 80 °C bzw. bei 80 °C während 18 h durchgeführt wird (vgl. Übersicht von van Rensen u. Wittemer 2003 und darin zitierte Literatur).
Wirkung und Wirkungsmechanismen. In der letzten
Dekade sind wesentliche neue Erkenntnisse bezüglich der Wirkung und der möglichen Wirkungsmechanismen mit einem hochkonzentrierten Spezialextrakt gewonnen worden. Neben der Bitterwirkung und der choleretischen Wirkung zeigt der ALE auch eine antioxidative und eine lipidsenkende Wirkung ( > Abb. 26.11; vgl. dazu Übersicht von van Rensen u. Wittemer 2003 und darin zitierte Literatur). Die Steigerung der Sekretion von Gallenlüssigkeit (Cholerese) gilt als eines der wesentlichen Wirkprinzipien bei der Behandlung dyspeptischer Verdauungsstörungen. Sie ist bei ALE in mehreren pharmakologischen Tests
26.2 Phenolcarbonsäuren und Derivate
. Abb. 26.11
antioxidative Wirkung
Hemmung der LDL - Oxidation
Extrakt aus Artischockenblättern
Hemmung der Cholesterolbiosynthese
Hemmung des Einbaus von 14C - markiertem Acetat in die Fraktion der nicht verseifbaren Lipide
Hemmung der Plaquebildung in der Gefäßintima Zellprotektive Wirkung
Zellmembranprotektion
26
choleretische Wirkung
Verminderung des intrahepatischen Cholesterolgehaltes infolge choleretisch verstärkter Elimination
Cholesterolsenkung
Arteriosklerose prävention
dyspeptischer Symptomenkomplex
Postulierte Wirkmechanismen von ALE. In mehreren Untersuchungen konnte eine Hemmung der Cholesterolbiosynthese nachgewiesen werden. Die Hemmung der Neusynthese von Cholesterol sowie eine verstärkte Cholesterolausscheidung mittels gesteigerter Cholerese stellen die Hauptmechanismen der lipidsenkenden Wirkung dar. Cholesterolsenkung und Hemmung der LDL-Oxidation sind wichtige Faktoren der Arterioskleroseprophylaxe. ALE ist auch in der Lage, eine oxidative Schädigung der Leberzellmembran durch tertiäres Butylhydroperoxid zu verhindern. Daraus sowie aus weiteren In-vitro- und In-vivo-Experimenten wird auch eine hepatoprotektive Wirkung abgeleitet (vgl. Kraft 1996; Übersicht von van Rensen u. Wittemer 2003 und darin zitierte Literatur)
nachgewiesen und durch plazebokontrollierte Studien am Menschen belegt. Verantwortlich dafür sind Cafeoylchinsasäuren, speziell die Chlorogensäure. Für die antioxidative Wirkung, die in verschiedenen In-vitro-Experimenten nachgewiesen werden konnte, sind phenolische Substanzen mit einer o-Hydrochinon-Partialstruktur (u. a. Luteolin, Luteolinglykoside, Cafeoylchinasäuren) verantwortlich. Im Falle des Lipidstofwechsels scheint neben der durch den Extrakt gesteigerten Cholerese (Ausscheidung von Cholesterol in Form von Gallensäuren), die Hemmung der Cholesterolbiosynthese [Testmodelle: Primärkulturen von Rattenhepatozyten, Humanhepatozyten (HepG2)] auf der Stufe der HMG-CoA-Reduktase (Schlüsselenzym der Cholesterolbiosynthese; vgl. dazu Kap. 23.1) von zentraler Bedeutung zu sein. Die lipidsenkende Wirkung wird in erster Linie durch das Luteolin verursacht, das nach enzymatischer Freisetzung aus den Flavonoidglykosiden entsteht. Allerdings ist die Hemmung verglichen mit derjenigen
durch die Statine sehr gering (Fritsche et al. 2002). Die Konzentrationen an Cafeoylchinasäuren und Luteolin, die im Plasma nach Einnahme von ALE erreicht werden, liegen deutlich unter denjenigen aus In-vitro-Untersuchungen. Es ist deshalb fraglich, ob mit den im Körper vorliegenden Mengen Wirkungen erzielt werden können. Ebenfalls fehlen immer noch GCP-konforme klinische Studien, die die Cholesterolsenkung hinreichend belegen (vgl. Übersicht von van Rensen u. Wittemer 2003 und darin zitierte Literatur). Zuküntige Untersuchungen müssen daher vermehrt der Frage nach dem Stellenwert der lipidsenkenden Wirkung und den für die nachgewiesene Wirksamkeit verantwortlichen Inhaltsstofen nachgehen. Anwendungsgebiete. Die Kommission E beschreibt die
Anwendung von ALE zur Behandlung von dyspeptischen Beschwerden. Bedingt durch die Erkenntnisse bezüglich der lipidsenkenden und der antioxidativen Wirkung wird
1159
1160
26
Phenolische Verbindungen
zusätzlich auch eine Anwendung bei Fettstofwechselstörungen und zur Arterioskleroseprävention abgeleitet. ESCOP nennt daher als weitere Indikation die Behandlung der Hyperlipidämie.
. Abb. 26.12
Anwendungsbeschränkung. Allergie gegen Artischo-
HO
cken und andere Asteraceen. Verschluss der Gallenwege.
O
HO
H
C
O
O
C
H
OH O
COOH
Cichoriensäure (isoliert als 2,3-O-Dicaffeoyl-(SS)-, -(RR)- und -(RS,SR)-Weinsäure-Derivat)
Cichorien-, Rosmarin- und Lithospermsäure Cichoriensäure wurde neben Monocafeoylweinsäure zuerst in der Wegwarte, Cichorium intybus L. (Familie: Asteraceae [IIB28b]), gefunden. Sie ist ein analytischer Leitstof für Echinaceaextrakte. In Echinacea-purpureaWurzeln kommt sie in einer Konzentration von 0,6–2,1% vor, während Wurzeln von Echinacea pallida und Echinacea angustifolia an ihrer Stelle Echinacosid enthalten. Die Cichoriensäure kommt ebenfalls im Kraut von Echinacea purpurea und Echinacea pallida vor, während das Kraut von Echinacea angustifolia vorwiegend Isochlorogensäuren aufweist (Bauer u. Wagner 1990). Rosmarinsäure wurde ursprünglich aus den Blättern von Rosmarinus oicinalis L. isoliert. Inzwischen fand man sie außer in zahlreichen Arten der Lamiaceen auch in Planzen anderer Familien (z. B. Apiaceen, Araliaceen, Boraginaceen). Die Rosmarinsäure fand pharmakologisches Interesse: Sie ist ein Hemmstof der unspeziischen Komplementaktivierung (des „alternative pathway“) sowie der Lipoxygenase und somit der Leukotriensynthese. Mit anderen Phenolen teilt sie die Eigenschat, radikalische Kettenreaktionen abzubrechen. Auch in einigen In-vivoModellen wirkt sie entzündungshemmend, antibakteriell und antiviral. Rosmarinsäure ist sowohl in Wasser als auch in Ether löslich. Man kann sich dieser Eigenschat zur Anreicherung und Isolierung bedienen. Analytisch tritt sie u. a. in den Blättern von Melisse, Salbei und Rosmarin in Erscheinung. Lithospermsäure ist eine modiizierte Rosmarinsäure (formal ein Neolignan), bei der eine phenolische Gruppe mit dem Ethylenteil der Kafeesäure einen Cumaranring ausgebildet hat ( > Abb. 26.12). Sie kommt in Lithospermum-, Lycopus-, Symphytum-, Anchusa- und Echium-Arten vor. Sie weist in vitro antigonadotrope Aktivität auf. In neuerer Zeit sind eine Reihe weiterer Depside mit ähnlichen Strukturen isoliert worden. Erwähnens-
OH
COOH
HO
HO COOH
O
OH
COOH
O
O
OH
H
HO Lithospermsäure OH
COOH
O
HO
O
OH
H
HO Rosmarinsäure OH
HO
HO
O
OH
H
O
COOH
O
COOH
OH
O
O
H
OH
HO Lithospermsäure B (identisch mit Salvianolsäure B)
Beispiele für weitere Depside der Kaffeesäure. Für Hedera helix L. ist belegt, dass nur (R)-(+)-Rosmarinsäure (optische Drehung = + 106°) vorkommt, während bei den meisten anderen Quellen das Enantiomere nicht oder nicht mit Sicherheit bestimmt worden ist. Die beiden enantiomeren Rosmarinsäuren können heute mit 3 verschiedenen chromatographischen Methoden (HPLC, CE und GC) getrennt werden (nach Trute u. Nahrstedt 1996)
26.2 Phenolcarbonsäuren und Derivate
wert sind davon insbesondere die Lithospermsäure B (als Magnesium-, Ammonium-/Kaliumsalz) und die Salvianolsäuren. Sie sind aus der chinesischen Arzneidroge Salviae miltiorrhizae radix und anderen Salbeiarten isoliert worden. Strukturell haben sie, wie die Rosmarinund Lithospermsäure, d-(+)-β-3,4-Dihydroxyphenylmilchsäure [(R)-Milchsäure] als Molekülteil. Lithospermsäure B (identisch mit Salvianolsäure B) bewirkt eine vermehrte Bildung und Ausscheidung von Prostaglandin E2, was zu einer gefäßerweiternden, blutdrucksenkenden und die Nierenfunktion verbessernden Wirkung führt (Yokozawa et al. 1995). Die Substanz soll, insbesondere als Mg-Salz, auch eine hepatoprotektive Aktivität aufweisen (Hase et al. 1997).
. Abb. 26.13
HO
6
O OH
R1
R2
C H C
H C C
An Zucker glykosidisch gebundene Phenolcarbonsäuren
Ester der Hydroxyzimtsäuren mit Mono- und Oligosacchariden kommen in den mannigfachsten Varianten bei höheren Planzen weit verbreitet vor ( > Abb. 26.13). Man darf mit ihrem Autreten in nahezu allen Drogen rechnen. Da sie ot in beachtlichen Konzentrationen auftreten, sind sie nützliche Leitstofe in der Drogenanalytik. Varianten mit o-Dihydroxygruppen (Kafeesäurederivate) sind oxidationsempindlich: In Extrakten und Fertigarzneimitteln muss mit ihrer Zersetzlichkeit gerechnet werden. Verbascosid bzw. Acteosid (Phenylethanoidglykosid) kommt häuig in Planzen der Ordnung Lamiales [IIB23] vor (vgl. Jiménez u. Riguera 1994), u. a. in den Familien
O
1
R1O
26.2.3
OR2 OH
26
COOH ← β-D-Glc 1 O 6 ↓ 1 α-L-Rha
HO OH Caffeoyl (Abkürzung C)
OH
Kaffeesäurerutinosid Vorkommen: Kraut von Leonurus cardiaca 1-Caffeoylglucose 6-Caffeoylglucose 1,6-Dicaffeoylglucose R2 1
O R1 α-L-Lyx p H H
R2 H β-D-Glc p H
HO Teucriosid Echinacosid Verbascosid
O
→4
↑ 6
β-D-Glc
1←
O
OH
3
HO
↓ 1
α-L-Rha
OH
2 ↓ 1
R1
Mono- und Oligosaccharide, die glykosidisch und/oder als Ester gebunden aromatische Hydroxycarbonsäuren enthalten, kommen bei höheren Pflanzen sehr oft vor. Allein die 1-O-Caffeoylglucose wurde analytisch in jeder dritten Pflanze gefunden. Phenylethanoidglykoside [Verbascosid (= Acteosid) u. a.] gelten wie Iridoide (vgl. Kap. 23.3.1) als chemotaxonomische Leitsubstanzen
1161
1162
26
Phenolische Verbindungen
Lamiaceae, Oleaceae, Plantaginaceae ( > Identitätsprüfung bei Plantaginis lanceolatae folium; S. 829), Scrophulariaceae und Verbenaceae ( > Identitätsprüfung bei Verbenae herba; S. 821). Echinacosid (Phenylethanoidglykosid) kommt in den Wurzeln von Echinacea angustifolia, nicht aber in Echinacea purpurea vor. Durch die Echinacosidführung können die beiden Drogen unterschieden werden. Tilirosid (Flavonolesterglykosid) erscheint bei der DC-Prüfung der Lindenblüten als grüngelbe Zone [Fließmittel: Ethylacetat–Ameisensäure–Essigsäure 99%–Wasser (100:11:11:26); Nachweis mit Diphenylboryloxyethylamin; Rf ~0,9 (Wagner u. Bladt 1996)]. Die PhEur geht bei der DC-Prüfung von Tiliae los nicht auf das Vorkommen von Tilirosid ein (vgl. S. 1232). Dem Tilirosid vergleichbare Flavonolesterglykoside ( > Abb. 26.14) kommen in Extrakten aus Blättern von Ginkgo biloba vor (vgl. S. 1223).
26.2.4
Einfache Phenolglykoside – Bärentraubenblätter
Phenolcarbonsäuren sind biosynthetisch betrachtet die Vorstufen einfacher Phenole. Durch β-Oxidation und oxidative Decarboxylierung entsteht z. B. aus p-Cumarsäure via p-Hydroxybenzoesäure das Hydrochinon. Hydrochinonglykoside sind typische Inhaltsstofe der Bärentraubenblätter. Herkunft. Die Droge (Uvae ursi folium PhEur 5) besteht
aus den getrockneten Laubblättern von Arctostaphylos uva-ursi (L.) Spreng. (Familie: Ericaceae [IIB20a]). Die Stammplanze ist ein kleiner, immergrüner Zwergstrauch, der in Nord- und Mitteleuropa, in Asien und in Nordamerika verbreitet ist. Die Planze hat ein reich verzweigtes Wurzel- und Sprosssystem und bildet daher kleine Polster. Arctostaphylos uva-ursi bevorzugt sandige Böden, steigt in
. Abb. 26.14 OH
Kämpferol
β-D-Glucose
O
HO
5"
1"
6"
O
O HO OH
p-Cumarsäure
O OH
OH
O
OH
O
Tilirosid
OH
Quercetin O
HO
OH O
OH H3C HO HO α-L-Rhamnose
p-Cumarsäure
O β-D-Glucose
1"
O 2"
O
1'"
HO
6'"
O OH
OH
O OH O
Beispiel für ein Flavonolderivat aus dem Ginkgoblatt
Einige Mono- und Oligosaccharide enthalten neben Hydroxyzimtsäure zusätzlich noch Flavonoide in glykosidischer Bindung
26
26.2 Phenolcarbonsäuren und Derivate
nördlichen Gegenden bis weit in die Täler hinab, während im Süden Gebirgsgegenden mit höheren Lagen bevorzugt werden. Entsprechend der weiten geographischen Verbreitung existieren von der Planze mehrere morphologische Rassen, deren chemische Merkmale korreliert sein dürten. Insbesondere betrefen sie einen unterschiedlichen Gehalt an Arbutin und Methylarbutin. Die Droge stammt ausschließlich aus Wildvorkommen. Sensorische Eigenschaften. Die Ganzdroge ist fast ge-
ruchlos; die frisch pulverisierte Droge riecht schwach aromatisch, etwas an schwarzen Tee erinnernd. Der Geschmack ist adstringierend und schwach bitter.
. Abb. 26.15 R2
OR1 R1
R2
H Glc Glc Glc
OH OH OCH3 COCH3
Hydrochinon Arbutin Methylarbutin Piceosid
Inhaltsstoffe
x Phenolglucoside (6–15%), insbesondere Arbutin (Arbutosid; PhEur = mindestens 7,0%), ferner Methylarbutin, Arbutin-Gallussäure-Ester, Piceosid und in geringen Mengen das Aglykon Hydrochinon ( > Abb. 26.15); x Gerbstofe (10–15%), hauptsächlich vom Typus der Gallotannine; x Flavonoide (1–2%), darunter Quercetin-3-O-galactosid (Hyperosid; Formel vgl. > Abb. 26.57), weitere Quercetin- und Myricetinglykoside, z. T. mit Gallussäure verestert; ferner: Triterpene (0,4–0,8%), darunter die Ursolsäure (pentazyklische Triterpensäure), der entsprechende Alkohol Uvaol ( > Abb. 26.15) sowie das Iridoidglucosid Monotropein. Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Nachweis (PhEur) von Ar-
butin, Gallussäure und Hydrochinon [Fließmittel: Wasserfreie Ameisensäure–Wasser–Ethylacetat (6:6:88); Referenzsubstanzen: Arbutin, Gallussäure, Hydrochinon; Sprühreagens: Dichlorchinonchlorimid in Methanol]. Die drei Phenole erscheinen nach dem Besprühung im Tageslicht als hellblaue (Arbutin), bräunliche (Gallussäure) und blaue (Hydrochinon) Zonen. Gehaltsbestimmung. Die PhEur bestimmt den Gehalt an Arbutin mit der HPLC unter Verwendung von octadecylsilyliertem Kieselgel (5 µm) als Säulenmaterial, Methanol–Wasser (10:90) als mobile Phase und Arbutin als Referenzsubstanz (vgl. dazu auch Sticher et al. 1979).
CH3 H3C
CH3
CH3 H
HO
H3C
CH3
R CH3
H
Ursolsäure (R = COOH); Uvaol (R = CH2OH)
Die charakteristischen und wirksamkeitsrelevanten Inhaltsstoffe der Bärentraubenblätter sind Phenolglucoside, insbesondere Arbutin. Methylarbutin und das Aglykon Hydrochinon kommen meist nur in geringen Mengen oder gar nicht vor. Ursolsäure und Uvaol erhielten ihren Namen vom Vorkommen in Bärentraubenblättern (genauer vom Artnamen uva-ursi), da sie in dieser Droge erstmalig entdeckt worden sind
Verwendung. Bärentraubenblätter dienen zur Herstellung von Tinkturen und Extrakten, die zu Kombinationspräparaten in Liquidum- oder Drageeform weiterverarbeitet werden. Die kleingeschnittene Droge ist Bestandteil industriell hergestellter Teemischungen (Nieren- und Blasentee, Species urologicae). 3 g Droge pro Tasse als Infus oder Kaltansatz (weniger extrahierte Gerbstofe), bis 4-mal täglich. Mit dieser Dosierung wird eine durchschnittliche Tagesdosis von 400–840 mg Hydrochinonderivaten eingenommen. Diese Dosierung kann als Richt-
1163
1164
26
Phenolische Verbindungen
dosis zur Bewertung der verschiedenen Mischtees und anderer Industriefertigarzneimittel dienen. Der Vergleich zeigt, dass die industriell hergestellten Präparate in der Regel stark unterdosiert sind.
Praxis für längere Zeit auch undurchführbar zu sein. Die Untersuchungen von Siegers et al. geben erstmals eine besser abgesicherte Erklärung für das Zustandekommen der antibakteriellen Wirksamkeit.
Hinweise zur Pharmakokinetik und Bioverfügbarkeit.
Wirkung, Anwendung. Zubereitungen aus Bärentrauben-
Über pharmakokinetische Daten des Arbutins sind wenig gesicherte Angaben vorhanden. Arbutin wird nach peroraler Zufuhr schlecht aus dem Gastrointestinaltrakt resorbiert; das Aglykon Hydrochinon, das nach hydrolytischer Spaltung der glykosidischen Bindung durch β-Glucosidasen der Intestinallora entsteht, wird gut resorbiert (Scheline 1991). Nach der Resorption erfolgt die Entgitung durch die Konjugation mit Glucuron- und Schwefelsäure und die Ausscheidung mit dem Harn. Eine renale Ausscheidung toxikologisch kritischer Konzentrationen von Hydrochinon ist gemäß einer pharmakokinetischen Pilotstudie von Quintus et al (2005) nicht zu erwarten. Weder Glucuronid noch Sulfatester des Hydrochinons haben antibakterielle Eigenschaten. Sie werden nach Untersuchungen von Siegers et al. (1997, 2003) durch Enzyme von Bakterien (z. B. von Escherichia coli) gespalten, wobei freies Hydrochinon entsteht, das antimikrobiell wirkt, wenn es in ausreichender Menge vorliegt. Da Phenole in undissoziierter Form antibakterielle Wirkung zeigen (pH sauer), wurde die in der Literatur (vgl. Übersicht von Frohne 1986) beschriebene Alkalisierung des Harns durch Natriumhydrogencarbonat zur Freisetzung des Hydrochinons angezweifelt (vgl. z. B. Paper et al. 1993) und scheint in der
blättern wirken in vitro antibakteriell gegen Proteus vulgaris, Escherichia coli, Ureaplasma urealyticum, Mycoplasma hominis, Staphylococcus aureus, Pseudomonas aeruginosa, Klebsiella pneumoniae, Enterococcus faecalis, Streptococcusstämme sowie gegen Candida albicans (Kommission E). Anwendungsgebiete sind entzündliche Erkrankungen der ableitenden Harnwege (Kommission E; ESCOP).
! Kernaussagen
Caffeoylchinasäuren (Chlorogensäure u. a.), Cichorien-, Rosmarin- und Lithospermsäure, Phenylethanoidglykoside wie Verbascosid und Echinacosid sowie Tilirosid und andere Flavonolesterglykoside sind nützliche Leitstoffe in der Drogenanalytik. Sie haben eigene Wirkprofile, die unter Arzneidrogen besprochen werden, bei denen sie als Inhaltsstoffe in höherer Konzentration vorkommen. Wässrige Artischockenextrakte (ALE) enthalten Caffeoylchinasäuren und Flavonoide (insbesondere Luteolin) als wirksamkeitsbestimmende Inhaltsstoffe. Sie sollen für die choleretische, antioxidative und lipidsenkende Wirkung von ALE-Zubereitungen verantwortlich sein. Die Konzentrationen an Caffeoylchinasäuren und Luteolin, die im Plasma nach Einnahme von ALE erreicht werden, liegen allerdings deutlich unter denjenigen aus In-
Unerwünschte Wirkungen, Toxizität. Trinken von Bärentraubenblättertee über längere Zeiträume kann zur chronischen Hydrochinonvergitung (Leberschäden) führen. Gemäß Kommission E sollten arbutinhaltige Arzneimittel ohne ärztlichen Rat nicht länger als jeweils 1 Woche und höchstens 5-mal jährlich eingenommen werden; sie sind insbesondere kontraindiziert während der Schwangerschat und Stillzeit. Akute Unverträglichkeiten sind hauptsächlich auf den hohen Gerbstofgehalt der Droge zurückzuführen. Bereits nach Zufuhr therapeutischer Dosen können Übelkeit und Erbrechen autreten. Der Verdacht der mutagenen Wirkung (verursacht von Hydrochinon) konnte in der von Siegers et al. (1997) durchgeführten Untersuchung von humanen Urinproben weder in vitro noch in vivo nachgewiesen werden.
vitro-Experimenten. Zukünftige Untersuchungen müssen daher vermehrt der Frage nach den für die nachgewiesene Wirksamkeit verantwortlichen Inhaltsstoffen nachgehen. Bärentraubenblätter enthalten Phenolglykoside (Arbutin). Arbutin gilt als Prodrug. Die Substanz wird nach oraler Verabreichung von Bärentraubenblätterzubereitungen durch Enzyme des Gastrointestinaltrakts in Hydrochinon und Glucose gespalten. Hydrochinon wird mit Glucuron- und Schwefelsäure konjugiert und in Form der Konjugate mit dem Harn ausgeschieden. Antibakteriell wirksam ist das Hydrochinon, das im Harn durch Enzyme von Bakterien (u. a. Escherichia coli) durch Freisetzung aus den Glucuron- und Schwefelsäurekonjugaten entsteht. Einnahme von Bärentraubenblättertee oder anderen Zubereitungen über längere Zeiträume kann zu einer chronischen Hydrochinonvergiftung (Leberschäden) führen.
26
26.3 Cumarine
Schlüsselbegriffe Cynarae folium Cynarin Cynaropicrin Dyspeptische Beschwerden Echinacosid Flavonolesterglykoside Harndesinfiziens Hemmung der Cholesterinbiosynthese HMG-CoA-Reduktase Hydrochinon Kaffeesäurederivate Lithospermsäure
Acteosid Analytische Leitstoffe Arbutin Arctostaphylos uva-ursi Arterioskleroseprävention Artischockenblätter Artischockenblätterextrakt (ALE) Bärentraubenblätter Caffeoylchinasäuren Chlorogensäure Cichoriensäure Cynara scolymus
26.3
Cumarine
26.3.1
Allgemeine Merkmale
wasserlöslicher Natriumsalze der o-Hydroxycarbonsäuren; Ansäuern führt zur Rezyklisierung. Diese Eigenschat der Cumarine – Löslichkeit in wässriger alkalischer Lösung und Extrahierbarkeit mit Ether oder Ethylacetat nach Sauerstellen der wässrigen Phase – kann zur Isolierung von Cumarinen aus planzlichem Material ausgenutzt werden. Voraussetzung für die Anwendbarkeit dieser Methode ist,
Cumarine oder 1,2-Benzopyrone ( > Abb. 26.16) stellen Lactone einer entsprechenden o-Hydroxycarbonsäure dar. In Lauge öfnet sich der Lactonring unter Bildung . Abb. 26.16
5
Luteolin Phenolglykoside Phenylethanoidglykoside Rosmarinsäure Tilirosid Uvae ursi folium Verbascosid Wirkungen (antibakteriell, antioxidativ, choleretisch, lipidsenkend, Bitterwirkung)
4 3
6 2
7 8
O 1
O
Cumarin; C9H6O2
E
COOH
COOH Hydroxylierung
COOH Glucosidierung
OH
O
o-Cumarsäure
trans-Zimtsäure
Gluc
o-Cumarsäureglucosid (= Melilotosid)
Z Isomerisierung (Enzyme)
Enzym O
COOH Gluc
o-Cumarinsäureglucosid
OH Cumarinsäure
COOH
spontan H2O
O
O
Cumarin
Die Stammverbindung der an die 500 Varianten umfassenden Stoffgruppe der Cumarine. Nomenklatur nach IUPAC: 2H-1 Benzopyran-2 on. Untere Hälfte: Bildung der glykosidischen Cumarinvorstufen in der Pflanze und ihre postmortale Umwandlung in Cumarin. Gemäß Untersuchungen von Rataboul et al. (1985) erfolgt die trans/cis-Isomerisierung in der Vakuole und ist nicht lichtabhängig, da sie auch in der Dunkelheit erfolgt. 7-Hydroxycumarin (= Umbelliferon; > Abb. 26.17) scheint die Muttersubstanz für die große Mehrheit der Cumarine zu sein (Brown 1986)
1165
1166
26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.17
Lipophile Cumarine sind teils sublimierbar, teils sind sie mit Wasserdampf lüchtig und bilden dann charakteristische Inhaltsstofe bestimmter ätherischer Öle, vornehmlich der Öle von Citrus-Arten (Agrumenöle). Bergamottöl z. B., ein wichtiger Bestandteil des Kölnisch Wasser, enthält die folgenden lipophilen Cumarine (Latz u. Ernes 1978): Bergapten (5-Methoxypsoralen; > Abb. 26.20), Citropten (5,7-Dimethoxycumarin; > Abb. 26.17), Bergamottin (5-Geranyloxypsoralen; > Abb. 26.18) und 5-Geranyloxy-7-methoxycumarin ( > Abb. 26.18).
R1
R2
O
O
R3 R1
R2
R3
H H OH H OCH3 OCH3
OH OCH3 OH OH OH OH
H H H OH H OH
Umbelliferon Herniarin Aesculetin Daphnetin Scopoletin Fraxetin
26.3.2
OCH3 GlcO
H3CO
O
O
HO
6
O
O
Aesculin (6-Glucosid): zeigt intensive Fluoreszenz
Limettin (= Citropten)
Hinweise zur Analytik
In der PhEur ist mit Meliloti herba eine Arzneidroge monographiert, bei der analytische Methoden für Cumarin beschrieben sind. Von großem Interesse sind die Cumarine in der Drogenanalytik allgemein zur Unterscheidung nahe verwandter Drogen sowie zur Aufdeckung von Verwechslungen und Verfälschungen. Auf Chromatogrammen geben sich die meisten Cumarine bereits ohne Sprühreagens allein durch ihre Fluoreszenz zu erkennen ( > Tabelle 26.3 und 26.4).
HO
26.3.3 GlcO
7
O
O
Cichoriin (7-Glucosid des Aesculetins): zeigt keine Fluoreszenz
Beispiele für in Drogen vorkommende Hydroxycumarinaglykone und -glykoside. Viele Cumarine zeigen intensive Fluoreszenz, die v. a. im alkalischen Milieu ausgeprägt ist. Allerdings können sich selbst stellungsisomere Cumarine im Fluoreszenzverhalten grundlegend unterscheiden, wie das am Beispiel Aesculin/Cichoriin deutlich wird (Merck Index 1996)
dass weder säure- noch basenkatalysierte Umlagerungen eintreten. Cumarine kommen in 2 Polaritätsstufen vor: x als Glykoside von Hydroxycumarinen ( > Abb. 26.17) und x als lipophile Cumarine, die dadurch gekennzeichnet sind, dass das Cumaringerüst durch terpenoide Reste substituiert ist. Auch die Furanocumarine ( > Abb. 26.18) können zu den lipophilen Cumarinen gezählt werden.
Beispiele für Cumarine als analytische Leitstoffe
Prüfung von Belladonnaextrakt auf Reinheit. Die Prüfung auf Hyoscyamin- und Scopolaminführung allein ist nicht ausreichend, da eine Reihe anderer Solanaceendro-
. Tabelle 26.3 Fluoreszenz von Cumarinen Fluoreszenz UV 365 nm
Rf × 100a
Scopoletin
Weiß-hellblau
28
Umbelliferon
Weiß
40
Sphondin
Weiß-hellblau
46–48
Xanthotoxin
Dunkelorange
53
Cumarin
Isopimpinellin
Dunkelrot
54
Bergapten
Weiß-gelb
59
Pimpinellin
Dunkelrot
65
Isobergapten
Weiß-gelb
71
a
Kieselgel; Fließmittel: Toluol–Ether (50:50); mit 10%iger Essigsäure gesättigt (Kubeczka u. Bohn 1985).
26
26.3 Cumarine
. Abb. 26.18 O
O
H3CO
O
O
O
5-Geranyloxy-7-methoxycumarin
O
O
O
O
Bergamottin
O
O HO Imperatorin
O
O
Ostruthin
O
O
O
Umbelliprenin (aus Angelica-Wurzel und Ferula-Harz) R O O
O S RO
S
O
(Isovaleryl)
Athamantin O
OR Archangelicin
(Angeloyl)
Beispiele für isoprensubstituierte Cumarine. 5-Geranyloxy-7-methoxycumarin, Bergamottin, Imperatorin (3-Methyl-2 butenyloxygruppe am C-8) und Isoimperatorin (3-Methyl-2 butenyloxygruppe am C-5) sind häufige Bestandteile von Agrumenölen (Öle von Citrus-Fruchtschalen). Ostruthin, Umbelliprenin, Athamantin und Archangelicin sind Inhaltsstoffe verschiedener Umbelliferenrhizome. Athamantin kommt z. B. im Rhizom von Peucedanum oreoselinum MOENCH (Synonym: Athamanta oreoselinum) vor; Archangelicin im Rhizom von Peucedanum ostruthium (L.) KOCH (= Meisterwurz) und von Angelica archangelica L. (= Engelwurz)
gen dieselben Alkaloide enthalten. Außer durch die Flavonoidführung unterscheiden sich die Extrakte durch die Cumarinführung (Hörhammer et al. 1968; > Tabelle 26.5). Verfälschungen der echten Bibernellwurzel durch ähnliche Umbelliferenwurzeln. Die arzneibuchkonforme
Droge ist seit Jahren sehr schwer erhältlich, weshalb häuig Verfälschungen angeboten werden. Der Nachweis, dass eine Verfälschung vorliegt und welche, ist aufgrund anatomischer Merkmale allein sehr schwierig zu führen. An Hand des unterschiedlichen Cumarinspektrums lassen sich die in Frage kommenden Wurzeln hingegen gut diferenzieren ( > Tabelle 26.6).
1167
1168
26
Phenolische Verbindungen
. Tabelle 26.4 Drogenauszüge, auf deren Chromatogrammen fluoreszierende Cumarinzonen erscheinen Droge
Cumarin
. Tabelle 26.6 Cumarinspektren der echten Bibernellwurzel im Vergleich mit einigen in Frage kommenden Verfälschungen (Kubeczka u. Bohn 1985) Cumarin
Pimpinella major
Ammi-majus-Früchte
Xanthotoxin, Imperatorin
Angelikawurzel
Umbelliferon, Imperatorin, Xantothoxin, Umbelliprenin
Bruchkraut (Herniariaglabra- und Herniariahirsuta-Kraut)
Herniarin, Umbelliferon
Kamillenblüten
Umbelliferon, Herniarin
Imperatorin
Römische Kamille
Scopolosid (Synonym: Scopolin)
Isobergapten
•
Lavendelblüten
Umbelliferon, Herniarin Bergapten, Umbelliferon
Isooxypeucedanin
•
Liebstöckelwurzel Steinkleekraut (Melilotusofficinalis- oder Meliotusaltissimus-Kraut)
Cumarina, Umbelliferon
Isopimpinellin
•
Oxypeucedanin
•
a
Angelicin Bergapten
. Tabelle 26.5 Cumarinführung von Solanaceenextrakten
Sphondin Umbelliferon
+
–
• • •
•
Umbelliferon
• • • •
• • • •
Atropa-belladonna-Wurzel
+
+
–
–
Umbelliprenin
•
Datura-stramonium-Blatt Datura-stramonium-Samen
+
–
Xanthotoxin
•
Hyoscyamus-niger-Blatt
+
–
Hyoscyamus-muticus-Blatt
+
+
26.3.4
Wirkungen
Cumarine weisen je nach ihrer chemischen Struktur eine ganze Reihe von Bioaktivitäten auf, die recht häuig nicht nur medizinisch-pharmazeutisches, sondern insbesondere auch toxikologisches Interesse haben. So haben die hepatotoxischen und karzinogenen Alatoxine einen Cumarinteil in ihrer chemischen Struktur, Dicumarol ist die Muttersubstanz vieler synthetischer Antikoagulanzien ( > dazu S. 1174), Novobiocin und Coumermycin A1 sind antibiotisch wirksam. Weitere Cuma-
• •
• • •
•
•
•
•
Phellopterin Scopoletin
Scopoletin
•
Peucedanin Pimpinellin
Atropa-belladonna-Blatt
•
Apterin
Grünlichgelbe/gelbgrüne Fluoreszenz im UV 365 nm nach Besprühen mit Lauge (PhEur 5.3/DAC 2005).
Extrakt aus
Pimpinella Heracleum Pastinaca saxifraga sphonsativa dylium
• • • • • •
rinwirkungen sind u. a.: analgetisch, antifungal, antioxidativ, choleretisch, immunstimulierend, ödemhemmend, sedativ, spasmolytisch, photosensibilisierend (vgl. Übersicht von Sardani et al. 2000). Als lipophile Substanzen können Cumarine vom Magen-Darm-Trakt aus resorbiert werden. Allerdings liegen mit Ausnahme von Cumarin nur wenige Angaben über Metabolismus und Pharmakokinetik von Cumarinen vor. Als fettlösliche Stofe gelangen sie nach Resorption in das Zentralnervensystem. Viele Cumarine entfalten dort unspeziische narkotische Wirkungen. Als lipophile Substanzen können, ähnlich wie die lipophilen Carotinoide, auch die Cumarine z. T. in der Haut abgelagert und gespeichert werden. Dies bliebe unbe-
26.3 Cumarine
merkt, wenn nicht bestimmte Cumarine – und zwar die linearen Furanocumarine der Psoralenreihe – photosensibilisierende Eigenschaten hätten. Am eingehendsten untersucht ist das Xanthotoxin (Synonym: 8-Methoxypsoralen, abgekürzt 8-MOP), das auch klinisch angewendet wird ( > Kap. 26.3.5).
26.3.5
Lichtsensibilisierende Cumarine
Definitionen; Photodermatitis durch Psoralene Der Begrif Sensibilisierung ist im vorliegenden Zusammenhang nicht im Sinne der Allergielehre, sondern im Sinne der Physik zu verstehen. Photosensibilisatoren absorbieren Lichtquanten des biologisch unschädlichen UVBereichs 320–400 nm, wandeln die absorbierte Lichtenergie nicht in Wärme um, sondern induzieren chemische Reaktionen, wie z. B. die Bildung der Pyrimidindimeren ( > Abb. 26.19), oder es werden hochreaktive Radikale gebildet, die ihrerseits eine Reihe von zelltoxischen Läsionen erzeugen. In der Dermatologie ist Photosensibilisierung deiniert als die Herabsetzung der Lichtreizschwelle der Haut durch endo- oder exogene Einlagerungen lichtsensibilisierender Stofe. Als Folge davon kommt es unter der Einwirkung von Licht, dessen Intensität und Wellenlänge zur Anregung photobiologischer Reaktionen an sich nicht ausreicht, zu erwünschten oder unerwünschten Erscheinungen auf der Haut. Erwünscht ist die Hautbräunung – nicht nur aus kosmetischen Gründen; reichlich Melanin schützt die Haut vor schädlichen Folgen der Besonnung. Unerwünscht sind Hautschäden. Phototoxische Stofe steigern bereits bei einmaliger Einwirkung auf die Haut und gleichzeitiger Lichtexposition dosisabhängig die Empindlichkeit der Haut gegen Sonnenbestrahlung: Es kommt zu Photodermatitiden. Die „Wiesendermatitis“ ist eine Sonderform, hervorgerufen beim Liegen auf Wiesen, wenn der nackte Körper mit bestimmten Planzen in Kontakt kommt. Es können sich Hautläsionen bilden, deren Ausmaße genaue Reproduktionen der Stängel und Blätter sind, die die Hautentzündungen hervorgerufen haben. In Frage kommen: x Gartenraute (Ruta graveolens L.), x Bärenklau-Arten (Heracleum-Arten), x Schafgarbe (Achillea millefolium L.), x Pastinak (Pastinaca sativa L.), x Engelwurz (Angelica archangelica L.), x Liebstöckel (Levisticum oicinale L.),
26
x Blätter des Feigenbaums (Ficus carica L.), x die aus Mittelmeerländern eingeschleppte Ammi majus L. Als Berloque-Dermatitis ist eine phototoxische Reaktion beschrieben, die von Bergamottöl hervorgerufen wird, das in Kölnisch Wasser enthalten ist. Es kommt nach dem Verreiben auf den der Sonne ausgesetzten Hautpartien zu Hautentzündungen, die unter Pigmentierung abheilen. Man ist daher dazu übergegangen, in Kosmetika nur noch cumarinfreie Bergamottöle zu verarbeiten. In neuerer Zeit sind schwere Fälle von Berloque-Dermatitis dadurch aufgetreten, dass echtes Bergamottöl in der Laienpresse als biologisches Mückenschutzmittel empfohlen worden ist. Verantwortlich für die durch Planzen und Planzenprodukte hervorgerufenen Photodermatitiden sind die linearen Furanocumarine der Psoralenreihe, insbesondere das Psoralen, das Xanthotoxin (8-Methoxypsoralen, Ammoidin) und das Bergapten ( > Abb. 26.20 und 26.21). Von der phototoxischen Reaktion ist die photoallergische Reaktion zu unterscheiden. Erfahrungsgemäß wirken aber nur solche Stofe als Photoallergene, die auch in der Lage sind, phototoxische (photodynamische) Reaktionen auszulösen. Es sei auf die entsprechende Spezialliteratur hingewiesen (z. B. Hausen u. Vieluf 1998).
Xanthotoxin [Ammoidin, 8-Methoxypsoralen (8-MOP), Methoxalen] Herkunft. Xanthotoxin kommt in den Früchten von Ammi
majus L. (Familie: Apiaceae [IIB25a]) vor, daneben noch in einer Reihe weiterer Planzen. Es kann durch Extraktion aus Ammi-majus-Früchten oder durch Synthese gewonnen werden. Es handelt sich um weiße oder cremefarbene, laumige Kristalle, die geruchlos sind und zunächst bitter, später brennend schmecken. In kaltem Wasser ist 8-MOP praktisch unlöslich, löst sich aber in wässerigen Alkalilaugen unter Öfnung des Lactonringes und fällt beim Ansäuern unverändert wieder aus. Wirkung und Anwendung. Xanthotoxin wird bei der
Photochemotherapie eingesetzt, bei der zusätzlich zur Anwendung von 8-MOP mit langwelligem UV-Licht (UV-A; vgl. oben und > Abb. 26.19) bestrahlt wird und die als PUVA-herapie bekannt ist. Die PUVA-herapie wird bei verschiedenen Hauterkrankungen wie Vitiligo und Psoriasis, aber auch bei anderen Dermatosen eingesetzt.
1169
1170
26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.19
O
DNAStrang
4
4'
3
N
5'
O
O
O
O
OCH3
CH3
8-Methoxypsoralen (8-MOP)
O
NH
+
8
Thyminrest der DNA hν (UV-A)
DNAStrang
O
DNAStrang
N
NH
N HN
O
CH3 O
CH3
O
O
O
O
O
O
OCH3
OCH3 4',5'-Monoaddukt
3,4-Monoaddukt hν (UV-A)
O
DNAStrang
O
DNAStrang N
N
NH
HN
O CH3
O HC 3
O
O
O
OCH3 Diaddukt (verbindet 2 DNA-Stränge)
Lineare Furanocumarine (z. B. 8-Methoxypsoralen, 8-MOP) können mit der DNA reagieren. In einer ersten Phase werden die Furanocumarine an die Pyrimidinbasen der DNA angelagert (Interkalation). Bei der Bestrahlung mit UV-A werden Thymidinreste der DNA durch C4-Cycloaddition mit der 4’,5’- bzw. der 3,4-Doppelbindung des Furanocumarins kovalent verknüpft. Die 8 möglichen Isomeren des Psoralen-Thymidin-Monoadduktes sind in der Abbildung nicht berücksichtigt. Bei längerer Bestrahlung entstehen Diaddukte, wobei es zur Verknüpfung der beiden Einzelstränge des DNA-Doppelstranges kommen kann (Cross-linking). Dadurch wird die Replikation und Transkription der DNA verunmöglicht (Murray et al. 1982; Cimino et al. 1985). Ein größerer Teil des applizierten 8-MOP reagiert mit Proteinen zu Psoralen-Protein-Photoaddukten (vgl. Übersicht von Schmitt et al. 1995)
Als Folge der Reaktion mit der DNA wird die Melaninbildung erhöht. Es entsteht eine langanhaltende Bräunung. Die Anwendung geschieht peroral (0,6 mg/kg KG 2 h vor der Bestrahlung) oder äußerlich in Form von 0,15%iger Lösung. Als wirksame Alternative kommt die Anwendung eines kurzen Bades unmittelbar vor der Bestrahlung in
Betracht. Dabei werden kleinere Strahlendosen zur Erzeugung der phototoxischen Reaktion benötigt, und es besteht eine geringere Gefahr systemischer Nebenwirkungen (Kerscher et al. 1994). Häuige Nebenwirkungen sind Erythem, Verbrennungen, Nausea, Kopfschmerz und Benommenheit. Bei Langzeitbehandlung ist eine karzino-
26.3 Cumarine
26
. Abb. 26.20 angulärer Typ:
linearer Typ (Psoralene): R1
R1 R2
O
O
O
O
O
O
R2
R1
R2
H H H OCH3 OH OCH3
H OCH3 OH H H OCH3
Psoralen Xanthotoxin Xanthotoxol Bergapten Bergaptol Isopimpinellin
R1
R2
H OCH3 H OCH3
H H OCH3 OCH3
Angelicin Isobergapten Sphondin Pimpinellin
Die wichtigsten Vertreter der Furanocumarine. Die linearen Vertreter – man bezeichnet diese auch als Psoralene – haben auffällige photosensibilisierende Eigenschaften
gene Wirkung nicht auszuschließen, wenn bestimmte Risikofaktoren vorhanden sind (de Groot 1992). Neben 8-MOP werden zur PUVA-herapie u. a. auch Furoanochromone (vgl. Kap. 26.3.7) verwendet.
26.3.6
Cumarin, Cumarindrogen
Cumarin Beschreibung. Cumarin (DAB 1999) bildet farblose Kris-
talle, intensiv riechend, an Vanille erinnernd; bitter aromatisch und brennend schmeckend. In Alkohol, Ether sowie in fetten und in ätherischen Ölen gut löslich. Historische Anmerkung: Cumarin wurde bereits im Jahre 1822 aus den Tonkabohnen isoliert, das sind die Samen eines in Guayana heimischen Baumes, Coumarouna odorata Aubl. (Synonym: Dipteryx odorata Willd.), zur Familie der Fabaceae [IIB9a] gehörend. Nach der in Cayenne üblichen Bezeichnung „Coumarouna“ für die Samen erhielt die schön kristallisierende, intensiv dutende Substanz den Namen Cumarin. Dieser Name für die Einzelsubstanz ging später auf Planzenstofe als Gruppenbezeichnung über, die dasselbe Grundgerüst aufweisen. Vorkommen. Tonkabohnen enthalten 2–3% Cumarin.
Beim Cumarin handelt es sich um einen Artefakten, der
aus der glykosidischen Vorstufe, dem o-Cumarsäureglucosid ( > Abb. 26.16) beim Trocknen des Planzenmaterials entsteht. Cumarin kommt in etwa 70 verschiedenen, über das ganze Planzenreich verbreiteten Planzen vor. Cumarin enthalten: bei den Liliopsida einige OrchideenArten, bestimmte Gräser (Poaceae [IIA9a], wie Anthoxanthum odoratum L. (Dutendes Ruchgras) und Hierochloë odorata (L.) Wahlenb. (Wohlriechendes Mariengras); bei den Rosopsida zahlreiche Melilotus-Arten (Fabaceae [IIB9a]), Galium odoratum (L.) Scop. (Waldmeister; Rubiaceae [IIB22d]) und Trilisa odoratissima Cass. (Asteraceae [IIB28b]). In kleinen Mengen ist Cumarin in Datteln, Erdbeeren, Brombeeren, Aprikosen und Kirschen enthalten. Anwendung. Cumarin wurde jahrzehntelang in der Phar-
mazie und der Lebensmittelindustrie ähnlich wie Vanillin als Aromatikum verwendet. In der Pharmazie diente es dazu, unangenehm riechende Rezepturen zu überdecken. In der Lebensmittelindustrie aromatisierte man mit Cumarin v. a. Schokoladenprodukte. Wegen des Verdachts auf Karzinogenität wurde die Verwendung von Cumarin in den 50er-Jahren von der FDA in den USA und anschließend von den Zulassungsbehörden der meisten Länder verboten. Damals wurde bei Verabreichung der Substanz in großen Dosen an Ratten und Hunde eine hepatotoxische Wirkung festgestellt. Heute weiß man, dass diese durch einen vom Menschen
1171
1172
26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.21 HO 6
O
O
Umbelliferon
HO
O
8
HO
+
O
O
O
O P P Dimethylallyldiphosphat O
HO
O
O
HO
O
O
O
O
O
O
O Oxidation HO α
HO
β O
O
O
O
O
O
O
O
O
O
O
Marmesin Retroaldolkondensation
O Psoralen
O
O
Xanthyletin
O
O
OH
HO Columbianetin
O
Angelicin
Lomatin
O
O
O
Seselin
26.3 Cumarine
26
9 Biogenetische Zusammenhänge zwischen den Furano- und den Pyranocumarinen (Stereochemie nur teilweise berücksichtigt). Furano- und Pyranocumarine sind Varianten einer durch Isoprenyl substituierten Cumarinstufe. Prenylierung in 6-Stellung führt zu den linearen Furano- und Pyranocumarinen vom Psoralen- bzw. Xanthyletintyp, in 8-Stellung zu den angulären vom Angelicin- bzw. Seselintyp. Die Zyklisierung des 6- oder 8-Isoprenylcumarins kommt vermutlich durch einen nukleophilen Angriff der Hydroxylgruppe in Stellung 7 an einem Epoxid, welches durch Oxidation der Doppelbindung im Isopentenylrest entstanden ist, zustande. Das Reaktionsprodukt ist entweder ein Hydroxyisopropyldihydrofuranocumarin oder ein Hydroxydimethyldihydropyranocumarin. Die Furanocumarine entstehen daraus durch eine stereospezifische Oxidation am β-C-Atom sowie durch die Eliminierung des Hydroxyisopropylrestes am α-C-Atom durch eine rückläufige Aldolreaktion (nach Murray et al. 1982; Brown 1986)
dem reich verästelten, derben, meist aufrechten Stängel sitzen die dreizähligen Laubblätter, deren bis 4 cm langen Teilblättchen länglich bis elliptisch geformt sind; der Rand ist gezähnt. Die gelben Schmetterlingsblüten sitzen in einseitswendigen lockeren Trauben, die den Blattachseln entspringen. Die Monographie Steinklee des DAC 2005 lässt neben M. oicinalis auch den Hohen Steinklee (M. altissimus Thuill.) als Stammplanze zu.
verschiedenen Metabolismus (vgl. unter Metabolismus und Pharmakokinetik) zustande kommt. Für den Menschen besteht daher kein hepatotoxisches Risiko durch cumarinhaltige Nahrungsmittel oder Kosmetika (vgl. Übersicht von Lake 1999). In neuerer Zeit hat Cumarin insbesondere wegen seiner immunomodulatorischen als auch direkten Antitumoreigenschaten neues Interesse erweckt. Eindrucksvolle Ansprechraten von bis zu 30% wurden bislang beim Nierenzellkarzinom, malignen Melanom und Prostatakarzinom erzielt (vgl. Egan et al. 1990; 21. Deutscher Krebskongress 1994).
Sensorische Eigenschaften. Steinklee riecht krätig nach frischem Heu; die Droge schmeckt salzig und bitter.
Hinweise zum Metabolismus und zur Pharmakokinetik von Cumarin. Beim Menschen wird Cumarin nach pero-
x Phenolische Säuren und Glykoside: Kafeesäure, p-
raler Gabe rasch und vollständig resorbiert. Wegen eines starken First-pass-Efekts (Hydroxylierung) ist die Bioverfügbarkeit von Cumarin gering, und es erscheint weniger als 4% unverändert im systemischen Kreislauf. Cumarin wird zu den sog. Prodrugs gezählt, d. h. die therapeutischen Efekte sind nicht dem Cumarin, sondern dem beim Menschen durch CYP2A6 gebildeten Hauptmetaboliten 7-Hydroxycumarin zuzuschreiben. 7-Hydroxycumarin wird schnell zu 7-Hydroxycumaringlucuronid konjugiert und mit einer biologischen Halbwertszeit von 1–1,5 h über den Urin ausgeschieden. Bei Tieren, z. B. Ratten und Hunden, erscheint als Hauptmetabolit 3-Hydroxycumarin, das eine hepatotoxische Wirkung zeigt (vgl. Übersicht von Lake 1999 und darin zitierte Literatur).
Steinkleekraut, Steinklee-Extrakte Herkunft. Steinkleekraut (Meliloti herba PhEur 5.1, kor-
rigiert 5.3) besteht aus den getrockneten, oberirdischen Teilen von Melilotus oicinalis (L.) Lam. (Familie: Fabaceae [IIB9a]. Echter Steinklee ist ein Kraut, das in ganz Mitteleuropa und Kleinasien verbreitet vorkommt. An
Inhaltsstoffe
und o-Cumarsäure, Salicylsäure, o-Dihydrocumarsäure (Melilotsäure) und weitere Säuren, cis- und trans-o-Cumarsäureglucosid (trans-Form: Melilotosid; Formel > Abb. 26.16); x Cumarin (0,4–0,9%; PhEur = mindestens 0,3%; Formel > Abb. 26.16), 3,4-Dihydrocumarin (Melilotin), Hydroxycumarine, darunter Scopoletin und Umbelliferon (Formeln > Abb. 26.17); x Flavonoide, darunter Kämpferol- und Quercetinglykoside; x Triterpensaponine mit den Aglykonen Melilotigenin und Soyasapogenol B. Verwendung. Arzneilich verwendet werden die auf einen
bestimmten Cumaringehalt eingestellten Extrakte. Hinweis: Hauptglykosid des bei 60 °C getrockneten Steinkleekrautes ist das cis-o-Cumarsäureglucosid, neben wenig trans-o-Cumarsäureglucosid. Bei der Extraktion hängt der Gehalt an Cumarinvorstufen bzw. an freiem Cumarin sehr stark von der Extraktionsmethode ab. Während eine Extraktion mit Wasser bei Raumtemperatur eine vollständige Umsetzung des cis-Glucosids in Cumarin ergibt, wird mit kochendem Wasser nur wenig Cumarin
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Phenolische Verbindungen
gebildet. Die Aktivität der im Planzengewebe vorhandenen, speziisch das cis-Glucosid spaltenden β-Glucosidase scheint demnach auch nach der Trocknung voll erhalten zu sein (Bourgaud et al. 1994). Analytische Kennzeichnung Prüfung auf identität. DC-Nachweis (PhEur) von Cuma-
rin und o-Cumarsäure [Fließmittel: Verdünnte Essigsäure– Ether-Toluol (10:50:50), obere Phase; Referenzsubstanzen: Cumarin, o-Cumarsäure; Nachweis: Ethanolische Kaliumhydroxidlösung (2 mol × 1–1]. Nach dem Besprühen mit dem alkalischen Reagens treten im UV bei 365 nm die grünlichgelb luoreszierenden Zonen von Cumarin und von o-Cumarsäure (kann vorhanden